Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich und darf vor Eintritt in unsere
Tagesordnung einige Mitteilungen machen:
Die Kollegin Sabine Bätzing-Lichtenthäler hat ihr
Bundestagsmandat bedauerlicherweise niedergelegt.
Für sie ist am 12. November 2014 die Kollegin
Angelika Glöckner nachgerückt, die ich im Namen des
Hauses herzlich begrüße und mit der wir uns eine gute
Zusammenarbeit wünschen. Herzlich willkommen!
({0})
Der Ältestenrat hat sich in seiner gestrigen Sitzung
darauf verständigt, dass während der Haushaltsbera-
tungen in unserer nächsten Sitzungswoche, also ab dem
25. November, wie in Haushaltswochen üblich keine Be-
fragung der Bundesregierung, keine Fragestunde und
auch keine Aktuellen Stunden durchgeführt werden. Als
Präsenztage sind die Tage von Montag, dem 24. Novem-
ber, bis Freitag, dem 28. November, festgelegt worden.
Ich vermute, dass Sie damit einverstanden sind. - Das ist
der Fall. Dann verfahren wir so.
Ich rufe unsere Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches - Umsetzung
europäischer Vorgaben zum Sexualstrafrecht
Drucksache 18/2601
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
… Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches - Umsetzung europäischer Vorgaben zum Sexualstrafrecht
Drucksache 18/2954
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz
({1})
Drucksache 18/3202 ({2})
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Franziska Brantner,
Katja Dörner, Tabea Rößner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kinder schützen - Prävention stärken
Drucksachen 18/2619, 18/3201
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. - Auch dazu
kann ich Einvernehmen feststellen. Dann können wir so
verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Johannes Fechner für die SPD-Fraktion.
({4})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Ich bin sehr
froh, dass wir heute diesen Gesetzentwurf verabschieden
können, weil wir damit eine EU-Richtlinie umsetzen
- das ist der Anlass für dieses Gesetz -, was bei der Vorgängerregierung liegen geblieben war. Sie sehen also:
Wir reden nicht nur vom Schutz von Kindern, sondern
wir handeln auch, und wir schließen mit diesem Gesetz
zum Schutz der Kinder wichtige Strafbarkeitslücken in
Deutschland.
({0})
Dabei sind wir uns bewusst, dass wir mit dem Strafrecht allein den Missbrauch von Kindern sicherlich nicht
verhindern können. Dazu brauchen wir Präventionsprojekte wie das Projekt „Kein Täter werden“ in Berlin oder
ein ähnliches Projekt in Baden-Württemberg. Wir unterstützen das Projekt „Kein Täter werden“ in diesem
Haushaltsjahr mit zusätzlichen 150 000 Euro.
Natürlich, die besten und strengsten Gesetze helfen
nichts, wenn wir bei den Ermittlungsbehörden, etwa bei
der Polizeidienststelle vor Ort, nicht die technische und
auch nicht die personelle Ausstattung haben, die für die
Verbrechensbekämpfung benötigt werden.
({1})
Ich bin gespannt, was zu diesem für mich wesentlichen
Aspekt im Untersuchungsausschuss zum BKA herauskommt; denn die entscheidende Frage ist: Was können
wir hier verbessern?
Es gibt in Deutschland Strafbarkeitslücken im Strafgesetzbuch, die wir mit diesem Gesetz schließen wollen.
Wichtig ist mir, dass wir das Strafmaß für den Besitz von
Kinderpornografie von zwei auf drei Jahre erhöhen; das
halte ich für eine wichtige Maßnahme. Das Erstellen, das
Verbreiten und der Besitz sogenannter Posingbilder werden zukünftig nach dem StGB explizit als Kinderpornografie strafbar sein. Ich halte es für ganz wichtig, dass
wir hier ein klares Kriterium gefunden haben und im Gesetz definiert haben, wann etwas als Kinderpornografie
strafbar sein soll.
Wir haben klar definiert, wann ein Bild eines nackten
Kindes oder eines Jugendlichen als pornografisch und
damit strafbar einzuschätzen ist, nämlich dann, wenn das
Bild oder das Video die unbekleideten Genitalien oder
das unbekleidete Gesäß eines Kindes zeigt oder wenn
ein Kind bzw. ein Jugendlicher in unnatürlicher, geschlechtsbetonter Körperhaltung abgebildet ist. Zudem
macht sich nach unserer Neuregelung strafbar, wer mit
kommerziellen Absichten Nacktbilder von Jugendlichen, die die Schwelle zur Pornografie, die ich gerade
beschrieben habe, nicht erreichen, herstellt oder anbietet.
Wir beschließen noch viele weitere wichtige Maßnahmen. Da möchte ich dem Kollegen Wiese allerdings
nicht vorgreifen. Ich will nur benennen, dass wir das
Cybergrooming zukünftig explizit unter Strafe stellen.
Ich finde, eine wichtige Maßnahme ist auch, dass wir die
Verjährungsfrist deutlich verlängern. Sie sehen also: Wir
nehmen den Schutz der Kinder sehr ernst. Wir schließen
Strafbarkeitslücken im Gesetz zum Wohle der Kinder in
Deutschland.
({2})
Aber auch den höchstpersönlichen Lebensbereich von
Erwachsenen schützen wir zukünftig besser, etwa indem
wir die Personen, die in einer hilflosen Situation fotografiert und dadurch zur Schau gestellt werden, strafrechtlich schützen. Strafbar macht sich zukünftig auch, wer
unbefugt ein Bild - das Wort „unbefugt“ ist ein ganz
wichtiges Korrektiv im Gesetzestext - herstellt und dabei dem Ansehen der fotografierten Person erheblich
schadet. Wir haben ja heute die Situation, dass Smartphones und damit Kameras und Videokameras allgegenwärtig sind. Sofort ist jemand da, der auf den Auslöser
drücken und knipsen kann. Ich finde, angesichts dieser
technischen Entwicklung müssen wir den höchstpersönlichen Lebensbereich, nicht nur der Kinder, sondern
auch der Erwachsenen besser schützen.
({3})
Sie sehen also: Wir haben in Umsetzung der EURichtlinie präzise Regelungen für das Strafgesetzbuch
zum Schutz der Kinder in Deutschland getroffen. Da in
manchen Medien anscheinend noch Unklarheiten bestanden, möchte ich ausdrücklich auf Folgendes hinweisen: Die Sorge, dass die journalistische Bildberichterstattung durch dieses Gesetz in irgendeiner Form
eingeschränkt werden könnte, ist unbegründet. Wir haben in einer Vorschrift explizit geregelt, dass die journalistische Bildberichterstattung und wissenschaftliche Tätigkeiten von der Strafbarkeit ausgeschlossen sind. Da
auch viele Eltern nach Medienberichten Sorge hatten, ist
es mir ebenso wichtig, zu sagen: Wenn Eltern ihre kleinen Kinder im Familienurlaub nackt am Strand spielend
fotografieren, dann ist das nicht strafbar, auch dann
nicht, wenn solche Fotos verbreitet werden. Es war uns
ganz wichtig, dass solche privaten Fotos nicht kriminalisiert werden.
Zusammengefasst: Wann sind Nacktfotos von Kindern strafrechtlich problematisch? Das ist bei der Herstellung, beim Besitz oder beim Erwerb von Nacktbildern von Kindern und Jugendlichen der Fall, wenn das
Bild vom Täter mit der Absicht, es zu verkaufen, also einem Dritten gegen Entgelt zugänglich zu machen, hergestellt wurde oder wenn es sich um pornografische Bilder
handelt, wobei wir im Gesetz ganz klar definiert haben,
wann diese Schwelle erreicht ist.
Meine Damen und Herren, mit diesem Gesetz verbessern wir den Schutz der Kinder vor Missbrauch, und wir
schützen den höchstpersönlichen Lebensbereich von
Bürgerinnen und Bürgern, ganz unabhängig vom Alter.
Es ist deshalb ein wichtiges und sinnvolles Gesetz, dem
wir alle einvernehmlich zustimmen sollten.
Herzlichen Dank.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Jörn Wunderlich für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Zuhörer und Zuschauer! Zunächst möchte ich
mich bei allen Kollegen für die sachliche Beratung in
den Ausschüssen bedanken. Es ist ein heikles Thema. Es
ist ein schwieriges Thema. Ich denke, da sollte man
Emotionen oder irgendwelche wie auch immer geartete
Parteivorbehalte und Ähnliches beiseitelassen.
({0})
Es geht hier um Kinderschutz. Ich denke, ich spreche für
alle Mitglieder des Hauses, wenn ich sage, dass es für jeden von uns ein Herzensanliegen ist, unsere Kinder zu
schützen.
({1})
Der Gesetzentwurf, so wie er vorliegt, hat ein hehres
Ziel, wie der Kollege Fechner eben ausgeführt hat,
schießt aber nach Überzeugung der Linken weit über
dieses Ziel hinaus. Er wurde von den Koalitionsfraktionen anlässlich der sogenannten Edathy-Affäre erarbeitet.
In der sich aus dieser Affäre ergebenden emotional hoch
aufgeladenen Debatte kamen die verstärkten Rufe nach
Strafverschärfung. Bundesminister Maas kündigte daraufhin einen Gesetzentwurf zur Schließung der Lücken
und zur Umsetzung der Richtlinie an. Dieser liegt uns
nun vor.
In der Form, wie er uns vorliegt, kann ihm aber nicht
zugestimmt werden; denn es ist unsere Überzeugung: Er
missachtet die Maßgabe des Strafrechts als Ultima Ratio, indem er Verhaltensweisen unter Strafe stellt, die
moralisch verwerflich sein mögen, aber keine Kriminalstrafe rechtfertigen. Nicht jedes moralisch verwerfliche
Verhalten muss unter Strafe gestellt werden.
({2})
Der Gesetzentwurf trägt darüber hinaus den Anforderungen des Bestimmtheitsgebots nicht ausreichend
Rechnung, und er sieht Strafrahmenerhöhungen vor, obwohl durch verschiedene kriminologische Studien immer wieder belegt worden ist, dass das Strafmaß als
solches keine abschreckende Wirkung hat. Das Entdeckungsrisiko schreckt potenzielle Täter ab, aber kein
wie auch immer gearteter Strafrahmen.
({3})
Ich möchte im Rahmen der mir gegebenen Zeit auf einige Punkte eingehen. Zunächst das Positive: § 174
StGB - Missbrauch von Schutzbefohlenen - wird angemessen dahin gehend ergänzt und erweitert, dass nun neben die leiblichen oder angenommenen Kinder auch die
leiblichen oder angenommenen Kinder von Ehepartnern
oder Lebensgefährten treten, um etwaige diesbezügliche
Abhängigkeitsverhältnisse zu erfassen. Des Weiteren
wurde in Absatz 2 der sogenannte Vertretungslehrerfall
ergänzt. Wir hätten uns zwar noch eine sachgerechtere
Differenzierung gewünscht, aber es ist eine sinnvolle Ergänzung.
Beim sexuellen Missbrauch von Kindern, § 176
StGB, wird das sogenannte Cybergrooming - das ist
auch schon angesprochen worden - einbezogen, also das
gezielte Ansprechen von Kindern und Jugendlichen im
Internet mit dem Ziel, sexuelle Kontakte anzubahnen.
Die Regelung ist problematisch, da sie bereits die erste
Kontaktaufnahme mit „bösen Hintergedanken“ erfasst,
ohne dass es zu weiteren Handlungen oder Kontaktaufnahmen kommt. Die EU-Richtlinie sieht allerdings eine
Strafbarkeit nur vor, wenn auf einen per Telekommunikation erfolgten Vorschlag eines Treffens weitere, auf
ein solches Treffen hinführende konkrete Handlungen
erfolgt sind. Hier stellt sich die Frage, wie bei dieser
Vorverlagerung der Strafbarkeit der Nachweis der Tätermotivation geführt werden soll. Im Zweifel wird das
nicht gelingen, da die „bösen Hintergedanken“ nachzuweisen sind.
Hinsichtlich der Änderungen zur Kinderpornografie,
§ 184 b, soll nun die „unnatürlich geschlechtsbetonte
Körperhaltung“ strafbar sein. Dies wurde bereits durch
die BGH-Rechtsprechung zum Posing erfasst. Danach
waren Handlungen erfasst, bei denen das Kind vor dem
Fotografieren aufgefordert wurde, sich zu entblößen und
Stellungen einzunehmen, die seine Genitalien zeigen.
Nun sollen auch Handlungsweisen erfasst werden, bei
denen das Kind keine aktive Rolle spielt, wenn zum Beispiel ein schlafendes, teilweise entblößtes Kind fotografiert wird. Allerdings ist die Ergänzung um „unnatürlich
geschlechtsbetonte Haltung“ zu unbestimmt, was im Übrigen auch von den Sachverständigen in der Anhörung
bemängelt wurde. Daran ändert auch nichts die Ergänzung um das unbekleidete Gesäß oder die Geschlechtsteile eines Kindes. Außerdem bleibt fraglich, was die
Versuchsstrafbarkeit an Zugewinn bringt, da die Vorschrift als Unternehmensdelikt ausgelegt ist. Bereits jetzt
ist die erfolglose Suche nach kinderpornografischem
Bildmaterial als Unternehmensdelikt strafbar.
In § 184 d Strafgesetzbuch soll nun der wissentliche
Abruf von kinder- und jugendpornografischem Inhalt
explizit unter Strafe gestellt werden. Hier entsteht eine
Rechtsunsicherheit; denn: Wie soll ohne Zwischenspeicherung ein Abruf nachgewiesen werden? Hier scheint
die Überprüfung und Verfolgung jedenfalls äußerst problematisch und öffnet der Vorratsspeicherung oder gar
der Onlineüberwachung Tür und Tor.
({4})
Wie soll sichergestellt werden, dass es sich nicht um einen versehentlichen Abruf handelt?
Zuletzt möchte ich einen Punkt dieses Gesetzes besonders erwähnen: den von Anfang an heftig kritisierten
Entwurf für einen ausgeweiteten § 201 a Strafgesetzbuch. Schon die Änderungen in Absatz 2 stoßen auf erhebliche Bedenken. Er soll nun heißen:
Ebenso wird bestraft, wer unbefugt von einer anderen Person eine Bildaufnahme, die geeignet ist, dem
Ansehen der abgebildeten Person erheblich zu
schaden … einer dritten Person … zugänglich
macht.
Es reicht also aus, das einer dritten Person zugänglich zu
machen, von „verbreiten“ ist keine Rede. Daraus ergeben sich nun alle möglichen Fallkonstellationen: ein
Foto am FKK-Strand oder eines angetrunkenen Partygastes, das Foto eines CSU-Politikers gemeinsam mit einem Politiker der Linken bei einem Bier an der Spree.
({5})
All das kann zur Strafbarkeit führen, sobald dieses Bild
einer dritten Person, auch im Familienkreis, zugänglich
gemacht wird. In der Begründung des Gesetzentwurfs
wird primär auf Bildaufnahmen von unbekleideten Kindern abgestellt. Das war letztlich ja auch Grundlage für
diese Gesetzesänderung. Tatsächlich werden aber auch
Erwachsene von dieser Regelung erfasst, und um die
wird es in der Praxis dann wohl auch vorrangig gehen.
({6})
Das Ganze ist geändert worden von einem Antragsdelikt in ein relatives Antragsdelikt, und zwar auch bei den
Bildern, die ich gerade erwähnt habe. So weit, so gut.
Aber jetzt kann, wie gesagt, jeder Strafanzeige erstatten.
Das heißt jeder, der ein Bild sieht und sagt: „Die abgebildete Person könnte in ihrem Ansehen erheblich geschädigt sein“, kann einen Strafantrag stellen.
({7})
Damit kann, wie gesagt, jeder Anzeige erstatten. Das
kann für den betroffenen Fotografen eine mindestens unangenehme, wenn nicht sogar eine existenzvernichtende
Strafverfolgung auslösen, obwohl zivilrechtlich alles
rechtmäßig ist und bleibt.
Wie gesagt, es gibt alle möglichen Fallkonstellationen. Und es gibt gute Gründe, warum alle Sachverständigen in der Anhörung des Ausschusses diesen Entwurf
zur Änderung von § 201 a StGB abgelehnt haben.
({8})
Es bedarf an dieser Stelle keines entsprechenden neuen
Straftatbestandes. Das ist alles bereits durch die Strafvorschriften und das Urhebergesetz unter Strafe gestellt.
Zuletzt noch zwei Sätze zur Verlängerung der Verjährungsfrist. Jeder Praktiker kann bestätigen, dass nach
Bekanntwerden einer möglicherweise Jahrzehnte zurückliegenden Tat, zu welcher es zudem keine objektiven Beweismittel gibt, eine Verurteilung unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten wegen mangelnder
Beweismittel und Erinnerungsverlusten der Zeugen sehr,
sehr unwahrscheinlich ist. Hier wird den Opfern wider
besseres Wissen suggeriert, eine Bestrafung der Täter sei
möglich. Das Strafrecht ist aber nicht das primäre Instrument, um den Opfern Genugtuung oder Wiedergutmachung zu gewähren. Wiedergutmachung kann man in
diesen Fällen eh nicht leisten. Es geht um den Strafanspruch des Staates. Bei allem Verständnis für die Opfer
solcher Taten - da spreche ich als ehemaliger Staatsanwalt und Richter, der auch mit solchen Fällen befasst
war - dürfen nicht Hoffnungen geweckt werden, die im
Ergebnis nicht zu erfüllen sind.
({9})
Alles in allem kann dieser Gesetzentwurf in der Gesamtschau daher nur abgelehnt werden. Mit dem Antrag
der Grünen, über den wir heute auch debattieren, liegt
ein Vorschlag auf dem Tisch, wie unabhängig von Strafrechtsverschärfungen der Kinderschutz durch Prävention
auf verschiedenen Ebenen verbessert werden kann. Der
Antrag ist zumindest ein großer Schritt in die richtige
Richtung. Diesem ist daher zuzustimmen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({10})
Das Wort erhält nun die Kollegin WinkelmeierBecker.
({0})
- Entschuldigung, das ist hier nicht klar angekommen.
Ich habe mich extra noch einmal erkundigt. Wir bekommen das aber geregelt auf die Reihe. Wenn Sie einen Geschäftsordnungsantrag stellen möchten, können Sie
das gerne tun. Das können Sie auch vom Platz tun.
Ich kann den Antrag vom Platz aus stellen. So habe
ich das verstanden. - Es tut mir leid, dass es zu einem
Missverständnis gekommen ist, Herr Präsident.
Ich möchte gerne für meine Fraktion und für das Haus
den Antrag stellen, dass wir ein Mitglied der Bundesregierung, und zwar den Justizminister Heiko Maas, herbeirufen. Es ist für mich völlig unverständlich, dass
diese Debatte ohne ihn stattfindet. Diese Debatte führen
wir schon lange miteinander, und es soll jetzt sehr kurzfristig auf Wunsch der Regierungsfraktionen zum Abschluss dieser Beratungen kommen. Es gab viele
Diskussionen über das Verfahren. Jenseits von Verfahrensfragen ist zu sagen: Die Diskussionen über das
Sexualstrafrecht, insbesondere in diesem Fall, in dem es
um Nacktbilder von Kindern und deren Veröffentlichung
geht, bewegen uns alle sehr. Das ist von hoher Relevanz.
Ich habe mich erkundigt. Der Minister ist nicht entschuldigt, weder vorher bei den Fraktionen noch hier
vorne. Es gibt für mich keinerlei Begründung, dass er
nicht hier ist. Ich finde, wir dürfen erwarten - das betrifft
nicht nur die Oppositionsfraktionen, sondern das ganze
Haus -, dass er an unseren Beratungen hier, an dieser
Debatte teilnimmt. Deswegen bitte ich sehr um Unterstützung der Großen Koalition, die diesen Debattenplatz
haben wollte. Er wurde wegen der Fraktionsberatungen
kurzfristig verlegt. Ich bitte Sie, uns und unser Interesse
an der Beratung dieses Punktes ernst zu nehmen und unserem Antrag zuzustimmen.
Schönen Dank.
({0})
Frau Kollegin Hajduk, ich mache einen Verfahrensvorschlag. Den Antrag, den Sie gestellt haben, halte ich
nicht nur für zulässig, sondern auch für begründet. Ich
höre, dass der Minister auf dem Weg ist. Mein Vorschlag
lautet: Wenn er bis zum Ende des Beitrags, der jetzt gePräsident Dr. Norbert Lammert
rade aufgerufen wurde, nicht im Plenum erschienen sein
sollte, stimmen wir über Ihren Antrag ab. Vielleicht hat
sich das aber bis dahin im Sinne Ihrer Antragstellung erledigt. - Okay, ich stelle dazu Einvernehmen fest. - Frau
Winkelmeier-Becker, bitte.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist eigentlich schade: Auch ich hätte den Minister gerne
als Zuhörer gehabt.
({0})
Es wäre aber, glaube ich, nicht kollegial, wenn wir jetzt
alle warten lassen würden. Deshalb werde ich jetzt gerne
die Gelegenheit nutzen, Ihnen unsere Gedanken zu diesem Gesetzentwurf darzulegen.
Rechtspolitik in dieser Woche ist nun wirklich nicht
langweilig. Wir haben sehr viele verschiedene Themen
zu behandeln. Gestern waren es die Mietpreisbremse
und die Sterbehilfe. Die Diskussion darüber betrifft letztendlich eine Kernfrage der Rechtspolitik. Es kommen
noch die Hasskriminalität - NSU-Ausschuss - dazu.
Trotzdem ist es mir wichtig, zu zeigen: Das alles sind
nicht Themen, die unverbunden nebeneinander stehen,
sondern da gibt es rote Linien.
Ich habe von diesem Platz aus schon einmal unsere
rote Linie der mittelstandsunterstützenden Rechtspolitik
dargelegt. Heute geht es hier um einen anderen, ganz
wichtigen roten Faden, nämlich um den Opferschutz,
den wir verbessern wollen. Dazu haben wir mehrere Projekte - auch im Koalitionsvertrag - vereinbart. Ich denke
dabei an unsere wichtige Diskussion über Menschenhandel und Zwangsprostitution, aber auch an solche Dinge
wie zivilrechtliche Schäden, die demnächst in Annexverfahren einfacher geltend gemacht werden sollen. Dabei geht es darum, dass nahe Angehörige beim Tod eines
Opfers Schmerzensgeld erhalten sollen. All das sind
wichtige Punkte.
Das aber, was heute hier diskutiert wird, nämlich der
Schutz von Kindern vor Übergriffen bzw. Verletzung ihrer Intimsphäre oder sexuellen Selbstbestimmung, steht
ganz stark im Mittelpunkt unserer Rechtspolitik.
({1})
Bereits im Koalitionsvertrag haben wir, wie gesagt,
angesprochen, dass die Verjährung von Taten in der
Kindheit bis zum 30. Lebensjahr ruhen soll. Aus meiner
Sicht ist das eine wichtige Erweiterung des Rechtsschutzes, weil es eben oft lange dauert, bis man sprechfähig
ist, das verarbeitet hat und sich dem noch einmal stellen
kann. Natürlich kann es auch zu Enttäuschungen führen.
Deshalb ist es, glaube ich, wichtig und unsere Aufgabe,
hier noch einmal darauf hinzuweisen, dass es trotzdem
möglichst früh gemacht werden sollte, um hinterher
auch zum Erfolg zu kommen. Trotzdem denke ich aber,
dass diese Möglichkeit, nach längerer Zeit im weiteren
Leben darauf zurückzukommen, doch ein Gewinn für
die Opfer ist.
Ich möchte nun vor allem auf die Regelungen im Bereich der Kinderpornografie eingehen, welche die Öffentlichkeit am meisten interessieren. Im Frühjahr dieses
Jahres gab es einen prominenten Fall, der uns aufgezeigt
hat, dass wir da Schutzlücken haben. Wenn gegen Entgelt schwunghafter Handel mit Bildern von unschuldigen nackten bzw. entblößten Kindern, die davon nichts
mitbekommen, getätigt wird, die ins Internet gesetzt
werden, nicht mehr einholbar und überall auf der Welt
abrufbar sind, dann ist das unerträglich. Das geht nicht.
Wir müssen das absolut unter Strafe stellen.
({2})
Ein Zitat des römischen Kaisers Mark Aurel lautet
wie folgt:
Oft tut auch der Unrecht, der nichts tut. Wer das
Unrecht nicht verbietet …, der befiehlt es.
Das ist ein Aspekt, der dazu führt, dass wir schnell arbeiten müssen. Wir dürfen hier nicht mehr lange warten,
sondern müssen handeln, damit diese Schutzlücke im
Gesetz geschlossen wird.
Die Richtlinie, die wir gleichzeitig umsetzen, sollte
außerdem bereits zum Ende des vergangenen Jahres umgesetzt werden. Sie ist liegen geblieben. Auch das ist ein
Grund, jetzt schnell voranzugehen. Wir wollen diese
Frist nicht um mehr als ein Jahr reißen und dazu kommen, das Gesetz an dieser Stelle nachzubessern.
Der Minister hatte zu all dem einen Entwurf vorgelegt, der in einigen Punkten noch nicht optimal war,
nicht so richtig treffsicher bei dem, was wir als strafwürdiges Unrecht erkennen. Auf der anderen Seite ging er in
einigen Punkten zu weit. Auch der Bundesrat hat das
geltend gemacht, einerseits unter dem Begriff „Bestimmtheitsgebot“ - dem genügt es nicht - und andererseits unter dem Begriff „Angemessenheit“; der Entwurf
ging an einigen Stellen weit über das Ziel hinaus. Deshalb bin ich froh, dass wir eine kritische Diskussion geführt haben. Sie hat dem Verfahren gutgetan. Wir haben
jetzt ein Ergebnis, das deutlich besser ist. Daher danke
ich an dieser Stelle allen, mit denen wir gut zusammengearbeitet haben, allen, die gute Ideen eingebracht haben. Ich denke, wir dürfen unsere Teams und auch die
Mitarbeiter im Ministerium in diesen Dank einschließen.
Wir haben in den letzten Tagen auf der Strecke noch einiges Gutes bewirkt.
({3})
- Ich finde, auch Sie können sich im Gesetz wiederfinden.
({4})
Auf der einen Seite haben wir jetzt das, was strafwürdiges Unrecht sein soll, viel besser gefasst. Auf der anderen Seite haben wir klargestellt, dass niemand in Bezug auf sein privates Fotoalbum Sorge haben muss,
wenn sich darin normale Urlaubsfotos von den Kindern
am Strand befinden, auch wenn einmal Nachbarskinder
dabei sind. Es zieht nicht die Anstandsdame ein. Es gibt
keine verordnete Prüderie im privaten Bereich, aber
eben Schutz, wo er nötig ist.
Zunächst zu den Bildern, auf denen Kinder nackt posieren. Mit der Formulierung „unnatürlich geschlechtsbetonte Körperhaltung“ schließen wir die Schutzlücke in
Bezug auf das Posing. Das wird jetzt klargestellt. Aber
wir haben in der Diskussion auch gemerkt, dass das
nicht alle strafwürdigen Fälle erfasst. Das Kind, das im
Schlaf entblößt ist und fotografiert wird, befindet sich
eben gerade nicht in einer unnatürlichen Haltung, auch
nicht, wenn es sich spielerisch bewegt. Wenn dann Nahaufnahmen der Genitalien in sexuell aufreizender Weise
gemacht werden, wäre das bisher nicht unter die Posingund Pornografievorschriften gefallen. Das haben wir
jetzt klargestellt. Auch da ist jetzt die Strafbarkeit nach
§ 184 b StGB gesichert.
({5})
Wir haben den Strafrahmen von zwei auf drei Jahre
erhöht. An diesem Punkt sind wir im Dissens auseinandergegangen. Wir hätten den Strafrahmen gern auf fünf
Jahre erhöht, zum Beispiel in Anlehnung an die Strafbarkeit von Diebstahl. Wir hören aus der Praxis, dass die
Darstellung des echten Missbrauchs - also nicht die
Posingfälle, sondern anderes - sehr brutal geworden ist.
Der Gedanke, dass das nur deshalb passiert, weil am anderen Ende ein Käufer dafür zahlt, war für uns Grund
genug, auf fünf Jahre gehen zu wollen. Heute bleibt es
allerdings bei drei Jahren. Vielleicht setzen wir das bei
anderer Gelegenheit noch einmal auf die Tagesordnung.
({6})
Bei den jugendpornografischen Schriften haben wir
davon abgesehen, die Regelungen komplett parallel zur
Kinderpornografie zu gestalten. Denn wir sehen natürlich, dass die sexuelle Selbstbestimmung und auch das,
was die Jugendlichen selber tun und entscheiden können, ein ganz anderes Maß hat als das, was bei Kindern
möglich ist. Hier haben wir ganz klare Ausnahmen für
das private Fotoalbum gemacht. Wer Aufnahmen von
sich und seinem Partner mit allseitiger Einwilligung
macht, der bleibt straflos, wenn er diese nur für den eigenen Gebrauch macht und in diesem Kreis behält. Das haben wir, solange es den privaten Gebrauch nicht übersteigt, nicht unter das Verdikt der Strafe gestellt.
Bei den Kindernacktbildern der sogenannten Kategorie 2 haben wir aber die klare Auffassung, dass es gegen
die Würde der Kinder verstößt, wenn mit solchen Bildern ihr Recht auf Intimsphäre und Persönlichkeitsentwicklung verletzt wird, wenn sie zu Zwecken und als
Objekt der Wünsche von Erwachsenen dargestellt werden und diese Bilder ins weltweite Netz gestellt werden.
Das wollten wir ganz klar unter Strafe stellen.
Der Befürchtung, dass das vielfach auch im privaten
Bereich zu strafwürdigem Verhalten führt, sind wir mit
einer ganz einfachen Grenzziehung entgegengetreten.
Die Nacktheit von Kindern und Jugendlichen auf Bildern ist nur dann strafwürdig, wenn dies im Rahmen eines entgeltlichen Austauschs geschieht - Entgelt mit t,
also nicht nur für Geld, sondern auch im Rahmen eines
Tauschs -; denn das geht nicht, das ist nicht tolerabel.
Davon abzugrenzen sind allerdings all die Fälle im
privaten Bereich. Natürlich denkt niemand daran, mit
Bildern der eigenen Kinder gegen Entgelt einen Tauschhandel zu betreiben; diese sind natürlich nur für das private Album gedacht. Aber der unsägliche massenhafte
Handel mit solchen Bildern wird von der geplanten Regelung erfasst.
({7})
Nun haben Sie gefragt, wie das mit den Bildern in der
Bravo ist.
({8})
Hier gelten die ganz normalen Einwilligungs- und Einverständnisvorschriften des Allgemeinen Teils des BGB.
Es ist ganz einfach: Wenn die Eltern eines Jugendlichen
im Rahmen ihres Sorgerechts ihre Einwilligung dazu erteilen, dort entsprechende Bilder zu veröffentlichen, ist
eine Strafbarkeit natürlich auszuschließen. Das ist der
ganz normale Fall der Formulierung eines Tatbestandes
im Besonderen Teil des StGB. Die Tatsache, dass wir an
dieser Stelle nicht das Wörtchen „unbefugt“ finden, hat
also nicht die Auswirkung, die Sie hier hineininterpretieren wollen. Vielmehr ist ganz klar: Hier gelten, wie auch
sonst überall, die allgemeinen Rechtfertigungs- und Einwilligungsgrundsätze.
Strafwürdiges Verhalten haben wir unter Strafe gestellt. Aber wir haben viele Korrektive installiert, die dafür sorgen, dass die vorgesehenen Regelungen an dieser
Stelle nicht zu weit gehen. Die Aufnahme von Bildern,
die die Hilflosigkeit einer dritten Person zur Schau stellen, und von Bildern, die das Ansehen einer anderen Person erheblich schädigen, ist strafbar. Es gibt allerdings
weitreichende Gründe, die eine Strafbarkeit entfallen
lassen können. So können überwiegende Interessen von
Presse, Wissenschaft und Kunst und auch private Interessen hier eine Rolle spielen. Es ist also sichergestellt,
dass sich die geplante Regelung nur auf das Verhalten
bezieht, das wir für strafwürdig halten, und nicht darüber
hinausgeht. Wer sich sozial adäquat verhält, ist absolut
im grünen Bereich.
Frau Kollegin.
Models, die in der Bravo abgebildet werden oder bei
Germany’s next Topmodel auftreten, brauchen also keine
Angst zu haben.
Vielen Dank.
({0})
Frau Kollegin Hajduk, der Parlamentarische Staatssekretär hat mir zugesichert, dass der Minister jeden Augenblick eintreffen müsse.
({0})
- Das halte ich für gar keinen schlechten Einfall. Jedenfalls erscheint mir das klüger als eine Abstimmung mit
unvernünftigem Ergebnis.
({1})
Dann unterbreche ich die Sitzung bis zum Eintreffen
des Bundesministers der Justiz.
({2})
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Wir setzen die Debatte über diesen Tagesordnungspunkt nun in Anwesenheit des federführend zuständigen
Ministers fort. Ich erteile das Wort der Kollegin Katja
Keul für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Guten Morgen, Herr Maas!
({0})
Obwohl Sie es bis zur letzten Minute spannend gemacht
haben, hat die Zeit offensichtlich nicht gereicht, die Sache zu Ende zu denken. Am Dienstagnachmittag umfangreiche Änderungen vorzulegen, die Mittwochmorgen im Ausschuss beschlossen werden, ist nicht nur kein
guter parlamentarischer Umgang mit der Opposition,
sondern führt auch zu miserablen Gesetzen.
({1})
Das Ganze konnte schon deswegen nicht gelingen,
weil Sie zwei völlig verschiedene Strafrechtsbereiche
miteinander vermengt haben und den Persönlichkeitsschutz so zu einer Art Auffangtatbestand für all das machen wollen, was nicht unter den Schutz der sexuellen
Selbstbestimmung fällt.
Ich will im Gegensatz zu Ihnen die Dinge klar auseinanderhalten. Die gute Nachricht zuerst: das Sexualstrafrecht. Hier kann ich Sie ausnahmsweise einmal loben. Sie sind unserem Hinweis gefolgt und haben den
Fehler im Tatbestand der Jugendpornografie korrigiert,
der dazu geführt hätte, dass sich ein Volljähriger, der
seine 17-jährige Freundin beim Posieren am Pool fotografiert, strafbar gemacht hätte. Auf unsere Anregung
hin haben Sie die Einwilligung der Jugendlichen in den
Ausschlusstatbestand des Absatzes 4 aufgenommen. Damit ist jetzt klar, dass sich Jugendliche von ihren volljährigen Freunden fotografieren lassen dürfen, sodass wir
dem sexualstrafrechtlichen Teil Ihres Gesetzes gerade so
zustimmen können.
Bei der Definition der Kinderpornografie in § 184 b
StGB konnten Sie sich leider nicht entscheiden und haben jetzt die SPD-Version und den bayerischen Vorschlag als Alternative ins Gesetz geschrieben. So kann
man die Große Koalition künftig direkt im Gesetzeswortlaut ablesen.
({2})
Da aber die Konkretisierung hinsichtlich der Darstellung
der Genitalien sinnvoll ist, tragen wir das mit.
({3})
Die Klarstellungen beim Grooming und bei den sogenannten Livedarbietungen - dabei geht es um die Umsetzung der EU-Richtlinie - hatten wir bereits in der ersten
Lesung begrüßt. Die Verlängerung der Verjährungshemmung bis zum 30. Lebensjahr ist unter rechtspolitischen
Gesichtspunkten durchaus umstritten. Da es aber tatsächlich vor allem den Opfern zugutekommt, den Entscheidungsdruck von ihnen zu nehmen, stimmen wir
auch dieser nicht unproblematischen Regelung zu.
({4})
Aber jetzt zur schlechten Nachricht. Der neue § 201 a
StGB ist und bleibt irreparabel misslungen und unverhältnismäßig. Für die Strafbarkeit von Fotos, die geeignet sind, dem Ansehen einer Person zu schaden, haben
Sie bereits herbe Kritik nicht nur von uns als Opposition
einstecken müssen, sondern auch aus der versammelten
Fachwelt und von Ihren eigenen Experten in der Anhörung. Was geeignet ist, dem Ansehen zu schaden, bleibt
ein subjektiver und damit unbestimmter Rechtsbegriff.
({5})
Es ist also vorprogrammiert, dass die Frage, ob ein Foto
geeignet ist, dem Ansehen zu schaden, von dem Fotografen und der abgebildeten Person regelmäßig unterschiedlich beantwortet wird.
Immerhin haben Sie erkannt, dass die Strafbarkeit der
reinen Herstellung dieser Bilder zu weit geht. Strafbar
macht sich künftig dann, wer solch ein peinliches Foto
einem Dritten zugänglich macht. Das ist aber immer
noch viel weniger als etwa die Verbreitung oder Veröffentlichung eines Fotos, was bereits nach bisheriger
Rechtslage strafbar ist.
Zur Verdeutlichung möchte ich auf meinen Beispielfall aus der ersten Lesung zurückkommen. Sie machen
einen Ausflug auf der Reeperbahn in Hamburg und machen dabei touristische Fotos von interessanten Fassaden, als just in dem Moment ein bundesweit bekannter
Bundestagsabgeordneter aus einem einschlägigen Eta6344
blissement kommt und Ihnen direkt ins Bild läuft. Sie
machen sich jetzt zwar nicht mehr in dem Moment strafbar, in dem Sie auf den Auslöser drücken - so war das
noch im Kabinettsentwurf vorgesehen -, aber spätestens
dann, wenn Sie zu Hause am Küchentisch Ihren Freunden die Hamburg-Fotos zeigen und einer erfreut ausruft:
„Mensch, das ist doch der Abgeordnete XY! Was macht
der denn da?“. Ob dem Ansehen tatsächlich geschadet
wird, spielt dabei gar keine Rolle. Es reicht, dass das
Foto dazu geeignet ist, was bei einem Bordellbesuch im
Regelfall zu bejahen wäre.
({6})
Nach wie vor greift das Strafrecht hier ohne jede Not
in den rein privaten Bereich ein. Die unbefugte Veröffentlichung und Verbreitung ist hingegen jetzt schon
vom Straftatbestand im Kunsturhebergesetz ausreichend
erfasst. Hier gibt es weder eine Lücke noch sonst einen
Bedarf, die Strafbarkeit auszuweiten.
({7})
Nachdem Sie jetzt die reine Herstellung von peinlichen Bildern als Straftat herausgenommen haben, verfassen Sie kurzfristig einen neuen Absatz, in dem Sie
den alten Fehler wieder einbauen. Danach soll künftig
strafbar sein, ein Foto, welches die Hilflosigkeit einer
Person zur Schau stellt, zu machen. Vielleicht war das ja
der Versuch, sich ausnahmsweise an dem Kunsturhebergesetz zu orientieren, wonach Bildnisse nur mit Einwilligung des Abgebildeten verbreitet oder öffentlich zur
Schau gestellt werden dürfen. Sie haben aber das Wort
„öffentlich“ vergessen und stellen damit wieder die reine
Herstellung unter Strafe.
