Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich und beginne mit dem wichtigen
Hinweis, dass der Kollege Dr. Heinz Riesenhuber am
vergangenen Montag seinen 79. Geburtstag gefeiert hat.
({0})
Er ist ja das wandelnde Beispiel dafür, wie ein lebendiger Parlamentarismus auch die Person vital erhält. Deswegen erübrigen sich beinahe die guten Wünsche für das
neue Lebensjahr, die ich hiermit gleichwohl im Namen
des ganzen Hauses herzlich übermittle.
({1})
Wir müssen noch einige Wahlen durchführen.
Die Fraktion Die Linke schlägt vor, die Kollegin
Dr. Gesine Lötzsch für eine weitere Amtszeit als Mitglied des Verwaltungsrates der Kreditanstalt für Wiederaufbau zu wählen. Die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen schlägt für dasselbe Gremium vor, die Kollegin
Kerstin Andreae für das turnusmäßig ausscheidende
Mitglied Jürgen Koppelin als Mitglied zu berufen. Sind
Sie mit diesen Vorschlägen einverstanden? - Das ist offenkundig der Fall. Ich höre keinen Widerspruch. Dann
sind die Kolleginnen Lötzsch und Andreae als Mitglieder des Verwaltungsrates gewählt.
Darüber hinaus schlägt die Fraktion der CDU/CSU
vor, als ordentliches Mitglied des Verwaltungsrates des
Deutsch-Französischen Jugendwerkes den Kollegen
Dr. Andreas Schockenhoff zu wählen. Die SPD-Fraktion schlägt für dasselbe Gremium vor, die Kollegin
Elvira Drobinski-Weiß als stellvertretendes Mitglied zu
berufen. - Auch hierzu gibt es offensichtlich Zustimmung. Dann sind die genannte Kollegin und der genannte Kollege gewählt.
Wir müssen auch noch eine Schriftführerwahl durchführen. Die Fraktion Die Linke schlägt vor, für die Kollegin Susanna Karawanskij den Kollegen Norbert
Müller als Schriftführer zu wählen. Sind Sie auch damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall.
Dann ist das so vereinbart.
Interfraktionell gibt es eine Vereinbarung, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz ({2}) gemäß § 93 a Absatz 3 der Geschäftsordnung zu dem
Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung ({3}) Nr. 861/2007 des
Europäischen Parlaments und des Rates vom
11. Juli 2007 zur Einführung eines europäischen Verfahrens für geringfügige Forderungen und der Verordnung ({4}) Nr. 1896/2006
des Europäischen Parlaments und des Rates
vom 12. Dezember 2006 zur Einführung eines
Europäischen Mahnverfahrens
KOM({5}) 794 endg.; Ratsdok. 16749/13
Drucksachen 18/419 Nr. A.48, 18/2647,
18/3385, 18/3427
ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
DIE LINKE:
Pläne zur künftigen Gestaltung des Solidaritätszuschlags
({6})
ZP 3 Weitere abschließende Beratung ohne Aussprache
({7})
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und
Energie ({8}) zu dem Antrag der Ab-
geordneten Eva Bulling-Schröter, Caren Lay,
Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE
Energiewende durch Kohleausstiegsgesetz ab-
sichern
Drucksachen 18/1673, 18/2904
Präsident Dr. Norbert Lammert
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und
Energie ({9}) zu dem Antrag der Abgeordneten Annalena Baerbock, Oliver Krischer,
Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kohleausstieg einleiten - Überfälligen Strukturwandel im Kraftwerkspark gestalten
Drucksachen 18/1962, 18/2906
ZP 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Haltung der Bundesregierung zum Erreichen
der Klimaschutzziele 2020
ZP 5 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die gesetzliche Rentenversicherung, insbesondere über
die Entwicklung der Einnahmen und Ausgaben, der Nachhaltigkeitsrücklage sowie des
jeweils erforderlichen Beitragssatzes in den
künftigen 15 Kalenderjahren
({10})
Drucksache 18/3260
hier: Gutachten des Sozialbeirats zum Rentenversicherungsbericht 2014
Drucksache 18/3387
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({11})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
Dabei soll von der Frist für den Beginn der Beratungen, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Der Tagesordnungspunkt 6 wird abgesetzt. Darüber
hinaus kommt es zu den in der Zusatzpunktliste dargestellten weiteren Änderungen des Ablaufs.
Schließlich mache ich noch auf die Aufhebung einer
Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste
aufmerksam:
Die am 28. November 2014 gemäß § 80 Absatz 3 der
Geschäftsordnung vorgenommene Überweisung der nachfolgenden Unterrichtung an die Ausschüsse wird aufgehoben:
Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vierter Bericht der Bundesregierung über die
Umsetzung des Aktionsplans „Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung“
({12})
Drucksache 18/3213, 18/3363 Nr. 1.5
Ich frage Sie, ob Sie mit diesen Vereinbarungen ein-
verstanden sind? - Das ist der Fall. Dann ist das so be-
schlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Die neue Hightech-Strategie - Innovationen
für Deutschland
Drucksache 18/2497
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({13})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss Digitale Agenda
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bundesbericht Forschung und Innovation
Drucksache 18/1510
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({14})
Sportausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss Digitale Agenda
c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Gutachten zu Forschung, Innovation und technologischer Leistungsfähigkeit Deutschlands
Drucksache 18/760 ({15})
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({16})
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss Digitale Agenda
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 96 Minuten vorgesehen. - Auch dazu
stelle ich Ihr Einvernehmen fest.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
die Bundesministerin Frau Professor Wanka.
({17})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Heute vor 90 Jahren gab es nicht weit von hier
- 8 Kilometer Luftlinie entfernt - ein besonderes Ereignis: Damals, am 4. Dezember 1924, hat die 1. Große
Deutsche Funkausstellung in Berlin ihre Pforten geöffnet, und damals hat der erste Röhrenrundfunkempfänger
fasziniert. Mittlerweile ist das 90 Jahre her. In dieser
Branche sind seither Tausende von Arbeitsplätzen entstanden. Noch heute ist es so, dass die funkgetragene
Kommunikation große Innovationsschübe hervorbringt.
Das ist ein Beispiel, wie wichtig Innovation für den
Wirtschaftsstandort Deutschland ist und wie wirkungsmächtig sie über viele Generationen hinweg sein kann.
Wir sind heute beim Export von forschungsintensiven
Gütern nicht nur in der Weltspitze. Der Beitrag der Medium- und Hightechgüterexporte zur Handelsbilanz liegt
in Deutschland bei 9,2 Prozent. Wissen Sie, wie hoch
dieser Wert im EU-Durchschnitt ist? 1,3 Prozent. Das
heißt, Deutschland hat an dieser Stelle eine Sonderstellung. Auch aus diesem Grund haben wir im November
die höchste Beschäftigungsquote in Deutschland, die wir
je hatten.
({0})
Mittlerweile sind wir ein Magnet für Wissenschaftler
und Forscher aus aller Welt. Wir haben die Zahl derer,
die nach Deutschland kommen, seit 2006 um 60 Prozent
gesteigert. Vor kurzem ist es uns gelungen, einen Professor von der Harvard-Universität nach Halle zu holen.
({1})
Was ist die Ursache dafür? Jetzt denken Sie: Sie erzählt bestimmt wieder, dass es das Geld ist und die jährliche Steigerung der Mittel für diesen Bereich seit 2005,
seit Angela Merkel Bundeskanzlerin ist. - Das stimmt.
Aber das alleine reicht nicht. Entscheidend ist, wie das
Geld angelegt bzw. wofür es ausgegeben wird. Es gibt
zum Beispiel den Pakt für Forschung und Innovation,
der den Wissenschaftsorganisationen Planungssicherheit, Verlässlichkeit, aber auch Freiheitsgrade - die haben wir insbesondere in den letzten Jahren eingeräumt bietet. Unser Nobelpreisträger Hell sagt, dass er geblieben ist wegen der Freiheitsgrade und wegen der Möglichkeiten, die man in Deutschland hat,
({2})
und wegen der Hightech-Strategie. Die Hightech-Strategie ist schon etwas Besonderes. Jetzt können Sie denken:
Jedes Land hat irgendeine Förderstrategie, die bei uns
eben Hightech-Strategie heißt. Das ist keine einfache
Förderstrategie mit einzelnen Programmpunkten und
Aktionsfeldern. Das ist eine Strategie, die für die Innovationskraft in Deutschland von grundlegender Bedeutung ist, die Besonderheiten hat, die zu kopieren versucht wird und bei der andere Länder Anregungen
nehmen.
Seit Anfang September haben wir die neue HightechStrategie. Sie werden jetzt sagen: Wenn es gut funktioniert, warum gibt es dann eine neue Hightech-Strategie,
warum behalten wir nicht die, die wir 2006 zum ersten
Mal aufgelegt haben? Ganz einfach, weil sich die Bedingungen ändern, weil wir im globalen Wettbewerb sind
und weil es jetzt neue Herausforderungen gibt, die anders sind als die 2006.
Was ist jetzt neu? Was ist jetzt anders? Warum machen wir das so? Wir haben die Konzentration auf wenige Themenfelder - sechs an der Zahl - beibehalten.
Das ist ein Grundpfeiler der Hightech-Strategie. Diese
sechs Themenfelder sind für die Zukunft Deutschlands,
für uns alle und für unseren Wohlstand zwingend notwendig. Sie unterscheiden sich nicht grundlegend von
denen des Jahres 2006, aber es wird doch auf die Entwicklung eingegangen. Die sechs Themenbereiche sind:
digitale Wirtschaft und Gesellschaft, nachhaltiges Wirtschaften und Energie, innovative Arbeitswelt, gesundes
Leben, intelligente Mobilität und zivile Sicherheit.
Wir stehen aktuell vor großen Herausforderungen:
Wir haben eine hohe Innovationskraft. Wir haben, Herr
Riesenhuber, fast das 3-Prozent-Ziel erreicht. Aber woher kommen diese Erträge? Den Hauptteil liefern in
Deutschland drei Branchen, nämlich Fahrzeugbau, Elektrotechnik und Maschinenbau. Deshalb ist es ganz wichtig, die Basis auf andere Branchen zu erweitern, sie genauso stark zu machen. Die Hightech-Strategie bietet
Chancen für Wachstumsbranchen wie zum Beispiel Bioökonomie und Mikroelektronik - mit großen Anstrengungen nicht nur vonseiten der Bundesregierung, sondern auch vonseiten Sachsens und auf EU-Ebene -,
({3})
beinhaltet die Förderung von Schlüsseltechnologien und,
und, und.
Ich will kurz anhand einzelner Punkte aufzeigen, was
wir neu gemacht haben:
Erster Punkt. Im Bereich „nachhaltiges Wirtschaften
und Energie“ ist ein Schwerpunkt die Energieforschung.
Wir alle wissen, die Energiewende funktioniert nicht
ohne entsprechende Forschungsergebnisse.
({4})
Wir alle zusammen haben im letzten Frühjahr mit dem
Forschungsforum Energiewende einen Dialogprozess
gestartet. Wir sind jetzt so weit, dass wir Ihnen Anfang
des neuen Jahres - denn es gibt eine Vielzahl von Dingen in der Forschung, die man berücksichtigen muss - die
grundlegenden prioritären Aufgaben - eins, zwei, drei präsentieren können, auf die wir in den nächsten Jahren
alle Mittel konzentrieren, um dort Ergebnisse zu erzielen. Wir wollen eine Prioritätensetzung für die
180 Hochschulen, die im Bereich der Energieforschung
tätig sind, ermöglichen. Wir sind jetzt so weit, dass wir
die Ergebnisse Anfang des Jahres präsentieren können.
({5})
Ein zweiter Punkt. Ein erfolgreiches Format im Rahmen der Hightech-Strategie war der Spitzencluster-Wettbewerb, waren die Spitzencluster. Ein Cluster wurde gebildet, wenn klar war, dass man in einem Bereich in
wenigen Jahren Weltmarktführer werden kann, gefördert
mit 40 Millionen Euro vom Bund und - das ist wesentlich mehr geworden - 40 Millionen Euro von privater
Seite. Die 15 Spitzencluster funktionieren exzellent.
Weil unsere Chancen in Europa liegen, wollen wir diese
Cluster jetzt zu Clustern in Europa werden lassen. Deswegen läuft jetzt gerade eine erste Ausschreibung. Es
geht darum, wie sich diese Spitzencluster mit den
zweien oder dreien in Europa vernetzen können, die in
dem jeweiligen Themenfeld führend sind.
Dritter Punkt. Ich hatte es hier schon erwähnt: USPräsident Obama hat gefragt, warum die Deutschen so
gut sind, und hat umfangreiche Papiere erstellen lassen.
Die Erkenntnis war: Bei der Revolution sind die Deutschen nicht so gut; sie machen nicht so viel auf der grünen Wiese, reißen nicht immer alles ein;
({6})
aber die absolute Stärke der Deutschen ist, dass sie in
den Branchen, in denen sie gut sind, in der Lage sind,
über Jahrzehnte hinweg immer wieder Innovationen zu
schaffen und in der Weltspitze zu bleiben. Das ist die
Stärke der Deutschen.
({7})
Der nächste Innovationsschub, den wir jetzt in den
klassischen Branchen, in denen wir gut sind, brauchen,
geht von der Digitalisierung aus. In der alten HightechStrategie betraf die Digitalisierung in sehr starkem Maße
Fragen der IKT, also der Informations- und Kommunikationstechnologien. Das reicht heute nicht mehr aus.
Der digitale Wandel im Forschungs- und Entwicklungsbereich ist außerordentlich wichtig; das Thema muss
breit angelegt werden. Wir haben in diesem Jahr zwei
große Kompetenzzentren für Big Data eingerichtet. Wir
haben das Forum Privatheit und selbstbestimmtes Leben
in der Digitalen Welt mit vielen Playern aus dem privaten Bereich gestartet.
Ich sagte es schon: Es gibt richtig Geld für den Bereich Mikroelektronik. Sie ist eine Schlüsseltechnologie,
und wir haben dort Chancen. Insgesamt müssen wir hin
zu einem breiteren Verständnis von Forschung und Entwicklung. Es geht nicht nur um technologische Entwicklungen, um Geld für Forschung, sondern vor allen Dingen auch um Veränderungen in der Arbeitswelt. Wir
haben das große Programm „Innovationen für die Produktion, Dienstleistung und Arbeit von morgen“ mit einem Umfang von 1 Milliarde Euro in den nächsten Jahren gestartet. Das ist keine Idee, die wir uns einfach
ausgedacht oder mit einigen wenigen diskutiert haben.
Es wurde eine breite Debatte mit Gewerkschaften, mit
Arbeitgebern geführt; beide waren gemeinsam an einem
Tisch. Was ich im Bereich der Arbeitsforschung nicht
will - dafür stehe ich mit diesem Programm -, sind neue
dicke Bücher; wir brauchen sie nicht. Wir haben in der
Arbeitsforschung schon sehr viele Ergebnisse. Ich möchte,
dass jedes Mal, wenn wir im Rahmen der Hightech-Strategie Geld für Arbeitsforschung ausgeben, ein oder mehrere Mittelständler gesucht werden, die probieren, die
Ergebnisse umzusetzen und Transfer zu betreiben.
({8})
Gesundheit im Lebensverlauf. Wir haben vor kurzem
das 50-jährige Jubiläum des Deutschen Krebsforschungszentrums in Heidelberg gefeiert und entschieden - es
war nicht einfach -, viel Geld für das Nationale Centrum
für Tumorerkrankungen einzusammeln - Partnerstandort
ist das Institut für Radioonkologie in Dresden - und
seine Mittel langfristig und unbefristet aufzustocken.
Damit gehören wir zu den drei Weltbesten. Die Amerikaner und die Briten versuchen, aufzuholen. Deswegen
können wir Gelder nicht nur mit der Gießkanne verteilen
- das machen wir sowieso nicht -, sondern müssen Spitzenförderung betreiben. Das Nationale Centrum für Tumorerkrankungen ist im Bereich der Gesundheitsforschung eine ganz große Chance, die wir in Deutschland
haben. Ich denke, da haben wir richtig entschieden.
({9})
Die Erhaltung der Schöpfung ist uns ein besonderes
Anliegen. Nachhaltiges Wirtschaften ist eine zentrale
Kompetenz, ein zentrales Interesse gerade auch unserer
Partei. Hier habe ich vor wenigen Tagen gemeinsam mit
Frau Hendricks die Forschungsagenda für den Bereich
Green Economy vorgestellt. Diese Forschungsagenda ist
mit der Wirtschaft und mit den Verbänden entwickelt
worden und hat eine große Akzeptanz, weil unsere Wirtschaft pfiffig ist und weiß, dass sie in dem Bereich wettbewerbsfähig sein muss, dass dort Ökonomie und Ökologie wettbewerbsfähig verbunden werden müssen.
({10})
Um an dieser Stelle eine Zahl zu nennen: Dafür stehen
350 Millionen Euro bereit.
Wir haben Probleme und Herausforderungen. Die
Stärke Deutschlands ist der Mittelstand. Wir geben dort
viel Geld aus; wir fördern diesen Bereich jährlich mit
1,4 Milliarden Euro. Ein Problem ist: Die Ergebnisse
zeigen, dass wir zwar viele Hidden Champions haben,
aber die Innovationsausgaben im Mittelstand, bei den
kleinen und mittleren Firmen, in der Summe nicht gestiegen sind, zum Teil gar gesunken sind. Deswegen ist
dies ein ganz zentraler Punkt der neuen Hightech-Strategie: Was kann man machen, damit die Gelder dort effektiver genutzt werden und um anzuregen, dass in dem Bereich mehr ausgegeben und geforscht wird? Die
Steigerung der Innovationsdynamik im Mittelstand ist
für mich ein zentrales Anliegen. Diese braucht jedoch
Unterstützung. Dies ist vielleicht nicht so populär, als
wenn man sich mit dem Chef eines Großunternehmens
präsentiert. Daher ist es wichtig - und das ist die Politik
dieser Großen Koalition -, für Innovationen in kleinen
und mittelständischen Unternehmen Sorge zu tragen.
({11})
Zwei Einsprengsel dazu, wie wir das machen wollen.
Ein Punkt betrifft Pilotanlagen, die bislang bei der Förderung immer herausgefallen sind. Wenn das Wirtschaftsministerium die Wirtschaft fördert, dann betrifft
das an vielen Stellen nicht Pilotanlagen. Deswegen ist
jetzt für uns wichtig, dass wir Pilotanlagen fördern. Damit können die zur Bank gehen und dort leichter Geld
zur Finanzierung bekommen. Sunfire ist ein Beispiel für
eine Pilotanlage, die wir jetzt im Rahmen der HightechStrategie fördern, meine Damen und Herren.
Kompetenzaufbau. Es funktioniert nur mit Fachkräften. Fachkräfte sind unsere Stärke, sie sind Träger der
Innovation. Ich will jetzt gar nicht auf die einzelnen
Pakte, die wir beschlossen haben - Stichworte „berufliche Bildung“, „akademische Bildung“ -, eingehen. Ich
will nur sagen, dass der Bedarf an neuen Qualifikationen, den man zum Beispiel bei Industrie 4.0 sieht, ein
Feld ist, auf dem wir schnell sein müssen. Wir haben im
Rahmen des IT-Gipfels in der Arbeitsgruppe, die von einem Mitglied des Vorstands von SAP geleitet wurde,
beschlossen, eine Initiative zur Systematisierung bestehender Angebote und zur Strukturierung neuer Qualifikationsformen für die berufliche Bildung und für die
akademische Bildung zu starten. Das sind aber keine Arbeitsgruppen, in denen man nur darüber redet, sondern
es geht darum, mit einem großen Unternehmen oder mit
zwei, drei großen Unternehmen dies in der Praxis auszuprobieren und damit auch Anregungen zu geben und
Vorbild für andere Bereiche zu sein.
({12})
Ich sagte vorhin, dass wir attraktiv sind für Forscher
und Wissenschaftler aus aller Welt. Das EFI-Gutachten,
um das es ja heute auch geht, bestätigt, wie wichtig dies
ist. Dort wird aber auch kritisch angemerkt, dass da noch
viel Entwicklungspotenzial ist. Das Gutachten beruht jedoch auf alten Zahlen. Die haben die Zahlen aus Publikationen von 1996 bis 2011 genommen. Die Zahlen, die
wir jetzt haben, sehen ganz anders aus. Nur ein Beispiel:
Bei der Max-Planck-Gesellschaft sind rund 50 Prozent
aller Doktoranden und 86 Prozent aller Postdoktoranden
sowie jeder dritte Abteilungsleiter aus dem Ausland. Das
heißt, wir sind an der Stelle erfolgreich, aber wir brauchen auch dort Verstetigung, Instrumente, Strategien. Ich
denke, mit der Strategie zum Europäischen Forschungsraum, aber auch mit der Internationalisierungsstrategie
sind wir an dieser Stelle gut aufgestellt.
Ich denke, wir haben viel erreicht. Aber wir müssen
aufpassen. Einen Vorsprung kann man gerade dann,
wenn es Innovationsschübe gibt - und diese gibt es überall auf der Welt -, ganz schnell verspielen. Deswegen
wollen wir, dass Deutschland den ersten Platz einnimmt,
was Innovation und Wettbewerbsfähigkeit sowie Weltmarktfähigkeit anbetrifft, und dass wir auch die Talente
aus allen Ländern mit unserer Attraktivität anziehen.
Deswegen haben wir die Hightech-Strategie zu einer
umfassenden Innovationsstrategie weiterentwickelt. Die
beiden dicken Dokumente, die hier heute zur Diskussion
stehen, bestätigen das.
Danke schön.
({13})
Das Wort erhält nun die Kollegin Petra Sitte für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist ja
zurzeit in Mode, dass die Großkoalitionäre immer gegenseitig den Koalitionsvertrag zitieren, um sich daran
zu erinnern. Das würde ich auch ganz gern einmal tun.
Ich zitiere:
Die Hightech-Strategie werden wir zu einer umfassenden ressortübergreifenden Innovationsstrategie
für Deutschland weiterentwickeln.
Das ist nun wirklich eine ganz tolle Zielstellung. Die
ist immerhin nur acht Jahre alt und stand bereits in der
Erstauflage der Hightech-Strategie 2006. Ich frage mich
nun: Wenn Sie in Zukunft Innovationspolitik aus einem
Guss entwickeln wollen, was, bitte, haben Sie dann in
den letzten acht Jahren gemacht? Offenbar zu wenig.
Damit haben Sie auch tapfer - so ganz nebenbei gesagt die Kritik der Opposition ausgesessen.
Nach meinen jüngsten Erfahrungen muss ich auch sagen, dass ich so meine Zweifel daran habe, dass das jedes Ressort, jeder Minister schon begriffen hat, dass sie
jetzt gemeinsam handeln müssen. Ich will dazu auch
gern ein Beispiel geben.
Sie haben sich in dieser Hightech-Strategie sechs Zukunftsaufgaben gestellt. Darunter befindet sich - selbstverständlich; deshalb rede ich auch hier - die Zukunftsaufgabe „Digitale Wirtschaft und Gesellschaft“. Dies
war auch Thema des IT-Gipfels, was Sie auch miteinander verbunden haben. Das ist insgesamt auch gut so. Ob
das nun in der Zukunftsaufgabe steht oder nicht, Fakt ist:
Die Digitalisierung hat schon jetzt alle Lebensbereiche
verändert.
({0})
Immerhin: In Informatik-, Technik- und Wirtschaftswissenschaften werden dazu zahllose Projekte beforscht.
Was aber seit Jahren fehlt, sind Reflektionen aus geisteswissenschaftlicher bzw. gesellschaftswissenschaftlicher
Perspektive. Bizarrerweise ist es lediglich das von
Google finanzierte Humboldt-Institut, das sich seit mehreren Jahren genau dieser Problematik stellt. Öffentliche
Gelder, beispielsweise aus der Hightech-Strategie, gab
es insgesamt immer nur in homöopathischen Dosen. Das
kann unmöglich so bleiben.
({1})
Da stellen sich schon Fragen wie: Welche Folgen hat
die Digitalisierung für die Gesellschaft wirklich? Dazu
wurde eine ganze Enquete-Kommission eingerichtet, deren Vorschläge in Ihre Hightech-Strategie kaum Eingang
gefunden haben. Welche neuen sozialen Ideen entstehen
denn durch das Internet? Wenn Güter wie Wissen grundsätzlich überall für alle frei zugänglich werden können,
dann ist ihre künstliche Verknappung bzw. eine Zugangsbeschränkung am Ende ein gesellschaftliches Problem. Damit muss man sich doch beschäftigen. Oder:
Was muss geschehen, damit medienkompetente Nutzerinnen und Nutzer in unserem Land endlich lebenslang
mit dem Internet oder mit den neuen Medien umgehen
können?
Es ist gut und richtig, dass das Forschungsministerium diese Lücke jetzt schließen will.
({2})
Vergleicht man die dafür eingeplanten Summen mit den
großen Technologiefördertöpfen, dann muss ich schon
sagen: Diese Fördergelder können Sie mit dem Teelöffel
wegtragen.
({3})
Meine Damen und Herren, Sie sollten Ihre Ziele
schon ernster nehmen, sonst wird es nämlich nix mit der
weltweiten Innovationsführerschaft im Bereich der Digitalisierung, die Sie sich so mutig auf Ihr Trikot gedruckt
haben. Ich sehe die Jungs und Mädels aus den Teams im
kalifornischen Silicon Valley schon vor Deutschland zittern.
({4})
Eine ressortübergreifende Innovationsstrategie müsste
sich konsequent zunächst an den notwendigen Voraussetzungen abarbeiten. Dazu muss beispielsweise die unterdurchschnittliche Breitbandausstattung beseitigt werden, dazu müssen Datenschutz- und Urheberrechte auf
den Stand der Zeit gebracht werden, und nicht zuletzt
müssten Sie sich auch mit etablierten Konzernen aus der
Chemie-, aus der Maschinenbau- oder der Fahrzeugindustrie auseinandersetzen.
({5})
Die Interessen der klassischen deutschen Industrie
und ihrer Beschäftigten sollen nicht gegen die von Startups, kleinen und mittelständischen Unternehmen und
Creative Industries ausgespielt werden. Aber genau so
sieht bis heute die Mittelverteilung aus. Es gibt wieder
kein zusätzliches öffentliches Geld für den Breitbandausbau. Es gibt immer noch kein bildungs- und wissenschaftsfreundliches Urheberrecht, trotz einer Verankerung im Koalitionsvertrag. Es gibt keine neuen
Förder- und Kreditprogramme für innovative Gründungen. Das bleibt eine Leerstelle. Für mich sieht ressortübergreifende Politik anders aus.
({6})
Nicht weniger als drei Minister - von jeder Regierungspartei einer - haben die Digitale Agenda vorgestellt, und jeder stellte seine Variante vor. Eine Gemeinsamkeit gab es aber doch: Sie hatten nichts Konkretes im
Köcher. Frau Wanka als Forschungsministerin, federführend bei der Hightech-Strategie, war überhaupt nicht dabei. Das ist ein völlig absurder Vorgang.
({7})
Professorin Gesche Joost, Designforscherin und eigens von der Regierung benannte Internetbotschafterin
Deutschlands, fasste das Schauspiel folgendermaßen zusammen: „Wenn die Politik so weitermacht, verschläft
sie den Wandel komplett.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.
({8})
Was war dann folgerichtig die erste gemeinsame Aktion der Digitalminister des künftigen weltweiten Innovationsleaders Deutschland? Sie ahnen es: Sie schrieben
einen Brief,
({9})
und diesen Brief faxten sie an die EU-Kommission.
({10})
Die Digitalminister faxten! Inhalt: Was muss die Europäische Union in Sachen Netzpolitik, Breitbandausbau,
Urheberrechte, Datenschutz und Technologieförderung
leisten?
({11})
Nun frage ich mich: Wenn Sie diese Hightech-Strategie
ernst nehmen, wieso fangen Sie zunächst damit an, Forderungen gegenüber der EU aufzustellen? Sie müssten
doch als Erstes bei sich anfangen.
({12})
Ich komme aus Halle in Sachsen-Anhalt.
({13})
Wir zitieren gerne „olle“ Luther. Luther sagte - das ist
bei diesem Thema durchaus treffend -: „Auf fremdem
Arsch ist gut durchs Feuer reiten.“
({14})
Apropos Luther: Er hat bekanntermaßen gemeinsam mit
seiner lebensklugen Frau viel darüber diskutiert, was die
Welt bewegt. Übertragen auf unser Thema heißt das,
dass die Expertise von Frauen für Wissenschaft und
Innovation nachgewiesenermaßen unverzichtbar ist.
Man sollte also erwarten, dass die Bundesregierung sich
diese Expertise nicht entgehen lässt, insbesondere weil
sie weltweit Innovationsführer werden möchte.
({15})
In der letzten Legislaturperiode hat die Linke gemeinsam mit SPD und den Bündnisgrünen mehrfach hierzu
Anträge eingebracht und Initiativen gestartet. Was uns
angeht, kann die SPD immer noch fest darauf bauen.
({16})
Im jüngsten Bericht der Expertinnen- und Expertenkommission Innovation und Forschung liest sich das so:
Die akademische und die industrielle Forschung
und Entwicklung profitieren gleichermaßen von
neuen Ideen, unterschiedlichen Sicht- und Herangehensweisen.
Das gilt eben auch und gerade für die Integration von
Frauen in Innovationsprozesse. In der Hightech-Strategie vermisst man diese Genderdimension fast durchgängig.
Abschließend will ich sagen: Auch im Hinblick auf
eine geschlechterkompetente Wissenschafts- und Innovationspolitik wirkt diese Koalition verstaubt, wie von
gestern,
({17})
und das ausgerechnet bei einem Thema, bei dem es um
die Zukunft geht.
Ich danke Ihnen.
({18})
Für die SPD-Fraktion hat jetzt der Kollege René
Röspel das Wort.
({0})
Ich mache Sie gleich zu Beginn darauf aufmerksam,
dass ich keine Aussicht sehe, das Material, das Sie mitbringen, auch nur annähernd vollständig vorzutragen,
Herr Kollege.
({1})
Herr Lammert, ich habe befürchtet, dass Sie mir die
Eingangspointe nehmen. - Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Nein, ich werde das nicht
alles vorlesen. Der Vorlesetag war vor zwei Wochen. Da
war ich - ich hätte jetzt fast gesagt: in einem anderen
Kindergarten ({0})
in einem Kindergarten. Das hat wirklich Spaß gemacht.
Das Material, das ich vor mir liegen habe, ist Gegenstand dieser anderthalbstündigen Beratung. Das ist wirklich viel Papier. Weil es hier ein bisschen „nach verbranntem Hintern riecht“, Kollegin Sitte,
({1})
um bei Luther zu bleiben, sage ich: Vielleicht hilft es,
das eine oder andere wirklich einmal zu lesen.
({2})
Das kann ich auch den Zuhörerinnen und Zuhörern nur
empfehlen. Man muss die 700 Seiten des Bundesberichts
Forschung und Innovation 2014 nicht ausdrucken - damit rettet man das Leben eines Baumes -,
({3})
aber man kann sich den Bericht herunterladen. In diesem
Bericht stellen die Bundesregierung, aber auch die Regierungen der Bundesländer dar, was an Forschung und
Entwicklung in Deutschland alles betrieben wird. Wenn
man in diesen Bericht schaut, erfährt man viel darüber
und man erkennt vor allen Dingen, dass Deutschland ein
wirklich hervorragender Standort für Wissenschaft und
Forschung ist.
({4})
Damit habe ich 700 Seiten schnell abgearbeitet; das
muss ich sagen.
({5})
- Bitte? - Doch, das ist eine Conclusio, die man ziehen
kann.
Damit sich die Regierungen nicht allzu häufig loben
- das wäre nicht gut -, gibt es einen ganz vernünftigen
Mechanismus in Deutschland. Uns wird nämlich auch
immer der Bericht der Expertenkommission Forschung
und Innovation, EFI genannt, vorgelegt. Dieser Bericht
hält der Bundesregierung, aber auch der deutschen Politik insgesamt immer so ein bisschen den Spiegel vor:
Wie sieht es eigentlich aus? Wie steht es um die technologische Leistungsfähigkeit in Deutschland? Viel von
der Kritik, die in den letzten Jahren darin geäußert worden ist, war berechtigt. Diese Kritik hat, glaube ich, die
Politik weitergebracht. Wir haben die Kritik in den Diskussionen aufgenommen und sie in Teilen umgesetzt.
An einer Stelle möchte ich vertieft auf den Bericht
von 2014 eingehen - Frau Wanka sprach das auch schon
an -: Im EFI-Bericht 2014 steht, dass wir in Deutschland
im Saldo einen Verlust an Wissenschaftlern hätten. Das
heißt, wenn man Zugänge und Abgänge von Wissenschaftlern betrachtet, verliert Deutschland laut der Botschaft der EFI gute Wissenschaftler ans Ausland. Das ist
eine falsche Botschaft.
({6})
Diese Aussage wird vielleicht verständlich, wenn man
sich vor Augen führt, welchen Zeitraum die Gutachter
betrachtet haben. Sie haben den Zeitraum zwischen 1996
und 2011 betrachtet, also einen Zeitraum von 15 Jahren.
Bezogen auf diesen gesamten Zeitraum mag die Aussage
der EFI stimmen, bezogen auf die letzten Jahre stimmt
sie sicherlich nicht. Es ist gut, wenn man ein gutes Archiv hat. Ich habe noch den Bundesforschungsbericht
2000 zu Hause.
({7})
Darin stehen ein paar Zahlen mehr. An diesen Zahlen
sieht man, dass Deutschland zwischen 1993 und 1998
ein stagnierendes System war.
Herr Riesenhuber, Sie haben, wenn ich mich richtig
erinnere, 1993 das Amt des Forschungsministers abgegeben. Leider ist danach wenig passiert.
({8})
Ein Blick auf die Zahlen zeigt, dass der Etat für Bildung
und Forschung immer um 10 Milliarden D-Mark herum
schwankte. Erst 1998 - das geben die Zahlen eindeutig
her - hat sich die Situation verändert. Mit einer neuen
Regierung hat es nicht nur mehr Investitionen in Bildung
und Forschung gegeben, sondern es gab auch eine andere Einschätzung und eine andere Wertschätzung von
Bildung und Forschung.
Ich glaube, es war 2003, dass ich auf einer der ersten
GAIN-Tagungen in Boston war. Diese Veranstaltung
wurde damals eingerichtet, um junge deutsche Wissenschaftler wieder für unser Land zu interessieren und zu
sagen: Kommt doch zurück, wir haben etwas zu bieten.
Ich habe damals das erste Mal gemerkt, dass die jungen
Wissenschaftler, die in den 90er-Jahren in die USA gegangen waren, um bessere Bedingungen zu haben, wahrnahmen: „Da passiert etwas in Deutschland, da bewegt
sich etwas“, und sich gesagt haben: Wir würden gerne
zurückkommen und tun das vielleicht auch.
2005 hat es, übrigens noch unter einer sozialdemokratischen Bildungs- und Forschungsministerin, tatsächlich
zwei ganz wichtige Initiativen gegeben, nämlich die
Exzellenzinitiative und den Pakt für Forschung und
Innovation, die noch einmal eine richtige Dynamik in
Deutschland ausgelöst haben: Deutschland ist wieder ein
attraktiver Standort für Wissenschaftler. Die Menschen,
die gut forschen wollen, wissen, dass Deutschland ein
guter Standort ist, und sie kommen wieder nach
Deutschland. Es ist gut, dass alle Regierungen seit 2005
den Weg, Deutschland zu einem attraktiven Wissenschaftsstandort zu machen, fortgesetzt haben. Das ist ein
Lob, das wir uns an dieser Stelle fast alle einmal an die
Brust heften dürfen.
({9})
Um nach vorne zu schauen: Im Jahre 2006 ist in der
ersten Großen Koalition die Hightech-Strategie auf den
Weg gebracht worden. Es gab damals die richtige Überlegung, die Hightechforschung in den unterschiedlichen
Bundesministerien zu bündeln, sie zu einer ressortübergreifenden Strategie zusammenzufassen und Hightech
zu fördern.
Wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten
haben das zugegebenermaßen immer ein bisschen zu
technikzentriert gesehen,
({10})
weil ziemlich sicher ist, dass wir die Energiewende technisch bewältigen können. Die eigentlichen Probleme bei
der Umsetzung der Energiewende sind aber eher im politischen und gesellschaftlichen Bereich sowie - jedenfalls
kurzfristig - im finanziellen Bereich zu sehen. Langfristig lohnt sich die Energiewende, aber kurzfristig schauen
die Unternehmen und die Verbraucher natürlich auf die
Preise. Das sind keine technisch zu lösenden Probleme,
sondern gesellschaftliche und politische.
Ein anderes Beispiel mag sein, dass für Gesundheit
und moderne Medizin Technik natürlich unerhört wichtig ist. Mindestens gleichbedeutend sind aber eben die
Antworten auf die Fragen, wie Pflege stattfindet, wie
Menschen und insbesondere Kranke versorgt werden
und welchen Umgang sie erleben. Das ist ein nichttechnischer Ansatz, den wir für richtig halten.
Deswegen, Frau Sitte, ist die Weiterentwicklung der
Hightech-Strategie zu einer Hightech- und Innovationsstrategie, wie sie im Koalitionsvertrag steht, tatsächlich
auf den Weg gebracht worden, und sie ist gelungen.
Wenn Sie dort hineinschauen, dann sehen Sie: Wir sagen
ausdrücklich, dass wir Deutschland beispielsweise zu einem internationalen Modell für nachhaltiges Wirtschaftswachstum und zum Spitzenreiter im Bereich der grünen
Technologien machen wollen. Ich finde, das ist ein hohes Ziel, aber das haben wir uns gesetzt, und das können
Sie nachlesen.
({11})
Das gilt genauso für viele andere Bereiche, die Sie
angesprochen haben. Zum Beispiel steht auch die OpenAccess-Strategie darin, durch die wissenschaftliche Veröffentlichungen freier und offener gemacht werden sollen.
Wir brauchen natürlich Zeit, um das umzusetzen, aber
wir sind hier auf dem richtigen Weg. Am Ende dieser
Regierungszeit werden Sie uns daran noch einmal messen; aber das Ganze dauert eben seine Zeit.
Innerhalb dieser Hightech- und Innovationsstrategie
sind wir auch noch ein paar andere wichtige Punkte angegangen, die neu und für uns wichtig sind, zum Beispiel die Innovationen in den Bereichen Dienstleistungen, Produktion und Arbeit. Warum ist das wichtig? Die
Digitalisierung der Welt - das haben Sie und auch Frau
Wanka gesagt - schreitet voran.
In der kleineren Nachbarstadt meines Wahlkreises, in
Dortmund, wurde das Internet der Dinge erfunden.
Wenn Sie dort in das Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik gehen, dann sehen Sie ein Lager, das
komplett automatisiert ist.
({12})
Die Computer erhalten dort eine Meldung, und dann
werden Waren über Roboter verschoben, die selbstständig fahren. Der Warenein- und -ausgang wird digital gesteuert, und der Mensch ist nicht mehr dabei.
Das ist eine ungeheure Herausforderung und Chance.
Wir müssen hier aber weiter forschen und die Entwicklung so gestalten, dass sie auch zum Nutzen der Gesellschaft und des Menschen ist; denn als Produktionsstandort brauchen wir auch eine moderne Produktion. Die
meisten Unternehmen haben das Ziel und sind bereits in
der Lage, energieeffizient, ressourcenschonend und kosteneffizient zu produzieren. Da ist im System noch eine
ganze Menge Potenzial; aber dazu braucht es gute und
breitangelegte Forschung.
({13})
Die Fabrik der Zukunft kann auch so aussehen, dass
Menschen nicht mehr vorhanden sind oder nicht mehr
benötigt werden. Ich glaube das zwar nicht, aber darauf
müssen wir uns einstellen.
Am Rande: Wer jemals in einer Gesenkschmiede oder
in einer Stahlbude war - oder sogar da hat arbeiten müssen -, weiß, welch ein Segen moderne Technologie oder
Automatisierung sein kann.
({14})
Wer da vielleicht länger gearbeitet hat, weiß, dass eine
Rente nach 45 Versicherungsjahren kein Geschenk ist,
sondern ein richtiges Verdienst.
({15})
Weil am Ende der Mensch für uns wichtig ist, will ich
noch sagen: In meinem Wahlkreis, in Hagen, hat ein
Konzern seine neue Zentrale eröffnet. Dort gehen die
Arbeitnehmer morgens an ein Schließfach, holen ihren
Alukoffer raus, suchen sich einen der leeren Schreibtische aus, bauen ihr Material auf, nehmen das Headset
und arbeiten; abends wird alles wieder zusammengeräumt, und das Büro sieht völlig leer aus, die Schreibtische auch. Das ist das Büro der Zukunft - oder auch
nicht. Das ist eine spannende Entwicklung. „Ist das gut
oder schlecht?“, dazu bedarf es eben auch der Arbeitsforschung. Wir wollen, dass Menschen lange gesund und
zufrieden arbeiten können und sich auf neue Situationen
im digitalen Zeitalter einstellen können. Deswegen fördern wir die Arbeitsforschung stärker als bisher. Es gab
in den 70er- und 80er-Jahren ein Programm „Humanisierung der Arbeit“; das ist ein zentrales Thema. Wir wollen mit diesen Maßnahmen dazu beitragen, dass der
nächste BUFI nicht nur dicker wird, sondern wir insgesamt besser werden im wissenschaftlichen Bereich und
eine vernünftigere Gesellschaft bekommen.
Vielen Dank.
({16})
Das Wort hat nun der Kollege Kai Gehring für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir beraten
heute über die dritte Hightech-Strategie der Bundesregierung, die Sie mit dem Signalwort „neu“ versehen haben. Weil das Prädikat „neu“ anscheinend noch nicht
ausreicht, wird der Titel Ihrer Vorlage auch noch mit
dem Anspruch „Innovationen für Deutschland“ versehen. Nun ist es nicht Aufgabe der Opposition, Ihnen ehrgeizige Ziele auszureden. Wir werden vielmehr kritisch
prüfen, ob die wohlklingenden Worte mit sinnvollen Instrumenten unterlegt werden oder verbale Superlative
einfach nur von inhaltlichen Defiziten ablenken sollen.
({0})
Die neue Hightech-Strategie hätte nach einem Jahr
Regierungszeit und neun Jahren CDU-Forschungsministerinnen als Chance zu einem echten Neustart genutzt
werden können. Die Koalition hätte die Möglichkeiten
für einen Aufbruch zu einer nachhaltigkeitsorientierten
Innovationspolitik aus einem Guss gehabt. Sie könnten
sich auch ehrlich machen, dass Sie weiter vordringlich
auf wachstums- und auf industriegetriebene Felder setzen. Weil Sie all das aber unterlassen, springen Sie zu
kurz.
({1})
Wirklich neu wäre etwas anderes gewesen: ein klarer
Fokus auf ökologische Nachhaltigkeit und gesellschaftlichen Aufbruch, der sich in der Umsetzung dann auch
durchgängig wiederfinden müsste. Ihrer Hightech-Strategie fehlt aber eine klare Stärken-Schwächen-Analyse,
ihr fehlt eine Entrümpelung, und ihr fehlt eine konsistente Ausrichtung auf Nachhaltigkeitsaspekte. Doch
dazu fehlen Ihnen die Kraft und der Mut. Das finden wir
unzureichend.
({2})
Heraus gekommen ist ein Programm mit uneindeutigen und auch widersprüchlichen Zielen. Die sogenannten
prioritären Zukunftsaufgaben, die Sie sich als Regierung
forschungspolitisch vornehmen, sind so weit gefasst,
dass hierunter alles fällt, was Sie eh immer schon gemacht haben. Statt Klima/Energie heißt es jetzt „Nachhaltiges Wirtschaften und Energie“, statt Gesundheit/Ernährung heißt es jetzt „Gesundes Leben“, statt Mobilität
„Intelligente Mobilität“, statt Sicherheit „Zivile Sicherheit“, und statt Kommunikation heißt es jetzt „Digitale
Wirtschaft und Gesellschaft“.
({3})
Neu ist das alles nun wirklich nicht.
({4})
Viel wichtiger wäre die klare Auskunft darüber gewesen,
wo genau Ihre Prioritäten bei den jeweiligen Rahmenund Forschungsförderprogrammen denn nun liegen.
Das, liebe Frau Wanka, sollten Sie hier nicht verschweigen. Sonst bleibt Ihre Hightech-Strategie ein diffuses
Sammelsurium.
({5})
Richtig ist, dass es auch einzelne neue Aspekte gibt.
({6})
Es gibt die neue Zukunftsaufgabe namens innovative
Arbeitswelt und eine Stärkung der Dienstleistungsforschung. Das finden wir gut.
({7})
Es gab den Agenda-Prozess „Green Economy“, den
wir begrüßen und den wir kaum hätten besser machen
können.
({8})
Es gibt die Initiative FONA und die „Nationale Plattform Zukunftsstadt“.
Das alles reicht aber nicht aus, um eine Strategie neu
und nachhaltig zu nennen. Sie tun so, als gebe es plötzlich auf breiter Front eine Interdisziplinarität der Ansätze. Wenn alte Programme überwiegen, besteht das Risiko, dass neue Impulse wegen Beharrungskräften des
Alten ins Leere laufen.
({9})
Wie stark diese alten Beharrungskräfte sein können,
zeigt die Behandlung der neuen Energien. Das EFI-Gutachten verkennt völlig die positive Dynamik sowie die
ökologische und ökonomische Relevanz der erneuerbaren Energien. Diese waren Jobmotor, Modernisierungsfaktor und Innovationstreiber in Deutschland, bis sie
durch eine planlose, von alten Interessen dominierte
Politik gedrosselt wurden.
({10})
Wirtschaftsminister Gabriel stellt sich schützend vor
fossile Dinosaurier, vor die ältesten Kohlekraftwerke
dieser Republik. Aus Ihrem Forschungsetat, liebe Frau
Wanka, werden atomare Altlasten finanziert. Allein bis
2017 fließen knapp 1 Milliarde Euro in den Rückbau
kerntechnischer Anlagen. Beides ist Antiinnovationspolitik.
({11})
Beides ist staubgraue und riskante statt grüne und kreative Ökonomie. Damit muss Schluss sein, steuern Sie
endlich um!
({12})
Ein Misserfolg zeichnet sich auch beim Zukunftsmarkt Elektromobilität ab. Hier zeigt sich exemplarisch:
Leitentscheidungen werden schlichtweg nicht getroffen
und Innovationsprozesse verlangsamt. Ein neuer Gründergeist wird so nicht entfacht. Das schadet unserem Industrie- und Innovationsstandort Deutschland. So drohen Sie, Chancen zu verspielen. Wir brauchen mehr
Elektromobilität. Alles andere ist fatal für das Klima.
({13})
Leider ist keine Besserung in Sicht. Über neue ressortübergreifende Abstimmungsformate zur besseren
Steuerung schweigt sich diese Hightech-Strategie aus.
Wenn Ihr Selbstlob stimmt und alles so viel anders und
so viel besser im Vergleich zu früher wäre, dann hätten
Sie ja einen Großteil Ihrer Fördertöpfe auch umkrempeln
müssen.
Ich sage Ihnen: Ihr auf Technik verengtes Innovationsverständnis hat ausgedient. Ihr altes ressourcenintensives und energieverschwendendes Wachstumsmodell hat erst recht ausgedient. Hören Sie auf die EnqueteKommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“
der vergangenen Wahlperiode! Wir haben nur einen Planeten und keinen Ersatz hierfür.
({14})
Wir brauchen eine bessere Förderung von Forschung
und Entwicklung und eine Modernisierung des Wissenschaftssystems, um deren Expertise und Potenziale für
die sozialökonomische Erneuerung unseres Landes auszuschöpfen.
In Ihrer Hightech-Strategie steht Nachhaltigkeit jedoch unverbunden neben einer Reihe anderer Ziele. Allen voran stehen Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum,
Wachstum, Wachstum. Hier überwiegt die reine Wertschöpfungsorientierung. Das ist überholt. Bisherige
Förderschwerpunkte bekommen von Ihnen einfach nur
andere Namensschilder umgehängt: „green, smart, sustainable“. Der Inhalt bleibt jedoch überwiegend gleich.
Gutes Wording und Framing reichen aber nicht. Echte
Zukunftsorientierung geht anders.
({15})
Wir wollen dagegen, dass wegweisende Ansätze wie
das Rahmenprogramm „Forschung für nachhaltige Entwicklungen“ und die Forschungsagenda „Green Economy“ strukturbildend für die gesamte Hightech-Strategie
wirken, damit nicht nur die Verpackung grün aufgehübscht ist. Wir wollen auch, dass einzelne Programme
nicht nur nebeneinander herlaufen, sondern dass es zu
einem echten Transfer und zur Interdisziplinarität zwischen Technik- und Sozialwissenschaften kommt.
Leider gibt es in der Hightech-Strategie bisher kein
Indikatorensystem für mehr Nachhaltigkeit. Damit könnten wir die Prinzipien der Nachhaltigkeit für forschungspolitische Lösungen der großen ökologischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Herausforderungen nutzen,
zum Beispiel bei der Mobilität, beim Klimaschutz, bei
der Energieversorgung, bei der Ernährung, bei der digitalen Revolution bis hin zur Industrie 4.0.
Davon abgeleitet müsste eine Forschungs- und Innovationsstrategie entwickelt werden, die im Kern danach
fragt: Was leisten und was verkraften ökologische, ökonomische und soziale Systeme? Für diese Fragen müsste
sich die Koalition mit ihren Forschungsförderprogrammen endlich stärker öffnen.
({16})
Ein weiteres Problem Ihrer Hightech-Strategie ist die
mangelnde Budgettransparenz und damit auch die politische Steuerbarkeit. Jetzt erklären Sie mir doch einmal
den Unterschied zwischen den beiden Schwerpunkten
„Cybersicherheit“ einerseits und „IT-Sicherheit“ andererseits.
({17})
Offensichtlich ist der Unterschied nur der, dass unterschiedliche Häuser Ihrer Bundesregierung dafür zuständig sind. Ihre Strategie referiert oft nur die Interessen
mehrerer Ministerien und schafft neue Redundanzen.
Wir fordern einen integrierten Ansatz. Eine Bundesregierung muss vernetzt denken und auch vernetzt handeln können.
({18})
Unsere politische Aufgabe ist nicht Feinsteuerung,
sondern die Gewährleistung von Pluralität und Forschungsfreiheit in gesellschaftlicher Verantwortung. Das
heißt, es geht bei Forschung auch um größtmögliche
Transparenz und um Technikfolgenabschätzung. Es geht
darum, Chancen und Risiken gegeneinander abzuwägen.
Eine fundamentale Voraussetzung dafür ist es, für eine
kluge Wissenschaftsarchitektur und eine auskömmliche
Grundfinanzierung der Hochschulen als Herzstück des
Wissenschaftssystems zu sorgen.
({19})
Gut ist, dass Sie ein Paket der Wissenschaftspakte auf
den Weg gebracht haben. Aber das reicht nicht.
({20})
Wir erwarten, dass Sie die neue Verfassungsrealität ab
dem 1. Januar 2015 mit Leben erfüllen, mit der dauerhafte institutionelle Kooperationsmöglichkeiten in der
Wissenschaft ermöglicht werden. Das gilt es - bitte
schön - dann auch zu nutzen. Im Bundeshaushalt 2015
fehlt davon jede Spur. Da muss mehr kommen.
({21})
Wer eine Tür öffnet, der muss auch hindurchgehen.
({22})
- Wir wollten das Kooperationsverbot für Bildung und
Wissenschaft abschaffen. Ihr geht halbherzig vor. Die
Kooperation im Bereich der Wissenschaft ist jetzt möglich. Also, los geht’s.
({23})
Es gibt viel zu tun, etwa den Pakt für den wissenschaftlichen Nachwuchs. All das gilt es auf den Weg zu bringen,
sonst bleibt diese Verfassungsänderung folgenlos. Es
bringt doch nichts, wenn sie nur auf dem Papier steht,
auch wenn es die Verfassung ist.
Forschung ist für unsere wissensbasierte Ökonomie
zentrale Zukunftsvorsorge. Mit nur 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Entwicklung werden
wir als Wissensnation im internationalen Innovationswettbewerb zurückfallen. Wir fordern Sie daher seit Jahren auf, sich endlich auf das 3,5-Prozent-Ziel für Forschungsinvestitionen zu konzentrieren, um den großen
Herausforderungen gerecht zu werden.
({24})
Wenn Sie aber Zukunftsinfrastrukturen und -investitionen vernachlässigen, weil Sie im Haushalt des Ministeriums für Bildung und Forschung den Mangel der globalen Minderausgabe verwalten, dann wird sich das bitter
rächen.
Unser Wissenschafts- und Innovationssystem braucht
mehr Verlässlichkeit, das gilt besonders für die Beschäftigten im Wissenschaftsbetrieb. Es ist großartig, dass wir
inzwischen, gerade auch im Wissenschaftssystem, das
Einwanderungsland schlechthin sind und weltweit auf
Platz drei stehen. Aber es geht eben auch um die prekären Beschäftigungsverhältnisse an unseren Hochschulen.
Das muss besser werden, vom wissenschaftlichen Nachwuchs bis zur Tenure-Track-Professur.
Notwendig sind bessere Arbeitsbedingungen, mehr
Vielfalt, mehr Weltoffenheit, Geschlechtergerechtigkeit
und Familienfreundlichkeit. Wir haben dazu längst Initiativen vorgelegt. Von Ihnen kommen bisher nur warme
Worte. Legen Sie dem Parlament endlich etwas vor, um
Wissenschaft als Beruf attraktiver zu machen. Wir wollen faire Karrieren statt prekäre Befristungen.
({25})
Forschung geht im Übrigen nicht ohne Bürgerschaft.
Für echte Bürgerpartizipation im Forschungsprozess haben Sie aber kein stimmiges und verbindliches Konzept.
Welche Reichweite und welche Beteiligungsformate
wollen Sie eigentlich? Was geschieht mit den Ergebnissen? Wer stellt die entscheidenden Forschungsfragen?
Welche Rückwirkungen haben Sie auf die Weiterentwicklung der Hightech-Strategie? Auch hierzu ist im
Haushalt 2015 nichts abzulesen. Wir brauchen deutlich
mehr Citizen Science und weniger Überschriften.
({26})
Seit neun Jahren wird das Forschungsressort von der
Union verantwortet. Seitdem vernachlässigen Sie kleine
und mittlere Unternehmen, die oft wichtige Quellen und
Treiber für Innovationen sind. Im Rahmen von Förderprogrammen werden ein paar Schräubchen gedreht. Was
den KMU aber fehlt, ist eine steuerliche Forschungsförderung.
({27})
Wir wollen Entwicklungsvorhaben von KMU durch eine
15-prozentige Steuergutschrift auf Sach- und Personalkosten unterstützen. Greifen Sie diesen Vorschlag endlich auf. Er ist definitiv zielgerichteter als die skurrilen
Patentboxen, über die Herr Schäuble sinniert.
Herr Gehring, achten Sie auf Ihre Redezeit?
Ich komme zum Schluss.
Wie schön.
Die Forschungs-, Wissenschafts- und Innovationspolitik muss sich viel stärker zum Anliegen der gesamten Bundesregierung entwickeln. Sie hat mehr Tatkraft
verdient, um die großen Herausforderungen vom demografischen Wandel bis zur Digitalisierung zu schultern.
Dafür, liebe Koalition, braucht es mehr Substanz und
mehr Mittel statt wohlklingender Worte.
({0})
Stefan Kaufmann ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Lieber Kai Gehring, nachdem von Ihnen ein grünes Zerrbild von Deutschland gezeichnet wurde, will ich zu dem zurückkommen, was uns
eigentlich heute beschäftigt, nämlich die Forschungsund Innovationspolitik.
({0})
Ich war vor kurzem zu Besuch in Israel, und ich war
beeindruckt von der Innovationskraft und dem Gründergeist dort. Das Weizmann-Institut ist eines der innovativsten der Welt. Die Konkurrenz - das sieht man dort
sehr deutlich - schläft also nicht. Aber auch wir sind im
harten internationalen Wettbewerb gut aufgestellt, und
mit der neuen Hightech- und Innovationsstrategie, die
wir heute diskutieren, wird es noch besser, meine Damen
und Herren.
Wie ist die Ausgangslage? Wir stehen bei ganz vielen
Parametern hervorragend da. Viele Staaten kopieren die
deutsche Hightech-Strategie, sei es Frankreich mit Unterstützung der Fraunhofer-Gesellschaft oder die USA
mit ihrer gigantischen Advanced Manufacturing
Strategy. Mit unserem fortgesetzten Commitment zur
Forschung haben wir das 3-Prozent-Ziel der Europa2020-Strategie bereits 2012 erreicht, lieber Kai Gehring.
Zusammengenommen haben Staat, Wirtschaft und Wissenschaft in Deutschland ihre Ausgaben für Forschung
und Entwicklung sogar auf den Rekordwert von mehr als
79 Milliarden Euro im Jahr 2012 gesteigert. Damit liegt
Deutschland im europäischen Vergleich in der Spitzengruppe.
({1})
Meine baden-württembergische Heimat nimmt übrigens innerhalb Europas mit über 5,1 Prozent FuE-Intensität den Spitzenplatz ein.
({2})
Dies ist zweifellos ein Hauptgrund für unsere wirtschaftliche Stärke im Südwesten.
Auch der aktuelle Forschungs- und Innovationsbericht, über den wir heute diskutieren, bestätigt, dass der
Standort Deutschland in den letzten Jahren weiter an Attraktivität gewonnen hat; die Ministerin hat es bereits erwähnt. Knapp 600 000 Menschen sind in Deutschland in
Forschung und Entwicklung tätig. Allein zwischen 2005
und 2012 sind in diesem Bereich - unter anderem dank
der Exzellenzinitiative - 114 000 neue Arbeitsplätze entstanden.
({3})
Fünf der zehn forschungsstärksten Unternehmen Europas kommen heute aus Deutschland. Beim Export von
forschungsintensiven Gütern bildet Deutschland mit einem Anteil von rund 12 Prozent am Welthandelsvolumen hinter China die Weltspitze, noch vor den USA und
Japan.
Bei den transnationalen Patentanmeldungen ist
Deutschland führend in Europa und liegt weltweit an
dritter Stelle. Die gegenwärtig gute Stellung vor allem
innerhalb Europas und der Wohlstand Deutschlands können aber angesichts des sich weiter verschärfenden globalen Wettbewerbs nur mit einer breiten Wissens- und
Innovationsbasis behauptet und ausgebaut werden. Genau hier setzt die Hightech-Strategie an, und zwar mit
drei Zielrichtungen:
Erstens bündeln wir zentrale Handlungsfelder zur
Förderung von Forschung und Innovation innerhalb der
Bundesregierung. Zweitens setzen wir Prioritäten in ausgewählten Bereichen, und drittens verfolgen wir neue
Ansätze in der Querschnittsförderung von Innovationen.
Hightech ist also zukünftig eine Querschnittsaufgabe.
Das entbindet uns aber nicht von der Herausforderung,
klar zu sagen, wer am Ende bei der Umsetzung den Hut
aufhat.
Was wollen wir konkret mit der neuen, auf der erfolgreichen Hightech-Strategie aufbauenden, ressortübergreifenden Innovationsstrategie erreichen? Wirtschaft und
Wissenschaft werden mit Unterstützung der Bundesregierung in zahlreichen Projekten zusammenarbeiten, zum
Beispiel zur Förderung der Elektromobilität oder der digitalen Fertigungsprozesse, Stichwort „Industrie 4.0“.
({4})
Wichtig ist in diesem Kontext, dass die Industrieunternehmen in der vorwettbewerblichen Phase enger zusammenarbeiten. Die anbrechende Konnektivität der Fertigungsbereiche durch Industrie 4.0 erfordert eine kreative
Kooperation der Unternehmen innerhalb des „Industrieclusters Deutschland“. Ziel ist es, durch HochtechnoloDr. Stefan Kaufmann
gie und innovative Geschäftsmodelle auf den etablierten
Technologien aufzubauen.
Zugleich sollen in dieser Legislaturperiode neue Instrumente eingesetzt werden, um den Transfer von Ideen
in Produkte weiter zu verbessern. Hierin, in der Innovationsumsetzung und im Transfer von der starken Grundlagenforschung zum marktfähigen Produkt, liegen nicht
nur meines Erachtens die größten Defizite und damit
auch die größten Herausforderungen für uns.
({5})
Das ist im Übrigen nicht nur eine Frage der Kultur,
Stichworte „Gründermentalität“, „Umgang mit Risiken“,
„Verfügbarkeit von Wagniskapital“ und vieles mehr. All
das konnte ich bei meinem eingangs erwähnten Besuch
in Israel hautnah erleben.
Apropos Risikofinanzierung. Warum tun wir uns hier
eigentlich so schwer? Geld gibt es hierzulande genug. Es
muss eben nur aktiviert werden. Ja, Innovation und
Technologietransfer brauchen auch die richtigen finanziellen Rahmenbedingungen. Dazu gehören zum Beispiel
Anreize für den Einsatz von Wagniskapital, innovationsfördernde Regelungen beim Crowdfunding oder Verbesserungen bei der Innovationsfinanzierung kleiner und
mittlerer Unternehmen; Kollege Riesenhuber wird dazu
noch einiges ausführen.
Die Umsetzung der neuen Hightech-Strategie soll von
einem neuen Hightechforum begleitet werden, in dem
zentrale Akteure aus Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft vertreten sind. Diesem Hightechforum kommt eine
enorm wichtige Rolle zu. Es muss schlank und schlagkräftig sein, damit es effektiv zur Vernetzung aller innovatorischen Kräfte beitragen kann. Zum Erfolg wird die
Strategie dann werden, wenn wir bewusst unsere Stärken
stärken.
Was heißt das nun? Erstens. Wir müssen unser leistungsfähiges differenziertes Wissenschaftssystem mit
starken Hochschulen angemessen ausstatten. Das sage
ich vor allem auch an die Adresse der Länder. Zweitens.
Wir müssen auf unserem robusten industriellen Fundament aufbauen und Cluster bilden von exportorientierten, forschungsstarken Unternehmen, Hochschuleinrichtungen und außeruniversitären Forschungsinstituten,
eine klassische Win-win-win-Situation.
Im Prinzip ist es das, was die Fraunhofer-Gesellschaft
mit ihren nationalen Leistungszentren vorhat: die Profilund Exzellenzbildung an Forschungsstandorten um thematische Cluster herum und am Ende die Verbindung
mehrerer Cluster zu einem leistungsfähigen, international sichtbaren Forschungsraum. Zwei Beispiele: das
DRESDEN-concept zur Funktionsintegration mikround nanoelektronischer Systeme oder das Freiburger
Cluster zum Thema Nachhaltigkeit.
({6})
Die beteiligten Cluster können übrigens neue Cluster
sein oder solche, die beispielsweise bereits im Rahmen
des Spitzenclusterwettbewerbs der alten Hightech-Strategie entstanden sind.
Die Union steht - ich betone das gerne - weiterhin
zur Spitzenforschung. Wir müssen dagegenhalten, wenn
deutsche Unternehmen ihre FuE-Aktivitäten im Bereich
der Spitzentechnologien immer mehr ins Ausland verlagern, wie es im EFI-Bericht nachzulesen ist. Klar ist
- darüber sind wir uns im Hause einig -: Spitzenforschung braucht die besten Köpfe.
({7})
Es ist deshalb richtig, dass die Max-Planck-Gesellschaft
und die Alexander-von-Humboldt-Stiftung wie auch die
Deutsche Forschungsgemeinschaft ihre Arbeit darauf
konzentrieren, die besten Köpfe nach Deutschland zu
holen oder hier zu halten. Es ist deshalb richtig, dass Exzellenz weiterhin wichtigstes Kriterium bei der Vergabe
von Geldern aus deutschen oder europäischen Fördertöpfen an Forscher oder Institute ist. Es ist deshalb richtig, dass wir den außeruniversitären Forschungseinrichtungen im Pakt für Forschung und Innovation jährliche
Etatsteigerungen zugesagt haben und die DFG jetzt mit
der erhöhten Programmpauschale unterstützen.
Ein weiteres wichtiges Feld ist die Standardisierung.
Wer die Standards setzt, hat die Kontrolle. Hier muss
sich die deutsche Wirtschaft international noch viel mehr
einbringen als bisher. Ich befürchte, dass die Bedeutung
der Standardisierung und standardessenzieller Patente
dort noch nicht richtig angekommen ist. Das ist übrigens
auch eine Erkenntnis aus dem EFI-Bericht, die wir ernst
nehmen müssen. Gerade im Bereich der IKT hängt der
Geschäftserfolg maßgeblich von Standards ab, die man
selbst mitgestaltet.
Was müssen wir noch tun? Wir sollten darüber nachdenken, ob und wie wir unsere Hochschulausbildung anpassen müssen, beispielsweise bei der Einrichtung neuer
Studiengänge wie Data Engineering. Da wir schon bei
den Hochschulen sind - ich weiß, dass das seit Jahren
wiederholt wird -: Wir müssen die MINT-Fächer noch
weiter stärken; denn MINT ist die Grundlage aller Innovation. Hier bereitet mir eine Entwicklung große Sorge.
Nach Ergebnissen einer Untersuchung der VodafoneStiftung und dem Allensbach-Institut von letzter Woche
haben trotz vielerlei öffentlich geförderter Programme
nur 6 Prozent der Schüler Interesse an Computerberufen.
Jetzt kommt’s: Bei Schülerinnen sind es noch weniger,
nämlich 0,5 Prozent. So wird die Frauenquote weder in
der Wissenschaft noch in der Wirtschaft auf absehbare
Zeit erfolgreich sein. Wir brauchen aber gerade Frauen
in diesen zukunftsträchtigen und zukunftsfähigen Bereichen.
({8})
Es bleibt also einiges zu tun, und das möglichst
schnell. Bauen wir auf unsere im internationalen Vergleich sehr gute Infrastruktur, auf die Rechtssicherheit in
unserem Land und auf unsere sehr gut ausgebildeten jungen Leute! Gerade in der Verzahnung unserer starken
dualen Berufsausbildung mit der Hochschulbildung liegt
eine unserer größten Stärken für den Innovationsstandort. Es gibt daher guten Grund, wie wir es ja auch hier
regelmäßig tun, die berufliche Bildung hochzuhalten
und für die berufliche Bildung zu streiten.
({9})
Lassen Sie mich ein Fazit ziehen und dabei abschließend noch einmal die Gesellschaft in den Blick nehmen.
Innovationen gedeihen in einer Gesellschaft, die Chancen ergreift, nicht in einer Gesellschaft, die sich in Risikovermeidung ergeht. Nur eine der Zukunft zugewandte
Gesellschaft bietet Raum für Innovationen, Raum, der
sich durch die Dynamik der Digitalisierung in einem ungeahnten Maße erweitert. Angesichts des demografischen Wandels in diesem Land sehen wir uns da einer
doppelten Herausforderung gegenüber. Unseren Wohlstand können wir jedenfalls nur mit Qualität und Hochtechnologie verteidigen. Das müssen wir jeden Tag aufs
Neue auch öffentlich sagen. Ich habe es schon gesagt:
Heute Morgen im Morgenmagazin war alles, was wir
heute im Bundestag diskutieren, Thema - nur nicht die
Hightech-Strategie. Auch das ist bezeichnend.
Den Kampf um die billigsten Produkte - den werden
wir verlieren. Den Kampf um die besten Produkte - den
wollen wir aber gewinnen.
({10})
Deshalb ist diese Hightech-Strategie so wichtig. Vor diesem Hintergrund unterstütze ich ausdrücklich die umfangreichen Aktivitäten der Bundesregierung im Rahmen der Hightech-Strategie. 11 Milliarden Euro pro
Jahr, das ist ein Wort. Lassen Sie uns gemeinsam weiter
hart an der Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands und der
Zukunft unseres Landes arbeiten.
Herzlichen Dank.
({11})
Der Kollege Roland Claus ist der nächste Redner für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat also einen Plan. „Die neue HightechStrategie“, das klingt sehr selbstbewusst. Aber ich muss
Ihnen auch sagen: Zwischen Selbstbewusstsein und Anmaßung liegt manchmal nur ein schmaler Grat.
({0})
Ihr Text sagt: „Deutschland auf dem Weg zum weltweiten Innovationsführer“; Ihr Text sagt: Deutschland
als „führende Wirtschafts- und Exportnation“. Mit Verlaub, meine Damen und Herren: Hier ist die Grenze zwischen Selbstbewusstsein und Anmaßung weit überschritten. Das ist doch Anmaßung pur.
({1})
Die Vorlage sammelt so ziemlich alle Schlagworte,
die wir kennen, Schlagworte aller Gipfel, aller Pakte, aller Initiativen, aller Cluster, aller Portale, aller Agenden,
aller Kompetenzzentren, aller Zukunftsprojekte usw. usf.
Sie haben so lange gebündelt, bis keiner mehr weiß, was
in dem Bündel drin ist.
({2})
Allerdings kommt das Wort „Friedensforschung“ in
Ihren langen Texten nicht vor, dafür an allzu vielen Stellen das Wort von der Verwertungslogik. Ich finde, wer
die Erotik am Kreativen so auf Verwertung reduziert, der
hat von Erotik nicht viel verstanden.
({3})
Wirtschaftsverbände, Wissenschaftsexperten fällen
ihr Urteil, das in der Kurzfassung lautet: Die Regierung
lobt sich für Milliardenausgaben für Hightech, Unternehmen sind enttäuscht, Investitionen haben nicht gezündet; gefördert werden nur die üblichen Verdächtigen. Sie haben Ihren Plan vom Glück „Strategie“ genannt und
sich damit in eine Falle begeben. Das Wort „Strategie“
kommt bekanntlich aus dem Griechischen, stratēgós
- ursprünglich die Kunst der Kriegsführung -; heute
verstehen wir unter Strategie:
Strategie beschreibt einen angestrebten Zielzustand
und den Weg dorthin.
Ziele und Wünsche beschreiben Sie in Menge. Den
Weg dorthin bleiben Sie schuldig. Ganze eineinhalb Seiten am Abspann mit dem Titel „Umsetzung“, das erscheint so, als wäre Ihnen aufgefallen: Hoppla, da fehlt
doch noch was.
Was Sie hier Strategie nennen, ist ein folgenloses
Sammelsurium von wohlklingenden, aber inhaltsleeren
Wünschen.
({4})
Tucholsky würde wohl sagen: Man kann getrost für
diese wissenschaftliche Revolution stimmen, mit dieser
Regierung kommt sie bestimmt nicht.
({5})
Während Sie hier über die Zukunft schwadronieren,
holt Sie die Gegenwart ein. Die Staatsanwaltschaft München machte vor zwei oder drei Tagen eine Razzia wegen Korruptionsverdachts bei einem Ihrer vielgeförderten Musterschüler, nämlich bei der militärischen Sparte
von Airbus, der Airbus Defence and Space GmbH. Diese
GmbH ist ein mindestens siebenfacher Zuwendungsempfänger des Bundesministeriums für Bildung und
Forschung. Das ruft doch nach Aufklärung, meine Damen und Herren, auch in Ihrem Ministerium.
Deshalb, Frau Ministerin: Sie können sich nicht in die
Zukunft flüchten, solange Sie hier und heute Ihre Förderpolitik nicht im Griff haben.
({6})
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Hubertus
Heil das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Herr Claus, es geht aber um etwas anderes.
Es geht um drei Vorlagen, die wir heute diskutieren,
nämlich um den Bundesbericht Forschung und Innovation, das Gutachten der Expertenkommission und die
neue Hightech-Strategie der Bundesregierung. Wenn Sie
fragen, welchen Innovationsbegriff wir zugrunde legen,
dann sage ich Ihnen: Schauen Sie bitte in die Papiere,
und verbreiten Sie nicht so ein Zeug!
({0})
Ganz klar ist, dass wir spätestens seit Joseph
Schumpeter wissen, dass Invention und Innovation zwei
verschiedene Dinge sind, die aber zusammenhängen.
Das heißt, es geht nicht allein darum, Dinge zu erfinden
oder Prototypen auf den Weg zu bringen; es geht auch
darum, dass daraus tatsächlich Produkte, Verfahren und
Dienstleistungen werden und - ich füge das hinzu - dass
aus technischem und wirtschaftlichem Fortschritt auch
gesellschaftlicher und sozialer Fortschritt wird. Das ist
unser Innovationsbegriff, und der findet sich auch in der
Hightech-Strategie wieder.
({1})
Wir müssen dann fragen, ob wir gut sind und ob wir
gut aufgestellt sind, was unsere Hightech-Strategie, unsere Forschung und Entwicklung betrifft, um auch die
großen Fragen unserer Zeit zu beantworten. Wenn es darum geht, mit wissenschaftlichem und technischem Fortschritt gesellschaftliche Probleme, wenn Sie so wollen,
Menschheitsprobleme anzugehen, dann liegen vor allen
Dingen vier große Fragen vor uns, beispielsweise die
Frage, was wir tun können, um mit technischem Fortschritt in Deutschland den demografischen Wandel positiv zu begleiten, oder die Frage, was wir tun können, um
zu erreichen, dass aus Digitalisierung - das Stichwort ist
hier schon mehrfach gefallen - Positives wird, etwa
wenn es um Datensicherheit geht. Die Frage ist aber
auch: Was ist Arbeit 4.0? Der Kollege Röspel hat am
Beispiel der Fraunhofer-Institute in Dortmund darauf
hingewiesen. Dort gibt es übrigens nicht nur schlaue
Techniker und Logistiker, sondern auch Wissenschaftler,
die mit Arbeitssoziologen zusammenarbeiten wollen,
um zu erforschen: Was heißt „Arbeit 4.0“? Welche Qualifikationsanforderungen brauchen wir in dieser neuen
Welt, bei dieser industriellen Revolution? Ich finde, dass
wir da auf dem richtigen Weg sind, auch mit der Hightech-Strategie.
({2})
Es geht auch um die Frage, wie wir mit technischem,
naturwissenschaftlichem und wissenschaftlichem Fortschritt mithelfen können, mit Mitteln der Industriegesellschaft Probleme zu lösen, die aus der Industriegesellschaft entstanden sind: ökologische Probleme, die
Knappheit von Ressourcen, der Klimaschutz. Ich glaube,
dass wir mit der Energieforschung, die wir auf den Weg
bringen, nicht nur einen Beitrag dazu leisten können,
dass wir in Deutschland im Rahmen der Energiewende
eine bessere Energieversorgung bekommen. Wir können
die Lösung, die wir hier haben, auch exportieren. Die
Weltbevölkerung wächst. Es wird ein Riesenenergiehunger auf der Welt da sein. Wenn wir deutsche Produkte,
Verfahren und Dienstleistungen exportieren und so mithelfen können, dass es ökologischere, wirkungsvollere
Verfahren auf der Welt gibt, dann leisten wir mit deutscher Forschung und Anwendung tatsächlich einen Beitrag dazu, dass wir dieses Menschheitsproblem angehen
können.
({3})
Meine Damen und Herren, neben Demografie, Digitalisierung, knappen Ressourcen geht es auch um die
Frage, welchen Beitrag Wissenschaft und Forschung in
Deutschland leisten können, wenn es darum geht, der Internationalisierung von Politik und Wirtschaft etwas Gutes abzugewinnen. Ich meine da durchaus auch geisteswissenschaftliche Forschung. Wir erleben bei den
internationalen Konflikten, die es im Moment auf der
Welt gibt, dass es wichtig ist, dass wir Konfliktforschung, Friedensforschung, zivile Forschung miteinander voranbringen. Herr Claus, das können Sie nicht leugnen: Seit Sozialdemokraten da mitmachen, kommt das
auch wieder ein Stück weit stärker voran; das erkennen
Sie, wenn Sie in den Haushalt gucken. Darauf sind wir
durchaus stolz.
({4})
Wo stehen wir heute? Da ist Licht und Schatten; das
ist richtig. Dafür gibt es den EFI-Bericht. Aber grundsätzlich - darauf haben die Kollegen der Koalition hingewiesen - steht Deutschland gut da. Wir sind beim
Innovationsindex der Europäischen Union an der Spitze.
Wir haben ein Wachstum der Mittel. Was das 3-ProzentZiel angeht, so sind wir inzwischen - um genau zu sein bei 2,98 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Das sind
massive Steigerungen. In dieser Zeit gab es bei Forschung und Entwicklung tatsächlich einen Rekordaufwuchs, sowohl im privaten als auch im öffentlichen Bereich. Wir haben in diesem Land auch eine gute
Grundstruktur, nämlich innovative Unternehmen, vor allen Dingen mittelständische Unternehmen, die berühmten Hidden Champions, die auf den Märkten der Welt
nicht mit den billigsten, sondern mit den besten Produkten und Verfahren erfolgreich sind, weil sie eben mehr in
Forschung und Entwicklung investieren.
Dazu gehören übrigens auch ein leistungsfähiges System forschender Unternehmen und von Hochschulen
und - darum beneiden uns einige in der Welt - sehr
starke außeruniversitäre Forschungseinrichtungen mit
klaren Aufgabenschwerpunkten. Die außeruniversitäre
Forschungslandschaft, die wir in Deutschland haben,
wird mittlerweile weltweit kopiert. Man muss nur ein6888
Hubertus Heil ({5})
mal - wir waren vor kurzem dort - mit Verantwortlichen
in China oder in Vietnam sprechen. Sie fragen uns: Wie
macht ihr das mit Max Planck, Helmholtz, Leibniz, DFG
und Fraunhofer? Wie kommt ihr eigentlich bei Grundlagenforschung und anwendungsorientierter Forschung
zurecht? Wie habt ihr das auf die Beine gestellt? - Das
ist nicht unser Problem.
Ich füge aber, Herr Gehring, hinzu: Zu einem guten
Forschungs- und Wissenschaftssystem gehört, dass wir
das Herzstück, nämlich die Universitäten, die Hochschulen in diesem Land, stärken, auch was die Forschung betrifft.
({6})
Das heißt, wir müssen die Qualität der außeruniversitären Forschung halten, den Aufwuchs, den wir auf den
Weg gebracht haben, verstetigen und gleichzeitig dafür
sorgen, dass unsere Hochschulen vorankommen. Da
werden wir im nächsten Jahr noch eine ganze Menge zu
tun haben. Wir haben allerdings schon eine ganze Menge
auf den Weg gebracht, beispielsweise mit dem Hochschulpakt.
({7})
Es wird nächstes Jahr auch um die Exzellenzinitiative
gehen. Auch dieses Thema wird die Koalition miteinander angehen, meine Damen und Herren.
({8})
- Ja, auf geht’s! Ich meine, es kann ja nicht sein, Kai
Gehring, dass ihr sagt: Nicht immer nur Wachstum,
Wachstum, Wachstum. - Das habe ich vorhin gehört. Ich
frage mich, was denn eure Alternative ist. „Schrumpfen,
schrumpfen, schrumpfen“ kann es ja auch nicht sein.
({9})
Aber ganz ernsthaft: Wenn ich höre: „Das ist ja alles
ganz gut, aber noch nicht genug“, dann kommt mir das
auch ein bisschen wie Tonnenideologie vor.
Wir haben in dieser Großen Koalition in einem Jahr
im Bereich Bildung und Forschung mehr auf den Weg
gebracht, als in den vier Jahren zuvor erreicht wurde.
Darauf bin ich stolz.
({10})
Wir haben nicht nur den Artikel 91 b des Grundgesetzes
geändert, sondern wir haben auch den Hochschulpakt
auf den Weg gebracht. Wir haben tatsächlich einen Pakt
für Forschung und Innovation geschlossen. Wir haben
im Rahmen der BAföG-Reform Milliarden von Euro zur
Verfügung gestellt; diese Mittel können die Länder in
Bildung investieren. Wir haben außerdem das Grundgesetz geändert.
({11})
- Ja, wir werden auch das Wissenschaftszeitvertragsgesetz ändern. Wir müssen auch mehr für den wissenschaftlichen Nachwuchs tun. Aber im Sinne der Fairness
fände ich es anständig, wenn auch die Opposition anerkennen würde, dass diese Regierung in einem Jahr wirklich eine ganze Menge auf den Weg gebracht hat, meine
Damen und Herren.
({12})
Das EFI-Gutachten bringt zum Ausdruck, wo Licht
und Schatten ist und wo noch Aufgaben zu bewältigen
sind. Beispielsweise ist es, wie ich finde, kein gutes
Signal, dass deutsche Unternehmen dreimal mehr im
Ausland als in Deutschland in Forschung und Entwicklung investieren. Darüber müssen wir uns unterhalten:
Was sind die Standortfaktoren für Forschungs- und Entwicklungsinvestitionen? Es ist nicht schlecht, wenn
große oder mittelständische deutsche Unternehmen, die
international aufgestellt sind, auch in anderen Ländern
- das ist ja marktnäher - Forschung und Entwicklung
aufbauen. Aber wir müssen im Interesse der Investitionen in Deutschland auch über die Rahmenbedingungen
von Investitionen bei uns reden. Dabei geht es nicht immer nur um Steuersätze und monetäre Anreize, sondern
es geht an dieser Stelle auch um Offenheit, um die Akzeptanz von Innovationen.
Hier schließt sich der Kreis: Wir werden die Akzeptanz für technischen, für industriellen Fortschritt nur
dann hinbekommen, wenn klar ist, welche Chancen und
Risiken es gibt; denn es gibt keinen Fortschritt ohne Risiko. Hier muss eine Abwägung vorgenommen werden.
Es muss auch immer ganz klar sein, welchen sozialen
Fortschritt Forschung oder Entwicklung bzw. der industrielle Fortschritt mit sich bringen. Das ist der Zusammenhang. Deshalb ist es richtig, dass es keine reine
Hightech-Strategie mehr ist, sondern im besten Sinne
des Wortes eine Innovationsstrategie, auch im Hinblick
auf sozialen Fortschritt, meine Damen und Herren.
({13})
Da kommen dann vermeintlich weiche und harte Faktoren zusammen, beispielsweise im Hinblick auf Unternehmensgründungen. In dieser Stadt, in Berlin, kann
man übrigens beobachten, dass sich die berühmte Theorie des Ökonomen Richard Florida, nach der man Talente, Technologie und Toleranz braucht, um tatsächlich
eine Gründungskultur zu etablieren, bestätigt. Diese
Stadt Berlin ist weltoffen, und hochattraktiv. Wir haben
hier inzwischen eine hochspannende Gründerszene.
Junge Menschen - nicht nur aus Skandinavien, sondern
auch aus Israel und vielen anderen Teilen der Welt -,
gute Köpfe, kommen hierher, weil Berlin eine weltoffene, spannende Stadt ist - mit viel Kultur. Gleichzeitig
verbindet sich das mit Technologie und mit Talenten.
Das gehört zusammen.
Hubertus Heil ({14})
Wenn wir es in den nächsten Jahren schaffen, auch für
die notwendigen harten Bedingungen zu sorgen - hier
geht es nicht nur um Wagnis- und Gründungskapital im
Allgemeinen, sondern vor allen Dingen auch um Wagniskapital im Hinblick auf das Wachstum von Start-ups -,
dann, glaube ich, sind wir auf dem richtigen Weg. Ich
gebe aber zu, dass wir uns da beeilen müssen; denn Tatsache ist, dass die Digitalisierung ein Megatrend ist.
Wenn wir in Deutschland zwar eine Wertschöpfungskette von klassischen Grundstoffindustrien über produzierende Unternehmen bis zu kleinen Hightechschmieden haben, aber die Ausrüster der Digitalisierung alle
eher in Amerika oder anderswo sitzen, dann ist es
höchste Zeit für gemeinsame Initiativen von Wirtschaft,
Finanzwirtschaft und Politik, um beispielsweise im Bereich der Wachstumsfinanzierung voranzukommen.
Aber es ist nicht so, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Opposition, dass da nichts passiert. Unterhalten
Sie sich einmal darüber - wir haben vorhin Kerstin
Andreae in den Verwaltungsrat der KfW gewählt -, was
die KfW inzwischen auf den Weg gebracht hat, um als
Ankerinvestor für Wachstumsfinanzierung voranzukommen.
({15})
Herr Kollege Heil.
Ich denke, damit muss man sich nur ein wenig auseinandersetzen.
Zum Schluss, Herr Präsident, Folgendes: Ich denke,
dass wir finanziell und konzeptionell mit der HightechStrategie auf einem guten Weg sind, und ich füge hinzu:
Für uns gehören wissenschaftlicher und technischer
Fortschritt und auch sozialer Fortschritt dazu. Dies wird
einen Beitrag dazu leisten, dass unser Land erfolgreich
bleibt.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort erhält nun der Kollege Stephan Albani für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! - Kann man das
Pult ein bisschen herunterfahren?
Das können Sie selbst.
({0})
Hightech, genau, und man hat sie verstanden. Das
nennt man intuitive Hightech.
({0})
- Genau.
„Wer nichts im Boden hat, der muss was in der Birne
haben“ - so der Kollege Bosbach. Es wurde - auch
heute - viel Merkwürdiges in diesem Hause gesagt. Dass
dieser Ausspruch mehr als würdig ist, ihn sich zu merken, zeigt die heutige Diskussion; denn er beschreibt
treffend, warum wir heute über die deutsche HightechStrategie sprechen. Ich füge als Nichtlandwirt und Physiker hinzu: Wenn die Birne dann auch noch leuchtet,
haben wir etwas richtig gemacht.
({1})
Dass wir etwas richtig gemacht haben, zeigt auch die
weitere Entwicklung. Eine Hightech-Strategie setzt sich
aus zwei Faktoren zusammen: zum einen aus der Weiterentwicklung bewährter Instrumente und zum anderen
natürlich aus neuen Ansätzen. Die Erfolge der bisherigen Instrumente kennen wir, und wenn dann die Opposition zu den neuen Ansätzen sagt: „Das hätten wir kaum
besser machen können“, dann, denke ich, sind wir auf
dem richtigen Weg.
({2})
- Ist doch gut, dass Sie sich davon distanzieren; denn er
hat es ja richtig gesagt.
({3})
Denn kaum ein anderes innovationspolitisches Thema ist
von so zentraler Bedeutung. Schließlich verantworten
forschungsintensive Produkte und Dienstleistungen rund
45 Prozent der deutschen Wertschöpfung. Warum das so
ist und worauf es in der weiteren Entwicklung ankommt,
stelle ich Ihnen analog zum Dreiklang „High, Tech und
Strategie“ in drei Punkten vor.
Erstens. Die Hightech-Strategie ist eine politische Erfolgsgeschichte.
Zweitens. Wissenschaft und Forschung stehen im
Dienste der Gesellschaft.
Und drittens. Wissenschaftstransfer muss auch vermittelt und verstanden werden.
Beginnen wir beim ersten Punkt: Erfolgsgeschichte.
Dass man gesetzte Ziele nur mit der passenden Strategie
erreicht, ist, ehrlich gesagt, klar und eine Binsenweisheit. Doch meist wirken Strategien häufiger im Verborgenen, und sie werden im Erfolgsfall sogar rückwirkend
neu geschrieben.
Anders hier und anders auch bei Unternehmen: Sie
müssen nicht nur Strategien haben, sondern diese jedem
erläutern, der potenziell in ihre Ideen investieren soll.
Nur so kann dieser abschätzen, ob Aussicht auf Erfolg
besteht.
In dieser Form ist Politik eher selten verpflichtet; aber
ihr Planungshorizont ist mit vier Jahren in der Regel
auch wesentlich knapper bemessen. Die Hightech-Strategie ist daher in ihrer Form innovativ und fast revolutionär.
Seit 2006 bündelt sie ressortübergreifend die notwendigen
Kompetenzen, um die deutsche FuE-Landschaft aufblühen zu lassen. Eine ressortübergreifende Strategie sollte
dabei nicht als eine geteilte Verantwortung in Summe,
sondern als eine gemeinsame Verantwortung verstanden
und gelebt werden.
Die dafür aufgebrachten Fördermillionen werden nicht
nach dem Gießkannenprinzip verteilt, sondern punktgenau entsprechend der Strategie in zukunftsorientierte
Projekte investiert. Das - und nur das - führt zu messbaren Erfolgen.
Und sie sind messbar. Aktuell: Platz eins bei den
Innovationsrahmenbedingungen, Platz zwei bei den Innovationsfähigkeiten und Platz vier bei den Wettbewerbsfähigkeiten. Klare Zeugnisse und einfache Konsequenzen: Platz eins halten, Platz zwei verbessern, vier
dito.
({4})
Deutschland ist hinter den USA das zweitwichtigste
Zielland für FuE-Investitionen. Kürzlich wurde der Bundeshaushalt 2015 beschlossen, der zum zehnten Mal in
Folge eine deutliche Mittelsteigerung für Forschung und
Bildung festschreibt. Diese Innovationen sind unser
Sprungbrett, unser Ticket in die Hightechzukunft. Von
Hightech profitiert vor allem der forschende Mittelstand.
Deshalb wurden Forschungskooperationen zwischen
Wissenschaft und Mittelstand im vergangenen Jahr ressortübergreifend mit der Rekordsumme von 1,4 Milliarden Euro gefördert. Das sind 30 Prozent mehr als 2009.
({5})
Das trägt Früchte: 900 Innovationen, 300 Patente und
40 Unternehmensausgründungen hat zum Beispiel das
Instrument Spitzencluster-Wettbewerb als Teilinstrument
der Hightech-Strategie bereits hervorgebracht. Jeder
Euro öffentlicher Förderung löst dabei eine Folgeinvestition von ungefähr 1,40 Euro seitens der Unternehmen
aus. Resultat: zum Beispiel individualisierte Krebsmedikamente, patientenspezifische Kunstgelenke und druckbare organische Elektronik made in Germany. Die Internationalisierung der Spitzencluster, die Stärkung von
Kooperationen zwischen Unternehmen und Fachhochschulen, weitere Förderprojekte für marktnahe Entwicklung, all diese Instrumente verkürzen den Weg von einer
wissenschaftlichen Erkenntnis zu einer marktfähigen
Anwendung. Das stärkt den Mittelstand, den Standort
Deutschland und dient dabei den Menschen unmittelbar.
({6})
Punkt zwei: Wissenschaft und Forschung stehen im
Dienst der Gesellschaft. Wer sich auf seinen Lorbeeren
ausruht - auch das kennen Sie aus diesem Hause -, trägt
sie an der falschen Körperstelle. Mancher Wirtschaftsprophet glaubt heute schon, Volkswirtschaften
zu kennen, die bemüht sind, uns die Lorbeeren unter
dem Sitzmuskel wegzuzerren. Die Motivation dabei ist:
Wissenschaft und Forschung orientieren sich ähnlich
wie wir alle hier im Saal an einem Auftraggeber: dem
Wähler, dem Menschen, der Gesellschaft an sich. Dieser
Auftraggeber gibt daher die Ziele vor. Technologien sind
Mittel zum Zweck. Sie helfen uns. Schließlich soll nicht
mein Smartphone oder, kurzum, die Technologie definieren, wer wir sind, sondern wir definieren uns, und die
Technik steht in unserem Dienste. Daher sind natürlich
auch die Geistes- und Sozialwissenschaften gleichbedeutend neben die Hightech-Strategie zu stellen. Beide
zielen auf die Gesellschaft als Ganzes ab. Die sechs Themen der neuen Hightech-Strategie definieren daher die
gesellschaftlich relevanten Herausforderungen und greifen diese programmatisch auf.
Drittens: Wissenschaftstransfer muss vermittelt und
verstanden werden. Das ist der Punkt, der mir am wichtigsten ist. Wissenschaft und Forschung, die im Dienste
der Gesellschaft stehen, brauchen Wissenschaftler und
Forscher, die ihre Arbeit erklären und die sich für die
Verwertung im Sinne der Gesellschaft verantwortlich
fühlen. Dabei ist ganz klar: Ohne Grundlagenforschung
geht es nicht. 60 Jahre Grundlagenforschung am internationalen Kernforschungszentrum CERN schufen die wissenschaftliche Basis für nuklearmedizinische Diagnostik
ebenso wie nebenbei für das Internet, so wie wir es heute
kennen. Angewandte Forschung fußt auf Grundlagenforschung. Am Ende steht dabei der Transfer. Aber hier
haben wir ein nicht unerhebliches Problem: Ein ausgebildeter Wissenschaftler, eine ausgebildete Wissenschaftlerin haben während ihres Werdegangs - weder im Kindergarten, in der Schule noch in der Uni - je gelernt, den
Nutzen ihrer Ideen, die praktische Umsetzung, die wirtschaftliche Verwertung als etwas Normales und im Rahmen der Prozesskette Notwendiges zu verstehen und zu
lernen. So kommen angehende Akademiker bestenfalls
erst am Ende ihrer Ausbildung, zum Beispiel seit einigen
Jahren im Rahmen eines BMBF-Projektes, in die Verlegenheit, einmal einen Businessplan zu erstellen, der dann
häufig als notwendiges Übel empfunden wird. Hier müssen wir besser werden. Hier brauchen wir einen Kulturwandel.
({7})
Wenn die Gesellschaft den Nutzen der Erkenntnis
aber nicht versteht bzw. nicht verstehen kann, dann wird
es schwierig; denn was wir nicht verstehen, lehnen wir
ab. So sind wir evolutionär programmiert. Das kennen
wir: Wat de Buer nich kennt, dat frät he nich, und kennt
he nix, frät he auch nix. Der Drang zur irrationalen Neugier, eine Art Hunger des Geistes, ist heute unsere Schlüsselkompetenz zum wissenschaftlichen Fortschritt. Freude
am Experimentieren, Freude am Forschen, Freude auch
am Umsetzen mit dem Mut dazu, scheitern zu können,
Freude am Fortschritt schlechthin ist das, was wir in diesem Hause befördern müssen.
({8})
Auch hier setzt die neugefasste Hightech-Strategie an,
etwa mit neuen Initiativen im MINT-Bereich. Innovationspolitik gehört in die Mitte der Gesellschaft, und das
von Kindesbeinen an. Industrie 4.0, hier schon mehrfach
erwähnt, ist da wieder ein aktuelles und schönes Beispiel. Befragt man hierzu zehn verschiedene Experten
oder Personen, die sich damit beschäftigen, erhält man,
oh Wunder, zehn verschiedene Definitionen. Das verwirrt und überzeugt nicht zwingend. Neben dem fehlenden einheitlichen Grundverständnis und Grundwissen
haben viele dann bei diesen Zukunftsthemen im Unterbewusstsein Ressentiments. Der eine sieht düstere Bilder
weltbeherrschender Maschinennetzwerke, andere fühlen sich gar von ihrem Kühlschrank bevormundet, wenn
der sie daran erinnert, Milch zu kaufen. Zu wenige sehen
dabei die Chancen.
Industrie 4.0 vernetzt Menschen und Prozesse, lässt
sie miteinander kommunizieren. Das ist nur folgerichtig;
denn auch in unserem Gehirn kommunizieren alle Bereiche miteinander. Analog gilt dafür, so wie für das, was
wir anstreben: Bereiche, die nicht miteinander kommunizieren, sterben ab. Wir sollten in diesem Hause mit gutem Beispiel vorangehen. Der Tag, an dem ich das Tablet
nicht mehr im Fach eins der Postmappe, die ansonsten
wohlgefüllt ist, sehe, an dem wir über flächendeckendes
WLAN verfügen, an dem wir alle mit einem Ja zu diesen
neuen Techniken tagtäglich unser Büro in Gestalt des
Tablets in der Hand tragen, ist ein Tag, an dem ich weiß,
dass wir mit gutem Beispiel vorangehen.
({9})
Ich komme zum Schluss: Erstens. Die Hightech-Strategie, langfristige Strategien, insbesondere in Bildungsund Forschungspolitik, sind die Grundlage zu Planbarkeit und zukünftigem Erfolg. Zweitens. Wissenschaft
und Forschung werden von Menschen und für Menschen
gemacht. Menschen müssen sie verstehen können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich hoffe, wir haben
uns verstanden.
({10})
Gabriele Katzmarek hat nun für die SPD-Fraktion das
Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In einer
Studie von Ernst & Young 2014 zur Attraktivität des europäischen Wirtschaftsraums belegte Deutschland als Investitionsziel innerhalb Europas den ersten und weltweit
den vierten Platz. Besonders gute Noten erhält Deutschland derzeit für das Qualifikationsniveau der Arbeitskräfte, das soziale Klima und vor allem für die Stabilität
der rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen.
Dass dies allein nicht ausreicht, ist uns klar. Wir können
uns zwar freuen, doch es ist notwendig, weiterhin zu
handeln. Das tun wir mit der Hightech-Strategie, die seit
2006 aufgelegt ist und heute eine weitere Fortsetzung erfährt. 2014 wurde sie um das Themenfeld „innovative
Arbeitswelt“ erweitert. All denjenigen, die heute kritisiert haben, dass das noch ein Stück weit fehlt, kann ich
nur sagen: Lesen hilft in dieser Frage.
({0})
Der Mensch steht stärker als zuvor im Mittelpunkt der
Innovationsförderung. Demografie und Klimawandel,
nachhaltige Energie- und Rohstoffversorgung, ein zuverlässiges Gesundheitssystem, soziale Gerechtigkeit, das
sind die großen Herausforderungen unserer Zeit, die nur
mit Innovationen zu bewältigen sind. Neben technischen
Innovationen müssen wir auch soziale Innovationen in
den Blick nehmen. Innovationen entstehen in Systemen,
im Zusammenspiel von Universtäten, Hochschulen und
Unternehmen, von Wohlfahrtsverbänden, Kirchen, Gewerkschaften, von Patienten, Kunden, Bürgerinnen und
Bürgern.
Deutschland ist in nahezu allen internationalen Rankings, die sich mit Innovationsfähigkeit beschäftigen, zu
Recht in Spitzenpositionen. Diese Spitzenpositionen,
meine Damen und Herren, wollen wir behalten. Zu den
wichtigen und historisch gewachsenen Stärken unserer
Wirtschaft gehört die intensive und höchst produktive
Kooperation zwischen Unternehmen und den zahlreichen exzellenten Forschungseinrichtungen. Diese Verbindung von Wirtschaft und Wissenschaft ist das zentrale Element der Hightech-Strategie. Dass das Thema
„digitale Wirtschaft und Gesellschaft“ - darunter unter
anderem die Themen: Industrie 4.0, intelligente Dienstleistung, Big Data und Cloud Computing - als prioritäre
Zukunftsaufgabe im Hinblick auf Wertschöpfung und
Lebensqualität identifiziert wurde, begrüße ich ausdrücklich.
Froh bin ich als Sozialdemokratin darüber, dass die
Bundesregierung die Bereiche Innovation und gute Arbeit als zusammengehöriges zentrales Themenfeld aufgreift. Eine innovative Arbeitswelt hat faire, sichere und
gesunde Arbeitsbedingungen und gerechte Bezahlung
als Grundlage; denn es geht uns immer um Wertschöpfung und Lebensqualität.
({1})
Ein weiterer zentraler Aspekt ist das Thema „gesundes Leben“. Gesundheit ist ein kostbares Gut. Sie beeinflusst persönliches und gesellschaftliches Wohlbefinden
ebenso wie Leistungsfähigkeit, Produktivität und
Wachstum.
Sehr geehrte Damen und Herren, wir haben in den
Reden der Opposition gehört, die Hightech-Strategie sei
zu verstaubt, nicht neu genug, unkonkret und enthalte
nur Ankündigungen. Dem möchte ich gerne hier in doppelter Hinsicht widersprechen. Zum einen ist eine Strategie per Definition eine grundsätzliche, langfristig geplante Verhaltensweise und kein Aktionsplan, kein
Instrumentenkorb und auch kein Sofortmaßnahmenkata6892
log. Doch zum anderen beinhaltet die Hightech-Strategie
selbstverständlich zahlreiche konkrete Aspekte. Ich
sagte gerade: Man muss es lesen. Hier einige Beispiele:
Wir wollen die Mittelstandsförderung stärken. Ich denke
da zum Beispiel an das ZIM, das wir umbauen werden.
