Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Interfraktionell ist vereinbart worden, nach der Fragestunde als Zusatzpunkt ohne Debatte die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz
zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen
Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung
zur Einführung eines europäischen Verfahrens für geringfügige Forderungen und der Verordnung zur Einführung eines Europäischen Mahnverfahrens auf Drucksache 18/419 Nr. A.48 aufzurufen.
Des Weiteren soll die Unterrichtung der Bundesregierung über den Bericht über die Einlegung eines Parlamentsvorbehalts gemäß § 8 Absatz 4 Satz 2 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und
Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union auf Drucksache 18/3385 federführend dem
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz sowie dem
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union zur Mitberatung überwiesen werden.
Schließlich soll der Entwurf eines Gesetzes zur weiteren Entlastung von Ländern und Kommunen ab 2015
und zum quantitativen und qualitativen Ausbau der
Kindertagesbetreuung auf Drucksachen 18/2586 und
18/3008 sowie die Beschlussempfehlung hierzu auf
Drucksache 18/3241 an den federführenden Haushaltsausschuss und der Gesetzentwurf zusätzlich zur Mitberatung an den Innenausschuss, den Finanzausschuss, den
Ausschuss für Arbeit und Soziales und an den Ausschuss
für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zurücküberwiesen werden.
Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Vereinbarte Debatte
anlässlich des Internationalen Tages der Menschen mit Behinderungen - Mehr Teilhabe eröffnet neue Perspektiven
Für die Bundesregierung erteile ich der Beauftragten
für die Belange behinderter Menschen, Verena Bentele,
das Wort.
({0})
Verena Bentele, Beauftragte der Bundesregierung
für die Belange behinderter Menschen:
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren Abgeordnete! Ich stehe richtig gerne
heute hier, um am Internationalen Tag der Menschen mit
Behinderung zu Ihnen zu sprechen. Ich wurde vor einigen
Tagen gefragt, ob wir diesen Tag eigentlich noch brauchen. Und, wie Sie sich denken können, als Beauftragte
der Bundesregierung ist meine Antwort ein klares Ja.
({1})
Denn dieser Tag gibt uns die Gelegenheit, immer wieder
zu gucken: Welchen Weg haben wir noch vor uns und
was ist noch zu tun, bis wir in einer inklusiven Gesellschaft leben?
Es gibt - das können Sie mir glauben - noch viel zu
tun, beispielsweise, wenn es um die neue Eingliederungshilfe, um die Reform, die uns so wichtig ist, geht.
Für Menschen mit Behinderung muss es selbstverständlich sein, dass sie Hilfen aus einer Hand bekommen.
({2})
Wir brauchen meiner Ansicht nach vor allem eine unabhängige Beratung. Wir brauchen aber auch Leistungen, die für jeden Menschen immer von einer Ansprechpartnerin oder einem Ansprechpartner einer Behörde
erbracht werden.
({3})
In unserer modernen technologisierten Welt muss es
möglich sein, dass sich die Akten und die Abläufe bewegen und nicht die Menschen ihren Leistungen nachlaufen. Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen.
({4})
Beauftragte der Bundesregierung Verena Bentele
Unsere Unternehmerinnen und Unternehmer in Deutschland müssen ebenfalls die Hürden immer noch selbst beseitigen, wenn sie die Potenziale und Fähigkeiten von
Menschen mit Behinderung sehen und einsetzen wollen.
Es muss aber für Unternehmen, die Menschen mit Behinderung beschäftigen wollen, weil sie deren Kompetenzen erkennen und sie damit als großen Gewinn ansehen, möglich sein, sie einstellen zu können, ohne dass
ihnen Steine in den Weg gelegt werden.
({5})
Für mich ist jedenfalls klar: Arbeit muss sich lohnen,
und zwar für alle Menschen, auch für Menschen mit Behinderung. Das erreichen wir nur, wenn wir endlich die
Einkommens- und Vermögensanrechnung abschaffen.
({6})
Für Menschen mit Behinderung ist es heute nicht möglich, ein Vermögen anzusparen, für die Ausbildung der
Kinder zu sorgen oder, wie vielleicht viele von Ihnen
schon geplant haben, einen Weihnachtsurlaub zu machen; denn dafür fehlt schlicht das Geld. Mit 2 600 Euro
ist schnell eine Grenze für Wünsche und Träume erreicht, selbst wenn wir keinen übermäßigen Anspruch
haben. Lassen Sie uns dafür sorgen, dass jeder Mensch
von seinem Einkommen und Vermögen so viel haben
darf und haben kann - auch wenn er einen hohen Assistenzbedarf hat -, dass am Ende des Tages auch eine
selbstbestimmte Teilhabe durch eigene Mittel möglich
ist.
({7})
Darüber hinaus dürfen wir natürlich die Kinder und
Jugendlichen nicht vergessen. Ich plädiere deswegen
ganz eindeutig für die sogenannte große Lösung.
({8})
Kinder und Jugendliche sind in erster Linie Kinder
und Jugendliche. Sie sollen unter dem Dach der Kinderund Jugendhilfe ihre Unterstützung bekommen und als
Kinder und als Jugendliche behandelt und gesehen werden. So setzen wir die UN-Behindertenrechtskonvention
um.
({9})
Das bringt mich zu meinem letzten Punkt. Am 7. Juli
2011 wurde hier im Deutschen Bundestag beschlossen,
dass Kinder und Jugendliche, die in Heimen der Behindertenhilfe Missbrauch erlitten haben, nicht weiter aus
dem Heimerziehungs-Fonds ausgeschlossen werden sollen. Lassen Sie uns hier - darum bitte ich inständig eine Lösung suchen, um auch diese Menschen mit Behinderung zu entschädigen, und dafür sorgen, dass auch
sie einen Ausgleich für erlittenes Leid bekommen.
({10})
Für mich ist dieser Tag ein guter Tag. Viele Organisationen und Verbände der Menschen mit Behinderung
werden heute Veranstaltungen und Aktionen machen,
bei denen ich den einen oder die andere von Ihnen mit
Sicherheit sehe. Ich freue mich auf gute Diskussionen
und darauf, dass wir das, was wir heute planen und wofür wir heute einstehen, auch tun.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche uns allen einen guten Internationalen Tag für die
Rechte der Menschen mit Behinderung.
({11})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Katrin Werner, Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau
Bentele, am 3. Dezember 1993 wurde der Welttag der
Menschen mit Behinderungen ins Leben gerufen. Viel
ist zumindest seitdem auf dem Papier passiert. Wir haben eine UN-Behindertenrechtskonvention, die allen
Menschen mit Behinderungen die gleichen Rechte zuspricht wie auch Menschen ohne Behinderung. Aber an
deren Umsetzung mangelt es.
({0})
Wir haben ein Behindertengleichstellungsgesetz, das einer Überarbeitung bedarf. Wir haben ein Allgemeines
Gleichbehandlungsgesetz, einen neuen Teilhabebericht,
einen laufenden Prozess zu einem Bundesteilhabegesetz
und vieles mehr.
Aber ist der heutige Welttag der Menschen mit Behinderungen der Bundesregierung wirklich wichtig? Letzte
Woche wurde eine Debatte zum heutigen Tag vereinbart,
und zwar mit einer Debattenzeit von nur 38 Minuten.
Warum nicht mehr? Die aktuellen Anträge der Oppositionsparteien werden einfach diese Woche Donnerstag
irgendwann zu später Stunde unter Tagesordnungspunkt 33 „Abschließende Beratungen ohne Aussprache“ behandelt.
Meine Damen und Herren, wir sind in Deutschland
noch meilenweit von einer inklusiven Gesellschaft entfernt, an der jeder Mensch selbstbestimmt und gleichberechtigt teilhaben kann - egal ob jung oder alt, egal ob
mit Beeinträchtigung oder ohne, egal ob mit Migrationshintergrund oder ohne.
Seien wir alle hier doch mal ehrlich zu uns selber. Zur
Schaffung einer inklusiven Gesellschaft bedarf es auch
eines Blicks in die Kommunen. Was hilft den Kommunen ein Nationaler Aktionsplan auf Bundesebene, was
hilft ihnen ein Aktionsplan auf Landesebene, wenn es an
den entsprechenden Maßnahmen für Barrierefreiheit vor
Ort mangelt? In Kindergärten, Schulen, Turnhallen
wurde jahrelang zu wenig investiert; der Putz fällt von
den Wänden, oder es muss wegen Schimmelbefall geKatrin Werner
schlossen werden. Unsere Straßen sind marode. Investieren Sie endlich bedarfsorientiert in eine barrierefreie Infrastruktur!
({1})
Deutschland wird sich im März 2015 einer Prüfung
durch die UN unterziehen. Ich bin mir sicher, dass sich
dabei herausstellen wird: Der deutschen Behindertenpolitik fehlt weitgehend die Menschenrechtsperspektive.
Das trifft zum Beispiel Flüchtlinge mit Behinderungen
besonders hart. Es mangelt an barrierefreien Erstaufnahmeeinrichtungen und auch an angemessener ärztlicher
Versorgung und vielem mehr. Das, meine Damen und
Herren, ist nicht mehr hinnehmbar!
({2})
In den kommenden 15 Tagen begehen wir drei UNMenschenrechtstage: den heutigen Welttag der Menschen mit Behinderung, am 10. Dezember den Welttag
der Menschenrechte und am 18. Dezember den Internationalen Tag der Migrantinnen und Migranten. Das ist
gut so, und das begrüßen wir alle ausdrücklich.
Frau Bentele, Ihre Wünsche haben wir alle vernommen, und ich möchte, dass wir gemeinsam dafür streiten,
sie zu erfüllen.
({3})
Ich möchte einen Teil der Forderungen vonseiten der
Linken wiederholen:
Die Behindertenpolitik der Bundesrepublik muss
konsequent unter einen Menschenrechtsblickwinkel gestellt werden.
({4})
Es kann nicht sein, dass Menschen mit Behinderung aufgrund eines Bedarfs an Assistenz armgemacht werden.
Wie notwendig es ist, daran etwas zu ändern, hat die
Trierer Richterin Nancy Poser in der Anhörung am eigenen Beispiel dargestellt: Sie darf nicht mehr als
2 600 Euro ansparen; jede Summe darüber hinaus wird
ihr abgezogen. Was macht sie, wenn mal das Auto kaputt
ist? Wer soll das finanzieren? Sie muss immer wieder
auf ihre Eltern zurückgreifen. Meine Damen und Herren,
das darf nicht sein!
({5})
Wir fordern eine den Bedürfnissen entsprechende einkommens- und vermögensunabhängige persönliche Assistenz für alle Lebenslagen und gesellschaftlichen Bereiche.
({6})
Das bedeutet: Assistenz in der Kindertagesstätte, Assistenz im Praktikum, Assistenz bei der Erziehung von
Kindern, aber auch Assistenz im Ehrenamt.
Wir fordern eine Überprüfung aller Bundesgesetze.
Schließlich hat sich die Bundesregierung mit der Unterzeichnung der Behindertenrechtskonvention dazu verpflichtet, alle Gesetze entsprechend der Konvention anzupassen.
({7})
Wir fordern die freie Wahl von Wohnort und Wohnform. Niemand darf aufgrund seines hohen Assistenzbedarfs gezwungen werden, im Heim zu leben.
Wir fordern, dass Flüchtlingen mit Behinderungen die
gleichen Rechte eingeräumt werden wie anderen Menschen mit Behinderungen.
Wir fordern Leistungen aus einer Hand und nicht
von verschiedenen Ämtern. Und ja, schaffen Sie den
Dschungel an Bürokratie ab!
({8})
Wir fordern eine stärkere Förderung von Integrationsbetrieben und die Schaffung von Alternativen zu Werkstätten für Menschen mit Behinderung.
Wir fordern, dass die Menschenrechte von Menschen
mit Behinderung nicht länger unter Kostenvorbehalt gestellt werden. Die schwarze Null darf nicht weiter im
Zentrum stehen, wenn sie die Umsetzung der Behindertenrechtskonvention verhindert.
({9})
Wir müssen die Brille des Geldes absetzen und weg von
der schwarzen Null des Herrn Finanzminister, der sich
die schwarze Null heute noch schönredet, die aber unseren Kindern morgen auf die Füße fällt.
Ich weiß, ich habe meine Redezeit überzogen; aber
ich möchte mit einem Appell an uns alle schließen: Gehen wir alle am Montag in unsere Wahlkreise und machen wir uns stark für die Erstellung und Umsetzung von
bedarfsorientierten kommunalen Aktionsplänen! Bitte
verneinen Sie nicht von vornherein die Erfüllung wichtiger Forderungen mit dem Argument der Kosten.
Danke.
({10})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Uwe Schummer, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Verehrtes Präsidium! Meine Damen! Meine Herren!
Dass wir die Parlamentswoche mit einer Debatte anlässlich des Internationalen Tags der Menschen mit Behinderungen starten, zeigt die Gewichtigkeit dieser Debatte.
Ob wir jetzt 31 Minuten oder 45 Minuten debattieren,
das ist marginal. Entscheidend ist, dass unsere Worte
und Taten überzeugen, dass wir die Herzen und Köpfe
der Menschen erreichen und dass die Große Koalition
ihre Projekte zur Inklusion in der Gesellschaft mit der
Bundesregierung zügig vorantreibt. Hier wurde bereits
ein gutes Stück Arbeit geleistet. Deshalb bin ich froh,
dass diese Debatte zu diesem Zeitpunkt geführt wird.
Das zeigt, wie wichtig uns dieses Thema ist.
({0})
Zurzeit leben in Deutschland 7 Millionen Menschen
mit einer anerkannten Schwerbehinderung, davon erhalten etwa 700 000 Menschen, die eine wesentliche
Einschränkung haben, Leistungen aus der Wiedereingliederungshilfe. Nur 5 Prozent der Menschen mit Behinderungen ist diese Behinderung angeboren, bei
95 Prozent ist sie im Laufe des Lebens eingetreten, und
dies kann jeden Menschen treffen.
Bei vielen Diskussionen und Veranstaltungen im Behindertenbereich stelle ich fest, dass sich eine Gruppe
von etwa 10 Prozent intensiv mit dem Thema Behinderung beschäftigt, wir aber immer noch Probleme haben,
die übrigen 90 Prozent der Gesamtgesellschaft zu erreichen. Wir brauchen insofern eine Gesinnungsreform,
eine Zuständereform, wir müssen Aufklärungsarbeit
leisten, diskutieren und informieren. Hier sind wir alle
gefordert. Lassen Sie uns den heutigen Internationalen
Tag der Menschen mit Behinderung nutzen, um zu helfen, dass Projekte vor Ort umgesetzt werden, und um das
Thema in die Mitte der Gesellschaft zu tragen.
Die Reform der Eingliederungshilfe ist ein Großprojekt der Großen Koalition. Die Zielsetzung ist: So viel
Teilhabe wie möglich, so viel Unterstützung wie nötig.
Selbstbestimmung, Wahlfreiheit und persönliche Entfaltung - das sind Grundsätze eines modernen Teilhaberechts.
Wer es in der Zukunft besser machen will, der muss
auch die Vergangenheit aufarbeiten. Ich bin schon etwas
erschrocken, dass dem Vorschlag des Bundes, einen
zweiten Entschädigungsfonds für missbrauchte behinderte Heimkinder zu bilden - die Kirchen haben schon
signalisiert, dabei mitzumachen -, nur Bayern zugestimmt hat, während alle anderen Bundesländer derzeit
aber auf der Bremse stehen.
({1})
Hier stehen wir alle in der Pflicht. Wer sich schon auf
Landesebene nicht durchsetzt oder nicht die richtige Philosophie umsetzen will, der wird natürlich auch bei einem so großen Projekt wie der Schaffung eines Teilhabegesetzes nicht vorneweg gehen. Ich appelliere an uns
alle, die Ministerpräsidenten in den jeweiligen Bundesländern aufzufordern, zügig eine Regelung für die Entschädigung missbrauchter behinderter Heimkinder auf
den Weg zu bringen.
({2})
Etwa 1 Million schwerbehinderter Menschen arbeiten auf dem ersten Arbeitsmarkt; zwei Drittel dieser
986 000 Menschen in privaten Unternehmen. 300 000
sind in Werkstätten tätig. Die Ausgleichsabgabe umfasst
ein Gesamtvolumen von 531 Millionen Euro im Jahr.
Davon werden etwa 167 Millionen Euro von den Unternehmen abgerufen, um die Finanzierung der behindertengerechten Umgestaltung von Arbeitsplätzen sicherzustellen. Eine Umfrage des Handelsblattes hat nun
ergeben, dass offenkundig jedem vierten Unternehmer
die Möglichkeit, Finanzhilfen aus dem Ausgleichsfonds
zu erhalten, nicht bekannt ist. Es ist schon merkwürdig,
dass ich als Unternehmer weiß, dass ich bezahlen muss,
wenn ich die Quote nicht erfülle, aber nicht weiß, dass
ich aus dem Fonds Geld entnehmen kann, damit ich im
eigenen Betrieb für Barrierefreiheit sorgen kann, um damit motivierte Beschäftigte an mein Unternehmen zu
binden.
Deshalb ist die Aufklärungsarbeit auf dem ersten Arbeitsmarkt so wichtig; denn schwerbehinderte Menschen
im Unternehmen sind ein großes Potenzial, das es auszubauen gilt. Darauf hinzuweisen, ist eine ganz wichtige
Maßnahme, die wir uns auch am heutigen Tag ins Gedächtnis rufen sollten. Es darf keine Unternehmen ohne
Barrierefreiheit geben. Viele finanzielle Hilfen sind
möglich, um schwerbehinderte Menschen zu beschäftigen. Es muss nur bekannt gemacht werden, dass es sie
gibt. 82 Prozent der Unternehmer, die schwerbehinderte
Menschen beschäftigen, sagen - so das Handelsblatt -:
Es gibt keinen Leistungsunterschied zu anderen Beschäftigten; es handelt sich vielmehr um motivierte, qualifizierte und hochproduktive Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. - Das sollte auch den anderen Unternehmen
eine Lehre sein, ihre Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung menschengerecht umzugestalten.
({3})
Ich möchte an dieser Stelle den Zehntausenden von
Schwerbehindertenvertretern gratulieren, die in diesen
Tagen ihre Ämter neu übernehmen. Bis Ende November
wurden die Schwerbehindertenvertreterwahlen durchgeführt. Die Schwerbehindertenvertreter sind für die soziale Struktur der Unternehmen wichtig und besitzen
viel Kompetenz. Sie wissen, wie man aus dem Ausgleichsfonds Gelder für die Ausgestaltung menschengerechter Arbeitsplätze abruft, sie wissen, wie man auch
chronisch Kranke im Unternehmen halten kann, sie wissen, wie man Frühverrentungen vermeiden kann, wie
man das Erwerbspotenzial in den Unternehmen sichert.
Sie leisten eine starke, eine wichtige Aufgabe in den Betrieben und Verwaltungen. Deshalb noch einmal: Gratulation an alle neu gewählten Schwerbehindertenvertreter
in Deutschland.
({4})
Zum Schluss möchte ich das Thema Einkommen und
Vermögen ansprechen. Die Vermögensgrenze in Höhe
von 2 600 Euro ist 15 Jahre alt. Es muss auch ein Recht
auf ein Sparbuch geben. Wenn wir ein modernes Teilhaberecht miteinander entwickeln wollen, gehört diese Regelung auf den Prüfstand. Hier müssen wir einen großen,
einen guten Schritt nach vorne machen.
({5})
Teilhabe bedeutet neue Perspektiven, gute Perspektiven für jeden einzelnen Menschen, aber auch für unsere
Gesellschaft. Deshalb ist es gut, dass wir heute diese Debatte miteinander führen.
({6})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Corinna Rüffer, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau
Bentele! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Bentele,
ich danke Ihnen erst einmal sehr, dass Sie ganz viele
Forderungen, die wir alle, die wir fachlich mit dem Bereich der Behindertenpolitik beschäftigt sind, teilen,
genannt haben. So muss ich sie nicht mehr nennen.
Wir, die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, teilen das zu
100 Prozent.
({0})
Ich möchte meine beschränkte Redezeit darauf verwenden, auch Sie, Frau Bentele, in die Niederungen der
parlamentarischen Arbeit zu entführen. Stellen Sie sich
alle einmal bitte Folgendes vor: Sie besuchen eine
fremde Stadt und suchen, sagen wir mal, eine Jugendherberge. Die Frau, die mit einem Stadtplan in der Hand
dort steht, antwortet Ihnen auf Ihre Frage: Ich bin gerade
in einem Beteiligungsprozess mit einer Reihe von Expertinnen und Experten. Über den Weg zur Jugendherberge reden wir in einer Woche. Über den Verlauf unseres Gespräches informiere ich Sie gerne über das
Internet. Hier ist die Adresse. - Jetzt würden Sie wahrscheinlich nachfragen: Können Sie mir denn nicht jetzt
schon sagen, welcher Weg aus Ihrer Sicht der gute, der
beste ist? Sie haben doch einen Stadtplan in der Hand.
Welche Möglichkeiten gäbe es? - Wenn sich die Dame
ein Beispiel an unserer Bundesregierung nehmen würde,
würden Sie auf diese Frage keine Antwort bekommen.
So erging es meiner Fraktion zuletzt vorgestern, als
wir einige inhaltliche Nachfragen zum geplanten Teilhabegesetz gestellt haben. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen aus SPD und Union, haben sich vorgenommen,
Teilhabeleistungen für Menschen mit einer wesentlichen
Behinderung aus dem Fürsorgerecht zu lösen. In diesem
Zusammenhang sollen auch die Kommunen finanziell
entlastet werden. Das ist gut. Wir wollten nun von der
Bundesregierung wissen, wie sie beides miteinander verknüpfen möchte, und haben, wie es hier so üblich ist,
eine Kleine Anfrage gestellt. Mehr als erstaunt mussten
wir aber feststellen: Ein Jahr nach der Unterzeichnung
des Koalitionsvertrags ist die Bundesregierung nicht in
der Lage, eine einzige inhaltliche Frage zu ihrer Reform
zu beantworten. Was wären Vor- und Nachteile eines bestimmten Vorschlags für behinderte Menschen? Was wären die Vor- und Nachteile für Bund, Länder und Kommunen? Die Bundesregierung verrät es nicht. Sie möchte
zumindest mit uns nicht darüber sprechen.
Und warum nicht? Da wird es jetzt interessant: Sie
begründet ihre Verweigerung, die Vor- und Nachteile
verschiedener Vorschläge zu beschreiben, damit, dass sie
ihrem Beteiligungsprozess nicht vorgreifen möchte. Sie
habe sich verpflichtet, Menschen mit Behinderungen
und ihre Verbände am Gesetzgebungsprozess zu beteiligen.
({1})
Das finde ich sehr gut.
({2})
Es ist eine sinnvolle Selbstverpflichtung, diejenigen zu
beteiligen, die hinterher vom Ergebnis betroffen sein
werden.
({3})
Genauer beschreibt das Artikel 4 der viel zitierten Behindertenrechtskonvention, aus der ich jetzt zitieren
möchte:
Bei der Ausarbeitung … von Rechtsvorschriften
und politischen Konzepten zur Durchführung dieses Übereinkommens … führen die Vertragsstaaten
mit den Menschen mit Behinderungen … über die
sie vertretenden Organisationen enge Konsultationen und beziehen sie aktiv ein.
So wird aus der Selbstverpflichtung ganz schnell eine
völkerrechtliche Verpflichtung.
Es ist gut, wenn sich die Bundesregierung an völkerrechtliche Verpflichtungen hält; meinetwegen darf sie
diese auch als Selbstverpflichtungen verkaufen. Es ist
aber nicht gut, wenn sie sich die Freiheit herausnimmt,
inhaltliche Fragen nicht mehr mit den Abgeordneten dieses Hauses zu besprechen und zu debattieren.
({4})
Es reicht nicht aus, wenn wir hier nur deshalb eine Debatte führen, weil heute der Internationale Tag der Menschen mit Behinderung ist. Wir sollten Debatten führen,
in denen wir über Lösungen streiten. Diese Debatten
können nicht nur in einer AG in einem Ministerium geführt werden.
({5})
Für uns Grüne ist klar: Der Bund muss die Finanzierung der Teilhabeleistungen anteilig übernehmen, syste6808
matisch und dauerhaft. Wir haben darüber hinaus in diesem Jahr weitere Reformvorschläge unterbreitet. Wir
möchten ein Sofortprogramm für Barrierefreiheit und
gegen Diskriminierung. Wir möchten eine echte Wahl
zwischen einem Arbeitsplatz in einer Werkstatt für behinderte Menschen und einem Arbeitsplatz auf dem ersten Arbeitsmarkt ermöglichen.
({6})
Über einige unserer Vorschläge wird diese Woche
hier abgestimmt. Liebe Kolleginnen und Kollegen von
der Union und von der SPD, stimmen Sie zu! Hören Sie
auf, die Beteiligung behinderter Menschen an diesem
Reformprozess vorzuschieben, um sich vor einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit der Opposition zu drücken!
({7})
Es ist nicht nur legitim, sondern es ist auch gut, dass
die Bundesregierung mit Verbänden, mit den Rehaträgern, mit Vertretern aus Ländern und Kommunen über
diese Reform berät. Genauso legitim, sinnvoll und gut ist
es, im Parlament über verschiedene Wege zu guten Lösungen zu streiten, und zwar nicht erst zu dem Zeitpunkt,
zu dem die Meinungsbildung abgeschlossen ist. Man
nennt das Demokratie.
Vielen Dank.
({8})
Wollen Sie eine Kurzintervention dazu machen, Herr
Dr. Rosemann? - Bitte.
Herr Präsident! Liebe Kollegin Rüffer, Sie haben den
Koalitionsfraktionen eben vorgeworfen, dass sie sich inhaltlich nicht mit Ihren Vorschlägen auseinandersetzen
würden. Ich finde diesen Vorwurf falsch und will ihn
entschieden zurückweisen.
({0})
Wir diskutieren und debattieren über Ihre Anträge; wir
haben eine Anhörung dazu durchgeführt, wir diskutieren
sie im Ausschuss, wir debattieren sie im Plenum, und
wir nehmen dazu auch Stellung. Was wir aber nicht tun,
ist, abschließend darüber abzustimmen und hier etwas zu
beschließen, wodurch wir den Beteiligungsprozess quasi
ad absurdum führen und die Ergebnisse, über die wir gemeinsam mit den betroffenen Menschen diskutieren
wollen, vorwegnehmen würden.
({1})
Mögen Sie darauf antworten, Frau Kollegin Rüffer?
Ja, aber hallo!
Bitte schön.
Wenn ich diese Gelegenheit schon einmal bekomme,
mache ich das sehr gerne. - Herr Rosemann, das, was
Sie sagen, ist ganz richtig. Es gab auch Treffen mit Frau
Lösekrug-Möller im Ministerium, und an der einen oder
anderen Stelle besprechen wir auch Dinge. Aber hier im
Plenum funktioniert das eher nicht so gut. Ich glaube,
das Diskutieren über konkrete Vorschläge hier im Plenum ist noch ausbaufähig.
Das, worauf ich Bezug genommen habe, ist eine von
mehreren Kleinen Anfragen, die meine Fraktion an die
Bundesregierung gerichtet hat. Die Antworten waren
mehr als dürftig. Aus den Antworten lässt sich herauslesen, dass Sie sich weigern, sich intensiv mit den Fragestellungen auseinanderzusetzen bzw. uns darüber zu informieren, wie Ihre Vorstellungen dazu sind. Ich kann
Ihnen diese Kleinen Anfragen gerne übermitteln.
({0})
Als Begründung - dazu habe ich gerade genug gesagt steht darin: Wir befinden uns in einem Beteiligungsprozess mit den Verbänden etc. - Dazu habe ich gesagt: Das
finde ich richtig und gut. Aber das ersetzt nicht die Auseinandersetzung in dem Parlament, in dem wir uns hier
befinden.
({1})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Kerstin Tack, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Verena
Bentele, vor fünf Jahren ist die UN-Behindertenrechtskonvention hier in Deutschland ratifiziert worden. Das
war ein ganz wesentlicher Meilenstein für die Interessen
der behinderten Menschen und ihre Rechtsstellung in
Deutschland.
Die Inklusion, die mit der UN-Behindertenrechtskonvention auch in Deutschland Einzug gehalten hat, ist ein
Paradigmenwechsel gewesen; denn bisher hatten wir im
Rahmen der Integration immer gefragt: Was muss der
einzelne Mensch tun, um in ein bestehendes System integriert zu werden? Mit der Inklusion drehen wir diese
Fragestellung um und fragen: Wie müssen sich die Systeme verändern, damit jeder an und in ihnen teilhaben
kann? Das alleine war schon ein wesentlicher Baustein,
um Inklusion auch in Deutschland inhaltlich zu begründen.
Wenn wir uns angucken, wo wir heute, nach fünf Jahren UN-Behindertenrechtskonvention, stehen, dann stellt
sich zum einen die Frage: Was müssen wir gesetzlich regeln? Welchen Auftrag haben wir für die Definition eines Handlungsrahmens? Zum anderen geht es um die
Frage: Wie ist es um das Bewusstsein in der Gesellschaft
für eine inklusive und damit eine sich öffnende Gesellschaft bestellt?
Im November wurde eine Studie des Allensbacher Instituts veröffentlicht, die im Auftrag der Bundesvereinigung Lebenshilfe durchgeführt wurde. Sie enthält erfreuliche und weniger erfreuliche Ergebnisse: 22 Prozent
sagen, sie haben von der UN-Behindertenrechtskonvention noch nichts gehört. Das sind ganz schön wenige.
40 Prozent sagen, dass sie in ihrem Familien-, Bekannten- oder Verwandtenkreis entsprechende Kontakte haben.
Aber 50 Prozent geben an, Berührungsängste gegenüber
Menschen mit Behinderungen zu haben, insbesondere
gegenüber Menschen mit einer geistigen Behinderung,
und gar 62 Prozent sagen, sie glauben, dass eine gesellschaftliche Teilhabe nur beschränkt möglich ist.
Daran erkennen wir, wie groß die Notwendigkeit ist,
dass wir unsererseits gute Rahmenbedingungen schaffen, aber auch, wie sehr eine entsprechende Bewusstseinsbildung in der Gesellschaft erforderlich ist, damit
wir mit unserem Gesamtanliegen - mit beiden Bereichen - weiterkommen.
({0})
Deshalb haben wir uns auch in dieser Legislaturperiode beeindruckend viel vorgenommen: Das BGG wird
verändert, wir werden für die Barrierefreiheit einiges
tun, wir werden das AGG bearbeiten, und wir werden im
Petitionsausschuss Barrierefreiheit herstellen. An über
20 Stellen des Koalitionsvertrages stehen konkrete Maßnahmen für Menschen mit Behinderungen; dies werden
wir umsetzen.
Das wichtigste Vorhaben wird aber sicherlich das
Bundesteilhabegesetz sein. Es wird sich daran messen
lassen müssen, ob damit tatsächlich ein Paradigmenwechsel vollzogen wird - hin zu der Sichtweise des versorgenden, des fürsorgenden Staates - und ob wir die
Teilhabe, die Selbstbestimmung und das Wunsch- und
Wahlrecht tatsächlich in geltendes Recht umsetzen können und damit im Sinne der Menschen mit Behinderungen in unserem Land einen wirklich echten Schritt vorwärtskommen.
({1})
Deshalb haben wir uns vorgenommen, innerhalb des
Gesetzes klar zu sagen: Das Wunsch- und Wahlrecht ist
das A und O, wenn es darum geht: Wie will ich leben?
Wo will ich leben? Wo und wie will ich arbeiten? Wo
möchte ich mich gesellschaftlich beteiligen? Wir sagen:
Das Wunsch- und Wahlrecht ist die wesentliche Voraussetzung für die Gewährleistung von Teilhabe. Deshalb
steht das ganz klar im Fokus und im Grunde genommen
als Überschrift über dem Gesetz.
Wir sagen aber auch: Wir wollen, dass die Geldleistungen zur Teilhabe entsprechend den Wünschen an die
jeweiligen Personen und nicht einrichtungszentriert ausgezahlt werden. Für uns ist völlig klar, dass es in
Deutschland keine unterschiedliche Bedarfsermittlung
geben kann, wenn es um die entsprechenden Belange
geht. Egal ob ich in Berlin oder in Bayern lebe: Es muss
eine Standardisierung bei der Frage geben, wie eine Bedarfsermittlung vorzunehmen ist. Wir müssen weg von
über 600 Verfahren zur Bedarfsermittlung, die es im Moment gibt.
Einer der wesentlichen Punkte sind an dieser Stelle
bundeseinheitliche Standards für eine gute, flächendeckend in Deutschland angewandte einheitliche Bedarfsermittlung; diese brauchen wir dringend.
({2})
Frau Bentele hat es schon sehr deutlich gesagt, und
auch uns geht es darum, dass Einkommen und Vermögen
für den Nachteilsausgleich eingesetzt werden, also für
die soziale Teilhabe, und nicht für den Lebensunterhalt.
Das ist unser Anliegen. Wir wollen die soziale Teilhabe
gewähren, unabhängig von Einkommen und Vermögen.
({3})
Außerdem wollen wir selbstverständlich ein Recht
auf Sparen. Warum auch nicht? Jeder, der arbeitet - das
gilt auch für eine Werkstatt für Menschen mit Behinderungen -, muss das Recht haben, Geld zurückzulegen.
Das halten wir für selbstverständlich. Deshalb werden
wir an diese Sache herangehen. Wir haben hier die
Schnittstellen zur Pflege und zur Gesundheitsversorgung
sowie zum SGB VIII im Blick; das ist bereits gesagt
worden.
Ich will zum Schluss sagen, dass wir von den Ländern
enttäuscht sind, die sich bei der Arbeits- und Sozialministerkonferenz in der vergangenen Woche mit großer
Mehrheit dagegen entschieden haben, sich an einem
Fonds für Kinder aus Heimen der Behindertenhilfe zu
beteiligen. Wir erwarten, dass es in dieser Richtung Bewegung gibt. Genauso wie wir einen Fonds für die Kinder aus Erziehungsheimen in Ost und West eingerichtet
haben, wollen wir auch für behinderte Kinder einen entsprechenden Fonds erreichen; selbstverständlich. Deswegen ist unsere deutliche Erwartung an die Länder, sich
hier nicht aus der Solidarität und der Gemeinschaftsaufgabe zu verabschieden, sondern für eine gute Ausstattung des Fonds zu sorgen.
Herzlichen Dank.
({4})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Frau Dr. Astrid Freudenstein, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Frau Bentele! Meine Damen und Herren! Heute ist der Internationale Tag der Menschen mit
Behinderung. An diesem Tag könnten wir uns darauf zurückziehen, ausschließlich über die Lage hier bei uns in
Deutschland zu sprechen. Ich meine aber, es ist an diesem Internationalen Tag der Menschen mit Behinderung
angemessen, einen Blick über die Grenzen zu werfen.
({0})
80 Prozent der Menschen mit Behinderungen weltweit leben in Entwicklungsländern. Sie erhalten dort in
aller Regel keine ausreichende medizinische Grundversorgung, keine Hilfsmittel, keine Sozialleistungen. Sie
werden diskriminiert, ausgegrenzt und nicht selten verfolgt. Viele Menschen mit Behinderungen auf der Welt
haben kaum Möglichkeiten, überhaupt am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Dabei sind es im Übrigen vor
allem Frauen und Kinder, die es besonders hart trifft.
Wenn wir es mit gleichberechtigter Teilhabe ernst
meinen, dann müssen wir diese Überlegungen in unsere
Außen- und Entwicklungspolitik einbeziehen. Ich bin
wirklich froh, dass wir dies auch in unserem Koalitionsvertrag so vereinbart haben:
Die Einbeziehung von Menschen mit Behinderungen soll in der Entwicklungszusammenarbeit stärker verankert und systematischer ausgestaltet werden.
Das ist sicher der richtige Weg.
({1})
Gleichzeitig lässt der Blick über die Grenzen auch
eine gute Einordnung dessen zu, was wir hier in
Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten erreicht
oder eben nicht erreicht haben. Seit es die Bundesrepublik gibt, gab es nie die eine Behindertenhilfe. Das System hat sich stark und oft verändert. Es bestand und besteht aus vielen unterschiedlichen Instrumenten. Dabei
waren es nie Revolutionen, sondern immer Reformen,
die uns den Weg bis zum heutigen Stand geebnet haben.
Überholte Vorstellungen darüber, was Behinderte können oder auch nicht können, sind verschwunden. Neue
Ideen, ein neues Denken haben Einzug gehalten.
Wir haben heute in unserem Land ein breit gefächertes System von Diensten, Einrichtungen und Hilfen, das
Menschen mit Behinderungen Unterstützung gewährt
und ihnen Teilhabe ermöglicht. Gleichzeitig - das ist gut
so - diskutieren wir zurzeit sehr viel darüber, wie wir es
noch besser machen können.
Welche Ideen verfolgen wir? Es geht nicht mehr in
erster Linie um die Frage, wie wir Menschen mit Behinderungen ein besseres Leben bereiten können, sondern
uns treibt die Idee um, wie wir Menschen mit Handicap
ein möglichst selbstbestimmtes Leben ermöglichen können. Hier hat die UN-Behindertenrechtskonvention mit
Sicherheit sehr wertvolle Impulse gegeben.