Was heißt das? Wenn ein Jugendlicher seinen betrunkenen Kumpel fotografiert, ist er bereits straffällig, ohne
dass er dieses Foto überhaupt weitergibt oder ins Netz
stellt.
({8})
Es reicht, wenn das Bild die Hilflosigkeit des Betrunkenen zur Schau stellt. Das geht zu weit.
({9})
Wenn überhaupt, dann ist doch ausschließlich die
Verbreitung und Veröffentlichung eines solchen Bildes
strafwürdig. Das aber ist bereits heute strafbar, sodass
Ihre ganze Ausweitung des § 201 a StGB schlicht überflüssig ist.
({10})
Wer nämlich unfreiwillig in hilfloser Lage Hauptdarsteller eines YouTube-Videos werden sollte, kann bereits
heute nach dem Kunsturhebergesetz einen Strafantrag
stellen. Das halte ich auch für sinnvoll und ausreichend.
({11})
Beim Strafrahmen passt jetzt auch nichts mehr zusammen. Das öffentliche Zurschaustellen soll nach dem
Kunsturhebergesetz mit bis zu einem Jahr geahndet werden, die bloße Herstellung des Fotos aber nach dem neu
gefassten § 201 a StGB mit bis zu zwei Jahren. Das
kommt davon, wenn man einen Straftatbestand doppelt
regelt und das dann nicht einmal aufeinander abstimmt.
Im neuen Absatz 3 haben Sie auf die Kritik bei der
Strafbarkeit von Nacktbildern reagiert und diese auf Bilder von Minderjährigen beschränkt. Strafbar soll jetzt
die Herstellung sein, wenn sie erfolgt, um dieses Bild einer dritten Person gegen Entgelt zu verschaffen. Strafbar
ist auch der Bezug eines solchen Bildes. Jeder hat hier
den Fall vor Augen, an den Sie dabei gedacht haben. Das
Problem ist aber, dass Sie nur noch an diesen Fall gedacht haben, und das ist beim Verfassen von Gesetzestexten verheerend.
({12})
Zunächst einmal versuchen Sie hier beim Persönlichkeitsschutz eine Lücke im Sexualstrafrecht zu schließen,
die es gar nicht gibt. Jemand, der im Internet Aufnahmen
nackter Minderjähriger erwirbt, verfügt - das belegt die
Erfahrung der Ermittler - in 90 Prozent der Fälle auch
über strafbares Material. In der Regel reicht es für einen
Anfangsverdacht und eine Durchsuchung, bei der sich
der Rest dann findet. Das haben die Staatsanwälte in der
Anhörung und die Gerichte im Fall Edathy bestätigt.
Wer darüber hinaus die Begründung des Bundesverfassungsgerichts zu der Beschwerde des ehemaligen
Kollegen liest, wird feststellen, dass der Fall Edathy
schon deswegen keine Strafbarkeitslücke offenbart hat,
weil bereits das Ausgangsmaterial nicht legal war. Letzte
Zweifel an der Strafbarkeit wären spätestens mit der ergänzten Definition der Kinderpornografie ausgeräumt,
die wir heute verabschieden.
Wenn es also aus diesem Zusammenhang heraus
keine Notwendigkeit für eine weitere Strafvorschrift
gibt, sollten wir die Finger davon lassen, um zu vermeiden, dass wir im Zweifelsfall auch Jugendliche erfassen,
die es aus unerfindlichen Gründen cool finden, sich gegenseitig Nacktfotos zu schicken. Denn immerhin ist der
Begründung zu entnehmen, dass mit Entgelt auch der
Tausch von Bildern gemeint sein soll.
Ein klassischer Flüchtigkeitsfehler dürfte Ihnen unterlaufen sein, als Sie in der Eile am Wochenende das
Wörtchen „unbefugt“ aus Absatz 3 herausgestrichen haben. Sie haben dabei wieder nur an den Fall Edathy gedacht und wollten verhindern, dass die Einwilligung der
Eltern der rumänischen Jungs eine Rolle spielt. Das ist
Ihnen auch gelungen. Jetzt kann niemand mehr einwilligen: weder die Minderjährigen noch deren Eltern.
({13})
Man kann zwar, wie die Union im Ausschuss, der Meinung sein, dass 17-jährige Models auch mit Einverständnis ihrer Eltern in Dessous-Katalogen oder in der Bravo
nichts zu suchen haben. Künftig machen sich aber nicht
nur die Fotografen dabei strafbar, sondern auch jeder,
der ein solches Heft erwirbt.
({14})
Hier hätte eine ordentliche Beratung sicherlich gutgetan.
({15})
Wir werden sämtliche Änderungen des § 201 a StGB
heute in getrennter Abstimmung ablehnen. Gleiches gilt
für die Ausweitung der Volksverhetzung nach § 130
StGB, mit der Sie eine neue Versuchsstrafbarkeit einführen, für die es keine hinreichend plausible Notwendigkeit gibt. Den Änderungen im Sexualstrafrecht hingegen
stimmen wir zu.
Vielen Dank.
({16})
Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Susanne
Mittag das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir haben in der laufenden Debatte über die
Reform des Sexualstrafrechts viele rechtliche Einschätzungen gehört. Ob ein bestimmter Aspekt des Gesetzentwurfs gerechtfertigt ist, ob der Entwurf über das Ziel hinausschießt oder ob er verhältnismäßig ist, wurde
dargelegt. Das ist eine wichtige und richtige Diskussion,
die wir zurzeit noch führen und die die Redner, die nach
mir sprechen, fortsetzen werden. Als gelernte Polizistin
möchte ich mich aber nicht an der juristischen Debatte
beteiligen. Ich möchte lieber darüber sprechen, was es in
der Ermittlungspraxis bedeutet, das Sexualstrafrecht zu
reformieren.
In der Arbeit der Polizei gab es in der Vergangenheit
immer wieder Probleme, zum Beispiel Bilder von Kindern klar in „erlaubt“ und „verboten“ zu unterscheiden.
Da unterscheiden die Polizei und die Ermittlungsbehörden zwischen Kategorie-1-Bildern, klar kinderpornografisch, und Kategorie-2-Bildern, den sogenannten Posingbildern. Je nach Rechtsauffassung des bearbeitenden
Staatsanwalts konnte der Besitz von Kategorie-2-Bildern
dazu führen, dass ein Ermittlungsverfahren eingeleitet
wurde, oder nicht. Diese Ermessenslücke schließen wir
nun endlich und stellen klar, dass die Herstellung, die
Verbreitung und der Besitz von Posingbildern verboten
sind.
({0})
Über den derzeitigen 2. Untersuchungsausschuss und
ein laufendes Ermittlungsverfahren ist in den Medien
viel berichtet worden. Da es sich um ein laufendes Verfahren handelt, möchte ich mich nicht näher dazu äußern, auch wenn es hier schon erwähnt wurde. Nur so
viel: Die Reform des Sexualstrafrechts führt nicht zu einem Amnestiegesetz, wie es eine etwas größere, polemisierende Zeitung öffentlich dargelegt hat. Das trifft nicht
zu. Wir verschärfen das Sexualstrafrecht. Wir haben das
Strafmaß heraufgesetzt. Wir haben Verjährungsfristen
verlängert. Wir haben bestehende Straftatbestände erweitert und neue Straftatbestände aufgenommen, um
Schutzlücken zu schließen, zum Beispiel beim sexuellen
Missbrauch von Schutzbefohlenen - da fehlte einiges -,
beim Cybergrooming und auch beim Thema Genitalverstümmelung, das bislang hier noch gar nicht erwähnt
wurde, obwohl es recht wichtig ist. All diese Punkte haben wir, SPD und CDU/CSU, schon im letzten Jahr im
Koalitionsvertrag verankert und setzen das nun um. Das
ist gut so; denn das erleichtert die Arbeit von Polizei und
Ermittlungsbehörden.
Hier kommen wir allerdings zu einem kritischen
Punkt. Sicherheit können wir hier im Deutschen Bundestag nicht beschließen. Kein Paragraf im Strafgesetzbuch
klärt eine Straftat auf. Wir dürfen uns heute nicht zufrieden auf die Schulter klopfen, weil wir das Sexualstrafrecht reformiert haben, und das war es dann. Nein, danach geht die Arbeit erst richtig los, nämlich die Arbeit
für Polizei und Justiz. Aber diese kommen leider ihren
Aufgaben teilweise schon jetzt nicht mehr in adäquater
Weise nach.
Wenn wir die Verjährungsfristen anheben, dann bedeutet das auch, dass mehr Straftaten bei den Behörden
angezeigt werden. Dabei handelt es sich nicht um einfache Ermittlungen. Tatortspuren gibt es in der Regel
kaum noch. Erinnerungen von Zeugen verblassen oder
verändern sich. Ermittlungen, die auch den Opfern gerecht werden sollen, sind schwierig und nicht schnell abzuschließen. Das ist sicherlich kein Grund, auf derartige
Ermittlungen zu verzichten. Aber das heißt, wir brauchen in diesem Bereich erheblich mehr Ermittler.
Wenn wir die Herstellung, die Verbreitung und den
Besitz von Kinderpornografie bekämpfen wollen, dann
brauchen wir auch dort mehr Ermittler. Die Beamten des
BKA haben uns im Innenausschuss berichtet, dass sie
über zwei Jahre gebraucht haben, um die Daten der Operation „Spade“ auszuwerten. Zwei Jahre! Das ist zu
lange und darf eigentlich gar nicht sein. Das hat so lange
gedauert, nicht weil die Beamten des BKA langsam gearbeitet hätten, sondern weil es zu wenige Beamte waren. Es sind zu wenige Ermittlungsbeamte für die rasant
ansteigenden Fallzahlen gerade im Internet. Oft müssen
sich die Beamten durch ein Terabyte von Daten arbeiten.
Das sind 1 000 Gigabyte voll mit schrecklichen Bildern,
Videos und Texten. Das alles muss gesichtet, bewertet
und in Akten angelegt werden.
Wenn wir als Parlamentarier den Polizistinnen und
Polizisten beim BKA, bei der Bundespolizei, aber auch
bei den Landespolizeien mehr Aufgaben übertragen,
dann müssen wir sie auch personell und materiell gut
ausstatten, damit sie ihre Arbeit machen können.
({1})
Das ist unsere Arbeit in den Haushaltsberatungen. Es
gibt leicht positive Signale aus dem Haushaltsausschuss.
Das ist sehr schön. Aber ich sage ganz deutlich: Das
reicht noch nicht, nicht für diesen hier beschriebenen
Bereich.
Ich bin mir sicher, dass wir gemeinsam als Parlament
einen Weg finden können, um den Sicherheitsbehörden
die notwendige Ausstattung für ihre Arbeit zu geben, damit wir nicht nur Gesetze beschließen, sondern damit
diese dann auch umgesetzt werden können. Es wird sich
zeigen, wie ernst wir es damit meinen. Das sind wir den
vielen Opfern dieser Straftaten schuldig; denn diese tragen ein ganzes Leben an der Tat.
Herzlichen Dank.
({2})
Alexander Hoffmann ist der nächste Redner für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Adrian P. war ein fröhliches Kind. Er ist groß geworden
in der Region um Satu Mare in Rumänien. Eines Tages
kommt in sein Dorf ein Deutscher, der sich das Vertrauen der Eltern und der Kinder erschleicht. Das tut er
über Wochen hinweg, indem er Süßigkeiten verteilt,
Ausflüge organisiert und durch andere Großzügigkeiten.
Ohne das Wissen der Eltern bewegt er dann die Knaben
dazu, bei ihm nackt zu baden, sich gegenseitig mit Öl
einzureiben oder nackt miteinander zu raufen, und er
filmt das Ganze.
Diese Filme vertreibt er dann und findet als Abnehmer zum Beispiel ein Unternehmen wie Azov Films,
eine Firma, die in drei Jahren mit Material dieser Art
über 4 Millionen Euro umsetzt. Da möchte ich schon
einhaken, weil es immer heißt, wir hätten nur einen bestimmten Fall im Auge. Meine Damen und meine Herren, wir haben diesen Markt im Auge. Wir alle waren erschrocken, als im Zusammenhang mit der Edathy-Affäre
zutage gefördert worden ist, dass eine ganze Branche
entstanden ist, die mit gerade noch legalem Material
Millionenumsätze macht. Darauf haben wir uns bei diesem Gesetzentwurf konzentriert, nicht auf diesen einzelnen Fall.
({0})
Wir waren uns damals in einer gemeinsamen Kampfansage alle einig, dass es uns darum gehen muss, diesen
Markt trockenzulegen. Ich sage Ihnen heute: Das wird
uns mit diesem Gesetzentwurf gelingen.
Ganz kurz - es ist schon viel dargestellt worden zwei, drei wichtige Argumente und Elemente aus meiner
Sicht. So wurde der Begriff der Kinderpornografie erweitert. Dazu zählen nicht mehr nur Bilder mit sexuellen
Handlungen an und von Kindern oder auch Bilder von
unbekleideten Kindern in unnatürlich geschlechtsbetonter Körperhaltung - das ist das, was die ganze Zeit schon
im Bereich des Posings Rechtsprechung war -, sondern
jetzt auch die sexuell aufreizende Wiedergabe der unbekleideten Genitalien und des Gesäßes eines Kindes. Das
ist eine ganz wichtige Ergänzung, die zum einen damit
einen Gleichlauf zur Lanzarote-Konvention herstellt,
zum anderen einem Vorstoß der Bundesländer Bayern
und Hessen im Bundesrat gerecht wird, für den wir im
Laufe der Beratungen sehr dankbar waren.
Dennoch ist es uns gelungen - auch das ist vorhin angeklungen -, den Begriff der Jugendpornografie davon
trennscharf abzugrenzen, weil Jugendliche einfach eine
andere Sexualität haben. Da passiert es schon einmal,
dass sich ein jugendliches Pärchen Posingbilder per
MMS hin- und herschickt. Durch die Möglichkeit der
Einwilligungsfähigkeit für den höchstpersönlichen Gebrauch haben wir hier eine trennscharfe Formulierung
gefunden.
Im Hinblick auf den Fall, den ich vorhin geschildert
habe, ist es uns eben auch gelungen, Schlupflöcher zu
schließen. Oft kam die platte Behauptung, man habe nur
legales Material bezogen, und das waren dann 5 000
oder 10 000 einzelne Bilder. Oder es kam das Argument,
man sei Liebhaber der Landschaft und der Kunst. Strafbar ist nunmehr die Herstellung von Nacktbildern von
Personen unter 18 Jahren in der Absicht - das ist wichtig -,
diese einem Dritten entgeltlich zu verschaffen; strafbar
macht sich auch derjenige, der sich solche Bilder entgeltlich verschafft.
Jetzt haben wir im Rahmen der Kritik in dieser Woche
Beispiele gehört: das Nacktbild der 17-Jährigen in der
Bravo. Aber vergessen wir eines nicht: Die Institution
der rechtfertigenden Einwilligung gibt es nach wie vor.
Bei einem solchen Bild können die Eltern selbstverständlich im Rahmen ihres Sorgerechts einwilligen.
Bitte denken Sie daran - der Kollege Dr. Fechner hat es
vorhin dargestellt -: Es gibt Ausnahmen in § 201 a Absatz 4 StGB. Auch hier können wir die Strafbarkeit sehr
trennscharf regulieren.
Jetzt ein zweites Beispiel, das ich persönlich als eher
skurril empfinde: die 17-Jährige im Dessouskatalog. Es
müsste also die Nacktheit der 17-Jährigen Gegenstand
des Dessouskatalogs sein. Da muss ich ganz ehrlich sagen - das ist meine persönliche Auffassung -, dass ich
mich dann schon wundere. Eine nackte 17-Jährige hat
für mich in einem Dessouskatalog nichts zu suchen.
Aber wenn man nicht prüde sein will, so ist es auch hier
möglich, dass die Eltern einwilligen, solange das unter
das Sorgerecht der Eltern fällt.
Wir haben die ganze Woche die Kritik vernommen,
das Gesetz sei zu unbestimmt, man müsse vorsichtig
sein, und man verstehe nicht, was gemeint sei. Auch darüber wundere ich mich. Überlegen wir einmal, welche
Anträge und Gesetzentwürfe uns teilweise hier vorgelegt
werden. Oft strotzen Gesetzentwürfe nur so vor unbestimmten Rechtsbegriffen, und es wird ganz schnell einmal mit einem Federstrich ein Ordnungswidrigkeitentatbestand formuliert, zum Beispiel für den Fall, dass ein
Unternehmer nicht rechtzeitig ein Gleichstellungskonzept erstellt. In diesem wichtigen Fall hören wir die
ganze Zeit: Das ist nicht bestimmt genug. Da müssen wir
vorsichtig sein. Das ist unverständlich. - Ich will das gar
nicht weiter werten. Aber man merkt - auch in der Diskussion -, wie die Gewichtigkeit dieses Themas in den
unterschiedlichen Gruppierungen ausfällt.
({1})
Es ist, meine Damen, meine Herren, ein guter Gesetzentwurf. Ich möchte an dieser Stelle dem Ministerium,
dem Minister und auch den Kolleginnen und Kollegen
danken, weil es uns gerade in den letzten Wochen gelungen ist, viele neue Regelungen zu erarbeiten, die letztendlich eine trennscharfe Abgrenzung ermöglichen.
Aber es gibt für mich persönlich - das sage ich ganz
offen - auch einen Wermutstropfen: Wir von der Union
hätten sehr gerne die Strafbarkeit des Cybergrooming sichergestellt. Worum es dabei geht, ist ganz einfach erzählt: Erwachsene gehen ins Internet - das geschieht tausendfach; das muss man so sagen -, um in Chatrooms
mit Mädchen, mit Kindern sexuellen Kontakt anzubahnen. Das große Problem in der Praxis ist - das wurde
auch in den Anhörungen ganz deutlich zutage gefördert -,
dass die einzige Möglichkeit der Polizei, solcher Täter
habhaft zu werden, ist, dass sich Ermittlungsbeamte in
solchen Chatrooms als Kinder ausgeben, um so an
potenzielle Täter heranzukommen.
Auch an dieser Stelle ein Dankeschön; denn das
Ministerium hat angeboten, dass wir in einem weiteren
Fachgespräch etwas über die Praxis erfahren. So hoffen
wir, dass wir hier die Impulse aus der Praxis aufnehmen
können. Ich kann hier für meine Fraktion sprechen: Wir
sind bei der Beurteilung der Notwendigkeit noch lange
nicht am Ende der Beratungen angelangt.
({2})
Am Ende, meine Damen, meine Herren, noch ein
Punkt, der mich bewegt - auch das wurde als Kritik geäußert -: Es hieß, dieser Gesetzentwurf komme zu
schnell, er sei mit heißer Nadel gestrickt, man habe keinerlei Beteiligungsmöglichkeit gehabt. - Das ist nicht
richtig. Kollegin Keul, Sie haben vorhin gesagt, am
Dienstagnachmittag seien noch umfassende Änderungen
vorgelegt worden. Das stimmt einfach nicht. Das waren
redaktionelle Änderungen, die wirklich in einem überschaubaren Rahmen stattgefunden haben.
({3})
Wir hatten insgesamt ein sehr fruchtbares Beteiligungsverfahren. Wir hatten eine gute Anhörung. Kollegin Keul, auch wir beide hatten ein sehr gutes Gespräch
- das können Sie nicht bestreiten -, und Anregungen von
Ihnen aus diesem Gespräch habe ich in die weitere Beratung einfließen lassen.
Darf die Kollegin Keul eine Zwischenbemerkung machen oder eine Zwischenfrage stellen?
Aber sehr gerne.
Sie zwingen mich jetzt geradezu, mich noch einmal
zu melden und eine Zwischenbemerkung zu machen. Es
ist völlig unstreitig, dass wir über den Kabinettsentwurf,
wie er vorlag, Gespräche geführt haben, dass wir ihn beraten haben - auch wir beide -, was zu dem Ergebnis geführt hat, dass tatsächlich Fehler beseitigt wurden. Meines Erachtens zeigt das, dass ein parlamentarisches
ordnungsgemäßes Verfahren seinen Sinn hat und dass
wir uns daran auch halten sollten.
({0})
Freitagmittag um 12 Uhr war die Frist abgelaufen, bis
zu der dem Rechtsausschuss die Änderungen am Kabinettsentwurf hätten vorliegen müssen; wir haben sie am
Dienstagnachmittag bekommen. Diese Änderungen sind
umfangreich und komplex. Ich habe zu § 201 a StGB
viel gesagt. Sämtliche Änderungen sind über das Wochenende, also in letzter Minute, gestrickt worden, und
wir mussten am Mittwoch beschließen. Das ist kein ordnungsgemäßes parlamentarisches Verfahren.
({1})
Ich gehe davon aus, dass der eine oder andere Fehler
möglicherweise hätte korrigiert werden können, wenn
wir uns gründlich und vernünftig über diese Änderungsvorschläge unterhalten hätten.
Danke für dieses Statement. - Es war im Kern doch
so - Sie haben es gerade angesprochen -, dass am Freitagnachmittag der Gesetzentwurf vorlag. Die umfassende Änderung, von der Sie vorhin gesprochen haben,
war die Streichung des Wortes „unbefugt“. Ich denke,
wir haben mit Hilfestellung des Kommentars dargelegt,
was die Begrifflichkeit „unbefugt“ bedeutet. - Ich habe
befürchtet, dass die Ausschussvorsitzende auch noch
eine Frage hat, Herr Präsident.
Nein. Sie wollte nur hilfreich sein, um darauf hinzuweisen, dass sich Frau Keul zur Entgegennahme der Beantwortung ihrer Zwischenfrage vielleicht freundlicherweise von ihrem Platz erhebt.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum
Ende.
({0})
- Herr Präsident, Frau Künast möchte doch eine Zwischenfrage stellen.
Und Sie machen den Eindruck, als wollten Sie die
auch zulassen.
({0})
Sehr gerne.
Bitte schön.
Also, da Sie jetzt gesagt haben, am Freitag seien den
Mitgliedern Unterlagen zugegangen, frage ich jetzt:
Trifft es zu, dass die Ausschussvorsitzende am Freitag
kein Papier bekommen hat, keinen Änderungsantrag,
den sie verschicken konnte? Zumindest ich als Ausschussvorsitzende habe davon keine Kenntnis. Ich habe
nichts bekommen. Das Ausschusssekretariat hat erst am
Dienstag um 15 Uhr und ein paar Minuten eine Vorlage
bekommen, die verschickbar ist. Das Ausschusssekretariat hat am Freitagnachmittag Kenntnis davon bekommen, dass es angeblich ein Papier gibt. Das sei aber vertraulich, und es gebe nichts zu verschicken und, und,
und.
({0})
Das ist, glaube ich, an dieser Stelle ein Unterschied, weil
ja zu einer guten Beratung auch gehört, dass das Ausschusssekretariat rechtzeitig Änderungsvorlagen verschickt, damit diese dann auch noch zum Beispiel mit
Oberstaatsanwälten oder Wissenschaftlern aus der Anhörung besprochen werden können. Diese Möglichkeit
gab es von Dienstag, 15 Uhr und ein paar Minuten, bis
Mittwoch, 9 Uhr, nicht.
({1})
Vielen Dank für die Frage. - Dazu muss man zum einen sagen: Ich bezweifle, dass die Möglichkeit bestanden hätte, es so weit auszuweiten, wenn das Ausschusssekretariat am Freitag entsprechende Unterlagen vorgelegt
bekommen hätte. Zum anderen: Entscheidend ist doch,
dass die beteiligten Fraktionen im Ausschuss über die
entsprechende Information verfügen. Und das war am
Freitag schon der Fall.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe es erwähnt: Es ist tatsächlich so, wir haben es eilig. Das will
ich gar nicht wegdiskutieren. Denn wir wollen in diesem
Gesetzgebungsverfahren - das ist ein ganz wichtiger
Punkt - noch in diesem Jahr zum Abschluss kommen.
Warum? Die Antwort ist im Grunde ganz einfach: weil
jeden Tag, und zwar wirklich jeden Tag, in irgendeinem
rumänischen, in irgendeinem bulgarischen Dorf oder
woanders auf der Welt wieder jemand aufschlagen kann,
der sich das Vertrauen der Kinder und der Eltern erschleicht und dann mit Nacktbildern der Kinder Handel
treibt. Solche Menschen werden in Zukunft in Deutschland keine Geschäfte machen. Das sind Geschäftsmodelle, die für uns absolut inakzeptabel sind. Wir werden
diesen Markt trockenlegen. Das wird uns gelingen. Deswegen werden wir diesem Gesetzentwurf zustimmen.
Vielen Dank.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Dirk Wiese für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der nun vorliegende Gesetzentwurf in der
durch den Änderungsantrag geänderten Form ist aus
meiner Sicht und aus Sicht der SPD-Bundestagsfraktion
ein wirkungsvolles Mittel, um bestehende Lücken im
Sexualstrafrecht zu schließen, ohne dabei gleichzeitig
Gefahr zu laufen, sozialadäquates Verhalten unter Strafe
zu stellen.
Mein Kollege Johannes Fechner hat bereits die zentralen Punkte des Entwurfs, was Kinder- und Jugendpornografie angeht, dargestellt. Ich möchte im Folgenden
auf vier weitere Themengebiete eingehen, die wir durch
das Gesetz neu regeln bzw. wo wir Lücken in der Strafbarkeit schließen.
Erstens. Wir schließen Strafbarkeitslücken beim sexuellen Missbrauch von Schutzbefohlenen. Bundesminister
Heiko Maas hat das folgende Beispiel bereits in seiner
Rede zur ersten Lesung verwendet: Das Oberlandesgericht Koblenz musste im Dezember 2012 einen Lehrer,
der sich gezielt an eine 14-jährige Schülerin herangemacht hatte und das Mädchen über fünf Monate letztendlich zum Sex gedrängt hatte, vom Vorwurf des Missbrauchs von Schutzbefohlenen freisprechen. Grund für
den Freispruch war einzig und allein, dass der Lehrer das
Mädchen nicht regelmäßig unterrichtete und er damit als
Vertretungslehrer in keinem sogenannten Obhutsverhältnis zu der Neuntklässlerin stand. Mit der Neufassung
bzw. Ergänzung des § 174 Absatz 2 Strafgesetzbuch
schließen wir diese Regelungslücke nun. Niemand soll
seine Vertrauensstellung ungestraft missbrauchen dürfen; und es ist selbstverständlich, dass es dabei völlig
egal sein muss, ob der Täter nun Klassenlehrer ist oder
nur vertretungsweise unterrichtet.
({0})
Zweitens. Wir konkretisieren den Straftatbestand des
Cybergroomings. Kurz zur Begriffserklärung: Unter Cybergrooming versteht man die Kontaktaufnahme erwachsener Täter mit Kindern im Internet zur Anbahnung
sexueller Handlungen. Die Zahl dieser Fälle nimmt leider immer mehr zu. Laut polizeilicher Kriminalstatistik
meines Heimatlandes Nordrhein-Westfalen hatten wir
allein im Jahr 2013 eine Steigerung von über 50 Prozent
gegenüber dem Vorjahr. Bisher konnten Fälle, in denen
diese Informationsübertragung ausschließlich über Datenleitungen erfolgte und es zu keiner Zwischenspeicherung kam, nicht sicher erfasst werden. Der Handlungsbedarf ist gerade wegen der steigenden Zahl dieser Fälle
besonders hoch. Durch die Neufassung von § 174 Absatz 4 Nummer 3 Strafgesetzbuch haben wir nun den
Tatbestand dahin gehend konkretisiert, dass es in solchen Fällen keine Auslegungsprobleme des Tatbestandes
mehr gibt. Ich glaube auch, dass die gesetzliche Regelung heute schon Möglichkeiten eröffnet, bei einem Anfangsverdacht weitere Ermittlungsmethoden zu nutzen.
Drittens. Wir nehmen den Straftatbestand der Genitalverstümmelung in den Katalog der Auslandsstraftaten
auf. Eines der abscheulichsten Verbrechen an Mädchen
und Frauen ist die in verschiedenen afrikanischen und einigen asiatischen Ländern praktizierte Beschneidung aus
traditionellen oder rituellen Gründen.
({1})
Auch an in Deutschland lebenden Migrantinnen aus diesen Ländern wird das Beschneidungsritual teilweise in
ihren Herkunftsländern als sogenannte Ferienbeschneidung praktiziert. Eltern fahren dafür extra mit ihren Kindern in die entsprechenden Heimatregionen.
Problem bei der Strafverfolgung dieser im Ausland
begangenen Genitalverstümmelungen war bisher, dass
eine Strafbarkeit wegen Beihilfe nach deutschem Recht
bislang ausschied, sofern keine Vorbereitungshandlung
in Deutschland nachweisbar war. Durch Aufnahme des
Straftatbestandes der Genitalverstümmelung in den Katalog der Auslandsstraftaten schließen wir diese Strafbarkeitslücke nun - ein wichtiger und entscheidender
Schritt bei der Verfolgung dieses abscheulichen Verbrechens.
Viertens. Wir verlängern die Verjährungsfrist bei sexuellem Missbrauch an Kindern oder Jugendlichen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Erfahrungen aus
den letzten Jahren haben gezeigt, dass Menschen, die als
Jugendliche oder Kinder Opfer sexuellen Missbrauchs
wurden, häufig erst nach Jahren in der Lage sind, über
das Geschehene zu sprechen. Oftmals sind dann die Taten bereits verjährt. Das konnte man zum Beispiel bei
den Missbrauchsfällen sehen, die im Zusammenhang mit
der Odenwaldschule stehen. Deshalb ändern wir bei derartigen Straftaten die Verjährungsfrist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, obgleich wir uns
der Probleme im Beweisverfahren bewusst sind, die die
Fristverlängerung mit sich bringen kann, haben wir uns
ganz klar für diese Fristverlängerung entschieden; denn
mit ihr senden wir auch ein starkes Signal an die Betroffenen und lassen sie mit ihrem Leid nicht alleine.
({2})
Sie sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Mit unserem Gesetz bekämpfen wir nicht nur die Kinderpornografie, sondern erweitern auch umfangreich den strafrechtlichen Schutz von Kindern und Jugendlichen vor
sexueller Gewalt und sexuellen Übergriffen. Flankiert
wird der vorliegende Gesetzentwurf zum Sexualstrafrecht durch das Präventionskonzept „Gemeinsam gegen
sexuelle Gewalt“ von Bundesfamilienministerin Manuela
Schwesig, sodass wir am heutigen Tage insgesamt ein
gutes Maßnahmenbündel zum Schutz von Kindern und
Jugendlichen vorlegen können.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Christina Schwarzer ist die letzte Rednerin zu diesem
Tagesordnungspunkt für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Seit etwas
mehr als einem Jahr bin ich Bundestagsabgeordnete, und
ohne die Bedeutung aller anderen Initiativen und Gesetzentwürfe auch nur im Geringsten schmälern zu wollen,
kann ich Ihnen sagen: Meiner Ansicht nach sprechen wir
hier heute über den wichtigsten Gesetzentwurf zum
Schutz von Kindern und Jugendlichen in meiner Zeit als
Bundestagsabgeordnete. Sehr geehrte Damen und Herren, ich glaube, das empfinden viele Kollegen heute
auch so.
({0})
Warum ist das so? Weil der Gesetzentwurf viele Verbesserungen für diejenigen beinhaltet, die sich nicht selbst
wehren können und unsere Unterstützung benötigen. Es
geht unter anderem darum, die Schwächsten unter uns zu
schützen. Darum ist es auch so wichtig, dass wir schnell
handeln.
Gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang, kurz den
Weg zu diesem Gesetz nachzuzeichnen. Manchmal überholen Geschehnisse politische Debatten, so auch hier.
Ganz abgesehen davon enthält der Koalitionsvertrag auf
Initiative der Union hin bereits mehrere konkrete Vorhaben zu entsprechenden Reformen des Sexualstrafrechts.
Auf der Basis eines Fachgesprächs haben wir bereits
im März dieses Jahres unter anderem auf Initiative der
stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Thomas Strobl
und Nadine Schön, der ich an dieser Stelle noch einmal
recht herzlich zur Geburt ihres Sohnes gratuliere
({1})
- vielleicht sieht sie ja schon die Debatte; ich glaube, ihr
Herz geht auf, wenn sie sie heute sieht -, ein Eckpunktepapier mit einem Herzensanliegen vorgestellt: „Wir wollen ein Opferschutzpaket jetzt!“ Es beinhaltete Punkte
wie die Anpassung des Sexualstrafrechts an das digitale
Zeitalter, einen besseren Schutz vor Übergriffen in Abhängigkeitsverhältnissen, die Verlängerung der Verjährungsfrist sowie Vorschläge zu Opferschutz und Prävention. Der hier vorliegende Gesetzentwurf greift viele
dieser Punkte auf. Ich finde, es ist wirklich ein starkes
Zeichen, dass das Ministerium und der Bundestag dieses
wichtige Thema binnen Jahresfrist zu einem Ergebnis
geführt haben - zu einem sehr guten Ergebnis, wie ich
finde.
Das Ziel der Änderung des Strafgesetzbuches ist eine
deutliche Verbesserung des Schutzes gerade von Kindern und Jugendlichen vor sexuellen Übergriffen und sexuellem Missbrauch. Nun müssen wir uns fragen: Ist
dieses Ziel mit dem hier vorliegenden Entwurf zu erreichen? Ich meine, ja, obwohl es einen Punkt gibt, den ich
etwas kritisch sehe; aber dazu später.
Wie erreicht dieser Gesetzentwurf das von uns allen
formulierte Ziel? Zum einen ist für mich die Verlängerung der Verjährungsfristen ein extrem wichtiger Punkt.
Sexueller Missbrauch von Kindern ist für mich eines der
schlimmsten und schwersten Verbrechen überhaupt. Die
Opfer tragen die Folgen das ganze Leben lang mit sich.
Hier gibt es kein Vergessen. Gerade weil die Opfer dieser Straftaten die Folgen so lange mit sich tragen, drängen die Verjährungsfristen sie häufig; denn sie brauchen
manchmal Jahrzehnte, um überhaupt über die Tat sprechen zu können, diese vielleicht sogar erst einmal zu
verstehen.
Wie wir bereits gehört haben, ist die Verlängerung der
Verjährungsfristen unter Juristen nicht unumstritten; das
hat auch die öffentliche Anhörung im letzten Monat ergeben. Das Argument lautet: Je später die Ermittlungen
aufgenommen werden, Herr Wunderlich, desto schwerer
ist es, dem Täter etwas nachzuweisen. Ich sage dennoch:
Die Opfer brauchen Zeit, Kraft und vor allen Dingen
Mut, um das Geschehene ohne den Druck der drohenden
Verjährung zu verarbeiten. Die Frage der Verjährung
muss daher von der Perspektive der Opfer her gedacht
werden und nicht von der der Rechtspraxis. Da ein erschwertes Verfahren die Situation für die Opfer sicher
auch schwerer macht, ist hier eine umfangreiche und vor
allem realistische rechtliche Beratung der Opfer vorab
notwendig. Die Verlängerung der Verjährungsfrist ist
aber richtig und wichtig.
({2})
Ein weiterer zentraler Punkt ist der § 174 StGB, Sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen. Ich möchte
es nicht ungesagt lassen, weil ich es für besonders wichtig halte: In der jetzt noch aktuellen Fassung geht dieser
Paragraf an der Lebensrealität vieler Opfer vorbei. Den
Opfern ist es nämlich völlig egal, ob es ein Fachlehrer,
ein Klassenlehrer oder nur ein Vertretungslehrer ist, der
sich an ihnen vergeht. An der Schwere der Tat und vor
allem an den Folgen für die Opfer ändert sich dadurch
nichts.
({3})
Dass außerdem eine Erweiterung auf Großeltern und
Stiefeltern in diesem Paragrafen vorgesehen ist, finde ich
ebenfalls sehr positiv. Das gilt ebenso für die Änderung,
die der Rechtsausschuss noch in dieser Woche beschlossen hat und die besagt, dass Personen eheähnlicher oder
lebenspartnerschaftsähnlicher Gemeinschaften genauso
gemeint sind. Es gibt so vielfältige Familienformen in
unserem Land, dass dies nur folgerichtig ist. Das Strafrecht an diesem Punkt auf leibliche Eltern oder Adoptiveltern zu beschränken, würde dem nicht mehr gerecht.
Es wäre ein schlechtes Zeichen für die Opfer, wenn das
Gesetz sie nicht dabei unterstützt, sich auch gegen Stiefeltern, Großeltern oder Lebenspartner der Mutter oder
des Vaters zur Wehr zu setzen.
({4})
„Zeichen setzen“ ist übrigens auch ein gutes Stichwort, wenn es um das Thema des Strafmaßes beim Besitz kinderpornografischer Schriften geht. Der Kollege
Wunderlich hat vorgestern in der Sitzung des Familienausschusses angemerkt, dass es vielleicht keinen einzigen Täter von einer Straftat abhält, wenn hier das Strafmaß von zwei auf drei Jahre erhöht wird. Da hat er
vermutlich sogar recht. Ich bin keine Juristin; das wissen
Sie. Aber ich sehe hier die Perspektive der Opfer. Viele
Opfer haben im Hinterkopf, dass es zum Beispiel bei Eigentumsdelikten - das hat die Kollegin ja schon angedeutet - zu einer Strafe von bis zu fünf Jahren kommen
kann. Angesichts dessen finden sie zu Recht, dass hier
die Verhältnisse nicht stimmen.
In der Expertenanhörung des Rechtsausschusses haben wir erfahren, dass es keinen signifikanten Zusammenhang zwischen Kinderpornografie und Kindesmissbrauch gibt, sprich: Statistisch ist nicht nachzuweisen,
dass Menschen, die Nacktbilder von Kindern konsumieren, später in strafrechtlicher Hinsicht im Bereich des
Kindesmissbrauchs auffallen. Ich sage Ihnen ganz ehrlich - wir alle haben uns mit dieser Thematik viele Monate lang beschäftigt -: Mein Bauchgefühl sagt etwas
anderes. Auch wenn es hier keine statistische Relevanz
gibt, dies also einen relativ kleinen Prozentteil der Täter
betrifft, so sage ich dennoch: Jeder Einzelne, der eine
Straftat verübt, ist einer zu viel - einer zu viel für die
Opfer.
({5})
Ich hatte ja zu Beginn etwas Kritik angekündigt; Herr
Maas, das kann ich Ihnen an diesem Punkt nicht ersparen. Es geht um das sogenannte Cybergrooming - auch
hierauf sind diverse Kollegen bereits eingegangen -, genauer gesagt um einen untauglichen Versuch: Wenn sich
ein Beamter des BKA im Internet als zehnjähriges Mädchen ausgibt und von einem Erwachsenen zu sexuellen
Handlungen aufgefordert wird, dann soll dies nicht strafbar sein, obwohl der Täter glaubte, mit einer Minderjährigen zu chatten? Entschuldigen Sie, aber das erscheint
mir nicht richtig. Ich glaube, da müssen wir noch nachbessern. An dieser Stelle hätten wir für das Ziel, eine
deutliche Verbesserung des Schutzes von Kindern und
Jugendlichen vor sexuellen Übergriffen zu erreichen,
mehr tun können, gerade in unserer digitalen Welt.