Es geht um vereinfachte Antragsverfahren. Das ist insbesondere für kleine und mittlere Betriebe wichtig.
({2})
Es geht uns um die Energieforschung, und zwar um den
Bereich der Batteriesysteme und um Power to Gas. Es
geht uns aber auch um Fachkräfte. Als letztes Beispiel
lassen Sie mich die Förderinitiative zur Medizintechnik
erwähnen; auch dazu finden Sie einiges.
Insofern sage ich: Wir sind auf dem richtigen Weg.
Die Hightech-Strategie ist ein lebendiger und lernender
Prozess. Ich lade Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen
der Opposition, gerne dazu ein, in den Diskurs einzusteigen
({3})
und sich nicht nur hinzustellen und zu sagen: Es reicht
nicht, es ist alt, es ist schlecht, es ist nur daneben. ({4})
Mitarbeiten hilft manchmal, meine Damen und Herren.
Für uns Sozialdemokraten gilt immer ein besonderer
Spruch: Nicht das Bewahren macht den Fortschritt aus,
sondern das Weitergehen und das Weiterentwickeln. Mit
dieser Hightech-Strategie gehen wir weiter; nun erarbeiten wir Vorschläge zu ihrer konkreten Umsetzung. Damit sind wir auf dem richtigen Weg.
Herzlichen Dank.
({5})
Heinz Riesenhuber erhält nun das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
- Das haben wir jetzt hinter uns. - Bitte.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Vielen Dank für die freundliche Gratulation;
aber die Musikalität ist nicht die beste Eigenschaft des
Parlaments.
({0})
Das war jetzt leichtsinnig.
Herr Claus hat hier in freundlicher Weise darauf hingewiesen, es sei eine Anmaßung der Bundesregierung,
darüber zu sprechen, auf dem Weg zur Spitze zu sein; er
hat es in schönen Varianten ausformuliert. Herr Claus,
Churchill hat einmal vor längerer Zeit gesagt: Setzt
keine kleinen Ziele! They do not have the magic to stir
the people’s minds. - Sie haben nicht die Magie, die
Herzen der Menschen zu bewegen. - Wenn wir also
keine großen Ziele setzen, werden wir nur Kleines erreichen.
({0})
Der Wille, wirklich gut zu sein und sich der Konkurrenz
der Besten zu stellen, ist die Voraussetzung dafür, dass
man überhaupt eine Chance hat, voranzukommen.
({1})
Insofern wünsche ich der Linken einen fröhlichen Geist
voller Tatkraft, Mut und Unternehmungsfreude und eine
fröhliche Entschlossenheit, das Beste für unser Land zu
erreichen.
({2})
Wie haben wir die Hightech-Strategie angelegt? Lassen Sie uns einen Moment über das Geld reden; denn
Geld ist in gewisser Weise die Voraussetzung für den Erfolg. Seit 2006 haben wir die Jahresausgaben für Forschung um 60 Prozent gesteigert; heute liegen sie bei
14,5 Milliarden Euro. So eine Steigerung gab es noch
nie, und sie hat uns gutgetan.
Nun sagt hier Frau Sitte, die Geisteswissenschaften
seien im Rahmen der HT-Strategie ein bisschen unterfinanziert. Liebe Frau Sitte, Denken ist erstaunlich billig,
gell?
({3})
Wenn ich es damit vergleiche, was es kostet, das CERN
oder eine Raumstation zu errichten, dann komme ich zu
dem Schluss, dass man mit wenig Geld weit kommt,
wenn man die richtigen Köpfe und die angemessene Begeisterung hat. Daran wollen wir arbeiten.
({4})
Insofern ist die Hightech-Strategie eine kluge Integration aus den unterschiedlichen Welten der technischen
Entwicklung, der Betrachtung der gesellschaftlichen
Folgen, der Integration in ein Gesamtsystem, aber auch
ein erstaunlich harmonisches Zusammenspiel der verschiedenen Ministerien, die durchaus in Eigenständigkeit - einer hat darauf hingewiesen -, aber in dem gleichen Geist, der unsere Bundesregierung auszeichnet, mit
der gleichen Strategie und mit dem gleichen Verständnis
unserer Zukunft und der Aufgaben, die auf uns zukommen, die Arbeit anlegen.
Wir haben seit 2006 ungefähr 50 Milliarden Euro,
wenn man alles einbezieht, in die Maßnahmen der Hightech-Strategie investiert. Das war vernünftig investiertes
Geld, wie die Erfolge zeigen, die ich jetzt im Einzelnen
nicht beschreiben will; denn da sind wir uns alle einig.
Unsere Wirtschaft schlägt sich tapfer, die technikgeprägten Bereiche sind erfolgreich, die wissensbasierten
Dienstleistungen werden stärker, auf den Weltmärkten
stehen wir gut da. Das heißt, wir haben hier eine gute
Lage.
In dieser Lage ist die HT-Strategie eben die Zusammenfassung. Die HT-Strategie war bis etwa 2010 ein Heraussuchen der zukunftsfähigsten, marktfähigsten Bereiche und hatte das Ziel, diese zu fördern und der
Wirtschaft zu helfen - eine gute Sache. Seit 2010 bis
heute ist das weiterentwickelt worden. Jetzt denken wir
mehr vom Ziel her.
Die Hightech-Strategie ist nicht alles. Wir haben die
Grundlagenforschung; sie läuft außerhalb und unabhängig von der Hightech-Strategie. Sie ist nicht getragen
von Zielen, sondern von der Neugierde, von der Leidenschaft der Forscher. Die Grundlagenforschung ist ein
starkes Element, das wir mit steigenden Raten gefördert
haben.
Aber die Hightech-Strategie denkt jetzt von den Zielen her: Was brauchen wir, damit für eine wachsende
Menschheit ein humanes Leben möglich wird? Was
brauchen wir, damit unsere Natur erhalten bleibt? Was
brauchen wir, damit in den Städten Wohnen und Arbeiten zusammenpassen, damit wir eine klimaneutrale Stadt
entwickeln? Damit definieren wir die Fragen, die wir angehen aus dem unendlichen Sternenhimmel des Wissens
heraus, aus dem wir das heraussuchen, was diesen Zielen
dient,
({5})
und zu einer Strategie zusammenführen, begleitet von
den leidenschaftlich engagierten Geisteswissenschaftlern, die uns immer sagen, was gut sei.
({6})
Daraus entsteht eine Strategie, die weit über eine klassische Forschungsstrategie hinausgeht. Es entsteht der
Entwurf einer neuen Wirklichkeit, der sich immer wieder zurückkoppelt an die gesellschaftliche Diskussion,
an die Diskussion mit den Wissenschaftlern, an die Diskussion mit der Wirtschaft, mit den Gewerkschaften, mit
den unterschiedlichen Organisationen. Natürlich koppelt
er sich auch zurück an die Diskussionen im Bundestag;
denn das ist die hervorragendste Quelle von geistiger
Prägekraft und machtvoller Entschlossenheit des Wissens, von Verständnis für die Wirklichkeit, des Zusammenführens der unterschiedlichen Tendenzen zu einer
einzigen entschlossenen Strategie. Dazu ist diese Debatte ein glanzvoller Beitrag.
({7})
Dabei sind wir uns natürlich alle darüber im Klaren,
dass wir hier - das ist eine wichtige Debatte - durchaus
noch Bereiche haben, bei denen wir enorme Potenziale
zu heben haben. Frau Wanka wies selbst darauf hin, dass
die Forschungsleistungen der mittelständischen Unternehmen nicht so gewachsen sind, wie man es angesichts
der Unterstützung erwarten konnte. Beim Mittelstand
gibt es aber auch Erfreuliches. So ist die Zahl der mittelständischen Unternehmen, die mit Universitäten, mit
Hochschulen zusammenarbeiten, im Rahmen der ZIMFörderung von 17 Prozent auf 43 Prozent gestiegen.
Hier entwickeln sich Strukturen. Das geht mir nicht
schnell genug. Wir arbeiten schon lange daran. Das ist
der Wandel einer Kultur. In den Universitäten muss man
noch genauer lernen - darauf ist hingewiesen worden;
ich glaube, Herr Albani sprach darüber -, wie man mit
Erfindungen umgeht.
Freunde, die Hochschulen haben im letzten Jahr
620 Patente angemeldet, die deutsche Wirtschaft insgesamt 47 000 Patente. Wir haben hier noch Potenzial nach
oben. Relativ gerechnet liegt der Anteil der Hochschulpatente in den USA bei einer anderen Zehnerpotenz. Das
heißt also: Wir haben Chancen, es gibt Entwicklungsmöglichkeiten. Daran arbeitet das Programm SIGNO,
das Sie, Frau Wanka, auf den Weg gebracht haben, daran
arbeiten die TechnologieAllianz und die Patentverwertungsagenturen. Aber es geht doch auch um die Frage
der Entwicklung einer Kultur, der Entwicklung einer
Leidenschaft für eine Wirklichkeit jenseits dessen, was
man hier als primäre und unmittelbare wissenschaftliche
Aufgabe sieht.
Wir haben zu wenig Mädels, die in der Oberstufe
Physik als Wahlfach nehmen; die EFI weist darauf hin.
({8})
Es gibt zu wenige Frauen, die MINT-Fächer studieren.
Der Unterschied bei den Einkommen von Frauen und
Männern wird sich dann ändern, wenn mehr Frauen als
Ingenieure arbeiten und weniger in einem anderen wichtigen Beruf.
Bei der Gründung von Unternehmen können wir noch
riesige Potenziale heben. In den letzten Jahren ist das ein
bisschen vor sich hingedümpelt. In den letzten Jahren
gab es besonders im Hightechbereich nicht die Dynamik, die wir hätten haben können.
Wir stellen die Zuschüsse für Business Angels steuerfrei. Gut, wir haben zwar enorme Fonds, die spezifisch
unterschiedlich sind - den High-Tech Gründerfonds,
EXIST, GO-Bio -, aber jetzt müssen wir schauen - im
Koalitionsvertrag haben wir uns vorgenommen, gesetzliche Rahmenbedingungen für Wagniskapital zu verbessern -, dass wir die privaten Wagniskapitalgeber dazu
bringen, in junge Unternehmen, in junge Technik zu investieren; denn die Privaten kämpfen für ihr Geld, gell?
Nichts ist so reizvoll, als erfahren zu müssen, dass das
Geld gleich weg ist, gell?
({9})
Dann kämpft man. In einer solchen Situation wird auch
der beste Beamte tendenziell entspannter sein.
({10})
Es liegen viele Aufgaben vor uns: im Bereich Internet, Datenschutz, in Bezug auf das neue Telekommunikationsgesetz. Die Frage ist: Inwieweit werden wir Netzneutralität ermöglichen können, damit das Internet offen
für Innovationen bleibt? Es gibt viele konkrete Möglichkeiten, Deutschland noch weiter voranzubringen. Aber
ein Punkt scheint mir sehr wichtig. Es hat mich gefreut,
dass es in der HT-Strategie ein Kapitel gibt, das die
schöne Überschrift trägt: „Transparenz und Partizipation“. Also, die Überschrift gefällt mir nicht so gut.
Denn das ist ziemlich lateinisch, und wir sollten eigentlich in Menschensprache sprechen, wenn wir um Vertrauen bei den Menschen werben wollen, gell?
({11})
Herr Kollege.
Aber immerhin steht dahinter eine Idee, nämlich die
Idee, dass wir überhaupt nur dann erfolgreich sein werden - nicht, wenn wir viel Geld in die Hand nehmen,
nicht, wenn wir rein statistisch in technischer Hinsicht
im internationalen Vergleich immer besser werden; nein -,
wenn wir die Menschen mitnehmen können, wenn die
Menschen verstehen und Freude an Technik haben,
wenn die Wissenschaftler so reden, dass die Menschen
daran glauben, dass das, was gesagt wird, nicht nur vernünftig ist, sondern vielleicht sogar wahr.
Herr Kollege Riesenhuber, könnten Sie gelegentlich
einen Blick auf die Uhr werfen?
({0})
Das irritiert mich nur.
({0})
Das habe ich mir wohl gedacht.
Nach diesem zarten Hinweis des Präsidenten, den ich
an diesem festlichen Tag in einer harmonischen Debatte
aufnehme, möchte ich eines festhalten: Wenn wir die
Menschen in der gleichen Fröhlichkeit mitnehmen, mit
der wir heute über alle Parteien hinweg im Deutschen
Bundestag mit unterschiedlichen Standpunkten, aber mit
dem gleichen Ziel, das Beste für Deutschland zu erreichen, diskutieren, wenn wir sie mitnehmen in dem Wissen, dass das, was wir machen, vernünftig ist, mit fröhlichem Geist und der Entschlossenheit für das Ziel, und
wenn wir dann jenseits jeder Strategie gemeinsam aufbrechen, dann werden wir in einem fröhlichen Volk erfolgreich arbeiten.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es wird Ihnen möglicherweise ähnlich gegangen sein wie mir: Ich habe
zwischenzeitlich gedacht, wir könnten viel Redezeit sparen, wenn wir bei bestimmten Tagesordnungspunkten
den Kollegen Riesenhuber bäten, diesen Punkt zu erläutern, mögliche Einwände als gut begründet, aber erfreulicherweise gegenstandslos darzustellen,
({0})
um am Ende dem Parlament eine glanzvolle Debatte zu
bestätigen.
({1})
Das vielleicht auch als Anregung an die Parlamentarischen Geschäftsführer für die Gestaltung weiterer Tagesordnungspunkte.
Nun bekommt als krönender Höhepunkt dieser Debatte der Kollege Rainer Spiering das Wort.
({2})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sie machen mich verlegen. Ich möchte aber gerne an Ihre Worte, Herr
Dr. Riesenhuber, anknüpfen. Es ist mir eine Ehre, nach
Ihnen sprechen zu dürfen. Sie haben Ihren Enthusiasmus
für die Sache, für die Sie kämpfen, in dieses Haus getragen. Dafür herzlichen Dank.
({0})
Es hat Vor- und Nachteile, als Letzter reden zu dürfen.
Der große Vorteil ist, dass man die Bandbreite der Diskussion mitbekommt. Gestatten Sie mir einen Hinweis
an die Damen und Herren der Opposition: Bei Ihrer Darstellung der Situation in Deutschland habe ich gelegentlich gedacht, ich sei im Zeitalter der Entwicklung der
Dampfmaschine und nicht am Beginn des 21. Jahrhunderts. Ich glaube, das kann man auch anders darstellen.
({1})
Die Hightech-Strategie ist eine Vorwärtsstrategie, und
sie ist eine kluge Gesamtkonzeption. Sie greift die derzeitige Situation in Deutschland auf und zeigt die Ziele
auf, die wir erreichen wollen. Ich möchte versuchen, das
an einer Entwicklung deutlich zu machen, die ich selbst
erlebt habe: Als zehnjähriger Junge vom Lande saß ich
auf einem Traktor. Ich werde Ihnen jetzt nicht verraten,
wie lange das her ist; aber es ist sehr lange her. Es gab
Traktoren mit 12 oder 15 PS. Daran hing ein Einscharpflug. Der Traktor hatte einen extrem hohen Kraftstoffverbrauch. In der Zwischenzeit hat sich ganz viel
geändert.
Ich möchte Ihren Blick auf einen Teilbereich der
deutschen Wirtschaft lenken, der eine extrem gute Erfolgsquote aufweist und an dem man sehr gut ablesen
kann, was Effizienzsteigerung bedeutet. Es geht um die
Landmaschinentechnik. Schauen Sie sich einen modernen Schlepper an: Getriebe- und Motortechnik zeigen,
dass darin ganz viel geistige Intelligenz steckt. An einem
modernen Schlepper können Sie erkennen, welches Maß
an Digitalisierung in Deutschland heute möglich ist. Im
Landmaschinenbereich wird ein Umsatz von ungefähr
8,5 Milliarden Euro erwirtschaftet, und die Exportquote
in diesem Bereich liegt bei - deswegen ist dieser Bereich
so wichtig - weit über 70 Prozent. Das heißt, im Landmaschinenbereich wird eine Vorwärtsstrategie verfolgt,
und man ist erfolgreich damit. Darum geht es bei der
Hightech-Strategie.
Zum Thema Effizienzsteigerung, die man an der
Landmaschinentechnik sehr gut darstellen kann, möchte
ich einen sanften Hinweis geben, weil mich das schon
lange umtreibt. Hier wird häufig suggeriert, dass Kohle
schlichtweg schlecht ist. Ich glaube das nicht. Schauen
wir uns die Entwicklung der Kohleverstromung an: In
den letzten 30, 40 Jahren gab es auch in diesem Bereich
eine unglaubliche Effizienzsteigerung. Bevor ich einen
fossilen Brennstoff völlig verloren gebe, lohnt es sich,
wie ich finde, im Rahmen der Hightech-Strategie darüber nachzudenken, ob man die Effizienz der Kohleverstromung nicht noch deutlich weiter steigern kann,
({2})
wodurch man einem Land wie Nordrhein-Westfalen eine
faire Zukunftschance geben könnte.
({3})
Der Wirtschaftsminister hat sehr deutlich gemacht,
dass der Bereich der Energieeffizienz mit allem, was dazugehört, wahrscheinlich einen größeren Spielraum bietet als der Bereich der regenerativen Energien. Auch ich
glaube sehr fest daran. Ob wir über Gebäudesanierung
oder über Gebäudesteuerung energetischer Art
sprechen - das geht alles über Computertechnik und Digitalisierung. Da ist noch ganz viel Musik drin. Wenn
wir diesen Ansatz auf unsere Energiewirtschaft übertragen, stellen wir fest, dass auch da eine Menge Musik
drin ist. Daran glaube ich.
Ich sage hier auch einmal: Kohle ist ein heimischer
Wertstoff, mit dem wir umgehen können, und im Vertrauen auf deutsche Zukunftstechnologien würde ich ihn
nicht einfach aufgeben. Ich glaube, es lohnt sich.
({4})
Lassen Sie mich Folgendes abschließend sagen: Wer
die Zukunft nicht gestalten will - dieses Gefühl hatte ich
bei Anmerkungen aus der Opposition teilweise -,
({5})
der hat nur noch die Vergangenheit. Ich glaube, hier ist
die Hightech-Strategie, über die wir heute sprechen, ein
sehr vernünftiger Ansatz, weil sie die wissenschaftlichen
Erkenntnisse dieses Landes ressourcenübergreifend bündelt und, wie ich hoffe, in Zukunft so umsetzt, dass das
gesamte Land damit eine vernünftige Zukunft und auch
eine Ausstrahlkraft auf Europa und vor allen Dingen auf
die Länder hat, in die wir unsere Güter exportieren können.
Herzlichen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 18/2497, 18/1510 und 18/760 ({0})
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. - Damit sind Sie offensichtlich einver-
standen. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Luise
Amtsberg, Omid Nouripour, Dr. Franziska
Brantner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Solidarität zeigen - Aufnahme von syrischen
und irakischen Flüchtlingen ausweiten
Drucksache 18/3154
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
b) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Luise Amtsberg, Beate Walter-Rosenheimer,
Dr. Franziska Brantner, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Situation unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge in Deutschland
Drucksache 18/2999
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auch
für diese Aussprache 96 Minuten vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Also können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Luise Amtsberg für die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am
Dienstag informierte das Welternährungsprogramm der
Vereinten Nationen, dass es die Hilfen für syrische
Flüchtlinge einstellen muss, weil einige Geberländer
ihre Zahlungsversprechen nicht eingelöst haben. Bereits
im Oktober hatte die Organisation über mangelnde Finanzierung geklagt. 1,9 Millionen Menschen sind damit
akut von Hunger und Kälte und somit auch ihres Lebens
bedroht.
Die chronische Unterfinanzierung solcher Organisationen, die das Leben von geflüchteten Menschen unmittelbar sichern, ist beschämend. Dass Zahlungsversprechen gemacht, aber nicht gehalten werden, ist aus
unserer Sicht absolut inakzeptabel,
({0})
und ich bin froh und dankbar, dass Außenminister
Frank-Walter Steinmeier gestern 40 Millionen Euro für
die Hunger- und Winterhilfe auf den Weg gebracht hat.
Diese Reaktion verdient Respekt, und sie ist genau das,
was wir Grüne uns unter der humanitären Verantwortung
Deutschlands vorstellen.
({1})
Wir wissen natürlich, dass das keine direkte Reaktion
auf die Vorkommnisse von gestern bzw. die Worte des
Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen waren, aber dennoch: Das Geld ist dort richtig angelegt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, 13 Millionen Menschen sind in der Region mittlerweile auf der Flucht. Es
gibt 7 Millionen Binnenvertriebene in Syrien und 3 Millionen Vertriebene im Libanon, in Jordanien und in der
Türkei. Fast 2 Millionen Iraker fliehen seit Jahresbeginn
vor dem Terror des IS, und insgesamt 7 Millionen Kinder sind entwurzelt und von Gewalt und prekären Lebensumständen betroffen. Ihnen fehlt der Zugang zu eigentlich
allem, was man zum Überleben braucht. An eine Rückkehr zur Normalität, zu einem Leben in Sicherheit, ist
längst nicht mehr zu denken.
Bundeskanzlerin Merkel hat in ihrer Regierungserklärung zur Entscheidung von Waffenlieferungen in den
Nordirak zugesagt, dort zu helfen, wo Menschen aufgrund der Gewalt des IS in Not sind - auch durch die zusätzliche Aufnahme von Flüchtlingen. Genau darum und
um nichts anderes geht es heute in unserem Antrag. Die
Worte der Kanzlerin dürfen keine Lippenbekenntnisse
zur Beruhigung des eigenen Gewissens sein. Wir erwarten von der Kanzlerin, dass sie die Flüchtlingspolitik
aufgrund der gesellschaftlichen Relevanz zur Chefsache
macht.
({2})
Da ich in dieser Debatte die erste Rednerin bin, kann
ich schlecht auf die Argumente reagieren, die noch kommen. Ich hoffe ausdrücklich, dass wir die Debatte nicht,
wie beim letzten Mal, auf das Gegeneinander-Ausspielen von Flüchtlingsgruppen verengen. Heute geht es
nicht um den Westbalkan und auch nicht um die von Ihnen so definierte Gruppe der angeblichen Wirtschaftsflüchtlinge. Heute geht es um den Nahen Osten, es geht
konkret um eine Gruppe von Schutzsuchenden, die - ich
hoffe, da sind wir uns einig - ohne Wenn und Aber ein
Anrecht auf Asyl hier in Deutschland haben müssen.
({3})
Um einem Einwand, den Sie gebetsmühlenartig vorbringen, zuvorzukommen: Ja, Deutschland leistet viel. Ja,
Deutschland leistet mehr als andere EU-Staaten. Ja,
Deutschland kann und muss Vorbild sein. Das ist alles
richtig. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass Deutschland
die historische Verpflichtung hat, Flüchtlingen zu helfen.
Zur Wahrheit gehört, dass Deutschland die viertstärkste
Wirtschaftsnation der Welt ist. Zu dieser Wahrheit gehört, dass Deutschland seine Wirtschaftskraft der Einwanderung zu verdanken hat. Und zu dieser Wahrheit
gehört auch, dass aufgrund der Demografie und des
Fachkräftemangels in Deutschland Einwanderung zwingend notwendig ist.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wissen, dass es
eine starke UN braucht, ein starkes Europa und ein handlungsstarkes Deutschland, um den Menschen in Syrien
und im Irak und auch in den Nachbarländern zu helfen.
Hilfe besteht nicht nur in der Aufnahme von Flüchtlingen, sondern auch in einer engagierten Friedens- und Entwicklungspolitik, in humanitärer Hilfe für die Region, in
einer zukunftsgewandten Außenpolitik. An dieser Stelle
erinnere ich daran, dass wir auch einmal Rücknahmeabkommen mit Machthabern wie Assad hatten, dass wir
Schutzsuchende, Regimegegner zurück in die Verfolgung oder gar den Tod geschickt haben. Eine zukunftsgewandte Außenpolitik ist also vonnöten. Hilfe besteht
auch aus der Aufnahme - und guten Behandlung - von
Flüchtlingen in Deutschland. Vor Ort helfen allein reicht
nicht.
Deswegen haben wir uns in unserem Antrag auf die
Feinheiten in der Sache konzentriert; denn manchmal
können auch kleine Schritte Großes bewirken. Wir fordern in unserem Antrag ein neues Kontingent. Das alte
ist zwar noch nicht ausgeschöpft; das muss es aber auch
nicht sein, um zu wissen, dass ein weiteres im nächsten
Jahr dringend notwendig sein wird. Dass unsere Forderung mit dem Argument abgewehrt wird, dass das alte
Kontingent noch nicht ausgeschöpft sei, ist extrem technisch und zeigt, dass man sich vor dem eigentlichen Problem wegduckt.
({5})
Sie selbst, liebe Kolleginnen und Kollegen der Union,
sagen doch, dass der, der kommt, auch bleiben darf. Das
ist mitnichten eine wohltätige Geste, sondern das Recht,
das jedem politisch Verfolgten verfassungsmäßig zusteht
in Deutschland.
({6})
Es ist eine realitätsvergessene Haltung, diesen Kreis einengen zu wollen. „Wer es nach Deutschland schafft“,
was ist das für eine Formulierung? Was glauben Sie
denn, wie diese Menschen hierherkommen? Dass sie
vom Himmel fallen und weich gebettet hier landen?
Nein, die, die nicht über Kontingente kommen, kommen
in Booten über das Mittelmeer und riskieren ihr Leben
dabei; manche verlieren es auch. Kontingente sind ein
Weg der legalen Zuwanderung. Diesen sollten wir stärken; das fordert unser Antrag.
({7})
Unser Antrag fordert auch, dass es schon aus der Region heraus möglich sein soll, eine Familienzusammenführung zu beantragen. Natürlich braucht es dann auch
eine personelle Aufstockung der deutschen Vertretungen
vor Ort. Auch das fordert unser Antrag. Wir wollen, dass
Menschen im Libanon bei der Botschaft in Beirut ein Visum zur Einreise erhalten, wenn sie Familie in Deutschland haben. Bisher kann man Familienasyl nur von
Deutschland aus beantragen; der Weg über das Mittelmeer - mit all seinen Risiken - ist somit eine Notwendigkeit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union und
auch von der SPD - vor allen Dingen aber von der
Union -, Sie heben doch an vielen Stellen immer wieder
die Bedeutung der Familie hervor und dass Ihnen der
Schutz der Familie wichtig sei. Ich verstehe nicht, warum das offensichtlich nicht gelten soll, wenn es sich um
Flüchtlingsfamilien handelt.
Weil wir Grünen den Schutz der Familien sehr wohl
für wichtig erachten,
({8})
fordern wir in unserem Antrag, dass es keine Rückführungen mehr im Rahmen des Dublin-Abkommens in andere EU-Staaten geben soll.
({9})
Es macht keinen Sinn, dass ein junger Mann, der mit
dem Boot in Italien angelandet ist, wegen Dublin gezwungen ist, in Italien zu bleiben, auch wenn er Familie
in Kiel oder Altötting-Mühldorf hat. Das ist in unseren
Augen das Gegenteil vom Schutz der Familie.
Eine weitere Hürde ist die sogenannte Verpflichtungserklärung, die hier lebende Syrerinnen und Syrer abgeben müssen, wenn sie Mitglieder ihrer Familie in Sicherheit bringen wollen. Diese Verpflichtungserklärungen
sollen übrigens auch dann bestehen bleiben, wenn
Schutzsuchende einen dauerhaften Aufenthaltsstatus in
Deutschland erhalten und ein eigenständiges Leben aufbauen wollen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist
doch absurd, das macht doch keinen Sinn. Wir fordern,
diese Verpflichtungserklärungen ersatzlos zu streichen.
({10})
Natürlich kann Deutschland die Flüchtlingskrise nicht
allein lösen - dafür braucht es Partnerinnen und Partner
in Europa. Aber es ist die deutsche Bundesregierung, die
auch die Macht und Durchschlagskraft hat, die anderen
europäischen Staaten zum Handeln zu zwingen. Das ändert allerdings nichts daran, dass auch wir besser werden
können. Ich glaube, unser Antrag trägt dazu bei, innenpolitisch besser zu werden. Deshalb bitte ich Sie mit
Nachdruck, ihn zu unterstützen.
Herzlichen Dank.
({11})
Vielen Dank, liebe Kollegin. - Schönen guten Morgen an Sie alle und die Gäste auf der Tribüne.
Nächster Redner in der Debatte ist Dr. Ole Schröder
für die Bundesregierung.
({0})
Sehr geehrte Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der hier vorliegende Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen betrifft ein Thema, dem
sich die Bundesregierung seit Ausbruch der Krise in Syrien intensiv widmet. Es ist nicht übertrieben, wenn ich
sage, dass sich Deutschland der Sache der syrischen
Flüchtlinge annimmt wie kaum ein anderes Land außerhalb der Krisenregion. Das gilt sowohl für die dringend
notwendige und daher vorrangige Hilfe vor Ort als auch
für die Flüchtlingsaufnahme. Unsere Experten im Bundesinnenministerium, im Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge, beim THW, im Auswärtigen Amt sowie in
den betroffenen deutschen Botschaften tun alles, damit
die Unterstützung für die von dem schrecklichen Krieg
betroffenen Menschen in Syrien, im Irak und in der gesamten Krisenregion so effektiv wie möglich ist und die
Hilfe auch wirklich ankommt.
Deutschland wird allen Betroffenen in der Krisenregion weiterhin helfen. Schwerpunkt dieser Hilfe wird
auch künftig die konkrete Unterstützung der Bemühungen der Erstaufnahmestaaten und der internationalen Organisationen vor Ort sein. Derzeit liegen die deutschen
Hilfsleistungen für die Hilfe vor Ort bei 800 Millionen
Euro. Deutschland ist damit eine der Nationen, die mit
am meisten geben.
Seit Ausbruch des Konflikts sind rund 60 000 syrische Staatsbürger als Asylbewerber nach Deutschland
gekommen und haben bei uns Schutz gefunden. Jeden
Monat werden es mehr. Daneben nimmt Deutschland
mit humanitären Aufnahmeprogrammen aktiv Menschen aus Syrien und der Region auf. Mit den gesamten
Aufnahmekapazitäten dieses Aufnahmeprogramms stellt
Deutschland drei Viertel aller Plätze zur Verfügung. Insgesamt haben seit Ausbruch des Konflikts rund
75 000 syrische Staatsangehörige Schutz in Deutschland
gefunden, meine Damen und Herren.
Natürlich werden jetzt vielfach höhere Aufnahmequoten gefordert. Auch wenn es gut gemeint ist, ist es
mit der Ankündigung von Kontingenten nicht getan. Die
Flüchtlinge müssen in einem überschaubaren Zeitraum
und einem nachvollziehbaren Verfahren ausgewählt und
aufgenommen werden. Die Aufnahme in Deutschland
kann nur dann einen echten Mehrwert bedeuten, wenn
wir diejenigen finden, die unseren Schutz am meisten
brauchen. Zudem müssen sich Menschen entscheiden,
diese Region zu verlassen und einen völlig neuen Kulturkreis zu betreten. Wer die Krisenregion einmal bereist
hat, der weiß, dass viele diesen Schritt scheuen. Die
meisten wollen vor Ort bleiben. Das gilt übrigens auch
für zahlreiche Personen, die von ihren Verwandten für
die Aufnahme in Deutschland angemeldet wurden. Das
ist eine Erfahrung aus den laufenden Verfahren.
Wenn wir hier einen qualitativen Mehrwert erzielen
wollen, müssen wir mit Bedacht vorgehen. Familien mit
Kindern, Menschen, die eine spezielle medizinische Behandlung benötigen, Menschen, die bereits Bindungen
nach Deutschland haben oder sonst in besonderem Maße
von einer Aufnahme profitieren, müssen wir ausfindig
machen. Ich glaube, bisher ist uns das recht gut gelungen. Unsere Programme finden jedenfalls auf internationaler Ebene allergrößte Beachtung und Lob, meine Damen und Herren.
({0})
Am 9. Dezember, also am kommenden Dienstag, findet endlich die durch den Bundesminister des Innern
erstmals im März 2013 und in der Folge immer wieder
eingeforderte Pledging-Konferenz des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen zugunsten syrischer Flüchtlinge statt. Wir haben in den vergangenen
Wochen und Monaten keine Gelegenheit ausgelassen,
unsere Partner inner- und außerhalb Europas immer wieder darauf aufmerksam zu machen, dass das notwendig
ist. Wir brauchen diese Pledging-Konferenz, um ausreichend Plätze zur Verfügung zu stellen, damit es zu einer
wirklichen Entlastung in der Region kommt;
({1})
denn das fördert auch die Bereitschaft der Anrainerstaaten, ihre Tore für weitere Flüchtlinge aus Syrien offen zu
lassen.
Der UNHCR wirbt darum, verschiedene Zugangswege in Staaten außerhalb der Krisenregion für syrische
Flüchtlinge zu eröffnen, um die Zahl derjenigen, die die
Region verlassen können, auch außerhalb des klassischen Resettlements oder der schnelleren humanitären
Aufnahmeverfahren zu erhöhen. Deutschland vollzieht
diesen Schritt bereits. Neben dem humanitären Aufnahmeprogramm des Bundes mit 20 000 Aufnahmeplätzen
haben die Bundesländer durch ihre Programme bereits
mehr als 10 000 Aufnahmeplätze geschaffen, und die
Programme laufen weiter.
Ferner hat Deutschland jüngst ein mehrjähriges Maßnahmenpaket für syrische Studierende aufgelegt. In diesem Rahmen werden dem DAAD insgesamt 7,8 Millionen Euro für Stipendiaten zur Verfügung gestellt, mit
dem syrische Studierende ihr Studium in Deutschland
absolvieren oder fortsetzen können. Das Programm trägt
den Namen „Leadership for Syria“ und richtet sich an
syrische Flüchtlinge sowohl in der Region als auch in
Deutschland. Das Bewerbungsverfahren läuft; die ersten
Stipendiaten sollen im Frühjahr 2015 ihr Studium aufnehmen.
Meine Damen und Herren, wir dürfen eines nie vergessen: Trotz aller Anstrengungen, die wir im Rahmen
der Aufnahmeprogramme auf uns nehmen, erreichen wir
die Masse der Flüchtlinge nur in der Region selbst. Wir
können deren Leid nur dann wirklich lindern, wenn wir
vor Ort helfen.
({2})
Dort können wir mit dem Geld am meisten tun. Alles andere, etwa die Aufnahmeprogramme, können nur für besonders Schutzbedürftige gelten und für solche Menschen, die besondere Beziehungen nach Deutschland
haben.
Wichtig ist die Hilfe vor Ort. So hilft beispielsweise
das Technische Hilfswerk bilateral in den Flüchtlingslagern in Jordanien und Nordirak bei der Sicherstellung
der Wasserversorgung und der Abwasserentsorgung und
beim Errichten weiterer Infrastruktur. Auch andere EUPartner helfen. Aber hier sollte viel mehr geschehen. Im
Rahmen des EU-Katastrophenschutzverfahrens kann erheblich mehr an Hilfe geleistet werden. Die Europäische
Kommission hat angekündigt, aufgrund neuer Bedarfserhebungen erneut an die Mitgliedstaaten heranzutreten.
Es geht auch darum, beim Wiederaufbau zu helfen. Im
Nordirak gibt es Binnenvertriebene, die in ihrem Heimatland Schutz finden und sobald wie möglich in ihre
alten Wohngebiete zurückkehren wollen. Die Hilfsorganisationen wie auch die Bundesregierung konzentrieren
sich hier auf die Hilfe vor Ort. Flüchtlingsaufnahmen in
Deutschland kommen daher lediglich in besonders gelagerten Einzelfällen in Betracht.
Wenn wir über Flüchtlingsschutz sprechen, geht es
darum, dass die Menschen Schutz in einem sicheren
Staat finden. Wer bereits in Europa um Asyl nachgesucht
hat, fällt unter die in Europa geltenden Regeln. Das gilt
auch für Syrer und Iraker. Es ist nicht nachvollziehbar,
hier Ausnahmen vorsehen zu wollen. Im Rahmen des
Dublin-Verfahrens wird das Vorhandensein familiärer
Bindungen für alle Asylbewerber gleichermaßen berücksichtigt.
({3})
Insofern, liebe Frau Amtsberg, ist der Vorwurf, den Sie
hier erhoben haben, dass dies im Dublin-Verfahren nicht
berücksichtigt wird, nicht richtig; das entspricht nicht
der Praxis.
({4})
Ich will damit nicht sagen, dass Behörden keine Fehler
machen.
({5})
Wir müssen darauf achten, dass die familiären Bindungen berücksichtigt werden. Aber das geben die gesetzlichen Regelungen bereits her.
({6})
Auch die Forderung nach einer Erleichterung des Familiennachzugs wird zu einem beträchtlichen Teil durch
unseren Entwurf eines Gesetzes zur Neubestimmung des
Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung bereits erfüllt sein. Wir werden den Status für subsidiär Schutzberechtigte erheblich aufwerten und ihn an die Regelungen
für die Flüchtlinge gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention anpassen. Insofern ist dieser Punkt berücksichtigt. Diese Personen können dann selbstverständlich ihre
Familien nachholen. Das ist uns sehr wichtig.
Für die durch das Bundesaufnahmeprogramm berücksichtigten Personen gilt das bereits. Wir legen natürlich
größten Wert darauf, dass die gesamte Familie, nicht nur
ein Teil davon, nach Deutschland kommt. Wo das nicht
gewährleistet ist, weil die Familie sich nicht zusammen
an einem Ort aufhält, berücksichtigen wir das im Nachhinein. Wir sind da sehr flexibel und ermöglichen in Zusammenarbeit mit der Botschaft, dass die Familien zusammenbleiben können. Daran haben wir selbst ein
großes Interesse.
({7})
Was den Abschiebestopp betrifft, ist es, denke ich,
auch eine Selbstverständlichkeit, dass wir nicht nach Syrien abschieben. In Einzelfällen ist in den Nordirak - in
sichere Herkunftsgebiete - abgeschoben worden. Es ist
klar: Das muss in besonderen Ausnahmefällen möglich
sein, insbesondere, wenn es sich um Kriminelle handelt.
Das ist geltende Rechtslage. Davon wollen wir auch im
Fall des Irak nicht Abstand nehmen. Unsere Gesetze
nehmen den besonderen humanitären Schutz in den
Blick.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung zeigt
Solidarität und stellt sich ihrer internationalen Verantwortung in der aktuellen Flüchtlingskrise. Was wir machen, ist nicht nur gut gemeint, sondern ist auch im Vollzug gut gemacht. Dafür danke ich allen Beteiligten, die
hier, aber vor allen Dingen auch vor Ort Verantwortung
übernehmen.
Vielen Dank.
({8})
Danke, Herr Dr. Schröder. - Nächste Rednerin ist
Petra Pau für die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zum Thema Flüchtlingspolitik liegen ein Antrag und
eine Große Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Meine Kollegin Ulla Jelpke wird für die Linke
später näher darauf eingehen. Ich möchte mit Blick auf
die aktuelle Situation hierzulande etwas grundsätzlicher
werden.
Die Amadeu-Antonio-Stiftung und Pro Asyl haben
dokumentiert: In den ersten drei Quartalen 2014 wurden
bundesweit 29 gewalttätige Übergriffe auf Flüchtlinge,
23 Brandanschläge auf Unterkünfte, 27 Sachbeschädigungen an Unterkünften sowie 194 flüchtlingsfeindliche
Kundgebungen und Demonstrationen registriert. Diese
erschreckenden Zahlen dürften im vierten Quartal dieses
Jahres noch anschwellen. Im statistischen Schnitt findet
täglich eine fremdenfeindliche Aktion statt. Die Mobilisierung dazu wird immer unverhohlener. Wir erleben
zunehmend Pogromstimmungen wie Anfang der 1990erJahre. Darauf müssen wir, muss die Bundespolitik endlich reagieren.
({0})
Es kursieren Aufrufe gegen Asylsuchende und gegen
eine vermeintliche Islamisierung Deutschlands. Es gehe
um nicht weniger als die Verteidigung der Zivilisation.
Die Hintermänner dieser Hetzkampagnen sind zumeist
bekannte Nazis. Sie geben sich als besorgte Bürger, und
sie bekommen Zulauf. Liebe Kolleginnen und Kollegen,
ja, es geht wirklich um die Zivilisation, begonnen bei
Artikel 1 Grundgesetz: „Die Würde des Menschen ist
unantastbar“, und zwar die Würde aller Menschen.
({1})
Deshalb muss auch die Würde der Menschen in Not, der
Flüchtlinge, endlich einen höheren Stellenwert bekommen als bisher.
Im Land Berlin hat die Linke diese Woche Leitlinien
für eine neue Flüchtlingspolitik vorgelegt; sie sind im Internet abrufbar. Ein Autor dieses Konzepts ist der langjährige Integrationsbeauftragte des Berliner Senats, Günter
Piening, übrigens Mitglied der Partei Bündnis 90/Die
Grünen.
({2})
- Ich würde Beifall für das gesamte Konzept und dieses
Zusammenwirken vorschlagen.
({3})
Zwei Gedanken ziehen sich durch das Konzept: Erstens. Menschenwürdige Flüchtlingspolitik betrifft alle
Ressorts und darf nicht auf die Innen- und Rechtspolitik
beschränkt werden. Zweitens. Sie kann nur gelingen,
wenn Bundes-, Landes- und Kommunalpolitik miteinander und eng mit der Zivilgesellschaft kooperieren.
({4})
In diesem Sinne muss die Bundespolitik dringend revidiert werden.
Wir sollten aber auch vor Folgendem nicht die Augen
verschließen: Es gibt an vielen Brennpunkten längst
Willkommensinitiativen, die Willkommenskultur leben
und organisieren, auch in meinem Wahlkreis.
({5})
Zugleich mehren sich aber Beispiele, die belegen, dass
die Aktiven dieser Initiativen mit Gewalt und Morddrohungen von Nazis überzogen werden. Ich könnte drastische Beispiele aufzählen; ich unterlasse das aus Zeitgründen. Umso dringender ist es allerdings, dass die Polizei
solche Bedrohungen endlich ernster nimmt und dass das
Willkommensengagement mehr gewürdigt wird.
({6})
Wie es auf gar keinen Fall geht, zeigt ein weiteres Berliner Beispiel. Der Senat hat Areale für Flüchtlingscontainerdörfer festgelegt, ohne vorherige Information der
Bürgerinnen und Bürger, ohne Einbeziehung der Flüchtlingsinitiativen, ohne Konsultation der zuständigen Bürgermeister. Eine solche Politik ist selbstherrlich, kurzsichtig und obendrein gefährlich.
({7})
Ich will mit einem nicht minder unglaublichen Beispiel schließen. In Sachsen-Anhalt haben jüngst Zehnbis Zwölfjährige eine Menschenhatz auf Romafamilien
veranstaltet. Kinder noch und schon rassistisch verhetzt!
Die Türkische Gemeinde in Deutschland fordert seit
langem einen Rassismusgipfel. Auch der NSU-Untersuchungsausschuss im Bundestag hat belegt: Rassismus
grassiert inmitten unserer Gesellschaft. Wir sollten das
endlich ernster nehmen, bevor sich Pogrome wie seinerzeit in Rostock-Lichtenhagen, Mölln oder anderswo
wiederholen.
Danke schön.
({8})
Vielen Dank, Kollegin Petra Pau. - Nächste Rednerin
in der Debatte ist Staatsministerin Aydan Özoğuz.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Es wurde schon
einige Male zu Recht gesagt, Frau Amtsberg: Deutschland und Europa stehen als große Wirtschaftskräfte vor
großen flüchtlingspolitischen Herausforderungen. Wenn
man auf die Menschenrechtskrisen in Syrien, aber auch
im Irak, in Afghanistan und Eritrea schaut - wenn ich
den Blick weiterschweifen lassen würde, könnte ich
noch mehr Staaten aufzählen -, dann ist unbestritten,
dass wir uns mittelfristig auf mehr Asylsuchende einstellen und den bevorstehenden Herausforderungen gerecht
werden müssen. Wer aus purer Not wegen Krieg, Terror
oder Verfolgung flieht, muss bei uns Schutz finden.
({0})
Er muss menschenwürdig behandelt werden, muss seine
Fluchtgeschichte darlegen können und gegebenenfalls
auch dauerhaften Schutz erhalten.
Ich empfinde die heutige Debatte als sehr angenehm.
Ich möchte aber daran erinnern, dass das im Deutschen
Bundestag nicht immer so gewesen ist. Wir haben lange
Jahre anders gesprochen. Wir haben über Asylrecht und
Asylmissbrauch gesprochen, und zwar auch in Fällen, in
denen das nicht gerechtfertigt war. Es wurden Gesetze
verschärft und Arbeitsverbote verhängt. Die Unterbringung in Sammelunterkünften wurde sogar vorgeschrieben; denn das erklärte Ziel war, den Schutzsuchenden
eben nicht hier eine Heimat zu bieten, sie hier nicht heimisch werden zu lassen. Wir haben nicht gesagt: Kommt
zu uns! - Ja, wir lernen aus der Vergangenheit. Wir tun
gut daran und sollten deutlich zum Ausdruck bringen,
dass jeder, der hier Schutz für sich, seine Familie und
seine Kinder sucht, eine Perspektive erhält. Es ist also
richtig, den betreffenden Menschen sehr früh die Zugänge zu unserer Gesellschaft zu öffnen, zu Arbeit und
Beschäftigung, zu Sprachkursen und Schulen. Dann
können aus Flüchtlingen tatsächlich neue Nachbarn werden.
({1})
Ich bin dankbar für die große Hilfsbereitschaft und
Solidarität in unserer Bevölkerung. Die Kirchen, Flüchtlingsinitiativen, insbesondere die vielen Ehrenamtlichen
- das habe ich hier schon einmal erwähnt - leisten in
diesen Wochen und Monaten Großartiges. Wir müssen
dieses Engagement noch stärker wertschätzen, und wir
müssen es auch unterstützen.
({2})
Der Grund dafür, dass ich dieser Debatte ausnahmsweise nicht bis zum Ende folgen kann, ist - ich sage es
bewusst an dieser Stelle -: Ich habe schon vor Wochen
Flüchtlingsinitiativen und Ehrenamtliche genau zu 11 Uhr
ins Bundeskanzleramt eingeladen,
({3})
um mit ihnen gemeinsam zu erörtern, was wir tun können, um sie zu unterstützen, um sie besser zu vernetzen.
Sie waren natürlich sofort einverstanden, dass ich hier
noch meine Rede halte. Ich bitte um Verständnis dafür,
dass ich wegen dieser Einladung heute etwas früher
gehe.
({4})
Wenn wir über die Große Anfrage und den Antrag der
Grünen debattieren - meine Kolleginnen und Kollegen
werden noch darauf eingehen -, dann müssen wir auch
festhalten, dass unser Land über Bundeskontingente bereits 20 000 syrische Staatsangehörige aufgenommen hat.
Es sind mittlerweile, seit 2011, 70 000 syrische Staatsangehörige hier. Bund und Länder handeln gemeinsam, erfreulicherweise in großem Einvernehmen und über Parteigrenzen hinweg. Das Auswärtige Amt hat die Mittel
für humanitäre Hilfe in der Region gestern noch einmal
um 40 Millionen Euro erhöht - Frau Amtsberg hat das
erwähnt -; denn wir wissen alle, dass einige Millionen
Menschen in der Region - in der Türkei, in Jordanien,
im Libanon - auf der Flucht sind.
Wir dürfen aber auch unsere europäischen Partner
nicht aus der Verantwortung entlassen, für die Flüchtlinge und Vertriebenen des syrischen Bürgerkrieges einzustehen.
({5})
Auch als ich zur Europäischen Grundrechtecharta reden
durfte, wurde mir klar: Es reicht nicht, zu hören, dass
Deutschland und Schweden eine tolle Arbeit machen.
Das wird immer wieder gesagt, und dafür wird auch gedankt. Wir müssen schon sagen, dass auch von anderen
EU-Staaten ähnliche Anstrengungen erwartbar sind.
({6})
Der Zustand, dass in der EU fünf Staaten 75 Prozent der
Schutzsuchenden aufnehmen, kann uns nun nicht dazu
verleiten, von einer europäischen Solidarität zu sprechen. Sagen wir es einmal positiv: Die Solidarität ist
ausbaufähig.
({7})
Insofern überzeugt es nicht, wenn wir mit Blick auf Italien die dortigen Registrierungsdefizite als größtes Problem des gemeinsamen europäischen Schutzsystems
ausmachen. Wir müssen da einfach zu mehr Verantwortung aufrufen. Klar ist auch: Wir müssen in Europa alles
tun, damit die Asyldiskussion nicht und niemals mehr
auf dem Rücken der Schutzsuchenden ausgetragen wird.
({8})
Die Große Koalition hat bereits im ersten Jahr viele
Maßnahmen umgesetzt. Einige sind schon genannt worden; deswegen mache ich es ganz kurz: Das Personal des
Bundesamts für Migration und Flüchtlinge wurde aufgestockt. Es reicht immer nicht - das wissen wir alle -;
aber 300 Leute einzuarbeiten, das geht nicht in drei Monaten. Das muss man ein bisschen realistisch sehen. Die
Asylverfahren werden mit Blick auf Asylsuchende mit
hohen Anerkennungschancen optimiert. Aussichtsreiche Verfahren sollen vorgezogen werden können. Das
hatte ich übrigens auch in meinem zehnten Bericht zur
Lage der Ausländerinnen und Ausländer gefordert. Die
Verbesserungen beim Arbeitsmarktzugang sind wichtig;
er ist nun nach 15 Monaten Aufenthalt zum Teil sogar
ohne Vorrangprüfung möglich. Das Asylbewerberleistungsgesetz passierte final den Bundesrat. Damit ist die
Zusage verbunden, dass der Bund die Länder mit bis zu
1 Milliarde Euro entlastet. Hoffentlich kommt diese Entlastung am Ende auch bei den Kommunen an. - Ohne
die Unterstützung der Grünen wären viele der genannten
Punkte nicht möglich gewesen; das möchte ich an dieser
Stelle noch einmal deutlich sagen.
Gestern haben wir im Bundeskabinett die stichtagsunabhängige Bleiberechtsregelung für Geduldete verabschiedet. Für diesen Teil des Gesetzes haben viele hier
im Haus Jahre und Jahrzehnte gekämpft, übrigens gemeinsam mit Kirchen und Sozialverbänden.
({9})
Das parlamentarische Verfahren steht noch an. Deswegen müssen wir die Diskussion darüber nicht heute führen.
Die Residenzpflicht wird ebenfalls abgeschafft. Dazu
möchte ich nur sagen: Sie wissen, dass ich am 18. Dezember 2014, am von den Vereinten Nationen ausgerufenen Internationalen Tag der Migranten, einen Empfang
gebe. Ich bin all denen von Ihnen sehr dankbar, die jeweils eine Person angemeldet haben, die sich besonders
für Flüchtlinge engagiert. Die Veranstaltung ist mittlerweile voll; das haben die gemerkt, die mit ihrer Anmeldung zu spät kamen. Es ist eine schöne Sache, wie ich
finde, dass zufällig - das konnte man nicht voraussehen - gleichzeitig eine weitere Syrien-Konferenz im
Auswärtigen Amt tagt. Wir sind guter Dinge, dass wir
dort allen wirklich ein sehr schönes Dankeschön sagen
können.
Es wurden auch einige angemeldet, die selber Flüchtlinge sind, aber schon lange im Land leben und der Residenzpflicht unterliegen. Nun muss ich allen Ernstes
Briefe schreiben des Inhalts, dass das hier eine ordentliche Veranstaltung ist und doch bitte die Residenzpflicht
für diese Menschen aufgehoben wird. Die Absurdität
wird da einfach noch einmal besonders deutlich. Ich bin
froh, dass wir das nun bald hinter uns lassen werden.
({10})
Zu guter Letzt möchte ich die Aufmerksamkeit noch
auf eine Gruppe lenken, nämlich auf die unbegleiteten
minderjährigen Flüchtlinge. Sie sind, wie es naheliegt,
ohne Erziehungsberechtigte eingereist. Wir dürfen, glaube
ich, nicht vergessen, dass es sich bei den Beweggründen
für das Verlassen der Heimat um sogenannte kinderspezifische Fluchtgründe handelt. Solche Begriffe sagen eigentlich wenig über das aus, was dahintersteht: drohende
Zwangsrekrutierung als Kindersoldat, Gefahr von Entführung, bei Mädchen die anstehende Genitalverstümmelung oder Zwangsverheiratung. Wir alle kennen das.
Deswegen sind wir in der Pflicht, dem Kindeswohl und
den besonderen Bedürfnissen dieser jungen Menschen
- es sind zum Teil stark traumatisierte Minderjährige gerecht zu werden.
Ja, es gibt auch Kriminalität bei einigen; das will ich
überhaupt nicht verhehlen. Nur, was mich nach wie vor
ärgert, ist: Wenn das einmal vorkommt, dann entsteht
das Bild, alle seien so oder latent so. Dabei gibt es die
anderen, die nun gerade darum kämpfen, etwas Besseres
zu machen. Wir wissen, wie viele ihre Chance wahrnehmen, hier ein geregeltes Leben zu führen, eine Ausbildung zu machen. Wir haben soeben die Ausbildungsförderung auch für diese Gruppe viel schneller möglich
gemacht. Gerade für diejenigen müssen wir einfach
deutlich machen: Wir wollen, dass sie ein halbwegs faires und gutes Leben führen können und nicht immer mit
den anderen unter einen Generalverdacht gestellt werden.
({11})
Wir wissen, dass die Zahlen kontinuierlich zugenommen haben und dass wir auch noch eine Debatte darüber
führen müssen, wie wir das Kindeswohl im Blick behalten und gleichzeitig dafür sorgen, dass wir die Regelungen, die bestehen und die in meinen Augen dem Kindeswohl nicht gerecht werden - ich denke an den Fall, dass
sich furchtbar viele an einem Ort tummeln -, verändern.
({12})
Wenn Sie es mir erlauben, möchte ich als Beauftragte
an dieser Stelle noch einen Satz sagen, der gar nichts
oder fast nichts mit diesem Thema zu tun hat. Es ist mir
ein Bedürfnis, heute Morgen hier einmal den Namen
Tugce Albayrak zu nennen,
({13})
den Namen der Frau, die für unsere Werte eingestanden
ist und so Furchtbares erlebt hat. Der Familie, die wirklich unermessliches Leid erfahren hat, möchte ich hier
unser Mitgefühl aussprechen.
Vielen Dank.
({14})
Vielen Dank, Frau Staatsministerin. Danke auch für
das Erinnern an den Mut und die Zivilcourage von
Tugce!
({0})
Nächste Rednerin in der Debatte: Nina Warken für die
CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! „… dort, wo Menschen in Not sind, werden wir helfen - auch durch die
zusätzliche Aufnahme von Flüchtlingen.“ Mit diesen
Worten hat Bundeskanzlerin Angela Merkel die Grundsätze unserer Flüchtlingspolitik auf den Punkt gebracht.
Dass wir diesen Worten auch Taten folgen lassen, haben
wir - das können auch die Grünen und die Linken nicht
bestreiten - bereits mehrfach gezeigt.
Rund drei Viertel aller syrischen Flüchtlinge in Europa sind in Deutschland aufgenommen worden. Seit
Beginn des Bürgerkriegs in Syrien im Jahr 2011 sind wir
das Hauptaufnahmeland für syrische Flüchtlinge in Europa. Bund und Länder haben zügig humanitäre Aufnahmeprogramme geschaffen und diese immer wieder aufgestockt, um vor allem die besonders Schutzbedürftigen
wie Schwerkranke, Schwangere oder Menschen mit Behinderung, die in den Flüchtlingslagern in den Nachbarländern Syriens keine Chance hätten, nach Deutschland
zu holen. Statt immer nur höhere Kontingente zu fordern, sollten Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, diese
Leistung auch einmal anerkennen.
({0})
- Frau Amtsberg hat das vorhin in Teilen getan.
Vor allem das ehrenamtliche Engagement der vielen
Bürgerinnen und Bürger vor Ort in den Kommunen, die
den Menschen aus Syrien mit ganz alltäglichen Dingen
helfen, um sich in einem völlig fremden Land zurechtzufinden, verdient unseren größten Respekt. Gleiches gilt
auch für das beträchtliche Engagement, das in der Krisenregion geleistet wird. Dort, in den Nachbarländern
Syriens, wo die Not am größten ist, liegt der Schwerpunkt
unserer Hilfe. Dies gilt auch und gerade, weil jeder Euro,
der dort den Menschen zugutekommt, das Doppelte und
Dreifache bewirkt wie hier bei uns in Deutschland.
Allein in den vergangenen beiden Jahren hat Deutschland Gelder in Höhe von rund 800 Millionen Euro für
die Hilfe in der Krisenregion bereitgestellt. Auf der internationalen Syrien-Konferenz vor wenigen Wochen in
Berlin - im Übrigen auch eine Initiative der Bundesregierung, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition - hat Deutschland weitere 500 Millionen Euro an
Hilfsmitteln zugesagt. Wir reden also mittlerweile über
insgesamt rund 1,3 Milliarden Euro. Deutschland gehört
damit zu den international größten humanitären Gebern
bei der Bewältigung der syrischen Flüchtlingskatastrophe. Auch das, liebe Kolleginnen und Kollegen, sollten
Sie anerkennen.
({1})
Nicht vergessen werden darf darüber hinaus das Engagement vieler deutscher Hilfsorganisationen. So leistet
etwa das THW einen beträchtlichen Beitrag in den
Flüchtlingslagern in den Nachbarländern Syriens und im
Irak, wenn es darum geht, für die Menschen zu bauen,
sanitäre Einrichtungen zu schaffen oder die Lager winterfest zu machen. Das alles wird in ganz großen Teilen
ehrenamtlich geleistet. Man kann dafür, auch von dieser
Stelle aus, nicht häufig genug Danke sagen,
({2})
Danke für das, war hier geleistet wird, und dafür, dass
Freiwillige mit ihrem Einsatz in den Krisengebieten
dazu beitragen, die Situation der Menschen vor Ort zu
verbessern und menschliches Leid zu lindern.
Meine Damen und Herren, wir wissen, dass wir als
Deutsche, die in unserem Land so gut und sicher leben
können, eine Verpflichtung gegenüber den Menschen
haben, denen es in ihrer Heimat nicht so gut geht, die unseren Schutz und unsere Hilfe brauchen. Dieser Verpflichtung wollen wir gerecht werden, und dieser Verpflichtung werden wir auch gerecht. Deutschland trägt
mit seinem vielfältigen Engagement auf den verschiedensten Ebenen dazu bei, dass Menschen in Not geholfen wird.
Auch Ihre weiteren Forderungen, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, werden dem, was Deutschland für
die Flüchtlinge aus Syrien oder dem Irak tut, nicht gerecht. Sie fordern, dass der Abschiebestopp nach Syrien
verlängert und auf den Irak ausgeweitet wird. Dabei
steht derzeit überhaupt nicht zur Debatte, dass jemand,
solange der Konflikt andauert, nach Syrien abgeschoben
werden soll.
Ähnlich verhält es sich mit dem Irak. 7 500 Menschen
aus dem Irak haben in diesem Jahr in Deutschland einen
Asylantrag gestellt. Die Schutzquote beträgt dabei mehr
als 66 Prozent. Bedingt durch die abscheulichen Taten
der Terrormiliz „Islamischer Staat“ hat das Bundesamt
für Migration und Flüchtlinge seit Mitte Juni dieses Jahres keinen Asylantrag mit dem Herkunftsland Irak negativ entschieden. Es wird also niemand, dem Gefahr für
Leib und Leben droht, von der Bundesregierung heute in
den Irak oder nach Syrien abgeschoben.
({3})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch auf
das Thema Familiennachzug eingehen. Auch hier wird
die bisherige Praxis im Antrag kritisiert. Für den Familiennachzug wurden neben dem Bundesaufnahmeprogramm Programme der Länder eingerichtet, um in
Deutschland lebenden Syrern die Möglichkeit zu geben,
ihre Verwandten aus dem Kriegsgebiet bei sich aufzunehmen. Die Programme der Länder sind in den meisten
Fällen zahlenmäßig nicht begrenzt, sodass noch viele
Menschen aus Syrien bei uns Schutz finden werden. Vielerorts übernehmen die Länder und damit der deutsche
Steuerzahler die Gesundheitskosten. Für weitere Aufwendungen muss die Familie in Deutschland aufkommen. Die
Grünen fordern nun erneut, dass auf die Verpflichtungserklärungen durch die aufnehmenden Familien verzichtet wird und damit die meisten Kosten vom Steuerzahler
getragen werden sollen.
Sehr geehrte Damen und Herren, derzeit herrscht in
Deutschland große Solidarität mit den Flüchtlingen. Dafür sollten wir dankbar sein. Diese Solidarität ist essenziell für die Akzeptanz unserer gesamten Flüchtlingspolitik. Aber es gibt auch Ängste; auch damit müssen
wir sorgsam umgehen.
Hinzu kommt die Situation in den Ländern und Kommunen, die bereits heute an ihrer Leistungsgrenze angekommen sind.
({4})
Auch sie können und wollen wir nicht noch mehr belasten. Wir brauchen deshalb keine Rufe nach immer mehr.
Was wir brauchen, ist eine überlegte Strategie der umfassenden Hilfe.
({5})
Sehr geehrte Damen und Herren, es ist ja keinesfalls
so, dass die Koalition nicht bereit wäre, die Mittel für die
Aufnahme und Unterbringung von Flüchtlingen aufzustocken. Im Gegenteil: Erst vor einer Woche haben sich
Bund und Länder darauf geeinigt, dass der Bund im
kommenden Jahr 500 Millionen Euro bereitstellen wird,
um vor allem den Landkreisen und Kommunen zu helfen, die die Kosten für die Aufnahme und Unterbringung
der vielen Flüchtlinge kaum mehr bewältigen können.
Sollte es notwendig sein, wird der Bund im Jahr 2016
die gleiche Summe nochmals zur Verfügung stellen.
Diese Einigung zeigt einmal mehr, dass Deutschland seiner humanitären Aufgabe in der Welt gerecht wird und
alle staatlichen Ebenen ihren Beitrag dazu leisten.
Auf die Große Anfrage zum Thema „unbegleitete
minderjährige Flüchtlinge“, die ebenfalls zu diesem Tagesordnungspunkt gehört, möchte ich im Hinblick auf
die noch ausstehende Beantwortung nicht detailliert eingehen. Nur so viel: Aufgrund der gestiegenen Zahl unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge beraten Bund und
Länder derzeit darüber, wie eine bessere Verteilung in
Deutschland erfolgen kann, die den besonderen Bedürfnissen von Minderjährigen Rechnung trägt.
Fest steht aber bereits jetzt: In Deutschland sind unbegleitete minderjährige Flüchtlinge gut versorgt. Ohne
Ausnahme werden sie zunächst vom zuständigen Jugendamt in Obhut genommen, unabhängig davon, ob ein
Asylantrag gestellt wird oder nicht. Zudem werden sie
ausschließlich bei Pflegefamilien oder in geeigneten
Einrichtungen untergebracht. In meinen Augen ist das
genau der richtige Weg; denn dogmatisch an dem
Grundsatz festzuhalten, dass unbegleitete Minderjährige
dort bleiben müssen, wo sie aufgefunden werden, dient
nicht dem Kindeswohl, wenn vor Ort keine geeigneten
Unterbringungsmöglichkeiten vorhanden sind. Wenn stattdessen mit einer Reise von wenigen Stunden erreicht
werden kann, dass die Minderjährigen in einer kinderund jugendgerechten Unterkunft wohnen können, handeln wir im Interesse der Kinder und Jugendlichen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Sie sehen:
Deutschland will helfen, und Deutschland hilft - mit
Maß und Mitte und Verstand. Das alles ist im Antrag der
Grünen nicht zu erkennen. Lassen Sie uns diesen daher
mit breiter Mehrheit ablehnen.
Vielen Dank.
({6})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Nächste Rednerin in
der Debatte: Ulla Jelpke für die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der
Tat spitzt sich die Lage für die Flüchtlinge in Syrien und
im Irak dramatisch zu. Am Montag hat n-tv gemeldet,
dass 1,7 Millionen syrische Flüchtlinge in der Region
keine Lebensmittelkarten und Gutscheine mehr erhalten.
Dem Welternährungsprogramm der UN fehlt einfach das
Geld.
Ein weiteres Problem ist der Winter. 2,4 Millionen
Menschen brauchen Kleidung, Decken, ja, sie brauchen
vor allem winterfeste Unterkünfte. Viele leben wirklich
in schlimmen Behausungen. Gesundheit und Leben dieser Menschen sind bedroht, deshalb muss dringend gehandelt werden. Liebe Mitglieder der Regierungsparteien, wenn man sich nur in Selbstlob ergeht und
überhaupt nicht mehr die aktuelle Lage und was momentan ansteht, zur Diskussion stellt, dann frage ich mich:
Was ist das eigentlich für eine Ignoranz gegenüber der
aktuellen Lage, die Sie hier zum Ausdruck bringen? Das
ist wirklich nicht hinnehmbar,
({0})
und das vor dem Hintergrund - wir haben es bereits gehört -, dass die Nachbarstaaten Syriens und Iraks die
größte Last tragen. Allein im Libanon leben über 1 Million Flüchtlinge aus Syrien. Aber die Hilfsbereitschaft
lässt auch dort nach. Im Libanon und in Syrien sind die
Grenzen dichtgemacht worden, Flüchtlinge werden sogar nach Syrien zurückverwiesen.
Die Bundesregierung hat gestern zwar 40 Millionen
Euro zusätzlich für die Welthungerhilfe zugesagt,
({1})
dennoch müssen wir uns als so reiches Land wie
Deutschland fragen: Ist das wirklich genug? Nein, das ist
nicht genug. Wir müssen mehr tun und unsere Möglichkeiten ausschöpfen, um den Gesamtbedarf zusammenzubekommen. Hier ist wirklich nicht nur Deutschland
gefragt, sondern alle EU-Staaten. Alle reichen Länder
dieser Welt müssen zur Kasse gebeten werden. Ich finde
es wirklich eine Schande, dass reiche Industriestaaten
nicht in den UN-Fonds eingezahlt haben und die Flüchtlingsorganisationen weltweit damit alleinlassen. Das kann
ja wohl nicht sein.
({2})
Meine Damen und Herren, im Sommer hat der Vormarsch der Terrorbanden des „Islamischen Staates“ weitere 2 Millionen Menschen zur Flucht aus dem Irak und
aus Syrien gezwungen. Einige von ihnen kamen in das
Gebiet Rojava im Norden Syriens, wo eine selbstverwaltete, demokratische Struktur besteht. Aus dieser Region
hat man sowohl das Assad-Regime als auch die Dschihadisten herausgedrängt. Vor allen Dingen in dieser Region werden viele Flüchtlinge versorgt. Ich will hier aber
noch einmal deutlich sagen: Weil die Türkei die Grenzen
dort dichtgemacht hat, kommt auch dort keine humanitäre Hilfe an. Wenn nicht mit in den Blick genommen
wird, dass auch seitens der Menschen in Rojava, die
Flüchtlinge aufgenommen haben, Solidarität besteht,
dann wird die nächste Flüchtlingswelle anstehen, bei der
die Menschen millionenfach in die Türkei gehen bzw.
nach Europa drängen. Insofern brauchen wir auch an
dieser Stelle von Deutschland und Europa Druck, dass
humanitäre Hilfe nach Rojava kommt.
({3})
Zweifellos ist die Situation so, dass die Türkei viele
Flüchtlinge aufnimmt. Das ist schon mehrfach betont
worden. Aber es gibt in der Türkei eine Zweiklassenflüchtlingshilfe. Arabische Flüchtlinge aus Syrien beispielsweise sind in vergleichsweise guten Flüchtlingslagern untergebracht. Ich habe mir selbst davon ein Bild
gemacht. Es gibt dort Supermärkte, Werkstätten, Schulen und alles, was man zum Leben braucht. Das ist auch
gut so. Andererseits gibt es aber auch Hunderttausende
von Flüchtlingen in der Türkei - die Jesiden, die Kurden -, die von der Türkei überhaupt keine staatliche Unterstützung bekommen und die zurzeit vor allen Dingen
von der kurdischen Bevölkerung versorgt werden. Dort
herrscht wirklich das humanitäre Grauen: Die Menschen
leben unter freiem Himmel. Es gibt keine winterfesten
Unterkünfte. Zum Teil müssen die Leute in irgendwelchen Garagen leben. Es kann einfach nicht sein, dass die
Türkei mit diesem Problem alleingelassen wird. Auch
hier muss ganz klar gesagt werden: Es muss mehr Hilfe
geleistet werden. Vor allen Dingen müssen mehr Menschen in Europa und in Deutschland aufgenommen werden. Man kann sich nicht ständig darauf zurückziehen,
dass bei uns 40 000 Flüchtlinge angekommen sind.
({4})
Ich will hier aber auch noch einmal deutlich sagen
- es wird ja immer von Fluchtursachen gesprochen -:
Der Westen ist nicht ganz unschuldig. Wenn wir diese
Hilfe einklagen, dann tun wir das nicht nur, weil wir sagen: „Es ist wichtig, die Flüchtlinge zu versorgen“, sondern auch, weil es eine Mitverantwortung für die Situation gibt, die im Mittleren und Nahen Osten entstanden
ist. Ich will daran erinnern, dass beispielsweise die USA
mit ihrem völkerrechtswidrigen Krieg vor zehn Jahren
maßgeblich dazu beigetragen haben, dass Kräfte wie der
„Islamische Staat“, die Dschihadisten stark geworden
sind, die heute mit ihrem barbarischen Krieg einen wesentlichen Anteil an der Vertreibung aus dem Irak und
aus Syrien haben. Dieser Verantwortung muss der Westen gerecht werden; denn es hat nicht gerade einen sehr
starken Druck auf die USA gegeben, diesen Krieg nicht
zu führen, sondern es wurde im Gegenteil immer auf
Dschihadisten und Rebellen verwiesen. Auch Europa hat
im Grunde genommen solche Kräfte mit stark gemacht
und ist deswegen mitverantwortlich, jetzt nach LösunUlla Jelpke
gen zu suchen. Man darf nicht einfach nur zuschauen
und keinen Druck ausüben. Die Türkei hat einen maßgeblichen Anteil an dem Krieg in Syrien. Wenn man
Fluchtursachen wirklich bekämpfen will, dann muss
man auf jeden Fall dafür sorgen, dass keine Waffen mehr
geliefert werden und dass die Menschen humanitäre
Hilfe bekommen. Man muss vor allen Dingen die Solidarität in den reichen Ländern einklagen, dass, wie gesagt, eben nicht nur einzelne Länder etwas tun.
({5})
Wenn wir also die konkrete Aufstockung eines humanitären Flüchtlingsprogramms fordern, dann muss das
spürbar sein und die Aufnahme vor allen Dingen wirken.
Sie haben heute von Familienzusammenführung gesprochen. Ich kann Ihnen viele Menschen aus Syrien
nennen, die seit Jahren nicht mehr mit ihren Familien
zusammengekommen sind, weil in Deutschland eine
unglaubliche Bürokratie existiert, wenn es um die Aufnahme syrischer Flüchtlinge geht. Schauen Sie sich einmal an, seit wann Ihre Programme laufen! Über zwei
Jahre dauert es, bis 20 000 Flüchtlinge aus dem Libanon
überhaupt hier ankommen. Es kann ja wohl nicht wahr
sein, dass man da nicht schneller und unbürokratischer
hilft. Die Möglichkeiten, die Deutschland hat, wären bei
weitem größer, um vor allen Dingen Familienzusammenführung zu ermöglichen.
Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit.
Ich denke dran. Ich komme zum Schluss. - Zum
Schluss will ich sagen, dass die materielle Hilfe und die
verstärkte Aufnahme besonders hilfsbedürftiger Flüchtlinge absolut nötig sind. Wir sollten vor allen Dingen
den Libanon entlasten, denn dieses Land kollabiert inzwischen. Ich glaube, wir werden auch dort mehr Konflikte bekommen, wenn nicht wirklich geholfen wird.
Ich danke Ihnen.
({0})
Vielen Dank, Frau Kollegin Jelpke. - Nächste Rednerin in der Debatte ist Christina Kampmann für die SPD.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als
ich vor etwa einem Jahr in den Bundestag gekommen
bin, hat mir eine 3. Klasse aus meinem Wahlkreis einen
Brief mit Wünschen und Forderungen zugeschickt, die
ich hier zu erledigen habe. Ein Wunsch bezog sich
darauf, dass Peer Steinbrück und Angela Merkel sich
endlich vertragen sollen.
({0})
Ich bin irgendwann dorthin gefahren und habe mit den
Kindern gesprochen und gesagt, dass ich darauf relativ
wenig Einfluss habe, dass ich aber das Gefühl habe, dass
es zwischen Peer Steinbrück und Angela Merkel gerade
relativ gut läuft.
Der erste Wunsch, den die Kinder formuliert haben,
war - ich zitiere -, dass die Kinder aus Syrien zu uns
dürfen, bis der Krieg aufgehört hat.
({1})
Diese Forderung war damals genauso aktuell wie heute.
Der Krieg wird bleiben. Er wird nicht heute und nicht
morgen zu Ende sein. Niemand weiß, wie viele Menschen noch sterben müssen. Niemand weiß, wie viele
noch flüchten werden, um das eigene Leben zu retten.
Aber was können wir tun, um den Menschen in, um
und aus Syrien zu helfen? Es sind vor allem zwei
Punkte. Zum einen müssen wir Menschen, die aus
Syrien zu uns flüchten, aufnehmen, ihnen Schutz und Sicherheit, Nahrung, Bildung und medizinische Versorgung anbieten. Wir haben bereits die Aufnahme von
20 000 Flüchtlingen zugesagt; das wurde schon mehrfach gesagt. Mehr als 60 000 haben Schutz im Rahmen
deutscher Asylverfahren erhalten. 15 Bundesländer haben eigene Aufnahmeprogramme zugesagt. Das heißt,
wir haben schon viel getan. Gerade das, was Länder und
Kommunen in den vergangenen Wochen und Monaten
geleistet haben, kann man nicht hoch genug schätzen,
liebe Kolleginnen und Kollegen.
({2})
Fest steht aber auch - hier gebe ich Ihnen recht, Frau
Jelpke -, dass wir uns darauf nicht ausruhen dürfen. Deshalb bin ich Thomas Oppermann dafür dankbar, dass er
sich am Wochenende dafür ausgesprochen hat, mehr
Flüchtlinge aufzunehmen, und betont hat, wie wichtig es
vor allem für Kinder ist, dass sie schnell in die Schule
gehen und eine gute Ausbildung bekommen.
({3})
Bei einem Krieg, der so lange dauert und so viele Menschenleben gekostet hat, reicht es nicht aus, einmal zu
helfen und dann wegzuschauen. Bei einem Krieg wie
dem in Syrien muss es eine konstante Unterstützung geben, für die wir uns gemeinsam starkmachen müssen.
({4})
Die SPD bekennt sich deshalb zu ihrer humanitären
Verantwortung. Wir wollen und wir werden weiter
helfen; denn immer dann, wenn Menschen in Not geraten sind, ist das nicht nur unsere politische, sondern vor
allem auch unsere menschliche Pflicht.
({5})
Wir wissen aber auch - diese Erkenntnis ist ebenso
bitter wie wahr -, dass das, was wir angesichts einer
Zahl von 2,8 Millionen Kriegsflüchtlingen, die Syrien
seit Beginn des Krieges verlassen haben, tun können,
niemals genug sein wird. Wir werden nicht jedem Menschen die Unterstützung zukommen lassen können, die
er verdient hat. Wir werden nicht überall dort helfen
können, wo Hilfe eigentlich nötig wäre. Deshalb ist die
Forderung aus dem Antrag richtig: Auch andere europäische Länder müssen sich stärker zu ihrer humanitären
Verantwortung bekennen. Es kann nicht sein, dass wir
Tausende aufnehmen, während andere nur 200 aufnehmen.
({6})
Wir haben uns in Europa zu gemeinsamen Werten bekannt. Werte sind aber nicht dazu da, um in den Mund
genommen zu werden, weil sie sich so schön anhören;
Werte sind da, um gelebt zu werden. Genau an solchen
Fragen, bei denen es darum geht, dass Menschen vertrieben werden und um ihr Leben fürchten müssen, genau
an solchen Fragen menschlichen Leids entscheidet sich,
ob wir es mit einem Europa der Werte und der Menschlichkeit tatsächlich ernst meinen.
({7})
Denn bei all diesen unvorstellbar großen Zahlen - die
Zahl von 2,8 Millionen Flüchtlingen ist für uns alle,
glaube ich, nicht wirklich vorstellbar - müssen wir uns
immer wieder klarmachen: Hinter jeder Zahl verbirgt
sich ein menschliches Schicksal, dessen Ausmaß an Leid
und Not kaum zu erfassen ist.
Das Zweite, das wir tun müssen, ist, Solidarität mit
den Aufnahmeländern in der Region zu zeigen. Denn
wenn diese an Stabilität verlieren, dann werden wir über
ganz andere Probleme nicht nur in der Region reden, als
wir es heute tun. Der Libanon, Jordanien, die Türkei, der
Irak und Ägypten gehören zu diesen Ländern; sie haben
mehr als 3 Millionen Flüchtlinge aufgenommen.
Deshalb ist es gut, dass wir Ende Oktober die SyrienFlüchtlingskonferenz veranstaltet haben. Frank-Walter
Steinmeier hat zusammen mit Entwicklungsminister
Müller für die Zeit bis 2017 500 Millionen Euro zusätzlich für humanitäre Hilfe versprochen. Gestern kam die
Meldung - das wurde heute auch schon gesagt -, dass
weitere 40 Millionen Euro für diesen Winter zur Verfügung gestellt werden.
({8})
Frank-Walter Steinmeier hat auch recht, wenn er sagt,
dass wir uns eine verlorene Generation syrischer Kinder
und Jugendlicher nicht leisten dürfen;
({9})
denn dort, wo einer ganzen Generation eine Perspektive
genommen wird, wird es auch nach dem Krieg nicht
möglich sein, politische Stabilität zu erreichen.
Bei allem, was wir uns im Bund vornehmen, ist aber
eines klar - das dürfen wir nicht vergessen; es kommt im
Antrag an keiner Stelle vor -: Eine gute Flüchtlingspolitik ist nur zusammen mit den Kommunen möglich. Am
Ende sind es die Kommunen, die winterfeste und menschenwürdige Unterbringungsmöglichkeiten bereitstellen müssen. Am Ende sind es die Kommunen, in denen
sich entscheidet, ob Integrationsgeschichten Erfolgsgeschichten werden.
Dabei müssen wir uns eines eingestehen: Die Menschen, die aus Syrien und dem Irak zu uns kommen,
werden nicht heute und nicht morgen in ihre Heimat zurückkehren können; diese Menschen werden bleiben.
Die Flüchtlinge von heute sind unsere Nachbarn, Kollegen, Freunde und Mitbürger von morgen.
({10})
- Von heute auch. - Viele Menschen werden bleiben,
und es ist gut, dass sie bleiben, nicht nur, weil wir gut
ausgebildete Arbeitskräfte dringend brauchen, um dem
demografischen Wandel zu begegnen, sondern auch,
weil wir ihnen hier etwas bieten können, was für uns so
selbstverständlich ist, was aber bei den Menschen aus
Syrien und dem Irak ständig bedroht war: Schutz und
Sicherheit und ein funktionierender Rechtsstaat. Ich
möchte, dass Flüchtlingsgeschichten Erfolgsgeschichten werden - Erfolgsgeschichten einer Integration, von
der, wie ich überzeugt bin, alle profitieren werden.
Die zweite und nicht minder wichtige Bedingung für
eine gute Flüchtlingspolitik ist die Akzeptanz und das
Verständnis der Menschen in unserem Land. Da erlebe
ich an ganz vielen Stellen eine unglaublich stark ausgeprägte Bereitschaft, zu helfen und solidarisch zu sein.
Egal ob es um Spenden, um Hausaufgabenbetreuung,
um Sprachunterricht oder auch einfach um Zuhören
geht: Das, was viele Menschen gerade an vielen Orten in
Deutschland ehrenamtlich leisten, verdient Respekt, Anerkennung und vor allem ein ganz großes Dankeschön.
({11})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Kinder der
3. Klasse in meinem Wahlkreis wissen vielleicht nicht so
genau, warum es diesen Krieg in Syrien eigentlich gibt
und was Menschen antreibt, anderen Menschen Gewalt
anzutun. Sie haben aber sehr wohl verstanden, dass wir
denen, die zu uns kommen, um das eigene Leben zu
retten, alle Hilfe und Unterstützung zukommen lassen
sollten, die wir zu leisten imstande sind.
Deshalb dürfen wir in unserer Unterstützung nicht
nachlassen - nicht weil das der Anspruch ist, den andere
an uns haben, sondern weil das der Anspruch sein muss,
den wir als Menschen an uns selbst haben.
Danke schön.
({12})
Vielen herzlichen Dank, liebe Christina Kampmann.
Vizepräsidentin Claudia Roth
Als Gäste möchte ich Vertreter der Berufsfeuerwehr
aus Hagen begrüßen, die auch oft Menschen in Not helfen. Herzlich willkommen hier in unserem Haus!
({0})
Nächste Rednerin in der Debatte ist Dr. Franziska
Brantner für Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Liebe Gäste! Frau Kampmann, wenn
ich Sie in Ihrer Rede eben richtig verstanden habe, dann
werden Sie unserem Antrag zustimmen, oder?
({0})
Die Interessen der Kinder, das Kindeswohl spielen
eine nachrangige Rolle. Die Kinder werden nur selten als eigenständige Träger von Rechten wahrgenommen. Dies ist zum einen häufig mit einer
Missachtung der Rechte dieser Kinder verbunden.
Zum anderen wird die fehlende Wahrnehmung der
Kinder durch Behörden, Politik und Gesellschaft
der oftmals wichtigen Rolle, die Kinder in ihren Familien übernehmen, nicht gerecht.
Das ist das wortwörtliche Zitat aus der UNICEF-Studie
aus dem Herbst dieses Jahres zum Thema „Kinderflüchtlinge in Deutschland“. Ich wiederhole es: Kindeswohl
spielt eine nachrangige Rolle. Die Rechte werden missachtet. Und das in unserem Land, in Deutschland, im
21. Jahrhundert.
({1})
Der VN-Kinderrechtsausschuss kam übrigens zu
Beginn dieses Jahres zum gleichen Ergebnis; denn nach
der UN-Kinderrechtskonvention, deren 25. Jahrestag wir
morgen feiern, haben Kinder, egal woher sie kommen,
egal wo sie geboren sind, genau die gleichen Rechte in
Deutschland, aber das haben sie eben de facto in
Deutschland momentan nicht. Das ist ein Unding.
({2})
Wir haben zu dieser Problematik eine Große Anfrage
eingebracht. Wir arbeiten darin die Defizite heraus. Es
ist gut, zu wissen, dass Frau Özoğuz da auf unserer Seite
steht und diese Defizite auch benannt hat.
Ich gebe ein Beispiel aus dem Bericht: Im Jahr 2013
wurden 1 136 Minderjährige nach Polen zurückgebracht.
Im Jahr 2012 waren es 90 Minderjährige. Das entspricht
einer Steigerung um mehr als das Zehnfache. Ob das
Kindeswohl bei diesen Entscheidungen berücksichtigt
wurde?
Was bedeutet die Abschiebung häufig nach einem
Jahr oder mehr für diese Kinder? Während dieses Jahres
waren sie bei uns in der Schule, haben Deutsch gelernt,
haben Freunde gefunden, und dann müssen sie zurück in
ein Land, dessen Sprache sie nicht sprechen, das sie
noch nie gesehen haben, außer einmal kurz auf der
Durchreise nach Deutschland. Was bedeutet das für
diese Kinder? Ist das im Kindeswohl? Ich glaube, eindeutig nicht.
({3})
In der Dublin-II-Verordnung - jetzt komme ich zu Ihnen, Herr Schröder - wird das Kindeswohl sowohl in
den Erwägungsgründen genannt als auch in Artikel 6
Absatz 1 festgelegt:
Das Wohl des Kindes ist in allen Verfahren, die in
dieser Verordnung vorgesehen sind, eine vorrangige
Erwägung der Mitgliedstaaten.
Deswegen haben Sie recht: Das EU-Recht gibt das
genau vor. Das, was wir in Deutschland brauchen, sind
deswegen nicht neue Gesetze, sondern Durchführungsverordnungen und Verwaltungsvorschriften mit klaren
Regelungen zur Beachtung und Umsetzung des Kindeswohls. Das brauchen wir dringend. Das erwarte ich von
Ihnen.
({4})
In Ihrem Koalitionsvertrag haben Sie festgelegt, im
Asylverfahren endlich die Altersgrenze auf 18 Jahre anzuheben. Wann kommt das denn endlich einmal? Wann
ist es denn so weit? Es steht im Koalitionsvertrag. Dazu
haben Sie aber immer noch keine Vorlage eingebracht.
Das wäre so ein wichtiger Schritt für die Jugendlichen.
({5})
- Ich zähle auf Sie, dass es bald kommt.
({6})
Ich will noch einen Bereich ansprechen, nämlich die
Bildung. Im Asylverfahren haben Menschen keinen Anspruch auf Integrationskurse. Man geht davon aus, dass
die Kinder in der Schule Deutsch lernen. Aber dort fehlen häufig Zusatzangebote. Diese Leistungen werden oft
ehrenamtlich erbracht. - Dafür an dieser Stelle ein Dankeschön.
Aber das fehlt eben, und das Schlimme ist, dass die
16- bis 17-Jährigen, die keine Schulpflicht mehr haben,
komplett herausfallen. Die gehen nicht in die Schule,
und die haben kein Anrecht auf Integrations- und
Sprachkurse. Das ist eine Generation von Jugendlichen,
die bei uns keine Zukunft hat. Das ist auch ein Unding,
das wir dringend beheben müssen.
({7})
Vorletzte Woche besuchte ich eine Einrichtung in
meinem Wahlkreis, wo mir ein Betreuer von einem somalischen Jungen berichtete, dem sie erfolgreich einen
Ausbildungsplatz vermittelt hatten, und der dann doch
abgeschoben wurde. Dazu kann man nur sagen - Herr
Schweitzer vom DIHK hat total recht -: Stoppen Sie
endlich diesen Irrsinn!
({8})
Die Angebote der Jugendhilfe, die Möglichkeiten der
Hilfe zur Erziehung, die Maßnahmen der Jobcenter, die
Maßnahmen der Arbeitsagenturen - all diese Dinge
müssen allen Kindern und Jugendlichen, egal woher sie
kommen, zur Verfügung gestellt werden, bzw. es muss
ihnen ermöglicht werden, sie eins zu eins in Anspruch zu
nehmen; das ist unser Ansatz. In Deutschland darf es
keine Kinder zweiter Klasse geben. Die größere Verantwortung Deutschlands, von deren Wahrnehmung auf internationaler Ebene wir ständig sprechen, beginnt hier.
Wenn wir hier nicht entsprechend handeln, dann brauchen wir über mehr Verantwortung gar nicht erst zu reden.
Ich danke Ihnen.
({9})
Vielen Dank, liebe Kollegin Franziska Brantner. Nächste Rednerin in der Debatte: Andrea Lindholz für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Laut den Vereinten Nationen sind
weltweit über 50 Millionen Menschen auf der Flucht.
Ein Zentrum dieser Katastrophe ist Syrien. Rund
10,8 Millionen Syrer befinden sich auf der Flucht. Es
gibt aktuell wenig Hoffnung, dass sich die Situation in
absehbarer Zeit bessern wird. Doch auch wenn die Lage
hoffnungslos erscheint: Deutschland und seine Partner
dürfen diese Katastrophe nicht einfach akzeptieren. Die
Bundesregierung tut das auch nicht. Im Gegenteil: Sie
trägt auf vielfältige Weise zur Verbesserung der Lage
bei. So hilft Deutschland den Opfern des Bürgerkrieges
wie kaum ein anderes Land.
In den letzten zwei Jahren hat Deutschland rund
800 Millionen Euro für die Hilfe vor Ort bereitgestellt.
Hinzu kommen rund 1,1 Milliarden Euro von der EU.
Auch dazu leistet Deutschland als größter Nettozahler
einen wesentlichen Beitrag. Für die nächsten drei Jahre
hat die Bundesregierung weitere 500 Millionen Euro an
bilateraler Hilfe zugesagt - im Rahmen einer SyrienKonferenz, die von der Bundesregierung ausgerichtet
wurde.
Seit Kriegsbeginn wurden 75 000 syrische Flüchtlinge in Deutschland aufgenommen. Seit drei Jahren gilt
für Syrien ein Abschiebestopp. 20 000 besonders Schutzbedürftige werden im Rahmen von drei Sonderprogrammen hierhergeholt. Und die Bundesregierung stellt drei
Viertel der humanitären Aufnahmeplätze für Syrien.
Gestern hat das Bundeskabinett einen Gesetzentwurf verabschiedet, der unter anderem das Programm zur Neuansiedlung von besonders schutzbedürftigen Flüchtlingen
verstetigen soll. Damit wird eine dauerhafte Aufnahmemöglichkeit geschaffen. Pro Jahr gewährt Deutschland
über dieses Programm in 300 Härtefällen besonderen
Schutz.
Aus gutem Grund wurde die deutsche Flüchtlingspolitik vom UN-Flüchtlingskommissar Guterres und vom
EU-Kommissar für Migration und Inneres, Avramopoulos,
als vorbildlich für Europa gelobt.
({0})
Doch trotz dieses großen Engagements reicht die
Hilfe insgesamt angesichts der katastrophalen Lage nicht
aus. Laut den Vereinten Nationen sind die kurzfristig nötigen Hilfsmaßnahmen innerhalb Syriens und in den Anrainerstaaten nur knapp zur Hälfte finanziert. Es fehlen
insgesamt rund 2,6 Milliarden Euro, um die Flüchtlingsversorgung in der Region bis Ende des Jahres sicherzustellen. Daher, meine sehr geehrten Damen und Herren,
müssen wir unsere begrenzten Mittel auch effektiv einsetzen.
Es reicht nicht aus, dass wir über Sonderkontingente
immer wieder Menschen zu uns holen. Mit Sonderkontingenten konzentrieren wir die Mittel auf einige Härtefälle.
Mit dem Geld für die Antragsbearbeitung, den Transport,
die Unterbringung und die Versorgung eines einzelnen
Flüchtlings in Deutschland können vor Ort wesentlich
mehr Familien unterstützt werden. Verantwortungsvolle
Hilfe darf die begrenzten Mittel nicht selektiv verwenden. Es ist daher richtig, dass wir unseren Fokus auf die
Hilfe vor Ort richten.
({1})
Angesichts der dramatischen Lage in Syrien dürfen
wir auch nicht die Katastrophen in anderen Teilen der
Welt vergessen: In Eritrea, Somalia, Myanmar oder Sri
Lanka leiden ebenfalls unzählige Menschen unter Hunger, Not und Krieg.
({2})
Die Bundesregierung kann diese Krisen nicht alleine lösen. Deutschland, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, ist aber sehr solidarisch. Die Solidarität fängt bei
der Bundesregierung an, geht über die Länder bis hin zu
den Kommunen und den vielen, vielen Ehrenamtlichen,
die sich um die Unterbringung und Versorgung der
Flüchtlinge kümmern. Es gibt vor Ort großartige Initiativen von Landräten und Bürgermeistern, die in ihren
Gemeinden Großartiges leisten, von sich aus Flüchtlingsunterkünfte bereitstellen und für uns alle diese Verantwortung tragen. Diese Hilfsbereitschaft wächst seit
Monaten. Der Deutsche Spendenrat erwartet, dass 2014
ein neues Rekordjahr beim privaten Spendenaufkommen
in Deutschland wird.
Aber - auch darauf ist Frau Pau vorhin eingegangen trotz aller Hilfsbereitschaft müssen wir auch die öffentliche Akzeptanz für unser Asylsystem erhalten. Deutschland ist zu einem Einwanderungsland geworden und auf
den Ausgleich seiner schwachen Geburtenzahlen durch
Migration angewiesen. Es gibt Menschen in Deutschland - das merkt man immer wieder -, die sich mit der
Zuwanderung schwertun, die Ängste und Sorgen haben.
Es gibt vielleicht auch den einen oder anderen Extremfall, zum Beispiel den, den Frau Pau geschildert hat. Ich
kann aus meiner eigenen Kommune, in der wir vor drei
Wochen im Gemeinderat beschlossen haben, auf einem
Grundstück der Kirche eine Flüchtlingsunterkunft zu errichten, berichten, dass das große Ängste hervorgerufen
hat, dass das mit Leserbriefen, Flugblättern und E-Mails
an die Gemeinderäte einherging.
Wir müssen diese Ängste ernst nehmen. Wir müssen
den Menschen erklären, warum es wichtig ist, dass wir
die Menschen in unserem Land aufnehmen. Wir müssen
auch erklären, welche Chancen damit verbunden sind.
Und das ist nicht allein Aufgabe der Politik, sondern
eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Nur so wird es
uns gelingen, fremdenfeindliche Aktionen und fremdenfeindliche Gedanken aus diesem Land fernzuhalten. Das
ist notwendig; denn das gefährdet den sozialen Zusammenhalt in diesem Land.
({3})
Daher muss die Einwanderung nach Deutschland klaren
Regelungen folgen. Asyl dient weder der Fachkräftegewinnung noch der Entwicklungshilfe. Asyl dient ausschließlich dem Schutz von verfolgten Menschen.
({4})
Unter den fast 11 Millionen syrischen Flüchtlingen
befinden sich über 5 Millionen Kinder. Auch aus diesem
Grund ist es wichtig, dass wir uns bei der Flüchtlingshilfe vor Ort massiv engagieren. In Deutschland werden
aktuell immer mehr unbegleitete Minderjährige in staatliche Obhut genommen. Eine aussagekräftige Statistik
darüber gibt es nicht; denn bundesweit werden nur die
Kinder gezählt, die einen Asylantrag gestellt haben. Und
das wiederum bedeutet, dass ihr Alter und ihre Identität
festgestellt werden können. Für Bayern rechnet der Landesbeauftragte in 2014 mit rund 3 000 Inobhutnahmen
von Minderjährigen. Das sind sechsmal so viele Fälle
wie im Vorjahr.
Das zentrale Problem ist, dass sich der Großteil der
Inobhutnahmen auf bestimmte grenznahe Jugendämter
konzentriert; denn nach § 87 SGB VIII ist das Jugendamt zuständig, in dessen Bereich der Minderjährige zuerst aufgefunden worden ist. Eine Verteilung, also ein
Zuständigkeitswechsel, kann aktuell erst nach Abschluss
des Asylverfahrens erfolgen. Das führt in der Praxis
dazu, dass die Jugendämter und die Kommunen an den
Hauptflüchtlingsrouten völlig überlastet sind. In Bayern
gilt das für Rosenheim, München und Passau. Und die
Jugendlichen können aus Platzmangel eben nicht so untergebracht werden, wie dies im Idealfall sein sollte, sondern sie müssen teilweise in Notunterkünften und Sporthallen untergebracht werden.
Allein in München werden bis Jahresende 1 500 Inobhutnahmen erwartet. Die Jugendämter vor Ort leisten
Großartiges; aber sie stoßen an ihre Grenzen. Hier besteht dringender Handlungsbedarf, wenn wir - das ist
von allen richtig angesprochen worden - eine dem Kindeswohl entsprechende Unterbringung und Versorgung
vornehmen wollen.
({5})
Deshalb hat Bayern einen Antrag und einen Gesetzentwurf vorgelegt, über den der Bundesrat am 19. Dezember 2014 abstimmen soll. Ziel ist es, die minderjährigen
unbegleiteten Flüchtlinge gemäß dem Königsteiner
Schlüssel auf die Bundesländer gleichmäßig und gerecht
aufzuteilen.
Wir brauchen mehr Gerechtigkeit bei der Verteilung
innerhalb Deutschlands und innerhalb Europas. Ich gebe
den Kolleginnen, die vor mir gesprochen haben, recht.
Es reicht nicht aus, immer nur zu sagen: Deutschland tut
viel, Schweden tut viel. - Nachdem ich hier so oft Unterstützung durch Europa angemahnt habe, wünsche ich
mir nun, dass es uns in den nächsten zwölf Monaten gemeinsam gelingt, mehr Druck in Europa auszuüben, damit auch die anderen Staaten ihrer Verantwortung gerecht werden; denn Europa - liebe Christina Kampmann,
da hast du völlig recht - darf keine Einbahnstraße sein.
Das ist eine gesamteuropäische Aufgabe. Ich hoffe, dass
es uns gelingt, eine Lösung zu finden.
Vielen Dank.
({6})
Vielen Dank, Frau Kollegin Lindholz. - Nächster
Redner in der Debatte: Rüdiger Veit für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Aus dem letzten Beitrag und dem von der Kollegin
Brantner ist deutlich geworden, warum wir uns heute
auch mit der Situation minderjähriger unbegleiteter
Flüchtlinge befassen.
Ich persönlich habe zuerst nicht ganz verstanden, warum Sie Ihre umfangreiche Anfrage auch zum Gegenstand der heutigen Debatte gemacht haben. Ich konzediere aber ausdrücklich, dass die von Ihnen gestellten
Fragen - 239 an der Zahl, zum Teil auch noch mit Unterfragen - einen sensiblen Komplex beleuchten sollen,
und bin gespannt auf die Antworten. Nach den Antworten der Bundesregierung würde ich dann gerne auch über
die Konsequenzen diskutieren. Da, liebe Kollegin
Lindholz, wäre ich ein kleines bisschen vorsichtiger hinsichtlich der Übernahme des Vorschlages aus Bayern,
Jugendliche ohne Weiteres auch nach dem Königsteiner
Schlüssel auf die Bundesländer zu verteilen; denn das ist
unter Beachtung des Kindeswohls im Einzelnen vielleicht nicht immer machbar. Hier muss man sehr sorgfältig und vorsichtig sein.
({0})
Insgesamt kann ich dieser Debatte, soweit es um die
Aufnahme syrischer Flüchtlinge geht, eigentlich nur bescheinigen - wenn Sie mir dieses Urteil erlauben -, dass
wir uns lediglich in Nuancen unterscheiden. Ein Beispiel
dafür ist die Anwendung von Artikel 17 der Dublin-IIIVerordnung. Des Weiteren muss man die Überlegung,
syrische Flüchtlinge an den Grenzen auch in andere EUStaaten abzuschieben, sicherlich noch einmal genau beleuchten und gucken, ob das Bundesamt für Migration
und Flüchtlinge unter Berücksichtigung familiärer Gesichtspunkte im Einzelfall nicht noch wesentlich großzügiger entscheiden kann; ich würde mir das wünschen.
In der Quintessenz ist eigentlich nur ein wesentlicher
Unterschied festzustellen: Sie, Frau Kollegin Warken - so
richtig das war, was Sie sonst alles gesagt haben -, haben uns aufgefordert, dem Antrag der Grünen möglichst
in der Breite des ganzen Hauses nicht zuzustimmen. Ich
muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Wenn ich mir das Elend
in der Region, von der wir reden, anschaue - auch und
gerade das Elend von Kindern -, dann denke ich spontan
- jugendliche Spontanität ist auch in meinem Lebensalter manchmal noch erlaubt -:
({1})
Es gibt in dem Antrag der Grünen kaum einen Punkt,
dem man nicht zustimmen kann.
({2})
Ich will Ihnen aber auch sagen: Wir müssen gemeinsam
versuchen - mein Appell ist „Gemeinsamkeit“ -, zu einer Position zu kommen, die auch wirklich hilft.