Nun können wir Behinderung nicht quasi per Gesetz
oder Verordnung auflösen. Wir sollten in unseren Diskussionen auch nicht so tun, als müssten wir nur Bordsteine absenken und alle Kinder in das gleiche Klassenzimmer setzen, und schon wäre das Problem gelöst. Das
wäre sicher falsch.
Wir sollten uns auch davor hüten, die Inklusionsdebatte zum Beispiel dafür zu missbrauchen, den Leistungsgedanken in unseren Schulen auszuhebeln. Die
Mutter, die ihr Kind mit Downsyndrom an das Gymnasium bringen will, tut dem Kind, so meine ich, nichts
Gutes.
({2})
Wir müssen gemeinsam dafür sorgen, dass die gesellschaftlichen Umstände weiterhin so gestaltet werden,
dass jeder - und zwar ganz egal ob behindert oder nicht
behindert - nach seinen individuellen Fähigkeiten leben,
lernen und arbeiten kann.
({3})
Wir müssen die Betroffenen unterstützen und stärken,
damit sie gleichberechtigt teilhaben können.
Um diesen eingeschlagenen Weg in Deutschland weiterzugehen, werden wir das Bundesteilhabegesetz verabschieden. Damit sollen die guten Ansätze in unserem
Land weiter intensiviert und die Menschen mit Behinderung in ihren Bedürfnissen gestärkt werden.
Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Rüffer zulassen, oder möchten Sie weitersprechen?
Ich lasse die Zwischenfrage gerne zu.
Bitte schön, Frau Kollegin Rüffer.
Auch diese Gelegenheit möchte ich nicht ungenutzt
verstreichen lassen. Sie haben gerade gesagt, dass die
Mutter, die ein Kind mit Downsyndrom hat, ihrem Kind
keinen Gefallen tut, wenn sie es auf ein Gymnasium
schickt.
({0})
- Genau. Das ist nicht wahr. - Meine Frage dazu: Haben
Sie zur Kenntnis genommen, dass es mittlerweile Menschen mit Downsyndrom gibt, die einen Hochschulabschluss erreicht haben?
Grundsätzlich verfolgen wir sicher alle das Ziel, Kinder gemeinsam zu beschulen, sofern dies irgend möglich
ist. Das ist keine Frage. Ich meine aber nicht, dass es
grundsätzlich das Ziel sein muss, jeden zum Abitur zu
führen,
({0})
weil daraus eine gewisse Missachtung anderer Schulabschlüsse und anderer Bildungswege folgt.
({1})
Ich habe vorhin ganz bewusst die Wörter „intensivieren“ und „verstärken“ benutzt; denn ich meine, dass wir
einen Paradigmenwechsel, wie ihn viele vom Bundesteilhabegesetz erwarten, schon eingeleitet haben. In jedem Unternehmen, in dem Schwerbehinderte beschäftigt
sind, wird schon heute Inklusion betrieben, und zwar mit
einem beeindruckenden Engagement.
Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich allen Arbeitgebern, allen Eltern und Geschwistern, allen Lehrern
und Sozialarbeitern sowie allen Erziehern danken, die
sich schon heute in großem Maße für Menschen mit Behinderungen engagieren.
({2})
Es gibt schon heute eine ganze Reihe von Unternehmen in unserem Land, die sich der beruflichen Integration von Menschen mit Behinderungen verpflichtet haben, die das als Teil ihrer sozialen Verantwortung
ansehen, die ihre Belegschaft sensibilisieren und für ein
offenes Klima sorgen. Diese Unternehmen haben allerdings oft mit bürokratischen Hindernissen zu kämpfen.
An dieser Stelle muss die Politik meines Erachtens eingreifen.
Wir brauchen mehr engagierte Unternehmer, die einen hochengagierten Mitarbeiter, der jedoch einen Einhandbetrieb braucht, weil er handamputiert ist, einstellen.
Wir brauchen mehr Unternehmer, die einen engagierten
Mitarbeiter, der aber vielleicht eine große Tastatur
braucht, weil er sehbehindert ist, einstellen. Wir brauchen
Unternehmer, die Arbeitsplätze schaffen, auf denen man
vielleicht ein kleines bisschen langsamer sein darf.
Herzlichen Dank.
({3})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Gabriele Schmidt, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebes Präsidium! Liebe Gäste im
Bundestag! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir begehen seit 1993 diesen Gedenkund Aktionstag der Vereinten Nationen, um die Öffentlichkeit nicht vergessen zu lassen und um uns selbst daran zu erinnern, dass wir noch längst keine inklusive Gesellschaft sind. Wir sind aber auf dem Weg dorthin, auch
wenn es noch viel zu tun gibt.
({0})
Mir gefällt die Bezeichnung „Aktionstag“ um einiges
besser als die Bezeichnung „Gedenktag“; denn Gedenken allein reicht nicht aus. Taten sind es, auf die es ankommt, und dabei ist jeder Einzelne von uns gefragt.
Denn Selbstbestimmung der Menschen mit Behinderung, Chancengleichheit und Teilhabe am Leben in der
Gesellschaft stellen nach wie vor eine große Herausforderung dar.
Das Thema geht uns alle an. Eine Behinderung kann
uns schließlich jeden Tag selber treffen. Die meisten Beeinträchtigungen sind, wie schon angesprochen wurde,
nicht angeboren, sondern entstehen im Laufe des Lebens.
Was die Teilhabe am beruflichen Leben angeht, haben
wir wohl noch einen weiten Weg vor uns. Sicherlich gibt
es viele Firmen, die schon Vorbildliches tun; es sind aber
noch nicht genug.
({1})
Menschen mit Behinderungen sind hochmotiviert, engagiert und loyal. Viele sind sehr gut qualifiziert. Das hat
nicht nur gerade mein Kollege Uwe Schummer bestätigt,
sondern auch der Präsident der Bundesagentur für Arbeit
vorhin im Ausschuss. Also, liebe Arbeitgeber, schauen
Sie sich doch angesichts des Fachkräftemangels einmal
in dieser Richtung um!
({2})
Mich erreichen zahlreiche Anliegen von Bürgerinnen
und Bürgern aus dem Wahlkreis, die das Thema Barrierefreiheit zum Gegenstand haben. Barrierefreier Zugang
für Menschen mit Behinderungen zu Transportmitteln,
Informationen, Diensten und Einrichtungen ist essenziell
für ein selbstbestimmtes und zufriedenes Leben, und
zwar für die Menschen mit Behinderungen selbst wie
auch für ihre Angehörigen. Barrieren findet man überall;
danach braucht man nicht lange zu suchen.
Ich war kürzlich in einer Schule für gehörlose und gehöreingeschränkte Menschen und habe dort sehr viel gelernt über die spezifischen Probleme der Schülerinnen
und Schüler dort. Sie können zum Beispiel einen nächtlichen Rauchmelderalarm nicht hören. Ich war froh, ihnen
melden zu können, dass jetzt optische Rauchmelder mit
Lichtsignalen von den Krankenkassen bezahlt werden ein kleiner Mosaikstein auf dem Weg zu mehr Inklusion.
Bei der Deutschen Bahn habe ich - auch auf die Anregung dieser gehörlosen Schulkinder hin - angefragt,
ob man nicht den Inhalt der oft schwer hörbaren Durchsagen in Zügen und auf Bahnsteigen verstärkt auf den
dort meist vorhandenen Displays anzeigen könnte. Auch
dies ist ein geringer Aufwand unter Nutzung moderner
Gabriele Schmidt ({3})
Technik, der uns auf dem Weg zur Inklusion weiterbringt.
({4})
Wir müssen aber nicht nur sichtbare Barrieren abbauen; viel wichtiger sind die Barrieren in unseren Köpfen. Denn Inklusion beginnt genau da. Aufeinander zugehen, voneinander lernen, sich gegenseitig schätzen
lernen, Berührungsängste abbauen sind die Basis für das
Gelingen gleichberechtigter Teilhabe.
Kinder haben keine oder fast keine Berührungsängste.
Warum sollten Kinder mit und ohne Beeinträchtigungen
nicht zusammen spielen, malen, singen oder Fußball
spielen? Das geht ganz wunderbar. Davon habe ich mich
kürzlich in einem Musical überzeugen können, das von
Kindern einer Grundschule, einer Jugendmusikschule
und einer Förderschule der Lebenshilfe gemeinsam gestaltet wurde. Die Kinder haben nicht nur zusammen
gesungen und gespielt, sondern zuvor Kostüme genäht,
Requisiten gebastelt und vor allem Freundschaften geschlossen. Da saßen Kinder mit schwerster spastischer
Behinderung im Rollstuhl zusammen mit Kindern ohne
Behinderung rund ums Lagerfeuer. Sie haben Stockbrot
gebacken, und allen war anzusehen, dass es eine sehr,
sehr gelungene Veranstaltung war.
In Gesprächen mit verschiedenen Trägern, Vereinen,
Behindertenwerkstätten, Schulklassen und einzelnen
Personen, die ich im Wahlkreis und in Berlin geführt
habe, wurden viele gravierende Probleme genannt, mit
denen die Menschen mit Behinderungen und ihre Angehörigen jeden Tag zu kämpfen haben, oft auf sich allein
gestellt. Es geht schon damit los, dass sie oft den richtigen Ansprechpartner nicht finden können. Wir können
nur im Dialog Probleme gemeinsam benennen und lösen. Nicht umsonst heißt der wichtigste Leitsatz der UNBehindertenrechtskonvention: „Nicht ohne uns über
uns“. Für mich ist daher eines der wichtigsten Reformvorhaben in dieser Legislaturperiode die Formulierung
und Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes.
Geben Sie mir auch noch eine halbe Minute Redezeit,
Herr Präsident? Es blinkt schon so auffällig.
({5})
Weil Sie so freundlich nachgefragt haben. Die anderen Rednerinnen und Redner haben sich einfach darüber
hinweggesetzt. Deswegen kriegen Sie jetzt noch 30 Sekunden.
Ich bin noch nicht so ausgefuchst. Aber ich bin die
letzte Rednerin in dieser Debatte, die ich in der Tat für
sehr wichtig halte. Ich komme bald zum Schluss.
({0})
Ich werde nichts mehr zur Finanzierung der Vorhaben
sagen, zum Beispiel über die Kommunalentlastung. Ich
möchte Sie einfach nur bitten: Lassen Sie uns gemeinsam die Inklusion vorantreiben und dabei stets die Menschen und ihre Bedürfnisse im Blick haben. Wir haben
hohe Erwartungen bei den Betroffenen geweckt, und
diese müssen wir nun erfüllen. Das Thema der heutigen
Debatte lautet: „Mehr Teilhabe eröffnet neue Perspektiven“. - Ja, genau, neue Perspektiven für alle Menschen,
mit oder ohne Behinderungen.
Vielen Dank.
({1})
Schönen Dank. - Ich denke, es tut dem Deutschen
Bundestag und dem Thema gut, dass wir die Sitzungswoche mit dem Tagesordnungspunkt „Debatte anlässlich
des Internationalen Tages der Menschen mit Behinderungen - Mehr Teilhabe eröffnet neue Perspektiven“ begonnen haben.
Ich schließe nun die Aussprache.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Kabinettssitzung mitgeteilt: Erster Fortschrittsbericht Energiewende und Nationaler Aktionsplan Energieeffizienz.
Das Wort für den einleitenden Bericht hat der Bundesminister für Wirtschaft und Energie, Herr Sigmar
Gabriel. - Bitte schön, Herr Bundesminister.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die heutigen energiepolitischen Beschlüsse des Bundeskabinetts
sind ein wichtiger Meilenstein bei der weiteren Umsetzung der Energiewende. Mit den heutigen Entscheidungen gehen wir eine wichtige Aufgabe in dieser Legislaturperiode an, die im Wesentlichen darin besteht, die
häufig sehr unverbundenen Einzelprojekte der Energiewende in einen inneren Zusammenhang zu stellen und
sozusagen die Zahnräder mehr ineinandergreifen zu lassen. Der erste Beschluss, den wir heute gefasst haben,
betrifft den Fortschrittsbericht zur Energiewende. Im
Rahmen des Monitoringprozesses bewertet der Fortschrittsbericht den derzeitigen Stand und gibt erstmalig
auch Ausblick in die Zukunft. Vieles ist auf den Weg gebracht. Aber genauso viel ist noch zu tun. Ich will deswegen nur einige Themenfelder des Berichts herausgreifen.
Bei den erneuerbaren Energien sind wir in Deutschland auf dem von uns abgesteckten Zielkurs. Erneuerbare Energien sind zum ersten Mal die wichtigste Quelle
für Strom in Deutschland. Mit der EEG-Novelle haben
wir zum ersten Mal die Kostendynamik durchbrochen.
Nach 14 Jahren steigt die EEG-Umlage zum ersten Mal
nicht an.
Auch beim Energieverbrauch stehen wir gut da. Bereits heute haben wir in Deutschland das Wirtschaftswachstum vom Energieverbrauch entkoppelt. Wenn wir
aber nichts weiter unternehmen würden, würden wir die
Ziele 2020 verfehlen. Wir wollen 2020 einen um 20 Prozent geringeren Primärenergieverbrauch haben. Wenn
wir nichts weiter unternehmen würden, würden wir den
Primärenergieverbrauch nur um 10 Prozent senken. Deswegen haben wir heute im Bundeskabinett den Nationalen Aktionsplan Energieeffizienz beschlossen.
Bei der Reduktion der Treibhausgase gibt es eine
Reihe von Erfolgen. Wir halten in der Bundesregierung
- genauso wie der Deutsche Bundestag - an dem Ziel
fest, national bis 2020 die klimaschädlichen Treibhausgasemissionen um mindestens 40 Prozent zu reduzieren.
Nach aktuellen Prognosen reichen die bisher beschlossenen Maßnahmen allerdings auch hier nicht aus, um dieses Ziel zu erreichen. Deshalb zeigt die Bundesregierung
mit ihrem heute ebenfalls beschlossenen Aktionsprogramm Klimaschutz 2020 den Weg und vor allen Dingen
auch die Mittel auf, mit denen wir das nationale Minderungsziel bei den Treibhausgasemissionen erreichen
wollen.
Zu nennen ist hier vor allem der Nationale Aktionsplan Energieeffizienz, der deshalb von so großer Bedeutung ist, weil das Thema Energieeffizienz in den letzten
Jahren praktisch keine Rolle gespielt hat. Wir haben dort
eine Menge aufzuholen. Gleiches gilt auch für den
Stromsektor. Beide Bereiche sind für die Gesamtminderung der Treibhausgasemissionen von besonderer Bedeutung. Die Energieeffizienz war, wie gesagt, ein lange
vernachlässigtes Thema. Aber sie ist neben dem Ausbau
der erneuerbaren Energien die zweite Säule der Energiewende. Mit dem Aktionsplan Energieeffizienz haben wir
heute die Effizienzstrategie für die 18. Legislaturperiode
verabschiedet. Damit bekommt Energieeffizienz die
Aufmerksamkeit, die sie verdient.
Aus diesem Grund werden wir mit dem Aktionsplan
erstens eine steuerliche Förderung von besonders energiesparenden Gebäudesanierungen in Höhe von 1 Milliarde Euro pro Jahr einführen. Das generiert aufgrund
der Ihnen bekannten Hebelwirkung private Investitionen
von insgesamt bis zu 12 Milliarden Euro pro Jahr. Wir
reden auch in anderen Zusammenhängen viel über notwendige Investitionen in unserem Land, und wir wissen,
dass diese steuerliche Abschreibungsmöglichkeit eine
gewaltige Hebelwirkung für private Investitionen hat.
Deswegen erreichen wir jedes Jahr einen so großen Betrag. Übrigens bietet das, was im Nationalen Aktionsplan Energieeffizienz beschlossen wurde, bis 2020 die
Chance, Investitionen in Höhe von über 70 Milliarden
Euro auszulösen, die uns helfen, die Energiekosten der
Verbraucherinnen und Verbraucher zu reduzieren, das
Klima zu schützen und gleichzeitig bis zu 300 000 Arbeitsplätze in Deutschland zu sichern.
Zweitens. Wir wollen ferner Ausschreibungen als
neues Instrument für Energieeffizienzprojekte etablieren. Hier bekommt derjenige den Zuschlag für eine Förderung, der Energieeinsparungen zu den geringsten Kosten anbietet. Dieses Programm soll im nächsten Jahr
starten. Der erste Schwerpunkt ist der Bereich Stromeffizienz.
Drittens. Wir werden das bewährte CO2-Gebäudesanierungsprogramm um 200 Millionen Euro auf 2 Milliarden Euro verstärken. Die Förderung wird künftig
auch auf gewerbliche Nichtwohngebäude ausgedehnt,
und es wird ein neuer Förderstandard „Effizienzhaus
Plus“ eingeführt. Damit mobilisieren wir 2,4 Milliarden
Euro pro Jahr.
Viertens. Wir werden weitere Mittel zur Umsetzung
der im Nationalen Aktionsplan Energieeffizienz aufgeführten Maßnahmen bereitstellen, darunter zum Beispiel
eine Ausweitung des Bürgschaftsrahmens für Contractingmodelle.
Allein durch die im Nationalen Aktionsplan Energieeffizienz festgelegten Sofortmaßnahmen können wir
nach Berechnungen der Gutachter bis 2020 - ich sagte es
bereits - Investitionen von mehr als 70 Milliarden Euro
anstoßen, bis 2018 nahezu 50 Milliarden Euro. Das sind
rund 13 Milliarden Euro an zusätzlichen öffentlichen
und privaten Investitionen pro Jahr. Das ist vielleicht
auch ganz interessant in Anbetracht der Debatte über
eine zu geringe Investitionstätigkeit in Deutschland.
Mindestens genauso wichtig ist aber, dass wir über die
gesamte Lebensdauer der Maßnahmen Einsparungen bei
den Energiekosten in Höhe von bis zu 100 Milliarden
Euro realisieren können.
Ich glaube, dass wir mit diesen Beschlüssen heute einen wichtigen Beitrag zur Erreichung des Ziels, bis 2020
im Vergleich zu 1990 40 Prozent weniger CO2 auszustoßen, geleistet haben, dass wir aber vor allen Dingen dazu
beitragen, dass die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland ihre Energiekosten reduzieren können, und zwar in
dem Bereich, der am meisten Energiekosten verursacht,
nämlich Raumwärme und Warmwasser. Deswegen sind
das, glaube ich, wichtige Beschlüsse, die wir heute gefasst haben.
Vielen Dank.
({0})
Herzlichen Dank. - Wir haben bereits sechs Wortmeldungen. Ich lese sie einmal vor, damit sich jeder auf
seine Frage einstellen kann: Frau Dr. Verlinden, Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen, Frau Bulling-Schröter, Fraktion
Die Linke, Herr Petzold, Fraktion Die Linke, Herr
Krischer, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Frau Höhn,
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, und Frau Baerbock,
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Wir beginnen mit Frau Dr. Verlinden, Bündnis 90/Die
Grünen. - Bitte schön.
Ich habe eine Frage, Herr Gabriel, zu dem Nationalen
Aktionsplan Energieeffizienz. Sie wollen den Primärenergieverbrauch bis zum Jahr 2020 im Vergleich zum
Jahr 2008 um 20 Prozent reduzieren. Ich habe eben im
Monitoringbericht gesehen, dass bei der Auflistung der
Indikatoren steht, dass im Jahr 2013 3,8 Prozent geschafft worden seien. Ich hoffe, Sie meinen damit minus
3,8 Prozent, wobei auch das eine Katastrophe wäre angesichts dessen, dass wir im Jahr 2012 schon 4,3 Prozent
geschafft hatten und im Jahr 2011 5,4 Prozent. Das heißt,
der Trend geht genau in die falsche Richtung. Wir verbrauchen immer mehr Primärenergie.
Sie haben jetzt den Nationalen Aktionsplan Energieeffizienz beschlossen und glauben, bei der Energieeinsparung bis zum Jahr 2020 die Lücke schließen zu können. Meine Frage wäre: Wie wollen Sie das schaffen?
Denn Sie haben selber gesagt, alleine durch die Maßnahmen des Nationalen Aktionsplans Energieeffizienz
werde es nicht möglich sein, diese Energiesparlücke zu
schließen und damit das Ziel, das Sie sich selbst gesetzt
haben, zu erreichen.
Herr Bundesminister, bitte.
Frau Kollegin, wie ich eben gesagt habe, haben wir
das Ziel, bis zum Jahre 2020 den Primärenergieverbrauch um mindestens 20 Prozent zu reduzieren. Bei
Fortschreiben des jetzigen Trends, also ohne dass wir
dazu zusätzliche Beiträge erbringen, würden wir nur
eine Reduzierung um 10 Prozent erreichen. Das ist die
Hälfte dessen, was wir erreichen müssen. Das, was wir
jetzt hier hinsichtlich Energieeffizienz beschlossen haben, soll die Reduzierung in Richtung weiterer 10 Prozent bis 2020 bringen.
Natürlich reicht das nicht aus, um die Treibhausgasemissionen bis 2020 im nötigen Umfang zu reduzieren.
Dafür müssen der Verkehrssektor, die Landwirtschaft
und natürlich auch der Kraftwerkspark ebenfalls Beiträge erbringen.
Frau Verlinden, Sie dürfen später noch einmal fragen. - Jetzt ist erst einmal eine andere Fragestellerin an
der Reihe, nämlich die Abgeordnete Bulling-Schröter,
Fraktion Die Linke.
Danke schön, Herr Minister, für den Bericht. - Auch
ich möchte zum Nationalen Aktionsplan Energieeffizienz fragen. Wir alle wissen, dass die Energiewirtschaft
eine wichtige Rolle im Bereich Energieeffizienz spielen
muss. In dem Entwurf des Nationalen Aktionsplans
Energieeffizienz des Umweltministeriums war von einem Beitrag der Energiewirtschaft in Höhe von 40 bis
65 Millionen Tonnen CO2 zu lesen. In einer Tabelle im
Entwurf des Klimaaktionsplans waren auch diese Zahlen
zu finden. Im jetzt vorgelegten Nationalen Aktionsplan
Energieeffizienz findet sich diese Tabelle nicht mehr. Sie
als Wirtschaftsminister hätten dort zumindest eine Reduzierung um 22 Millionen Tonnen CO2, über die jetzt immer gesprochen wird, festhalten können. Meine Frage
ist: Welchen Beitrag der Energiewirtschaft zur CO2-Reduktion stellen Sie sich jetzt vor?
Herr Bundesminister.
Frau Kollegin, bezüglich des Beitrags der Stromwirtschaft geht es nicht allein um Energieeffizienz. Sie finden den Beitrag der Stromwirtschaft im Klimaschutzplan der Kollegin Hendricks, die ja hier ist und die Ihnen
dazu gern auch Auskunft gibt, wenn dazu Fragen gestellt
werden. Im Klimaschutzplan steht, dass der Kraftwerkspark zusätzlich eine Reduzierung um 22 Millionen Tonnen CO2 erbringen muss - zusätzlich gegenüber der Prognose über die Entwicklung der Treibhausgase und des
Beitrags des Stromsektors, die die letzte Bundesregierung am 15. März 2013 der Europäischen Union gemeldet hat.
Nächster Fragesteller ist der Abgeordnete Petzold,
Fraktion Die Linke. - Bitte schön.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Ich möchte zum Ersten Fortschrittsbericht zur Energiewende nachfragen.
Laut diesem Fortschrittsbericht lag der Endenergieverbrauch im Verkehr im Jahr 2013 um rund 1 Prozent höher als im Zielbezugsjahr 2005. Nach meiner Information ist das auch auf einen Anstieg der Personen- bzw.
Güterverkehrsleistung seit 2005 um rund 5 bzw. 11 Prozent zurückzuführen. Damit ist zwar der Endenergieverbrauch pro Verkehrsleistung leicht gesunken; aber diese
höhere Effizienz wird durch eine Zunahme des Verkehrswachstums insgesamt wieder aufgefressen. Deswegen möchte ich Sie fragen, Herr Minister, was die
Bundesregierung dagegen tut, dass der Personen- und
Güterverkehr weiter ansteigt?
Herr Bundesminister, bitte.
Zunächst freuen wir uns einmal darüber, wenn der
Güterverkehr ansteigt, insbesondere dann, wenn er auf
der Schiene stattfindet. In einem Land wie Deutschland,
das unter anderem vom Export lebt, haben wir jedenfalls
nichts dagegen, dass Güter und Personen transportiert
werden.
({0})
Die Frage ist, mit welchen Antriebstechniken das passiert, mit welchen Effizienzmaßnahmen wir den Ausstoß
der dabei häufig entstehenden Treibhausgase und den
Energieverbrauch reduzieren können. Wir haben versucht, das in den verschiedenen Maßnahmen, sowohl im
Ersten Nationalen Aktionsplan Energieeffizienz als auch
im Klimaschutzplan von Frau Hendricks, zu beschreiben.
Nächster Fragesteller ist der Abgeordnete Krischer,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herzlichen Dank, Herr Bundesminister Gabriel, für
den Bericht. - Ich glaube, man muss eines klarstellen:
Wir haben eine Klimalücke, die bei 16 Prozent liegt, und
nicht bei 5 bis 8 Prozent. Wir haben nämlich im Moment, also Stand jetzt, gegenüber 1990 um 24 Prozent
reduziert. Wir wollen eine Reduzierung um 40 Prozent
erreichen; es fehlen also 16 Prozent. Dieser Wert muss
erreicht werden.
Ich habe eine konkrete Frage an Sie, was den Kraftwerkssektor angeht. Ich entnehme dem Klimaaktionsplan,
dass Sie für 2015 eine Regelung vorschlagen wollen, die
eine Reduzierung der Emissionen um 22 Millionen Tonnen erbringen soll; mehr steht darin nicht. Meine Frage
wäre: Wann kommt diese Regelung? Was beinhaltet
diese Regelung?
Die Frage, die sich daran anschließt, ist: Wie wollen
Sie die weiteren Emissionsreduktionen erreichen, die
wir im Kraftwerkssektor erbringen müssen und die Sie
als Trendprognose der vorherigen Bundesregierung dargestellt haben? Die Reduktionen sind ja noch nicht erfolgt. Wir haben seit 20 Jahren in der Summe ein stagnierendes Emissionsniveau im Kraftwerkssektor. Durch
welche Maßnahmen wollen Sie die weiteren Emissionsreduzierungen von mindestens 40 Millionen Tonnen,
eher 50 Millionen Tonnen erreichen?
Herr Bundesminister, bitte.
Herr Kollege, ich kann nur darauf hinweisen, dass
das, was jedenfalls im Klimaaktionsprogramm der Kollegin Hendricks als Lücke bezeichnet ist, 5 bis 8 Prozentpunkte beträgt.
Was wollen wir im Stromsektor jetzt konkret machen? Einer der Vorschläge, die wir entwickelt haben
und über die wir jetzt im Rahmen der Debatte mit den
Energieversorgern, auch im Hinblick auf das Strommarktdesign, reden, ist, erstens dafür zu sorgen, dass es
eine gesetzliche Obergrenze für die Emissionen aus dem
Kraftwerkspark gibt, die im Jahr 2020 noch getätigt werden können, und zweitens die Unternehmen entsprechend den historischen Emissionen sozusagen selbst entscheiden zu lassen, wie sie ihre Minderungsbeiträge
erbringen. Aber sie müssen sie erbringen. Das hat, wie
Sie sicherlich zur Kenntnis genommen haben, bei den
Stromerzeugern eine überschaubare Begeisterung ausgelöst, was aber nichts daran ändert, dass sich auch die
Stromerzeuger zu dem 40-Prozent-Ziel bekannt haben.
Das ist sozusagen die gemeinsame Basis.
In der Tat - da haben Sie recht - sagen die Stromerzeuger, dass sie jedenfalls nicht ohne Weiteres erkennen, wie sie die in der Vergangenheit von der vorigen
Bundesregierung bereits prognostizierte Abnahme um
34 Millionen Tonnen erbringen sollen. Trotzdem, glaube
ich, wird am Ende kein Weg daran vorbeiführen.
Wie könnte man das machen? Man könnte erstens,
wie gesagt, diese 22 Millionen Tonnen in der Art und
Weise verteilen, wie ich das eben gesagt habe, und zweitens im Rahmen der Entscheidung über die Frage „Kapazitätsmärkte oder Energy-only-Markt?“ festlegen, einen
nicht unerheblichen Teil dessen, was die Stromerzeuger
erbringen müssen, in eine Kapazitätsreserve zu tun, die
wir in jedem Fall brauchen, egal ob wir uns für einen
Energy-only-Markt oder für einen Kapazitätsmarkt entscheiden; denn wir werden selbst bei einem weiteren Zubau an erneuerbaren Energien in den nächsten Jahren so
etwas wie eine Back-up-Kapazität brauchen, eben Strom
aus fossilen Kraftwerken.
In der Mischung glauben wir gemeinsam mit der
Stromwirtschaft zu einer Lösung des Problems kommen
zu können. Das kann nicht freiwillig erfolgen, sondern
am Ende brauchen wir eine gesetzliche Grundlage, bei
der sichergestellt ist, dass im Jahr 2020 die Emissionen
aus dem Kraftwerkspark eine bestimmte Größenordnung
nicht überschreiten.
Nächste Fragestellerin ist die Abgeordnete Höhn,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Minister, ich zitiere einmal aus dem Aktionsprogramm Klimaschutz 2020, das Sie heute im Kabinett
hatten.
Laut Projektionsbericht der Bundesregierung von
- den haben Sie vorhin schon einmal erwähnt kann davon ausgegangen werden, dass die Emissionen des Energiesektors … bis 2020 auf rund
306 Mio. t CO2-Äq. zurückgehen.
Dabei beziehen Sie sich auf umgesetzte und weiter wirksame Maßnahmen.
Eine dieser Annahmen war laut IEKP, dass Kraftwerke, die älter als 45 Jahre sind, von den Betreibern
freiwillig abgeschaltet werden. Das würde immerhin
40 Millionen Tonnen im Jahr 2020 ausmachen. Zusammen mit Ihren 22 Millionen Tonnen wäre man dann immerhin schon bei 62 Millionen Tonnen. Aber nach dem
Plan müsste eine Reduktion um 71 Millionen Tonnen erbracht werden. Tatsache ist, dass genau in diesem Energiesektor über einen Zeitraum von 15 Jahren von
380 Millionen Tonnen auf 377 Millionen Tonnen redu6816
ziert worden ist, also um ganze 3 Millionen Tonnen und
nicht um 71 Millionen Tonnen.
Wollen Sie immer noch, dass Kraftwerke, die älter als
45 Jahre sind, abgeschaltet werden, und wenn ja, wie
wollen Sie das ordnungspolitisch machen? Oder haben
Sie von dieser Regelung Abstand genommen?
Herr Bundesminister.
Ich kann nur wiederholen, was ich eben bei der Antwort auf die Frage Ihres Kollegen Krischer gesagt habe,
nämlich dass wir über die Frage, wie der Kraftwerkssektor den bereits in der letzten Legislaturperiode prognostizierten Abbau an Treibhausgasemissionen erbringen
muss und erbringen kann, im Rahmen der Festlegung
zum Strommarktdesign eine Entscheidung fällen wollen.
Das muss im ersten Halbjahr 2015 erfolgen.
({0})
- Bitte?
({1})
- Dazu habe ich eine Meinung, ja.
({2})
Die nächste Fragestellerin ist die Abgeordnete
Baerbock, Bündnis 90/Die Grünen.
Vielen Dank. - Ihre Vorstellungen würden uns sehr
interessieren.
CO2-Grenzwerte stehen im Raum. Den Aussagen, die
Sie jetzt getätigt haben, nämlich dass Sie mit einem Gesetz zum Strommarktdesign darangehen wollen, widerspricht Ihre Aussage im aktuellen Spiegel: Die 22 Millionen seien keineswegs ein Kohleausstieg. - Wollen Sie
den Einsatz der Kohle jetzt weiter schrittweise reduzieren? Soll es für diese Reduzierung ein Gesetz geben?
Wird das Strommarktdesign das mitumfassen? Ist das
eine Deckelung auf 22 Millionen Tonnen, und darüber
hinaus wird es in den nächsten fünf Jahren nichts geben?
Wenn Sie sagen: „Es ist kein Kohleausstieg geplant“,
frage ich Sie: Wie wird sich die Bundesregierung in
Lima positionieren, wo es ja um die Frage von fossilen
Ausstiegsplänen, Dekarbonisierungsplänen geht?
Frau Kollegin, wir haben über 300 Millionen Tonnen
CO2-Emissionen. Wenn wir um weitere 22 Millionen
Tonnen reduzieren, kann man, glaube ich, nicht vom
Kohleausstieg sprechen. Deswegen behaupte ich das
auch nicht.
Wenn Sie einen Kohleausstiegsplan vorlegen, dann
diskutiere ich mit Ihnen gern darüber. Ich kenne einen
solchen nicht. Ich kenne bloß eine öffentliche Debatte
darüber, die den Eindruck erweckt, als könne man zeitgleich aus der Atomenergie und aus der Kohleverstromung aussteigen.
({0})
- Ich kann Sie ja nur bitten: Wenn Sie sagen, das meinen
Sie gar nicht, dann legen Sie doch einmal einen Kohleausstiegsplan vor, der diesen Eindruck nicht erweckt.
({1})
Sie tun das nicht.
({2})
- Ich kann doch nichts dafür, dass Sie mich fragen.
({3})
Ich versuche ja, nur zu antworten. Deswegen sage ich:
Bei über 300 Millionen Tonnen CO2-Emissionen und
22 Millionen Tonnen weiterer Reduzierung kann man
nicht wirklich davon sprechen, dass wir aus der Kohle
aussteigen.
Die Kohle wird - das wissen auch alle, die Kohlestrom
produzieren - über die nächsten Jahrzehnte an Bedeutung
verlieren. Ich hoffe allerdings, dass dies im Rahmen einer
Neubelebung des europäischen Emissionshandels passiert. Ich halte nämlich die Position, durch ordnungspolitische Eingriffe in Deutschland den CO2-Ausstoß zu reduzieren - wie soll ich mich jetzt höflich ausdrücken;
eigentlich möchte ich nicht „verlogen“ sagen, aber mir
fällt dazu kein anderes Wort ein -, für verlogen, weil das
natürlich mit europäischen Emissionsreduzierungen gar
nichts zu tun hat.
Wir reden doch in der internationalen Klimapolitik
nicht darüber, dass sich Deutschland irgendein Ziel setzt.
({4})
- Nein. - Wir reden vor allen Dingen darüber, dass das
deutsche Ziel, das wir uns setzen, es ermöglichen soll,
ein europäisches Ziel überhaupt zu erreichen. Europa
tritt Gott sei Dank auf den internationalen Klimakonferenzen gemeinschaftlich auf. Damit Europa das Ziel
- das wir hier übrigens einmal gemeinsam im Bundestag
beschlossen haben - einer CO2-Reduktion von 30 Prozent im Jahr 2020 erreichen kann - das hat zwar Europa
nicht beschlossen, aber das ist das, was wir hier in
Deutschland einmal für Europa als Ziel gesetzt haben -,
ist es nötig, dass unser Land eine CO2-Reduktion von
40 Prozent bis 2020 erbringt.
Wir sind eine große Volkswirtschaft, und wenn wir
nicht mehr tun als andere, dann wird Europa im Durchschnitt diese 30 Prozent nicht erreichen können. Wir, die
Kollegin Hendricks und ich, haben einen Vorschlag gemacht, wie wir sicherstellen, dass wir bis 2020 diese
40 Prozent Reduktion erreichen. Dafür ist kein Kohleausstieg notwendig.
Ich glaube, dass es sinnvoll ist, dass wir den europäischen Emissionshandel wiederbeleben, der ja nichts anderes beinhaltet als eine alte Forderung unter anderem
auch der Grünen, nämlich externe Kosten aufgrund Umweltzerstörung durch schädliche Klimagase zu internalisieren und zum Gegenstand der betriebswirtschaftlichen Kalkulation zu machen. Das passiert zurzeit nicht,
weil der Emissionshandel am Boden liegt. Mit 4 Euro,
5 Euro, 6 Euro pro Tonne CO2 lösen Sie keinerlei Marktsignale aus. Deswegen müssen wir dringend zu einer
Neustrukturierung des Emissionshandels kommen.
Die Bundesregierung hat die Europäische Union und
die Mitgliedstaaten aufgefordert, damit nicht bis zum
Jahr 2020 zu warten, sondern nach Möglichkeit deutlich
davor dazuzukommen, weil wir glauben, dass wir in Europa Preissignale für CO2-Emissionen brauchen und es
nicht ausreicht, dass sich Deutschland schlecht fühlt,
wenn wir diese Ziele nicht erreichen. Wir brauchen ein
richtiges Marktsignal zum Abbau von CO2-Emissionen.
Ich halte nichts davon - das stand in allen Zeitungen;
ich kann es aber gern hier wiederholen -, durch zusätzliche nationale Maßnahmen wie das Festlegen von Wirkungsgraden oder viele andere Dinge jetzt noch einmal
in den Markt einzugreifen, sondern ich halte eine Menge
davon, dafür zu sorgen, dass wir das 40-Prozent-Ziel erreichen. Das ist übrigens das, was in Lima gefordert ist,
und nichts anderes.