({6})
Ein Thema will ich in den letzten 40 Sekunden meiner Redezeit noch ansprechen, und das ist das Thema
Medienkompetenz. Versetzen wir uns alle einmal in unsere Kindheit zurück; bei manchen ist das noch gar nicht
so lange her.
({7})
- Jetzt überlegt jeder, wie alt er ist. - Was haben wir da
von unseren Eltern gelernt? Meine Mutter hat mir immer
gesagt: Steig nie in ein fremdes Auto! Nimm nie Schokolade von einem Fremden an! - In der analogen Welt
geben wir unseren Kindern diese Regeln mit auf den
Weg, um sie sicher durch den Alltag zu geleiten. Aber in
der digitalen Welt ist das, glaube ich, noch keine Selbstverständlichkeit. Hier gibt es großen Nachholbedarf.
Genauso selbstverständlich wie bei dem Beispiel mit
der Schokolade müssen Eltern ihren Kindern erklären:
Wenn jemand im Internet um ein Bild von dir bittet, beende das Gespräch und sende es ihm nicht! Antworte
nicht, wenn dich jemand fragt, ob du schon mal jemanden geküsst hast! - Aber sehr viele Eltern tun das leider
nicht, weil sie sich in der digitalen Welt einfach noch
nicht gut auskennen. Sehr geehrte Damen und Herren,
ich glaube, in allen Fraktionen wird das Thema Medienkompetenz gerade behandelt. Wir sind da auf einem guten Weg.
Lassen Sie mich als Letztes sagen: Das hier vorliegende Gesetz beschäftigt sich mit der strafrechtlichen
Komponente. Es ist gut, dass wir so schnell gehandelt
haben. Kleine Kritikpunkte habe ich angesprochen. Alles in allem haben wir einen sehr guten Gesetzentwurf,
der sein Ziel erreichen wird: eine deutliche Verbesserung
des Schutzes von Kindern und Jugendlichen vor sexuellen Übergriffen und sexuellem Missbrauch.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Strafgesetzbuches - Umsetzung europäischer Vorgaben zum Sexualstrafrecht.
Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf
der Drucksache 18/3202 ({0}), den Gesetzentwurf der
Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf der Drucksache
18/2601 in der Ausschussfassung anzunehmen. Die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat beantragt, getrennt
abzustimmen: zum einen über Artikel 1 Nummer 5 b
und Artikel 1 Nummer 18, zum anderen über den Gesetzentwurf im Übrigen. - Das ist korrekt?
({1})
Dann rufe ich zunächst Artikel 1 Nummer 5 b und Artikel 1 Nummer 18 in der Ausschussfassung auf und
bitte diejenigen, die diesen in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit sind die gerade genannten Bestimmungen in der Ausschussfassung mit der
Mehrheit der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Ich rufe nun die übrigen Teile des Gesetzentwurfs, wiederum in der Ausschussfassung, auf und bitte diejenigen,
die hier zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer
ist dagegen? - Dies ist jetzt mit den Stimmen der Koalition und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Alle Teile des Gesetzentwurfs sind damit in zweiter
Beratung angenommen, sodass wir nun zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung kommen können. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich
zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Damit ist der Gesetzentwurf im Ganzen mit den
Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Linken
bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Wir stimmen nun über die Beschlussempfehlung zu
dem von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Strafgesetzbuches - immer noch
der gleiche Zusammenhang - ab. Der federführende
Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache 18/3202 ({2}),
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf der Drucksache 18/2954 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Alle sind dafür. Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Unter dem Punkt 5 b unserer Tagesordnung geht es
um die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu dem Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Kinder
schützen - Prävention stärken“. Dieser Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache
18/3201, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Mit
den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Damit sind wir am Ende dieses Tagesordnungspunkts.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf
Drucksachen 18/3124, 18/3157
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({3})
Präsident Dr. Norbert Lammert
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 96 Minuten vorgesehen. - Auch dazu
gibt es offensichtlich Einvernehmen, sodass wir in die
Aussprache eintreten können.
Erfreulicherweise ist die federführende Ministerin anwesend, und ich erteile ihr hiermit das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren Abgeordnete! Berufstätige Frauen und berufstätige Männer erleben, dass sich in ihrer Familienwelt nicht nur die Frage stellt: „Wie kann das gehen, auf
der einen Seite die Anforderungen in meinem Job und
auf der anderen Seite die Anforderungen, die meine Kinder und meine Familie an mich stellen, zeitlich zu erfüllen?“, sondern zunehmend auch eine andere. Zu den Anforderungen im Job, aber auch in der Familie kommt
nämlich häufig das Problem pflegebedürftiger Angehöriger hinzu. So hat es mir zum Beispiel eine berufstätige
Mutter erzählt, die ganz froh war, dass ihr Sohn nach den
vielen Jahren des Großwerdens endlich in Ausbildung
war. Ein guter Schulabschluss für die Kinder, dann eine
Ausbildung oder ein Studium, das treibt die Eltern um.
Sie dachte: Jetzt kann ich durchatmen. Jetzt kann ich
mich wieder stärker auf meine berufliche Perspektive
konzentrieren. Dann kam ein Anruf: Der Vater ist gestürzt. Die Knochen sind porös. Ob er jemals wieder laufen kann, ist ungewiss. Damit trat einerseits ihre Sorge
um einen guten Ausbildungsplatz für den Sohn in den
Hintergrund, aber andererseits kam sofort die akute
Sorge um den Vater dazu.
Das ist das, was eine zunehmende Zahl von Familien
in unserem Land erlebt. Die steigende Zahl der Pflegebedürftigen fordert die Kapazitäten von Pflegeeinrichtungen heraus. Sie fordert die Pflegeversicherung heraus. Aber vor allem die Familien in unserem Land
nehmen diese Herausforderung an. Die Familien in unserem Land leisten den größten Teil der Pflege und
Sorge für pflegebedürftige Menschen. Sie sind der
größte Pflegedienst der Nation. Deshalb haben sie unsere Unterstützung verdient.
({0})
Über 1,8 Millionen Menschen werden zu Hause gepflegt, zwei Drittel davon ausschließlich durch ihre Angehörigen. Deshalb wollen wir Familien entlasten. Wir
wollen Familien unterstützen, wenn sie für ihre pflegebedürftigen Angehörigen da sind. Wir stärken den Familien den Rücken, in denen die Menschen füreinander
Verantwortung übernehmen, wenn jemand im familiären
Umfeld pflegebedürftig wird. Mit dem Gesetz, das wir
heute einbringen, werden wir Familien helfen, Pflege
und Beruf besser zu vereinbaren: erstens durch eine
zehntägige Lohnersatzleistung für den akuten Pflegefall,
({1})
zweitens durch einen Rechtsanspruch auf die Familienpflegezeit und drittens mit einem zinslosen Darlehen für
diese Zeit. Die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf gehört dazu, wenn wir von Familien reden, so wie die älteren Menschen zur Familie gehören.
Für mich ist das ein weiterer Schritt in Richtung Familienarbeitszeit. Wir machen es möglich, eine Zeit lang
die Arbeitszeit zu reduzieren, um mehr Zeit für die Familie zu haben. Klar ist, dass man für die Pflege und
Sorge Auszeiten braucht. Aber man muss eben nicht
mehrere Jahre voll aussteigen; denn das bedeutet: raus
aus dem Job, weniger Einkommen, weniger Rente. So
hat es meine Tante erlebt, die für die Pflege der Schwiegermutter jahrelang aus dem Beruf ausgestiegen war und
dann keine Chance mehr hatte, reinzukommen.
Es geht darum, überschaubare Auszeiten und Teilzeitmöglichkeiten zu unterstützen und diese mit professionellen Angeboten der ambulanten Pflege oder der Tagespflege zu kombinieren, die dank der Pflegereform jetzt
ausgebaut werden. Zeit für Familie und Zeit für Beruf
auch in Pflegesituationen, das ist der Anspruch an moderne Familienpolitik, eine moderne Familienpolitik, die
auf partnerschaftliche Vereinbarkeit setzt. In der letzten
Woche haben wir mit dem Elterngeld Plus den ersten
Schritt in Richtung Familienarbeitszeit gemacht. Das
Elterngeld Plus erleichtert die Verbindung zwischen Elterngeld und Teilzeitarbeit. Jetzt gehen wir mit dem
neuen Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von Pflege und
Beruf den zweiten Schritt in Richtung Familienarbeitszeit. Dieses Gesetz wird die Verbindung von Pflege und
Teilzeitarbeit fördern.
Eine Frau wie die, deren Situation ich eben geschildert habe, wird künftig die Möglichkeit haben, in einem
akuten Fall eine zehntägige Auszeit zu nehmen. Sie kann
ihren Vater natürlich nicht in zehn Tagen gesundpflegen,
aber sie kann sich darüber informieren, welche Angebote es gibt. Sie kann sich beim Pflegestützpunkt beraten
lassen. Ist es zum Beispiel gut, dass der Vater künftig in
einer Tagespflege betreut wird, während sie ihre Arbeitszeit reduziert, um mehr Zeit für Sorge und Pflege zu haben? Nutzt sie den ambulanten Pflegedienst, damit der
Vater in den eigenen vier Wänden bleiben kann? Oder
soll es vielleicht doch eine stationäre Einrichtung sein?
In einer Pflegesituation ergeben sich viele Fragen;
aber es gibt auch viele Angebote. Man benötigt Zeit, um
die vielen Angebote auszuloten. Für die zehntägige Auszeit gibt es künftig eine Lohnersatzleistung analog zum
Kinderkrankengeld. Das ist wichtig, weil somit künftig
alle Beschäftigten die Möglichkeit haben, diese zehntägige Auszeit ohne großen Einkommensverlust zu nehmen. Das ist eine Frage der sozialen Gerechtigkeit.
({2})
Es ist aber nicht nur eine Frage des einzelnen Euro. Es
geht auch um die Frage: Wie ernst nehmen wir die Unterstützung für Familien mit Pflegebedarf? Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf heben wir Familien mit Pflegebedarf auf eine Stufe mit Familien mit Kindern, für die
es undenkbar ist, dass es nicht die zehn Tage Auszeit mit
Lohnfortzahlung gibt, wenn ein Kind krank wird. Das
gibt es jetzt auch im Bereich Pflege. Damit signalisieren
wir: Wir lassen die Familien mit dem Thema Pflege
nicht alleine, wir lassen sie nicht im Stich, sondern wir
unterstützen sie.
({3})
Die Frau aus dem Beispiel hat nun Zeit, darüber nachzudenken, ob sie bis zu sechs Monate ganz aus dem Beruf aussteigen oder ob sie ihre Arbeitszeit bis zu zwei
Jahre lang reduzieren will. Sie hat künftig einen Rechtsanspruch darauf, der einen Kündigungsschutz einschließt. Sie kann Lohnausfälle durch einen Lohnvorschuss in Form eines zinslosen Darlehens vom Staat
ausgleichen. Auch das ist eine erhebliche Verbesserung.
In der Vergangenheit ging das nur über den Arbeitgeber.
Die wenigsten haben das allerdings in Anspruch genommen.
({4})
Die Frau müsste sich in dieser Zeit nicht alleine um
ihren Vater kümmern. Das Pflegestärkungsgesetz macht
es ihrem Vater leichter, Angebote der Tagespflege oder
von ambulanten Diensten in Anspruch zu nehmen. Ich
freue mich sehr, dass wir bei der Stärkung der Pflege gut
mit dem Bundesgesundheitsministerium zusammenarbeiten. Es braucht ein Bündel von Maßnahmen, um beim
Thema Pflege in der Gesellschaft etwas zu bewegen,
nicht nur ein einzelnes Gesetz. Die Große Koalition
bringt nun die entsprechenden Maßnahmen auf den Weg
und unterstützt so die Familien in unserem Land.
({5})
Eine pflegende Tochter oder ein pflegender Sohn sind
auch deshalb nicht alleine, weil sie die Auszeit zusammen mit anderen Angehörigen - gleichzeitig oder nacheinander - nehmen können. Damit können lange Pflegezeiten abgedeckt werden, ohne dass die Arbeit nur auf
den Schultern einer Person, bisher oft auf den Schultern
der Frau, lastet. Das ist eine Chance für mehr Partnerschaftlichkeit und für mehr Solidarität innerhalb der Familie. Damit bekommen Familien die Chance, auch längere Zeiten in der Pflege abzudecken; denn mit zwei
Jahren ist es oft nicht getan.
Mit dem Gesetz wird auch der Kreis der Angehörigen, die die Regelungen in Anspruch nehmen können,
erweitert. Ab 2015 sollen auch Stiefeltern, Schwager
oder Schwägerin und lebenspartnerschaftsähnliche Gemeinschaften die Möglichkeiten des Pflegezeitgesetzes
und Familienpflegezeitgesetzes in Anspruch nehmen
können. Zu einer modernen Familienpolitik gehört, dass
auch unverheiratete Partner genauso wie Ehepartner Anspruch auf Pflege- und Familienpflegezeit haben. Zu einer modernen Familienpolitik gehört auch, dass schwule
oder lesbische Paare, die füreinander einstehen, Zeit für
die Pflege ihres Partners bekommen, egal ob sie in einer
eingetragenen Lebenspartnerschaft leben oder nicht.
({6})
Familienleben ist vielfältiger geworden. Wenn wir erwarten, dass die Menschen füreinander einstehen, dann
müssen wir sie in ihrer jeweiligen Lebensform unterstützen.
({7})
Das vorliegende Gesetz geht auf diese Vielfalt ein.
Neu ist auch eine Familienpflegezeit für Eltern mit
minderjährigen Kindern, die in einer Pflegeeinrichtung
betreut werden, zum Beispiel, wenn ein Kind mit DownSyndrom in einer Einrichtung der Lebenshilfe lebt und
nur am Wochenende nach Hause kommt. Hier geht es
weniger um die Pflege, die professionell in der Einrichtung erfolgt, hier geht es mehr um Zeit für das pflegebedürftige Kind. Die Eltern hatten bisher keine Möglichkeit, Auszeiten zu nehmen. Sie erhalten jetzt die
Möglichkeit, die Zeit für gemeinsame Stunden, für Zuwendung und Zuneigung zu nutzen.
Schließlich haben wir auch die Möglichkeit geschaffen, Menschen in der letzten Lebensphase nahe sein zu
können. Sie sind gestern in diesem Haus in eine wichtige
Debatte über die sogenannte Sterbebegleitung eingestiegen. Ich finde, das war eine sehr bewegende Debatte. Sie
hat gezeigt, wie sehr es uns alle beschäftigt, wenn
Krankheit und Leid bei Freunden oder in der Familie
nicht mehr zu heilen sind. Es gibt eben nicht die einfache
Lösung, aber wir sind uns alle darüber einig, dass wir eines organisieren müssen: Wir müssen alles dafür tun,
dass niemand im Sterben allein ist. So hat es Volker
Kauder gestern gesagt:
Wir werden alles dafür tun, dass im Sterben niemand allein ist, sondern dass er begleitet wird, dass
er Beistand hat.
Genau diesen Schritt gehen wir mit diesem Gesetzentwurf. Wir wollen es mit dem vorliegenden Gesetzentwurf möglich machen, dass er oder sie in der letzten Lebensphase begleitet wird und Beistand hat. Das ist der
Wunsch vieler Menschen, ein berechtigter und wichtiger
Wunsch. Wir sollten ihnen diesen Wunsch erfüllen.
({8})
Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, Vereinbarkeit braucht die Mitwirkung der Arbeitgeber. Das
machen wir damit deutlich, dass wir einen Rechtsanspruch festschreiben wollen. Ich bin überzeugt - das haben meine Gespräche und Unternehmensbesuche gezeigt -,
dass die Arbeitgeber selbst ein Interesse daran haben,
dass die Vereinbarkeit von Beruf und Familie und Pflege
gelingt; denn die Vereinbarkeit ist ein Gewinn für die
Unternehmen. Nehmen wir den Facharbeiter für Automatisierungstechnik oder die Fachärztin für Innere Medizin. Das sind nur zwei von sehr vielen Berufen, in denen Fachkräfte gesucht werden. Für den Arbeitgeber ist
es von großem Vorteil, wenn diese Fachkräfte nicht unter dem Druck einer großen Belastung aufgrund von
Pflegeaufgaben in der Familie zusammenbrechen und
aus dem Job aussteigen, sondern an Bord bleiben; sie
können in dieser Zeit gerne ihre Arbeitszeit reduzieren,
wenn sie nur an Bord bleiben. Deshalb ist es gut für die
Wirtschaft, dass wir dieses Gesetz machen. Es ist wich6354
tig, die Fachkräfte an Bord zu halten. Sie sind das Rückgrat der Wirtschaft. Dieser Gesetzentwurf zeigt, dass wir
mit Gesetzen beides zusammenbringen können, die Interessen der Wirtschaft und die Interessen der Familien.
Für mich ist das kein Widerspruch, sondern das gehört
zusammen gedacht.
({9})
Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, viele
Menschen möchten für ihre Familie da sein, wenn jemand Hilfe braucht, ob ein kleines, schwerkrankes Kind,
ein pflegebedürftiger Vater oder die Großmutter. Oft
kommt alles gleichzeitig: der Pflegefall der Eltern, die
Einschulung der Kinder und neue Anforderungen im
Job. Manchmal hat man das eine gerade geschafft, und
die nächste Herausforderung kündigt sich schon an. Das
ist Stress. Das ist das Gefühl, zerrieben zu werden zwischen den verschiedenen Wünschen, zwischen dem
Wunsch, da zu sein für die Kinder oder die eigenen Eltern, und dem Wunsch, den Job gut zu machen. Das trifft
oft die sogenannte Sandwichgeneration, die in der Rushhour des Lebens lebt. Dies sind aber die Leistungsträger
unserer Gesellschaft. Sie sorgen mit ihrer Arbeit dafür,
dass das Sozialsystem sich trägt. Deshalb ist es wichtig,
dass wir diese Leistungsträger unterstützen, dass wir alles dafür tun, dass sich diese Rushhour entzerrt. Wir
werden sie nicht auflösen können, schon gar nicht mit einem einzelnen Gesetz, aber wir können die Botschaft
aussenden, dass wir diese Frauen und Männer nicht alleine lassen, dass wir die Familien in unserem Land
nicht alleine lassen, dass wir ihnen den Rücken stärken.
Das leistet dieser Gesetzentwurf - nach einem anderen,
der schon verabschiedet worden ist.
Ich freue mich auf die Beratungen, um mit Ihnen gemeinsam auf dem Weg, Familien in unserem Land besser zu unterstützen, weiterzugehen.
({10})
Die Kollegin Pia Zimmermann hat nun das Wort für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Frau Ministerin Schwesig, ich finde, es
ist schon ziemlich sensationell, wie Sie nur minimale
Verbesserungen, die auch noch mit Verschlechterungen
einhergehen und nichts Grundsätzliches bewegen, den
Menschen hier als gut verkaufen wollen. Das ist mittlerweile offensichtlich ein Markenzeichen der Bundesregierung.
Meine Damen und Herren, Anfang Oktober hat die
Linke im Bundestag ein Pflegehearing veranstaltet, damit sich die Betroffenen zum Pflegestärkungsgesetz zu
Wort melden konnten. Bei der Eröffnung saß eine Vertreterin der „Initiative gegen Armut durch Pflege“ auf
dem Podium, die seit 31 Jahren ihre Tochter pflegt. Sie
hat eindrucksvoll geschildert, was diese Pflegesituation
für sie heißt: Überlastung bis an den Rand des Burn-outs
mit einer enorm prekären finanziellen Situation.
Meine Damen und Herren, dieses Beispiel ist - das
ist, glaube ich, uns allen bekannt - kein Einzelfall. Die
überwiegende Mehrheit der pflegenden Frauen und
Männer erlebt die Pflege von Angehörigen als körperlich
und emotional belastend. Viele der Pflegenden, insbesondere Frauen, sind zum Zeitpunkt des Pflegebeginns
nicht oder nur geringfügig erwerbstätig. Frauen geben
auch häufiger als männliche Pflegende ihre Erwerbstätigkeit auf, wenn sie die Pflege übernehmen. Genau solche Unterbrechungen führen zu geringeren Rentenansprüchen im Alter.
Die Probleme in der Pflege sind uns allen bekannt.
Der Gesetzentwurf aber, welchen wir heute erstmals im
Bundestag debattieren - bei ihm wird im Titel recht vollmundig von einer „besseren Vereinbarkeit von Familie,
Pflege und Beruf gesprochen“ -, geht an einer wirklichen Lösung völlig vorbei.
({0})
Ja, es soll kleine Verbesserungen geben. Dass es für
die bisher unbezahlte zehntägige Pflegezeit eine Lohnersatzleistung geben soll, ist zu begrüßen. Diese kleine
Verbesserung darf aber nicht über die völlig unzureichenden Vorschläge der Bundesregierung hinwegtäuschen. Wer glaubt, in zehn Tagen die pflegerische Versorgung organisieren zu können, geht vollkommen an
den Lebensrealitäten von Menschen vorbei, die zum ersten Mal mit Pflegebedürftigkeit konfrontiert sind. Es
mag sein, dass ein Kind in zehn Tagen gesund wird, eine
Pflegesituation lässt sich in zehn Tagen nicht regeln.
Wir, die Linke, fordern eine sechswöchige bezahlte Pflegezeit für Erwerbstätige, die der Organisation und der
ersten pflegerischen Versorgung von Angehörigen oder
nahestehenden Personen dient.
({1})
Ein anderes Beispiel für eine vollkommen unzureichende Verbesserung ist die Reform der Familienpflegezeit. Das Familienpflegezeitgesetz von Schwarz-Gelb
war ein Vollflop. Gerade einmal 135 Personen - das
steht auch in Ihrem Gesetzentwurf - haben die Familienpflegezeit in Anspruch genommen. Schon bei der Verabschiedung haben wir einen verbindlichen Rechtsanspruch gefordert. Gut, dass die Bundesregierung hier
jetzt nachbessern will. Sie lässt aber - wer hätte das gedacht? - den Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern trotzdem eine Hintertür offen. Bei wichtigen betrieblichen
Gründen kann verweigert bzw. abgelehnt werden. Frau
Schwesig, das sind immer die Sachen, die Sie verschweigen.
Völlig unverständlich ist auch, warum die Bundesregierung darüber hinaus ein Fünftel der Beschäftigten von
dem Rechtsanspruch völlig ausschließen will. Was ist
das denn? Beschäftigte in Betrieben mit 15 oder weniger
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sollen von dieser Regelung nämlich ausgenommen werden. Es sind doch
aber gerade die kleinen Betriebe, wo es besonders
schwer bis unmöglich ist, eine freiwillige Freistellung
gegenüber dem Arbeitgeber durchzusetzen. Konkret
heißt dies, dass weiterhin über 5 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vom Gutdünken ihres Arbeitgebers abhängig sind. Meine Damen und Herren, das
ist nicht hinnehmbar!
({2})
Was das Familienministerium als bessere Verzahnung
von Pflegezeit- und Familienpflegezeitgesetz verkaufen
will, bedeutet im Endeffekt eine Verschlechterung. Frau
Schwesig, das möchte ich Ihnen auch gern erklären.
Bisher war die durch das Pflegezeitgesetz mögliche
sechsmonatige unbezahlte Freistellung eine die Familienpflegezeit - die bis zu 24 Monate dauern konnte ergänzende Möglichkeit. Der Gesetzentwurf regelt nun,
dass die Pflegezeit der Freistellung nach dem Familienpflegezeitgesetz vorgeht und auf die maximale Freistellungszeit von 24 Monaten angerechnet wird. Das ist also
faktisch eine Verkürzung. Auch das verschweigen Sie.
Davon einmal abgesehen, ist Pflege schwer planbar.
Zu Beginn der Familienpflegezeit wird festgelegt, wie
lange sie dauern soll. Und danach? Frau Schwesig stellt
sich, wie wir gerade gehört haben, einen fliegenden
Wechsel der Familienmitglieder vor. Ob das aber realistisch ist, ob die Familiensituationen, wie wir sie heute
haben, das überhaupt hergeben, wage ich zu bezweifeln.
Insgesamt gehen die Regelungen des Gesetzentwurfs
zulasten der Personen, die in prekären Arbeitsverhältnissen oder Teilzeit arbeiten. Für sie kommt nämlich eine
Reduzierung der Arbeitszeit aus finanziellen Gründen
oftmals überhaupt nicht infrage. Studien belegen, dass
Geringverdienende öfter die Pflege von Angehörigen
übernehmen als Gutverdienende, weil sie sich nämlich
die professionelle Pflege nicht leisten können und weil
die Pflegeversicherung nur einen Teil der anfallenden
Kosten trägt. Das Gesetz löst also weder das Problem
der Vereinbarkeit von Pflege und Beruf noch das der sozialen Ungleichheit bei Versorgungschancen. Das geht
nicht, meine Damen und Herren!
({3})
Der Gesetzentwurf verstärkt die soziale Spaltung und
geht vor allem zulasten von Frauen. Denn trotz steigender Beteiligung von Männern sind es immer noch überwiegend Frauen, die Angehörige und Bekannte pflegen.
Es sind überwiegend Frauen, die in prekären Arbeitsverhältnissen oder in Teilzeit arbeiten.
Über Ihren Gesetzentwurf freuen dürften sich die Arbeitgeber. Sie werden bei der Finanzierung nämlich völlig außen vor gelassen. Die Beschäftigten bauen Zeitschulden auf dem Arbeitszeitkonto auf, die sie später
abarbeiten müssen, und sie verschulden sich finanziell,
weil sie das Darlehen zur Aufstockung des Nettogehalts
zurückzahlen müssen. Da nützen Ihre wohlfeilen Worte,
Frau Schwesig, herzlich wenig. Die Kosten tragen diejenigen, die doch eigentlich entlastet werden sollen: Beschäftigte, die ihre Angehörigen pflegen.
Ganz im Sinne der bisherigen Pflegepolitik von CDU/
CSU und SPD sowie der vorherigen Bundesregierungen
wird die Hauptverantwortung für die Pflege ins Private
geschoben. Auch Sie sprechen wie Frau Merkel von dem
größten Pflegedienst, den wir haben, nämlich die Familien und die Angehörigen. Die Sicherstellung pflegerischer Betreuung wird so als Vereinbarkeitsproblem
individualisiert. Wir, die Linke, fordern, dass die Pflegeversicherung zukunftsfähig wird, um den pflegerischen
Bedarf abdecken zu können.
({4})
Eine echte Entlastung von Angehörigen und Pflegebedürftigen und auch ihrer persönlichen Beziehungen
wäre es, die professionelle Pflege zu stärken. Es geht mir
und meiner Fraktion nicht darum, die professionelle
Pflege und die Pflege durch Angehörige gegeneinander
auszuspielen. Aber Sie dürfen die Unterschiede doch
nicht einfach so vom Tisch wischen.
({5})
Pflege ist eine hochkomplexe und anspruchsvolle Tätigkeit. Wir alle fordern doch eine Verbesserung der Ausbildung in den Pflegeberufen. Gleichzeitig leisten die
Angehörigen natürlich einen enormen Beitrag für die
umfassende Versorgung. Sie kennen die zu pflegenden
Personen gut und können eine wichtige Ergänzung zur
professionellen Pflege sein.
Es darf hier nicht darum gehen, welche Form der
Pflege besser oder schlechter ist, sondern wir müssen die
Unterschiedlichkeit anerkennen und davon ausgehend
fragen, welcher Mix oder welches Pflegesetting, wie wir
es nennen, für alle Beteiligten richtig ist. Das gilt es herauszufinden und zu unterstützen.
({6})
Aber eine solche Offenheit lässt die Pflegeversicherung für viele nicht zu. Solange die Pflegeversicherung
nur einen Teil der anfallenden Kosten abdeckt, ist keine
wirkliche Entscheidungsfreiheit gegeben, nicht für die
Pflegebedürftigen und auch nicht für die Angehörigen.
Deshalb fordern wir nicht nur eine sechswöchige bezahlte Pflegezeit für Erwerbstätige, sondern auch eine
deutliche Anhebung der Leistungen der Pflegeversicherung, damit das gewünschte Pflegearrangement tatsächlich unabhängig vom Geldbeutel gestaltet werden kann.
Herzlichen Dank.
({7})
Das Wort erhält nun der Kollege Marcus Weinberg
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Wenn es denn so ist, dass die Menschlichkeit einer Gesellschaft daran zu messen ist, wie man mit
den Kleinsten, den Schwachen, den Kranken und auch
den Alten umgeht, dann kann man, glaube ich, mit Blick
auf diese Debatte und dieses Gesetz, mit Blick auf die
Debatte zuvor und auch mit Blick auf das Gesetz zur El6356
Marcus Weinberg ({0})
ternzeit, zum Elterngeld sagen, dass wir es geschafft haben, den Mensch wieder in den Mittelpunkt unserer Politik zu stellen. Das ist gut so für dieses Land. Ich glaube,
das zeigt auch eine neue Form des Umgangs und von
Menschlichkeit.
({1})
Frau Zimmermann, zwei Bemerkungen zu Ihrem Debattenbeitrag.
Erstens. Dieses Gesetz ist tatsächlich etwas Konkretes. Es ist mehr als nur Symbolpolitik oder Rhetorik,
dass wir es unterstützen, wenn Menschen sich einsetzen
und ihre nahen Angehörigen pflegen. Es wird konkrete
Veränderungen mit sich bringen. Wir stärken damit die
Menschen, die sich gerade im Bereich der Pflege engagieren.
Zweitens. Sie sagen, dass wir die Pflege ins Private
verschieben wollen. Nein, die Menschen wollen zu
Hause gepflegt werden. Es gibt viele Menschen, die zu
Hause andere pflegen. Wir unterstützen sie stärker dabei.
Das ist unser Ziel. Das ist mit dem Gesetzentwurf intendiert.
({2})
Insoweit bin ich froh über diese Debatte. Dem Leitgedanken, den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen,
kommen wir in dieser Frage etwas näher. Es ist so, dass
der Wandlungsprozess bzw. der demografische Wandel,
wie es heißt, einige Veränderungen mit sich bringen
wird.
Herr Kollege Weinberg, darf die Kollegin
Zimmermann Ihnen eine Frage stellen?
Sie darf mir immer Fragen stellen, gerne.
Vielen Dank, Herr Kollege Weinberg, dass Sie die
Zwischenfrage zulassen. - Ich habe eine Frage zum
größten Pflegedienst der Nation: zur Familie. Natürlich
ist es so, dass viele Menschen zu Hause gepflegt werden
wollen. Natürlich ist es so, dass das auch viele Menschen
machen. Es ist auch so, dass das viele Menschen machen
können. Aber können Sie sich vorstellen, dass es auch
viele machen müssen, weil sie sich etwas anderes nicht
leisten können?
Man muss ja immer die Frage stellen: Wie ist die
Pflegeversicherung aufgebaut? In der Pflegeversicherung gibt es ja das Teilkaskoprinzip. Wenn jemand gepflegt werden muss, sind damit also immer zusätzliche
Kosten verbunden. Wer nicht das eigene Häuschen oder
andere Dinge verkaufen möchte, wird dem Druck ausgesetzt, zu Hause pflegen zu müssen.
Der zweite Punkt, der mich interessieren würde: Können Sie sich vorstellen, dass Menschen in der Arbeitswelt in prekäre Situationen kommen, weil sie zu Hause
pflegen, und dass als Folge prekärer Arbeitsverhältnisse
Altersarmut entstehen kann? Ich finde, es ist nicht so
einfach, wie Sie sagen - dass man in der Familie pflegen
kann -, sondern das ist für die betroffenen Menschen,
vor allen Dingen für Frauen, mit deutlichen Nachteilen
verbunden.
({0})
Ich glaube, keiner von uns sagt, dass es einfach ist,
Menschen zu Hause zu pflegen. Das ist, glaube ich, die
größte Herausforderung für unsere Gesellschaft. Deswegen sollten wir dankbar sein, dass es viele Menschen
gibt, die nahe Angehörige zu Hause pflegen wollen.
Ich will dazu nur zwei Dinge sagen:
Erstens. Für 87 Prozent der Menschen ist es wichtig
oder sehr wichtig, dass ihre Erwerbstätigkeit im Sinne
des Zeitmanagements erleichtert wird, weil sie sich entschieden haben, einen nahen Angehörigen zu Hause zu
pflegen.
Zweitens. Fast alle alten Menschen wünschen sich, in
ihren letzten Lebensjahren in ihrer vertrauten Umgebung
bleiben zu können;
({0})
das ist unter dem Gesichtspunkt von Selbstbestimmtheit
und Selbstständigkeit wichtig.
Das heißt, es gibt einen Antrieb, innerhalb der Familie zu pflegen. Unsere Aufgabe ist es - ich komme gleich
auf die einzelnen Punkte, die Sie angesprochen haben,
zu sprechen, auch im Hinblick auf die gesetzlichen Veränderungen, die es schon gab, nämlich Pflegezeit und
Familienpflegezeit -, die Veränderungen so zu skizzieren und sie so zu gestalten, dass sie in sich schlüssig und
klar sind und wir gewisse Defizite, auf die ich gleich
ebenfalls zu sprechen komme, ausräumen können. - Ich
glaube, damit habe ich Ihre Frage beantwortet. Die einzelnen Aspekte würde ich Ihnen gerne anhand der Struktur des Gesetzentwurfs verdeutlichen; ich werde mich
dann immer auf Ihre Frage beziehen.
Für uns als CDU/CSU-Fraktion und für die Große
Koalition steht fest, dass es ein Leitgedanke sein muss,
die Menschen zu stärken, die zu Hause nahe Angehörige
pflegen. Dies ist ein Zeichen des familiären Zusammenhalts, der für unsere Gesellschaft wichtig ist. Das gilt
überall dort, wo Menschen füreinander Verantwortung
übernehmen, und betrifft den Umgang mit den Kleinsten
und den Umgang mit den Älteren.
({1})
Jetzt komme ich auf den ersten Ansatzpunkt von Frau
Zimmermann zu sprechen. Man muss sich fragen: Was
gab es bisher? Wir haben bereits 2008 und 2012 Bausteine zur Unterstützung der familiären Pflege auf den
Weg gebracht, nämlich mit dem Pflegezeitgesetz 2008
und mit dem Familienpflegezeitgesetz 2012. Dabei
spielten drei Komponenten, die die Ministerin schon anMarcus Weinberg ({2})
gesprochen hat, eine Rolle. Es gibt drei verschiedene
Phasen, die für diejenigen, die andere Menschen zu
Hause pflegen wollen, wichtig sind.
Die erste Phase ist eine kurzzeitige: die zehntätige
Pflegeauszeit. Sie ist beim unerwarteten Eintritt einer
Pflegesituation von Bedeutung, da eine solche Situation
die Menschen immer überfordert. Sie kommt nämlich
immer zum ungünstigsten Zeitpunkt. Außerdem befinden sich die Menschen dann in der schwierigen Situation, viele Dinge für einen Angehörigen schnell regeln
und organisieren zu müssen. Hier wurde der Rechtsanspruch geschaffen, zehn Tage von der Arbeit fernzubleiben.
Was es aber nicht gab, war finanzielle Unterstützung;
jetzt komme ich auf den nächsten Punkt, den Sie erwähnt haben, zu sprechen. Gerade für viele Menschen
mit niedrigem Einkommen war das ein Problem, weil sie
zehn Tage lang kein Geld verdient haben. In Zukunft
wird es die Möglichkeit geben, diese Lücke durch eine
Lohnersatzleistung zu schließen. Das ist eine Verbesserung. Insofern verbessert der Gesetzentwurf gerade die
Situation derer, die in einer prekären Situation sind und
kein hohes Einkommen haben.
({3})
Der zweite Punkt. Mittelfristig konnten sich Menschen für bis zu sechs Monate von der Arbeit freistellen
lassen. Auch hier gab es einen Rechtsanspruch; das ist
gut so. Wenn man sich sechs Monate lang freistellen lassen will, was möglich ist, gibt es aber ein Problem. Jetzt
komme ich wieder auf den von Ihnen genannten Punkt
zu sprechen. Sie haben nämlich gesagt: Viele können
sich das gar nicht leisten. - In Zukunft wird es die Möglichkeit geben, ein zinsfreies Darlehen über das Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben aufzunehmen. Das heißt, auch die finanzielle Absicherung
wird gestärkt, und zwar zusätzlich zu dem bereits bestehenden Rechtsanspruch. Auch das ist eine Verbesserung
des geltenden Gesetzes.
Der dritte Punkt betrifft die Familienpflegezeit. Hier
gab es zwar keinen Rechtsanspruch, aber die Möglichkeit, über einen Kredit - allerdings verbunden mit sehr
bürokratischen Hindernissen - zumindest die finanzielle
Situation abzusichern.
Mit der neuen Regelung wird es in Zukunft einen
Rechtsanspruch geben. Das heißt, es werden hier zwei
Dinge zusammengeführt: der Rechtsanspruch und der finanzielle Ausgleich. Dies geschieht unter dem Gesichtspunkt: Wie kann ich mehr Zeit und mehr Flexibilität in
der Frage der Vereinbarkeit von Beruf, Pflege und Familie erreichen? Diese drei Komponenten werden nun zusammengebracht.
Es war unser Ansatz in der Großen Koalition, zu sagen: Wir haben drei Bausteine, die für sich genommen
gut sind. Aber wir müssen sie jetzt zusammenbringen.
Pflege kann nicht alleine gesehen werden, sondern
Pflege muss von einer kurzfristigen Wahrnehmung der
Dinge bis hin zu einer langfristigen Aufgabe in der Familie organisiert werden. Deswegen haben wir gesagt:
Wir müssen Rechtsansprüche definieren, finanzielle Sicherheiten schaffen und als dritte Komponente die gesellschaftliche Veränderung mit aufnehmen.
Ein Beispiel hierfür ist die Pflege des Stiefvaters als
nahem Angehörigen. Es ist etwas paradox, zu sagen: Der
Vater kann gepflegt werden, aber der Stiefvater nicht. Es
gibt leider Fälle, in denen der Vater, als die Kinder drei
oder vier Jahre alt waren, die Familie verlassen und
möglicherweise nie Unterhalt gezahlt hat. Trotzdem besteht für die Kinder die Möglichkeit, den Vater als nahen
Angehörigen zu pflegen. Aber die Pflege des Stiefvaters,
der sich um die neue Familie gekümmert hat, durch die
Stiefkinder fiel bisher nicht unter die Pflege eines nahen
Angehörigen. Deswegen ist es eine gute Erweiterung,
dass auch Stiefeltern in die Regelung mit den nahen Angehörigen aufgenommen werden.
({4})
Pflegebedürftige Kinder brauchen oftmals eine besondere Pflege. Diese besondere Pflege wird in erster Linie
in Einrichtungen angeboten. Da ist es richtig und konsequent, zu sagen: Auch bei pflegebedürftigen Kindern
kann die Familienpflegezeit genommen werden, selbst
wenn sie nicht zu Hause, sondern in einer Einrichtung
betreut werden, weil da die Kombination aus professioneller Pflege und Unterstützung der Betreuung durch die
Eltern wichtig ist. Auch diese Erweiterung war richtig
und wichtig. Damit haben wir ein Problem behoben.