Ich erlaube mir jetzt einmal, aus einem Lagebericht
des Auswärtigen Amtes zu zitieren:
Seit den zunächst friedlichen Protesten ab März
2011 und im Zuge der militärischen Eskalation hat
sich die Menschenrechtslage in Syrien dramatisch
verschlechtert. Der Konflikt hat Oppositionsschätzungen zufolge bereits mehr als 190 000 Todesopfer gefordert. Mehr als 3 Mio. Syrer sind in
Nachbarländern als Flüchtlinge registriert. Fast die
Hälfte der ca. 22 Mio. Syrer ist auf Hilfe angewiesen, darunter 6,5 Mio. Binnenflüchtlinge. Ca.
6,6 Mio. Kinder in Syrien und in den Nachbarländern sind vom Konflikt betroffen und benötigen humanitäre Hilfe, 10 000 haben bereits ihr Leben verloren.
In diesem Bericht geht es mit wirklich erschütternden
Schilderungen darüber weiter, wie auch und gerade Kinder und Jugendliche getötet werden, verschleppt werden,
missbraucht werden und gefoltert werden und verschwinden. Das, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist nichts, was uns
alle kaltlassen kann. Deswegen bin ich froh und dankbar,
dass die Bundeskanzlerin - das wurde schon zitiert -,
der Außenminister - das wurde schon zitiert -, unser
Fraktionsvorsitzender Thomas Oppermann - das wurde
schon zitiert - und auch Sie, Herr Kauder, übereinstimmend sagen: Da muss man etwas tun.
Jetzt ist die Frage: Was? Wir haben zur Kenntnis zu
nehmen, dass es auch für Flüchtlinge aus Syrien drei
verschiedene Wege gibt, nach Deutschland zu gelangen
und hier Schutz zu erhalten: Erstens ist es die Flucht über
das Mittelmeer oder auf anderen verschlungenen und
nicht selten sehr gefährlichen Pfaden, um hier einen Asylantrag zu stellen; das macht die größte Zahl aus. Zweitens sind das die Landesprogramme: Etwa 10 000 Menschen sind im Rahmen dieser Landesprogramme zu uns
gekommen. Drittens sind das die Bundesprogramme.
Weil diese drei verschiedenen Pfade zu verschiedenen
Zielen, zu unterschiedlichen Rechtsstatus führen, müssen wir uns einmal überlegen, was eigentlich das richtige
Instrument ist. Dazu will ich ein paar Gedanken beitragen und auch schildern, wie die Lage ist.
Zunächst einmal zur Asylfrage. Wenn denn sowieso
klar ist, dass diejenigen, die den Weg hierher zu uns
schaffen, Flüchtlingsschutz bekommen, eine Anerkennung nach § 3 Asylverfahrensgesetz, muss man sich
doch die Frage stellen: Warum erwarte ich dann, dass
diese Menschen zunächst einmal ihr Leben und das ihrer
Familie riskieren, indem sie unter schwierigsten Bedingungen und Umständen versuchen müssen, überhaupt
erst einmal zu uns zu kommen?
Gelegentlich wird ja gesagt, das BAMF, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, das wir mit zusätzlichen Mitteln und Stellen ausgestattet haben, müsse sich
darauf konzentrieren, diejenigen, die aus den drei jetzt
für sicher erklärten Westbalkanstaaten kommen, möglichst wieder zurückzuführen. Denen, die dieses fordern,
will ich einmal sagen, wie die Lage in der größten Stadt
meines Wahlkreises aussieht, wo sich Hessens Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge befindet: Wir haben
dort und zum Teil bereits vorab verteilt in Städten und
Gemeinden insgesamt über 3 000 Flüchtlinge, rund
1 000 davon allein aus Syrien. Ich bin froh und dankbar
- und würde das gerne hier hervorheben -, dass die Außenstelle des Bundesamtes nicht nur dort, sondern generell, bundesweit, dazu übergegangen ist, Flüchtlingsangelegenheiten von denjenigen Menschen, bei denen
ziemlich klar ist, dass sie hierbleiben können, prioritär
zu bearbeiten. Es macht doch keinen Sinn, den ganzen
Aufwand, die ganze seelische Belastung und die ganzen
Kosten aufzuwenden für Verfahren, die Monate dauern,
wenn von vornherein klar ist: Sie können dableiben.
Deswegen bin ich stolz darauf, dass die Außenstelle des
Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge bei der Erstaufnahmeeinrichtung in Gießen - ich habe mir die Zahlen heute noch mal durchgeben lassen - in den letzten
14 Tagen insgesamt für 294 dieser 1 000 Flüchtlinge aus
Syrien Anerkennungen ausgesprochen hat und 588 Akten angelegt worden sind.
Man geht übrigens im Rahmen der Verwaltungsvereinfachung dazu über, die entsprechenden Anhörungen
auch gestützt auf Fragebögen durchzuführen, damit das
alles schneller geht. Das ist begrüßenswert, und ich
finde, auch da sind mehr Personal, mehr Manpower, und
mehr Sachmittel richtig eingesetzt. Ich danke dem Bundesinnenminister ausdrücklich - Herr Dr. Krings, ich
wäre Ihnen dankbar, wenn Sie ihm das ausrichten -, dass
durch Erlass des Bundesinnenministeriums vom 7. NoRüdiger Veit
vember, wenn ich richtig informiert bin, ausdrücklich
klargestellt worden ist, dass Flüchtlingsangelegenheiten
von Syrern vorrangig zu bearbeiten sind.
({3})
Daneben haben wir die Landesprogramme mit den
bereits erwähnten Problemen bei der Verpflichtungserklärung. Da ist es in der Tat so, dass die Bundesländer
unterschiedliche Maßstäbe ansetzen. Das führt zu großer
Verwirrung, übrigens auch bei Betroffenen.
Schließlich haben wir das Bundesprogramm - wiederum mit anderen Rechtsfolgen -, bei dem jetzt von dem
beschlossenen Kontingent von 20 000 überhaupt erst
10 000 hier sind. Aus dem Kontingent von 20 000 sind
im Übrigen 16 000 entsprechende Übernahmeanordnungen oder Übernahmeerlaubnisse erteilt worden. Das
heißt, wir haben da keine Eile.
({4})
- Die Frage ist völlig berechtigt. Aber mittlerweile laufen die Verfahren. Es hat am Anfang sehr lange gedauert,
bis überhaupt die Abläufe in Ordnung gekommen sind.
Jetzt ist es gelegentlich so, dass die Leute technische
Schwierigkeiten haben, hierherzukommen. Nur mal ein
Beispiel: Wenn etwa jemand, der unmittelbar aus Syrien
stammt, ein Einreisevisum für Deutschland bekommen
will, dann muss er, weil er das in Syrien nicht erhalten
kann, da raus. Wenn er dann die Übernahmeanordnung,
die Erlaubnis, hierherzukommen, hat, muss er versuchen, in irgendein Flugzeug zu steigen und dann auch allein hierherzukommen - soweit das nicht anderweitig organisiert ist. Das alles dauert - Tom Koenigs, da bin ich
mit dir völlig einer Meinung - unendlich lange. Aber
jetzt haben sich die Dinge einigermaßen eingefahren,
jetzt geht es auch schneller.
Es gibt übrigens auch Leute - so habe ich gehört -,
die eine entsprechende Erlaubnis haben, hierher zu kommen, zum Beispiel auf Betreiben ihrer Verwandten, dann
aber letztendlich gar nicht erschienen sind, weil sie sich
entschieden haben, in Syrien oder in den Nachbarstaaten
zu bleiben.
Kurzum: Das alles sind Hinderungsgründe, die man
überwinden kann. Das Verfahren läuft bereits besser.
Lassen Sie uns deswegen nicht darüber streiten, wie die
Probleme gelagert sind, sondern darüber, wie man noch
mehr tun kann. Ich will Ihnen offen sagen: Da am 9. Dezember die Pledging-Konferenz auf europäischer Ebene
stattfindet und anschließend, am Donnerstag/Freitag
nächster Woche, die Innenministerkonferenz in Köln
stattfindet, habe ich die Hoffnung, dass sich da etwas bewegt. Ich will mich da auf gar keine Zahl festlegen.
Ich möchte hier aber angesichts der abgelaufenen Redezeit noch kurz einen Gedanken erwähnen. Wir sollten,
liebe Kolleginnen und Kollegen - das meine ich sehr
ernst -, überlegen, wie wir Zureisemöglichkeiten bzw.
Aufnahmemöglichkeiten vor allen Dingen für die Verletzlichsten, für die sogenannten vulnerablen Personen,
schaffen können. Dabei habe ich vor allen Dingen im
Blick Kinder, die zu Waisen geworden sind, die nicht im
Familienverband in ihrer Heimat haben aufgenommen
werden können, und auch alleinstehende Frauen mit
Kindern, die sich ebenfalls in einer schwierigen und
noch verzweifelteren Lage befinden als andere.
Ich wäre sehr dankbar, wenn wir gemeinsam - ich betone: gemeinsam - zu dem Ergebnis kommen könnten,
dass Deutschland an dieser Stelle ein gutes Beispiel gibt,
insbesondere in Anbetracht des jahreszeitlichen Zusammenhangs. Ich wäre dankbar, wenn wir die Gemeinsamkeiten, die in der heutigen Debatte zum Ausdruck gekommen sind, bewahren und nicht einfach einen Antrag
ablehnen.
Ich habe noch die Hoffnung, dass wir zu einer gemeinsamen Position kommen können. Ich habe den
Wunsch, dass Sie diese Hoffnung nicht zu einer leeren
Illusion werden lassen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({5})
Vielen herzlichen Dank, Rüdiger Veit. - Nächste Rednerin in der Debatte: Erika Steinbach für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die heutige Debatte über die Flüchtlinge aus dem Irak
und aus Syrien macht eines deutlich: Es gibt keinen Dissens hinsichtlich des Mitgefühls, das wir den Flüchtlingen entgegenbringen sollten. Über die Fraktionsgrenzen
hinweg ist erkennbar, dass alle sehen, dass Hilfe nötig
ist, und zwar vor Ort und hier im Lande. Das ist ein erfreulicher Tatbestand.
Warum ist das so? Ich glaube, es gibt eine gute Erklärung dafür, weshalb Deutschland so viele Flüchtlinge
und mehr Flüchtlinge als andere in Europa aufnimmt: Es
gibt Millionen Menschen in Deutschland, die dieses
Schicksal am eigenen Leib erfahren haben und genau
wissen, was es bedeutet, Flüchtling bzw. Vertriebener zu
sein.
Ich erinnere mich noch daran, wie wir, als ich drei
Jahre alt war, in Schleswig-Holstein ein Jahr in einer
4 Quadratmeter großen Kammer zu dritt in einem Bett
genächtigt haben. Der Bauer sagte damals zu meiner
Mutter: Ihr seid ja schlimmer als die Kakerlaken. So etwas muten wir heute keinem Flüchtling zu. Es gibt zu
viele Erfahrungen, die zeigen, was das bei den Menschen hinterlässt. Kein Flüchtling in Deutschland soll so
leben.
Vor diesem Hintergrund freue ich mich, dass die Bundesregierung ausreichend Mittel zur Verfügung stellt und
auch immer wieder zusätzliche Mittel bereitstellt, um
Hilfestellungen zu geben. Weil Deutschland ein Land ist,
in dem es viel Mitgefühl für solche Schicksale gibt, ist
die Anziehungskraft unseres Landes für Menschen in
Not und für Menschen, die eine bessere Zukunft suchen,
gewaltig. Zudem ist auch unsere Aufnahmebereitschaft
gewaltig.
({0})
Nach der neuesten OECD-Studie, nach dem Internationalen Migrationsausblick 2014 ist Deutschland gleich
nach Amerika Ziel von Flüchtlingen und Zuwanderern.
Wir rechnen allein in diesem Jahr mit 200 000 Asylbewerbern. Wir haben mehr Asylbewerber als das Zuwanderungsland Kanada oder gar Australien.
({1})
Die Grünen fordern heute aufgrund der anhaltenden
islamischen Gewalt, weitere syrische und irakische
Flüchtlinge aufzunehmen.
({2})
Mehrfach wurden seitens der Bundesregierung die Aufnahmekontingente erhöht. Ich erinnere mich: Vor einigen Jahren habe ich mich bei dem damaligen Innenminister Schäuble persönlich dafür eingesetzt, dass wir
ein Kontingent für 10 000 irakische Flüchtlinge schaffen. Das war das erste Mal nach langer Zeit, dass das
überhaupt wieder gelungen ist. Mehrfach wurden inzwischen Aufnahmekontingente erhöht.
Ich empfehle aber dringend, sich die Situation vor Ort
in unseren Städten und Dörfern anzusehen, die Flüchtlinge aufzunehmen haben. Die Kollegin Lindholz hat
das treffend geschildert. Wir müssen mit großer Sensibilität vorgehen und werbend mit unseren Mitbürgern
sprechen. Die Kapazitäten vor Ort sind zum Teil vollständig ausgelastet oder gar überlastet. Eine Erweiterung
kann man nicht von heute auf morgen erreichen. Das
kann man nicht von einer Stunde auf die andere schaffen. Das ist auch nicht von einem Tag auf den anderen
möglich.
Wir stellen natürlich fest - und wer davor die Augen
verschließt, gießt Wasser auf die Mühlen der Rassisten;
das dürfen wir nicht wollen -, dass bei unseren Bürgern
dann das Verständnis aufhört, wenn abgelehnte Asylbewerber - immerhin 70 Prozent derer, die hierherkommen, erhalten kein Bleiberecht - nicht konsequent zurückgeschickt werden.
({3})
Es ist im Grunde genommen ein Skandal, wenn zum
Beispiel das Land Bremen nur ganze 0,7 Prozent derer,
die das Land verlassen müssen, weil sie nicht politisch
verfolgt sind, abschiebt. Das darf nicht sein; denn es
mindert die Akzeptanz unserer Bürger für die wirklich
politisch Verfolgten, die wir in unserem Land haben
({4})
und denen wir das Gefühl geben wollen und müssen,
dass wir solidarisch an ihrer Seite stehen.
Frau Kollegin Steinbach, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder Bemerkung von Luise Amtsberg?
Gerne.
Danke schön.
Frau Kollegin Steinbach, vielen Dank, dass Sie die
Zwischenfrage zulassen. - Sie haben die Abschiebungsquoten angesprochen. Was sind denn die Gründe dafür,
dass nicht abgeschoben wird? Darüber werden Sie sicher
Erkenntnisse haben.
Unsere Erkenntnisse sind, dass ein ganz großer Teil
der Menschen aus humanitären Gründen nicht abgeschoben werden kann, etwa wegen Schwangerschaft, Traumatisierungen, ungeklärten Status oder deswegen, weil
die Entscheidung bei der Bearbeitung des Asylantrags zu
restriktiv gefällt wurde und die Situation im Heimatland
nicht so ist, dass man jemanden zurückschicken kann.
Das sind unsere Erkenntnisse. Was sind Ihre?
Diese Fälle gibt es. Sie sind aber schon aus den
70 Prozent herausgerechnet. Diejenigen, die ein Bleiberecht erhalten, gehören zu den 30 Prozent derjenigen, die
das Land nicht verlassen müssen. Mit den 70 Prozent
sind diejenigen gemeint, bei denen erkennbar kein
Grund vorhanden ist, hier im Lande zu bleiben. Vor diesem Hintergrund müssen wir uns auf die konzentrieren,
die wirklich verfolgt sind, die wirklich der Hilfe bedürfen, und nicht auf die, die aus anderen Gründen kommen. Natürlich sind das zum Teil verständliche Gründe,
etwa wenn jemand sagt: Hier finde ich einen Arbeitsplatz, hier könnte ich mein Leben besser leben als woanders. - Das kann ich verstehen. Aber dafür sind unser
Asylrecht und unser Bleiberecht nicht gemacht. - Danke
für die Frage.
({0})
Durch die Haltung der Länder, die nicht konsequent
abschieben, wird die Akzeptanz für die wirklich Verfolgten im Lande gemindert. Diese Akzeptanz - das ist ja geschildert worden - ist ja nicht so, dass wir nicht gegenhalten und nicht Verständnis für die Flüchtlinge wecken
müssten.
Es wurde richtigerweise auch gesagt: Die meisten
Menschen aus Krisengebieten wollen in der Nähe der
Heimat bleiben. Wenn sie schon nicht in ihrer Heimat
sein können, dann wollen sie wenigstens in der Nähe, in
der Region bleiben, wo sie das Gefühl haben, sie können
bald wieder nach Hause zurückkehren. Daher ist es richErika Steinbach
tig, dass die Bundesregierung mit humanitärer Hilfe
- diese wird auch ausgebaut - vor Ort hilft. Vor diesem
Hintergrund, glaube ich, tut man den Menschen etwas
Gutes, wenn man ihnen die Zuversicht gibt: Ihr habt zu
essen, ihr habt zu trinken, ihr habt ein Dach über dem
Kopf, sodass ihr den Winter überstehen könnt. Da liegen
aber die Probleme. Die größten Probleme liegen nicht
bei uns im Lande. Die größten Probleme finden sich vor
Ort, dort, wo die Menschen zum Teil jetzt noch unter
freiem Himmel nächtigen. Wir müssen dort versuchen,
zu helfen, wie auch immer wir helfen können.
Aber eines muss man auch sehen: Wenn ich mir den
Globus anschaue und ich mir Deutschland anschaue, ist
klar: Alleine können wir das nicht stemmen. Da ist die
ganze Europäische Union gefragt, und da sind die anderen Länder der Welt genauso wie wir auch gefragt.
({1})
Erfreulich ist für mich bei dieser Debatte, dass wir
diesen Menschen Mitgefühl entgegenbringen und dass
wir alle miteinander helfen wollen. Dass wir dabei unterschiedliche Gewichtungen haben, liegt in der Natur der
Sache. Aber ich glaube, wir sind insgesamt auf einem
guten Weg.
({2})
Vielen Dank, Frau Kollegin Steinbach. - Letzter Redner in dieser Debatte: Martin Patzelt für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Gäste! Meine Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es fällt nach
einer so langen Debatte schwer, noch einmal das zu bekräftigen, was hier schon gesagt wurde. Es bringt auch
nichts, hier Zahlen zu referieren.
({0})
- Nein, ich will Ihnen trotzdem etwas mit auf den Weg
geben. Warten Sie es doch bitte ab.
({1})
- Das ist Ihre Beurteilung. Warten Sie es ab. - Frau
Dr. Brantner, ich würde Ihrem Antrag so gerne zustimmen, wenn ich nicht ein großes Problem hätte: Ich bin
kein Gutmensch, sondern ich bin Politiker.
({2})
Angesichts der Situation in unserem Land, die meine
Kollegin, Frau Steinbach, gerade beschrieben hat, sage
ich: Wir als Politiker haben auch eine große Verantwortung dafür,
({3})
dass es im Land nicht zu einer Polarisierung kommt, wie
auf der deutschen Landkarte am Sonntagabend sehr
deutlich und meiner Ansicht nach angstmachend zu sehen war. Das, was Sie gesagt haben, Frau Pau, macht
auch mir Angst. Aber es sind schon lange nicht mehr allein rassistische und faschistische Kräfte, die auf die
Straße gehen, sondern aus der Mitte der Bürger selbst hat
sich eine Bewegung entwickelt. Ich erinnere nur daran,
was in Dresden unter dem Namen „PEGIDA“ passiert
ist. Dort gehen Bürger, die völlig unbescholten sind
({4})
und nie im Verdacht standen, rassistische und faschistische Tendenzen zu vertreten, auf die Straße und sagen:
So geht es nicht mehr weiter.
Ich erinnere an die Wahlerfolge der AfD. Als Politiker haben wir die Verantwortung dafür, in unserem Land
den sozialen Frieden zu verwirklichen. Unsere Verantwortung besteht nicht darin, das, was wir persönlich für
richtig und gut halten, den Menschen aufzudrängen.
Das, was die deutsche Regierung in den letzten Wochen getan hat, zeigt ein hohes Maß an Engagement und
Verantwortlichkeit. Alle Zahlen, die genannt wurden,
sind ein nachdrücklicher Beleg dafür, dass wir uns nicht
ausgeruht haben, sondern dass wir, weil, wie Frau
Merkel es immer ausdrückt, Politik die Kunst des Machbaren und nicht des Wünschenswerten ist, versucht haben, auf diesem Weg voranzugehen. Die gesetzlichen
Änderungen sind ein guter und großer Schritt dahin.
Sie selber, Frau Brantner, und auch Staatssekretär
Schröder haben festgestellt, dass es noch lange nicht so
weit ist, dass wir die bestehenden Gesetze und Ausführungsbestimmungen tatsächlich ausfüllen. Ein guter Teil
der Bestimmungen wird von den Kommunen und Ländern noch lange nicht mit Leben erfüllt. Wir wissen, dass
es dafür unterschiedliche, insbesondere finanzielle,
Gründe gibt. Die Bundesregierung hat das erkannt und
will die Kommunen bei der Unterbringung der Flüchtlinge zunächst mit 500 Millionen Euro und 2016 mit
weiteren 500 Millionen Euro unterstützen. Dann muss
man weitersehen. Es darf nicht aus finanziellen Gründen
scheitern.
Es gibt aber auch noch sehr viele andere Erschwernisse, zum Beispiel Bürokratie, mangelnde Empathie
und kommunale Mitarbeiter mit einem Amtsverständnis,
das sich nicht nach den Bedürfnissen der zu uns gekommenen Menschen, insbesondere der Minderjährigen,
richtet, sondern das Dienst nach Vorschrift und nach den
Buchstaben des Gesetzes in den Mittelpunkt rückt. Das
kenne ich aus meiner kommunalen Erfahrung sehr gut.
Für sie sind es nicht in erster Linie Menschen, die vor ih6914
nen stehen, sondern Asylbewerber, denen mit Klischees
und Vorurteilen begegnet wird.
Artikel 16 a des Grundgesetzes gilt ungemindert. Darüber brauchen wir nicht zu diskutieren. Mein Anliegen
ist vielmehr, dass dieses Grundgesetz in den Herzen und
Köpfen der Menschen in unserem Land verankert ist,
dass es Mehrheiten findet und dass die Menschen sagen:
Ja, es ist gut, dass wir dieses Grundgesetz haben, und wir
wollen es einhalten. - Es darf nicht sein, dass sie sich
aufgrund der Ängste, die sie bewegen, und des Eindrucks angesichts steigender Flüchtlingszahlen und einer
medialen Diskussion darüber, dass die Regierung das
Problem nicht mehr meistern kann, nicht mehr den Menschen zuwenden, sondern in politischen Gleichschritt
mit anderen Kräften unserer Gesellschaft verfallen, was
wir durchaus befürchten müssen. Das ist meine große
Sorge.
Deswegen wiederhole ich, was ich schon im Sommer
gesagt habe: Ich persönlich glaube, dass wir unbedingt
einen Schulterschluss zwischen Politik und Zivilgesellschaft brauchen. In der Debatte ist deutlich gemacht
worden, dass die Menschen in unserem Land vielfach
- nicht nur aus den Kirchen heraus, sondern auch aus
anderen Initiativen heraus - selber aktiv geworden und
mit Sensibilität und dem, was sie vermögen, auf die
Flüchtlinge zugegangen sind.
Deshalb ist es für uns in der Politik immer wichtig, zu
unterscheiden. Wir können nicht alle Menschen aufnehmen, die eine wirtschaftliche Verbesserung ihres Lebens
erwarten. Ich würde sie zwar aufnehmen, aber ich kann
es nicht, und unser Land als Ganzes kann es ebenfalls
nicht. Deswegen müssen wir umso mehr dafür Sorge tragen - daher kann ich Ihrem Antrag nicht zustimmen -,
dass zunächst einmal die Flüchtlinge und die unbegleiteten Minderjährigen die Hilfe bekommen, die sie unbedingt brauchen.
Die jungen Menschen, die hierhergekommen sind, haben zum Teil schwere Jahre hinter sich. Frau Özoğuz hat
vorhin deutlich gemacht, aus welchen Gründen sie kommen. Sie hat einen Grund nicht genannt, den ich nun
nachtragen möchte. Es gibt viele Minderjährige, die geflohen sind, weil sie von ihrer Familie getrennt wurden
oder weil ihre Familienangehörigen tot sind. Für diese
jungen Menschen haben wir eine besondere Verantwortung. Insofern sind die geltenden gesetzlichen Regelungen, soweit ich sie kenne, erst einmal gut. Gelegentlich
muss eine Umverteilung vorgenommen werden, wenn
die Kapazitäten vor Ort - die Jugendämter, die Beratungsstellen und die Unterbringungsmöglichkeiten nicht mehr ausreichen, um tatsächlich zum Kindeswohl
beizutragen.
Wenn die jungen Menschen hierherkommen, dann
stehen sie an einer Wegkreuzung. Dann ist es sehr entscheidend, wie wir ihnen begegnen, ob wir ihnen mit Beratung, Begleitung, Ermutigung und Bildung begegnen
und ihnen eine Perspektive eröffnen oder ob wir sie in
einer Massenunterkunft unterbringen und ihnen damit
deutlich machen, dass wir sie nur aufbewahren, und das
ausgerechnet in so wichtigen Jahren ihres Lebens. Es ist
dann kein Wunder, dass sie untertauchen.
Wir müssen unterstellen, dass sich diese jungen
Menschen auf ihrer Flucht Kompetenzen erworben haben. Sie haben sich nicht nur durch fremde Länder - oft
ausgebeutet, prostituiert sowie auf Baustellen und Plantagen schuftend - bis in das Land ihrer Sehnsucht durchgeschlagen. Sie haben während ihrer Flucht auch ein regelrechtes Überlebenstraining absolviert. Wenn sie dann
hierherkommen und mit einer Situation konfrontiert
sind, die so gar nicht ihrer Vorstellung vom gelobten
Land entspricht, tauchen sie ab.
Die Zahlen aus Berlin und Hamburg sind alarmierend. Wir müssen regelrecht Sorge haben, dass die Polizei kapituliert. Es gibt jugendliche Banden, die sich mit
Raub und Diebstahl über Wasser halten. Sie werden oft
von anderen Kriminellen aufgrund ihrer Jugend und ihrer nicht vollen Strafmündigkeit ausgenutzt. Ich möchte
die Aufmerksamkeit auf die von mir beschriebene
Wegkreuzung lenken. Hier müssen wir als Gesellschaft
reagieren. Wir müssen die Potenziale, die wir haben,
ausschöpfen.
Da die Zeit knapp wird, sage ich nur noch eines - hier
geht es um die Mitverantwortung der Bürgergesellschaft -: Wir können Gesetze machen und Geld geben.
Ich erinnere daran, dass es sich dabei um das Geld der
Steuerzahler und nicht um unser Geld handelt. Die Menschen im Land werden immer fragen: Wofür gibt die Regierung denn unser Geld eigentlich aus? - Auch hier
müssen wir Mehrheiten erwerben, und zwar parteiübergreifend.
Entscheidend wird sein, ob die Flüchtlinge und insbesondere die jungen Menschen, die zu uns geflohen sind,
das Maß an Verständnis, Ermutigung, Begleitung und
Unterstützung erfahren, das sie brauchen. Können eigentlich der Gesetzgeber, eine Behörde oder eine Verwaltung den Menschen die Begleitung geben, die sie
brauchen?
Von einem freundlichen Gesicht auf der Straße bis hin
zur Aufnahme von Pflegekindern in die eigene Familie,
das ist eine breite Spanne. Ich ermuntere Sie und auch
mich immer wieder aufs Neue nach dem alten Lied, das
wir früher als Kinder oft gesungen haben: „Wenn jeder
gibt, was er hat, dann werden alle satt.“ Abgewandelt bedeutet das: Ein jeder tut, was er kann, und steckt den anderen an. - Das ist die größte Glaubwürdigkeit. Ich weiß
aus vielen Zuschriften, dass die Menschen im Land
schauen, was wir Politiker machen, und sich fragen: Gehen Politiker eigentlich voran, wenn es um Akzeptanz
geht, oder stellen Sie nur Forderungen an die Verwaltung?
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. - Ich erinnere Sie nur daran, dass bald Weihnachten ist. Wenn
Jesus Christus damals als Asylbewerber in Ägypten
keine Unterstützung gefunden hätte, dann wäre die Weltgeschichte ein bisschen anders verlaufen.
({5})
Vielen Dank, Herr Kollege Patzelt. - Erlauben Sie
mir eine Bemerkung zu dem, was Sie zu Beginn Ihrer
Vizepräsidentin Claudia Roth
Rede gesagt haben. Ich glaube nicht, dass ein guter
Mensch zu sein im Widerspruch zum Politikerdasein
steht. Ich sehe hier viele gute Menschen im Saal, und
zwar in allen Fraktionen.
({0})
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3154 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Dann rufe ich jetzt den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur weiteren Entlastung von Ländern und
Kommunen ab 2015 und zum quantitativen
und qualitativen Ausbau der Kindertagesbetreuung
Drucksachen 18/2586, 18/3008
Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsauschusses ({1})
Drucksache 18/3443
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort an Kollegen Alois Rainer für die CDU/CSU-Fraktion.
({2})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Erst
letzte Woche haben wir nach intensiven Beratungen den
Bundeshaushalt für das Jahr 2015 beschlossen. Mit diesem Haushalt zeigen wir auf, wie nachhaltige Politik betrieben wird; das heißt, dass wir unserer Verantwortung
gerecht werden. Wir tragen Verantwortung gegenüber
den Menschen und den nachfolgenden Generationen in
unserer Republik. Darüber hinaus sind wir damit ein
Vorbild für viele andere Länder in Europa.
Deutschland ist ein wirtschaftlich und sozial stabiles
Land mit einer soliden finanziellen Basis. Damit dies
auch so bleibt, wollen wir die Voraussetzungen für
Investitionen in die Zukunft auf einer weiterhin soliden
finanziellen Grundlage schaffen. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist die nachhaltige Konsolidierung der öffentlichen Haushalte.
Doch ist gerade bei dieser Debatte das föderale
System ins Gedächtnis zurückzuholen. Unser föderales
System ist eine Stärke der Demokratie und ein wichtiger
Grund für die Leistungsfähigkeit Deutschlands. Ein lebendiger Föderalismus lebt unter anderem durch seine
Kommunen. Wenn wir in Deutschland starke Kommunen haben wollen, dann brauchen sie eigene Gestaltungsmöglichkeiten bei Einnahmen und Ausgaben.
({0})
Die bestehende Ordnung unserer Bund-LänderFinanzbeziehungen folgt diesem Prinzip leider nicht immer. Viele Aufgaben werden im föderalen Streit häufig
vermischt und vermengt. Außerdem wird das System oft
falsch ausgelegt und wiedergegeben. So werden teilweise auch einmal von Ländervertretern Dinge versprochen, die eigentlich Aufgabe des Bundes sind. Deshalb
ist es umso wichtiger, dass die Mittel, die außerhalb des
föderalen Systems anfallen, auch so eingesetzt werden,
wie sie tatsächlich festgesetzt wurden.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf möchten wir
den Kommunen zum einen, wie wir es schon in der letzten Wahlperiode taten, unter die Arme greifen, und zum
anderen gehen wir damit auf unsere Forderung im Koalitionsvertrag ein, die da heißt, dass wir die Gemeinden,
Städte und Landkreise in Deutschland weiterhin finanziell entlasten werden. Diese Unterstützung leisten wir
aus voller Überzeugung.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich durfte
18 Jahre Bürgermeister sein. In dieser Zeit konnte ich
miterleben, wie hier in Berlin ein Paradigmenwechsel
stattfand. Es ist nämlich keine Selbstverständlichkeit,
dass der Bund die Kosten für die Grundsicherung im
Alter mit übernommen hat und damit die Kommunen
kräftig und dauerhaft entlastet hat, und es ist auch keine
Selbstverständlichkeit, dass der Bund ein gutes Kitaprogramm aufgelegt hat, für das wir heute noch einmal
einige hundert Millionen Euro zur Verfügung stellen
werden.
({1})
Die Entlastung der Kommunen zählt zu den prioritären Maßnahmen dieser Großen Koalition. Mit dem
vorliegenden Gesetzentwurf hält diese Koalition ihre
Zusage ein, die Kommunen zu stärken, und erweist sich
als verlässlicher Partner. Im Rahmen des Bundesteilhabegesetzes sollen die Kommunen mit 5 Milliarden Euro
jährlich ab 2018 entlastet werden. Geplant war hier
ursprünglich, Teile der Kosten der Eingliederungshilfe
zu übernehmen. Mir ist bewusst, dass es aufgrund der
Vielfalt der Länder in Deutschland nicht einfach ist, die
Summe von 5 Milliarden Euro über die Eingliederungshilfe zu verteilen. Deshalb ist der Verteilungsmechanismus noch offen. Aber ich hoffe - da bin ich guter Dinge -,
dass hier eine gerechte Lösung gefunden wird und dass
diese große Summe gerecht auf die Kommunen in
Deutschland verteilt wird.
({2})
Der vorliegende Entwurf greift dem bereits ab 2015
vor und entlastet die Kommunen bis 2017 jährlich um
1 Milliarde Euro. Geschehen wird dies zur Hälfte über
die Kosten der Unterkunft und zur Hälfte über eine höhere Beteiligung der Kommunen an der Umsatzsteuer.
So haben wir im Mai dieses Jahres mit den Ländern
unter anderem besprochen, dass das Sondervermögen
„Kinderbetreuungsausbau“ in den Jahren 2016 bis 2018
um weitere 550 Millionen Euro aufgestockt wird.
Damit wird die Unterstützung für die Länder und Gemeinden beim Ausbau der Kinderbetreuung für unter
Dreijährige weiter erhöht. Dies ist ein starkes Signal an
die Familien in Deutschland. Mit den zusätzlichen Mitteln stellt der Bund die Errichtung von weiteren Betreuungsplätzen für Kinder unter drei Jahren sicher. Daher
ist es gut und gleichzeitig auch der richtige Weg, dass
wir uns weiter dafür einsetzen, dass für jedes Kind bzw.
jede Familie in Deutschland, sofern sie es denn möchte,
ein guter Kitaplatz zur Verfügung steht.
({3})
In diesem Zusammenhang muss auch erwähnt werden, dass der Bund seine Beteiligung an den Betriebskosten der Kinderbetreuung in Höhe von 845 Millionen
Euro in den Jahren 2017 und 2018 um jeweils 100 Millionen Euro erhöht. Mit dieser Kostenbeteiligung unterstützt der Bund die Länder und die Kommunen entscheidend beim nachhaltigen Ausbau der Kinderbetreuung.
({4})
Zum Abschluss meiner Ausführungen möchte ich
nochmals betonen: Wir stehen zu unseren Zusagen und
bleiben weiterhin ein verlässlicher Partner für die Kommunen in Deutschland. Wir wissen, dass die Kommunen
einen wichtigen Beitrag zur dauerhaften Sicherung von
Wachstum und Beschäftigung und damit Wohlstand in
unserem Land leisten. Dennoch, meine sehr verehrten
Damen und Herren, müssen wir darauf achten, dass die
Mittel, die zur Verfügung gestellt werden, nicht zweckentfremdet werden. Ferner brauchen wir eine klare Aufgabentrennung zwischen Bund, Ländern und Kommunen.
Darüber hinaus muss sichergestellt sein, dass jede
Ebene die Mittel zur Verfügung bekommt, die sie benötigt, um ihre Aufgaben adäquat erledigen zu können. Allerdings - und ich sage es gern noch einmal - müssen
die Mittel auch dort ankommen, wo sie tatsächlich benötigt werden.
({5})
Es kann und darf nicht das Ziel sein, dass die Gelder zur
Sanierung von Länderhaushalten verwendet werden.
({6})
Deshalb erwarten wir auch - da spricht der ehemalige
Bürgermeister -, dass die Länder die den Kommunen
zugedachten Mittel auch entsprechend weiterleiten.
Insgesamt bin ich davon überzeugt, dass der Gesetzentwurf im Ergebnis den richtigen Weg aufzeigt. Ich
freue mich, dass der Bund die Kommunen weiterhin finanziell unterstützt.
Vielen Dank.
({7})
Herzlichen Dank, Herr Kollege Rainer. - Jetzt fragen
sich natürlich alle, wo Sie Bürgermeister waren, Herr
Kollege. In Haibach?
({0})
- Sehen Sie: Das ist der Exbürgermeister aus Haibach in
Bayern.
({1})
Nächste Rednerin in der Debatte: Susanna Karawanskij
für die Linke.
({2})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Die Politik der Bundesregierung
bleibt Mosaikwerk. Sie fügen ein Steinchen hinzu, fügen
ein weiteres hinzu und hoffen, dass es passt, dass es ein
hübsches Bild ergibt. Aber es bleibt dann doch nur Farbbrei.
So ist es auch beim Kitaausbau. Sie erkennen zwar,
dass die Kindertagesbetreuung ausgebaut werden muss,
und Sie erkennen ebenfalls, dass finanziell etwas aufgestockt werden muss, aber letztendlich sind Sie, meine
Damen und Herren von der Regierungsbank, nicht in der
Lage, das wichtige Mosaikteilchen hinzuzufügen, wenn
es nämlich um den qualitativen Ausbau der Kinderbetreuung geht. Das vernachlässigen Sie aufs Sträflichste.
Das ist tatsächlich skandalös.
Ich möchte die Punkte hier benennen: Es geht um das
Stichwort „Betreuungsschlüssel“, um die Ausbildung
von Erzieherinnen und Erziehern und um die Weiterbildungsmöglichkeiten. Wenn die Vorgaben der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung eingehalten werden sollen, dann haben wir hier
einen Finanzierungsbedarf von 9 Milliarden Euro. Das
Problem ist doch, dass die armen Kommunen im Hinblick auf die qualitativen Standards je nach Kassenlage
entscheiden werden. Aber auch der qualitative Ausbau
der Kindertagesbetreuung muss ein Teil der Pflichtaufgaben der Kommunen sein; denn Kinder in ärmeren
Kommunen dürfen nicht Kinder zweiter Klasse sein.
({0})
Ich komme zum zweiten Punkt, an dem es noch Leerstellen gibt. Sie erkennen zu Recht, dass viele Kommunen finanzieller Entlastungen bedürfen. In Anbetracht
der chronischen Unterfinanzierung der Kommunen hätten wir uns tatsächlich gewünscht, dass es, wie es in Ihrem Koalitionsvertrag zu lesen ist, zu einer Soforthilfe
kommt, und zwar jetzt und nicht erst 2015. Das, was hier
geschieht, kann man meines Erachtens nicht mehr „Soforthilfe“ nennen. In Ihrem Gesetzentwurf fehlen vor allem die Bestandteile, die die Kommunalfinanzen langfristig auf ein stabiles Fundament stellen. Die Höhe der
Entlastung, also die geplante 1 Milliarde Euro für alle
Kommunen, ist da nur ein Tropfen auf den heißen Stein.
An genau dieser Stelle liest sich Ihr Gesetzentwurf erschreckend unzeitgemäß. Ihre Politik bleibt Stückwerk
und wird leider immer wieder von der Realität eingeholt.
Das wird beispielsweise an der aktuellen Debatte zur
Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen und
Asylsuchenden deutlich. Auf Kommunen und Länder
kommen dadurch Kosten zu, die sie mit den dafür bislang zur Verfügung stehenden Finanzmitteln kaum bewältigen bzw. schultern können. Hier muss schnellstens
für eine menschenwürdige und sozial integrierte Unterbringung, Betreuung und Versorgung in den Städten und
Gemeinden gesorgt werden.
Dabei geht es einerseits darum, vor Ort mit den Menschen, mit der Bevölkerung zu sprechen, diese zu integrieren und zu beteiligen; ein gegenseitiges Kennenlernen
hilft immer dabei, Vorbehalte abzubauen. Andererseits
bedarf es allerdings auch der entsprechenden Rahmenbedingungen, die geschaffen werden müssen. Es ist unser
aller gemeinsame Aufgabe, humanitäre Hilfe zu leisten,
wenn Menschen aus Kriegsgebieten aus Angst um ihr
Leben die Heimat verlassen, flüchten und dann um unsere Hilfe ersuchen. Der Bund darf sich nicht länger aus
dieser gesamtgesellschaftlichen Aufgabe zurückziehen
und sich hier aus der Verantwortung stehlen. Wir müssen
vor allen Dingen verhindern, dass es zu einer Abwehrhaltung der Menschen kommt bzw. dass diese zunimmt.
Das heißt, wir brauchen bei der Bewältigung dieser Aufgabe Herz und Verstand, aber auch Geld.
Jüngst war zu lesen, dass Sie Geld aus dem Fonds für
die Fluthilfe zugunsten der Flüchtlingsunterbringung
umwidmen wollen. Doch auch hier sorgen Sie eher für
eine temporäre statt für eine strukturelle Lösung, erst
recht, wenn 500 Millionen Euro im kommenden Jahr
und weitere 500 Millionen Euro erst im Jahr 2016 zur
Verfügung gestellt werden. Soforthilfe muss auch hier
anders aussehen.
({1})
Sie haben es ja gerade selbst zugegeben: Es bleibt
auch weiterhin fraglich bzw. unklar, ob die Länder das
Geld tatsächlich an die Kommunen weitergeben. Um ein
gutes Gesamtbild ohne Lücken zu schaffen, müssen die
Kommunalfinanzen umfassend und nachhaltig gestärkt
werden. So bekommen die Kommunen wieder Handlungsspielräume, und so werden sie bei den sozialen
Ausgaben entlastet.
({2})
Wir Linke haben entsprechende Forderungen erhoben. In schnellen Schritten wollen wir die komplette
Übernahme der Kosten der Unterkunft
({3})
- zu den Ländern komme ich gleich - durch den Bund
erreichen. Zuvor müssen vom Bund natürlich auch die
Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz
übernommen werden, bis dieses abgeschafft ist.
({4})
Meine Damen und Herren, um ein harmonisches Gesamtbild zu erhalten, dürfen wir uns natürlich nicht nur
die Ausgabenseite anschauen, sondern wir müssen vor
allen Dingen auch für stabilere, kontinuierliche Einnahmen der Kommunen sorgen. Auch dazu haben wir einen
Antrag eingereicht, nämlich den Antrag, die Gewerbesteuer zu einer Gemeindewirtschaftsteuer weiterzuentwickeln. Wir wollen also eine Kommunalsteuer, in deren
Rahmen die Last der Gewerbesteuer auf breitere Schultern verteilt wird,
({5})
nämlich auf alle unternehmerisch Tätigen, die eine Gewinnerzielungsabsicht haben, und bei der die Bemessungsgrundlage verbreitert wird, wobei natürlich entsprechende Freibeträge für Kleinunternehmer und
Existenzgründer vorzusehen sind, um die Steuerlast zu
senken
({6})
und zu verhindern, dass es zu einer Substanzbesteuerung
kommt. Das alles - ich wiederhole es - ist eine Weiterentwicklung der Gewerbesteuer zur Gemeindewirtschaftsteuer. Die Einnahmen daraus sollen dann auch bei den
Kommunen landen.
Natürlich braucht es einen solidarischen und aufgabengerechten Länderfinanzausgleich, der vor allem, wie
im Grundgesetz beschrieben ist, für gleichwertige Lebensverhältnisse sorgt. Auch dazu liegt ein Konzept von
uns vor, das wir im Übrigen nicht am Bundestag vorbeidiskutieren, sondern bei dem wir uns Ihren Nachfragen
bzw. Anfragen nicht verschließen. Dieses Konzept sieht
vor, dass das gesamte kommunale Steueraufkommen
einbezogen wird und nicht, wie bisher, nur ein Anteil
von 64 Prozent. Wir fordern einen solidarischen Altschuldenfonds, damit die Kommunen von der Zinslast,
die sich aufgrund ihrer Schulden ergibt, befreit werden
oder diese zumindest in den Altschuldenfonds fließt, sodass hier neue Handlungsmöglichkeiten geschaffen werden.
Schlussendlich wollen wir einen Solidarpakt III für
wirtschaftsschwache Regionen in Ost, West, Nord und
Süd, um die strukturellen Mängel, die vor allem auch in
der Infrastruktur vorhanden sind, zu beseitigen.
Für Sie, meine Damen und Herren auf der Regierungsbank, möchte ich noch einmal sagen: Damit den
Kommunen und vor allem den darin lebenden Menschen
dauerhaft geholfen wird, damit die Kommunalfinanzen
langfristig stabil sind und sozusagen ein Gesamtbild entsteht, braucht es mehr Mosaiksteine. Wir brauchen keine
Minimalstrategie - wie sie jetzt vorhanden ist -, die vor
allem darauf abzielt, dass Stück für Stück immer wieder
nachgebessert werden muss, sondern wir fordern eine
nachhaltige Kommunalpolitik mit einer dauerhaft guten
Finanzausstattung für unsere Städte und Gemeinden.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Nächste Rednerin in
der Debatte: Bundesministerin Manuela Schwesig.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren Abgeordnete! Wie Familien in unseren Städten und Gemeinden leben, entscheidet sich vor Ort: ob es
überhaupt einen Kitaplatz gibt, ob es einen guten Kitaplatz gibt, ob es gute Ganztagsschulen sowie Freizeitangebote gibt, wie es mit der Schwimmhalle aussieht, ob
sie baufällig ist oder vielleicht gerade saniert wurde.
Wir alle wissen aus unserer eigenen politischen Tätigkeit vor Ort, dass es viele Kommunen schwer haben.
Deshalb ist es gut und richtig, dass die Bundesregierung
mit diesem Gesetz eine große Finanzspritze für die
Kommunen gibt: auf der einen Seite eine Entlastung um
1 Milliarde Euro und auf der anderen Seite zusätzliche
Hunderte Millionen Euro für den weiteren Kitaausbau.
1 Milliarde Euro, sehr geehrte Abgeordnete, ist keine
Kleinigkeit, sondern eine wichtige Geldspritze, und jeder von uns, der die Not vor Ort kennt, weiß, dass die
Kommunen dringend darauf warten. Deshalb ist es gut,
dass wir das jetzt zügig auf den Weg bringen.
({0})
Wie Herr Abgeordneter Alois Rainer sagte, übernimmt der Bund die Kosten für die Grundsicherung im
Alter vollständig. Natürlich gibt es immer noch weitere
Forderungen, aber ich finde, man muss die Kirche im
Dorf lassen. Ich habe zehn Jahre lang Kommunal- und
Landespolitik gemacht. Was jetzt der Bund an Entlastungen auf den Weg bringt - heute eine Finanzspritze von
1 Milliarde Euro und Aufstocken des Sondervermögens
„Kinderbetreuungsausbau“ nach Bereitstellung von
4 Milliarden Euro für die Grundsicherung im Alter und
1 Milliarde Euro pro Jahr für Bildungsausgaben -, das
sind doch keine Peanuts, sondern das sind richtig große
Beträge, die wir aus dem Bundeshaushalt „ausschwitzen“ müssen, ohne neue Schulden zu machen. Das ist
kein Mosaiksteinchen, sondern ein Gesamtpaket der Generationengerechtigkeit: Investitionen in Kinder und Bildung und auf der anderen Seite schuldenfreier Haushalt.
({1})
In meiner Heimatstadt Schwerin - übrigens eine sehr
verschuldete Kommune - gibt es keine Zwei-KlassenKitas, sondern es gibt für alle Kinder gute Kitas. Das
kann ich bestätigen, weil mein Sohn in die Kita ging und
nun ziemlich relaxed den Schulübergang geschafft hat.
Ich möchte nicht, dass der Eindruck entsteht, dass es in
Kommunen, die wenig Geld haben, Kitas zweiter Klasse
gibt. Aber sie brauchen natürlich finanzielle Unterstützung. Das beschließen wir heute.
In meiner Heimatstadt wurde in der letzten Woche die
zweite 24-Stunden-Kita eröffnet. Die Kinder gehen nicht
24 Stunden am Tag in eine Kita; das will ich vorausschicken. Diese Kita hat rund um die Uhr an allen Tagen im
Jahr geöffnet. Das ist gerade für Eltern, die im Schichtdienst arbeiten, sehr wichtig, weil sie sich die Arbeitszeiten nicht aussuchen können. Die Notfallaufnahme im
Krankenhaus beispielsweise muss bereitstehen, da muss
die Ärztin Schichtdienst machen. Bei dieser Kita bewerben sich Paare um einen Platz, die Polizisten oder Altenpfleger sind, also aus Dienstleistungsbereichen kommen,
in denen Randzeiten abgedeckt werden müssen. Diese
Kita ist unter anderem auch aus Bundesmitteln gefördert
worden. Wir wissen, dass wir mehr solcher Ganztagskitas - nicht mit einer Betreuung rund um die Uhr, aber
mit einer Ganztagsbetreuung - im Land brauchen. Deshalb ist es gut, dass der Bund mit dem heutigen Gesetz
auch das Sondervermögen „Kinderbetreuungsausbau“
für diese Legislatur auf 1 Milliarde Euro aufstockt, um
weitere Kitaplätze, vor allem Ganztagsplätze, zu schaffen.
({2})
Ich werde Ihnen in der nächsten Zeit den Fünften
Zwischenbericht zum Kinderförderungsgesetz vorlegen
und darf Ihnen heute schon sagen: Aus den Daten geht
hervor, dass 90 Prozent der Eltern mit der Betreuung
ihrer Kinder und dem Angebot in Kitas zufrieden sind.
Das ist eine gute Zahl. 25 Prozent der Eltern finden allerdings, dass es in Kitas bessere Lernangebote geben
sollte. Wir wissen von den Jugendämtern auch, dass
noch nicht jedem Elternteil sofort ein Kitaplatz zur
Verfügung gestellt werden kann, obwohl es einen
Rechtsanspruch darauf gibt. So schrieb mir zum Beispiel
eine 62-jährige Frau über ihre beiden Töchter, dass beide
studiert haben, beide gute Jobs haben, und beide jetzt
Kinder haben. Die Mutter ist, wie ich finde, zu Recht
stolz: Die beiden haben alles richtig gemacht. Aber sie
bekommen keine Ganztagsplätze für ihre Kinder. Jetzt
springen Oma und Opa ein. Sie geben frühzeitig ihren
Job auf, um die Betreuung der Enkel zu übernehmen. Ich
glaube, dass wir einerseits gar nicht wollen, dass Leute
deswegen vorzeitig aus ihrem Job aussteigen - für die
Leute nicht, aber auch wegen des Fachkräftemangels
nicht. Andererseits wissen wir: Nicht jeder hat Oma und
Opa, die das leisten können. An diesem Beispiel sehen
Sie, dass es eben nicht so ist, wie einige denken: „Wir
haben doch so viel für den Kitaausbau getan, das muss
doch jetzt genug sein“, sondern dass es weiterhin Bedarf
in unserem Land gibt, dass junge Mütter und junge Väter
mehr Kitaplätze, vor allem Ganztagsplätze, brauchen.
Das bringen wir heute auf den Weg mit dem neuen Kitagesetz.
({3})
Das Kitagesetz ermöglicht eine bessere Vereinbarkeit
von Beruf und Familie. Wir leisten damit auch ganz konkrete Armutsbekämpfung; denn gerade die alleinerzieBundesministerin Manuela Schwesig
henden Frauen, die langzeitarbeitslos sind, können oft
deshalb nicht arbeiten und ein eigenes Einkommen
haben, weil ihnen ein Ganztagsplatz fehlt. Unsere Gesamtevaluation der Familienleistungen hat gezeigt:
Durch ein gutes Kitaangebot wird die Armutsquote um
bis zu 7 Prozent reduziert. Insofern ist das alles wichtig
für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, für die Armutsbekämpfung, aber eben auch für die frühkindliche
Bildung von Kindern; denn hier wird auch ein Sprachförderungsangebot gemacht, das für die Kinder wichtig
ist. Das ist ein Gesetz, in dem eine ganze Menge Wertvolles für unsere Kinder steckt.
({4})
Es wird zu Recht angesprochen, dass neben der Zahl
der Plätze, die es geben muss, auch die Qualität stimmen
muss. Deshalb ist es gut, dass wir erstmalig in einem Gesetz auch qualitative Standards setzen. Wir ermöglichen
zum Beispiel, dass mit diesem Geld Ganztagsplätze geschaffen werden, aber auch Ausstattungsinvestitionen
getätigt werden können. So können zum Beispiel
Küchen gebaut werden, um eine gesunde Ernährung anbieten zu können. Wir stellen Geld zur Verfügung für
Sprachförderung, und wir wollen den Ganztagsausbau
vor allem auch vor dem Hintergrund der Inklusion voranbringen. Das alles ist ganz wichtig.
Ich bin sehr froh, dass Professor Rauschenbach, der
Direktor des Deutschen Jugendinstituts, erst kürzlich bestätigt hat, dass die Qualität unter dem Kitaausbau nicht
gelitten hat. Die Untersuchung des Deutschen Jugendinstituts besagt sogar, dass der Personalschlüssel sich
leicht verbessert hat und auch das Qualifikationsniveau
des Personals nicht gesunken ist. Dennoch ist es wichtig,
dass wir uns, so wie es auch im Koalitionsvertrag verankert ist, weiter Gedanken über qualitative Verbesserungen machen, weil die Herausforderungen im Kitabereich
immer weiter steigen.
Deshalb bin ich froh, dass es erstmalig gelungen ist,
dass alle Länder und der Bund sich gemeinsam zu einem
Qualitätsdialog verabredet haben. Wir wollen gemeinsam beschreiben, was wichtige Qualitätsziele sind und
wie sie finanziert werden können. Das ist ein Prozess,
der jetzt begonnen hat. Etwas Vergleichbares - ich habe
es selbst fünf Jahre lang als Landesministerin erlebt gab es bisher nicht. Da die Grünen vermutlich gleich in
das gleiche Horn blasen werden: Es gibt ein Land, das
dieses Kommuniqué nicht unterschrieben hat, das ist
ausgerechnet Hessen, wo Sie an der Regierung beteiligt
sind. Wenn Sie also bei den Vorschlägen zu Qualitätsverbesserungen glaubwürdig sein wollen, dann tun Sie auch
selber etwas.
({5})
Ich will an dieser Stelle sagen: Ich bin sehr dankbar,
dass alle Länder mitziehen und dass auch die Kommunen mit an Bord sind. Ich glaube, das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die man nur auf allen drei
Ebenen gemeinsam stemmen kann. Es ist wichtig, dass
wir in unserem Land mit dem Ausbau guter Ganztagskitas weiter vorankommen, Kitas, die qualitativ stimmen. Wir wollen auch nicht auf die Ergebnisse dieses
Dialogs warten, sondern wir wollen parallel etwas tun.
Der Bund wird ab 2015 den dauerhaften Betrieb - hier
geht es um die laufenden betrieblichen Kosten - mit
Mitteln in Höhe von jährlich 845 Millionen Euro unterstützen. So viel Geld haben wir noch nie dafür bereitgestellt. Dann kommen noch die 100 Millionen Euro für
2017 und 2018 on top drauf. Der Bund hat sich noch nie
so stark an laufenden Kosten und damit an den Kosten
für Personal und Qualität beteiligt. Das ist ein wichtiges
Signal und gut angelegtes Geld.
({6})
Chancengleichheit für Kinder ist ein Punkt, der für
mich ganz besonders wichtig ist. Diese Chancengleichheit fängt auch in der Kita an. Deshalb ist es gut und
richtig, dass der Bund mit jährlich über 100 Millionen
Euro die Sprachförderung unterstützt, insbesondere auch
in Brennpunktkitas. Ich bin froh, dass wir neben den erwähnten Mitteln dieses Geld noch zusätzlich zur Verfügung stellen, sodass die Sprachförderung, die schon gut
vor Ort läuft - ich weiß, dass sich viele Abgeordnete dafür einsetzen -, weiter stattfinden kann. Das ist eine
wichtige Unterstützung; denn alle Kinder sollen unabhängig von der familiären und der finanziellen Situation
die beste Bildung bekommen. Die Bildung fängt in den
Kitas an.
Vielen Dank.
({7})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Ekin Deligöz, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte mich im Wesentlichen auf die Entlastung der
Kommunen konzentrieren. Auf die Kitaqualität wird
gleich noch meine Kollegin Katja Dörner eingehen.
Aber eines, Frau Ministerin, muss ich dazu doch
sagen: Das, was Sie jetzt beschrieben haben, ist eine
Mogelpackung.
({0})
Das, was Sie glauben, was dort drin ist, ist nicht drin. Sie
reden über Qualität. Sie haben einen Gipfel für mehr
Qualität veranstaltet. Heraus kam ein Arbeitskreis, nicht
mehr und nicht weniger. All das, was Sie an warmen
Worten finden, steht nicht in diesem Gesetzentwurf. Das
sind leere Versprechungen. Machen Sie es einmal konkret, dann können wir darüber reden, aber mit solchen
Sätzen verkaufen Sie die Menschen für dumm.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden diesen
Gesetzentwurf dennoch nicht ablehnen. Eine Entlastung
der Kommunen in Höhe von 1 Milliarde Euro ist richtig.
Hier haben Sie recht, und wir müssen die Kommunen in
diesem Punkt unterstützen. Es wäre aber besser gewesen, wenn man das gemacht hätte, was man sich vorgenommen hat, nämlich die Kommunen mit sozialen
Brennpunkten zu entlasten. Dann hätte man die gesamte
Milliarde über die Erstattung der Kosten der Unterkunft
herausgeben müssen und dies nicht auch über eine Umverteilung der Umsatzsteueranteile regeln dürfen. Dann
hätte man besser zur Lösung dieses Problems beitragen
können. Sie haben jetzt einen Kompromiss gemacht:
Hälfte-Hälfte. Ziel verfehlt. Etwas mehr Entschlossenheit hätte den Kommunen an dieser Stelle wirklich gut
getan.
({2})
Was mich noch mehr schockiert, ist der zweite Teil,
den es eigentlich geben sollte. Es sollten noch 5 Milliarden Euro für Kosten der Eingliederungshilfen fließen.
Davon verabschieden sich die Bundesregierung und
auch der Finanzminister im Moment wieder. Noch deutlicher kann man den Missmut gegenüber einem solchen
Gesetzentwurf nicht zum Ausdruck bringen. Die Bundessozialministerin Nahles geht immer noch davon aus,
dass die 5 Milliarden Euro kommen. Ich betone das deshalb so deutlich, weil gestern an dieser Stelle ganz viele
warme Worte für Menschen mit Benachteiligungen und
Behinderungen gefunden wurden. Jetzt jedoch stehen
genau die Mittel für Entlastungen nach dem Bundesteilhabegesetz zur Disposition. So geht das nicht. Das werden wir so auch nicht durchgehen lassen.
({3})
Schauen Sie sich den Bereich Flüchtlingspolitik an.
Sie reden jetzt darüber, dass es 500 Millionen Euro für
die Kommunen geben soll. Bei Bedarf soll es weitere
500 Millionen Euro geben. Leider reden wir nicht über
eine verlässliche und verstetigte langfristige Entlastung.
Die Grünen haben den Vorschlag gemacht, die
Flüchtlinge mit in die gesetzliche Krankenversicherung
aufzunehmen. Das müsste natürlich nicht über Beiträge,
sondern über Steuern finanziert werden. Es hätte den
Vorteil, dass wir an diesem Punkt wirklich die Kommunen entlasten würden. Eine solche Entlastung wäre langfristig und verlässlich. Vor allem wäre es menschlich gewesen, hier dem humanitären Bedarf gerecht zu werden.
So weit konnten, so weit wollten Sie aber nicht gehen.
Deshalb zweifele ich daran, ob Sie die Kommunen wirklich entlasten wollen.
({4})
Ich finde das sehr bedauerlich; denn damit hätten wir in
dem Bereich wirklich etwas erreicht.
Frau Ministerin, Sie sagen jetzt, Sie hätten so viel für
die Kommunen in die Wege geleitet. Die Frage ist doch
nicht nur, wie wir die Kommunen entlasten; die Frage ist
auch, wie es erst so weit kommen konnte, dass die Kommunen so verlassen waren,
({5})
dass sie so hohe Defizite haben, dass sie auf Kassenkredite zurückgreifen müssen. Dazu haben Sie einen
großen Beitrag geleistet.
({6})
Darüber sollten wir auch mal reden. Ihr Gesetz aus der
letzten Wahlperiode, das Wachstumsbeschleunigungsgesetz, hat die Kommunen in diesem Land sage und
schreibe 1,5 Milliarden Euro gekostet.
({7})
Ich könnte diese Liste fortsetzen. Weil Sie die Kommunen in diese Situation gebracht haben, sind Sie in der
Pflicht, für die Kommunen Geld auszugeben. Damit
sollten Sie sich nicht rühmen; denn das sind Ihre Hausaufgaben.
({8})
Die Kommunen, liebe Kolleginnen und Kollegen,
sind eine tragende Säule in diesem Land. Sie sichern die
Daseinsvorsorge. Sie tragen die sozialen Kosten. Die sozialen Kosten werden steigen. Da müssen wir Verantwortung übernehmen. Wir dürfen die Kommunen nicht
im Regen stehen lassen; das ist unsere Verpflichtung.
Dafür brauchen wir mehr als nur leere Versprechungen.
({9})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Ingbert Liebing, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Mit dem Gesetzentwurf, den wir heute
beschließen, hält die Koalition Wort. Wir lösen eine
Zusage aus dem Koalitionsvertrag ein, indem wir die
Kommunen in den Jahren 2015, 2016 und 2017 jeweils
um 1 Milliarde Euro entlasten - insgesamt 3 Milliarden
Euro zusätzlich für die Kommunen. Das sind keine leeren Versprechungen; das ist eine gute Botschaft für die
Städte und Gemeinden in unserem Land.
({0})
Nun kann man sicherlich kräftig darüber streiten, wie
dieses Geld verteilt wird, Frau Deligöz; aber wir haben
uns um einen fairen Kompromiss bemüht. Indem die
Hälfte der jährlichen Entlastung über eine höhere Bundesbeteiligung an den Kosten der Unterkunft zustande
kommt - 500 Millionen Euro - und die andere Hälfte
über einen höheren kommunalen Anteil an der Umsatzsteuer, ist allen Kommunen in Deutschland geholfen:
sowohl denjenigen mit besonderer sozialer Belastung
- über die höhere Beteiligung an den KdU - als auch den
anderen Kommunen, die auch ihre Aufgaben zu finanzieren haben und bei denen es auch um die Stärkung der
Finanzkraft und der Investitionskraft geht.
({1})
Deswegen ist dies ein fairer Kompromiss, den wir hier
vorlegen.
({2})
Es kommt hinzu, dass beide Instrumente - sowohl die
Entlastung bei den KdU als auch die höhere Beteiligung
an den Einnahmen aus der Umsatzsteuer - dazu führen,
dass das Geld direkt bei den Kommunen landet und nicht
in die Landeshaushalte fließt. Das macht deutlich, dass
wir uns darum kümmern, dass das Geld, das wir im Bundeshaushalt für die Kommunen bewegen, tatsächlich in
den Kassen der Städte und Gemeinden ankommt.
({3})
Meine Damen und Herren, damit knüpfen wir an die
kommunalfreundliche Politik an, die wir unter der Führung der Union in der vergangenen Wahlperiode bereits
geleistet haben.
({4})
Man kann es nicht oft genug sagen: In diesem Jahr tritt
die dritte Stufe der Entlastung bei der Grundsicherung in
Kraft - noch einmal 1,1 Milliarden Euro zusätzlich aus
dem Bundeshauhalt für die Kommunen in Deutschland,
insgesamt eine Entlastung in der Größenordnung von
5 Milliarden Euro. Nie zuvor hat es eine so starke Politik
für die Kommunen in Deutschland gegeben wie in dieser
Koalition und unter Führung der Union in der vergangenen Wahlperiode.
({5})
Das heute vorliegende Gesetz ist der erste Schritt zur
weiteren Stärkung der Kommunen in dieser Wahlperiode. Wir haben uns einen zweiten Schritt vorgenommen, der dann 2018 im Rahmen der Reform der Eingliederungshilfe folgt, wiederum mit einer Entlastung in der
Größenordnung von 5 Milliarden Euro. Nun wissen wir
- darauf hat mein Kollege Alois Rainer bereits hingewiesen -, dass dies nicht einfach ist, weil die Eingliederungshilfe in den einzelnen Bundesländern sehr unterschiedlich organisiert und finanziert wird. Ich habe eine
Karte mitgebracht:
({6})
Es gibt nur wenige - hier grün eingezeichnete - Länder
wie Nordrhein-Westfalen, Bayern, Baden-Württemberg
und Hessen, in denen die Eingliederungshilfe vollständig von den Kommunen finanziert wird, während diese
Aufgabe im Saarland und in Sachsen-Anhalt vollständig
vom Land finanziert wird und es in allen anderen Ländern eine Mischfinanzierung gibt.
Der heute vorliegende Gesetzentwurf ist unabhängig
von der Eingliederungshilfe. Darauf legen wir ausdrücklich Wert. Es erfolgt im Vorgriff auf die Reform der Eingliederungshilfe.
({7})
Deswegen ist der Beschluss des Bundesrates zu diesem Gesetzentwurf auch so unverständlich, in dem empfohlen wird, statt einer höheren Bundesbeteiligung an
den Kosten der Unterkunft eine höhere Bundesbeteiligung an den Kosten der Eingliederungshilfe vorzusehen.
Die Absicht hinter dieser Stellungnahme des Bundesrates ist klar: Die Länder, die sich an den Kosten der Eingliederungshilfe finanziell beteiligen, wollen die Bundesmittel nicht den Kommunen zur Verfügung stellen,
sondern in die Landeskasse umleiten.
({8})
Das ist nicht unsere Absicht. Das ist im Koalitionsvertrag nicht vereinbart. Deswegen legen wir Wert darauf,
dass dieses Geld tatsächlich bei den Kommunen ankommt. Auch dazu dient dieser Verteilungsmaßstab.
({9})
Ich bin der Bundesregierung ausdrücklich dankbar für
die Gegenäußerung zu dieser Stellungnahme des Bundesrates, weil auch darin noch einmal die Absicht deutlich gemacht wird, dass das Geld bei den Kommunen ankommt.
Dass wir hier nicht irgendeine Phantomdiskussion
führen, zeigt die Situation in den einzelnen Bundesländern. Auch im Bereich der Kosten der Grundsicherung,
bei den 5 Milliarden Euro, haben wir es leider erlebt,
dass einzelne Bundesländer, die sich in der Vergangenheit an diesen Kosten finanziell beteiligt haben, die Mittel zur beabsichtigten Entlastung der Kommunen in die
Landeskasse umgeleitet haben. Ein Beispiel dafür erlebe
ich in meinem Heimatland Schleswig-Holstein, Frau
Deligöz. Die grüne Finanzministerin, Frau Heinold,
({10})
hat etwa ein Viertel der Bundesmittel in die Landeskasse
umgeleitet, dort einkassiert, obwohl dieses Geld eigentlich bei den Städten und Gemeinden ankommen soll.
({11})
Diese Politik ist brandgefährlich, liebe Kolleginnen
und Kollegen. Denn wer soll denn, wenn wir jetzt über
die Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen
diskutieren - dabei sprechen wir ja genau darüber, welches das richtige Instrument ist, um mit den 5 Milliarden
Euro tatsächlich die Kommunen zu erreichen -, hier in
diesem Haus tatsächlich noch Entscheidungen zugunsten
der Kommunen treffen, wenn einzelne Landesregierungen diese kommunalfreundliche Politik unterlaufen und
die Gelder, die eigentlich für die Kommunen vorgesehen
sind, in die Landeskasse umleiten? Deswegen ist diese
Politik auch so brandgefährlich, weil es die Akzeptanz
für eine kommunalfreundliche Politik hier im Bund gefährdet. Denn die eigentlich Verantwortlichen für die
Kommunalfinanzen, für eine aufgabengerechte Finanzausstattung der Kommunen, sind die Bundesländer.
({12})
Aus dieser Verantwortung werden wir die Länder nicht
entlassen.
Für den Bund ist das, was wir tun - das gilt auch für
diesen Gesetzentwurf -, eine freiwillige Leistung. Alles
das, was wir hier tun, ist keine originäre Bundesaufgabe.
Das gilt im Übrigen auch für die Finanzierung der Kindertagesstätten oder für die U-3-Förderung. Es war Ausdruck eines fairen Kompromisses und eines fairen Entgegenkommens gegenüber den Kommunen, dass wir die
Mittel für diese Aufgaben aus dem Bundeshaushalt zur
Verfügung stellen. Aber die eigentliche Verantwortung
für diese Themen und für die aufgabengerechte Finanzausstattung der Kommunen liegt nach unserer Verfassungsordnung eindeutig bei den Ländern.
Aber warum tun wir dann trotzdem etwas für die
Kommunen? Wir tun es, weil wir ein Interesse daran haben, dass die kommunale Selbstverwaltung funktioniert,
weil wir ein Interesse daran haben, dass die Kommunen
ihre Aufgaben wahrnehmen können. Denn die Kommunen sind das Gesicht der Politik für die Menschen.
Nirgendwo sonst erleben die Menschen die Politik so
hautnah wie im eigenen Lebensumfeld, im eigenen Erfahrungsbereich, zu Hause in ihrer Gemeinde, in ihrem
Dorf, in ihrer Stadt. Deswegen ist es uns nicht egal, wie
die Kommunen ihre Aufgaben wahrnehmen.
Wir tun dies auch, weil wir die Investitionskraft der
Kommunen stärken wollen. 60 Prozent der öffentlichen
Investitionen erfolgen durch die Kommunen; die restlichen 40 Prozent teilen sich der Bund und alle 16 Länder.
Wenn wir darüber sprechen, dass wir die Investitionskraft des Staates, der öffentlichen Hand, stärken wollen,
dann geht das nirgendwo so gut wie über die Stärkung
der Finanzkraft unserer Kommunen. Auch dazu, zur
Stärkung der Finanzkraft und der Investitionen in
Deutschland, leistet dieser Gesetzentwurf mit jährlich
1 Milliarde Euro zusätzlich ab dem kommenden Jahr für
die Kommunen einen wichtigen Beitrag.
({13})
Deswegen ist dieses Gesetz gar nicht hoch genug zu
werten. Es ist eine große Leistung des Bundes, der Bundesregierung und der Koalition für die Kommunen in
Deutschland. Wir stimmen heute über die Beschlussempfehlung zu diesem Gesetz ab. Deswegen ist heute
ein guter Tag für die Kommunen in Deutschland.
Vielen Dank.
({14})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Katja Dörner, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Wir haben es eben wieder gehört: Der
vorliegende Gesetzentwurf wird uns als ein Gesetz zur
Qualitätsverbesserung in Kitas verkauft. Es wird darauf
verwiesen, dass man jetzt den Bau von Küchen finanzieren kann und auch der behindertengerechte Ausbau gefördert wird. Ich muss wirklich sagen: Ich kenne keine
Kita, die in den letzten Jahren gebaut wurde und keine
Küche inklusive hatte. Ich komme aus Nordrhein-Westfalen. Laut Landesgesetz ist es überhaupt nicht mehr erlaubt, ein öffentliches Gebäude nicht behindertengerecht
zu bauen bzw. auszustatten. Das zeigt: Der Titel dieses
Gesetzes ist reiner Etikettenschwindel. Dass Sie diesen
Etikettenschwindel nötig haben, das zeigt, wie blank Sie
beim Thema Kitaqualität tatsächlich sind.
({0})
Wir haben von der Ministerin und von den Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktion gehört, wie
wichtig Kitaqualität ist. Das stimmt ja auch; denn die
Kitas können für mehr Chancengerechtigkeit sorgen. Sie
können insbesondere Kinder unterstützen, die in ihren
eigenen Familien wenig mitbekommen. Gerade weil das
so ist, ärgert es mich umso mehr, dass diese Bundesregierung in dieser Legislaturperiode faktisch nichts zusätzlich für die Kitaqualität tut.
({1})
Das ärgert uns ganz besonders deshalb, weil das so zukunftsvergessen ist.
({2})
Vor einem Monat hat der Kitagipfel stattgefunden, bei
dem es um bundeseinheitliche Qualitätsstandards in den
Kitas gehen sollte. Der Gipfel ist in der Öffentlichkeit
kaum wahrgenommen worden. Das wundert mich auch
nicht: Er hatte nämlich keine relevanten Ergebnisse vorzuweisen.
Es wurde jetzt eine Arbeitsgruppe eingerichtet, und
die Ministerin - wir haben es gehört - findet das auch
ganz besonders toll. Ich muss sagen: Die Ministerin hat
offensichtlich ein sehr kurzes Gedächtnis. Ich möchte
Sie daran erinnern: Im August letzten Jahres hat die damalige Familienministerin Kristina Schröder genau das
vorgeschlagen, nämlich die Einrichtung einer Arbeitsgruppe, um gemeinsam mit den Ländern über bundesKatja Dörner
einheitliche Qualitätsstandards zu sprechen. Die damalige Sozialministerin Mecklenburg-Vorpommerns, die
heutige Familienministerin Manuela Schwesig, bezeichnete damals die Einrichtung einer Arbeitsgruppe als
- Zitat - „spärlichen Notnagel“; alle Vorschläge lägen
auf dem Tisch, daher sei das nicht mehr nötig. Die
Ministerin kritisierte also vor etwas mehr als einem Jahr
eine Arbeitsgruppe als „spärlichen Notnagel“ und richtet
sie heute selber ein. Daran sieht man: Sie sind blank,
was die Kitaqualität angeht. Ich finde, das muss man
sich wirklich einmal auf der Zunge zergehen lassen.
({3})
Wir wissen: Das Qualitätsgesetz stand im Entwurf des
Koalitionsvertrags drin. Es ist aber auf den letzten Metern aus dem Koalitionsvertrag herausgeflogen. Und warum? Weil der Bund nicht bereit ist, ernsthaft in die
Kitaqualität zu investieren. Das ist völlig falsch, das ist
zukunftsvergessen.
({4})
- Nein, das ist nicht Aufgabe der Länder. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe von Bund, Ländern und
Kommunen. Alle sind gefragt, weil wir nur so bei dem
wichtigen Thema Kitaqualität weiterkommen.
({5})
Wir Grüne wollen bundesweit verbindliche Standards. Es ist für uns selbstverständlich, dass der Bund
bei der Finanzierung mit im Boot ist; denn - ich habe
eben darauf hingewiesen - die Kitaqualität ist nicht nur
die Aufgabe der Kommunen und der Länder.
({6})
Was die Kitaqualität angeht: Frau Schwesig macht
leider da weiter, wo Frau Schröder aufgehört hat.
({7})
Sie macht sich bei der Qualitätsfrage faktisch einen
schlanken Fuß und schiebt den Ländern den Schwarzen
Peter zu. Wir finden das nicht akzeptabel, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen.
({8})
Die Kitas sind sowieso die Verlierer in dieser Koalition. Jenseits des Etikettenschwindels „Qualität“ betrifft
das den Platzausbau, für den es zusätzliche Mittel nur in
homöopathischen Dosen gibt.
({9})
Mickrige 550 Millionen Euro sind bis 2017 zusätzlich
vorgesehen, also mitnichten 1 Milliarde Euro zusätzlich,
von der auch die Ministerin heute gesprochen hat.
450 Millionen Euro, die im Haushalt längst verplant und
so gut wie ausgegeben waren, werden schwuppdiwupp
eingerechnet, damit dieses sehr magere Ergebnis der
Verhandlungen für die Kitas nicht ganz so offensichtlich
wird. Das ist Augenwischerei zulasten der Kinder und
Familien. Wir kritisieren das sehr scharf. Aus unserer
Sicht gibt es dazu keine Alternative.
Vielen Dank.
({10})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Ulrike Gottschalck, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich finde Ihre Aussagen schon erstaunlich, Frau
Dörner. Offensichtlich gibt es keine Verantwortung der
Länder mehr. An allem ist der böse Bund schuld.
({0})
Ich finde den Gesetzentwurf, den wir heute vorgelegt
haben, sehr gut. Ich bin mir sicher, dass unsere Kommunen, also die Städte, Gemeinden und Landkreise, sehr
dankbar sind für diesen Gesetzentwurf; denn er entlastet
die Kommunen richtig, konkret und direkt, und der Kitaausbau wird forciert.
({1})
Unsere Regierungsbilanz kann sich sehen lassen, insbesondere im Hinblick auf die Kommunen. Einige Beispiele: Es gibt eine 100-prozentige Übernahme der Kosten der Grundsicherung durch den Bund. Die Mittel für
die Städtebauförderung wurden auf 700 Millionen Euro
aufgestockt. Der Bund übernimmt die Kosten für das
BAföG. Wir sorgen bis 2018 für eine flächendeckende
Grundversorgung mit schnellem Internet. Es gibt finanzielle Unterstützung für Kommunen, die von Armutswanderung betroffen sind. Es gibt - darüber haben wir
vorhin debattiert - zusätzliche Hilfen für die Flüchtlinge.
Alle diese Maßnahmen bedeuten zwei Dinge:
Erstens. Wir entlasten die Kommunen wirklich eindeutig und nachhaltig. Klammer auf: Das ist auch dringend nötig.
({2})
Das sagen alle, auch diejenigen, die vorher hier in Regierungsverantwortung standen, und zwar jeglicher Couleur.
Zweitens. Diese Maßnahmen kosten richtig viel Geld.
Alle Maßnahmen schmälern den Handlungsspielraum in
unserem Haushalt.
({3})
Das müssen wir einfach einmal so festhalten.
({4})
Trotzdem ist das gut angelegtes Geld,
({5})
weil den Kommunen wirklich die Luft ausgeht, und wir
brauchen Kommunen, die Luft zum Atmen haben.
Einige Kollegen haben es schon vor mir gesagt: So
kommunalfreundlich wie diese war keine Regierung zuvor aufgestellt. Ich denke, darauf können wir wirklich
ordentlich stolz sein.
({6})
Das ist auch gut so; denn die Menschen erfahren in den
Gemeinden ganz konkret, ob die Gemeinschaft funktioniert, ob die Infrastruktur und öffentliches Leben funktionieren. Sie merken, ob marode Straßen oder Turnhallendächer endlich repariert werden können oder
Hallenbäder, die von der Schließung bedroht waren,
weiterbetrieben werden können. Das ist wirklich wichtig.
Ich denke, auch mit Blick auf unsere Demokratie ist
das wichtig. In den Kommunen erleben die Menschen
nämlich, ob das Leben funktioniert oder nicht. Langsam
wird es in den Kommunen schwierig, geeignete Gemeindevertreterinnen oder Gemeindevertreter zu finden, weil
die nichts mehr bewegen können, weil sie nur noch den
Mangel verwalten können. Deshalb müssen wir die
Kommunen so stützen, dass sie eine ordentliche Politik
vor Ort machen können und sich Politiker nicht von ihrem Nachbarn am Zaun beschimpfen lassen müssen,
weil das Schwimmbad geschlossen wird. Ich denke, das
ist auch mit Blick auf unser Demokratieverständnis ganz
wichtig.
({7})
Peu à peu sorgen wir dafür, dass die Kommunen wieder mehr Handlungsspielräume bekommen. Deshalb ist
heute ein guter Tag. Weitere Bausteine folgen: Wir entlasten die Städte, Gemeinden und Kreise mit jährlich
1 Milliarde Euro. Das sind keine Peanuts, das ist auch
kein popeliger, kleiner Mosaikstein, sondern das ist ein
dicker Brocken. 1 Milliarde Euro muss man erst einmal
im Haushalt haben, und zwar jährlich. Die Entlastung erfolgt im Vorgriff auf das Bundesteilhabegesetz.
Ich finde schon, dass das erfolgreiches Regierungshandeln ist. Ich würde mir jedoch wünschen, dass es im
Gegenzug auch in den Ländern gutes und faires Regierungshandeln gäbe.
({8})
Wir erwarten, dass unser gutes Bundesgeld auch wirklich zur Erreichung der vereinbarten Ziele eingesetzt
wird: zur Entlastung der Kommunen und zur Stärkung
der frühkindlichen Bildung.
({9})
- Das ist das Grundkonzept. - Da ist jeder von uns gefordert. Auch die Grünen sind gefordert,
({10})
in den Ländern, in denen sie mitregieren, genau darauf
zu achten, dass das so gemacht wird.
({11})
Liebe Ekin Deligöz, ich mache mit Hessen ein weiteres Negativbeispiel auf. Hessen nimmt jedes Jahr
345 Millionen Euro vorneweg aus dem kommunalen Finanzausgleich, und die Kommunen stehen da und müssen bluten.
({12})
Ich denke: Guckt mal genau hin, was die Länder, in denen ihr mitregiert, treiben.
({13})
Mit einem weiteren Baustein - einem unserer wichtigsten - werden wir die Kommunen bei der Finanzierung von Kinderkrippen und Kitas weiter unterstützen.
Das bestehende Sondervermögen wird ausgebaut. Liebe
Kolleginnen und Kollegen von den Linken und den Grünen, 550 Millionen Euro sind für mich keine Peanuts,
sondern das ist richtig viel Geld, das den Kommunen bei
der Förderung der frühkindlichen Bildung wirklich hilft.
({14})
Daneben stellen wir in 2017 und 2018 weiteres Geld
für die Betriebskosten in den Ländern zur Verfügung,
nämlich zweimal 100 Millionen Euro, insgesamt also
200 Millionen Euro.
Wir wissen doch alle, wie wichtig eine qualitativ
hochwertige Kinderbetreuung für die Vereinbarkeit von
Familie und Beruf ist. Wir wissen insbesondere aber
auch, dass die frühkindliche Bildung für jedes einzelne
kleine Persönchen die besten Startchancen ins Leben
bietet, und das ist doch auch volkswirtschaftlich sinnvoll. Deshalb ist es gut, dass der Bund hier unterstützt.
Ich erinnere an dieser Stelle ausdrücklich wieder an
die Verantwortung der Länder. Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, eine qualitativ hochwertige Betreuung unserer Kinder zukunftsfest zu gestalten. Das machen die Kommunen, und wir beteiligen uns daran,
obwohl wir gar nicht so gefordert sind wie die Länder.
({15})
Deshalb ist es einfach ein Unding, dass die Grünen hier
die Qualität kritisieren, während ihr Land Hessen das
einzige Land ist,
({16})
das eine Vereinbarung über die verbindlichen Qualitätsstandards, Frau Dörner,
({17})
nicht mitunterzeichnet hat. Vielleicht hinterfragen Sie
das einmal.
Erlauben Sie mir noch eine Bemerkung: Das Wort
„zukunftsvergessen“ kann ich aus dem Mund der Grünen nicht mehr hören. Sie haben es heute allein dreimal
gesagt, und in den letzten Debatten war das auch so.
({18})
Ich finde, wir betreiben wirklich eine nachhaltige Politik
und müssen uns das nicht sagen lassen.
Abschließend lege ich Ihnen noch einmal die Zuständigkeit der Länder ans Herz. Ich lege Ihnen aber auch
den Gesetzentwurf, den wir heute vorlegen, noch einmal
ans Herz. Liebe Opposition, lassen Sie Ihre kleinkarierte
Mäkelei!
({19}):
Oh!)
Stimmen Sie zu! Ich finde, das ist ein guter Tag für die
Kommunen und für die jungen Familien in unserem
Land.
Vielen Dank.
({20})
Als letzter Rednerin in dieser Debatte erteile ich das
Wort der Abgeordneten Christina Schwarzer, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Gäste auf den Tribünen! Hoffentlich
sind auch ein paar Ministerpräsidenten vor den Bildschirmen, die diese Debatte heute verfolgen.
({0})
- Die haben anderes Wichtiges zu tun.
Ich bin sehr stolz, jetzt gerade hier zu stehen, weil ich
glaube, heute ist ein ganz besonderer Tag für die Familienpolitik. Wir beschließen nachher nicht nur ein Gesetz
zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf, sondern wir tun heute auch wieder etwas für die
Kindertagesbetreuung und den Kitaausbau. Das ist uns
und mir persönlich ganz wichtig. Deswegen ist heute ein
guter Tag für die Familienpolitik. - Liebe Katja Dörner,
ich hoffe, du hast dich wieder ein bisschen beruhigt. Das
hat mir Sorgen gemacht.
({1})
- Jetzt müssen Sie mir auch zuhören.
Der Ausbau der Kindertagesbetreuung ist sowohl gesellschaftlich als auch volkswirtschaftlich eine bedeutende Aufgabe für unser ganzes Land:
Gesellschaftlich ist er das deswegen, weil unsere gesamte Gesellschaft vor dieser Aufgabe steht. Die Familien brauchen Wahlfreiheit - der Kollege Rainer hat das
heute schon angedeutet -, und damit meine ich echte
Wahlfreiheit. Die Politik darf den Eltern kein bestimmtes
Betreuungsmodell für ihre Kinder vorschreiben. Wir
müssen es ihnen aber ermöglichen, einen guten Betreuungsplatz zu erhalten, wenn sie ihn benötigen.
Volkswirtschaftlich ist er das nicht etwa deswegen,
weil es sich schlicht um haushalterische Ausgaben in
den Kommunen und Ländern sowie um den Etat von
Minister Schäuble handelt, sondern er ist es deshalb,
weil die Investition in eine gute Betreuung unserer Kinder eine Investition in die Zukunft ist.
({2})
Der Bund und wir haben das erkannt. Das zeigt vor
allem auch der Gesetzentwurf, über den wir in wenigen
Minuten abstimmen werden, mit Entlastungen von
1 Milliarde Euro pro Jahr in den Jahren 2015 bis 2017
für Länder und Kommunen. Dazu kommen natürlich
noch die uns allen bestens bekannten 6 Milliarden Euro
für Kitas, Schulen und Hochschulen. Ganz abgesehen
von dem Anteil, der für den Bereich Kita vorgesehen ist,
geht es auch beim BAföG um sehr viel Geld: Allein mit
der vollständigen Übernahme der Finanzierung des
BAföG zum Jahresbeginn 2015 entlastet der Bund die
Länder jährlich um 1,2 Milliarden Euro.
Ich erinnere aber noch mal gern an die letzte Legislaturperiode:
({3})
Der Bundestag hat damals die größte finanzielle Entlastung der Kommunen in der Geschichte unseres Landes
beschlossen, nachdem Rot-Grün die entsprechenden Belastungen seinerzeit auf die Kommunen abgewälzt hatte.
Durch die vollständige Übernahme der Kosten der
Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung
sparen Länder und Kommunen zwischen 2012 und 2017
rund 25 Milliarden Euro. Ich gehörte damals zwar noch
nicht dem Deutschen Bundestag an, war aber in meiner
Heimatkommune Berlin-Neukölln politisch verantwortlich. Daher kann ich mich besonders gut daran erinnern,
welchen positiven Stellenwert diese Entlastung für die
Kommunen hatte. Neben den fiskalischen Vorteilen war
sie vor allem auch ein Zeichen: ein Zeichen dafür, dass
wir die Kommunen bei ihren vielfältigen Aufgaben unterstützen. Genau das hat der Bund nie so stark getan wie
in diesen Jahren.
Ich erinnere auch an die 5,4 Milliarden Euro für den
Ausbau der U-3-Kinderbetreuung, die Finanzierung des
Bildungs- und Teilhabepaketes, die Unterstützung der
Kommunen bei der frühkindlichen Bildung und auch die
Hilfe bei der Bewältigung der Flutschäden im Jahr 2013.
Auch wenn für eine auskömmliche Finanzausstattung
der Kommunen die Länder zuständig sind, lässt der
Bund die Kommunen nicht allein. Unser gemeinsames
Ziel muss es sein, die Kommunen finanziell dauerhaft
und nachhaltig auszustatten.
Unsere Politik zeigt Wirkung: Im Jahr 2013 belief
sich der Überschuss der kommunalen Ebene auf insgesamt 1,7 Milliarden Euro. Für 2014 und 2015 rechnen
wir mit einem Überschuss der Kommunen zwischen
2 und 3 Milliarden Euro.
({4})
- Gern. - Dass die Entlastungen wirken, kann man auch
an den gestiegenen Investitionen der Kommunen sehen:
Im vergangenen Jahr hat sich diese Quote um 8,4 Prozent erhöht. Da ich weiß, dass ganz viele Kollegen hier
in diesem Haus noch in der Kommunalpolitik aktiv sind,
bin ich mir sicher, dass unsere Herzen heute auch für die
Kommunalpolitik schlagen.
({5})
Ich glaube allerdings, man muss im Detail sehr aufpassen, wer was bezahlt; denn Länder und Kommunen
müssen ebenfalls ihren Beitrag leisten, unter anderem
dadurch, dass sie die bereitgestellten Mittel verabredungsgemäß und bedarfsgerecht einsetzen. Als ehemalige Kommunalpolitikerin weiß ich, dass hier große Versuchungen bestehen, anders zu verfahren; aber wir hier
im Deutschen Bundestag müssen darauf achten, dass die
Verabredungen eingehalten werden. Wichtig ist außerdem, dass das Geld bei den Kommunen ankommt. Ich
bin diesbezüglich ganz bei den kommunalen Spitzenverbänden und verspreche den Kommunen, dass wir das im
Blick haben und es auch einfordern werden. Es kann
nicht sein, dass schon jetzt einzelne Länder das Geld lieber für die Sanierung des Landeshaushalts nutzen möchten, anstatt es an die Kommunen weiterzugeben.
({6})
Ziel dieses Gesetzes ist ganz klar, die Handlungsfähigkeit der Kommunen zu verbessern; das haben wir schon
im Koalitionsvertrag versprochen.
Wir sprechen im vorliegenden Gesetzentwurf von den
Faktoren Qualität und Quantität. Zum Thema Quantität
habe ich schon einiges gesagt: Hier müssen Länder und
Kommunen die finanzielle Mehrausstattung bedarfsgerecht einsetzen. Das Geld des Bundes sollte genau
dort für den Ausbau von Kitaplätzen eingesetzt werden,
wo der Bedarf ist. Wir wollen, dass dort neue Kitaplätze
entstehen, wo sie von den Familien gebraucht werden.
Ich kann Ihnen von Erfahrungen aus Berlin berichten,
wo man sich um einen Kitaplatz bewirbt, wenn man im
vierten Monat schwanger ist.
({7})
- Das ist erschreckend. - Deswegen freue ich mich, dass
wir heute dieses Gesetz auf den Weg bringen.
Aber auch bei der Qualität schaffen wir ein Novum:
Erstmals legt ein Bundesgesetz hier Anforderungen fest.
Wir wollen beispielsweise, dass es in der Kita ein gesundes Mittagessen gibt. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht;
aber für mich hat auch das etwas mit Qualität zu tun.
({8})
Auch das Thema Sprachförderung hat für mich mit
Qualität zu tun. Als Abgeordnete einer Kommune, die
Einwohner aus über 160 Nationen beheimatet, kann ich
sagen, dass Sprachförderung mancherorts sogar das
wichtigste Qualitätskriterium ist. Eine halbe Milliarde
Euro stellen wir in dieser Legislatur dafür zur Verfügung.
({9})
Wenn es um die Qualität geht, muss auch bedacht
werden, dass einzelne Länder, sogar einzelne Kommunen innerhalb eines Landes völlig unterschiedlichen Herausforderungen gegenüberstehen.
Das fängt zum Beispiel beim Personalschlüssel an.
Um den gleichen Qualitätsstandard sicherzustellen, kann
eine Kita in meinem Bezirk in Berlin-Neukölln, möglicherweise einen völlig anderen Erzieher-Kind-Schlüssel
benötigen als eine Kita im Taunus oder in der Uckermark. Womöglich gibt es auch völlig unterschiedliche
Anforderungen an die Sprachförderung oder andere individuelle Förderbedarfe, die ausschlaggebend für die
Qualität der Betreuung sind.
Unser föderales System hat das gut geregelt. Die
gemeinsam von Bund und Ländern entwickelten Qualitätsstandards sind sinnvoll. Die Ausgestaltung und
Anpassung müssen aber im Verantwortungsbereich der
Länder und der Kommunen bleiben und damit auch die
finanzielle Verantwortung.
({10})
Wir haben die Länder und Kommunen in den vergangenen Jahren an vielen Stellen entlastet, und wir entlasten sie weiter. Dazu haben wir uns entschieden, weil wir
dies für den richtigen Weg gehalten haben. Dann darf
man aber auch einmal einen Blick darauf werfen, wie die
Länder diese Entlastungen nutzen.
Der Kollege Marcus Weinberg bringt in diesem
Zusammenhang gern ein Beispiel aus seiner Heimatstadt
Hamburg vor. In der Hansestadt ist seit dem 1. August
2014 die fünfstündige Grundbetreuung in Kita und
Kindertagespflege von der Geburt bis zur Einschulung
beitragsfrei, und zwar für alle, für die alleinerziehende
Mutter aus Hamburg, aber auch für den Bundestagsabgeordneten Marcus Weinberg.
({11})
Nun ist es nicht so, dass ich dem Kollegen diese Entlastung nicht gönne. Aber man kann sich schon einmal
fragen, ob es nicht ein besserer Weg gewesen wäre, die
finanziellen Mittel in den Ausbau der Betreuungsplätze
oder gar in die Qualität der Betreuung zu stecken.
Qualität ist in diesem Zusammenhang übrigens ein
gutes Stichwort. Hamburg ist eines der Länder mit dem
schlechtesten Betreuungsschlüssel. Der Betreuungsschlüssel ist zwar nicht das einzige Kriterium für Qualität in der Betreuung, aber ein wichtiges Kriterium.
Gerade vor diesem Hintergrund sehe ich die Nutzung der
entlastenden Mittel des Bundes in Hamburg sehr kritisch.
Als letzte Rednerin kann ich mich darauf freuen, dass
wir jetzt - hoffentlich mit großer Mehrheit - diesem Gesetzentwurf zustimmen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur weiteren
Entlastung von Ländern und Kommunen ab 2015 und
zum quantitativen und qualitativen Ausbau der Kindertagesbetreuung. Der Haushaltsausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3443,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 18/2586 und 18/3008 in der Ausschussfassung
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPDFraktion bei Stimmenthaltung der Fraktion Die Linke
und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich von ihrem Platz
zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich
der Stimme? - Der Gesetzentwurf ist damit mit den
Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion
bei Stimmenthaltung der Fraktion Die Linke und der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden.
({0})
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 32 a und 32 b auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundesbeamtengesetzes und weiterer dienstrechtlicher Vorschriften
Drucksache 18/3248
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Irene
Mihalic, Volker Beck ({2}), Monika Lazar,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Entwicklung einer zivilgesellschaftlich ausgerichteten Präventions- und Deradikalisierungsstrategie im Bereich des gewaltbereiten
Islamismus
Drucksache 18/3417
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({3})
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
ten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 33 a bis 33 j sowie
die Zusatzpunkte 3 a und 3 b auf. Es handelt sich um die
Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aus-
sprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 33 a:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von Vorschriften zur
Durchführung unionsrechtlicher Vorschriften
zur Durchsetzung des Verbraucherschutzes
Drucksache 18/3253
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz
({4})
Drucksache 18/3448
Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3448, den Gesetzentwurf der Bundesregierung,
Drucksache 18/3253, anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung
mit den Stimmen aller Fraktionen angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich von den Plätzen
zu erheben. - Wer dagegen stimmt, möge jetzt aufstehen. - Wer sich enthält, möge aufstehen. - Niemand.
Dann ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen aller Fraktionen auch in dritter Lesung angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 b:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({5})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Katrin
Werner, Diana Golze, Sabine Zimmermann
({6}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Bundesteilhabegesetz zügig vorlegen Volle Teilhabe ohne Armut garantieren
Vizepräsident Peter Hintze
- zu dem Antrag der Abgeordneten Corinna
Rüffer, Kerstin Andreae, Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Fünf Jahre UN-Behindertenrechtskonvention - Sofortprogramm für Barrierefreiheit und gegen Diskriminierung
- zu dem Antrag der Abgeordneten Corinna
Rüffer, Beate Müller-Gemmeke, Doris
Wagner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Schluss mit Sonderwelten - Die inklusive
Gesellschaft gemeinsam gestalten
Drucksachen 18/1949, 18/977, 18/2878, 18/3208
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/1949 mit dem Titel „Bundesteilhabegesetz zügig vorlegen - Volle Teilhabe ohne Armut garantieren“. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Ausschusses? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und
der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/977 mit dem Titel „Fünf Jahre
UN-Behindertenrechtskonvention - Sofortprogramm für
Barrierefreiheit und gegen Diskriminierung“. Wer
stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der
SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/2878 mit dem Titel „Schluss mit
Sonderwelten - Die inklusive Gesellschaft gemeinsam
gestalten“. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSUFraktion und SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
angenommen worden.
Tagesordnungspunkte 33 c bis 33 j. Wir kommen jetzt
zu den Beschlussempfehlungen unseres Petitionsausschusses.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 33 c auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({7})
Sammelübersicht 120 zu Petitionen
Drucksache 18/3338
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 120 ist mit den Stimmen aller Fraktionen angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 33 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({8})
Sammelübersicht 121 zu Petitionen
Drucksache 18/3339
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 121 auf Drucksache
18/3339 ist mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion
und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion
Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen angenommen worden.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 33 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({9})
Sammelübersicht 122 zu Petitionen
Drucksache 18/3340
Wer stimmt für diese Sammelübersicht? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht
122 ist mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion, der
SPD-Fraktion, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei
Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 33 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({10})
Sammelübersicht 123 zu Petitionen
Drucksache 18/3341
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist die Sammelübersicht 123 mit den
Stimmen aller Fraktionen angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 33 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({11})
Sammelübersicht 124 zu Petitionen
Drucksache 18/3342
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 124 auf Drucksache 18/3342 ist angenommen mit den Stimmen der
CDU/CSU-Fraktion, der SPD-Fraktion und der Fraktion
Die Linke gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen.
Tagesordnungspunkt 33 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({12})
Sammelübersicht 125 zu Petitionen
Drucksache 18/3343
Vizepräsident Peter Hintze
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist die Sammelübersicht 125 angenommen mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion, der
SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke; keine Enthaltungen.
Tagesordnungspunkt 33 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({13})
Sammelübersicht 126 zu Petitionen
Drucksache 18/3344
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist die Sammelübersicht 126 angenommen mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der
SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke.
Tagesordnungspunkt 33 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14})
Sammelübersicht 127 zu Petitionen
Drucksache 18/3345
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist die Sammelübersicht 127 angenommen worden mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der
Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
Zusatzpunkt 3 a:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Energie ({15}) zu dem Antrag der Abgeordneten Eva Bulling-Schröter, Caren Lay,
Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE
Energiewende durch Kohleausstiegsgesetz absichern
Drucksachen 18/1673, 18/2904
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/2904, den Antrag der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 18/1673 abzulehnen. Wer
stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung
ist angenommen mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Zusatzpunkt 3 b:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Energie ({16}) zu dem Antrag der Abgeordneten Annalena Baerbock, Oliver Krischer,
Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kohleausstieg einleiten - Überfälligen Strukturwandel im Kraftwerkspark gestalten
Drucksachen 18/1962, 18/2906
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/2906, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/1962 abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion
Die Linke angenommen worden.
Damit sind wir mit diesen Abstimmungen am Ende.
Ich rufe nun den Zusatzpunkt 4 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Haltung der Bundesregierung zum Erreichen
der Klimaschutzziele 2020
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
Abgeordnete Bärbel Höhn, Bündnis 90/Die Grünen, das
Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
UN-Klimakonferenz hat schon begonnen. Nächste Woche wird die Bundesumweltministerin daran teilnehmen,
aber auch wir als für die Klimapolitik zuständige Mitglieder des Umweltausschusses.
Das Ziel der Konferenz ist, dass die Erderwärmung
um nicht mehr als 2 Grad ansteigt. Was die einzelnen
Länder, zum Beispiel Deutschland, dafür tun, um dieses
Ziel zu erreichen, ist von entscheidender Bedeutung.
Deutschland war lange Zeit Vorreiter, und alle blicken
auch weiterhin auf Deutschland. Deshalb ist es absolut
notwendig, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass das
Ziel der CO2-Reduktion um 40 Prozent bis 2020 erreicht
wird.