({5})
- Na gut, dann haben wir einfach eine unterschiedliche
Auffassung über die Frage, ob wir das erreichen oder
nicht.
Diese Frage muss übrigens auch Gegenstand der weiteren Fortschrittsberichte sein. Die Idee dieser Fortschrittsberichte ist doch, alle drei Jahre einmal zu gucken, ob wir eigentlich auf dem richtigen Pfad sind. Jetzt
haben wir einen, bei dem wir feststellen: Sowohl bei der
Energieeffizienz als auch in der Landwirtschaft, im Verkehr und in der Stromproduktion sind wir auf keinem
ausreichenden Pfad. Deswegen steuern wir nach. Wenn
wir in drei Jahren feststellen, dass das, was wir jetzt gemacht haben, immer noch nicht reicht, dann werden wir
wieder etwas tun müssen, um sozusagen aufzuholen.
Die Tatsache, dass wir in den letzten Jahren relativ
wenig bei Energieeffizienz gemacht haben, rächt sich
jetzt natürlich. Aber mit dem, was wir machen, erreichen
wir erstens diese Ziele und ermöglichen es Europa zweitens, sein 30-Prozent-Ziel vielleicht doch noch zu erreichen. Drittens ist es so, dass wir nach meiner festen
Überzeugung jedenfalls etwas dafür tun müssen, dass
wir in Europa bessere Marktsignale für den Kraftwerkspark aussenden. Wenn wir das nicht schaffen, dann hat
Deutschland möglicherweise seine Ziele erreicht, aber
wir haben trotzdem zu viele CO2-Emissionen in Europa.
Es war jedenfalls bislang nicht die Meinung der deutschen Politik, dass wir uns nur auf Deutschland zu konzentrieren haben. Ich fände es ganz gut, wenn es dabei
bliebe.
Die nächste Frage stellt der Abgeordnete Zdebel,
Fraktion Die Linke. Danach kommt Frau Haßelmann,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Minister, der Nationale Aktionsplan sieht ein
neues Heizungslabel für Altanlagen vor, das Schornsteinfeger bei ihrer jährlichen Feuerstättenschau aufkleben sollen. Allerdings werden dabei keinerlei Messungen durchgeführt. Es handelt sich also eigentlich um
einen Aufkleber, der lediglich nach Vergleich der Daten
der Heizungsanlage mit Angaben auf einer Liste für einen bestimmten Heizungstyp und ein bestimmtes Alter
der Heizung vergeben wird. Nach meiner Auffassung
bedeutet dieses Label daher nicht besonders viel und
zieht letztendlich auch keine großartigen Konsequenzen
nach sich.
Die Frage ist, ob es nicht an der Zeit wäre anstatt
diese Aufkleber zu verteilen über betreffende Verordnungen nachzudenken und diese zu überarbeiten, damit
dieses Label tatsächlich mehr Wirkung entfaltet.
Herr Bundesminister.
Die Idee ist, dass Eigentümer von Heizungsanlagen,
die in der Regel Eigentümer von Häusern sind, auf einen
möglicherweise veralteten Standard ihrer Heizungsanlagen aufmerksam gemacht werden. Ich finde, Informationen sind der Beginn von Veränderung. Die Leute müssen
wissen, was los ist.
Wir werden die Energieeinsparverordnung weiter novellieren; das haben wir in den letzten Jahren getan; das
wird auch weitergehen. Sie wollen aber parallel dazu die
Hausbesitzer zwingen - so verstehe ich Sie -, ihre Heizungsanlagen auszutauschen. Ich sage Ihnen: Da werden
Sie vermutlich Überraschungen erleben.
({0})
Es gibt Menschen, die ein bestimmtes Alter haben
oder die vielleicht nicht über ein so hohes Einkommen
verfügen und die ein kleines Häuschen oder ein Reihenhaus mit einer veralteten Anlage besitzen. Wenn Sie
diese Menschen dazu zwingen, ihre Anlagen auszutau6818
schen, dann entstehen möglicherweise soziale Verwerfungen, von denen ich nicht glaube, dass wir sie produzieren sollten.
Unser erster Schritt - weitere Schritte wie zum Beispiel Förderprogramme folgen - muss sein, dass wir
Hausbesitzer und Eigentümer solcher Heizungsanlagen
besser informieren. Dies soll im Rahmen der Feuerstättenschau passieren, weil der Schornsteinfeger da ohnehin ins Haus kommt und heute längst alle Schornsteinfeger auch Energieberater sind. Wir gehen davon aus, dass
diese dann Antworten auf die Frage geben, welche Förderprogramme es gibt, um eine Heizungsanlage auszutauschen.
Unterschätzen Sie nicht, wie viele Menschen in
Deutschland Eigentümer von Häusern mit solchen Anlagen sind, aber eben nicht über ein hohes Einkommen
verfügen. Möglicherweise wohnen deren Kinder nicht in
derselben Stadt und haben auch nicht die Absicht, das
Haus ihrer Eltern irgendwann zu übernehmen. Wenn Sie
diese Hausbesitzer nun zwingen, ihre Anlagen zu erneuern, dann entsteht eine Reihe von sozialen Fragen, von
denen ich nicht glaube, dass wir sie schnell beantworten
können. Deswegen setzen wir erst einmal auf Informationen und auf Förderung und nicht auf Zwang.
({1})
Nächste Fragestellerin ist die Abgeordnete Frau
Haßelmann, Bündnis 90/Die Grünen.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Minister, Sie haben gerade auf die Frage meiner Kollegin Bärbel Höhn
nicht geantwortet. Die Frage bezog sich darauf, ob
Kraftwerke, die älter als 45 Jahre sind, weiterlaufen sollen. Auf meinen kurzen Zwischenruf sagten Sie, Sie hätten dazu eine Meinung. Ich will Ihnen durch meine
Frage die Gelegenheit geben, diese Meinung hier kundzutun. Denn das Parlament interessiert sich dafür. Wollen Sie Kraftwerke länger als 45 Jahre laufen lassen?
Herr Bundesminister, bitte.
Ich will das nicht entscheiden. Denn mir ist es völlig
egal, wie lange ein Kraftwerk läuft. Mich interessiert
vielmehr, wie hoch die CO2-Emission 2020 sein wird.
({0})
- Das wollte ich gerade sagen. - Da gibt es natürlich Zusammenhänge; gar keine Frage. Das eine kann mit dem
anderen partiell durchaus etwas zu tun haben.
Wenn ich jemandem sage: „Ab dem Jahr 2020 darfst
du eine bestimmte Emissionsmenge nicht überschreiten“
und ich wie beim Emissionshandel eine Pönale vorsehe,
wenn er es doch tut, dann überlasse ich es ihm, auf welchem Weg er diese Menge nicht überschreitet. Einige
werden sagen: Das Einfachste wäre, dass wir alte Kraftwerke abschalten. - Andere werden womöglich sagen:
Wir fahren die alten ein bisschen herunter und die modernen etwas hoch. - Ich will aber gar nicht entscheiden,
wie die betriebswirtschaftliche Rechnung der Unternehmen aussieht. Denn ich glaube nicht, dass wir das besser
können als die Unternehmen selbst.
Sie sind die Erfinderinnen und Erfinder des Emissionshandels gewesen. Beim Emissionshandel interessiert überhaupt nicht das Alter des Kraftwerks, sondern
dort legt man eine Emissionsobergrenze fest. Darüber
hinaus gibt es keine Zertifikate. Da wir jetzt merken,
dass der europäische Emissionshandel nicht ausreichend
funktioniert, werden wir ihn, bis er vernünftig funktioniert, möglicherweise durch ein eigenes System, bei dem
es Emissionsobergrenzen gibt, ergänzen müssen.
({1})
Aber mir ist es völlig egal, auf welchem Weg ein Unternehmen diese Emissionsobergrenze einhält. Ich wüsste
nicht, warum ich auf die unternehmerische Entscheidung
Einfluss nehmen sollte. Mich interessiert, dass das Ziel,
nämlich die CO2-Emissionen zu verringern, erreicht
wird.
({2})
- Wenn es nicht anders geht, werden die Unternehmen
exakt das tun, was Sie fordern. Das ist aber eine unternehmerische Entscheidung.
Sie hingegen wollen, dass wir staatlich eingreifen und
den Unternehmen sagen: Das Kraftwerk musst du stilllegen; das darfst du weiterlaufen lassen. - Ich glaube, dass
Sie sich mit solchen Einzelentscheidungen ganz schnell
im kurzen Gras befinden werden. Ich fand die Position
von Bündnis 90/Die Grünen eine kluge Idee - wenn ich
das so sagen darf -, sich für einen europäischen Emissionshandel zu entscheiden, der europaweit Emissionsbudgets festlegt und bei dem es völlig egal ist, wie die
Kraftwerksunternehmen im Einzelnen damit umgehen.
Das Entscheidende ist dabei nur, dass sie eine bestimmte
Emission nicht überschreiten dürfen. Weil ich finde, dass
man kluge Ideen nicht über Bord werfen sollte, bin ich
dafür, dass wir dies weiter anstreben und parallel dazu
in dem uns rechtlich möglichen Rahmen ein System
schaffen, mit dem wir sicherstellen, dass die Emissionsbudgets nicht überschritten werden.
({3})
Wir haben noch sieben Fragesteller. Ich bitte die Fragesteller um kurze und knackige Fragen. Der Bundesminister antwortet bitte auch kurz und knackig.
Prinzipiell haben wir vereinbart, dass wir die Zeit von
jeweils einer Minute für Frage und für Antwort einhalten. Bei der Komplexität der Fragen kann man es nicht
immer in einer Minute beantworten. Das ist schon klar.
Es gibt auch ein deutliches Interesse, wie Zwischenrufe
und Nachfragen deutlich machen.
Ich lese einmal die Liste der Fragesteller vor, damit
sich alle darauf einstellen können: Frau Dr. Verlinden,
Bündnis 90/Die Grünen, Frau Bulling-Schröter, Fraktion
Die Linke, Herr Zdebel, Fraktion Die Linke, Frau Höhn,
Bündnis 90/Die Grünen, Frau Baerbock, Bündnis 90/Die
Grünen, Herr Kekeritz, Bündnis 90/Die Grünen, und
Herr Krischer, Bündnis 90/Die Grünen. Knackige Fragen und knackige Antworten wären gut.
Frau Abgeordnete Dr. Verlinden, Bündnis 90/Die
Grünen, bitte.
Vielen Dank. - Ich habe noch eine Frage zum Monitoringbericht, Herr Gabriel. Viele Indikatoren laufen leider in die falsche Richtung. Die aktuellen Zahlen, die
uns vorliegen, zeigen das. Das führt mich zu der Frage,
was im Bereich der erneuerbaren Energien konkret geplant ist, und zwar nicht nur im Stromsektor, sondern
insgesamt. Der Anteil der erneuerbaren Energien soll auf
18 Prozent steigen. Im Augenblick liegen wir bei gerade
einmal 12 Prozent. Hier muss noch einiges passieren,
vor allen Dingen, weil der Trend rückläufig gewesen ist.
Vielleicht können Sie mir die Frage von vorhin beantworten; die Antwort haben Sie sozusagen unterschlagen.
Der Primärenergieverbrauch ist 2013 wieder gestiegen.
Ist er im Vergleich zu 2012 oder sogar auch im Vergleich
zu 2008 gestiegen?
In diesem Zusammenhang noch einmal der Hinweis,
dass im NAPE steht, dass mit den dort genannten Maßnahmen die Einsparlücke von 10 Prozent nicht geschlossen werden kann. Das ist zumindest meine Lesart, wenn
ich das, was dort steht, als Grundlage nehme.
Herr Bundesminister.
Noch einmal die Zahlen hinsichtlich der Verringerung
des Primärenergieverbrauchs, Frau Verlinden: Die Lücke
beträgt 1 400 Petajoule. Der NAPE bringt 500, der Verkehrssektor muss 150 bringen, die Landwirtschaft 50,
den Rest muss der Kraftwerkssektor bringen.
Zur zweiten Frage, wie wir die 18 Prozent erreichen
wollen: zum Beispiel durch Fortführung des Marktanreizprogrammes für erneuerbare Wärme.
Was war Ihre dritte Frage?
Es ist sowieso nur eine zulässig. Insofern ist es nicht
schlimm, wenn Sie die dritte Frage nicht beantworten.
({0})
Das kann bilateral vielleicht noch geklärt werden.
Frau Bulling-Schröter, Fraktion Die Linke, stellt die
nächste Frage.
Danke schön. - Noch einmal zum Nationalen Aktionsplan Energieeffizienz. Es geht jetzt um die Finanzierung, Herr Minister. Da lese ich, dass sich diese Maßnahmen, soweit sie zu einnahme- und ausgabenseitigen
Belastungen im Bundeshaushalt führen, in die haushaltspolitische Gesamtstrategie des Bundes einfügen müssen.
Das bedeutet, dass entsprechende Maßnahmen grundsätzlich im eigenen Politikbereich gegenzufinanzieren
sind.
Ich würde gerne erklärt bekommen, was unter Gegenfinanzierung zu verstehen ist. Bezieht man sich da auf
die schwarze Null? Gibt es da einen Vorbehalt? - Man
braucht ja Geld für diese ganzen Maßnahmen; umsonst
wird es nicht gehen.
Herr Bundesminister.
Frau Kollegin, Sie finden im Bundeshaushalt im Einzelplan des Bundesfinanzministeriums für das kommende Jahr gut 5 Milliarden Euro. Daraus werden die
zusätzlichen Mittel kommen, um die Gebäudesanierung
zu finanzieren.
Nächster Fragesteller ist der Abgeordnete Zdebel,
Fraktion Die Linke.
Herr Minister, ich finde es erst einmal sehr lobenswert, dass Sie im Aktionsprogramm Klimaschutz 2020
die Maßnahme vorgestellt haben, den Schienengüterverkehr zu stärken. Ich frage mich allerdings, wie Sie das
angesichts der Tatsache machen wollen, dass jetzt die
Mittel im Haushaltsplan für den Neuausbau und den
Ausbau im Schienennetz um 200 Millionen Euro gekürzt worden sind.
Es ist mir natürlich klar, dass es im Schienengüterverkehr nicht nur darum geht, Neuausbau zu betreiben; aber
bei einigen Streckenteilen - ich denke da zum Beispiel
an die Betuweroute, an den Streckenteil zwischen Emmerich und Duisburg - wäre es sicherlich nicht schlecht,
wenn tatsächlich entsprechende Ausbaumaßnahmen
stattfinden könnten; das gilt sicherlich auch für andere
Teile der Region. Insofern ist es für mich, wenn Sie tatsächlich das Ziel haben, mehr Güterverkehr auf die
Schiene zu bringen, erst einmal widersprüchlich, dass
die Mittel gekürzt werden.
Herr Bundesminister, bitte.
Da die Kollegin Hendricks, die dafür verantwortlich
ist, extra mit hierhergekommen ist, möchte ich den Präsidenten fragen, ob sie diese spezielle Frage zum Aktionsplan Klimaschutz beantworten darf.
Was der Aufklärung des Parlaments hilft, findet immer die Zustimmung des Präsidenten. - Bitte, Frau Bundesministerin.
Herr Kollege, die Mittel für die Verkehrsinvestitionen
im Haushalt des Bundesverkehrsministers sind insgesamt gesteigert worden, und sie sind auch gegenseitig
deckungsfähig. Was den Ausbau der sogenannten Betuweroute zwischen Emmerich und Oberhausen anbelangt,
so geht es um eine Größenordnung von 1,1 Milliarden
Euro. Der Ausbau fängt aber noch nicht im nächsten
Jahr an. Wir sind noch im Planfeststellungsverfahren.
Nächste Fragestellerin ist die Abgeordnete Frau
Höhn, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Minister Gabriel, ich habe eben darauf hingewiesen, dass laut Projektionsbericht eine Reduktion der
CO2-Emissionen des Energiesektors auf 306 Millionen
Tonnen bis 2020 erwartet wird. Wir hatten in 2012
377 Millionen Tonnen CO2-Emissionen im Energiesektor, also 71 Millionen Tonnen mehr. Sie haben jetzt eine
Reduktion der Emissionen um 22 Millionen Tonnen vorgeschlagen. Soll alles andere über Kapazitätsmärkte erreicht werden? Welche weiteren Maßnahmen haben Sie
vorgesehen, um die Lücke von knapp 50 Millionen Tonnen zu schließen? Können Sie hier bestätigen, dass es
der Umweltminister Gabriel war, der 2007 das 40-Prozent-Ziel verkündet hat?
Herr Bundesminister.
In meiner Erinnerung habe ich das gemeinsam mit Ihnen im Deutschen Bundestag beschlossen; aber ich kann
es gerne auch verkündet haben. Das würde mir ja zur
Ehre gereichen. Aber ich glaube, es war ein Beschluss
des Deutschen Bundestages.
({0})
- Ich auch. Deswegen hat es die Bundesregierung heute
noch einmal bestätigt. Sie müssen nicht alles glauben,
was im Spiegel steht; das wäre mein Ratschlag.
({1})
Wir kommen zur nächsten Fragestellerin.
Ich bin mit meiner Antwort noch nicht fertig.
Ach so, das war das Intro. Alles klar.
Abseits der humorvollen Bemerkungen zu dem
Thema ist es so, dass wir mit der Reduktion der Emissionen um 22 Millionen Tonnen auf die Prognose draufsatteln - das habe ich vorhin versucht zu erklären -, die die
alte Bundesregierung abgegeben hat und die bis heute in
einem Umfang von circa 34 Millionen Tonnen noch
nicht unterlegt ist. Deswegen glauben wir, dass eine der
Antworten sein kann - darüber müssen wir aber mit der
Strombranche verhandeln -, dafür das Angebot zu machen, Kapazitätsreserven zu bilden. Das ist das, was ich
letzte Woche versucht habe mit der Stromwirtschaft zu
verhandeln. Die Bereitschaft, da mitzumachen, war
überschaubar. Deswegen werden wir allerdings nicht
von unseren Plänen abweichen.
Nächste Fragestellerin ist die Abgeordnete Frau
Baerbock, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Genau deswegen, weil die Bereitschaft überschaubar
war und in den letzten Jahren auf freiwilliger Basis
nichts erreicht wurde, fordern wir Instrumente des Ordnungsrechts. Sie sagen immer, es sei unmöglich, so etwas zu fordern, weil das alleine nicht laufen wird. Der
Emissionshandel - das wissen Sie selber; an anderer
Stelle halten Sie andere Vorträge - wird es auch nicht automatisch richten, weil wir für einen Switch ja mindestens einen Preis von 30 Euro pro Tonne CO2-Emissionen
bräuchten. Das wird allein mit der Backloading-Menge
nicht erreicht werden können. Das heißt, der Emissionshandel wird als Instrument ausfallen. Sie brauchen aber
ein ordnungsrechtliches Instrument. Sie selber hatten
eingangs CO2-Grenzwerte in die Debatte eingebracht.
Diese fordern wir auch. Nehmen Sie nun Abstand von
dem ordnungspolitischen Instrument, CO2-Grenzwerte
einzuführen, die über die 22 Millionen Tonnen hinausgehen?
Ich habe die Frage nicht ganz verstanden. Was genau
möchten Sie von mir wissen?
Sie haben vorhin gesagt: kein ordnungspolitisches Instrument. Meine Frage ist, ob Sie CO2-Grenzwerte für
den fossilen Kraftwerksbereich ausschließen oder ob Sie
sie einführen wollen. Dazu haben Sie unterschiedliche
Aussagen gemacht.
Ich kann nur meine Antworten von vorhin wiederholen. Ein Vorschlag, um die Sicherung des 40-ProzentZiels zu gewährleisten, ist, eine Obergrenze für Emissionen aus dem Kraftwerkspark einzuführen. Es geht nicht
darum - das ist das, was Sie wollen -, sie für einzelne
Kraftwerke einzuführen; denn das führt - aus meiner
Sicht jedenfalls - nicht allzu weit. Aber wenn wir im Ergebnis durch eine Obergrenze die Erreichung des 40Prozent-Ziels sicherstellen, dann müssten auch Sie zufrieden sein.
({0})
- Nein, das Ziel ist doch, 40 Prozent zu erreichen und
nicht 45 Prozent. Sie wollen möglicherweise mehr, was
Ihr gutes Recht ist.
({1})
- Ich darf, glaube ich, jetzt nicht mit Ihnen diskutieren,
aber glauben Sie mir: Es würde mir großen Spaß machen.
({2})
Ich denke, das habe ich letzte Woche hinreichend unter
Beweis gestellt.
Das Zweite, was ich sagen wollte: Bitte unterstellen
Sie nicht, dass wir der Meinung sind, dass das Backloading ausreicht, um den Emissionshandel zu reformieren.
Vielmehr brauchen wir eine völlig neue Struktur. Dazu
gibt es gute Vorschläge vonseiten der EU-Kommission.
Der Fehler ist, dass wir das nicht rechtzeitig genug
machen. Das hat aber nichts mit der deutschen Bundesregierung zu tun, sondern es hat etwas damit zu tun, dass
es in Europa - insbesondere in osteuropäischen Ländern,
die in sehr großem Umfang von der Kohle abhängig
sind - massive Widerstände gegen eine Verbesserung
des Emissionshandels gibt. Deswegen bin ich dafür, dass
wir aufhören, ein bisschen zu sehr auf den nationalen
Bauchnabel zu schauen.
Wir brauchen europäische Lösungen. Es ist sicher interessant und auch intellektuell freudebringend, in
Deutschland darüber zu reden, welche weiteren Instrumente uns einfallen. Besser wäre es, wir würden parteiübergreifend in den Gesprächen beispielsweise mit unseren polnischen Partnern dafür Sorge tragen, dass der
Emissionshandel in Polen akzeptiert wird; denn das ist
bislang nicht in ausreichendem Maße der Fall. Deswegen glaube ich, dass uns die nationale Debatte bei der
Bewältigung der Probleme in Europa nicht besonders
viel weiterhilft.
Nächster Fragesteller ist der Abgeordnete Kekeritz,
Bündnis 90/Die Grünen. Bitte.
Jetzt habe ich Pech. Sie haben meine Frage, die sich
auf den Emissionshandel bezog, schon beantwortet.
({0})
Würden Sie mir trotzdem erklären, wie es möglich ist,
dass Polen Emissionspapiere kostenlos zur Verfügung
gestellt bekommt? Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass das im Rahmen des Möglichen ist. Das ist für
mich ein Zeichen dafür, dass der Emissionshandel eigentlich gar nicht systematisch gefördert werden soll. Im
Gegenteil: Man lässt es so weiterlaufen. Ich weiß, jetzt
kommt gleich die Antwort: Im Jahr 2019 wird alles besser. Aber warum ist es nicht möglich, auf europäischer
Ebene schneller zu reagieren?
Herr Minister, bitte.
Weil Sie die Zustimmung Polens brauchen. Das geht
nicht nach dem Motto: „An der deutschen Debatte wird
Europa genesen“. Vielmehr müssen Sie Menschen in anderen Ländern überzeugen, die unsere Klimadebatte für
verrückt halten.
({0})
Man muss offen aussprechen, was in Europa gerade
los ist. Vor ein paar Jahren haben uns die Menschen noch
interessiert zugeschaut, weil sie der Meinung waren,
dass wir mit der deutschen Ingenieurskunst die Energiewende schon hinkriegen werden. Inzwischen halten sie
uns für hinreichend wahnsinnig.
Wenn sie nett zu uns sind, dann sagen sie: Okay, wir
verstehen das, was ihr da macht, aber wir sind skeptisch.
Wenn die Kameras aus sind, dann sagen sie: Wenn ihr
eure Industrie gefährden wollt, dann macht es, aber zieht
uns da bitte nicht mit rein. - Das ist die Position, die vertreten wird. Deswegen müssen Sie verhandeln.
Es geht nicht darum, etwas zu diktieren, sondern darum, die Menschen zu überzeugen, die völlig anders
über die Sache debattieren als wir; ob wir das gut oder
schlecht finden, das ist auf europäischer Ebene ziemlich
egal. Sie müssen sie überzeugen, und manchmal müssen
Sie Angebote machen, damit der Emissionshandel nicht
komplett blockiert wird. Das ist doch die Situation, vor
der wir stehen. Die Debatte in Deutschland suggeriert:
Die anderen müssen nur die Hand an die Mütze legen
und uns folgen.
({1})
Das ist aber nicht die Vorstellung, die die anderen haben.
Deren Vorstellung ist eine völlig andere, und trotzdem
müssen Sie mit ihnen verhandeln.
({2})
- Weil das die Bedingung Polens war, damit sie dem
Emissionshandel und der Veränderung überhaupt zustimmen, ja.
Ich habe doch überhaupt nichts dagegen, dass Sie all
Ihre politische Kraft einsetzen, um Polen vom Gegenteil
zu überzeugen. Dann werden wir alle miteinander noch
glücklicher sein, als wir das ohnehin schon sind. Dafür
wäre es aber notwendig, dass Sie diese Debatte nicht allein im Deutschen Bundestag führen, sondern gelegentlich auch mit Polen.
({3})
- Scheinbar hören sie nicht in ausreichendem Maße auf
Sie. Das bedauere ich zutiefst.
Es ist nun einmal leider so, dass Polen zustimmen
muss. Sie können das nicht befehlen.
({4})
So ist Europa nicht konstruiert.
({5})
Nächster Fragesteller ist der Abgeordnete Krischer.
Herr Gabriel, ich komme gerade aus dem Wirtschaftsausschuss. Dort war eine französische Delegation zu
Gast und hat sich über zu niedrige Industriestrompreise
in Deutschland beschwert; Herr Beckmeyer war ja dabei. Das war eine interessante Debatte.
({0})
Ich möchte eine Frage zum Thema Kohle stellen. Sie
haben uns gerade erklärt, dass Wirkungsgrade für Sie
kein Thema sind, dass das Alter der Kraftwerke für Sie
kein Thema ist, dass das CO2-Budget für Kraftwerke für
Sie kein Thema ist und dass der CO2-Mindestpreis für
Sie kein Thema ist. Ich habe das so verstanden: Jede ordnungsrechtliche Maßnahme ist für Sie kein Thema. Sie
haben gleichzeitig auf den Emissionshandel verwiesen.
In diesem Zusammenhang muss man einfach zur Kenntnis nehmen: Sie haben auf dem Europäischen Rat zugestimmt, dass vor 2020 diesbezüglich nichts Relevantes
verändert wird. Also kann der Emissionshandel keine
Wirkung entfalten. Trotzdem erklären Sie uns hier, dass
Sie eine Reduktion der heute 377 Millionen Tonnen CO2
im Stromsektor um 71 Millionen Tonnen auf 306 Millionen Tonnen in fünf Jahren erreichen wollen. Mich würde
interessieren, mit welchem Instrumentarium Sie das erreichen wollen. Außer einer Kapazitätsreserve kann ich
mir da konkret nichts vorstellen. Planen Sie einen Emissionshandel unter dem Emissionshandel, also quasi einen deutschen Emissionshandel? Ich bitte um eine kleine
Andeutung dazu, was Sie in diesem zur Erreichung des
deutschen Klimaschutzziels zentralen Bereich vorhaben.
({1})
Herr Bundesminister.
Erstens habe ich mich nicht gegen CO2-Mindestpreise
ausgesprochen. Der ganze Emissionshandel hat das Ziel,
einen CO2-Mindestpreis herzustellen.
({0})
- Ja, sicher. Ziel des Emissionshandels ist die Verknappung von Zertifikaten.
({1})
Zweitens hat nicht die deutsche Bundesregierung gesagt, dass sie erst 2020 eine Reform haben will. Im Gegenteil: Wir haben gerade mitgeteilt, dass wir dringend
darum bitten, das früher anzugehen. Aber Sie kriegen
dafür in Europa keine Mehrheit. Auch nicht dadurch,
dass wir das hier noch einmal beschreiben. Wir versuchen, diese Mehrheit herzustellen. Wir versuchen, zu
überzeugen. Wir machen Angebote, wie man Übergänge
gestalten kann.
({2})
- Herr Krischer, ich komme zu der Antwort auf Ihre
Frage; keine Sorge. Sie haben aber auch ein paar andere
Dinge angesprochen, zu denen ich auch etwas sagen
möchte. - Wir versuchen, die Kollegen in anderen Ländern zu überzeugen. Aber die Bereitschaft, das vor 2020
anzugehen, ist in einem Teil der Mitgliedstaaten der Europäischen Union außerordentlich gering. In einem anderen Teil ist die Bereitschaft sehr hoch, traditionell in
Skandinavien, aber auch in Großbritannien und Frankreich, natürlich auch wegen der COP, die im nächsten
Jahr dort stattfinden soll. In einem Teil Europas gibt es
aber nun einmal leider massiven Widerstand dagegen.
Man kann nur versuchen, das durch Verhandlungen zu
verändern. Das probieren wir.
Die Idee, die wir verfolgen, habe ich vorhin schon genannt: Wir wollen Emissionsobergrenzen festlegen, also
eine Obergrenze für Emissionen, die der Kraftwerkspark
2020 ausstoßen darf. Das habe ich jetzt, glaube ich, dreimal gesagt. Mit Bezug auf historische Emissionen wollen wir die Minderungsbeiträge auf die Kraftwerksbetreiber verteilen, jedenfalls 22 Millionen Tonnen.
Zusätzlich wollen wir versuchen, den noch nicht geschafften Teil aus der alten Prognose zumindest in größerem Umfang dadurch zu erreichen, dass dieser Teil in
die Kapazitätsreserve eingebracht wird; dieses Angebot
wollen wir unterbreiten.
({3})
- Nein, das würde im Gesetz stehen. Das stand übrigens
auch in allen Zeitungen. Weil sich der Stromsektor darüber nicht besonders gefreut hat, gab es Widerstand dagegen.
Ich habe Ihnen in meiner ersten Antwort schon gesagt, dass wir diese Beschlüsse spätestens im Jahr 2015
im Zusammenhang mit der Beschlussfassung über das
Strommarktdesign fassen müssen, also nicht irgendwann, sondern im ersten Halbjahr 2015.
Sie haben gesagt, Sie wollten eine leichte Andeutung
dessen haben, was wir tun wollen. Das ist sie.
Die beiden abschließenden Fragen stellen Kollege
Grund, CDU/CSU-Fraktion, und die Abgeordnete
Baerbock, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. - Kollege
Grund.
Vielen Dank, Herr Minister. - Bei der Debatte heute
geht es ja eigentlich um die Struktur der Energieversorgung in Deutschland. Es gibt ja die konventionelle, die
klassische Energieerzeugung - Kohlekraftwerke, CO2Emittenten, Gaskraftwerke und Atomkraftwerke, die
2022 vom Netz gehen - und die erneuerbaren Energien
- Photovoltaik, Windenergie, Biomasse -, die ganz erheblich subventioniert werden.
Heute Morgen, um 6 Uhr, hatten wir in Deutschland
eine Gesamteinspeisung ins Netz in Höhe von 23 600 Megawatt elektrischer Energie. An diesen 23 600 Megawatt
waren die Photovoltaik - es war, wie gesagt, 6 Uhr - mit
0 Prozent - das ist jetzt nicht viel anders - und die Windenergie mit 511 MW beteiligt; das sind knapp 2 Prozent.
Die Erwartung, dass der Kraftwerkspark umgebaut und
der CO2-Ausstoß reduziert wird, bedeutet ja, dass wir ab
2022 viel stärker aus der Nutzung von Kohle und Gas
- denn diese Kraftwerke produzieren ja auch CO2 - aussteigen müssen; das ist die Erwartung, die hier geäußert
wird. Was bedeutet das für die Energieversorgung
Deutschlands, und welche Voraussetzungen müssten erfüllt werden, bis die Forderungen an die Bundesregierung - es werden ja auch entsprechende Vorwürfe erhoben - überhaupt erfüllt werden können?
Herr Bundesminister.
Ich halte diese Debatte, in der immer der Anschein erweckt wird, als müssten wir jetzt eine Kohleausstiegsdebatte führen - das kann ich den Kollegen vom Bündnis 90/Die Grünen nicht ersparen -, für eine große
Illusion.
({0})
- Nein, es geht Ihnen nicht um alte Kraftwerke. Sie wollen aus der Braunkohle aussteigen.
({1})
Sie müssen nur offen sagen, was Sie wollen; dann kann
man ja darüber diskutieren.
({2})
Sie wollen, wie gesagt, aus der Braunkohle aussteigen.
Das bedeutet, dass es unmittelbare Preiswirkungen am
Strommarkt geben wird. Das konterkariert unser Ziel
({3})
- natürlich ist das die Folge - im Hinblick auf die Energiepreise, die die Grundstoffindustrie zu zahlen hat, um
zumindest einigermaßen wettbewerbsfähig zu bleiben.
Außerdem würde man à la longue erhebliche Versorgungssicherheitsprobleme bekommen, weil man natürlich nicht nur den Durchschnitt berechnen darf, sondern
auch die Jahreshöchstlast darstellen können muss, und
zwar auch an Tagen, die so sind, wie es der Kollege eben
beschrieben hat.
Ich glaube, dass wir auch bei einem weiteren Ausbau
der erneuerbaren Energien fossile Kraftwerkskapazitäten
sozusagen als Rückendeckung brauchen. Die Frage ist
nur - darüber reden wir zurzeit -: Wie kommen wir angesichts der großen Überkapazitäten im europäischen
und im deutschen Strommarkt eigentlich zu den richtigen Kraftwerken?
({4})
Wir führen eine Debatte darüber: Soll das über Kapazitätsmechanismen oder über eine stärker marktorientierte
Organisation des Strommarktes geschehen, in deren
Rahmen der Strommarkt die Signale zur Auswahl exakt
der Kraftwerke, die wir brauchen, aussendet, damit wir
auch in windarmen und sonnenarmen Zeiten Strom haben und - da dies die effizientesten Kraftwerke sind die auch preiswert zur Verfügung stehen? Das ist die Debatte, die wir gerade führen.
Es ist nicht ganz unbekannt, dass ich sehr skeptisch
bin, was einen umfassenden Kapazitätsmarkt, den einige
fordern, angeht. Ich glaube, das hätte einen preistreibenden Effekt, den wir nicht akzeptieren sollten. Ich bin
eher dafür, in Richtung Strommarkt und Energy-onlyMarkt zu gehen. Im Übrigen glaube ich, dass wir auch
mit den Erneuerbaren stärker in diese Richtung gehen
müssen. Aber das ist eine Debatte, deren Ergebnis offen
ist und die wir bis Ende Februar nächsten Jahres führen
werden.
Was dabei aber nicht herauskommen wird, ist ein flächendeckender Kohleausstieg - das wird nicht passieren -, sondern wir werden entsprechend unseren Klimaschutzzielen die CO2-Emissionen von Kohlekraftwerken
reduzieren. Das ist keine Frage, und das wissen auch
alle. Die Kraftwerksbetreiber und die Beschäftigten wissen übrigens auch, dass es angesichts der Überkapazitäten, die wir in Europa und in Deutschland haben, zu einer Marktbereinigung kommen wird; auch das wissen
alle. Nur, was Sie vom Bündnis 90/Die Grünen fordern,
ist, dass der Staat entscheidet, wann und wo das stattzufinden hat. Das halte ich für ein ziemlich großes Risiko,
was die Preise und die Versorgungssicherheit angeht.
Darüber gibt es Streit. Ich finde, man kann ihn mit großer Gelassenheit führen, wenn man sich einfach die Zahlen ansieht.
Ich bin dagegen, dass in dieser Debatte immer wieder
Mythen gebildet werden. Die Energiewende in Deutschland leidet eher an einem Zuviel an Mythen und einem
Zuviel an Zielen. Ich glaube, unsere Aufgabe in dieser
Legislaturperiode ist, unterhalb der zwischen uns allen
verabredeten Ziele dafür zu sorgen, dass die Zahnräder
der Energiewende ineinandergreifen und wir uns nicht
überholen mit immer neuen Vorstellungen, was ein Industrieland wie Deutschland alles schaffen kann.
({5})
Die letzte Frage: Abgeordnete Frau Baerbock, Bündnis 90/Die Grünen. Bitte.
Es ist schön, dass Sie immer wissen, was wir wollen.
Wir wollen einen schrittweisen Kohleausstieg, um Planungssicherheit im Kraftwerkspark zu gewährleisten.
Eine Anmerkung zum europäischen Emissionshandel,
weil Sie uns auch unterstellen, wir würden nicht europäisch, sondern nur rein national denken und wir hätten
von Europapolitik keine Ahnung: Vielleicht sollte man
einmal anerkennen, dass auch die Leute auf der anderen
Seite ein bisschen Kenntnis haben.
({0})
Sie wissen selber ganz genau, dass für die Umsetzung
der EU-ETS-Richtlinie eine qualifizierte Mehrheit und
eben nicht Einstimmigkeit notwendig ist, und es geht darum, diejenigen, die gleiche Interessen haben, hier zusammenzuführen. Sie wissen ebenso ganz genau, dass
andere Länder hier sehr wohl vorangehen - auch mit nationalen Mindestpreisen im europäischen Emissionshandel - und dass das keine nationale Nabelschaudebatte ist.