({5})
Als Ergebnis der Verhandlungen zum Koalitionsvertrag
haben wir uns darauf verständigt, diese drei wesentlichen Bereiche zusammenzuführen.
Ich möchte am Ende noch eine Sache ansprechen,
nämlich die Auswirkungen der Familienpflegezeit auf
die Arbeitgeberschaft. Man muss überlegen: Wie kann
man es schaffen, dass auch die Wirtschaft, gerade der
Mittelstand, diese Pflegezeit positiv begleitet?
Dazu zwei Dinge: Erstens. Man hat erkannt, dass es
wichtig ist, die Menschen mit ihren Kompetenzen - sie
sind schließlich Fachkräfte - im Unternehmen zu halten.
Dem wird mit den jetzigen Regelungen Rechnung getragen. Deswegen ist für uns der Ansatz der Teilzeit wichtig. Wenn man in der Familienpflegezeit 15 Stunden in
der Woche arbeitet und die restliche Zeit freigestellt
wird, ist das auch für das Unternehmen gut, weil es über
die Teilzeit seine Fachkräfte im Unternehmen halten
kann. Das heißt, den Unternehmen geht das Know-how
der Mitarbeiter nicht verloren.
({6})
Zweitens. In der realen Betrachtung haben wir gesehen, dass durch die Pflege eines Angehörigen nicht nur
die Familie aus der Bahn geworfen wurde, sondern dass
diese neue Situation auch Konsequenzen auf das Verhältnis zum Arbeitgeber hat. Wir wissen, dass sich viele
Arbeitnehmer in den ersten Tagen haben krankschreiben
lassen, weil sie mit der Situation nicht mehr zurechtkamen. Ihre Motivation am Arbeitsplatz ließ durch die
neue Situation nach. Deswegen sind die Planungssicher6358
Marcus Weinberg ({7})
heit und die Stabilisierung finanzieller und zeitlicher Art
gut für die Unternehmen, weil die Motivation und die
Zufriedenheit mit der Arbeit bei den Arbeitnehmern steigen; denn sie wissen, dass es verbindliche Regeln gibt,
an die sich alle halten müssen. Dadurch bekommen sie
es besser hin - das wird niemals perfekt werden -, ihren
nahen Angehörigen zu pflegen.
Auch für die Unternehmen bedeutet es eine Entlastung, dass wir so die Beiträge zur Pflegeversicherung
stabil halten können. Man könnte ja sagen: Wenn wir die
familiäre Pflege nicht stärken, müssen wir möglicherweise die professionelle Pflege stärken, was durch eine
Erhöhung der Beiträge zur Pflegeversicherung geschehen könnte. Ich glaube, es ist nicht im Sinne des Mittelstandes und der deutschen Wirtschaft, die Beiträge zu erhöhen. Daher ist unser Gesetz ein gutes Zeichen.
({8})
Zurzeit sind 2,6 Millionen Menschen pflegebedürftig,
über 1 Million Menschen wird zu Hause betreut. Für das
Jahr 2050 müssen wir mit der doppelten Anzahl an pflegebedürftigen Menschen rechnen. In wenigen Jahren
wird die Wahrscheinlichkeit größer sein, auf der Straße
einen 80-Jährigen zu treffen als eine junge Mutter oder
einen jungen Vater mit einem Kinderwagen. Das heißt,
auf diese Entwicklung müssen wir uns einstellen.
Hier sind zwei Dinge zu nennen. Das eine ist der
Wunsch der Menschen, zu Hause in ihrer Umgebung gepflegt zu werden. Es ist gut, dass Menschen das in unserer Gesellschaft machen und auch machen wollen.
Das andere ist die Gewissheit, die sie brauchen - Stichwort Zeitmanagement -, dass sie sich in dieser schwierigen Situation die Zeit besser einteilen können und dass
sie zumindest ein wenig finanziell entlastet werden.
Kein Pflegefall und kein Mensch, der sich in der Pflege
engagiert, sieht das als Geschäftsmodell oder will damit
irgendwie Missbrauch treiben. Es hinzubekommen, die
Familie zu versorgen, der Erwerbstätigkeit nachzugehen
und sich um einen Pflegefall zu kümmern: Das ist der
höchste Anspruch, den man haben kann. Deswegen ist
es, glaube ich, wichtig, dass wir mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf jetzt auch den nächsten Schritt gehen.
Ich komme noch einmal zum Anfang zurück. Die
Menschlichkeit einer Gesellschaft spiegelt sich darin wider, wie wir mit den Schwachen, den Kleinen, den Kranken und auch den Alten umgehen. Deswegen ist es gut,
dass wir uns dieses Themas angenommen haben. Denn
ich glaube, die Vereinbarkeit von Pflege, Familie und
Beruf wird eine große Herausforderung sein. Dabei sind
wir auf einem guten Weg, der sicherlich noch einige weitere Schritte mit sich bringen muss. Aber der Gesetzentwurf ist gut, und ich bitte um Unterstützung dafür.
Herzlichen Dank.
({9})
Das Wort erhält nun die Kollegin Elisabeth
Scharfenberg für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Ministerin, Sie haben einen weiteren Gesetzentwurf vorgelegt. Das sieht zunächst einmal sehr fleißig aus, aber wenn man genauer hinschaut,
wird deutlich: Diese schnelle Aktion ist eine ganz
schöne Luftnummer. Damit wurde nur eine schlechte
Vorlage ein wenig repariert.
Mit der Vorlage meine ich das schlecht gemachte Familienpflegezeitgesetz von Kristina Schröder. Es wurde
schon gesagt: Dieses Gesetz haben exakt 135 Menschen
in Anspruch genommen, und zwar nicht etwa auf Berlin
beschränkt, sondern deutschlandweit. Das war ein Flop,
und ich befürchte, dass diese Nachbesserung genauso
floppen wird.
({0})
Was sind denn die Reparaturen, die Sie uns mit vielen
Worten anbieten? Es gibt jetzt einen Rechtsanspruch auf
die Familienpflegezeit. Das haben wir immer gefordert,
und es ist gut, dass er jetzt eingeführt werden soll. Aber
leider gilt dieser Rechtsanspruch nur in Betrieben mit
mehr als 15 Beschäftigten. Damit ist dieser Gesetzentwurf nicht geschlechtsneutral, wie es in der Begründung
heißt, Frau Ministerin; denn weitaus mehr Frauen als
Männer arbeiten in kleinen Betrieben.
Es gibt nun einen Anspruch auf ein zinsloses Darlehen. Das bedeutet in der Tat etwas mehr Flexibilität für
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer; denn bisher
gab es die Verpflichtung, vorab gezahltes Gehalt nachträglich wieder abzuarbeiten. Aber nach wie vor wird die
Hauptlast auf den Schultern der berufstätigen Pflegenden abgeladen. Sie müssen zuerst auf Gehalt verzichten.
Das Darlehen gleicht die Differenz zum vollen Gehalt
nur zur Hälfte aus. Es fehlt also letzten Endes ein Viertel
des monatlichen Lohns.
Nach der Pflegezeit müssen die pflegenden Angehörigen das Darlehen zurückzahlen. Das heißt, auch dann
geht wieder etwas vom monatlichen Einkommen ab, was
sonst der Familie zur Verfügung steht. Im Klartext heißt
das, weiter auf Gehalt zu verzichten.
Geringverdiener ohne gut verdienenden Partner können sich das nicht leisten. Das sind in der Mehrheit wieder die Frauen.
Wem also soll denn dieses Familienpflegezeitgesetz
überhaupt nutzen? Frau Ministerin, ich schlage vor, Sie
setzen Ihre rosarote Brille ab und wir schalten einmal
kollektiv den Weichzeichner aus. Was ist denn die Realität in diesem Land? Stellen Sie sich vor, ein älterer Mann
wird plötzlich pflegebedürftig, und seine Tochter nimmt
die zehntägige Auszeit, um eine Pflege für ihren Vater zu
organisieren. Dass es dafür jetzt eine Lohnersatzleistung
gibt, ist schön. Zehn Tage sind aber in einer solchen Situation nicht viel.
Wie geht es weiter in der realen Welt und im echten
Leben? Die Tochter hatte nie zuvor mit Pflege zu tun.
An wen wendet sie sich zuerst? Sie muss sich erst einElisabeth Scharfenberg
mal kundig machen. Der Vater muss begutachtet werden.
Ob er eine Pflegestufe bekommt oder nicht, ist entscheidend dafür, wie es weitergeht.
Die Tochter muss gemeinsam mit dem Vater besprechen, wie er sich seine Zukunft weiter vorstellt, aber
auch, wie sie in dieser Situation ihr weiteres Leben planen möchte oder überhaupt planen kann. Ob sich die beiden für eine stationäre Einrichtung oder für die Pflege
zuhause mit ergänzender ambulanter Pflege entscheiden:
In jedem Fall muss sehr viel erledigt werden. Die Versorgung des Vaters in dieser Zeit geht zusätzlich weiter.
Viele Anbieter müssen kontaktiert werden. Es muss besichtigt werden. Es muss eingeschätzt werden, und das
alles unter hohem Zeitdruck. Wie soll man das alles in
zehn Tagen schaffen?
Was ist aber, wenn der Vater dement ist und gar keine
Pflegestufe erhält? Die Tochter hat dann keinen Anspruch auf das Pflegeunterstützungsgeld, also auf die
zehntägige Lohnersatzleistung. Die Tochter hat dann
auch keinen Anspruch auf die Familienpflegezeit. Heute
leben etwa 1,1 Millionen Demenzkranke in Deutschland
in privaten Haushalten. Alle möchten so lange wie möglich in der vertrauten Wohnung oder in der Nachbarschaft bleiben. Alle brauchen Unterstützung. Aber:
Wenn keine Pflegestufe vorliegt, müssen die pflegenden
Angehörigen alleine eine Lösung finden. Dann lassen
Sie als Große Koalition genau diese Menschen weiterhin
im Regen stehen.
({1})
Warum, Frau Ministerin, denken Sie die Dinge nicht
endlich zusammen? Der neue Pflegebegriff, der auch
Demenzkranke berücksichtigen wird, kommt irgendwann. Vielleicht kommt er auch nie. Aber er ist eben das
Herzstück einer Pflegereform.
Ihre Familienpflegezeit soll zum 1. Januar 2015 in
Kraft treten; das ist in sechs Wochen. Was können wir da
noch groß beraten? Das ist ein Witz! Für Demenzkranke
und ihre Angehörigen wird diese Familienpflegezeit
nicht gelten. Das ist nicht der einzige Stolperstein. Was
passiert, wenn sich jemand für die häusliche Pflege entschieden hat? Die Familienpflegezeit ist auf zwei Jahre
begrenzt, und danach endet sie. Das Rückkehrrecht auf
die volle Arbeitszeit endet ebenfalls nach zwei Jahren.
Die Pflegerealität sieht aber ganz anders aus: Die Pflegezeit dauert oft viel länger als zwei Jahre. Ihre Regelungen passen einfach nicht in die Lebenswirklichkeit der
Menschen. Ihre Regelungen gehen an den Bedürfnissen
der pflegenden Angehörigen und der Pflegebedürftigen
vorbei.
({2})
Jede Pflegesituation ist anders. Darum brauchen Pflegebedürftige und pflegende Angehörige als Allererstes
eine gute und umfassende Beratung. Es gibt einige unterstützende Angebote für Pflegebedürftige und ihre Familien: Kurzzeitpflege, Tages- und Nachtpflege sowie
zusätzliche Betreuungsleistungen. Aber viele dieser Angebote sind oft nicht bekannt. Eine gute Beratung kann
hier Wunder wirken. Natürlich kann eine gute Beratung
allein nicht alles richten. Zusätzlich brauchen wir mehr
und bessere Unterstützungs- und Entlastungsangebote.
Wir brauchen ein gutes Netzwerk, ein Netzwerk, das für
alle zugänglich und überschaubar ist.
Ich fordere Sie auf: Denken Sie ganzheitlich! Machen
Sie hier nicht ein Low-Budget-Gesetz, das auf dem Rücken der pflegenden Angehörigen finanziert werden soll.
Die Lohnersatzleistung - das sind 100 Millionen Euro wird durch die Pflegeversicherung finanziert. Das Darlehen kostet Sie im nächsten Jahr 1,3 Millionen Euro. Ich
wiederhole: 1,3 Millionen Euro kostet dieses Gesetz
diese Regierung. Das finde ich unlauter. Denken Sie
ganzheitlich! Arbeiten Sie nicht einfach ohne Sinn und
Verstand Ihre Agenda ab, sondern tun Sie etwas im
Sinne der Pflegebedürftigen und der Angehörigen!
Danke schön.
({3})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Guten Morgen von
meiner Seite aus, liebe Kolleginnen und Kollegen und
liebe Gäste auf der Tribüne.
Die nächste Rednerin in der Debatte: Dr. Carola
Reimann für die SPD.
({0})
Guten Morgen, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Erst in der letzten Woche haben wir das
Elterngeld Plus als wichtigen Baustein für eine bessere
Vereinbarkeit von Kindern und Beruf hier im Bundestag
verabschiedet. Heute legen wir den nächsten Gesetzentwurf vor, diesmal zur besseren Vereinbarkeit von Pflege
und Beruf. Wir rücken damit das Thema Zeitpolitik erneut in das politische Rampenlicht und machen die Zeitkonflikte deutlich, die viele von uns Tag für Tag fast zerreißen.
Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist nicht nur
eine Herausforderung für Eltern. Den täglichen Spagat
zwischen Pflichten als Arbeitnehmerin und Arbeitnehmer auf der einen Seite und der Verantwortung für die
Angehörigen auf der anderen Seite müssen auch Beschäftigte bewältigen, die pflegen. Mehr als 2,5 Millionen Menschen sind pflegebedürftig. Sieben von zehn,
also 70 Prozent, werden zu Hause gepflegt, auch oder
ausschließlich von ihren Angehörigen. Deshalb sind Familien, wie gern gesagt wird, der größte Pflegedienst der
Nation. Das sage ich ohne Wertung und ohne das gegen
die professionelle Pflege ausspielen zu wollen.
Für Pflegende stellt sich aber das Vereinbarkeitsproblem sogar verschärft; denn der Pflege des Partners oder
der Eltern fehlt das Niedliche, das Hoffnungsfrohe, das
Eltern, die ihre kleinen Kinder auf dem spannenden Weg
ins Leben begleiten, täglich erleben. Es ist schwer, dem
eigenen Ehemann nach einem Schlaganfall bei den
kleinsten Verrichtungen helfen zu müssen. Es ist fast un6360
erträglich, die demente Mutter in das Reich des Vergessens entgleiten zu sehen. Kollegin Scharfenberg, Demenz ist in der Tat nicht immer von Anfang an mit einer
Pflegestufe versehen, aber in schweren Fällen sehr wohl.
({0})
Sechs von zehn Pflegenden geben an, dass sie die
Pflege sehr viel von ihrer eigenen Kraft kostet. Drei von
zehn fühlen sogar die eigene Gesundheit beeinträchtigt.
Das ist der alarmierende Befund der aktuell vorgelegten
Pflegestudie der Techniker Krankenkasse.
Zur Vereinbarkeit von Pflege und Beruf - eine große
Herausforderung - hat unsere Gesellschaft - da gebe ich
Ihnen recht - bislang noch keine ausreichenden Antworten gegeben. Ja, Beschäftigte haben Anspruch auf eine
zehntägige Auszeit für Pflege, aber dieser Auszeit fehlte
bislang der Lohnersatz, weil wir das in der letzten Großen Koalition so nicht beraten konnten. Ich finde gut,
dass jetzt beide Koalitionspartner dahinterstehen und das
für richtig halten; denn viele konnten diese Pflegezeit in
der Tat deshalb nicht nehmen.
({1})
Die Familienpflegezeit von Kristina Schröder aus der
letzten Legislaturperiode war sicher gut gemeint, aber
nicht gut gemacht. Angesichts der 135 Fälle pro Jahr ist
klar, dass das bei 3,5 Millionen Leuten, die in unserem
Land pflegen, kaum in Anspruch genommen wurde, weil
den Beschäftigten der Rechtsanspruch fehlte. Ferner haben sie diese Hilfe nicht leisten können, weil es keine
Lohnersatzleistung gab.
Mit dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf erleichtern
wir diese Vereinbarkeit. Die zehnjährige Pflegezeit
- Entschuldigung, natürlich die zehntägige Pflegezeit statten wir mit einem Lohnersatz aus. Es wird hier der
Eindruck erweckt, die zehn Tage reichen so gar nicht, es
müssen eher zehn Jahre sein. So ist das ist bei mir angekommen. Deswegen der Versprecher. - Diese zehn Tage
sind dafür da, um Krisen und Pflegesituationen, die sich
nicht so entwickeln, wie man es erwartet hat, abzudecken. Sie sind für eine Unterstützung in einer Notfallsituation gedacht. Das Pflegeunterstützungsgeld erlaubt
es jetzt den Pflegenden, sich einigermaßen frei von finanziellen Nöten auf das Organisatorische und die Unterstützung ihrer Angehörigen zu konzentrieren. Das ist
eine echte Verbesserung.
({2})
Auf die Familienpflegezeit bekommen die Beschäftigten einen Rechtsanspruch, damit sie diese Familienpflegezeit auch tatsächlich in ihren Betrieben und Behörden durchsetzen können. Die Möglichkeit, ein
Darlehen zu bekommen, verbessert die Inanspruchnahme. Das hilft den Beschäftigten. Weil wir die Gewährung des Darlehens zu einer öffentlichen Aufgabe
machen, helfen wir auch den Arbeitgebern.
Mit unseren beiden Gesetzesinitiativen, einmal zum
Elterngeld Plus, zum anderen mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf, verabschieden wir uns natürlich
auch noch ein Stück weit mehr vom Alleinverdienermodell und kommen in der Realität der Gegenwart unserer
Familien an; denn die meisten Frauen wollen mehr als
Kinder, Küche und Kanüle. Auch immer mehr Männer
wollen mehr familiäre Verantwortung übernehmen und
übernehmen sie auch - für ihre Kinder, für ihre Partnerin
und auch für ihre Eltern.
({3})
Für sie, Frauen wie Männer, wollen wir Wege aufzeigen, wie sie Beruf und familiäre Aufgaben unter einen
Hut bekommen können, ohne daran selbst zu zerbrechen.
Auch die Wirtschaft wird von unseren neuen gesetzlichen Regelungen profitieren; denn es geht nicht darum,
den Ausstieg aus Erwerbsarbeit zu organisieren, sondern
ganz im Gegenteil: Es geht darum, dass Beschäftigte den
Spagat zwischen Erwerbsarbeit und der Pflegeverantwortung besser bewältigen können und im Job bleiben.
Das gelingt heute noch zu selten. Von den nicht erwerbstätigen Pflegenden hat jeder neunte seine Arbeit aufgegeben. Viele gehen wegen der Pflege von Angehörigen
früher in Rente. Uns geht es deshalb auch darum, dass
die Beschäftigten mithilfe der neuen Regelungen leichter
im Job bleiben können und als Fachkräfte ihren Unternehmen erhalten bleiben.
Mir persönlich sind zwei Aspekte noch besonders
wichtig. Wir regeln erstmals eine Auszeit für Sterbebegleitungen. Wenn Eltern und Partner im Sterben liegen,
bekommen die Angehörigen das Recht, bis zu drei Monate ganz oder teilweise aus dem Job auszusteigen. Das
ist für viele eine wichtige Hilfe.
Gestern haben wir hier intensiv über mögliche rechtliche Regelungen zur Sterbehilfe und Sterbebegleitung
diskutiert. Dabei ist in ganz vielen Reden auf die Angst
Sterbender vor Einsamkeit und die Bedeutung der
menschlichen Begleitung hingewiesen worden. Deshalb
ist es konsequent, dass wir die Begleitung von Angehörigen mindestens von der rechtlichen Seite her leichter
machen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir modernisieren mit dem vorliegenden Gesetzentwurf den Angehörigenbegriff. Künftig können auch Stiefeltern,
Schwägerinnen, Schwäger und gleichgeschlechtliche
Partnerinnen und Partner die Familienpflegezeit in Anspruch nehmen. Auch diese Lösung orientiert sich stärker an der Lebenswirklichkeit.
Ich persönlich würde mir wünschen, dass wir bei den
Angehörigen noch einen weiteren Schritt machen, nämlich dass wir auch Freunde und Nachbarn unterstützen,
wenn sie die Pflege anderer auf sich nehmen. Diese Bereitschaft ist vorhanden. Hilfenetzwerke im Freundeskreis oder in der Nachbarschaft nehmen an Bedeutung
zu. Um das festzustellen, muss ich nur den Blick in mein
eigenes Büro richten: Die Mütter meiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wohnen in Hamburg, im Ruhrgebiet, in Bayern; meine eigene Mutter wohnt in Nordrhein-Westfalen.
Das tägliche Kümmern, das tägliche Nach-dem-Rechten-Sehen können wir gar nicht allein leisten. Das übernehmen in allen Fällen gute Nachbarn und Freundinnen.
Dieses Engagement von Nachbarn und Freundinnen, insbesondere bei gesundheitlichen Krisensituationen - da ist
das Pflegeunterstützungsgeld angesprochen worden würde ich gern nicht nur im Rahmen von Reden zum
bürgerschaftlichen Engagement loben, sondern auch
wirklich unterstützen;
({4})
denn für die Pflegeverantwortung ist nicht der Verwandtschaftsgrad entscheidend, sondern die Bereitschaft, ihr
verlässlich nachzukommen.
Danke.
({5})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Nächster Redner in der
Debatte: Jörn Wunderlich für die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! „Entwurf eines Gesetzes zur besseren
Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf“ - man liest
den Titel des vorliegenden Gesetzentwurfs und denkt,
ein Quantensprung vollzieht sich. In der letzten Legislaturperiode haben wir noch von der Vereinbarkeit von Familie und Beruf gesprochen. Jetzt haben wir die Pflege
in die Vereinbarkeit aufgenommen - denkt man im ersten Moment. Zu einigem hat meine Kollegin
Zimmermann hier schon ausgeführt. Ich möchte noch
auf einen Punkt eingehen, der aus Sicht der Linken ein
ganz wesentlicher ist.
Aus den Erfahrungen mit dem verfehlten Pflegezeitgesetz von Frau Schröder - wir haben es schon gehört;
es ist nicht in Anspruch genommen worden; die Zahlen
sind hier genannt worden - hat man nun den Rechtsanspruch auf Pflegezeit entwickelt. Dieser Rechtsanspruch,
der die Möglichkeit, eine Pflegezeit zu nehmen, nicht
mehr vom Willen des Arbeitgebers abhängig macht, ist
zwar ein guter Schritt; andererseits werden dabei
5,6 Millionen Beschäftigte außen vor gelassen.
Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes vom
31. Mai 2014 - diese Angaben sind also noch kein halbes Jahr alt - sind 5,6 Millionen Menschen in Betrieben
mit 15 oder weniger als 15 Mitarbeitern beschäftigt. Sie
alle haben durch die im Gesetzentwurf verankerte Kleinbetriebsklausel eben keinen Anspruch auf Pflegezeit.
Als Alternative bleibt ihnen dann nur, das Beschäftigungsverhältnis aufzugeben, wenn die Pflege nicht anders sichergestellt werden kann.
Von der ambulanten Pflege haben wir schon gehört.
Viele wollen zu Hause gepflegt werden, möchten also in
ihrem häuslichen Umfeld bleiben. Dieser Wunsch sollte
auch respektiert werden. Dies kann natürlich auch mit
professioneller Pflege sichergestellt werden. Nur, wer
kann sie sich leisten? Das sind die wenigsten. Die Menschen, die ihren Arbeitsplatz aufgeben müssen, um eine
andere Person zu pflegen, kommen ebenfalls ihrer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe nach, müssen dafür aber
weit stärkere Einschränkungen hinnehmen als diejenigen, die von dem Gesetz profitieren.
Bei den 5,6 Millionen Betroffenen sind noch nicht die
erfasst, die in Teilzeit arbeiten. Bei den geringfügig Beschäftigten handelt es sich um weitere 5 Millionen. Der
überwiegende Teil davon arbeitet in kleinen Betrieben.
Daher muss man noch draufsatteln. Da liegen mir noch
keine genauen Zahlen vor.
Die vorgeschlagene Kombination von Pflegezeit und
Familienpflegezeit läuft darauf hinaus, dass nach Ablauf
der Pflegezeit von höchstens sechs Monaten als Voraussetzung für eine Inanspruchnahme der Familienpflegezeit die Wochenarbeitszeit im Betrieb mindestens
15 Stunden betragen muss. Damit sind wir wieder bei
der magischen Zahl 15: 15 Stunden, 15 Beschäftigte.
Wenn aber die Pflegesituation dies nicht zulässt oder die
Arbeitsbedingungen nicht entsprechend gegeben sind,
sind möglicherweise die Voraussetzungen für die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses gar nicht da; dann entfällt der Anspruch. Andererseits können auch die Bedingungen für das Darlehen als vorrangige Leistung nicht
erfüllt werden. Es bricht also im Grunde alles zusammen. Anders ausgedrückt, die Kopplung des Anspruchs
auf Familienpflegezeit an die Voraussetzung der wöchentlichen Restarbeitszeit von 15 Stunden hat offensichtlich nur die berufstätigen, gutbezahlten Vollzeitbeschäftigten im Blick. Ziel ist, deren Ausstieg aus dem
Berufsleben - es hieß ja auch: nicht auf die Fachkräfte
verzichten - zu verhindern. Teilzeitbeschäftigte mit geringer Stundenzahl sind im Grunde von der Inanspruchnahme der Familienpflegezeit und damit auch des Darlehens ausgeschlossen, und das, obwohl das Darlehen, wie
es so schön heißt, vorrangig vor Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen ist. Im Baugewerbe und Gaststättengewerbe ist nahezu jeder zweite Beschäftigte von den
Segnungen der Familienpflegezeit ausgeschlossen, im
Handel immerhin jeder vierte.
Außerdem - das ist hier auch schon angeklungen vermisse ich in dem Gesetzentwurf Anreize, die sich auf
die Geschlechtergerechtigkeit beziehen.
({0})
Nach Angaben des DGB sind 75 Prozent der Pflegenden
weiblich. Ich glaube nicht, dass der Gesetzentwurf, jedenfalls in der Form, wie er momentan vorliegt, im Hinblick auf geschlechtergerechte Inanspruchnahme der
Pflegezeiten irgendetwas bewirkt. Aber ich hoffe erneut
auf die Ausschussberatungen und die Ausschusssitzungen. Irgendwann muss sich doch einmal etwas zum Positiven ändern. Und, wie wir alle wissen: Die Hoffnung
stirbt zuletzt.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({1})
Danke, Jörn Wunderlich. - Nächste Rednerin in der
Debatte: Astrid Timmermann-Fechter für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Das Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von
Familie, Pflege und Beruf steht für eine Vielzahl von
Verbesserungen - Verbesserungen, mit denen wir die
häusliche Pflege stärken, Pflegebedürftige unterstützen,
die pflegenden Angehörigen entlasten. Das entspricht
dem Wunsch vieler Menschen in unserem Land, vor allem vieler Pflegebedürftiger, die so lange wie möglich in
ihrer gewohnten Umgebung bleiben möchten. Dafür
führen wir die beiden schon bestehenden Gesetze, das
für die Pflegezeit sowie das für die Familienpflegezeit,
zusammen und machen sie mit zahlreichen Neuregelungen noch attraktiver.
So haben Arbeitnehmer künftig einen Rechtsanspruch, für die Pflege ihrer Angehörigen die Arbeitszeit
über einen Zeitraum von bis zu 24 Monaten auf mindestens 15 Stunden in der Woche zu reduzieren. Das heißt,
der bereits bestehende Rechtsanspruch gemäß Pflegezeitgesetz wird hier auch auf die Familienpflegezeit ausgeweitet. Dieser Rechtsanspruch soll zu Beginn des
kommenden Jahres in Kraft treten - ein Rechtsanspruch,
der vielen Menschen in unserem Land ein ganz kostbares Gut gibt, nämlich Zeit: Zeit für die Pflege, Zeit für
Zuspruch und Trost, Zeit für die kranke Mutter, für den
hilfsbedürftigen Vater, für die hochbetagte Großmutter
oder den schwer erkrankten Partner, Zeit also für Menschen, die uns lieb und teuer sind, die uns wichtig in unserem Leben sind, denen wir selber vieles verdanken.
Darum sind die pflegenden Angehörigen auch bereit,
dieses Opfer, das die Pflege ja in der Tat darstellt, für
ihre Verwandten zu erbringen.
Dazu zählt neben Zeit und Kraft auch Geld. So müssen Arbeitnehmer bislang meist Gehaltseinbußen in
Kauf nehmen, wenn sie im Rahmen des Pflegezeitgesetzes für die kurzfristige Organisation einer Pflegesituation in der Familie die bis zu zehntägige Auszeit nutzen.
Die Neuregelung sieht hier nun ein Pflegeunterstützungsgeld vor, mit dem Arbeitnehmer ähnlich wie beim
Kinderkrankengeld eine Lohnersatzleistung erhalten,
welche zulasten der Pflegekasse des zu pflegenden Angehörigen abgerechnet wird.
Finanzielle Einbußen entstehen aber erst recht, wenn
man seine Wochenarbeitszeit langfristig reduzieren
muss; denn mit einer 15-Stunden-Woche lässt sich in der
Regel der Lebensunterhalt oft nicht bestreiten. Erst recht
für eine Familie sind solche finanziellen Belastungen
eine extrem hohe Herausforderung.
({0})
Deshalb sieht das Familienpflegezeitgesetz hier ein zinsloses Darlehen vor, um den Verdienstausfall wenigstens
zu einem Teil zu kompensieren. Neu ist jedoch, dass dieses Darlehen nun auch für die bis zu sechsmonatige Pflegezeit in Anspruch genommen werden kann. Neu ist
auch, dass für dieses Darlehen keine Ausfallversicherung
mehr abgeschlossen werden muss. Das Ausfallrisiko trägt
hier der Bund allein. Härtefallregelungen sorgen im Falle
einer Langzeitarbeitslosigkeit oder im Todesfall für eine
soziale Abfederung.
Für die Darlehen sieht der Etat des Bundesfamilienministeriums für das kommende Jahr 1,3 Millionen Euro
vor.
Im Zuge der Neuregelung werden im Übrigen auch
die Arbeitgeber entlastet. Die Beschäftigten beantragen
jetzt nämlich die Darlehen direkt beim Bundesamt für
Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben. Der Arbeitgeber muss keine Wertguthaben mehr für seine Angestellten führen. Hier werden bürokratische Hürden abgebaut.
({1})
Die teilweise Freistellung von Arbeitnehmern hat zudem den Effekt, dass langfristig den Unternehmen, den
Betrieben ihre Fachkräfte mit all ihren wertvollen
Kenntnissen erhalten bleiben. Niemand soll seine Arbeit
aufgeben müssen, um einen Angehörigen zu versorgen.
Das neue Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von Familie,
Pflege und Beruf sichert somit Fachkräfte - angesichts
des demografischen Wandels mit den einhergehenden
Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt ein ebenfalls kostbares Gut.
Meine Damen und Herren, es kann für kein Unternehmen von Interesse sein, Mitarbeiter zu beschäftigen, die
sich den ganzen Tag über Sorgen machen müssen, was
mit ihren pflegebedürftigen Angehörigen passiert. Wer
kann da noch gute Leistungen erbringen? Hier ist eine
rechtlich klar geregelte Freistellung wesentlich ökonomischer - für alle Beteiligten.
({2})
Denn einen Pflegebedürftigen zu Hause zu versorgen, ist
harte, kräftezehrende Arbeit, die viele Angehörige nicht
selten an die Grenzen der Belastbarkeit führt. Dies auch
noch mit der eigenen Vollzeitberufstätigkeit zu vereinbaren, ist in aller Regel ein Ding der Unmöglichkeit. Wollen wir, dass sich diese Menschen in solchen Stresssituationen um ihre Angehörigen kümmern müssen? So
etwas kann niemand wollen, und es kann auch nicht im
Interesse der Gesellschaft sein. Denn wir wünschen uns
alle eine menschliche, eine humane Pflege.
Diesem Bedürfnis wollen wir auch mit einer weiteren
Neuregelung Rechnung tragen. So sieht der Gesetzesentwurf nämlich auch eine Freistellung für die Begleitung
von Angehörigen in ihrer letzten Lebensphase sowie für
die Betreuung von pflegebedürftigen schwerkranken
Kindern vor, die sich in stationären Einrichtungen befinden. Das ist eine wirkliche Hilfe für viele Menschen in
besonders schwierigen Lebenssituationen sowie eine
Entlastung, die auch unserem christlichen Menschenbild
entspricht.
({3})
Meine Damen und Herren, erfreulicherweise leben
wir immer länger und werden immer älter. Umso mehr
wird aber auch die Pflege langfristig eine immer größere
Herausforderung für unsere Gesellschaft. Von den rund
2,6 Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland werden
derzeit etwa zwei Drittel zu Hause betreut, ein Großteil
davon von Angehörigen. Für das Jahr 2050 erwartet das
Statistische Bundesamt sogar 4,5 Millionen Pflegebedürftige. Auch in Zukunft werden also Pflegebedürftige
von ihren Angehörigen gepflegt. Deshalb haben wir den
Begriff der Angehörigen ausgeweitet. Dieser umfasst
künftig auch Stiefeltern, Schwägerinnen und Schwäger
oder lebenspartnerschaftsähnliche Gemeinschaften. Damit tragen wir den vielfältigen Lebensmodellen in
Deutschland Rechnung - Lebensmodelle, in denen sich
Menschen in ihrem Leben gegenseitig begleiten, Lebensmodelle, in denen Partner füreinander einstehen und
Pflichten übernehmen. Diese Bereitschaft und diesen
Zusammenhalt wollen wir mit der Erweiterung des Angehörigenbegriffes unterstützen.
({4})
Die Neuausrichtung der beiden Gesetze für die Pflegezeit wie auch für die Familienpflegezeit bietet somit
nach dem Grundsatz „ambulant vor stationär“ eine Vielzahl neuer Möglichkeiten für eine bessere häusliche
Pflege - neue Möglichkeiten, die von einer nunmehr
größeren Zahl von Angehörigen in Anspruch genommen
werden können; auch das entlastet die Familien.
Mit seinen Neuregelungen liefert das Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf somit
einen weiteren wichtigen Baustein für die Stärkung der
Pflege insgesamt. Das ist in dieser Legislaturperiode
nicht nur eines der Schwerpunktthemen dieser Koalition,
sondern auch für die CDU/CSU ein ganz wesentliches
Anliegen. Denn gute Pflege, meine Damen und Herren,
ist eben nicht nur eine hervorragende und innovative medizinische Versorgung; das ist vor allem Liebe, Zuneigung und Aufmerksamkeit - eben all das, was Familie
und Partnerschaft, was unser Leben überhaupt ausmacht:
({5})
das verlässliche Füreinander-Einstehen auch in schweren Zeiten. Für dieses Familienbild steht auch die CDU/
CSU. Denn Familie ist nicht allein nur dort, wo Kinder
sind, sondern vor allem auch dort, wo die Menschen füreinander Verantwortung übernehmen. Ebendieses Familienbild wollen wir mit unserem neuen Gesetzentwurf
stärken. Wir wollen die Familie als Verantwortungsgemeinschaft unterstützen, damit sich die Menschen noch
besser und flexibler um ihre pflegebedürftigen Angehörigen kümmern können.
Als Gesellschaft können wir gar nicht dankbar genug
sein, dass so viele Menschen in unserem Land diesen anstrengenden, oft auch entbehrungsreichen Dienst für ihre
Angehörigen erbringen. Familie ist das, was uns prägt
und uns Geborgenheit gibt, was uns aufgehoben sein
lässt. Wie sich aber die Familien organisieren, müssen
wir ihnen selbst überlassen. Der Staat kann hier nur Rahmenbedingungen setzen. Dafür ist das geplante Gesetz
zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf ein sehr gutes, ein hervorragendes Beispiel; denn dieses Gesetz lässt mit seinen flexiblen Wahlmöglichkeiten
die Familien mit ihren individuellen Lebensverhältnissen selbst entscheiden, wie sie die Pflege ihrer Angehörigen organisieren wollen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Vielen Dank, Frau Kollegin Timmermann-Fechter. Nächste Rednerin in der Debatte: Katja Dörner für
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Berufstätigkeit und die Pflege von Angehörigen, von Menschen, die einem nahestehen, besser
oder überhaupt vereinbaren zu können, ist tatsächlich
eine drängende Herausforderung, der wir uns stellen
müssen und auf die wir politische Antworten finden
müssen. Insofern ist es wichtig, dass wir heute diese Debatte führen. Wir müssen aber endlich zu Lösungen
kommen, die auch praxistauglich sind und die Familien
im Alltag tatsächlich unterstützen. Da habe ich bei dem
vorliegenden Gesetzentwurf leider einige Fragezeichen.
({0})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, ich selbst komme
aus einem kleinen Dorf im Westerwald.
({1})
Als ich ein Kind war, da war die Sache klar - ich beschreibe es jetzt etwas scherenschnittartig -: Die Frauen
kümmerten sich um die Kinder, manche waren danach
halbtags berufstätig, viele auch nicht, und wenn, dann
haben sie ihren Job wieder aufgegeben, um sich um ihre
Mütter und Schwiegermütter, um ihre Väter und Schwiegerväter und auch um die kinderlosen Tanten zu kümmern, wenn diese pflegebedürftig wurden. Ich will hier
gar nicht die Frage stellen, ob das gut und gerecht war,
ob die Frauen, aber auch die Pflegebedürftigen sich das
so vorgestellt haben, obwohl man, glaube ich, diese
Frage sehr wohl stellen sollte. Das war einfach so, aber
so ist es eben nicht mehr bzw. wird immer weniger so
sein.
Wir leben im demografischen Wandel. Die Anzahl
pflegebedürftiger Menschen steigt. Frauen sind berufstätig. Sie wollen berufstätig sein, aber sie müssen es auch,
sonst ist Altersarmut vorprogrammiert. Viele Menschen
haben keine Kinder. Die Kinder vieler Menschen leben
ganz woanders. Trotzdem sagen viele - und das finde ich
sehr gut -, dass sie ihren Eltern, dass sie Menschen, die
ihnen nahestehen, etwas zurückgeben wollen, wenn
diese pflegebedürftig sind. Ich finde es sehr wichtig,
dass wir das unterstützen. Aber mit diesem Gesetz wird
uns das nicht weitergehend gelingen.
({2})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, in der vergangenen Legislaturperiode hat sich Kristina Schröder schon
die Zähne an einer Familienpflegezeit ausgebissen. Die
positiven Aspekte des damaligen Vorschlags sind zwischen Referentenentwurf und der Beschlussfassung des
Gesetzes komplett ausradiert worden. Das Gesetz war
ein Rohrkrepierer: Seit 2011 haben gerade einmal - wir
haben es schon gehört - rund 300 Menschen die Familienpflegezeit überhaupt in Anspruch genommen. Von
den damals im Haushalt eingestellten 400 Millionen
Euro flossen mickrige 17 000 Euro ab. Warum war das
so? Die Antwort ist: Das Gesetz ging trotz massiven Bedarfs an der Lebensrealität der Familien vorbei. Meine
Sorge ist, dass es dem Gesetz, das wir heute beraten, leider genauso ergehen wird.