({0})
Wenn es scheitert, hätte das verheerende Folgen, weil
die anderen Länder dann natürlich fragen würden: Wenn
nicht einmal Deutschland es schafft, seine Klimaziele zu
erreichen, warum sollten wir das dann tun?
Auch die Bundesregierung hat erkannt, dass bisher zu
wenig gemacht worden ist und dieses Ziel mit den bisherigen Maßnahmen nicht erreichbar ist. Sie hat deshalb
nachgesteuert und gestern im Kabinett einen Klimaschutzaktionsplan vorgelegt. Das Ergebnis ist allerdings
enttäuschend. Denn dieser Aktionsplan enthält viele
Prüfaufträge, vage Ankündigungen und Doppelbuchungen, kurzum: Versprechungen, die auf dem Prinzip Hoffnung beruhen, und viel heiße Luft. So geht es nicht,
meine Damen und Herren.
({1})
Mit diesem Plan werden wir das Ziel, bis 2020 die
CO2-Emissionen um 40 Prozent zu reduzieren, nicht erreichen. So wird es nicht machbar sein. Warum? Eine
Reduzierung um 40 Prozent ist sehr ambitioniert. Wir
müssen in den nächsten Jahren dreimal so ambitioniert
sein wie in den Jahren zuvor. Das heißt, jeder Bereich
muss einen Beitrag leisten. Wir müssen von heute bis
2020 den CO2-Ausstoß noch um insgesamt 200 Millionen Tonnen reduzieren. Der Energiebereich stellt davon
einen Block von 40 Prozent. Wer wie die Bundesregierung und insbesondere der Wirtschaftsminister behauptet, der Energiebereich erbringe nur einen minimalen
Anteil von 22 Millionen Tonnen bzw. 10 Prozent, wird
dieses Ziel nicht erreichen können. Wir müssen auch den
Kohlebereich einbeziehen. Sonst wird es nicht gelingen.
({2})
Viele sagen, 40 Prozent seien total viel; das sei doch
viel mehr, als die anderen erbringen. Wir sollten uns vergegenwärtigen, dass momentan in Deutschland mit
9,4 Tonnen pro Kopf mehr CO2 ausgestoßen wird als
durchschnittlich in der EU mit 8,6 Tonnen pro Kopf. Wo
entstehen die meisten Emissionen? Dort, wo Kohle verbrannt wird. Nordrhein-Westfalen zum Beispiel hat
einen Pro-Kopf-Ausstoß von 16 Tonnen CO2. Es ist entscheidend, dass wir auch die Kohle einbeziehen. Das
macht auch die Bundesregierung. In ihrem Projektionsbericht, den der Wirtschaftsminister gestern erwähnt hat,
sagt die Bundesregierung - das, was 2013 gesagt wurde,
wurde dieses Jahr bestätigt -, dass der Energiebereich allein mithilfe der alten Maßnahmen eine Reduzierung
von 71 Millionen Tonnen bis 2020 erbringen muss.
71 Millionen Tonnen! Zusätzlich fordert der Wirtschaftsminister 22 Millionen Tonnen. Aber gestern war
er nicht in der Lage, zu beschreiben, wie die fehlenden
70 Millionen Tonnen erbracht werden sollen. Null Maßnahmen, null Ideen!
({3})
Professor Schellnhuber hat gestern im Umweltausschuss noch einmal deutlich gemacht: Zwei Drittel der
fossilen Energien müssen in der Erde bleiben, wenn wir
das 2-Grad-Ziel noch erreichen wollen. Das bedeutet,
dass die Kohle langfristig keine Zukunft hat. Wir müssen
den Betroffenen die Wahrheit sagen. Die Wahrheit ist,
dass wir nicht abrupt, wohl aber peu à peu aus der Kohle
aussteigen müssen. Die Betroffenen wollen Planungssicherheit. Diese sollten die Politik und insbesondere der
Bundestag ihnen geben.
({4})
Wir brauchen also die politische Kraft, hier etwas zu
tun. Sogar Eon hat bemerkt, dass die erneuerbaren Energien die Zukunftsenergien sind und Arbeitsplätze schaffen. Eon sollte nicht schneller als der Wirtschaftsminister sein. Dieser hat gestern auf einer Pressekonferenz
gesagt, er investiere 1 Milliarde Euro in den Gebäudebereich, was erhebliches privates Kapital akquirieren und
schließlich zu neuen Arbeitsplätzen führen werde. Dazu
kann ich nur sagen: Richtig, das führt zu neuen Arbeitsplätzen. Klimaschutz führt zu Arbeitsplätzen. Sonst ist
immer die Rede davon, der Ausbau der erneuerbaren
Energien sei zu teuer; er wird mit hohen Preisen gelabelt. Dabei wird vergessen, dass Kohle mit Arbeitsplätzen gelabelt wird. Oft wird Klimaschutz als teuer und arbeitsplatzvernichtend gelabelt. Das ist unverantwortlich.
Klimaschutz schafft Arbeitsplätze und vernichtet nicht
Arbeitsplätze.
({5})
Mit dem beschlossenen Programm lässt sich das Ziel
einer Reduzierung des CO2-Ausstoßes um 40 Prozent
nicht erreichen, weil die Kohlekraftwerke keinen Beitrag
erbringen müssen. So sollen die Energieeffizienz und die
Elektroautos den notwendigen Beitrag erbringen. Das ist
ein Sammelsurium. Wir müssen mehr Geld in die Hand
nehmen. Aber Herr Schäuble will die schwarze Null und
will kein Geld für ein Investitionsprogramm für die Zukunft bereitstellen. Dann wird es nicht funktionieren.
Was wir jetzt nicht erreichen, müssen wir den Menschen
später viel stärker und schlimmer zumuten. Das heißt,
wir verlieren nur Zeit, wenn wir uns nicht rechtzeitig um
den Klimaschutz kümmern.
Ich sage daher ganz deutlich: Wir alle, der Bundestag
und der damalige Umweltminister Gabriel, haben gemeinsam die Zielvorgabe einer CO2-Reduktion von
40 Prozent beschlossen. Diese Bundesregierung muss
endlich Verantwortung übernehmen und entsprechend
wirksame Maßnahmen umsetzen. Das bedeutet, dass die
Kohle einbezogen werden muss. Sonst wird es nicht gelingen.
Danke schön.
({6})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort Dr. Anja
Weisgerber, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben in diesem Haus schon einige Male darüber
diskutiert, wie Deutschland seine Klimaziele erreichen
wird. Heute kann ich sagen: Wir übernehmen diese Verantwortung. Wir haben geliefert. - Allen Unkenrufen
zum Trotz hat das Bundeskabinett gestern die Aktionsprogramme zum Klimaschutz und zur Energieeffizienz
beschlossen. Damit zeigen wir, dass wir klar hinter unserem nationalen Klimaziel stehen, und das ist auch gut so.
({0})
Sehr geehrte Frau Höhn, Klimaschutz und Wirtschaftswachstum, ja, das sind keine Widersprüche, sondern sie können und müssen Hand in Hand gehen. Man
kann mit Klimaschutz auch Arbeitsplätze schaffen und
keine vernichten; aber dafür muss man es richtig machen. Mit dem neuen Aktionsprogramm setzen wir deshalb auf Anreize, auf Information, auf Beratung, auf
Technologieoffenheit und nicht auf Zwang, und das ist
der richtige Weg.
({1})
Denn ordnungsrechtliche Maßnahmen auf nationaler
Ebene wirken nicht nur wettbewerbsverzerrend für unsere Unternehmen, sondern sie helfen dem Klima unter
dem Strich auch nicht. Es ist nämlich so: Wenn wir in
Deutschland durch nationale Gesetzgebung in den Bereichen CO2 reduzieren, die dem Emissionshandel ohnehin
unterliegen, dann werden Emissionszertifikate frei, und
der Preis sinkt noch weiter. Diese dann noch billigeren
Emissionszertifikate werden dann von anderen europäischen Staaten billig gekauft, und CO2 wird dort in die
Luft geblasen.
({2})
Deshalb müssen wir auf nationaler Ebene konsequent
auf den Bereich setzen, der nicht vom Emissionshandel
erfasst ist, und das ist vor allem der Gebäudebereich, der
Bereich der Gebäudesanierung.
({3})
Hierzu enthalten die Aktionsprogramme konkrete Maßnahmen, wie die steuerliche Förderung der energetischen
Sanierung, die Aufstockung und Verstetigung des CO2Gebäudesanierungsprogramms und die Weiterentwicklung der bestehenden Energieberatung sowie viele weitere konkrete Maßnahmen.
Den größten Anreiz schaffen wir mit der steuerlichen
Förderung von energieeffizienten Gebäudesanierungsmaßnahmen; denn in diesem Bereich liegt ein erhebliches Einsparpotenzial.
({4})
Es gibt Berechnungen, die besagen, dass eine Erhöhung der Gebäudesanierungsquote von derzeit 0,8 Prozent auf 3 Prozent pro Jahr bis 2020 ein Einsparpotenzial
von sage und schreibe 46 Millionen Tonnen CO2 bringen
würde. Diesen Hebel müssen wir so weit wie möglich
nutzen. Ich bin daher sehr froh, dass unser Herzensanliegen, die steuerliche Förderung der energetischen Gebäudesanierung, in beide Programme aufgenommen wurde.
Der Bund hat sich damit klar zur steuerlichen Förderung
bekannt und hat sich für eine Förderung nicht nur der
Komplettsanierung, sondern auch einzelner Maßnahmen
ausgesprochen.
Meine Damen und Herren, in sämtlichen letzten Debatten zu diesem Thema hat es von Ihrer Seite immer
wieder Zwischenrufe gegeben, dass Finanzminister
Schäuble sich bewegen und sich klar zur steuerlichen
Förderung bekennen soll. Mit den Aktionsprogrammen
hat er, hat der Bund das jetzt gemacht. Nun sind die Länder am Zug.
({5})
Ich kann nur ganz klar an die Länder appellieren: Bewegt euch! Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg
und Rheinland-Pfalz, alle haben landeseigene Klimaschutzgesetze oder -programme verabschiedet. Liebe
Landesfürsten dieser Bundesländer, lassen Sie sich eines
sagen: Sie werden Ihre Ziele nicht erreichen, wenn Sie
bei der steuerlichen Förderung nicht mitziehen und weiterhin kneifen.
({6})
Bayern hat am Dienstag im Ministerrat beschlossen,
eine entsprechende Bundesratsinitiative auf den Weg zu
bringen. Wir brauchen jetzt ein positives Signal aus den
Bundesländern. Also lassen Sie uns keine Zeit verlieren
und das endlich machen. Dies bringt nicht nur den Klimaschutz ein gewaltiges Stück voran, sondern es wäre
auch ein effizientes Investitionsprogramm für unser heimisches Handwerk und den Mittelstand.
({7})
Jeder Euro, der in Sanierungsmaßnahmen investiert
wird, löst mindestens 8 Euro an Folgeinvestitionen aus,
wenn nicht sogar noch mehr.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit diesem Aktionsprogramm müssen alle Sektoren einen angemessenen Beitrag leisten, nicht nur der Gebäudebereich, sondern auch
die Energiewirtschaft, die Industrie, die Kreislaufwirtschaft, der Verkehr und die Landwirtschaft. Dieses Paket
ist eine gute Grundlage, auf der wir aufbauen können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, natürlich ist klar, dass Sie „immer höher, weiter, besser“
sein wollen. Aber ich hätte mir schon gewünscht, dass
Sie einmal mit einem Satz anerkannt hätten, dass es gelungen ist, genau zum richtigen Zeitpunkt - vor dem Klimagipfel in Lima - diese Aktionsprogramme zu verabschieden.
Ich möchte an dieser Stelle nur noch eines sagen:
Jürgen Trittin und die damalige Bundesregierung haben
sich im Herbst 2000 ein nationales Klimaschutzziel
- 25 Prozent Treibhausgasreduktion bis 2005 - gesetzt.
Dieses Ziel wurde 2005 verfehlt. Wir setzen nun alles
daran, dass uns das nicht passiert.
Vielen Dank.
({9})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Eva Bulling-Schröter, Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
Aktionsprogramm Klimaschutz 2020 ist schon ein starkes Stück,
({0})
nicht nur was die Dramatik der letzten Wochen, sondern
auch die Vorstellung des Regierungsprogramms gestern
betrifft. Wir haben lange hin und her überlegt, gerechnet
und abgewogen. Ob Sie es nun glauben oder nicht:
({1})
Wir finden, dass der heimliche Coup dieses Maßnahmenpakets - es geht darum, die Lücke bei den deutschen
Klimaschutzzielen bis 2020 zu schließen - die Summe
an Einsparungen im Kraftwerksbereich ist. Wenn es also
wirklich stimmt, was sich rechnerisch aus dem Aktionsprogramm Klimaschutz 2020 ergibt, nämlich die Gesamtemissionen der Energiewirtschaft in den kommenden Jahren bis 2020 auf 284 Millionen Tonnen
herunterzufahren: Hut ab! Dann haben Sie uns entgegen
unseren Bedenken wirklich überrascht; denn das wäre
eine Verdreifachung im Tempo der bisherigen CO2-Einsparung in diesem so schmutzigen Sektor - und das in
nur fünf Jahren.
({2})
Lassen Sie uns für das Protokoll jetzt festhalten: Die
SPD-geführten Ministerien planen, im Energiesektor
93 Millionen Tonnen einzusparen, bezogen auf 2012. Ich finde, dafür kann man ruhig mal applaudieren.
({3})
Jetzt an Sie, Frau Hendricks, die Frage: Können Sie
- Sie reden ja gleich - hier noch einmal ausdrücklich bestätigen, dass Sie den Kraftwerkspark auf 93 Millionen
Tonnen Einsparung bis 2020 verpflichten wollen?
({4})
Dann hoffen wir, dass den großen Ansagen auch Taten
folgen.
Gestern hat Herr Gabriel gegenüber der Presse gesagt,
diese Bundesregierung werde im ersten Quartal 2015
eine gesetzliche Grundlage schaffen, nicht nur für die
71 Millionen Tonnen Einsparung, die sowieso vorgesehen sind, sondern auch für die 22 Millionen Tonnen zusätzlich, also für das gesamte Paket von 93 Millionen
Tonnen CO2-Einsparung der Energieindustrie. Dafür hat
die Regierung gestern auch schon ein verhaltenes Lob
von Greenpeace erhalten.
Es wird gemunkelt, dass der nationale Kohleausstieg,
den die Linke seit längerem fordert, wenn auch über andere Mechanismen, etwa über die Reform des Strommarkts, eingeleitet werden soll; Stichwort: Kapazitätsreserve. Schmutzige Kohlekraftwerke gehen vom Netz
und stehen für Zeiten bereit, in denen wir für Netzstabilität und Versorgungssicherheit schnell und zuverlässig
konventionelle Energien benötigen. Dem Klima wäre
damit auf jeden Fall geholfen; denn jeder Tag, an dem
die Kohleschlote nicht qualmen, ist ein gewonnener Tag
fürs Weltklima.
({5})
Ich meine, das ist schon verrückt: Die zwei Kohlekraftwerke Neurath und Niederaußem in NordrheinWestfalen verpesten zusammen mit dem Kraftwerk
Jänschwalde in Brandenburg die Luft so stark wie die
Schweiz und Ecuador zusammen. Hier müssen wir ran;
sonst nimmt uns in Lima und Paris wirklich niemand
ernst!
({6})
Auf keinen Fall darf das Klimaschutzprogramm ein
reines Propagandainstrument im Vorfeld der UN-Klimakonferenz sein. Frau Ministerin, so geht das natürlich
nicht: sich international abfeiern lassen und die angekündigten Errungenschaften dann zu Hause nicht umsetzen.
Wir wollen, dass Sie Wort halten.
Noch ein Wort zu den übrigen Maßnahmen bei der
Effizienz und im Verkehr. Da müssen die meisten Ressorts ihren Beitrag noch leisten. Die Frage ist nun, was
am Ende hinten rauskommt; das ist klar. Im konkreten
Fall heißt das: Lässt sich mit dem Aktionsprogramm tatsächlich das 40-Prozent-Minderungsziel erreichen,
({7})
und zwar volkswirtschaftlich sinnvoll und sozial gerecht?
({8})
Da schaut es weniger toll aus. Denn es handelt sich bei
den meisten übrigen Maßnahmen um solche, die die
Bundesregierung nicht wirklich in der Hand hat. Sie setzen auf Freiwilligkeit, und zwar ganz.
Zum Schluss noch zur sozialen Komponente des Aktionsprogramms. Es wird von uns Linken ja erwartet,
dass wir auch dazu etwas sagen. Da findet man etwas im
Bereich Gebäudesanierung, beim Stromspar-Check und
bei der Stromsparinitiative. Allerdings wird hier überall
nur geprüft, unter anderem, ob Zuschüsse für Energiespargeräte bei einkommensschwachen Haushalten mit
Hartz IV verrechnet werden müssen. Das ist für mich ein
Skandal. Wenn so die soziale Absicherung der Energiewende ausschauen soll, dann gute Nacht!
({9})
Für die Bundesregierung erteile ich das Wort Frau
Bundesministerin Dr. Barbara Hendricks. - Bitte schön.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
habe mich gefragt, ob die Grünen wohl heute noch
glücklich sind, dass sie diese Aktuelle Stunde beantragt
haben.
({0})
Ich habe dann gedacht: Möglicherweise nutzen sie sie
als Chance, um aus dem nörgelnden Abseits herauszukommen, in das sie sich seit gestern begeben haben.
({1})
Bedauerlicherweise haben Sie das nicht vor.
({2})
Ihre Rede hat mich wirklich enttäuscht, Frau Höhn,
({3})
zumal ich Sie fachlich und als Mensch durchaus schätze.
Umso mehr erstaunt es mich, dass Sie wider besseres
Wissen erneut das vortragen, was Sie schon gestern vorgetragen haben. Offenbar haben Sie in den vergangenen
24 Stunden nicht die Chance genutzt, sich unser Klimaaktionsprogramm einmal gründlich anzusehen.
({4})
Offenbar sind Sie auch nicht bereit, das zu akzeptieren, was der Bundeswirtschaftsminister gestern hier in
der Befragung der Bundesregierung dem deutschen Parlament gesagt hat,
({5})
mit der Verbindlichkeit, die die Aussage eines Mitglieds
der Bundesregierung vor dem deutschen Parlament hat.
({6})
Seine Aussage war, dass er die Umsetzung bei der
Stromerzeugung noch im ersten Halbjahr des nächsten
Jahres gesetzlich regeln wird. Das ist auch die Antwort
für Sie, Frau Kollegin Bulling-Schröter: Das ist diesem
Parlament gestern vom zuständigen Wirtschafts- und
Energieminister mitgeteilt worden.
({7})
Die International New York Times hat heute auf der
ersten Seite eine Überschrift, die sinngemäß lautet:
Deutschland verdoppelt seine Anstrengungen bei der
Bekämpfung des Klimawandels. - Das wird sogar in
New York wahrgenommen. Aber Ihnen ist das nicht gelungen; Sie sind vielleicht ein bisschen zu nah dran.
({8})
die tageszeitung, die normalerweise nicht im Verdacht
steht, den Grünen sehr fern zu stehen,
({9})
schreibt heute:
Denn bei aller Kritik im Detail hat die Große Koalition wesentlich mehr zustande gebracht, als viele
Klimaschützer ihr zugetraut hätten.
Und:
Dennoch ist die Art und Weise, in der die Opposition die Pläne verteufelt, nicht gerechtfertigt.
({10})
Die Süddeutsche Zeitung schreibt heute:
Insofern ist das Klimapaket dieser Bundesregierung
kein schlechter Anfang. Es enthält viele kleine
Ideen,
({11})
von der Überprüfung alter Heizungen bis zur Energie-Selbsthilfegruppe in der Industrie. Es sind Kleckerles-Ideen nur, aber sie summieren sich - in Bereichen, in denen sich die Dinge nur zäh verändern
lassen.
„Sie summieren sich“; viele kleine Dinge summieren
sich: Das dürfte auch Ihnen aus der Mathematik bekannt
sein.
({12})
Und es klotzt dort, wo ein schnellerer Umbau nötig
und möglich ist: bei der Stromerzeugung.
Bei der Stromerzeugung!
({13})
- Ich werde das jetzt nicht noch einmal sagen.
({14})
Die zusätzlichen 22 Millionen stehen in diesem Programm. Dabei geht man von der Projektion der alten
Bundesregierung aus. Der Wirtschaftsminister hat es
hier gestern ausdrücklich und mehrfach erläutert; genau
so ist es.
({15})
- Tja, es ist in der Tat nicht so einfach. Wir müssen unsere Anstrengungen mehr als verdoppeln. Denn in der
Vergangenheit haben wir für den Klimaschutz bzw. zur
Erreichung des CO2-Minderungsziels von 40 Prozent
tatsächlich nicht genug getan.
({16})
In den 90er-Jahren hatten wir etwa 14 Prozent Minderung. Das ist im Wesentlichen durch den industriellen
Abbau in der ehemaligen DDR entstanden. Das war
nicht im eigentlichen Sinne Klimaschutzpolitik, sondern
das ist so geschehen - im Wesentlichen.
({17})
In den Jahren von 2000 bis heute haben wir etwa 11 Prozentpunkte Minderung hinbekommen. Wir sind jetzt bei
25 Prozent - das haben Sie in der vorigen Woche richtig
erkannt, Frau Kollegin Höhn -, und wir würden ohnehin,
wenn wir nichts weiter tun würden, im Jahr 2020 zwischen 32 und 35 Prozent erreichen. Diese Lücke von
5 bis 8 Prozent schließen wir jetzt. Diese „Sowieso-Erreichung“ umfasst unter anderem natürlich auch die Projektion der alten Bundesregierung. Es dürfte Ihnen bekannt sein, dass die EVU ungefähr 50 Kraftwerksblöcke
zur Stilllegung angemeldet haben - eben weil sich der
Energiemarkt so entwickelt, wie er sich entwickelt.
({18})
Wenn 50 Kraftwerksblöcke zur Stilllegung angemeldet
werden, wird das doch irgendeine Art von Auswirkung
auf den CO2-Ausstoß haben; das können doch selbst Sie,
Herr Krischer, nicht leugnen. Das wird doch wohl so
sein.
({19})
Natürlich kommt es darauf an, die Energiewende zum
Erfolg zu bringen. Die Energiewende ist ja dazu da, das
Klima zu schützen. Wir wollten natürlich alle gemeinsam aus der Atomenergie aussteigen - aus vielen guten
Gründen, aber gerade nicht wegen des Klimas; deswegen hätten wir es nicht tun müssen.
({20})
Deswegen ist es doch völlig klar, dass die erneuerbaren Energien an erster Stelle den nicht mehr produzierten
Atomstrom klimafreundlich ersetzen. Wir sind im Moment bei 28,5 Prozent Stromproduktion aus erneuerbaren Energien, und es wird, wie wir alle wissen, nach
2022 keine Atomstromproduktion in Deutschland mehr
geben. Wir haben uns aber alle vorgenommen, im Jahr
2050 80 Prozent Strom aus erneuerbaren Energien zu
produzieren. Mit anderen Worten: Den Atomstrom denken wir uns dann mal weg; denn er hört ja 2022 auf, also
müssen wir ihn im Jahr 2050 nicht mehr in Rechnung
stellen.
Wenn wir also von einem Anteil von 80 Prozent erneuerbarer Energien im Jahr 2050 ausgehen, sieht diese
unsere Zielprojektion einen Anteil von 20 Prozent aus
fossiler Energie vor; ich weiß jetzt nicht, ob aus Kohle
oder Gas; das kann man mit den heutigen Methoden
nicht vorhersagen. Das hängt auch davon ab, wie sich
der Markt entwickelt. Aber das bedeutet doch, dass es
völlig selbstverständlich ist - es ist ein System kommunizierender Röhren -: In dem Maße, wie die Stromproduktion aus erneuerbaren Energien zunimmt, nimmt die
Stromproduktion aus fossiler Energie ab; denn wir haben
uns in unserem Wirtschaften - trotz Wirtschaftswachstum - von der Stromproduktion abgekoppelt: Wir verbrauchen weniger Energie, obwohl wir Wirtschaftswachstum haben. Also gehen wir davon aus, dass wir
nicht sehr viel mehr Strom brauchen werden als heute.
Das wird man annehmen können; denn bisher ist es uns
ja gelungen, das voneinander abzukoppeln. Das wird
auch unsere Zielrichtung bleiben, dem dienen auch alle
Effizienzstrategien. Das liegt auf der Hand und ist auch
im Interesse der deutschen Wirtschaft - aus Kostengründen und um bei der Technologie weiter voranzukommen.
Wenn dies also so ist, dann haben wir doch ein gemeinsames Interesse daran, im Sinne der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und der Unternehmen, die
in der Energieversorgung tätig sind, diesen Pfad so zu
beschreiben, dass es nicht zu Brüchen kommt - weder
aus der Sicht der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
oder deren Unternehmen noch bei der Versorgungssicherheit.
({21})
Darum geht es doch: diese nächsten 35 Jahre gemeinsam
ins Blickfeld zu nehmen.
({22})
Es geht nicht darum, heute aus der Stromproduktion
mithilfe fossiler Energien auszusteigen; denn auch 2050
gehen wir immer noch von mindestens 20 Prozent fossiler Energie in der Stromproduktion aus. Vielmehr geht es
darum, gemeinsam einen vernünftigen Pfad zu beschreiben und ihn auch gesetzgeberisch auf den Weg zu bringen, und dies hat der Bundesminister für Wirtschaft und
Energie gestern in diesem Parlament angekündigt.
({23})
Nehmen Sie doch einfach zur Kenntnis: Es hat in den
vergangenen Jahren hier in Deutschland Versäumnisse
gegeben, was den Klimaschutz anbelangt.
({24})
Auch heute noch haben wir in Deutschland einen höheren Pro-Kopf-Ausstoß an CO2 als China. Es ist klar: Das
wird bei denen mehr, weil die Chinesen ein höheres
Wirtschaftswachstum haben als wir. Deswegen müssen
sie natürlich besonders viel tun, weil sie ja zusammen
mit den Vereinigten Staaten für fast 50 Prozent der weltBundesministerin Dr. Barbara Hendricks
weiten Emissionen verantwortlich sind. Aber wir sind,
was den Pro-Kopf-Ausstoß angeht, noch keine Musterschüler, sondern, wie gesagt, noch etwas schlechter als
die Chinesen. Das müssen wir also auch international ins
Blickfeld nehmen. Es ist unsere Aufgabe, darauf zu achten, dass wir das hier ohne Brüche sozialverträglich hinbekommen. Sie sollten bereit sein, zu akzeptieren, dass
man für den Klimaschutz in der Bundesrepublik
Deutschland die Zustimmung der Menschen auch auf
Dauer braucht, und nicht nörgelnd im Abseits verharren.
({25})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Andreas Jung, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit
dem gestrigen Beschluss zum Aktionsprogramm Klimaschutz 2020 und zum Nationalen Aktionsplan Energieeffizienz macht die Bundesregierung eines sehr deutlich:
Wir stehen zu der deutschen Verantwortung im Klimaschutz. Wir halten an dem Ziel einer Reduktion der CO2Emissionen bis 2020 um 40 Prozent, das Bärbel Höhn zu
Recht als ein ambitioniertes Ziel bezeichnet hat, fest.
Dieses Ziel gilt, und daran wird nicht gerüttelt. Es werden Maßnahmen umgesetzt, um die Lücke, die es noch
gibt, zu schließen, um das Ziel zu erreichen, um die Stellung Deutschlands im Klimaschutz zu verfestigen. Das
wird gemacht. Darauf zählen wir. Als Beauftragter der
Union für Klimaschutz sage ich: Für all das hat die Bundesregierung unsere Unterstützung und darüber hinaus
- dessen bin ich sicher - auch eine breite Unterstützung
im Deutschen Bundestag.
({0})
Es sind in dieser Debatte schon einige Fragen zu diesem Aktionsprogramm aufgeworfen worden. Ich will
darauf eingehen. Eine Frage war: Welches ist der Beitrag
im Bereich Strom, im Bereich der Energiewirtschaft?
Dazu macht dieses Programm eine ganz klare Ansage.
Diese Ansage lautet: Es muss bis zum Jahr 2020 ein zusätzlicher Reduktionsbeitrag von 22 Millionen Tonnen
CO2 erbracht werden. Es wird genauso deutlich, schwarz
auf weiß, dargelegt, was „zusätzlich“ heißt. Zusätzlich
heißt: Es wird Bezug genommen auf den Projektionsbericht der Bundesregierung, der besagt: Bis zum Jahr
2020 ist ohnehin, auch ohne dieses Programm, mit einem Rückgang der durch die Energiewirtschaft verursachten CO2-Emissionen um 71 Millionen Tonnen zu
rechnen. Das steht auf Seite 14 im Aktionsplan.
({1})
Wenn Sie beides zusammenrechnen, dann kommen Sie
auf eine CO2-Einsparung in Höhe von 93 Millionen Tonnen bis 2020. Es geht jetzt darum, dass, wie es angekündigt wurde, im nächsten Halbjahr ein Gesetz umgesetzt
wird, das sicherstellt, dass das kommt, was erwartet
wird, und dass das obendrauf kommt, was jetzt vereinbart wurde. Dann werden wir diesen Reduktionsbeitrag
der Energiewirtschaft erreichen. Und so muss es kommen.
({2})
Natürlich wissen wir, dass es nicht nur, aber auch um
die Kohle geht und dass das Ganze nicht funktionieren
wird, ohne dass der Anteil der Kohle ganz erheblich zurückgeführt wird. Es wird deshalb jetzt die Frage gestellt: Ist das der Einstieg in den Ausstieg aus der Kohle?
Ich weise dazu auf zwei Beschlüsse hin, die wir hier mit
einer ganz großen Mehrheit getroffen haben.
Das eine ist der Beschluss, dass erneuerbare Energien
die tragende Säule der Energieversorgung werden nicht mehr Kernenergie, nicht Kohle, auch nicht Fracking, nein, erneuerbare Energien.
({3})
Das Zweite ist der Beschluss, den wir heute Abend
mit der Abstimmung über den gemeinsamen Antrag der
Koalitionsfraktionen zur Konferenz in Lima wiederholen werden, dass wir die CO2-Emissionen in Deutschland bis zum Jahr 2050 gegenüber 1990 um 80 bis
95 Prozent zurückführen. Beides zusammen beschreibt,
dass wir nicht von heute auf morgen und über Nacht aus
der Kohle aussteigen können. Aber es geht jetzt darum,
Schritt für Schritt einen immer geringeren Anteil der
Kohle an unserem Energiemix zu erreichen. Das müssen
wir angehen: sozial verträglich, wirtschaftlich vernünftig, aber vor allem auch mit Nachdruck und Verlässlichkeit.
({4})
Es ist Energieeffizienz angesprochen worden. Ich bin
froh, dass wir mit dem Aktionsplan endlich ein Programm haben, das beschreibt, wie wir es schaffen, den
schlafenden Riesen Energieeffizienz - so bezeichnen wir
das seit vielen Jahren - aufzuwecken und mit diesen
Maßnahmen so viel Emissionen einzusparen, wie Bremen und Thüringen zusammen ausstoßen. Das ist ein
großer Wurf, den es umzusetzen gilt. Im Aktionsplan
sind die Ausschreibung im Bereich der Energieeffizienz
sowie die Aufstockung des Gebäudesanierungsprogramms vorgesehen.
({5})
Sie weisen zu Recht darauf hin: Nicht alles kann die
Bundesregierung allein machen. - Für manches brauchen wir die Länder. Sie von der Grünenfraktion haben
im Bundestag gesagt: Steuerliche Förderung und Gebäudesanierung werden am Bundesfinanzminister scheitern. - Es ist nicht an ihm gescheitert. Der Vorschlag der
Bundesregierung liegt jetzt auf dem Tisch, und damit
liegt der Ball bei Ihnen, bei den Länderregierungen, auch
und gerade bei denen, die grün und rot geführt sind. Ich
habe noch nichts von Herrn Kretschmann gehört; ich
habe noch nichts von Frau Kraft gehört. Wir warten auf
das Signal der Länder, dass sie sagen: Ja, das setzen wir
gemeinsam um. - Denn Klimaschutz ist keine Aufgabe
der Bundespolitik, sondern der Bundesrepublik. Wir haben eine gemeinsame Verantwortung. Der müssen wir
gemeinsam gerecht werden.
Vielen Dank.
({6})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Sabine Leidig, Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Die Anerkennung - sozusagen im Großen und Ganzen hat meine Kollegin Eva Bulling-Schröter gerade schon
mit Blick auf den großen Brocken Energiepolitik zum
Ausdruck gebracht. Ich möchte mich mit einem anderen
Brocken beschäftigen, der auch nicht ganz klein ist: Das
ist die Verkehrspolitik. Immerhin machen die CO2-Emissionen aus dem Verkehrssektor 20 Prozent der Gesamtemissionen aus. Das ist die Anerkennung, die ich für diesen Bereich aussprechen wollte - Sie haben sich ja einen
Satz gewünscht -: Sie haben in Ihrem Klimaschutzbericht immerhin festgehalten, dass es ein relevanter Bereich ist und dass er im Unterschied zu den anderen Sektoren eine steigende Tendenz im CO2-Ausstoß aufweist.
Deshalb muss man sich mit dem Verkehrssektor ganz besonders beschäftigen. Das ist das Gute, dass Sie es festgestellt haben.
Schlecht ist aber, dass es offensichtlich überhaupt
kein Konzept dafür gibt, wie man diesen steigenden Tendenzen begegnen kann. Sie stoppeln eine ganze Reihe
von Maßnahmen zusammen, die ohnehin schon laufen,
die halbherzig sind, die nicht mit konkreten Zielen und
schon gar nicht mit konkreten Maßnahmen unterfüttert
sind. Der BUND hat in seiner kurzen Bewertung geschrieben: Mehr Lücken als Lösungen. - Ich finde, das
ist noch ziemlich milde ausgedrückt.
Es geht um sehr grundsätzliche Fragen in diesem Bereich. Die FAZ hat vor ungefähr 14 Tagen einen sehr lesenswerten Artikel veröffentlicht, in dem der Autor beschreibt, dass das Kernproblem ist, dass die Politik
davon ausgeht, dass sich der Verkehrssektor einfach weiterentwickelt. Die herrschenden Verkehrsprognosen gehen davon aus, dass nach wie vor der Personenverkehr
mit 80 Prozent auf der Straße das Entscheidende sein
wird, dass der Güterverkehr bleibt, wie er ist, dass der
Verkehr insgesamt zunehmen wird. Man hat keinerlei
politische Vorstellungen davon, wie man von diesem
Wachstum und dieser Zerstörungskraft, die mit dem Verkehr einhergeht, herunterkommt. Das betrifft nicht nur
das Klima, sondern auch die Lebensqualität der Menschen. Darauf möchte ich jetzt gar nicht eingehen.
Der Autor dieses Artikels hat eine interessante Überlegung angestellt, die ich hier wiedergeben möchte, weil
ich glaube, dass er den Kern gut erfasst hat. Er sagt, dass
die gemeinsame Verkehrspolitik auf EU-Ebene in den
1990er-Jahren begonnen hat und dass es im Kern zunächst darum ging, zu liberalisieren. Er stellt noch einmal dar - das war mir gar nicht so klar -, dass der Verkehrssektor in Westdeutschland von 1957 bis weit in die
1990er-Jahre sehr streng reguliert war. Es gab beispielsweise Kontingente und Wettbewerbsbeschränkungen,
die verhindert haben, dass sich eine unendliche Flut von
Lkw auf die Straßen ergießt, dass es immer mehr Anbieter gab, die miteinander im Wettbewerb hätten stehen
können, und dass der Wettbewerb zur Schiene systematisch organisiert wird.
Er sagt, das alles - auch die Entwicklungen im Flugverkehr, die Billigfluglinien, die aus dem Boden schießen, die ganzen regionalen Flughäfen, die mit enormen
Summen öffentlich bezuschusst werden - sei ein Ergebnis der Liberalisierung. Er sagt, dass es inzwischen Zeit
sei, darüber nachzudenken, ob der Trend nicht umgekehrt werden muss. Genau das ist aus unserer Sicht das
Richtige.
({0})
Wir brauchen eine systematische Politik, die reguliert
und dazu führt, dass die zerstörerischen Verkehre reduziert werden. Es gibt einige Maßnahmen, die da sehr
probat sind. Eine wichtige Maßnahme wäre zum
Beispiel, die Kosten anzulasten. Die Umwelt- und Verkehrsverbände haben vor einigen Monaten eine sehr
schöne Studie vorgelegt: „Klimafreundlicher Verkehr in
Deutschland“. Ich will nur zwei Zahlen herausgreifen:
Wenn man die Dieselsubventionen abschaffen würde,
die den Diesel insbesondere für den Lkw-Verkehr verbilligen, würde man nur in Deutschland 6,6 Milliarden
Euro einsparen, die dann für andere Maßnahmen zur
Verfügung stünden - ganz zu schweigen von den vielen
Milliarden Euro, die jedes Jahr in Form direkter und indirekter Investitionen für den Flugverkehr aufgewendet
werden, obwohl der Flugverkehr dem Klima am meisten
schadet.
Würden wir diese Subventionen streichen, könnten
wir locker 10 Milliarden Euro einsetzen, um den öffentlichen Nahverkehr auszubauen und systematisch zu den
Leuten zu bringen. Wir könnten mit diesem Geld Fahrradwege bauen und Stadtumbauprogramme finanzieren.
Es wäre aus meiner Sicht notwendig, dass so etwas im
Klimaschutzpaket enthalten ist. Ich hoffe sehr, dass es
Ihnen in dieser Debatte gelingt, die Betonköpfe im verkehrspolitischen Bereich zu bewegen und da eine Trendwende herbeizuführen; denn sonst wird dieser Sektor
vieles von dem zunichtemachen, was an anderer Stelle
schon auf einen guten Weg gebracht worden ist.
Vielen Dank.
({1})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Dr. Matthias Miersch, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Die Bundesregierung macht … Ernst beim Klimaschutz.“
({0})
- Ja, Anton Hofreiter, ich wusste genau, dass du jetzt
lachst. - Dieses Zitat kommt nicht von Matthias
Miersch, sondern von Tobias Münchmeyer von Greenpeace; er hat es gestern gesagt. Ich finde, es zeigt, dass
eure Kritik überzogen ist, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({1})
Ich finde, in einer solchen Debatte - im Übrigen vielen Dank, dass wir sie hier führen dürfen - ist es vielleicht auch angezeigt, zu sagen, dass das berühmte Bild
von dem halbvollen oder halbleeren Glas immer wieder
auf die Politik angewendet werden kann. Wer in den
letzten Jahren die Klimaschutzpolitik in diesem Haus
erlebt hat und nun auf den gestern vorgelegten Plan blicken kann, der weiß, dass ein Mitglied dieses Kabinetts
etwas geschafft hat, was wirklich eine Herkulesaufgabe
gewesen ist. An dieser Stelle möchte ich Barbara
Hendricks danken. Sie hat einen wichtigen Etappensieg
errungen.
({2})
Ich finde auch - jetzt müssen die Koalitionäre ein
bisschen weghören -, es hat sich als gut erwiesen, dass
wir jetzt Umwelt und Wirtschaft zusammendenken
können.
({3})
Insofern gilt mein Dank auch Sigmar Gabriel. Aber mein
Dank gilt auch der Bundeskanzlerin; denn wenn man im
Vorfeld verfolgt hat, wie versucht worden ist, das Ganze
wieder ins neue Jahr zu verschieben, dann weiß man,
dass es ohne sie auch nicht möglich gewesen wäre. Insofern ist es ein guter Tag.
({4})
Jetzt höre ich aber mit dem Dank auf; denn es liegt
noch vieles vor uns. Um einzuordnen, ob in der Politik
etwas gut oder schlecht ist, muss man immer die Reaktionen als Parameter wählen. Ich habe die Reaktionen
am gestrigen Tag sehr aufmerksam verfolgt. Da gab es
die massive Kritik der Grünen. Es gab aber auch - das
will ich an der Stelle sagen - Kritik von einigen Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU zu hören.
Ich habe mich - das will ich hier sagen, weil jetzt
nicht alle hier im Plenum sind, die sich gestern dazu geäußert haben - sehr über eine Aussage des stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Michael Fuchs geärgert. Das
widerlegt im Übrigen die These der Grünen, dass die
Pläne zur Reduktion von zusätzlich 22 Millionen Tonnen CO2 die Energiekonzerne wieder veranlassen würden, dagegen zu klagen.
({5})
Er verglich das Ganze mit den Klagen gegen den Atomausstieg.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Herr Fuchs
hat schon in der letzten Legislaturperiode Verantwortung
getragen. Maßgebliche Begründung für die Klagen der
Konzerne gegen den Atomausstieg ist die Laufzeitverlängerung und dann die Rolle rückwärts. So jemand,
denke ich, sollte sich mit Kritik zurückhalten.
({6})
- Danke für den Applaus der Grünen.
Jetzt wieder zu Ihnen. Ich finde, dass das, was wir
gestern vorgelegt haben, genau das ist, was in den letzten
Jahren vermisst worden ist, nämlich dass wir den
Konzernen auch Investitionssicherheit bieten und ihnen
sagen: Ihr müsst bis 2020 das, was ohnehin geplant war,
einsparen, aber ihr könnt zusätzlich 22 Millionen Tonnen CO2 einsparen. Das ist ein klarer Ordnungsrahmen,
an den sich die Konzerne zu halten haben und der auch
Investitionssicherheit gibt, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({7})
- Bärbel Höhn, du sagst, das stimme doch nicht, und du
fragst, wie denn das Konzept aussehe. Dazu sage ich:
Man kann das hier wahrscheinlich immer wieder herunterbeten, aber ihr wollt es nicht hören oder wahrnehmen.
Wir haben alle immer gesagt: Wie das gesetzlich verankert wird, wird sich im nächsten halben Jahr entscheiden. Ich schlage euch vor, dass ihr regelmäßig in den
Sitzungswochen weitere Aktuelle Stunden beantragt.
Dann können wir euch das immer wieder erklären. Ich
bin mir sicher: Im Sommer werden wir euch ein Konzept
vorlegen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({8})
Aber weil bei den Aktuellen Stunden immer ganz wenig Zeit ist, will ich nur noch eine Sache sagen, was auch
die Medien und die Politik betrifft.
({9})
Das, was wir gestern vorgelegt bekommen haben, ist
das, was die Regierung geliefert hat. Daran anschließen
muss sich doch ein breiter Diskussionsprozess nicht nur
innerhalb der Regierung, sondern auch innerhalb des
Parlaments; denn wir werden hier viele Gesetze diskutieren, beraten und auch entscheiden müssen.
({10})
Deswegen, glaube ich, ist das eine Vorlage, die in keiner
Weise Anlass bietet, sich zurückzulehnen,
({11})
sondern sie ist Motivation für alle, die sich dem Klimaschutz verschrieben haben. Insofern glaube ich, dass es
ganz entscheidend ist, auch in diesen Plan ein Monitoring einzubauen, damit man immer wieder transparent
verfolgen kann, wie weit wir mit den jeweiligen Zielen
gekommen sind.
({12})
Denn wir wissen alle: Ein warmer Sommer, ein kalter
Winter kann alles wieder verändern. Insofern ist das ein
wichtiger Schritt für mehr Klimaschutz und, wie ich
finde, ein wichtiger Schritt für mehr Glaubwürdigkeit
auch auf internationalem Parkett. Barbara Hendricks,
vielen Dank für dein Engagement!
({13})
Als nächstem Redner erteile ich dem Abgeordneten
Dr. Anton Hofreiter, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen,
das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Frau Umweltministerin! Wenn
ich der SPD und inzwischen auch Teilen der CDU zuhöre,
({0})
muss ich immer an den Soziologen Ulrich Beck denken,
der einmal etwas sehr Kluges zu solch einer Art von
Sprache gesagt hat: verbale Aufgeschlossenheit bei weitgehender Verhaltensstarre.
({1})
Deswegen schauen wir uns doch einmal ganz entspannt an, wie die Realität ausschaut. Die Frau Ministerin hat davon gesprochen, dass es in der Vergangenheit
Versäumnisse gab. Nun, die Versäumnisse will man allerdings nicht zur Kenntnis nehmen; denn wir wollen,
wie auch sie zugestanden hat, 40 Prozent CO2 bis zum
Jahr 2020 einsparen. Wir sind wahrscheinlich bis zum
Ende dieses Jahres bei minus 25 Prozent. Das heißt, es
fehlen noch 15 Prozent und nicht 5 bis 8 Prozent, von
denen immer die Rede ist. Nein, wir betrachten einfach
nüchtern die Realität. Es fehlen 15 Prozent. Diese
15 Prozent müssen wir schaffen, um das Klimaschutzziel zu erreichen.
({2})
Sie können jetzt entspannt den Kopf schütteln und protestieren, aber an der Realität, dass 40 minus 25 15 ergibt, kommen auch Sie nicht vorbei.
({3})
Sie begründen Ihre Politik - 40 minus 25 ergibt angeblich nicht 15 - damit, dass der Klimaschutz sowieso,
von selbst, passiert. Er passiert einfach, weil eine vergangene Regierung etwas gemacht hat, weil vielleicht
Schwarz-Gelb etwas gemacht hat oder weil, wie gerade
angesprochen, die Winter wärmer werden.
Betrachten wir ganz nüchtern und entspannt, was in
den letzten fünf Jahren geschehen ist. Wir haben eine
CO2-Reduktion von plus/minus null, das heißt, wir sind
längst vom Reduktionspfad abgewichen, und zwar seit
ziemlich genau fünf Jahren. Das ist die Realität.
({4})
Schauen wir uns an, was bei diesem „Sowieso-Pfad“
in den einzelnen Sektoren Realität ist. Was ist im Bereich der erneuerbaren Energien in Sachen Wärmeerzeugung passiert? Der Anteil der erneuerbaren Energien an
der Wärmeerzeugung ist von 11 auf 9 Prozent gesunken.
Schauen wir uns den Bereich Elektromobilität an. Es
sollte inzwischen 1 Million Elektrofahrzeuge geben, im
Moment sind nur 24 000 Elektrofahrzeuge auf der
Straße. Das ist lächerlich. Das heißt: Man dümpelt vor
sich hin.
Schauen wir uns den Bereich KWK an. Hiermit sollte
ein Beitrag zur Stromersparnis von 25 Prozent erreicht
werden. Was ist im Bereich KWK passiert? Die KraftWärme-Kopplung stagniert; also auch hier passiert
nichts.
Schauen wir uns den Bereich Kohle an. Hier geht es
doch nicht darum, die Kohlekraftwerke einfach abzuschalten, ohne andere Kraftwerke ans Netz zu nehmen.
Bei der momentanen Auseinandersetzung geht es um etwas ganz anderes.
Die Frage ist doch: Sollen Kohlekraftwerke aus der
Zeit Konrad Adenauers - nichts gegen Konrad Adenauer;
da ist spannende Wertarbeit gemacht worden -, die noch
wunderbar funktionieren, vom Netz genommen werden,
oder sollen drei, vier oder fünf Jahre alte hocheffiziente
Gaskraftwerke vom Netz genommen werden?
Ich frage Sie: Welche Investitionen wollen Sie entwerten? Die Investitionen in alte Kohlekraftwerke der
60er-Jahre oder die Investitionen in die hocheffizienten
Gaskraftwerke des 21. Jahrhunderts? Sie haben sich dafür entschieden, die hocheffizienten Gaskraftwerke zu
entwerten.
({5})
All das zeigt: Ihr „Sowieso-Pfad“, den Sie unterstellt haben, existiert nicht.
Hier war davon die Rede, dass die erneuerbaren Energien die tragende Säule werden sollen. Ja, verbal ist das
richtig-verbale Aufgeschlossenheit. Aber schauen wir
uns doch ganz nüchtern die Realität an, seitdem Sie, seitdem die Große Koalition regiert, an der jetzt die SPD beteiligt ist; vorher war es Schwarz-Gelb. Was ist seitdem
auf dem Markt der erneuerbaren Energien passiert? Was
ist im Bereich Photovoltaik passiert? So wie es aussieht,
haben wir auf dem Photovoltaikmarkt einen Einbruch
von minus 40 Prozent zu verzeichnen, und das soll die
tragende Säule sein?
({6})
Sie machen gerade den Markt für Photovoltaik in
Deutschland kaputt, und dann reden Sie gleichzeitig davon, dass er die tragende Säule sein wird. Das hat nichts
mit verbaler Aufgeschlossenheit zu tun! Vielmehr
streuen Sie den Menschen Sand in die Augen. Sie verarschen die Leute. Sie tun das Gegenteil von dem, was Sie
hier behaupten. Das ist eine Frechheit.
({7})
Wenn Sie wirklich eine CO2-Reduktion um 40 Prozent
erreichen wollen, dann reicht es nicht, 38 Prüfaufträge
zu erteilen. Lassen Sie die schönen Worte weg, und handeln Sie real!
Ich muss ehrlich zugeben: Ich hätte nie gedacht, dass
ich einer Bundesregierung, an der die SPD beteiligt ist,
einmal sagen muss: Nehmen Sie sich beim Klimaschutz
doch bitte Eon zum Vorbild. Wer hätte sich das jemals
träumen lassen?
({8})
Eon hat erkannt, dass Kohle, dass Erdgas, dass die fossilen Energien die Vergangenheit und die erneuerbaren
Energien die Zukunft sind. Für eine Regierung, an der
die SPD beteiligt ist, ist das wirklich armselig.
Lassen Sie die schönen Worte. Orientieren Sie sich
nicht nur an Ulrich Beck. Handeln Sie endlich vernünftig! Handeln Sie endlich im Sinne des Klimaschutzes!
Erkennen Sie endlich an, dass wir noch weitere 15 Prozent einsparen müssen. Tun Sie nicht so, als wäre alles
auf einem guten Weg. Tun Sie nicht so, als wäre das hier
eine Heiapopeia-Veranstaltung.
({9})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Kai Wegner, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Anton
Hofreiter, ja, die Vorgaben der Bundesregierung zum Erreichen der Klimaschutzziele sind ehrgeizig. Ich finde,
sowohl in den Worten der Ministerin als auch in den
Worten der Koalitionsredner ist deutlich geworden, dass
wir anerkennen, dass diese Ziele ehrgeizig sind, aber
auch, dass wir sie für erreichbar halten und dass wir alles
tun werden, um sie zu erreichen.
({0})
Lieber Anton Hofreiter, wenn Sie betonen, dass die
Ministerin Versäumnisse aus der Vergangenheit zugegeben hat, was ich absolut unterstreichen kann, dann gestehen Sie doch endlich auch ein, dass es gerade in Ihrer
Regierungszeit, dass es unter Umweltminister Jürgen
Trittin,
({1})
dass es in der Regierungszeit von Bündnis 90/Die Grünen maßgebliche Versäumnisse gab.
({2})
Das wäre einmal eine Anerkennung von Verantwortung.
Sie haben Ziele aufgestellt, und Sie haben sie noch in
derselben Legislaturperiode ad acta gelegt. Das ist verantwortungslos. Diese Regierung handelt sehr viel verantwortlicher.
({3})
Ja, wir werden die Energiewende gestalten - wir haben
große Ziele -, aber wir wollen diese Energiewende gerade
nicht gegen die Verbraucherinnen und Verbraucher gestalten und auch nicht gegen die Wirtschaft. Unser Ziel ist und
bleibt es, die Energiewende sozialverträglich und wirtschaftlich vernünftig zu gestalten. Wir wollen die Menschen von der Energiewende überzeugen. Wir wollen sie
mitnehmen, und wir wollen ihnen dabei nichts aufzwingen.
({4})
Mit dem Nationalen Aktionsplan Energieeffizienz
legt die Bundesregierung nun ihre Effizienzstrategie für
diese Legislaturperiode fest. Wichtige Elemente dabei
sind erstens die Einführung der steuerlichen Förderung
der energetischen Gebäudesanierung, zweitens die Aufstockung der Mittel für das CO2-Gebäudesanierungsprogramm und drittens die wettbewerblichen Ausschreibungen von Energiesparprojekten mit einem angestrebten
Fördervolumen im dreistelligen Millionenbereich. Das
zeigt einmal mehr, dass die Maßnahmen der Bundesregierung nicht nur gut für das Klima sind, dass sie nicht
nur gut für die Energieeffizienz sind, sondern dass sie
auch gut sind für den Mittelstand, für das Handwerk, für
Arbeitsplätze in unserem Land. So müssen wir die Energiewende verstehen und gestalten.
Unser Land benötigt eine umfassende und ganzheitliche Gebäudestrategie. Hierbei darf nicht nur die energetische Optimierung im Vordergrund stehen, sondern es
muss auch um die optimale Nutzung des Gebäudes und
des urbanen Raums gehen. Der Energieeffizienz im Gebäudebereich kommt dabei eine Schlüsselstellung zu;
denn durch fachgerechtes Sanieren und moderne Gebäu6940
detechnik lassen sich bis zu 80 Prozent des Energiebedarfs einsparen. Wenn ich mir die drastischen Steigerungen der Mietzusatzkosten, der sogenannten zweiten
Miete, anschaue, dann erkenne ich hier auch viel Entlastungspotenzial für Mieterinnen und Mieter. Das sollten
wir nutzen. Es gilt, dieses Potenzial zu erschließen - für
die Menschen in unserem Land.
({5})
Ziel muss es sein, die Wirtschaftlichkeit von Energieeffizienzmaßnahmen und Energiesparmaßnahmen zu erhöhen und bestehende Hürden abzubauen. Um diese
Maßnahmen noch stärker zu fördern, sind Information
und Beratung notwendig. Die Programme müssen noch
treffgenauer miteinander verknüpft werden. Auch das
haben wir uns als Regierung vorgenommen.
Gerade für uns als Union ist es wichtig, dass niemand
gezwungen wird. Für uns gelten das Freiwilligkeits- und
das Wirtschaftlichkeitsprinzip.
({6})
Wir werden die Menschen überzeugen. Wir nehmen sie
mit. Wir legen unsere Ziele, liebe Frau Kollegin, nicht ad
acta; wir wollen sie erreichen.
Die Investitionsentscheidungen von heute werden die
Zukunft unseres Klimas von morgen bestimmen. Energieeffizienz im Gebäudebereich und energetische Quartiers- und Stadtentwicklung müssen daher eine herausragende Rolle spielen.
({7})
Wir setzen Anreize, und wir ergreifen Maßnahmen, um
dies zu fördern. Besonders hervorheben möchte ich in diesem Zusammenhang die energetische Stadtsanierung. Gefördert werden innovative Maßnahmen, um wirtschaftlich
und städtebaulich akzeptable Lösungen für die Stadtquartiere zu finden. Auch und gerade dicht besiedelte Bereiche
werden davon profitieren. Das sage ich ganz besonders als
Abgeordneter aus Berlin. Wie wichtig dieser Koalition die
Energieeffizienzförderung ist, sieht man auch daran, dass
die energetische Sanierung auch Teil der Städtebauförderung ist. Deshalb soll die energetische Sanierung auch im
nächsten Jahr einen Schwerpunkt im Rahmen des Programms „Nationale Projekte des Städtebaus“ bilden.
Auch hieran wird deutlich, wie wichtig das Thema für uns
ist.
({8})
Meine Damen und Herren, wir werden die energetische Gebäudesanierung und die Energiewende weiter
vorantreiben. Der Fokus muss dabei auf Maßnahmen liegen, die am meisten nutzen, aber auch am wenigsten
kosten. Der uns leitende Gedanke bleibt dabei, die energetische Gebäudesanierung nach dem Prinzip Wirtschaftlichkeit und Freiwilligkeit umzusetzen.
({9})
Mit dem Programm der Bundesregierung werden wir das
anspruchsvolle Ziel erreichen.
({10})
Ich lade insbesondere Sie, Herr Hofreiter, und die
Kolleginnen und Kollegen der Grünen ein: Kommen Sie
aus Ihrer Schmollecke, machen Sie mit! Die Energiewende ist wichtig. Ich lade Sie ein: Wirken Sie mit, und
gestalten Sie diese Ziele gemeinsam mit dieser Bundesregierung.
Herzlichen Dank.
({11})
Als nächstem Redner erteile ich dem Abgeordneten
Dirk Becker, SPD-Fraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Frau Ministerin, ich hatte schon bei dem letzten großen
Energie- und Klimaprogramm, den Meseberger Beschlüssen - einem Meilenstein -, die Gelegenheit, in diesem Parlament dabei zu sein, und ich darf feststellen,
dass Sie den Abgeordneten heute erstmalig seit dieser
Zeit wieder ein komplettes Paket vorlegen, an dem es
uns möglich ist, abzulesen, welche Zielgrößen wir in den
einzelnen Sektoren haben und welche Maßnahmen bis
wann beschlossen und ergriffen werden sollen, was dann
auch unsere Aufgabe ist. Dieses Instrument gibt jetzt
aber auch der Opposition die Möglichkeit an die Hand,
in der Sache zu verfolgen, ob wir Wort halten.
({0})
- Das sollten Sie zunächst einmal auch mit Anerkennung
zur Kenntnis nehmen.
({1})
Wenn man Parlamentarier ist, dann weiß man, dass
das Gesetzgebungsverfahren in den einzelnen Bereichen
jetzt noch ansteht.
({2})
- Nachdem ich Sie hier heute gehört habe, muss ich sagen: Sie sind weder des Lesens noch des Rechnens fähig.
({3})
Vielleicht können wir einmal Weiterbildungskurse in
Mathematik und im Lesen anbieten.
({4})
Ich hätte nie gedacht, dass ich mich nach den Wortbeiträgen von Eva Bulling-Schröter und den Grünen einmal hierhinstellen und feststellen muss, dass die Linken
in Bezug auf eine realistische klimapolitische Betrachtung an den Grünen vorbeigezogen sind. Das finde ich
bemerkenswert.
({5})
Die Grünen sind in der Schmollecke, was man den
Linken oftmals vorwirft. Frau Bulling-Schröter hat ganz
klar anerkannt, dass wir ambitionierte Dinge planen
- Matthias Miersch hat gesagt, dass auch Umweltverbände dies anerkennen -, und erklärt, dass man uns jetzt
kritisch begleiten will. Ja, das müssen Sie. Auch wir
werden kritisch darauf achten; denn wir wollen doch die
40 Prozent erreichen. Das hat Andi Jung auch gesagt.
({6})
Aber Sie machen immer nur Klamauk. Ihre eigene Basis
fasst sich doch wegen dieses ständigen Klamauks an den
Kopf!
({7})
Ich versuche jetzt nicht zum dritten Mal, zu erklären,
wie es mit den CO2-Minderungszielen aussieht, weil Sie
das nicht verstehen wollen. Sie wissen das besser, aber
das passt Ihnen nicht in Ihre grüne Marketingstrategie.
Das ist das Problem.
({8})
Ich möchte noch einige Punkte erwähnen. Frau
Ministerin, ich will eine ausgesprochen große Zustimmung zu einigen Punkten der Konkretisierungen im Programm - gerade auch für den Kraftwerksbereich - deutlich machen. Ja, es ist sehr gut, dass Sie beim Thema
KWK auch die Anregungen aus dem Parlament aufgenommen haben. Es steht jetzt die eindeutige Zusage im
Programm, dass die KWKG-Novelle vorgezogen und zu
Beginn der Debatte über das Grünbuch beraten wird.
({9})
Bis zum Sommer des nächsten Jahres wird es eine
KWKG-Novelle geben, woraus neue Potenziale der
CO2-Verminderung erschlossen werden. Das alles steht
darin. Wenn man das lesen wollte und lesen würde, dann
wüsste man das.
({10})
Herr Hofreiter, eine Bemerkung noch: Sie stellen sich
hierhin und beschreiben ein Phänomen, das Fakt ist.
({11})
- Hören Sie doch erst einmal zu.
({12})
- Was der Mann hat, will ich jetzt nicht sagen.
({13})
Jeder hat eine andere Kinderstube genossen. Wenn mir
einer etwas sagt, dann höre ich erst zu und meckere
dann. Sie meckern erst und hören dann zu - oder auch
nie. Ich weiß auch nicht, wie das funktioniert.
({14})
Fakt ist eines: Ineffiziente Kraftwerke drängen moderne Kraftwerke gegenwärtig aus dem Markt.
({15})
Das hat keiner hier bestritten. Wir alle können energiepolitische Vorgänge nachvollziehen. Aber, lieber Kollege Hofreiter, ich weiß nicht, was Sie zwischen den Sitzungswochen und zwischen den Aktuellen Stunden, die
Sie wöchentlich beantragen, sonst so treiben - um Energiepolitik kümmern Sie sich da anscheinend nicht. Denn
sonst wüssten Sie, dass wir ein Grünbuch haben und an
einem Weißbuch arbeiten, um den Strommarkt zu reformieren, um genau da Abhilfe zu schaffen.
({16})
Aber doch nicht mit diesem Klimaprogramm - das ist
eine Frage des Strommarktes; doch das begreifen Sie
schlichtweg nicht.
({17})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, es ist mir wichtig,
noch einmal auf die Frage einzugehen: Wie bewertet
man klimapolitische Instrumente? Auch ich habe mich
geärgert über Darstellungen der letzten Tage, die wieder
zu dem Ergebnis kamen, dass Klimapolitik, dass Energieeffizienzmaßnahmen per se eine Bedrohung der Wirtschaft seien, per se Arbeitsplätze infrage stellten. Wer
nicht endlich begreift, dass Energieeffizienz, dass Klimaschutz neue Wirtschaftsbereiche, Exportmöglichkeiten gerade für deutsche Unternehmen erschließt, der ist
in einer Wirtschaftspolitik des letzten Jahrhunderts stehen geblieben.
({18})
Herr Kaster, Sie mögen es mir verzeihen: Ich weiß, man
darf nicht eine gesamte Fraktion für Einzelmeinungen
ständig in Mithaftung nehmen. Darum sage ich es zum
Schluss, damit nicht schon vorher ein Aufschrei kommt.
({19})
Das mit dem Schluss war gut.
Wenn Herr Ramsauer sagt, dass dieses Paket die Anleitung zur Bevormundung und Umerziehung sei und es
besser sei, Kohlekraftwerke nach China zu liefern, anstatt diese Dinge zu machen,
({0})
ist es, glaube ich, notwendig, ihm noch einmal zu erklären, warum wir nationale Maßnahmen ergreifen müssen.
Ich sage ganz ehrlich: So etwas wie das, was er vorgeschlagen hat, kann man nicht machen.
({1})
Das geht auch an der Sache vorbei. Er schädigt doch unsere eigene Regierung, die Regierung, die wir tragen.
Von daher - ich hätte ihm das gerne selbst gesagt; aber er
ist leider nicht da -: Da müssen wir wirklich zu einer anderen Sprachregelung finden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Carsten Müller, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In einer
Aktuellen Stunde und bei knapper Redezeit muss man
die Dinge ein bisschen zuspitzen. Deswegen will ich
meine Rede einmal wie folgt einleiten: Der 3. Dezember
2014 war ein exquisit guter Tag für den Klimaschutz und
ein besonders guter Tag für die Energieeffizienz. Dafür,
meine Damen und Herren, danken wir dieser Bundesregierung besonders intensiv.
({0})
Es geht mir wie vielen anderen Kolleginnen und Kollegen hier: Ich bin mir ein bisschen unsicher darüber, ob
wir tatsächlich im Wochenabstand ein bis zwei Aktuelle
Stunden zu diesem Thema brauchen, weil diese Aktuellen Stunden von den Grünen leider sehr häufig dazu
missbraucht werden, der Bevölkerung Kohlestaub in die
Augen zu streuen, und das der Sache nicht dient.
({1})
- Herr Krischer, wir haben es beim letzten Mal ausprobiert: Ich hatte mir in meiner letzten Rede ein bisschen
was Hübsches für Sie aufgehoben. Sie können sicher
sein: Das soll heute nicht anders sein.
({2})
Ich will auf einen Bereich noch zu sprechen kommen,
der heute angesprochen worden ist, nämlich den Verkehrsbereich, und einige wichtige Maßnahmen hervorheben. Zum einen geht die Bundesregierung sehr forciert
voran,
({3})
was den Bereich der Elektromobilität angeht. Ich will
außerordentlich würdigen, dass wir im Bereich der Sonderabschreibungen für E-Mobile einen großen Schritt
nach vorne machen. Es wird uns damit gelingen, die
Zweitverwertung und dann eben auch die private Anwendung von Elektromobilität in die Breite zu tragen.
Das ist wichtig.
({4})
Ein zweiter wichtiger Baustein ist - wir sind stets
technologieoffen -, dass wir uns heute schon darüber
Gedanken machen, das Steuerprivileg für Fahrzeuge mit
alternativen Antrieben fortzuschreiben. Da wird es im
nächsten Jahr große Bewegung geben - auch das halte
ich für richtig -, insbesondere unter dem Gesichtspunkt
der Verminderung der Treibhausgasemissionen.
Meine Damen und Herren, ich will die Gelegenheit
nutzen - Sie wissen, das liegt mir sehr am Herzen -, hier
noch einmal zu skizzieren, dass wir gestern einen besonders guten Tag für die Energieeffizienz hatten, und einige Meilensteine hervorheben. Ich finde an drei Punkten ganz bemerkenswert, was gestern auf den Weg
gebracht worden ist:
Zum einen ist da die energetische Gebäudesanierung.
Da liegen enorme Potenziale. Damit ist die Energiewende tatsächlich handhabbar für jeden Bundesbürger.
Damit können wir die Menschen mobilisieren. Die energetische Gebäudesanierung ist nichts anderes als ein
enormes Investitionsprogramm für den Mittelstand und
das Handwerk, und das liegt uns als Union stets am Herzen.
({5})
- Daran habe ich im Moment keinen großen Zweifel; wir
haben ja eine vernünftige Kanzlerin, die da die Leitlinien
vorgibt. - Meine Damen und Herren, es ist doch einfach
klug, in regionale Wertschöpfung zu investieren, anstatt
das Geld für den Einkauf von Kohle, Gas und Öl auszugeben.
Carsten Müller ({6})
Ich will allerdings auch sagen - deswegen nutze ich die
Gelegenheit, mich an die Grünen zu wenden, gerne -: Es
liegt jetzt tatsächlich an Ihnen. Sie sind an einer Vielzahl
von Landesregierungen beteiligt.
({7})
Sorgen Sie dafür, dass die Länder bei der energetischen
Gebäudesanierung nicht weiterhin auf der Bremse stehen. Bisher haben Sie nur geredet, aber nicht gehandelt.
So geht es nicht weiter.
({8})
Meine Damen und Herren, ich finde es beispielhaft,
dass wir im Nationalen Aktionsplan Energieeffizienz
zum Ausschreibungsmodell kommen. Das ist besonders
wichtig, um die Bevölkerung und auch unsere Unternehmen mitzunehmen. Wir gehen damit erstmals in diesem
Maßstab einen besonders zukunftsweisenden Weg. Wir
bedienen uns marktwirtschaftlicher Instrumente.
({9})
Ich will durchaus zugeben, dass es da noch Luft nach
oben gibt. Ich halte es für falsch, diese Energieeffizienzausschreibung nur auf den Strombereich zu konzentrieren. Ich bin der Auffassung, dass wir auch den Wärmebereich einbeziehen müssen. Insofern bitte ich die
Bundesregierung, kurzfristig entsprechende Vorschläge
nachzureichen.
({10})
Wir haben vorhin über die Beteiligung von Industrie
und Handwerk gesprochen. Die 500 Energieeffizienznetzwerke sind meines Erachtens der richtige Weg, um
die Bewegung in die Breite zu tragen und damit eine
große Mobilisierungswirkung zu erzielen. Deswegen gilt
diesen voll und ganz meine Unterstützung.
Meine Damen und Herren, ich habe vorhin Herrn
Krischer angekündigt - Kollege Hofreiter kann das vielleicht auch übernehmen; es geht um seine Vorgängerin -,
noch etwas zum Stand der Klimaschutzpolitik der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zu sagen. Ich fand es
äußerst bemerkenswert, dass eine Ihrer führenden Klimaaktivistinnen, Frau Renate Künast, sich gestern mit
folgenden Worten gegenüber dem Morgenmagazin geäußert hat. Sie sagte:
Eine ganzheitliche Beratung, sozusagen einmal
ums Häusle laufen und überlegen, wo kann man mit
dem geringsten Mitteleinsatz den höchsten Effekt
haben, der ja den Geldbeutel auch entlastet, ja, also,
dieses einmal ums Haus Laufen und alle Einzelteile
betrachten, so was gibt es als geschlossene, ganzheitliche Beratung bisher nicht.
Ich dachte, das wäre eine Fernsehkonserve von Mitte der
90er-Jahre.
({11})
Offensichtlich ist die ganze energie- und klimapolitische
Debatte an einer Ihrer Vorkämpferinnen komplett vorbeigegangen.
({12})
Meine Damen und Herren von den Grünen, ich darf
Ihnen ermunternd zurufen: Das gibt es alles schon! Im
Übrigen laufen sie nicht nur um das Haus herum, sondern gehen sogar hinein.
({13})
Sagen Sie das bitte Frau Künast. Wenn man weniger redet und mehr handelt, dann wird es gut. Deswegen rufe
ich insbesondere der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen in
großer Fröhlichkeit zu: Willkommen in der Wirklichkeit! Willkommen beim Thema Klimaschutz! Machen
Sie einfach mit! Dann wird es prima.
({14})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Arno Klare, SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Frau Leidig, ich fürchte, mit
dem, was ich gleich sagen werde, werde ich in Ihren Augen ein Betonkopf bleiben,
({0})
vielleicht aber auch nicht. Wir stellen fest - das hat der
von mir sehr geschätzte Kollege Matthias Miersch festgestellt -, dass wir im Verkehrsbereich noch ein bisschen
zu wenig geliefert haben. Was Beiträge zum Erreichen
der Klimaschutzziele angeht, ist der Verkehr noch etwas
schwach. Gemessen am Bezugsjahr 1990 ist der CO₂Ausstoß im Verkehrssektor nur um rund 6 Prozent zurückgegangen. Allerdings lag der Peak beim CO₂-Ausstoß im Jahr 1999. Im Vergleich zum Jahr 1999 liegen
wir jetzt aber deutlich darunter und sehr nahe an diesem
Ziel. Gleichwohl kann der Verkehr mehr leisten und
muss mehr leisten.
({1})
Ich nenne ein paar Vorschläge dazu aus dem vorliegenden Aktionsplan, für den ich mich ausdrücklich bedanke. Ich bedanke mich ausdrücklich für das Prinzip,
das dahintersteht, nämlich nicht den Versuch zu unternehmen, den ganz großen Wurf zu unternehmen und mit
einem einzigen Schritt auch den letzten Schritt zu wollen
- das ist meistens ein Schritt, der ins Leere führt -, sondern in ganz kleinen pragmatischen Schritten zu beschreiben, wie man ein großes Ziel erreicht. Ich kann
mich wirklich bei Barbara Hendricks dafür bedanken,
dass dieses Grundprinzip durchgehalten wird.
({2})
Erster Punkt: Elektromobilität. Es ist schon angesprochen worden: Hinsichtlich des internationalen Benchmarks sind wir noch nicht an dem Punkt angekommen,
bei dem wir eigentlich sein wollen; das ist vollkommen
klar. In Deutschland sind - Stand Juli 2014 - rund
24 000 E-Kfz zugelassen und circa 4 800 öffentliche Ladesäulen installiert. In den Niederlanden fahren etwa
38 000 E-Kfz auf der Straße, und es sind circa 3 700 Ladesäulen installiert. Jeder weiß, dass die Niederlande ungefähr so groß sind wie Nordrhein-Westfalen.
Was haben die Niederländer gemacht? Sie haben
finanzielle Anreize gesetzt. Genau das tun wir auch. Insofern wird dieser Hochlauf, wenn man das prozentual
betrachtet, bei uns genauso sein. Auf die Wirkung auf
die Sekundärmärkte ist vorhin schon sehr treffend hingewiesen worden. Man muss bei den Betriebsflotten anfangen. Nach zwei Jahren gibt es dann auf den Gebrauchtwagenmärkten entsprechende Angebote, die genutzt
werden können. Insofern ist es wichtig, genau dort anzusetzen. Das wird mit diesem Plan erreicht. Insofern ist er
richtig.
({3})
Mir schwebt hier vor - da greife ich auf, was der Kollege Rimkus immer so treffend sagt -, um die E-Mobilität
herum eine positive Geschichte zu erzählen. Wir müssen
sie in ein Marketingnarrativ einbetten, das die Menschen
verstehen. Es hilft allerdings wenig, wenn vonseiten der
Grünen, wie ich der Presse vom heutigen Tage entnommen habe, im Zusammenhang mit der E-Mobilität von
Regionalliga gesprochen wird. Das ist wieder despektierlich-kritisch.
({4})
Sie sollten stattdessen den Versuch unternehmen, zu begreifen, dass es kein grünes, kein rotes und kein schwarzes Klima gibt, sondern nur ein gemeinsames.
({5})
Lassen Sie uns positiv gestimmt dazu beitragen, dass
E-Mobilität funktioniert und bundesligatauglich wird.
Zweiter Punkt: Verbesserung des ÖPNV. Gut ist der
MIV, der nicht entsteht - mit MIV ist hier der motorisierte Individualverkehr gemeint; das hört sich zufällig
genauso an wie das, was dabei hinten herauskommt -,
und MIV entsteht nicht, wenn Menschen multimodal und
elektromobil unterwegs sind. Das heißt, wenn sie S-Bahnen, Straßenbahnen oder E-Busse nutzen. Das ist wohlgemerkt auch eine der tragenden Säulen des Klimaaktionsplans.
Hier allerdings muss ich feststellen, dass meine Vorstellung von notwendiger sowie hinreichender Bundesfinanzierung des Schienenpersonennahverkehrs mit der
aktuell beschlossenen Haushaltsrealität noch nicht vollständig in Übereinstimmung ist.
({6})
Da wir bald Weihnachten haben, man sich etwas wünschen kann und ich weiß, dass uns dieser Wunsch über
den Bundesrat erreichen wird, lassen Sie mich Folgendes sagen: Ich möchte, Kolleginnen und Kollegen, dass
wir pro Schienenpersonennahverkehr entscheiden, wenn
uns dieser Wunsch im Deutschen Bundestag erreicht,
was alsbald der Fall sein wird. Das ist dann auch pro Klimaschutz.
({7})
Ein dritter Punkt, den ich für sehr wichtig erachte: das
Energiesteuergesetz. Es geht darum, dass im Moment
Erdgas als Treibstoff begrenzt bis 2018 steuerlich begünstigt wird. Wir hatten vor kurzem ein Gespräch mit
Vertretern dieser Branche. Sie haben uns erzählt, dass
jetzt Entscheidungen für den Kauf großer Fahrzeugflotten bei öffentlichen Versorgern und auch bei Speditionsunternehmen anstehen. Wir sollten daher möglichst
schnell - ich spreche hier vom ersten Quartal 2015 - die
Steuerbegünstigung für Erdgas über das Jahr 2018 hinaus verlängern.
({8})
Abschließend kann man feststellen: Wir haben zwei
sehr gute Pläne vorliegen. Wir haben darin ehrgeizige
Ziele formuliert, aber eben auch realistische, weil diese
Schritt für Schritt umgesetzt werden. Wir werden diese
Ziele unterstützen; daran habe ich überhaupt keinen
Zweifel. Wir müssen hier weiterdenken; aber das geschieht ja bereits.
Danke.
({9})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist der Kollege
Thomas Bareiß, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Zum
Schluss dieser Klimadebatte möchte ich die Gelegenheit
nutzen, auf die beiden Redner der Grünen, Bärbel Höhn
und Anton Hofreiter, einzugehen. Ich habe bei Ihnen
manchmal das Gefühl, dass Sie in einem anderen Land
leben oder die Realität bewusst nicht anerkennen.
({0})
Die Debatte hat gezeigt, dass wir bei allen energieund klimapolitischen Zielen in der Welt spitze sind.
({1})
Wir setzen uns so hohe und ambitionierte Ziele wie kein
anderes Land dieser Welt und sind auch in der Umsetzung, bei der Erreichung der Ziele spitze.
({2})
Ich bitte dich, lieber Oliver Krischer, anzuerkennen, welche Erfolge wir in den letzten Jahren gemeinsam erzielt
haben.
({3})
Ich kann die Erfolge gerne einmal benennen. Im Zusammenhang mit den CO2-Emissionen haben wir uns
vorgenommen, den Ausstoß bis 2020 um 40 Prozent zu
verringern. Vor zwei Jahren haben wir eine Reduktion
von 26 Prozent melden können und haben damit die Vorgaben des Kioto-Protokolls übererfüllt.
({4})
Das haben nur fünf Länder der Europäischen Union geschafft. Wir werden die gerade vorgestellten Pläne umsetzen, um das 40-Prozent-Ziel bis 2020 zu erreichen.
Wir sind auch im Bereich der erneuerbaren Energien
in der Welt spitze. Wir haben uns ein Ziel gesetzt, das
sich kein anderes Land dieser Welt vorgenommen hat.
Wir wollen bis 2025 einen Anteil von 40 bis 45 Prozent
erneuerbarer Energien an der Stromerzeugung. In diesem Jahr haben wir schon 27 Prozent erreicht. Das ist für
eine Industrienation wie Deutschland spitze. Ich bitte die
Grünen, auch das einmal anzuerkennen.
Der letzte Punkt, in dem wir spitze sind, ist die Energieeffizienz, die zum Thema Klimaschutz gehört. Wir
wollen bis 2050 unseren Energieeinsatz halbieren und
haben es - als einzige Industrienation auch in dem Bereich - schon heute geschafft, unser Wirtschaftswachstum von über 30 Prozent in den letzten 20 Jahren vom
Energiebedarf zu entkoppeln. Wir haben in den letzten
20 Jahren 10 Prozent weniger Energie verbraucht.
({5})
Das sind die Erfolge, die wir gemeinsam erzielt haben. Das muss man zum Schluss der Debatte noch einmal feststellen, meine Damen und Herren.
({6})
Die Bundesregierung hat gestern einen Plan vorgelegt, der klar und deutlich aufzeigt, welche weiteren notwendigen Schritte wir in den nächsten Jahren unternehmen werden. Wir müssen uns mehr anstrengen denn je.
Denn uns entgehen - auch das gehört zur Wahrheit in der
Debatte - durch den früheren Ausstieg aus der Kernenergie 40 Millionen Tonnen an CO2-Einsparung. Deshalb
müssen wir in den anderen Sektoren umso mehr tun, und
das wird uns entsprechende Anstrengungen abverlangen.
Aber wir sind gemeinsam gewillt, diese Anstrengungen
zu unternehmen.
Wir wollen aber - das hat die Debatte der letzten Sitzungswoche gezeigt - neben dem Ausstieg aus der Kernenergie in den nächsten Jahren nicht auch noch einen
Kohleausstieg voranbringen.
({7})
Ich bin dankbar, dass Sigmar Gabriel das vor zwei Wochen klargestellt hat. Denn damit würden wir nicht nur
die Versorgungssicherheit in unserem Land sträflichst
vernachlässigen,
({8})
sondern auch die Wirtschaftlichkeit unserer Energieversorgung, die wir sowohl im privaten Bereich brauchen
- die Menschen verlassen sich auf günstige Energiepreise -, als auch in der Wirtschaft, um die Wettbewerbsfähigkeit gerade im energieintensiven Bereich zu gewährleisten. Auch in dieser Hinsicht haben wir eine
große Verantwortung.
({9})
Was mir in dieser Debatte zu kurz kam, ist die europäische bzw. globale Herausforderung, die daraus entsteht. Wenn wir dem Vorschlag der Grünen und anderer
in diesem Hause, in den nächsten Jahren einseitig aus
der Kohleverstromung auszusteigen, folgen würden,
dann würde das den CO2-Ausstoß in Europa kein bisschen reduzieren; denn gleichzeitig würde der CO2-Ausstoß in anderen Ländern steigen. Ich glaube, das kann
nicht unser Ziel sein. Wir müssen gemeinsam in Europa
die richtigen Weichen stellen. Ein alleiniger Ausstieg
Deutschlands innerhalb Europas würde gar nichts bringen.
({10})
Im Gegenteil: Wir würden dadurch ineffiziente Kraftwerke fördern. Deshalb brauchen wir Europa mehr denn
je.
Wir brauchen nicht nur Europa, sondern auch die
Welt für den Klimaschutz. Wir brauchen vor allem die
Hauptemittenten China und die USA. Es gab vor wenigen Tagen von den beiden Ländern eine gemeinsame Erklärung, und es gab auch Reaktionen aus der Fraktion
der Grünen, die diese Erklärung begrüßt haben, was
mich etwas verwundert hat. Denn China hat in dieser Erklärung klargemacht, dass es in den nächsten 15 Jahren
den CO2-Ausstoß weiter steigern wird. Das, was wir in
den nächsten sechs Jahren unter größter Anstrengung
einzusparen versuchen, schafft China in 25 Tagen an
Ausstoß. Diese Größenordnung müssen wir uns vor Augen halten, damit wir erkennen, dass wir ein ganz kleines
Licht sind. Deshalb trifft das, was Frau Höhn zu Beginn
der Debatte gesagt hat, nicht zu. Es hängt nicht an
Deutschland allein, sondern an Europa und den anderen
Staaten der Welt. Es müssen alle mitmachen. Ein Alleingang im Bereich des Klimaschutzes wäre auch für
Deutschland schädlich. Deshalb brauchen wir weltweit
ein gemeinsames Abkommen. Daran sollten wir gemeinsam arbeiten, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({11})
Vielen Dank. - Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur besseren Vereinbarkeit von Familie,
Pflege und Beruf
Drucksachen 18/3124, 18/3157
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})
Drucksache 18/3449
- Bericht des Haushaltsausschusses ({1})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Drucksache 18/3450
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. Ich höre keinen
Widerspruch. - Dann ist so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diejenigen, die jetzt
noch Besprechungen haben, bitte ich, diese außerhalb
des Saales fortzusetzen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat für die Bundesregierung Frau Bundesministerin Manuela Schwesig.
({2})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren Abgeordnete! Heute ist ein guter Tag für Familien; denn nach nicht einmal einem Jahr bringen wir
das dritte Gesetz für Familien auf den Weg, das die Vereinbarkeit von Beruf und Familie in unserem Land stärken soll. Diese Gesetze helfen berufstätigen jungen Müttern und Vätern, aber auch den Berufstätigen, die sich
um pflegebedürftige Angehörige kümmern. Wir haben
zuerst das Elterngeld Plus beschlossen und dann heute
den weiteren Kitaausbau. Nun kommen wir zur dritten
wichtigen Maßnahme, die zum Ziel hat, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie mit pflegebedürftigen Angehörigen zu verbessern. Diese drei Gesetze gehören zusammen. Sie sind ein wichtiger Schritt in eine neue Zeit
für Familien, in eine neue Balance der Herausforderungen, die Frauen und Männer spüren, die sowohl im Job
präsent sein und ihn gut machen müssen als auch kleine
Kinder haben, für die sie da sein wollen, und vielleicht
sogar noch pflegebedürftige Angehörige.
Die Hälfte der Menschen in Deutschland hat in den
letzten zehn Jahren Erfahrungen mit Pflege in der Familie gemacht. Die Mehrheit bewertet diese Erfahrungen
positiv. Die Bereitschaft, zu pflegen, ist nach wie vor
hoch. Wir haben heute eine gute Nachricht für diese
Menschen. Wir wollen Familien, die jemanden pflegen,
sich um jemanden sorgen, sich um jemanden kümmern,
besser unterstützen. Das kann ein junger Mann sein, dessen Vater nach einem Schlaganfall aus dem Krankenhaus
entlassen wird und nun pflegebedürftig ist. Das kann
eine verheiratete Frau sein, deren Kinder mittlerweile
groß sind und die nun spürt, dass sie die letzten Wochen
mit ihrer Mutter im Hospiz verbringen will. Das können
Eltern sein, deren Kind mit Downsyndrom in einer Einrichtung lebt und am Wochenende nach Hause kommt,
oder es können zwei Geschwister sein, die sich gemeinsam um ihre pflegebedürftige Mutter kümmern. Ich
selbst habe in meiner Familie fast alle diese Fälle erlebt.
Meine berufstätige und alleinerziehende Cousine, deren
behinderter Sohn in einer Einrichtung lebt, hätte sich
über eine bessere Unterstützung in ihrer Situation gefreut. Meine Tante, die sich um meine 96-jährige Oma
kümmert, gleichzeitig berufstätig ist und einen schulpflichtigen Sohn hat - die anderen beiden studieren -,
wird sich sehr freuen, dass wir sie mit diesem Gesetz in
ihrem Lebensalltag ganz konkret unterstützen.
Diejenigen, die in der Familie zusammenhalten, die
für andere da sind, sich sorgen, kümmern und pflegen,
haben unsere Anerkennung, unseren Respekt und unseren Dank verdient.
({0})
Sie haben aber auch unsere Unterstützung verdient. Wir
unterstützen sie mit der Pflegereform, die Gesundheitsminister Gröhe auf den Weg gebracht hat. Wir unterstützen sie mit dem Ausbau von Kurzzeit- oder Tagespflege
und durch die Ausweitung der Leistungen der Pflegeversicherung.
Die nächste gute Nachricht kommt heute: das Gesetz
zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf. Es widmet sich erstmalig diesem Thema mit konkreten staatlichen - auch materiellen - Leistungen, unter
anderem mit der zehntägigen Auszeit bei einem akuten
Pflegefall, wenn beispielsweise der Vater einen Schlaganfall erlitten hat. Natürlich geht es nicht darum, den Vater in zehn Tagen gesund zu pflegen. Aber man hat in
Zukunft zehn Tage Zeit, sich zu kümmern und beim
Pflegestützpunkt nachzufragen, was man tun kann, die
Mobile Wohnberatung anzurufen und zu erfahren, ob die
Wohnung umgebaut werden muss, oder beim Stadthaus
zu erfahren, wie das alles finanziert wird. Mir ist wichtig, dass es diese Auszeit, in der man sich kümmern und
organisieren kann, wirklich für alle gibt. Die zehntägige
Auszeit und den Lohnersatz - das ist das Herzstück des
Gesetzes - gibt es für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Es ist eine Frage der sozialen Gerechtigkeit,
dass die Inanspruchnahme dieser Auszeit nicht davon
abhängt, ob man Geld hat oder nicht, sondern dass sich
diese Zeit jeder und jede leisten kann.
({1})
Es ist zudem möglich, in eine längere Auszeit zu gehen - zum Beispiel 6 Monate in eine volle Auszeit oder
24 Monate in Teilzeit - und in dieser Zeit einen Lohnvorschuss im Sinne eines staatlichen zinslosen Darlehens zu bekommen. Wir wissen, dass in der Vergangenheit kaum jemand dieses Angebot angenommen hat,
weil diesen Lohnvorschuss der Arbeitgeber zahlen
musste und die wenigsten Arbeitgeber dazu bereit waren, weil damit ein Risiko verbunden ist. Dieses Risiko
verlagern wir auf den Staat, und das ist richtig. Es ist
richtig, dass der Staat und damit die Gesellschaft mit
diesem Gesetz erstmals Verantwortung übernimmt und
sagt: Wir lassen diese Familien nicht allein. Wir stellen
ganz konkret Geld zur Verfügung für die zehntägige
Auszeit und für das zinslose Darlehen.
({2})
Auch die Möglichkeit eines 6-monatigen Ausstiegs
oder einer 24-monatigen Teilzeit mit zinslosem Darlehen
haben alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, auch
wenn hier teilweise anderes behauptet wird. Bei Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die in kleinen Betrieben mit bis zu 15 bzw. 25 Mitarbeitern tätig sind, ist aber
Voraussetzung, dass sie das mit ihrem Arbeitgeber absprechen. Das hat einen guten Grund. Freunde von mir
haben einen Glasereibetrieb mit zwei Mitarbeitern. Die
sagen: Du glaubst doch nicht, dass ich nicht alles dafür
tue, dass wir miteinander klarkommen. Wichtig ist die
staatliche Unterstützung. - Kleinbetriebe wie dieser machen ihren Mitarbeitern eher als große Betriebe Angebote, weil sie sie und ihre Familien kennen. Sie haben
aber größere Schwierigkeiten, für 24 Monate einen Ersatz zu finden. Deshalb habe ich schon bei Einbringung
des Gesetzentwurfs ins Kabinett angeboten, dass wir
über die Regelung mit bis zu 15 Mitarbeitern noch einmal sprechen.
Das haben wir getan. Ich habe diese Woche mit Vertretern des Zentralverbands des Deutschen Handwerks
gesprochen. Die Wirtschaft würde es gerne sehen, dass
wir eine Ausnahmeregelung für Betriebe mit bis zu 50
Mitarbeitern schaffen. Ich bin den Koalitionsfraktionen
sehr dankbar, dass sie meinem Vorschlag gefolgt sind: In
Kleinbetrieben mit bis zu 25 Mitarbeitern sollen sich die
Betroffenen einigen - das zinslose Darlehen wird auch
dort gezahlt -, und in allen Betrieben mit mehr Mitarbeitern haben Beschäftigte einen Rechtsanspruch. Ich finde,
das ist eine gute Balance zwischen den Interessen der
kleinen Betriebe und den Interessen der Familien.
({3})
Das Ausspielen von Gegensätzen ist Politik von gestern. Wirtschaftspolitik und Familienpolitik gehören zusammen. Deshalb, sehr geehrte Damen und Herren, ist
dies ein gutes Gesetz, das den Familien in unserem Land
helfen wird. 86 Prozent der Handwerksbetriebe machen
bereits jetzt Angebote. Auch das berücksichtigen wir.
Mit dem Beirat, der das Gesetz begleitet, haben wir
die Möglichkeit, die Wirkung des neuen Gesetzes zu beobachten und das Gesetz in den nächsten Jahren weiterzuentwickeln. Wichtig ist, dass dieses Gesetz jetzt
kommt, dass wir uns ganz konkret um Familien kümmern, die füreinander Verantwortung übernehmen, um
Familien, die sich um pflegebedürftige Angehörige
kümmern, die einfach das tun, was für unsere Gesellschaft wichtig ist, die solidarisch sind.
({4})
Vielen Dank, Frau Ministerin. - Nächste Rednerin ist
Pia Zimmermann, Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir behandeln heute den Entwurf eines Gesetzes zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege
und Beruf.
Schauen wir zunächst einmal, welche Verbesserungen
die Bundesregierung damit anstreben will: Zum einen ist
das der gesetzliche Anspruch auf zehn Tage Pflegezeit
zur Organisation der Pflege, wenn plötzlich ein Pflegefall in der Familie eintritt. Zum anderen ist es der gesetzliche Anspruch auf Reduzierung der Arbeitszeit für einen Zeitraum bis 24 Monate. Das ist dann aber auch
schon alles.
Durch meine jahrelange Erfahrung in der Pflege weiß
ich, welch verantwortungsvolle und wichtige Aufgabe
Pflege ist. Ich weiß, wie schwierig es ist, neben einer guten, qualifizierten Pflege noch erwerbstätig zu sein und
eine Familie zu organisieren, ganz zu schweigen von den
persönlichen Interessen. Glauben Sie im Ernst, dass sich
eine plötzlich entstandene Pflegenotwendigkeit in zehn
Tagen organisieren lässt? Wissen Sie, wie schwer es ist,
Termine bei einem Pflegestützpunkt oder den Krankenbzw. Pflegekassen zu bekommen? Haben Sie schon einmal ein Pflegebett beantragt und bestellt? Wissen Sie,
wie lange das dauert? Sie haben auch keine Antwort darauf, was nach den 24 Monaten Familienpflegezeit passieren soll, und diese Ahnungslosigkeit bringen Sie in
Ihrem Gesetzentwurf zum Ausdruck.
({0})
Schauen wir uns den Gesetzentwurf und seine Auswirkungen einmal etwas genauer an: Der erste Fehler ist
die falsche Richtung. Sie schieben die Pflegeverantwortung noch stärker in die Familien - weil es kostengünstiger ist -,
({1})
anstatt die gesellschaftliche Verantwortung für Pflege
auszubauen. Natürlich wollen die meisten Menschen zu
Hause gepflegt werden,
({2})
und das gilt es auch jedem zu ermöglichen.
({3})
Das heißt aber nicht, dass jeder von Angehörigen gepflegt werden möchte. Wichtig ist doch die Entscheidungsfreiheit, wie Pflege sich gestalten soll.
({4})
Aber solange Sie die Leistungen der Pflegeversicherung
nicht deutlich verbessern und eine Stärkung der professionellen Pflege vornehmen, so lange wird es auch keine
individuelle Entscheidung über die Pflegebeziehungen
- und zwar unabhängig vom Geldbeutel - geben.
Das, was Sie als sensationelle Verbesserung in der familiären Pflege verkaufen, sieht folgendermaßen aus:
Sie zwingen die Menschen, sich privat zu verschulden,
wenn sie die Pflege übernehmen, nicht nur über Arbeitszeitschuldkonten beim Arbeitgeber, sondern auch durch
die Darlehensregelung für den Ausgleich der Nettolohneinbuße. Und Sie setzen noch einen drauf: Das Darlehen
muss vor Sozialleistungen in Anspruch genommen werden. In der Anhörung fiel einer Sachverständigen dazu
nur noch Polemik ein - ich zitiere -: Wer zu wenig verdient, darf aufstocken. Wer pflegt, darf das nicht und
muss ein Darlehen aufnehmen. - Meine Damen und
Herren, so geht das nicht.
({5})
Bis gestern haben Sie noch über 5 Millionen Beschäftigte aus Betrieben mit bis zu 15 Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern aus dieser gesetzlichen Regelung ausgeschlossen. Und wie so oft: Kurz vor Toresschluss verändern Sie Ihren eigenen Gesetzentwurf, reden von Betrieben mit bis zu 25 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und
erhöhen die Zahl der ausgeschlossenen Beschäftigten
mal eben auf über 7 Millionen und erklären diese damit
zu Beschäftigten zweiter Klasse. Sie wollen die Arbeitgeber nicht nur nicht in die Pflicht nehmen; Sie machen
hier sogar noch einen Kniefall, und die sozialdemokratische Fraktion macht das mit. Das ist wirklich unfassbar.
({6})
Zudem weichen Sie den Kündigungsschutz der Kolleginnen und Kollegen, die pflegen wollen, auf - und das
aus reiner Missbrauchsvermutung. So sieht also Ihre
Wertschätzung aus.
Mit diesem Gesetzentwurf haben Sie gar nichts gekonnt, außer dass Sie aus einem schlechten Gesetz ein
noch schlechteres gemacht haben.
({7})
Meine Damen und Herren, packen Sie die Probleme
wirklich an, zum Beispiel mit einer sechswöchigen Pflegezeit zur Organisation der Pflege! Nehmen Sie die solidarische Pflege-Bürgerversicherung in Angriff, und ermöglichen Sie den Familien eine individuelle Pflegeund Assistenzorganisation zu Hause mit professioneller
Unterstützung! Und hören Sie endlich auf, die Pflegepolitik als Stiefkind Ihrer Regierungsarbeit zu betrachten!
({8})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Astrid
Timmermann-Fechter, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Jeder von uns möchte im Fall einer Pflegesituation so lange wie möglich in vertrauter Umgebung
bleiben, umsorgt werden von Menschen, denen man nahesteht, denen man vertraut. Doch für viele ist die Organisation der Pflege eines Angehörigen oftmals auch eine
sehr schwierige Aufgabe, vor allem wenn man dabei einer Vollzeitbeschäftigung nachgeht und noch die eigene
Familie, die eigenen Kinder versorgen muss. Viele Berufstätige wünschen sich deshalb für die Pflege eines
Angehörigen mehr Zeit, und diese wollen wir mit der
Verabschiedung des neuen Gesetzes zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf künftig leichter
ermöglichen.
Das Gesetz ist ein weiterer Baustein, mit dem wir die
Pflege insgesamt stärken - ein Schwerpunktthema der
Großen Koalition in dieser Legislaturperiode. Und dafür
haben wir nach dem ersten Pflegestärkungsgesetz nun
die beiden bereits bestehenden Gesetze zur Pflegezeit
und zur Familienpflegezeit weiterentwickelt. So haben
Berufstätige neben dem bisherigen Rechtsanspruch auf
Pflegezeit mit Beginn des kommenden Jahres nun auch
einen Rechtsanspruch auf Familienpflegezeit. Und Frau
Zimmermann, an dieser Stelle möchte ich erwähnen:
Wie man das als „schlechter als schlecht“ bezeichnen
kann, erschließt sich mir an dieser Stelle nun wirklich
nicht.
({0})
Beschäftigte können ihre Arbeitszeit über einen Zeitraum von bis zu 24 Monaten auf mindestens 15 Stunden
in der Woche reduzieren. Damit schaffen wir einen flexiblen Rahmen, den Familien mit Pflegebedarf ganz nach ihren eigenen Bedürfnissen in Anspruch nehmen können ohne künftig in Sorge zu sein, aufgrund der Pflegetätigkeit womöglich die Berufstätigkeit ganz und gar aufgeben zu müssen. Genau das wollen wir nämlich mit diesem neuen Gesetz verhindern. Gleichzeitig bleiben den
Betrieben somit wertvolle Fachkräfte erhalten.
Die Arbeitszeitreduzierung bedeutet oftmals aber
auch finanzielle Einbußen. Auch hier wollen wir die Familien nicht alleine lassen. Bereits jetzt kann für die Familienpflegezeit für die Hälfte des Verdienstausfalles ein
Darlehen in Anspruch genommen werden. Ab dem kommenden Jahr kann dieses auch für die bis zu sechsmonatige Pflegezeit genutzt werden. Auch das bedeutet für
die Familien mehr individuelle Wahlmöglichkeiten.
Mit der gesetzlichen Neuregelung werden zudem die
Antragsmodalitäten deutlich vereinfacht. Der Beschäftigte beantragt das Darlehen direkt beim Bundesamt für
Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben. Der Arbeitgeber muss keine Wertguthaben mehr für seine Angestellten führen. Auch müssen keine Ausfallversicherungen mehr abgeschlossen werden. Hier trägt jetzt der
Bund das Ausfallrisiko allein. Es werden also eine
Menge bürokratischer Hürden abgebaut.
({1})
Meine Damen und Herren, oft genug tritt ein Pflegefall unvermittelt, von einem Moment zum anderen, ein eine Situation, die alles im Leben verändert und in der
rasch gehandelt werden muss. Um solch einen plötzlichen, akuten Pflegefall in der Familie organisieren zu
können, sieht das Pflegezeitgesetz für den Arbeitnehmer
eine Freistellung von bis zu zehn Tagen vor. Bislang
mussten in solch einem Fall häufig Gehaltseinbußen hingenommen werden. Das neue Gesetz sieht hier nun ein
Pflegeunterstützungsgeld vor. Dieses können Arbeitnehmer künftig als Lohnersatzleistung in Anspruch nehmen,
die zulasten der Pflegekasse des zu pflegenden Angehörigen abgerechnet wird.
In diesem Zusammenhang haben wir uns auch in den
vergangenen Tagen noch darauf verständigt, die Regeln
für die Inanspruchnahme der Freistellung dahin gehend
zu konkretisieren, dass die zehntägige Auszeit in akuten
Pflegesituationen nicht zusammenhängend genommen
werden muss und dass auch mehrere Angehörige sich
diese zehn Tage für einen Pflegebedürftigen in weiteren
Akutsituationen untereinander aufteilen können.
({2})
Mit dieser Möglichkeit des Splittings haben Familien
auch hier jetzt mehr Möglichkeiten, einen Pflegefall
kurzfristig flexibler zu organisieren. Darüber hinaus haben wir den Begriff der nahen Angehörigen erweitert,
der nun unter anderem auch Stiefeltern oder Schwägerin
und Schwager sowie lebenspartnerschaftsähnliche Gemeinschaften umfasst. Wir stärken damit die Familie als
Verantwortungsgemeinschaft.