({1})
Ich möchte jetzt noch eine Frage zum ETS stellen,
weil uns Ihre Aussage schon sehr verwundert hat. Sie
haben nämlich gesagt: Das ist das Instrument, auf das
wir setzen. Im Aktionsprogramm Klimaschutz 2020
heißt es aber nicht mehr wie früher - damit wurde vor allen Dingen Ministerin Hendricks mehrfach zitiert, und
das wurde angeblich auch auf europäischer Ebene eingebracht -, dass 2 Milliarden CO2-Zertifikate vom Markt
müssen und dass das Backloading wirklich dauerhaft
sein muss - 900 Millionen CO2-Zertifikate auf jeden
Fall dauerhaft; das hat sie mehrfach betont -, sondern in
dem Aktionsprogramm Klimaschutz 2020 heißt es jetzt
nur noch: eine „direkte Überführung der im Rahmen des
Backloading zurückgehaltenen Mengen ({2}) in diese Reserve“. Das soll also nicht mehr dauerhaft geschehen.
Ist es wirklich die Absicht der Bundesregierung, die
im Rahmen des Backloadings zurückgehaltene Menge
von 900 Millionen Zertifikaten und auch nicht mehr
2 Milliarden Zertifikate in die Reserve zu überführen,
was direkt bedeutet, dass sie auch wieder Bestandteil des
ETS werden können, wodurch das Preissignal ausfallen
würde?
Herr Bundesminister, bitte.
Bevor Kollegin Hendricks Ihnen darauf antwortet,
weil Sie sie ja gefragt haben, will ich Ihnen nur sagen:
Ich habe Ihnen nicht unterstellt, dass Sie keine Ahnung
von der Europapolitik haben. Das haben Sie von mir
nicht einmal gehört. Ich habe ganz ruhig und freundlich
darauf hingewiesen, dass Sie gelegentlich auch einmal
mit Polen und Osteuropäern reden und nicht unterstellen
sollten, dass das alles nur ein Problem in Deutschland
ist.
Ich wundere mich, dass Sie öffentlich erklären, es
gebe einen nationalen Emissionshandel. Das ist nach
dem Emissionshandelsrecht in Europa verboten.
({0})
- Es gibt in Großbritannien die Entscheidung, hier etwas
über das Steuersystem zu machen. In diesem Land, das
Sie uns hier gerade genannt haben, wurde vor kurzem
übrigens durchgesetzt, die Atomenergie mit öffentlichen
Subventionen auszubauen.
({1})
- Ich habe heute ein Maß an Freundlichkeit, das mir
meistens gar nicht zur Verfügung steht.
({2})
- Ich finde, es ist noch Vorweihnachtszeit. - Deswegen
wollte ich nur darauf hinweisen, dass ich diese Debatte
weit weniger aggressiv führe, als Sie vielleicht gehört
haben.
Den Rest macht Frau Hendricks.
({3})
Frau Bundesministerin.
Frau Kollegin Baerbock, die EU-Kommission schlägt
eine Marktstabilitätsreserve vor, die ab dem Jahr 2021
wirksam werden soll. Die Bundesregierung hat sehr
deutlich an die EU-Kommission adressiert, dass wir
diese Marktstabilitätsreserve schon zum Jahr 2017 einführen wollen. Diese Marktstabilitätsreserve ist sozusagen Gegenstand der Reform. Auf diese Weise soll die
Reform des ETS zustande kommen, und genau in diese
Marktstabilitätsreserve werden dann sinnvollerweise die
Backloading-Mengen eingebracht. Es geht also genau
um diese Reserve.
Schönen Dank. - Ich beende damit die Befragung der
Bundesregierung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Fragestunde
Drucksache 18/3360, 18/3401
Zu Beginn der Fragestunde rufe ich gemäß Nummer 10 der Richtlinien für die Fragestunde die dringliche
Frage auf Drucksache 18/3401 auf.
Sie betrifft den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Die Beantwortung übernimmt der Parlamentarische Staatssekretär Hans-Joachim Fuchtel.
Ich rufe die dringliche Frage 1 des Abgeordneten Jan
van Aken, Fraktion Die Linke, auf:
Wie bewertet die Bundesregierung die Ankündigung des
Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen vom
1. Dezember 2014, die Nahrungsmittelhilfe für syrische
Flüchtlinge in den Nachbarstaaten Libanon, Jordanien, Türkei, Irak und Ägypten aufgrund von Geldmangel einzustellen
({0}) hinsichtlich der humanitären und politischen Folgen für die betroffenen Staaten, und was unternimmt die Bundesregierung
im Rahmen ziviler Krisenprävention, um einer Verschärfung
und Eskalation der humanitären und politischen Situation in
den betroffenen Ländern vorzubeugen?
Herr Staatssekretär, bitte.
Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär beim
Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung:
Herr Kollege van Aken, der Bundesminister
Dr. Müller weist schon seit Monaten darauf hin, dass es
Probleme mit der Finanzierung der Ernährung und Unterbringung der Flüchtlinge gibt. Er war selber vor Ort,
und er hat auch vor diesem Hohen Hause sehr deutlich
auf die Probleme hingewiesen und darüber gesprochen,
dass sich hier eine Katastrophe entwickeln kann. Er hat
dafür geworben, dass alle Beteiligten Mittel bereitstellen, um die Finanzierung auf den Weg zu bringen.
Der Minister war vor sechs Wochen in New York und
hat bei der Direktorin des World Food Programmes vorgesprochen, um sich nochmals eingehend zu informieren. In den letzten Wochen und Tagen sind vonseiten der
Bundesregierung nochmals 22,5 Millionen Euro zusätzlich zur Verfügung gestellt worden, sodass die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2014 jetzt 54 Millionen
Euro zur Verfügung gestellt hat und alle getroffenen Zusagen eingehalten hat.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter van Aken?
Vielen Dank. - Diese 22,5 Millionen Euro extra reichen nach Angaben des Welternährungsprogramms ungefähr bis zum 14. oder 15. Dezember dieses Jahres. Danach ist wieder Schluss. Dann muss das Programm
wieder seine Zahlungen für die ganzen Flüchtlingslager
rund um Syrien einstellen.
Meine Frage an Sie: Was tun Sie denn, um die Nichtzahler davon zu überzeugen, zu zahlen? Nach Aussage
des Welternährungsprogramms ist es so: Das große Problem ist, dass ganz viele Länder gepledgt haben, also
Geld angekündigt, aber nicht gezahlt haben. Ich möchte
von Ihnen gerne wissen: Welche Partner aus der EU und
der NATO haben denn ihren Pledge nicht erfüllt? Was
tun Sie, um diese Länder davon zu überzeugen, endlich
das Geld herüberwachsen zu lassen?
Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär beim
Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung:
Wir würden gerne noch mehr tun, aber wir verfügen
nicht über Kenntnisse und Einzelheiten darüber, wer bezahlt und wer nicht bezahlt hat. Wir können deswegen
nur allgemein an alle appellieren, die Not zu sehen und
den eigenen Verpflichtungen nachzukommen. Ich kann
nur wiederholen: Deutschland liegt mit seinen Zahlungen an das Welternährungsprogramm weit vorne und mit
seinen gesamten Zahlungen für die Regionen ebenfalls.
Noch eine Nachfrage, Herr van Aken?
Nur um das kurz zu kommentieren: Ich bin mir sicher,
dass das Welternährungsprogramm Ihnen ohne Weiteres
sagen könnte, wer wie viel bezahlt hat, und dann könnten Sie aktiv werden. Das möchte ich nur einmal anregen.
Aber eine ganz andere Frage. Das eine ist das Geld,
das Deutschland gibt. Das andere ist eine andere Art von
Unterstützung für die Flüchtlinge aus Syrien. Wir wissen, dass es um viele Millionen Menschen geht. Wir
wissen auch, dass Deutschland bislang angeboten hat,
20 000 Flüchtlinge aus Syrien hier aufzunehmen. Ich
finde die Zahl von 20 000 Menschen viel zu wenig.
Angesichts der Tatsache, dass ab Mitte Dezember die
Zahlungen des Welternährungsprogramms wieder eingestellt werden müssen und Millionen Menschen in der
Region deswegen hungern müssen, wünsche ich mir,
dass die Bundesregierung beschließt, eine größere Zahl
von Flüchtlingen hier aufzunehmen. Meine Frage ist:
Was war das Ergebnis der letzten Debatten im Kabinett
zu der Frage, mit wie vielen Flüchtlingen aus Syrien wir
in Zukunft in Deutschland rechnen können?
Herr Staatssekretär.
Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär beim
Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung:
Ich kann Ihnen hierzu keine neuen Erkenntnisse mitteilen.
Danke schön. - Die nächste Frage dazu stellt der Abgeordnete Kekeritz, Bündnis 90/Die Grünen. Bitte.
Die Frage der Nahrungsmittelhilfe betrifft nicht nur
die syrischen Flüchtlinge. Es gibt noch sehr viel mehr
Probleme. Schauen wir uns einmal den Südsudan an:
Dort hungern Millionen Menschen. Schauen wir uns die
Zentralafrikanische Republik an: Auch da herrscht eine
riesige Hungersnot. In Somalia - das weiß man nicht ge-
nau - könnte demnächst auch eine Hungersnot ausbre-
chen.
Wie stellt sich die Bundesregierung denn die Behand-
lung dieser Problematik a) national, b) europäisch und c)
auf UN-Ebene vor? Es ist doch sicher im Interesse der
Bundesregierung, da eine Lösung zu finden. Die Lösung
kann nicht sein, nur bis zum 15. Dezember dieses Jahres
zu denken.
Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär beim
Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung:
Es ist richtig, dass die Bundesrepublik ein großes Interesse daran hat, Lösungen mit Perspektive zu finden.
Zunächst einmal darf ich darauf verweisen, dass im
Haushaltsausschuss hierzu eine sehr gründliche Debatte
stattgefunden hat, die dann in der Bereinigungssitzung
dazu geführt hat, dass die Mittel sowohl für die humanitäre Hilfe wie auch für die ESÜH des BMZ wesentlich
erhöht wurden, und zwar im Fall des BMZ von 49 Millionen Euro auf 139 Millionen Euro. In Einzelberatungen wird nun darüber gesprochen, wie diese Mittel effektiv eingesetzt werden. Das ist der nationale Teil.
Außerdem darf ich darauf hinweisen, dass mein
Minister ständig Gespräche mit dem Ziel führt, eine konstruktive Lösung zu erreichen. Das gilt für Gespräche
mit Bischöfen der Kirchen von Damaskus. Das gilt für
Gespräche mit dem nationalen und dem internationalen
Roten Kreuz. Das gilt, wie schon gesagt, auch für das
World Food Programme in New York und natürlich auch
Richtung EU.
Schönen Dank. - Nachdem die dringliche Frage aufgerufen und beantwortet worden ist, rufe ich jetzt die
mündlichen Fragen auf Drucksache 18/3360 in der üblichen Reihenfolge auf. Wir kommen zunächst zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und
Soziales. Zur Beantwortung steht Frau Parlamentarische
Staatssekretärin Annette Kramme bereit.
Die Fragen 1 und 2 des Abgeordneten Matthias W.
Birkwald werden schriftlich beantwortet.
Wir kommen zur Frage 3 des Abgeordneten Markus
Kurth:
Was sind aus Sicht der Bundesregierung die wesentlichen
rechtlichen Hemmnisse, um eine Beschäftigung auch im Rentenalter zu erleichtern?
Frau Staatssekretärin, bitte.
Herzlichen Dank, Herr Präsident. - Herr Kurth, ich
gehe nicht davon aus, dass Sie tatsächlich die Frage beantwortet haben wollen, welche rechtlichen Hemmnisse
eine Beschäftigung im Rentenalter erleichtern. Solche
wären mir nämlich nicht bekannt. Sofern Ihre Frage so
gemeint sein sollte, ob es rechtliche Hemmnisse gibt, die
die Beschäftigung im Rentenalter erschweren, kann ich
Ihnen Folgendes sagen:
Derzeit beschäftigt sich eine Arbeitsgruppe der Koalitionsfraktionen mit der Frage flexibler Übergänge in das
Rentenalter. Insoweit wird auch über Hemmnisse diskutiert, die die Beschäftigung im Rentenalter erschweren.
Wir werden die Ergebnisse dieser Arbeitsgruppe abwarten und uns dann in einem gesonderten Prozess mit dieser Thematik näher beschäftigen.
Haben Sie dazu eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter
Kurth?
Natürlich. - Ich persönlich empfinde diese Antwort
als etwas dürftig. In der vorherigen Debatte über die
Politik für Menschen mit Behinderung hat sich die Kollegin Rüffer in ihrer Rede über die Auskunftsfreudigkeit
bzw. Nichtauskunftsfreudigkeit der Bundesregierung beklagt, wenn es um die Benennung zumindest von Zielperspektiven geht. Insofern meine genaue Nachfrage:
Der Abgeordnete Carsten Linnemann, der sowohl Mitglied der CDU-Fraktion als auch dieser Arbeitsgruppe
ist, hat laut Süddeutscher Zeitung vom vergangenen
Samstag mitgeteilt, dass 15 sehr komplexe Themen diskutiert worden seien. Wenn Sie schon keine Ergebnisse
mitteilen können, können Sie dann wenigstens sagen
- schließlich nehmen Vertreter der Bundesregierung
auch an den Sitzungen dieser Koalitionsarbeitsgruppe
teil -, welches die wichtigsten dieser komplexen Themen sind?
Ich hoffe, Sie haben Verständnis dafür, dass ich jetzt
nicht 15 Themen der Reihe nach herunterdeklinieren
kann.
({0})
Ich kann aber sehr wohl einige dieser Fragestellungen
wiedergeben. Es geht beispielsweise um die Frage der
Rentenbeiträge von Älteren. Es geht beispielsweise um
die Frage von befristeten Arbeitsverhältnissen bei Älteren. Es geht beispielsweise um Hinzuverdienstmöglichkeiten von Älteren, die sich auch im vorgezogenen
Rentenbezug befinden. Es geht um Fragen der Gesundheitspolitik. Es geht um die Frage, wie man die Gesundheit älterer Menschen besser schützen kann, sodass diese
länger am Erwerbsprozess teilnehmen können. Es geht
um Vorschläge zu einem sogenannten Alterssicherungsgeld. - Das sind die Dinge, die mir aus dem Stegreif
dazu einfallen.
Sie haben noch die Möglichkeit zu einer weiteren Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Kurth. Mögen Sie?
Ja. - Ergänzend zunächst noch der Hinweis zu Ihrer
Antwort: Sie sind ja schon fast auf 15 Themen gekommen. Wenn Sie die noch fehlenden Themen schriftlich
nachreichen könnten, wäre ich Ihnen dankbar.
Kommen wir zu einem konkreten Vorschlag, den Sie
vorhin auch genannt haben. Die Junge Union und auch
die Gruppe der jungen Abgeordneten der Union, zu denen Herr Linnemann auch gehört, wollen eine bestimmte
Regelung streichen, nämlich die Regelung, wonach befristete Arbeitsverträge mit Arbeitnehmern über 52 Jahren nur über fünf Jahre geschlossen werden können, dies
aber nur dann, wenn sie zuvor mindestens vier Monate
arbeitslos waren.
Welche Gründe sprechen aus Sicht der Bundesregierung dafür, an dieser Regelung festzuhalten?
Hierzu gibt es keine Meinungsbildung innerhalb der
Bundesregierung. Wie gesagt, wir werden uns mit der
Thematik beschäftigen, wenn der Prozess in der Koalitionsarbeitsgruppe abgeschlossen ist.
Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft. Zur Beantwortung der Fragen steht die Parlamentarische Staatssekretärin Frau Dr. Flachsbarth zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 4 des Abgeordneten Ostendorff auf:
Wie genau hilft die Unterzeichnung des Veterinärprotokolls mit China ({0}) für den Export von
Pferden und die Anerkennung des Verarbeitungsstandards für
Nebenprodukte der Schweinefleischerzeugung den deutschen
Schweinehaltern weiter, die, wie Kollegen in anderen führenden Produzentenländern auch, Notierungseinbrüche um bis zu
21 Cent/kg Schlachtgewicht ({1}) innerhalb weniger Wochen
hinnehmen mussten, sodass die Produktion nach Berechnungen von Experten vielerorts nicht mehr kostendeckend ist
({2})?
Herr Kollege Ostendorff, ich beantworte Ihre Frage
wie folgt: Durch die Abstimmung des Veterinärprotokolls für den Export von Pferden aus der Bundesrepublik
Deutschland in die Volksrepublik China konnten die
langjährigen Verhandlungen der tiergesundheitlichen
Bedingungen für den Export von Pferden erfolgreich abgeschlossen werden. Seit Mai 2014 wurden die ersten
Sportpferde, circa 40 Tiere, nach China exportiert.
Die Anerkennung des Verarbeitungsstandards für
Schweinepfoten, der sogenannte Pfotenstandard, ist
ebenfalls das Ergebnis langwieriger Verhandlungen mit
dem Staatlichen Zentralamt für Qualitätsüberwachung,
Inspektion und Quarantäne, AQSIQ, der Volksrepublik
China. In diesem Standard wurden die grundsätzlichen
Anforderungen an die Gewinnung und weitere Behandlung von Schweinepfoten in deutschen Schlachtbetrieben festgelegt. Durch die Anerkennung des Pfotenstandards durch die chinesischen Behörden wurde die
Voraussetzung dafür geschaffen, dass deutsche Schlachtbetriebe dieses Produkt, welches auf dem chinesischen
Markt im Gegensatz zum deutschen sehr gefragt ist,
nach China exportieren können.
Im Zuge der Anerkennung des Pfotenstandards konnten weitere drei deutsche Schlachtbetriebe für den Export von Schweinepfoten nach China zugelassen werden. Dadurch werden die Verwertungsmöglichkeiten der
Schlachtkörper nachhaltiger und damit die Wertschöpfung ebenfalls erhöht, wodurch zusätzliche Erlöse generiert werden können. Davon profitieren selbstverständlich auch die Landwirte in Form höherer Erzeugerpreise.
Das aktuell relativ niedrige Preisniveau bei Schweinefleisch ist nur teilweise auf die fehlenden Exportmöglichkeiten nach Russland infolge von Veterinärmaßnahmen und des Einfuhrembargos für Lebensmittel
zurückzuführen. Während die Schweinefleischexporte in
Drittländer insgesamt im Zeitraum von Januar bis August 2014 um 2 Prozent zurückgegangen sind, wurden
die Exporte nach Asien ausgebaut.
Hauptverantwortlich für den Preisdruck sind seit August 2014 deutlich gestiegene Schlachtzahlen und eine
im Vergleich zum Vorjahr niedrigere Verbrauchernachfrage. Eine gewisse Stabilisierung zeichnet sich allerdings in den letzten Wochen ab.
Herr Kollege Ostendorff, ich vermute, Sie haben eine
Nachfrage.
In der Tat, Herr Präsident, Sie vermuten richtig. Sehr geehrte Staatssekretärin, die Themen, die wir jetzt
ansprechen, werden wir möglicherweise noch in der
heute-show betrachten können. Aber das Pfotenabkommen und das Veterinärabkommen zum Export von Sportpferden stehen in einem Zusammenhang.
Der Staatssekretär ist nach China gereist und hat vorher sehr umfassende Ankündigungen gemacht, die
Exportmöglichkeiten für deutsche Agrarprodukte auszuloten, zu verbessern und auszubauen. Denn es ist nach
den uns zur Verfügung stehenden Zahlen nicht so, wie
Sie es gesagt haben. Deswegen bitte ich Sie im Rahmen
meiner ersten Frage darum, uns diese Zahlen zur Verfügung zu stellen. Denn die uns vorliegenden Daten der
AMI, die gemeinhin als Grundlage gelten, besagen, dass
der China-Handel eben nicht voranschreitet, sondern
stark zurückgegangen ist. Nehmen wir das Beispiel
Milch: Im Sommer waren es noch 22 000 Tonnen pro
Monat. Jetzt sind es 11 000 Tonnen. Für Fleisch gilt
Ähnliches.
Wie erklären Sie sich, dass vor dem Antreten der Reise
hohe Erwartungen geweckt wurden, dass der sehr lahmende Abverkauf von Schweinefleisch bzw. Schweinepfoten deutlich angekurbelt werden soll, dass es aber in
China selbst darum ging, Sportpferde, sprich: Hottemäxe,
die durch die Arena reiten, zu exportieren? Der Zusammenhang hat sich mir noch nicht erschlossen, inwiefern
das dazu beiträgt, den Schweinefleischexport anzukurbeln.
Herr Kollege Ostendorff, es ging bei diesen Verhandlungen tatsächlich um zwei Handlungsfelder. Es ging auf
der einen Seite um Sportpferde und auf der anderen Seite
um den Verkauf von Schweineprodukten.
Aus unserer Sicht ist es ausgesprochen erfreulich
- auch im Sinne einer nachhaltigen Verwendung von
Tierkörpern -, dass es sich eben nicht um Produkte handelt, für die auch im Inland und in Europa eine starke
Nachfrage herrscht, wie bei den sogenannten edlen
Fleischstücken. Vielmehr besteht auch Nachfrage nach
Produkten, zum Beispiel Pfoten, die hierzulande kaum
nachgefragt werden. In China ist die Nachfrage ausgesprochen gut.
Sie haben sicherlich noch eine zweite Nachfrage.
Natürlich habe ich eine zweite Nachfrage. Auch hier
vermuten Sie richtig, Herr Präsident.
Wenn das so ist, wie Sie sagen, will ich versuchen,
den Nebel ein bisschen zu lichten. Erklären Sie mir doch
bitte, warum die infrage stehenden Pfoten in China acht
Wochen auf Reede liegen und nicht abgeladen werden,
wenn doch der Bedarf so groß ist. Mir erschließt sich
nicht, dass in China so große Nachfragepotenziale bestehen, wenn es dort kaum Möglichkeiten gibt, die Fracht
an Land zu bringen.
Herr Kollege Ostendorff, es gibt unterschiedliche
Essgewohnheiten, die kulturell bestimmt sind, sowohl in
Deutschland als auch in China. Ich erinnere mich trotz
meines noch nicht so fortgeschrittenen Alters an eine
Zeit, in der auch hier in Deutschland solche Fleischteile
sehr gern konsumiert wurden. Das hat sich aber in den
letzten 50 Jahren verändert.
Die Situation, die Sie ansprechen, betrifft einen bestimmten einzelnen Exporteur, der Probleme hat. Wir
versuchen, unterstützend zu wirken und diese Probleme
zu beseitigen.
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin.
Wir kommen zur Frage 5 des Kollegen Ostendorff:
Wie viele Pferde wurden nach Kenntnis der Bundesregierung in den vergangenen drei Jahren nach China exportiert,
und zu welchem Zweck?
Herr Kollege Ostendorff, diese Frage darf ich wie
folgt beantworten: Gemäß der Außenhandelsstatistik
wurden im Jahr 2011 49 Nutzpferde in die Volksrepublik
China exportiert. Im Jahr 2012 waren es 51, und im verParl. Staatssekretärin Dr. Maria Flachsbarth
gangenen Jahr wurden 72 Pferde exportiert. Mit der Paraphierung des Veterinärprotokolls für den Export von
Pferden aus der Bundesrepublik Deutschland in die
Volksrepublik China am 7. Mai 2014 in Peking konnten
die Rahmenbedingungen für einen tiergesundheitlich sicheren Export geschaffen werden. Hintergrund war das
große Interesse der chinesischen Seite am Import von
Sportpferden für die Jugendolympiade im August 2014
in China, bei welcher das ausrichtende Land die Pferde
für die Gastreiter stellen musste. Seit Mai 2014 wurden
circa 40 Pferde aus Deutschland nach China versandt.
Die nach China exportierten Pferde dienen ausschließlich der sportlichen Nutzung sowie gegebenenfalls der
Zucht.
Herr Kollege Ostendorff, Sie haben die Möglichkeit,
eine Nachfrage zu stellen.
Frau Staatssekretärin, schönen Dank. - Können Sie
mir erklären, warum Staatssekretär Bleser in China
selbst das Abkommen zur Vermarktung von Sportpferden geschlossen hat und warum sich der Bundesminister
eingeschaltet hat und einen kurzen Gruß an die dort Versammelten gesandt hat? Warum hat der Staatssekretär
nach seiner Reise nach China die Bewertung abgegeben,
dass dies ein Meilenstein für die Stärkung des Exports
deutscher Agrarprodukte ist? Wie kam das zustande?
Herr Kollege Ostendorff, wie Sie wissen, ist Deutschland ein Standort der Pferdezucht in unterschiedlichen
Bundesländern. Wir schauen mit einem gewissen Stolz
auf den Erfolg dieser Zucht und die Erfolge unserer
Sportpferde in vielen internationalen Wettbewerben. Daher ist die Möglichkeit, deutsche Sport- und Zuchtpferde
in das Ausland zu exportieren, wichtig für den Agrarstandort Deutschland.
Haben Sie eine weitere Nachfrage, Herr Kollege
Ostendorff?
Nach diesen Auskünften habe ich keine weitere
Nachfrage, Herr Präsident.
Vielen Dank. - Gibt es dazu weitere Fragen? - Das ist
nicht der Fall.
Die Frage 6 der Abgeordneten Bärbel Höhn und die
Frage 7 des Abgeordneten Harald Ebner werden schriftlich beantwortet.
Ich danke der Staatssekretärin Dr. Flachsbarth.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung. Die Frage 8 der Abgeordneten Katrin Kunert wird schriftlich beantwortet.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
Zur Beantwortung der Frage steht Frau Staatssekretärin
Elke Ferner zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 9 der Kollegin Britta Haßelmann
auf:
Wie ist in den Bundesministerien der Stand der Umsetzung der geltenden Regelungen für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf - nicht nur auf der Leitungsebene, sondern in
allen Bereichen der Ressorts -, und nimmt das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend dabei eine
besondere Vorbildfunktion für andere Ministerien ein?
Frau Staatssekretärin.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kollegin
Haßelmann, alle Ressorts haben das Zertifikat für Familienfreundlichkeit des Audits berufundfamilie bekommen. Die Zertifizierung umfasst dabei mehrere Bereiche,
zum Beispiel Arbeitszeit, Arbeitsorganisation, Informations- und Kommunikationspolitik, Führungskompetenz
oder Personalentwicklung. Die Ressorts setzen jeweils
bedarfsbezogene eigene Schwerpunkte. Die Umsetzung
familienfreundlicher Maßnahmen in den Bundesministerien ist insgesamt vorbildlich.
Bereits seit 2003 haben der Bundeswirtschaftsminister und die Bundesfamilienministerin gemeinsam die
Schirmherrschaft über das Audit inne. 2008 hat das
BMFSFJ einen Kabinettsbeschluss zur Teilnahme aller
Ressorts am Audit initiiert. Die Bundesregierung hat
sich damit ausdrücklich zum hohen Stellenwert einer familienbewussten Personalpolitik bekannt und kommt daher auch ihrer Vorbildfunktion als Arbeitgeber nach. Das
gilt für alle Bereiche der Ministerien.
Im Rahmen des Maßnahmenprogramms „Nachhaltigkeit“ haben die Ressorts zudem Beschäftigtenbefragungen zur Zufriedenheit mit der Vereinbarkeit von Beruf
und Familie in den einzelnen Häusern durchgeführt. Die
Ergebnisse dieser Befragungen befinden sich derzeit in
der Auswertung und werden demnächst weitere Erkenntnisse liefern.
Frau Kollegin Haßelmann, haben Sie eine Nachfrage
dazu?
Vielen Dank, Herr Präsident. - Vielen Dank, Frau
Staatssekretärin. Ich habe eine Nachfrage dazu. Mich
würde vor dem Hintergrund Ihrer gerade dargelegten
Bewertung interessieren, welche Konsequenzen insbesondere das Bundesministerium für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend und die Ministerin aus den drei Klagen vor dem Verwaltungsgericht Berlin und den bestehenden Anwürfen ziehen, dass Regelungen zur Gleichstellung und Vereinbarkeit von Familie und Beruf im
entsprechenden Bundesministerium nicht ausreichend
umgesetzt werden, und wie sie dies bewerten.
Zu anhängigen Klagen werde ich jetzt keine Stellung
nehmen, weil ich zu laufenden Verfahren hier im Parlament keine Stellungnahmen abgeben möchte.
Was die Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf anbelangt, kann ich Ihnen sagen, dass bei uns im
Ministerium - das ergab die eben erwähnte Befragung 80 Prozent der Beschäftigten, die an der Befragung teilgenommen haben - das waren gut zwei Drittel der Beschäftigten -, der Auffassung sind, dass sich Beruf und
Familie gut vereinbaren lassen, und dass über 90 Prozent
der Beschäftigten der Ansicht sind, dass das BMFSFJ
eine familienfreundliche Dienststelle ist.
Wir haben über 60 verschiedene Teilzeitmodelle. Ungefähr ein Drittel der Belegschaft nutzt flexible Arbeitszeitformen wie Telearbeit, mobiles Arbeiten oder externen Mailzugriff. Es gibt eine Dienstvereinbarung über
gleitende Arbeitszeit, die für alle Beschäftigten ein hohes Maß an zeitlicher Flexibilität gewährleistet. Wir haben zusammen mit dem Ministerium für Arbeit und
Soziales ein Pilotprojekt zur Einführung von Langzeitarbeitskonten durchgeführt, das jetzt im Rahmen der Novellierung der Arbeitszeitverordnung noch ausgeweitet
wird.
Wir haben eine eigene Kindertagesbetreuungseinrichtung sowohl am Standort Bonn als auch in Berlin. Ferner
haben wir ein Familienserviceangebot, bei dem es darum
geht, den Kolleginnen und Kollegen Hilfestellung zu
leisten, wenn es um die Vermittlung von Betreuung für
die Kinder oder auch für zu pflegende Angehörige geht.
Frau Kollegin Haßelmann, Sie haben die Möglichkeit, auch noch eine zweite Nachfrage zu stellen.
Ich habe keine zweite Nachfrage, sondern nur die
Bitte, dass dann, wenn die Erhebung abgeschlossen ist,
Sie, Frau Staatssekretärin, uns die Ergebnisse zur Verfügung stellen.
Wenn wir die Ergebnisse zusammengetragen haben
und die Leitung damit befasst war, können wir Ihnen
diese gerne zur Verfügung stellen.
Ich sehe, es gibt keine weiteren Nachfragen.
Ich danke Frau Staatssekretärin Ferner. Wir verlassen
damit diesen Geschäftsbereich.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit. Für die Beantwortung der
Fragen ist Frau Staatssekretärin Annette Widmann-Mauz
anwesend.
Wir kommen zur Frage 10 der Abgeordneten Kordula
Schulz-Asche:
Wann plant das Bundesministerium für Gesundheit, BMG,
in Reaktion auf den Vorschlag der europäischen Arzneimittelbehörde, die Pille danach mit dem Wirkstoff Ulipristalacetat
europaweit aus der Verschreibungspflicht zu entlassen, in
Deutschland die Pille danach mit dem Wirkstoff Levonorgestrel aus der Verschreibungspflicht zu entlassen, und wie sieht
der Zeitplan der dafür notwendigen Änderung der Arzneimittelverschreibungsverordnung aus?
Frau Kollegin Schulz-Asche, mit Datum vom 21. November 2014 hat die Europäische Arzneimittelagentur
darüber informiert, dass der zuständige Ausschuss für
Humanarzneimittel empfohlen hat, das Notfallkontrazeptivum ellaOne mit dem Wirkstoff Ulipristal aus der
Verschreibungspflicht zu entlassen.
Das Bundesministerium für Gesundheit wird die aktuelle Empfehlung des Ausschusses für Humanarzneimittel genau prüfen und die Entscheidungsfindung bei
der Europäischen Kommission weiter verfolgen. Ziel ist
es, eine gute Beratung für Notfallkontrazeptiva mit beiden Wirkstoffen, Levonorgestrel und Ulipristal, aus einer Hand sicherzustellen. Zu einer Entscheidung der Europäischen Kommission in Bezug auf die Empfehlung
des Ausschusses für Humanarzneimittel wird es voraussichtlich erst ab Ende Januar 2015 kommen. Die Entscheidung bleibt abzuwarten.
Frau Kollegin Schulz-Asche, Sie haben die Möglichkeit zu einer Nachfrage.
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin, für diese Antwort. Ich habe folgende Nachfrage. Sowohl die schwarz-gelbe
Vorgängerregierung als auch die jetzige Regierung mit
Gesundheitsminister Gröhe sind der Empfehlung des
Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte
nicht gefolgt, die lautete, den Wirkstoff Levonorgestrel
aus der Verschreibungspflicht zu entlassen. Gleichzeitig
hat man sehr viele Vorbehalte gegen den Wirkstoff Ulipristalacetat geäußert, dessen Freigabe die Europäische
Arzneimittelkommission plant. Von daher haben wir
jetzt die Situation, dass wir unter Umständen einen
Wirkstoff haben, dessen breite Anwendung in Europa
nachweislich zu wenig Nebenwirkungen geführt hat: Levonorgestrel. Bei Ulipristalacetat gibt es das Problem,
dass wir bisher nur sehr wenige Versorgungsdaten haben. Insofern meine Frage: Was planen Sie, um sicherzustellen, dass die Versorgungs- und Wirkungsdaten von
Ulipristalacetat tatsächlich auch erhoben werden? Wie
gesagt, das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte hat beim Wirkstoff Ulipristalacetat im Gegensatz zum Wirkstoff Levonorgestrel äußerst viele Bedenken gehabt.
Frau Kollegin Schulz-Asche, wie Sie richtig beschreiben, haben wir es mit zwei unterschiedlichen Sachverständigenausschüssen zu tun, mit zwei unterschiedlichen
Arzneimitteln, mit unterschiedlichen Wirkmechanismen,
vor allen Dingen mit unterschiedlich langer Marktfähigkeit und damit mit unterschiedlichen Erfahrungen. Der
Bundesminister für Gesundheit hat immer klargemacht,
dass ihm die Sicherheit der Patientinnen und Patienten
und eine gute, schnelle, vorurteilsfreie Beratung sehr
wichtig sind. Deshalb werden wir, wie ich bereits ausgeführt habe, die Empfehlungen des europäischen Ausschusses für Humanarzneimittel sehr genau prüfen und
die Entscheidungsfindung der Europäischen Kommission abwarten. Dem geht ein Prozedere voraus, das ich
Ihnen ansonsten gerne zur Verfügung stelle.
Nach der Entscheidung der Europäischen Kommission wird unser Haus eine Entscheidung in Bezug auf
die Pflicht zur Verschreibung von levonorgestrelhaltigen
Notfallkontrazeptiva treffen. Auch da gilt, weil wir es
immer in einem Kontext gesehen haben: Es ist uns wichtig, auch in Zukunft eine umfassende Beratung für beide
Wirkstoffe aus einer Hand zu gewährleisten.
Frau Kollegin Schulz-Asche, Sie haben die Möglichkeit einer zweiten Nachfrage.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Frau Widmann-Mauz,
mich hat Ihre Aussage etwas gewundert, dass es schon
immer im Interesse von Gesundheitsminister Gröhe war,
eine umfassende Beratung sicherzustellen; schließlich
hatte er ja gar nicht vor, den Wirkstoff aus der Verschreibungspflicht zu entlassen. Aber das lasse ich jetzt einmal
im Raum stehen.
Auf jeden Fall wird ja, wenn beide Medikamente
nicht mehr verschreibungspflichtig sind, die Aufgabe
der Apotheker sehr wichtig, eine gute Beratung durchzuführen. Mit welchen Partnern, zum Beispiel mit dem
Bundesinstitut, werden Sie sicherstellen, dass die entsprechenden Informationen sowohl bei den Apothekern
zur Beratung der Frauen eintreffen als auch zum Beispiel
im Internet eingestellt werden?
Frau Kollegin Schulz-Asche, zunächst einmal: Im
Moment sind beide Präparate verschreibungspflichtig,
und damit unterliegen sie der Pflicht zur Beratung durch
den Arzt, was in Deutschland bislang als sehr wichtig,
notwendig und auch schützenswert empfunden wurde.
Deshalb haben wir einen hohen Anspruch an die ärztliche Beratung, an Beratung zu diesen Präparaten insgesamt.
Wie gesagt, wir haben jetzt eine neue Situation, die
durch eine Empfehlung des zuständigen europäischen
Ausschusses für Humanarzneimittel entstanden ist, die
nach einem Austausch in den europäischen Gremien mit
den Mitgliedstaaten und den betroffenen Unternehmen
zu einer Entscheidung der Kommission führen wird.
Diese Entscheidung sollten wir nicht vorwegnehmen.
Sollte es zu einer solchen Entscheidung auf europäischer
Ebene kommen, werden wir diese sehr genau prüfen.
Das gilt auch für die Auswirkungen auf die deutsche Situation, was die Frage der Entlassung aus der Verschreibungspflicht anbelangt.