({3})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, richtig ist, dass
die neue Familienpflegezeit einen zentralen Fehler des
Schröderschen Konzepts beseitigt: Es soll zukünftig einen Rechtsanspruch auf die Familienpflegezeit geben.
Das ist gut, aber es reicht eben nicht, um die Familienpflegezeit wirklich praxistauglich auszugestalten. Es
reicht vor allem nicht, um eine praxistaugliche Regelung
für alle Familien, also auch für Familien mit einem niedrigen Einkommen, zu gewährleisten, aber auch nicht, um
Menschen, deren nahe Verwandte weiter entfernt wohnen, tatsächlich zu unterstützen.
Ich möchte das an zwei Punkten erläutern. Die Familienpflegezeit in Anspruch zu nehmen, ist mit Gehaltseinbußen verbunden.
Statt diese aber über eine Lohnersatzleistung abzufedern, setzt die Familienministerin auf ein zinsloses Darlehen. Familien mit einem ausreichenden Einkommen
brauchen das nicht; sie werden das nicht in Anspruch
nehmen müssen. Vor allem Familien mit einem niedrigen oder mit einem mittleren Einkommen werden dieses
Darlehen in Anspruch nehmen. Es gibt also faktisch
keine finanzielle Entlastung für die pflegenden Angehörigen; die Belastung wird einfach in die Zukunft verschoben. Die Problematik verschärft sich massiv. Das erkennt man, wenn man mit in den Blick nimmt, dass der
Kredit nur über zwei Jahre hinweg gewährt wird. Dabei
ist die Zeitspanne, in der Angehörige ihre Familienmitglieder pflegen, oft deutlich länger. Nach zwei Jahren
stehen pflegende Angehörige da, haben kein Anrecht auf
Familienpflegezeit mehr; stattdessen haben sie einen
Kredit an der Backe, den sie abzahlen müssen. Liebe
Kolleginnen, liebe Kollegen, das ist aus meiner Sicht
keine gute Perspektive.
({4})
Auch Menschen mit einem geringen Einkommen müssen eine Familienpflegezeit in Anspruch nehmen können, ohne sich zu verschulden. Deshalb plädieren wir für
eine Lohnersatzleistung während der Familienpflegezeit.
({5})
Der zweite Punkt. In Anspruch nehmen können die Familienpflegezeit - wir haben es schon gehört - nahe Angehörige. Zu denen zählen jetzt auch Stiefeltern, Personen
in lebenspartnerschaftlicher Gemeinschaft, Schwägerinnen und Schwäger. Aber warum werden Nachbarn,
Freunde, Wahlverwandtschaften vom Anspruch auf die
Familienpflegezeit ausgeschlossen? Ich kann mich da
Frau Reimann anschließen, die das auch problematisiert
hat. Das macht in einer Zeit, in der Lebensformen vielfältiger werden und in der Wahlverwandtschaften eine
immer größere Rolle spielen, überhaupt keinen Sinn.
In meiner Heimat Bonn gibt es ganz großartige Mehrgenerationenwohnprojekte, wo gemeinsames Leben aller Generationen ohne biologisch-familiäre Bezüge stattfindet, wo es eine Verantwortungsübernahme in solchen
Zusammenhängen gibt. Es macht aus meiner Sicht überhaupt keinen Sinn, dass die Verantwortungsübernahme,
die Fürsorge für Menschen in solchen Konstellationen
hier nicht gewürdigt wird, sondern von der Familienpflegezeit explizit ausgenommen wird. Ich hoffe, dass sich
da im Gesetzgebungsverfahren noch etwas ändert. Aus
der SPD-Fraktion höre ich, dass es Bereitschaft gibt, sich
dahin zu bewegen. Dann kann es ja auch in der kurzen
Beratungsphase noch die Möglichkeit geben, an solch
wichtigen Stellen im Sinne der Familien, im Sinne von
Wahlverwandtschaften, im Sinne der Verantwortungsübernahme und Fürsorge im Kontext von Pflege noch etwas zu verbessern.
Vielen Dank.
({6})
Vielen Dank, Katja Dörner. - Nächster Redner in der
Debatte ist Paul Lehrieder für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Liebe
Kolleginnen! Liebe Kollegen! Pflegebedürftigkeit ist ein
Thema, das im Alltag gern verdrängt wird. Zwar ist sich
jeder bewusst, dass die Eltern wohl irgendwann einmal
auf Hilfe angewiesen sein werden; aber meist setzt man
sich erst dann wirklich ernsthaft mit dem Thema Pflege
auseinander, wenn der Ernstfall eintritt und ein Angehöriger plötzlich zum Pflegefall wird. Ein Unfall, ein
Schlaganfall, eine schwere Krankheit oder eben das Alter können der Grund dafür sein, dass Menschen pflegebedürftig werden.
In dieser Situation brauchen Angehörige kurzfristig
Zeit für die Organisation der neuen Situation. Sie sehen
sich vielen Herausforderungen und Fragen gegenüber
und müssen sich durch den Dschungel der Pflegestufen
und Richtlinien kämpfen: Wie beantragt man eine Pflegestufe? Was macht der Medizinische Dienst? Wann und
wo bekommt man das Geld? Wie verbleibe ich mit meinem Arbeitgeber?
Meist liegt der Wunsch nahe, die Pflege seines Angehörigen selbst leisten zu können, ohne finanzielle und
berufliche Nachteile fürchten zu müssen. Zudem entspricht es auch fast immer dem dringenden Wunsch des
Pflegebedürftigen, in der vertrauten Umgebung von einer nahestehenden Person gepflegt zu werden. Nach einer aktuellen Umfrage des Politbarometers erwarten
95 Prozent der Menschen von den Neuregelungen eine
erhebliche Verbesserung in der Pflege. Da bin ich also
etwas anderer Meinung als die Kolleginnen und Kollegen der Opposition, die gesagt haben: Es reicht nicht
aus. - Viele Menschen werden das als deutliche Verbesserung in der Pflege empfinden können.
({0})
Meine Damen und Herren, mit dem heute in erster
Lesung zu beratenden Entwurf eines Gesetzes zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf kommen wir dem im Koalitionsvertrag verankerten Ziel der
Vereinbarkeit von Pflege und Berufsleben nach. Unser
wichtigstes Ziel ist dabei, die Wertschätzung der familiären Pflege zu verbessern und die Pflege insgesamt besser
abzusichern, darüber hinaus den Menschen die Gewissheit zu geben: Es ist eine Pflege auch in der häuslichen
Umgebung möglich.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wollen wir den
schon bestehenden Rechtsanspruch auf eine zehntägige
Pflegeauszeit bei akut auftretender Pflegesituation eines
nahen Angehörigen mit einer Lohnersatzleistung analog
zum Kinderkrankengeld ausgestalten. Beschäftigte haben
künftig einen Rechtsanspruch auf Pflegeunterstützungsgeld. Dabei handelt es sich um eine Lohnersatzleistung
für eine bis zu zehntägige Auszeit, die Beschäftigte
kurzfristig für die Organisation einer akut aufgetretenen
Pflegesituation eines nahen Angehörigen in Anspruch
nehmen können. Die hierfür erforderlichen Mittel im
Umfang bis zu 100 Millionen Euro - es wurde bereits
darauf hingewiesen - werden von der sozialen Pflegeversicherung getragen.
Wir haben den Kreis der Berechtigten auf nahe Angehörige und Stiefeltern beschränkt. Wir sind anders als
Sie, Frau Kollegin Dörner, der Auffassung, dass wir diesen Kreis nicht willkürlich auf Wahlverwandtschaften
bzw. Wahlbeziehungen ausweiten sollten. Wir müssen
erst einmal die nahen Angehörigen, die bereit sind, Verantwortung zu tragen, mit dieser Leistung ausstatten und
dürfen den Kreis der Berechtigten auch im Interesse der
Arbeitswelt nicht beliebig ausweiten. Ich bitte daher um
Verständnis, dass es bei den nahen Angehörigen bleibt.
({1})
Wer einen nahestehenden Menschen pflegt, braucht
dafür Zeit und muss die Pflegetätigkeit mit seinem Berufsleben vereinbaren können. Daher haben wir einen
Rechtsanspruch auf Familienpflegezeit eingeführt, der
für Betriebe mit mehr als 15 Beschäftigten gilt. Die Kollegen Zimmermann und Wunderlich haben darauf hingewiesen, dass damit ein Fünftel der Unternehmen, also
Kleinbetriebe mit unter 15 Beschäftigten, nicht erreicht
wird. Das ist natürlich gewollt. Meine Damen und Herren, wir reden hier nicht von volkseigenen Betrieben mit
mehreren Hundert Beschäftigten. Wir reden über den
kleinen Handwerksmeister, der seine Mitarbeiter noch
mit Vornamen kennt. In vielen solcher kleinen Handwerksbetriebe ist durch das Zusammenwirken, das Diskutieren der Probleme natürlich ein anderes Verhältnis
vorhanden als in Großunternehmen und die Bereitschaft
der Arbeitgeberseite, auf die Belange des Arbeitnehmers
einzugehen, in vielen Fällen auch anders ausgeprägt.
({2})
Ich darf Ihnen versichern: Ich habe viele Handwerksmeister aus meiner Region vor meinem geistigen Auge. - Frau
Kollegin Zimmermann möchte eine Frage stellen.
Vielen Dank, dass Sie mich darauf hinweisen. Ich
habe aber auch Augen.
Ich wollte nur signalisieren, dass ich bereit bin, die
Frage anzunehmen.
Dann muss ich Sie also gar nicht mehr fragen, ob Sie
bereit sind. - Langer Rede kurzer Sinn: Was wollen Sie
ihn denn gerne fragen?
Vielen Dank. - Mich würde interessieren, wie Sie
denn den Beschäftigten in den Betrieben mit weniger als
15 Mitarbeitern - es geht ja nicht um eine Handvoll, sondern um Millionen von Menschen - erklären wollen, wie
sie die Pflege zu Hause gestalten sollen, weil es ja gerade diese Menschen sind, die bei den, wie man im
Volksmund sagt, sogenannten Krauterfirmen arbeiten?
Darunter sind ja auch Menschen, die möglicherweise
wenig Geld haben, und viele, die im Handel - nicht in
großen Kaufhäusern, sondern in kleinen Lebensmittelläden oder anderen Läden - unter prekären Beschäftigungsbedingungen arbeiten. Wie sollen die denn die
Pflege zu Hause gestalten? Sie sagen doch selber, dass
Sie es so wichtig finden, dass Menschen zu Hause gepflegt werden und dass der familiäre Zusammenhang
vorhanden ist.
Frau Kollegin Zimmermann, herzlichen Dank für die
Frage. - Zunächst einmal muss ich klarstellen: Ich kenne
keine Krauterfirma. Ich kenne viele Unternehmen, in denen tüchtig gearbeitet wird. „Krauter“ ist ein abwertender Begriff, der in meinem Vokabular nicht vorkommt.
({0})
Es gibt auch viele kleine Unternehmen, die genauso
auf die Belange der Arbeitnehmer eingehen wie große.
Wissen Sie, wir haben ein anderes Verständnis vom Verhältnis zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite.
Wir sind nicht so dogmatisch eingeengt wie Sie und Ihre
Partei. Wir sagen: Jawohl, der Arbeitnehmer hat die
Möglichkeit, zu sagen: Lieber Chef, ich brauche jetzt etwas Zeit, um in den nächsten sechs bis acht Monaten
meine Angehörigen zu pflegen. Wie schaut es aus? Kann
ich meine Zeit reduzieren? - Wenn der Arbeitgeber sagt:
„Das geht aber absolut nicht“, dann hat der Arbeitnehmer doch aufgrund des Fachkräftemangels, der mittlerweile in vielen Branchen herrscht - auch in denen, die
von Ihnen schmählich als Krauterfirmen bezeichnet wurden -, die Möglichkeit, zu sagen: Gut, lieber Chef, wenn
du mir das nicht gewährst, dann muss ich leider in ein
Unternehmen gehen, wo ich diesen Anspruch habe. Das heißt also, es wird in vielen Bereichen funktionieren. Schauen Sie sich die Realität an. Wie gesagt, ich
halte von dogmatischen, klassenkämpferischen Parolen
in diesem Bereich sehr wenig. - Frau Zimmermann,
bleiben Sie stehen. Ich bin noch nicht fertig.
({1})
Moment. Noch bin ich die Chefin hier. Ich weiß, dass
Ihnen das nicht leichtfällt.
({0})
Frau Zimmermanns Frage war noch nicht beantwortet. Deswegen kann Sie gerne stehen bleiben. - Herr
Lehrieder, bitte.
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. Danke für das
Entgegenkommen.
So bin ich.
Selbstverständlich wird das Gespräch in diesen Unternehmen zu sinnvollen Lösungen führen, die es in vielen Bereichen schon gibt. Im Übrigen darf ich darauf
hinweisen, dass ich in meiner letzten Rede vor einer Woche gesagt habe, dass in vielen Tarifverträgen durch die
Gewerkschaften für die Arbeitnehmer auch in Bezug auf
die Kinderbetreuung schon sinnvolle Regelungen vereinbart wurden. Viele arbeiten daran mit, und wir werden erleben, dass die Unternehmen, vor allem die kleinen Betriebe, in Zeiten des Fachkräftemangels darauf
achten werden, mit ihren Arbeitnehmern einen Modus
Vivendi hinzubekommen, sodass beide Seiten zufrieden
sind. Was nützt es dem Unternehmen, dem kleinen
Handwerksbetrieb, wenn der Arbeitnehmer durch Überlastung einen Burn-out bekommt, weil er versucht
- vielleicht ein paar Tage, vielleicht ein paar Wochen nebenher die Pflege eines Angehörigen zu managen. Damit ist dem Unternehmer auch nicht gedient.
({0})
Der Mitarbeiter ist dann sechs Wochen krank. Und wer
zahlt das? Das zahlt allein der Arbeitgeber. Ich glaube,
dass die Handwerksbetriebe clever genug sind, das zu
erkennen; zumindest sind das die, die ich kenne. Ich
wünsche Ihnen, Frau Zimmermann, dass es auch in Ihrer
Region solche Handwerksbetriebe gibt. Die sind bestimmt zu finden. - Jetzt bin ich mit der Beantwortung
fertig.
({1})
Danke, Frau Zimmermann. - So, jetzt geht es weiter
in Ihrer Rede, Herr Lehrieder.
Der neue Anspruch auf Familienpflegezeit kann, wie
bereits ausgeführt, mit dem bereits geltenden Anspruch
auf Pflegezeit verbunden werden. Mit dieser Regelung
leisten wir einen zentralen Beitrag zur Fachkräftesicherung. Das dient den Interessen der Arbeitgeber, weil das
Erfahrungswissen der Fachkräfte im Unternehmen bleiben kann.
Frau Kollegin Zimmermann, Sie haben die fehlende
Beteiligung der Arbeitgeber an den Kosten angesprochen. Wir haben heute den 14. November. Heute in zehn
Tagen, also am 24. November, werden wir zu dieser
Thematik - Herr Kollege Wunderlich, das haben Sie sich
gewünscht - eine sehr umfangreiche Anhörung im Ausschuss durchführen, zu der auch Arbeitgeberverbände
eingeladen sind. Es wird um die Kostenbeteiligung, aber
auch um die Probleme gehen, die die Arbeitgeber haben,
wenn es darum geht, Ersatzpersonal für die Mitarbeiter
einzustellen, die sich eine Auszeit für die Pflege nehmen
wollen. Es ist nicht für jedes Unternehmen leicht, für
eine begrenzte Zeit von einem halben Jahr bis zu 24 Monaten schnell mal eine Teilzeitstelle zu besetzen, weil
sich ein Mitarbeiter der Pflege widmen will.
({0})
Aber das muss möglich sein. In einem Unternehmen mit
über 15 Beschäftigen ist das nach unserer Auffassung
organisatorisch leichter zu bewältigen als in kleinen Unternehmen.
Darüber hinaus erhalten Beschäftigte, die Pflegezeit
oder Familienpflegezeit in Anspruch nehmen, zur besseren Absicherung ihres Lebensunterhalts während der
Freistellung einen Anspruch auf Förderung. Sie können
beim Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche
Aufgaben, kurz BAFzA, ein zinsloses Darlehen beantragen. Die Frau Ministerin hat darauf hingewiesen, dass
das Darlehen während einer Erkrankung selbstverständlich automatisch gestundet wird. Wenn aber wieder gearbeitet wird, dann muss dieses Darlehen, das aus Steuermitteln finanziert worden ist, um finanzielle Freiräume
für die Zeit der Pflege zu ermöglichen, natürlich sukzessive zurückgezahlt werden. Die Rückzahlungsmodalitäten werden so gestaltet, dass kein Arbeitnehmer überlastet wird. Das Darlehen soll in moderaten, zumutbaren
Raten zurückgezahlt werden können. Der Vorteil für die
Arbeitnehmer, Frau Kollegin Zimmermann, besteht darin, dass durch das zinslose Darlehen für die Zeit der
Pflege wirtschaftliche Freiräume gewährt werden. Das
sollte man nicht zu gering schätzen.
({1})
Dass eine Weiterentwicklung und Verzahnung des Familienpflegezeitgesetzes und des Pflegezeitgesetzes nötig
sind, verdeutlichen die zum Teil bereits vorgetragenen
Zahlen: Rund 2,6 Millionen Menschen in Deutschland
sind auf Pflege angewiesen. 1,8 Millionen Menschen
werden zu Hause versorgt, zwei Drittel von ihnen durch
Angehörige, der Rest durch ambulante Dienste. - In den
nächsten Jahrzehnten wird die Zahl der Pflegebedürftigen merklich steigen. Die Notwendigkeit einer besseren
Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf ist gerade
angesichts der demografischen Entwicklung in unserem
Lande groß. Ich bin ziemlich sicher, dass uns die Themen „Pflege“ und „demografische Entwicklung“ auch in
den nächsten Jahren periodisch immer wieder beschäftigen werden. Wir werden immer wieder nachjustieren
müssen.
Sie haben es angesprochen, Frau Scharfenberg: Das
geltende Gesetz hat bisher leider nicht so gut gegriffen.
Deshalb müssen wir es verbessern. Wir müssen prüfen:
Wie wirkt das Gesetz? In welchen Bereichen besteht in
zwei, drei, vier oder fünf Jahren weiterer Handlungsbedarf? Ich bin sicher: Auch da ist nicht das Ende der Fahnenstange erreicht.
({2})
Wir müssen auf das Problem der demografischen Entwicklung in unserer Gesellschaft Antworten finden. Das
ist natürlich primär Aufgabe der Politik. Deswegen werden wir das Thema hier immer wieder diskutieren.
Die Bereitschaft und das Interesse in der Bevölkerung
sind vorhanden. Die überwiegende Mehrheit der Berufstätigen möchte ihre Angehörigen, soweit möglich, selbst
betreuen. Auch von den Pflegebedürftigen wird das so
gewünscht.
Frau Präsidentin, ich habe gerade einmal fünf Sekunden überzogen und das Licht leuchtet schon auf.
({3})
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und freue
mich auf die Ausschussanhörung in zehn Tagen. - Herzlichen Dank.
({4})
Vielen Dank, Herr Kollege. Ich habe gegoogelt - ich
weiß, das darf ich eigentlich nicht -, was unter einer
Krauterfirma zu verstehen ist. Ich weiß, dass dieser Begriff im Süddeutschen, auch bei uns im Schwäbischen,
genau den Beiklang hat, den Herr Lehrieder angesprochen hat. Jetzt lese ich aber - das will ich zitieren -:
Unter einem Krauter versteht man im Osten
Deutschlands einen kleinen selbstständigen Handwerker, oft allein oder nur mit wenigen Angestellten arbeitend. Die Bezeichnung wird heute oft herabsetzend als Synonym für „unseriös arbeitend“
verwandt. Das kenne ich
- sagt jemand aus dem Osten von früher in dieser Form nicht unbedingt.
Also, wir sind eine vielfältige, bunte Republik Deutschland.
({0})
Die nächste Rednerin in der Debatte ist Petra Crone
für die SPD.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Gäste auf den Tribünen! Jetzt haben wir festgestellt, dass nicht nur die Opposition, sondern auch die
Koalitionsfraktionen recht haben. Wunderbar. Es ist alles geregelt.
({0})
Ich habe mir Ihren Änderungswunschkatalog und Ihre
Kritik zu dem heute eingebrachten Gesetzentwurf genau
angehört, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition. Einiges davon ist bedenkenswert - ohne Frage -,
aber einiges - das muss ich schon sagen - ist reichlich
überzogen. Wenn Sie ganz genau hinschauen, dann müssen Sie zugeben: Dieser Entwurf eines Gesetzes zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf hat
seinen Namen wirklich verdient.
({1})
Das kann ich gleich auch noch belegen.
({2})
Das ist keine Luftnummer. Wir haben vor drei Jahren
das Gesetz über die Familienpflegezeit verabschiedet.
Das allerdings war ein zahnloser Tiger: Es gab keinen
Rechtsanspruch und stattdessen jede Menge Kleingedrucktes.
({3})
Wer die Not kennt, die Angehörige umtreibt, die dem
Wunsch von pflegebedürftigen Angehörigen nachkommen und sie pflegen wollen, der muss zugeben, dass
Ministerin Manuela Schwesig den vorliegenden Gesetzentwurf richtig angegangen ist, indem sie einen
Rechtsanspruch und Lohnersatzleistungen während einer zehntägigen Auszeit verankert hat, zudem einen
Kündigungsschutz und die Möglichkeit, die Arbeitszeit
bis zu 24 Monate lang zu verringern. Das ist ein Riesenunterschied.
({4})
Es ist kein Wunder, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dieses Angebot vorher nicht angenommen
haben. Jetzt geben wir ihnen ganz andere Möglichkeiten.
Deswegen finde ich die Kritik überzogen.
({5})
Endlich wird die wichtige Aufgabe, die Angehörige
mit der Pflege übernehmen, erleichtert. Pflege ist eine
Aufgabe, die unsere allergrößte Hochachtung verdient.
Mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf schaffen wir
endlich realistischere Bedingungen. Arbeitnehmer und
Arbeitnehmerinnen müssen ihre finanziellen Einbußen
nicht länger alleine tragen. Der aufgezwungene Abschluss
einer privaten Versicherung wird zurückgenommen. Damit
wird privates Engagement von Angehörigen nicht länger
bestraft. Außerdem kommen wir dem Wunsch vieler Angehöriger entgegen, die gerne zu Hause pflegen möchten.
Auch in meinem Wahlkreis ist es so - wir haben das
Thema vorhin schon angesprochen -, dass viele Unternehmen schon einen Schritt weiter gegangen sind und
betriebsinterne Vereinbarungen anbieten. Ich komme aus
Südwestfalen, einer ganz starken Wirtschaftsregion. Für
die mittelständischen Unternehmen dort ist das ein ganz
wichtiges Thema, weil sie ihre Fachkräfte nicht verlieren
wollen.
({6})
Deswegen unterstützen sie Vorhaben für eine bessere
Vereinbarkeit von Pflege und Beruf.
({7})
Solche Regelungen gibt es aber auch überregional. Rewe
und Real zum Beispiel bieten auch betriebsinterne Vereinbarungen an.
Lebensnah und realistisch ist es auch, entferntere Angehörige zum Empfang von Pflegegeld zu berechtigen.
Immer öfter wohnen Kinder nicht mehr in der Nähe, sind
Pflegebedürftige alleinstehend. Wir müssen verlässliche
Strukturen fördern, damit Angehörige gepflegt werden
können, auch unabhängig vom ehelichen Status. Ehrlich
gesagt - da gebe ich meiner Kollegin Carola Reimann
recht -: Vielleicht müssen wir den Personenkreis noch
ausweiten.
Ich freue mich aber auch besonders über die Möglichkeit für Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, ihre Angehörigen in den letzten Wochen zu begleiten, auch
wenn diese in Hospizen leben. Wir haben gestern eine
Debatte darüber geführt und immer wieder betont, wie
wichtig es ist, Angehörige auf dem letzten Weg zu begleiten und sie würdevoll sterben zu lassen.
Ich glaube, wir alle sind uns einig, dass die bisherigen
Regelungen zur Vereinbarkeit von Pflege, Familie und
Beruf nicht ausreichend waren. Mit Blick auf die Zukunft brauchen wir deutlich mehr Maßnahmen. Die Betroffenen brauchen flexible Lösungen für ihre individuellen pflegerischen und beruflichen Herausforderungen.
Liebe Kollegen und Kolleginnen, das Thema Pflege
ist durch die demografische Entwicklung in unserem
Land eine riesengroße Herausforderung. Die Familienpflegezeit ist da ein Baustein eines ganzen Pakets. Wir
brauchen und schaffen weitere Bausteine. Wir haben
jetzt das Erste Pflegestärkungsgesetz vereinbart, mit
dem die Pflegeversicherung und ihre Leistungen modernisiert werden. Wir werden die Pflegeausbildung reformieren und attraktiver machen. Durch die Zuschussvariante bei der Förderung altersgerechten Umbaus werden
die Menschen in ihrem Wunsch unterstützt, so lange wie
möglich in den eigenen vier Wänden bleiben zu können.
Letztendlich aber ist ein Familienpflegezeitgesetz nur
so gut wie die Pflegestruktur in den Städten und Kommunen. Da brauchen wir eine gute, unabhängige Beratung, die betroffene Bürger aufsucht, haushaltsnahe
Dienstleistungen sowie ambulante Betreuung und Pflege,
auch Tagespflege. Wir benötigen weiter ein dichtes Netz
von Ärzten, Anbietern der Wohlfahrtspflege, privaten
und kommunalen Anbietern, Ehrenamt, Palliativmedizin
und Hospizen. Eine gute Sozialplanung sollte unser Ziel
sein.
Ich danke Ihnen.
({8})
Vielen Dank, Frau Kollegin Crone. - Die nächste
Rednerin in der Debatte ist Antje Lezius für die CDU/
CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Entwurf
eines Gesetzes zur besseren Vereinbarkeit von Familie,
Pflege und Beruf ist ein wichtiger Gesetzentwurf. Er
spiegelt wider, was wir von der CDU/CSU gemeinsam
mit der SPD im Koalitionsvertrag festgelegt haben. Wir
wollen gemeinsam dafür sorgen, dass Menschen, die
Angehörige pflegen, sich weiterhin auch ihrem Beruf
widmen können. Warum ist das notwendig? Der demografische Wandel sorgt für zahlreiche Veränderungen
und Herausforderungen in unserer Gesellschaft. In Zukunft werden wir nicht nur aufgrund der guten gesundheitlichen Versorgung deutlich älter werden als Generationen vor uns. Gott sei Dank!
Jüngere Menschen - gerade wenn sie gut ausgebildet
sind - gehen dorthin, wo sie meinen, die besten Bedingungen für ihren Lebensentwurf vorzufinden. Häufig
geschieht das zulasten gerade ländlicher Regionen. In
meinem Wahlkreis, in Rheinland-Pfalz, sehen wir dies
besonders deutlich. Der Bevölkerungsrückgang beispielsweise im Kreis Birkenfeld liegt deutlich über dem
Landesdurchschnitt. Deswegen müssen wir dem demografischen Wandel so umfassend wie möglich und auch
so schnell wie möglich begegnen.
Das Bundesfamilienministerium erwartet deutliche
Auswirkungen der Bevölkerungsentwicklung schon für
2020, wenn die geburtenstarken Jahrgänge aus dem ErAntje Lezius
werbsleben ausscheiden. Wir werden älter, und wir werden weniger - und das regional verschieden. Die Bundesregierung hat sich deswegen diesem Thema schon
2012 mit einer umfassen Demografiestrategie gewidmet.
In diese fügt sich der vorliegende Gesetzentwurf ein.
Die Pflege hat aufgrund der zu erwartenden Altersstruktur einen besonderen Stellenwert in der aktuellen
und der zukünftigen Gesetzgebung. Bundesgesundheitsminister Gröhe nennt Verbesserungen der Pflege ausdrücklich einen Schwerpunkt dieser Bundesregierung
und stellt dies mit dem Pflegestärkungsgesetz unter Beweis.
({0})
Dieses enthält zahlreiche Verbesserungen für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen. Das zeigt, wie bedeutend
rechtzeitige Weichenstellungen für die Zukunft sind.
Eine zunehmende Anzahl an Pflegebedürftigen erfordert auch einen zunehmenden Bedarf an Pflegekräften.
So rechnet das Gesundheitsministerium damit, dass ab
2015 pro Jahr durch die Pflegeversicherung bis zu
45 000 zusätzliche Betreuungskräfte für die stationäre
Pflege finanziert werden können. Das ist richtig und
wichtig, um die vorhandenen Pflegekräfte zu entlasten
und zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen.
Die häusliche Pflege ist aber deutlich wichtiger. So
werden zwei Drittel aller Pflegebedürftigen von ihren
Angehörigen liebevoll zu Hause gepflegt. In einer
menschlichen Gesellschaft haben wir Verständnis dafür,
dass viele ältere Menschen nicht aus ihrem gewohnten
Wohnumfeld gerissen werden möchten. Viele Pflegebedürftige fühlen sich wohler, wenn sie von ihren Angehörigen betreut werden, anstatt Fremden anvertraut zu sein.
Diese pflegenden Angehörigen sind aber heute häufig
selbst berufstätig.
Das Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von Familie,
Pflege und Beruf kommt sozusagen ergänzend von der
anderen Seite. Es schafft Erleichterung durch bessere
Bedingungen für diejenigen, die pflegen. Der Kern des
vorliegenden Gesetzentwurfs ist die Zusammenführung
von Pflege- und Familienpflegezeit. Uns als Union geht
es neben der Planungssicherheit für betroffene Arbeitnehmer und deren Familien aber auch um diejenigen, die
Arbeitsplätze schaffen. Uns als CDU/CSU liegen die Familien am Herzen, und wir haben auch ein offenes Ohr
für die Wirtschaft.
({1})
Ich möchte hier nicht unerwähnt lassen, dass es zu
diesem Gesetz in der Wirtschaft reale Bedenken gibt. In
meinem Wahlkreis, der ländlich geprägt ist, gibt es einige Unternehmen, die schon heute mit dem Fachkräftemangel erheblich zu kämpfen haben. Es ist dort bereits
jetzt sehr schwer, gute Leute zu bekommen. Von einem
mittelständischen kunststoffverarbeitenden Betrieb mit
160 Mitarbeitern werde ich zum Beispiel darauf hingewiesen, dass die Rekrutierung passender Ersatzkräfte im
Rahmen der Familienpflegezeit schwerfällt. Vor allem
ist das dann der Fall, wenn das Arbeitsverhältnis bei vorzeitiger Beendigung der Familienpflegezeit ebenfalls beendet werden könnte. Zu den Konditionen einer befristeten Beschäftigung oder eines Zeitarbeitsverhältnisses
sind beispielsweise ein Betriebstechniker oder eine Verfahrensspezialistin nicht zu bekommen.
Durch Wirtschaftsverbände wird insbesondere der
Rechtsanspruch auf die Familienpflegezeit kritisch gesehen. Dem werden die freiwilligen Vereinbarungen gegenübergestellt, die schon heute in vielen Betrieben üblich sind. Laut DIHK bieten bereits 75 Prozent aller
Unternehmen ab 1 000 Mitarbeitern gezielt Arbeitszeitmodelle an, die die bessere Vereinbarkeit von Pflege
und Beruf gewährleisten sollen. Seit der Einführung
der Familienpflegezeit im Jahre 2012 ermöglichen über
25 Prozent der Unternehmen mit über 20 Mitarbeitern
diese ihren Angestellten; 32 Prozent wollen in Zukunft
nachziehen.
({2})
Weitere Beispiele für die unternehmerische Kreativität, dem demografischen Wandel zu begegnen, finden
sich auch in regionalen Netzwerken, in Kooperationen
mit anderen Unternehmen oder kommunalen und kirchlichen Trägern. Die Unternehmen leisten dies im ureigensten Interesse: zur Bindung vorhandener Mitarbeiter
und erfolgreichen Gewinnung neuer Mitarbeiter. Das
sind Sorgen der Arbeitgeber, die wir genauso ernst nehmen müssen, wenn wir verantwortungsvolle Politik für
die Zukunft unseres Landes gestalten wollen.
Positiv sind die zahlreichen Verbesserungen, die der
Gesetzentwurf auch für die Unternehmen bringt. Die
Ankündigungsfristen für die Pflegezeit im Anschluss an
die Familienpflegezeit und umgekehrt von zwölf Wochen halte ich für richtig und zielführend. Wir geben
Arbeitgebern damit die Möglichkeit, sich mit ihrer Personalplanung auf die veränderten Bedingungen einzustellen. Als ehemalige Unternehmerin habe ich auch hier
für die Einwände der Unternehmer Verständnis, weil ich
selbst erlebt habe, wie komplex Personalplanung, unter
anderem auch im Schichtbetrieb, sein kann. Gerade kleinere Unternehmen, die mit einem übersichtlichen Personalstamm auskommen müssen, können oft niemanden
entbehren. Wir begrüßen, dass es nun auch für kurzfristige Auszeiten zur Organisation von Pflege klare Regeln
geben wird. Wer pflegt, braucht einen sicheren Lebensunterhalt.
({3})
Das bisherige Wertguthaben, das durch den Arbeitgeber verwaltet wurde, wird durch ein direktes zinsloses
Darlehen beim Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben ersetzt. Das ist uns wichtig; denn
auch dies entlastet besonders kleine Unternehmen von
unnötiger Bürokratie.
Unternehmen wie Mitarbeiter wünschen sich für die
Vereinbarkeit von Pflege und Beruf flexible Lösungen,
die beiden Seiten gerecht werden. Zwei Drittel aller Betriebe hätten sich darüber hinaus über die bereits bestehende Familienpflegezeit bessere Informationen gewünscht. Deswegen wünsche ich mir, dass wir mit
diesem Gesetz sorgsam umgehen und sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer besser und praxisnah darüber
informieren.
Um sicherzustellen, dass die getroffenen Regelungen
zielgerichtet umgesetzt werden, setzen wir weiterhin einen unabhängigen Beirat für die Vereinbarkeit von Beruf
und Pflege ein, was ich sehr begrüße. Durch die vorgenommene Evaluation können die Bedürfnisse angepasst
werden. Auch können wir über diesen Weg erfahren, wie
diese Instrumente angenommen und genutzt werden.
Ein wesentlicher Aspekt des Themas „Pflege und familiäre Fürsorge“ ist die Konzentration auf die Frauen,
die traditionell im Wesentlichen damit befasst sind. Uns
als Union ist bewusst, dass Frauen ihre berufliche Tätigkeit und Weiterentwicklung aus familiären Gründen oft
unfreiwillig hintanstellen. Hier wollen wir Hilfestellung
leisten. Gemäß der Zahlen der Initiative Neue Soziale
Marktwirtschaft legen über 40 Prozent der Frauen zwischen 20 und 39 Jahren ihre Berufstätigkeit auf Eis, um
Kinder zu betreuen oder Angehörige zu pflegen. Dabei
liegt der Anteil der Frauen, die in Deutschland familienbedingt auf Teilzeit ausweichen, mit 55 Prozent deutlich
über dem EU-Schnitt von 46 Prozent.
Ich habe in zahlreichen Gesprächen, die ich zu diesem
Thema geführt habe, die Sorge gehört, dass die Familienpflegezeit schon aus diesem Grund für Frauen problematisch sein könnte. Ich wünsche mir auch hier Ausgewogenheit. Was wir neben gesetzlichen Regelungen
aber genauso brauchen, ist ein gesellschaftlicher Bewusstseinswandel. Neben generationengerechten Lösungen brauchen wir hier einen gesellschaftlichen Wertewandel hin zu mehr Miteinander statt Nebeneinander.
Daher lautet mein Appell - das ist gleichzeitig meine
große Hoffnung -, dass Männer und Frauen genauso wie
Politik und Wirtschaft mit diesem Gesetzentwurf in
gleichwertiger Verantwortung die richtigen Weichen für
die Zukunft stellen.
Herzlichen Dank.
({4})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Letzter Redner in dieser Debatte: Erwin Rüddel für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Die Pflege ist in dieser Legislaturperiode
ein zentrales Thema. Die Koalitionsfraktionen haben
den Pflegebedürftigen, ihren Angehörigen und den Pflegekräften einen großen Wurf versprochen. Wir werden
Wort halten.
({0})
Wir setzen diesen großen Wurf Schritt für Schritt um.
Die Familienpflegezeit ist ein wichtiger Baustein eines
großen Gesamtkonzeptes. Ich sage ganz bewusst auch in
Richtung der Grünenfraktion: Pflege und die Hilfe, die
gebraucht wird, sind nicht schwarz-weiß zu sehen. Was
wir machen, ist Folgendes: Wir vergrößern einen Baukasten und gestalten ihn für all diejenigen, die in einem
Pflegefall Hilfe brauchen, flexibler.
({1})
Ich erwähne in diesem Zusammenhang, dass wir bereits das Pflegestärkungsgesetz 1 verabschiedet haben,
das deutlich mehr und flexiblere Leistungen für Pflegebedürftige und deren Familien mit sich bringt. Ich nenne
als Beispiel - das möchte ich ganz besonders betonen -,
dass wir dafür gesorgt haben, dass Pflegesachleistungen
in niederschwellige Leistungen umgewandelt werden
können, damit die Familien flexibler handeln können.
Ich nenne aber auch das Pflegestärkungsgesetz 2, das
2017 verabschiedet werden soll und mit dem wir deutliche Verbesserungen für Demenzkranke auf den Weg
bringen werden. Da heute in der Debatte der Pflegebedürftigkeitsbegriff angesprochen worden ist: Wir erproben bereits die Umsetzung des Pflegebedürftigkeitsbegriffes, und wir werden ihn spätestens 2017 im Gesetz
festschreiben.
({2})
Ich erwähne auch das Versorgungsstärkungsgesetz,
über das wir derzeit diskutieren, in dem es um konkrete
Verbesserungen der medizinischen Versorgung von Pflegebedürftigen geht. Ich erwähne in diesem Zusammenhang das Pflegeberufegesetz, das in nächster Zeit diskutiert wird und in dem es um die Verbesserung der
Pflegeausbildung und der Arbeitsbedingungen in der
Pflege geht.
Aber ich denke im Rahmen unserer Krankenhauspolitik auch an unsere Krankenhausgesetzgebung. Qualität
im Krankenhaus wird in Zukunft daran gemessen werden müssen, ob die Strukturen stimmen, ob es ein gutes
Entlassmanagement gibt, wie die Übergänge vom Krankenhaus in die Pflege sind, wie Palliativversorgung und
Hospizarbeit ausgestaltet sind.