({3})
In diesem Zusammenhang bin ich auch sehr froh, dass
wir im Zuge des parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens auch die Betreuung eines pflegebedürftigen Kindes erleichtert haben. So können Eltern nämlich die
neuen Rechtsansprüche nutzen - sowohl für die häusliche als auch für die stationäre Betreuung eines pflegebedürftigen Kindes. Diese Flexibilisierung ist eine wirkliche Hilfe für viele Menschen in besonders schwierigen
Lebenssituationen.
({4})
Meine Damen und Herren, ich persönlich habe großen Respekt davor, was pflegende Angehörige leisten.
Es sind diese Angehörigen, die mit ihrem persönlichen
Einsatz dafür sorgen, dass zahlreiche Pflegebedürftige
auch weiterhin so lange wie möglich in ihrem gewohnten Umfeld bleiben können. Dafür nehmen sie oftmals
sehr viele Einschränkungen in Kauf. Deshalb freue ich
mich heute umso mehr, dass wir mit dem neuen Gesetz
zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf neue Rahmenbedingungen setzen, damit diese Angehörigen bei ihrer Pflegeaufgabe künftig noch stärker entlastet werden.
Deshalb bitte ich Sie um Ihre Zustimmung und danke
Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Vielen Dank. - Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt Elisabeth Scharfenberg.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Ministerin, Sie haben für diese
Debatte 38 Minuten angesetzt. Damit zeigen Sie uns
überdeutlich Ihre Wertschätzung der Pflege. Agenda abarbeiten, Hauptsache, es geht schnell.
({0})
Wir haben in diesem Haus im November viereinhalb
Stunden über assistierten Suizid gesprochen. Das war
richtig, und es war wichtig. Aber wir müssen doch auch
über das Leben diskutieren, gerade über das menschenwürdige Leben im hohen Alter bei Pflege- oder Hilfebedarf. Diese vorgelagerten Debatten, genau diese Themen, die den Menschen Angst machen, werden hier in
aller Kürze abgehandelt.
({1})
Da versagt diese Regierung, da versagen Sie, Frau
Ministerin, und da versagt auch diese Große Koalition.
({2})
Das wurde dann auch mit den Änderungsanträgen zu Ihrem Gesetzentwurf noch einmal ganz deutlich.
Frau Schwesig, liebe SPD, wie konnten Sie nur so
einknicken? Sie wollten ein Gesetz für die Vereinbarkeit
von Pflege und Beruf machen, für Menschen, die dringend darauf angewiesen sind, und dann erklärt die Vertreterin der Union gestern im Familienausschuss, es
seien Verbesserungen für die Wirtschaft erreicht worden.
Ich wusste gar nicht, dass wir hier ein Wirtschaftsförderungsgesetz vorgelegt bekommen.
({3})
Liebe Frau Schwesig, liebe SPD, Sie glauben doch
nicht im Ernst, dass Sie sich hier einen schlanken Fuß
machen können? Es wurde gestern im Gesundheitsausschuss bereits von der SPD gesagt, dass sich die Union
für diese Verschlimmbesserung verantworten muss.
Nein, es ist auch Ihre Verantwortung. Das Gesetz kommt
aus einem SPD-geführten Haus, es ist Ihr Gesetz. Leider
ist Ihr Rechtsanspruch, auf den Sie so stolz sind, jetzt
das Papier nicht mehr wert, auf dem er gedruckt ist.
({4})
Es gilt erst für Beschäftigte in Betrieben mit mehr als
25 Mitarbeitern. Das bedeutet, für Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter in 90 Prozent der Betriebe gilt dies nicht.
({5})
In diesen kleinen Betrieben arbeiten überwiegend
Frauen; und was tun all diese Frauen, wenn sie zu diesem Personenkreis gehören, den Sie vorhin endlos aufgezählt haben?
Der Rechtsanspruch gilt auch für viele andere nicht. Er
gilt nämlich für all die nicht, die sich um demenzkranke
Angehörige kümmern wollen. Demenzkranke, die die
sogenannte Pflegestufe 0 haben, haben nämlich keinen
Rechtsanspruch. Sie tun in Ihrem Familienpflegegesetz
so, als wäre das alles schon in trockenen Tüchern. Das
ist es aber nicht. Wir haben dort noch immer eine Ausgrenzung. Demenzkranke werden bei der Einstufung in
die Pflegeversicherung eben immer noch nicht berücksichtigt, und ohne Pflegestufe haben diese Familien auch
keinen Anspruch auf Familienpflegezeit. Sie lassen damit einen ganz großen Teil von pflegenden Angehörigen
einfach in der Luft hängen.
({6})
Leider wurde beim Pflegestärkungsgesetz, das genau
wie das Familienpflegezeitgesetz am 1. Januar 2015 in
Kraft treten soll, das zentrale Vorhaben nicht umgesetzt:
Es gibt keinen neuen Pflegebegriff. Das ist Pech für die
Demenzkranken, und es ist Pech für die Angehörigen.
Frau Ministerin, eine gute Pflege- und Familienpolitik
denkt die Dinge zusammen, statt Unterpunkte des Koalitionsvertrages einfach nur abzuhaken. In einer guten
Pflege- und Familienpolitik arbeiten die Ressorts und die
Koalitionspartner zusammen, statt sich auf Kosten des
jeweils anderen zu profilieren. Sie sind eine Große Koalition, aber man gewinnt den Eindruck, die rechte Hand
weiß nicht, was die linke tut. Sie demonstrieren das auch
hier. Wie ich gesehen habe, ist das Gesundheitsministerium nicht einmal vertreten. Da passt nichts zusammen.
Wir brauchen eine Pflege- und eine Familienpolitik, die
die Ängste und Bedürfnisse der Menschen ernst nimmt,
statt sie zusätzlich auch noch zu belasten, und genau das
tun Sie.
({7})
Was ist denn Ihr Darlehen für Pflegende? Es ist eine
Belastung. Es gleicht den Einkommensverlust durch
Pflege nur teilweise aus und muss fristgerecht zurückgezahlt werden. Das ist eine Belastung für die Pflegenden,
die gar nicht genau wissen, was die Zukunft bringen
wird, wie lange sie pflegen werden und wie sich ihr gesamtes Leben überhaupt weiter gestalten wird. Nur eines
wissen Sie genau: dass auch nach der Pflege das Einkommen weiterhin geringer sein wird.
Würden Sie es mit Ihrem Engagement für die Pflege,
für die Pflegenden und auch für die Pflegebedürftigen
ernst meinen, dann würden Sie sich wirklich Zeit für
Ihre Reformen nehmen. Sie würden die Menschen wirklich in den Mittelpunkt stellen, statt blinden Aktionismus
zu demonstrieren. Sie würden Ihre Reformen als Teile
des großen Ganzen sehen und entsprechend aufeinander
abstimmen. Dies geschieht hier leider nicht.
Vielen Dank.
({8})
Vielen Dank. - Vielleicht noch einmal zu einem
Punkt, damit keine Missverständnisse entstehen und
plötzlich die Regierung glaubt, sie hätte mehr Kompetenzen, als sie hat. Die Festsetzung der Redezeiten ist allein Aufgabe des Parlamentes und erfolgt immer einvernehmlich zwischen allen Fraktionen einschließlich der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Zu Beginn eines jeden neuen Tagesordnungspunktes
wird gefragt, ob jemand Einwände gegen diese einvernehmliche Festsetzung hat.
Nächste Rednerin ist jetzt die Kollegin Dr. Carola
Reimann, SPD-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir verabschieden heute ein Gesetz für Menschen, die in der Mitte
ihres Lebens stehen, für Männer und Frauen, die viel
Verantwortung übernehmen: im Job, für Kinder und für
ihre pflegebedürftigen Angehörigen. Wir sorgen jetzt dafür, dass sie diesen Spagat besser bewältigen können.
Wir wollen ihnen helfen, ihre große Verantwortung ein
bisschen leichter zu tragen. Wir verbessern heute das bereits bestehende Familienpflegezeitgesetz, das ist richtig,
und das ist dringend erforderlich; denn das Gesetz, noch
von der alten Regierung verabschiedet, war sicher gut
gemeint, aber nicht gut gemacht. Es kam bei den Menschen nicht an. Mit 135 Beschäftigten im Jahr, die die
Familienpflegezeit in Anspruch genommen haben, war
es nicht einmal der berühmte Tropfen auf den heißen
Stein.
({0})
- Ich bin sicher, Kollegin Scharfenberg, das wird sich
verbessern.
({1})
Dass es nur 135 Beschäftigte waren, hat uns in der Tat
nicht überrascht; denn das alte Gesetz hatte ja gravierende Mängel, und wir verbessern es an diesen Stellen.
({2})
Wir führen erstens eine zehntägige bezahlte Familienpflegezeit ein. Dafür haben wir schon seit vielen Jahren
gekämpft und gerungen.
({3})
Wir geben zweitens Beschäftigten einen Rechtsanspruch. Auch das ist seit vielen Jahren hier in diesem
Parlament in der Diskussion. Wir erleichtern drittens die
Inanspruchnahme mit einem zinslosen Darlehen. Wir
machen das Gesetz besser, damit es wirkt.
Frau Kollegin Reimann, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Zimmermann, Fraktion Die Linke?
Ja, sehr gern.
Vielen Dank, Frau Reimann, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. - Ich hatte eine schriftliche Anfrage gestellt, und zwar ging es darin speziell um die zehn Tage
zum Organisieren der Pflege. Ich habe danach gefragt,
wie hoch der durchschnittliche Zeitbedarf ist, um eine
Pflege zu organisieren. Die Antwort war, dass es keine
statistischen Angaben gibt. Im letzten Satz heißt es, zehn
Tage dürften nach allgemeiner Erfahrung für die Organisation der Pflege ausreichen. Da frage ich mich: Was
sind das denn für allgemeine Erfahrungen? Ist es nicht
vielmehr so, dass die zehn Tage nach allgemeiner Erfahrung nicht ausreichen?
({0})
Ich gehe davon aus, dass Sie die Frage an die Regierung gerichtet hatten. Meine Haltung dazu ist: Dazu, ob
diese zehn Tage ausreichen, kann es natürlich keine Statistik geben, weil wir alle wussten: Zehn Tage ohne
Lohnersatzanspruch werden erstens sehr viele Menschen
gar nicht in Anspruch nehmen können. Zweitens wird
das, wenn sie das tun und einfach unbezahlten Urlaub
nehmen, ja nirgendwo registriert. Wir haben uns jetzt damit durchgesetzt, dass man diese zehn Tage so flexibel
wie möglich nehmen kann. Was meine ich damit? Man
kann dieses Kontingent tageweise nehmen und es auf
verschiedene Angehörige aufteilen. Es ist ja für die Situation gedacht, dass eine akute Krise auftritt, eine Pflegesituation erstmalig auftritt oder sich eine bestehende
Pflegesituation noch einmal akut verschlechtert. Da ist
es uns wichtig - ich glaube, da haben wir jetzt eine lebensnahe Lösung gefunden -, dass das eben flexibel genutzt werden kann, dass also, wenn meine Mutter krank
wird, ich die ersten zwei Tage übernehme, aber zu meiner Schwester sagen kann: Sollte das noch einmal vorkommen, bist du diejenige, die diese Tage nehmen und
kurz aus dem Job rausgehen muss, um das für unsere
Mutter zu organisieren. - Das ist etwas, was, glaube ich,
in Zukunft ganz viele in Anspruch nehmen werden, weil
es wie das Kinderkrankengeld - das ist ja die Blaupause
für dieses Instrument - gut exekutiert werden kann. Das
Kinderkrankengeld wird sehr gut angenommen. Das
funktioniert wunderbar. Ich glaube, dass sich das auch
übertragen lässt.
({0})
Kolleginnen und Kollegen, wir haben mit diesem
Gesetzentwurf die Pflegebedürftigen, die pflegenden
Angehörigen und auch die Wirtschaft im Blick. Wem die
Verbesserungen für die Pflegebedürftigen und die Angehörigen - das klang vorhin schon einmal an - nicht
Grund genug sind, ein solches Gesetz auf den Weg zu
bringen, dem sei gesagt: Die bessere Vereinbarkeit von
Pflege und Beruf macht auch wirtschaftlich Sinn.
({1})
Das muss kein Widerspruch sein, Kollegin Scharfenberg.
Es ist wirtschaftlich sinnvoll, zum einen volkswirtschaftlich, weil wir ohne die Familien die Pflege in unserem
Land gar nicht bewältigen könnten. 3,5 Millionen Menschen in Deutschland pflegen informell. Müssten wir
diese Angehörigenpflege von jetzt auf sofort durch professionelle soziale Dienstleistungen ersetzen, würde unser Pflegesystem zusammenbrechen. Deshalb ist es auch
volkswirtschaftlich sinnvoll, Beschäftigten die Pflege ihrer Angehörigen zu ermöglichen. Auch betriebswirtschaftlich macht es Sinn; denn nur der Weg über eine
gute Vereinbarkeit von Pflege und Beruf führt zu mehr
Fachkräften.
({2})
Kluge Unternehmenschefs wissen das auch schon.
Kluge Unternehmenschefs wissen, dass sie die Zeitkonflikte ihrer Beschäftigten ernst nehmen und gemeinsam
mit ihnen Lösungen erarbeiten müssen. Ich finde, diesem Beispiel müssen wir folgen, anstatt in alte Denkmuster zurückzufallen und reflexartig von Belastungen
für die Wirtschaft zu sprechen. Moderne Wirtschaftspolitik sucht nach Wegen, wie wir Fachkräfte halten, sichern und gewinnen können. Genau das machen wir
jetzt mit diesem Gesetzentwurf.
({3})
Kolleginnen und Kollegen, schauen wir einmal auf
die guten Erfahrungen beim Elterngeld und beim Kitaausbau. Mit beiden Leistungen haben wir anerkannt,
dass die Vereinbarkeit von Kindern und Beruf kein privates Luxusproblem ist, sondern eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und auch eine wirtschaftliche Notwendigkeit. Das Signal, das vom Elterngeld wie vom
Kitaausbau ausgeht, ist doch: Frauen, kommt nach einem Jahr Babypause wieder zurück in den Beruf, bleibt
nicht dauerhaft zu Hause! - Die Mütter haben das Signal
gehört und ihr Verhalten geändert. Sie haben es verstanden. Immer mehr Frauen kehren früh in den Beruf zurück; immer mehr, mit immer mehr Stunden.
So wird es auch jetzt sein, wenn wir Pflege und Beruf
immer besser in Einklang bringen können. Mit diesem
Gesetzentwurf senden wir auch ein Signal: Gib deinen
Job nicht auf wegen der Pflege der Angehörigen, behalte
deinen Job wenigstens in Teilzeit bei, das ist besser für
deine Gesundheit und übrigens auch für deinen Geldbeutel! - Ich bin sicher, dass auch dieses Signal wieder richtig verstanden wird. Dann wird das neue Gesetz den
Unternehmen nicht weniger, sondern mehr Arbeitskraft
bescheren. Eine weibliche Fachkraft, die wegen der
Pflege ihrer Mutter auf 20 Stunden reduziert, bleibt und
steht dem Arbeitgeber natürlich noch zur Verfügung,
und zwar deutlich mehr, als wenn sie unter dem Spagat
von Pflege und Vollzeit zusammenbricht und den Job
ganz hinschmeißt.
Kolleginnen und Kollegen, wir machen heute einen
weiteren wichtigen Schritt zur besseren Vereinbarkeit
von Pflege und Beruf. Mit dem Gesetzentwurf helfen
wir Frauen und Männern, die ganz viel Verantwortung
tragen. Wir helfen aber auch den Pflegebedürftigen, die
mehrheitlich den Wunsch haben, zu Hause gepflegt zu
werden. Wir tun auch etwas für unsere Unternehmen, indem wir einen wichtigen Beitrag zur Fachkräftesicherung leisten. Wir kommen also einen guten Schritt voran. Das wird aber nicht der letzte Schritt sein. Das
verspreche ich hier; denn Zeitpolitik werden wir weiter
auf der Tagesordnung haben und dann vielleicht mit
noch mehr Zeit, Kollegin Scharfenberg.
Danke für das Zuhören.
({4})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Antje Lezius,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Gesellschaft wird immer älter. Bedingt durch eine gute Gesundheitsversorgung - mit die beste der Welt - verbessert sich dabei auch die Lebensqualität im Alter. Das ist
die gute Nachricht. Der demografische Wandel allerdings bedeutet auch, dass wir auf der anderen Seite immer weniger Kinder bekommen und die Anzahl der Älteren gegenüber den Jüngeren in Zukunft deutlich
zunehmen wird. Das ist eine Tatsache. Was diese Tatsache aber bedenklich macht - und das ist die Kehrseite
der Medaille -: Im Alter treten verstärkt schwere Krankheiten auf, wie zum Beispiel Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Parkinson oder Demenz. Von den heute über 60-Jährigen sind viele chronisch krank oder zumindest
beeinträchtigt. Die Mehrheit der älteren Menschen ist
heute bereits in ärztlicher Behandlung oder auf Pflege
angewiesen. Gerade die Pflege älterer Menschen wird
deswegen schon mittelfristig ein Thema werden, das uns
alle angeht.
Der vorliegende Gesetzentwurf will sich der Schwierigkeiten annehmen, die Arbeitnehmer mit der Vereinbarung ihrer Berufstätigkeit mit der Betreuung von Angehörigen haben. Hierzu schaffen wir einen Rechtsanspruch
auf eine Lohnersatzleistung bei zehntägiger Pflegeauszeit in akuten Pflegesituationen. Darüber hinaus werden
wir einen Rechtsanspruch auf 24 Monate Familienpflegezeit einrichten. Demnach haben pflegende Angehörige
einen Anspruch darauf, ihre zu pflegenden Angehörigen
in gewohnter Umgebung zu betreuen, ohne dafür die Berufstätigkeit ganz aufgeben zu müssen. Sie können weiterhin für wöchentlich 15 Stunden in Teilzeit arbeiten
und erhalten zur besseren Absicherung des Lebensunterhaltes ein zinsloses Darlehen durch das Bundesamt für
Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben. Hierbei
steht allerdings nicht nur der als Existenzgrundlage erworbene Lohn im Vordergrund, sondern auch der sinnstiftende Wert der Arbeit an sich.
Der demografische Wandel wird kommen, und wir
haben jetzt die Möglichkeit, ihn aktiv zu gestalten. Wir
wollen dabei nicht nur die Sozialsysteme zukunftsfest
gestalten, sondern auch das gesellschaftliche Miteinander, also die Art und Weise, wie wir in Zukunft miteinander leben und arbeiten wollen.
({0})
Dazu gehört auch, dass wir alle gemeinsam an einem
Strang ziehen, Politik und Gesellschaft, Jung und Alt,
Männer und Frauen, aber auch Arbeitnehmer und Arbeitgeber.
Im Koalitionsvertrag haben wir gemeinsam festgelegt, dass wir die Rahmenbedingungen für kleine und
mittelständische Unternehmen verbessern wollen. Wir in
der Politik sind uns im Klaren darüber, dass uns die jetzige gute Konjunktur nicht von selbst bis in alle Zeit erhalten bleibt. Weil dies so ist, müssen wir dafür sorgen,
dass der Mittelstand als Motor dieser Volkswirtschaft am
Laufen gehalten wird. Dabei wollen wir nicht nur die
Rahmenbedingungen für Innovationen und Investitionen
verbessern. Uns kommt es auch darauf an, Hilfestellungen anzubieten, wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer
sich mit den immer drängender werdenden Fragen der
Demografie auseinandersetzen müssen.
Wenn jemand von heute auf morgen in eine Pflegesituation kommt, ist das für beide Seiten belastend. Oftmals muss dann sehr kurzfristig eine Lösung her. Dabei
ist es nicht nur von Belang, für das pflegebedürftige Familienmitglied Pflege zu organisieren. Auch derjenige,
der diesen Arbeitnehmer beschäftigt, steht vor zahlreichen Fragen, die im Zusammenhang mit der Freistellung
des Arbeitnehmers für die Pflege zu beantworten sind.
Wir haben den vorliegenden Gesetzentwurf so gestaltet,
dass er einen ausgewogenen Kompromiss zwischen den
berechtigten Anliegen der Arbeitnehmer und auch der
Arbeitgeber darstellt.
({1})
Für beide Seiten wird Rechtssicherheit geschaffen.
Besonders hervorzuheben ist die deutliche Reduzierung des Verwaltungsaufwandes, den die Betriebe durch
die Gewährung des Darlehens an den Arbeitnehmer haben. Wo vormals ein bürokratisches Wertguthaben geführt werden musste, fällt dies nun weg.
Die Union hat sich im Sinne der Ausgewogenheit dafür eingesetzt, dass der Arbeitgeber den Urlaubsanspruch
des Arbeitnehmers für jeden vollen Kalendermonat der
Freistellung von der Arbeit um jeweils ein Zwölftel kürzen kann.
Der absolute Kündigungsschutz wird frühestens zwölf
Wochen vor Antritt der Familienpflegezeit durch den
Arbeitnehmer gelten.
Die Regelung, der zufolge der Rechtsanspruch erst in
Firmen mit mehr als 25 Beschäftigten gilt, ist sinnvoll,
da sie besonders für kleine und mittlere Unternehmen
eine Erleichterung ist.
({2})
Circa 70 Prozent der Arbeitnehmer können, wenn sie
wollen, in Zukunft die Leistungen nach diesem Gesetz in
Anspruch nehmen.
Fraglos positiv zu bewerten ist weiterhin, dass Unternehmen mit der Familienpflegezeit ihre bewährten Fachkräfte behalten können, die in Teilzeit weiterhin für sie
arbeiten. Vor dem Hintergrund meiner Erfahrung als
ehemalige Unternehmerin sehe ich allerdings die Einstellung einer Ersatzarbeitskraft, die den Arbeitsausfall
des Stammarbeitnehmers kompensieren soll, als bedenklich an - etwas, was in der Anhörung durch die beteiligten Experten bestätigt wurde. Viele Unternehmer aus
meinem Wahlkreis, der in einer sehr ländlich geprägten
Region liegt, fragen sich bereits heute, wie sie ohne die
Einschränkungen einer befristeten Stelle Fachkräfte anwerben können. Dazu müssen sie diesen heute etwas
bieten. Der Wettbewerb um gute Köpfe ist oft schon so
hart genug.
Das Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von Familie,
Pflege und Beruf ist gut, weil es zeitgemäß ist und den
Erfordernissen einer Welt im Wandel Rechnung trägt.
({3})
Ich wünsche mir, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer
zukünftig bewusst und verantwortungsvoll mit diesem
Instrument umgehen.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank. - Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Paul Lehrieder, CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren auf
den Tribünen! Heute ist ein guter Tag, ein guter Tag für
die Familien, ein guter Tag, weil wir Hilfe anbieten vorhin in der Debatte über das Kitaausbaugesetz, jetzt
über das Familienpflegegesetz. Ich wollte eigentlich nur
Positives sagen, aber, Frau Scharfenberg, Sie zwingen
mich, auch ein paar kritische Worte anzubringen.
Zu den 38 Minuten Redezeit, die vereinbart worden
ist, hat die Frau Präsidentin das Nötige gesagt. Ich darf
Ihnen noch einmal bestätigen: Jawohl, es ist nicht die
Ministerin, die die Redezeit festlegt, es sind die Parlamentarischen Geschäftsführer. Mir ist nicht bekannt,
dass die Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen
irgendwie an der Redezeit etwas zu mäkeln gehabt hätte.
Fragen Sie Ihre PGF, und dann wissen Sie hierüber Näheres!
Meine Damen und Herren, Sie, die Grünen, haben vor
weniger als zwei Wochen in Hamburg einen Parteitag
abgefeiert, stellten sich danach vor die Presse und sagten: Wir sind die Wirtschaftspartei, wir sind wirtschaftsfreundlich. Nun kommen Sie und fragen und sagen: Was
machen wir hier? Wir sind doch nicht der Wirtschaftsausschuss.
({0})
Ja, da haben Sie recht. Wir sind der Familienausschuss.
Das wissen wir. Aber diese Große Koalition verbindet
beide Seiten, verbindet die Anliegen der Wirtschaft
- Frau Kollegin Lezius hat darauf hingewiesen -, aber
auch die sozialen Belange, die Dinge, die die Menschen
in einer Situation brauchen, in der sie für einen Familienangehörigen Hilfe bieten wollen. Wir schaffen es, dies
zusammenzubringen. Wir stellen uns nicht am Sonntag
hin - in Hamburg - und sagen: „Wir sind die Wirtschaftspartei“, und sagen zehn Tage später hier im Bundestag: Aber um Himmels willen, wirtschaftsfreundlich
dürft ihr nicht sein.
({1})
Wofür stehen die Grünen?
({2})
Frau Scharfenberg, Sie waren in Hamburg dabei. Stellen
Sie mir doch eine Frage, dann habe ich mehr Zeit.
({3})
Meine Damen und Herren, Sie haben ausgeführt, das
Darlehen ist eine Belastung. Frau Scharfenberg, das Darlehen schafft finanzielle Freiräume, weil ein Teil des entfallenden Lohns von staatlicher Seite quasi vorfinanziert
wird. Das gibt die Möglichkeit, in der Pflegesituation
den Lebensstandard zu halten, dann deutlich weniger zu
arbeiten - 50 Prozent arbeiten, 75 Prozent Gehalt.
({4})
Natürlich muss diese „Vorfinanzierung“ irgendwann,
wenn die wirtschaftliche Situation - - Stellen Sie mir
doch endlich einmal eine Frage, Frau Scharfenberg!
({5})
- Schade.
Mehr Zeit und Hilfe, um helfen zu können, das ist
kurz zusammengefasst, wie bereits ausgeführt, das Ergebnis der monatelangen Verhandlungen über den von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege
und Beruf. Wir haben es uns nicht leicht gemacht, Frau
Ministerin. Wir haben viele nächtliche Stunden, Frau
Ferner, miteinander verhandelt, bis wir die Positionen so
weit zusammengebracht haben, dass dieses Gesetz die
Form gewinnen konnte, die es heute hat.
Im Falle eines plötzlich eintretenden Pflegefalls ist
für berufstätige Familienangehörige der Spagat zwischen Haushalt, Familie und der Organisation der Pflege
kaum zu bewältigen, es sei denn, sie treten im Job kürzer
oder steigen für eine befristete Zeit aus dem Berufsleben
aus.
Frau Kollegin Zimmermann, nachdem Sie ausgeführt
haben, bei der Festlegung auf Betriebe mit 15 Beschäftigten seien nur 5 Millionen davon nicht betroffen gewesen, jetzt durch die Erhöhung der Grenze auf 25 Beschäftigte 7 Millionen, darf ich Ihnen bestätigen: Die
Erhöhung auf 25 haben wir nicht einfach aus der Luft
gegriffen. Wir haben diskutiert, wie es mit dem Handwerksbetrieb, dem Bäckermeister, der mehrere Verkaufsfilialen hat, ist.
({6})
- Die Frau Zimmermann möchte mir eine Frage stellen,
Frau Präsidentin.
({7})
Danke, Herr Kollege Lehrieder. Ich hatte das schon
gesehen.
Darüber bin ich sehr froh.
({0})
Deswegen frage ich Sie jetzt. Sie würden natürlich Ja
sagen. - Bitte schön, Frau Kollegin Zimmermann.
Vielen Dank. - Da habe ich doch noch einmal eine
Frage. Denn natürlich ist es für kleine Betriebe schwierig, dann für eine solche Situation aufzukommen. Aber
dennoch ist es doch so: Sie lassen erst einmal über
7 Millionen Menschen ziemlich allein mit ihren Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern. Aber Sie könnten das
Ganze doch auch, wie das zum Beispiel beim Mutterschutz oder auch im Krankheitsfall organisiert ist, durch
eine Umlagefinanzierung, die sich dort U 1 und U 2
nennt, gesetzlich regeln. Warum machen Sie das hier
denn nicht genauso wie in den anderen Fällen? Warum
überlassen Sie das den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die doch in so hoher Zahl darauf warten, weil
sie für diese wichtige Aufgabe und zur Vereinbarkeit von
Familie, Pflege und Beruf darauf angewiesen sind?
Frau Kollegin Zimmermann, ich muss jetzt das wiederholen, was ich schon in der ersten Lesung zu Ihrer
Aufklärung und Erhellung versucht habe beizutragen. Es
ist leider nicht auf fruchtbaren Boden gefallen.
({0})
In einem Unternehmen mit 1 bis 25 Beschäftigten
kennt der Chef in aller Regel seine Mitarbeiter, viele mit
Vornamen.
({1})
Da ist es leichter möglich, eine Lösung zu finden, die auf
die Belange des Unternehmens ganz anders zugeschnitten ist. Da gibt es vielleicht ganz wenige auf dieser speziellen Stelle sitzende Fachkräfte, die schwer zu ersetzen
sind, wo man vielleicht mit dem Kollegen reden muss,
ob er ein paar Überstunden machen kann. Bei 1 bis
25 Beschäftigten ist es leichter, hier geschwind eine betriebsinterne Regelung zu finden, als in größeren Unternehmen, wo natürlich der Rechtsanspruch entsprechend
eingeführt werden muss.
({2})
Noch einmal: Wir haben 43 Millionen sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse - bleiben Sie
bitte stehen, Frau Kollegin; ich bin noch nicht fertig - in
Deutschland.
({3})
Das heißt: Auch wenn 7 Millionen Beschäftigte keinen
Anspruch haben, so bleiben immerhin noch 36 Millionen Beschäftigte, die davon profitieren. Nach Adam
Riese profitieren über 80 Prozent der Beschäftigten von
dem Rechtsanspruch, Frau Kollegin Zimmermann. Die
verbleibenden rund 17 Prozent werden in den Verhandlungen mit den Arbeitgebern schon jetzt vernünftig berücksichtigt und werden auch in Zukunft berücksichtigt.
Wir haben ein anderes Verständnis von der Arbeitswelt als die Linkspartei. Wir haben nicht nur Klassenkampfbegriffe im Kopf und sagen: Hier der böse Arbeitgeber, da der gute Arbeitnehmer.
({4})
Beide können miteinander reden, und das tun sie in den
kleinen Handwerksbetrieben in der Regel auch.
({5})
Ich wäre jetzt mit der Beantwortung der Frage fertig,
Frau Präsidentin.
({6})
Zwar konnten Berufstätige schon bisher eine Auszeit
von bis zu zehn Tagen nehmen, wenn sie Angehörige
kurzfristig selbst pflegen oder Hilfe organisieren müssen,
({7})
auf ihr Gehalt mussten sie währenddessen aber verzichten - bis jetzt.
Mit dem vorliegenden Gesetz möchten wir, dass sich
Pflegende ab dem 1. Januar 2015 voll und ganz auf das
Organisatorische konzentrieren können, ohne sich dabei
Sorgen um den Lohnausfall machen zu müssen.
({8})
Wir werden den schon bestehenden Rechtsanspruch auf
eine zehntägige Pflegeauszeit - die gilt im Übrigen, Frau
Zimmermann, für alle, auch für die Betriebe mit bis zu
25 Beschäftigten; nur zu Ihrer Information ({9})
bei akut auftretender Pflegesituation eines nahen Angehörigen mit einer Lohnersatzleistung analog zum Kinderkrankengeld ausgestalten.
({10})
Die kurzfristige Auszeit im akuten Pflegefall eines nahen Angehörigen wird also genauso behandelt, als ob
berufstätige Eltern sich bis zu zehn Tage um ihr krankes
Kind kümmern. Frau Kollegin Reimann hat schon darauf hingewiesen.
Beschäftigte haben damit ab Anfang nächsten Jahres
einen Rechtsanspruch auf Pflegeunterstützungsgeld. Dabei handelt es sich um eine Lohnersatzleistung für eine
bis zu zehntägige Auszeit, die Beschäftigte kurzfristig
für die Organisation einer akut aufgetretenen Pflegesituation eines nahen Angehörigen in Anspruch nehmen
können. Die hierfür erforderlichen Mittel im Umfang
von geschätzt 100 Millionen Euro werden von der Pflegeversicherung getragen. Der Beitragssatz in der gesetzlichen Pflegeversicherung steigt ab 1. Januar 2015 um
0,3 Prozentpunkte auf 2,35 Prozent des Bruttogehaltes.
Die Weiterentwicklung der Familienpflegezeit verbessert dann die Situation für jene, die ihre Angehörigen
in häuslicher Umgebung pflegen wollen, entscheidend.
Mit dem heute in zweiter und dritter Lesung beratenen
Gesetzentwurf zur besseren Vereinbarkeit von Familie,
Pflege und Beruf kommen wir dem im Koalitionsvertrag
verankerten Ziel der Vereinbarkeit von Pflege und Berufsleben nach. Unser wichtigstes Ziel ist dabei, die
Wertschätzung der familiären Pflege zu verbessern und
diese Leistung insgesamt besser abzusichern. Ich spreche an dieser Stelle bewusst von Leistung; denn dem,
was die Pflegenden Tag für Tag leisten, gebührt allerhöchste Anerkennung, meine sehr verehrten Damen und
Herren.
({11})
Frau Präsidentin, da muss ein Fehler an der Uhr sein;
demzufolge sei meine Redezeit schon abgelaufen.
({12})
Sehr geehrte Damen und Herren, wir haben es uns mit
diesem Gesetz nicht leicht gemacht. Wir haben nach langem Ringen eine richtige, eine gute Lösung für die Familien gefunden. Ich bedanke mich bei allen, die konstruktiv mitgearbeitet haben.
Liebe Grüne, noch habt ihr die Chance, zuzustimmen.
Überlegt es euch noch einmal! Bei den Linken habe ich
die Hoffnung aufgegeben.
({13})
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit und einen
schönen Tag noch.
({14})
Vielen Dank, Herr Kollege Lehrieder. Sie dürfen sich
bei Ihren Kolleginnen bedanken, die Ihnen etwas Zeit reserviert hatten. Sie hatten also zu Recht eine halbe Minute mehr Redezeit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die
Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur besseren
Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf. Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/
3449, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf
Drucksachen 18/3124 und 18/3157 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Bündnis 90/
Die Grünen und Fraktion Die Linke angenommen.
({0})
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben.
- Wer ist dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der
Gesetzentwurf in dritter Lesung mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition
angenommen.
Abstimmung über den Entschließungsantrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/3454. Wer stimmt
für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dage-
gen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist mit den Stim-
men der Fraktionen von CDU/CSU und SPD gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 c sowie
Zusatzpunkt 5 auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Matthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
({1}), Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Statt Rente erst ab 67 - Altersgerechte Über-
gänge in die Rente für alle Versicherten er-
leichtern
Drucksache 18/3312
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die gesetzliche Rentenversicherung, insbesondere über
die Entwicklung der Einnahmen und Ausgaben, der Nachhaltigkeitsrücklage sowie des
jeweils erforderlichen Beitragssatzes in den
künftigen 15 Kalenderjahren
({2})
Drucksache 18/3260
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({3})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Zweiter Bericht der Bundesregierung gemäß
§ 154 Absatz 4 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch zur Anhebung der Regelaltersgrenze
auf 67 Jahre
Drucksache 18/3261 ({4})
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({5})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ZP 5 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die gesetzliche Rentenversicherung, insbesondere über
die Entwicklung der Einnahmen und Ausgaben, der Nachhaltigkeitsrücklage sowie des
jeweils erforderlichen Beitragssatzes in den
künftigen 15 Kalenderjahren
({6})
Drucksache 18/3260
hier: Gutachten des Sozialbeirats zum Rentenversicherungsbericht 2014
Drucksache 18/3387
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({7})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
Ich bitte jetzt die Kolleginnen und Kollegen, die dem
nächsten Tagesordnungspunkt im Plenum folgen wollen,
Platz zu nehmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch.
({8})
- Nur, damit die Regierung nicht wieder verantwortlich
gemacht wird. - Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Matthias W. Birkwald, Fraktion Die Linke.
({9})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Die Bundesregierung hat ihren Rentenversicherungsbericht und den Bericht zur Rente erst ab 67 vorgelegt, und die Reaktionen waren verheerend.
({0})
Die Süddeutsche Zeitung schrieb am 15. November
2014: „Riestern funktioniert oft nicht“. - Und Norbert
Blüm hat vorgestern in der Saarbrücker Zeitung die
Riester-Rente als den größten Irrweg in der jüngsten Geschichte der Rentenversicherung bezeichnet. Recht hat
er.
({1})
Aber: Lassen wir es dabei. Für heute! Kommen wir
zur Rente erst ab 67. Da haben Sie in Ihrem Rentenbericht wieder einmal schön die ollen Kamellen herausgeholt: Mehr Ältere würden länger arbeiten, also sei alles
okay. Nichts ist okay. Aber Union und SPD halten sich
die Augen zu und an der Rente erst ab 67 fest, und das ist
schlecht.
({2})
Frau Staatssekretärin, ich erinnere Sie wieder einmal
höflich an den Beschluss des SPD-Parteikonvents von
2012. Ich darf zitieren:
Die Anhebung des Renteneintrittsalters ist erst dann
möglich, wenn die … 60- bis 64-jährigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mindestens zu
50 Prozent sozialversicherungspflichtig beschäftigt
sind.
Im Dezember 2013 waren es aber gerade einmal 33 Prozent, und im Alter von 64, also kurz vor der Rente, haben nur 16 Prozent einen sozialversicherungspflichtigen
Job, und nur mickrige 11 Prozent arbeiten in Vollzeit.
Das ist die traurige Wahrheit. Liebe Kolleginnen und
Kollegen von der SPD, Sie verstoßen nicht nur klar gegen Ihre eigenen Beschlüsse, sondern Sie verkaufen die
Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt auch noch als Erfolg
pur.
({3})
Damit verkaufen Sie die älteren Beschäftigten für blöd.
Die Beschäftigten sind aber nicht blöd, meine Damen
und Herren.
({4})
Sie wissen nämlich ganz genau: Ein Drittel Ältere mit
Job, das heißt umgekehrt, fast sieben von zehn Beschäftigten im Alter von 60 bis 64 sind nicht sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Und warum? Na ja, weil eine
Krankenschwester im Durchschnitt mit 60 aus ihrem Job
gehen muss, weil ein Bauarbeiter im Durchschnitt
57,5 Jahre alt ist, wenn er nicht mehr arbeiten kann. Die
beiden können aber auch nicht in die Rente ab 63 gehen,
weil sie noch keine 63 sind und weil sie natürlich auch
die 45 Jahre Wartezeit noch nicht geschafft haben.
Die Älteren werden aber auch von den Arbeitgebern
komplett alleingelassen. Ich bitte Sie: Schauen Sie doch
einmal in Ihren eigenen Bericht. Da steht auf Seite 57:
Nur 18 Prozent der Betriebe bieten überhaupt irgendeine
Maßnahme für Ältere an, die meisten übrigens Altersteilzeit. Aber Gesundheitsförderung für Ältere, altersgerechte Arbeitsplatzgestaltung, Weiterbildung für Ältere das alles gibt es nur in sehr, sehr wenigen Betrieben.
Wann fangen Sie endlich damit an, die Arbeitgeber
und Arbeitgeberinnen in die Pflicht zu nehmen? Die
schreien doch am lautesten: „Fachkräftemangel“, „Arbeiten bis 70“, „Rente nicht mehr bezahlbar“. Warum
hauen Sie nicht einmal auf den Tisch und sagen: „So, ab
dem nächsten Jahr führen wir Quoten für Ältere ein! Ab
dem nächsten Jahr wird Weiterbildung Pflicht! Ab dem
nächsten Jahr werden altersgerechte Arbeitsplätze Standard!“?
Meine Damen und Herren von der Großen Koalition,
was bieten Sie denn den Beschäftigten an?
({5})
Nichts! Ich zitiere die Frankfurter Allgemeine Zeitung:
„Die Koalition macht die Rente mit 70 attraktiver“.
({6})
So hat die FAZ über Ihre Koalitionsarbeitsgruppe berichtet,
({7})
und das ist nicht einmal gelogen. Genau darum geht es
dort.
Sie diskutieren jetzt darüber, den Arbeitgebern Sozialversicherungsbeiträge zu erlassen, wenn die Beschäftigten weiter arbeiten, statt „nur“ in Rente zu gehen.
({8})
Liebe Koalition, lassen Sie die Finger davon!
({9})
Der Sozialbeirat, das oberste Beratungsgremium in
allen Rentenfragen, sieht das in seinem aktuellen Gutachten genauso: Arbeiten nach der Regelarbeitsgrenze
werde schon heute mit Zuschlägen belohnt. - Und Hinzuverdienstgrenzen gibt es für Rentnerinnen und Rentner ab 65 auch keine mehr. Wenn wir Rentnerarbeit noch
attraktiver, also für die Arbeitgeber billiger machen das heißt das bei Ihnen ja immer, Herr Kollege
Linnemann -, dann verdrängen wir die Jüngeren
({10})
und es werden erst recht keine Älteren mehr eingestellt.
Deshalb sage ich Ihnen: Wir dürfen die Grenze zwischen
Erwerbsarbeit und Ruhestand nicht weiter auflösen.
({11})
Die Enkel wollen wissen, wann Opa mehr Zeit für sie
hat und wann Oma nicht mehr putzen geht, sondern sie
vielleicht in den Kindergarten bringt. Opa und Oma wollen endlich ihren kaputten Rücken auskurieren. Sie wollen sich um ihr Ehrenamt kümmern, und, ja, sie wollen
vielleicht auch einmal eine Kreuzfahrt machen.
({12})
Deshalb haben wir unseren Antrag vorgelegt.
Wir Linken wollen nicht den arbeitenden Rentner
oder die arbeitende Rentnerin zum neuen Leitbild machen, wie viele in der Union. Wir wollen gute Arbeit bis
zur Rente, und zwar ohne Megastress
({13})
und das Ganze mit alters- und alternsgerechten Arbeitsplätzen. Wenn Arbeitgeber Ältere entlassen, dann sollen
sie die Kosten dafür tragen.
Liebe Koalition, nehmen Sie die Rente erst ab 67 zurück;
({14})
denn mit 65 hat man sich zum Beispiel als Fliesenleger
oder als Altenpflegerin den Ruhestand hart verdient. Wer
krank ist, dem darf auch die Erwerbsminderungsrente
nicht mehr verwehrt werden.
Wir sagen aber auch: Nicht 45 Jahre arbeiten, sondern
40 Jahre sind genug. Nach 40 Jahren Arbeit soll man ab
60 in Rente gehen können.
({15})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, fragen Sie in Ihren
Wahlkreisen nach: 40 Jahre Arbeit sind genug. Spätestens ab 65 muss Schluss sein!
Herzlichen Dank.
({16})
- Nein.
Vielen Dank. - Für die CDU/CSU-Fraktion spricht
jetzt der Kollege Karl Schiewerling.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Zu diesem Tagesordnungspunkt gehört auch die Diskussion über den Rentenversicherungsbericht der Bundesregierung. Dieser Rentenversicherungsbericht gibt in einigen Punkten Anlass, mit
dem, was sich in der Rentenpolitik entwickelt, sehr zufrieden zu sein.
({0})
Ich will diese Gelegenheit gerne nutzen, daran zu erinnern, dass wir in dieser Woche das 125-jährige Bestehen der Deutschen Rentenversicherung feiern. Dieses
Jubiläum sollte uns in dieser Diskussion nicht gleichgültig sein; denn diese Rentenversicherung steht seit
125 Jahren für eine gute und stabile Form der Sozialpolitik in Deutschland.
({1})
Darauf können wir miteinander stolz sein.
Allerdings hat diese Rentenversicherung in ihrer Geschichte Höhen und Tiefen erlebt und ständige Verwandlungen, Wandlungen und neue Anpassungen durchmachen müssen. Diese Anpassungen haben sich immer
durch äußere Umstände ergeben.
Das, was die Rentenversicherung heute beschäftigt
und in Zukunft beschäftigen wird, sind aktuelle demografische Entwicklungen. Vor der Demografie, meine
Damen und Herren, sind alle Alterssicherungssysteme
- ob umlagefinanziert oder kapitalfinanziert - gleich. Sie
alle stehen vor derselben Frage: Wie können wir die Alterssicherung für Millionen von Menschen auf Dauer gesehen stabil gestalten?
Die Union hat immer darauf Wert gelegt, dass die
Rentenversicherung, die umlagefinanzierte Rente, der
Kern der Alterssicherung ist, aber dabei betont, dass es
auch auf private Alterssicherung und auf betriebliche Alterssicherung ankommt. Deswegen werden wir im kommenden Jahr über beide Formen miteinander zu reden
haben. Auch die Säule der betrieblichen Alterssicherung
muss deutlich gestärkt werden; wir müssen sehen, wie
wir das unterstützen können.
({2})
All denjenigen, die uns permanent sagen, wie schlecht es
um die Rente stehe, will ich sagen: Wir haben eine Rücklage von 33,5 Milliarden Euro.
({3})
Noch vor zehn Jahren wurde uns prognostiziert, der
Rentenversicherungsbeitrag würde bei 19,5 Prozent liegen. Tatsächlich liegt er bei 18,9 Prozent, und hätten wir
ihn in diesem Jahr tatsächlich abgesenkt, wie es nach ursprünglichen Planungen passiert wäre, läge er jetzt bei
18,3 Prozent.
({4})
Das zeigt, dass sich die Rentenpolitik insgesamt in einer
guten Verfassung befindet. Unsere Aufgabe besteht nun
darin, dafür zu sorgen, dass das so bleibt. Von uns hat
keiner ein Interesse daran, dass das Rentenniveau durchknallt unter 43 Prozent oder gar auf 42 Prozent.
({5})
Wir haben kein Interesse daran, sondern wollen alles
tun, dass das Rentenniveau höher bleibt. Das wird eine
der großen Herausforderungen sein, vor denen wir miteinander stehen.
({6})
Völlig zu Recht, meine Damen und Herren, haben
unser Kollege Carsten Linnemann und unsere Kollegin Jana Schimke immer wieder darauf hingewiesen,
dass - anders als Sie, Herr Kollege Birkwald, das dargestellt haben - unter dem Eindruck der Demografie
die Menschen auch in der Lage sein müssen, länger zu
arbeiten, wenn sie es denn wollen.
({7})
Wir müssen die Rahmenbedingungen so setzen, dass jeder, der über das Renteneintrittsalter hinaus arbeiten
will, auch die Möglichkeit dazu erhält.
({8})
Die Grundlage dazu haben wir mit der Verabschiedung des Rentenpakets gelegt, als wir uns auf einige Fragen verständigt haben. Die weiteren Punkte diskutieren
wir gerade in der Koalitionsarbeitsrunde. Ich sage Ihnen:
Anders, als manche dies bewerten, laufen die Gespräche
gut. Sie laufen konstruktiv und sie laufen gründlich, weil
unser Interesse darin besteht, etwas zu schaffen, von
dem die Menschen hinterher etwas haben, und das eigentliche Ziel erreicht wird: dass die Menschen nicht so
früh wie möglich in Rente gehen - wie das die Absicht
der Linken ist -, sondern so lange wie möglich im Erwerb bleiben können,
({9})
weil dies eine der zentralsten Voraussetzungen dafür ist,
dass wir das Rentensystem stabil halten.
({10})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Stabilität
der Renten hängt nicht nur von der demografischen Entwicklung, sondern auch von der Prosperität der Wirtschaft
ab. Dass es uns heute gutgeht, hängt damit zusammen,
dass wir 42 Millionen Beschäftigte haben und davon über
30 Millionen sozialversicherungspflichtig beschäftigt
sind. Hätten wir diese Rahmenbedingungen nicht, würde
es um die Rente völlig anders stehen und wir hätten manche Diskussion, die wir auch im Frühjahr dieses Jahres
miteinander geführt haben, anders geführt. Das bedeutet:
Wenn wir die Rente stabil halten wollen, müssen wir die
Wirtschaft stabil halten. Wenn wir die Rente stabil halten
wollen, dann müssen wir dafür sorgen, dass Menschen
auch so erwerbstätig werden können, dass sie für die zukünftigen Generationen mitsorgen, dann müssen wir alles
tun, dass die, die noch länger arbeiten können, auch die
Möglichkeit dazu erhalten, ohne dazu gezwungen zu werden.
Meine Damen und Herren, ich glaube, dass wir in der
Koalition in dieser Frage auf einem guten Weg sind. Der
Wille der Union ist es, dieses Rentensystem stabil zu
halten. Hieran sei dann auch erinnert in der 125-jährigen
Geschichte der Deutschen Rentenversicherung: Die entscheidenden Weichen zu einer neuen Rentenversicherung sind 1957 von der CDU unter Konrad Adenauer gestellt worden. Sie sind gestellt worden, als es darum
ging, dass in Zukunft die Menschen angstfrei im Alter
leben können sollten.
({11})
Daran werden wir arbeiten, und dafür werden wir alles
tun.
Herzlichen Dank.
({12})
Vielen Dank. - Markus Kurth ist der nächste Redner
für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber
Matthias Birkwald, man möchte dir die alte Indianerweisheit zurufen: Wenn du merkst, dass das Pferd, welches du reitest, tot ist, dann steige ab! - Die Abschaffung
der Rente mit 67, die Anhebung der Regelaltersgrenze beides ist ein totes Pferd.
Es ist so, dass jemand, der gesund ist und bis zu seinem 67. Lebensjahr arbeiten kann, nicht einem, wie Sie
es sagen, gigantischen Rentenkürzungsprogramm unterliegt, sondern diese Person erwirbt durch zwei zusätzliche Jahre zusätzliche Rentenansprüche. Sie zahlt Beiträge und bezieht deshalb eine höhere Rente. Das ist die
Wahrheit.
({0})
Ich bin natürlich nicht naiv. Ich weiß, dass es viele
Menschen gibt, die eben nicht bis 67 arbeiten können.
({1})
Die Antwort darauf kann aber doch nicht die Abschaffung der höheren Regelaltersgrenze sein. Vielmehr müssen wir uns Gedanken darüber machen, wie wir Menschen dabei unterstützen können, diese zu erreichen, und
was wir für Personen, die krank sind und das deshalb
nicht schaffen, tun können, damit sie früher in den Ruhestand gehen können. Wir brauchen also eine individuelle
und altersgerechte Anpassung.
({2})
Herr Kollege Kurth, gestatten Sie - Nein.
Hierzu gibt es drei Möglichkeiten.
Erstens. Eine menschengerechte, humane Arbeitswelt. Allein darüber könnten wir einen ganzen Vormittag
lang debattieren. Ich will nur einen Punkt nennen, nämlich die Anti-Stress-Verordnung. Wer Ja sagt zur Rente
mit 67, der muss auch Ja sagen zu einer Anti-Stress-Verordnung.
({0})
Sie schimpfen da immer über Kosten und Bürokratie.
Ich sage Ihnen einmal, was Kosten sind: Jedes Jahr fallen zig Milliarden Euro Kosten an für die Behandlung
psychischer Erkrankungen. Hinzu kommen zig Milliarden Euro Kosten für den Arbeitsstundenausfall. Geben
Sie, meine Kollegen von der Union, endlich Ihren Widerstand gegen die Anti-Stress-Verordnung auf!
({1})
Zweitens. Eine verbesserte Erwerbsminderungsrente
ist natürlich auch erforderlich. Wir müssen denjenigen,
die nachweislich aus gesundheitlichen Gründen nicht
mehr arbeiten können, eine Garantie bieten, dass sie eine
armutsfeste Erwerbsminderungsrente erhalten. Hierzu
reicht das, was Sie mit dem Rentenpaket auf den Weg
gebracht haben, schlichtweg nicht aus.
({2})
Drittens bleibt natürlich die Frage: Was ist mit denjenigen, die zu gesund sind für die Erwerbsminderungsrente, die gleichwohl nicht mehr das Leistungsvermögen
haben, um noch mit voller Kraft bis 67 arbeiten zu können? Das ist noch eine offene Baustelle, die wir angehen
müssen. Ich will einmal skizzieren, wie ein möglicher
Lösungsweg aussehen könnte, und zwar am Beispiel von
Frau Klein aus Dortmund.
Frau Klein arbeitet in einem Dortmunder Logistikzentrum im Büro. Sie wird dieser Tage 60 Jahre alt. In
letzter Zeit hat sie einige Bandscheibenvorfälle gehabt.
Zudem ist sie privat und beruflich psychisch belastet.
Kurzum: Wenn Frau Klein so weitermacht wie bisher,
wird sie ihren Arbeitsplatz verlieren. Dann folgen
Arbeitslosengeld I, Arbeitslosengeld II, Zwangsverren6960
tung, Grundsicherung und, weil das Risiko, krank zu
werden, bei Arbeitslosigkeit erhöht ist, wahrscheinlich
noch Behandlungskosten für die gesetzliche Krankenversicherung.
Frau Klein könnte aber bis 67 weiter arbeiten, wenn
sie ihre Arbeitszeit auf drei Tage in der Woche reduziert
und eine Teilrente in Anspruch nimmt.
({3})
Dazu wird sie aber wahrscheinlich sagen, dass sie sich
die Abschläge nicht leisten kann. Richtig. Wenn man
aber die Kosten, die bei Arbeitslosigkeit entstünden,
zum Teil nähme, um die Abschläge wieder auszugleichen, dann wäre das kein Nullsummenspiel, sondern
eine Win-win-Situation, sowohl für Frau Klein als auch
für die öffentlichen Kassen. In diese Richtung müssten
Sie Gedanken entwickeln.
({4})
Das haben Sie aber durch Ihr Rentenpaket unmöglich
gemacht. Ihr Rentenpaket hat doch nichts anderes hinterlassen als verbrannte Erde. Es ist überhaupt keine vernünftige rationale Diskussion über menschengerechte
Altersübergänge möglich.
({5})
- Natürlich. - Sie haben den bitteren Beifang der
sogenannten Koalitionsarbeitsgruppe „Flexi-Rente“ gemacht. Sie wissen genauso gut wie ich, dass diese Arbeitsgruppe nicht dazu dient, sachgerechte Lösungen zu
erarbeiten. Vielmehr ist das eine Schmerztherapie des
Wirtschaftsflügels der Union,
({6})
und zwar keine Schmerztherapie, um der SPD Schmerzen zuzufügen - das vielleicht aber auch, gut -, sondern
vor allen Dingen eine Therapie, um ihren Phantomschmerz zu lindern, weil sie der Rente mit 63 fast geschlossen zugestimmt haben. Dazu dient diese Koalitionsarbeitsgruppe.
Meine Damen und Herren, Bündnis 90/Die Grünen
wollen jedem Menschen individuell zugeschnittene, gute
Übergänge in den Ruhestand ermöglichen, aber eben
keine gigantische Rentenkürzung oder Altersarmut. Wir
wollen eine volkswirtschaftlich insgesamt vernünftige
Betrachtungsweise. Wir wollen vor allen Dingen auch
dadurch Nachhaltigkeit im Arbeitsleben und im Ruhestand erzielen.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Dr. Martin
Rosemann, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Markus Kurth, für den ersten Teil Ihrer Rede
hätte ich Ihnen beinahe das Beitrittsformular der SPD
ausgehändigt.
({0})
Aber zum zweiten Teil muss ich sagen: Wir können uns
in der Sache auseinandersetzen, aber Begriffe wie „verbrannte Erde“ in diesem Zusammenhang gehen nicht.
({1})
Meine Damen und Herren, der Rentenversicherungsbericht der Bundesregierung zeigt: Aktuell steht die
Rentenversicherung gut da. Dank der positiven Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt haben wir die höchste Rücklage, die es überhaupt jemals gab. Das versetzt uns in die
Lage, eine Beitragssatzsenkung vorzunehmen, und das
tun wir auch.
Gleichermaßen gilt: Wenn wir im Durchschnitt immer
älter werden, müssen wir im Durchschnitt auch länger
im Erwerbsleben bleiben. Das ist wichtig für die dauerhafte Sicherung unseres Rentensystems. Das ist aber genauso wichtig für die Sicherung unseres Wohlstands in
einer Gesellschaft, in der die Zahl der Menschen im erwerbstätigen Alter stärker sinken wird als die Gesamtbevölkerung. Deshalb muss das tatsächliche Renteneintrittsalter in Deutschland steigen. Deshalb haben wir in
der Vergangenheit Angebote zur Frühverrentung abgeschafft. Deshalb wird auch die Regelaltersgrenze in der
gesetzlichen Rentenversicherung bis zum Jahr 2029 auf
67 Jahre steigen.
Herr Birkwald, wenn Sie so tun, als läge das Renteneintrittsalter schon heute bei 67 Jahren ({2})
- Sie tun so, genauso stellen Sie die Realität hier dar -,
dann will ich Ihnen sagen: Im Moment liegt das Renteneintrittsalter bei gerade 65 Jahren und drei Monaten.
({3})
Entscheidend für die Beurteilung des Erfolgs dieser
Politik ist die Erwerbsbeteiligung von älteren Menschen.
Ich finde, wir sind dabei auf gutem Weg. Die Erwerbstätigenquote der 55- bis 64-Jährigen ist seit 2010
um 26 Prozentpunkte gestiegen, stärker als in allen anderen europäischen Ländern. Ein Blick auf die Gruppe
der 60- bis 64-Jährigen zeigt eine Zunahme um 30 Prozentpunkte,
({4})
mehr als in allen anderen Altersgruppen. 50 Prozent der
60- bis 64-Jährigen sind erwerbstätig, und etwa ein Drittel dieser Altersgruppe ist sogar sozialversicherungspflichtig beschäftigt.
({5})
Auch die Beteiligung an Weiterbildungen ist bei Älteren
deutlich gestiegen.
Diesen Erfolg wollen wir durch alters- und alternsgerechte Arbeitsbedingungen und durch noch mehr Einsatz
bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik für Ältere fortsetzen.
Der begonnene Paradigmenwechsel in diesem Bereich
muss fortgesetzt werden.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, eines geht nicht, nämlich die Rückkehr in die Frühverrentungslogik der 80er- und 90er-Jahre, wie Sie uns das in
Anträgen immer wieder vorschlagen. Wir brauchen vielmehr bedarfsgerechte Antworten, Antworten, mit denen
auf die unterschiedlichen Lebensläufe eingegangen
wird; denn immer noch schaffen es zu wenige Menschen
bis zur gesetzlichen Altersgrenze.
Deshalb haben wir das Rentenzugangsalter für besonders langjährig Versicherte vorgezogen, was vor allem
den Menschen hilft, die sehr früh ins Arbeitsleben eingestiegen sind und in der Regel lange körperlich sehr hart
gearbeitet haben. Deshalb haben wir mit unserem Rentenpaket Verbesserungen bei der Erwerbsminderungsrente vorgenommen.
Deshalb haben wir auch die Arbeitsgruppe „Flexible
Übergänge in den Ruhestand“ eingesetzt. Uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten geht es in dieser Arbeitsgruppe vor allem darum, das insgesamt in den rentennahen Jahrgängen geleistete Arbeitsvolumen durch
flexible Ausstiegsmöglichkeiten zu erhöhen.
({7})
Das dient nämlich nicht nur der Fachkräftesicherung,
sondern das führt auch zu mehr Einkommen für die älteren Menschen, und es führt damit auch zu mehr Rentenanwartschaften.
Hierfür wollen wir die Teilrente flexibler und attraktiver machen und die Hinzuverdienstmöglichkeiten verbessern. Wir sind auch offen dafür, die Teilrente bereits
vor dem 63. Lebensjahr zu ermöglichen, wenn die Vorfinanzierungskosten im Rahmen tariflicher Lösungen
übernommen werden und insgesamt damit Modelle geschaffen werden, die einen längeren Verbleib im Erwerbsleben gewährleisten.
Wir brauchen darüber hinaus Lösungen des flexiblen
Übergangs vor allem für diejenigen Beschäftigten, die
gesundheitlich eingeschränkt sind, also für diejenigen,
die zu krank für die Vollzeiterwerbstätigkeit, aber zu gesund für die Erwerbsminderungsrente sind.
({8})
Dieser Personengruppe wollen wir mit dem Arbeitssicherungsgeld die Möglichkeit geben, ihre bisherige Tätigkeit zumindest in Teilzeit fortzusetzen. Die Idee ist,
dass das Arbeitssicherungsgeld als Leistung der Bundesagentur für Arbeit den Lohnverlust durch die Teilzeitarbeit zumindest teilweise ausgleicht. Damit könnten wir
Arbeitslosigkeit verhindern und eine wirkungsvolle Brücke in den Ruhestand bauen.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unser Ziel als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist es, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei guter Gesundheit
möglichst lange im Erwerbsleben zu halten. Unsere Botschaft ist: Genauso wenig, wie wir auf gut ausgebildeten
Nachwuchs verzichten können, kann unsere Wirtschaft
auf die Erfahrung und das Wissen älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verzichten.
({10})
Vielen Dank. - Das Wort hat jetzt Peter Weiß, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Für die im parlamentarischen Raum, aber
auch in der Öffentlichkeit aktiven Miesmacher und
Schlechtredner in Sachen Rente ist leider eine schlechte
Zeit angebrochen,
({0})
und zwar aus folgendem Grund: Als wir das Rentenpaket der Großen Koalition beschlossen haben, das seit
dem 1. Juli in Kraft ist, ist uns prophezeit worden, nun
werde es mit den Rentenfinanzen rapide abwärtsgehen.
Das Gegenteil ist der Fall. Die Einnahmeentwicklung
der gesetzlichen Rentenversicherung in diesem Jahr war
so gut, dass wir nach den gesetzlichen Vorgaben zum
1. Januar 2015 sogar eine Senkung des Rentenversicherungsbeitrags von 18,9 auf 18,7 Prozent vornehmen
müssen. Um es kurz und knapp zu sagen: Alle Negativ6962
Peter Weiß ({1})
voraussagen haben sich als falsch erwiesen. Die Rente
steht besser da denn je. Das ist das Ergebnis.
({2})
Die Senkung des Rentenversicherungsbeitrages ist
auch deswegen richtig, weil wir wissen, dass die Wachstumsprognosen für das kommende Jahr etwas bescheidener ausfallen, als man es ursprünglich gedacht hat. Deswegen ist eine finanzielle Entlastung der Arbeitgeber
wie der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ein zusätzlicher Wachstumsimpuls, und die Senkung des Rentenversicherungsbeitrages führt im Folgejahr zu einer
deutlich besseren Rentenanpassung, sprich: Rentenerhöhung für die Rentnerinnen und Rentner in Deutschland.
Zweiter Miesmacherpunkt. Als wir ebenfalls in einer
Großen Koalition von CDU/CSU und SPD im Deutschen Bundestag beschlossen haben, die Regelaltersgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung schrittweise bis zum Jahr 2029 auf 67 Jahre anzuheben, ist in
diesem Hause und in der öffentlichen Debatte gedroht
worden: Das wird eine gigantisches Rentenkürzungsprogramm.
({3})
Auch wir Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSUFraktion und, denke ich, auch in der SPD-Fraktion haben
uns bang gefragt: Werden wir es schaffen, die Beschäftigung älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer so zu
verbessern, dass die Rente mit 67 überhaupt erreichbar
ist?
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Deutschland, das damals, als wir diesen Beschluss gefasst haben,
nicht gerade gut dastand, was die Beschäftigung älterer
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer anbelangt, hat es
geschafft, die Erwerbsbeteiligung älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer deutlich zu steigern. Waren
wir früher in Europa eher unter den Schlusslichtern, sind
wir heute zusammen mit Schweden Spitzenreiter in der
Beschäftigung älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Die Erwerbstätigenquote bei den Älteren ist deutlich gestiegen. Lag sie im Jahr 2000 noch bei 20 Prozent,
so hat sie nun die Marke von fast 50 Prozent erreicht.
All das, was als Miesmacherei in der öffentlichen Debatte zur Rente mit 67 vorgetragen wird, stimmt nicht.
Ja, wir haben die Kehrtwende geschafft. Die Beschäftigungsquote älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geht Gott sei Dank nach oben. Das ist ein großartiger Erfolg.
({4})
Ich will gerne selbstkritisch hinzufügen, dass uns das
nicht reicht. Wir müssen in den kommenden Jahren
selbstverständlich unsere Anstrengungen bei altersgerechten Arbeitsplätzen, Gesundheitsförderung und Prävention verstärken. Wir werden demnächst den Entwurf
eines Präventionsgesetzes im Deutschen Bundestag beraten. Wir wollen den Menschen die Perspektive geben,
bis 65 bzw. 67 Jahre zu arbeiten und dabei gesund zu
bleiben.
Um das zu können, brauchen wir dringend mehr Flexibilität. Verehrter Herr Kollege Kurth, die Arbeitsgruppe „Flexi-Rente“, in der Kolleginnen und Kollegen
aus den beiden Koalitionsfraktionen beraten, ist nicht
zur Schmerztherapie da, sondern dafür, in unserem Alterssicherungssystem mehr Flexibilität für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu schaffen, einen flexibleren Übergang von der Berufstätigkeit in die Rente zu
erreichen und damit vielen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mehr individuelle Lebensgestaltung zu ermöglichen. Es ist nicht Aufgabe des Deutschen Bundestages, zu sagen, wann Schluss mit Arbeit ist, wie es die
Linke will. Vielmehr ist das eine individuelle Entscheidung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Jeder
soll so lange arbeiten können, wie er möchte, und dann
aufhören, wann er will. Wir wollen die Freiheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, selbst zu entscheiden, vergrößern. Das ist der Sinn von mehr Flexibilität.
({5})
Der Kollege Rosemann hat das schon vorgetragen: In
rentenrechtlicher Hinsicht gibt es die Möglichkeit der
Teilrente. Ein Teilrentenbezug ab dem 63. Lebensjahr ist
möglich. Allerdings handelt es sich hier um eine sehr
starre Regelung. Wir wollen durch Flexibilisierung dieser Regelung einen vielgestaltigen Teilrentenbezug ermöglichen und die Hinzuverdienstgrenzen erhöhen,
damit man Geld durch eine Teilzeittätigkeit hinzuverdienen kann, ohne eine Rentenkürzung hinnehmen zu müssen. Interessant ist, dass der Sozialbeirat, in dem Vertreter von Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden und der
Wissenschaft am Tisch sitzen, in seiner Stellungnahme
unseren Vorschlag zur Flexibilisierung der Teilrente einmütig begrüßt.
({6})
Das heißt, wir als Große Koalition beraten derzeit über
etwas, bei dem Sozialpartner und Wissenschaft hinter
uns stehen.
Kollege Karl Schiewerling hat eingangs an 125 Jahre
Rentenversicherung erinnert. Sie ist damals gestartet mit
einer Regelaltersgrenze von 70 Jahren. Die allerwenigsten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben diese
Regelaltersgrenze jemals erreicht. Sie haben also von
ihren Rentenversicherungsbeiträgen überhaupt nichts
gesehen. Was für ein Unterschied zu heute! Heute erreichen die allermeisten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer das Renteneintrittsalter. Das Erfreuliche ist: Eine
steigende Lebenserwartung sorgt dafür, dass sie länger
Rente beziehen als jemals eine Generation zuvor. Wir
wollen, dass die Rente auch in Zukunft stark und kräftig
ist und für eine gute Altersversorgung in Deutschland
sorgt. Das ist unsere gemeinsame Aufgabe.
Vielen Dank.
Peter Weiß ({7})
({8})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Dagmar
Schmidt, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe
Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion Die Linke,
danke für die Gelegenheit, über das, was wir in diesem
Jahr über das Rentenpaket hinaus geleistet haben, zu reden. Sie haben es auch geschafft, uns ein bisschen dazu
zu verleiten, etwas aus der Arbeitsgruppe zu den flexiblen Übergängen zu berichten.
({0})
- Ihnen ist das gestern in der Fragestunde nicht so gut
gelungen. Der Antrag der Linken war ein bisschen klüger.
({1})
Die Lage wird richtig beschrieben. Zum einen haben
wir eine steigende Erwerbstätigkeit bei älteren Menschen - das ist gut und richtig so -; aber wir können
noch lange nicht zufrieden sein mit 30 Prozent sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung bei Menschen zwischen 60 und 64 Jahren. Unser Ziel als SPD ist es, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gesund und in
Vollzeit bis zur Regelaltersgrenze arbeiten zu lassen und
ihnen damit auch ein gutes Auskommen im Alter zu sichern.
({2})
Unser Ziel ist es nicht, die Menschen mit 60 in Rente zu
schicken, und unser Ziel ist es auch nicht, dass Menschen ein gutes Auskommen im Alter erst dadurch erlangen, dass sie über die Regelaltersgrenze hinaus arbeiten.
({3})
Wir wollen durch Prävention, Arbeits- und Gesundheitsschutz, Qualifikation und Weiterbildung die Menschen gesund ins Rentenalter bringen, und wir wollen
durch Ordnung am Arbeitsmarkt und gerechte Löhne die
Voraussetzungen für ein gutes Auskommen im Alter
schaffen. Vieles davon - bessere Löhne, stärkere Tarifbindung - haben wir bereits im Tarifpaket verwirklicht.
Ich glaube, damit haben wir die richtigen Weichen gestellt, was Auswirkungen auf die Rente haben wird.
Außerdem haben wir im Rentenpaket die richtigen
Weichen gestellt. Wir haben mehr Geld in das Rehabudget gesteckt - ein wichtiger Beitrag für Gesundheitsschutz und Prävention -, und wir haben mit der Rente
mit 63 für langjährig Versicherte einen Schritt getan, besonders die Berücksichtigung und die Betrachtung der
individuellen Erwerbsbiografien in den Fokus zu nehmen. Gesundheitsschutz, Prävention am Arbeitsplatz
und die individuelle Betrachtung der einzelnen Erwerbsbiografien, das ist, glaube ich, der richtige Weg, den wir
dort eingeschlagen haben.
({4})
Insofern haben wir auch - das Thema Prävention ist
angesprochen worden - die Umsetzung einer AntiStress-Verordnung in unser Regierungsprogramm geschrieben, und wir warten jetzt gemeinsam auf die Ergebnisse der Forschungen zur psychischen Gefährdung
am Arbeitsplatz an der Bundesanstalt für Arbeitsschutz
und Arbeitsmedizin. Wir werden, wenn die Ergebnisse
vorliegen, dieses Thema erneut aufgreifen.
Wir werden - Herr Weiß hat es angesprochen - natürlich auch im Präventionsgesetz einen besonderen Wert
darauf legen, die Rahmenbedingungen für die betriebliche Gesundheitsförderung durch mehr Geld und bessere
Verbindlichkeit zu verbessern.
({5})
Aber wir diskutieren in der AG „Flexible Übergänge
in den Ruhestand“ noch mehr als das. Wie Sie in Ihrem
Antrag richtig schreiben, steigen die Qualifizierungsanforderungen, und die lebenslange Beschäftigung in einem Betrieb wird mehr und mehr zur Ausnahme. Aber
uns reicht es nicht - das ist das, was Sie fordern -, die
Qualifizierungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten nur
zu stärken. Wir wollen ein Recht auf Qualifizierung und
Weiterbildung, wenn es aus Sicht der Erwerbsbiografie
heraus notwendig ist.
Es gibt zahlreiche Berufe - nicht nur den des Dachdeckers oder des Gerüstbauers, sondern auch den der Altenpflegerin oder der Erzieherin -, die man nach vielen
Jahren Berufstätigkeit nur noch in den seltensten Fällen
ohne gesundheitliche Einschränkung mit 60 ausüben
kann. Aber das weiß man nicht erst, wenn man 60 ist;
das weiß man bereits lange vorher. Wenn man dann 60
ist und die Gesundheit ramponiert ist, dann ist der Zeitpunkt, sich noch einmal sinnvoll umzuorientieren,
vorbei. Deswegen wollen wir auch Frau Klein aus Dortmund die Möglichkeit geben, bereits mit 50 die beruflichen Weichen neu zu stellen.
Die Idee - wir haben sie einmal „Ü-50-Check-up“ genannt - sieht im Detail Folgendes vor: Wir wollen ein
Recht für jeden Erwerbstätigen und jede Erwerbstätige,
der oder die das 51. Lebensjahr erreicht hat, eine individuelle Arbeitslaufbahnprognose durch die Agentur für
Arbeit zu bekommen. Diese Prognose umfasst die Erwerbsbiografie, die berufliche Qualifikation, die bisherigen psychischen und physischen Belastungen und bisherige Erkrankungen genauso wie individuelle Wünsche
und Vorstellungen, wie sich das Arbeitsleben weiter gestalten kann. Aufgrund dieser Prognose werden Maßnahmen vorgeschlagen, die den Erwerbsverlauf positiv
beeinflussen können. Aus den vorgeschlagenen Maßnahmen resultiert für den Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin ein individuelles Recht auf die entsprechende Förderung.
Wie Sie sehen, gehen wir nicht den einfachen Weg
- ab in die Rente -, sondern den schwierigen Weg, den
Menschen passgenaue und individuelle Hilfestellung zu
Dagmar Schmidt ({6})
geben, um das Rentenalter gesund im Beruf zu erreichen. Goethe sagte:
Das Menschenleben ist seltsam eingerichtet: Nach
den Jahren der Last hat man die Last der Jahre.
Wir wollen beide Lasten mildern: gesund arbeiten bis
zur Rente und mit der Rente ein gutes Auskommen im
Alter.
({7})
Vielen Dank. - Matthäus Strebl ist jetzt der nächste
Redner für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute einen Antrag der Fraktion Die Linke,
({0})
die wieder einmal fordert, von der Rente mit 67 Abschied zu nehmen. Bei der Beratung dieses Tagesordnungspunktes möchte ich kurz den Blick in die jüngere
Vergangenheit richten, und zwar auf die Entwicklung
des Renteneintrittsalters.
Seit Beginn des Jahres 2012 konnten Beschäftigte mit
Erreichen des 65. Lebensjahres bei 45 Beitragsjahren
ohne die sonst fälligen Abschläge in Rente gehen. Im
Juli dieses Jahres haben wir, die Große Koalition, die
Möglichkeit geschaffen, das bereits mit 63 Jahren zu tun.
Bis Ende Oktober lagen dazu 163 000 Anträge vor.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, zur
Wahrheit gehört aber auch: Es geht um Menschen, die
die Wirtschaft dringend benötigt, die ihr fehlen und die
nicht zuletzt auch als Beitragszahler für die Rentenversicherung ausfallen.
({1})
Inzwischen gibt es Forderungen - das möchte ich bei
dieser Diskussion auch sagen; das ist konträr zu dem Antrag der Linksfraktion -, das Eintrittsalter sogar auf
70 Jahre festzulegen. In der Europäischen Union gibt es
verschiedene Vorschläge aus den verschiedensten Ländern: 72 Jahre, 68 Jahre, 70 Jahre.
({2})
Es gibt auch die Forderung eines EU-Kommissars.
({3})
- Ich berichte ja nur, damit Sie die Bandbreite sehen. Es gibt zum Beispiel auch die Forderung des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung in Wiesbaden. - Das
wollen wir nicht; um das gleich vorwegzusagen.
Andere - dazu zählt die Fraktion Die Linke - wollen,
dass man ab 60 Jahre in die Rente gehen kann.
({4})
Das hört sich im ersten Moment sehr gut an; denn es gibt
Menschen, die früher in Rente gehen wollen. Wer will
das nicht? Auf der anderen Seite gibt es Menschen - das
belegen Umfragen; das ist ein nicht unbeträchtlicher Personenkreis -, die sogar über das 65. Lebensjahr hinaus
arbeiten wollen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, viele Unternehmer haben längst erkannt, wie wichtig die Erfahrung
älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist - um
auch dieses Thema anzuschneiden -, und behalten solche Beschäftigten oder stellen sogar solche Menschen
ein. In Bayern zum Beispiel - um auf mein Heimatland
zu kommen - gibt es bereits 19 000 Arbeitnehmer
zwischen 65 und 69 Jahren - und das, so habe ich mir
berichten lassen, mit steigender Tendenz.
Im Koalitionsvertrag heißt es, dass immer mehr Betriebe ihre Belegschaften auch im höheren Alter beschäftigen wollen. Weiter heißt es darin - ich zitiere aus dem
Koalitionsvertrag -:
Deswegen wollen wir, wie auch im Arbeitsmarkt, in
der Rente Anreize setzen, damit möglichst viele
Menschen bei guter Gesundheit möglichst lange im
Erwerbsleben bleiben und über ihre Steuern und
Sozialbeiträge die finanzielle Basis unserer Alterssicherungssysteme stärken.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich kurz zum
flexiblen Renteneintrittsalter kommen. Auf der einen
Seite können flexible Übergänge vielleicht Fachkräfteengpässe mindern. Auf der anderen Seite aber bergen sie
die Gefahr in sich, neue Frühverrentungen zu fördern.
Eine Teilrente ab 60 Jahren wäre beispielsweise angesichts der demografischen Entwicklung ein völlig verfehltes Signal an die Wirtschaft und die Gesellschaft.
Ich darf ein Wort des früheren Bundeswirtschaftsministers Wolfgang Clement zitieren, der sich im
vergangenen Jahr ausdrücklich dafür ausgesprochen hat,
das Renteneintrittsalter an die steigende Lebenserwartung zu koppeln. So könne, so Clement, ein Teil der
hinzugewonnenen Lebensjahre aktiv am Arbeitsmarkt
verbracht werden. Wolfgang Clement ist sicher ein unverdächtiger Zeuge, wie Sie mir zugestehen werden.
({5})
Demgegenüber stellen Sie von der Fraktion Die Linke
einige unhaltbare Forderungen auf,
({6})
die zeigen, dass Ihre Stärken jedenfalls nicht in der Wirtschaftspolitik liegen. Sie wenden sich gegen die Teilzeit,
und Sie wollen schließlich Versicherten mit 40 Beitragsjahren ab Vollendung des 60. Lebensjahres den abschlagsfreien Zugang zu einer Altersrente gewähren. So steht es auf Seite 4 Ihres Antrags.
({7})
Ich frage mich da schon: Ist das eine verantwortungsvolle Politik im Angesicht der demografischen Entwicklung?
({8})
Ich meine, das ist nicht der Fall.
Was würde das Ganze kosten? 33 Milliarden Euro
sind derzeit in der gesetzlichen Rentenversicherung.
Aufgrund der hervorragenden wirtschaftlichen Entwicklung und der hohen Zahl von Beschäftigten war das
möglich. Aber man muss auch sagen: Durch Ihre Politik
wäre dieses Guthaben schnell aufgebraucht.
Es ist der Vorzug der Opposition, in diesem Fall der
Linksfraktion, unhaltbare Forderungen erheben zu können, ohne jemals in Verantwortung gebracht zu werden.
Nach diesem Muster sind Sie auch hier verfahren. Sie
werden sicherlich von mir erwarten, dass ich Ihren
Antrag für die CDU/CSU-Fraktion ablehne. Ich will Sie
nicht enttäuschen und bitte das Hohe Haus, diesen
Antrag der Linken als unrealistisch und populistisch zurückzuweisen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({9})
Vielen Dank. - Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/3312, 18/3260, 18/3261 ({0}) und
18/3387 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? Ich sehe, das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung der Abgabenordnung an
den Zollkodex der Union und zur Änderung
weiterer steuerlicher Vorschriften
Drucksachen 18/3017, 18/3158
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({1})
Drucksache 18/3441
- Bericht des Haushaltsausschusses ({2})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Drucksache 18/3442
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist Fritz
Güntzler, CDU/CSU-Fraktion.
({3})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Heute beraten wir
in zweiter und dritter Lesung den Entwurf eines Gesetzes zur Anpassung der Abgabenordnung an den Zollkodex der Union und zur Änderung weiterer steuerlicher
Vorschriften, das sogenannte Zollkodex-Anpassungsgesetz. Welch schöner Name! Früher haben wir einfach
„Jahressteuergesetz“ gesagt.
Neben den Änderungen der Abgabenordnung dient
das Gesetz der Anpassung des Steuerrechts an Recht und
Rechtsprechung der Europäischen Union sowie der
Umsetzung von Rechtsanpassungen in verschiedenen
Bereichen des deutschen Steuerrechts. Es geht dabei um
technische Änderungen, notwendige Klarstellungen,
aber auch um materielle Regelungen.
Der Regierungsentwurf sah zunächst 33 Änderungen
des Steuerrechts vor. Die Länder haben dann über den
Bundesrat in ihrer Stellungnahme kurzfristig immerhin
weitere 58 Maßnahmen eingefordert, zum Teil Regelungen mit erheblichen steuerlichen Auswirkungen. In den
Beratungen haben wir uns mit jedem einzelnen Punkt
beschäftigt. Aber eine sorgfältige Prüfung aller Forderungen der Länder war in dieser knappen Zeit nicht möglich. Gerade in der Steuergesetzgebung muss der Grundsatz gelten: Sorgfalt vor Eile.
({0})
Steuerpolitik macht man nicht im Schweinsgalopp. Die
Auswirkungen der jeweiligen Gesetzesregelungen müssen genau betrachtet werden. Schnellschüsse können
ziemlich danebengehen und erhebliche Schäden anrichten.
({1})
Auch hätten die Steuerpflichtigen kaum oder eigentlich gar keine Zeit gehabt, sich auf die umfangreichen
Rechtsänderungen einzustellen. Darum haben wir einige
Änderungswünsche des Bundesrates nicht erfüllt. Diese
Vorschläge bedürfen weiterer Beratungen und ihre Umsetzung eines gewissen zeitlichen Vorlaufs.
({2})
Wir werden uns mit den unberücksichtigten Anträgen im
nächsten Jahr beschäftigen. Diese Beratungen wollen
wir möglichst im ersten Halbjahr 2015 zum Abschluss
bringen. Denn Steuergesetze sollten zeitlich möglichst
so beschlossen werden, dass sich sowohl die Steuerpflichtigen als auch deren Berater rechtzeitig auf die Änderungen vorbereiten können.
({3})
Meine Damen und Herren, in der Koalition haben wir
uns nach umfangreichen Beratungen auf nunmehr
16 Änderungen verständigt. Dabei sind insbesondere die
zeitkritischen Forderungen des Bundesrates berücksichtigt worden. Aufgrund der knappen Zeit möchte ich nur
einige Maßnahmen benennen:
Wir stellen rückwirkend den sogenannten INVESTZuschuss für Wagniskapital steuerfrei. Es macht keinen
Sinn, dass Zuschüsse aus Steuermitteln als Betriebseinnahmen wiederum versteuert werden müssen und sich
somit im Ergebnis vermindern. Mit der Steuerfreistellung werden wir das Programm - so hoffen wir jedenfalls - noch attraktiver machen und mehr Beteiligungskapital aktivieren. Meine Damen und Herren, wir
brauchen einen neuen Gründergeist in Deutschland. Dies
muss auch das Steuerrecht begleiten.
({4})
Darum sage ich: Auch neben der Steuerfreistellung
des INVEST-Zuschusses werden wir hinsichtlich des
Erhalts von Verlustvorträgen prüfen müssen, ob eine europarechtskonforme Lösung für junge innovative Unternehmen möglich ist. Darüber hinaus sollten wir - ich
weiß, das ist umstritten - auch auf die Einführung einer
Steuerpflicht für Veräußerungsgewinne bei Streubesitzdividenden verzichten.
({5})
Dies werden wir aber, so vereinbart, bei der anstehenden
Reform des Investmentsteuergesetzes noch einmal ergebnisoffen beraten.
Mit der Einführung der Steuerfreiheit für Leistungen
des Arbeitgebers für Serviceleistungen im Rahmen der
Betreuung von Kindern und zu pflegenden Angehörigen
wird ein weiterer wichtiger Beitrag für die Verbesserung
der Vereinbarkeit von Familie und Beruf geleistet. Neben den Beratungs- und Vermittlungsleistungen kann der
Arbeitgeber nunmehr auch die Kosten für die Betreuung
von Kindern und zu pflegenden Angehörigen, die kurzfristig aus zwingenden beruflich veranlassten Gründen
entstehen, steuerfrei ersetzen.
Wir haben uns weiter mit der Definition der Kriterien
für die Erstausbildung in § 9 des Einkommensteuergesetzes aufgrund eines BFH-Urteils beschäftigt. Bisher,
so die BFH-Richter, war der Begriff der Erstausbildung
nicht hinreichend geklärt. Dies ist aber notwendig, da
wir uns als Gesetzgeber entschieden haben, die Erstausbildung der privaten Lebensführung zuzuordnen und
somit keinen Betriebsausgaben- bzw. Werbungskostenabzug zuzulassen. Bei einer anschließenden Ausbildung
ist dies dann wiederum möglich. Es kam somit - wie immer im Leben - zu Umgehungen. So wurden vor dem
Erststudium zum Beispiel „Ausbildungen“ als Taxifahrer oder Skilehrer gemacht.
Es war also notwendig, eine neue Definition zu finden. Wir haben das an der Dauer der Ausbildung festgemacht. Der Gesetzentwurf sah zunächst eine Dauer von
18 Monaten vor. Aber um auch kürzere Ausbildungen,
wie zum Beispiel als Helferin bzw. Helfer im Gesundheits- und Sozialwesen nicht unberücksichtigt zu lassen,
haben wir die Mindestdauer auf zwölf Monate gesenkt.
Dies ist, wie ich finde, eine gute und praktikable Lösung.
({6})
Auch bei der Besteuerung von geldwerten Vorteilen
im Rahmen von Betriebsveranstaltungen haben wir den
Regierungsentwurf durch einen gemeinsamen Änderungsantrag angepasst. Hier greifen wir insbesondere die
im Rahmen der öffentlichen Anhörung geäußerten
Bedenken und Anregungen auf. Das Wichtigste ist: Die
bisherige Freigrenze in Höhe von 110 Euro wird durch
einen Freibetrag in gleicher Höhe ersetzt. Dies ist eine
lang erhobene Forderung der Praxis und ein wichtiges
Signal; denn das Thema Betriebsveranstaltungen - das
kann ich Ihnen aus meiner beruflichen Praxis erzählen war ständiges Streitthema in den Betriebsprüfungen, da
1 Euro mehr bei einer Freigrenze bedeutet, dass sofort
die volle Besteuerung einsetzt und der Fallbeileffekt
eintritt. Wir sind nun zu einer moderateren Lösung, die
zu einer Befriedung von sehr vielen Betriebsprüfungen
führen wird, gekommen. Insgesamt halte ich dies für
eine gute Lösung, auch für die Arbeitnehmer.
Im Ausschuss wurde vorgetragen, da würde ja alles
besteuert. - Herr Pitterle, für den Fall, dass Sie es nachher wieder sagen, möchte ich schon jetzt darauf hinweisen, dass in fast allen Fällen pauschal besteuert wird,
sodass der Arbeitnehmer überhaupt nicht betroffen ist,
sondern sich an der Betriebsveranstaltung einfach erfreuen kann.
({7})
Des Weiteren passen wir das erst im Kroatien-Gesetz
eingeführte Reverse-Charge-Verfahren für Metalle an
und führen eine Bagatellgrenze in Höhe von 5 000 Euro
ein. Wir haben auch den Leistungskatalog reduziert, um
eine praktische Lösung zu finden.
Außerdem schaffen wir einen sogenannten Schnellreaktionsmechanismus im Umsatzsteuerrecht. Er ermöglicht es, schnell und kurzfristig auf betrügerische
Handlungen zu reagieren. So kann die Umkehr der Steuerschuldnerschaft auf den Leistungsempfänger bei einer
Mehrzahl von Fällen des Verdachts auf Steuerhinterziehung zeitlich beschränkt erweitert werden - ein wirksamer Beitrag gegen den Umsatzsteuerbetrug.
Meine Damen und Herren, das waren nur einige Beispiele der Neuregelungen, die wir heute mit dem Gesetz
treffen. Ich hatte bereits erwähnt, dass wir weitere Dinge
beraten werden, die auch vom Bundesrat aufgerufen
worden sind. Es geht um die Neutralisierung der Effekte
hybrider Gestaltung. Dazu sage ich Ihnen aber deutlich:
Wir sollten dort auf eine internationale Lösung im Rahmen des BEPS-Projektes setzen und keine nationale
Lösung präferieren. Von daher sollten wir uns die Zeit
nehmen, abzuwarten, was beim OECD-Verfahren herauskommt.
Wir werden, wie angekündigt, über die künftige Besteuerung von Streubesitzdividenden und von Veräußerungsgewinnen aus Streubesitzbeteiligungen sprechen.
Wir werden uns auch über Änderungen im Bewertungsgesetz unterhalten.
({8})
Insbesondere wenn das Bundesverfassungsgericht sein
Urteil zur Erbschaftsteuer am 17. Dezember verkündet
hat, wird es unter Umständen Änderungsbedarf geben,
und dann werden wir uns vielleicht auch die Bewertungsfragen anschauen müssen. Wir werden uns auch das ist der Wunsch der Länder und unseres Koalitionspartners - mit dem § 20 des Umwandlungssteuergesetzes beschäftigen. Ich bitte nur darum, dass wir das mit
Augenmaß tun. Das Umwandlungssteuerrecht soll Umstrukturierungen von Unternehmen steuerneutral ermöglichen, damit man auf neue Situationen reagieren kann.
Wir sollten hier das Kind nicht mit dem Bade ausschütten und eine schlechtere Lösung für die deutsche Wirtschaft, insbesondere auch für den Mittelstand, schaffen,
wie wir es ja schon beim § 50 i EStG, den ich in diesem
Zusammenhang auch noch erwähnen möchte, getan haben. Es wäre mein dringender Wunsch an den Koalitionspartner, dass wir auch über den § 50 i und die Anpassung dieser Regelung noch einmal reden.
({9})
- Ja, Herr Binding, das habe ich ja befürchtet. Darum
habe ich es ja noch einmal aufgenommen.
({10})
Herr Binding, ich war ja ganz froh, als ich am letzten
Freitag die FAZ gelesen habe, der der nordrhein-westfälische Finanzminister Walter-Borjans gesagt hat, er sei
auch der Auffassung, dass eine Anpassung erfolgen
müsse. Von daher hoffe ich, dass dieser Geist auch in der
SPD-Fraktion hier im Hohen Hause ankommt.
({11})
Wir haben jedenfalls eine überschießende Wirkung,
die wir damals, als wir das sogenannte Kroatien-Gesetz
beschlossen haben, nicht erkannt haben; das müssen wir
zugeben. Auch die Sachverständigen haben diese nicht
erkannt. Es gibt reine Inlandssachverhalte, die zu einer
Besteuerung führen können. Es gibt auch Sachverhalte,
in denen es zu Erbschaften oder Schenkungen kommt
und bei denen das Steuersubstrat in Deutschland bleibt,
die zu negativen steuerlichen Folgen führen. Von daher
wollten wir auch den § 50 i EStG aufgreifen.
Meine Damen und Herren, abschließend noch eine
kurze Anmerkung zum Entschließungsantrag der Grünen. Die Grünen fordern die Bundesregierung auf, das
steuerliche Existenzminimum für Kinder 2014 bzw.
2015 an die verfassungsrechtlich gebotenen Anforderungen anzupassen und das Kindergeld entsprechend zu
erhöhen. Bereits im Ausschuss ist von Herrn Staatssekretär Meister bekannt gegeben worden, dass noch in
diesem Jahr ein neuer Existenzminimumbericht der Bundesregierung vorgelegt werden soll. Ich bin mir sicher
- so viel Vertrauen habe ich in die Bundesregierung -,
dass die entsprechenden gesetzgeberischen Initiativen
ergriffen werden, sodass Aktionismus in Bezug auf dieses Gesetz nicht notwendig ist.
({12})
Lassen Sie mich zusammenfassen.
Kollege Güntzler, schaffen Sie das in einem Satz? Sie
sind leider weit über der Redezeit.
Dann bedanke ich mich bei allen, die an diesem Gesetzgebungsverfahren mitgewirkt haben, sowohl bei den
Kolleginnen und Kollegen für die konstruktive Debatte
als auch bei den Mitarbeitern des Bundesfinanzministeriums, die uns immer geholfen haben.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat der Kollege Richard Pitterle für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Wehrpflichtige auf der Tribüne!
({0})
Weihnachten steht vor der Tür. Mit dem vorliegenden
Gesetz haben Sie den Steuerpflichtigen auch ein Geschenk gemacht. Es ist schön verpackt unter dem märchenhaften Titel: „Gesetz zur Anpassung der Abgabenordnung an den Zollkodex der Union und zur Änderung
weiterer steuerlicher Vorschriften“. Zu der Frage, warum
Sie das nicht als Jahressteuergesetz verpacken, habe ich
eine Vermutung. Aber dazu komme ich später.
Wenn man das Geschenk öffnet, stößt man erst auf
positive Überraschungen - Klammer auf: hätte ich Ihnen
gar nicht zugetraut; Klammer zu -: Gut ist zum Beispiel,
dass Sie einen Schnellreaktionsmechanismus bei der Umsatzsteuer einführen, um künftig auch kurzfristig auf betrügerische Karussellgeschäfte und dergleichen reagieren
zu können. Gut ist auch die Änderung der Definition des
Begriffes „Geschäftsbeziehung“ im Außensteuergesetz.
Grenzüberschreitende Gewinnverschiebungen, die zum
Ziel haben, einer Besteuerung zu entgehen, können nun
leichter bekämpft werden. Zudem ist es lobenswert, dass
Sie ein Einsehen bei den geplanten Kriterien zur Definition einer beruflichen Erstausbildung hatten und die
Mindestausbildungsdauer von 18 auf 12 Monate herabgesetzt haben, sonst wäre nämlich zum Beispiel die Aus6968
bildung zur Krankenpflegerin oder zum Altenpfleger
steuerlich nicht als Erstausbildung anerkannt worden.
({1})
Damit wäre die Freude am Geschenk auch schon vorbei. Meine Vermutung ist, dass Sie die Verpackung „Jahressteuergesetz“ nicht gewählt haben, weil Sie verschleiern wollen, dass Sie wieder einmal viele Änderungen
auslassen, die ein Jahressteuergesetz eigentlich mit sich
bringen sollte.
({2})
Ich will Ihnen einmal drei Punkte nennen, die Sie hätten berücksichtigen müssen.
Erstens: die Bekämpfung von Steuervermeidung. Hier
wurde einiges in den Beratungen zum Gesetzentwurf angesprochen, zum Beispiel die sogenannten hybriden
Steuergestaltungen, bei denen grenzüberschreitend tätige
Unternehmen steuerrechtliche Unterschiede zwischen
einzelnen Ländern nutzen, um eine Nichtbesteuerung
oder einen doppelten Betriebsausgabenabzug zu erreichen.
Oder nehmen wir die Steuerfreistellung von Veräußerungsgewinnen aus Streubesitzbeteiligungen nach dem
Körperschaftsteuergesetz. Hier eröffnet die unterschiedliche Besteuerung von Dividendenerträgen auf der einen
und Veräußerungsgewinnen auf der anderen Seite steuerlichen Gestaltungsspielraum. Klingt alles kompliziert, ist
aber im Ergebnis immer denkbar einfach: Große Unternehmen nutzen Schlupflöcher und Gestaltungsmöglichkeiten, um kräftig Steuern zu sparen, während die vielen
ehrlichen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler, wie die
Versicherungsangestellte oder der Bäckermeister von nebenan, sich fragen, in welche Taschen die teils riesigen
Gewinne der Unternehmen eigentlich wandern. Sie,
meine Damen und Herren von der Bundesregierung, sehen dabei einfach zu, und das lassen wir Ihnen so nicht
durchgehen.
({3})
Auch der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme dazu
geraten, diese Schlupflöcher mit dem vorliegenden Entwurf zu schließen. Von dringendem gesetzgeberischen
Handlungsbedarf zur Vermeidung von Steuerausfällen
war die Rede. Doch was machen Sie, meine Damen und
Herren von der Regierungskoalition? Nichts. Und das ist
schlecht.
Mit Verlaub, es ist nicht sonderlich glaubhaft, wenn
Sie nun an anderer Stelle mit breiter Brust behaupten,
Sie würden ja ach so entschlossen gegen Steuervermeidung vorgehen. Ich finde, da hilft Ihnen auch Ihr ständiger Verweis auf die internationale BEPS-Initiative zur
Bekämpfung von Steuervermeidung nichts; denn wenn
es um wirksame Maßnahmen auf nationaler Ebene geht,
kommt bei Ihnen nur heiße Luft.
Zweitens: der Kinderfreibetrag. Laut dem Neunten
Existenzminimumbericht aus dem Jahr 2012 erfüllt der
derzeitige Kinderfreibetrag nicht die verfassungsrechtlich gebotene steuerliche Freistellung des sächlichen
Existenzminimums von Kindern. Er liegt 72 Euro darunter. Für Familien mit niedrigen Einkommen sind das
keine Peanuts. Es darf nicht sein, dass zum Beispiel Geld
für Schulhefte oder für ein gesundes Mittagessen fehlt.
Das ist nicht mit dem Grundgesetz vereinbar und gehört
durch eine Anpassung des Betrages schnellstens geändert.
({4})
In diesem Entwurf wäre die Gelegenheit dazu gewesen.
Doch was machen Sie von der Bundesregierung? Wieder
nichts. Sie können sich sicher sein, die Fraktion Die
Linke wird Ihnen auch weiterhin auf die Finger klopfen,
wenn Sie sich nicht endlich wenigstens an das halten,
was die Verfassung unseres Landes als Minimum vorgibt.
Drittens: die Altersvorsorge. Mit dem Entwurf soll
bei der Einkommensteuer die Höchstgrenze des Absetzbetrages von 20 000 Euro für eine Basisversorgung im
Alter an den Höchstbeitrag zur knappschaftlichen Rentenversicherung gekoppelt werden. Das entspricht derzeit einer Anhebung auf über 22 000 Euro. Damit sind
zum einen Steuerausfälle in zweistelliger Millionenhöhe
verbunden, zum anderen handelt es sich hierbei um eine
Steuerentlastung für wenige Besserverdienende, von der
die Mehrheit der Bevölkerung nichts hat.
Ich bin mit der Aufzählung dessen, was in Ihrem Entwurf versäumt oder falsch gemacht wurde, noch nicht
am Ende, leider aber fast am Ende meiner Redezeit.
Meine Damen und Herren von der Bundesregierung, die
positiven Überraschungen Ihres Geschenks reichen leider nicht aus, um Ihren Entwurf zustimmungsfähig zu
machen. Daher wird sich die Linke enthalten.
({5})
Kollege Pitterle, die Ankündigung des Schlusses ersetzt ihn nicht. Kommen Sie bitte zum Schluss.
Sie haben bei teils guten Ansätzen leider wieder einmal zu viel ausgelassen, um wirklich etwas zu bewegen.
Das scheinen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von
den Grünen, auch so zu sehen, zumindest greift Ihr Entschließungsantrag einige dieser Punkte ebenfalls auf.
Diesem werden wir daher zustimmen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Dr. Jens
Zimmermann das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir beraten heute abschließend das Jahressteuergesetz 2015. Es ist eine Herausforderung, ein
Gesetzgebungsverfahren mit mehr als hundert vorgeschlagenen Maßnahmen, die inhaltlich nicht zusammenhängen, als Berichterstatter zu betreuen. Dennoch dürfte
jedem klar sein, dass auch diese kleinen steuerlichen Änderungen und Anpassungen in der Realität große Auswirkungen haben können.
Da es noch keiner gemacht hat, will ich etwas zum
Namensgeber dieses Gesetzes sagen, nämlich zur Anpassung des Zollkodexes; ich finde, das sollte zumindest
der Form halber geschehen. Die EU-Rahmenverordnung, die den Zollkodex der Union neu regelt, dient der
Modernisierung des EU-weiten Zollwesens. Deshalb ist
es gut, dass die deutsche Abgabenordnung mit diesem
Gesetz an den Zollkodex der Europäischen Union angepasst wird.