Bundesminister Gröhe hat gesagt: Sollte es zu einer
Empfehlung auf europäischer Ebene kommen, die das
Erfordernis einer ärztlichen Beratung nicht mehr sieht,
legen wir großen Wert auf Kontinuität in der Beratungssituation. Das heißt, wir werden dann, wenn aus Sicht
der Europäischen Kommission nicht mehr der Arzt die
beratende Person sein soll, gemeinsam mit dem Bundesinstitut für Arzneimittel, den Frauenärzten und der Apothekerschaft Kriterien dazu festlegen, wie eine gute Beratungssituation in Deutschland insgesamt ermöglicht
werden kann, damit dem Schutz der Patientinnen auch in
Zukunft Rechnung getragen werden kann.
Wir kommen jetzt zur Frage 11 der Kollegin Kordula
Schulz-Asche:
Plant das BMG begleitende Regelungen - Beratung, weiterhin kostenlose Abgabe an junge Frauen bei ärztlicher Verordnung ({0}) -, und wann
werden die hierfür notwendigen gesetzlichen Regelungen in
den Deutschen Bundestag eingebracht?
Frau Kollegin Schulz-Asche, Ziel ist es, eine gute und
umfassende Beratung der Frauen aus einer Hand vor einer Abgabe und Anwendung von Notfallkontrazeptiva
mit beiden Wirkstoffen - Levonorgestrel und Ulipristal sicherzustellen. Wie dies sichergestellt werden kann,
wird nach Vorliegen des Kommissionsbeschlusses zu
entscheiden sein.
Grundsätzlich gilt: Frauenärzte, Apotheken und das
zuständige Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte müssen hier zusammenwirken, um eine qualitativ hochwertige und umfassende Beratung für beide
Wirkstoffe zu entwickeln und sicherzustellen. Wenn diese
Beratung aufgrund eines Beschlusses der EU-Kommission, das Medikament ellaOne aus der Verschreibungspflicht zu entlassen, zukünftig nicht mehr zwingend
durch einen Arzt im Rahmen der Verschreibung vorgenommen werden muss, ist eine intensive Beratung in den
Apotheken der richtige Weg.
Gesetzliche Krankenkassen erstatten die Kosten für
die vom Arzt verschriebenen hormonellen Kontrazeptiva
bei Mädchen und jungen Frauen bis zum vollendeten
20. Lebensjahr. Die Bundesregierung wird auch prüfen,
welche Konsequenzen für die Erstattungsfähigkeit sich
aus der Entlassung aus der Verschreibungspflicht gegebenenfalls ergeben.
Frau Kollegin Schulz-Asche, haben Sie eine Nachfrage?
Ja. Vielen Dank. - Ich finde es auch richtig, zu prüfen, inwieweit es gerade für Mädchen und junge Frauen
unter 21 Jahren weiter möglich sein muss, die Kosten für
die Pille danach erstattet zu bekommen. Von daher ist
meine Frage: Planen Sie eine Regelung analog zu den
OTC-Regeln, die es ermöglicht, für bestimmte nicht verschreibungspflichtige Medikamente eine Erstattung vorzusehen? Ist etwas in dieser Richtung geplant, oder
haben Sie vor, in einer anderen Richtung über die Kostenerstattung nachzudenken?
Frau Kollegin, es freut uns immer sehr, wenn Sie sich
schon vielfach Gedanken um diese Themen machen.
({0})
Zunächst wird die Bundesregierung die Entscheidungen
auf europäischer Ebene - sie sind noch nicht getroffen sorgfältig prüfen. Aber auch die von Ihnen angesprochenen Fragen werden bei der Prüfung bezüglich einer Erstattungsfähigkeit eine Rolle spielen. Da wir die Prüfung
noch nicht abgeschlossen haben, sondern erst am Anfang dieses Prozesses stehen, bitte ich um Verständnis
dafür, dass ich diesen Beratungen und dieser Prüfung
jetzt nicht vorgreifen möchte.
Dann danke ich Ihnen ganz herzlich. Ich habe keine
weitere Frage, freue mich aber, dass die EU jetzt so entschieden hat, nachdem dies schon lange absehbar war,
und wir unter Umständen tatsächlich dazu kommen, dass
die Pille danach verschreibungsfrei abgegeben werden
kann.
Danke schön.
Die Fragen 12 und 13 des Kollegen Dr. Harald Terpe
werden schriftlich beantwortet.
Somit danke ich der Staatssekretärin Widmann-Mauz
für die Beantwortung.
Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur. Die
Frau Staatssekretärin Katherina Reiche steht für die Beantwortung zur Verfügung.
Die Frage 14 hat die Kollegin Sabine Leidig von den
Linken gestellt:
In welchem Umfang - Wert in Euro - hat das EisenbahnBundesamt, EBA, in den Jahren 2011, 2012 und 2013 Aufträge zum Projekt Stuttgart 21 an freiberufliche Fachingenieure, Beraterfirmen und andere Auftragnehmer ({0}) vergeben?
Frau Staatssekretärin.
Herr Präsident! Frau Kollegin! Das Eisenbahn-Bundesamt hat im angefragten Zeitraum Aufträge zum Projekt Stuttgart 21 in Höhe von 4 493,44 Euro vergeben.
Frau Kollegin, haben Sie eine Nachfrage zu dieser
kurzen Antwort?
Ich habe noch zwei Nachfragen, aber ich hatte mir natürlich gewünscht, dass meine eigentliche Frage beantwortet wird. Die Antwort war zu kurz. Ich fände es
schade, wenn die Bitte um Beantwortung von der Zeit
für meine Nachfragen abgehen würde.
Ich stelle jetzt sozusagen eine Nachfrage, die ich im
Zusammenhang mit der Tätigkeit des Eisenbahn-Bundesamtes bedeutsam finde. Im Jahr 2010 hat es eine
Anhörung gegeben, die sich mit den kaputten Radsatzwellen bei ICE beschäftigt hat. Sie erinnern sich wahrscheinlich, dass es da echte Unfälle und Beinahe-Unfälle
gab. Bei dieser Anhörung hat der Präsident des Eisenbahn-Bundesamtes gesagt, dass sie die Konstruktion zugelassen hätten, obwohl die „auf Kante“ genäht war, und
dass sie die Sicherheit von solchen Konstruktionen anhand der Unterlagen der Hersteller und der Betreiber
prüfen und geprüft hätten.
Ich frage Sie jetzt, wer nach Ihrer Auffassung eigentlich für die Sicherheit im Eisenbahnverkehr verantwortlich ist. Ist es das Eisenbahn-Bundesamt, ist es das Bundesverkehrsministerium, also die Bundesregierung, oder
ist es die Deutsche Bahn AG?
Frau Kollegin Leidig, damit hier keine Verwechslung
entsteht: Sie hatten gefragt, welche Aufträge das Eisenbahn-Bundesamt vergeben hat. Nach dem Umfang haben Sie gefragt. Diese Frage habe ich beantwortet. Ich
kann jetzt nicht zu Anhörungen im Jahr 2010 Stellung
nehmen. Da muss ich mich erkundigen, muss ich nachfragen. Das steht aber in keinem Zusammenhang zu
dem, was Sie gefragt haben. Oder Ihre Frage war so verkürzt angekommen, dass wir nicht erschließen konnten,
um welchen Sachverhalt es Ihnen geht.
Der einzige Auftrag, der in dieser Zeit vergeben
wurde, ging an eine Firma aus Sachsen, und der Auftragsgegenstand war ein Gutachten zur JuchtenkäferProblematik. Jetzt scheint mir aber der Zusammenhang
von Juchtenkäfer und Stellwerksproblemen oder Triebwerksproblemen nicht ganz hergestellt zu sein. Vielleicht verbleiben wir so, Frau Kollegin, dass Sie uns den
Zusammenhang noch einmal darstellen. Ich glaube, dann
können wir präziser antworten.
Genau.
Frau Kollegin Leidig, Sie haben die Möglichkeit,
noch eine zweite Frage zu stellen Sabine Leidig ({0}):
Entschuldigung, Herr Präsident.
- oder zu den Hinweisen Stellung zu nehmen, die Ihnen die Staatssekretärin gegeben hat.
Unser Anliegen ist tatsächlich, eine Klärung darüber
herbeizuführen, wer für die Eisenbahnsicherheit zuständig ist und was geschieht, wenn sich das EisenbahnBundesamt selber nicht ausreichend in der Lage sieht,
die Eisenbahnsicherheit zu garantieren.
Ich möchte jetzt noch einmal mit einer weiteren Frage
das Thema quasi untersetzen, nämlich mit der Frage: Bei
welchen Planfeststellungen im Zusammenhang mit dem
Projekt Stuttgart 21 hat das Eisenbahn-Bundesamt eine
Befreiung von Mindestanforderungen gewährt, die sich
aus der Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung oder aus
der Eisenbahn-Sicherheitsverordnung oder aus anderen
Vorschriften ergeben? Also: In welchen Fällen hat das
Eisenbahn-Bundesamt in Bezug auf das Projekt Stuttgart 21 Ausnahmen genehmigt?
Das bezieht sich schon auf Ihre zweite Frage, Frau
Kollegin Leidig. Insofern greife ich jetzt Ihrer nächsten
Frage ein bisschen vor, in der Sie sich auf Sondergenehmigungen beziehen. Es ist in der Tat so, dass es gesetzliche Möglichkeiten gibt, Ausnahmegenehmigungen zu
erteilen. Das Eisenbahn-Bundesamt ist hier selbstverständlich gehalten, alle Maßgaben der Sicherheit einzuhalten, aber Abweichungen können vorgenommen werden, wenn Sicherheitsstandards eingehalten werden. Das
trifft generell für alle Zulassungen oder auch Genehmigungen zu.
Soll ich die Frage 15 auch gleich beantworten, Herr
Präsident?
Frau Staatssekretärin, dazu kommen wir, wenn es
keine Nachfragen von anderen Kolleginnen und Kollegen gibt. - Das sehe ich nicht.
Ich rufe somit die Frage 15 der Kollegin Sabine
Leidig, die Linke, auf:
Mit welcher Begründung hat das damalige Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, BMVBS, eine
Sondergenehmigung für den geplanten Mischverkehr auf der
Filderstrecke bis 2030 erteilt, und haben Beamte des EBA
dieser Sondergenehmigung des Bundesministers widersprochen und dagegen Einwände, Remonstration, erhoben?
Hier geht es um eine solche Sondergenehmigung. Der
Antragsteller, Frau Kollegin, hat dargelegt, dass die Sicherheitsanforderungen unter Beachtung von Maßgaben
eingehalten werden. Nach eingehender Prüfung wurden
daher für den Abschnitt Leinfelden-Stuttgart Flughafen
- das sind die Kilometer 20,6 bis 24,7 der Strecke 4861 Abweichungen von den Vorschriften der §§ 9 und 10 der
Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung zugelassen, sodass dort auch Züge des Fern- und Regionalverkehrs, die
von ihrer Gestaltung Stadtschnellbahnfahrzeugen ähnlich sind, unter Beachtung sicherheitsrelevanter Maßgaben verkehren dürfen.
Remonstrationen von EBA-Mitarbeitern sind dem
Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur nicht bekannt.
Frau Kollegin Leidig, Sie haben die Möglichkeit, eine
Nachfrage zu stellen.
Ich möchte nachfragen, welche weiteren Sondergenehmigungen im Zusammenhang mit Stuttgart 21 erteilt
worden sind. Sie haben gesagt, es ist möglich, solche
Sondergenehmigungen zu erteilen. Ich würde gerne wissen, um welche es sich dabei handelt.
Hier ging es ganz konkret darum, die Höchstgeschwindigkeit zu begrenzen. Es ging auch darum, dass
im Regelbetrieb ausschließlich elektrische Triebfahrzeuge und Reisezugwagen mit Drehgestellen und Notbremsüberbrückungen verkehren dürfen, dass eine eventuell vorhandene Neigetechnik ausgeschaltet werden
kann und dass Drehtüren und Drehfalttüren nicht nach
außen weisen dürfen. Das waren Maßgaben, die beachtet
werden mussten, wenn eine Ausnahmegenehmigung erteilt werden sollte.
Frau Leidig, Sie haben das Wort für eine weitere
Nachfrage.
Ich möchte noch nachfragen, wie es sich mit der Neigung der Gleise im unterirdischen Bahnhof in Stuttgart
verhält und ob und unter welchen Bedingungen dort eine
Ausnahmegenehmigung erteilt worden ist. Denn die dort
geplante Gleisneigung ist um ein Vielfaches höher als
die ansonsten genehmigungsfähige Gleisneigung.
Alle Maßgaben sind geprüft worden, sodass die Sicherheit in jedem Fall gewährleistet werden kann. Auch
dies gehörte dazu, und es gab keine Einwände.
Die Kollegin Hänsel hat eine weitere Nachfrage. - Sie
haben das Wort.
Danke schön, Herr Präsident. - Ich habe eine Nachfrage bezüglich der Sondergenehmigungen. Die Fluchtwege im Flughafenbahnhof werden sehr weit unter der
Erdoberfläche geplant. Der Mischverkehr von ICE-, IC-,
Regional- und S-Bahn-Zügen auf der S-Bahn-Filderstrecke zwischen Stuttgart-Vaihingen und dem Flughafenbahnhof stellt ein ganz großes Problem dar. Es gibt mittlerweile viele Gutachten dazu. Deswegen unsere
Nachfrage: Gibt es hierfür auch irgendwelche Ausnahmen, Sondergenehmigungen usw.? Denn in der Form, in
der es jetzt geplant ist, ist es unverantwortlich.
Vielleicht weise ich doch noch einmal darauf hin,
dass das Planfeststellungsverfahren noch läuft. Wir befinden uns mitten in der Anhörung, die durch das Regierungspräsidium Stuttgart durchgeführt wird. Wann welcher Verkehr auf welcher Strecke läuft, ist Gegenstand
dieses Planfeststellungsverfahrens und wird dort geregelt.
({0})
Es gibt eine weitere Nachfrage vom Kollegen
Behrens. - Bitte schön.
Frau Staatssekretärin, wie beurteilt die Bundesregierung als Vertreterin und Eigentümerin der bundeseigenen DB die Tatsache, dass das Unternehmen DB AG in
20 Jahren nicht in der Lage war, für die Filderstrecke
zwischen Stuttgart und dem Flughafenbahnhof eine genehmigungsfähige Planung vorzulegen?
Es ist kein Projekt der Bundesregierung; das wissen
Sie. Es ist an dieser Stelle schon mehrfach gesagt worden: Es ist ein Projekt der Deutschen Bahn. Nicht das
Bundesministerium macht Planfeststellungsverfahren
oder Anhörungsverfahren; das wird vor Ort geregelt,
Herr Kollege.
Vielen Dank. - Wir kommen dann zu Frage 16 des
Kollegen Herbert Behrens:
Ist der Bundesregierung inzwischen bekannt, welche gewerblichen Schutzrechte - Patente etc. - die Toll Collect
GmbH bzw. deren Gesellschafter an dem Mauterfassungssystem besitzen - gegebenenfalls bitte die einzelnen Schutzrechte deren Inhabern zuordnen -, und trifft es zu, dass der
Bund nach Ablauf des neuen Betreibervertrages nicht mehr
alle für den Betrieb relevanten Patente kostenlos übernehmen
könnte, wie dies im bisherigen Betreibervertrag vorgesehen
ist ({0})?
Frau Staatssekretärin.
Herr Kollege Behrens, nein. Die der Toll Collect
GmbH, deren Gesellschaftern sowie der Toll Collect
GbR zustehenden Rechte sind der Bundesregierung nur
teilweise bekannt. Die kostenlose Übertragung gewerblicher Schutzrechte an den Bund ist laut des geltenden Betreibervertrages nur für den Fall vorgesehen, dass bei
Vertragsbeendigung die Call-Option nicht ausgeübt
wird. Abweichendes ist in dem verhandelten Verlängerungsvertrag nicht vorgesehen.
Herr Kollege Behrens, möchten Sie eine Nachfrage
stellen?
Bleibt es auch im neuen Vertrag bei der Regelung,
dass der Bund nach Ablauf des Betreibervertrages Anspruch darauf hat, Anlagen und Einrichtungen des Betreiberunternehmens zu übernehmen?
Ja, das ist so.
Kollege Behrens, möchten Sie eine zweite Nachfrage
stellen?
Ja, die bezieht sich auf die von Ihnen zurzeit ausgeschlossene Call-Option. Können Sie mir präziser benennen, zu welchen Zeitpunkten die Call-Option gezogen
werden kann, nachdem der Vertrag mit Toll Collect fortgesetzt werden soll?
Nein, das kann ich Ihnen nicht beantworten, weil der
Minister entschieden hat, in eine Verlängerung zu gehen,
und alles Weitere im Verlauf der jetzt laufenden Periode
besprochen wird.
Damit kommen wir zu Frage 17 des Kollegen Herbert
Behrens:
In welcher Form wurden seit Abschluss der Verhandlungen des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur mit der Toll Collect GmbH über die Verlängerung des
Betreibervertrages - was laut dem Bundesminister für Verkehr und digitale Infrastruktur, Alexander Dobrindt, im Verkehrsausschuss des Deutschen Bundestages am 25. November
2014 „Mitte September“ der Fall war - noch die anderen Optionen zur Weiterführung der Lkw-Mauterhebung nach Ablauf des bisherigen Betreibervertrages zum 31. August 2014
Vizepräsident Johannes Singhammer
geprüft, und wann genau wurde deren Prüfung abgeschlossen?
Frau Staatssekretärin.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Die Verhandlungen
über die Verlängerung des Betreibervertrages wurden
Mitte September auf Arbeitsebene abgeschlossen. Anschließend wurden die hausinternen Beratungen weitergeführt und eine Entscheidung über die Vertragsverlängerung wurde getroffen. Dieser Sachverhalt wurde am
14. November 2014 schriftlich gegenüber der Vorsitzenden des Haushaltsausschusses und dem Vorsitzenden des
Verkehrsausschusses kommuniziert.
Herr Kollege Behrens, Sie haben die Möglichkeit einer Nachfrage.
Ja. - Die Nachfrage dazu: Sie haben gesagt, am
14. stand fest, dass nicht die Call-Option gezogen wird,
sondern dass der Vertrag mit Toll Collect verlängert
wird. Gleichwohl waren im Haushalt Beträge für das
Nichtziehen der Call-Option eingestellt worden. Wir haben gehört, dass die Call-Option bis zum Jahresende
theoretisch noch gezogen werden könnte. Es sind aber
keine entsprechenden Anträge an den Haushaltsausschuss gegangen, dass unter Umständen dann notwendige Kosten in den Haushalt eingestellt werden müssen.
Warum ist diese Option finanziell nicht im Haushalt unterlegt worden?
Herr Kollege Behrens, wie ich Ihnen schon am
12. November gesagt habe, sind verschiedene Optionen
geprüft worden. Die endgültige Entscheidung, die dem
Minister obliegt, wurde am 14. November den beiden federführenden Ausschüssen mitgeteilt. Man mag als Abgeordneter vielleicht nicht froh darüber sein, zwischen
dem 12. und dem 14. nicht über alles Bescheid gewusst zu
haben, aber ein Stückchen Regierungshandeln und -verantwortung müssen Sie dann vielleicht dem Minister
auch noch zubilligen, damit er die abschließenden Arbeiten bzw. endgültigen Entscheidungen durchführen
kann.
Herr Kollege Behrens, Sie haben die Möglichkeit einer weiteren Nachfrage.
Die will ich gerne nutzen. - Wir haben in der Tat darüber gesprochen: Was war am 14. November denn nun
alles fix, und was war ausgeschlossen worden? - Gleichwohl wissen wir, dass die entsprechenden Kosten am
5. November in den Haushaltsplan eingestellt worden
sind, und zwar als Kosten, die auf jeden Fall auftauchen
werden. Es ist kein Sperrvermerk dabei; es gibt keinen
Hinweis darauf, dass andere Optionen möglicherweise
andere Kosten nach sich ziehen würden. Warum konnte
man sich zu dem Zeitpunkt, am 5. November, schon so
sicher sein, dass sowohl diese Mittel fließen werden - es
gab keinen Sperrvermerk - als auch alle anderen Optionen ausgeschlossen werden, obwohl es erst am 14. November so weit gewesen sein soll?
Herr Kollege Behrens, der Minister hat am 14. November seine Schreiben verschickt. Der ganze Prozess
vorher diente einer Abwägung im Haus, dem Ausloten
aller möglichen Optionen. Das mag jetzt im Einzelfall
für Sie nicht in allen Details nachvollziehbar sein; aber
am Ende zählt jetzt das Ergebnis, eine Entscheidung, die
dann dem Parlament auch so kommuniziert wurde.
Die Kollegin Leidig hat eine weitere Nachfrage, zu
der ich ihr das Wort erteile.
Ich möchte Sie, Frau Staatssekretärin, einfach fragen,
wie Sie es denn interpretieren würden, wenn Sie als Parlamentarier am 12. November in der Fragestunde die
Antwort erhalten hätten: „Was Toll Collect betrifft, sind
alle Optionen offen“, dann feststellen, dass am 5. November bereits eine Option im Haushaltsplan verankert
wurde, und am 14. November erfahren, dass der Minister die Entscheidung getroffen hat und jetzt die zuständigen Ausschüsse informiert. Können Sie vielleicht nachvollziehen, dass wir uns da als Parlamentarier nicht ganz
umfassend und auch nicht ganz aufrichtig informiert
fühlen?
Frau Kollegin, ich finde, das ist hier eine relativ normale Rollenverteilung: Die Opposition kritisiert; die Regierung muss aber dafür sorgen, dass vernünftige Entscheidungen getroffen und vorbereitet werden. Genau in
dieser Rollenverteilung befinden wir uns jetzt.
Nachdem jetzt keine weiteren Nachfragen mehr erkennbar sind, kämen wir zu den Fragen 18 und 19 des
Kollegen Dr. André Hahn. Beide werden allerdings
schriftlich beantwortet.
Damit sind wir am Ende des Geschäftsbereichs. Ich
danke an dieser Stelle der Staatssekretärin Reiche.
Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit. Für die Beantwortung der Fragen ist Herr
Staatssekretär Florian Pronold anwesend.
Die Frage 20 des Kollegen Meiwald, die Frage 21 der
Kollegin Höhn und die Frage 22 der Kollegin KottingUhl werden schriftlich beantwortet.
Vizepräsident Johannes Singhammer
Damit kommt der Kollege Pronold um die Beantwortung der Fragen.
Jetzt kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Ich freue
mich, dass der Staatssekretär Stefan Müller bei uns ist.
Die Frage 23 der Kollegin Kotting-Uhl wird schriftlich beantwortet.
Deshalb kommen wir jetzt zur Frage 24 des Kollegen
Oliver Krischer:
Wie hoch sind die seit der Stilllegung des AVR Jülich im
Jahr 1988 bis heute bereits angefallenen und in Zukunft absehbar noch anfallenden Kosten für Stilllegung, Einschluss,
Rückbau, Zwischenlagerung, Endlagervorausleistungen usw.,
also Gesamtkosten, und wie verteilen sich diese Gesamtkosten auf die Einzelpositionen?
Herr Staatssekretär.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Kollege Krischer, die
Rückbaukosten werden sich auf Basis der letzten Projektkostenschätzung für Bund und Land auf insgesamt
rund 612 Millionen Euro belaufen. Darin nicht enthalten
sind die Kosten für den Rückbau des Reaktorbehälters,
der, wie Sie sicher wissen, nach einer mindestens 30-jährigen Zwischenlagerung zum Abklingen des Aktivitätsinventars zerlegt und entsorgt wird. Die entsprechenden
Rückbaukosten können daher noch nicht verlässlich
quantifiziert werden.
Die 612 Millionen Euro gliedern sich wie folgt: zunächst für den sicheren Einschluss und anschließend für
Stilllegung und Rückbau von 1988 bis 2022 - bis dahin
soll der Rückbau vollständig abgeschlossen sein - rund
550 Millionen Euro, der Bundesanteil beträgt 421 Millionen Euro. Darüber hinaus sind in der Summe von
612 Millionen Euro gesetzliche Endlagervorausleistungen bis 2022 in Höhe von 62 Millionen Euro eingeschlossen. Der Bundesanteil beträgt hier 43 Millionen
Euro.
Wir haben beim Forschungszentrum Jülich nachgefragt. Deren Angaben zufolge sind im Zusammenhang
mit der vertraglichen Verpflichtung, radioaktive Reststoffe und Abfälle für die AVR GmbH zu entsorgen, im
Zeitraum von 2003 bis 2013 Kosten in Höhe von
5,31 Millionen Euro angefallen. Natürlich können sich
durch die Räumungsanordnung des Ministeriums für
Wirtschaft, Energie, Industrie, Mittelstand und Handwerk des Landes Nordrhein-Westfalen noch weitere
Kosten ergeben, die zum jetzigen Zeitpunkt nicht verlässlich abgeschätzt werden können.
Herr Kollege Krischer, Ihre erste Nachfrage.
Herzlichen Dank für die Ausführungen, Herr Staatssekretär Müller. - Ich bin jetzt etwas überrascht, weil die
Zahl 612 Millionen Euro von der Bundesregierung
schon seit mindestens zwei Jahren genannt wird. Das ist
erstaunlich; denn wir haben erhebliche Verzögerungen
beim Rückbau, beim Herausheben und bei der Umlagerung des hochverstrahlten Reaktors.
Das Projekt ist weltweit einzigartig. Es gibt eine mindestens vierjährige Verzögerung. An dem Rückbau arbeiten 100 festangestellte Personen. Aufträge mit riesigem Volumen werden fremdvergeben. Aber Sie nennen
mir jetzt die gleiche Zahl von 612 Millionen Euro. Ich
kann das, ehrlich gesagt, nicht so richtig glauben, weil
das bedeuten würde, dass die Verzögerungen in den letzten Jahren keine Kosten verursacht haben. Aber da ich
davon ausgehe, dass Aufträge vergeben und Löhne gezahlt worden sind etc. etc., müsste sich eigentlich eine
Kostensteigerung ergeben haben.
Das ist eine Vermutung, die ich so nicht einschätzen
kann. Ich habe Ihnen die Kosten nach aktuellem Ermittlungsstand genannt.
Herr Kollege Krischer, Sie haben die Möglichkeit einer zweiten Nachfrage.
Sie haben eben von den Castoren gesprochen, die derzeit in Jülich zwischengelagert werden. Die Bundesregierung plant, sie in die USA zu verbringen, wofür Mittel in den Haushalt eingestellt worden sind. Soweit ich
informiert bin, sollen in diesem Jahr oder in den nächsten Jahren mindestens Kosten von 250 Millionen Euro
anfallen. Sind diese 250 Millionen Euro in den 612 Millionen Euro enthalten, oder müssen sie obendrauf gerechnet werden?
Ich will Sie zunächst einmal korrigieren. Wenn Sie einen Blick in den Bundeshaushalt werfen, dann werden
Sie feststellen, dass es im Zusammenhang mit der Räumung in Jülich nicht ausschließlich um die Option „Verbringung in die USA“ geht. Sie wissen, dass derzeit drei
Optionen diskutiert werden, für die die entsprechenden
Mittel in den Haushalt eingestellt worden sind. Aber bisher ist keine abschließende Entscheidung darüber herbeigeführt worden, welche Option tatsächlich zum Tragen kommen soll.
Die von Ihnen angesprochene Summe setzt sich aus
den Beträgen für mehrere Jahre zusammen. Sie beläuft
sich im Jahr 2015 auf rund 65 Millionen Euro, in den
Jahren 2016 ff. auf rund 171 Millionen Euro. Diese Beträge sind in der Summe, die ich vorhin genannt habe,
nicht enthalten.
Wir kommen jetzt zur Frage 25 des Kollegen Oliver
Krischer:
Gibt es in der Bundesregierung Überlegungen oder konkrete Planungen, die derzeit in Ahaus lagernden Castoren mit
Vizepräsident Johannes Singhammer
Brennelementen aus dem THTR - Thorium-Hochtemperaturreaktor - Hamm-Uentrop in die USA zu verbringen, und,
wenn ja, auf welche Rechtsgrundlage stützen sich diese Überlegungen bzw. Planungen?
Die Antwort auf die Frage ist: Nein.
Herr Kollege Krischer.
Herzlichen Dank, Herr Müller, für die klare Antwort.
Das ist präzise. - Hat es in der Vergangenheit an der
Stelle Überlegungen gegeben? Ich frage das, weil ich einen Letter of Intent kenne, den die Bundesregierung und
die amerikanische Seite unterzeichnet haben, in dem die
abgebrannten Brennelemente des THTR als Teil einer
möglichen USA-Exportoption genannt werden.
Ich kann nicht ausschließen, dass es in der Vergangenheit dazu Überlegungen gegeben hat. Es hat in jedem
Fall eine Diskussion darüber gegeben, nicht nur innerhalb des Bundesministeriums, sondern auch in der
Öffentlichkeit. Sie wissen, dass daraufhin mehrere
Rechtsgutachten erstellt worden sind, die übrigens zu
unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Ansonsten
kann ich nur sagen: Es gibt keine Planungen, diese
Brennelemente in die USA zu verbringen.
Herr Kollege Krischer, Sie haben die Möglichkeit zu
einer weiteren Nachfrage.
Meine zweite Nachfrage: Es gibt ein Rechtsgutachten
der Landesregierung Nordrhein-Westfalen, das zu dem
Ergebnis kommt, dass ein USA-Export der THTR-Kugeln rechtlich nicht zulässig ist. Teilen Sie die in diesem
Gutachten vertretene Rechtsauffassung?
Es gibt mehrere Rechtsgutachten.
({0})
- Es gibt, glaube ich, auch eines von Greenpeace, das
zur Verfügung gestellt worden ist. - Bevor es hierzu eine
Rechtsposition der Bundesregierung gibt, muss ein konkreter Antrag gestellt werden. Der liegt nicht vor. Insofern kann ich auch keine Rechtsauffassungen, die es
gibt, oder Gutachten, die es gibt, bewerten. Sollte ein
Antrag gestellt werden, die Brennelemente in die USA
zu verbringen, wird die Bundesregierung dazu selbstverständlich eine Rechtsauffassung, und zwar eine einheitliche, entwickeln.
Weitere Nachfragen sehe ich nicht.
An dieser Stelle danke ich dem Herrn Staatssekretär
Müller.
Die Frage 26 des Abgeordneten Niema Movassat zum
Geschäftsbereich des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung wird
schriftlich beantwortet.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie. Ich begrüße
den Herrn Staatssekretär Uwe Beckmeyer.
Wir kommen jetzt zur Frage 27 der Kollegin Britta
Haßelmann:
Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus dem
Beschluss des niederländischen Parlaments, der „Tweede Kamer“, in dem die niederländische Regierung aufgefordert
wird, sich gegen die ISDS-Klausel - Schiedsgerichtsverfahren - in den Freihandelsabkommen CETA und TTIP auszusprechen?
Herr Staatssekretär.
Für die Bundesregierung beantworte ich die Frage
wie folgt: Der Bundesregierung steht es nicht an, Beschlüsse von Parlamenten aus Drittstaaten zu kommentieren. Ungeachtet dessen sieht die Bundesregierung
großen Nutzen in einem Freihandelsabkommen der EU
mit Kanada, und sie setzt sich daher für den erfolgreichen Abschluss des CETA-Abkommens ein. Nach Auffassung der Bundesregierung werden durch ein solches
Abkommen neue Impulse und Möglichkeiten für Wachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen in Deutschland und der gesamten Europäischen Union erzeugt.
Die Bundesregierung bleibt bei ihrer Auffassung, Bestimmungen zum Investitionsschutz einschließlich Investor-Staat-Schiedsverfahren mit Staaten, die über belastbare Rechtsordnungen verfügen und ausreichend
Rechtsschutz vor unabhängigen nationalen Gerichten
gewährleisten, im Grundsatz nicht für erforderlich zu
halten. Die Bundesregierung tritt nicht für Nachverhandlungen ein, sieht aber insbesondere bei den Regelungen
zu etwaigen Umschuldungen und Bankenrestrukturierungen und -abwicklungen noch Klärungsbedarf. Zudem
setzt sich die Bundesregierung dafür ein, beim Investitionsschutz weitere Verbesserungen zu erreichen.
Frau Kollegin Haßelmann, haben Sie eine Nachfrage
dazu?
Ja, die habe ich. - Es ist bedauerlich, dass Sie sich zu
anderen EU-Parlamenten nicht äußern. Aber das haben
wir ja neulich schon erlebt, als wir Sie hier gefragt haben, ob sich Deutschland der Nichtigkeitsklage von
Österreich gegen die Beihilfeentscheidung der EU-Kommission im Zusammenhang mit dem Bau des Atomkraftwerks Hinkley Point C anschließt.
Zu den Schiedsgerichtsverfahren. Sie haben gesagt,
Sie bleiben als Bundesregierung bei der Position, dass
Sie Schiedsgerichtsverfahren neben unserer bestehenden
Rechtsordnung für nicht erforderlich halten. Der Bundeswirtschaftsminister hat uns in der letzten Woche hier
im Parlament etwas anderes erzählt. Deshalb lautet
meine Frage: Geht die Bundesregierung in Brüssel weiter mit der Position - keine Schiedsverfahren neben unseren bestehenden Rechtsordnungen - in die Gespräche
und Konsultationen zu CETA und TTIP, oder gibt es
nach den Einlassungen von Herrn Gabriel in der Plenardebatte am letzten Donnerstag und seinem grundsätzlichen Bekenntnis zu Schiedsverfahren in TTIP oder
CETA eine Änderung in der Auffassung, und vertreten
Sie diese offensiv in Brüssel?
Liebe Frau Haßelmann, die Position, die ich Ihnen
eben vorgetragen habe, ist eine Position, die auch schon
die alte Bundesregierung eingenommen hat, als es um
die Diskussion darüber ging, ob zwischen Staaten, die
ausgebildete Rechtssysteme haben, ein Investorenschutz in dieser Form nötig ist. Diese Haltung hat die
Bundesregierung also auch in der Vergangenheit eingenommen.
Sie müssen festhalten, dass die Bundesrepublik
Deutschland ein Mitgliedstaat unter vielen in der Europäischen Union ist und dass es einen entsprechenden
Prozess gegeben hat, auch im Rat, in dem festgestellt
wurde, dass eine überwiegende Mehrheit der anderen
Mitgliedstaaten eine andere Position vertritt und sich
dies im Grunde auch im Auftrag bzw. im Verhandlungsmandat der Kommission widerspiegelt. Das ist die Situation, von der Sie ausgehen müssen.
Insofern ist das, was ich für die Bundesregierung vorgetragen habe, eine ganz konsistente Auskunft. Dem hat
auch Sigmar Gabriel nicht widersprochen. Das ist die
Position, zu der wir die ganze Zeit stehen. Heute habe
ich im Wirtschaftsausschuss über den aktuellen Sachstand berichtet. Ich kann auch dazu noch etwas ausführen.
Frau Kollegin Haßelmann, haben Sie eine weitere
Nachfrage?
Ja. - Mich interessierte nicht so sehr, was die anderen
europäischen Länder machen - da hatte ich ja schon in
Ihrer ersten Antwort gehört, dass Sie darauf hier nicht
eingehen -, sondern meine Frage war konkret: Mit welcher Haltung in Bezug auf die Klageprivilegien für Konzerne geht die jetzige Bundesregierung in die weiteren
Gespräche? Da haben Sie gesagt: Grundsätzlich halten
wir sie nicht für erforderlich. - Der Wirtschaftsminister
hat letzten Donnerstag aber etwas anderes gesagt. Deshalb meine Frage noch einmal - und zwar nicht in Bezug
auf die schwarz-gelbe Regierung; da weiß ich, welche
Auffassung sie vertreten hat -: Welche Position vertritt
die Große Koalition, Ihr Wirtschaftsministerium in den
Konsultationen? Halten Sie Klageprivilegien für Konzerne für sinnvoll und richtig oder für grundsätzlich
nicht erforderlich, wie hier dargelegt wurde? Dann
würde das aber nicht mit dem zusammenpassen, was der
Bundeswirtschaftsminister hier geäußert hat.
Die Antwort: Erstens. Ich widerspreche Ihnen ausdrücklich, dass es hier einen Widerspruch gibt. Ich habe
eben klargemacht, welche grundsätzliche Haltung wir
haben. Ich habe außerdem gesagt, welche Haltung andere Mitgliedstaaten haben und dass wir uns im Rat in
einer Minderheitenposition befunden haben, als es um
den Auftrag für die Verhandlungen zu CETA gegangen
ist. Punkt.
Zweitens. Was Sie anführen, ist, dass der Bundeswirtschaftsminister in der Debatte beim letzten Mal klargemacht hat, dass wir uns im Hinblick auf die Aufgabenstellung der Schiedsgerichte im Rahmen des LegalScrubbing-Verfahrens sicherlich noch einbringen werden, und zwar informell, aber auch in Gesprächen zum
Beispiel mit dem Europäischen Parlament. Er hat auch
Gespräche mit der neuen Handelskommissarin, Frau
Malmström, geführt. Es hat ebenfalls Gespräche von
Staatssekretär Machnig mit der kanadischen Seite gegeben. Es hat also auf verschiedenen Ebenen Interventionen der Bundesregierung mit Blick auf unsere Position
gegeben. Wir hoffen, dass wir unsere Position im Rahmen der weiteren Gespräche durchsetzen werden.
Der Kollege Ernst möchte eine weitere Nachfrage
stellen.