Bei all dem, was wir in der Pflegepolitik machen,
steht für uns im Mittelpunkt: mehr Qualität, mehr Betreuung und mehr Hände für gute Pflege in Deutschland.
Ich habe es mehrfach gesagt: Es wird in dieser Legislaturperiode kein Gesundheitsgesetz geben, in dem der
Aspekt der Pflege keine Rolle spielen wird. Ich kann in
dieser Aufzählung auch das Präventionsgesetz erwähnen, in dem die Pflege wieder eine große Rolle spielen
wird.
({3})
Wir haben den Pflegebedürftigen und ihren Familien sowie all denen, die in der Pflege arbeiten, in unserem
Koalitionsvertrag ein Versprechen gegeben. Dieses Versprechen werden wir stringent einlösen.
In dieses Gesamtkonzept fügt sich der Entwurf eines
Gesetzes zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege
und Beruf sehr gut ein. Für meine Fraktion ist die UnterErwin Rüddel
stützung pflegender Angehöriger ein zentrales Anliegen.
Ältere Menschen haben Anspruch auf ein möglichst
selbstständiges und selbstbestimmtes Leben, und zwar
ungeachtet der Tatsache, dass Alter auch Leid und
Krankheit, Hilfe und Pflegebedürftigkeit bedeuten kann.
Schicksalsschläge wie Demenz treffen nicht nur die
Kranken, sondern ebenso auch die unmittelbaren Angehörigen, die sehr oft zugleich berufstätig sind.
Beschäftigte haben künftig einen Rechtsanspruch auf
Pflegeunterstützungsgeld aus der sozialen Pflegeversicherung. Wir haben bereits in der letzten Legislaturperiode die Familienpflegezeit eingeführt und sie mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf weiterentwickelt.
Die meisten Menschen wollen die Pflege naher Angehöriger nicht delegieren. Sie möchten ihre Angehörigen
nach Möglichkeit selbst betreuen und in ihrer gewohnten
Umgebung belassen. Umgekehrt gilt dies auch für die
meisten pflegebedürftigen Menschen: Sie bauen auf die
Unterstützung ihrer Angehörigen in den vertrauten vier
Wänden. Diesem Anliegen trägt der vorliegende Gesetzentwurf, auch in Verbindung mit all den Gesetzesinitiativen, die ich eben vorgetragen habe, mit einer Vielzahl
von hilfreichen Angeboten Rechnung. Dabei gewinnen
alle: die Pflegebedürftigen, die pflegenden Beschäftigten
und die Unternehmer.
Als Pflegepolitiker wünsche ich mir, dass wir diese
Angebote künftig durch noch mehr niederschwellige und
familiennahe Maßnahmen ergänzen und unterstützen.
Dabei denke ich an aufsuchende Angebote für ältere
Menschen, an Vernetzung und Kooperation in der Altenhilfe und Gesundheitsförderung sowie an die Stärkung
professioneller und ehrenamtlicher Strukturen in den
Kommunen.
Ein letztes Wort zu den Unternehmen; denn ich weiß,
dass es aus der Wirtschaft vereinzelt Kritik gibt. Kluge
und weitblickende Unternehmer haben längst erkannt,
dass ihnen die demografische Entwicklung, die langfristige Finanzierung unserer Sozialsysteme und der Bedarf
an qualifizierten Erwerbstätigen künftig gar keine andere
Wahl lässt, als die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf zu
verbessern. Deshalb sage ich den Kritikern, dass wir
durchaus im wohlverstandenen Interesse der Unternehmen handeln, und knüpfe daran die Hoffnung, dass unser
Vorhaben weiterführende und innovative Lösungen in
den Betrieben selbst befördert.
({4})
Vielen Dank, Herr Kollege - Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksachen 18/3124 und 18/3157 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Diese gibt
es nicht. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Jetzt gibt es wahrscheinlich einen Platzwechsel. Ich
bitte Sie, das zügig zu tun.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Konstantin von Notz, Luise Amtsberg,
Volker Beck ({0}), weiteren Abgeordneten und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie den Abgeordneten Halina Wawzyniak,
Herbert Behrens, Dr. Petra Sitte, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Telemediengesetzes - Störerhaftung
Drucksache 18/3047
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({1})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({2})
Innenausschuss
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Kultur und Medien
Ausschuss Digitale Agenda
Federführung strittig
In einer interfraktionellen Vereinbarung wurde festgehalten, dass dafür 38 Minuten vorgesehen sind. - Ich
höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat
Dr. Konstantin von Notz für Bündnis 90/Die Grünen.
({3})
- Der Fanklub ist auch schon da.
({4})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Voraussetzung für die Teilhabe in und an der digitalen Gesellschaft ist ein möglichst barrierefreier Zugang zum
Netz.
({0})
Dem steht aber eine 2010 durch ein BGH-Urteil entstandene Rechtsunsicherheit für die Betreiber von WLANNetzen entgegen.
Für meine Fraktion sage ich ganz deutlich: Wir müssen die verloren gegangene Rechtssicherheit endlich
wieder herstellen. Deswegen ist eine gesetzliche Regelung überfällig.
({1})
Vollmundig haben Sie in den letzten Wochen von Ihrer unterfinanzierten und ideenlosen Digitalen Agenda
geredet, liebe Kolleginnen und Kollegen der Großen
Koalition.
({2})
- Ah, Sie leben noch, das ist gut. - Aber gute Politik entscheidet sich nicht an wohlfeilen Reden auf irgendwelchen IT-Gipfeln, sondern daran, was man konkret tut. Ihr
Umgang mit dem Problem der Störerhaftung steht dabei
sinnbildlich für Ihr anhaltendes Fremdeln mit dem Digitalen.
({3})
Er steht für eine Verweigerungshaltung, den digitalen
Wandel unserer Gesellschaft aktiv zu gestalten - im
Sinne der Bürgerinnen und Bürger, aber auch für die
Wirtschaft in unserem Land, für Start-ups, kleine und
mittelständische Unternehmen und die Industrie.
Hier könnte die Regierung Merkel/Gabriel fernab aller Hochglanzagenden und Sonntagsreden tatsächlich
einmal etwas Richtiges tun und gesetzgeberisch gestalten. Aber sie tut es nicht, und wir müssen hier zum x-ten
Mal über dieses Thema diskutieren.
Unser Gesetzentwurf schafft eine Regelung sowohl
im Sinne derjenigen, die ihre WLAN-Netze anderen
Menschen gegenüber öffnen wollen - darunter Privatpersonen, Freifunkinitiativen, aber auch Betreiber von
Hotels, Gaststätten, Bahnhöfen, Flughäfen usw. -, als
auch im Sinne derjenigen, die diese Netze nutzen wollen, weil sie sich beispielsweise keinen eigenen Zugang
leisten können oder - Achtung, ganz lebenspraktisch wenn sie unterwegs arbeiten wollen.
({4})
Die Liste derjenigen, die sich für eine gesetzgeberische Reform einsetzen, ist lang. Klar ausgesprochen haben sich zahlreiche Landesparlamente, der Bundesrat,
die Justizministerkonferenz, die Freifunkinitiativen und
zahlreiche Wirtschaftsverbände. Und nicht zuletzt haben
wir uns selbst erst in der Enquete-Kommission und dann
im Deutschen Bundestag ganz klar dafür ausgesprochen,
meine Damen und Herren.
({5})
Alle fordern eine Reform. Niemand ist mit dem Status
quo zufrieden. Sie versprechen sogar diese Reform. Seit
Jahren aber geschieht nichts. Bis heute ist nichts passiert.
Sie haben in den letzten Wochen großspurig erklärt,
Sie wollen Deutschland zum „digitalen Wachstumsland
Nummer 1“ machen, und schaffen es nicht einmal, die
Störerhaftung zu beseitigen.
({6})
Wer soll denn Ihre digitale Wirtschaftspolitik mit all den
lustigen Schlagworten wie Industrie 4.0 ernst nehmen?
Wer soll Ihnen abnehmen, dass Sie die seit Jahren unbearbeiteten netzpolitischen Großbaustellen im Breitbandausbau, Datenschutz, Urheberrecht und bei der
Netzneutralität meistern werden, wenn Sie selbst beim
kleinen Einmaleins scheitern, meine Damen und Herren?
({7})
Ihr Unterlassen geschieht vorsätzlich. In Ihrem Koalitionsvertrag schreiben Sie selbst, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der SPD, dass Sie die Rechtssicherheit für
Betreiber von WLAN-Netzen herstellen wollen. Das
heißt, Sie attestieren dem Status quo Rechtsunsicherheit.
Doch was machen Sie? Ihre drei federführenden Minister verheddern sich erneut in einem Kompetenzgerangel,
das seinesgleichen sucht. Plötzlich wollen Sie Providerprivilegierung nur noch auf kommerzielle, nicht aber auf
private Anbieter ausweiten.
({8})
Sonst könnte möglicherweise jeder sein Netz öffnen.
Aber genau darum geht es. Herzlichen Glückwunsch!
({9})
- Herr Jarzombek, schön, dass Sie da sind.
Warum halten Sie das Funknetz einer Privatperson eigentlich für eine solche Gefahr, Herr Jarzombek,
({10})
das Netz bei McDonalds, in einem Hotel oder einem
Café aber nicht? Das ist doch offensichtlich widersprüchlich.
({11})
Warum haben Sie Angst vor einer Regelung, die überall
sonst auf der Welt zu keinerlei Problemen führt? Warum
schwadronieren die zuständigen Minister in völliger Unkenntnis des § 13 des Telemediengesetzes in der Bundespressekonferenz erneut von Einfallstoren für anonyme Kriminelle, die man schaffe? Das erinnert mich
sehr, Kollege Jarzombek, an das Vermummungsverbot
im Internet.
({12})
Ich sage Ihnen, warum das so ist. Hier kommen die alten
Ressentiments durch, die wir lange überwunden geglaubt haben. Auf die netzpolitischen Podien werden
gerne Sie geschickt, Herr Jarzombek.
({13})
Die Netzpolitik aber macht Volker Kauder. Das ist netzpolitische Steinzeit.
({14})
Die SPD freut sich jetzt. Aber auch Sie muss ich fragen: Wo stehen Sie eigentlich auf dem Feld?
({15})
Auf der letzten Bundespressekonferenz haben Sie noch
einen schnieken Antrag vorgelegt. Heute hört man von
Ihnen in der Debatte nichts mehr, außer subversiven
Kram von Herrn Gabriel. Das reicht nicht.
({16})
Wir fordern Sie gemeinsam mit den Kolleginnen und
Kollegen der Linken sowie einer höchst engagierten
Szene rund um die digitale Gesellschaft, aus deren Mitte
immer wieder Impulse für diese Debatte kamen und
kommen, auf: Ermöglichen Sie bei uns endlich, was
überall sonst auf der Welt bis auf China, Russland und
Nordkorea eine Selbstverständlichkeit ist!
({17})
Geben Sie sich einen Ruck, und beheben Sie mit uns gemeinsam diesen unerträglichen Zustand!
Ganz herzlichen Dank.
({18})
Vielen Dank, Herr Kollege von Notz. - Es ist schön,
dass das eine so spannende und lebendige Debatte ist.
Nächster Redner ist Hansjörg Durz, Augsburg-Land,
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Ich bin aus Augsburg-Stadt. Deswegen darf ich Augsburg-Land ganz herzlich begrüßen.
Frau Präsidentin, Sie haben Augsburg perfekt ausgesprochen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Heute in einem Monat wird die Deutsche Bahn ihren
Fahrgästen in allen 255 ICEs kostenlosen Internetzugang
über WLAN anbieten.
({0})
Das ist zunächst zwar nur beschränkt auf die 1. Klasse.
Aber geplant ist, das Angebot zu erweitern. Dahinter
steht der Wunsch der Kunden, der in Fernbussen bereits
erfüllt ist, auf ihren Reisen mobile Endgeräte kostenlos
nutzen zu können. Die Menschen wollen nahezu immer
und überall Zugang zum Netz haben.
Die Verbreitung WLAN-fähiger Endgeräte entwickelt
sich sowohl in Deutschland als auch global in einer
atemberaubenden Rasanz. Ende 2013 übertraf mit rund
7,5 Milliarden die Zahl der Geräte erstmals die Zahl der
auf der Erde lebenden Menschen. Experten gehen davon
aus, dass sich dieser Trend fortsetzt. Ende 2017 soll die
Marke von 20 Milliarden Geräten weltweit überschritten
sein. In Deutschland ist die Verbreitungsrate WLAN-fähiger Endgeräte bereits heute weit überdurchschnittlich.
Gerade der Trend hin zu Smartphones, Tablets oder
WLAN-fähigen Fernsehern hat dazu geführt, dass die
Adaptionsrate mit rund drei Geräten pro Kopf deutlich
über dem derzeitigen weltweiten Durchschnitt liegt.
Auch in Deutschland wird sich der Trend weiter fortsetzen. 2018 rechnen Experten mit einer Gerätezahl in
Deutschland von 400 Millionen.
Es existieren neben den eingangs erwähnten Bahnund Busreisen eine Vielzahl von Situationen, in denen
sich Menschen Zugang zum Netz über öffentlich zugängliche Hotspots wünschen, zum Beispiel in Einkaufszentren, auf Messen, in Museen, Bibliotheken oder im
Bereich der Gastronomie. Die wirtschaftlichen Potenziale
und Vorteile, die sich aus einer flächendeckenden
Versorgung mit WLAN-Zugängen ergeben, sind vielfältig.
({1})
Der flächendeckende Einsatz von WLAN-Technologie
wird ganz generell einen Beitrag zur digitalen Grundversorgung
({2})
sowie zur Versorgung mit breitbandigen Internetzugängen insbesondere in ländlichen Räumen leisten. Darauf
aufbauend können durch die bessere Verfügbarkeit von
WLAN innovative Dienste und Services besser und intensiver genutzt werden und sich dadurch neue Produkte
und Anwendungen schneller entwickeln und auf dem
Markt etablieren.
Auch der Einzelhandel kann durch die Bereitstellung
von WLAN für seine Kunden profitieren. Indem der stationäre mit dem elektronischen Handel verknüpft wird,
etwa durch die Nutzung mobiler Bezahlsysteme
({3})
oder die Bereitstellung zusätzlicher Produktinformationen durch QR-Reader, bieten sich hier neue Chancen. So
betont auch der Handelsverband Deutschland die Bedeutung von öffentlich zugänglichem WLAN - ich zitiere -:
„WLAN-Angebote könnten … dazu beitragen, dass Innenstädte wieder lebendiger und attraktiver werden.“
({4})
Im Tourismus ist die Bedeutung von WLAN riesig.
Nach einer Umfrage unter Hotelgästen wird die Verfügbarkeit von Internet mit weitem Abstand als die wichtigste zusätzliche Annehmlichkeit während eines Aufenthalts benannt, noch vor Fernseher und Badewanne.
Übrigens: Drei Sterne und mehr erhält nur das Hotel, das
seinen Gästen einen Internetzugang im Hotel zur Verfü6374
gung stellt. Der praktische Nutzen sowie die wirtschaftlichen Vorteile sind unbestritten. Da sind wir uns einig.
Dennoch: In Deutschland existieren vor allem im Vergleich zu vielen anderen führenden Industrienationen
zwar sehr viele WLAN-Zugänge, aber deutlich zu wenige offene WLAN-Hotspots, auf die jeder kostenfrei
zugreifen kann. Woran liegt das? Das wurde bereits ausgeführt. Fakt ist: Nach derzeitiger Rechtsprechung des
BGH riskiert in Deutschland derjenige, der ein offenes
WLAN betreibt, die Gefahr teurer Abmahnungen bei
Rechtsverletzungen Dritter. Diese Rechtsunsicherheit
für WLAN-Betreiber ist der wesentliche Hemmschuh
für die Bereitstellung solcher Hotspots.
Das Problem haben die Koalitionsfraktionen erkannt,
und sie greifen es im Koalitionsvertrag auf. Es findet
sich in der Digitalen Agenda wieder. Bundesminister
Gabriel hat angekündigt, in Kürze einen Gesetzentwurf
vorzulegen.
({5})
Nun haben die Oppositionsfraktionen einen eigenen
Gesetzentwurf vorgelegt, der das Problem lösen soll, indem das sogenannte Providerprivileg durch eine Ergänzung des Telemediengesetzes auf kommerzielle und private WLAN-Betreiber erweitert wird. Dadurch würden
Betreiber öffentlicher WLANs haftungsrechtlich gewerblichen Internetanbietern, die bereits heute von der
Haftung freigestellt sind, gleichgestellt. Um es vorwegzunehmen: Der vorgelegte Ansatz ist zu simpel; denn für
Rechtsverletzungen Dritter werden keine Lösungen vorgeschlagen. Das Thema wird im Antrag nicht einmal erwähnt.
({6})
Wir sind uns alle der Potenziale von WLAN bewusst,
und es herrscht Einigkeit hier im Deutschen Bundestag
über das Ziel, die Verbreitung von WLAN-Zugängen zu
erhöhen. Die Bundesregierung hat im Rahmen der Digitalen Agenda angekündigt: Wir werden Rechtssicherheit
für die Anbieter solcher WLANs im öffentlichen Bereich, beispielsweise Flughäfen, Hotels, Cafés, schaffen.
Diese sollen grundsätzlich nicht für Rechtsverletzungen
ihrer Kunden haften. - Sie hat aber auch erklärt: Wir
werden die Verbreitung und Verfügbarkeit von mobilem
Internet über WLAN verbessern. Dabei werden wir darauf achten, dass die IT-Sicherheit gewahrt bleibt und
keine neuen Einfallstore für anonyme Kriminalität entstehen. - In diesem Spannungsfeld bewegen wir uns.
({7})
Ich bin sicher, dass die Bundesregierung mit Hochdruck an einer Regelung arbeitet, die es erlaubt, die Vorteile einer flächendeckenden Verfügbarkeit von WLAN
im öffentlichen Raum zu nutzen, gleichzeitig aber einen
praktikablen Weg findet, dass sich die Nutzung nicht
komplett anonym abspielt.
Für Flughäfen, Hotels, Cafés, Gewerbetreibende usw.
wird es sicher Lösungen geben. Eine einfache Ausweitung der Providerprivilegierung auf jeden, auch privaten
Inhaber eines WLAN-Zugangs ohne jegliche Form von
Registrierung, wie auch immer die aussehen mag, kann
aber nicht die Lösung sein.
Herr Kollege.
Bei allen Vorteilen offener Internetzugänge: Wir müssen uns mit dem Gedanken auseinandersetzen, dass ein
höheres Maß an Anonymität beim Internetzugang auch
negative Folgen entfalten kann.
Herr Kollege.
Der Vorschlag der Opposition zu Ende gedacht - sofort -, bedeutet,
Das will ich nicht unterbrechen. Bedeutet was?
({0})
- dass sich im Zweifel jeder WLAN-Besitzer, auch
der kriminelle, auf das Providerprivileg zurückziehen
und nicht mehr haftbar gemacht werden kann.
({0})
So, jetzt fragt Ihr von allen Podien bekannter Kollege,
ob er Ihnen eine Frage stellen oder eine Bemerkung machen darf.
Bitte.
({0})
Ich habe einen großen Wissensbedarf, Herr Kollege
Durz. Ihr Vorredner, der Kollege von Notz, hat umfangreiche konkrete Kritik an einem Gesetzentwurf geübt.
Dabei ging es um die Unterteilung zwischen kommerziellen und nichtkommerziellen Anbietern. Jetzt möchte
ich einmal fragen, Herr Kollege Durz, ob ein entsprechender Gesetzentwurf vorliegt, sich in der Abstimmung
befindet oder Ihnen bekannt ist?
Mir ist nicht bekannt, dass ein Gesetzentwurf wie der,
der in der Rede erwähnt wurde, vorliegt.
({0})
Vielen Dank. - Jetzt geht es weiter in Ihrer Rede, Herr
Durz.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, um einerseits die Potenziale zu heben
({0})
und andererseits den beschriebenen Problemen zu begegnen, bedarf es einer intelligenten, aber auch pragmatischen Lösung.
({1})
Der entsprechende Gesetzentwurf der Bundesregierung
soll in Kürze folgen. Diesen sollten wir abwarten. Dann
haben wir wieder die Gelegenheit, uns über einen Vorschlag zu unterhalten, der dann aber alle Aspekte berücksichtigt.
Vielen Dank.
({2})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Nächste Rednerin in der
Debatte ist Halina Wawzyniak für die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen! Herr Durz, ich habe bis zur Hälfte Ihrer
Rede gedacht, dass Sie sich bei den Grünen und der Linken dafür bedanken, dass wir Ihre Arbeit gemacht und
einen Gesetzentwurf vorgelegt haben. Leider Gottes
musste ich zum Ende Ihrer Rede feststellen, dass Sie an
die Störerhaftung offensichtlich überhaupt nicht heranwollen.
Stellen Sie sich einfach einmal vor, Sie fahren mit Ihrem Auto eine Straße entlang. Dann passiert es: Ein kurzer Moment der Unachtsamkeit, zu spät gebremst, und
Sie fahren mit Ihrem Auto auf das Auto Ihres Vordermanns oder Ihrer Vorderfrau auf. Normalerweise ist das
eine sehr teure Angelegenheit. Aber zum Glück brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen; denn Sie waren
ja auf einer Straße unterwegs, und deswegen werden
nicht Sie für den Unfall belangt, sondern ein Dritter.
Schließlich hatte der Dritte Ihnen die Straße zur Verfügung gestellt, und hätte er dies nicht getan, hätten Sie darauf nicht fahren können und hätten auch keinen Unfall
bauen können. Ergo muss der Dritte für den entstandenen Schaden geradestehen und nicht Sie.
Jetzt sind Sie vielleicht verwirrt und sagen: Das ist
Quatsch. - Zu Recht; es ist Quatsch. Aber das ist der jetzige Zustand bei der Störerhaftung, beim Zugänglichmachen von WLANs für Dritte. Dieser Zustand ist natürlich
nicht zu akzeptieren.
({0})
Um es noch einmal jenseits des Autobeispiels deutlich zu machen: Wer heute für Dritte seinen WLAN-Anschluss öffnet und damit anderen den Zugang zum Internet ermöglicht, wird für Urheberrechtsverletzungen
verantwortlich gemacht und muss gegebenenfalls den
Schaden ersetzen. Dazu gibt es jede Menge Urteile des
Bundesgerichtshofes, und der sagt: Das Haftungsprivileg gilt nicht.
Dieser Zustand ist verheerend. Erst letzte Woche hat
der Internetverband eco aufgeschlüsselt, wie die Situation in Deutschland aussieht: Nur 15 000 von 1 Million
Hotspots sind frei zugänglich. In Deutschland kommen
auf 10 000 Einwohner deutlich weniger Hotspots als in
anderen Ländern. Als Konsequenz fordert eco - was
wohl? - die Abschaffung der Störerhaftung, und zwar zu
Recht.
({1})
Die Vorteile offener WLANs liegen auf der Hand:
Gewerbetreibende hätten die Möglichkeit, ihren Kunden
einen weiteren Service anzubieten, Kommunen könnten
offene WLANs aufbauen, und jeder könnte sein WLAN
für seinen Nachbarn öffnen - ohne Angst. Vor allem aus
sozialen Gesichtspunkten ist dies etwas, was ausgesprochen sinnvoll ist; denn Menschen mit geringem Einkommen könnten so die Möglichkeiten des Internets
kostenlos nutzen. Das wirkt sich insbesondere auf die
Bildungschancen von Kindern aus; denn Kinder ohne Internetzugang sind von Onlineangeboten, die kostenfrei
verfügbar sind, abgeschnitten. Offene WLANs könnten
also einen Beitrag dazu leisten, die digitale Spaltung der
Gesellschaft zu verringern.
({2})
Nachdem wir den Koalitionsvertrag gelesen hatten,
dachten wir zunächst, auch die Koalition habe begriffen,
dass die Abschaffung der Störerhaftung sinnvoll ist.
({3})
- Ja, Konstantin von Notz sagt es: „Zu früh gefreut“;
denn irgendwann kam die Digitale Agenda. Über die hat
er im Übrigen gesprochen und nicht über den Gesetzentwurf. Mit der Digitalen Agenda geht es wieder einen
Schritt zurück. Denn nach ihr soll die Störerhaftung nur
abgeschafft werden für gewerbliche Betreiber und Geschäfte, nicht aber für Private. Das ist einfach unverständlich und nicht nachvollziehbar.
({4})
Wir haben Ihre Arbeit gemacht. Wir und die Grünen
haben gemeinsam einen Gesetzentwurf vorgelegt, dessen Verabschiedung das Problem beheben würde. Wir
haben uns dabei auf Expertise der Digitalen Gesellschaft
bezogen. Wir können es ganz einfach machen: Wir überweisen den Gesetzentwurf, beraten ihn in den Ausschüssen, und noch am Ende dieses Jahres wäre es möglich,
die Störerhaftung abzuschaffen.
({5})
Der vorliegende Gesetzentwurf kommt Ihnen vielleicht bekannt vor: Er lag in der letzten Legislaturperiode schon einmal vor. Da hat er leider keine Mehrheit
gefunden.
({6})
Aber wenn Sie Ihren Koalitionsvertrag ernst nehmen,
dann könnte er diesmal eine Mehrheit finden. Wir können Sie einfach nur dazu auffordern, das gemeinsam mit
den Grünen und uns hier mit großer Mehrheit zu beschließen.
({7})
Wir schlagen als Lösung des Problems vor, die in § 8
des Telemediengesetzes geregelte Haftungsfreistellung
auf gewerbliche und nichtgewerbliche Betreiber von
WLANs auszuweiten. Zum einen wollen wir klarstellen,
dass auch Betreiber von WLANs als Diensteanbieter im
Sinne des § 8 Telemediengesetz gelten; damit würden
die dort aufgeführten Regelungen ebenfalls für diese
zutreffen. Dabei soll es egal sein, ob sie den Zugang absichtlich oder, aufgrund unzureichender Sicherungsmaßnahmen, fahrlässig anbieten. Es geht uns mit dem Gesetzentwurf darum, die Störerhaftung in diesem Bereich
zu beseitigen und die Haftungsfreistellung auch auf Ansprüche auf Unterlassung auszuweiten.
Noch einmal: Es ist sehr einfach, der Gesetzentwurf
liegt auf dem Tisch. Lassen Sie uns ihn heute überweisen! Lassen Sie uns ihn Anfang Dezember in den Ausschüssen beraten, und dann lassen Sie uns an dieser
Stelle den Koalitionsvertrag ernst nehmen und alle gemeinsam die Störerhaftung abschaffen.
Danke schön.
({8})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Nächster Redner in der
Debatte: Marcus Held für die SPD.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Die digitale Welt ist schon heute grenzenlos, sie
macht nicht Halt an Schlagbäumen und unterscheidet
keine Kontinente. Wir Bürgerinnen und Bürger sehen
den Zugang zum Internet heute als Normalität an. Dennoch ist der Zugang vielen Menschen verwehrt, oder sie
können nur sehr eingeschränkt auf das Internet zugreifen.
Deshalb müssen wir dringend sicherstellen, dass auch
in Deutschland ein flächendeckender Zugang zum Internet möglich ist, schrankenlos, räumlich wie auch zeitlich. Diese Aufgabe müssen wir sehr ernst nehmen; denn
nur so garantieren wir gesellschaftliche Teilhabe an der
Wissensvermehrung und somit auch an Bildung. Wir
können es uns nicht leisten, dieses enorme Potenzial für
unser Land nicht zu heben. Ich spreche ganz konkret die
Versorgungsproblematik im ländlichen Raum an; denn
das Internet kann in Deutschland leider noch immer
nicht flächendeckend in einer angemessenen Geschwindigkeit genutzt werden.
Um zügig Verbesserungen zu erreichen, brauchen wir
einfache, niederschwellige Lösungen, die auch Kleinanbieter wie Cafés, Campingplätze, Schulen oder auch
Museen erfüllen können. Wir dürfen keine zusätzlichen
bürokratischen Schranken aufbauen. Dies gilt auch und
gerade für den Mittelstand, für Angebote von Bildungseinrichtungen und Möglichkeiten in touristischen Zentren. Dass die Versorgung mit einem schnellen Internetzugang für die wirtschaftliche Stärke und für
Chancengleichheit bei der gesellschaftlichen Entwicklung in Städten, aber auch ganz besonders im ländlichen
Raum eine große Rolle spielt, zeigt uns der internationale Vergleich; denn andere Länder machen es uns heute
schon vor: In Italien beispielsweise wird der öffentliche
WLAN-Ausbau durch staatliche Zuschüsse gefördert. In
Estland hat man schon 1997 begonnen, alle Schulen mit
öffentlichem WLAN zu versorgen. Und in den USA hat
Barack Obama jetzt angekündigt, 3,2 Milliarden Dollar
investieren zu wollen, um alle Schulen in den Staaten bis
2018 zu versorgen.
({0})
In Deutschland gibt es kommunale Leuchttürme wie
zum Beispiel in Passau, wo nach der Jahrhundertflut
2013 kostenfreies ganzheitliches WLAN zur Verfügung
gestellt wurde
({1})
- da klatschen die Passauer, jawohl -, um die Wirtschaft
und die Einwohnerschaft entsprechend mit Wissen versorgen zu können.
Wenn wir Wettbewerbsfähigkeit ernst nehmen, dann
brauchen wir, meine Damen und Herren, flächendeckendes WLAN, um in Bereichen wie dem Tourismus international ernst genommen zu werden und gewerbliche
Ansiedlungen überall in Deutschland zu ermöglichen.
Gerade im ländlichen Raum ist es für Neuansiedlungen
elementar, arbeiten zu können, und das kann man heute
eben nur mit entsprechend schnellem Internetzugang.
Wie können wir dieses Ziel erreichen?
({2})
Mit Investitionen im gewerblichen Bereich. Aber auch
im privaten Sektor müssen Hürden genommen werden,
die eben schon angesprochen worden sind.
({3})
Hier spreche ich insbesondere das Thema der Störerhaftung an. Es wäre nicht nachzuvollziehen, wenn die
Störerhaftung für Gewerbetreibende abgeschafft würde,
sie aber für Private erhalten bliebe. Mit Privaten meine
ich zum Beispiel auch engagierte WLAN-Vereine, die es
in Städten und Gemeinden, gerade auf dem flachen
Land, sehr häufig gibt. Ich denke, das Know-how dieser
WLAN-Vereine sollten wir dringend nutzen; wir sollten
die Vereine positiv mit in die Verantwortung nehmen.
({4})
Die Störerhaftung muss für alle abgeschafft werden;
denn Anbieter von WLAN dürfen nicht dafür verantwortlich gemacht werden, was die Nutzer tun.
({5})
Derzeit sorgt die Regelung zur Störerhaftung dafür, dass
eben nicht beim Rechtsverletzer angesetzt wird, sondern
der Anbieter als Dritter in die Pflicht genommen wird.
Das muss sich ändern; ich glaube, da sind wir uns einig.
Ich danke deshalb im Namen der SPD-Fraktion für
die Vorlage des Gesetzentwurfs, der dem Ausbau der digitalen Infrastruktur einen Impuls gibt. Sie haben heute
einen Musterentwurf vorgelegt, der der digitalen Gesellschaft entspringt und somit auch gute, wichtige Impulse
der Zivilgesellschaft aufgreift. Selbstverständlich wird
der von Ihnen eingebrachte Entwurf in die weiteren
Überlegungen innerhalb der Koalition einbezogen. Denn
auch für uns, die SPD, ist es wichtig, die Nutzung der
Potenziale der digitalen Infrastruktur voranzubringen,
die aufgrund der bestehenden Rechtsunsicherheiten leider noch brachliegen. Wir werden uns also um Rechtssicherheit kümmern, was dringend geboten ist.
Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, die Potenziale der lokalen Funknetze auszuschöpfen und mobiles
Internet über WLAN für jeden verfügbar zu machen.
Denn das Recht auf freie und unbeobachtete Kommunikation hat in Deutschland Verfassungsrang. Natürlich
muss auch ermittelt werden, wenn es Anhaltspunkte für
Rechtsverletzungen gibt - das ist völlig klar -; aber das
kann nicht gleichzeitig bedeuten, dass alle Bürgerinnen
und Bürger, die freies WLAN nutzen, unter einen Generalverdacht gestellt werden; das muss auch für die digitale Gesellschaft gelten. Die Digitale Agenda hat dieses
wichtige Ziel des Koalitionsvertrags aufgegriffen.
Im Moment finden zwischen den Ressorts die Abstimmungen zur Vorlage eines entsprechenden Gesetzentwurfs statt. Die Beratungen hierzu sind noch nicht
ganz abgeschlossen, werden aber sicherlich in Kürze beendet sein, sodass hier ein entsprechender Vorschlag auf
den Tisch kommt. Sie können sich also darauf verlassen,
dass die Umsetzung dieses Punktes der Koalitionsvereinbarung für die SPD von großer Bedeutung ist, damit
offene Funknetze in öffentlichen Räumen auch in
Deutschland zur Normalität werden, so wie sie bereits
heute in vielen anderen Ländern in Europa und der Welt
Normalität sind.
Vielen Dank.
({6})
Vielen Dank, Herr Kollege Held. - Nächster Redner
in der Debatte: Axel Knoerig für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist heute alltäglich, dass wir in allen Lebenslagen online sind: Wir nutzen den Laptop am Flughafen, das
Smartphone beim Einkaufen oder das Tablet im Café,
um drahtlos im Internet zu surfen.
({0})
Dafür werden an vielen Orten WLAN-Netze bereitgestellt.
({1})
Die Oppositionsfraktionen haben nun einen Gesetzentwurf zur Änderung des Telemediengesetzes vorgelegt. Es geht dabei um die sogenannte Störerhaftung.
Diese bezieht sich auf die Inhaber von WLAN-Anschlüssen: Wer seinen Internetzugang anderen zur Verfügung stellt, muss für deren Rechtsverstöße haften. Das
betrifft zum Beispiel Familienmitglieder, Mitbewohner,
Gäste und Kunden.
Allerdings hat der Bundesgerichtshof entschieden,
dass man nur haften muss, wenn man seine Prüfpflichten
verletzt hat. Die Wahrung dieser Pflichten geschieht
durch Verschlüsselung und individuelle WLAN-Passwörter sowie durch Einwilligung der Nutzer in eine
Datenspeicherung. Die Opposition fordert nun, dass flächendeckend WLAN-Netze für jedermann frei zugänglich sein sollen.
({2})
Dazu will sie das Haftungsprivileg der Internetprovider
auf alle ausweiten, die ihren WLAN-Zugang für weitere
Nutzer öffnen.
Ich möchte das derzeitige Haftungsproblem an einem
Beispiel aus meinem Wahlkreis Diepholz - Nienburg I
veranschaulichen. Dort hat nämlich der Betreiber des
Hotels „Roshop“ in Barnstorf den Service der Nutzung
des WLAN-Netzes angeboten. Da die Gäste immer wieder illegale Downloads vornehmen, hat er schon zahlreiche Abmahnungen von Rechteinhabern erhalten.
Welche Möglichkeiten hat nun der Hotelier als Anschlussinhaber? Er bietet seinen Gästen den WLAN-Anschluss nicht weiter an und ist somit in der Hotelbranche
nicht mehr wettbewerbsfähig.
({3})
Oder aber, er bietet weiter freien Zugang zum WLANNetz an und muss ständig steigende Abmahnkosten bezahlen. Oder drittens, er vergibt an jeden Gastnutzer ein
individuelles Passwort und holt zugleich die Einwilligung zur Erfassung der Nutzerdaten ein. Im Falle eines
Rechtsverstoßes kann er so nachweisen, wer diesen begangen hat.
({4})
Für diese Variante hat sich der Hotelier in meinem Wahlkreis entschieden.
Doch selbst dieser bürokratische Aufwand entlässt
ihn nicht aus der Haftung. Das ist entscheidend. Als Anschlussinhaber muss er beweisen, dass er jede einzelne
betroffene Webseite nicht besucht hat. Das bedeutet
ständige Anwaltskosten und zusätzliche Belastungen in
einer weiterhin unsicheren Rechtslage.
({5})
- Und deswegen müssen wir gewerbliche WLAN-Inhaber wie den Hotelier in Barnstorf schützen.
({6})
In dieser Sache geht es grundsätzlich nicht nur um Urheberrechtsverletzungen, sondern vielmehr um den Datenschutz im Internet insgesamt. Doch das, Herr von Notz,
klammern Sie als Opposition in Ihrem Antrag völlig aus.
({7})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, zur Verdeutlichung möchte ich eine Zahl nennen, die uns aufschrecken lässt. Im vergangenen Jahr wurden rund
21 Millionen Menschen in Deutschland von Internetkriminellen geschädigt.
({8})
Wir von der Union fordern deshalb verschlüsselte Funknetze; denn im Gegensatz zu offenen Netzen schützen
sie vor Hackerangriffen, Wirtschaftsspionage und Datenklau.
Dieses Thema drängt. Die bestehende Rechtslage
muss den Entwicklungen im Netz angepasst werden.
({9})
Ich ergänze: Internetkriminelle dürfen sich nicht länger
hinter den Inhabern von WLAN-Anschlüssen vor Strafverfolgung verstecken können. Deswegen ist die Bundesregierung gefordert, zügig ihren Gesetzentwurf
vorzulegen. Wir sagen: Unsere Netzpolitik ist vorausschauend und auch verantwortungsvoll. Wir müssen alle
rechtlichen Seiten prüfen, und zwar zusammen mit allen
betroffenen Ressorts. Das unterscheidet uns von Ihnen,
Herr Notz, da Sie mit Ihrem Antrag im Grunde einen
Schnellschuss vorlegen.
({10})
Wir setzen lieber darauf, zusammen mit allen beteiligten
Akteuren einen ausgewogenen, umfassenden Gesetzentwurf zu erarbeiten. Ob Rechteinhaber, Internetprovider,
Anschlussinhaber oder WLAN-Nutzer, sie alle müssen
in einem Entwurf gleichermaßen berücksichtigt werden.
Doch Ihr Entwurf von den Grünen und den Linken geht
zulasten der Rechteinhaber und insgesamt zulasten der
Datensicherheit. Wir von der Union halten fest: Das
geistige Eigentum muss geschützt werden. Es darf keinen Freifahrtschein für Urheberrechtsverletzungen geben. Das ist gerade für den Forschungs- und Wissenschaftsstandort Deutschland außerordentlich wichtig.
({11})
Ein wichtiger Aspekt beim Thema Störerhaftung ist
außerdem die digitale Kompetenz der Nutzer. Jüngsten
Studien zufolge ist der Digitalisierungsgrad in Deutschland nur auf mittlerem Niveau. Da müssen wir ansetzen.
Wir stehen in der Verantwortung, Internetnutzer aufzuklären, damit sie ihren digitalen Umgang sicherer gestalten. Wir müssen die digitale Bildung und den verantwortungsbewussten Umgang mit IT-Systemen in allen
Altersstufen fördern. Schließlich sind in unserer heutigen Welt unsere Daten unser höchstes Gut.
Es wird schon seit Jahren gefordert, auch im Deutschen Bundestag den Internetzugang auf WLAN-Technik auszuweiten.