Der größte Teil des Gesetzes enthält eine Reihe redaktioneller Änderungen quer durch das deutsche Steuerrecht, die eigentlich politisch unstrittig sind. Schließlich werden Empfehlungen des Bundesrechnungshofs
berücksichtigt und viele Besteuerungsverfahren am Ende
vereinfacht. Ich werde nicht auf jeden Änderungsvorschlag eingehen können, will aber trotzdem betonen: Bei
vielen dieser Maßnahmen handelt es sich um wichtige
Änderungen, die den Finanzbeamtinnen und Finanzbeamten in den Verwaltungen ihre wichtige Arbeit erleichtern und Bürokratie abbauen werden; das muss man an
dieser Stelle einmal betonen.
({0})
Wir haben uns mit ganz vielen Änderungsvorschlägen
intensiv beschäftigt. Als Sozialdemokraten haben wir
die vorgeschlagenen Maßnahmen da, wo es nötig war,
vor allem im Sinne der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verbessert. Wir haben - ich finde, auch das ist
sehr wichtig - die Ratschläge der Expertinnen und Experten aus der Anhörung berücksichtigt. Ich denke, es ist
ganz wichtig, dass man nach einer Anhörung der Experten noch einmal aktiv wird, weil es sonst am Ende eine
Showveranstaltung bleibt.
Ich will auf einige Beispiele konkret eingehen. Das
Thema der Erstausbildung ist genannt worden. Das ist
ein wichtiger Punkt. Wir hatten Fälle, in denen Leute
mehr oder weniger eine Form von Scheinerstausbildung
gemacht haben - kurze und kürzeste Ausbildungen, nur
um am Ende zum Beispiel im Studium in den Genuss eines Werbungskostenabzuges zu kommen. Diese Lücke
haben wir mit diesem Gesetz geschlossen. Die Frage, ob
eine Ausbildung mindestens 18 Monate oder 12 Monate
dauern muss, um als Erstausbildung gewertet zu werden,
haben wir intensiv diskutiert. Ich kann sagen: Für die
steuerliche Behandlung ist es gar nicht entscheidend, ob
es zwölf Monate sind oder nicht. Aber wir senden mit
diesem Steuergesetz eine wichtige Botschaft nach draußen: Wenn jemand zwölf Monate lang eine Ausbildung
macht, dann ist es eine Erstausbildung, nicht einfach irgendetwas, was man mal so macht.
({1})
Es wurde auch über die Besteuerung von Betriebsveranstaltungen gesprochen. Auch das ist hitzig diskutiert
worden. Ich finde, das kann man verstehen. In vielen Betrieben, auch hier im Deutschen Bundestag, finden momentan die Weihnachtsfeiern statt. Es war nie unsere Intention oder die Intention der Bundesregierung, diese
Betriebsfeiern unmöglich zu machen. Deswegen ist es
gut, dass wir von der Freigrenze zum Freibetrag gekommen sind, dass wir bei den Gemeinkosten präziser geworden sind, dass die Reisekosten da jetzt ausgeklammert werden. Die Botschaft, die wir aussenden können,
lautet: Die Weihnachtsfeiern und alle anderen Feiern, die
in den kommenden Jahren in Unternehmen geplant sind,
können stattfinden. Das ist eine Maßnahme vor allem im
Interesse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
({2})
Auch in deren Interesse ist es, dass wir uns darauf geeinigt haben, die sogenannte 44-Euro-Freigrenze für
Gutscheine so beizubehalten, wie sie ist. 44 Euro sind
für die Topmanager, über die wir heute reden und die
große Boni bekommen, nichts. Aber für jemanden, der
jeden Tag hart arbeitet und ein kleines Einkommen hat,
sind 44 Euro etwas. Deswegen finden wir es richtig, dass
es bei der Praxis bleibt, dass diese wie bisher zu den
Sachbezügen gezählt werden und es da keine Verschlechterung für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
gibt.
({3})
Einen Punkt will ich herausgreifen, weil ich auch Berichterstatter im Bereich der Geldwäscheprävention bin.
Ich habe heute eine Petition zur Bekämpfung von Geldwäsche mit 75 000 Unterschriften entgegengenommen.
Wir greifen mit der Änderung des § 31 b der Abgabenordnung genau dieses Thema im Jahressteuergesetz auf.
Das ist wichtig, weil unserem Land auch hier Steuereinnahmen verloren gehen. Die Geldwäsche ist - das wird
viel zu häufig vergessen - auch ein Teil der organisierten
Kriminalität.
Uns lagen auch - das ist schon erwähnt worden - jede
Menge Änderungsanträge des Bundesrates vor. Ich
stimme Ihnen zu, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der Union, dass wir in Steuerfragen ordentlich arbeiten
müssen. Aber uns muss auch klar sein, dass Zeit an dieser Stelle im wahrsten Sinne des Wortes auch Geld ist.
Denn wenn man sich zu viel Zeit lässt, gehen dem Staat
entsprechende Steuereinnahmen verloren.
({4})
Ich hoffe, dass es hier nicht der Fall sein wird; aber diese
Gefahr steht im Raum.
({5})
Wir hätten uns an der einen oder anderen Stelle schon
vorstellen können, ein bisschen schneller voranzugehen,
die Initiativen des Bundesrates entsprechend zu unter6970
stützen. Denn für die SPD im Bund und in den Ländern
ist klar: Wir wollen legalen und illegalen Steuertricks einen Riegel vorschieben, und zwar je früher, desto besser.
({6})
In diesem Zusammenhang sind Themen wie der sogenannte Porsche-Deal zu nennen. Das ist genau so ein
Punkt, weshalb wir eigentlich Jahressteuergesetze machen. Das war nichts Illegales, was dort gelaufen ist,
sondern das war - so muss man konstatieren - eine sehr
kreative Leistung von sehr findigen Beraterinnen und
Beratern. Aber unsere Aufgabe hier im Deutschen Bundestag ist es, Lücken, die solche Dinge ermöglichen, die
wir nicht möchten, zu schließen. Ich hoffe, dass es in
der Zeit, die wir jetzt brauchen, bis wir die entsprechenden Änderungen beschlossen haben, keinen zweiten
Porsche-Deal geben wird.
Aber die gute Nachricht ist ja, wir sind uns in der Koalition an der Stelle einig - vielleicht nicht ganz über die
Geschwindigkeit, über die Inhalte sehr wohl. Wir werden das Thema der hybriden Gestaltungen angehen. Ich
finde es keine so clevere Idee, die BEPS-Initiative irgendwie kleinzureden. Wir wissen doch, hybride Gestaltungen sind kein nationales Problem, sondern ein internationales Problem. Deswegen müssen wir es auch
international angehen. Ich denke, BEPS ist dafür ein sehr
gutes Beispiel.
({7})
Ich komme zum Schluss. Alles in allem werden wir
als SPD-Bundestagsfraktion dem Gesetzentwurf natürlich zustimmen. Das Jahressteuergesetz enthält in der
Endfassung knapp 50 Maßnahmen quer durch das deutsche Steuerrecht, die zusammengenommen eine große
Wirkung haben. Wir bauen Bürokratie ab, wir entlasten
die Beschäftigten. Ich denke, das ist so kurz vor Weihnachten eine gute Nachricht.
Vielen Dank.
({8})
Die Kollegin Lisa Paus hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir reden hier heute über ein Gesetz, das vor allen Dingen
nicht Jahressteuergesetz heißen darf. Deswegen heißt es
irgendwie anders. Warum nicht „Jahressteuergesetz“?
Weil die Koalition ja im Koalitionsvertrag festgeschrieben hat, dass sie in dieser Legislaturperiode keine Steuerpolitik machen will, damit auch jede Erwartung, dass
da irgendetwas passiert, sozusagen im Kern zerstört
wird.
({0})
Deshalb ist klar: Es gibt keine Jahressteuergesetze mehr.
Deswegen haben wir eben dieses „Gesetz zur Anpassung
der Abgabenordnung an den Zollkodex der Union“.
Aber normalerweise müsste der Grundstandard eines
solchen Gesetzes sein - wir haben keine Erwartungen,
nur eine ganz kleine Resterwartung -, dass zumindest
verfassungswidrige Zustände korrigiert werden.
({1})
Das, glaube ich, sollte eigentlich ein Standard sein, auf
den wir uns hier alle gemeinsam einigen können.
Was stellen wir fest? Es gibt eine Vielzahl von Regelungen - dazu haben wir jetzt schon einiges gehört -, die
verschiedensten Dinge, aber eine Sache fehlt, und zwar
die Korrektur des seit elf Monaten verfassungswidrigen
Zustandes, dass das steuerfreie sächliche Existenzminimum für Kinder um 72 Euro zu niedrig ist. Das ist ein
echter Skandal, meine Damen und Herren.
({2})
Das ist übrigens umso dreister, als das eben auch
schon seit 2012 bekannt ist. Das ist nichts, was man jetzt
ganz kurzfristig festgestellt hat. Seit 2012 ist ausweislich
des eigenen Existenzminimumberichts der Bundesregierung bekannt, dass, wenn man es nicht ändert, diese
Bundesregierung im Jahr 2014 - jetzt, wo wir gerade beginnen, die Weihnachtsfeier zu planen oder durchzuführen - verfassungswidrig handelt. Das wäre jetzt die
letzte Gelegenheit gewesen, das in diesem Jahr zu ändern. Sie machen das nicht. Das ist wirklich ungeheuerlich.
({3})
Was gehört außerdem dazu? Was fehlt noch? Die Anhebung des Kindergeldes um 2 Euro. Das würde zwar
tatsächlich Geld kosten - das hätten wir dann letzte Woche auch im Haushalt verankern müssen -, nämlich
425 Millionen Euro. Seit 1995 wird das immer gemeinsam gemacht - diese Kopplung ist Praxis; hier vom
Deutschen Bundestag beschlossen -, die notwendige
Anhebung des steuerfreien Existenzminimums gemeinsam mit einer entsprechenden Kindergeldanpassung.
Aber auch das haben Sie nicht gemacht. Deswegen muss
man heute konstatieren, dass Herr Schäuble seine
schwarze Null auch durch eine verfassungswidrige Verzögerung bei der steuerlichen Entlastung von Familien
erkauft hat, meine Damen und Herren.
({4})
Was fehlt noch in diesem Gesetzentwurf? Sie haben
in Ihrem Koalitionsvertrag versprochen - Sie haben
nichts Großes versprochen, nur kleine Dinge, die aber
für die Betroffenen wichtig sind -, den steuerlichen Entlastungsbetrag für Alleinerziehende zu erhöhen. Der
liegt seit 2004 unverändert bei 1 308 Euro, und das trotz
der gestiegenen Lebenshaltungskosten und der eklatanten Besserstellung von Ehen und Lebenspartnerschaften.
Zum Vergleich: Der Entlastungsbetrag für Alleinerziehende führt zu einer maximalen Steuerersparnis von
600 Euro, bei Ehepaaren können allein durch das Ehegattensplitting bis zu 16 000 Euro pro Jahr gespart werden. Das muss sich ändern. Aber nicht einmal diese minimale Anhebung, wie sie seit langem gefordert wird
- und die Sie auch versprochen haben -, ist in diesem
Gesetzentwurf enthalten. Das ist nicht in Ordnung. Noch
besser wäre es gewesen, Sie wären unserem Vorschlag
gefolgt. Wir schlagen vor, dass der höhere Entlastungsbetrag plus eine Steuergutschrift kommen, damit auch
Alleinerziehende mit geringem Einkommen erreicht
werden können.
({5})
Es fehlt noch einiges. Vor allen Dingen fehlt eine
gleichstellungsorientierte Gesetzesfolgenabschätzung.
Ich muss allerdings sagen: Sie fehlt nicht nur bei diesem
Gesetz, sondern bei fast allen Gesetzen der letzten 40, 50
oder 60 Jahre. Es ist aber wichtig, zu betonen: Das ist eigentlich Standard. In der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien wird die Bundesregierung
verpflichtet, bei Gesetzentwürfen anzugeben, wie es mit
der gleichstellungsorientierten Gesetzesfolgenabschätzung aussieht. In der Praxis passiert allerdings nichts anderes, als dass irgendjemand ein Kreuz in das Kästchen
„keine Auswirkungen“ macht.
Es gibt aber Auswirkungen beim Thema Altersvorsorge. In diesem Gesetz wird eine Erhöhung des Absetzbetrages für Altersvorsorgeaufwendungen von heute
20 000 Euro auf im nächsten Jahr 22 000 Euro verankert. Davon profitieren diejenigen in unserem Lande, die
statt 1 600 Euro pro Monat 1 800 Euro pro Monat für die
Altersvorsorge zur Seite legen können. Sie haben eine
ungefähre Vorstellung davon, wie viele Menschen das in
unserem Lande können? In der Summe sind es 10 000.
Sie können sich auch vorstellen, wie viele Frauen darunter sind. Diese eine Maßnahme macht deutlich, dass wir
dringend handeln müssen. Wir wollen mit unserem Entschließungsantrag über diesen und auch andere Punkte
eine Diskussion anstoßen, damit wir zumindest im
nächsten Jahr zu verfassungsgemäßen und der Sache
entsprechenden Steuergesetzen in unserem Land kommen.
Danke schön.
({6})
Der Kollege Philipp Graf Lerchenfeld hat für die
Unionsfraktion das Wort.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Hohes Haus! Es ist schon mehrfach gesagt worden, welche Änderungen wir mit dem
Zollkodex-Anpassungsgesetz vornehmen wollen.
Als ich unserem Kollegen Pitterle vorhin zugehört
habe, war ich schon ganz euphorisch, weil ich mir gedacht hatte, der Weihnachtsfrieden treibt ihn so weit,
dass er dem Gesetzentwurf voll umfänglich zustimmen
würde. Aber ich bin schon dankbar, dass wir wenigstens
umfänglich gelobt wurden. Vielen herzlichen Dank dafür.
({0})
Durch den Gesetzentwurf werden viele steuerliche
Regelungen neu gefasst. Unser Steuerrecht wird an die
Rechtsprechung der Europäischen Union angepasst. Die
Empfehlungen des Bundesrechnungshofes werden dadurch umgesetzt und Vereinfachungsverfahren im Besteuerungsverfahren durchgesetzt.
Die Länder haben uns noch kurz vor Ende der Beratungen mit 72 Regelungen beglückt, die wir noch in die
Beratungen einfließen lassen sollten. Wir haben das auch
umfänglich getan. Es waren teils nur technische Dinge,
aber teils auch durchaus politisch umstrittene Fragen.
Wir haben den Anregungen der Länder in vielen Aspekten durchaus Folge geleistet, vor allem bei denen, die
uns wichtig erschienen sind und die in der Kürze der
Zeit auch vernünftig und ausführlich beraten werden
konnten.
({1})
Mit den anderen Forderungen der Länder werden wir
uns im kommenden Jahr sicherlich beschäftigen müssen;
denn es wurden viele Dinge genannt, die uns zum Nachdenken gebracht haben und bei denen wir Änderungsmöglichkeiten sehen. Manche Forderungen müssen wir
aber aus verschiedenen Gründen ablehnen.
Die Vorschläge, die in der Anhörung von den Sachverständigen vorgebracht wurden, konnten in den Gesetzentwurf eingearbeitet werden. Aber auch hier gilt:
Die Anregungen der Sachverständigen in der Anhörung
werden uns auch im nächsten Jahr beschäftigen.
Von besonderer Bedeutung - das wurde teilweise
schon erwähnt - war für mich neben den Änderungen im
Einkommensteuerrecht, bei der Abgabenordnung und
bei der Grunderwerbsteuer die Einführung der Verordnungsermächtigung zur Bekämpfung des Umsatzsteuerbetruges. Mit dieser Ermächtigungsklausel in § 13 b
Umsatzsteuergesetz erhält Deutschland die Möglichkeit,
schnell auf erkannte Betrugsmaschen im Bereich der
Umsatzsteuer zu reagieren. Mit diesem Schnellreaktionsmechanismus, der im Übrigen auf einer EU-Richtlinie beruht, kann das Bundesfinanzministerium mit Zustimmung des Bundesrates schnell neue Tatbestände in
§ 13 b Umsatzsteuergesetz einfügen und damit Umsatz6972
steuerbetrug auch in Zukunft vernünftigerweise verhindern.
({2})
Die wesentlichen Inhalte des Gesetzentwurfs und die
vielen umfangreichen eingefügten Regelungen sind von
meinen Vorrednern bereits ausführlich dargestellt worden. Es ist zu begrüßen, dass wir während der Beratungen des Gesetzentwurfs verschiedene Schärfen und
Unklarheiten, die im ursprünglichen Gesetzentwurf vorhanden waren, verändern konnten. Ob es dabei um die
Besteuerung der geldwerten Vorteile von Betriebsveranstaltungen ging, die Definition der Erstausbildung oder
die Anpassung der Förderhöchstgrenze für Beiträge zugunsten einer Basisversorgung im Alter an die knappschaftliche Rentenversicherung - diese Vorschläge wurden aufgenommen und umgesetzt; sie sind ja schon
benannt worden.
Im Rahmen der Beratungen ist mir wieder einmal
aufgefallen, dass wir immer mehr dazu tendieren, Einzelfälle steuerlicher Art, die sicherlich oft durchaus
spektakulär sind - Herr Dr. Zimmermann hat das ja angesprochen -, durch allgemeine Gesetzesnormen zu erfassen. Dabei schleichen sich leider Gottes immer wieder Fehler ein. Diese Fehler in den Gesetzen werden uns
erst dann bewusst, wenn wir von der Praxis nach einiger
Zeit darauf aufmerksam gemacht werden. Auch hierfür
ist der vorliegende Gesetzentwurf ein leuchtendes Beispiel. Mit dem sogenannten Kroatien-Gesetz, das dieses
Haus erst kürzlich verabschiedet hat, haben wir steuerliche Regelungen eingeführt, die hinsichtlich ihrer praktischen Auswirkungen auf die Besteuerung nicht in vollem Umfang erkannt wurden. Deshalb müssen wir jetzt
Änderungen vornehmen. Wir haben dabei leider nur die
Chance zur Änderung des § 13 b Absatz 2 Nummer 11
Umsatzsteuergesetz ergriffen. Nicht angefasst haben wir
den § 50 i Einkommensteuergesetz. Ich halte diese Vorschrift für genauso bedeutend, für genauso wichtig wie
die des § 13 b Umsatzsteuergesetz.
({3})
In der Praxis hat sich herausgestellt, dass durch die
Änderung des § 50 i Einkommensteuergesetz Umwandlungen von Unternehmen im Ausland und im Inland dramatisch erschwert werden. Faktisch werden durch diese
Vorschrift auch Teile des Umwandlungssteuerrechts ausgehebelt. Wirtschaftlich notwendige Umstrukturierungen innerhalb von Unternehmen und Übertragungen sind
in vielen Fällen nur noch unter Aufdeckung stiller Reserven möglich. Das trifft vor allem mittelständische Familienunternehmen.
Heutzutage absolviert ein junger Mann seine Ausbildung vernünftigerweise zum Teil im Ausland. Manch einer wird, wiederum vernünftigerweise, von seinem Vater
am Unternehmen beteiligt worden sein.
({4})
In diesem Fall müssen sofort, wenn der Sohn längere
Zeit im Ausland ist und kein Doppelbesteuerungsabkommen vorhanden ist, stille Reserven aufgedeckt werden. Das kann nicht Ziel dieser Regelung sein. Wir müssen hier entschieden widersprechen. Im kommenden
Jahr müssen wir hierfür auf jeden Fall vernünftige und
familienfreundliche Regelungen für mittelständische
Unternehmen zustande bringen. Das ist unsere Aufgabe.
({5})
Darauf setze ich meine Hoffnung. Ich will dazu nur sagen: Das ist notwendig, und wir sollten das durchführen.
Ich bin gerne bereit, Kollege Binding, diese Sache in
Ruhe zu besprechen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, in meinem allerersten Lehrbuch zum Steuerrecht habe ich ein wunderbares Geleitwort gefunden - ich zitiere mit Genehmigung
des Präsidiums -:
Die edelste Aufgabe der deutschen Steuergesetzgebung ist die Erhaltung des Berufsstandes der
Steuerberater.
({6})
Ich kann nur mit großem Respekt sagen, dass wir hier
im Hohen Hause auch in diesem Jahr diesem hehren Anspruch wieder vollumfänglich gerecht werden:
({7})
Wir korrigieren unglaublich viele Vorschriften, wir lösen
steuerliche Einzelfälle durch eine allgemeine Gesetzesnorm, das Steuerrecht wird komplizierter und für den
einzelnen Steuerberater und Steuerpflichtigen immer undurchschaubarer.
Erlauben Sie mir dazu noch eine Bemerkung: Ich
halte es für hochbedenklich, so kurz vor Jahresende eine
Vielzahl von Steueränderungen zu verabschieden, die
neben denen, die wir bereits verabschiedet haben, ab
dem 1. Januar 2015 Geltung haben sollen. Den Steuerpflichtigen und ihren Beratern entsteht ein erheblicher
Mehraufwand, der so kurz vor dem Jahreswechsel eigentlich unzumutbar ist.
({8})
Wir sollten es als Gesetzgeber im Interesse unserer Bürger unbedingt vermeiden, Gesetzentwürfe - insbesondere auf dem Gebiet des Steuerrechts - so kurz vor dem
Jahresende zu verabschieden.
({9})
Ich glaube, dass es vernünftig wäre, uns darauf zu einigen, steuerliche Regelungen nur noch in der ersten
Jahreshälfte zu verändern, damit wir dann in der zweiten
Jahreshälfte aufgrund der Erfahrungen in der Praxis die
Fehler, die wir bei der ersten Verabschiedung gemacht
haben, korrigieren können, wie uns das nun gelingt.
Vielen herzlichen Dank für eure Aufmerksamkeit.
({10})
Der Kollege Andreas Schwarz hat für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mein Kollege
Jens Zimmermann hat schon viel Richtiges und Wichtiges gesagt, und ich möchte hier jetzt nicht mehr in epischer Breite nochmals zu allen Themen dieses Gesetzentwurfs Stellung nehmen. Das gibt meine Redezeit
nicht her, und ich möchte auch Frau Präsidentin nicht
verärgern.
({0})
Lassen Sie mich einen kurzen Blick auf die Geschichte dieses Gesetzentwurfs werfen. Dieser Gesetzentwurf ist nur im Kontext mit dem Kroatien-Gesetz zu
verstehen, das wir schon Mitte des Jahres angegangen
sind, sodass wir Ihre Anregung, Graf Lerchenfeld, schon
aufgenommen haben.
Wir hätten auch Zeit gehabt, vieles umzusetzen. Damals kamen von den Bundesländern ja auch schon viele
Änderungswünsche. Wir haben uns damals beim Kroatien-Gesetz aber darauf verständigt, vor allen Dingen
technische Anpassungen vorzunehmen. Daneben haben
wir uns darauf verständigt, weitere Veränderungen in einem zweiten Gesetz zu regeln. Dies tun wir jetzt in diesem Entwurf des sogenannten Zollkodex-Anpassungsgesetzes.
Zeit für die Prüfung der Länderwünsche wäre also gegeben gewesen, aber wir haben sie uns einfach nicht genommen. Wo ein Wille ist, da ist auch ein Gesetz möglich. Hier war er eben leider nicht bis zum Ende zu
erkennen.
({1})
Im Rückblick auf das Kroatien-Gesetz erkennen wir:
Gesetze können überaus erfolgreich sein. Sind sie es
nicht, dann sind wir jedoch auch in der Lage, nachzubessern und nachzusteuern. Das haben wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf getan.
Im Kroatien-Gesetz haben wir den § 50 i des Einkommensteuergesetzes sehr erfolgreich reformiert und somit
wichtige bis dato legale Steuerschlupflöcher schließen
können. Die Experten bei der Anhörung - außer der
BDI; das gebe ich zu - waren hier unserer Auffassung,
({2})
und die von Ihnen genannten Fälle sind noch nicht real
existent.
({3})
Nicht alles gelingt aber beim ersten Wurf. Wenn die
Kritik, die uns erreicht, überzeugend und auch zutreffend ist, dann ist die SPD-Bundestagsfraktion natürlich
auch bereit, Nachbesserungen vorzunehmen.
({4})
Wie gesagt: Bei § 50 i des Einkommensteuergesetzes ist
das nicht notwendig, wohl aber bei § 13 b des Umsatzsteuergesetzes, genauer gesagt, bei der Reverse Charge
für Metalllieferungen.
Die abstruse Situation, dass man beim Kauf einer einfachen Aluminiumfolie an der Supermarktkasse oder
beim Schraubenkauf im Baumarkt plötzlich unter die
Reverse-Charge-Regelung fiel, war für uns alle nicht
hinnehmbar. Dies hätte in diesen Fällen die Umkehr der
Steuerlast bedeutet. Konkret hätte man bei Edeka plötzlich eine separate Rechnung für den Kauf der Alufolie
bekommen, und die Steuerschuldnerschaft wäre auf den
Endverbraucher übergegangen.
({5})
Diesen vollkommenen Irrsinn haben wir in diesem Gesetzentwurf gestoppt. Indem wir eine Bagatellgrenze
von 5 000 Euro vorsehen und die Liste der Metalle noch
einmal kritisch beleuchtet haben, haben wir eine verbraucherfreundliche Regelung geschaffen.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Abschluss will
ich nochmals zur Geschichte dieses Gesetzes zurückkommen. Beim Beschluss des Kroatien-Gesetzes haben
wir die Länder vertröstet, dass wir zahlreiche Anliegen
im Zollkodex-Anpassungsgesetz umsetzen werden, Anliegen übrigens, die von SPD- wie von unionsgeführten
Ländern gleichermaßen formuliert wurden.
Dies ist nun leider nicht der Fall. Als ich den Gesetzentwurf in die Hand bekam, war ich, ehrlich gesagt, von
seinem sehr geringen Umfang überrascht. Nachvollziehbarerweise fiel die Stellungnahme des Bundesrates deutlich umfangreicher aus: Sie enthält zahlreiche Anregungen, die fachlich eigentlich Konsens im Hause finden.
Trotzdem konnten wir unseren Koalitionspartner leider
nicht überzeugen, entschieden auf die berechtigten Interessen der Länder einzugehen. Ich sage Ihnen ganz offen, dass sich die SPD-Fraktion hier etwas mehr hätte
vorstellen können,
({7})
ob nun im Bewertungsgesetz, bei den hybriden Gestaltungen im Streubesitz oder dem Porsche-Deal. Aus unserer
Sicht hat man hier die Chance vertan, weitere Steuerschlupflöcher zeitnah zu schließen und sinnvolle Änderungen in unserem Steuerrecht vorzunehmen.
Ewig können wir unsere Länder mit Sicherheit nicht
vertrösten, weshalb ich jetzt sehr gespannt bin, wie der
Bundesrat auf das Zollkodex-Anpassungsgesetz reagieren wird.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Anpassung der Abgabenordnung an den Zollkodex der
Union und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften.
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3441, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 18/3017
und 18/3158 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der Oppositionsfraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der
SPD-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 18/3452. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die antragstellende Fraktion - Bündnis 90/Die Grünen - und die Fraktion Die
Linke abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Energie ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Julia Verlinden, Christian Kühn
({1}), Oliver Krischer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die Energiewende durch Energieeffizienz
voranbringen - EU-Energieeffizienzrichtlinie
unverzüglich umsetzen
Drucksachen 18/1619, 18/2716
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Dr. Nina Scheer für die SPD-Fraktion.
({2})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der vorliegende Antrag trägt den Titel „Die
Energiewende durch Energieeffizienz voranbringen EU-Energieeffizienzrichtlinie unverzüglich umsetzen“.
Wie wir in der heutigen Aktuellen Stunde bereits ausführlich diskutiert haben, geschieht das bereits vollumfänglich.
({0})
- Ja, das geschieht. Es wurde gestern ein Kabinettsbeschluss gefasst,
({1})
mit dem zwei dicke Programme verabschiedet wurden,
die insgesamt über 100 Seiten umfassen, nämlich der
Klimaschutzaktionsplan und der Nationale Energieeffizienzplan. Heute haben wir schon ausführlich darüber
diskutiert, was alles mit diesen Plänen erreicht werden
kann. Wir haben aber natürlich auch darüber diskutiert,
an welcher Stelle es Schwierigkeiten gibt. Wir sollten so
ehrlich sein und klar benennen, in welchen Bereichen
wir hierzulande Schwierigkeiten haben, bestimmte
Strukturen zu verändern, zumal wir bis 2020 nicht mehr
so viel Zeit haben.
Das CO₂-Minderungsziel bis 2020 steht fest. Das ist
in den zahlreichen Debatten, die wir rund um diesen
Themenkomplex geführt haben, auch von niemandem
infrage gestellt worden. Insofern ist es müßig, die
Grundausrichtung in diesem Hause immer wieder infrage zu stellen. Der vorliegende Antrag zielt jedoch
darauf ab, das infrage zu stellen. Deswegen ist dieser
Antrag ein Stück weit überholt.
Ich möchte zunächst einmal ein paar Kernpunkte benennen. Wie gesagt, das ist heute schon einmal debattiert
worden. Ein wesentliches Element des Energieeffizienzplans, der gestern im Kabinett beschlossen wurde, ist
zum Beispiel, dass wir das Fördervolumen für die energetische Gebäudesanierung erhöhen möchten. Diesen
Punkt haben Sie in Ihrem Antrag auch erwähnt. Deshalb
kann man einen Haken daran machen. Insofern hat sich
die Forderung erledigt, das an die Bundesregierung
heranzutragen.
Gleiches gilt für die Ausweitung des Gebäudesanierungsprogramms. Auch die Einführung von Ausschreibungsmodellen ist vorgesehen. Viele Dinge in Ihrem Antrag klingen an, etwa die steuerliche Förderung der
energetischen Sanierung als zusätzlicher Anreiz. Das ist
Bestandteil des Nationalen Energieeffizienzplans. Auch
die Novellierung des Kraft-Wärme-Kopplungsgesetzes
ist heute schon thematisiert worden. Das ist zwar nicht
Bestandteil dieser Programme. Das deckt sich aber mit
dem Koalitionsvertrag und den Vorhaben, die in den
nächsten Monaten noch zu leisten sind. Stichwort Strommarktdesign. Dirk Becker hat das vorhin angesprochen.
Es ist das erklärte Ziel der Bundesregierung, in diesem
Bereich etwas auf den Weg zu bringen. Die KraftWärme-Kopplung wird sogar noch vorweggenommen
behandelt werden.
Insofern kann man sagen, dass sich Ihr Antrag allein
schon aufgrund der genannten Punkte erledigt hat. Nicht
erledigt hingegen hat sich natürlich unser gemeinsames
Vorhaben, die von Ihnen genannten Aspekte voranzubringen. In diesem Zusammenhang möchte ich ein paar
Punkte nennen, die eine Herausforderung sein werden,
weil natürlich auch die Punkte, die gestern im Kabinett
behandelt wurden, Bereiche enthalten, bei denen es noch
der Konkretisierung bedarf. Das sollte man aber nicht
nur einfach als Makel deklarieren, wie dies von Ihnen
heute Nachmittag kritisch angemerkt wurde. Vielmehr
möchte ich darauf hinweisen, dass man nicht alles mit
einem Programm bis zum Ende durchdeklinieren kann,
sondern dass man bestimmte Dinge auch entwickeln
muss.
({2})
Sie als Grüne haben sich zum Beispiel sehr stark für
den Handel mit Emissionszertifikaten eingesetzt. Wir
alle wissen, dass der Handel mit Emissionszertifikaten
sehr krankt. Zurzeit greift dieser nicht als Anreizmoment, um aktiven Klimaschutz zu gewährleisten. Wir
alle konnten vielleicht nicht abschätzen, wie sich der
Handel mit Emissionszertifikaten entwickeln wird. Ich
muss eingestehen, dass ich dabei schon immer etwas
skeptisch war. Viele andere waren auch skeptisch. Man
hat sich trotzdem darauf geeinigt. Sie waren Treiber dieses Programms. Man muss heute feststellen, dass er
möglicherweise hin und wieder auch blockiert. Wir haben aber den Handel mit Emissionszertifikaten. Jetzt
müssen wir dafür sorgen, dass er funktioniert.
Das ist ein Beispiel, an dem man erkennen kann, dass
die Definition von Handlungsbedarfen nicht immer so
einfach ist. Das ist gestern mit dem Kabinettsbeschluss
vollzogen worden. Es ist schwierig, gleichzeitig mit der
Definition von Handlungsbedarfen auch jeden Umsetzungsschritt mit zu definieren. Das ist schlichtweg nicht
immer so einfach möglich.
({3})
Es gibt weitere Tatsachen, die man berücksichtigen
muss. Wir haben eine sehr restriktive Vereinbarung weitere ordnungsrechtliche Schritte betreffend. Diese
Schritte sind mit dem Koalitionspartner jetzt nicht vorgesehen. Insofern müssen wir schauen, wie wir in den
Jahren bis 2020 anderweitig zurechtkommen. Hier muss
man immer wieder überprüfen, ob wir mit dieser Vereinbarung weiterkommen.
Eine Tatsache ist: Es ist immer noch sehr attraktiv,
Energie zu verschwenden. Eine weitere Tatsache ist der
Rebound-Effekt. Sprich: Es ist einfacher, in unserem
Land auf erneuerbare Energien zu setzen, als Energie
einzusparen. Das ist hierzulande leider immer noch so.
Diesen Tatsachen muss man ins Auge blicken, und man
muss sie mitberücksichtigen, wenn es um die Umsetzung geht.
({4})
Genau an diesem Punkt möchte ich dafür werben,
dass man erst einmal lobend hervorhebt, dass wir für
eine Verstetigung von bestimmten Programmen, natürlich auch mit Verbesserungsansätzen, eintreten, die sich
bewährt haben; denn wir haben gelernt, dass Verunsicherung das Schädlichste ist, was uns im Energieeffizienzbereich passieren kann.
Auf der Grundlage der zuvor genannten Punkte
möchte ich einfach darum bitten, dass wir die gesammelten Erfahrungen der letzten Jahre in die Umsetzung der
vorliegenden Maßnahmenpakete einbringen. Dazu gehört auch die Erkenntnis, dass wir erneuerbare Energien
brauchen, dass es eine Verquickung zwischen den erneuerbaren Energien und der Wärmewende gibt, dass wir
eine Verknüpfung zu Effizienzmaßnahmen brauchen.
Die Erfahrungen, die wir gemacht haben, sollten wir dabei berücksichtigen. Es darf nicht passieren, dass die erneuerbaren Energien einen Einbruch erleben. Damit
möchte ich einen Schlusspunkt setzen.
Mir bleibt abschließend nur noch, zu sagen, dass der
Antrag in der vorliegenden Form überholt ist - ich verweise auf die vorgelegten Programme und unsere Vorhaben - und insofern abzulehnen ist.
Vielen Dank.
({5})
Die Kollegin Eva Bulling-Schröter hat für die Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wenn wir über Effizienz sprechen, müssen
wir auch über Gebäudesanierung reden. Der Ruf der Gebäudesanierung ist zurzeit total mies. „Die Volksverdämmung“ titelt Der Spiegel diese Woche ziemlich böse. Es
heißt, die Wärmedämmung führe nicht zu niedrigeren
Heizkosten, man hantiere mit giftigen Materialien, und
all das nutze nur geldgierigen Investoren, die Mieter vertreiben. Ja, die Dämmung sei sogar brandgefährlich, so
war diese Woche zu lesen.
Diesen schlechten Ruf hat die Wärmedämmung zum
Teil zu Recht. Es ist einem schweren Fehler der Politik
geschuldet, dass es zum Beispiel Vermietern ermöglicht
wird, große Teile von Sowiesokosten für Modernisierung unter dem Deckmantel der Ökologie binnen kurzer
Frist auf die Miete umzulegen. Vermieter können die
Wärmedämmung zum lukrativen Geschäftsmodell machen und bei den Mietern absahnen. Das lehnen wir ab.
({0})
Das ist leider tatsächlich möglich, und damit muss
endlich Schluss sein. Die Modernisierungsumlage muss
dringend überarbeitet und unbedingt kurzfristig auf
5 Prozent gesenkt werden, sonst wird es keine Akzeptanz von dringend notwendigen Sanierungsmaßnahmen
geben. Der schlechte Ruf der Gebäudesanierung ist für
mich größtenteils lobbygesteuert; denn in unzähligen
Fällen ist die Sanierung erfolgreich und nützt den Menschen und der Umwelt; das wissen wir doch alle.
({1})
Sie von den Grünen verzeihen mir bitte, dass ich
heute weniger über Ihren Antrag rede, sondern mehr
über den Nationalen Aktionsplan Energieeffizienz. Dieser setzt auf besonders rentable Geschäftsmodelle; eine
Vokabel, die viele Leute eher fürchten als befürworten,
weil sie die Auswirkungen dieser sogenannte Geschäftsmodelle durch Mieterhöhungen schmerzhaft zu spüren
bekommen haben.
Ich begrüße ausdrücklich, dass laut Nationalem Aktionsplan Energieeffizienz Maßnahmen zur Gebäudesanierung und andere Effizienzmaßnahmen endlich von
der Steuer abschreibbar sind.
({2})
Dies halte ich für einen guten Schritt.
Dieser Effizienzplan ist aber kein Ersatz für ein Gesamtkonzept, das unbedingt langfristig angelegt werden
muss. Angesichts des bisher Versäumten wirkt er eher
wie eine Art Notfallplan.
Aber der Kern meiner Kritik ist ein anderer: Der Nationale Aktionsplan Energieeffizienz setzt allein auf
Freiwilligkeit und Förderung. Ich habe meine Zweifel.
Ich frage mich, ob er damit den gewünschten Erfolg haben wird, oder ob sich am Ende herausstellt, dass das alles Luftschlösser waren. Zu viele Beispiele freiwilliger
Selbstverpflichtung sind bereits gescheitert. Wir haben
in unserer Zeit als Parlamentarier bereits entsprechende
Erfahrungen gemacht.
Angesichts der Dringlichkeit, die eine drohende Klimaschutzlücke mit sich bringt, ist in der gegenwärtigen
Situation das vollständige Setzen auf freiwillige Maßnahmen der falsche Weg.
({3})
Sie wollen Energieeffizienz zu einem Lifestyle-Produkt machen wie das schnittige Auto, das neueste Smartphone oder die italienische Kaffeemaschine. Wie soll
man sich das vorstellen? Dämmung als der letzte Schrei
für modebewusste Yuppies? Ich sehe schon Agenturen
daran arbeiten, die Energieeffizienz sexy zu machen,
({4})
nach dem Motto „Schau mir auf die Holzhackschnitzelheizung, Kleines“. Das ist doch ein Witz.
({5})
Zum Glück gibt es Beispiele wie Dänemark. Dänemark ist Deutschland ein paar Schritte voraus. Und wie
haben die Dänen das geschafft? Richtig: mit Ordnungsrecht. Im Neubau ist in Dänemark der Einbau von Ölund Gasheizungen seit 2013 verboten. Ab 2016 müssen
auch Altbauten auf Gas und Öl verzichten, sofern sie an
ein Fernwärmenetz angeschlossen werden können. Dänemark setzt seit vielen Jahren konsequent auf erneuerbare Wärme, Fernwärme und Kraft-Wärme-Kopplung.
70 Prozent der Fernwärme stammen aus erneuerbaren
Energien oder der Müllverbrennung.
Der Schlüssel zum Erfolg ist ein ambitioniertes Ordnungsrecht, also klare Vorgaben aus der Politik, die selbstverständlich sozial flankiert werden müssen. Anders werden wir es nicht schaffen. Es bleibt nicht mehr viel Zeit,
liebe Kolleginnen und Kollegen.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Herlind Gundelach für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Damen und Herren auf der Tribüne! Ich glaube, es
gibt kaum ein Thema, über dessen Bedeutung sich die
im Bundestag vertretenen Parteien in der Zwischenzeit
so einig sind. Die Steigerung und Förderung der Energieeffizienz ist ein zentraler Bestandteil der Energiewende. Die Energieeffizienz ist der schlafende Riese,
und wir sind uns alle darüber im Klaren, dass wir diesen
schlafenden Riesen wecken müssen. Denn ohne eine signifikante Steigerung der Effizienz ist die Energiewende
nicht zu schaffen.
Der vorliegende Antrag, über den wir heute zum
zweiten Mal debattieren, reicht schon eine Weile zurück.
Er fordert die unverzügliche Umsetzung der EU-Energieeffizienz-Richtlinie. Die Umsetzungsfrist - ich nehme
an, darauf werden Sie noch eingehen - ist am 5. Juni
2014 abgelaufen. Es ist verständlich, und ich finde es
auch in Ordnung, dass die Grünen als Oppositionsfraktion darauf reagiert haben. Das hätten wir an Ihrer Stelle
vermutlich auch getan.
({0})
- Doch, das glaube ich schon.
({1})
- Da sind Sie völlig falscher Auffassung. Denn wir sind
der Überzeugung, dass die Energieeffizienz ein ganz
zentraler Bestandteil ist. Das wird gleich in meiner Rede
noch an manchen Stellen deutlich.
({2})
- Wir haben eine ganze Menge gemacht. Deswegen sind
wir in Europa immer noch mit die Besten, was diese
Frage angeht.
({3})
Ich kann Ihnen aber versichern, dass die Bundesregierung - das ist gerade schon angeklungen - mit Hochdruck gearbeitet hat und deshalb gestern den Nationalen
Aktionsplan Energieeffizienz und auch das Klimapaket
im Kabinett verabschiedet hat.
Energieeffizienz ist aus vielen Gründen wichtig. Zunächst einmal gilt: Was nicht verbraucht wird, muss auch
nicht produziert werden. Gleichzeitig leistet die Förderung der Energieeffizienz einen wesentlichen Beitrag zu
anderen energiepolitischen Kernaufgaben wie die Steigerung der Versorgungssicherheit, die Sicherstellung der
Bezahlbarkeit von Energie, die Reduzierung des Netzausbaubedarfs, die Unterstützung der Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen und damit auch die Schaffung und Erhaltung von Arbeitsplätzen.
Außerdem leistet sie einen erheblichen Beitrag zur
Erreichung der Klimaschutzziele. So reduziert sich beispielsweise allein durch die energetische Sanierung des
Gebäudebestandes in Deutschland der jährliche Ausstoß
des Treibhausgases CO2 infolge der geförderten Baumaßnahmen um 7 Millionen Tonnen.
({4})
Deutschland ist in Sachen Energieeffizienz in Europa
Vorreiter; dazu gibt es hinreichend Studien. Unsere Ergebnisse finden weltweit Beachtung. Uns ist es als Industrienation gelungen, das Wirtschaftswachstum vom
Energieverbrauch zu entkoppeln, und das schon seit vielen Jahren. Wir verzeichnen in den letzten Jahrzehnten
- sei es das Gewerbe, der Handel oder die Industrie - erhebliche Effizienzgewinne, in Zahlen: rund 12 Prozent
jährlich. Aber durch einen unangepassten Umgang, unseren nach wie vor steigenden Bedarf und einige andere
Faktoren wurden diese Gewinne leider fast gänzlich neutralisiert. Deswegen war für die schwarz-rote Koalition
von Anfang an klar, dass wir neue Lösungen finden müssen, dass wir Energieeffizienz zum Teil neu denken sollten, um insbesondere bisher zu wenig beachtete Faktoren und Akteure stärker in den Blick nehmen zu können,
und dass wir vor allem auch die Einbeziehung der Bevölkerung signifikant steigern wollen.
Wie ich eingangs erwähnte, bin ich fest davon überzeugt, dass wir uns alle über die Bedeutung der Energieeffizienz einig sind. Aber es gibt einen Unterschied. Wir
alle haben das gleiche Ziel, aber unsere Lösungswege
gehen zum Teil recht weit auseinander, wie der Antrag
der Grünen abermals zeigt und die gestrige Regierungsbefragung erneut unter Beweis gestellt hat. Energieeffizienz funktioniert nach unserer Auffassung nur, wenn sie
als Chance und Ansporn verstanden wird; das hat die
Vergangenheit gezeigt. Zwang hingegen führt in der Regel zu Stillstand. Da musste auch meine Partei in einem
Bundesland durchaus schlechte Erfahrungen machen.
Aber Sie verfallen in die gleichen fehlerhaften Verhaltensweisen.
Wir setzen auf Ansporn, Freiwilligkeit und Eigenverantwortlichkeit. Darauf setzt auch der Nationale Aktionsplan Energieeffizienz. Mit dem NAPE schreiben
wir letztendlich eine Erfolgsgeschichte in Sachen Energieeffizienz fort. Das ist das krasse Gegenteil von dem,
was Sie gerade behauptet haben. Der NAPE setzt aber
auch erhebliche neue Akzente. Er setzt vor allem drei
wesentliche Pfeiler zum Marktanreiz: Energieeffizienz
im Gebäudebereich voranbringen, Energieeffizienz als
Geschäftsmodell etablieren und für mehr Eigenverantwortung sorgen, verbunden mit mehr Information und
Beratung. Im Bereich der Energieeffizienz lohnen sich
die meisten Investitionen. Sie sind wirtschaftlich. Unsere
Aufgabe ist, hier verlässliche und gute Rahmenbedingungen zu schaffen sowie sinnvolle Anreize zu setzen.
Ich will hier nicht alle geplanten Maßnahmen des
NAPE wiedergeben, da sie heute schon genannt wurden;
das würde auch zu lange dauern. Die Sofortmaßnahmen
wie die Aufstockung der Mittel für das CO2-Gebäudesanierungsprogramm und die steuerliche Förderung der
energetischen Gebäudesanierung will ich ebenfalls nicht
extra erwähnen. Ich möchte viel lieber auf die geplanten
weiterführenden Arbeitsprozesse zu sprechen kommen,
die der NAPE ebenfalls formuliert. Es gibt Bereiche
- das ist mir wichtig -, die man zusätzlich beleuchten
könnte. Dazu gehört für uns zum Beispiel die Verbesserung der Rahmenbedingungen für Contracting. Wir alle
haben schon viel über das Investor-Nutzer-Dilemma diskutiert. Darüber hinaus wissen wir, dass es auch für Eigenheimbesitzer zum Teil finanziell nicht machbar oder
nur schwer machbar ist, eine energetische Sanierung
durchzuführen. Selbst wenn sich die Kosten amortisieren, fehlt oft der Anreiz oder schlicht und ergreifend das
Geld für eine Finanzierung. Hier könnten wir zum Beispiel über eine Ausweitung von Mini-Contracting-Modellen nachdenken. Durch diese Form der Finanzierung
könnte ohne eigenes Kapital eine Modernisierung durchgeführt werden. Sogar eine vom Mieter angeregte energetische Sanierung wäre hier denkbar. Bisher sind die
Rahmenbedingungen für derartige Ansätze allerdings
nicht zufriedenstellend ausgestaltet.
Der zweite Punkt, der mir auch persönlich sehr wichtig ist, ist: Deutschland war immer ein Land der Forscher
und Entwickler. Um Innovationen im Bereich der Energieeffizienz hervorbringen zu können, müssen die Hochschul- und Forschungseinrichtungen über ausreichend
Mittel verfügen. Das ist vor allem ein Appell an die Länder - das sage ich als ehemalige Wissenschaftssenatorin
ganz bewusst -, hier ihrer Verantwortung gerecht zu
werden.
Außerdem ist es wichtig, die Unternehmen stärker
einzubeziehen, insbesondere auch die kleinen und mittelständischen; das ist ein grundlegender Gedanke, der
den NAPE durchzieht. Dann müssen wir aber auch die
Rahmenbedingungen für die Forschungs- und Entwicklungskosten im Sinne der kleinen und mittelständischen
Unternehmen anpassen; denn nicht jedes Forschungsvorhaben ist von Erfolg gekrönt. Es muss daher endlich
möglich sein, diese Kosten steuerlich geltend zu machen. Sonst werden wir vermutlich auf lange Sicht international abgehängt werden.
Zusammenfassend lässt sich feststellen: Die Lösungsansätze für die Förderung der Energieeffizienz in
Deutschland sind vielfältig. Es gibt nicht nur die eine
ideale Lösung. Unterschiedliche Voraussetzungen und
Gegebenheiten erfordern nun einmal unterschiedliche
Lösungen. Energieeffizienz ist nichts für die Gießkanne.
Mit der Umsetzung der EU-Effizienzrichtlinie und
der Verabschiedung des NAPE werden wir ein ganz entscheidendes Stück weiterkommen. Wir bauen Barrieren
und Hemmnisse ab. Wir regen an, sich mit dem Thema
intensiv auseinanderzusetzen und dann auch die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen. Wir fördern Initiativen, und wir unterstützen auch monetär, wo es nötig ist.
Dabei steht eines für die CDU/CSU-Fraktion immer außer Frage: Energieeffizienz funktioniert am besten ohne
Zwang.
({5})
Im Übrigen kann ich mich den Ausführungen der
Kollegin Scheer nur anschließen: Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen ist durch die Beschlüsse des Kabinetts in den letzten Wochen und in den letzten Tagen
überholt. Deswegen lehnen wir ihn ab.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Julia Verlinden für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Wir Grüne haben im Juni dieses
Jahres diesen Antrag eingebracht, weil wir wollen, dass
in der Energieeffizienzpolitik endlich etwas passiert, und
weil wir wollen, dass die EU-Energieeffizienzrichtlinie
endlich vollständig und korrekt umgesetzt wird.
({0})
In der Zwischenzeit ist ein blauer Brief aus Brüssel gekommen, und es ist wirklich wenig passiert. Sie erzählen
uns immer, Sie seien die größten Freunde der Energieeffizienz. Aber die Frage ist doch, ob Sie auch Energieeffizienzpolitik machen. Bisher ist Ihre Liebe zur Energieeffizienz eher im Verborgenen geblieben.
({1})
Ich weiß, was Sie von der SPD und der Union zum
Teil schon gesagt haben und gleich wieder sagen werden: Nun warten Sie doch erst einmal ab, Frau
Verlinden; das kommt schon alles noch. - Das erzählen
Sie mir nun seit einem Jahr. Aber ich sage Ihnen: Ich
habe es satt, abzuwarten.
({2})
Ehrlich gesagt, habe ich nicht für den Bundestag kandidiert, um abzuwarten. Die Klimakrise wartet auch nicht.
({3})
Das Kabinett hat gestern den NAPE, also den Nationalen Aktionsplan Energieeffizienz, vorgestellt, wobei
die Aktion aus dem Wort „Aktionsplan“ erst noch folgen
muss. Bisher sind das alles nur Ankündigungen. Sie haben sich heute Mittag in der Klimadebatte gewünscht,
dass wir Grüne das kritisch im Parlament begleiten. Ja,
Sie können sich darauf verlassen, dass wir Sie daran erinnern, dass bei der Energieeffizienzpolitik etwas passieren muss. Deswegen steht unser eigener Antrag heute
wieder auf der Tagesordnung.
({4})
Im Aktionsplan Energieeffizienz stehen viele geplante Maßnahmen und keine großen Überraschungen.
Überrascht und auch wirklich geärgert hat mich aber,
dass die Bundesregierung nicht bereit war, diese
Maßnahmen im Haushalt für 2015, der ja letzte Woche
beschlossen wurde, auch mit Geld zu hinterlegen. Deswegen frage ich mich: Geht bei Ihnen die Energieeffizienzpolitik eigentlich erst 2016 los? Wollen Sie wirklich noch ein Jahr warten?
({5})
Mit dem Aktionsplan Energieeffizienz werden Sie das
Ziel, das Sie sich selbst gesteckt haben, selbst dann nicht
erreichen, wenn all Ihren Worten darin noch Taten folgen werden. Denn im Vergleich zum Jahr 2008 wollen
Sie ja 20 Prozent Energie einsparen bis 2020. Die Hälfte
der Zeit ist herum, und Sie haben nicht einmal 4 Prozent
geschafft. Wie wollen Sie also in der restlichen Zeit Ihr
Ziel noch erreichen? Die im NAPE angekündigten Maßnahmen werden dazu nicht reichen; das hat Minister
Gabriel gestern selbst zugegeben. Das magere Ergebnis
bisher, die knapp 4 Prozent Energieeinsparung seit 2008,
muss sich vor allem die Union zuschreiben; denn sie hat
ja die letzten Jahre regiert. Wenn ich dann lese, dass Abgeordnete aus der Union - auch Frau Gundelach, die hier
eben sprach und sagte, wie wichtig die Energieeffizienz
doch ist - den Aktionsplan Energieeffizienz sogar noch
verwässern oder noch einmal verschieben wollen, dann
frage ich mich wirklich, wie ernst Sie es mit dem Energieeinsparziel und mit der Energiewende eigentlich meinen.
({6})
Ich stehe mit meiner Kritik übrigens nicht allein da.
Neben dem Aktionsprogramm Klimaschutz und dem
NAPE ist gestern auch der Fortschrittsbericht zur Energiewende veröffentlicht worden. Ich zitiere hier jetzt aus
der Stellungnahme der Experten, die Sie selbst beauftragt haben:
Die Expertenkommission kann nicht nachvollziehen, wie die Regierung bei Festhalten am Effizienzziel ein großes Defizit feststellen kann, dann aber
Maßnahmen vorschlägt, die kaum mehr als ein
Drittel des Defizits ausgleichen können. Die Expertenkommission hätte eine Aussage dazu erwartet,
wie mit der verbleibenden Deckungslücke umgegangen werden soll.
Das hätte ich von der Bundesregierung auch erwartet,
und zwar ganz konkret.
Ich will hier keine Sonntagsreden hören; ich will wissen, wie Sie Politik gestalten wollen, wie Sie politische
Maßnahmen umsetzen. Ich will hier im Parlament mit
Ihnen über Finanzierung und konkrete gesetzliche
Rahmenbedingungen diskutieren. Das ist doch keine
Talkshow hier! Das Parlament muss gestalten!
({7})
Das, was Sie gestern mit dem NAPE vorgelegt haben,
sind vor allem Maßnahmen für die Nachfrageseite - und
das ist auch sehr wichtig, da wir den Endenergieverbrauch reduzieren wollen. Der Wirtschaftsminister hat
gestern aber auch gesagt, dass er die verbliebene Lücke
zum Effizienzziel mit Einsparungen auf der Erzeugungsseite decken will - ein richtiger Ansatz; jedoch: Wirklich
konkret ist er nicht geworden.
Wenn Sie den Strukturwandel konsequent in Richtung
eines Kohleausstiegs vorantreiben und den Ausbau der
erneuerbaren Energien wieder ambitioniert in den Mittelpunkt rücken würden, dann würde das dem Klima und
auch Ihrem Primärenergieeinsparungsziel nützen.
({8})
Stattdessen haben Sie den Ausbau der Erneuerbaren gedeckelt und wollen läppische 22 Millionen Tonnen CO2
im Kraftwerkspark sparen, was in etwa 150 Petajoule
entsprechen würde. Selbst wenn Sie hoffen, im Verkehr
noch was einsparen zu können: Sie brauchen dann immer noch 550 Petajoule, um Ihr eigenes Ziel zu erreichen. Ein Drittel Ihres selbst gesteckten Energieeinsparziels bleibt also offen - nach all den Maßnahmen, die Sie
hier bisher angekündigt haben.
Helfen würde auch, wenn Sie Ihr Ziel zur KraftWärme-Kopplung ernsthaft verfolgen würden. Aber das
Streichen des KWK-Indikators im Monitoringbericht zur
Energiewende lässt mich befürchten, dass Sie die KWK
schon abgeschrieben haben.
Was lange währt, wird endlich gut? Ich weiß nicht.
Bei Ihrer Effizienzpolitik hat sich das leider noch nicht
bewahrheitet. Wenn Sie im Parlament selbst keine
Anträge zu dem Thema stellen, dann stimmen Sie doch
einfach unserem Antrag zu. Der ist überhaupt nicht überholt, sondern packt das Thema jetzt konsequent und konkret an.
({9})
Der Herr Kollege Klaus Mindrup hat für die SPDFraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir alle tragen hier gemeinsam eine große
Verantwortung. Die Energiewende muss ein Erfolg werden. Wir wissen auch, dass sie auf zwei wesentlichen
Säulen basiert: auf der Energieeffizienz und auf den erneuerbaren Energien. Das an sich ist aber trivial.
Manche sprechen von einer Energierevolution; ich
meine, wir brauchen eine Energieevolution. An dieser
Stelle muss man sich ehrlich machen. Keine große Industrienation ist vor uns diesen Weg gegangen. Wir sind
die Pioniere.
({0})
Wenn ich den Vergleich mit Dänemark höre - nichts
gegen die Dänen; man muss von überall lernen; man
muss überall gucken, was gut gemacht wird -, muss ich
sagen: Dänemark kann man wohl eher mit SchleswigHolstein vergleichen als mit der gesamten Bundesrepublik.
({1})
- Schleswig-Holstein bekommt eine ganze Menge hin.
Aber vergleichen wir die Statistiken demnächst.
Mein Dank geht an dieser Stelle ausdrücklich an
Barbara Hendricks und an Sigmar Gabriel für das
Aktionsprogramm Klimaschutz und den Nationalen
Aktionsplan Energieeffizienz. Beides ist gestern beschlossen worden, und das hat den heute vorliegenden
Antrag gegenstandslos gemacht.
Es ist richtig, liebe Kolleginnen und Kollegen von
den Grünen: Beide Vorlagen enthalten auch Prüfaufträge. Ich habe heute schon mehrere Zwischenrufe gehört, in denen betont wurde, dass Prüfaufträge darin
sind. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von den
Grünen, bei so einer komplexen Materie ist es doch richtig: Erst prüfen, dann handeln.
({2})
Wenn Sie bei den Grünen es andersherum machen - erst
handeln, dann prüfen -, dann ist das Ihre Sache. Wir machen das nicht so, weil das unseriös und gefährlich ist.
Unser Motto ist: Gründlichkeit vor Hektik.
({3})
Sowohl Barbara Hendricks als auch Sigmar Gabriel
haben betont, dass die Ziele für den Klimaschutz und die
Energieeffizienz gelten, die dieses Haus vor langer Zeit
beschlossen hat. Ich weiß nicht, warum Sie das nicht zur
Kenntnis nehmen wollen, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen. Hörgeräte zu verteilen, wird an dieser Stelle wohl nicht helfen.
({4})
Große Ziele erfordern große Anstrengungen. Wenn
man es richtig macht, bietet die Steigerung der Energie6980
effizienz große Chancen für die Menschen in unserem
Land, für den Mittelstand und für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Gerade Effizienztechnologien
werden ein Exportschlager werden. Es geht um nichts
anderes als um die ökologische Modernisierung. Es geht
um die Schaffung eines modernen Deutschlands, das im
Jahr 2050 auf einer weitgehend dekarbonisierten Wirtschaft basieren wird.
Natürlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen
wir die Potenziale nutzen, vor allem in den Quartieren.
Die ganze Intelligenz muss in die Quartierslösungen
hinein. Wir brauchen Kraft-Wärme-Kopplung als Effizienztechnologie; das wird natürlich auch schon gemacht. Wir brauchen Strom- und Wärmespeicher, Solarenergie und Geothermie, Power to Heat, intelligente
Mess-, Steuerungs- und Regelungstechnologien
({5})
- ich kann Ihre Zwischenrufe nicht verstehen; da müssen
Sie schon lauter rufen -,
({6})
die über das Internet verbunden werden und dabei helfen, Energie intelligent zu nutzen.
Kollege Mindrup, ich habe die Uhr angehalten, weil
der Abgeordnete Kühn um die Möglichkeit bittet, Ihnen
eine Frage zu stellen oder eine Bemerkung zu machen.
Das kann er gerne machen. Bitte, bitte.
Dann haben Sie das Wort.
Lieber Kollege Mindrup, Sie haben gerade das Hohelied auf das Quartier und die energetische Quartiersanierung gesungen. Ich frage mich, wo im NAPE Maßnahmen zur Erhöhung der Energieeffizienz im Quartier
enthalten sind. Wenn sie nicht im NAPE enthalten sind,
wann gedenken denn die Bundesregierung und auch die
SPD-Fraktion sich dafür einzusetzen, dass die Energiewende auch im Quartier ankommt?
Wir machen das ja bereits. Sie müssen sich nur das
Programm „Energetische Stadtsanierung“ ansehen; da
wird das bereits praktiziert.
({0})
Es gibt auch KfW-Programme, in deren Rahmen das
bereits praktiziert wird. Das befindet sich also in einer
vernünftigen Umsetzung.
({1})
Das muss weitergeführt werden, und das wird auch weitergeführt.
({2})
Aus meiner Sicht brauchen wir mehr genossenschaftliche Lösungen. Denn da tun sich viele Menschen zusammen, um etwas Wirtschaftliches und Gutes auf den
Weg zu bringen. Vor allen Dingen gibt es dort, Frau
Dr. Gundelach, in der Regel kein Investor-NutzerDilemma. Da können wir also etwas tun.
Wir müssen natürlich auch Hürden überwinden. Mich
persönlich ärgert die steuerliche Diskriminierung von
Mieterstrom. Ich hoffe, dass wir darüber noch nachdenken werden.
Aber zurück zum Nationalen Aktionsplan Energieeffizienz. Was ich da ganz wichtig finde, ist, dass auch
kleinteilige Maßnahmen gefördert werden. Lieber tausend kleine Projekte als ein Leuchtturmprojekt!
({3})
Ich kann ein Beispiel aus Berlin erwähnen, das man
bundesweit ausweiten könnte - das gibt es seit über
20 Jahren -: das Projekt „Fifty/Fifty“ an Schulen. Dabei
geht es um verhaltensbedingte Energieeinsparung und
darum, die Menschen dabei mitzunehmen und ihnen
deutlich zu machen, dass ihr Verhalten sehr wichtig ist.
Das Interessante ist: Man kann die Ergebnisse messen
und nachweisen, dass Energie eingespart wird.
Die Überschrift des Aktionsplans Energieeffizienz
„Mehr aus Energie machen“ ist richtig.
Kollege Mindrup, Sie wurden offensichtlich erhört,
nicht was die Lautstärke der Zwischenrufe betrifft,
({0})
aber die Möglichkeit des Austausches. Die Kollegin
Verlinden wünscht das Wort.
Bitte.
Vielen Dank, dass Sie meine Zwischenfrage
zulassen. - Sie haben gerade sehr viele Projekte genannt,
die es schon lange Zeit gibt und die zum Teil auch einen
erfolgreichen Beitrag dazu geleistet haben, die Energieeinsparung voranzutreiben. Aber Fakt ist doch, dass Sie
nach wie vor eine Lücke haben werden. Sie werden Ihr
Ziel nicht erreichen, wenn Sie nicht mehr machen als
das, was Sie bzw. die Union schon immer getan haben,
und zusätzlich nur die Maßnahmen umsetzen, die der
NAPE enthält. Das hat Ihnen doch die Expertenkommission ins Stammbuch geschrieben. Deswegen verstehe ich
nicht, warum Sie nicht endlich eine Antwort auf die
Frage geben, wie Sie das letzte Drittel, das noch übrig
ist, einsparen wollen.
Wenn Sie in die Zukunft sehen können und hier die
Rolle der Kassandra wahrnehmen wollen, dann kann ich
das an dieser Stelle nicht teilen.
({0})
- Nein, nein, nein. Was die Experten geschrieben haben,
haben wir gelesen. Die Regierung hat klar erklärt,
welche Maßnahmen notwendig sind, um das Ziel zu erreichen.
({1})
- Doch.
({2})
- An dieser Stelle könnten wir uns, glaube ich, ewig
streiten. Die Regierung hat gesagt, dass die Ziele feststehen, sie hat Maßnahmen aufgeführt, mit denen man
diese Ziele erreicht, und sie hat gesagt: Wir überprüfen
das jährlich, und wir machen uns ehrlich.
({3})
Das muss man doch zur Kenntnis nehmen. Sie haben da
eine andere Auffassung; Sie nehmen das nicht zur
Kenntnis. Was soll ich dazu sagen? Da kommen wir
nicht zusammen.
({4})
Sie müssen wissen, ob Sie Ihre Funktion als Kassandra
weiterhin ausüben wollen oder nicht. Ich kann Ihnen an
dieser Stelle nicht helfen. Machen Sie es doch konkreter,
wenn Sie Vorschläge haben. Der Antrag, den Sie jetzt
eingebracht haben, ist doch überhaupt nicht konkret.
({5})
Ich habe ein ganz anderes Problem: Im Augenblick
wird hier alles zerredet. Das führt dazu - die KfW merkt
das schon -, dass es nach bestimmten Programmen keine
so große Nachfrage mehr gibt
({6})
- nein, es geht um die bestehenden Programme zur Energieeffizienz
({7})
und zur ökologischen Sanierung und um CO2-Programme -, weil hier ständig davon geredet wird - daran
haben auch Sie einen Anteil -, dass das alles nichts
bringt.
({8})
Das ist ein Problem. Denn der Bürger weiß im Prinzip
gar nicht, was er machen soll, wenn hier ständig kritisiert
wird, und zwar von Ihnen und von ein paar Verirrten, die
der Auffassung sind, dass man damit keinen Klimaschutz machen kann.
({9})
Ich finde, das ist ungünstig. Das ist schlecht für dieses
Land. Sie müssen sich überlegen, welche Rolle Sie hier
spielen wollen. Geht es Ihnen um den Schutz des Weltklimas,
({10})
oder wollen Sie das aktuelle politische Klima anheizen?
Ich finde, das ist ein Problem.
({11})
Ja, es ist ein wirkliches Problem. Insofern hilft
manchmal ein Blick in ein altes Buch. Im Lukas-Evangelium steht: Im Himmel ist mehr Freude über einen reuigen Sünder als über tausend Gerechte. - Darüber sollten
Sie einmal nachdenken.
({12})
Für die CDU/CSU-Fraktion beschließt der Kollege
Hansjörg Durz die Debatte.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! „Machen Sie mal!“,
({0})
so ähnlich lauteten die Zwischenrufe der Opposition, als
wir diesen Antrag am 5. Juni hier schon einmal debattierten. In der Debatte wurden von allen Fraktionen die
Notwendigkeit und die Vorteile von Energieeffizienzmaßnahmen eingehend diskutiert, und alle waren sich einig, dass Energieeffizienz ein ganz entscheidender Faktor ist, um - wir haben es heute bereits mehrfach gehört CO2-Ziele zu erreichen, den Ausbau der Infrastruktur zu
begrenzen, die Abhängigkeit von Importen zu reduzieren und Investitionen zu fördern.
Es herrscht große Einigkeit über die Wirkung und die
Bedeutung von Energieeffizienzmaßnahmen. Die Kritik
„Machen Sie doch mal!“ bezog und bezieht sich darauf,
dass Deutschland bei der Umsetzung der EU-Energieeffizienzrichtlinie in Teilen hinterherhinkt. Die Richtlinie
wurde zwar nur von ganz wenigen Ländern fristgerecht
umgesetzt, von Deutschland jedoch nicht. Deshalb ist
die Kritik am zeitlichen Verzug durchaus berechtigt.
({1})
Das bedeutet aber nicht, dass bei der Energieeffizienz
in Deutschland nichts vorangegangen wäre. Deutschland
ist die einzige Industrienation, in der Wirtschaftswachstum und Energieverbrauch entkoppelt sind. Aktuelle
Prognosen gehen davon aus, dass wir im Jahr 2014 einen
um etwa 5 Prozent niedrigeren Energieverbrauch haben
werden. Diese Reduzierung des Verbrauchs ist nicht nur
mit milderen Temperaturen zu erklären, sondern spiegelt
auch Effekte von Energieeinsparungen und Effizienzmaßnahmen wider.
({2})
Kollege Durz, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Verlinden?
Bitte.
Herzlichen Dank. - Sie haben eben gesagt: Es ist etwas passiert im Bereich Energieeffizienz. - Man kann
nicht bestreiten, dass etwas passiert ist. Aber ich frage
mich trotzdem, warum wir bisher, seit 2008, erst bei
3,8 Prozent Einsparung der Primärenergie liegen, obwohl wir im Jahr 2012 immerhin bei 4,3 Prozent und
2011 bei 5,4 Prozent lagen.
Das heißt, wir hatten von 2008 bis 2011, also in diesen
drei Jahren, mehr geschafft und sind dann sozusagen
wieder abgefallen. Diese Frage habe ich gestern Herrn
Gabriel gestellt. Er hat sie mir nicht beantwortet. Aber
vielleicht weiß Herr Durz viel besser Bescheid. Vielleicht können Sie mir erklären, woran das genau liegt;
denn das ist ja ein Problem.
Herr Gabriel hat die Frage sehr wohl beantwortet.
({0})
- Aus meiner Sicht doch, das habe ich schon so verstanden. Außerdem wollen wir ja in die Zukunft blicken, und
wir wollen die Lücke, die es gibt, schließen, und dies tun
wir mit NAPE, ganz einfach.
({1})
Dennoch: Um die Energiewende zum Erfolg zu führen und die Klimaschutzziele zu erreichen - wir haben
darüber bereits heute in der Aktuellen Stunde diskutiert -,
müssen wir deutlich größere Anstrengungen unternehmen. So haben die Redner der Koalitionsfraktionen auf
dieses „Machen Sie mal!“ am 5. Juni mit dem Hinweis
reagiert, dass die Regierung an einem Aktionsplan arbeitet.
Gestern hat das Kabinett nun „gemacht“ und den Nationalen Aktionsplan Energieeffizienz beschlossen. Darin sind Maßnahmen und Ziele formuliert, die es ermöglichen, die nationale Einsparverpflichtung aus der EUEnergieeffizienzrichtlinie vollständig sicherzustellen,
und das - was für uns und für die Umsetzung sehr wichtig ist - mit einem Programm, welches die Potenziale auf
der Basis von Wirtschaftlichkeit und Freiwilligkeit
durch Anreize und nicht durch Zwang heben wird. Wir
halten es für absolut richtig, dass im NAPE klar formuliert wurde, dass neue ordnungsrechtliche Vorgaben
nicht vorgesehen sind.
({2})
Stattdessen wollen wir einen Weg gehen, der Verbraucher, Haushalte und Unternehmen motiviert, freiwillig
vorhandenes Effizienzpotenzial zu heben. Dabei ist eine
Fülle von Maßnahmen und Initiativen geplant. Drei
Schwerpunkte möchte ich kurz herausgreifen.
Erstens. Die Industrie hat sich verpflichtet, in Selbstverantwortung 500 Energieeffizienznetzwerke aufzubauen, um ihre Potenziale zu heben. Dazu haben bereits
gestern insgesamt 18 Verbände und Organisationen eine
entsprechende Vereinbarung mit der Bundesregierung
unterzeichnet. Bis zur Umsetzung ist sicher noch ein
Wegstück zu gehen, aber die Wirtschaft hat gestern ihre
Offenheit und ihre Bereitschaft, sich beim Thema Energieeffizienz zu engagieren, deutlich dokumentiert und
trägt mit diesen Netzwerken das Thema ins Land. Das ist
allemal besser, als wenn dies durch staatliche Vorgaben
auferlegt wird.
({3})
Zweitens. Die besten Effizienzpotenziale sollen durch
wettbewerbliche Ausschreibungen identifiziert und unterstützt werden. Wir bedienen uns hier ganz bewusst der
Suchfunktion des Marktes, um kostenoptimal Einsparpotenziale zu aktivieren, und hinterlegen diese Maßnahmen mit entsprechend aufwachsenden Fördervolumina
von bis zu 150 Millionen Euro im Jahr 2018 - ein innovatives Instrument, das Innovationen fördern wird.
Drittens. Wir werden durch verschiedene Maßnahmen
die energetische Gebäudesanierung im kommunalen, gewerblichen und privaten Bereich bei Nichtwohngebäuden und bei Wohngebäuden deutlich vorantreiben. Die
Ausweitung der bestehenden Gebäudesanierungsprogramme um zusätzlich 200 Millionen Euro auf künftig
2 Milliarden Euro jährlich ab 2015 ist eine ganz konkrete Maßnahme.
Weitere Potenziale wollen wir durch die Möglichkeit
der steuerlichen Abschreibung aktivieren; denn durch
steuerliche Anreize im Bereich der Gebäudesanierung
können wir nicht nur erhebliche Fortschritte bei der
Energieeffizienz und beim Klimaschutz erreichen, sondern auch ein Konjunkturprogramm für den Mittelstand
und für das Handwerk auflegen und vor allem private Investitionen anreizen. Haushaltsmittel sind zwingende
Voraussetzung für den Anreiz von Maßnahmen,
({4})
führen aber noch nicht zur Umsetzung. Ein Blick auf die
aktuelle Situation belegt dies: Die Anzahl der geförderten Wohneinheiten beim energetischen Sanieren konnte
von 2012 bis 2013 zwar von 240 000 auf 275 000 gesteigert werden, diese Zahl wird aber 2014 nur schwer zu erreichen sein. Im Bundeshaushalt stehen für energetische
Gebäudesanierungen zwar Mittel in Höhe von 1,8 Milliarden Euro zur Verfügung,
({5})
allerdings wird voraussichtlich nur circa 1 Milliarde
Euro abgerufen. Dies hat drei Gründe: erstens das Zinsniveau, zweitens hat die Einführung der Zuschüsse zu einem Rückgang der Darlehen geführt, was sich auf das
Volumen auswirkt, und drittens - das ist die entscheidende Komponente - wird seit einiger Zeit darüber diskutiert, ob es steuerliche Vergünstigungen bei der energetischen Sanierung geben wird. Auf diese
Entscheidung warten viele Menschen. Es ist vorhin
schon angeklungen: Verunsicherung ist am schlechtesten
für die Energieeffizienz.
({6})
Deshalb ist es von großer Bedeutung, dass eine
schnelle Einigung zwischen Bund und Ländern zu steuerlichen Abschreibungsmöglichkeiten zustande kommt.
Zunächst wird dies zu Steuerausfällen bei Bund, Ländern und Gemeinden führen. Da wir mit dieser Maßnahme aber ein Konjunktur- und Investitionsprogramm
anschieben, werden diese in den Folgejahren weit überkompensiert. Eigentlich müssten dabei alle mitmachen.
Als die steuerlichen Abschreibungen von energetischen
Sanierungen zuletzt auf der Tagesordnung standen, wurden diese von einigen Ländern im Bundesrat blockiert.
({7})
Gestern wurden die steuerlichen Abschreibungen im Kabinett beschlossen. Die Unionsfraktion steht hinter diesen Anreizen. Es liegt nun an den Ländern und somit
auch an den Grünen, ob wir diese Potenziale heben können oder nicht.
({8})
Deshalb rufe ich Ihnen heute zu: Machen Sie mal!
Vielen Dank.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Energie zu dem Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Die
Energiewende durch Energieeffizienz voranbringen EU-Energieeffizienzrichtlinie unverzüglich umsetzen“.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 18/2716, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/1619 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und
der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktionen Die
Linke und Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Erneuerbare-Energien-Gesetzes
Drucksache 18/3321
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Oliver Krischer, Dr. Julia
Verlinden, Annalena Baerbock, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur zweiten Änderung des Gesetzes für den Ausbau erneuerbarer Energien
Drucksache 18/3234
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Energie ({0})
Drucksache 18/3440
Zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU
und SPD liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Vizepräsidentin Petra Pau
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat für die
SPD-Fraktion der Kollege Dirk Becker.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Wir beraten heute eine Änderung des
EEG, die im Wesentlichen aus drei Gründen erfolgt. Ich
will mich auf die Kernänderungen konzentrieren.
Wie Sie alle wissen, haben wir im Rahmen der Beratungen zum EEG im Sommer die Besondere Ausgleichsregelung für die energieintensiven Unternehmen, aber
auch für die Schienenbahnen neu regeln müssen. Nach
dieser Änderung und nach der Einigung, die zunächst
mit der Europäischen Kommission erzielt wurde, haben
wir die Mitteilung erhalten, dass die Befürchtung besteht, dass die Regelung, wie wir sie getroffen haben,
den Markteintritt neuer Betreiber von Schienenbahnen
behindern könnte. Deshalb haben wir gesagt: Das wollen
wir korrigieren. Das wird mit diesem Gesetzentwurf
auch entsprechend getan. Damit schaffen wir Rechtssicherheit für alle Unternehmen im Bereich der Schienenbahnen, damit alle zum 1. Januar 2015 in den Genuss
der Besonderen Ausgleichsregelung kommen. Das
schafft Planungssicherheit auch im Hinblick auf die
Fahrpreisgestaltung. Von daher ist es richtig und wichtig,
es heute in dieser Form zu tun.
({0})
Der zweite Bereich. Wir haben bei der Änderung des
Gesetzes Formulierungen gewählt, die sich anschließend
als problematisch herausgestellt haben. Man kann sagen:
Es ist ein Fehler bei der Formulierung passiert. Das
führte insbesondere im Bereich der Biomasseanlagen zu
Vergütungsausfällen. Das war politisch nicht beabsichtigt, das war politisch nicht gewollt.
({1})
Da es einen Eingriff in den Bestand darstellt, ist es auch
richtig und wichtig, heute diesen Fehler - für den die Betreiber nichts können - rückwirkend zum 1. August zu
korrigieren.
({2})
Diese Koalition hat ohne Wenn und Aber den Mut, das
zuzugeben und die Konsequenz zu ziehen und dies zu
korrigieren.
({3})
- Jetzt kommt Oliver Krischer mit „ohne Wenn und
Aber“. Ich habe mir gestern im Ausschuss die Vorwürfe
angehört: Weil alles so schnell läuft, sind die Fehler passiert. Ihr hättet gründlicher beraten müssen. - Dann sagte
man auch: Nicht einmal unsere Anträge tragt ihr jetzt
mit, sondern müsst auch noch eigene machen. - Ich
sage: zum Glück. Wir haben eure beiden Anträge nämlich noch einmal rechtlich geprüft: In beiden sind rechtliche Fehler enthalten.
({4})
Beide hätten nicht zu dem Ergebnis geführt, das die Koalition jetzt herbeiführt. Es gibt einen Gesetzentwurf zur
Regelung der anteiligen Direktvermarktung, und es gibt
einen Änderungsantrag zum Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen. Im Gesetzentwurf der Grünen zur anteiligen Direktvermarktung sagen sie: Wir wollen die Änderung rückwirkend zum 1. August vornehmen. - Dieser
Hinweis fehlt im Änderungsantrag. Das heißt, die beiden
Punkte in eurem Änderungsantrag würden zwar für die
Zukunft gelten, aber nicht rückwirkend in Kraft treten.
Wären wir diesem Antrag gefolgt, hätte es diesen Bestandsschutz nicht gegeben.
Jetzt komme ich - wie gesagt, wir haben das rechtlich
überprüft - zum Gesetzentwurf. Ja, mit dem Gesetzentwurf wird versucht, den Fehler bei der anteiligen Direktvermarktung rückwirkend zu korrigieren und Rechtssicherheit herzustellen. Dabei passiert ein entscheidender
Fehler: Es wird zwar ein Fehler korrigiert; ihr vergesst
aber, im Anhang die anderen Absätze zu korrigieren.
Dadurch werden neue Gesetzesfehler ausgelöst. Ich sage
also bei aller Kritik: Ja, wir haben da einen Fehler gemacht. Ihr sagt, das sei nur wegen der Hektik passiert;
aber ihr hattet Monate Zeit, diesen Gesetzentwurf vorzubereiten, der im Wesentlichen aus zwei Sätzen besteht,
und schafft es, bei beiden einen Fehler einzubauen. Daher wäre an dieser Stelle ein bisschen Zurückhaltung angemessen.
({5})
Jetzt komme ich zum dritten Punkt. Das ist die Frage,
wie wir mit der anteiligen Direktvermarktung umgehen.
So, wie es im Gesetzentwurf der Grünen steht, kann man
es aus den gerade dargestellten Gründen nicht machen;
er ist erneut fehlerhaft. Wir haben uns in der Großen Koalition darauf verständigt, auch diesen Punkt noch zu
prüfen. Es stellt sich die Frage: Ist das in der Tat ein
Rechtsversäumnis, das einen Eingriff in den Bestandsschutz bedeutet, oder hätten die Anlagenbetreiber früher
Alternativen gehabt? Wir werden das klären, wir werden
das prüfen. Wenn sich herausstellen sollte, dass auch das
ein Fehler ist, werden wir das ebenso selbstverständlich
korrigieren.
({6})
Wie gesagt: Da gibt es gegenwärtig unterschiedliche
Auffassungen. Ich finde aber, es gehört zu sauberer Politik, anzuerkennen: Wir tun alles, um im EEG das zu bereinigen, was den Ausbau hemmt.
({7})
Denn wir wollen die Anlagenbetreiber schützen, Investitionssicherheit schaffen und den Bestandsschutz garantieren. Das wird mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf der Koalition getan.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat die Kollegin Eva Bulling-Schröter für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Vier Monate nach Inkrafttreten des umkämpften Erneuerbare-Energien-Gesetzes treten wir heute wieder zusammen, um im Wesentlichen handwerkliche Fehler im EEG 2014 auszubessern. Sie wissen: Wir haben
das EEG im Sommer scharf kritisiert, weil es einen Paradigmenwechsel einleitet und die erneuerbaren Energien
dem Marktgeschehen und den großen Investoren übereignet. Wir sehen hier eine Weichenstellung, die wirklich in die falsche Richtung führt - weg von der festen
Einspeisevergütung für erneuerbare Energien hin zur Direktvermarktung und zu Ausschreibungen. Wir haben
kritisiert, dass damit den großen Investoren, natürlich
auch den großen Energiekonzernen, das Feld bereitet
wird. Eon hat diese Botschaft mittlerweile verstanden
und setzt künftig ganz auf die Erneuerbaren. Die Bürgerenergie wird nicht mehr so leicht mitspielen können. Das
nehmen wir nicht hin, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({0})
Wir haben auch den übermäßigen Zeitdruck kritisiert,
unter dem die Bundesregierung das EEG auf den Weg
gebracht hatte. Vermutlich werden nach und nach noch
mehr Fehler bekannt, die einzelne Betriebe empfindlich
treffen können. Die heute zu Beschluss stehenden Änderungen am EEG führen zu Verbesserungen im Bereich
der Schienenbahnen; insbesondere sollen ausländische
Anbieter von Schienenverkehrsleistungen nicht benachteiligt werden und nun auch in den Genuss einer abgesenkten EEG-Umlage kommen. Wir begrüßen dies, obwohl die Linke, wie Sie wissen, grundsätzlich die
größtenteils überzogenen Privilegien für die Industrie
ablehnt, die das EEG vorsieht. Die Schienenbahnen sind
da für uns aus ökologischen Gründen eine Ausnahme.
({1})
Es gibt im EEG weitere handwerkliche Fehler, die die
Erzeuger erneuerbarer Energien bares Geld kosten. Deshalb sollten sie alsbald behoben werden. Es ist bedauerlich, dass sich die Koalition gestern im Wirtschaftsausschuss nicht darauf einigen konnte, den Gesetzentwurf
der Grünen zur Direktvermarktung anzunehmen. Wenn
darin ein Fehler enthalten war, hätte man ihn heilen und
den Gesetzentwurf dann trotzdem beschließen können;
wir sind da nicht so.
({2})
Damit wären weitere Fehler bereinigt worden; dann
müssten wir nicht immer wieder nachbessern.
Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, um auf die Perspektive der Erneuerbare-Energien-Branche einzugehen.
Die Folgen des EEG 2014, aber auch schon des EEG
2012 für die Biogasbranche zeichnen sich als verheerend
ab. Vermutlich kommt der weitere Ausbau im Biogasbereich komplett zum Erliegen. Das ist schlimm. Die Branche investiert jetzt vornehmlich im Ausland - so viel zur
Abwanderung von Investoren.
Nun hören wir aber auch aus der Solarbranche, dass
bereits in diesem Jahr das Ausbauziel verfehlt wird. Es
wird wahrscheinlich nicht einmal 1,9 Gigawatt betragen.
Von der Bundesregierung waren 2,5 Gigawatt angestrebt. Wir konstatieren: Das Ausbauziel Solar wird in
diesem Jahr bereits um 20 Prozent verfehlt. Im nächsten
Jahr sieht es nach Prognosen der Branche noch wesentlich schlimmer aus. Die Solarwirtschaft rechnet dann mit
nur noch 1 Gigawatt.
Wenn dieses Negativszenario eintreten sollte, dann
hat dies auch Auswirkungen auf das Klimaschutzziel;
denn ich vermute, dass Sie bei Ihren Berechnungen zum
Nationalen Aktionsplan Klimaschutz davon ausgegangen sind, dass die Ausbauziele für die erneuerbaren
Energien erreicht werden. Vielleicht sagen Sie nachher
noch etwas dazu. Es gibt im gesamten Strommarkt noch
sehr viele Unsicherheiten, zum Beispiel auch was die
Ausschreibungen im Sektor der erneuerbaren Energien
angeht.
Weil wir in diesen Tagen vermehrt über den Wärmemarkt sprechen: Die Solarthermie stagniert seit Jahren
und ging 2012 sogar um 11 Prozentpunkte zurück. Das
ist übrigens das Ergebnis des Marktanreizprogramms,
das Sie fortführen wollen. Man sieht daran, dass es einfach nicht funktioniert.
({3})
Wir können es uns nicht mehr leisten, die erneuerbaren
Energien im Bereich der Wärme so sträflich zu vernachlässigen.
Jetzt komme ich noch einmal auf Dänemark zu sprechen. Es tut mir leid, aber da klappt es eben. Dort ist man
mit dem Ausbau der Erneuerbaren schon viel weiter als
hierzulande, weil man von Anfang an auf Ordnungsrecht
gesetzt hat. Ich muss Ihnen das immer wieder sagen,
auch wenn Ihnen das nicht gefällt.
Bundesminister Gabriel hat gestern bei der Regierungsbefragung erklärt, wir seien bei den Erneuerbaren
auf Zielkurs. Ich kann da nur sagen: Es wäre schön,
wenn dem so wäre. Die Zahlen sagen etwas anderes.
Also, tun Sie etwas!
({4})
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun der Kollege
Thomas Bareiß.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Als das EEG im Sommer dieses Jahres verabschiedet wurde, war allen Beteiligten von vornherein
klar: Eine solche EEG-Novelle hat es bisher noch nicht
gegeben. Dass die Bundesländer schon vorzeitig ihre
Ansprüche und Wünsche anmelden, war aus vorhergehenden Novellen bekannt. Aber dass jetzt auch die Genehmigung der EU-Kommission notwendig war, war
neu und hat die Abstimmungen bei den Vorarbeiten zum
Gesetzentwurf nicht gerade vereinfacht. Die EU ist auch
der Grund, warum wir heute das EEG erneut beraten und
nachher hoffentlich auch verändern werden.
Lassen Sie mich kurz auf die vorliegenden hauptsächlichen zwei Änderungspunkte im Detail eingehen. Es besteht ein breiter politischer Konsens - das kam gerade
auch in den Ausführungen der beiden Vorredner zum
Ausdruck -, dass Schienenbahnen von der EEG-Umlage
entlastet werden. Auch wenn der Schienenverkehr nicht
wie die energieintensive Industrie im internationalen
Wettbewerb steht, müssen wir trotzdem die Schienenbahnen entlasten, weil sie einen ganz entscheidenden
Beitrag zu einem umweltfreundlichen Verkehrssystem
leisten.
Deshalb haben wir zu Recht im Sommer beschlossen,
dass die Schienenbahnen nicht die volle Umlage, sondern nur 20 Prozent der EEG-Umlage zahlen müssen.
Heute ist deshalb eine Änderung notwendig geworden,
weil die EU-Kommission die Regelungen zur Entlastung
des Schienenverkehrs - erst Anfang November dieses
Jahres übrigens - als teilweise beihilferechtswidrig bewertet hat. Problem aus Sicht der Kommission ist es,
dass neue Schienenbahnunternehmen nicht antragsberechtigt sind. Damit hätten sie bei einer Ausschreibung
einen Nachteil gegenüber bestehenden Wettbewerbern.
Mit der vorliegenden Änderung wird dieses Problem
gelöst. Die Änderungsmöglichkeiten für neue Schienenbahnen werden zeitlich vorverlagert, sodass Wettbewerbsverzerrungen vermieden werden. Ohne diese Änderungen würden ab dem kommenden Jahr erhebliche
Belastungen auf die Zugfahrer in ganz Deutschland zukommen. Das wollen wir mit der jetzigen Novelle vermeiden. Sonst würde es nämlich so sein, dass deutsche
Bahnfahrer, aber auch Straßenbahnkunden erhebliche
Ticketpreiserhöhungen in Kauf nehmen müssten. Das
verhindern wir mit dem heutigen Änderungsantrag. Das
wollen wir auch zügig umsetzen.
Wir wollen, meine Damen und Herren, mit der EEGNovelle einen weiteren Schritt machen. Wir haben dazu
im Sommer eine Reihe von grundsätzlichen Änderungen
auf den Weg gebracht. Für uns hatte dabei die Wahrung
des Bestandsschutzes immer oberste Priorität.
Auch bei der zweiten Änderung, die wir gestern im
Ausschuss einstimmig verabschiedet haben, geht es um
die Herstellung des Bestandsschutzes; denn im Zuge der
Übergangsregelungen des EEG 2014 ist eine Gesetzeslücke entstanden, von der die Kraft-Wärme-Kopplung in
Biomasseanlagen betroffen ist, die unter Geltung des
EEG 2012 in Betrieb genommen wurden. Biomasseanlagen, die sich in der Direktvermarktung befinden, waren
von der Wärmenutzungspflicht befreit. Diese Befreiung
ist auch richtig. Biomasse-KWK-Anlagen, die sich aufgrund der Direktvermarktung am Markt orientieren und
damit auch ihren Strom bedarfsorientiert produzieren
und einspeisen müssen, können keine stetige Wärmelieferung garantieren.
Mit dem EEG 2014 wurde die Direktvermarktung neu
geordnet, jedoch wurde die Befreiung von der 60-prozentigen Wärmenutzung in den Übergangsregelungen
- das war nicht gewollt; Kollege Becker hat das bereits
gesagt - nicht fortgeschrieben. Das hat zur Folge, dass
rund 300 Biomasseanlagen keine EEG-Vergütung mehr
bekommen und die Anlagen zwangsläufig vor dem Aus
gestanden hätten. Deshalb ist es im Sinne des Bestandsschutzes und unserer Energiepolitik, diesen Fehler zu
korrigieren, und es war ein Fehler; auch das muss am
heutigen Abend, glaube ich, gesagt werden.
Lassen Sie mich einen weiteren Punkt nennen, den
auch Kollege Becker bereits angesprochen hat. Wir wollen prüfen, inwiefern die anteilige Direktvermarktung
noch einmal angepackt werden muss. Wir wollen klären,
inwiefern Rechtsunsicherheit besteht. Auch hier wollen
wir in den nächsten Wochen für Klarheit sorgen.
Mit der Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes
haben wir im Sommer die erste große energiepolitische
Maßnahme in dieser Wahlperiode beschlossen. Ziel war
es, den Kostenanstieg bei der Förderung der erneuerbaren Energien zu dämpfen, was uns auch, glaube ich, gelungen ist, und die erneuerbaren Energien zusätzlich
stärker in den Markt zu integrieren.
({0})
Zwei Elemente waren dabei von entscheidender Bedeutung: erstens die Festlegung von klaren Ausbaukorridoren und zweitens der Umstieg aus dem EEG hin zu
einem Ausschreibungsmodell. Wir haben erstmals gesetzlich verbindliche Ausbaukorridore für die Wind-,
Sonnen- und Bioenergie festgelegt. Wir wollen im Bereich von Wind-onshore 2 500 Megawatt pro Jahr zubauen. Im Bereich der Solarenergie/PV wollen wir ebenfalls 2 500 Megawatt pro Jahr zubauen. Im Bereich der
Biomasse wollen wir 100 Megawatt pro Jahr zubauen.
Im Bereich von Wind-offshore haben wir das Ziel, bis
2020 6,5 Gigawatt auf den Markt zu bringen. Damit
wurde Planungssicherheit für die Investoren im Erneuerbare-Energien-Bereich geschaffen, die sich nun an dem
Ausbaupfad orientieren können. Das gilt auch für den
Netzausbau, der dringend mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien Schritt halten muss. Weiterhin wollen
wir die weitere Planung des konventionellen Kraftwerksparks, der für die Versorgungssicherheit höchste Priorität
hat und den Ausgleich fluktuierender erneuerbarer Energien sicherstellt.
Auch wurde mit dem EEG-Beschluss im Sommer der
Ausstieg aus dem EEG eingeleitet. Unser Ziel ist es, die
Förderhöhe für erneuerbare Energien spätestens ab 2017
durch Auktionen zu ermitteln. Das ist ein Schritt hin zu
mehr Kosteneffizienz und zu mehr Markt, was im ÜbriThomas Bareiß
gen auch von der Europäischen Kommission gefordert
wird.
Es ist wichtig, erste Erfahrungen zu sammeln. Deshalb sind wir gerade in den finalen Abstimmungen zu einer Verordnung, die die Pilotausschreibung für PV-Freiflächen im nächsten Jahr regeln soll. Die Ausschreibung
soll in einem Nischenmarkt erprobt werden. Wir werden
prüfen, wie das im Ausland in den letzten Jahren mit der
Ausschreibung funktioniert hat, und werden diese Erfahrungen dann in die zukünftige Ausschreibung einfließen
lassen. Es werden sicherlich Fehler gemacht, aus denen
wir lernen können.
Ich kann nur jeden Einzelnen hier auffordern: Machen
Sie mit! Es ist notwendig, dass wir einen weiteren
Schritt im EEG vornehmen. Das EEG in seiner bisherigen starren Struktur war relativ einfach aufzubauen. Es
wurde vielfach in der Welt, wie oftmals hier beschrieben, kopiert, wenn auch nicht mit diesem enormen Volumen und diesem enormen Kostenrahmen.
Der nächste Schritt wird das Marktmodell sein. Wenn
das Marktmodell funktioniert, werden wir es schaffen,
dass erneuerbare Energien zu einer tragenden Säule und
auch wettbewerbsgerecht werden. Wenn wir das geschafft haben, dann wird auch unsere Energiewende ein
Exportschlager sein.
({1})
Mit der EEG-Novelle haben wir zwar die künftige
Förderung des Bereichs der erneuerbaren Energien geregelt, jedoch war allen Beteiligten klar, dass auch zeitnah
wirkende Regelungen auf den Weg gebracht werden
müssen. Um den Ausbau des Bereichs der erneuerbaren
Energien und die Netzverträge zu gestalten, müssen wir
einen weiteren Schritt gehen. Auch das haben wir im
Koalitionsvertrag festgelegt, und auch das wird Bestandteil der nächsten Novellierung des EnWG und des EEG
im nächsten Jahr sein.
Nach der Novelle des EEG ist vor der Novelle des
EEG. Das bleibt auch in Zukunft so. Da die erneuerbaren
Energien noch keine Marktreife erlangt haben, müssen
wir intensiv daran arbeiten. Die erneuerbaren Energien
müssen mit dem Netzausbau in Einklang gebracht werden, aber auch mit dem konventionellen Kraftwerkspark
abgestimmt werden. Nur so kann die Energieversorgung
in Zukunft sicher und wirtschaftlich bleiben. Hier liegt
noch ein großes Stück Arbeit vor uns. Vertrauensschutz
muss dabei oberste Priorität haben. Deshalb bitte ich Sie
heute um Zustimmung zu den zwei Änderungen, die ich
vorhin beschrieben habe.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort hat der Kollege Oliver Krischer für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Um eines klarzustellen: Die EEG-Novelle, die die Große
Koalition im Sommer verabschiedet hat, ist eine Abrissveranstaltung für erneuerbare Energien. Sie beenden den
Biogasausbau ganz offiziell, beim Wind produzieren Sie
durch die Ankündigung von Ausschreibungen eine
Schlussverkaufsmentalität,
({0})
und der Ausbau der Photovoltaik ist nach Ihrer Novelle
zusammengebrochen. Sie bleiben unter dem von Ihnen
selbst festgelegten Korridor. Schon allein deshalb, weil
der Ausbau des Bereichs der erneuerbaren Energien
nicht so läuft, wie Sie es zugrunde gelegt haben, ist klar,
dass Ihr Klimaschutzprogramm eine Luftbuchung ist.
Sie selbst haben die Grundlage dafür kaputtgemacht. Ich
finde, das muss an dieser Stelle noch einmal klargestellt
werden.
({1})
Weil der Kollege Bareiß gerade die EEG-Novelle gelobt und betont hat, was damit alles gemacht wird,
möchte ich auf Folgendes hinweisen: Vor der Verabschiedung im Ausschuss wurden uns 200 Seiten auf den
Tisch gelegt. Der Herr Großwesir, der Wirtschaftsminister, hat sich hier hingestellt und gesagt, dass man das
wohl in anderthalb Stunden lesen könne, das sei wohl
kein Problem, das sei alles richtig. Seine Worte hallten
noch durch den Raum, als wir eine Woche später, eine
Woche nach der Verabschiedung, die erste Korrektur
vornehmen mussten. Das, was Sie an dieser Stelle abgeliefert haben, ist nicht nur politischer Murks, sondern
auch handwerklicher Murks.
({2})
Viele haben damals gesagt, diese Fehler, die schon bei
der Verabschiedung festgestellt worden sind, würden
nicht die einzigen Fehler bleiben. Jetzt haben wir weitere
auf dem Tisch. Wir debattieren jetzt hier über das ganze
Thema nur, weil inzwischen weiterer EEG-Murks, weil
weitere Fehler aufgefallen sind. Es ist schon unglaublich, dass Sie sich auch noch selber dafür loben, dass Sie
diese Fehler korrigieren. Es ist eine pure Selbstverständlichkeit, dass man das tut.
({3})
Dafür sollte man sich entschuldigen. Man sollte sagen:
„Wir haben Murks gebaut“, und sich nicht hier breitbeinig hinstellen und sagen: Das ist alles wunderbar, was
wir machen. - Das ist unanständig.
({4})
Jetzt werde ich etwas zu den Kollegen Becker und
Heil sagen, weil ich es eine Unverschämtheit finde, wie
das hier dargestellt wird. Wir haben vor vier Wochen einen Gesetzentwurf zur anteiligen Direktvermarktung
eingebracht. Dazu gab es die Bitte der Großen Koalition
in Person von Hubertus Heil - er nickt -, diesen Gesetzentwurf zurückzustellen. Man werde sich in der Großen
Koalition darauf verständigen. Darauf habe ich gewartet.
Irgendwann hörte man dann, dass das Bundeskabinett
noch irgendetwas beschließen muss, dass noch eine Formulierungshilfe erstellt werden muss und es keine gemeinsame Initiative geben wird. Jetzt steht die Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs an. Den Fehler, der
beim Thema Biomasse aufgetreten ist, korrigieren wir,
und auch den Fehler im Bereich Schienenverkehr - das
ist alles Konsens -, aber bei der anteiligen Direktvermarktung wird nicht korrigiert. Ich frage mich, da Sie
seit vier Wochen unseren Gesetzentwurf auf dem Tisch
liegen haben: Warum, liebe Mitglieder der Großen Koalition, haben Sie nicht zusammengefunden? Warum haben Sie nicht den Mut, uns hier eine Änderung vorzulegen, wenn Sie meinen, dass unser Gesetzentwurf nicht
richtig ist? Das verstehe ich überhaupt nicht. Das ist mir
völlig unklar.
Dann möchte ich noch eines sagen.
Kollege Krischer, gestatten Sie dem Kollegen Heil
eine Bemerkung oder Zwischenfrage?
Gern.
Herzlichen Dank, Herr Kollege Krischer. - Ich will
keine Zwischenfrage stellen - das muss ich auch nicht;
es gibt nach der Geschäftsordnung die Möglichkeit einer
Zwischenbemerkung - und Ihnen auch gar nicht widersprechen, sondern ich will Ihnen nur der Hygiene wegen
und damit wir hier ganz klar miteinander sind, meine
persönliche Auffassung und auch die mehrheitliche Auffassung meiner Fraktion mitteilen.