Herr Staatssekretär, zwei Fragen: Erstens. Sie haben
gerade gesagt, bei der Auftragserteilung - ich gehe davon aus, Sie meinen das Mandat für CETA - war die
Bundesregierung in der Minderheit. Wenn ich es richtig
verstehe, wäre dieses Mandat ohne Zustimmung der
Bundesrepublik so aber gar nicht zustande gekommen.
Heißt das letztendlich, dass über das Thema Investorenschutz verhandelt wurde - obwohl Sie die Auffassung
haben, man brauche ihn nicht? Zumindest von der alten
Regierung wurde das so gesehen, dass man gesagt hat:
Ja, wir wollen über den Investorenschutz verhandeln.
Zweitens. Bisher war die Aussage, auch in der letzten
Debatte mit Sigmar Gabriel, die Bundesregierung sei mit
ihrer Position, dieses Freihandelsabkommen ohne Investorenschutz abschließen zu wollen, vollkommen alleine.
Inzwischen vertreten auch die Niederlande diese Position. Ich habe heute mitbekommen, dass die Französische Nationalversammlung ebenfalls beschlossen hat,
keinen besonderen Investorenschutz zu akzeptieren.
Ähnliches ist aus Österreich zu hören. Wird die Bundesregierung ihre bisherige Position, wir seien da ganz alleine und könnten das nicht machen, nun ändern, weil
wir uns inzwischen in guter Gesellschaft mit unserem
Freund und Nachbarn Frankreich befinden?
War das die Frage?
Das war die Frage: Wollen Sie darauf beharren, dass
wir da ganz alleine sind, obwohl wir es gar nicht mehr
sind, und sind Sie bereit, mit den anderen gemeinsam dafür einzutreten, das TTIP und CETA so verhandelt werden, dass keine Klauseln für einen Investorenschutz enthalten sind? Wir sind nicht mehr alleine; das ist ja die
Feststellung.
Waren das die beiden Fragen, Herr Präsident?
Das waren die beiden Fragen.
Die Fragen sind zweimal formuliert worden. Jetzt hat
der Herr Staatssekretär das Wort.
Schönen Dank. - Erstens. Ich habe zu dem Beschluss
des niederländischen Parlamentes vorhin sehr vorsichtig
Stellung genommen, weil uns inoffizielle Informationen
erreicht haben, wonach es sich hier möglicherweise um
einen Abstimmungsirrtum einer Fraktion des niederländischen Parlaments handelt. Ich habe das nicht verifiziert; ich sage das nur einmal an dieser Stelle. Insofern
sind wir hinsichtlich dieser Position sehr zurückhaltend.
Zweitens. Ich habe Ihnen auf Ihre Intervention und
auch Ihre Frage hin schon im Wirtschaftsausschuss gesagt, dass wir bei verschiedenen Themen Gesprächsbedarf sehen, und zwar hinsichtlich der Befugnisse von
Schiedsgerichten, hinsichtlich einer möglichen Berufungsinstanz, hinsichtlich der Auswahl der Schiedsrichter, hinsichtlich der Qualifikation der Schiedsrichter und
hinsichtlich der Liquidation der Schiedsrichter. Außerdem müssen wir im Rahmen des weiteren Prozesses eine
Klärung darüber herbeiführen, ob man sein Klagerecht
erst an den nationalen Gerichten wahrnehmen kann, bevor man anschließend gegebenenfalls ein Schiedsgericht
anruft. - Auf all diese Elemente bin ich schon eingegangen; ich habe das hier wiederholt. Über diese Themen
führen wir eine fachliche und sachliche Diskussion sowohl im Handelsrat als auch informell mit den Kolleginnen und Kollegen im Europäischen Parlament. Hier
muss aus unserer Sicht noch eine Klärung herbeigeführt
werden.
Im Übrigen haben wir hier eine ähnliche Position wie
Kanada. Dies habe ich den Gesprächen mit Herrn Minister Fast, dem Handelsminister Kanadas, entnommen. Er
hat mir gegenüber bestätigt, dass sie eine ähnliche Diskussion in Kanada führen wie wir hier. Im Falle eines
negativen Urteils eines Schiedsgerichtes gegenüber einem Staat, in dem investiert worden ist und in dem diese
Investition gefährdet wurde, wollen wir eine Durchgriffshaftung auf Deutschland nicht notwendigerweise
akzeptieren, sondern vermeiden. Eine gleiche Position
vertritt auch Kanada.
Insofern meine ich schon, dass bei all den Gesprächen, die im Laufe der nächsten zwei bis drei Monate
noch geführt werden, noch eine Klärung herbeigeführt
werden kann. Danach werden wir die Finalisierung der
Texte erleben, und dann werden wir hoffentlich auch einen autorisierten deutschen Text haben, den wir hier im
Parlament beraten können.
Vielen Dank. - Der Kollege Ströbele hat das Wort zu
einer Nachfrage.
Herr Staatssekretär, ich habe Ihrer Antwort entnommen, dass Sie ernsthaft überlegen, dass die Schiedsgerichte das letzte Wort haben sollen und vorher vielleicht
noch ein ordentliches Gericht etwas dazu sagen darf.
Wenn überhaupt, dann müsste das umgekehrt sein. - Das
ist aber nicht meine Frage.
Meine Frage lautet: Was waren die maßgeblichen
Gründe für das Parlament der Niederlande, so zu entscheiden? Waren das auch Bedenken hinsichtlich der
Schiedsklauseln? Welche Informationen können Sie mir
über die Haltung der niederländischen Regierung geben?
Es soll ja manchmal Differenzen zwischen der Parlamentsmehrheit und der Regierung geben.
Herr Abgeordneter, mir liegen - über das hinausgehend, was ich Ihnen berichtet habe - keine näheren Informationen über die Debatte im niederländischen Parlament vor. Ich werde mich bemühen, Ihnen die Antwort
schriftlich zukommen zu lassen, sofern wir die entsprechende Information bekommen.
({0})
- Auch das kann man erfragen. Aber ich denke, das
deutsche Parlament hat genauso die Chance, Fragen an
die Kollegen im Nachbarland Niederlande zu richten. Insofern bitte ich Sie, auch Ihr Büro in dieser Sache tätig
werden zu lassen. Ich werde jedenfalls das Meinige tun,
um Ihnen eine entsprechende Auskunft zukommen zu
lassen.
Ich sehe keine weiteren Nachfragen mehr.
Die Fragen 28 und 29 der Kollegin Julia Verlinden
werden schriftlich beantwortet. Wir verlassen deshalb
diesen Geschäftsbereich. Ich danke an dieser Stelle
Herrn Staatssekretär Beckmeyer für die Beantwortung.
Vizepräsident Johannes Singhammer
Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts. Für die Beantwortung steht die Frau Staatsministerin Dr. Maria Böhmer zur Verfügung.
Die Frage 30 des Kollegen Niema Movassat sowie
die Fragen 31 und 32 der Kollegin Sevim Dağdelen werden schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 33 der Kollegin Heike Hänsel auf:
Welches gemeinsame Wertefundament sprach der Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Frank-Walter Steinmeier, bei
seinem letzten Besuch im Juli 2014 in Mexiko an, das Mexiko
und Deutschland verbindet, angesichts der offensichtlichen
Verstrickungen der politisch Verantwortlichen auf bundesstaatlicher Ebene und den Sicherheits-, Polizei- und Militärinstanzen mit der organisierten Kriminalität beim Verschwindenlassen der 43 Studenten von Ayotzinapa im Bundesstaat
Guerrero, das den Abschluss eines Sicherheitsabkommens
zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Mexiko rechtfertigt ({0})?
Frau Staatsministerin, bitte.
Die Kollegin Hänsel hat auf das Wertefundament abgehoben. Darauf darf ich zuerst eingehen. - Wenn die
Bundesregierung von einem gemeinsamen Wertefundament mit Mexiko spricht, so ist damit nicht nur ein gemeinsames Wertefundament der beiden Regierungen,
sondern grundsätzlich ein gemeinsames Werteverständnis der beiden Gesellschaften gemeint.
Mexiko ist ein Land mit einer pluralistischen Gesellschaft, freien Medien, freier Meinungsäußerung und einer vom mexikanischen Volk frei gewählten demokratischen Regierung. Wir haben es dort mit sehr engagierten
Menschenrechtsorganisationen zu tun und, wie wir derzeit angesichts der Demonstrationen sehen, mit einer
sehr gut funktionierenden Zivilgesellschaft.
Die Vorfälle von Iguala, die mutmaßliche Ermordung
der 43 Studenten im Bundesstaat Guerrero - das habe
ich schon bei der letzten Fragestunde, in der wir das
Thema gemeinsam erörtert hatten, erwähnt -, haben
mich sehr erschüttert. Sie wissen, ich war vor Ort. Die
Vorfälle haben in Mexiko, aber auch international eine
außerordentlich breite öffentliche Diskussion ausgelöst.
Präsident Peña Nieto hat in Reaktion auf diese Debatte
vor wenigen Tagen ein umfangreiches Maßnahmenpaket
zur Reform des Sicherheitsapparates, insbesondere der
kommunalen Polizeien, angekündigt. Er hat unterstrichen, dass sich Mexiko nach den Vorfällen von Iguala
verändern müsse. Sie haben sicherlich genauso wie ich
in großen deutschen Tageszeitungen gelesen, dass Mexiko an einem Wendepunkt steht.
Wir sehen Mexiko als wichtigen Partner. Es geht jetzt
darum, den Staat, insbesondere den Rechtsstaat, zu stärken, damit die Menschen in Sicherheit leben können.
Wir haben Mexiko daher eine Zusammenarbeit im Bereich der Opferidentifizierung und der forensischen Ausbildung angeboten. An diesem Punkt bedarf Mexiko
dringender Unterstützung. Die mexikanische Regierung
hat das Angebot angenommen. In den nächsten Wochen
werden wir besprechen, wie diese Zusammenarbeit ausgestaltet werden soll.
Ich will noch ein Wort zum Sicherheitsabkommen sagen; auch darüber hatten wir uns in der Fragestunde am
15. Oktober ausgetauscht. Bei dem Sicherheitsabkommen, das noch nicht abgeschlossen ist, über das also
noch verhandelt wird, müssen wir die vorgebrachten Argumente und die Situation vor Ort genau bedenken; das
wird vonseiten der Bundesregierung sehr ernst genommen. Wir werden die Verhandlungen verantwortungsvoll
unter besonderer Berücksichtigung der Menschenrechtslage führen.
Frau Kollegin Hänsel, Ihre Nachfrage, bitte.
Danke schön, Frau Staatsministerin. - Sie waren in
Mexiko. Auch ich war vor circa drei Wochen in Mexiko.
Sie werden sicher auch von unterschiedlichsten Stellen
die Information bekommen haben - das sagt selbst die
Generalstaatsanwaltschaft -, dass es zwar sehr viele Reformen in Mexiko gibt - die Gesetzesgrundlage ist in
vielen Punkten sehr fortschrittlich -, aber so gut wie
keine Umsetzung. Das ist auch das große Problem bei
dieser fast hundertprozentigen Straflosigkeit. Es gibt
sehr viele Reformen im Justizbereich. Man könnte auch
sehr viel machen; aber es passiert nichts.
Sie sprachen von Meinungsfreiheit. Mexiko ist eines
der Länder mit den meisten ermordeten Journalisten
weltweit. Man kann zwar formal von Meinungsfreiheit
sprechen. Wenn die Menschen diese aber real in Anspruch nehmen wollen, gefährden sie teilweise ihr Leben.
Ich möchte deshalb auf das Wertefundament und auf
die vom Präsidenten angekündigten Reformen zurückkommen. Wie will die Bundesregierung darauf reagieren? Es gab schon so viele Reformen, die nicht in die
Praxis umgesetzt wurden. Wie kommen Sie zu der Hoffnung, dass sich jetzt etwas ändern wird, dass es jetzt zu
einer fundamentalen Veränderung in Mexiko kommt?
Ich habe zitiert, was vonseiten mexikanischer Vertreter gesagt worden ist. Ich muss Ihnen auch sagen: Die
Einschätzung hinsichtlich der Umsetzung von Reformen
und der Umsetzung geltender Gesetze haben mir die
Menschenrechtsorganisationen keinen Deut anders geschildert, als sie Ihnen offensichtlich geschildert worden
ist. Angesichts einer 98-prozentigen Straffreiheit bei angezeigten Strafanzeigen darf man sich nicht zufriedengeben mit beschlossenen Gesetzen oder einer Strafrechtsreform, die in Gang gesetzt worden ist, aber nicht so
weit gekommen ist. Jetzt sind konkrete Umsetzungen erforderlich. Das wird auch der Maßstab sein, an dem sich
das Maßnahmenpaket des Präsidenten messen lassen
muss. Nicht allein das, was auf dem Papier steht, sondern die Umsetzung ist das Entscheidende.
Frau Kollegin Hänsel, Sie haben die Möglichkeit einer zweiten Nachfrage.
Danke schön. - Ich möchte noch auf das Sicherheitsabkommen zu sprechen kommen, das Sie erwähnt haben. Es gibt viele Gerüchte. Es gibt die Aussage, das Abkommen sei auf Eis gelegt worden. Sie hingegen sagen,
es werde daran gearbeitet. Deshalb möchte ich noch einmal nachfragen: Kann ich davon ausgehen, dass die
Bundesregierung dieses Sicherheitsabkommen in nächster Zeit abschließen möchte? Wird bei einzelnen Punkten nachverhandelt? Wird zum Beispiel - wir kennen
den Text leider nicht - über eine umfassende Menschenrechtsklausel diskutiert? Die Menschenrechtsorganisationen fordern, dass, wenn es ein Abkommen gibt, dieses
gemeinsam mit Menschenrechtsorganisationen und einer
sehr breiten Beteiligung erarbeitet wird, um neue Menschenrechtsverletzungen, die im Rahmen einer solchen
Kooperation stattfinden könnten, weitgehend auszuschließen. Gibt es die Bereitschaft der Bundesregierung
dazu?
Frau Kollegin Hänsel, als ich in Mexiko war, habe ich
natürlich sehr lange und ausführliche Gespräche mit den
Menschenrechtsorganisationen geführt. Ich habe aber
auch mit Vertretern der Bundesregierung und der einzelnen Länder gesprochen. Ich habe die Menschenrechtsorganisationen gefragt, wie sie zum Gedanken eines
Sicherheitsabkommens stehen. Dazu haben sie sich
grundsätzlich bejahend geäußert. Das habe ich mit großer Aufmerksamkeit registriert. Es wird aber sicherlich
auch darauf ankommen, was in einem solchen Sicherheitsabkommen niedergeschrieben wird. Deshalb ist es
für uns ganz wesentlich, zu sehen, was sich im Menschenrechtsbereich tut. Ich halte es für richtig, dass diese
Gedanken und Forderungen mit einfließen.
Wir sind hier in Verhandlungen. Ich habe aber nicht
von einem baldigen Abschluss gesprochen. Vielmehr
wird es entscheidend darauf ankommen, was hier miteinander verhandelt wird.
Der Kollege Ströbele hat eine weitere Zusatzfrage.
Frau Kollegin Böhmer, ich bin Ihnen dankbar, dass
Sie nach der letzten Diskussion, die wir im Bundestag
darüber geführt haben, versucht haben, das in Mexiko
zur Geltung zu bringen, was hier diskutiert worden ist.
Sie wissen, dass die Debatte in der Fragestunde, die wir
hier geführt haben, in Mexiko durchaus wahrgenommen
wird. Das Video ist 100 000-mal angeklickt worden. Das
heißt, es wird durchaus wahrgenommen, wie wir in Europa und in Deutschland darüber diskutieren.
Meine Frage ist: Haben Sie mit den Menschenrechtsorganisationen auch diskutiert und zur Kenntnis genommen, dass der Verdacht besteht, dass nicht nur einzelne
Bürgermeister und Behörden in das organisierte Verbrechen, insbesondere in die Drogenmafiageschäfte, -morde
und -straftaten, verstrickt sind, sondern auch die Staatenregierungen - Mexiko besteht aus vielen Bundesstaaten und die Zentralregierung? Gehen Sie mit mir in der Auffassung konform, dass ein Sicherheitsabkommen, das
unter anderem mit der Unterstützung von Sicherheitskräften verbunden ist, erst dann abgeschlossen werden
kann, wenn die Korruption und die Verstrickung aufgeklärt sind und sichergestellt ist, dass solche Leistungen
aus Deutschland dort nicht für die Kriegsführung genutzt
werden?
Lassen Sie mich zuerst den letzten Punkt aufgreifen.
Das Entscheidende ist, Herr Ströbele, dass Informationen und Daten - darum geht es Ihnen - nicht in falsche
Hände geraten. Das ist auch für uns ein ganz zentraler
Punkt. Daran gibt es keinen Zweifel.
Die Reaktionen, auf die ich in Mexiko traf, waren
sehr unterschiedlich. Ich fand es außerordentlich wichtig, ein sehr intensives und, wie gesagt, sehr langes Gespräch mit den Menschenrechtsorganisationen zu führen.
Ich habe darüber hinaus nicht nur auf Bundesebene mit
dem dortigen Staatssekretär für Menschenrechte gesprochen, sondern auch die Gelegenheit genutzt, in zwei
Bundesstaaten Gespräche zu führen. Ich habe dabei gemerkt - das ist auch Ihnen bekannt -, dass die Unterschiede von Bundesstaat zu Bundesstaat sehr groß sind.
Ich betone noch einmal: Die Aufmerksamkeit, die wir
in Deutschland der Menschenrechtssituation in Mexiko
widmen, führt, glaube ich, in der Tat auch dazu, dass
man dort jetzt anders reagiert. Aber zweifellos ist die
Tatsache, dass die Menschen in Mexiko auf die Straße
gegangen sind und das auch weiterhin tun, von entscheidender Bedeutung. Ich habe selbst vor Ort die Proteste
der Studenten gesehen und verfolge sie weiter. Das alles
mag auch dazu geführt haben, dass Staatssekretär
Gómez Robledo, mit dem ich in Mexiko gesprochen
habe, Ende letzter Woche in Berlin war, um persönlich
die zehn Punkte zu erläutern. Aber ich habe mich nicht
zurückgehalten; ich habe ihm gesagt: Es kommt jetzt darauf an, dass umgesetzt wird, was angekündigt worden
ist.
Weitere Zusatzfragen sehe ich nicht.
Deswegen kommen wir jetzt zu Frage 34 der Kollegin
Heike Hänsel:
Wie kommt die Bundesregierung zu der Einschätzung, es
gebe für sie keine Verpflichtung aus dem CCW-Abkommen,
Protokoll V, für die Beräumung von deutscher Munition auf
Übungsgeländen der Bundeswehr in Afghanistan, eingedenk
der Tatsache, dass die Bundesregierung Unterzeichner des
Abkommens ist und sich damit seinen Zielen verpflichtet hat
({0})?
Frau Staatsministerin.
Im Hinblick auf die Gültigkeit von Protokoll V ist
festzuhalten: Das Protokoll über explosive Kampfmittelrückstände des VN-Waffenübereinkommens ist in dem
von Ihnen erwähnten Fall nicht einschlägig. Afghanistan
ist keine Vertragspartei dieses Protokolls. Darüber hinaus gilt Protokoll V nicht für Vertragsparteien, die sich
an internationalen friedenserzwingenden Missionen mit
Mandat des VN-Sicherheitsrates beteiligen. Die Bundeswehr unterstützt im Rahmen von ISAF in Afghanistan
die afghanische Regierung. Diese, nicht Deutschland, ist
Partei des nicht internationalen Konflikts.
Ich halte aber fest: Deutschland hat bei der Aufgabe
des Bundeswehrtrainingsgeländes „Wadi“ bei Kunduz
die geltende Verpflichtung zu einer Oberflächenräumung
vollumfänglich erfüllt. Dies ist geschehen. Darüber hinaus möchte ich Ihnen mitteilen, dass unabhängig von
der Frage der rechtlichen Verpflichtung die Bundesregierung entschieden hat, nun für „Wadi“ auch eine Tiefenberäumung in Auftrag zu geben. Das entspricht unserer
grundsätzlichen Position. Die Bundesregierung hat im
Rahmen ihrer humanitären Hilfe Afghanistan bei der
Minen- und Kampfmittelräumung sowie bei der Fürsorge für die Opfer explosiver Kampfmittelrückstände
unterstützt, egal von wem diese verursacht wurden. Dafür wurden im Jahr 2014 annähernd 2,5 Millionen Euro
in Afghanistan bereitgestellt.
Frau Kollegin Hänsel, Ihre erste Nachfrage, bitte.
Danke schön, Frau Staatsministerin. Ich habe inzwischen auch die Information bekommen, dass die Bundeswehr der NATO geantwortet hat, dass sie unabhängig
von der rechtlichen Situation die Prüfung einer Tiefenberäumung dieses Schießübungsgeländes beabsichtigt.
Mich interessiert, wie dieser Positionswechsel zustande gekommen ist bzw. wann genau die Bundesregierung entschieden hat, dass diese Prüfung nun eingeleitet
wird. Wann wird die Prüfung der Tiefenberäumung abgeschlossen sein? Prüft die Bundesregierung - analog
dazu - das auch für andere Trainingsgelände in Afghanistan?
Frau Kollegin Hänsel, Sie haben sicherlich gehört,
was ich gesagt habe. Ich habe nicht von einer Prüfung
gesprochen, sondern davon, dass die Bundesregierung
entschieden hat, dass in „Wadi“ eine Tiefenberäumung
in Auftrag gegeben wird. Damit ist das definitiv.
({0})
Frau Kollegin Hänsel, Sie haben jetzt die Möglichkeit, eine zweite Nachfrage zu stellen.
Es geht auch um den Zugang zu Informationen, darum, dass die Bundeswehr den afghanischen Behörden
Informationen über Gefechtsorte bereitstellt, damit
eventuelle Rückstände von Kampfmitteln in den entsprechenden Regionen geräumt werden können. In der Antwort der Bundesregierung auf unsere Kleine Anfrage haben wir die generelle Antwort bekommen, dass die
Bundeswehr das an ISAF weiterleitet und dass ISAF das
dann an die afghanischen Behörden und vor allem an das
Mine Action Coordination Centre weiterleitet. Aber wir
haben die Information, dass das Centre große Schwierigkeiten hat, umfängliche Informationen über die realen
Gefechtsregionen zu bekommen. Deshalb lautet meine
Nachfrage - wir haben das vom Wissenschaftlichen
Dienst prüfen lassen -: Es besteht eine Informationspflicht durch das unterzeichnete Abkommen. Es handelt
sich hier nicht um Protokoll V, sondern um Protokoll IV,
wonach die Informationspflicht gegeben ist. Wird die
Bundesregierung dieser Pflicht nachkommen und alle
Informationen über Gefechtsrückstände an die afghanischen Behörden direkt weiterleiten?
Frau Kollegin Hänsel, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass Ihre Fraktion eine Kleine Anfrage an das
Bundesverteidigungsministerium gerichtet hat. Diese
Frage betrifft das Bundesverteidigungsministerium. Ich
stehe hier für das Auswärtige Amt. Ich bitte Sie deshalb,
diese Frage dem Bundesverteidigungsministerium zu
stellen.
Ich sehe keine weiteren Nachfragen. Dann danke ich
der Frau Staatsministerin; denn die Fragen 35 und 36 des
Kollegen Wolfgang Gehrcke sowie die Frage 37 des
Kollegen Andrej Hunko werden schriftlich beantwortet.
Wir kommen dann zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern. Hier werden die Frage 38
des Kollegen Andrej Hunko, die Fragen 39 und 40 des
Kollegen Alexander S. Neu, die Fragen 41 und 42 des
Kollegen Hubertus Zdebel, die Frage 43 der Abgeordneten Luise Amtsberg und die Frage 44 des Abgeordneten
Volker Beck schriftlich beantwortet.
Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz.
Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Christian Lange zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 45 des Kollegen Hans-Christian
Ströbele auf:
Ist die Bundesregierung im Kontakt mit dem Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof wegen dessen angeblichen
Vorhabens, das strafrechtliche Ermittlungsverfahren gegen
unbekannt betreffend das Abhören des Handys der Bundeskanzlerin, Dr. Angela Merkel, einzustellen ({0}), und wurden vor der Entscheidung Mitarbeiter und Mitglieder der Bundesregierung, insbesondere
die Bundeskanzlerin nach ihrer Äußerung „Das geht gar
nicht“ ({1}) und nach ihrem Telefonat mit dem US-Präsidenten Barack Obama ({2}), in dem dieser versichert haben
Vizepräsident Johannes Singhammer
soll, jedenfalls in seiner Amtszeit werde die Bundeskanzlerin
nicht mehr abgehört, zu dem Sachverhalt durch Ermittler nach
ihrem Wissen zum Tatverdacht befragt?
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Kollege Ströbele,
das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz steht in regelmäßigem Kontakt mit dem Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof. Die Prüfung, ob
Ermittlungen genügenden Anlass zur Erhebung einer öffentlichen Klage bieten, obliegt indes dem Generalbundesanwalt. Das Bundesministerium der Justiz und für
Verbraucherschutz nimmt auf solche Prüfungen grundsätzlich keinen Einfluss. Das gilt auch für das konkrete
von Ihnen genannte Ermittlungsverfahren. In diesem
Verfahren ist noch keine Entscheidung darüber getroffen
worden, ob Anklage erhoben oder das Verfahren eingestellt wird. An bloßen Spekulationen über einen möglichen Ausgang des Ermittlungsverfahrens möchte ich
mich nicht beteiligen.
Da der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof
noch keine Entscheidung darüber getroffen hat, ob die
Ermittlungen genügenden Anlass zur Erhebung einer öffentlichen Klage bieten oder ob die Ermittlungen einzustellen sind, kann ich keine Auskunft darüber geben,
welche Ermittlungsschritte bereits vorgenommen worden sind oder welche Ermittlungsschritte möglicherweise geplant sind. Dafür bitte ich um Verständnis.
Herr Kollege Ströbele, Ihre erste Zusatzfrage.
Danke, Herr Staatssekretär. Sie haben natürlich haarscharf an meiner Frage vorbei argumentiert. Meine
Frage geht dahin, ob Ihnen bekannt ist - das stand jedenfalls in einem Magazin -, dass bereits eine Einstellungsverfügung formuliert ist und dem Generalbundesanwalt
zur Unterschrift vorliegt. Diese Einstellungsverfügung
soll darauf gestützt sein, dass sich kein Verdacht erhärtet
hat, dass das Handy der Kanzlerin abgehört worden ist.
Meine erste Frage ist daher: Ist Ihnen durch die enge
Beziehung, die Sie zu dem Generalbundesanwalt haben
- das haben Sie eben betont -, bekannt, ob eine solche
Einstellungsverfügung bereits formuliert ist und ihm
vorliegt?
Herr Kollege Ströbele, ich kann mich nur wiederholen. In diesem Verfahren ist noch keine Entscheidung darüber getroffen worden, ob Anklage erhoben oder das
Verfahren eingestellt wird. Ich habe auch gesagt, dass
ich mich an bloßen Spekulationen über einen möglichen
Ausgang des Ermittlungsverfahrens nicht beteilige.
Kollege Ströbele, Sie haben die Möglichkeit einer
zweiten Nachfrage.
Danke, Herr Präsident. - Herr Staatssekretär, Sie haben wieder haarscharf an der Frage vorbei argumentiert.
Jetzt komme ich zu dem eigentlichen Anliegen, das
ich habe. Die Frage können Sie beantworten; ich habe
das im zweiten Teil meiner Frage angesprochen. Sind
Mitglieder oder Mitarbeiter der Bundesregierung bisher
durch Ermittlungsbehörden - Generalbundesanwalt, Bundesanwälte, BKA, wer auch immer - zu diesem Fall
befragt worden? Ich frage noch gar nicht, was sie geantwortet haben. Ist insbesondere die Frau undeskanzlerin,
die sich zu diesem Verdacht mehrfach geäußert hat und
auch mit dem US-Präsidenten telefoniert hat, schon einmal von Ermittlungsbehörden befragt worden?
Herr Kollege Ströbele, zu einzelnen Schritten eines
noch nicht abgeschlossenen Ermittlungsverfahrens
nimmt die Bundesregierung keine Stellung.
Frau Kollegin Haßelmann hat die Möglichkeit, eine
weitere Nachfrage zu stellen.
Herr Staatssekretär, Sie haben jetzt Fragen beantwortet, die mein Kollege Ströbele gar nicht gestellt hat. Er
hat Sie nicht aufgefordert, darüber zu spekulieren, sondern er hat Sie aufgefordert, uns den Stand Ihrer Informationen zu geben. Darum bitte ich Sie jetzt noch einmal.
Ansonsten würden wir das sicherlich gegenüber der
Bundesregierung insgesamt schriftlich tun. Das können
wir über den Bundestagspräsidenten selbstverständlich
veranlassen.
Das bleibt Ihnen unbenommen. Ich kann Ihnen nur
noch einmal sagen, dass sich die Bundesregierung an
Spekulationen über ein Verfahren, dessen Ausgang noch
nicht klar ist, nicht beteiligt, und dass wir zu einzelnen
Ermittlungsschritten des Generalbundesanwalts nicht
Stellung nehmen. Darüber hinaus liegen mir keine Erkenntnisse vor, die ich Ihnen hier vortragen könnte.
Weitere Nachfragen sehe ich nicht. Ich bedanke mich
bei Herrn Staatssekretär Lange. Damit verlassen wir diesen Geschäftsbereich.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen. Für die Beantwortung der
Vizepräsident Johannes Singhammer
Fragen steht Herr Staatssekretär Dr. Michael Meister zur
Verfügung.
Wir kommen zur Frage 46 des Kollegen Markus
Kurth:
Wie bewertet die Bundesregierung vor dem Hintergrund
eines sinkenden Rentenniveaus den Umstand, dass von den
über 35 Millionen aktiv in der Rentenversicherung Versicherten nur 6,4 Millionen Personen ausreichend im Sinne des
Riester-Konzepts vorsorgen ({0}), und was plant die Bundesregierung in dieser Legislatur, um die Inanspruchnahme der privaten Altersvorsorge zu
erhöhen?
Herr Präsident! Herr Kollege Kurth, die Bundesregierung ist der Auffassung, dass der Aufbau einer zusätzlichen kapitalgedeckten Altersversorgung besonders für
junge Beschäftigte notwendig ist, wenn auch im Alter
ein lebensstandardsicherndes Einkommen zur Verfügung
stehen soll. Dafür kommen in erster Linie die betriebliche Altersversorgung und die Riester-Rente in Betracht.
Daneben ist der Aufbau eines Kapitalvermögens oder
die Bildung eines Immobilienvermögens möglich. Ob
und, wenn ja, welche Art der Altersvorsorge der Beschäftigte wählt, obliegt seiner Entscheidung.
Angesichts dessen greift der Hinweis auf die RiesterRente allein zu kurz. Aus dem Umstand, dass für das
Beitragsjahr 2011 6,4 Millionen Personen eine ungekürzte Altersvorsorgezulage erhalten haben, kann nicht
geschlossen werden, dass nur dieser Teil der Versicherten ausreichend vorgesorgt hat. Vielmehr müssen auch
weitere Alterssicherungssysteme, insbesondere die betriebliche Altersversorgung, berücksichtigt werden.
Derzeit haben etwa 60 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten bei ihrem aktuellen Arbeitgeber einen Anspruch auf Betriebsrente. Aus wissenschaftlichen Untersuchungen ist bekannt, dass zurzeit
mehr als 70 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten entweder einen Anspruch auf eine RiesterRente oder eine Betriebsrente haben. Diese Zahlen sind
aus Sicht der Bundesregierung durchaus ermutigend.
Ungeachtet dessen beabsichtigt die Bundesregierung,
die betriebliche Altersversorgung weiter zu stärken. Das
Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat in diesem Zusammenhang für 2015 den Entwurf für ein Betriebsrentenänderungsgesetz angekündigt. Außerdem hat
der Gesetzgeber mit dem Altersvorsorge-Verbesserungsgesetz zum 1. Januar 2014 bereits verschiedene Verbesserungen im Bereich der geförderten Altersvorsorge
beschlossen, insbesondere bei der Einbeziehung der
selbstgenutzten Wohnimmobilie. Hierzu gehört auch die
Schaffung der gesetzlichen Grundlagen für ein anbietergruppenübergreifendes Produktinformationsblatt, mit dem
die Transparenz der begünstigten Altersvorsorgeprodukte verbessert wird.
Herr Kollege Kurth, Sie haben die Möglichkeit zu einer Zusatzfrage.
Zunächst vielen Dank für die umfassende Antwort. Sie sagen, dass die 6,4 Millionen Personen, die die volle
Förderung in Anspruch nehmen, nicht Gradmesser sein
können, weil es noch andere, etwa ungeförderte private
Altersvorsorgebemühungen der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer gibt.
Gleichwohl ist es notwendig, separat noch einmal
nach den Absicherungen durch die Riester-Rente zu fragen, wie ich es in meiner Frage getan habe. Denn: Anders als bei der freiwilligen privaten Vorsorge über Lebensversicherungen oder Immobilien ist es so, dass die
staatliche Förderung der Riester-Rente gekoppelt war
mit einem Absenken des Rentenniveaus, mit der sogenannten Riester-Treppe. Darum die Frage: Ist die Bundesregierung vor dem Hintergrund der Inanspruchnahme
der vollen Förderung durch nur 6,4 Millionen Personen
von 35 Millionen aktiv in der Rentenversicherung Versicherten, die allesamt vom Absenken des Rentenniveaus
betroffen sind, der Auffassung, dass dies ausreicht, um
den ursprünglich formulierten Sicherungszielen von
2001 gerecht zu werden?
({0})
Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Ich habe in meiner
Antwort darauf hingewiesen, Herr Kollege Kurth, dass
die Zahl von 6,4 Millionen, die Sie zitieren, die Förderberechtigten umfasst, die die staatliche Förderung ungekürzt erhalten.
Ich will zunächst einmal darauf hinweisen, dass es neben den Förderberechtigten, die die staatliche Förderung
ungekürzt erhalten, auch Personen gibt, die eine Förderung erhalten, die dann eben nur teilweise erfolgt. Die
Begründung, warum jemand nur anteilig eine staatliche
Förderung bekommt oder eine Riester-Rente abgeschlossen hat, für die es keine Altersvorsorgezulage gibt,
kann sehr vielfältig sein: Ein Grund kann sein, dass zwar
die Förderberechtigung fehlt, dass aber dennoch ein
Riester-Vertrag besteht. Ein anderer Grund kann sein,
dass das Riester-Sparen seitens des Sparers bewusst allein zum Zwecke der Sparanstrengung erfolgt. Das kann
zum Beispiel dazu dienen, dass man in der Ansparphase
das Zahlen der Abgeltungsteuer vermeiden will, die wegen der nachgelagerten Besteuerung in der Sparphase,
also im vorgelagerten Bereich, entfällt. Es kann ferner
der Fall sein, dass man mehrere Riester-Verträge bespart
und dann eben nur einer gefördert wird. Auch kann es
durchaus der Fall sein, dass wegen eines Berufswechsels
die Förderberechtigung erlischt, der Vertrag aber sehr
wohl weiter bespart wird.
Insofern kann man aus der Zahl, die Sie genannt haben, Herr Kollege Kurth, nicht auf die Anstrengungen in
der Bevölkerung schließen, über eine Riester-Rente oder
über andere Wege Vorsorge zu betreiben.
Herr Kollege Kurth, haben Sie den Wunsch, noch
eine zweite Nachfrage zu stellen? Dann haben Sie die
Möglichkeit dazu. Ich darf gleichzeitig ankündigen, dass
wir damit nach unserer Geschäftsordnung die entsprechende Zeitdauer für die Fragestunde ausgeschöpft haben. Herr Kurth, Sie haben jetzt sozusagen die letzte Fragemöglichkeit.
Das ist schön. Danke. - Herr Staatssekretär Meister,
Sie haben jetzt sozusagen die möglichen Motivlagen für
die nicht vollständige Inanspruchnahme der Förderung
aufgefächert. Dann will ich an dieser Stelle nicht verschweigen, dass die Antwort der Bundesregierung auf
meine schriftlichen Fragen gezeigt hat, wer ohne Förderung oder mit gekürzter Förderung spart; das sind mehr
als doppelt so viele Verträge. Über 12 Millionen werden
bespart. Das sind gegenüber, wie gesagt, 35 Millionen
aktiv Versicherten, die von der Niveauabsenkung betroffen sind, immer noch weniger als die Hälfte. Wir sehen
insbesondere, dass von denjenigen, die über ein geringes
Einkommen verfügen, mehr als die Hälfte gar keine Verträge haben; aber auch sie sind von der Niveauabsenkung betroffen. Wird die Bundesregierung vor diesem
Hintergrund - Sie haben schon angekündigt, dass Sie
das prüfen werden - Maßnahmen ergreifen, um insbesondere Geringverdienerinnen und Geringverdienern die
Inanspruchnahme einer privat geförderten Altersvorsorge zu erleichtern?
Damit sich diese Zahl von 6,4 Millionen im Bewusstsein der Öffentlichkeit nicht festsetzt,
({0})
möchte ich zunächst darauf hinweisen, dass es im September 2014 16 Millionen Verträge gab.
({1})
Diese Zahl von September 2014 ist die letzte mir dazu
vorliegende Zahl.