({12})
Wir wissen doch, dass hier im Regierungsviertel nicht
nur Mobiltelefone, sondern auch WLAN-Netze extrem
abhörgefährdet sind.
({13})
Daher bedarf auch dieses Thema, Herr Notz, einer umsichtigen Debatte.
Genauso muss uns bewusst sein, dass die sichere Vernetzung eine wesentliche Grundlage für unseren wirtschaftlichen Erfolg ist. Unser Ziel ist die bestmögliche
IT-Sicherheit zum Schutz unserer Unternehmen.
({14})
Dazu haben wir ein Projekt, das wir als Leuchtturmprojekt herausstellen, nämlich das Zukunftsprojekt Industrie
4.0, das aufzeigt, dass unsere Leitbranchen nur durch
weltweite Vernetzung, Digitalisierung und Internet international wettbewerbsfähig bleiben.
({15})
Das alles darf aber nicht dazu führen, dass wir durch
falsche oder übertriebene Sicherheitsbedenken Furcht
vor Big Data und der Digitalisierung entwickeln; denn
dann werden wir, wie unsere Bundeskanzlerin in diesem
Jahr auf dem IT-Gipfel vortrefflich formulierte, nicht zu
den Wertschöpfungsketten vorstoßen.
({16})
Das geplante IT-Sicherheitsgesetz zielt daher auf die
richtige Balance zwischen Schutz und Umsetzbarkeit
von Sicherheitsstandards ab.
Ich komme zu einem weiteren Aspekt, den der Gesetzentwurf der Opposition vernachlässigt, Herr Notz.
Sie haben nämlich völlig vergessen, dass die Haftungsfrage im europäischen Kontext zu sehen ist. Ihr Entwurf
verkennt die Tatsache, dass wir es beim Internet mit einem globalen Netz zu tun haben. Alle Äußerungen, die
Sie hier gemacht haben, waren lediglich auf nationale
Themen fokussiert.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Bemerkung oder
Zwischenfrage von Konstantin von Notz?
Herzlich gern.
Gut.
Vielen Dank. Das ist nett. Ich mache es auch kurz,
und ich habe mich nur gemeldet, weil Sie mich jetzt
dreimal darauf angesprochen haben.
Wissen Sie denn, was die E-Commerce-Richtlinie der
Europäischen Union besagt? Ihre Unterscheidung zwischen öffentlichem Hotel-WLAN und privatem WLAN
kommt darin überhaupt nicht vor. Gerade weil Sie europäisch denken müssen, müssen Sie freie WLAN-Netze
gewährleisten. Das tun Sie aber nicht. Sie regieren jetzt
schon so viele Jahre; das sage ich gerade in Richtung der
Union. Es ist hinterwäldlerisch, dass in Deutschland
diese Regelung noch existiert; vom Bundestag will ich
gar nicht reden. In vielen anderen Ländern ist das nicht
der Fall. So können Sie nicht argumentieren. Mit Europa
brauchen Sie gar nicht zu kommen; das geht genau in die
andere Richtung.
({0})
Herr von Notz, wir sind uns sicherlich einig, dass wir
dann, wenn wir nationale Angelegenheiten durchdenken,
als Erstes natürlich den europäischen Markt und dann
auch den internationalen Markt in den Blick nehmen
müssen. Das heißt im Klartext für unsere Software- und
IT-Branche, dass nationale Vorgaben uns auf internationalen Märkten im Grunde genommen hemmen.
Sie haben die europäische E-Commerce-Richtlinie
angesprochen.
({0})
Wo befindet die sich zurzeit? Wir erwarten jetzt - dabei
ist mit „jetzt“ eher gemeint: in ein bis zwei Jahren -,
dass der EuGH zu einer Rechtsprechung kommt und uns
auf diese Weise hilfreiche Vorgaben gibt.
Es bleibt dabei: Es ist nicht im Interesse deutscher
Unternehmungen, wenn wir auf nationalem Feld voranmarschieren; wir müssen es europäisch und international
anpacken.
({1})
Haftungsfragen, meine sehr verehrten Damen und
Herren, müssen in der digitalen Welt auf internationaler
Ebene gelöst werden. Sie dürfen nicht bei kleinen nationalen Regelungen enden und einer Umsetzung des europäischen digitalen Binnenmarkts vorgreifen.
Ich wiederhole es gern: Auch der Europäische Gerichtshof beschäftigt sich mit dieser Haftungsproblematik. Sein Urteil wird zur Klärung der Rechtslage beitragen.
Darüber hinaus - das ist nicht im engeren Zusammenhang damit zu sehen, aber im weiteren Zusammenhang
damit - muss die EU-Datenschutz-Grundverordnung zügig verabschiedet werden.
Wenn man diese Themen aneinanderreiht, mit einer
europäischen Komponente, dann kann auch die nationale Politik hier sinnhaft Vorgaben machen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Vielen Dank, Herr Kollege Knoerig. - Letzter Redner
in dieser Debatte: Christian Flisek für die SPD.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen! Meine Damen und Herren! Als 1997 das
Informations- und Kommunikationsdienste-Gesetz vom
deutschen Gesetzgeber verabschiedet wurde, haben wir
tatsächlich Neuland betreten. Dieses Gesetz war eine
Pioniertat. Es war das erste spezifische Internetgesetz.
Man hat damals gleichsam Maßstäbe für ganz Europa
gesetzt - und das, wohlgemerkt, in einer Zeit, als es
Google noch nicht gab und jemand wie Mark Zuckerberg
mit 13 Jahren vielleicht noch andere Dinge im Kopf
hatte als die Gründung von Facebook; von Twitter,
Spotify und Skype ganz zu schweigen.
Zehn Jahre lang spiegelte dieses Gesetz die föderale
Ordnung unseres Landes wider mit dem Nebeneinander
von Teledienstegesetz und Mediendienste-Staatsvertrag.
Der Bund hat die Regelung der Individualkommunikation für sich reklamiert, die Länder haben die Zuständigkeit für die Massenkommunikation für sich beansprucht.
Dieses Nebeneinander und die daraus resultierenden Abgrenzungsschwierigkeiten waren eher eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Rechtswissenschaftler; es war
keine vernünftige Regelung.
Seit 2007 werden die Regelungen zu diesem Bereich
im Wesentlichen im Telemediengesetz zusammengefasst. Dieses Gesetz regelt die Anbieterkennzeichnung,
die Informationspflichten, den bereichsspezifischen Datenschutz für das Internet und eben auch die Providerhaftung.
Wesentliche Weichenstellungen bei der Providerhaftung haben sich somit seit 1997 eigentlich nicht verändert. Die Rechtsprechung hat darauf aufgebaut und die
Grundsätze weiterentwickelt. Das wurde in der heutigen
Debatte auch schon angesprochen. Was sich allerdings
verändert hat, ist die technische Entwicklung. Durch
leistungsfähige, vor allen Dingen mobile Endgeräte ist
der Bedarf an WLANs, in die wir uns überall einschalten
können, gestiegen. Auch das Nutzerverhalten hat sich
weiterentwickelt. Streaming mag hier als ein Stichwort
genügen.
Auf diese Entwicklung hat sich die Koalition eingelassen. Sie hat sich vorgenommen, hierauf angemessen
zu reagieren. Wir wollen ein mobiles Internet in ganz
Deutschland für jedermann verfügbar machen. Wir wollen das Potenzial lokaler WLANs nutzen, vor allem deswegen, weil wir dies als einen ganz wesentlichen Beitrag
zum digitalen Fortschritt in Deutschland sehen. Ich bin
dem Kollegen Held dankbar, dass er Passau als Beispiel
zitiert hat. Danke für diesen Werbeblock. Das ist natürlich ein schönes Beispiel für die funktionierende und historisch gewachsene pfälzisch-bayerische Freundschaft.
Zu dem notwendigen Breitbandausbau gehört auch
eine Novellierung des Telemediengesetzes. Das eine hat
mit dem anderen viel zu tun. Wir werden die Haftungsregelungen so ausgestalten, dass der Betrieb eines WLANs
nicht zu einem unkalkulierbaren Haftungsrisiko wird,
aber auch nicht zu einer Einladung zu massenhaften
Rechtsverletzungen. Berücksichtigt man dann noch, dass
eine freie und unbeobachtete Kommunikation Verfassungsrang hat, dann genügen, glaube ich, diese wenigen
Aussagen, um das sehr komplexe Problemfeld zu skizzieren und deutlich zu machen. Wir werden als Große
Koalition auf einen angemessenen Ausgleich der Interessen aller Beteiligten hinarbeiten. Die Nutzer spielen
hier eine wesentliche Rolle, die WLAN-Betreiber, aber
eben auch die Rechteinhaber.
Lieber Konstantin von Notz, bis zu Ihrer Rede hätte
ich eigentlich vorgehabt, auch die Grünen für diesen
konstruktiven Beitrag zur Debatte zu loben. Die einleitende Rede war dann weniger konstruktiv.
({0})
Ich betone aber ausdrücklich, dass ein solcher Beitrag
von uns ernst genommen wird, weil er - darauf wurde ja
bereits vom Kollegen Held hingewiesen - eben mitten
aus der Zivilgesellschaft stammt.
({1})
Ich hoffe, dass ich mit diesem Lob durch die Blume
deutlich gemacht habe, dass wir diesem Gesetzentwurf
nicht zustimmen werden, schlicht und ergreifend deshalb, weil wir in der Großen Koalition einen eigenen erarbeiten werden, der noch einige weitere Aspekte, die
dringend notwendig sind, berücksichtigt und genau für
diesen angemessenen Ausgleich der Interessen aller Beteiligten steht.
Herzlichen Dank.
({2})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Damit schließe ich
diese Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3047 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Es gibt aber einen
Streit über die Federführung. Darüber müssen wir jetzt
entscheiden.
Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD wünschen
Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Ener-
gie, die Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die
Linke wünschen Federführung beim Ausschuss für
Recht und Verbraucherschutz. Ich lasse zuerst über den
Überweisungsvorschlag der Fraktionen Bündnis 90/Die
Grünen und Die Linke abstimmen, also Federführung
beim Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz. Wer
stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Überwei-
sungsvorschlag ist trotz Zustimmung von Bündnis 90/
Die Grünen und der Linken mit der Mehrheit von CDU/
CSU und SPD abgelehnt.
Wir müssen jetzt aber trotzdem über den Überwei-
sungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und der
SPD abstimmen, also Federführung beim Ausschuss für
Wirtschaft und Energie. Wer stimmt für diesen Überwei-
sungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Damit ist dieser Überweisungsvorschlag mit den
Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen
von Bündnis 90/Die Grünen und der Linken angenom-
men.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a und 24 b auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Umsetzung von Empfehlungen des NSUVizepräsidentin Claudia Roth
Untersuchungsausschusses des Deutschen
Bundestages
Drucksache 18/3007
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({0})
Innenausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck ({1}), Luise Amtsberg, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Hasskriminalität wirkungsvoll statt symbolisch verfolgen
Drucksache 18/3150
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({2})
Innenausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort Bundesminister Heiko Maas für die Bundesregierung.
({3})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Vor einer Woche haben wir hier an die Aufdeckung der Verbrechen des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrundes erinnert. Wir waren uns dabei einig, dass wir aus der Mordserie und aus den Fehlern, die
bei ihrer Aufklärung gemacht worden sind, die richtigen
Konsequenzen ziehen müssen.
Mit dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf setzen wir
die Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses
zur Zuständigkeit des Generalbundesanwalts um und ändern das Strafgesetzbuch. Der Gesetzentwurf enthält
zwei Teile, mit denen wir die unterschiedlichen Lehren,
die wir aus dem Geschehenen gezogen haben, abbilden
wollen.
Der erste Teil erweitert den Spielraum des Generalbundesanwaltes. Er soll die Ermittlungen in Zukunft
schon dann an sich ziehen können, wenn eine Tat besondere Bedeutung und objektiv staatsschutzfeindlichen
Charakter hat. Bislang ging das nur, wenn zusätzlich
auch noch feststand, dass der Täter eine staatsschutzfeindliche Zielvorstellung hatte. Das ist zu Beginn der
Ermittlungen aber oft noch gar nicht bekannt. Deshalb
wollen wir das ändern. Wir wollen so sicherstellen, dass
der Generalbundesanwalt frühzeitig eingeschaltet wird,
wenn es um rassistische Taten geht, wie es bei denen des
NSU der Fall gewesen ist. Der Gesetzentwurf stellt außerdem klar, dass gerade bei länderübergreifenden Fällen mit Staatsschutzbezug eine Zuständigkeit des Generalbundesanwalts gegeben sein kann.
Aus den Versäumnissen bei den Ermittlungen zum
NSU haben wir vor allen Dingen eines gelernt: Durch
das Nebeneinander verschiedener Untersuchungen können wertvolle Informationen verloren gehen, weil der
eine nicht weiß, was der andere bereits herausgefunden
hat. Um genau das zu verhindern, wollen wir in diesen
Fällen eine zentrale Ermittlungstätigkeit bei den Experten des Generalbundesanwalts möglich machen. Der
Wechsel des Bundeslandes darf nicht mehr dazu führen,
dass sich Täter der Strafverfolgung entziehen können.
Auch das ist eine Lehre aus den Geschehnissen, und wir
ziehen jetzt die Konsequenzen.
({0})
Der zweite Teil des Gesetzentwurfs befasst sich mit
der sogenannten Hasskriminalität. Wir stellen im Strafgesetzbuch nun ausdrücklich klar: Bei der Festsetzung
der Strafe sind auch rassistische, fremdenfeindliche oder
sonstige menschenverachtende Beweggründe des Täters
zu berücksichtigen. Dadurch soll die Bedeutung dieser
Motive für die Strafzumessung der Gerichte hervorgehoben werden. Damit bezwecken wir aber vor allen Dingen, dass Staatsanwaltschaft und Polizei ihre Ermittlungen von vornherein auch auf solche Motive erstrecken.
Die Taten rechter Gewalttäter können so künftig nicht
mehr als Kneipenschlägereien, Nachbarschaftskonflikte
oder Jugendsünden abgetan werden. Wir erhoffen uns
davon, dass bereits bei der Ermittlung der Fokus darauf
gelegt wird, ob Taten vorliegen, die möglicherweise einen rassistischen Hintergrund haben.
Der Untersuchungsausschuss hat festgestellt, dass das
oft halbherzige Vorgehen der Ermittlungsbehörden im
Fall des NSU, aber auch das Vorgehen der Justiz in den
90er-Jahren die rechte Szene in dieser Zeit sogar radikalisiert hat. Das galt ganz besonders für das NSU-Trio im
Thüringer Heimatschutz.
Solchen Entwicklungen wird der Staat in Zukunft entschiedener entgegentreten, entgegentreten müssen und mit
den gesetzlichen Grundlagen, die wir schaffen, auch entgegentreten können. Rechte Gewalttaten sollen als das
ermittelt und bestraft werden, was sie tatsächlich sind,
nämlich besonders verwerfliche Angriffe auf schutzbedürftige Opfer und auf unsere offene Gesellschaft insgesamt gerichtete Gewalttaten. Deshalb ist diese Änderung
bitter notwendig.
({1})
Das sind - daraus mache ich gar keinen Hehl - kleine
Schritte auf dem Weg zu einer verbesserten Aufklärung
solcher Taten, auch von Hassverbrechen und insbesondere solch abscheulicher Hassverbrechen wie die, die
wir heute dem sogenannten NSU zuschreiben können.
Ich glaube dennoch: Jeder einzelne Schritt, auch wenn es
nur ein kleiner ist, ist wichtig, wenn wir unser Ziel, dafür
zu sorgen, dass so etwas nicht noch einmal vorkommen
kann, erreichen wollen.
Halit Yozgat ist am 6. April 2006 in Kassel erschossen worden. Als er erschossen wurde, war sein Vater
Ismail ganz in seiner Nähe. Er wollte ihn nachmittags
hinter dem Tresen des Internetcafés ablösen, das die Familie betrieb. Als Ismail Yozgat ankam, lag sein Sohn
bereits im Sterben. Bis die Hintergründe dieser Tat fünf
Jahre später endlich geklärt waren, stand Ismail Yozgat,
der Vater, auch selbst lange im Fokus der Ermittlungen.
Er hatte seinen Sohn verloren und wurde nun auch noch
zum Verdächtigen gestempelt. Trotzdem sagte und sagt
Ismail Yozgat, sein Vertrauen in die deutsche Justiz sei
immer groß gewesen und es bleibe groß. Meine Damen
und Herren, ich finde, wir müssen nun alles tun, um dieses große Vertrauen in unsere Justiz zu rechtfertigen.
({2})
Dieser Gesetzentwurf ist ein Baustein dafür. Das ist
ein Baustein, um aus einem nachlässigen wieder einen
wehrhaften Staat zu machen. Das sind wir ihm, Ismail
Yozgat, und allen Opfern der Verbrechen des NSU bitter
schuldig.
Ich danke Ihnen.
({3})
Die Kollegin Martina Renner spricht jetzt für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollegen
und Kolleginnen! Noch immer ereignen sich täglich
zwei bis drei politisch rechts motivierte oder rassistisch
geprägte Gewalttaten in Deutschland. Daran hat sich
nach der Selbstenttarnung des Nationalsozialistischen
Untergrunds überhaupt nichts geändert. Im Gegenteil:
Wie aus der Antwort der Bundesregierung auf eine
Kleine Anfrage meinerseits hervorgeht, haben die Polizeien der Länder seit dem 4. November 2011 über
200 rechte Straf- und Gewalttaten registriert, mit denen
die Täter sich explizit und für alle erkennbar offen und
positiv auf den NSU beziehen und seine rassistischen
Morde und Anschläge verherrlichen.
Einige Beispiele für rassistische Gewalttaten aus den
letzten Monaten: Ende September wird ein syrischer
Arzt in Lößnig bei Leipzig von einem maskierten Mann
mit einem Baseballschläger angegriffen und rassistisch
beleidigt. Mitte Juli schlagen und bedrohen in Gardelegen ein Dutzend Neonazis, die T-Shirts mit der Aufschrift „Kameradschaft Kommando Werwolf“ trugen,
eine Wirtin, die öffentlich Flüchtlinge unterstützt.
Ob die Strafverfolgungsbehörden, die rassistische und
politisch rechte Motivation dieser Taten erkennen und
vor Gericht angemessen würdigen werden, ist leider
vollständig offen. Daran wird auch der vorgelegte Gesetzentwurf überhaupt nichts ändern. Denn die vom
Bundesjustizministerium vorgeschlagene Änderung des
§ 46 StGB ist inhaltlich beliebig und viel zu weit gefasst.
Sie verfehlt das Ziel und beschränkt sich auf eine gefährliche Symbolpolitik.
({0})
Schon nach der jetzigen Fassung von § 46 StGB sind
Richter und Staatsanwälte gehalten, die Tatmotivation
bei der Strafzumessung zu berücksichtigen. Sie machen
dies aber vor allem bei rassistisch motivierten Gewalttaten in der Regel nicht, wie nicht zuletzt die skandalösen
Urteile zu rassistischen Angriffen in Pirna und Bernburg
eindrücklich gezeigt haben.
Richter und Staatsanwälte, die in Fällen von rechter
Gewalt keine rassistische Tatmotivation anerkennen,
weil der Angriff, wie sie sagen, spontan und unter Alkoholeinfluss erfolgt sei, werden auch in Zukunft am Kern
des Problems vorbeigehen: Rassismus ist eine Haltung,
die sich in unterschiedlichster Form und bei unterschiedlichen Gelegenheiten gewaltförmig Bahn bricht. Deshalb sagen wir: Dieser Gesetzentwurf ist verfehlt.
({1})
Auch der erleichterten Übernahme von Verfahren durch
die Generalbundesanwaltschaft stehen wir skeptisch gegenüber. Was nützt diese Maßnahme, wenn zum Beispiel
in Fällen von 23 Brandanschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte, die in den ersten drei Quartalen dieses Jahres gezählt wurden, die Generalbundesanwaltschaft in keinem
einzigen Fall tätig geworden ist, obwohl sie die Übernahme der Ermittlungen geprüft hat? Ich sage dazu: Wir
brauchen eine inhaltliche Neujustierung in Bezug darauf, wie Justiz mit rechtsextremer und rassistischer Gewalt umgeht, und keine symbolische Gesetzesänderung.
({2})
An anderer Stelle hinkt die Bundesregierung weiter
bei der Umsetzung der Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses hinterher, nämlich bei der Forderung, dass zukünftig bei allen Gewalttaten gegen Migrantinnen und Migranten auch Rassismus als Tatmotiv
mitermittelt werden muss. Dafür hat der Untersuchungsausschuss eine Änderung der sogenannten RiStBV vorgeschlagen. Im Sommer sollte hierzu eine Abstimmung
in der Justizministerkonferenz stattfinden. Nun ist es
Herbst, und diese wirklich dringende Vorgabe lässt immer noch auf sich warten. Wir unterstützen deshalb ausdrücklich den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, der
sich dieser Thematik annimmt.
({3})
Unsere Forderungen nach Umsetzung der gemeinsam
beschlossenen Empfehlungen aus den NSU-Untersuchungsausschüssen gehen aber weiter. Die Untersuchungsausschüsse haben deutlich gemacht, dass institutioneller Rassismus die polizeilichen Ermittlungen zur
Ceska-Mordserie sowohl im Umgang mit den Angehörigen geprägt als auch bei der Suche nach den Tätern massiv behindert hat. Wir fordern eine umfassende Studie,
die nach Rassismus im Polizeiapparat fragt und uns endlich verlässliche Zahlen gibt, damit die Debatte insbesondere bei denen, die dieses Phänomen negieren, auf
sachliche Grundlagen gestellt werden kann. Das Gleiche
gilt übrigens für die längst überfällige Einrichtung von
unabhängigen Polizeibeschwerdestellen.
({4})
Noch ein paar Worte zum Bundesprogramm. Auch
bei der Umsetzung der dringend empfohlenen Unterstützung der Projekte gegen Rechtsextremismus ist die Koalition, so sagen wir, auf halber Strecke stehen geblieben. Statt die Mittel auf 50 Millionen Euro zu erhöhen,
fehlen jetzt immer noch 10 Millionen Euro. Das macht
sich vor allem im Westen bemerkbar, wo beispielsweise
in Baden-Württemberg, Niedersachsen und Hessen immer noch spezialisierte Opferberatungsstellen fehlen.
Auch wenn der Haushaltsausschuss in letzter Minute
das Förderprogramm auf 40 Millionen Euro aufgestockt
hat, entspricht dies meiner Meinung nach keineswegs
den Schlussfolgerungen, die wir aus dem NSU-Komplex
ziehen: Mit den Erhöhungen sollen nämlich in Zukunft
auch noch Salafismus und Islamismus als Schwerpunkte
bearbeitet werden. Ich bin durchaus der Meinung, dass
Salafismus und Islamismus ein drängendes Problem
sind. Allerdings benötigt die Auseinandersetzung damit
ein eigenes differenziertes Programm.
({5})
Die Lehren aus dem NSU-Komplex zu ziehen, bedeutet eine verstärkte gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung mit Rassismus auf allen Ebenen, auch in den Institutionen. Ein antiextremistischer Gemischtwarenladen
wird diesem Problem keineswegs gerecht werden.
Wir hatten versucht, zwei Änderungsanträge in die
heutige Debatte einzubringen. Mit dem einen wollten
wir die Aufstockung der Mittel für das Bundesprogramm
auf 50 Millionen Euro erreichen.
Frau Kollegin Renner, Sie denken an die vereinbarte
Redezeit!
Okay. - Mit dem anderen wollten wir uns für ein humanitäres Bleiberecht für die Opfer rassistischer Gewalt
engagieren. Beides durfte der Beratung heute nicht beigefügt werden. Wir bedauern das sehr und glauben, dass
diese Entscheidung der Sache schadet und allein parteipolitisch motiviert ist. Das tut der Auseinandersetzung
mit dem NSU-Komplex nicht gut.
({0})
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Dr. Volker
Ullrich.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Vor zehn Tagen hat der Deutsche Bundestag in
einer würdigen Debatte des dritten Jahrestages der Aufklärung der Terrorzelle des Nationalsozialistischen Untergrunds gedacht. Das Gebot der Stunde ist nicht nur die
weitere Aufklärung der noch offenen Fragen, sondern
auch ein entschiedenes und entschlossenes Handeln. Das
bedeutet für uns die Abarbeitung der 47 Empfehlungen
des NSU-Untersuchungsausschusses. Das sind wir uns,
das sind wir den Opfern schuldig.
({0})
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung trägt dieser
Verpflichtung Rechnung. Mit dem Gesetzentwurf werden im Bereich der Justiz und Strafverfolgung zwei
wesentliche Anker gesetzt, die vielleicht nicht die Welt
verändern, die aber im Zusammenspiel der Strafverfolgungsbehörden und auch bei der Bemessung der Strafe
die notwendigen Akzente setzen, um vergleichbare
Sachverhalte zukünftig zu verhindern.
({1})
Wir ändern die Zuständigkeit des Generalbundesanwalts in Staatsschutzsachen. Das ist eine sensible Materie. Denn es geht hier nicht nur um die Frage, wofür der
Generalbundesanwalt zuständig ist, sondern es handelt
sich auch um eine Frage im Kernbereich des Verhältnisses zwischen dem Bund und den Ländern. Die Länder
sind nach unserem Grundgesetz grundsätzlich auch zur
Verfolgung und Aburteilung von Strafsachen zuständig.
Der Bund hat nur eine sehr begrenzte Zuständigkeit, die
er vor dem Hintergrund unseres Verfassungsgefüges sehr
sensibel und zurückhaltend wahrzunehmen hat. Dennoch sind die hier vorgeschlagenen Maßnahmen vor
dem Hintergrund unserer Verfassungsordnung notwendig. Ja, ich meine, sie sind auch geboten.
Die Frage der Zuständigkeit des Generalbundesanwalts bei Staatsschutzsachen darf sich zukünftig nicht
mehr stellen, wenn die Straftaten „bestimmt und geeignet sind“. Denn im Untersuchungsausschuss ist zu Recht
festgestellt worden, dass die Frage der subjektiven Motivlage des Vorsatzes nur sehr schwer zu bemessen ist.
Wenn dann der Generalbundesanwalt im Zweifel, weil
diese subjektiven Umstände nicht vorhanden sind, auf
seine Möglichkeiten verzichtet, dann ist der Staat vielleicht nicht so wehrhaft, wie er tatsächlich sein müsste.
Deswegen ist es richtig, dass zukünftig die objektive Bestimmung einer Tat ausreicht, die Kompetenz des Generalbundesanwalts zu begründen.
({2})
Es ist auch richtig, dass die Staatsanwaltschaften der
Länder zukünftig eine Vorlagepflicht gegenüber dem
Generalbundesanwalt haben. Damit soll sichergestellt
werden, dass der Generalbundesanwalt bei länderübergreifenden Sachverhalten - seien wir ehrlich, Verbrecher
und Feinde unserer Freiheit halten sich nicht an Ländergrenzen - von sich aus prüft, ob seine Kompetenz begründet ist und er mit seinem Apparat und mit seinen
Möglichkeiten die Strafverfolgung an sich zieht.
Das setzt etwas voraus, worüber wir in den nächsten
Jahren sprechen müssen, nämlich die tatsächliche Fähigkeit des Generalbundesanwalts als Behörde, diesem erhöhten Arbeitsaufwand Rechnung zu tragen. Es kann
nicht sein, dass wir in einem Gesetzentwurf wohlfeile
Worte und mehr Kompetenzen begründen, aber dem Generalbundesanwalt dann nicht die Möglichkeiten bieten,
diese Kompetenzen auszufüllen. Deswegen bedeutet
eine Stärkung des Generalbundesanwalts auch eine personelle und sachliche Aufstockung. Anders geht es
nicht.
({3})
Auch die zweite Stufe dieses Gesetzesvorhabens ist
ein wichtiger Schritt im Bereich unserer Strafrechtspflege: die Verankerung von rassistischen, fremdenfeindlichen und menschenverachtenden Motiven bei der
Strafzumessung.
({4})
Bislang ist im § 46 des Strafgesetzbuches eine Aufzählung von Motiven spezieller Art nicht zu finden. Es ist
ein Paradigmenwechsel in der Systematik des Strafrechts, dass wir von einer allgemeinen Grundlage der
Strafzumessung hin zu speziellen Motiven kommen.
Auch bislang finden besondere Motive, wenn es um die
Schuld geht, schon Berücksichtigung. Wir haben im
Grunde genommen also keine strafrechtliche, sondern
eine rechtspolitische und moralische Regelungslücke.
Diese schließen wir mit diesem Gesetzentwurf.
({5})
Auch wenn hier „rassistisch“ und „fremdenfeindlich“
steht und es damit in erster Linie, wie Sie formuliert haben, um die Opfer rechtsextremer Gewalt geht, geht dieser Gesetzentwurf natürlich weiter. Er richtet sich gegen
die Feinde unserer Freiheit insgesamt. Er richtet sich gegen Linksextreme. Er richtet sich gegen Dschihadisten,
gegen Salafisten, gegen alle, die aus tiefster Überzeugung unsere Freiheit und andere Menschen angreifen.
({6})
Es wird abzuwarten sein, wie sich die besondere Strafzumessung in der Rechtspraxis bewähren wird.
Herr Kollege Ullrich, gestatten Sie eine Zwischenfrage oder Bemerkung des Kollegen Ströbele?
Ja.
Herr Kollege, danke. - Wenn Sie sagen: „Da muss das
Strafrecht verändert werden“, meinen Sie damit, dass in
dem laufenden Prozess vor dem Oberlandesgericht München, wenn es zu einer Verurteilung kommen sollte - das
wissen wir ja nicht; wir wollen dem auch nicht vorgreifen -, solche Überlegungen, die Ihrer Meinung nach derzeit im Gesetz noch nicht hinreichend Berücksichtigung
finden, bei der Strafzumessung nicht berücksichtigt würden? Das ist nur ein Beispiel; es gibt ja auch viele andere
Verfahren, in denen es um ähnliche Themen und Verbrechen geht. Sind Sie also der Auffassung, dass Motive
wie Hass und Ähnliches, die Sie jetzt ins Gesetz aufnehmen wollen, bei der Strafzumessung derzeit nicht berücksichtigt werden?
Herr Kollege Ströbele, ich nehme den Verfassungsgrundsatz der Gewaltenteilung ernst. Deswegen werde
ich mich als Mitglied des Deutschen Bundestages nicht
zu einem laufenden Strafverfahren äußern.
({0})
Wenn Sie aber allgemein fragen, ob diese Strafbemessungsvorschriften eine Relevanz haben oder nicht, so
muss ich Ihnen erwidern, dass Sie nicht ordentlich zugehört haben.
({1})
Ich habe gerade gesagt, dass die Motivlage eines Täters
schon nach dem jetzigen § 46 Strafgesetzbuch Berücksichtigung findet und finden muss,
({2})
dass es hier aber um die rechtspolitische und moralische
Grundsatz- und Wertentscheidung des Gesetzgebers
geht, besondere Motive in Worte zu fassen,
({3})
um damit die Wertentscheidung, die der Gesetzgeber getroffen hat, deutlich zu machen.
({4})
Ich darf abschließend sagen: Wir müssen aufpassen,
dass diese Änderung des § 46 Strafgesetzbuch so formuliert und von der Rechtspraxis so gelebt wird, dass die
Vertreter unserer rechtsprechenden Gewalt revisionsfeste Urteile schreiben können. Es darf nicht so sein,
dass wir Gutes gewollt, letzten Endes aber für eine
schwierige Situation gesorgt haben.
Aber abgesehen von der Frage einer rechtlichen Änderung ist es wichtig, dass wir insgesamt das Bewusstsein eines demokratischen und wehrhaften Rechtsstaates
pflegen und dass wir alle aufgerufen sind, dafür einzutreten, dass Unrecht dem Recht weicht, dass die Menschenwürde und der demokratische Rechtsstaat in keiner
Sekunde und bei keiner Gelegenheit zur Diskussion gestellt werden.
Das ist die wichtigste Botschaft dieses Gesetzentwurfes. Deswegen lassen Sie uns mit diesen Grundlagen gemeinsam in die Beratung gehen.
Vielen Dank.
({5})
Danke schön. - Die Kollegin Monika Lazar spricht
als Nächste für Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
Auffliegen des NSU setzte viele Aktivitäten in Gang:
Untersuchungsausschüsse tagten, Aktenberge wurden
angehäuft, und parlamentarische Beschlüsse wurden gefasst. Die rechtsterroristischen Morde haben Staat und
Gesellschaft aufgerüttelt - für die Opfer und ihre Angehörigen leider zu spät. Hat all die Geschäftigkeit dazu
geführt, dass potenzielle Opfer in Zukunft wirksamer
vor rassistischer Gewalt geschützt sind? Werden die
Missstände in den staatlichen Strukturen, die das Fiasko
ermöglichten, beseitigt? Nun, damit stehen wir erst ganz
am Anfang.
Gerade jährte sich die NSU-Selbstenttarnung zum
dritten Mal. Wir gedachten vor wenigen Tagen der Opfer, während die Angehörigen bis heute vergebens auf
die lückenlose Aufklärung warten, die ihnen einst auch
Kanzlerin Merkel versprach. Weder wurde die Vernetzung des NSU umfassend offengelegt, noch das gravierende Versagen der Sicherheitsbehörden konsequent geahndet. Im Fokus steht das Fehlverhalten einzelner
Bediensteter, aber nicht der strukturelle Rassismus, der
das Klima für solche Ermittlungsfehler schafft und verstärkt.
({0})
Rassismus zerstört unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt. Wir müssen ihn deshalb auf allen Ebenen bekämpfen.
Nun legt die Bundesregierung diesen Gesetzentwurf
vor, in dem unter anderem auf ein härteres Durchgreifen
gegenüber Tätern von Hasskriminalität gesetzt wird. In
§ 46 Absatz 2 des Strafgesetzbuches sollen die Tatmotive „rassistisch“, „fremdenfeindlich“ und „menschenverachtend“ künftig explizit benannt und bei der Strafzumessung stärker berücksichtigt werden.
Längere Haftstrafen hätten dann eine abschreckende
Wirkung und dies wiederum würde zu weniger Opfern
führen, so in etwa hat sich das Justizminister Maas wohl
gedacht. Außerdem sollen die Staatsanwaltschaften bestimmte Tatmotive mehr beachten. Die Vorschläge allerdings gehen am Kern des Problems vorbei; denn wenn
bereits bei der polizeilichen Erfassung rassistische Tatmotive unerkannt bleiben, können diese später auch bei
der Strafzumessung keine Berücksichtigung finden.
({1})
Zudem ist es so, dass viele Straftaten erst in den Statistiken der zivilgesellschaftlichen Opferberatungsstellen
als Hasskriminalität sichtbar gemacht werden. Deren
Zahlen liegen regelmäßig höher als die der offiziellen
Polizeistatistik. Ein solches Erfassungsdefizit ist aber
kein Problem der geltenden Rechtslage und lässt sich
auch nicht mit der geplanten Paragrafenkosmetik ändern.
Wer etwas anwenden soll, muss dafür sensibilisiert
werden. Die verschiedenen Formen von Hassdelikten
müssen in Aus- und Fortbildungen vermittelt werden,
damit die staatlichen Behörden und diejenigen, die dort
arbeiten, damit umgehen können. Menschenrechtsarbeit
und interkulturelle Bildung sind wichtig, und der Nachholbedarf ist leider nach wie vor groß.
({2})
In unserem grünen Antrag zur Bekämpfung der Hasskriminalität betonen wir die Bedeutung einer konsequenten Ermittlung der Motive und der Verfolgung von
Hasskriminalität. Sie richtet sich nicht nur gegen die einzelnen Menschen. Das Opfer wird aufgrund seiner tatsächlichen oder zugeschriebenen Zugehörigkeit zu einer
bestimmten Gruppe angegriffen. Besonders oft werden
Menschen aufgrund der ethnischen Herkunft, sexuellen
Orientierung oder Geschlechtsidentität, der Religion
oder Weltanschauung oder einer Behinderung zum Ziel
von Hassverbrechen. Auch diese Motive gehören unbedingt bei der rechtspolitischen Präzisierung in den Blick.
In einer Pressemitteilung des Lesben- und Schwulenverbandes vom heutigen Tag wird darauf verwiesen,
dass es hier eine Regelungslücke gibt. Zudem gibt es
weitere Kriterien, die von einer Expertenkommission
hinsichtlich ihrer Berücksichtigung geprüft werden müssen. Das gilt zum Beispiel für Geschlecht, Alter, politische Einstellung und den sozialen Status in Bezug auf
Wohnungslose und andere offenkundig sozial Ausgegrenzte.
Alle genannten Kriterien sind Formen von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Ohne einen gesamtgesellschaftlichen Ansatz kann eine Auseinandersetzung
nicht gelingen.
({3})
Ein Beitrag zur umfassenden Prävention ist auch die
Stärkung des Bundesprogramms gegen Rechtsextremismus. Schon mehrfach jammerte Ministerin Schwesig öffentlich, dass sie mehr Geld für ihr neues Bundesprogramm „Demokratie leben!“ braucht. In der Regierung
konnte sie sich allerdings nicht durchsetzen.
({4})
- Ich habe fünf Minuten zu Ihrem Gesetzentwurf gesprochen. Ich nehme an, dass Ihnen, jedenfalls den Kolleginnen und Kollegen der SPD, das Bundesprogramm „Demokratie leben!“ am Herzen liegt. Deshalb wollte ich
Sie zum Schluss noch loben. Aber Sie haben es wahrscheinlich nicht verdient.
({5})
- Frau Schwesig ist nicht da, aber die Mittel für ihr Bundesprogramm wurden gestern in der Bereinigungssitzung zum Haushalt um 10 Millionen Euro erhöht.
Zumindest die Kolleginnen und Kollegen der SPD-Bundestagsfraktion haben sich darüber gefreut.
({6})
Die grüne Bundestagsfraktion fordert seit vielen Jahren eine Erhöhung der Bundesmittel für Maßnahmen gegen Rechtsextremismus und andere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit auf jährlich mindestens
50 Millionen Euro. Deshalb ist das, auch wenn es noch
nicht weit genug geht, ein Schritt in die richtige Richtung. Ich will hier das Positive in den Vordergrund stellen und mich lobend äußern.
Ich hoffe, dass die 10 Millionen Euro auch der Opferberatung und den mobilen Beratungsstellen zugutekommen. Denn auch diese tragen dazu bei, Hasskriminalität
besser zu erkennen. Dazu gehört auch, sich weiterhin an
entsprechenden Aus- und Fortbildungen zu beteiligen.
Mir war es jedenfalls wichtig, dass auch dieser Aspekt in
dieser Debatte eine Rolle spielt.
Ich bedanke mich.
({7})
Die Kollegin Dr. Eva Högl spricht jetzt für die Sozialdemokraten.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Frau Lazar, ganz herzlichen Dank für
das Lob, das wir sehr gerne entgegengenommen haben.