Danach ist der Fehler beim Thema „anteilige Direktvermarktung“ mit dem Fehler beim Thema Biomasse
vergleichbar. Wie der Kollege Becker bestätigt hat, haben wir das miteinander geprüft und festgestellt, dass
wir in der Koalition hierzu noch nicht zu einer Lösung
gekommen sind. Wir arbeiten aber nach wie vor daran;
das Thema ist nicht vom Tisch.
Bei aller Auseinandersetzung, die wir hier im Plenum
führen, will ich Ihnen erst einmal ganz persönlich dafür
danken, dass Sie eine Woche lang gewartet und Ihren
Antrag nicht gestellt haben. Ich hatte wirklich die Hoffnung, dass wir in diesem Punkt gemeinsam vorankommen. Sie persönlich wissen aber, wie es ist, wenn man
miteinander koaliert. Wir haben uns untereinander darauf verständigt, dass wir Anträge zusammen stellen, damit die Regierung funktioniert. Dabei geht es nicht um
eine Gewissensfrage nach Artikel 38 Grundgesetz.
Deshalb wollte ich noch einmal sagen: Wir werden
Ihrem Antrag nicht zustimmen, und wir haben auch bei
der einen oder anderen Formulierung das Gefühl, dass es
dadurch neue Rechtsunsicherheiten gäbe.
Der Punkt ist folgender: Es gibt zwei Fehler, die zu
korrigieren sind; denn ich finde, wenn eine Regierung
oder eine Regierungsfraktion Fehler macht, dann muss
man sie korrigieren.
Den Fehler, den wir beim Thema Biomasse gemacht
haben, korrigieren wir. Darin sind wir uns auch einig.
Beim Thema Schienenbahnen gab es keinen Fehler, sondern das Problem hatte etwas mit der Notifizierung der
Europäischen Kommission zu tun. Hier sind wir uns in
der Sache auch einig.
Zum Thema „anteilige Direktvermarktung“ sage ich
Ihnen: Wir werden Ihrem Antrag heute nicht zustimmen
können, weil es in der Koalition noch keine Einigkeit
hinsichtlich der Frage der abgeschlossenen Prüfung gibt
und weil bei der einen oder anderen Formulierung die
Befürchtung besteht, dass Ihre Vorschläge zu neuen Fehlern führen könnten.
Wenn Sie sagen, Ihre Formulierung entspreche der in
der Formulierungshilfe des Kabinetts - das haben Sie ja
gerade gesagt -, dann sage ich Ihnen: Auch diese ist
nicht unveränderbar. Wir bleiben aber an dem Thema
dran.
Noch einmal: Ich wollte Ihnen, Oliver Krischer, gar
nicht widersprechen, sondern ich wollte den Sachverhalt
darstellen, damit man draußen auch weiß, um es einmal
klar zu sagen, dass wir inhaltlich an dieser Stelle überhaupt keiner unterschiedlichen Meinung sind. Das ist der
Hintergrund dieses Verfahrens.
Ich wollte Sie nicht behumsen, als ich Sie anrief und
gebeten habe, ein, zwei Wochen zu warten, weil wir
nach einer gemeinsamen Lösung suchen, und ich wollte
hier einmal zugeben: Wir haben keine gemeinsame Lösung gefunden. Wir müssen das Problem aber lösen.
Herzlichen Dank.
({0})
Herzlichen Dank, Herr Kollege Heil, für diese Klarstellung, weil sie eines zeigt: In der Sache gibt es null
Dissens.
({0})
Wir haben den Änderungen bei den Themen Schienenverkehr und Biogas zugestimmt. Nur einmal am
Rande erwähnt: Zum Thema Biogas hatten wir einen
Änderungsantrag eingebracht. Dem konnten Sie als
Große Koalition aber nicht zustimmen, weil nicht
„Union“ und „SPD“ darübersteht, weshalb Sie einen eigenen Änderungsantrag einreichen mussten, der identisch mit dem ist, den wir eingebracht haben. Das alles
ist geschenkt.
Sie haben aber gerade ausgeführt, dass es hier im
Haus einen Konsens über das Thema „anteilige Direktvermarktung“ gibt. So habe ich das wahrgenommen, und
so interpretiere ich jetzt Ihre Äußerungen. Man kennt
das Thema seit Wochen, und das Kabinett hat dazu eine
Formulierungshilfe beschlossen, die wir eins zu eins hier
einbringen. Unsere Formulierung entspricht also genau
der Formulierung von Sigmar Gabriel und des Bundeskabinetts Angela Merkel. Sie tun hier aber so, als sei das
rechtsfehlerhaft. Das mag ja sein, aber dann frage ich
mich: Wieso legen Sie seit Wochen nichts Eigenes vor?
Ich kann das nur folgendermaßen interpretieren: Sie
sind in dieser Großen Koalition offensichtlich nicht in
der Lage, sich über Selbstverständlichkeiten, über
Dinge, die Konsens sind, zu verständigen. Da Sie schon
nach einem Jahr Große Koalition so weit sind, dass Sie
sich über Dinge, die eigentlich Konsens und Selbstverständlichkeiten sind, nicht mehr verständigen können,
frage ich mich: Wie wollen Sie ein Klimaaktionsprogramm umsetzen, bei dem noch ganz andere Herausforderungen zu lösen sind? Nach dem Sittenbild Ihrer Koalition geht es doch nur darum, wer wen an dieser Stelle
in der Energiepolitik demütigt, und das kann doch nicht
sein. Das ist ein Unding!
({1})
Ich bedauere das sehr, weil das, was Sie hier abliefern, Menschen und eine ganze Reihe konkreter Unternehmen betrifft, die uns sagen: „Wenn die Probleme
beim Thema ,anteilige Direktvermarktung‘ nicht gelöst
werden, dann droht eine Insolvenz“, und Sie haben hier
gerade dokumentiert, dass Sie sie nicht lösen wollen und
können - jedenfalls nicht vor Jahresende. Damit treiben
Sie Unternehmen, die Vertrauensschutz genießen sollten,
die sich darauf verlassen haben, dass das, was eine Bundesregierung hier beschließt, gilt, möglicherweise in die
Insolvenz. Das ist genau das Gegenteil von dem, was wir
in der Energiepolitik brauchen: Wir brauchen Planungssicherheit, die Menschen müssen wissen, wo es hingeht.
Das, meine Damen und Herren von der Großen Koalition, ist ein absolutes Armutszeugnis.
Deshalb werden wir hier unseren Gesetzentwurf zur
anteiligen Direktvermarktung zur Abstimmung stellen.
Ich kann es Ihnen nicht ersparen, hier aktiv zu sagen:
Nein, wir wollen das nicht, wir wollen dieses Problem
nicht lösen.
Ihren Änderungen, die ja dem entsprechen, was wir
Ihnen vorgelegt haben beim Thema Biomasse und
KWK, werden wir selbstverständlich zustimmen. Das ist
eine Notreparatur Ihres vermurksten Gesetzes, die wir an
der Stelle mittragen werden.
Danke schön.
({2})
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Florian Post
das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Im Sommer dieses Jahres, zum 1. August,
ist das reformierte EEG in Kraft getreten. Wir haben uns
hier insbesondere mit einer mit dem EU-Recht konformen Ausgestaltung der Besonderen Ausgleichsregelung
befasst. Einen Teil allerdings, die Teilbefreiung der
Schienenbahnen, hatten wir noch ausgenommen.
Die EU sieht in der derzeitigen Regelung einen Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht. Sie beanstandet, dass
Markteintrittsbarrieren für neu zu gründende Schienenbahnen auftreten, da diese im Vorfeld noch keine Privilegierungen in Anspruch nehmen konnten und dementsprechend bei öffentlichen Ausschreibungen mit anderen
Preisen bieten müssten als bereits existente Schienenbahnen.
Diesen Nachteil räumen wir heute aus. Künftig sollen
auch Schienenbahnbetreiber, die bisher noch nicht von
der Besonderen Ausgleichsregelung profitierten, bzw.
neu zu gründende Unternehmen in öffentlichen Ausschreibungen mithalten können. Wir stellen sicher, dass
auch 2015 noch alle Schienenbahnbetreiber Anträge auf
Privilegierung beim BAFA stellen können.
Andernfalls würden auf bereits existierende Schienenbahnbetreiber enorme Kosten zukommen. Allein in
meiner Heimatstadt, in München, würde das für die
Münchner Verkehrsgesellschaft Mehrkosten von 14 Millionen Euro bedeuten. Das wäre - ich glaube, hier sind
wir uns einig - verkehrs- wie umweltpolitisch Unsinn,
den wir nicht wollen.
({0})
Trotz der existierenden Privilegierung der Schiene ist
es nicht so, dass die Bahn keinen Beitrag zum EEG leistet: Sie bringt bei der EEG-Umlage einen Betrag von
circa 105 Millionen Euro pro Jahr auf, 75 Millionen
Euro allein im Güterverkehr.
Gerade im Hinblick darauf, dass der Schienenverkehr
den wichtigsten Beitrag zur Energiewende im Verkehrssektor leistet, können wir nicht zulassen, dass eine Situation entsteht, in der sich der Schienenverkehr im Wettbewerb gegenüber anderen Verkehrsmitteln nicht mehr
behaupten kann. Wir wollen den Schienenverkehr insgesamt stärken, sowohl den Güterverkehr als auch den Personennahverkehr; denn er leistet einen wichtigen Beitrag
zur Reduktion der Treibhausgasemissionen, und wir
wollen natürlich nicht, dass aufgrund eines Kostenanstiegs auf andere Verkehrsmittel ausgewichen wird.
Diese Auffassung schlägt sich natürlich auch in unserem Aktionsprogramm „Klimaschutz 2020“ nieder, wodurch der Güterverkehr gestärkt werden soll. Wir werden die Investitionen in den Ausbau der Infrastruktur
insgesamt erhöhen und Engpässe in der Schieneninfrastruktur beseitigen, zum Beispiel durch Elektrifizierungen. Großes Vertrauen habe ich hierbei, dass wir es auch
2016, 2017 und 2018 schaffen, entsprechende Haushaltsmittel zur Verfügung zu stellen.
Natürlich soll auch der Personenverkehr klimafreundlicher gestaltet werden. Dabei steht der öffentliche Personennahverkehr, insbesondere auf der Schiene, im Fokus. Noch größere Bedeutung hat die Schiene im
Personenfernverkehr; auch hier werden wir von Bundesseite mehr Mittel zur Verfügung stellen.
Wir dürfen in der Debatte über die Energiewende den
Blick nicht auf den Stromsektor verengen, sondern müssen auch den Wärmesektor betrachten. Im Verkehrssektor geht es nicht nur um die vielbeschworene Elektromobilität, auch der Schienenverkehr trägt zur Erreichung
des Zieldreiecks bei unserer Energiewende bei. Um die
Schiene gegenüber anderen Verkehrsträgern wettbewerbsfähig zu halten, bitte ich darum, diesem Gesetz
heute zuzustimmen.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({1})
Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Andreas
Lenz das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Erneuerbare-Energien-Gesetzes. Mit dem Gesetzentwurf
stellen wir sicher, dass die Verkehrsunternehmen in
Deutschland auch weiterhin die Besondere Ausgleichsregelung für Schienenbahnen in Anspruch nehmen können. Davon profitieren in erster Linie die Fahrgäste.
Deshalb ist es richtig, dass wir diese Änderung noch vor
Jahresende verabschieden. Außerdem bereinigen wir redaktionelle Fehler im Bereich der Biomasse.
Die Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes im
Juli war ein wichtiger Schritt. Wir haben damit einen
verlässlichen Ausbaupfad für die erneuerbaren Energien
geschaffen. So wird der Anteil der erneuerbaren Energien am Bruttostromverbrauch im Jahr 2025 40 Prozent
bis 45 Prozent und im Jahr 2035 55 Prozent bis 60 Prozent betragen.
Der gesetzliche Ausbaukorridor und die verpflichtende Direktvermarktung bringen die erneuerbaren Energien weiter voran und führen sie gleichzeitig stärker an
den Markt heran. Außerdem konnten wir die Besondere
Ausgleichsregelung für stromintensiv produzierende Betriebe, die im internationalen Wettbewerb stehen, europarechtskonform reformieren. Die hohen Energiekosten
haben bereits zu einer chronischen Investitionsschwäche
der energieintensiv produzierenden Industrie in Deutschland geführt. Vor allem Erweiterungsinvestitionen werden an Standorten getätigt, an denen die Energiekosten
günstiger sind. Wir schaffen einen stabilen Rahmen für
diese Unternehmen. Wir wollen Deutschland als wettbewerbsfähigen Industriestandort erhalten. Wir schaffen so
eine verlässliche Perspektive für Tausende von hochwertigen Arbeitsplätzen in der Grundstoffindustrie.
({0})
Die EEG-Umlage konnte stabilisiert werden. Im Jahr
2015 sinkt sie voraussichtlich auf 6,17 Cent pro Kilowattstunde.
({1})
Zahlreiche Stromversorger haben angekündigt, im nächsten Jahr ihre Strompreise zu senken. Die am 1. August in
Kraft getretene Reform des EEG leistet zukünftig einen
Beitrag zur langfristigen Preisstabilität. Letztlich werden
diese Maßnahmen auch zur langfristigen Akzeptanz der
Energiewende beitragen.
Die Europäische Kommission hat zwar am 23. Juli
das novellierte EEG mit den Besonderen Ausgleichsregelungen für besonders stromintensiv produzierende und
im internationalen Wettbewerb stehende Unternehmen
genehmigt, nicht jedoch die Besonderen Ausgleichsregelungen für Schienenbahnen. Hierzu hat die Kommission ein eigenes Notifizierungsverfahren eingeleitet. Zudem fordert die Kommission Anpassungen, um die
Genehmigung erteilen zu können.
Aus Sicht der Kommission ist die Besondere Ausgleichsregelung für Schienenbahnen in ihrer ursprünglichen Form nicht mit europäischem Wettbewerbsrecht
vereinbar. Die Kommission sah für neu in den deutschen
Markt eintretende Schienenverkehrsunternehmen einen
Wettbewerbsnachteil. Nach der bisherigen Regelung
können am Markt neue Unternehmen keinen Antrag auf
Ermäßigung der EEG-Umlage stellen. Der Grund hierfür
ist, dass zum Nachweis der Überschreitung der Schwelle
von mindestens 2 Gigawattstunden selbstverbrauchter
Strommenge bislang nur Istdaten vorgelegt werden
konnten. Vor allem ausländische Marktteilnehmer könnten so laut Kommission Nachteile erlangen. Zukünftig
wird eine Antragstellung bereits vor Aufnahme des
Fahrbetriebs möglich sein. Die Basis der Antragstellung
bildet der prognostizierte Stromverbrauch für das Jahr
der Aufnahme des Fahrbetriebs. Die tatsächlich verbrauchte Strommenge wird nachträglich überprüft.
Würden wir den Forderungen der Kommission nicht
nachkommen, könnte die Kommission die Genehmigung der Besonderen Ausgleichsregelung für die Schienenbahnen verweigern. Die Folgen wären eine massive
Erhöhung der Fahrpreise zum 1. Januar 2015 und eine
Verschlechterung der Wettbewerbssituation der Bahn gegenüber dem Straßenverkehr. Die Gesetzesänderung ist
deshalb vor allem für die Fahrgäste des Schienennahund -fernverkehrs notwendig. Wir wollen die Pendler
und Bahnfahrer eben nicht mit zusätzlichen Fahrpreiserhöhungen im Jahr 2015 belasten.
({2})
Außerdem berichtigen wir mit der Änderung redaktionelle Fehler im Bereich der Biomasse.
({3})
Nach dem EEG 2014 waren Bioenergieanlagen, wenn
sie ihren Strom direkt vermarktet haben, von MindestanDr. Andreas Lenz
forderungen hinsichtlich der Kraft-Wärme-Kopplung
befreit. Durch einen fehlenden Verweis in den Übergangsvorschriften des neuen EEG standen Hunderte Betreiber von Biogasanlagen vor der Frage, ob sie diese
sinnvolle Regelung weiter nutzen können. Ohne diese
Richtigstellung hätte Anlagebetreibern der Verlust der
Einspeisevergütung gedroht, obwohl sie genau das gemacht haben, was sinnvoll ist, nämlich sich mit ihrer
Stromproduktion an den Markterfordernissen zu orientieren. Dies wäre in vielen Fällen existenzbedrohend gewesen.
Außerdem wird ein redaktioneller Fehler hinsichtlich
der Definition der Bemessungsleistung behoben. So ist
für Anlagen nach dem EEG 2009 auch weiterhin die in
das Netz eingespeiste Leistung und nicht die erzeugte
Leistung maßgebend. Diese Regelungen gelten rückwirkend zum 1. August dieses Jahres, um einen tatsächlichen Bestandsschutz zu gewährleisten.
({4})
- Auch das ist ein Unterschied zu Ihrem Antrag, in dessen erster Version das Datum „1. August“ nicht enthalten
war.
So ärgerlich solche Fehler auch sind, so richtig ist es,
das als richtig Erkannte nun umzusetzen. Das tun wir
heute. Wir werden die Energiewende voranbringen und
dabei die Bürgerinnen und Bürger nicht überfordern.
Uns ist die Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen
wichtig. Mehr als 80 Prozent der Bevölkerung stehen
hinter der Energiewende. Wir schaffen die Voraussetzungen dafür, dass das so bleibt. Die Novellierung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes war hierfür ein erster
wichtiger Schritt. Ebenso wichtig ist der Ausbau der
Übertragungs- und Verteilnetze hinsichtlich der Integration der erneuerbaren Energien. Wir sind auch dabei, die
Neuausrichtung des Strommarktdesigns zu erarbeiten.
({5})
- Für die anteilige Direktvermarktung werden wir, wie
die Kollegen der SPD schon erläutert haben, eine handwerklich gut gemachte Regelung finden.
({6})
Dafür nehmen wir uns die notwendige Zeit. Dabei vertrauen wir nicht nur auf Ihre Anträge, obwohl diese natürlich, wenn sie der Sache dienen, berücksichtigt werden.
({7})
Das Ministerium hat bereits ein Grünbuch vorgelegt,
das jetzt intensiv diskutiert wird. All das spielt zusammen und muss europäisch koordiniert werden.
({8})
Unsere französischen Nachbarn haben uns gestern im
Ausschuss eindrucksvoll von ihren Anstrengungen berichtet. So will Frankreich seinen Anteil an erneuerbaren
Energien bis 2030 auf 32 Prozent steigern. Wir sind also
mit unseren Bemühungen nicht ganz allein.
Die Reform des EEG im Juli dieses Jahres war richtig. Das Richtige muss man auch richtig machen; dazu
tragen wir heute bei. - Herr Krischer, wir sind der Meinung, das sich Ehen entwickeln und im Laufe der Zeit
besser werden können.
({9})
Wenn Sie in Ihrem Leben andere Erfahrungen gemacht
haben, ist das Ihre Sache.
Ich bitte um Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf.
Herzlichen Dank.
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die
Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Ent-
wurf eines Gesetzes zur Änderung des Erneuerbare-
Energien-Gesetzes. Ich weise darauf hin, dass hierzu
eine Erklärung des Abgeordneten Heil gemäß § 31 der
Geschäftsordnung vorliegt.1)
Der Ausschuss für Wirtschaft und Energie empfiehlt
unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/3440, den Gesetzentwurf der Fraktionen
der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/3321 in der
Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegt ein Ände-
rungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf der
Drucksache 18/3451 vor, über den wir zuerst abstim-
men. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Die
Opposition. Wer stimmt dagegen? - Die Koalition. Gibt
es Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist der
Änderungsantrag mit den Stimmen der Koalition bei Zu-
stimmung durch die Opposition abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthält sich jemand? -
Das ist nicht der Fall. Dann ist der Gesetzentwurf in
zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Ich komme zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
1) Anlage 2
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der
Gesetzentwurf einstimmig angenommen.
Ich komme zur Abstimmung über den Gesetzentwurf
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur zweiten Änderung des Gesetzes für den Ausbau erneuerbarer Energien. Der Ausschuss für Wirtschaft und Energie empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/3440, den Gesetzentwurf der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/3234 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Die Opposition. Wer stimmt dagegen? - Die Koalition. Wer enthält
sich? - Niemand. Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter
Beratung mit den Stimmen der Koalition gegen die
Stimmen der Opposition abgelehnt. Damit entfällt nach
unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Petra
Sitte und der Fraktion DIE LINKE sowie der
Abgeordneten Britta Haßelmann und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages
hier: Ausschussöffentlichkeit
Drucksache 18/3045
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung ({0})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe als erster Rednerin Frau Dr. Sitte das Wort.
({1})
Meine Damen und Herren! Frau Präsidentin! In der
vergangenen Woche hat eine ganze Reihe von uns Abgeordneten an einem Kongress des Magazins politik &
kommunikation teilgenommen. Niccolo Machiavellis
Mechanik der Macht sollte dazu anregen, über politische
Kommunikation zu diskutieren. Die politische Machtmechanik Machiavellis, Politik sozusagen als rein erfolgsgetriebenes Geschäft frei von irgendwelchen moralischen Fesseln zu betrachten, sollte sich eigentlich
überlebt haben, wobei ich mir da manchmal nicht ganz
sicher bin. Aber für uns in diesem Hause sind vivere
politico und vivere libero durchaus wichtige Themen für
eine gelingende Politik und eine gelingende Republik.
Dabei sind sich mit der Digitalisierung die Akteure
sehr nahe gekommen; sie kommunizieren sehr direkt
miteinander. Sie alle merken das jeden Tag an Ihrem
elektronischen Briefkasten, Ihren Smartphones etc. Jeder
von uns erfährt täglich, wie sehr sich Kommunikationsund Informationsprozesse beschleunigt haben. Deshalb
ist für uns alle zu klären, was wir tun müssen, um eine
lebendige Demokratie zu gestalten.
Wir Linken wollen eine offene, bürgernahe politische
Kultur.
({0})
Wer Bevormundung verhindern und mündige, weil auch
informierte und engagierte Bürgerinnen und Bürger will,
muss viele Fenster öffnen. Die Mehrheiten der größten
Koalition in der Geschichte des Bundestages bewirken
zum Beispiel, dass Oppositionsaufgaben wie Kontrolle,
Kritik der Bundesregierung und das Vorlegen alternativer Vorschläge mehr als jemals zuvor auf eine wache
mediale und gesellschaftliche Öffentlichkeit angewiesen sind.
({1})
Wenn die Große Koalition ihrerseits nicht im eigenen
Saft verschmoren will, sollte auch sie ein waches Ohr für
die gesellschaftliche Resonanz haben.
Das Grundgesetz regelt, dass der Bundestag öffentlich verhandelt. Im Plenum tun wir das, wie zum Beispiel heute wieder. Nun fragt sich jeder, warum das nicht
auch für die Ausschüsse gilt. In Landtagen wird das
längst praktiziert.
({2})
Der politische Prozess soll nachvollziehbar sein. Das
Bundesverfassungsgericht hat in diesem Zusammenhang
betont - ich zitiere -:
Öffentliches Verhandeln von Argument und Gegenargument, öffentliche Debatte und öffentliche Diskussion sind wesentliche Elemente der parlamentarischen Demokratie.
Bisher ist die Nichtöffentlichkeit von Ausschusssitzungen die Regel. Wir wollen das umkehren.
({3})
Nicht die Öffentlichkeit, sondern die Nichtöffentlichkeit
ist in einer Demokratie gesondert zu begründen. Sicherlich sind Ausnahmen denkbar, beispielsweise soweit die
Geheimschutzordnung greift oder schutzwürdige Interessen Dritter zu wahren sind. Wir wollen auch, dass alle
Beratungsgrundlagen in einem Register zusammengefasst
und zeitnah veröffentlicht werden. Dann bleibt beispielsweise Interessierten erspart, das Informationsfreiheitsgesetz zu bemühen, um eine Information zu erhalten.
Nun behaupten Abgeordnete der Koalition gelegentlich, öffentlich könne man nicht mehr ganz so frei und
offen reden; Fensterreden würden überhandnehmen, und
überhaupt würden Kompromisse erschwert. Da kann ich
nur fragen: Was ist das denn für ein Demokratieverständnis?
({4})
Das Überdenken von Positionen oder das freie Reden
- auch ins Unreine - muss doch nicht gefiltert werden.
Die Bürger sind doch nicht doof.
({5})
Argument und Gegenargument sollten bei der Entscheidungsfindung nachvollziehbar sein. Abschließende Antworten hat in diesem Haus ohnehin niemand. Dafür sind
viele Prozesse, die wir bewerten, oder Entscheidungen,
die wir zu fällen haben, viel zu komplex geworden. Weil
sie so komplex geworden sind, finde ich, dass gerade
politische Entscheidungsprozesse kooperativ gestaltet
werden sollten und gestaltet werden müssen.
({6})
Liebe Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Gern. - Kompromisse zu finden ist nicht Ausnahme,
sondern Regelfall und grundgesetzliches Leitbild. Dafür
ist die Demokratie schließlich da. Das sollte für uns
Anlass sein, einen Schritt mehr zu gehen und eine neue
politische Kultur in diesem Haus und für die gesellschaftliche Öffentlichkeit zu schaffen.
Danke.
({0})
Als nächster Redner hat der Kollege Bernhard Kaster
das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Ist die Not schon so groß, dass ein solcher
Schaufensterantrag gestellt werden muss?
({0})
Der Geschäftsordnung widmet man sich in diesem Haus
erfahrungsgemäß immer dann - das ist bei den meisten
Geschäftsordnungsanträgen so -, wenn sich die politisch-inhaltliche Kreativität dem Ende zuneigt. Dann
geht es um Verfahren und die Geschäftsordnung.
({1})
Man nimmt dann ein paar Schlagworte wie Transparenz
und Lobbyismus, mischt sie mit ein paar Vorurteilen gegenüber der Politik und baut auf die mögliche Unkenntnis der Bürgerinnen und Bürger über die tatsächlichen
Abläufe im Parlament. Dann kommt ein solcher Antrag
wie Ihrer dabei heraus, mit seitenlanger Begründung.
Damit kein Missverständnis aufkommt: Es ist unbestritten - da haben Sie in Ihrem Antrag recht -, dass ein
Parlament und insbesondere der Bundestag zwingend
Transparenz und Öffentlichkeit braucht; das ist ganz
wichtig.
({2})
Die Feststellung in Ihrem Antrag, dass auch Abgeordnete Menschen sind, ist schön. Diese teilen wir und
erfreut uns. Es ist erfreulich, dass Sie das festgestellt
haben.
Nun zur eigentlichen Sache. Worum geht es hier? Das
erklärt man am besten mit dem, was ist. Jedes Gesetz
wird in öffentlicher Sitzung in erster, zweiter und dritter
Lesung hier im Parlament debattiert. Zudem nehmen die
Ausschüsse ihr Recht nach der Geschäftsordnung wahr
und führen Ausschusssitzungen öffentlich durch, wenn
sie dies beschließen; das kommt häufig vor.
({3})
Die Ergebnisse - auch die der nichtöffentlichen Ausschusssitzungen - sind ebenfalls öffentlich. Alle Anhörungen der Ausschüsse, in denen oft konträr Expertenmeinungen ausgetauscht werden, sind öffentlich.
Ebenfalls öffentlich sind Gesetzentwürfe, Anträge, Beschlussempfehlungen sowie Berichte aus öffentlichen
und nichtöffentlichen Ausschusssitzungen einschließlich
der unterschiedlichen Fraktionsmeinungen.
({4})
Ebenfalls öffentlich sind Änderungs- und Entschließungsanträge sowie Große und Kleine Anfragen. Diese
Liste könnte ich beliebig fortsetzen. Bei so viel Öffentlichkeit kann man natürlich die Frage stellen, warum wir
den Zwischenschritt einer nichtöffentlichen Beratung
brauchen. Das hat einfach etwas mit unserem parlamentarischen Selbstverständnis zu tun; denn unser Parlament
hat - deswegen lasse ich Vergleiche zu anderen Parlamenten nicht zu ({5})
den Charakter eines Arbeitsparlaments. In den Ausschüssen wird im Rahmen des Berichterstattersystems
detailliert beraten. Bekanntlich verlässt kein Gesetz den
Bundestag so, wie es in den Bundestag eingebracht
wurde. Wir möchten diesen Charakter unseres Parlaments erhalten.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, interessanterweise
argumentieren Sie in Ihrer langen Begründung des Antrags auch damit, in nichtöffentlichen Sitzungen spiele
die Interessenvertretung eine zu große Rolle, Stichwort
„guter und böser Lobbyismus“. Genau andersherum ist
es. Der Regelfall ist, dass die Abgeordneten mit einer
Vielzahl von Interessen und Wünschen konfrontiert werden. Die gilt es dann abzuwägen. Jeder Abgeordnete im
Ausschuss hat die freie Entscheidung, sich zu Wort zu
melden, sich zu äußern. Aber bei konsequenter Öffentlichkeit - davon müssen wir bei Zulassung von Fernsehen, Presse, Internet-Livestream ausgehen - steigt unzweifelhaft der öffentliche Erwartungsdruck, ob von
Branchen, Sozialverbänden, Gewerkschaften oder dem
eigenen Wahlkreis, sich zwingend zu Wort zu melden
und eine erwartete Haltung zu formulieren. Ich sage
nicht, dass das immer so wäre; aber in jedem Fall würde
der öffentliche Druck steigen.
({7})
Lassen Sie mich zum Schluss zusammenfassend drei
Kritikpunkte zu diesem Antrag nennen: Erstens. Der
Charakter und die Ergebnisoffenheit der Detailberatungen würden sich verändern. Zweitens. Der Antrag suggeriert, wie ich finde, in fataler Weise, dass jeder Form
einer vertraulichen Beratung ein Generalverdacht der
Unrechtmäßigkeit beiwohnt. Es ist eigentlich unmöglich, so einen Eindruck aufkommen zu lassen. Drittens.
Eine Ausschussöffentlichkeit stärkt nicht den einzelnen
Abgeordneten, sondern die Parteien, die Fraktionen. Der
unverzichtbare Prozess der Kompromissfindung würde
sich letztlich in andere Gremien verlagern.
Wir werden diesen Antrag an den Geschäftsordnungsausschuss überweisen und ihn dort gerne in öffentlicher
Sitzung - das liegt in der Natur der Sache - beraten. Das
lässt die Geschäftsordnung zu. Dazu brauchen wir keine
Änderung der Geschäftsordnung.
Vielen Dank.
({8})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Britta
Haßelmann das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen
und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren auf der
Zuschauertribüne! Heute reden wir über das Thema „Öffentlichkeit von Ausschusssitzungen“. Es ist aus Sicht
der Grünen und der Linken absolut überfällig, darüber
im Deutschen Bundestag zu diskutieren.
({0})
Transparenz und Offenheit gegenüber Dritten, den Bürgerinnen und Bürgern, interessierten Medien, interessierten Verbänden, hatten wir schon in der Vergangenheit. So eingeschränkt wie jetzt war die Situation noch
nie. Deshalb hat meine Kollegin Petra Sitte an dieser
Stelle recht: Die Große Koalition erfordert ganz besonders, dass die Regeln von Transparenz und Offenheit
eingehalten werden. Vonnöten ist auch eine Opposition,
die das einfordert. Wir wollen, dass die Öffentlichkeit
von Ausschusssitzungen demnächst grundsätzlich gilt
und nicht der umgekehrte Fall zu begründen ist, wie es
nach Auffassung der Koalitionsfraktionen zu geschehen
hat.
Die Realität sieht im Moment so aus, dass Ausschüsse
so gut wie nie öffentlich tagen.
({1})
Das haben Sie aus dem geltenden Grundsatz gemacht.
Hier schaue ich insbesondere meine Kolleginnen und
Kollegen von der SPD an: Was haben Sie Seit’ an Seit’
mit den Grünen in der letzten Legislaturperiode gestritten? Da war es noch üblich, dass der Sportausschuss,
dass der Unterausschuss „Bürgerschaftliches Engagement“, dass der Ausschuss für Kultur und Medien, dass
der Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung grundsätzlich jede Woche öffentlich getagt
haben.
({2})
Die SPD war ganz eng an der Seite von Grünen und
Linken, um zu verhindern, dass der Sportausschuss zur
Nichtöffentlichkeit übergeht, als unter Schwarz-Gelb
eine entsprechende Initiative entstand. Wo sind die Argumente? Die gehen Ihnen doch aus, Frau Steffen. Ich
bin gespannt, wie Sie heute darlegen wollen, weshalb
das alles jetzt nicht mehr möglich ist und weshalb wir
auf jeden Fall hinter verschlossenen Türen beraten
müssen.
Sehen Sie sich doch einmal das Europaparlament an:
Alle Ausschüsse tagen grundsätzlich öffentlich. Alle
Dokumente sind zugänglich. Wo führt das denn zu
furchtbaren Frakturen und schrecklichen Situationen,
Herr Kaster? Nirgendwo! Reden Sie doch einmal mit
den Abgeordneten des Europaparlaments.
({3})
Das ist Transparenz im besten Sinne. Das ist Nachvollziehbarkeit von Entscheidungen für Bürgerinnen und
Bürger.
Sie beschreiben hier die Ausschussrealität, als säßen
wir dort alle zusammen und berieten ganz intensiv über
Vorlagen, und erst danach legten sich die Fraktionen
fest. Ich bitte Sie, in welchem Ausschuss ist das denn
so? Ich sitze im Finanzausschuss. Ich saß im Familienausschuss. Ich bin stellvertretendes Mitglied im Innenausschuss. Ich kann Ihnen sagen: Da gibt es vorher Festlegungen der Fraktionen, wie man am Ende über
Anträge abstimmt. Das gehört zur Realität. Deshalb
muss es an der Stelle kein geschützter Raum sein.
({4})
Wir haben darüber hinaus in den Landesparlamenten
in Bayern, Berlin und Brandenburg die grundsätzliche
Öffentlichkeit von Ausschusssitzungen, weil das selbstverständlich ist und weil wir uns gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern zu erklären haben. Wir sollten froh
sein über das Interesse der Menschen, darüber, dass sie
erfahren wollen, was wir beraten, wie wir beraten und
über welche Dokumente wir beraten. Deshalb gibt es unsere Antragsinitiative an dieser Stelle.
Kommunalparlamente machen seit über 20 Jahren
gute Erfahrungen damit. Selbstverständlich gibt es Geheimschutzinteressen; dann hat man nichtöffentliche
Teile. Das alles ist in unserem Antrag aufgeführt. Das
sind keine K.-o.-Argumente, was unseren Antrag angeht.
Deshalb werbe ich für unser Anliegen. Ich bin gespannt
auf die Darlegungen der SPD, warum sie eine Kehrtwende, eine Wende um 180 Grad, gemacht hat, nur weil
sie jetzt in der Regierung ist.
({5})
Als nächste Rednerin spricht die Kollegin Sonja
Steffen.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Mir kommt jetzt
eine schwere Aufgabe zu, Frau Haßelmann. Ich soll darlegen, warum die SPD von dem Öffentlichkeitsprinzip,
das Sie hier vorgestellt haben, abweicht. Das ist im
Grunde genommen nicht der Fall. Ich sage Ihnen auch,
warum.
Ich will aber mit einem Satz anfangen, den wir alle
bisher mehr oder weniger auch so formuliert haben. Er
stammt von Heiner Geißler und lautet wie folgt: Transparenz schafft das Vertrauen, von dem eine Demokratie
lebt. - Das hat er im Zusammenhang mit Stuttgart 21 gesagt. Ich denke, da sind wir uns alle einig.
Ihr Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Opposition, geht in diese Richtung; das ist auch richtig
so. Sie wollen das Regel-Ausnahme-Prinzip, das wir im
Moment haben, umkehren. Sie wollen künftig, dass alle
Ausschüsse grundsätzlich öffentlich tagen; darüber hinaus wollen Sie bei allen Ausschüssen einen Livestream
einführen, was dann heißt: Echtzeitübertragung der Ausschusssitzungen.
({0})
Die aktuelle Situation ist die - ich will das noch einmal sagen; das ist die Situation, die wir immer schon
hatten -: Nach § 69 der Geschäftsordnung tagen die
Ausschüsse grundsätzlich nicht öffentlich; aber jeder
Ausschuss kann die Öffentlichkeit beschließen.
({1})
In der Vergangenheit, in der Opposition, hat die SPD
- Frau Haßelmann, auch da gebe ich Ihnen recht - mit
den Grünen und auch mit den Linken gemeinsam
Anträge auf Öffentlichkeit gestellt, beispielsweise im
Sportausschuss. Sie haben es schon gesagt: Der Sportausschuss hat sehr häufig öffentlich getagt. Wir hätten
das gern fortgesetzt, sind mit diesem Anliegen aber - so
ehrlich muss man sein - bei der Union gescheitert.
({2})
Es ist nicht so, dass wir grundsätzlich im Geheimen
tagen - darauf hat der Kollege Kaster schon hingewiesen -; das stimmt so nicht. Wir haben in den Ausschusssitzungen sehr häufig öffentliche Anhörungen. Wenn es
um Gesetzesvorhaben geht, werden Sachverständige angehört. Es gibt Jahresberichte, die öffentlich vorgetragen
werden. Es gibt auch im Petitionsausschuss - das weiß
ich von meiner Arbeit dort - regelmäßig öffentliche
Anhörungen. Ich erinnere mich gerne an die Anhörungen zu den Hebammen, zur Finanztransaktionsteuer, zur
Palliativmedizin und zum bedingungslosen Grundeinkommen, mit denen wir eine breite Öffentlichkeit erreicht haben.
({3})
Die Frage ist jetzt: Wollen wir von dem RegelAusnahme-Prinzip, das wir im Moment haben - grundsätzlich nichtöffentlich, ausnahmsweise öffentlich, nämlich dann, wenn der Ausschuss das will -, abgehen? Ich
sage Ihnen eines: Wir befinden uns heute in der ersten
Beratung. Auch bei Geschäftsordnungsänderungen gibt
es ein Prozedere im Parlament, und wir sind da noch
nicht am Ende der Fahnenstange. Wir fangen mit der
Diskussion gerade an. Ich denke, ich spreche für die
SPD-Fraktion, wenn ich sage: Wir wollen in die Debatte
einsteigen und schauen, wohin das führt - mit offenem
Ergebnis.
({4})
Es gibt natürlich - das ist von den Kollegen der
Opposition schon gesagt worden - viele Argumente für
das öffentliche Tagen der Ausschüsse, beispielsweise
- das ist schon genannt worden - die Information der
Öffentlichkeit, aber auch die Kontrolle, die Teilhabe und
letztendlich auch die Akzeptanz. Es mag durchaus sein,
dass die Akzeptanz erhöht wird, wenn man nicht mehr
hinter verschlossenen Türen, sondern zukünftig öffentlich tagt. Allerdings stellt sich auch die Frage - darauf ist
der Kollege Kaster in seiner Rede schon sehr ausführlich
eingegangen -: Dient das tatsächlich auch der Funktionsfähigkeit des Parlaments?
({5})
Ich finde, dieser Pragmatismus muss an dieser Stelle
sein, ohne dass man sagt: Wir wollen die Öffentlichkeit
in Zukunft nicht mehr.
Aber es besteht doch tatsächlich eine Gefahr: Wenn
zukünftig alle Ausschusssitzungen öffentlich sind, wird
es so sein - das haben Sie schon gesagt -, dass jedes
Ausschussmitglied, das da sitzt, selbstverständlich auch
zu Wort kommen will.
({6})
Alles andere würde vielleicht dazu führen, dass dann
nicht nur im Wahlkreis, sondern auch an anderer Stelle
gesagt würde: Na ja, dieses oder jenes Ausschussmitglied macht ja überhaupt nicht mit. Er oder sie hat sich
da überhaupt nicht zu Wort gemeldet. - Wozu würde das
führen? Das könnte dazu führen, dass sich die Ausschusssitzungen - nach dem Motto „Es ist zwar schon
alles gesagt, aber noch nicht von jedem“ - ins Unendliche hinziehen. An dieser Stelle, denke ich, hätten wir
dann auch nichts davon.
({7})
Ich muss Ihnen noch etwas sagen: Ich erinnere mich
gerne an meinen sehr geschätzten Kollegen Anton
Schaaf; viele von Ihnen kennen ihn noch. Er, ein sehr
guter Redner, hat uns, als er mit uns seinen Abschied begangen hat, einen ziemlich guten Satz mit auf den Weg
gegeben. Dieser Satz lautet: Rede nur, wenn du wirklich
etwas zu sagen hast. - Das, finde ich, gilt auch für Ausschusssitzungen.
({8})
Ich will Ihnen noch etwas sagen: Frau Haßelmann,
Sie haben vorhin gesagt, in welchen Ausschüssen Sie
sind und wie es da abläuft. Ich selber bin im 1. Ausschuss und im Haushaltsausschuss. Ich sage allen Kolleginnen und Kollegen, die hier sitzen - ich möchte gerade
die Opposition ansprechen -: In den Ausschüssen, in denen ich bin, ist es wirklich so, dass jeder, auch die Opposition, zu Wort kommt, und zwar mehrmals.
({9})
Es wird über alle Themen breit diskutiert. Es ist nicht so,
Frau Haßelmann, dass ein Gesetzentwurf ins Parlament
kommt, in den Ausschüssen verhandelt wird und das
Parlament dann so verlässt, wie er hineingekommen ist;
das Struck’sche Gesetz ist schon genannt worden. In
meiner Oppositionszeit, beispielsweise in meiner Zeit im
Rechtsausschuss, habe ich oft genug erlebt, dass im Rahmen von Berichterstattergesprächen und Ausschusssitzungen auch die Opposition ihre Meinung in die Beratung von Gesetzentwürfen einbringen konnte.
({10})
Das ist heute noch so. Das, denke ich, sollten wir an dieser Stelle nicht vergessen.
({11})
Jetzt stellt sich also die Frage: Wie wägt man das ab?
Ich habe gerade das Für und Wider genannt und gesagt:
Wir sind am Beginn der Debatte. Wir wollen in diese
Diskussion einsteigen. Meine Fraktion ist da sehr offen.
Es gibt vielleicht wirklich Möglichkeiten. Beispielsweise würde ich es gut finden, wenn wir überlegen würden, ob wir Ausschusssitzungen zu bestimmten Themen
zukünftig mit einem Mindestmaß an Öffentlichkeit versehen. Es ist ja so: Nicht jedes Thema ist für die Öffentlichkeit superinteressant. Es gibt aber sehr interessante
Themen.
({12})
Ich erinnere mich zum Beispiel noch sehr gut - daran
werde ich mich mit Sicherheit auch in Zukunft noch erinnern - an die Debatte zu TTIP, die wir in der letzten
Sitzungswoche geführt haben, in der unser Wirtschaftsminister von seiner ursprünglich geplanten Rede völlig
abgewichen ist und wir plötzlich eine Debatte hatten, in
der das Parlament richtig lebendig wurde. Ich glaube,
das ist der Zustand, den wir erreichen wollen. Das eint
uns alle wieder. Letztendlich geht es doch auch darum,
dass wir etwas gegen die Politikverdrossenheit der Menschen im Land tun wollen. Wenn wir etwas Positives erreichen können, indem wir Ausschusssitzungen in dem
einen oder anderen Fall öffentlich machen, dann leben
wir eine lebendige Demokratie.
Vielen Dank.
({13})
Als letzter Redner in dieser Debatte hat der Kollege
Hans-Peter Uhl das Wort.
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Bei diesem Thema geht es um die Frage einer
sinnvollen, pragmatischen Organisationsstruktur für ein
Gesetzgebungsverfahren. Wir haben unser Gesetzgebungsverfahren als einen lernenden Prozess ausgestaltet - mit Recht. Er ist transparent, hat aber auch vertrauliche Elemente.
Diese Kombination gewährt vor allem gute Ergebnisse in dem lernenden Prozess. Sie haben vollkommen
recht mit dem Zitat Ihres ehemaligen Kollegen: „Melde
dich nur zu Wort, wenn du etwas zu sagen hast.“ In diesem lernenden Verfahren der Gesetzgebung haben wir
oft etwas zu fragen, und dieses Fragen muss möglich
sein.
({0})
Ganz unverkrampft fragen muss möglich sein, ohne sich
dabei zu blamieren. Es tut uns allen gut, wenn man das
ab und zu tut. Wir müssen ehrlicherweise zugeben: Wir
haben auch schon Gesetze gemacht; hätten wir länger
darüber nachgedacht und vorher gefragt, dann wäre das
eine oder andere Gesetz vielleicht besser geworden.
Manchmal merken wir gleich nach der dritten Lesung,
dass etwas übersehen worden ist.
({1})
Ich meine, wir sollten uns in aller Ruhe überlegen, ob
unser Verfahren verbesserungsbedürftig ist oder ob wir
es so belassen. Im Augenblick bin ich mit der Geschäftsordnung, die wir haben, sehr zufrieden. Wir haben - der
Kollege Gerster hat es erwähnt - alle Möglichkeiten der
Transparenz, der Öffentlichkeit, und ich habe nicht den
Eindruck - auch wenn ich jetzt auf die Zuschauertribüne
schaue; es sind mehr Abgeordnete als Zuhörer da, das ist
öfters so -, dass die Bevölkerung nach mehr Erkenntnissen dürstet und den Verdacht hat, wir würden ihr etwas
vorenthalten und ihr würde etwas verheimlicht. Nein,
das Gegenteil ist der Fall: Die Medienüberschwemmung
sorgt dafür, dass der Bürger gar nicht mehr weiß, was
wichtig und was unwichtig ist.
({2})
Mit noch mehr Transparenz ist das eher noch schlimmer
als besser.
Wenn Sie so viel Transparenz für alles und jedes im
Laufe des Verfahrens wollen, gebe ich eines zu bedenken:
Ein wichtiger Abschnitt im Gesetzgebungsverfahren ist
nach der ersten Lesung und der Ausschussberatung das
Berichterstattergespräch, meist sogar mit Vertretern der
Regierung.
({3})
Da werden Fragen gestellt, und es werden Antworten gegeben, manchmal von der Regierung, manchmal von anderen Kollegen.
({4})
Ich habe das immer für sehr wichtig gehalten. Wenn Sie
für Transparenz des Verfahrens sind, dann müssten Sie
auch dieses Berichterstattergespräch öffentlich machen;
({5})
denn Sie sind ja für Transparenz. Das können Sie aber
nicht fordern.
({6})
- Warum, Frau Sitte? Es gibt nach ständiger Rechtsprechung auch bei der Regierung einen Arkanbereich der
Geheimhaltung. Dort können Sie nicht einmal durch einen Untersuchungsausschuss erfahren, was sich die Regierung im Laufe des Prozesses der Willensbildung ausgedacht hat. Obwohl dort Protokoll geführt wurde,
haben Sie keinen Anspruch, das Protokoll zu bekommen. Auch der Gesetzgeber braucht einen solchen Bereich, einen Arkanbereich, in dem er laut nachdenken
können muss, ohne dass alles über die Medien in jedes
Wohnzimmer getragen wird.
Ein Letztes: Öffentliche Sitzungen fordern natürlich
von einer Fraktion und einer Partei die vorherige Festlegung. Dies hängt mit unserem Parteiensystem zusammen, mit Regierung und Opposition; und Demokratie
lebt von Rede und Gegenrede zwischen Regierung und
Opposition. Die öffentliche Festlegung muss vorher geschehen. Warum? Im Grundgesetz steht: „Die Parteien
wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes
mit.“ Wenn Sie also eine öffentliche Übertragung machen und der eine Abgeordnete der CDU so sagt und der
andere so und der dritte wieder etwas anderes sagt oder
noch fragt, ob das alles richtig ist, was wir machen, dann
fragt sich der Zuschauer mit Recht: Was will jetzt eigentlich die Partei? Der eine hat so gesagt und der andere so.
({7})
Das wird dann bei der Übertragung nicht mehr möglich
sein. Auch bei den Grünen wird es nicht mehr möglich
sein; denn sie werden in der Ausschusssitzung mit einer
Stimme sprechen müssen - ohne Wenn und Aber. Sie
müssen sich vorher öffentlich festlegen. Das ist schade,
weil es nicht zu einem Erkenntniswert führt, da Sie ja
vorher bereits die Erkenntnisse festgelegt haben.
Das ist kein lernendes Verfahren, meine lieben Kolleginnen und Kollegen. Wir wollen aber ein lernendes Verfahren, bei dem wir besser werden im Laufe des Prozesses von der ersten Lesung über die - in der Regel
nichtöffentliche - Ausschusssitzung bis zur zweiten und
dritten Lesung, und dann wird alles protokolliert, veröffentlicht und über Internet abrufbar gemacht. Das ist unser Weg.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die
Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3045 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung
der Rechtsstellung von asylsuchenden und
geduldeten Ausländern
Drucksache 18/3144
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Verbesserung der Rechtsstel6998
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
lung von asylsuchenden und geduldeten
Ausländern
Drucksache 18/3160
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({0})
Drucksache 18/3444
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist das auch so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin
Andrea Lindholz als erster Rednerin das Wort.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Über 200 000 Asylanträge erwartet
das Bundesinnenministerium in diesem Jahr. Bund, Länder und Kommunen tragen gemeinsam Verantwortung
für ein funktionierendes Asylsystem, das die Unterstützung der Bevölkerung erhält und den wirklich Schutzbedürftigen hilft. Dazu sollte sich unsere Flüchtlingspolitik
an vier Eckpunkten orientieren:
Erstens. Asyl dient ausschließlich dem Schutz verfolgter Menschen. Asyl ist kein Mittel gegen Armut und
auch kein Instrument zur Fachkräftegewinnung.
Zweitens. Die durchschnittliche Dauer der Asylverfahren muss auf drei Monate sinken. In diesem Zeitraum
muss auch geklärt werden, ob jemand Aussicht auf
Flüchtlingsschutz hat oder nicht.
Drittens. Wer einen Anspruch auf Schutz hat, der
sollte frühzeitig integriert werden und auch die Chance
bekommen, seinen Lebensunterhalt selbstständig zu verdienen. So verhindern wir Parallelgesellschaften und
Abhängigkeiten vom Sozialstaat.
Viertens. Wir brauchen eine faire Lastenverteilung
und ein funktionierendes Asylsystem in ganz Europa;
denn sonst können die stetig wachsenden Flüchtlingszahlen nicht dauerhaft bewältigt werden.
({0})
Die Bundesregierung und die Koalition haben im Jahr
2014 zahlreiche Maßnahmen auf den Weg gebracht, um
das deutsche Asylsystem zu stabilisieren. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat 650 neue Stellen
und 37 Millionen Euro für Dolmetscher und Sachmittel
bekommen. Das Gesetz zu den sicheren Herkunftsstaaten hilft uns, aussichtslose Asylanträge schneller zu bearbeiten und schneller abzuschließen; denn rund 17 Prozent aller Asylanträge werden von Menschen gestellt,
die aus Serbien, Mazedonien oder Bosnien-Herzegowina
stammen, obwohl die Anerkennungsraten für diese Länder nahe bei null liegen. Der Bund unterstützt die Kommunen bei der Unterbringung der Flüchtlinge. Wir haben
das Baurecht flexibilisiert, und Bundesimmobilien werden den Kommunen zur Verfügung gestellt. Das Asylbewerberleistungsgesetz entlastet Länder und Kommunen
künftig um 43 Millionen Euro pro Jahr bei der Flüchtlingsversorgung. Den Löwenanteil übernimmt der Bund.
({1})
Obendrein hat der Bund nun zugesagt, die Länder
2015 um weitere 500 Millionen Euro zu entlasten. Für
2016 wurde die gleiche Summe in Aussicht gestellt. Die
Hälfte dieser Mittel wird als langfristiger Kredit gewährt. Die Mittel für die Integrationskurse wurden im
laufenden Haushalt um 40 Millionen Euro auf 244 Millionen Euro aufgestockt, und im Haushalt 2015 wurde
die Entwicklung verstetigt. Die Mittel für die individuelle Migrationsberatung wurden um 8 Millionen Euro
aufgestockt.
Mit dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf stärken wir
zusätzlich Integration und Selbstständigkeit der Flüchtlinge. Das Sachleistungsprinzip wird auf den Aufenthalt
in der Erstaufnahmeeinrichtung beschränkt. Anschließend sollen vorrangig Geldleistungen erbracht werden.
Ich halte das auch für richtig.
({2})
Wichtig ist aber, dass Sachleistungen in Ausnahmefällen
zulässig bleiben, zum Beispiel um Versorgungsengpässe
zu decken. Das haben wir geregelt. Die Leistungen für
Unterkunft, Heizung und Hausrat können wahlweise als
Geld- oder als Sachleistung erbracht werden. So viel
Handlungsspielraum sollten wir den Kommunen auch
belassen.
({3})
Die Residenzpflicht entfällt nach drei Monaten und
wird durch die Wohnsitzauflage ersetzt. Die Flüchtlinge
können sich dann also im gesamten Bundesgebiet bewegen. Sozialleistungen werden zunächst nur an dem in der
Auflage festgelegten Wohnort bezogen. Damit soll die
Belastung zwischen den Kommunen gerecht verteilt
werden. Für alle, die ihren Lebensunterhalt selbstständig
sichern, entfällt die Wohnsitzauflage. Die Flüchtlinge
können damit bundesweit eine Arbeit aufnehmen.
An dieser Stelle müssen wir aber genau beobachten,
ob es zu dem gleichen Phänomen kommt, wie es im
Zuge der Armutsmigration aus EU-Staaten festgestellt
wurde; denn wenn ein Asylbewerber seinen Arbeitsplatz
nach dem Umzug verliert, dann geht die Wohnsitzauflage zusammen mit der Leistungsverpflichtung auf seinen neuen Wohnort über. Das kann vor allen Dingen in
Ballungszentren zu einer wesentlichen Erhöhung der
Zahl der leistungsberechtigten Asylbewerber führen.
Gut ist, dass die Residenzpflicht dann wieder auflebt,
wenn die Ausweisung bevorsteht oder Straftaten und
Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz vorliegen.
Den letzten Punkt konnten wir mit einem Änderungsantrag verbessern. Es freut mich, dass die Grünen nun der
so geänderten Fassung zustimmen wollen. Zumindest im
Bund hatten sie den Kompromiss zunächst abgelehnt.
Der generelle Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt
für Asylbewerber und Geduldete wurde bereits von neun
auf drei Monate gesenkt. Mit einer Rechtsverordnung
wird nun zudem die Vorrangprüfung für Asylsuchende
bei der Arbeitssuche und für Geduldete auf 15 Monate
beschränkt. Diese Verordnung ist zunächst auf drei Jahre
befristet. Der Gesetzgeber kann jetzt anhand der Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt entscheiden, ob die Vorrangprüfung dauerhaft in dieser Fassung bleiben kann
oder ob sie vielleicht wieder aufleben soll.
In meiner Rede von heute Vormittag habe ich schon
dargelegt, wie sich die Bundesregierung mit internationaler Flüchtlingshilfe vor Ort engagiert und die Fluchtursachen bekämpft. Dieser beachtliche Maßnahmenkatalog der Bundesregierung im Asylbereich wurde im Jahr
2014 umgesetzt. Das zeigt, dass die Bundesregierung
und die Große Koalition ihrer humanitären Verpflichtung gegenüber den Flüchtlingen nachkommen und sie
sehr ernst nehmen.
({4})
Unsere Verpflichtung gegenüber den deutschen Kommunen und unseren Bürgern vergessen wir dabei nicht;
denn bei aller Hilfsbereitschaft dürfen wir die Zustimmung der Bevölkerung zu unserem Asylsystem keinesfalls gefährden. Daher muss Zuwanderung selbstverständlich gesteuert werden. Zuwanderung muss auch
klaren Regeln folgen. Asyl darf es nur für Verfolgte geben.
Es fehlt daher noch ein wichtiger Baustein in unserer
Strategie zur Neuordnung des deutschen Asylsystems.
Diejenigen nämlich, die kein Recht auf Asyl haben,
müssen konsequenter als bisher zurückgeführt werden.
Das ist angesichts von rund 11 Millionen syrischen Bürgerkriegsflüchtlingen auch nötig, um weitere Kapazitäten zu schaffen.
Die Ausweisung von Ausreisepflichtigen und straffällig gewordenen Ausländern funktioniert auch nicht mehr
richtig. Das bisherige dreistufige Ausweisungsrecht mit
einer Kann-, einer Soll- und einer Mussregelung wurde
in der Rechtsprechungspraxis quasi obsolet. Die Gerichte treffen heute fast nur noch Ermessensentscheidungen und bewerten den Einzelfall. Das bestätigen uns die
Praktiker mit großer Mehrheit. Deswegen halten auch
wir es für richtig und nötig, das Ausweisungsrecht
grundlegend zu reformieren.
({5})
Gestern hat das Kabinett einen Gesetzentwurf verabschiedet, der dieses Problem lösen soll. Für mich ist das
insgesamt ein vernünftiger Kompromiss. Mit dem Gesetzentwurf soll einerseits das Ausweisungs- und Abschieberecht deutlich vereinfacht werden. Die Gerichte
sollten zukünftig abschließend entscheiden, wer ein
Bleiberecht hat. Straftäter und Personen, denen nach
gründlicher Abwägung und Prüfung kein Aufenthaltsrecht zusteht, sollen auch künftig konsequenter abgeschoben werden.
Gleichzeitig wird das Bleiberecht für gut integrierte
und schutzbedürftige Ausländer, die bisher kein Aufenthaltsrecht haben, verbessert, nämlich wenn sie bestimmte Kriterien erfüllen, die für eine gelungene Integration sprechen. Ihnen soll dann ein verlässlicher
Aufenthaltsstatus gewährt werden.
Die Verbesserungen im Bleiberecht sind zu verantworten, aber nur dann, wenn eine konsequente Rückführung stattfindet. Derzeit werden bei uns nur rund 10 Prozent der Ausreisepflichtigen tatsächlich abgeschoben.
Dadurch wird unser Asylsystem ein Stück weit ungerecht, es wird willkürlich, und es wird unberechenbar.
Die Länder sind hier absolut in der Pflicht, ihre Aufgaben zu erfüllen. Der Bund alleine kann dieses Problem
nicht lösen. Der Bund hilft Flüchtlingen, er hilft Ländern, und er hilft den Kommunen in vielerlei Hinsicht.
Wir dürfen darüber nicht die Sorgen und Ängste unserer Bevölkerung vergessen, die vorhanden sind und sich
an vielen Stellen zeigen. Wir müssen Zuwanderung steuern; denn sonst verlieren wir die öffentliche Akzeptanz
für unser Asylsystem. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, wäre eigentlich die größte Katastrophe.
Vielen Dank.
({6})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Ulla Jelpke das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Bundesregierung legt heute einen Gesetzentwurf vor, um
den sogenannten Asyldeal des Bundesrates umzusetzen.
Wir erinnern uns: Im September hat der Bundesrat der
Einstufung von Bosnien-Herzegowina, Mazedonien und
Serbien als sichere Herkunftsstaaten zugestimmt, und
zwar auch mit der Stimme des Ministerpräsidenten von
Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann. Das magere Ergebnis dieses Deals liegt jetzt hier vor, mit dem
sperrigen Titel „Rechtsstellungsverbesserungsgesetz“.
Es enthält unbestreitbar einige Verbesserungen; aber
diese Verbesserungen werden mit der Ausgrenzung einer
großen Gruppe von Flüchtlingen erkauft. Im Kern geht
es um die Residenzpflicht und die Versorgung von Asylsuchenden.
Die Residenzpflicht soll nun nach dreimonatigem
Aufenthalt erlöschen. Das wird das Leben vieler Flüchtlinge zweifellos erleichtern, die dann nicht mehr vor jeder Zugfahrt bei der Behörde nachfragen müssen. Doch
warum nach drei Monaten? Die Verletzung des Rechts
auf Bewegungsfreiheit wird nicht erträglicher, wenn
man sie auf drei Monate verkürzt. Deswegen bleibt die
Linke dabei: Die Residenzpflicht gehört gänzlich abgeschafft.
({0})
Meine Damen und Herren, warum gibt es hier wieder
Ausnahmen? Es reicht zum Beispiel schon der bloße
Verdacht auf Besitz von Betäubungsmitteln. Ohne jeden
Beweis, ohne Gerichtsbeschluss wird den Betroffenen
dann jahrelang die Residenzpflicht wieder auferlegt. Das
ist aus unserer Sicht vollkommen unverhältnismäßig.
({1})
Auch wenn - ich zitiere - „konkrete Maßnahmen zur
Aufenthaltsbeendigung … bevorstehen“, soll die Residenzpflicht wieder verhängt werden können. Schon bei
den Beratungen im Innenausschuss konnte mir niemand
erklären, was das eigentlich in der Praxis bedeutet. Eine
solche Regelung, wie sie im Gesetz steht, ist völlig unbestimmt. Auf jeden Fall sind Geduldete von dieser Ausnahme besonders hart getroffen. In Deutschland leben
etwa 100 000 Menschen, die geduldet sind, das heißt,
mit anderen Worten, ausreisepflichtig sind. Viele von ihnen, etwa 50 Prozent, sind seit über sechs Jahren in
Deutschland. Gegen sie können also jederzeit Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung ergriffen werden und
damit in der Folge wieder die Residenzpflicht verhängt
werden. Die angebliche Lockerung der Residenzpflicht
ist gerade für diese Menschen nichts anderes als eine
Mogelpackung.
Meine Damen und Herren, einen Schritt vor, einen
Schritt zurück, das sehen wir auch beim Asylbewerberleistungsgesetz. Sie kündigen an, endlich den Vorrang
von Geld- vor Sachleistungen festzuschreiben. Das
heißt, Asylsuchende erhalten künftig keine Fresspakete,
Einkaufsgutscheine oder Altkleiderbündel mehr, sondern Bargeld. Das wäre auch gut so. Auch hier gibt es
aber wieder Ausnahmen: Erstens soll die neue Regelung
nicht in den Erstaufnahmeeinrichtungen gelten, und
zweitens gibt es eine Öffnungsklausel. Dort steht: „soweit es nach den Umständen erforderlich ist“, kann vom
Vorrang der Geldleistungen abgewichen werden. - Das
ist der Türöffner für Länder und Kommunen, um - wie
zum Beispiel in Bayern - an ihrer restriktiven Praxis
festzuhalten. Das ist bestenfalls ein Fortschritt mit angezogener Handbremse, meine Damen und Herren.
Wir freuen uns natürlich über jede konkrete Verbesserung im Leben von Flüchtlingen, Asylsuchenden und natürlich auch Geduldeten. Dieser Gesetzentwurf setzt diesen Anspruch allerdings nur halbherzig um. Deswegen
werden wir uns hier nur enthalten.
Ich danke Ihnen.
({2})
Als nächster Redner hat der Kollege Rüdiger Veit das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich will jetzt, Frau Lindholz, nicht vom Bleiberecht reden. Nur so viel sei gesagt: Ich bin froh - das ist
für mich das entscheidende Wort in dieser Legislaturperiode -, dass an einer Stelle, was die Lebensunterhaltsicherung angeht, aus einem „und“ wieder ein „oder“ geworden ist, so wie wir es auch vereinbart haben. Darüber
werden wir noch einmal reden, wenn das Gesetz dann
letztlich hier zur Beratung vorliegen wird.
Ein Hinweis vielleicht noch aus der Praxis - ich habe
ja einmal auf der anderen Seite, sozusagen in der Exekutive, sitzen dürfen -: Die Frage, welche Abschiebungen
all derjenigen letztendlich vollzogen werden, die hätten
vollzogen werden können, ist eine Frage, die uns nicht
erst im Jahr 2014 begegnet, sondern die ist, soweit ich
den Sachverhalt überblicke, mindestens so alt wie das
Gesetz, weil die verschiedensten Hinderungsgründe
- manchmal sind es auch Mitmenschlichkeit, Mitleid,
und manchmal ist es auch bürgerschaftliches Engagement - dazu führen, dass viele Abschiebungen nicht
vollzogen werden.
Aber jetzt zu diesen Gesetzen. Wir haben als Sozialdemokraten - ich gebe übrigens unumwunden zu, dass
das nicht immer ganz so einfach war, und manchmal hat
es auch eine Weile gedauert - im Ergebnis dann doch
unstreitig in unseren Reihen gesagt: Die Residenzpflicht
in der uns bekannten Form muss weg, und das Sachleistungsprinzip und der Zwang zur Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften müssen es auch. Wir haben das
im Beschluss des Parteivorstandes vom Montag letzter
Woche noch einmal bekräftigt. Ich bin froh, dass das hier
und heute, wenn allerdings vielleicht auch nicht so stark
beachtet, wie man es diesem Thema eigentlich hätte zubilligen wollen, von uns auch vollzogen wird.
Ich bin froh darüber, liebe Ulla Jelpke, dass es gelungen ist, im Bundesrat, aus Anlass einer allerdings
schwierigen, von mir auch nicht befürworteten Gesetzgebung, zu einer solchen Vereinbarung zu kommen, wie
sie der Ministerpräsident von Baden-Württemberg
schlussendlich erzielt hat. Denn uns war es in den Koalitionsverhandlungen trotz intensiven Bemühens eben
nicht ganz gelungen, bei der Residenzpflicht noch weiter
zu kommen und das Sachleistungsprinzip anzufassen.
Insofern haben wir uns da nach dem Motto „getrennt
marschieren, vereint schlagen“ ein bisschen auf der gleichen Linie bewegt wie der Ministerpräsident des Landes
Baden-Württemberg. Den Grünen sei zum Trost gesagt:
Nach meinem Dafürhalten ist das, was er an dieser Stelle
im Sinne der Flüchtlinge herausgehandelt hat, eine beachtliche Leistung, und ich glaube, jenseits der Schmerzgrenze auf der anderen Seite, bei der Union, ist auch
wirklich nicht mehr zu erreichen gewesen.
Nun kommen wir zu den einzelnen Maßnahmen.
Wegfall des Vorrangprinzips ist bereits in der Beschäftigungsverordnung vor etwa 14 Tagen, wenn ich mich
richtig erinnere, umgesetzt worden. Wegfall der Residenzpflicht, jedenfalls nach drei Monaten, und des Sachleistungsprinzips machen wir heute. Das ist deswegen
ganz bedeutsam für die betroffenen Menschen, weil ich
nicht selten den Eindruck hatte, dass viele durch die problematischen Unterbringungsbedingungen und durch
den Sachleistungsbezug genauso wie durch die Beschränkungen, die ihnen die Residenzpflicht auferlegt
hat, in einer Weise - Sie entschuldigen bitte die Wortwahl - nicht nur gegängelt, sondern vielleicht auch schikaniert worden sind, wie das unserem Menschenbild und
unserer Position von menschenwürdiger FlüchtlingspoliRüdiger Veit
tik jedenfalls nicht immer entsprochen hat. Dass das jetzt
wegkommt, ist gut. Darüber freue ich mich. Darüber
sollten wir uns vielleicht auch alle freuen.
({0})
Dann zu dem, was die einzelnen Regelungen angeht:
Ich persönlich - das sage ich jetzt an die Adresse von
Ulla Jelpke - bin durchaus der Auffassung, dass eine
Zeit „bis zu“ drei Monaten in Erstaufnahmeeinrichtungen und die Versorgung mit Sachleistungen dort auch
unter humanen Gesichtspunkten der vielleicht bessere
Weg ist, als die betroffenen Flüchtlinge, die vielleicht
aus einem völlig anderen Kulturkreis kommen und sich
bei uns überhaupt nicht allein orientieren könnten, so
ohne Weiteres in die Fläche eines großen Landes zu
schicken, wo sie keinerlei Kontakt haben, keinerlei Unterweisung, keinerlei Anleitung, wie man sich hier bei
uns zurechtfinden kann. Ich persönlich jedenfalls halte
diese Zeit für vernünftig, für richtig, auch und gerade im
Interesse der Flüchtlinge, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({1})
Wenn jetzt kritisiert wird, wir hätten an einer Stelle da
noch einmal eine Verschärfung angebracht, will ich zum
allgemeinen Trost auch Folgendes sagen dürfen: In dem
Bundesratsbeschluss - das kann man nicht sagen -, in
der Vereinbarung steht, dass derjenige sozusagen wieder
in die Residenzpflicht zurückfällt, von dem bekannt geworden sei, er habe etwas mit Betäubungsmitteln zu tun
gehabt. Das ist ja nun, liebe Kolleginnen und Kollegen,
eine noch schwächere Kategorisierung als etwa ein Anfangsverdacht, der zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens führt. Von daher gesehen war die Formulierung
im ursprünglichen Gesetzentwurf mit dem „hinreichenden Tatverdacht“, der nach der Definition der Strafprozessordnung voraussetzt, mit mindestens 50-prozentiger
Wahrscheinlichkeit ist nach Anklageerhebung eine Verurteilung zu erwarten, sozusagen fast das andere Extrem.Wir haben nun einen Mittelweg gefunden, von dem
ich glaube, dass er im Ergebnis ganz vernünftig ist.
({2})
Nicht einfach nur einmal so, irgendetwas Vages, vom
Hörensagen her oder wie auch immer - sondern wir
setzen schon ein bisschen mehr voraus. Das halte ich im
Ergebnis für richtig.
({3})
Ich will noch ein Wort des Trostes an die vielleicht
immer noch verzweifelten Anhänger der Residenzpflicht
und des Sachleistungsprinzips richten. Ich erinnere mich
an ein Parlamentsseminar mit Mitarbeitern von Ausländerbehörden aus der ganzen Bundesrepublik. Diese haben uns gesagt - übrigens zu meiner Überraschung, das
hatte niemand bestellt -: Wenn wir als Gesetzgeber in
Berlin etwas Vernünftiges tun wollten, dann sollten wir
doch bitte die Residenzpflicht abschaffen, die mache ihnen nämlich nur Arbeit und bringe weder für sie noch für
die Sache noch für die Flüchtlinge irgendeinen vernünftigen Vorteil. Ich bin froh, dass das heute passiert. Wir
sollten uns von Praktikern aus allen Teilen unseres
Staates leiten lassen und festhalten: Jetzt haben wir umgesetzt, was die in der Praxis schon immer als unnötig
und lästig empfunden haben.
Was das Sachleistungsprinzip angeht: In der Gesetzesbegründung heißt es jetzt, für die Kommunen entstehe kein höherer Aufwand, weil die Kosten nicht höher
werden. Ich will Ihnen von einer persönlichen Erfahrung
berichten, die jetzt schon 28 Jahre zurückliegt; ich hoffe,
ich muss davon hier zum letzten Mal berichten, weil es
dann nicht mehr relevant sein wird. Als ich damals die
letzte große Erstaufnahme-Gemeinschaftsunterkunft bei
uns im Landkreis zugunsten von wohnähnlicher Unterbringung bzw. Unterbringung in Wohnungen zugemacht
habe, haben wir als Landkreis gespart. Als das Land
Hessen seine Kostenerstattung auf Pauschalen umstellte,
hatten wir in unserer Kreiskasse - ich weiß das noch
ganz genau - über 900 000 D-Mark. Aber wir hatten natürlich nicht lange etwas davon. Wir sollten nämlich
nichts verdienen; das hat der damalige Ministerpräsident
Eichel auch erkannt.
Lassen Sie mich zum guten Schluss auf die kommunalen Finanzen zu sprechen kommen. Liebe Kolleginnen
und Kollegen, wir sind heute in der, wie ich finde, glücklichen Lage, dass die Flüchtlinge, die bei uns Schutz
suchen, in der Bevölkerung auf große Akzeptanz stoßen.
Vor 22 Jahren, Anfang der 90er-Jahre, war das eher umgekehrt. Damals aber hatten wir vonseiten des Staates und das war nicht nur in Hessen so - wenigstens das
Geld, um diese Aufgabe vor Ort vernünftig regeln zu
können. Ich halte es für außerordentlich problematisch deswegen haben wir jetzt mit der Bereitstellung von zusätzlich 500 Millionen Euro die ersten richtigen Schritte
getan
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
- jawohl -, wenn heute Städte, Gemeinden und Landkreise auf den Kosten für die Unterbringung und für die
Versorgung von Flüchtlingen sitzen bleiben.
({0})
Das darf nicht sein. Daran sollten wir arbeiten, und zwar
auf allen staatlichen Ebenen zugunsten der kommunalen
Seite. Es wäre schön, wenn wir so in der Frage einer vernünftigen und akzeptablen Flüchtlingspolitik ein weiteres Stück vorankommen würden.
Ihnen vielen Dank für die Geduld und der Frau Präsidentin auch.
({1})
Als letzte Rednerin in dieser Debatte hat die Kollegin
Luise Amtsberg das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wie soll
man den vorliegenden Gesetzentwurf bewerten? Darüber, dass das Gesetz eine Verbesserung für die Rechtsstellung von Flüchtlingen darstellt - das sagt ja schon
der Name -, gibt es hier im Hause keine Uneinigkeit.
Die Frage ist eher: Wie ist es dazu gekommen, und welcher Preis wurde dafür gezahlt? Das ist der Dissens, der
hier besteht und über den wir bereits an anderer Stelle
ausreichend diskutiert haben. Gucken wir uns also an,
was konkret in dem vorliegenden Gesetzentwurf steht.
Erstens. Die sogenannte Residenzpflicht, also die
räumliche Beschränkung von Asylbewerbern und Geduldeten, wird ab dem vierten Monat nach Aufenthaltsnahme für das gesamte Bundesgebiet abgeschafft. Die
Menschen können sich also künftig im gesamten
Bundesgebiet frei bewegen und damit auch Verwandte,
Bekannte und Freunde in anderen Bundesländern besuchen. Das ist selbstverständlich eine große Erleichterung
im Alltag der Flüchtlinge. Denn die Residenzpflicht
verbietet bislang den Betroffenen das Reisen innerhalb
Deutschlands unter Strafandrohung - eine gravierende,
europaweit auch einmalige Schikane, gegen die wir gemeinsam, also die meisten der hier im Hause vertretenen
Fraktionen, mit NGOs und den Betroffenen zu Recht seit
Jahren bekämpft haben.
Das Recht auf Bewegungsfreiheit soll nach der Neuregelung jedoch - und das ist das Bedauerliche - nicht
uneingeschränkt gelten. Es ist nämlich vorgesehen
- liebe Ulla, du hast es angesprochen -, dass die Residenzpflicht bei Geduldeten im Einzelfall eben doch angewandt werden kann, etwa wenn aufenthaltsbeendende
Maßnahmen konkret bevorstehen. Wir alle wissen, wie
lange so eine Duldung dauern kann. Wir wissen auch,
dass es sehr große Unterschiede hinsichtlich der Bewertung durch die Ausländerbehörden in Deutschland gibt.
Insofern kann man wahrscheinlich davon ausgehen, dass
von der Residenzpflicht in der Bundesrepublik in unterschiedlichem Maße weiter Gebrauch gemacht wird. Das
ist bedauerlich.
Der zweite Punkt, den ich ansprechen möchte, ist die
Aufhebung des Sachleistungsprinzips. Hier gibt es dasselbe Phänomen: Das Asylbewerberleistungsgesetz sieht
bislang einen Vorrang für Sachleistungen, zum Beispiel
Kleidung und Lebensmittel, vor. In Zukunft wird es einen Vorrang für Geldleistungen geben. Das ist gut. Auch
dafür haben wir lange gekämpft. Die Selbstbestimmung
von Flüchtlingen im Alltag wird damit entscheidend gestärkt werden. Die Abschaffung des Vorrangs des Sachleistungsprinzips ist ein Fortschritt; denn damit wurde
Menschen nach wie vor ihre eigene Mündigkeit entzogen: Dinge des täglichen Bedarfs durften sie nicht selber
aussuchen, sondern mussten Fehlendes, so privat es auch
sein mochte, erfragen. Dass das geändert wird, ist gut.
Aber auch hier geht man den Weg nicht zu Ende: Nach
wie vor soll es möglich sein, Sachleistungen den Geldleistungen vorzuziehen. Hier hätte ich mir eine klarere
Positionierung gewünscht.
Neben der Feststellung, dass ein Schritt nach vorne
unternommen wird, geht es natürlich auch um eine politische Bewertung dieses Gesetzentwurfes. Ich finde, an
diesem Gesetzentwurf sieht man an verschiedenen Stellen, wie schwer der Bundesregierung dieser lange überfällige Schritt zur Abschaffung von Schikanen nach wie
vor fällt. Das sieht man beispielsweise daran, dass sich
geduldete Ausländer, die ihren zugewiesenen Wohnort
für mehr als drei Tage vorübergehend verlassen wollen,
weiterhin vorher bei der Ausländerbehörde abmelden
müssen. Das ist völlig unnötig.
({0})
Von Bürokratieabbau keine Spur. Das ist ein Gesetzentwurf, der nach wie vor von Misstrauen geprägt ist. Ich
verstehe das nicht. Ich finde, dafür gibt es überhaupt
keinen Anlass.
Die Länder, in denen die Grünen mitregieren, haben
im Sinne der Liberalisierung, der Vereinfachung und des
Bürokratieabbaus mit der Bundesregierung verhandelt.
Dass diese Gespräche geführt wurden, war gut und richtig. Richtig war auch der Druck der Grünen beim Wegfall der Vorrangprüfung; denn wir wissen, dass diese immer einem realistischen Zugang zum Arbeitsmarkt im
Wege stand. Ich glaube, ich spreche für annähernd die
Mehrheit im Hause, wenn ich sage: Es ist gut, dass die
Vorrangprüfung wegfällt,
({1})
weil wir es so und nur so möglich machen können, dass
Flüchtlinge tatsächlich den Schritt in den Arbeitsmarkt
und somit in ein selbstbestimmtes Leben schaffen.
Zu mehr Zugeständnissen war die Bundesregierung
traurigerweise nicht bereit. Dennoch ist dieser Gesetzentwurf ein Schritt in die richtige Richtung. Wir werden
ihm selbstverständlich zustimmen und hoffen, dass vielleicht auch ohne Schubser der Grünen weitere Schritte
folgen; die sind nämlich notwendig. Ich freue mich, dass
ich von der Kollegin von der Union gehört habe, dass
auch die Union viel Sinnvolles und Gutes in diesen Änderungen sieht. Das lässt für künftige Debatten zum
Thema Flüchtlinge hoffen und zeigt: Wenn man die
ideologische Brille einmal abnimmt,
({2})
muss man vielleicht zugestehen, dass auch das politische
Gegenüber - wir haben diese Dinge ja immer gefordert;
das wissen Sie - nicht ganz unrecht hat und nicht nur
Schwachsinn erzählt. Vielleicht müssen wir Sie künftig
nicht mehr so viel schubsen, vielleicht gehen Sie in Zukunft diese Sachen auch alleine an.
Vielen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die von den Frak-
tionen der CDU/CSU und SPD sowie der Bundesregie-
rung eingebrachten Entwürfe eines Gesetzes zur Ver-
besserung der Rechtsstellung von asylsuchenden und
geduldeten Ausländern. Der Innenausschuss empfiehlt
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3444,
die Gesetzentwürfe der Fraktionen der CDU/CSU und
SPD auf Drucksache 18/3144 sowie der Bundesregie-
rung auf Drucksache 18/3160 zusammenzuführen und in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte jetzt dieje-
nigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung
zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt
dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Da-
mit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den
Stimmen der Koalition und von Bündnis 90/Die Grünen
bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen
worden.
Ich komme zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der
Gesetzentwurf mit den Stimmen der Koalition und des
Bündnisses 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion
Die Linke angenommen worden.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a bis 14 c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnieszka
Brugger, Annalena Baerbock, Marieluise Beck
({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Neue Dynamik für nukleare Abrüstung - Der
Humanitären Initiative beitreten
Drucksache 18/3409
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({1})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnieszka
Brugger, Annalena Baerbock, Marieluise Beck
({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
VN-Resolution zu Uranmunition zustimmen
Drucksache 18/3410
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({3})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Inge
Höger, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
In UN-Generalversammlung der UranwaffenResolution zustimmen
Drucksache 18/3407
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({4})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin erhält
die Kollegin Agnieszka Brugger das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor ein
paar Jahren war die Euphorie für die Vision einer atomwaffenfreien Welt spürbar und greifbar, und nun scheint
diese verflogen zu sein. Die Überprüfungskonferenz
zum Nichtverbreitungsvertrag, der das wirkmächtigste
Regime in der internationalen nuklearen Abrüstungspolitik ist, sollte eigentlich ein Ereignis sein, dem alle
Abrüstungspolitikerinnen und Abrüstungspolitiker weltweit mit freudiger Erwartung entgegensehen. Wer aber
auf die Überprüfungskonferenz im nächsten Jahr schaut,
der tut dies mit Bauchschmerzen und Pessimismus.
Noch 2010 hat sich die Staatengemeinschaft auf eine
gemeinsame Linie verständigt und einen umfangreichen
Aktionsplan verabschiedet. Wir alle haben das groß als
Erfolg gefeiert. Unterm Strich muss man vier Jahre
später aber ernüchtert und enttäuscht feststellen: Kaum
etwas davon ist umgesetzt worden, und es ist auch nicht
mehr viel zu erwarten. Das einzige kleine Hoffnungszeichen ist, dass die Atomverhandlungen mit dem Iran
nicht gescheitert sind.
Meine Damen und Herren, gerade weil die Rahmenbedingungen für die Abrüstungspolitik insgesamt derzeit
nicht besonders gut sind - auch nicht erst seit der
Ukraine-Krise -, dürfen wir nicht verzagen und müssen
wir hier mutig vorangehen.
({0})
Auch wenn die Verhandlungen im Rahmen des Nichtverbreitungsvertrages schwierig sind, muss man neue
Ideen unterstützen und neue Wege begehen.
Für eine neue Dynamik sorgt eine Initiative, die von
einer Reihe von Staaten und von einer lebendigen Zivilgesellschaft ausgeht und sich mit den verheerenden
humanitären Folgen eines Atomwaffeneinsatzes auseinandersetzt. Sie bietet die Chance, dem Ziel einer atomwaffenfreien Welt langfristig über ein Verbot von Nuklearwaffen näherzukommen. 155 Staaten unterstützen
mittlerweile die damit verbundene Erklärung, die einen
Einsatz dieser Massenvernichtungswaffen unter allen
Umständen verbietet. Die Bundesregierung aber will
dieser Erklärung nicht beitreten. Sie verweigert sich hier
und verweist dabei auf ihre NATO-Mitgliedschaft. Das
ist wenig überzeugend, da andere NATO-Mitgliedstaaten
wie Norwegen, Island und Dänemark trotzdem dabei
sind.
({1})
In der nächsten Woche findet in Wien die dritte Konferenz zu den humanitären Folgen des Einsatzes von Nuklearwaffen statt. Wir fordern Sie an dieser Stelle daher
auf: Hören Sie auf, sich hier herauszuwinden! Unterstützen Sie vielmehr von deutscher Seite aus endlich diese
wichtige Erklärung!
({2})
Meine Damen und Herren, die deutsche Abrüstungspolitik leidet nicht nur unter Ihrer Zögerlichkeit, sondern
sie ist auch wenig glaubwürdig. Es ist miteinander unvereinbar, auf dem internationalen Parkett für internationale
Abrüstung einzutreten und gleichzeitig daran festzuhalten,
dass US-amerikanische Atomwaffen in Deutschland stationiert sind,
({3})
und es ist ein längst überfälliger und wichtiger Schritt,
für den Abzug dieser Waffen einzutreten.
({4})
Stattdessen billigt die Bundesregierung die Modernisierung dieser Massenvernichtungswaffen und will auch
noch einmal Geld obendrauf legen, damit die Tornados,
die Trägersysteme dieser Waffen, modernisiert werden.
Meine Damen und Herren von der Koalition, stoppen
Sie diese Aufrüstung, und verabschieden Sie sich ein für
alle Mal von diesen falschen Modernisierungsplänen!
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, in den
letzten Jahren, als Sie noch in der Opposition waren, haben wir Außenminister Westerwelle und die schwarzgelbe Regierung gemeinsam kritisiert. Man könnte jetzt,
wo Sie mitregieren, erwarten, dass es tatkräftig vorangeht. Man hört von Ihnen aber nichts zu den Modernisierungsplänen, man hört von Ihnen auch nichts mehr zum
Abzug der Atomwaffen.
Ich habe noch ein weiteres trauriges Beispiel: Unter
Schwarz-Gelb hat Deutschland im Rahmen der Vereinten Nationen der Resolution zur Uranmunition immer
zugestimmt. Sie ist ja auch sehr sanft und vorsichtig formuliert. Nun hat sich unter Schwarz-Rot erstmalig eine
deutsche Bundesregierung entgegen einer breiten Mehrheit von 143 Staaten enthalten.
({6})
Das ist inkonsequent: Einerseits werden die eigenen Soldatinnen und Soldaten durch die Vorschriften vor den
Gefahren durch Uranmunition geschützt. Wenn es aber
andererseits um den Schutz von Zivilistinnen und Zivilisten geht, enthalten Sie sich. Das ist einfach wirklich
nicht richtig.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
sorgen Sie hier für einen Kurswechsel; denn die deutsche Nichtzustimmung zu dieser wichtigen Resolution
ist ein falsches und fatales Signal.
({8})
Meine Damen und Herren, wir Grüne lassen an dieser
Stelle nicht locker. Mit den beiden Anträgen, die wir
heute hier einbringen, geben wir Ihnen wichtige Anregungen mit auf den Weg, die Sie aufgreifen sollten. Wachen Sie endlich aus Ihrer Lethargie auf! Laufen Sie
nicht rückwärts, sondern schreiten Sie mutig voran - für
mehr Frieden, Sicherheit und Abrüstung!
({9})
Als nächster Redner hat der Kollege Robert
Hochbaum das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Aussage unseres Außenministers FrankWalter Steinmeier zu Global Zero: „Das ist keine Vision,
sondern eine Notwendigkeit“, kann gar nicht oft genug
unterstrichen werden.
({0})
Ich glaube, wir sind uns hier und heute fast alle einig,
dass eine Welt ohne Atomwaffen unser Ziel ist und auch
unser Ziel bleiben muss. Doch an der Frage, wie wir dieses Ziel erreichen, scheiden sich wie so oft die Geister.
Dies erkennt man auch deutlich an dem zur Debatte stehenden Antrag von Bündnis 90/Die Grünen. Weltweite
nukleare Abrüstung kann eben mal nicht mit einem
Handstreich vollzogen werden. Es ist wie bei vielen Dingen ein weiter Weg zum Ziel, vor allem ein Weg der vielen kleinen Schritte.
Einer dieser Schritte ist zum Beispiel das stete Einwirken Deutschlands auf alle Nuklearstaaten, konkrete
Lösungen im Bereich der bilateralen Abrüstung zu erarbeiten. So ist es unter anderem dem Betreiben von
Deutschland zu verdanken, dass vom NATO-Gipfel in
Wales bei der nuklearen Abrüstung die Botschaft der
ausgestreckten Hand auch weiterhin ausgeht - ich
zitiere -:
Das Bündnis ist entschlossen, eine sicherere Welt
für alle anzustreben und die Bedingungen für eine
Welt ohne Kernwaffen in Übereinstimmung mit den
Zielen des Vertrags über die Nichtverbreitung von
Kernwaffen zu schaffen, und zwar in einer Art und
Weise, die die internationale Stabilität fördert …
Ich glaube, dies ist ein klares Votum, dem man eigentlich
nur zustimmen kann.
Wichtig ist dabei natürlich auch die Aussage, dass nukleare Abrüstung die internationale Stabilität fördern
muss. Das heißt, sie kann auf gar keinen Fall einseitig
erfolgen, sonst könnte sie im Extremfall sogar bewaffnete Konflikte begünstigen, und das wollen wir sicher
alle nicht.
Man sieht also, dass Erfolge auf diesem Gebiet nur im
gegenseitigen Dialog zu erreichen sind. Sichtbar wird
dies aktuell dadurch, dass die Bundesregierung mit
Nachdruck auf eine Lösung der Problematik im Iran hinwirkt, vor allem auch in Person unseres Bundesaußenministers. Von dieser Stelle aus möchte ich ihm, aber natürlich auch den anderen Beteiligten aus der
Bundesregierung dafür danken, dass sie immer wieder,
ohne nachzulassen, auf eine friedliche Lösung dieses
Konflikts hinwirken.
Meine Damen und Herren von der Opposition, auch
wir sehen natürlich die Notwendigkeit einer atomwaffenfreien Welt.
({1})
Um dies zu erreichen, sind jedoch keine Rundumschläge, sondern ist konstruktive Arbeit erforderlich.
({2})
Hier liegt der kleine Unterschied: Sie haben eine Vision
- wir arbeiten daran, sie Wirklichkeit werden zu lassen.
({3})
Diese Wirklichkeit wird aktuell - wir haben heute
schon davon gehört - in einem anderen Bereich der abrüstungspolitischen Debatte auf die Probe gestellt, und
zwar auf dem Feld des Einsatzes von Uranmunition. Wie
Sie sicher wissen, setzt die Bundeswehr diese Munitionsart seit den 70er-Jahren nicht mehr ein. Da Uranmunition aber auch weiterhin von einigen unserer Bündnispartner eingesetzt wird, ist die Debatte darüber wieder
entflammt. Nun entzündet sich die Diskussion - man
sieht es an den vorliegenden Anträgen - an der Enthaltung Deutschlands bei der Abstimmung über eine entsprechende UN-Resolution.
({4})
Es geht dabei jedoch nicht um einen Bann von Uranmunition, sondern um die Feststellung der Schädlichkeit.
Die Bundesregierung hat in der Vergangenheit immer
wieder, auch durch entsprechende Stimmerklärungen bei
ihrem zustimmenden Verhalten - das kann man alles
sehr genau nachlesen -, gefordert, alle Aspekte bzw.
Gutachten mit einzubeziehen, neue Gutachten zur Entscheidung heranzuziehen und - das war ganz wichtig die Argumente der deutschen Delegation in die Schlusserklärungen mit zu übernehmen.
({5})
Da dies bisher aber in keinem dieser Fälle geschehen ist,
hat man dieses Mal beschlossen, sich zu enthalten, also
- ich weise darauf hin -, sich zu enthalten, nicht, dagegen zu stimmen.
Sehr geehrte Damen und Herren, in den vorliegenden
Anträgen, vor allem im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, sind natürlich Passagen enthalten, denen auch wir
zustimmen könnten. Mehrheitlich sind es jedoch die genannten Rundumschläge, die uns den entsprechenden
Zielen nicht näherbringen, im Extremfall sogar Lösungen blockieren.
({6})
Deshalb müssen wir diese Anträge leider ablehnen.
Herzlichen Dank.
({7})
Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Neu das
Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Waffensysteme mit nuklearer Wirkung sind
Massenvernichtungswaffen. Es ist egal, ob es sich dabei
um hochangereichterte Atombomben handelt oder um
abgereicherte panzerbrechende Munition. Denn neben
der intendierten direkten Tötungsfunktion von Kombattanten wirken nukleare Waffen in räumlicher und zeitlicher Dimension unterschiedslos. Das heißt, Zivilisten
werden unmittelbar getötet oder langfristig getötet aufgrund von Verstrahlungen. Es können ganze Regionen
auf Tausende, ja sogar Hunderttausende von Jahren verseucht werden, je nach Halbwertzeiten.
Nun aber zu den kleinen Nuklearwaffen, zur abgereicherten Uranmunition. In der internationalen Gemeinschaft wird zunehmend akzeptiert, dass Uranmunition
Auswirkungen auf die Gesundheit von Menschen hat.
Damit wird sie zunehmend relevant für das humanitäre
Völkerrecht. So heißt es zum Beispiel in Artikel 35 des
Zusatzprotokolls der Genfer Konvention - ich zitiere -:
Es ist verboten, Methoden oder Mittel der Kriegführung zu verwenden, die dazu bestimmt sind oder
von denen erwartet werden kann, dass sie ausgedehnte, lang anhaltende und schwere Schäden der
natürlichen Umwelt verursachen.
Ich finde es unerträglich, wenn immer noch behauptet
wird, es gebe keinerlei Beweise dafür, dass abgereicherte Uranmunition tötet oder langfristige Schädigun7006
gen der Gesundheit oder gar der Gene verursacht, wodurch die Schädigung sogar über Generationen hinweg
weitergetragen wird.
({0})
Die explodierenden Krebsraten, die massiv zunehmende
Zahl von Totgeburten und Missgeburten in den Einsatzregionen sprechen eine deutliche Sprache. Die Leugnung der Zusammenhänge zwischen dem Einsatz abgereicherter Munition und menschlichen Schäden oder
auch die Behauptung, das seien nur spekulative Korrelationen, ist nur mit einem zu erklären - da widerspreche
ich Ihnen, Herr Hochbaum -: Man will nicht Verbündete
wie die USA oder Großbritannien düpieren. In Afghanistan, in Jugoslawien, im Irak zweimal, in Libyen und
wahrscheinlich auch in Syrien wurde bzw. wird dieses
Waffensystem eingesetzt. Ich finde, das spricht Bände
über die miserable Ethik und den widerwärtigen Charakter der Befürworter und Verharmloser abgereicherter
Uranmunition.
Die Bundesregierung sollte zumindest daran interessiert sein, die Zusammenhänge weiter wissenschaftlich
überprüfen zu lassen.
({1})
Aber nichts da. Selbst das will Schwarz-Rot nicht, sehr
geehrte Bürgerinnen und Bürger. Ich finde, das ist skandalös. Das Abstimmungsverhalten der Bundesregierung
in der UN-Generalversammlung war skandalös. Die
Bunderegierung hat vor wenigen Tagen dem von Indonesien vorgelegten Resolutionsentwurf eben nicht zugestimmt. Schwarz-Rot enthielt sich schlichtweg der
Stimme. Damit fällt Schwarz-Rot hinter Schwarz-Gelb
zurück. Dabei ging es in dem Entwurf noch nicht einmal
um ein Verbot, sondern nur um einen Prüfauftrag an alle
Mitgliedstaaten. Ich finde dieses Enthaltung Deutschlands in der UN-Generalversammlung wirklich schändlich für Deutschland und besonders für die SPD,
({2})
weil sie sich in dieser Frage rechts von der FDP verortet.
Ja, sehr geehrte Damen und Herren der CDU/CSU
und der SPD, dieses Verhalten ist genau das Gegenteil
von verantwortungsvoller Außen- und Sicherheitspolitik; denn es handelt sich um eine bewusste Verantwortungslosigkeit im humanitären Sinne aufgrund niederer
Interessenmotive.
Noch ein Blick auf die in Deutschland stationierten
Atomwaffen. Diese etwa 20 Atomwaffen könnte man
abziehen lassen. Man will es aber nicht. Es gab verschiedene Initiativen. Trotz aller Global-Zero-Rhetorik könnten Sie hier voranschreiten. Im Jahr 2012 haben Sie aber
in Chicago die Hoheit darüber an die NATO abgetreten.
Wie kann man die souveräne Entscheidung über die Lagerung von US-amerikanischen Atomwaffen auf deutschem Boden an die NATO abtreten? Das ist ein Höchstmaß an Verantwortungslosigkeit.
Ich danke Ihnen.
({3})
Als nächste Rednerin spricht die Kollegin Dr. FinckhKrämer.
({0})
Sehr verehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer oben auf den
beiden Tribünen! Am 26. September 1983 wäre es um
ein Haar zu einem Atomkrieg aus Versehen gekommen.
Wir verdanken es Stanislaw Petrow, damals Oberst der
sowjetischen Armee, dass ein Fehlalarm tatsächlich als
ein solcher behandelt wurde. Er handelte gegen seine
Vorschriften. Wenn er den Alarm weitergegeben hätte,
hätte die sowjetische Führung nur wenige Minuten zur
Entscheidungsfindung gehabt, und es könnte gut sein,
dass wir heute hier nicht säßen und diskutierten. Dieser
Vorfall wurde erst 1998 bekannt. Er war einer von mehreren schwerwiegenden nuklearen Zwischenfällen in der
Zeit des Kalten Krieges, die alle hohes Eskalationspotenzial hatten.
Die Problematik, die uns besondere Sorgen macht, ist
nicht so sehr der geplante Einsatz von Atomwaffen.
China hat inzwischen erklärt, dass es überhaupt keinen
Ersteinsatz plant, und den anderen Atomwaffenstaaten
trauen wir das aus verschiedenen Gründen auch nicht
unbedingt zu. Das Hauptproblem sind angesichts der
Tatsache, dass wir noch so viele Atomwaffen in höchster
Bereitschaft haben, vielmehr Fehlinterpretationen wie
die, die 1983 vorgekommen ist, oder eventuelle Unfälle,
sodass der erste Fehler unter Umständen der letzte sein
könnte. Insofern ist es gerade in Zeiten, in denen sich bestimmte Konflikte zuspitzen, wichtig, das vertrauensbildende Element von Rüstungskontrolle und Rüstungsbegrenzung wieder zu stärken und sich dafür einzusetzen.
({0})
Die schwarz-rote Bundesregierung beteiligt sich aktiv
an Rüstungskontrollkonferenzen, wie zum Beispiel der
vom 20. bis 22. November dieses Jahres in Moskau oder
an der Konferenz kommende Woche in Wien zu den humanitären Auswirkungen von Atomwaffen.
In Moskau, wo Experten, Diplomaten und Wissenschaftler aus 42 Ländern gemeinsam diskutiert haben,
waren viele eher pessimistisch und meinten, dass der
Spielraum für nukleare Abrüstungsschritte im Augenblick geringer geworden ist. Aber es gab in Moskau auch
die Frage von der Abrüstungsbeauftragten der Vereinten
Nationen, Angela Kane, ob es denn so schwierig sei,
sich vorzustellen, dass die Russische Föderation und die
USA ihren Widerstand gegen eine Nuklearwaffenkonvention - darum wird es ja auch in Wien indirekt
gehen - aufgeben könnten. Ich habe aus ihrer Rede, die
man inzwischen im Internet nachlesen kann, herausgehört, dass sie sich das gut vorstellen kann, und ich selber
kann es auch.
Ein Ansatz, der weder in dem Antrag der Grünen
noch in der Diskussion bisher zur Sprache gekommen
ist, ist der Deep-Cuts-Ansatz. Seit letztem Jahr gibt es
eine trilaterale Kommission von Experten aus Russland,
den USA und Deutschland, die sich Gedanken darüber
macht, wie man über den New-START-Vertrag hinaus in
die strategischen Atomwaffenpotenziale der USA und
Russland tiefe Einschnitte, also Deep Cuts, machen
kann. Der erste Bericht dieser Kommission ist im April
2014 veröffentlicht worden. Es wurde ein Vorwort hinzugefügt, demzufolge die Vertreter in dieser Kommission trotz der damals gerade beginnenden Ukraine-Krise
daran festhalten, dass Rüstungskontrolle und Abrüstung
im nuklearen Bereich wichtige Aufgaben sind.
Die SPD hat immer vertreten, dass eine Politik für
Frieden und Abrüstung mit dem Begriff „gemeinsame
Sicherheit“ verbunden sein muss: wechselseitige Abhängigkeiten, gemeinsame Verantwortung für Frieden und
Sicherheit mit dem anderen und nicht gegen andere. Insofern finde ich es nicht ganz fair, dass Sie uns vorwerfen, dass wir nicht an dem festhalten, was wir in den
letzten Jahren in der Opposition gefordert haben. 2012,
lieber Alexander Neu, waren wir übrigens nicht in der
Regierung, sondern es war die schwarz-gelbe Regierung,
die beim NATO-Gipfel in Chicago das erwähnte Votum
abgegeben hat.
({1})
- Ist das eine offizielle Zwischenfrage? Dann bekomme
ich noch ein bisschen Zeit.
Kollegin Brugger, Sie haben die Möglichkeit, zu fragen.