Zum Zweiten. Ich habe darauf hingewiesen, dass zum
1. Januar dieses Jahres das Altersvorsorge-Verbesserungsgesetz in Kraft getreten ist und dass wir beabsichtigen, im Bereich der Betriebsrente im nächsten Jahr Verbesserungen herbeizuführen.
Wenn Sie sozusagen anteilig mit Blick auf alle Beschäftigten argumentieren, Herr Kollege Kurth, müssen
Sie auch die von mir vorhin genannten unterschiedlichen
Wege sehen: Neben der Riester-Rente haben wir die
Rürup-Rente, wir haben die betriebliche Altersvorsorge,
und wir haben auch das Kapitalsparen etwa über Lebensversicherungen, um nur ein Beispiel zu nennen. Insofern
muss man, glaube ich, das Gesamtportfolio sehen. Wir
als Bundesregierung haben das Interesse, dass breite
Kreise der Bevölkerung Altersvorsorgesparen betreiben.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär.
Ich sehe zwar, dass der Kollege Grund noch eine
Frage stellen möchte, aber ich habe schon darauf hingewiesen, dass wir die in der Geschäftsordnung vorgesehene Dauer der Fragestunde schon deutlich überschritten
haben. Deshalb hoffe ich auf Ihr Einverständnis, dass
wir jetzt entsprechend der Geschäftsordnung zum Ende
der Fragestunde kommen.
Die Fragen 47 und 48 des Kollegen Klaus Ernst werden schriftlich beantwortet.
Damit schließe ich diesen Tagesordnungspunkt.
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz ({0}) zu dem
Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung ({1}) Nr. 861/2007 des
Europäischen Parlaments und des Rates vom
11. Juli 2007 zur Einführung eines europäischen Verfahrens für geringfügige Forderungen und der Verordnung ({2}) Nr. 1896/2006
des Europäischen Parlaments und des Rates
vom 12. Dezember 2006 zur Einführung eines
Europäischen Mahnverfahrens
KOM({3}) 794 endg.; Ratsdok. 16749/13
Drucksachen 18/419 Nr. A.48, 18/2647,
18/3385, 18/3427
Es geht hier um die Einvernehmensherstellung gemäß
§ 8 Absatz 4 EUZBBG.
Eine Aussprache dazu ist nicht vorgesehen. Deshalb
kommen wir gleich zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz auf der Drucksache 18/3427. Der Ausschuss
empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung auf Drucksache 18/419 Nummer A.48 und der Stellungnahme des
Deutschen Bundestages gegenüber der Bundesregierung
gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes auf
Drucksache 18/2647 sowie des Berichts der Bundesregierung über die Einlegung eines Parlamentsvorbehalts
nach § 8 Absatz 4 Satz 2 EUZBBG auf Drucksache
18/3385 eine Entschließung gemäß Artikel 23 Absatz 3
des Grundgesetzes in Verbindung mit § 8 Absatz 4
EUZBBG anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Damit ist diese Beschlussempfehlung mit den
Stimmen von CDU/CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen
bei einer Enthaltung der Fraktion der Linken angenommen.
Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 2 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE
Pläne zur künftigen Gestaltung des Solidaritätszuschlags
Vizepräsident Johannes Singhammer
Die Fraktion Die Linke hat diese Aktuelle Stunde verlangt.
({4})
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Dr. Dietmar Bartsch von der Fraktion Die Linke das
Wort.
({5})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben
eine Aktuelle Stunde zum Thema der Gestaltung des Solidaritätszuschlags auf die Tagesordnung gesetzt. Ich
will allerdings zu Beginn sagen, dass es hier aus meiner
Sicht um ein viel grundsätzlicheres Problem geht. Es
geht um die Rolle des Bundestages und ein Stück weit
auch um die Rolle der Demokratie. Wir können ja zu
dem Thema Solidaritätszuschlag sehr unterschiedliche
Auffassungen haben.
({0})
Es ist ja auch sichtbar geworden: CDU-geführte, SPDgeführte Länder, Grüne, Linke haben dort unterschiedliche Sichtweisen. Das gilt auch für das Thema „Auslaufen des Solidarpaktes“ oder auch für die Neuordnung des
Länderfinanzausgleichs. Sicherlich alles sehr interessante Themen, die behandelt werden müssen.
Das Problem ist, dass es zu all diesen Themen im
Bundestag eine völlige Fehlanzeige gibt. Wir reden über
diese Themen überhaupt nicht.
({1})
Das wird in der Öffentlichkeit, in Talkshows beredet, das
wird von den Finanzministern beredet, das wird von Aund von B-Ländern beredet. Dann redet der Finanzminister mit dem Hamburger Bürgermeister und macht
da im Kern das aus, was sein soll. Aber, meine Damen
und Herren, wir sind das gewählte Parlament. Alle diese
Themen müssen doch im Bundestag behandelt werden.
({2})
Es muss doch eine demokratische Auseinandersetzung
geben. Wir haben die Aktuelle Stunde beantragt. All
diese Themen spielen überhaupt keine Rolle. Nur wir
sind demokratisch legitimiert.
Ich appelliere einmal ausdrücklich an die Abgeordneten der Großen Koalition: Sie müssen dafür sorgen, dass
wir hierzu streiten. Das kann ja kontrovers sein.
({3})
Sie haben doch eine Mehrheit. Aber wenigstens die Debatte muss doch möglich sein.
({4})
Wir haben jetzt die Situation, dass es so aussieht, als
würde sich die Regierung ein Parlament halten, und
nichts anderes. Das ist inakzeptabel. Dafür trägt die Bundeskanzlerin die Verantwortung. Wir brauchen diese Debatten.
Noch einmal: Es geht um die Zukunft. Wir wissen
alle nicht, welche Konstellationen es im Jahr 2019 gibt.
Wir müssen damit befasst werden. Also rein in das Parlament, rein in die Ausschüsse, Transparenz, kontroverse
Debatten und dann auch Entscheidungen zu diesem
Thema wie zu den anderen, die ja miteinander verbunden sind! Meine Damen und Herren allesamt, als Parlamentarier dürfen wir es nicht mit uns machen lassen,
dass das in Hinterzimmern ausgekungelt wird
({5})
und wir hier im Parlament nur noch abstimmen sollen.
Der Soli - um kurz etwas zur Sache zu sagen - ist im
Kern eine gigantische Kommunikationsleistung der
Bundesregierung. Schon der Titel ist irreführend. Der ist
total klug gewählt, denn Solidarität hat in Deutschland
offensichtlich einen guten Klang. Deswegen wird das
auch angenommen.
Ich will aber einmal daran erinnern, wie das denn im
Jahr 1991 war, als CDU/CSU und FDP dieses Gesetz
eingeführt haben, und zwar mit der Begründung: erstens
wegen der Mehrbelastung durch den Konflikt am Golf,
zweitens wegen der Unterstützung der Länder in Mittel-,
Ost- und Südosteuropa auf dem Weg zur Marktwirtschaft und drittens für Aufgaben in den neuen Ländern,
die insbesondere nach dem Zusammenbruch der früheren RGW-Absatzmärkte entstanden sind.
In der Bevölkerung gibt es das Gefühl, dass der Soli
eine Abgabe für den Aufbau in den neuen Ländern ist.
Das ist aber, wie wir alle wissen, nicht der Fall. Das ist
eine allgemeine Bundessteuer, die in den großen Topf
geht, so wie die Sektsteuer, die Tabaksteuer und andere
Steuern. Sie geht in den Bundeshaushalt, und wir Haushälter beschließen dann, wie sie verwandt wird.
({6})
Alle - auch das will ich betonen - bezahlen sie, von Rügen bis zum Bodensee, also selbstverständlich auch die
Menschen in den neuen Ländern. Ich sage das, weil auch
hier hin und wieder das Gerücht entsteht, dass das nicht
der Fall wäre. 14 Milliarden Euro sind das.
Jetzt haben wir die komische Situation, dass es
schlaue oder vielleicht nur einen ganz schlauen Journalisten gibt, der sagt: Einfach streichen, und alles ist gut. Jede Haushälterin und jeder Haushälter weiß, dass wir
das nicht mit einem Federstrich einfach so machen können. Das ist ja unbestritten.
Deswegen gibt es eben auch hier einen Zusammenhang von auslaufendem Solidarpakt und LänderfinanzDr. Dietmar Bartsch
ausgleich. Das ist nur im Gesamtpaket auflösbar. Wir
brauchen insgesamt eine Neuordnung der Finanzbeziehungen zwischen Bund, Ländern und Kommunen, einschließlich einer entsprechenden Aufgabenverteilung
zwischen den unterschiedlichen Ebenen.
({7})
Da gibt es eine gemeinsame Aufgabe, und wir könnten
das mit einer wirklichen Steuerreform in Deutschland
verbinden. Jetzt haben wir doch die Situation, dass es,
wenn einer das Wort „Steuern“ in den Mund nimmt,
heißt: Um Gottes willen, um Gottes willen, Steuererhöhung! - Dann ist alles sofort tot. Darum geht es überhaupt nicht. Wir brauchen eine grundsätzliche Debatte.
Die jetzige Situation - der totale Stillstand, keine Bewegung auf diesem Gebiet - ist aus meiner Sicht in jedem
Fall falsch. Wir müssen das in jedem Fall mit der Auseinandersetzung um die ungleiche Einkommens- und
Vermögensverteilung in Deutschland verbinden. Das
kann auch eine Auseinandersetzung im Wahlkampf des
Jahres 2017 sein. Aber wir müssen darüber streiten, und
es muss nachvollziehbar sein.
({8})
Deshalb ist unsere, meine Forderung: Wir brauchen
dringend eine Föderalismuskommission III, in der diese
Fragen behandelt werden. Sie ist dringend notwendig.
Dies muss entschieden werden, damit es eine klare Verantwortlichkeit gibt und die Menschen im Lande wissen,
wer für welche Aufgabenverteilung und welche Finanzverteilung steht.
Herzlichen Dank.
({9})
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Dr. Hans
Michelbach.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
heutige Debatte haben wir einem fragwürdigen Vorstoß
einer Gruppe von Ländern zu verdanken.
({0})
Sie will bei den Verhandlungen zur Neuordnung des
Länderfinanzausgleichs den Soli in die Einkommenoder Körperschaftsteuer überführen. Man will so tun, als
sei der Soli verschwunden, und trotzdem heimlich mitkassieren. Man konnte bei den Beteiligten förmlich die
Euro-Zeichen in den Augen leuchten sehen, nach dem
Motto: Man will fette Beute machen. Was hier passiert,
meine Damen und Herren, ist nach meiner Ansicht zutiefst unehrlich. Das Auslaufen des Solidarpakts II im
Jahr 2019 liefert keine Begründung für eine Beteiligung
der Bundesländer am Soli.
Meine Damen und Herren, die Bürger sind auch nicht
so dumm. Sie haben ein gutes Gespür dafür, wie sie von
den dauerhaften Soli-Besitzstandswahrern und stetigen
Steuererhöhern mehr oder minder hinter die Fichte geführt werden sollen. Da wird über marode Infrastruktur,
marode Schulen und über Kommunen im Schuldensumpf laut geklagt.
({1})
In Wirklichkeit geht es aber um etwas völlig anderes. Es
geht um den Unwillen oder auch die Unfähigkeit zur
Haushaltskonsolidierung.
({2})
Letzten Endes verweigert man die Schuldenbremse, die
bei uns Gesetz ist. Das ist die Wahrheit. Deshalb will
man sich möglichst schnell beim Bund ein saftiges Stück
herausschneiden, obwohl bei der Einführung des Soli
schon 7 Umsatzsteuerpunkte an die Länder übertragen
wurden.
({3})
Es dreht sich im Moment nur um ein Delta von 3 bis
4 Milliarden Euro zwischen den Umsatzsteueranteilen
und dem Aufkommen des Soli beim Bund.
Mehr noch: Mit den unter der Führung einzelner Länder ausgeheckten Plänen würde bei der Steuerbelastung
der Bürger sogar noch eine Schippe draufgelegt, es wäre
eine Steuererhöhung, denn der Soli als Teil des Einkommensteuertarifs belastet vor allem Familien mit Kindern
im unteren und mittleren Einkommensbereich. Meine
Damen und Herren, das wollen wir nicht.
({4})
Das ist genau die Politik, die Politikverdrossenheit
wachsen lässt.
({5})
Der Soli ist im Zusammenhang mit der Finanzierung der
deutschen Einheit eingeführt worden.
({6})
Der Nachholprozess der deutschen Einheit ist gut entwickelt. Das Geld kommt in den gesamten Haushaltstopf.
Davon werden auch Rentenanteile für die neuen Bundesländer bezahlt. Der Solidarpakt II läuft in vier Jahren
aus. Angesichts dieser Lage dauerhaft für alle Zeiten auf
dem Soli zu verharren, hieße nach meiner Ansicht, eher
die Bürger zu betrügen. Man muss immer wieder sagen,
wofür der Soli geschaffen wurde, und vor allem, dass er
letzten Endes nicht dauerhaft bezahlt werden darf.
Einige Soli-Besitzstandswahrer versuchen deshalb
schon, die Beibehaltung der Abgabe mit der Aussicht
auf eine Bändigung der kalten Progression schmackhaft
zu machen. Der Steuerzahler soll also seine Entlastung
selbst finanzieren. Meine Damen und Herren, das halte
ich für empörend; das ist eine Verhöhnung der Bürger.
({7})
Wer auf eine solche Idee kommt, dem mangelt es ganz
offenbar am Respekt vor dem Wähler.
({8})
Der eigentliche Grund für die heutige Debatte ist:
Politisch Verantwortliche wollen die Mühen der Konsolidierung nicht auf sich nehmen; man will sich auf Kosten des Bundes und der Steuerzahler einen schlanken
Fuß machen. So kann es nicht gehen. Deswegen: Der
schrittweise Ausstieg aus dem Soli nach 2019 ist nicht
nur eine Frage der Finanzpolitik, sondern nach meiner
Ansicht auch der politischen Glaubwürdigkeit.
Meine Damen und Herren, wir müssen endlich aufhören, eine falsche Debatte zu führen. Wir müssen nicht
fragen, wofür man den Soli noch verwenden kann. Wir
müssen fragen: Wie schaffen wir es, den Soli schrittweise Geschichte werden zu lassen? Der Bürger hat einen Anspruch auch auf den Verzicht des Staates, insbesondere dann, wenn durch Wachstum und Beschäftigung
Spielräume entstehen. Der Soli darf nicht dauerhaft die
zweite deutsche Sektsteuer werden.
({9})
Die Einnahmen von Staat und Kommunen werden in den
nächsten Jahren weiter deutlich anwachsen. Diese Spielräume müssen für die Entlastung der Bürger genutzt
werden. Wir brauchen mehr Kreativität nicht beim Erfinden neuer Ausgabenfelder, sondern bei der Verringerung
der Steuer- und Abgabenlast der Bürger und der Unternehmen. Das, meine Damen und Herren, ist wachstumsfördernd, investitionsanreizend und beschäftigungsfreundlich. Daraus wird eine Gelegenheit, eine Chance
auch für die Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen. Es ist der richtige Weg, dass man erst einmal
versucht, Spielräume zu schaffen, bevor man in den großen Topf des Geldes der Steuerzahler greift.
Herzlichen Dank.
({10})
Die Kollegin Lisa Paus spricht als Nächste für Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Schade,
dass Herr Schäuble und Herr Scholz heute nicht unter
uns sind.
({0})
Denn, Herr Michelbach, die Geschichte geht doch ein
bisschen anders, als Sie sie jetzt gerade erzählt haben. In
Wahrheit ist es so, dass wir diese Aktuelle Stunde hier
Herrn Schäuble, dem Finanzminister der Bundesrepublik Deutschland, und Herrn Scholz, dem Ersten Bürgermeister der Stadt Hamburg,
({1})
zu verdanken haben. Denn es geht um ihr Geheimpapier,
ein sogenanntes Non-Paper, ein Papier also, das es angeblich gar nicht gibt,
({2})
das aber im politischen Berlin alle wichtigen Leute, natürlich auch die Journalisten, haben. Damit wollten die
beiden Herren Verhandlungsführer der Arbeitsgruppe
„Finanzen“ für die Große Koalition die Integration des
Soli in die Einkommensteuer vorbereiten. Heute wissen
wir: Sie haben sich dabei ganz kräftig verkalkuliert.
({3})
- Genau.
Zu Recht sind die Bürgerinnen und Bürger heute in
heller Aufregung. Denn anstatt die Neuordnung der
Bund-Länder-Finanzbeziehungen mit der gebotenen
Transparenz zu diskutieren - Herr Bartsch hat es schon
gesagt -, anstatt überfällige und notwendige Reformen
des Föderalismus auf die Tagesordnung zu setzen - zum
Beispiel die effektive Bekämpfung der Steuerhinterziehung und Steuergestaltung internationaler Konzerne und
Einkommensmillionäre durch eine Spezialeinheit des
Bundes oder die Frage, wie wir die Einhaltbarkeit der
Schuldenbremse ab 2020 bei dem Altschuldenproblem,
das wir in Deutschland haben, nachhaltig sichern -,
({4})
anstatt sich um diese Themen zu kümmern, haben
Schäuble und Scholz versucht, mit ihrem Geheimpapier
Tatsachen zu schaffen
({5})
und die Bürgerinnen und Bürger und die Parlamente,
auch den Deutschen Bundestag, einfach zu überrumpeln.
Das geht nicht.
({6})
Das ist im Übrigen deshalb besonders ärgerlich,
meine Kolleginnen und Kollegen, weil damit die Debatte um die Zukunft des Soli insgesamt schwer belastet
ist. Denn wenn man einen eigentlich zeitlich begrenzten
Zuschlag wie den Soli in eine dauerhafte Einnahme umwandeln will, dann braucht es dafür eben erstens einen
wirklich guten Grund und zweitens eine breite öffentliche Debatte über die Problemlage, damit dieses Vorhaben überhaupt irgendeine Chance auf gesellschaftliche
Akzeptanz hat.
({7})
Doch statt diese Debatte zu führen, haben eben ein
Bundesfinanzminister sowie ein Erster Bürgermeister
und ehemaliger Bundesarbeitsminister einen Vorschlag
gestreut, ohne die einfachsten Voraussetzungen der Umsetzbarkeit ihres Vorschlages überprüft zu haben. Das ist
wirklich ein starkes Stück.
({8})
Am Montag kam nun endlich die Bestätigung meiner
eigenen Rechnung zu der Frage: Was passiert denn eigentlich, wenn der Soli in den bisherigen Einkommensteuertarif überführt wird? Die Antwort von Schäubles
eigenen Beamten: über 8 Millionen Steuerfälle. Das
heißt konkret: Über 24 Millionen Menschen in unserem
Lande würden dadurch mehr belastet, vor allem Alleinerziehende und Familien mit Kindern und mit niedrigen
und mittleren Einkommen. Aber nicht nur die: auch
kleine und mittlere Unternehmen wegen der Gewerbesteueranrechenbarkeit, auch die Nutzer des Steuerbonus
für Handwerksleistungen oder die von haushaltsnahen
Dienstleistungen. Selbst ALG-I-Bezieher würden zusätzlich belastet, wenn der Soli einfach so in die Einkommensteuer integriert würde. Das hätte man wirklich
vorher sehen können. Das geht nicht, das darf es nicht
geben, meine Damen und Herren!
({9})
Um Ihnen noch einmal zu erklären, woran das liegt:
Der Soli hat eine etwas andere Berechnungsgrundlage
als die Einkommensteuer, wie zum Beispiel die zusätzliche Berücksichtigung des Kinderfreibetrages, die jetzt
- geltendes Gesetz - für untere und mittlere Einkommen
entlastend wirkt. Ebenso sind die Regeln bei der Gewerbesteueranrechnung zu nennen. Das alles würde bei der
Integration des Soli in die Einkommensteuer entfallen.
Konkret heißt das, dass eine Familie mit zwei Kindern
mit bis zu 304 Euro pro Jahr zusätzlich belastet würde.
Lange wurden unsere Fragen oder unsere Kritik mit
dem Hinweis, ja, es stimme, es gebe - 24 Millionen
Menschen sind betroffen - vereinzelte Fälle von Mehrbelastung, aber das sei alles durch einen Abschlag von
2,5 Milliarden Euro auf das Soli-Gesamtaufkommen regelbar. Die jetzt vorliegende Antwort auf unsere Kleine
Anfrage macht aber völlig klar: Selbst wenn der Einkommensteuertarif so abgeflacht würde, dass der Fiskus
5 Milliarden Euro weniger Einnahmen hätte, müsste eine
Alleinerziehende mit einem Jahreseinkommen von
25 000 Euro mehr Steuern zahlen als heute, und das geht
eben nicht.
({10})
Wenn Sie das kompensieren wollen, dann müsste man
das Kindergeld um 10 Euro pro Monat erhöhen, und das
wiederum würde zu Mehrausgaben von 4 Milliarden
Euro führen. Das ist also eine Milchmädchenrechnung.
Jetzt zeigt sich: Es rächt sich der Plan der Großen Koalition, die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern möglichst ohne Aufsehen in der Öffentlichkeit und
auf Basis des kleinsten gemeinsamen Nenners neu ordnen zu wollen. Eine Mehrbelastung von breiten Bevölkerungsschichten darf es nicht geben. Ohne eine umfassende Einkommensteuerreform, die auch die oberen
Einkommen stärker heranzieht, wird eine Integration des
Soli in die Einkommensteuer nicht gehen. Deswegen
heißt es jetzt: Zurück auf Los in den Verhandlungen über
die Reform der Bund-Länder-Finanzbeziehungen.
Herzlichen Dank.
({11})
Für die SPD spricht jetzt der Kollege Dr. Carsten
Sieling.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Aktuelle
Stunde heute bekommt für mich einen völlig neuen Anstrich. Sie scheint ein Ort des herrschaftsfreien Gesprächs zu sein. Es scheint so zu sein, dass man die Debatten, die hier sonst geführt werden, nicht weiter
aufnehmen muss, sondern quasi frei von Erinnerung redet. Ich sage das in Richtung aller drei meiner Vorrednerinnen und Vorredner.
Kollege Bartsch, es geht nicht, dass Sie sich hier hinstellen und sagen, man wolle eine FöKo III, wenn man
als Linkspartei selber - zumindest über die Regierung in
Brandenburg - an den Gesprächen, die es gegeben hat,
beteiligt war. Man kann jetzt nicht einfach behaupten:
Hier muss man sich breiter aufstellen.
({0})
Liebe Lisa Paus, sicherlich ist es ausgesprochen
schwierig, den Soli in die Einkommensteuer zu integrieren. Aber das wurde meines Wissens auch von grünen
Ministerpräsidenten unterstützt.
({1})
Ich bin insbesondere - Herr Kollege Brinkhaus - von
dem, was Sie, Herr Kollege Michelbach, hier vorgetragen haben, erschüttert; das will ich ganz offen sagen.
({2})
Wir müssen gerade in der Koalition noch einmal festhalten - das ist ein wichtiger Punkt -: Der Soli war in den
letzten Jahren ein guter und wichtiger Beitrag für die
Stabilisierung und das Zusammenwachsen unseres Landes.
({3})
Lassen Sie uns nun den Blick nach vorne richten. Vor
der Bundestagswahl wurde eine Debatte von einer Partei
geführt, die heute - meines Erachtens glücklicherweise nicht mehr in diesem Parlament sitzt. Die FDP hat sich
damals hingestellt und gesagt: Der Soli muss weg. Im
Juli 2013 hat die Kanzlerin höchstpersönlich gesagt: Wir
brauchen für die zukünftigen Gestaltungen diesen Solidaritätszuschlag weiterhin. Dazu muss man als Union
stehen, auch in schwierigen Zeiten, wenn die Populisten
wieder einmal den Soli streichen wollen.
({4})
Ich sage das vor allem deshalb, weil - ich glaube, darin sind wir uns alle einig - wir es uns gar nicht erlauben
können, auf die Einnahmen aus dem Solidaritätszuschlag - 2020 werden das an die 20 Milliarden Euro
sein - zu verzichten, jedenfalls wenn man die Finanzbeziehungen zwischen Bund, Ländern und Kommunen in
Ordnung bringen will.
({5})
- Na ja, Kollege Michelbach, man kann die ganzen Ziele
in Sachen Investitionen und Schulden nicht erreichen,
und man kann auch den Wunsch Bayerns, Hessens und
anderer Länder nach einer Reduzierung der Einzahlungen in den Länderfinanzausgleich nicht erfüllen, wenn
man Geld aus dem System nimmt. Man wird dieses Geld
brauchen.
({6})
Es gibt also gute Argumente, den Soli fortzuführen.
({7})
Ich möchte auf ein Thema eingehen, das die Kollegin
Paus vorhin angesprochen hat. In der Tat wird es schwierig - das ist unzweifelhaft -, den Solidaritätszuschlag in
die Einkommensteuer zu integrieren. Ich will aber darauf hinweisen, dass der Bundesfinanzminister dies vorgeschlagen hat. Diesem Vorschlag ist der Erste Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg, Olaf
Scholz, beigetreten. Das war aber auch Thema in den
Gesprächen zwischen allen Länderfinanzministern mit
dem Bund. Das ist doch keine Angelegenheit von Herrn
Schäuble persönlich oder von Herrn Scholz persönlich.
({8})
Das hat in allen Gesprächen eine Rolle gespielt. Deshalb
kann man das hier nicht so salopp vom Tisch wischen.
Ich finde das unsolide. Das ist kein ernsthafter Umgang
mit dem Problem.
({9})
Zum Schluss möchte ich deutlich machen, dass die
Berechnungen des Bundesfinanzministeriums in der Tat
zeigen, dass die Eingliederung ganz schwierig wird.
Deshalb will ich darauf hinweisen, dass es natürlich
auch die Alternative gibt, den Soli so fortzuführen, wenn
man es vernünftig begründet und sagt, welches besondere Ziel man damit verfolgt. Ich bin der festen Überzeugung, dass es dieses Ziel gibt. Wir wissen, dass wir
Investitionsbedarf haben, und wir wissen, dass wir die
Schuldenbelastung in vielen Bereichen reduzieren müssen. Ich glaube, dass sich daraus mit Blick auf die Zukunft unseres Landes eine gute Begründung herleiten
lässt.
Es ist mir ein wichtiges Anliegen - darauf möchte ich
in den letzten 15 Sekunden meiner Redezeit an dieser
Stelle hinweisen -, dass wir uns in diesem Haus gemeinsam gegen die interessengeleitete Argumentation stellen
- ich muss es schon fast Propaganda nennen -, dass der
Soli die Leute überfordert. Der Soli ist als Ergänzungsabgabe so konstruiert, dass immerhin - ich nehme Zahlen des Bundesfinanzministeriums - 11 Millionen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler den Soli gar nicht zahlen
müssen. Der Soli ist eigentlich die gerechteste Form der
Abgabe, weil es sich um einen Aufschlag auf die Steuer
handelt. Er betrifft somit vor allem Gutverdienende und
höhere Einkommen. Ich finde, höhere Einkommen und
Gutverdienende können in diesem Land einen Beitrag
dazu leisten, dass wir ein solides und stabiles Gemeinwesen bekommen.
Deshalb sind wir als Sozialdemokraten dafür, jetzt
nicht einfach alles über den Haufen zu werfen, sondern
nüchtern und sachlich an die Problemlagen heranzugehen. Wir sollten keine populistischen Reden halten, sondern die Probleme lösen, und dazu werden wir das Aufkommen aus dem Soli brauchen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({10})
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Olav
Gutting.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Wenn ich so an die Zukunft des Solidaritätszuschlags
denke, wenn ich sie vor meinem geistigen Auge betrachte, dann sehe ich vor dem Bundestag 16 Geier sitzen.
({0})
Diese 16 Geier sind völlig unterschiedlich, aber irgendwie scheinen sie doch gleicher Abstammung zu sein;
denn in den 32 Augen dieser Geier blinken unentwegt
Dollar- bzw. Euro-Zeichen.
({1})
Gemeinsam ist diesen Geiern auch ein unheimlich guter
Geruchssinn.
({2})
Sie riechen Geld auf weiteste Entfernungen, und sie riechen auch den Soli.
({3})
Während sich diese Geier sonst immer schwertun,
sich auf ein gemeinsames Ziel zu einigen, scheint es hier
auf einmal ganz anders zu sein. Man würde den Soli
gerne verschwinden lassen. Natürlich soll er nicht gänzlich verschwinden. Er soll in den Einkommensteuertarif
integriert werden. Wenn man das macht, dann verschwindet von den bis 2019 prognostizierten jährlichen
Einnahmen von ungefähr 18 Milliarden Euro plötzlich
ganz schnell die Hälfte bei den Ländern.
({4})
Das ist dann natürlich elegant gelöst. Denn die im Zusammenhang mit der Einführung des Soli in den 90erJahren zugestandene Erhöhung des Anteils an der Umsatzsteuer in Höhe von 7 Prozent wollen sie natürlich zusätzlich und trotzdem behalten.
Bei der ganzen Diskussion darüber, wie man den Solidaritätszuschlag denn nun ab 2019 am besten neu verteilen könnte, vergessen meines Erachtens einige das
Entscheidende: Der Soli war bisher in der Tat eine wichtige und gute Einnahmequelle; das ist unbestritten. Aber
wir sprechen hier über das Geld der Bürgerinnen und
Bürger. Und die Selbstverständlichkeit, mit der vor allem die rot-grünen Bundesländer ihren Anteil an der
Soli-Beute fordern,
({5})
muss einem schon zu denken geben.
({6})
Der Bürger wird hier nur noch zum Zuschauer auf irgendwelchen Nebenplätzen. Er muss sich ja fast schon
als störendes Element bei der Verteilung der Beute fühlen. So kann es nicht gehen. Es ist wirklich eine Frage
des Respekts vor unseren Bürgerinnen und Bürgern, wie
wir mit der Frage des Solidaritätszuschlags ab 2019 umgehen.
({7})
Wenn eine befristete Ergänzungsabgabe - und das ist
der Solidaritätszuschlag -, wie von einigen gefordert,
nun in eine dauerhafte Einnahmequelle des Staates verwandelt werden soll, dann gehört es zur Ehrlichkeit in
der politischen Debatte, dies als das zu bezeichnen, was
es dann auch tatsächlich ist, nämlich als eine Steuererhöhung.
({8})
Wer das will, der soll es auch deutlich sagen
({9})
und nicht versuchen, durch irgendwelche Winkelzüge
das Offensichtliche zu verstecken.
({10})
Dass das Federkleid der 16 Länder so unterschiedlich
ist, hat auch seinen Grund. Es gibt zwischen den 16 Ländern nämlich gehörige Effizienzunterschiede. Da gibt es
welche, die seit langem unionsregiert sind, und die haben, wie Bayern oder Sachsen, einen ausgeglichenen
Haushalt.
({11})
Es gibt andere, die überhaupt kein Interesse an einer soliden, nachhaltigen Haushaltspolitik haben. Wozu auch?
Es gibt ja den Länderfinanzausgleich.
({12})
Da, meine Damen und Herren, gibt es sicherlich auch
Gesprächsbedarf.
Ich stelle mir gerade wieder einmal diese 16 Vögel
vor, über die ich vorhin schon gesprochen habe.
({13})
Wenn dann die Sprache auf die Neuordnung der Finanzen und vor allem auf den Länderfinanzausgleich
kommt, flattern auf einmal 12 dieser 16 Vögel ganz geschwind davon.
Ich meine, die Zukunft des Solis können wir nicht losgelöst und isoliert von der Frage einer grundsätzlichen
Neuordnung der Länder- und Bund-Länder-Finanzbeziehungen betrachten. Wir sollten die Chance nutzen, staatliches Handeln ökonomischer, effizienter, produktiver zu
organisieren. Gerade im Hinblick auf den Soli und dessen Zukunft stellt sich doch die Frage: Wollen wir gestalten, oder wollen wir einfach nur fantasielos abkassieren?
Lassen Sie uns doch zum Beispiel mal auf die Steuerbescheide draufschreiben, wohin die Gelder fließen.
Lassen Sie uns draufschreiben, welche Anteile an die
Länder, an den Bund und an die Kommunen fließen. Darauf basierend können wir entsprechende Konzepte entwickeln. Dann - dieser festen Meinung bin ich - sollen
die Wählerinnen und Wähler bei der nächsten Wahl entscheiden, wem sie ihr sauer verdientes Geld anvertrauen.
Vielen Dank.
({14})
Ich darf feststellen, dass die Redezeit auf die Sekunde
präzise ausgeschöpft wurde. Das verdient Lob.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Axel Troost für
die Linke.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Gutting, es ist schon ein Witz, wenn man auf der einen Seite sagt: „Im Zusammenhang mit dem Soli muss
man grundsätzlich über die Bund-Länder-Finanzbeziehungen reden“, und auf der anderen Seite keine Föderalismuskommission III eingesetzt wird, sondern so
gemauschelt wird wie im Augenblick und der Finanzminister sogar noch hofft, am nächsten Donnerstag, also
am 11. Dezember dieses Jahres, den Knoten durchschlagen zu können, und zwar an uns allen vorbei. Das ist das
genaue Gegenteil von grundsätzlicher Diskussion.
({0})
Wir haben erlebt, dass es hier ganz unterschiedliche
Vorstellungen gibt: Entweder will man den Soli ganz abschaffen als Ausgleich für die kalte Progression oder die
Zweckbindung anders definieren oder ihn - das ist in der
Tat der Vorschlag der Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten der rot-grünen Länder - in die Einkommensteuer integrieren.
({1})
Aus meiner Sicht muss es uns darum gehen, den Soli
zu erhalten - und das aus mindestens drei Gründen:
Erstens. Der Soli ist aus unserer Sicht steuertechnisch
durchaus sehr vernünftig, weil er - das ist hier indirekt
schon gesagt worden - insbesondere die Empfänger höherer Einkommen und Kinderlose belastet. Insofern ist
das sozusagen eine relativ gerechte Abgabe. Wenn man
ihn abschaffen oder einfach umlegen würde, dann würde
das im Prinzip eine Entlastung von Reichen und eine Belastung von kinderreichen Familien bedeuten. Das ist
aber aus unserer Sicht völlig inakzeptabel.
({2})
Zweitens. Wenn man ihn auf die Einkommensteuer
umlegen würde, dann würde das natürlich dazu führen
- auch das ist ein Problem -, dass die reichen Bundesländer logischerweise noch reicher würden und die steuerarmen Bundesländer keine entsprechenden Zuwächse
hätten. Die logische Konsequenz wäre, dass das Aufkommen im Länderfinanzausgleich noch weiter steigen
würde - Bayern müsste noch einmal 400 bis 500 Millionen Euro mehr zahlen -, es trotzdem am Ende aber dazu
käme, da der Länderfinanzausgleich nur zu einer Angleichung und nicht zu einem Ausgleich führt, dass Hessen
zum Beispiel 20 Prozent mehr Einnahmen pro Kopf der
Bevölkerung hätte als steuerschwache Länder. Auch das
wäre aus meiner Sicht unvernünftig.
Drittens. Ich finde - das ist aus meiner Sicht das
Wichtigste -, dieser Solidaritätszuschlag ist schon durch
Solidarität charakterisiert.
({3})
Denn das Aufkommen, das eigentlich Bund, Ländern
und Kommunen zusteht, weil es eben eine Ergänzungsabgabe zur Einkommensteuer, zur Kapitalertragsteuer
und zur Körperschaftsteuer ist, steht nur dem Bund zu.
Deswegen sollte es auch für strukturpolitische Aufgaben
verwendet werden. So hat man mit dem Solidaritätszuschlag lange Zeit den Solidaritätspakt II mitfinanziert.
Es macht aus meiner Sicht überhaupt keinen Sinn, ihn
jetzt abzuschaffen. Viel eher sollte man ihn umfunktionieren. Der Soli ist ja nicht befristet eingeführt worden
- das ist völlig falsch -, sondern unbefristet. Insofern
liefe er weiter. Wenn Sie ihn abschaffen, würde das zu
einer massiven Steuersenkung für Besserverdienende
und Kinderlose führen. Das ist aus meiner Sicht überhaupt nicht zu akzeptieren. Wir brauchen auch in Bezug
auf den Länderfinanzausgleich dringend strukturpolitische Töpfe, mit denen man arbeiten kann.
({4})
Darüber, was man dann damit macht, kann man ja
diskutieren. Carsten Sieling war ja vor ungefähr zwei
Jahren einer der Autoren, die überlegt haben, ob man mit
dem Aufkommen aus dem Solidaritätszuschlag nicht
auch einen Teil der Verschuldungsprobleme der hochverschuldeten Bundesländer und Kommunen lösen
könnte. Wir brauchen aber auch ganz dringend - das hat
auch die Bundeskanzlerin im Wahlkampf in den Bundesländern deutlich gemacht - eine Nachfolge für den Solidarpakt II, nämlich einen Solidarpakt III, logischerweise
nicht nur für den Osten, sondern für strukturschwache
Regionen in Ost, West, Nord und Süd.
({5})
Das ist zwingend erforderlich. Wir brauchen den Soli
also nicht nur weiterhin für bestimmte Regionen im Osten und, nebenbei bemerkt, für einzelne Regionen in
Bayern, sondern natürlich auch für Nordrhein-Westfalen, für Bremerhaven und für viele andere Regionen.