Vielen Dank, Frau Präsidentin, vielen Dank, liebe
Kollegin Finckh-Krämer. - Ich stelle meinen Zwischenruf noch einmal als Frage: Wenn das nicht fair ist, was
wir Ihnen hier vorgeworfen haben, nämlich dass Sie
nicht mehr festhalten an dem klaren Kurs, den die SPD
immer hatte - Sie haben immer gegen die Modernisierungspläne bezüglich der Tornados gekämpft, die die
amerikanischen Atomwaffen im Notfall tragen sollten;
außerdem haben Sie immer für den Abzug der Atomwaffen gestritten -, würde ich doch gern die Frage stellen:
Was macht denn die Bundesregierung gerade angesichts
dieser beiden konkreten Fragen, und was machen auch
die Koalitionsfraktionen, um sich offen gegen die Modernisierungspläne zu positionieren und sich für den Abzug der Atomwaffen einzusetzen?
({0})
Vielen Dank für die Zwischenfrage. - Die geplante
Modernisierung der B61 ist ja zunächst ein amerikanisches Programm, das nicht nur die in Europa stationierten
Atomwaffen, sondern vor allem auch die auf amerikanischem Boden stationierten umfasst. Der Entscheidungsprozess darüber ist in den USA noch nicht endgültig abgeschlossen. Insofern haben wir hier noch Zeit, das in
den zuständigen Ausschüssen und Fraktionsarbeitsgruppen zu diskutieren. In den USA wird das unter anderem
unter der Finanzierungsfrage diskutiert. Wir wissen, dass
sehr viel mehr Modernisierungspläne zu Atomwaffen
existieren, als tatsächlich Geld im amerikanischen Haushalt zur Verfügung steht. Insofern werden wir das diskutieren, auch mit den Fraktionen in den Ausschüssen.
({0})
Die Nuklearwaffenkonvention, die - wie bei den ersten beiden Konferenzen zu humanitären Folgen von
Atomwaffen - in Wien mit Sicherheit zur Sprache kommen wird, wird von den P 5, also den offiziellen Atommächten, ein Stück weit als Konkurrenz zu dem Regime
des Nichtverbreitungsvertrages, also des Atomwaffensperrvertrages, gesehen. Wir sehen das eher als sich ergänzende Prozesse an. Deswegen ist es uns auch wichtig, dass Deutschland sich an allen drei Konferenzen
beteiligt hat. Wir begrüßen es als SPD besonders - ich
denke, da kann sich das ganze Haus anschließen -, dass
die USA und Großbritannien, anders als bei den letzten
beiden Konferenzen, ihre Teilnahme angekündigt haben.
Ich persönlich bin sehr gespannt auf das, was sie dort erzählen werden.
In Bezug auf die Waffensysteme mit abgereichertem
Uran kann ich hier noch sagen, dass die Forderung nach
einer wissenschaftlichen Untersuchung der Folgewirkungen des Einsatzes von Uranmunition von Deutschland immer mit unterstützt wurde. Aus meiner Sicht ist
noch nicht endgültig geklärt, was Radioaktivität tatsächlich bewirkt, welche Schäden die Toxizität von Uran und
möglicherweise andere, gleichzeitig in Einsatz gekommene Waffen in den entsprechenden Regionen bewirkt
haben. Was wir aber machen werden - das kann ich,
Herr Hochbaum, glaube ich, hier schon sagen -: Wir
werden in der nächsten Sitzung des Unterausschusses
„Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung“
ein Gespräch mit Fachleuten über diese Waffen führen
und können dann anschließend hier vielleicht schon
mehr sagen.
Danke schön.
({1})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Julia Bartz das
Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wer ist wohl der bessere Wachhund: der
wohlfrisierte Pudel oder der Dobermann? Eigentlich gibt
es keinen Grund, warum ein Pudel nicht auch ein guter
Wachhund sein könnte. Man glaubt es ihm allerdings
erst, wenn er zubeißt. Der zähnefletschende Dobermann
wird wohl kaum beißen müssen, er sieht ja schon so böse
aus.
({0})
Sehr geehrte Damen und Herren, die Grünen fordern
in ihrem Antrag unter anderem den Abzug aller USAtomwaffen aus Deutschland und aus der Europäischen
Union. Ich halte das für den falschen Schritt zum falschen Zeitpunkt. Schauen wir uns doch die geopolitische
Lage an. Schauen wir auf das aggressive Verhalten Russlands in der Ukraine, in Abchasien und in Südossetien.
({1})
Ich erinnere an die gute Rede Ihrer Kollegin
Marieluise Beck in diesem Hohen Hause vor wenigen
Wochen, als es um die Sanktionen gegenüber Russland
ging. Sie hat deutlich gemacht, dass Russland in Bezug
auf das Budapester Memorandum Vertragsbruch begangen hat. Sie erinnern sich: Die Ukraine hat 1994 freiwillig alle ihre Atomwaffen abgegeben, weil man ihr zugesichert hat, dass ihre Grenzen nicht berührt werden.
({2})
Das Gegenteil ist nun der Fall. Zudem ignoriert Russland bereits seit einigen Jahren die Angebote der Vereinigten Staaten, in bilateralen Abrüstungsverhandlungen
weiter ins Gespräch zu kommen. Hier wäre es sinnvoll,
über ein Folgeabkommen, New START, zu verhandeln.
Russland lehnt dieses Angebot ab. Außerdem müssen
wir bedenken, dass es neben den fünf Nuklearmächten
De-facto-Atommächte gibt, unter anderem Nordkorea.
In den vergangenen Wochen haben wir gesehen, dass die
Verhandlungen mit dem Iran über sein Atomprogramm
noch nicht erfolgreich zum Abschluss gekommen sind.
Ich teile Ihren grundsätzlichen Wunsch nach einer
atomwaffenfreien Welt. Aber die Punkte, die ich eben
genannt habe, machen deutlich, dass wir dies nicht über
eine Einbahnstraße erreichen können, auch nicht, wenn
sich alle Staaten, die über keine Atomwaffen verfügen,
darüber einig sind. Wir müssen diesen Weg gemeinsam
mit den Nuklearmächten gehen. Sonst landen wir hier in
einer Sackgasse. Deshalb werden wir Ihren Antrag ablehnen.
Zu den beiden anderen Anträgen zur Uranmunition
wurde bereits viel gesagt, insbesondere vom Kollegen
Robert Hochbaum. Ich möchte deutlich betonen: Es handelt sich bei der entsprechenden UN-Resolution nicht
um einen Bann von Uranmunition. Vielmehr geht es um
die wissenschaftliche Untersuchung. Nun liegen uns bereits zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen vor:
von NATO, UNEP, IAEO, der Weltgesundheitsorganisation und der Europäischen Kommission. Keine dieser
Untersuchungen konnte einen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Einsatz dieser Munition und Krankheiten feststellen, die von den Medien mit dieser Munition in Verbindung gebracht wurden.
({3})
So hat die Bundeswehr gemeinsam mit der Gesellschaft für Strahlenforschung zum Beispiel die deutschen
Kosovo-Kontingente untersucht und keine Rückschlüsse
auf besondere radiologische Gesundheitsrisiken ziehen
können. Zwar hat UNEP in Studien festgestellt, dass im
ehemaligen Jugoslawien, in Kuwait und im Irak noch
Spuren von abgereichertem Uran in der Umwelt nachweisbar waren. Aber diese Spuren waren in einem so geringen Maß vorhanden, dass sie weit unter den Grenzwerten lagen, die die IAEO vorschlägt.
Die Ergebnisse all dieser Studien kommen aber nicht
in dem aktuellen Resolutionstext vor. Deshalb ist die Resolution nicht auf dem aktuellen Stand. Das ist der
Grund, warum sich die Bundesregierung enthalten hat
und warum wir Ihre beiden Anträge ablehnen werden.
Vielen Dank.
({4})
Frau Kollegin Bartz, der Kollege Neu hat noch eine
Frage. Lassen Sie sie zu?
Ja.
Frau Bartz, Sie haben unter anderem auf die wissenschaftliche Untersuchung der NATO verwiesen, die zu
dem Schluss kommt, dass es keinen ursächlichen Zusammenhang gebe. Ich mache Ihnen einen Vorschlag:
Ich werde im Frühjahr im Rahmen der Parlamentarischen Gruppe nach Serbien fahren und werde Ihnen einen Liter Milch aus Südserbien mitbringen. Wir werden
sehen, ob Sie den trinken werden. Sind Sie damit einverstanden?
Ich befürchte, dass die Milch sauer ist, wenn Sie wieder zurückgekehrt sind.
({0})
Ich glaube, nicht. Sie wollen also nicht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die
Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/3409, 18/3410 und 18/3407 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a bis 17 e auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der Entscheidung der Konferenz von Doha vom
8. Dezember 2012 zur Änderung des Protokolls von Kyoto vom 11. Dezember 1997 zum
Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen ({0})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
b) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD
Klimakonferenz in Lima zum Erfolg führen
Drucksache 18/3406
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Annalena
Baerbock, Bärbel Höhn, Claudia Roth ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Klimakonferenz von Lima als Wegbereiter
für ein neues globales Klimaabkommen und
eine nachhaltige globale Entwicklung nutzen
Drucksache 18/3411
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. Gibt es dazu
Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner in der
Debatte erhält der Kollege Frank Schwabe das Wort.
({2})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bevor ich auf die Klimakonferenz in Lima zu sprechen
komme, muss ich leider zu einem unerfreulichen Vorgang Stellung nehmen: Das ist der Affront, der Mitgliedern des Deutschen Bundestages entgegengebracht
wurde, als sie vor der Klimakonferenz in Lima nach
Ecuador reisen wollten, um sich dort mit Projekten des
Klimaschutzes, des Regenwaldschutzes zu beschäftigen.
Ich glaube - ich hoffe es zumindest -, es ist wirklich
ein einmaliger Vorgang, dass eine Regierung einer Delegation des Deutschen Bundestages die Einreise verweigert. Am Ende ist das ein Eigentor für Ecuador. Es war
keine gute Werbung vor der Klimakonferenz in Lima.
Dieses Einreiseverbot war vor allen Dingen deswegen
völlig absurd, weil wir, Deutschland, ein Land sind, das
eigentlich eine sehr enge Zusammenarbeit in Entwicklungs- und Klimafragen mit Ecuador pflegt. Insofern
müssen wir, der Deutsche Bundestag, dieses Einreiseverbot ganz heftig verurteilen und sagen, dass das wirklich ein Verfahren ist, das für uns absolut unakzeptabel
ist.
({0})
Ich komme zur Klimakonferenz in Lima. Deutschland
wird mit Rückenwind nach Lima fahren, Barbara
Hendricks, die Bundesumweltministerin, vorneweg. Wir
werden nach einigen Jahren, in denen die Entwicklung
ein bisschen mau war, in Lima wirklich ein belebendes
Element sein. Das hat etwas damit zu tun, dass das Kabinett gestern das Klimaaktionsprogramm beschlossen hat.
Weil es so schön ist, darf ich zitieren - die Ministerin
hat es heute schon gemacht -, und zwar den Kommentar
von Malte Kreutzfeldt in der taz. Er hat gesagt:
Die Koalition hat in Sachen Klimapolitik viel geleistet.
Germanwatch hat kommentiert:
Germanwatch begrüßt neue Ernsthaftigkeit beim
Klimaschutz …
Oder:
Germanwatch hofft, dass Bundesumwelt- und Wirtschaftsministerium ihre im Vergleich zur letzten
Legislatur erstaunlich gute Zusammenarbeit für
ambitionierte Klimaschutzziele jetzt auch fortsetzen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das 40-Prozent-Ziel
steht, und wir haben einen Plan, wie dieses Ziel erreicht
werden kann. Ich glaube, das ist ein wichtiges Signal,
das wir nach Lima mitnehmen.
({1})
Es gibt im Übrigen noch ein gutes Signal, das wir
nach Lima mitnehmen: dass der Grüne Klimafonds mittlerweile ein Volumen von knapp 10 Milliarden US-Dollar hat. Das ist nicht Deutschland allein zu verdanken;
aber der Impuls dafür, dass es zu diesem Volumen von
knapp 10 Milliarden US-Dollar gekommen ist, ist von
Deutschland ausgegangen. Ich glaube, auch das muss
man lobend erwähnen.
Es gibt zwei positive Aspekte, mit denen wir Deutsche mit Barbara Hendricks an der Spitze Richtung Lima
fahren können: Barbara Hendricks ist eine Frau, die
nüchtern die Politikthemen beackert, die sie zu beackern
hat. Aber sie macht das auf konsequente Art, und sie hat
Deutschland innerhalb eines Jahres wieder auf internationalen Klimakurs gebracht, und das ist gut so.
({2})
Ich will zur Klimakonferenz in Lima im Besonderen,
aber auch im Allgemeinen etwas sagen. Ich möchte noch
einmal die taz zitieren, in diesem Fall Bernhard Pötter,
der mir mit einem Essay mit dem Titel Besser als ihr Ruf
- ich empfehle sehr, ihn zu lesen - aus der Seele gesprochen hat. Ich möchte eine Passage daraus zitieren:
Denn die Klimakonferenzen sind ein großer Erfolg.
Kaum ein anderer internationaler Prozess ist so
zielführend und engagiert … Sie haben konkrete
Ergebnisse gebracht, wirksame Institutionen geschaffen, Geld aufgebracht und Menschen mobilisiert. Die globale Energiepolitik verändert sich in
rasantem Tempo - auch durch das jährliche Ritual
der Klimagespräche.
Ich will das wirklich dreimal unterstreichen, bei aller
Kritik, zu der auch wir immer wieder beitragen, weil wir
von solchen Konferenzen natürlich immer noch mehr erwarten. Würde es sie genau in diesem UN-Format nicht
geben, müsste man sie jetzt erfinden. Insofern ist es gut,
dass die Klimakonferenz in Lima stattfindet.
Aber es ist natürlich schwierig, die Welt zu verändern.
Über nichts anderes reden wir: Wir reden darüber, dass
wir die Volkswirtschaften von mindestens 192 Staaten,
deren Vertreter an den Klimakonferenzen immer wieder
teilnehmen, verändern wollen. Es geht um eine Veränderung der Lebensgrundlagen. Für manche soll das Althergebrachte infrage gestellt werden. Andere fragen sich,
ob sie mit dem, was wir auf Klimakonferenzen beschließen, ein ordentliches Entwicklungsmodell haben können. Angesichts all dessen haben wir eine unglaubliche
Dynamik geschaffen:
Es gibt in China und in den Vereinigten Staaten jetzt
die Bereitschaft, Verpflichtungen einzugehen. Es gibt
das EU-2030-Klima-und-Energiepaket. Das hätten wir
uns sicherlich ambitionierter gewünscht - aber immerhin. Es gibt Einzelbeiträge vieler Staaten, auch von Entwicklungsländern. Außerdem gibt es in Deutschland das
untermauerte 40-Prozent-Ziel. Deswegen haben die SPD
und auch ich die große Hoffnung, dass wir 2015 in Paris
ein Abkommen erleben werden, das die Erreichung des
2-Grad-Ziels international noch möglich macht.
Das, was wir erleben, ist, dass wir Investments haben
weg von fossilen Energien. Das, was bei Eon und bei
Vattenfall passiert, ist nicht singulär, sondern das passiert weltweit. Wir haben eine unglaubliche Dynamik bei
den erneuerbaren Energien. 2013 war bereits das Wendejahr, es war das Jahr, in dem wir bei den erneuerbaren
Energien einen höheren Zubau als bei den konventionellen Energieträgern inklusive Atom hatten - bereits im
Jahr 2013!
({3})
Nachlesbar ist das im Übrigen im manager magazin. Ich
empfehle das allen Wirtschaftspolitikern, die in den letzten Stunden und Tagen das Klimaaktionsprogramm kritisiert haben. Sie müssen sich genau angucken, was eigentlich weltweit passiert, und müssen überlegen, ob sie
mit ihrer Wirtschaftspolitik eigentlich noch auf der Höhe
der Zeit sind. Ich glaube, bei einigen ist das nicht der
Fall.
({4})
Ich will einen kritischen Satz zu dem sagen, was aus
meiner Sicht zu dieser Wende nicht gehört, und das ist
das, was in der Europäischen Union zumindest droht:
Wir werden demnächst Öl aus Teersanden - nicht nur
aus Kanada, aber auch aus Kanada - in die Europäische
Union bekommen. Das Ganze ist wirklich ein Frevel am
Klimaschutz, ein Frevel am Naturschutz. Wir müssen alles versuchen, damit dieser Frevel innerhalb der Europäischen Union nicht stattfindet.
({5})
Wir müssen nach Lima wirklich diese Dynamik mitnehmen und untermauern. Wir müssen in Lima unsere
Hausaufgaben machen, um zu einer guten Vorarbeit für
das Abkommen in Paris 2015 zu kommen. Wir müssen
dafür sorgen und intonieren, dass auch die G 7 ihren Beitrag leisten. Wir alle hier miteinander im deutschen Parlament, denke ich, werden dazu beitragen, Angela
Merkel im nächsten Jahr wieder auf den Stuhl der Klimakanzlerin zu rücken,
({6})
sodass wirklich die zentralen Impulse auch für Paris von
der G-7-Präsidentschaft ausgehen.
Ich will zum Schluss sagen, dass es in Lima auch darum geht, Vertrauen zu schaffen. Es geht darum, Vertrauen zu schaffen, weil der Klimawandel bereits Realität ist, nicht nur bei uns - ich glaube, das kann man
mittlerweile sehen -, sondern vor allen Dingen in den
ärmsten Staaten der Welt. Ich will den Klima-Risiko-Index von Germanwatch erwähnen - vielleicht wird er
gleich noch ein paarmal genannt - und nur die zehn am
stärksten betroffenen Länder aufführen. Das sind Honduras, Myanmar, Haiti, Nicaragua, die Philippinen, Bangladesch, Vietnam, die Dominikanische Republik, Guatemala und Pakistan. Diese Staaten leiden am meisten
darunter, wie wir in der Vergangenheit wirtschaftlich gearbeitet und Energie erzeugt haben.
Deswegen ist es ganz wichtig, bei ihnen Vertrauen
aufzubauen, ihnen zu helfen, Entwicklungsmodelle zu
erarbeiten, die Klimaschutz und Entwicklung vereinbar
machen, ihnen zu helfen, Anpassungsmechanismen zu
entwickeln, und mit ihnen auch darüber zu reden, wie
man das Thema „Loss and Damage“ regelt. Es geht also
darum, wie man die Schäden, die schon aufgetreten sind,
beheben kann. Wenn wir das als Paket in Lima auf den
Weg bringen, dann, glaube ich, wird das eine gute Konferenz.
Ein herzliches Glückauf!
({7})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Eva BullingSchröter das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Alle Jahre wieder … Keine Angst, ich werde jetzt kein
Weihnachtslied singen!
({0})
Nein, alle Jahre wieder, wenn wir Klimapolitikerinnen
und Klimapolitiker zu den UN-Konferenzen fahren, bekomme ich - Sie sicher auch - dieselbe Frage gestellt:
Lohnt sich denn überhaupt noch dieser weite Weg nach
Lima, Bali, Durban oder Cancún? Die Fakten würden
doch zeigen, so heißt es, dass die Klimadiplomatie am
Ende ist.
Und in der Tat fällt es mir zunehmend schwerer, zu
überzeugen; schließlich ist der globale Kohlenstoffausstoß von 1990 bis 2013 von 22 auf 36 Milliarden Tonnen
im Jahr gestiegen. Auch nehmen die Emissionen jedes
Jahr immer schneller zu. Die Gesamtemissionen werden
2020 weltweit doppelt so hoch sein wie noch vor 30 Jahren.
Jetzt steht also Lima auf dem Programm. Der Weltklimarat forderte zuletzt eine - ich zitiere - „aggressive“
Klimapolitik. Die Konferenz soll einen Vertragsentwurf
vorbereiten, damit es in Paris im kommenden Jahr zum
Nachfolgeabkommen des Kioto-Protokolls kommt. Von
„Aggressivität“ heute aber keine Spur!
Die Anträge der Regierungskoalition und auch der
Grünen sind stattdessen sonderbar optimistisch; so empfinde ich das.
({1})
Da lobt der Grünenantrag das butterweiche Abkommen
zwischen China und den USA. „Die internationale
Agenda bestimmen inzwischen andere“, so heißt es dort.
Ich bin ja auch für das Prinzip Hoffnung, aber China und
die USA als gut für die Klimapolitik zu loben, das grenzt
schon an Berufsoptimismus. Vielleicht brauchen wir den
aber auch. Als ob eine Senkung der Emissionen der USA
bis 2025 um 26 bis 28 Prozent, bezogen auf 2005, der
große Durchbruch wäre!
({2})
Zu China will ich nur so viel sagen: Ein Viertel seiner
Klimagase entfällt auf den Export. Dieser Anteil müsste
also eigentlich den Ländern angerechnet werden, die
Konsumgüter aus China importieren oder ihre Produktion dorthin verlagert haben. Erst 2030, also in nicht weniger als 16 Jahren, will Peking den maximalen Ausstoß
erreicht haben. So ganz verstehe ich nicht, woher Ihr Optimismus kommt.
Über was für ein künftiges Abkommen reden wir
überhaupt? Wie es derzeit aussieht, wird im Rahmen des
Paris-Protokolls nur ein überaus schwacher Mechanismus verabredet werden - schwach darum, weil der Mechanismus weder einklagbare Verpflichtungen im Hinblick auf CO2-Reduktionen vorsieht noch Sanktionen bei
Verstößen gegen das Abkommen geplant sind.
({3})
Natürlich ist es gut und sinnvoll, dass überhaupt ein
Abkommen zustande kommt; da sind wir uns sicher einig. Gut ist auch, dass der Gesprächsfaden nicht abreißt;
auch da sind wir uns einig. Allerdings sehen wir mit großen Bauchschmerzen, dass im Antrag der Regierungskoalition zwar völkerrechtliche Bindungen im Hinblick auf
das 2-Grad-Limit, für Lima und Paris aber lediglich nationale Klimaschutzziele der Staaten gefordert werden.
Das ist gut gemeint, aber zu kurz gesprungen, kann ich
da nur sagen.
({4})
Noch ein Wort zu unseren nationalen Zielen. Hehre
Klimaschutzziele auf dem Papier zu erklären, ist die eine
Seite der Medaille; das wissen Sie. Die andere Seite der
Medaille ist die Umsetzung. Unser Antrag, CO2 endlich
als Umweltschadstoff zu definieren, steht heute nicht auf
der Tagesordnung. Das haben Sie, die Koalition, verhindert.
Meine Damen und Herren, wenn Sie die USA schon
loben, dann machen Sie es ihnen doch nach. Trauen Sie
sich wieder Ordnungspolitik zu, setzen Sie sich durch,
auch gegen den Koalitionspartner, und schreiben Sie die
Klimaschutzziele verbindlich ins Gesetz!
({5})
Dann haben Sie auch wieder eine frohe Botschaft für
Lima und Paris.
({6})
Als nächster Redner spricht der Kollege Andreas
Jung.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir beraten heute zu später Stunde unsere Vorbereitungen der Klimakonferenz in Lima. Spätestens seit der
UN-Konferenz in Cancún, bei der der Durchbruch,
glaube ich, morgens um 5 Uhr erzielt wurde, wissen wir,
dass eine späte Stunde wegweisenden Debatten nicht
entgegenstehen muss. Wir haben allen Grund, hier die
Leitplanken für die Klimakonferenz in Lima zu formulieren.
Ich will vorneweg sagen: Der Antrag der Koalitionsfraktionen zur Klimakonferenz unterstreicht einmal
mehr die aktive deutsche Rolle in diesem Prozess und
die Vorreiterrolle Deutschlands beim Klimaschutz, zu
der wir uns bekennen.
({0})
Eine Forderung unseres Antrags ist seit gestern erfüllt, nämlich: Vor dieser Klimakonferenz, bevor es in
Lima zur Sache geht, müssen wir in Deutschland einen
Kabinettsbeschluss haben, mit dem klargemacht wird,
dass wir das 40-Prozent-Ziel erreichen werden und dass
wir dafür entsprechende Maßnahmen im Bereich des
Klimaschutzes und der Energieeffizienz vorschlagen. Das ist gestern gelungen; wir haben heute Mittag schon
darüber gesprochen. Das ist in der Tat, wie Kollege
Frank Schwabe sagte, Rückenwind für die Verhandlungen in Lima.
({1})
Damit zu unseren Erwartungen. Was erwarten wir
von dieser Konferenz? Wir wissen: Dort wird es nicht
den Durchbruch geben. Wir wissen: Diese Konferenz ist
eine Zwischenstation auf dem Weg nach Paris. Wir wollen, dass der Startschuss gegeben wird, damit im nächsten Jahr der Einlauf bei der Tour de France in Paris gelingt und wir dort tatsächlich den Durchbruch erzielen.
Dafür arbeiten, dafür kämpfen wir seit langem.
Worauf kommt es jetzt an? Es kommt darauf an, dass
in Lima der Entwurf eines Verhandlungstextes vorgelegt
wird, auf den man sich einigt und der unseren Anforderungen an dieses Klimaabkommen gerecht wird. Ich
möchte in diesem Zusammenhang auf das eingehen, was
Eva Bulling-Schröter sagte. Selbstverständlich halten wir
daran fest, dass es ein internationales, völkerrechtsverbindliches, umfassendes Abkommen werden muss, das
alle Emittenten einbezieht und mit dem wir das 2-GradZiel erreichen. Das ist immer unser Ziel gewesen, und
das bleibt unser Ziel. Das halten wir im Übrigen auch im
Antrag so fest.
({2})
Es muss den Grundriss, den Rohbau in Lima geben,
damit wir im nächsten Jahr in Paris das Dach draufsetzen
und Richtfest feiern können. Das ist die erste Anforderung.
Die zweite Anforderung ist, dass man sich auf einen
Fahrplan für die Ziele und für die Frage einigt, wie es
uns gelingt, die Lücke, die zur Erfüllung des 2-Grad-Zieles noch besteht, zu schließen. Dabei kommt Lima eine
wichtige Rolle zu. Es muss Transparenz hinsichtlich unterschiedlicher Klimaziele geschaffen werden; sie müssen vergleichbar gemacht werden. Es muss klare Regeln
geben, und es muss klar vereinbart werden, wann die
Ziele auf den Tisch gelegt werden müssen.
Wir wollen, dass im Frühjahr nächsten Jahres die nationalen Ziele formuliert und eingebracht werden. Davon erhoffen wir uns die Dynamik, die auch im Beschluss des Europäischen Rates deutlich wird, in dem es
heißt: mindestens 40 Prozent Reduktion in der EU bis
2030. „Mindestens“ - das ist ein kleines Wort, aber es
wird und muss große Bedeutung haben.
({3})
Wir alle wissen: Es war gar nicht einfach, diesen Beschluss zu erreichen, weil es in Europa Bremser gibt, die
auch diesen Beschluss schon nicht mittragen wollten.
Die Bundesregierung hat dafür gekämpft, dass dieser
Beschluss so gefasst werden konnte. Das war ein guter
Schritt. Gleichzeitig ist aber auch richtig, dass die Bundeskanzlerin und die Bundesregierung gesagt haben:
Wir waren schon jetzt bereit, mehr zu machen, und wir
werden, wollen und müssen in Zukunft mehr machen.
Deshalb ist es von besonderer Bedeutung, dass die
Bundesregierung und die Bundeskanzlerin angekündigt
haben, Klimaschutz zu einem wichtigen Thema im Rahmen der G-7-Präsidentschaft zu machen. Das brauchen
wir, um diese Dynamik zu erreichen, um beispielsweise
die USA und China in die Pflicht zu nehmen. Man kann
zwar vorsichtig optimistisch sein ob der neuen Ankündigungen, aber die Wahrheit ist nachher konkret, und sie
muss dann konkret sein, wenn wirklich Klimaziele vorgelegt werden, auch von den USA und China. Wir wissen, dass wir sie brauchen. Deutschland und Europa werden eine aktive Rolle spielen und alles dafür tun, diese
Staaten mitzunehmen.
Eines haben wir bereits getan: Wir haben als erster
Staat angekündigt, dass 1 Milliarde Dollar für den Green
Climate Fund, für die Finanzierung von Klimaschutz
und Klimaanpassung in den Entwicklungsländern zur
Verfügung gestellt werden. Da haben wir unsere Vorreiterrolle ein weiteres Mal unter Beweis gestellt. Wir alle
setzen darauf, dass uns die Konferenz in Lima einen
wichtigen Schritt voranbringt.
({4})
Als nächste Rednerin spricht die Kollegin Annalena
Baerbock.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich würde
gern mit dem Wort „mindestens“ des Kollegen Jung beginnen, da Sie sich in den vergangenen Debatten immer
wieder darüber echauffiert haben, dass wir Grünen jetzt
auch noch Kritik an den 2030-Zielen, am Klimaaktionsplan üben, wo doch eigentlich alles schon gut sei.
Mit Blick auf das Wort „mindestens“ muss man auch
an das Thema dieser Debatte denken: Doha-Änderung
des Protokolls von Kioto. Es war gut, dass Deutschland
als einer der letzten Staaten, dass die EU mit an Bord
geblieben ist. Aber man muss bei dieser Änderung des
Kioto-Protokolls auch berücksichtigen, dass da eigentlich drinstand, dass man bei der Änderung des KiotoProtokolls nachlegen werde - dazu hat sich die Europäische Union verpflichtet -, wenn die Ambitionen erreicht
würden. Die Europäische Union hat die Ziele erreicht;
wir sind heute schon bei 19 Prozent. Das heißt also, eigentlich hätte die Europäische Union nachlegen müssen.
Sie hat es aber nicht getan. Wir bleiben bei 20 Prozent.
Deshalb stellt uns auch das Wort „mindestens“ in den
2030-Zielen nicht zufrieden, weil es deutlich zeigt:
Wenn man von Anfang an keine ambitionierten Ziele
formuliert, dann wird es mit der Nachbesserung äußerst
schwer werden.
({0})
Zum Klimavertrag: Es ist absolut richtig - und Eva,
ich verstehe dich an dieser Stelle überhaupt nicht -, dass
wir gemeinsam daran arbeiten, wieder einen völkerrechtlichen Vertrag auf die Beine zu stellen, und dass wir
für das 2-Grad-Ziel kämpfen. Bisher ist es nur politisch
formuliert, auch von der Bundesregierung, und jetzt soll
es in einen internationalen Vertrag gegossen werden.
Das wäre wirklich ein großer Erfolg.
Ja, es gibt dann nur nationale Minderungspläne, mit
denen das umgesetzt werden soll. Aber wir haben aus
der Vergangenheit auch gelernt, dass ein Bottom-up-Ansatz eine gute Ergänzung zum Top-down-Ansatz ist;
denn manchmal zählt auch das, was wir gemeinsam aus
dem Rio-Prozess gelernt haben: global denken, lokal
handeln. Tausend kleine Menschen an tausend verschiedenen Orten der Welt können das Gesicht der Welt verändern - wenn wir dafür den Rahmen setzen. Deswegen
halten wir diesen neuen Ansatz für wirklich gut.
({1})
Wichtig ist aber, und da kommen wir dann wieder zu
der Rolle der Industriestaaten; die dürfen sich da nicht
rausmogeln, dass wir dann zusätzlich festschreiben, zusätzlich zu den 2 Grad, dass das, was im IPCC-Bericht
steht und was ihr als Koalition ja auch in eurem eigenen
Antrag, zumindest im Prosateil, sehr deutlich hervorhebt, nämlich dass zwei Drittel der fossilen Energieträger unter der Erde bleiben müssen, wenn wir das
2-Grad-Ziel erreichen wollen, in konkrete Forderungen
und Maßnahmen umgesetzt wird. Und das tut euer Antrag dann leider nicht mehr. Das ist der entscheidende
Punkt. In diesem Zusammenhang ist die entscheidende
Frage: Was wird Deutschland dafür tun? Da haben wir
auch angesichts des Aktionsprogramms „Klimaschutz
2020“ doch ein bisschen Sorge, dass die Bundesregierung der Mut verlässt. Schon nach dem Einführungstext
eures Antrags, mit dem ich ganz d’accord bin, verlässt
euch der Mut, sodass ihr bei den Forderungen nur noch
schreiben könnt, dass ihr postfossile Wirtschaftsweisen
im Klub der Vorreiter vorantreiben wollt, insbesondere
mit Blick auf die Entwicklungsländer. Was ihr als deutsche Bundesregierung tun wollt, das sagt ihr aber mit
keinem Wort.
({2})
Ihr sagt nicht, dass die KfW auch bei der IPEX-Bank
nicht mehr in Kohleprojekte investieren soll. Ihr sagt
nicht, dass bei uns in Deutschland die fossilen Energieträger unter der Erde bleiben müssen.
({3})
Ihr sagt auch nicht, dass die G 7 nicht nur über Klimafinanzierung reden müssen, sondern sie sich vor allen
Dingen auch endlich dazu bekennen müssen, dass die Industriestaaten die Subventionen für fossile Energieträger
abbauen.
({4})
Das wäre der Beitrag Deutschlands und der Industriestaaten zu einem internationalen Vertrag. Deswegen
müssen wir bei euch immer wieder den Finger in die
Wunde legen, damit ihr euch traut, das auch auszusprechen. Denn wie soll man denn andere Länder dazu bringen, ihre Ölreserven unter der Erde zu lassen, wenn ihr
noch nicht einmal sagen könnt:
({5})
„Ja, die Kohle soll auch bei uns in Zukunft unter der
Erde bleiben“?
({6})
Das gilt auch für das Beispiel Polen, das Minister
Gabriel hier gestern wieder als Argument angebracht
hat. Wie soll man denn die Polen überzeugen, nicht weiter auf Kohleverstromung zu setzen, wenn dann - Kollege Schulze weiß es ganz genau - direkt vor ihrer eigenen Haustür an der Oder neue Tagebaue erschlossen
werden sollen und die Bundesregierung dafür auch noch
ihr Okay gibt? Ihr habt das heute mit der Ablehnung unseres Antrags zu einem Ende neuer Tagebaue leider auch
noch einmal bekräftigt. In diesem Sinne können wir nur
sagen: Bitte nehmt den IPCC-Bericht ernst, auch in Zukunft, auch nach Lima, als G-7-Präsidentschaft. Bitte
nehmt ihn ernst in eurem Aktionsprogramm „Klimaschutz 2020“; denn nur wer den Kohleausstieg einleitet,
vollzieht auch wirklich die ganze Energiewende und
trägt dazu bei, dass die Erderwärmung global um nicht
mehr als 2 Grad ansteigt.
Herzlichen Dank.
({7})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Dr. Anja
Weisgerber, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Werte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Vorweihnachtszeit ist ja eigentlich die stade Zeit,
wie man bei uns in Bayern sagt. Aber klimapolitisch ist
es im Moment überhaupt nicht still. Derzeit läuft die
20. internationale UN-Klimakonferenz in Lima. Wir haben gute Vorarbeit für diese Konferenz geleistet. Ende
Oktober 2014 haben sich die EU-Staaten wieder auf verbindliche Klimaziele geeinigt. Die Bundesregierung
hat gestern ein Aktionsprogramm „Klimaschutz 2020“
vorgelegt, und sie hat es auch mit konkreten Maßnahmen unterlegt. Vor diesem Hintergrund möchte ich an
dieser Stelle erst einmal sagen: Wir können selbstbewusst nach Lima fahren.
({0})
Mit dem Aktionsprogramm zeigen wir auch, dass Klimaschutz und Wohlstand keine Gegensätze sind, sondern in Einklang zu bringen sind oder - wie es die Grü7014
nen in ihrem Antrag formulieren - sich sogar gegenseitig
unterstützen können. Wir leben das in Deutschland vor.
Jetzt müssen - das soll die Hauptbotschaft meiner Rede
sein - andere Länder der Welt endlich genauso handeln
und mitziehen. Wir müssen andere Staaten, und zwar die
Industriestaaten und die Schwellenländer, dazu bewegen, ihre eigenen konkreten Klimaziele bis zum Frühjahr
2015 vorzulegen.
({1})
Zu den Entwicklungs- und Schwellenländern. Es ist
ganz wichtig, dass sie ihre Wirtschaft von Anfang an klimafreundlich und effizient aufbauen. Dafür brauchen sie
finanzielle Mittel. Deswegen ist es ein gutes Signal, dass
Deutschland als erstes Land 1 Milliarde US-Dollar bereitgestellt hat und damit knapp 10 Prozent des Betrages
stellt, der bislang eingegangen ist; bislang sind es
9,3 Milliarden US-Dollar.
({2})
Das Geld fließt in wichtige Investitionen in diesen
Schwellenländern, zum Beispiel zielgerichtet in gute
Projekte für erneuerbare Energien.
Zu den Industrieländern. Es ist ein gutes Signal, dass
die laufende Präsidentschaft von Angela Merkel genutzt
wird und der Klimaschutz zum Schwerpunktthema erklärt wird. Diese Ankündigung wird jetzt auch mit Leben erfüllt. Das kann für den Erfolg in Paris entscheidend sein.
({3})
Wenn wir mit dem internationalen Klimaschutz vorankommen wollen, dann brauchen wir auch die anderen
großen Industrienationen dieser Welt. China und die
USA müssen sich endlich zu verbindlichen Klimazielen
durchringen. Sie begrüßen in Ihrem Antrag die positiven
Signale aus diesen Ländern
({4})
- ja, wir haben sie auch begrüßt -, Sie nennen aber im
gleichen Atemzug die angeblich zu wenig ambitionierten Klimaziele der Europäischen Union und Deutschlands. Das wiederum kann ich nicht nachvollziehen. Das
muss ich an dieser Stelle auch ganz klar sagen.
({5})
Wichtig für den Erfolg in Lima ist, dass wir die anderen Staaten zwingen, sich diese ambitionierten Ziele zu
setzen, aber auch eine Überprüfbarkeit einführen. In dem
internationalen Abkommen muss ein Überprüfungsmechanismus verankert werden. Zum einen muss damit
überprüft werden, ob die Minderungszusagen zum Erreichen des 2-Grad-Ziels ausreichen. Zum anderen müssen
die Länder gegebenenfalls aufgefordert werden, nachzubessern, wenn dieses Ziel nicht erreicht wird. Ich halte es
für eines der wichtigsten Ziele, diesen Überprüfungsmechanismus zu verankern. Verbindlichkeit, Überprüfbarkeit sowie Transparenz müssen rein in dieses internationale Abkommen.
({6})
Am Ende meiner Rede möchte ich noch einmal auf
die europäische Ebene zurückkommen. Für mich ist
nach wie vor der Emissionshandel das Herzstück der europäischen Klimapolitik. Wenn wir den Emissionshandel
als marktwirtschaftliches Instrument reformieren und
stärken, dann müssen wir auch nicht auf nationales Ordnungsrecht setzen, wie Sie es immer wollen.
({7})
- Ja, wir bringen uns auf europäischer Ebene dafür ein,
dass diese Reform kommt.
Ich bin froh darüber, dass die Bundesregierung auch
auf europäischer Ebene ganz klar Kurs hält. Auch in diesem Antrag haben wir die Position der Bundesregierung
ganz klar gestärkt und ihr damit den Rücken gestärkt.
Vielen Dank.
({8})
Vielen Dank. - Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen jetzt zu drei Abstimmungen.
Tagesordnungspunkt 17 a. Interfraktionell wird die
Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/3123
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? Ich sehe, das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 17 b. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU
und SPD auf Drucksache 18/3406 mit dem Titel „Klimakonferenz in Lima zum Erfolg führen“. Wer stimmt für
diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Antrag ist mit den Stimmen von CDU/CSUund SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 17 c. Abstimmung über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/3411 mit dem geänderten Titel „Klimakonferenz
von Lima als Wegbereiter für ein neues globales Klimaabkommen und eine nachhaltige globale Entwicklung
nutzen“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt
dagegen? ({0})
Wer enthält sich? - Der Antrag ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition
abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Harald Petzold ({1}), Jan Korte, Sabine
Zimmermann ({2}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung des
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Schutzes gegen Diskriminierungen aufgrund
des Gesundheitszustandes
Drucksache 18/3315
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({3})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1) Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/3315 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Ich sehe, das ist nicht
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter
deutscher Streitkräfte an der NATO-geführten Operation ACTIVE ENDEAVOUR im
Mittelmeer
Drucksache 18/3247
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({4})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO
Nach einer internationalen Vereinbarung sind für die
Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Das Wort für die Bundesregierung hat Staatsministerin Dr. Maria Böhmer.
({5})
Danke, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ursprünglich ist der Einsatz im Rahmen der
Operation Active Endeavour eine Folge der Terroran-
schläge vom 11. September 2001 sowie der Ausrufung
des Bündnisfalls nach Artikel 5 des Nordatlantikvertra-
ges gewesen. Die Bundesregierung schlägt heute eine
Fortsetzung der deutschen Beteiligung unter unveränder-
ten Bedingungen vor. Dabei beträgt die Laufzeit des
Mandats zwölf Monate; es endet spätestens am 31. De-
zember 2015.
Lassen Sie mich hierzu festhalten: Die Operation Ac-
tive Endeavour hat sich von einer aktiven Operation zur
Terrorbekämpfung zu einem Aufklärungseinsatz entwi-
ckelt. Das zeigt, dass sich die Einsatzrealität verändert
hat. Es besteht ein breiter Konsens, dass der Einsatz in
seiner heutigen Form hilfreich und zeitgemäß ist.
1) Anlage 4
Wir sind gemeinsam der Überzeugung, dass das Mittelmeer von strategischer Bedeutung für uns ist. Wir haben deshalb ein großes Interesse an einem lückenlosen
Lagebild. Denn damit können potenzielle Risiken und
Bedrohungen frühzeitig erkannt werden und mit allen
uns zur Verfügung stehenden Maßnahmen zur Prävention - und zwar primär mit politischen Maßnahmen - abgewendet werden.
Angesichts der beschriebenen Entwicklung wollen
wir den Einsatz zukünftig auf eine neue Grundlage stellen. Dafür haben wir in den vergangenen Monaten vielfältige Anstrengungen unternommen, die ich Ihnen kurz
nennen möchte.
Die Bundesregierung hat sich insbesondere gegenüber den USA und Frankreich mit Nachdruck für eine
Entkoppelung der Operation von Artikel 5 des Nordatlantikvertrages eingesetzt. Bundesminister Steinmeier
und Bundesministerin von der Leyen haben im Februar,
wie sie es bereits vorher in der Debatte angekündigt hatten, in einem gemeinsamen Schreiben an den NATO-Generalsekretär auf die Diskrepanz zwischen Einsatzgrundlagen und Einsatzrealität hingewiesen.
Im Juni 2014 haben die NATO-Außenminister Maßnahmen zur Operationalisierung der Maritimen Strategie
der Allianz beschlossen. Darunter fällt auch eine Empfehlung zur Weiterentwicklung der OAE auf neuer Einsatzgrundlage. Im August dieses Jahres konnte in bilateralen Konsultationen mit den USA der Kompromiss
ausgehandelt werden, dass die USA einer Entkoppelung
der Operation Active Endeavour von Artikel 5 erstmals
zustimmen.
Wir haben dann erreicht - das war im September -,
dass im Kommuniqué des NATO-Gipfels in Wales erstmals auf eine Erwähnung von Artikel 5 im Zusammenhang mit der OAE verzichtet wurde.
Derzeit stehen wir in Brüssel in trilateralen Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten und Frankreich. Wir
hoffen, schon bald die Zustimmung von Frankreich zur
Entkoppelung zu erhalten.
({0})
Bei all unseren Bemühungen - Sie sehen, die Anstrengungen waren intensiv, und sie haben sich über die
Monate hingezogen - ist zu berücksichtigen, dass die
Anpassung des Operationsplans nur im Konsens aller
28 NATO-Staaten möglich ist.
Ich hätte Ihnen heute gern etwas anderes gesagt, aber
ich muss feststellen, die Entkoppelung kann bis Ende
dieses Jahres nicht mehr umgesetzt werden. Das ist der
Hintergrund, weshalb die deutsche Beteiligung an OAE
nur auf Grundlage einer weiteren Mandatsverlängerung
möglich ist.
Die Entkoppelung von Artikel 5 könnte im Laufe des
Jahres 2015 erreicht werden. Wir setzen alles daran, dies
zu erreichen. Je früher, desto besser. Wenn dieser Fall
eintritt, wird das jetzt beantragte Mandat automatisch
seine Gültigkeit verlieren. In diesem Fall würden wir
prüfen, in welcher rechtlichen Form eine Fortsetzung der
deutschen Beteiligung an der Operation Active Endeavour in Zukunft erfolgen kann.
Dieser Einsatz - das will ich festhalten - ist ein gutes
Beispiel dafür, wie wir unsere internationale Verantwortung wahrnehmen und dabei präventive Elemente in den
Vordergrund stellen.
Ich darf noch einmal hervorheben: Wir brauchen den
Aufklärungseinsatz durch OAE, um mögliche Bedrohungen frühzeitig zu erkennen und ihnen mit allen politischen Mitteln begegnen zu können. Deshalb bitte ich Sie
im Namen der Bundesregierung um Ihre Zustimmung.
Ich danke Ihnen.
({1})
Vielen Dank, Frau Staatsministerin. - Nächster Redner ist Dr. Alexander Neu, Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Seit über zehn Jahren hören wir: Operation Active Endeavour ist eine Selbstverteidigungsmaßnahme. Die Behauptung ist rechtlich absurd, und sie wird von Jahr zu
Jahr absurder - sowohl bezüglich der räumlichen als
auch der zeitlichen Dimension.
({0})
Zur räumlichen Dimension. Der Anschlag am
11. September 2001 war bekanntlich in New York und
nicht im Mittelmeer. Dafür reichen auch geringe geografische Kenntnisse aus, meine Damen und Herren, um das
festzustellen.
({1})
Zur zeitlichen Dimension. Der Anschlag war 2001,
nicht 2014. Dafür reichen auch die Grundrechenarten.
Dass dem so ist, schwant auch der Bundesregierung.
Daher versucht sie eben, eine Entkopplung der OAE von
Artikel 5 des Nordatlantikvertrages hinzubekommen.
Ich kann jedoch nicht ganz nachvollziehen, warum man
sich - so der Antrag - wieder so verhalten hat, wie man
es in der Vergangenheit getan hat. Man hat in Wales mit
Blick auf Operation Active Endeavour gesagt: Okay, wir
werden Artikel 5 da jetzt nicht erwähnen. Man feiert das
in dem Antrag ab. - Zugleich nennt man doch wieder
Artikel 5.
Man hätte auch hier vorangehen und sagen können:
Wir verschweigen einfach Artikel 5. Wir werden ihn in
dem Antrag gar nicht erwähnen. - Aber nein, das wurde
nicht gemacht, sondern man macht genau das, was man
in den letzten Jahren gemacht hat: Man verweist auf das
Selbstverteidigungsrecht.
({2})
Das zweite Argument lautet, die wachsenden terroristischen Aktivitäten im Osten und im südlichen Mittelmeer würden manche unserer Bündnispartner doch verunsichern. Dazu frage ich mich: Sind die Islamisten in
Libyen und in Syrien nicht doch unsere westlichen
Bündnispartner im Kampf gegen die dortigen Regierungen gewesen bzw. im Falle Syriens immer noch unsere
Bündnispartner? Die Antwort ist einfach: Ja. Die islamistischen Kreaturen werden gegen unliebsame Regierungen im Nahen Osten eingesetzt, gehegt und gepflegt.
Wenn diese islamistischen Freunde dann auch mal wieder außer Kontrolle geraten, was sie regelmäßig tun,
muss man sie auch bekämpfen. Das zeigt, welchen Irrsinn die westliche Sicherheitspolitik darstellt.
Aber kommen wir zurück zur Legende der Selbstverteidigung. Die Bundesregierung und ihre westliche Wertegemeinschaft sollen von der Heuchelei einer Selbstverteidigungsformel endlich Abstand nehmen und sagen,
worum es wirklich geht. Es geht um „Mare Nostrum“,
übersetzt „unser Meer“, und zwar im imperialen Sinne
des antiken Roms. Caesar hat den Begriff „Mare
Nostrum“ zum ersten Mal verwendet. Der Westen betrachtet das Mittelmeer als sein Meer und nicht als Meer
der Anrainerstaaten. In Ihrem Orwell’schen Neusprech
hört sich das etwa so an: dass die westliche Marine einen
präventiven Ordnungsfaktor darstellt.
Eine weitere Kuriosität ist die Begründung für Operation Active Endeavour mit Blick auf die Sicherheitslage.
Es wird hier von abstrakten Bedrohungen gesprochen.
Das heißt, die Fantasie reicht aus, um einen Einsatz des
Militärs zu legitimieren. - Welch ein Verdummungsversuch gegenüber der Öffentlichkeit, meine Damen und
Herren!
Der Antrag der Bundesregierung im letzten Jahr war
noch ein bisschen ehrlicher; Sie sind kurz darauf eingegangen, Frau Staatssekretärin.
({3})
Sie haben gesagt: Es gibt auch strategische Erwägungen.
Auch im letzten Jahr wurde vom Selbstverteidigungsrecht fabuliert, aber zumindest war der imperiale Charakter im Antrag enthalten. Ich zitiere:
Das Mittelmeer gehört zu den wichtigsten interkontinentalen Transportkorridoren weltweit und ist für
den innereuropäischen und transatlantischen Handel von geostrategisch vitaler Bedeutung.
Dafür werden also Steuergelder verbraten. Den Soldatinnen und Soldaten wird etwas von Verantwortung in der
Welt erzählt.
Zum Thema Verantwortung in der Welt. Was ist eigentlich mit der Rettung von Flüchtlingen im Mittelmeer?
({4})
Italien hat in einem Jahr mehr als 150 000 Menschen gerettet. Italien hat sein Mare-Nostrum-Programm - dies
war ein humanitäres Programm und kein imperiales zur Rettung von Flüchtlingen eingestellt, weil es mit dieDr. Alexander S. Neu
sem Projekt von den EU-Partnern alleingelassen wurde.
Warum gibt es keine finanzielle und operative Unterstützung durch Deutschland? Haben die Flüchtlinge keinen
wirtschaftlichen Wert, weswegen man sie nicht zu retten
braucht?
({5})
- Nein, Zyniker bin ich nicht. Das sind Sie.
({6})
Wie viele Menschen wurden im Rahmen der Operation Active Endeavor gerettet? Wie viele Menschen wurden im Mittelmeer von der deutschen Marine gerettet?
Oder muss die Besatzung deutscher Schiffe den hilfesuchenden Menschen sagen: Oh, sorry, tut uns leid. Wir
dürfen euch nicht retten, liebe Leute, denn wir müssen
eine „abstrakte Bedrohung“ jagen.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
({0})
Ich komme zum Schluss. - Aus all den genannten
Gründen, sehr geehrte Damen und Herren, lehnt die
Linke diesen lächerlichen Dauereinsatz ab.
Danke.
({0})
Für die SPD-Fraktion hat jetzt das Wort Lars
Klingbeil.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Kollege Neu, ich bin froh, dass Sie in unserem
Land keine Verantwortung tragen.
({0})
Es würde keine vier Wochen dauern, und wir hätten
überhaupt keinen internationalen Bündnispartner mehr,
wenn das, was Sie hier vortragen, Realität würde.
({1})
Ich stelle fest: Nicht jede Bewegung von deutschen
Soldaten ist ein kapitalistischer, imperialistischer Angriffskrieg. Sie müssen sich langsam überlegen, ob Sie
hier im Parlament ernsthaft über Sicherheitspolitik mitdiskutieren oder ob Sie weiter am Rand stehen bleiben
und sich nicht ernsthaft in eine Debatte einbringen wollen, lieber Kollege Neu.
({2})
Ich will zu Beginn meiner Rede wiederholen, was ich
in der letzten Sitzungswoche, als wir am Donnerstag gegen 23 Uhr über den Sudan geredet haben, gesagt habe:
Es ist nicht angemessen, dass wir im Deutschen Bundestag zu so später Stunde über Auslandseinsätze diskutieren. Wir als Parlament sind in der Verantwortung für die
Bundeswehr. Wir sind diejenigen, die immer wieder eine
sicherheitspolitische Diskussionskultur in Deutschland
einfordern. Wir ermahnen die Bevölkerung und die Zivilgesellschaft, sich intensiver mit diesen Themen auseinanderzusetzen. Egal ob wir über Afghanistan, über den
Kosovo oder über die Operation Active Endeavour diskutieren: Diese Diskussionen gehören in eine andere Tageszeit. Das sind wir unseren Soldatinnen und Soldaten,
die wir in Auslandseinsätze schicken, schuldig.
({3})
Wir beraten heute in erster Lesung über die Fortsetzung der Operation Active Endeavour. Die letzte Diskussion Anfang des Jahres hat gezeigt, dass wir uns alle
bewusst sind, dass es eine Diskrepanz gibt zwischen
Einsatzrealität und dem, was im Mandatstext steht. Wir
als Parlament fordern ein, dass es vonseiten der NATO
zu Änderungen bzw. zu einer Weiterentwicklung des
Einsatzes kommt. Wir haben die Regierung in der letzten
Diskussion darauf hingewiesen. Wir wissen aber auch,
dass Veränderungen innerhalb der NATO nur dann gelingen, wenn zwischen allen 28 Staaten Konsens besteht.
Ich will betonen: Wir sind auf einem guten Weg. Vor allem Minister Steinmeier und Ministerin von der Leyen
haben innerhalb eines Jahres deutliche Fortschritte erzielt. Über Artikel 5 Nordatlantikvertrag wird diskutiert.
Durch die Debatte wurden Veränderungen eingeleitet.
Das ist ein Erfolg, und das sollten wir hier im Parlament
nicht kleinreden.
({4})
Das vorliegende Mandat bleibt ein Übergangsmandat.
Es geht darum, im Mittelmeer Lagebilder zu erstellen
und faktisch eine Seeraumüberwachung durchzuführen.
Der Beginn des Einsatzes vor 13 Jahren wurde mit 9/11
und der Abwehr des Terrorismus im Mittelmeerraum begründet. Aber wir alle wissen, dass das heute nicht mehr
die Realität ist und dass es heute um ganz andere Einsätze geht. Es geht um die Erstellung eines Lagebildes.
({5})
Es geht auch darum, mit der Operation Active Endeavour eine Plattform zu schaffen, wo Kommunikation
und Kooperation innerhalb des Bündnisses mit den betroffenen Mittelmeeranrainerstaaten stattfindet. Es geht
darum, Abstimmungen im Bündnis vorzunehmen, und
es geht darum, einen Mehrwert, nämlich Sicherheit im
Mittelmeerraum, zu haben.
({6})
All das sind Erfolge der Vergangenheit, die sich nicht
kleinreden lassen. Meine Fraktion hat trotzdem - darauf
will ich noch einmal eingehen - immer wieder darauf
gedrungen, dass es bei der Operation Active Endeavour
zu Veränderungen im Mandat kommt. Wir haben gesagt:
Artikel 5 des Nordatlantikvertrages kann keine Grundlage, kann keine Legitimation für dieses Mandat mehr
sein, weil es nicht mehr um Terrorabwehr geht. Es geht
um Überwachung; es geht um Lagebilder.
Deswegen ist es richtig, dass die Bundesregierung vor
einem Jahr hier zugesagt hat, dieses Mandat zu verändern, und sie sich innerhalb der NATO aufgemacht hat,
um dieses Mandat zu ändern. Wir haben gesehen, dass
dieser Wunsch in den unterschiedlichen Gremien entschieden kommuniziert wurde. Mit relevanten Partnern
wie den USA, der Türkei und Frankreich wurde geredet.
Die Staatsministerin hat darauf hingewiesen, dass es ein
großer Erfolg ist, dass die Amerikaner den Artikel 5 bei
diesem Mandat erstmals grundsätzlich infrage stellen.
Und im Schlusskommuniqué des Gipfels von Wales
wurde OAE erstmalig ohne Bezug auf Artikel 5 genannt.
Das sind große Erfolge. Ich will den beiden Ministern
ausdrücklich dafür danken. Ich will aber auch klarmachen: Der Weg ist noch nicht zu Ende. Wir haben noch
einen längeren Weg zu gehen. Wir müssen innerhalb der
28 NATO-Staaten einen Konsens erreichen. Es muss darum gehen, Artikel 5 aus diesem Mandat herauszubekommen.
Ich wünsche den Ministern viel Kraft bei der weiteren
Diskussion, und ich wünsche uns gutes Gelingen bei der
Debatte hier im Parlament. Ich sage aber auch: Wir werden diesem Mandat am Ende zustimmen, weil wir auf
dem richten Weg sind.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank. - Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt
Omid Nouripour das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute die 13. Verlängerung der Operation Active
Endeavour. Das ist etwas, was nach den Worten des
Herrn Außenministers nicht hätte passieren sollen. Eigentlich, wenn man genau hinschaut, passiert das auch
nicht, eigentlich ist das Versprechen eingehalten worden;
denn das, was vorliegt, ist nicht wirklich ein Mandat.
Das ist ein klinischer Fall fortgeschrittener politischer
Schizophrenie:
({0})
Sie beantragen die Teilnahme an einer Mission zur
Terrorismusbekämpfung, stellen aber niemanden dafür
bereit. Sie beantragen die Mission auf einer völkerrechtlichen Grundlage, von der Sie selbst sagen, dass sie nicht
mehr trägt. Der Minister sagte selbst - ich zitiere -:
Der Bündnisfall kann heute, mehr als zwölf Jahre
nach 9/11, nicht mehr dauerhaft tragfähige Rechtsgrundlage sein …
Damit hat er einfach völlig recht.
Er hat auch noch gesagt, dass diese Mission der Einsatzrealität nicht mehr gerecht wird. Das ist alles richtig.
Ich kann nur hoffen, dass die Schiffe für den Einsatz solider sind als dieses Mandat, sonst hätte ich wirklich
Angst um die Sicherheit der Soldatinnen und Soldaten.
Es scheint so zu sein, dass die vielen klugen Gedanken,
die der Herr Minister hier formuliert hat, keinerlei Konsequenzen gehabt haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Sozialdemokraten, Sie haben jahrelang mit uns gegen dieses
Mandat gestimmt. Jetzt werden Sie beruhigt mit den Bemühungen, die die Frau Staatsministerin beschrieben
hat. Ich bin sehr glücklich darüber, dass es diese Bemühungen gibt - es ist nicht so, dass wir sie falsch finden -,
nur, Bemühungen schaffen keine Rechtsgrundlage.
({1})
Sie tun so, als gebe es einen Automatismus, den es einfach nicht gibt.
Kollege Klingbeil, wenn es so ist, dass Artikel 5 des
Nordatlantikvertrages nur gemeinsam aus dem Mandat
herausgenommen werden kann, was ich teile, dann ist es
gut und schön, dass die Bundesregierung sich darum bemüht, dass dies endlich passiert; aber das ist keine Begründung für ein Mandat.
({2})
Es gibt keinerlei Grund, sich an einem Einsatz zu beteiligen, wenn man der Meinung ist, dass Artikel 5 nicht
mehr greift.
Zu fragen ist selbstverständlich auch, ob es der NATO
hilft, wenn der Bündnisfall dauerhaft verlängert wird,
oder ob dies nicht eine Unterminierung der Bündnissolidarität wäre. Wir sind der Meinung, dass es nicht glaubwürdig ist, einfach immer weiterzumachen wie bisher.
Die Beistandsverpflichtung - das ist der Kern der
Allianz - wird unterminiert. Das ist gerade in diesen Zeiten keine gute Nachricht. Vor allem muss man aber sehen, dass es nicht einfach ist, den Soldatinnen und Soldaten zu erklären, dass sie in einen Einsatz gehen, zu
dem Mitglieder der Bundesregierung bereits erklärt haben, dass es dafür eigentlich keine Rechtsgrundlage gibt.
({3})
Das ist auch der Öffentlichkeit nicht zu vermitteln.
Richtig ist - diese Einschätzung teile ich -, dass es
positive Nebeneffekte geben kann, dass es der Vertrauensbildung im Mittelmeer bedarf und dass Sie ein umfassendes Lagebild brauchen. Das haben Sie, Frau
Staatsministerin, vorhin alles gesagt. Aber dann beantragen Sie doch ein Mandat für einen entsprechenden EinOmid Nouripour
satz. Dann bringen Sie mit dieser Begründung hier einen
Mandatsantrag ein, und begründen Sie Ihren Antrag
nicht damit, dass es um Terrorbekämpfung geht; denn
darum geht es nicht. Bringen Sie vor allem nicht ein
Mandat ein, bei dem es noch immer um 9/11 geht. Die
Situation im südlichen und im östlichen Mittelmeer ist
heute bei aller Fragilität eine andere. Wir leben in einem
anderen Sicherheitszeitalter, und man kann nicht einfach
sagen, dass wir hier wegen 9/11 aktiv sind.
Das, was hier vorliegt, ist falsch und aus unserer Sicht
definitiv nicht zustimmungsfähig. Im Gegenteil: Das,
was die Bundesregierung hier tut, ist viel gravierender,
sie betreibt nämlich Schabernack mit den Grundsätzen
der NATO. Beenden Sie endlich den permanenten
Kriegszustand und diese Mission! Gerade als Bundesrepublik Deutschland, als großes Land, können Sie ein klares Zeichen dafür setzen, dass sie es ernst damit meinen,
dass Artikel 5 des Washingtoner Vertrages nun endlich
aufzuheben ist.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({4})
Vielen Dank.
Bevor ich gleich der Kollegin Julia Bartz das Wort
gebe, möchte ich hier die Soldatinnen und Soldaten des
2. Feldjägerregiments 3 aus Sigmaringen begrüßen.
Schön, dass Sie heute Abend hier sind.
({0})
Wir bedanken uns für Ihren Einsatz und auch für die
gute Arbeit, die Sie leisten, wovon sich viele von uns vor
Ort überzeugen konnten. Ich kann Ihnen versichern: Wir
fühlten uns bei Ihnen gut aufgehoben und auch gut beschützt. Danke schön dafür.
({1})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Julia Bartz, CDU/
CSU-Fraktion.
({2})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir beraten heute im Zusammenhang mit
OAE über ein Übergangsmandat.
({0})
Auch im vergangenen Jahr haben wir über dieses Übergangsmandat gesprochen, und wir müssen es jetzt noch
einmal verlängern. Die diplomatischen Verhandlungen
laufen und sind auf einem sehr guten Weg.
Bereits 2012 hat sich die Bundesregierung dafür eingesetzt, das Einsatzprofil von OAE weiterzuentwickeln.
Wir haben hier bereits viele Zwischenergebnisse verzeichnen können. Im Oktober 2013 hat die Bundesregierung ein entsprechendes Strategiepapier vorgelegt. Im
Februar des Jahres 2014 haben unsere Bundesministerin
der Verteidigung und unser Außenminister ein gemeinsames Schreiben an den NATO-Generalsekretär gerichtet, in dem sie auf die Diskrepanz zwischen der Einsatzgrundlage und der Einsatzrealität hingewiesen haben. Im
Juni dieses Jahres haben die NATO-Außenminister im
Rahmen ihrer maritimen Strategie der Allianz eine Weiterentwicklung von OAE auf einer neuen Einsatzgrundlage beschlossen, und im August dieses Jahres haben
sich die USA in bilateralen Konsultationen grundsätzlich
für eine Weiterentwicklung von OAE unabhängig von
Artikel 5 des Washingtoner Vertrages bereit erklärt. Im
September dieses Jahres wurde auf dem Gipfel in Wales
ein Kommuniqué verabschiedet, das bei der Nennung
von OAE zum ersten Mal auf Artikel 5 verzichtet.
Wie Sie also sehen, sind wir auf einem guten, auf dem
richtigen Weg, und die Bundesregierung wird sich auch
weiterhin dafür einsetzen, dass OAE von Artikel 5 entkoppelt wird.
Dies erfordert allerdings intensive diplomatische Bemühungen, weil die Zustimmung aller 28 NATO-Mitgliedstaaten dazu notwendig ist, wie Sie alle wissen.
Nun den Abzug zu fordern, ist der falsche Weg, und ich
denke, die Kolleginnen und Kollegen der Opposition,
die das tun, sind hier auf dem falschen Dampfer.
Schauen wir uns doch die aktuelle geopolitische Lage
an: In der jetzigen Situation, bei dem aggressiven Vorgehen Russlands in der Ukraine, ist es ganz wichtig, dass
wir mit der Verlängerung dieses Mandats das Zeichen an
unsere östlichen Partnerländer senden können, dass Artikel 5 gilt.
({1})
Unsere Präsenz im Mittelmeer ist notwendig, um dort
aufzuklären und ein klares Lagebild zu haben. Das erhöht die maritime Sicherheit im Mittelmeer.
({2})
Zudem findet ein wichtiger Austausch mit den Anrainerstaaten statt. Das wirkt sowohl vertrauensbildend als
auch als Frühwarnsystem.
Unsere Präsenz und die Lagebilderstellung in dieser
strategisch wichtigen Region sind also sinnvoll. Wir
wollen sie nun ein weiteres Mal unter dem Dach von
OAE fortsetzen. Geben wir doch der Diplomatie die
Zeit, die sie braucht, um den rechtlichen Rahmen neu zu
zimmern; denn das Ziel der Mission ist zweifelsohne
sinnvoll. Deshalb bitte ich Sie um Ihre Zustimmung zu
diesem Einsatz.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank. - Ich schließe die Aussprache.
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3247 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich stelle fest, das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Halina Wawzyniak, Dr. Petra Sitte, Jan Korte,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE
LINKE sowie den Abgeordneten Tabea Rößner,
Dr. Konstantin von Notz, Renate Künast, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Aufhebung des Achten Gesetzes zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes ({0})
Drucksache 18/3269
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({1})
Ausschuss Digitale Agenda ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Kultur und Medien
Federführung strittig
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1) -
Ich stelle fest, Sie sind damit einverstanden.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3269 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist
jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und der
SPD wünschen die Federführung beim Ausschuss für
Recht und Verbraucherschutz. Die Fraktionen Die Linke
und Bündnis 90/Die Grünen wünschen die Federführung
beim Ausschuss Digitale Agenda.
Ich lasse zunächst abstimmen über den Über-
weisungsvorschlag der Fraktionen Die Linke und Bünd-
nis 90/Die Grünen: Federführung beim Ausschuss
Digitale Agenda. Wer stimmt für diesen Überweisungs-
vorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? -
Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen von
CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen von Bünd-
nis 90/Die Grünen und Die Linke abgelehnt.
Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvor-
schlag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD: Fe-
derführung beim Ausschuss für Recht und Verbraucher-
schutz. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag?
- Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Über-
weisungsvorschlag ist mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen
angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Änderung der Abgabenordnung und
des Einführungsgesetzes zur Abgabenord-
nung
1) Anlage 5
Drucksachen 18/3018, 18/3161
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({3})
Drucksache 18/3439
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({4}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Klaus Ernst,
Dr. André Hahn, Ulla Jelpke, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion DIE LINKE
Straffreiheit bei Steuerhinterziehung durch
Selbstanzeige abschaffen
Drucksachen 18/556, 18/1035
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.2) -
Ich stelle fest, Sie sind damit einverstanden. Es liegt eine
Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung vor.3)
Tagesordnungspunkt 20 a. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten
Gesetzentwurf zur Änderung der Abgabenordnung und
des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 18/3439, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 18/3018 und 18/3161 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD
und Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion
Die Linke angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich von den Plätzen
zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 20 b. Beschlussempfehlung des
Finanzausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die
Linke mit dem Titel „Straffreiheit bei Steuerhinterziehung durch Selbstanzeige abschaffen“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/1035, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 18/556 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und Bündnis 90/Die
Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
({5})
- Bei zwei Enthaltungen in der Fraktion Die Linke.
2) Anlage 6
3) Anlage 3
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften
Gesetzes zur Verbesserung rehabilitierungsrechtlicher Vorschriften für Opfer der politischen Verfolgung in der ehemaligen DDR
Drucksachen 18/3120, 18/3251
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Halina Wawzyniak, Dr. Dietmar
Bartsch, Jan Korte, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Verbesserung rehabilitierungsrechtlicher Vorschriften
für Opfer der politischen Verfolgung in der
ehemaligen DDR
Drucksache 18/3145
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz
({6})
Drucksache 18/3445
- Berichte des Haushaltsausschusses ({7}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Drucksachen 18/3446, 18/3447
Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein
Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen vor. Die Reden sollen zu Protokoll gegeben wer-
den.1) - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.
Wir kommen damit zur Abstimmung. Der Ausschuss
für Recht und Verbraucherschutz empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 18/3445, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksachen 18/3120 und 18/3251 in der Aus-
schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? -
Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zwei-
ter Beratung mit den Stimmen aller Fraktionen ange-
nommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetz-
entwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis in drit-
ter Lesung angenommen.
Abstimmung über den Entschließungsantrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/
3453. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Ent-
schließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen gegen die Stimmen der Opposition abgelehnt.
Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 18/3145. Der Ausschuss für
Recht und Verbraucherschutz empfiehlt unter Buch-
1) Anlage 7
stabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
18/3445, den Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die
weitere Beratung.
Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/3445 empfiehlt der Ausschuss, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von
CDU/CSU, SPD, Fraktion Die Linke bei Enthaltung der
Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen
des Europarats vom 25. Oktober 2007 zum
Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch
Drucksache 18/3122
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz
({8})
Drucksache 18/3437
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.2) Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Recht und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3437, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/3122 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit den
Stimmen von CDU/CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen
bei Enthaltung der Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2012/17/EU
in Bezug auf die Verknüpfung von Zentral-,
Handels- und Gesellschaftsregistern in der
Europäischen Union
Drucksache 18/2137
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz
({9})
Drucksache 18/3438
2) Anlage 8
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1) Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Recht und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3438, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/2137 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit
in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und von Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich von den Plätzen
zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich?
- Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Unterrichtung durch den Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung
Stellungnahme des Parlamentarischen Beirates für nachhaltige Entwicklung zum Bericht
des Peer Review 2013 zur Nationalen Nachhaltigkeitsstrategie „Sustainability - Made in
Germany“
Drucksache 18/3214
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit ({10})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss Digitale Agenda
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Andreas Lenz, CDU/CSU-Fraktion.
({11})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir spre-
chen heute Abend über die Stellungnahme des Beirats
für nachhaltige Entwicklung zum Peer-Review-Gutach-
ten 2013. Die Ausführungen des Peer Reviews wurden
von acht hochkarätigen internationalen Expertinnen und
1) Anlage 9
Experten erstellt. Das Gutachten bewertet die nationale
Nachhaltigkeitsstrategie in Deutschland. Außerdem bezieht sich der Bericht auf den internationalen Aspekt
zum Thema einer nachhaltigen Entwicklung. Die Gutachter betonen die gewaltigen Aufgaben auf globaler
Ebene, die im Kontext einer nachhaltigen Entwicklung
bestehen.
Während meiner fünfminütigen Redezeit sterben
weltweit circa 30 Kinder an Unterernährung oder behandelbaren Krankheiten. In diesen fünf Minuten wird eine
vollständige Tier- oder Pflanzenart aussterben. In diesen
fünf Minuten werden wir weltweit circa 30 Schwimmbäder von olympischer Größe an Öl verbrennen. In diesen
fünf Minuten werden 150 Fußballfelder an Waldfläche
gerodet werden.
Die Herausforderungen auf globaler Ebene sehen die
Gutachter vor allem im Hinblick auf Hunger und Armut
ebenso wie hinsichtlich des zu erwartenden Bevölkerungswachstums auf etwa 9 Milliarden Menschen bis
2050. Aber auch die weltweit ungebremste Nutzung fossiler Energieträger und die damit einhergehende klimatische Veränderung stehen einer nachhaltigen Entwicklung entgegen.
Wenn wir also über nationale Ziele sprechen, dürfen
wir nie den internationalen Kontext aus den Augen verlieren. Auch deshalb ist es wichtig, dass Deutschland im
Rahmen des Post-2015-Prozesses zur Schaffung nachhaltiger globaler Entwicklungsziele eine aktive Rolle
spielt.
Deutschland selbst geben die Experten ein grundsätzlich gutes Zeugnis. Gerade die deutsche Energiewende
wird als vorbildhaft gesehen und als größtes kollektives
Transformationsprojekt seit der deutschen Wiedervereinigung bezeichnet. Die Experten honorieren das Ziel, bis
2022 aus der Atomenergie auszusteigen und gleichzeitig
bis 2050 das Ziel einer CO2-armen Wirtschaft durch die
Reduktion der Treibhausgase um 80 bis 90 Prozent, gemessen am Niveau von 1990, erreichen zu wollen. Wir
hatten heute bereits die entsprechenden Debatten im Plenum.
Es ist zudem notwendig, den Nachhaltigkeitsgedanken auch in Betrieben und Unternehmen, in den Unternehmenskulturen zu verankern und zu leben. Die Experten weisen auf den deutschen Nachhaltigkeitskodex hin,
der vom deutschen Nachhaltigkeitsrat entwickelt wurde.
Dieser kann ein Beispiel sein, nach welchen Kriterien
der Aspekt der Nachhaltigkeit in Unternehmen verankert
werden kann.
In ihrem Bericht verdeutlichen die Experten, auf welchen staatlichen Ebenen bereits Fortschritte erzielt worden sind und wo noch Handlungsbedarf besteht. So
wurde gegenüber dem ersten Peer Review von 2009 das
Bundeskanzleramt als Schnittstelle der Nachhaltigkeitspolitik gestärkt. Ein eigenständiges Referat, das die
Nachhaltigkeitspolitik inhaltlich verantwortet, wurde installiert.
Die Verankerung einer formellen Nachhaltigkeitsprüfungsbewertung sämtlicher Verordnungen und Gesetze
seit 2010 zeigt, dass das Parlament die Bundesregierung
hinsichtlich ihrer Nachhaltigkeitspolitik beim Wort
nimmt. Die zielgerichtete Weiterentwicklung der Nachhaltigkeitsprüfung wird nun eine große Aufgabe in dieser Legislaturperiode sein. Auch dazu sind zusätzliche
Ressourcen für den Beirat erforderlich. In dieser Forderung sehen wir uns durch die Empfehlungen der Gutachter bestätigt.
Der Beirat für nachhaltige Entwicklung unterstützt
die Forderung, den Nachhaltigkeitsgedanken stärker in
die Ausbildungspläne für angehende Lehrkräfte und im
Bildungsbereich generell zu integrieren. Wir müssen
Mittel und Wege finden, um das Bewusstsein für die Bedeutung einer nachhaltigen Entwicklung zu stärken.
({0})
Letztlich muss der Gedanke der Nachhaltigkeit die Herzen der Menschen erreichen. Nachhaltigkeit muss gelebt
werden, um nicht als Floskel und Worthülse zu verkommen.
({1})
Die Experten zeigen uns in ihrem Bericht, wo wir bei
der Umsetzung der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie
stehen.
({2})
- Alle können etwas lernen. - Wir haben schon vieles erreicht, auch dadurch, dass wir uns ambitionierte Ziele
gesetzt haben. Trotzdem gibt es noch Hausaufgaben für
uns auf nationaler Ebene, aber auch auf internationaler
Ebene.
Lassen Sie mich noch einen Satz bezüglich der Stellungnahme des Beirats sagen. Man lernt sich in den verschiedenen Berichterstatterrunden doch etwas besser
kennen, Frau Wilms. Das uns selbst auferlegte Konsensprinzip kann hier manchmal zur Belastung werden.
Letztlich kommt es aber darauf an, was am Ende herauskommt. Ich bin der Meinung, dass die Stellungnahme
ein guter Ansatz für eine Stärkung einer nachhaltigen
Entwicklung ist.
Danke für die gemeinsame Arbeit und vielen Dank
für die Aufmerksamkeit.
({3})
Vielen Dank. - Für die Fraktion Die Linke hat jetzt
das Wort der Kollege Hubertus Zdebel.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Der Bericht der acht internationalen Expertinnen und
Experten zur nationalen Nachhaltigkeitsstrategie liegt
seit vergangenem Jahr vor. Er zeigt, dass die Anstrengungen für die Umsetzung einer Nachhaltigkeitspolitik
in Deutschland in vielen Politikbereichen deutlich gesteigert werden müssen.
({0})
Die Verankerung des Nachhaltigkeitsgedankens in den
verschiedenen Politikbereichen des Deutschen Bundestages ist eine zentrale Aufgabe, wenn wir die Verantwortung für die zukünftigen Generationen wahrnehmen wollen.
In dem Bericht wird klar formuliert, dass „jede Verarbeitung fossiler Rohstoffe weitere Treibhausgase freisetzt“ und die „Funde neuer Quellen fossiler Rohstoffe
die Begrenztheit des Planeten Erde nicht aufheben“ können. Ich hoffe, dass der Parlamentarische Beirat es in
dieser Legislaturperiode auch schafft, daraus eine gemeinsame Forderung für eine schnelle Dekarbonisierung
der Energiepolitik zu entwickeln.
({1})
Ausdrücklich unterstützen wir alle Anstrengungen und
Anregungen für ein Kohleausstiegsgesetz und den
schnellstmöglichen Ausstieg aus der klimaschädlichen
Kohleverstromung. Ich hoffe, dass die Diskussionen im
Parlamentarischen Beirat dazu beitragen werden, den
Forderungen der Kohlelobby eine Gegenposition für den
schnellen Ausbau dezentraler Anlagen zur Erzeugung
von Energie aus regenerativen Quellen entgegenzusetzen.
({2})
Auch die Alternativen, zwischen denen es weltweit
im Energiesektor zu entscheiden gilt, werden im Expertenbericht besonders kritisch gesehen. Ausdrücklich erwähnt wird im Bericht Fracking. Das finde ich sehr bemerkenswert, vor allem vor dem Hintergrund, dass die
Bundesregierung plant, ein Gesetz auf den Weg zu bringen, das Fracking ermöglicht. Ich denke, der Bericht hat
darauf eine klare Antwort gegeben.
Eine nachhaltige Energiepolitik muss in den nächsten
Jahren die Grundlagen für eine dezentrale Energieerzeugungs- und -verteilungsstruktur schaffen. Die bisherige
Politik der Bundesregierung wird dem nicht gerecht. Die
Entscheidungen der letzten Monate schreiben die zentralisierten Strukturen mit Großkraftwerken fort und müssen grundlegend verändert werden. Die Linke fordert die
Stärkung dezentraler, demokratischer Strukturen in der
Energieerzeugung.
({3})
Sehr geehrte Damen und Herren, mit der Forderung
an die Europäische Kommission, die europäische Nachhaltigkeitsstrategie fortzuschreiben, kann der Deutsche
Bundestag dazu beitragen, die Fixierung der EU-Kommission auf die aus unserer Sicht falsche Ausrichtung
der Strategie „Europa 2020“ zu verändern. Die Fraktion
Die Linke sieht in der einseitigen Fixierung der EUKommission auf den Ausbau von transeuropäischen
Netzen in der Verkehrspolitik, der Energiepolitik und der
Infrastrukturpolitik eine falsche Entwicklung. Die Kommission setzt mit der Strategie „Europa 2020“ auf eine
einseitige Wachstumsfixierung durch konventionelles
Wirtschaftswachstum. Damit wird die EU-Kommission
die Ziele zur Reduktion der klimaschädlichen Treibhausgase nicht erreichen - ebenso wenig wie einen Umbau
der industrialisierten Agrarindustrie.
Sehr geehrte Damen und Herren, die grundlegende
Verankerung des Nachhaltigkeitsgedankens als zentrale
Querschnittsaufgabe der Politik muss aber auch im
Deutschen Bundestag verwirklicht und weiterentwickelt
werden. Die dazu angestellten Überlegungen finden unsere ausdrückliche Unterstützung.
Mit dem Parlamentarischen Beirat für nachhaltige
Entwicklung ist eine erste Grundlage für die Verbesserung der Nachhaltigkeitspolitik im Deutschen Bundestag
geschaffen worden; das begrüßen wir ausdrücklich.
({4})
Wie mir berichtet wurde - ich selber bin ja nicht Mitglied in diesem Beirat -, herrscht dort eine sehr konstruktive Arbeitsatmosphäre. Der Versuch, trotz zum
Teil sehr unterschiedlicher Politikvorstellungen gemeinsame Lösungen zur Stärkung des Nachhaltigkeitsgedankens voranzubringen, dürfte, auch für den Bundestag, etwas Besonderes sein. Insofern auch im Namen meiner
Fraktion herzlichen Dank für die im Beirat geleistete Arbeit!
({5})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Carsten Träger,
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen!
Deutschland hat einigen Grund, auf seine Errungenschaften im Übergang zu einer nachhaltigeren
Welt stolz zu sein.
Das sage nicht ich, obwohl ich diese Auffassung
durchaus teile; vielmehr stammt dieses Zitat von Björn
Stigson, dem Vorsitzenden der internationalen Expertenkommission, die die Bundesregierung eingesetzt hat, um
die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie zu begleiten. Dieses Zitat ist im Peer Review Sustainability - Made in
Germany, den wir heute diskutieren, nachzulesen.
Das Lob der Peers gilt einerseits den Ansätzen und
Strukturen, die wir in Deutschland für nachhaltige Entwicklung haben, aber durchaus auch einzelnen politischen Themen. So nennen die Peers als ein zentrales
Projekt der nachhaltigen Entwicklung in Deutschland
die Energiewende. In der Tat blickt die ganze Welt auf
uns. Wir gehen hier in Sachen erneuerbare Energien voran.
Der Peer Review stammt aus dem Jahr 2013. Darin
fordern die Peers eine klare Koordination und Planung
der Energiewende. Am Ende des Jahres 2014 können
wir feststellen: Deutschland macht seine Hausaufgaben.
Unser Wirtschafts- und Energieminister schultert dieses
Vorhaben gerade. Er bringt Planungssicherheit und Rahmenbedingungen für einen geordneten Ausbau der erneuerbaren Energien zusammen. Das ist nicht einfach.
Hier geht es nicht zuletzt um viel Geld. Aber eines
möchte ich hier sagen: Sigmar Gabriel macht einen richtig guten Job.
({0})
Deutschland kann auf die Energiewende stolz sein.
Herr Kollege Zdebel, Sie haben Fracking angesprochen, dazu muss ich sagen: Die Peers reagieren schlicht
und einfach deshalb nicht auf die Fracking-Gesetze der
Bundesregierung, weil sie sich schon im Jahr 2013 geäußert haben. Sie haben es ja erwähnt, Herr Zdebel: Sie
sind nicht Mitglied im Parlamentarischen Beirat für
nachhaltige Entwicklung; deswegen haben Sie an dessen
Diskussionen nicht teilgenommen. Von daher ist Ihnen
Ihre Anmerkung vielleicht nachzusehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist eine Errungenschaft des Parlamentarischen Beirats für nachhaltige
Entwicklung, dass jedes Gesetz über seinen Tisch geht.
Wir überprüfen, ob in den Vorlagen die sogenannten Indikatoren und Managementregeln berücksichtigt wurden ({1})
eine wichtige Aufgabe des Parlamentarischen Beirats,
aber es ist eine rein formale Prüfung, die wir da bisher
vornehmen; gut, aber nicht gut genug.
({2})
Wenn wir das Prinzip der Nachhaltigkeit ins Bewusstsein rücken wollen, wenn wir Nachhaltigkeit immer mitdenken wollen, dann dürfen wir hier nicht stehen bleiben. Wir wollen hin zu einer inhaltlichen Prüfung.
({3})
Wir wollen uns einmischen. Einen Schritt in die richtige Richtung gehen wir in zwei Wochen. Auf Anregung
der SPD und unseres zuständigen Kollegen im Umweltausschuss, Michael Thews, werden wir am 17. Dezember eine öffentliche Anhörung im Beirat zum Thema
Produktverantwortung durchführen. Die Produktverantwortung ist Teil des Wertstoffgesetzes, das das parlamentarische Verfahren bald erreichen wird.
Da stellen sich dann ganz zentrale Fragen: Wie können wir Anreize für Hersteller schaffen, schon beim Produktdesign Abfallvermeidung zu berücksichtigen und
auch dort schon an die leichte und effiziente Recycelbarkeit zu denken? Wie kann dies durch Forschungsvorhaben oder gesetzliche Vorschriften unterstützt werden?
Wie kann die Produktverantwortung insgesamt zu einem
sinnvollen Steuerungselement der Ressourcenschonung
werden? Hier kann und hier wird die Debatte im Parlamentarischen Beirat hoffentlich Impulse setzen. Sie alle
sind zu der Anhörung natürlich herzlich eingeladen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte an der
Stelle aber auch kritisch sein. Das alles geht nicht oder
jedenfalls nicht so gut, wie wir uns das wünschen, mit
unserer bisherigen Ausstattung. Auch die Peers kamen
zu dem Schluss, dass es dringend einer besseren personellen Ausstattung bedarf. Wir brauchen ein größeres
Beiratssekretariat, damit es uns bei der Vorbereitung der
Gesetzesprüfung unterstützen kann; genauso benötigen
wir dringend Strukturen und Personal in den Fraktionen,
die die Arbeit für die Nachhaltigkeit stärken.
Meine Meinung ist, dass es nicht sein kann, dass die
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Abgeordnetenbüros neben all der Arbeit, die sie für uns zur Unterstützung in den regulären Ausschüssen leisten, für uns auch
noch für die Berichterstattergruppen des Beirats arbeiten
müssen; denn dies ist tatsächlich ein erheblicher Aufwand. Wie gesagt, wir beschäftigen uns mit sehr vielen
Gesetzesvorlagen. Deshalb bitte ich darum, dass wir uns
mit dem Thema beschäftigen, um eine bessere Ausstattung zu erreichen.
({4})
Wenn wir es ernst meinen mit einer inhaltlichen
Nachhaltigkeitsprüfung der Vorlagen, dann stoßen wir
an Grenzen. Wenn wir es ernst meinen mit dem Koalitionsvertrag, in dem wir eine Stärkung des Parlamentarischen Beirats festgeschrieben haben, und wenn wir es
ernst meinen mit all unseren Reden über die Wichtigkeit
von Nachhaltigkeit, dann brauchen wir diese bessere
Ausstattung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte noch einen weiteren Punkt ansprechen, in dem wir uns im Beirat fraktionsübergreifend einig sind. In jeder Wahlperiode verliert der Beirat wertvolle Zeit, oft Monate, bis er
wieder eingerichtet ist. Hier suchen wir gerade nach einem praktikablen Verfahren, wie man das besser machen
kann. Meine Meinung - ich glaube, auch die der meisten
Beiratsmitglieder - ist, dass wir den Beirat am besten
verstetigen können, indem wir ihn in der Geschäftsordnung verankern. Ich hoffe, dass wir auch hier gute Diskussionen führen können und am Ende zu einem guten
Ergebnis kommen.
Ich glaube, dass dieser Weg lohnend ist. In meiner
Vorstellung entwickelt sich der Parlamentarische Beirat
zu einem Ort, an dem weitblickend angelegte Debatten
zu wichtigen Fragen geführt werden können. Nachhaltige Politik ist eben mehr als Umweltpolitik im neuen
Gewand; sie ist auch mehr als der berühmte Dreiklang
von Ökonomie, Ökologie und Sozialem. Nachhaltigkeitspolitik, wie ich sie mir vorstelle, nimmt die langen
Zeitschienen in den Blick.
Genau hier sehe ich den Parlamentarischen Beirat als
den Ort der Debatte und als Impulsgeber. Natürlich werden wir nicht für alle Fragen Lösungen liefern können;
aber ich bin der Überzeugung, dass es dem deutschen
Parlament gut anstehen würde, einen solchen Ort zu haben.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben in
Deutschland hervorragende Ansätze, wie uns der Peer
Review bescheinigt: eine nationale Nachhaltigkeitsstrategie, den Staatssekretärsausschuss mit seiner Verankerung
im Bundeskanzleramt, den Rat für nachhaltige Entwicklung, der die Regierung berät. Aber wir als Parlament
müssen noch etwas nachlegen; wir hinken da etwas hinterher.
Erlauben Sie mir noch eine Bemerkung zum Schluss.
Wenn ich mir die späte, die nächtliche Debattenzeit vor
Augen führe, muss ich sagen: Das ist schon ein Hinweis
darauf, dass das Thema Nachhaltigkeit noch nicht in der
Mitte des Bundestags angekommen ist. Da gehört es
aber hin. Ich wünsche mir zu Weihnachten, dass wir die
nächste Debatte über dieses Thema zu einem früheren
Zeitpunkt, vielleicht bei Tageslicht, führen.
Vielen Dank.
({6})
Vielen Dank. - Da das schon das zweite Mal war,
dass auf die Debattenzeit hingewiesen wurde, möchte
ich nur darauf aufmerksam machen, dass sich alle diesbezüglich an ihre Parlamentarischen Geschäftsführer
und Geschäftsführerinnen wenden; denn die bestimmen
die Debattenzeit. Das macht nicht das Präsidium. Bitten
Sie sie, dass beim nächsten Mal alle Themen morgens
behandelt werden. Dann müssen wir sehen, wie wir das
parallel hinbekommen; vielleicht klappt das ja.
Nächste Rednerin für Bündnis 90/Die Grünen ist jetzt
Dr. Valerie Wilms.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Meine Vorredner haben ja schon erwähnt: Wir reden
heute über die erste Unterrichtung - so heißt es formal -,
die der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung in dieser Legislaturperiode abliefert. Daran haben
alle vier Fraktionen wirklich gleichberechtigt mitarbeiten können; da machen wir nicht diesen Mummenschanz
zwischen Koalition und Opposition. Dafür herzlichen
Dank!
({0})
Aber wenn ich mir die die Debatte anhöre, habe ich
den Eindruck, dass wir hier eigentlich über unterschiedliche Sachen reden. Denn wenn ich mir den Peer-Review-Bericht anschaue, stelle ich fest: Da steht deutlich
drin, dass Deutschland hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibt. Das ist nämlich die bittere Kernbotschaft, die
uns die Peers mitgegeben haben: Wir könnten deutlich
mehr machen. - Gerade an der Situation bei der Energiewende machen die Peers diese Aussage fest. Da stimme
ich ihnen - leider - voll zu. Da müssen wir deutlich
nachlegen.
Es gibt bislang keine Koordinierung im Hinblick auf
das Zusammenspiel der verschiedenen Energieträger bis
zur vollständigen Umstellung auf erneuerbare Energien;
das haben wir noch nicht geschafft. Wir müssen uns fragen: Wie viele CO2-Schleudern, also vor allem Braunkohlekraftwerke, sind wirklich noch nötig, und zwar
heute und dann, wenn die Atomkraftwerke endlich abgeschaltet worden sind?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Frage ist doch,
wie die Energieversorger, große wie kleine, ihre Geschäftsmodelle weiterentwickeln können. Dafür brauchen sie von uns eindeutige Vorgaben, und das dringend.
Wir lassen es zu, dass der Strompreis an der Börse verfällt, und subventionieren dafür stromintensive Unternehmen. Hier ist mehr konzeptionelles Arbeiten dringend nötig.
({1})
Je besser wir die Energiewende durchplanen, umso besser können sich die Unternehmen darauf vorbereiten und
ihre Mitarbeiter entsprechend qualifizieren. Eon zeigt
durchaus, in welche Richtung das gehen kann.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will noch einen
Blick auf die Debatte um Wachstum, Wohlstand und Lebensqualität werfen. - Vorher muss ich aber erst einmal
einen Schluck trinken, um mich zu beruhigen.
({2})
Diese Debatte kocht ja immer wieder hoch. In der letzten
Wahlperiode hat eine Enquete-Kommission einen Vorschlag mit einer großen Menge an Wohlstandsindikatoren,
Warnlampen und Hinweislampen vorgelegt; irgendwo
hier im Bundestag sollte es eine entsprechende Installation geben. So sollte nämlich der Wachstumsindikator
Bruttoinlandsprodukt ergänzt werden. Dabei wurde einfach ignoriert, dass es das schon längst gibt. Seit 2002
haben wir die nationale Nachhaltigkeitsstrategie. Aber
es macht ja immer mehr Spaß, neue Messsysteme auf
weißes Papier zu schreiben, als sich darum zu kümmern,
das alte Messsystem mit seinen 21 Indikatoren wie Flächenverbrauch, Artenvielfalt, Ressourceneffizienz anzuwenden und die notwendigen Ziele wirklich zu erreichen.
Das, was nun im Bundeskanzleramt mit der Strategie
„Gutes Leben“ geplant ist, scheint eher eine Strategie
zur Ablenkung von diesen vorhandenen Nachhaltigkeitszielen zu sein, vor allem eine Ablenkung davon, dass die
Entwicklungen im Hinblick auf viele Nachhaltigkeitsziele stagnieren oder sogar rückläufig sind, wie uns der
Fortschrittsbericht und der Indikatorenbericht zeigen.
Wir Politiker, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen ein lebenswertes Leben auf dieser Erde ermöglichen,
nicht nur für alle, die heute hier leben, nein, auch für unsere Kinder und deren Kinder, und das nicht nur für uns
in Deutschland.
Dafür gibt es seit Rio 1992 die Agenda 21 und in
Deutschland die Nachhaltigkeitsstrategie. Ab Herbst
nächsten Jahres wird es sogar weltweite Nachhaltigkeitsziele geben: die SDGs. Da vergleichen wir nicht nur
Zahlenreihen von Indikatoren und schauen auf irgendwelche blinkenden Lämpchen. Wir haben wirklich zu erreichende Ziele für die einzelnen Indikatoren festgelegt.
Das steckt hinter unserer nationalen Nachhaltigkeitsstrategie, die wir bislang, unabhängig von den Farben der
Regierung, regelmäßig fortgeschrieben haben. Dazu müssen wir kein gutes Leben neu erfinden. Lassen Sie uns
besser die Ziele unserer vorhandenen Nachhaltigkeitsstrategie ernsthaft operativ umsetzen, liebe Kolleginnen
und Kollegen. Fensterreden haben wir darüber schon genug gehalten.
Herzlichen Dank.
({3})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Andreas Jung,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte nicht auch noch eine Bemerkung zu der Uhrzeit, zu der diese Debatte stattfindet, machen und füge
hinzu: Ich nehme es noch nicht einmal persönlich, dass
der letzte Besucher gerade kurz vor meiner Rede die Tribüne verlassen hat,
({0})
sondern ich möchte, im Gegenteil, sagen: Es ist gut, dass
wir diese Debatte über Nachhaltigkeit noch im Parlament führen. Nachhaltigkeit ist eine Daueraufgabe, und
das heißt, zu jeder Tages- und Nachtzeit.
({1})
Das heißt auch, dass es notwendig ist, dass es hier im
Deutschen Bundestag ein Gremium wie den Nachhaltigkeitsbeirat gibt, das sich dauernd dieser Aufgabe widmet. Deshalb möchte ich zu Beginn an den Kollegen
Carsten Träger anschließen und sagen: Ja, es ist notwendig.
Der Parlamentarische Beirat besteht jetzt zehn Jahre,
und in dieser Dekade haben wir uns etabliert. Wir sind
im parlamentarischen Betrieb nicht nur angekommen,
sondern ich bin der Überzeugung: Der Nachhaltigkeitsbeirat ist überhaupt nicht mehr wegzudenken. Deshalb
müssen die Fraktionen, müssen wir gemeinsam die
Schlussfolgerungen daraus ziehen und den Nachhaltigkeitsbeirat verstetigen, ihn in der Geschäftsordnung verankern und damit klarmachen: Nachhaltigkeit bleibt
Daueraufgabe, und der Nachhaltigkeitsbeirat wird sich
im Deutschen Bundestag dauerhaft darum kümmern.
({2})
Bei allem - das zeigt auch der Peer-Review, dass wir
einiges erreicht haben - ist auch wahr, dass wir noch
große Aufgaben vor uns haben. 1992 - es wurde von
Valerie Wilms angesprochen - fand die große Nachhaltigkeitskonferenz in Rio de Janeiro statt. Ich war noch
auf der Schule, und mein Bundestagsabgeordneter war
Hans-Peter Repnik. Er war stellvertretender Leiter der
Delegation von Klaus Töpfer, und er bekommt heute
noch leuchtende Augen, wenn er vom Geist von Rio berichtet. Damals hat man in der Tat gedacht, dass es gelingt, nachdem der Gegensatz zwischen Ost und West
aufgebrochen war, die Nord-Süd-Probleme gemeinsam
anzugehen und die Grundlagen für eine weltweite nachhaltige Entwicklung zu schaffen.
Wenn wir uns mehr als 20 Jahre danach fragen, was
eigentlich erreicht worden ist, dann lautet die Antwort:
Es ist bisher nicht gelungen, diesen Schwung von Rio
mitzunehmen. Es ist bisher im weltweiten Maßstab beschämend wenig erreicht worden.
({3})
Deshalb freuen wir uns darüber, dass die Peers würdigen, dass Deutschland eine Vorreiterrolle für nachhaltige
Politik einnimmt. Wir nehmen es ernst, dass diese Vorreiterrolle auch für die Zukunft eingefordert wird.
Valerie Wilms hat ebenfalls bereits die internationalen
Bemühungen angesprochen, zu weltweiten Nachhaltigkeitszielen in Weiterentwicklung der Millenniumsziele
zu kommen. Das müssen wir erreichen. Hier muss
Deutschland, hier muss sich Europa kraftvoll einbringen.
({4})
Wir müssen jetzt fortführen und zum Erfolg bringen,
was damals in Rio begonnen wurde.
({5})
Wer, wenn nicht die Europäische Union, soll dabei
der entscheidende Antreiber sein? Dabei sehen wir als
Nachhaltigkeitsbeirat noch Entwicklungsbedarf. Wir
werden Anfang des Jahres in Brüssel sein, dort Gespräche
führen und dafür werben, dass die Nachhaltigkeitsstrategie der Europäischen Union kraftvoll fortgeschrieben
wird. Wir bedauern, dass dies nicht selbstverständlich
ist, und hoffen, dass unter dem jetzt zuständigen Vizepräsidenten Timmermans die richtigen Weichen gestellt
werden können. Es ist notwendig. Europa muss hier eine
drängende Rolle, eine Vorreiterrolle einnehmen. Das beginnt damit, dass in Europa selber eine kohärente Nachhaltigkeitsstrategie umgesetzt wird.
({6})
In Deutschland - das ist in der Debatte angesprochen
worden; das zeigen uns die unterschiedlichen Berichte haben wir in vielen Bereichen Fortschritte zu verzeichnen, aber es gibt eben auch noch Bereiche, in denen wir
besser werden müssen. Der Nachhaltigkeitsbeirat hat
sich vorgenommen, das Thema „nachhaltiges Wirtschaften“ in den Mittelpunkt der Arbeit der nächsten Jahre zu
stellen. Da haben wir viel zu tun. Wir wollen auch den
Blick darauf richten, was die Bundesregierung selbst
macht. Wir haben erst gestern ein Papier zum Thema
„nachhaltige Beschaffung“ beschlossen, in dem wir sagen: Wenn wir das wollen, dann muss auch für den Bundestag und die Bundesregierung
({7})
das Elektroauto bzw. das Ökoauto zum Standard werden,
weil nur dann Elektroautos in der Breite gefahren werden, dann müssen wir auch unsere bundeseigenen Immobilien sanieren, dann müssen auch Bundesverwaltung
und bundeseigene Unternehmen den Nachhaltigkeitskodex unterschreiben und umsetzen, dann sind hier viele
Aufgaben zu erledigen. Dafür wollen wir uns gemeinsam einsetzen.
({8})
Der Nachhaltigkeitsbeirat ist ein besonderes Gremium.
Wir arbeiten, wie gesagt wurde, konstruktiv zusammen
und in den allermeisten Fällen auch einvernehmlich. So
werden wir noch einiges erreichen.
Vielen Dank.
({9})
Vielen Dank. - Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3214 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Übereinkommen vom 10. März 2009 zwischen
den Mitgliedstaaten der Europäischen Union
über die zentrale Zollabwicklung hinsichtlich
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
der Aufteilung der nationalen Erhebungskosten, die bei der Bereitstellung der traditionellen Eigenmittel für den Haushalt der Europäischen Union einbehalten werden
Drucksache 18/3125
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Haushaltsausschuss
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1) -
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3125 an die in der Tagesordnung aufge-
1) Anlage 10
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 5. Dezember 2014,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen noch
einen wunderschönen Abend.
({1})