Deswegen bietet aus meiner Sicht der Soli die
Chance, strukturpolitische Korrekturen vorzunehmen.
Seine Abschaffung würde nur eine weitere Verstärkung
der öffentlichen Armut bedeuten und das Auseinanderentwickeln zwischen Bundesländern und unterschiedlich
finanzstarken Kommunen nur verstärken.
Danke schön.
({6})
Johannes Kahrs ist der nächste Redner für die SPD.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Helmut Kohl hat zusammen mit der FDP den
Solidaritätszuschlag unbefristet eingeführt. Der Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble hat am Sonntag im
Bericht aus Berlin zwei Dinge klargestellt:
Erstens. Die Parteivorsitzende der CDU, Bundeskanzlerin Merkel, hat im Bundestagswahlkampf 2013
die klare Ansage gemacht, dass die Einnahmen aus dem
Solidaritätszuschlag auch nach 2019 weiter benötigt
werden.
Zweitens hat Wolfgang Schäuble festgestellt: Die
Union will an ihrem Versprechen festhalten, dass es
keine Steuererhöhungen gibt. Der Soli als unbefristete
Ergänzungsabgabe des Bundes hat damit aber nichts zu
tun.
Vor diesem Hintergrund, nach diesen Worten am
Sonntag, konnte Herr Schäuble den Vorschlag machen,
den Soli in die Gemeinschaftsteuer zu integrieren. Diesem Vorschlag von Herrn Schäuble sind leider die Ministerpräsidenten gefolgt; ich weiß auch nicht, warum.
({0})
Man wird im Ergebnis diskutieren müssen, ob überhaupt
und, wenn ja, wie. Es gibt da ja viele Vorschläge, wie die
Einnahmen genutzt werden könnten, etwa für einen Altschuldenfonds oder andere Sachen. Ich glaube, diese
Diskussion gehört zu Recht ins Parlament. Darüber gehört debattiert.
({1})
Ich finde es auch nicht verwerflich, wenn zum Beispiel der Bund mit den Ländern, also die Exekutiven,
miteinander reden - die Unterschiede zwischen den
16 Ländern sind ja sehr groß - und geschaut wird, ob sie
uns einen Vorschlag unterbreiten können. Das ist vollkommen legitim. Da über dieses Thema sowieso täglich
in der Presse berichtet wird, bekommt man mit, wie das
Ganze läuft. Wir selber im Parlament sind ja auch dabei
und begleiten diesen Prozess.
Das alles gesagt habend, zeigt, dass wir, wenn der
Vorschlag vorliegt, in der Sache darüber reden müssen,
was mit den Bund-Länder-Finanzbeziehungen passieren
soll. Dabei gehören ganz viele Dinge zusammen. Wir
haben innerhalb der Koalition eine gemeinsame Arbeitsgruppe dazu, in der wir das diskutieren. Da alles ist in
Ordnung.
({2})
Ich habe an den Sitzungen dieser gemeinsamen Arbeitsgruppe teilgenommen. Allerdings habe ich dort von Vertretern der Union nie den Vorschlag gehört, den Solidaritätszuschlag zu streichen, obwohl die bisherigen Redner
der Union heute hier etwas ganz anderes gesagt haben.
({3})
Lassen Sie mich noch darauf eingehen, was bisher in
der Debatte gesagt worden ist. Nachdem klar war, dass
Helmut Kohl mit der FDP den Solidaritätszuschlag sinn-
vollerweise eingeführt hat, und zwar unbefristet, nach-
dem klar war, dass Herr Schäuble am Sonntag Frau
Merkel zitierte, wonach der Solidaritätszuschlag in der
Zukunft erhalten bleibt, auch nach 2019, nachdem klar
war, dass sowohl Frau Merkel als auch Herr Schäuble
das so sehen, muss man über die Frage diskutieren, ob
man a) diese Ansicht teilt, und b), wie man das umsetzt.
Vor dem Hintergrund, dass Wolfgang Schäuble am
Sonntag gesagt hat, Frau Merkel wolle den Solidaritätszuschlag auch über 2019 hinaus erhalten, weise ich auf
Folgendes hin: Die zwei Redner der CDU/CSU, die,
vollkommen losgelöst von der Realität in ihrer eigenen
Partei, ihre privaten Wunschvorstellungen oder ihre
Träume zum Besten geben,
({4})
spiegeln damit weder die Haltung der Bundesregierung
noch die der Koalition noch die der CDU/CSU noch den
Inhalt des Koalitionsvertrages wider, sondern das ist die
Privatmeinung von zwei Herren, die aber weder etwas
mit der Realität noch mit den Vereinbarungen im Koalitionsvertrag noch etwas mit der Meinung innerhalb der
CDU/CSU zu tun hat.
({5})
Ihrer Aussage, Herr Michelbach, das sei ein fragwürdiger Vorstoß der Länder, halte ich entgegen: Der Vorstoß kommt von Herrn Schäuble. Ich schlage vor, Sie
unterhalten sich darüber mit Herrn Meister, der diesen
Vorschlag von Herrn Schäuble immer und überall verteidigt. Das gibt bestimmt lustige Gespräche innerhalb der
Union.
Herr Gutting, bei aller Sympathie: Die Länder als
Geier zu bezeichnen
({6})
und dann zu erklären, es säßen 16 Geier vor der Tür,
zeigt erst einmal ein sehr seltsames Staatsverständnis.
({7})
Zum anderen kann man mal die Frage diskutieren, ob
Herr Bouffier oder Herr Seehofer von Ihnen gerne als
Geier tituliert werden wollen. Schließlich kann man
auch die Ministerpräsidentin des Saarlandes fragen, deren Vorstellungen noch viel weitreichender sind.
Wenn man mit diesen populistischen Vorschlägen um
die Kurve kommt, die nichts mit dem zu tun haben, was
Frau Merkel und Herr Schäuble sagen und was im Koalitionsvertrag steht, dann führt man damit Debatten im
Deutschen Bundestag ad absurdum. Wenn man hier
nicht bei der Wahrheit bleibt, wenn man hier seine Privatmeinung wiedergibt und nicht die Meinung der Koalition und der Bundesregierung, wenn man Herrn
Schäuble und Frau Merkel so desavouiert und deren
Aussagen an die Wand klatscht, kann man leider nur sagen: Das ist schade.
({8})
Die Kollegin Anja Hajduk spricht jetzt für Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die bisherigen Debattenbeiträge der CDU/CSU hat der Kollege
Kahrs völlig zutreffend beschrieben und auch richtigerweise entsprechend abqualifiziert. Das muss ich einmal
ganz deutlich sagen.
({0})
Der Kollege Kahrs hat aber an einer Stelle ordentlich
geschummelt.
({1})
Dass wir heute über den Solidaritätszuschlag diskutieren, hat nicht nur etwas damit zu tun, dass sich Herr
Schäuble in den vergangenen Monaten überlegt hat, dass
man ihn in die Einkommensteuer integrieren könne;
vielmehr handelt es sich um einen gemeinsamen Vorschlag von Finanzminister Schäuble und von Olaf
Scholz,
({2})
und zwar in dessen Rolle als Repräsentant der A-Länder
und damit der SPD. Deswegen reden wir heute darüber.
Ich muss einmal ganz deutlich sagen: Seit neun Monaten wird über die Bund-Länder-Finanzbeziehungen
gesprochen. Seit fünf Monaten liegen dezidierte Vorschläge zur Einigung zwischen Bund und Ländern auf
dem Tisch. Der Bundestag redet heute darüber, weil die
Linksfraktion eine Aktuelle Stunde angemeldet hat und
weil meine Fraktionskollegin Lisa Paus eine in der Sache sehr aufklärende Anfrage gestellt hat. Diese Große
Koalition aber, diese stolzen Fraktionen des Deutschen
Bundestages, erklären sich aber für komplett unzuständig.
({3})
Ich finde, das ist ein blamables Vorgehen des Deutschen
Bundestages gegenüber unserer Öffentlichkeit und gegenüber unserer Demokratie.
({4})
Das verantworten die CDU-Fraktion und die SPDFraktion. Das verantworten Finanzminister Schäuble,
Herr Gabriel und Frau Merkel.
({5})
Sie haben dieses Hinterzimmerverfahren festgelegt. In
diesem Hinterzimmerverfahren sind sie nach neunmonatiger Tagung in kleiner Gruppe komplett an die Wand
gefahren.
({6})
Ich hoffe, dass Sie endlich dafür sorgen, dass das aufhört.
({7})
- Herr Sieling, verstecken Sie sich doch nicht hinter den
Ministerpräsidenten. Ich gehe gern auch auf Herrn
Kretschmann ein. Hören Sie jetzt einmal zu.
Dass sich die Länder auf den jetzt eingenommenen
Standpunkt stellen und danach schauen, was für sie
finanziell nachher übrig bleibt, habe ich mir gedacht.
Deswegen ist es umso richtiger und wichtiger, dass wir
uns als Bundestag nicht zurückziehen; denn bei den
Bund-Länder-Finanzbeziehungen geht es nicht nur darum, wie viele Euro für jeden übrig bleiben, sondern es
geht auch darum, ob das sachgerecht ist, was wir machen, ob die Aufgabenverteilung gut ist und ob wir mit
den Bund-Länder-Finanzbeziehungen für die Zukunft
gut aufgestellt sind.
Wir haben einen Megatrend Europa und müssen einmal überlegen, welche Aufgaben die Länder überhaupt
wahrnehmen müssen. Wir als Bundestag lassen uns da
aber einfach herausdrücken. Ich finde, das kann nicht
sein. Deshalb fordere ich Sie auf, hier auch auf Fraktionsebene tätig zu werden.
({8})
Ich möchte auch noch etwas in der Sache sagen und
nicht nur zu dieser wirklich elenden Hinterzimmerpolitik, die Sie da betreiben. Wenn wir Umfragen den SoliAnja Hajduk
daritätszuschlag betreffend trauen dürfen, sind die Bürgerinnen und Bürger durchaus willig, diesen neu zu
justieren; sie sind in dieser Frage aber sehr aufmerksam.
Eine Umfrage hat zu dem Ergebnis geführt, dass die
Menschen der Auffassung sind, dass es besser ist, das
Aufkommen aus dem Solidaritätszuschlag nicht nur in
den neuen Ländern auszugeben, sondern unabhängiger
von Himmelsrichtungen genauer nach dem Bedarf zu
schauen.
Wenn es diese Bereitschaft in der Bevölkerung gibt,
dann verdient diese Haltung aber auch, dass wir sorgfältig begründen, warum wir ihn in Zukunft weiter so aufrechterhalten wollen. Da kann man eben nicht einfach
sagen: Die Länder einigen sich darauf. Wir wollen eigentlich nur die Mittel als Steuer vereinnahmen und uns
möglichst gar nicht rechtfertigen müssen, wofür wir
diese Mittel ausgeben. - Das geht so nicht. Das führt zu
einem Schaden beim Umgang mit der Bevölkerung, die
uns ihre Finanzen zur sorgfältigen Verausgabung anvertraut.
({9})
Wir müssen wirklich einmal feststellen: Wenn man
den Soli in die Einkommensteuer integriert - hierzu hat
Frau Paus eine wunderbare Anfrage gestellt, und das
Finanzministerium hat aufreizend ehrlich geantwortet -,
werden über 8 Millionen Steuerzahler schlechtergestellt. Wenn man das mit irgendeinem anderen Mechanismus kompensiert - sei es über das Kindergeld oder
über die kalte Progression -, dann wird man dabei das
Gesamtvolumen um ein Drittel schmälern müssen.
Über all diese Fragen muss man, finde ich, ausführlich miteinander diskutieren, und zwar im Bundestag, in
einem Gremium, in dem man Fragerechte hat und richtige Antworten bekommt, statt nur indirekt über mehr
oder weniger durchgesteckte Papiere, mit denen sogenannte Reformen für 20 Jahre festgeklopft werden sollen. Wenn der Soli einfach in die Einkommensteuer integriert wird, dann ist das eine Steuermehrbelastung,
obwohl die CDU/CSU eigentlich das Kernversprechen
gegeben hat, dass sie das nicht will. Da müssen Sie also
dringend nacharbeiten.
Frau Kollegin.
Ich komme zum Schluss. - Wenn man den Soli integriert, dann vertieft das gleichzeitig die Kluft zwischen
finanzschwachen und finanzstarken Ländern. Das ist genau das Gegenteil des Zwecks, zu dem der Soli eingeführt wurde.
Sie haben gar nichts erreicht, außer einen schlechten
Vorschlag zu machen. Sie sind mit Ihrem Hinterzimmerverfahren gegen die Wand gefahren. Sorgen Sie endlich
für eine ordentliche Beratung für die Zukunft der BundLänder-Finanzbeziehungen, um diese endgültig und
nachhaltig zu sichern! Dazu fordern wir Sie auf.
({0})
Das Wort erhält nun der Kollege Matthias Hauer für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir sprechen heute darüber, wie es mit dem Soli
weitergehen soll. Dieses Thema - das konnten wir gerade schon der Debatte entnehmen - bewegt uns, aber
vor allem auch die Menschen außerhalb dieses Hauses.
Viele Vorschläge liegen seit Monaten auf dem Tisch.
Auch in der letzten Woche wurde noch einmal viel quer
durch alle Medien über das Thema diskutiert. Es freut
mich, dass die Linksfraktion die heutige Aktuelle Stunde
beantragt hat. Denn von Ihnen hat man bislang in der
Debatte am wenigsten gehört. Insofern ist es schön, dass
wir das Thema heute auf Ihre Initiative in diesem Haus
diskutieren.
({0})
CDU/CSU und SPD haben gemeinsam einen Haushalt ohne neue Schulden und ohne Steuererhöhungen
vorgelegt.
({1})
Wir haben gleichzeitig mehr in Bildung, Forschung und
die Kommunen investiert. Sie können uns deshalb zutrauen, dass wir auch für den Soli eine vernünftige Lösung finden werden.
({2})
Aber zunächst einmal der Reihe nach: 1991 wurde
der Soli zunächst auf ein Jahr befristet eingeführt. 1995
wurde er ohne Befristung wieder eingeführt, 1998 auf
5,5 Prozent abgesenkt. Ziel war es, den Aufbau der ostdeutschen Bundesländer langfristig zu sichern, aber auch
andere Bedarfsspitzen des Bundes zu bewältigen. Der
Bund hat seit der deutschen Einheit massive Anstrengungen unternommen, um die ostdeutschen Bundesländer direkt zu fördern - das war auch richtig so -, zuletzt
mit dem Solidarpakt II. Während der Solidarpakt II im
Jahr 2019 ausläuft, ist der Solidaritätszuschlag weder
zweckgebunden noch befristet.
Für die Zeit nach 2019 stellt sich nun die Frage: Wie
geht es weiter mit dem Solidaritätszuschlag, wenn der
Solidarpakt ausläuft? Dazu gibt es verschiedene Vorschläge, die wir in den kommenden Monaten intensiv
beraten werden,
({3})
natürlich auch im Zusammenhang mit der gesamten
Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen.
Die rot-grünen Landesregierungen haben gefordert,
den Soli in die reguläre Einkommensteuer einzugliedern.
({4})
Dem kann ich wenig abgewinnen, und ich will Ihnen
auch gerne sagen, warum.
({5})
Der Bund hat die Länder in den letzten Jahren in Milliardenhöhe finanziell massiv entlastet. Der Vorschlag
der rot-grünen Landesregierungen würde bedeuten,
({6})
dass mit 9 Milliarden Euro jährlich ein wesentlicher Teil
der Soli-Einnahmen vom Bund auf die Länder verlagert
wird.
({7})
Anstatt ihre eigenen Haushalte ({8})
zum Beispiel gerade in Nordrhein-Westfalen - durch
konsequentes - ({9})
Lieber Kollege Kahrs, dieser Zwischenruf ist jetzt
ganz sicher dank der Verlässlichkeit der Protokollführer
fünf- bis sechsmal im Protokoll.
({0})
Damit sollte es eigentlich reichen. Wenn der Redner sich
entschließt, darauf nicht zu reagieren, ist das seine freie
Entscheidung.
({1})
Ich denke, es wird aus der Rede deutlich. Hören Sie
zu! Sie schreien die ganze Zeit; dann können Sie mir
aber nicht zuhören. Das ist vielleicht das Grundproblem.
({0})
Also: Anstatt ihre eigenen Haushalte durch Sparen in
Ordnung zu bringen, fällt einigen Landesregierungen
leider immer nur ein, nach neuem Geld des Bundes zu
rufen.
({1})
Das ist, glaube ich, der falsche Weg.
Einige haben offensichtlich auch vergessen - der Kollege Dr. Michelbach hat es gerade erwähnt -, dass 7 Umsatzsteuerpunkte 1993 im Zuge der Föderalismusreform
an die Länder abgegeben wurden. Wo ist denn die Initiative der Länder, diese Umsatzsteuerpunkte zurückzugeben, wenn sie auf der anderen Seite Geld aus dem Soli
haben wollen?
({2})
Der Vorschlag der rot-grünen Landesregierungen
würde aber auch bedeuten: Soli für immer und ewig, allerdings im Gewand einer höheren Einkommen-, Körperschaft- und Kapitalertragsteuer. Das halte ich für
falsch; denn nur solange der Solidaritätszuschlag klar als
Ergänzungsabgabe identifizierbar bleibt, besteht künftig
eine gute Möglichkeit, ihn schrittweise abzubauen oder
sogar ganz abzuschaffen. Das sollte mittelfristig unser
Ziel sein. Bis dahin kann der Bund aber noch nicht auf
die Einnahmen aus dem Soli verzichten. Das haben wir
gesagt, im Übrigen auch vor der Bundestagswahl.
Einige Regionen unseres Landes stehen vor besonderen Herausforderungen, die wir schnell angehen müssen,
zum Beispiel in meiner Heimat im Ruhrgebiet, aber auch
in anderen Orten in Ost wie West. Auch wenn es die
Aufgabe der Bundesländer ist und bleibt, für eine auskömmliche Finanzausstattung ihrer Städte und Gemeinden zu sorgen, so können ebendiese besonderen Herausforderungen nur gemeinsam von Bund und Ländern
gelöst werden. Wir sollten uns fragen: Welche Städte
und Gemeinden müssen beim Wohlstand aufholen? Welche Kommunen haben größere soziale Herausforderungen als andere? Jetzt muss es darum gehen, die heutigen
strukturschwachen Gegenden gezielt zu unterstützen.
Wir brauchen keine Verteilung der Mittel nach dem
Gießkannenprinzip über ganz Deutschland. Wir brauchen konkrete Lösungen nach objektiven Kriterien für
diese besonderen Problemstellungen.
({3})
Denn Solidarität ist unabhängig von der Himmelsrichtung. Solidarität ist keine Einbahnstraße.
Vielen Dank.
({4})
Bernhard Daldrup ist der nächste Redner für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Genauso wie andere bin auch ich in diese Debatte gegangen, um darüber zu sprechen, dass es in der von der
Linken beantragten Aktuellen Stunde um den zeitlich
unbefristeten Solidaritätszuschlag, den zeitlich befristeten Solidarpakt und die Frage, wie es weitergehen soll,
aber auch um die Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen geht. Was ich bislang gehört habe, finde ich
teilweise erschütternd. Die Forderung, darüber intensiver zu diskutieren, ist richtig, Herr Bartsch.
({0})
- Richtig, im Parlament. - Wir reden aber über Regelungen, die teilweise einen Zeithorizont bis 2019 bzw. 2020
haben.
({1})
- Richtig, und darüber hinaus. - Es brennt also noch
nichts an. Insofern ist Ihre Forderung okay, Herr
Bartsch.
Herr Michelbach, was ich wirklich für erschütternd
halte, ist die Art und Weise, wie Sie über dieses Thema
reden.
({2})
Sie sprechen davon, dass diejenigen, die den Solidaritätszuschlag aufrechterhalten wollen, die Bürger betrügen. Die Bürger betrügen? Sie sagen, der Bürger habe einen Anspruch auf Verzicht des Staates.
({3})
Ich bin der Meinung, dass der Bürger in der Bundesrepublik Deutschland einen Anspruch auf die Möglichkeit
zur Verwirklichung seiner Lebenschancen hat. Das ist
die Hauptaufgabe, der man sich stellen muss.
Ich muss ganz offen sagen: Die Art und Weise, Herr
Gutting, wie Sie über die Länder reden - Sie sprachen
von Geiern -, ist genauso erschütternd. Ich hatte, als
Sie Ihre Rede hielten, eine kleine Assoziation. Herbert
Wehner hat damals einen Unionsabgeordneten mit dem
Namen Wohlrabe angesichts dessen scharfer Polemik als
Übelkrähe bezeichnet. Sie sollten statt Gutting vielleicht
Bösling heißen.
({4})
Denn Ihre Art und Weise ist für mich völlig inakzeptabel. Herr Brinkhaus, ich bin verwundert, dass Sie als
stellvertretender Fraktionsvorsitzender angesichts unseres guten Umgangs in der gemeinsamen Kommission
von SPD und Union nicht protestieren. Das müssten Sie
meiner Meinung nach tun.
({5})
Das, was Sie machen, Herr Michelbach, stammt aus
der Abteilung „Söders Welt“.
({6})
Irgendwann wird Ihre Simplifizierung dem Faktencheck
unterworfen werden. Dann wird zum Schluss wahrscheinlich nur noch die Pressesprecherin applaudieren.
So funktioniert das jedenfalls nicht.
({7})
Es ist schon ein besonderes Kunststück, so zu tun, als
ob der Soli über Nacht gekommen wäre. Es wurde eben
gesagt: Die Kanzlerin hat 2013 erklärt, dass der Soli
nach dem Auslaufen des Solidarpakts vom Volumen her
aufrechterhalten werden soll. - Damals gab es noch Widerspruch vonseiten des Finanzministers, der gesagt hat,
dass wir das in dieser Legislaturperiode regeln.
Das passiert zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Das ist im
Wahlkampf von allen Beteiligten erklärt worden. Jetzt
kann man doch nicht so tun, als ob der Finanzminister
diesen Vorschlag nicht gemacht hätte. Man kann doch
nicht so tun, als ob Herr Dr. Schäuble in den Tagesthemen nicht gesagt hätte: Was wir vorhaben, die Integration, ist keine Steuererhöhung.
Jetzt will ich in Ergänzung zu dem, was Frau Paus gesagt hat, es vielleicht so formulieren: Es soll auch für Familien keine Steuererhöhung werden.
({8})
Es ist eine Grundüberlegung, wie man es macht. Sie wissen genau, dass diese Grundüberlegung sehr differenziert ausgearbeitet werden muss.
Jedenfalls ist das nicht die Zielsetzung dabei.
({9})
Es geht nicht um eine Steuererhöhung. Sie werden doch,
wenn Sie mir schon nicht glauben, Ihrem eigenen Finanzminister und Ihrer eigenen Kanzlerin glauben. Es
kann doch nicht wahr sein, dass Sie das in dieser Art und
Weise machen.
({10})
Ich will noch eines sagen: Es geht nicht nur um die
Frage des Solidaritätszuschlags, sondern es geht um das
gesamte Paket. Es geht um die Frage der Bund-LänderFinanzbeziehungen - das ist der zweite Punkt -, und es
geht um die Frage, wie Solidarität in diesem Land organisiert werden muss. Dazu gibt es eine ganze Reihe, wie
ich jedenfalls finde, guter Punkte, von denen ich bislang
der Meinung war, dass sie in diesem Haus Konsens sind.
({11})
- Die Debatte hat ja nicht erst gestern angefangen, auch
nicht erst in dieser Wahlperiode. Sie, Frau Hajduk, haben
es zwar laut gesagt, aber es ist deshalb noch nicht wahr.
Es ist nicht so, als ob die Debatte erst dann geführt werden darf, wenn sie vorher hier geführt worden ist. Warum sollen sich Länder nicht darüber unterhalten dürfen,
ohne dass hier schon darüber debattiert worden ist? Da
läuft uns nichts weg.
({12})
Übrigens hat Herr Schäuble in den Tagesthemen auch
auf das Thema der kalten Progression hingewiesen und
gesagt, das sei nicht so sehr unser aktuelles Problem.
Es gibt eine Reihe Punkte, von denen ich glaube, dass
sie es wert sind, dass wir sie im Kontext der Neugestaltung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen unter Fortsetzung des Solidaritätszuschlags diskutieren, und die hier
im Grunde genommen Konsens sind, und zwar angefangen bei der Infrastrukturförderung über die Frage eines
gerechteren Länderfinanzausgleichs und der Hilfe nach
Bedürftigkeit bis hin zur Entlastung von Sozialabgaben.
Das Paket ist groß, die Notwendigkeit ist da. Bislang
war dieser Konsens vorhanden. Ich hoffe, Sie werden
ihn nicht einseitig aufkündigen.
Herzlichen Dank.
({13})
Nächster Redner ist der Kollege Uwe Feiler für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Ich bedanke mich zunächst einmal ausdrücklich bei den Kollegen von der Linksfraktion für die
Beantragung dieser Aktuellen Stunde zum Solidaritätszuschlag, gibt mir das doch die Gelegenheit, noch einmal darauf hinzuweisen, wohin 40 Jahre Sozialismus
und Planwirtschaft geführt haben, sodass der Bund überhaupt zum Mittel des Solidaritätszuschlags greifen
musste.
({0})
Bei der ganzen Debatte, die wir in diesen Tagen erleben, sollten wir uns noch einmal vor Augen führen, mit
welch beispiellosem Kraftakt alle Menschen hier in
Deutschland dazu beigetragen haben, die Folgen der Teilung insbesondere im Bereich der Infrastruktur, der sozialen Sicherungssysteme, der Umweltbelastung sowie
des gesamtgesellschaftlichen Umbruchs zu mildern.
Gerade als Abgeordneter aus Brandenburg, der seinen
Wahlkreis unmittelbar vor den Toren Berlins hat, kann
ich mich noch deutlich daran erinnern, wie es war, als
ich mit dem Auto die desolate Bundesstraße 5 entlang
nach Nauen fuhr, wie es war, als ich mit dem Zug, gezogen von einer Diesellokomotive, Richtung Stendal fahren musste, weil die Bahnlinie nur eingleisig befahrbar
und nicht elektrifiziert war. Wenn ich abends in Rathenow bei einer Wetterlage wie dieser einkaufen ging,
konnte man aufgrund des Braunkohlegeruchs und der
Autoabgase kaum frei und tief atmen. All dies ist Geschichte. Darüber können wir zufrieden sein. Der Solidaritätspakt und der Solidaritätszuschlag waren und sind
ein Erfolgsmodell für die ostdeutschen Länder.
({1})
Zu meinem Anspruch als Brandenburger gehört es allerdings auch, dass wir bei allen Unterschieden, die wir
zwischen Ost und West gerade im wirtschaftlichen Bereich jetzt noch haben, ab 2019 nicht mehr nach Himmelsrichtungen, sondern nach Bedarf fördern sollten.
({2})
Als Finanzpolitiker verfolge ich genauso wie Sie die aktuelle Debatte und bin erstaunt, mit welcher Intensität
sich die rot-grünen Ministerpräsidenten um die Einnahmen des Bundes aus der Erhebung des Solidaritätszuschlages sorgen.
({3})
Ich muss aber auch gestehen, dass ich aus dem Staunen kaum noch herauskomme, wenn ich sehe, in welcher
Geschwindigkeit sich Ministerpräsidenten der Länder
zulasten Dritter Einnahmen bemächtigen wollen, die ihnen gar nicht zustehen.
({4})
Ich habe letztlich sogar ein wenig Verständnis dafür.
Aber wir tragen als Politiker auf kommunaler Ebene, auf
Länderebene und auf Bundesebene eine gesamtstaatliche
Verantwortung, der wir auch entsprechend nachkommen
müssen.
({5})
Einige Ministerpräsidenten scheinen zu übersehen,
dass die Länder bei der Einführung des Solidaritätszuschlags dauerhaft 7 Prozentpunkte der Umsatzsteuer erhalten haben. Man kann es gar nicht oft genug wiederholen - Wiederholen scheint als Lehrmittel durchaus
geeignet zu sein -, dass diese 7 Prozentpunkte als Ausgleich für den Solidaritätszuschlag abgegeben wurden.
Noch einmal in Zahlen ausgedrückt: 2019 umfasst der
Soli wahrscheinlich 18 Milliarden Euro. Der Umsatzsteueranteil liegt dann bei 14 Milliarden Euro. Wenn wir
uns also über den Soli unterhalten, dann sollte es bestenfalls um den Differenzbetrag, 4 Milliarden Euro, und
nicht um einen einzigen Cent mehr gehen.
({6})
Der Solidaritätszuschlag nimmt im deutschen Steuerrecht gemeinsam mit der Kirchensteuer als Annexsteuer
eine Sonderstellung ein. Durch die Kopplung an die festzusetzende Einkommensteuer, die Berücksichtigung von
Kindern in allen Festsetzungsfällen und die Freigrenze
von 972 Euro wird deutlich, dass eine Einbeziehung in
den Einkommensteuertarif, verbunden mit der Zusage
einer exakt gleichen Gesamtsteuerbelastung, schwer darstellbar sein dürfte. Ich habe allerdings großes Verständnis dafür, dass die Akzeptanz dieses Zuschlags zur Einkommensteuer mit jedem Jahr weiter abnimmt. Deshalb
ist es sinnvoll, die weitere Diskussion in die anstehende
Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen bzw.
der Länder-Länder-Finanzbeziehungen einzubetten, anstatt jetzt durch irgendwelche Schnellschüsse zu glänzen.
Noch einmal zum Thema Hinterzimmerpolitik. Ich
führe Gespräche mit meinen Länderkollegen in Brandenburg. Nun sitzen wir in Brandenburg nicht in der
Landesregierung;
({7})
aber ich glaube, dass meine Fraktionskollegen das in den
jeweiligen Ländern genauso machen. Wir diskutieren
miteinander darüber.
({8})
Das sollten Sie von den Grünen, Sie von den Linken und
auch Sie von der SPD gerne ebenfalls machen.
In diesem Sinne, lassen Sie uns gemeinsam die Debatte führen, wenn die ersten Ergebnisse aus den Verhandlungen über die Bund-Länder-Finanzbeziehungen
hier vorliegen und wir konkrete und belastbare Vorschläge haben.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Letzter Redner in der Aktuellen Stunde ist der Kollege André Berghegger.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Als letzter
Redner in dieser Debatte wird es von mir nicht viele
neue Aspekte geben - das wird Sie nicht verwundern -;
aber ich habe vielleicht die Möglichkeit, die Diskussion
an der einen oder anderen Stelle zusammenzufassen,
vielleicht auch zusammenzuführen oder aber auch den
einen oder anderen Punkt einzusammeln.
Vor nicht ganz vier Wochen standen wir hier in Berlin
und konnten Tausende von leuchtenden Ballons bewundern, die den ehemaligen Grenzverlauf markiert hatten.
Mit dem Aufsteigen dieser Ballons - ich denke, eine beeindruckende Kunstaktion - haben wir an die friedliche
Revolution erinnert und die Überwindung der Teilung
Deutschlands.
Natürlich habe ich persönlich nach fast 25 Jahren der
Wiedervereinigung großes Verständnis dafür, dass auch
die Frage gestellt wird: Brauchen wir denn den Soli
noch, oder können wir ihn nicht abschaffen? Voraussetzung für seine Abschaffung ist aber sicherlich, dass wir
überprüfen müssen: Hat der wirtschaftliche Aufholprozess in den neuen Ländern Erfolg gehabt? Wie weit sind
die Infrastrukturlücken geschlossen? Wie steht es dort
um die Finanzausstattung der Kommunen?
Ich glaube, erfreulicherweise sind wir dort auf sehr
gutem Wege. Wir haben Leuchttürme in Technologie,
Wissenschaft und Forschung an international anerkannten Standorten. Die Lebensqualität ist gut. Natürlich gibt
es Licht und Schatten - das gibt es aber überall -, und
natürlich könnte man fragen: Könnte es noch ein bisschen mehr sein? Im Laufe der Zeit haben sich die Herausforderungen wesentlich verändert; vielleicht sind
noch nicht alle bewältigt. Vorhin ist schon deutlich geworden: Wir müssen demnächst nicht mehr nach Himmelsrichtungen denken, sondern eher nach Bedarfen.
({0})
Wir müssen uns um strukturschwache Gebiete - da
denke ich natürlich an das Ruhrgebiet, aber auch an
ländliche Regionen in meinem Heimatbundesland, in
Niedersachsen - kümmern. Wir müssen an die Infrastruktur denken: Straßen, Schienen, Wasserwege, Brücken. Wir haben heute Morgen im Haushaltsausschuss
eine Anhörung zur LuFV II gehabt; da wurde das sicherlich noch einmal deutlich.
Eine solidarische Gesellschaft sollte das Ziel „Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse“ haben.
({1})
Deswegen ist die isolierte Frage nach der zukünftigen
Gestaltung des Soli zu kurz gegriffen. Wir müssen sie in
ein Gesamtbild einbetten und schauen, welche Lösungen
wir finden.
Unser Fraktionsvorsitzender sagt immer: Politik beginnt mit dem Erkennen der Realität. - Zur Realität gehört sicherlich, dass wir 2020 große finanzielle Fragen
zu stemmen haben. Der Finanzausgleich ist neu zu regeln. Die Schuldenbremse tritt in allen Ländern in Kraft.
Der Solidarpakt II läuft aus. Wir müssen uns um das
Thema Altschulden kümmern, um Zinslasten usw. Ein
Stichwort hierbei ist der Solidaritätszuschlag.
Das Ziel muss es sein, die Handlungsfähigkeit aller
staatlichen Ebenen - Bund, Länder und Gemeinden - zu
gewährleisten,
({2})
und zwar durch ordnungsgemäße Aufgabenzuweisung,
Finanzverantwortung und Finanzausstattung.
({3})
Deswegen ist es so wichtig, dass wir uns für die umfassende Neuregelung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen Zeit nehmen. Die Beratungen laufen, und sie werden
in Ruhe weitergeführt. Viele Interessen sind gegeneinander und untereinander abzuwägen, und es ist eine gute
Lösung zu finden.
Fest steht: Das gesamtstaatliche Steueraufkommen
beträgt derzeit 640 Milliarden Euro und 2019 760 Milliarden Euro.
({4})
Die Einnahmen aus dem Solidaritätszuschlag werden
sich auf 18 Milliarden Euro erhöhen. Fest steht auch,
dass dies eine bedeutende Summe für den Bund ist.
Zur Äußerung der rot-grünen Ministerpräsidenten
- jetzt müsste Johannes Kahrs hier sein -, egal wie auch
immer entstanden: Die Integration des Solidaritätszuschlags in den Einkommensteuertarif ist aus deren Sicht
verständlich, weil so die Einnahmen natürlich zum
Großteil auf Länder und Kommunen umverteilt werden.
({5})
Aber wir müssen doch auch beachten, dass die Finanzsituation der Gesamtheit der Länder und der Gesamtheit
der Kommunen besser ist als die des Bundes.
({6})
All das gilt es gegeneinander abzuwägen.
Eine Frage ist vonseiten der Länder immer noch nicht
ausdrücklich beantwortet. Bei Abschluss des Solidarpakts II wurden 7 Umsatzsteuerpunkte beim Bund abgeschmolzen und den Ländern zugeschrieben mit der Begründung, dass die ostdeutschen Länder vollkommen in
den Länderfinanzausgleich einbezogen werden. Jetzt zu
sagen: „Wir behalten die Umsatzsteuerpunkte, und wir
verteilen die Einnahmen aus dem Solidaritätszuschlag in
der Summe um, sodass die Kommunen und Länder deutlich davon profitieren“, das ist aus meiner Sicht, höflich
ausgedrückt, zu einfach. Lassen Sie uns die Verhandlungen in der Gesamtheit weiterführen und versuchen, ein
vernünftiges Ergebnis für alle Ebenen zu erreichen, um
eine föderale Struktur auf Augenhöhe zu erreichen, bei
der alle staatlichen Ebenen handlungsfähig sind.
Wenn Johannes Kahrs jetzt hier wäre, dann würde ich
sagen: Wir arbeiten gut zusammen. - An dieser Stelle
aber zumindest eine Anmerkung persönlicher Art: Wenn
wir eine interne Arbeitsgruppe haben, um solche komplexen Fragestellungen zu besprechen, dann ist das für
mein persönliches Verständnis wirklich eine interne Arbeitsgruppe.
({7})
Ich hoffe - ich werde es ihm gleich im Haushaltsausschuss noch persönlich sagen -, dass er das auch so
sieht. Er hat sich bestimmt nur einmal versprochen.
Ich hoffe, dass wir weiter gedeihliche Verhandlungen
führen - im Sinne einer guten Lösung für die Bund-Länder-Finanzbeziehungen.
Ich bedanke mich für das freundliche Zuhören.
({8})
Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.
Damit sind wir zugleich am Schluss unserer heutigen
Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 4. Dezember,
9 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen für den Rest des Tages ein frohes,
ein fröhliches Schaffen und, falls dafür noch Zeit bleibt,
ein paar besinnliche Stunden.
Die Sitzung ist geschlossen.