({0})
10 Millionen Euro sind kein Pappenstiel. Dass das Programm jetzt auf mehr als 40 Millionen Euro aufgestockt
wird, war gestern ein guter Beschluss. Darüber haben
wir uns sehr gefreut.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben mit dem
Abschlussbericht des NSU-Untersuchungsausschusses
im September 2013 50 Maßnahmen vorgeschlagen, die
die Zustimmung aller Fraktionen im Deutschen Bundestag fanden. Deswegen sind diese Empfehlungen eine gemeinsame Verpflichtung für uns alle im Bundestag.
Wir brauchen Reformen - das wurde bereits festgestellt - bei der Polizei, beim Verfassungsschutz und auch
bei der Justiz. Heute geht es in unserer Debatte um die
Justiz. Justizminister Heiko Maas hat dazu gute und
wichtige Vorschläge vorgelegt.
Zunächst geht es um die Stellung des Generalbundesanwalts. Bei der NSU-Mordserie wäre, so haben wir im
Untersuchungsausschuss festgestellt, eine zentrale Übernahme durch den Generalbundesanwalt oder auch ein
staatsanwaltschaftliches Sammelverfahren nicht nur
denkbar, sondern auch erfolgversprechender gewesen.
({1})
- Das wäre notwendig gewesen. - Die Forderung nach
einem zentralen Ermittlungsverfahren wurde auch seitens der Staatsanwaltschaften Rostock und München erhoben. Deswegen haben wir uns entschlossen, genau an
diesem Punkt anzusetzen und dem Generalbundesanwalt
dies zu ermöglichen. Er hat auch selbst geprüft, ob eine
Übernahme des Verfahrens in Betracht kommt. Aber
weil dafür eine subjektiv staatsschutzfeindliche Zielvorstellung Voraussetzung ist, hat er das abgelehnt. Zu den
Details, wie er das geprüft hat - nämlich leider nur auf
Grundlage von Presseberichten -, könnte man durchaus
noch etwas anmerken.
Aber wir sind jedenfalls zu der Erkenntnis gekommen, dass für die Übernahme des Verfahrens durch den
Generalbundesanwalt ein objektiv staatsschutzfeindlicher
Charakter der Tat ausreicht und wir dies nicht zusätzlich
mit der Voraussetzung einer subjektiv staatsschutzfeindlichen Motivation verbinden dürfen. Das regelt der Gesetzentwurf. Außerdem soll der Generalbundesanwalt
bei länderübergreifenden Straftaten die Verfahren übernehmen können, sodass ein Kompetenzgerangel, wie wir
es beim NSU erlebt haben, künftig vermieden werden
kann. Wir erleichtern die Führung eines Sammelverfahrens.
Ich finde einen Punkt sehr wichtig, den ich hervorheben möchte: Der Generalbundesanwalt wird mit dem
Gesetz die Möglichkeit bekommen, frühzeitig in laufende Ermittlungen eingebunden zu werden, wenn es
Anhaltspunkte dafür gibt, dass seine Zuständigkeit in
Betracht kommt. Das ist eine sehr wichtige Änderung.
({2})
Ich nehme gerne Stellung zu § 46 Absatz 2 StGB und
auch zu dem Vorwurf, es handele sich hierbei um symbolische Gesetzgebung. § 46 Absatz 2 sieht selbstverständlich schon jetzt vor, lieber Kollege Ströbele, dass
eine rassistische, rechtsextreme, fremdenfeindliche Motivation strafverschärfend beim Strafurteil berücksichtigt
werden kann. Wir wissen aber, dass das in der Praxis
- das wurde hier schon angesprochen - nur in Ausnahmefällen geschieht. Die Gerichte berücksichtigen diese
Motivation häufig nicht.
Ich möchte den Fall eines Paars aus Hoyerswerda
schildern, den ich schon einmal angesprochen habe. Die
Polizei in Hoyerswerda hat das Paar aufgefordert, umzuziehen, weil sie das Paar nicht mehr schützen konnte.
Die Wohnung des Paars wurde stundenlang von rechtsextremen Tätern belagert. Das Paar erhielt Todes- und
Vergewaltigungsdrohungen. Die Täter traten gegen die
Wohnungstür und sangen Naziparolen. Der Spion wurde
zugeklebt. Die Täter wurden im Januar 2014 verurteilt.
Ihre rechtsextreme Tatmotivation und politische Einstellung wurden nur deshalb berücksichtigt, weil die Betroffenen als Nebenkläger im Prozess sehr engagiert auftraten und darauf gedrungen haben.
Ich möchte Ihnen ein weiteres Beispiel nennen, das
Sie sicherlich in den Medien verfolgt haben. Eine Familie aus Syrien wurde auf dem Volksfest „Eisleber Wiese“
brutal zusammengeschlagen. Wir alle haben diesen Fall
zur Kenntnis nehmen müssen. Teilweise konnte das Leben der Betroffenen nur mit Mühe gerettet werden. Die
Vorsitzende Richterin fand - das ist ein positives Beispiel - bei ihrem Urteil deutliche Worte, hob die fremdenfeindliche Gesinnung der Täter hervor und verurteilte sie
scharf. Wie wir sehen, gibt es also Möglichkeiten. Aber
wir wollen § 46 Absatz 2 ändern, damit es nicht bei der
Möglichkeit bleibt und dies den Gerichten überlassen
bleibt - in der Praxis wird eine solche Motivation, wie
gesagt, selten strafverschärfend gewürdigt -, sondern damit es eine Verpflichtung dazu gibt, solche Motivationen
strafverschärfend zu berücksichtigen.
({3})
Ich halte Folgendes für sehr wichtig - deswegen ist es
keine symbolische Gesetzgebung -: Eine solche Klarstellung und Verdeutlichung in § 46 Absatz 2 wird Auswirkungen auf die strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, auf das Vorfeld vor einem strafrechtlichen Urteil,
haben.
({4})
Denn Polizei und Staatsanwaltschaft sind natürlich ganz
anders gehalten, auch in diese Richtung zu ermitteln,
wenn sie wissen, dass die Strafgerichte diese Motivation
dann strafverschärfend berücksichtigen. Deshalb ist das
eine gute und wichtige Änderung.
Eine letzte Bemerkung zur RiStBV. Ich denke - ich
hoffe, dass ich hier im Namen vieler Kolleginnen und
Kollegen spreche -, dass die Dienstanweisungen und Ermittlungsrichtlinien für Straf- und Bußgeldverfahren nun
so geändert werden müssen, wie es der NSU-Untersuchungsausschuss vorgeschlagen hat. Es ist unsere Forderung Nummer eins, dass eine fremdenfeindliche Motivation zwingend geprüft werden muss. Wir erwarten mit
Spannung, dass sich die Justizministerinnen und Justizminister entsprechend positionieren und einen Beschluss
fassen.
Ich denke, wir sind auf einem guten Weg. Ich freue
mich auf die weitere Umsetzung der Beschlüsse des
NSU-Untersuchungsausschusses.
Herzlichen Dank.
({5})
Abschließender Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Tankred Schipanski von der CDU/
CSU.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als Mitglied des NSU-Untersuchungsausschusses der 17. Legislaturperiode freue ich mich natürlich, dass nunmehr auch
das BMJV die Umsetzung der Empfehlungen des Untersuchungsausschusses vorantreibt. Schnell wurde bei unserer Aufklärungsarbeit klar, dass es nicht nur Polizei
und Verfassungsschutz sind, die einer kritischen Betrachtung bedürfen, sondern allen voran auch die Rolle
der Staatsanwaltschaften und der Gerichte.
({0})
Die Staatsanwaltschaft als die Herrin des Verfahrens, der
bis zur NSU-Aufklärung über Zweifel erhabene Generalbundesanwalt und einfachste Anordnungen durch das
Gericht im Rahmen klassischer Ermittlungsarbeit, auf
allen diesen Feldern mussten wir eklatante Mängel feststellen. Ich erinnere mich an den Zeugen Dr. Förster, bei
dessen Aussage wir fast den Glauben an die Arbeitsweise des GBA verloren haben; Frau Högl hat das bereits angesprochen. Ich erinnere mich an die Aussage
des Zeugen Staatsanwalt Schultz aus Gera, bei der wir
feststellen mussten, dass die Justiz in Thüringen in den
90er-Jahren absolut überfordert war; der Minister hat das
bereits angesprochen. Wir haben fraktionsübergreifend
- darauf hat Frau Högl zu Recht hingewiesen - Handlungsempfehlungen beschlossen, die auch den Bereich
der Justiz betreffen.
Einen Baustein beraten wir heute hier in erster Lesung. Ich sage ganz bewusst: einen Baustein; denn wir
wissen um die Maßnahmen, die bereits in der letzten Legislatur ergriffen wurden, gerade im Hinblick auf Nummer 15 und Nummer 202 in der RiStBV. Ich denke auch
an die Standards, die sich der Generalbundesanwalt für
seine Arbeit gegeben hat. Heute erfolgt nun ein nächster,
aber nicht der letzte Schritt mit Blick auf die Anpassung
des Gerichtsverfassungsgesetzes.
Mit der vorliegenden Anpassung des GVG wollen wir
die Begründung der Zuständigkeit des Generalbundesanwaltes vereinfachen sowie sicherstellen, dass der
GBA frühzeitig in laufende Ermittlungen einbezogen
wird. Die Anpassung des GVG tut not, weil wir im Rahmen der NSU-Aufklärung praxisnah erlebt haben, dass
die Zusammenarbeit zwischen dem GBA und den
Staatsanwälten eben nicht richtig funktioniert.
Einen eigenen Akzent setzen die Kollegen des Rechtsausschusses, wenn sie nunmehr im Bereich der Strafzumessung über die Empfehlung des Untersuchungsausschusses hinausgehen und eine ausdrückliche Regelung
aufnehmen, um fremdenfeindliche Beweggründe bei einer Tat schärfer zu ahnden.
({1})
Das sind richtige Schritte, und ich erinnere zugleich
daran, dass weitere im Bereich der Justiz umgesetzt werden. Es bedarf sicherlich mit Blick auf den Informations6388
austausch zwischen Staatsanwaltschaften und Polizei
oder auch im Hinblick auf den Opferschutz weiterer
Maßnahmen; denn noch heute erleben wir in der Praxis
Defizite beim Umgang mit Opfern extremistischer Gewalt. Die Opferberatungsstelle ezra der Evangelischen
Kirche in Mitteldeutschland in Neudietendorf hat in diesem Jahr einen Bericht vorgelegt, der aufzeigt, wo noch
Handlungsbedarf besteht.
Der Name der Studie „Die haben uns nicht ernst genommen“ zeigt exemplarisch, wo in der Praxis noch Optimierungsbedarf bei der Arbeit mit Opfern extremistischer Gewalt vorhanden ist. Da geht es nicht immer um
große Gesetzesänderungen, sondern es reicht oftmals
schon die Anpassung von Verhaltensrichtlinien oder Belehrungsvorschriften. Dreh- und Angelpunkt ist oftmals
diese RiStBV, bei deren Anpassung auch die Bundesländer gefordert sind. Ich gehe davon aus, dass Sie, Herr
Minister, regelmäßig im Rechtsausschuss über die Umsetzung der Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses und auch über die Zusammenarbeit mit den
Landesjustizministern in diesem Zusammenhang berichten werden.
Wir als Parlament bleiben dran, wir machen Druck.
Der Bericht der Bundesregierung vom 18. Februar dieses Jahres zum Umsetzungsstand der Empfehlungen des
NSU-Untersuchungsausschusses zeigt einen klaren
Fahrplan auf. Wir werden anhand dieses Berichtes sowie
anhand der Empfehlungen kontrollieren, inwieweit diese
Umsetzung erfolgt. Die Debatte zum dritten Jahrestag
der NSU-Aufklärung hat dies, denke ich, hier im Bundestag sehr deutlich gemacht.
Im Übrigen verbietet sich da jegliche Empörungsrhetorik. Noch nie haben eine Bundesregierung oder ein
Parlament so planvoll und detailliert auf die Ergebnisse
eines Untersuchungsausschusses reagiert.
({2})
Neben den Maßnahmen im Bereich der Justiz sind es
vor allem Maßnahmen im Bereich des Verfassungsschutzes und der Polizei, die wir als Konsequenz aus dem
NSU-Komplex ergreifen. Ziel ist es dabei, dass wir
unseren Staat weiterhin aktiv vor Extremismus und Terrorismus schützen. Ich erinnere an die Worte unseres
Bundesinnenministers Thomas de Maizière: keine Maßnahme ohne Kenntnis.
Kenntnis erlange ich nur durch Vorfeldaufklärung. Im
Freistaat Thüringen schickt sich die Linke an, gemeinsam mit einer unheiligen Allianz aus SPD und Grünen,
({3})
diese Vorfeldaufklärung abzuschaffen.
({4})
Mich schockiert es, heute in den Medien lesen zu müssen, dass Rot-Rot-Grün in Thüringen die V-Leute abschaffen will
({5})
und somit eine effektive Extremismusbekämpfung verhindert. Mich schockiert, dass dieses Bündnis, statt
Staatswohl zu fördern, nunmehr das Staatswohl gefährdet.
({6})
In Thüringen wird das Gegenteil von dem gemacht,
was der NSU-Untersuchungsausschuss hier im Bundestag empfohlen hat. Ich kann die Kollegen der SPD und
der Grünen nur eindringlich vor einem solchen Bündnis
warnen. Liebe Grüne, unter diesem Blickwinkel relativiert sich auch Ihr Antrag, den Sie heute vorlegen.
({7})
Herr Kollege.
Ich freue mich auf eine Kurzintervention. Ich bin
nämlich gleich fertig.
Mit Bernhard Lichtenberg kann ich Ihnen nur sagen:
Die Taten eines Menschen sind die Konsequenzen seiner
Grundsätze, und sind die Grundsätze falsch, so werden
auch diese Taten nicht richtig sein.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Bevor wir zum Schluss
der Debatte kommen, gibt es noch zwei Wünsche nach
Kurzinterventionen von der Kollegin Renner und vom
Kollegen Ströbele.
Wir beginnen mit der Kollegin Renner.
Herr Kollege Schipanski, Ihre Ausführungen eben
entbehrten jeden Stils.
({0})
Ein Ergebnis der Untersuchungsausschüsse, insbesondere des Untersuchungsausschusses in Thüringen,
war, dass festgestellt wurde, in welcher Art und Weise
Spitzel die Neonazi-Szene in den 1990er-Jahren großgemacht haben, abgeschirmt haben vor Strafverfolgung
und ausgestattet haben mit Geld, Handys, Mobilität und
einer ganzen Menge mehr, was dazu geführt hat, dass
insbesondere die militanten Strukturen, denen der NSU
entstammte - die Anti-Antifa und das Netzwerk Blood
& Honour -, sich in einer Art und Weise bundesweit entwickeln konnten, wie es ohne den Einsatz der Spitzel
- das kann man mittlerweile wirklich nachweisen - in
dieser Form nie geschehen wäre.
Wir sagen ganz klar - ich bin darüber sehr froh -,
dass es auch in Zukunft unter Rot-Rot-Grün in Thüringen Kanon ist, dass eine Trennlinie zwischen denen, die
das Lebensrecht von Menschen negieren, die die Demokratie gefährden, die sich in die Historie und die Vergangenheit des NS einreihen, und denen, die den Staat, die
Demokratie und die Menschenwürde schützen sollen,
gezogen werden soll. Es darf keine Vermischung zwischen Demokratie und Feinden der Demokratie geben,
wie es durch die Führung von quasi hauptamtlichen
Neonazis durch die Verfassungsschutzbehörden passiert
ist.
({1})
Ich finde, das ist eine zentrale Schlussfolgerung aus
den Erkenntnissen der NSU-Untersuchungsausschüsse.
Ich glaube, dass diese Maßnahme zu einer Stärkung von
Demokratie und zu einem sensibleren Umgang mit den
Bedrohungen durch militanten Neonazismus führen wird
und auch ein höheres Maß an Schutz für diejenigen bedeuten wird, die potenziell Opfer rechtsextremer Gewalt
sind, zum Beispiel in Thüringen. Ich hoffe, dieses Beispiel wird auch in anderen Ländern diskutiert.
Sie sollten sich mit der Arbeit und den Ergebnissen
der Untersuchungsausschüsse und insbesondere den
Praktiken der Verfassungsschutzbehörden mit Blick auf
die Neonazi-Szene wirklich etwas detaillierter auseinandersetzen. Das täte insbesondere Ihnen als Thüringer
Abgeordneten sehr gut.
({2})
Herr Kollege Schipanski.
Frau Kollegin Renner, ich habe ja gesagt, ich bin Mitglied des Untersuchungsausschusses gewesen. Wir haben fraktionsübergreifend 47 Handlungsempfehlungen
beschlossen. Darin steht, dass wir die V-Leute nicht abschaffen wollen, sondern dass wir das V-Mann-Wesen
reformieren wollen. Wir haben dazu ganz konkrete Vorschläge ausgearbeitet.
Ich kann nur noch einmal sagen: Mich schockiert,
dass Rot-Rot-Grün in Thüringen die V-Mann-Praxis abschaffen will, in diesem Rahmen keine Voraufklärung
mehr leisten möchte.
({0})
Ich kann nur noch einmal wiederholen: ohne Kenntnis
keine Maßnahme. Ich stehe zu dem, was wir hier fraktionsübergreifend beschlossen haben: V-Leute erhalten,
klare Richtlinien festlegen. Ich bin davon überzeugt,
dass die designierte thüringische Landesregierung mit
der Maßnahme, die heute den Medien zu entnehmen ist,
das Staatswohl gefährdet und nicht fördert.
({1})
Herr Kollege Ströbele, Sie haben ebenfalls die Möglichkeit zu einer Kurzintervention.
Herr Kollege Schipanski, ich bedauere es außerordentlich, dass Sie den Konsens der fünf Fraktionen der
17. Wahlperiode des Deutschen Bundestages hiermit
heute aufgekündigt haben, diese schreckliche Mordserie
parteipolitisch nicht zu missbrauchen. Es war ein Konsens - er war für die Arbeit dieses Untersuchungsausschusses prägend -, dass es uns hier einheitlich darum
geht - auch ich musste mich manchmal zurückhalten -,
das Ganze aufzuklären und alles zu tun, dass so etwas
nie wieder passiert.
Zwei Jahre lang haben wir das durchgehalten - bis
heute -, und Sie stellen sich nun hier in den Deutschen
Bundestag hin und nutzen für einen ganz billigen Versuch der parteipolitischen Profilierung dieses Thema,
weil Sie mit der möglichen Koalition in Thüringen Probleme haben. Sie nutzen diese Mordserie, um damit
Wasser auf die Mühlen Ihrer Partei zu gießen.
({0})
Das ist überhaupt nicht in Ordnung. Ich meine, Sie sollten sich in Ihrer Erwiderung dafür entschuldigen,
({1})
das zurücknehmen und wenigstens versuchen, den Konsens bei der Aufarbeitung und Verhinderung solcher Verbrechen wiederherzustellen.
({2})
Herr Kollege Schipanski, Sie haben das Wort.
Also, Kollege Ströbele, einen Konsens hat hier heute
überhaupt niemand aufgekündigt.
({0})
Ich habe darauf verwiesen, dass wir einen Konsens haben; wir haben diese Handlungsempfehlungen ja einvernehmlich beschlossen. Wenn jetzt ein Bundesland aus
diesem Konsens ausbricht
({1})
und etwas macht, was absolut nicht in diesen Handlungsempfehlungen steht, dann wird man darauf wohl
hinweisen dürfen, ohne dass hier behauptet wird, es
werde ein Konsens irgendwie aufgekündigt.
({2})
- Nein, ich will Ihnen das so sagen, wie es ist. - Wenn
SPD und Grüne in Thüringen es unterstützen, V-Leute
abzuschaffen, dann ist das etwas völlig anderes als das,
was wir hier beschlossen haben.
({3})
Darauf habe ich zu Recht hingewiesen, und ich bin damit, dass ich mir Sorgen mache, nicht allein. Am 9. November waren in Erfurt 4 000 Leute mit Kerzen auf dem
Domplatz und haben darauf hingewiesen, was da passiert.
({4})
In diesem Sinne: Schauen Sie jetzt auf die nächste
Debatte! Es geht um die Rehabilitierung in der DDR
politisch Verfolgter; dazu können Sie sich gerne äußern.
({5})
Damit sind wir am Schluss unserer Aussprache zu
diesem Tagesordnungspunkt angekommen; deshalb
schließe ich diese Aussprache.
({0})
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/3007 und 18/3150 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. -
Weil ich keinen Widerspruch sehe, gehe ich davon aus,
dass Sie damit einverstanden sind. Dann sind die Über-
weisungen so beschlossen.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 25 a und 25 b
auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes
zur Verbesserung rehabilitierungsrechtlicher
Vorschriften für Opfer der politischen Verfolgung in der ehemaligen DDR
Drucksache 18/3120
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({1})
Innenausschuss
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Halina Wawzyniak, Dr. Dietmar Bartsch, Jan
Korte, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Verbesserung rehabilitierungsrechtlicher Vorschriften für Opfer der
politischen Verfolgung in der ehemaligen
DDR
Drucksache 18/3145
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({2})
Innenausschuss
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
({3})
Ich eröffne die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt und bitte, sich darauf zu konzentrieren.
Das Wort hat als erster Redner Bundesminister Heiko
Maas.
({4})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Vielleicht ist dieses Gesetz geeignet, etwas mehr
Ruhe ins Hohe Haus zu bringen; denn es geht um ein
Thema, das, wie ich glaube, uns allen wichtig ist.
Ich freue mich, dass wir gerade in diesen Tagen den
Regierungsentwurf für ein Fünftes Gesetz zur Verbesserung rehabilitierungsrechtlicher Vorschriften für Opfer
der politischen Verfolgung in der ehemaligen DDR beraten können. Vor dem historischen Hintergrund des
25. Jahrestages des Falls der Berliner Mauer wollen wir
ein Gesetz auf den Weg bringen, das die wirtschaftliche
Situation der Opfer der politischen Verfolgung in der
ehemaligen DDR verbessert. Es soll zugleich den Einsatz jener Menschen, die sich als Vorkämpfer für Freiheit, Demokratie und ein vereinigtes Deutschland gegen
das SED-System aufgelehnt haben und deshalb Zwangsmaßnahmen erdulden mussten, stärker würdigen.
Wie Sie wissen, hat sich der Deutsche Bundestag schon
in der letzten Legislaturperiode mit breiter Mehrheit für
eine Überprüfung der Höhe der sogenannten Opferrente
starkgemacht. Sowohl von der damaligen Regierungskoalition als auch von der Opposition hatte es hierzu
Entschließungen gegeben. Auf dieser Linie haben CDU,
CSU und SPD in ihrem Koalitionsvertrag für diese Legislaturperiode eine Erhöhung der Opferrente vereinbart.
Nun setzen wir diese Vereinbarung mit dem heute in erster Lesung vorliegenden Gesetz um.
Die Opferrente wird um 50 Euro angehoben und
steigt damit von 250 auf 300 Euro monatlich.
({0})
Ich will gar nicht erst den Versuch machen, den Eindruck zu erwecken, dass man mit Geld überhaupt das
Unrecht wiedergutmachen könnte, das den Betroffenen
widerfahren ist; aber ich glaube, nach so vielen Jahren
ist man denjenigen, die unter dem Regime gelitten haben, eine Weiterentwicklung der Beträge schuldig.
Meine Damen und Herren, die Opferrente wird politischen Häftlingen gewährt, die mindestens 180 Tage
Freiheitsentzug erlitten haben. Zudem werden wir die
Erhöhung auf eine Leistung nach dem Beruflichen Rehabilitierungsgesetz übertragen: Die monatlichen Ausgleichsleistungen für beruflich durch die SED-Diktatur
Geschädigte werden ebenfalls angehoben. Die Ausgleichsleistung nach dem Beruflichen Rehabilitierungsgesetz wurde das letzte Mal vor gut zehn Jahren erhöht.
Das zeigt, wie notwendig es jetzt ist, sich mit dem
Thema auseinanderzusetzen.
({1})
Bei der Opferrente ist es die erste Anhebung seit Inkrafttreten der Regelung im Jahr 2007. Auch da kann man sagen: Es ist wirklich an der Zeit.
Wir wollen, dass die Betroffenen schon sehr bald,
nämlich ab dem 1. Januar 2015, in den Genuss der angehobenen Leistungen kommen. Die Erhöhung wird über
45 000 ehemaligen politischen Häftlingen zugutekommen, die bereits jetzt im laufenden Bezug sind.
Meine Damen und Herren, ich freue mich, dass auch
diese Leistungserhöhungen, wie alle Leistungen nach
dem Strafrechtlichen und dem Beruflichen Rehabilitierungsgesetz, von Bund und Ländern gemeinsam finanziert werden. Trotz angespannter Haushaltslagen in vielen Ländern zeigt sich in der weiterhin einvernehmlichen
Kostenverteilung zwischen Bund und Ländern die gelebte gemeinsame Verantwortung für die Unterstützung
der Opfer politischer Willkür in der ehemaligen DDR.
Insofern bitte ich Sie um Unterstützung für diesen Gesetzentwurf.
Vielen Dank.
({2})
Vielen Dank, Herr Minister. - Nächste Rednerin ist
die Kollegin Halina Wawzyniak für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung will den Betrag der SED-Opferrente erhöhen. Das
ist richtig, das ist gut. Wir werden dem zustimmen.
({0})
Aber wir wollen mehr. Deswegen haben wir einen eigenen Gesetzentwurf vorgelegt. Dieser Gesetzentwurf ist
nicht neu: In der vergangenen Legislaturperiode haben
wir einen Entschließungsantrag vorgelegt, und das, was
in diesem Entschließungsantrag stand, setzen wir jetzt in
Gesetzesform um.
Was ist dieses Mehr? Wir wollen, dass diejenigen, die
wegen asozialen Verhaltens im Zusammenhang mit den
Weltfestspielen der Jugend und Studenten verurteilt wurden, ebenfalls anspruchsberechtigt sind.
({1})
Wir wollen, dass diejenigen, die von Zersetzungsmaßnahmen des Ministeriums für Staatssicherheit betroffen waren und deren Lebensführung durch diese
Maßnahmen erheblich beeinträchtigt wurde, mit denjenigen gleichgestellt werden, gegen die Urteile gesprochen wurden, die mit wesentlichen Grundsätzen einer
freiheitlich-demokratischen Grundordnung unvereinbar
sind; auch sie sollen anspruchsberechtigt sein.
({2})
Wir wollen, dass der Anspruch ab dem ersten Tag der
Haft gilt und nicht erst nach 180 Tagen.
({3})
Wir wollen, dass die Leistungen unabhängig vom
Einkommen gewährt werden, als Anerkennung und
Würdigung des Einsatzes für Freiheit und Bürgerrechte
in der SED-Diktatur. Wir finden es nicht akzeptabel,
dass Menschen, die ein Einkommen haben, das mehr als
1 173 Euro beträgt, von diesen Leistungen ausgeschlossen sind. Die Leistungen müssen unabhängig vom Einkommen gewährt werden.
({4})
Wir wollen, dass es keine Begrenzung der Frist zur
Antragstellung gibt. Wir wollen, dass im Zweifelsfall
eine Kausalität zwischen Haft und Gesundheitsschädigung als gegeben angesehen wird und es nicht den Betroffenen aufgebürdet wird, diese im Detail nachzuweisen.
({5})
In einer Anhörung im Ausschuss für Kultur und Medien am 5. November - da war unser Gesetzentwurf
schon im innerfraktionellen Verfahren - sind genau diese
Forderungen von der Union der Opferverbände aufgestellt worden. Ich sage Ihnen: Es gibt keinen Grund,
diese Erweiterung abzulehnen.
({6})
Sie haben in den vergangenen Jahren unsere Gesetzentwürfe immer wieder mit dem Argument abgelehnt,
dass wir, juristisch gesehen, die Nachfolgepartei der
SED sind.
({7})
Deswegen mache ich einen ganz einfachen Vorschlag:
Schreiben Sie auf unseren Gesetzentwurf „Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen“, und wir stimmen trotzdem
zu.
({8})
Wenn Sie etwas tun wollen, dann ersetzen Sie einfach
die einreichende Fraktion. Wir werden dem zustimmen.
Ich sage Ihnen aber auch: Keine andere Partei in der
Bundesrepublik hat sich so intensiv mit der eigenen Geschichte beschäftigt wie unsere Partei,
({9})
angefangen mit dem Referat über den Bruch mit dem
Stalinismus als System, mit der Entschuldigung bei den
Bürgerinnen und Bürgern der DDR im Dezember 1989.
Frau Kollegin Wawzyniak, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Vaatz?
Selbstverständlich. Ich wäre beleidigt, würde keine
Zwischenfrage kommen.
Frau Wawzyniak, ich kann Ihnen ein solches Beleidigungserlebnis ersparen. - Ich habe mehrere Fragen. Erstens. Sie sind doch sicher mit mir einer Meinung, dass es
überhaupt keiner Opferpensionen bedürfte, wenn es
nicht das Unterdrückungssystem der SED gegeben hätte.
Wenn dem so ist, dass Sie damit übereinstimmen,
dann frage ich Sie zweitens, ob Sie sich vorstellen können, dass die Erben der SED einen eingetragenen Verein
gründen, in den sie jeden Monat 5 Prozent ihres Einkommens einzahlen, um all die noch vorhandenen Mängel,
die Sie gerade anführen, zu begleichen.
({0})
Meine dritte Frage. Sie sagen, Sie hätten die intensivste Aufarbeitung von allen Parteien überhaupt betrieben. Wie stehen Sie dazu, dass Sie alles, was Sie hinterlassen haben, in die Haftung der Gemeinschaft schieben
wollen, aber keinerlei Bereitschaft zeigen, auch nur einen Pfennig persönliche Haftung für das von Ihnen angerichtete Unglück zu übernehmen? Ganz im Gegenteil:
Sie feilschen um jeden einzelnen Pfennig gegenüber der
Gemeinschaft, wenn es beispielsweise um die Renten
von ehemaligen Stasileuten geht.
({1})
Frage eins. Sie haben recht, wir müssten darüber nicht
reden, hätte es die SED-Diktatur nicht gegeben.
({0})
Frage zwei. Wir können gerne einen Verein gründen.
Ich bin auch gerne dazu bereit, Gründungsmitglied zu
werden und persönlich Geld zur Verfügung zu stellen.
Frage drei. Was die Kosten angeht: Ihnen ist sicherlich bekannt, dass im Jahr 1990 circa 4 Milliarden DDRMark vom Vermögen der SED in den Staatshaushalt der
DDR überführt worden sind. Ihnen ist sicherlich bekannt, dass im Jahr 1995 ein rechtsgültiger Vergleich geschlossen worden ist, in dem wir auf das Vermögen, das
nicht rechtsstaatlich erworben wurde, verzichtet haben.
({1})
Ihnen ist sicherlich bekannt, dass es eine Blockpartei
CDU gab, die auch rechtsstaatlich nicht gerechtfertigtes
Vermögen besessen hat.
({2})
Sie können sich wieder setzen; denn ich würde gerne
in meiner Rede fortfahren, wenn das okay ist. - Danke.
({3})
Ich sage Ihnen aber auch: Wir haben Schlussfolgerungen aus unserer Geschichte gezogen. Soziale Gerechtigkeit und Freiheit sind zwei Seiten derselben Medaille.
Keine von beiden hat, abstrakt gesehen, einen höheren
Wert; das eine ist ohne das andere nichts, aber auch gar
nichts wert.
Wir haben Ihnen vor dem Hintergrund dieser Geschichte diesen Gesetzentwurf vorgelegt. Ich habe Ihnen
jetzt zwei Wege aufgezeigt, wie Sie diesem Gesetzentwurf zustimmen können und wie statt Worten tatsächlich
auch Taten folgen können. Variante 1: Sie stimmen unserem Gesetzentwurf zu. Variante 2: Sie schreiben einfach
„CDU/CSU, SPD, Grüne, Linke“ obendrüber, wobei Sie
„Linke“ auch weglassen können; wir stimmen trotzdem
zu.
Ich will Ihnen zum Schluss noch etwas sagen. Dinge,
die geschehen sind, können wir nicht ungeschehen machen. Ich selbst war zur Wendezeit 16 Jahre alt. Ich habe
25 Jahre meines Lebens damit verbracht, mich mit dieser
Geschichte auseinanderzusetzen. Die Auseinandersetzung mit dieser Geschichte hat dazu geführt, dass wir
genau diesen Gesetzentwurf vorgelegt haben. Wir können es nicht ungeschehen machen, aber wir können dafür sorgen, dass den Opfern der SED-Diktatur mehr Gerechtigkeit widerfährt.
({4})
Der Kollege Dr. Stefan Heck spricht als Nächster für
die Unionsfraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am
vergangenen Sonntag feierte ganz Deutschland den
Mauerfall vom 9. November 1989 und damit den endgültigen Niedergang des SED-Unrechtsstaats. Heute, nur
wenige Tage später, beraten wir hier über die Erhöhung
der SED-Opferrente. Das ist nach so langer Zeit beileibe
keine Selbstverständlichkeit. Deswegen möchte ich mit
einer eigentlich ganz naheliegenden Frage beginnen: Ist
es nach nunmehr über 25 Jahren tatsächlich noch notwendig, sich im Deutschen Bundestag weiterhin mit
dem Unrechtsregime eines inzwischen untergegangenen
Staates zu befassen? Ich bin der festen Überzeugung,
dass es notwendig ist. Lassen Sie mich dafür drei
Gründe nennen:
Es ist erstens notwendig, weil wir im Aufarbeitungsprozess immer weiter fortschreiten und bestehende Regelungen schon deswegen immer wieder überprüfen
müssen. Es ist zweitens notwendig, weil der Umgang
mit geschehenem staatlichen Unrecht immer auch ein
Gradmesser für die Selbstachtung eines Rechtsstaats ist.
Es ist drittens notwendig, weil wir - das finde ich eigentlich am wichtigsten - diejenigen niemals vergessen dürfen, die der zweiten Diktatur auf deutschem Boden als
Erste den Gehorsam verweigerten. Die Opfer der politischen Verfolgung in der ehemaligen DDR verdienen unsere Solidarität und unsere Anerkennung.
({0})
Die Entschädigung der Opfer staatlichen Unrechts auf
deutschem Boden hat in der Bundesrepublik gute Tradition. Während sich die DDR nach dem Zweiten Weltkrieg
der Entschädigung der NS-Opfer mit dem zynischen Argument entzog, sie gehörten zu den antifaschistischen
Siegern des Zweiten Weltkriegs - das gehört zur Geschichte dazu, Frau Wawzyniak -, war für die Bundesrepublik von Anfang an das klar, was Konrad Adenauer
im Deutschen Bundestag am 27. September 1951 gesagt
hat - Zitat -:
Im Namen des deutschen Volkes sind … unsagbare
Verbrechen begangen worden, die zur moralischen
und materiellen Wiedergutmachung verpflichten …
Die Erklärung Adenauers wurde damals, wie das Protokoll vermerkt, im ganzen Hause mit lebhaftem Beifall
bedacht, außer bei der KPD und auf der äußersten Rechten.
Die junge Demokratie - sie war damals ja erst wenige
Jahre alt - hatte erkannt: Es bedarf zur Selbstachtung ihrer eigenen Werte sichtbarer Zeichen der Wiedergutmachung zugunsten derjenigen, die in den Zeiten totalitärer
Diktatur schwer gelitten hatten.
({1})
Das haben wir auch in der Freude über die Wiedervereinigung nicht vergessen. Unsere Vorgänger im Deutschen Bundestag haben damals das nachgeholt, was die
DDR versäumt hatte. Wir haben die Entschädigung für
die NS-Opfer beschlossen, die in der Zeit bis 1945 auf
dem Gebiet der späteren DDR Opfer von Verfolgungsmaßnahmen wurden. Hier hat sich die SED 40 Jahre
lang ihrer gesamtdeutschen Verantwortung entzogen.
Liebe Frau Wawzyniak, es ist eigentlich kein weiterer
Beweis dafür mehr erforderlich, dass Sie in dieser Frage
keine besonders glaubwürdigen Vertreter sind.
({2})
Herr Minister, Sie haben es gesagt: Eine finanzielle
Entschädigung kann geschehenes Leid niemals rückgängig machen. - Aber sie ist das Mindeste, was wir für die
Opfer tun können. Staatliches Unrecht auf deutschem
Boden geht uns alle etwas an.
Inzwischen konnten 47 000 Menschen von der sogenannten Opferrente profitieren. Allein diese Zahl sollte
Anlass genug sein, dass wir uns heute wieder mit diesem
Thema beschäftigen, zumal - auch das haben Sie gesagt die Beträge der Opferrente seitdem nicht erhöht worden
sind. Wir tragen damit den berechtigten Interessen der
Opferverbände Rechnung. Was die Höhe der Entschädigung angeht - auch da gibt es ja ganz unterschiedliche
Forderungen -, glaube ich, dass wir gut beraten sind,
weiterhin an dem Grundsatz festzuhalten, dass die Höhe
der Entschädigungsleistungen für die NS-Opfer die
Obergrenze für die Entschädigungsleistungen für die
Opfer des SED-Unrechts bildet. Die monatliche Beihilfe
für NS-Opfer beträgt nach dem Abkommen gegenwärtig
310 Euro. Vor diesem Hintergrund erscheint es uns angemessen, dass die monatlichen Zuwendungen nach
dem Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz um 50 Euro
auf nunmehr 300 Euro angehoben werden. So bleibt
auch die Verhältnismäßigkeit zwischen den Opfergruppen und den dahinterstehenden Schicksalen gewahrt.
Ich möchte noch einmal sagen: Kein Geldbetrag kann
das Leid rückgängig machen. Eine Opferrente wird immer einen symbolischen Charakter haben. Wir sollten
heute, denke ich, auch anerkennen, dass die Opfer willkürlicher SED-Haft mit den genannten Beträgen bessergestellt werden als jemand, der nach erlittener Untersuchungs- oder gar Strafhaft als unschuldig entlassen und
entschädigt wird. Die Situationen sind nur schwer vergleichbar, aber es gibt ja auch den Fall, dass jemand
sozusagen ganz rechtsstaatlich, aber am Ende doch unschuldig bestraft wurde und der Zahlung einer staatlichen Entschädigungsleistung als Wiedergutmachung
bedarf, die das Gesetz heute schon vorsieht. Die Gewährung einer Geldrente bleibt aber mit guten Gründen den
Opfern totalitärer Diktatur vorbehalten. Damit erkennen
wir das besondere Unrecht an, das diesen Opfern widerfahren ist.
({3})
Frau Wawzyniak, gerade weil die Opfer willkürlicher
Haft in der DDR zu Recht in privilegierter Weise entschädigt wirken, müssen wir den Kreis der Anspruchsberechtigten auf die wirklichen Opfer eingrenzen und
Missbrauch erschweren. Deswegen halte ich auch nichts
von Ihren Vorschlägen, die Erhöhung jetzt an eine Art
Beweislastumkehr zu knüpfen, bis hin zu einem Amtsermittlungsgrundsatz, oder sie an eine Kausalitätsvermutung zu koppeln. Wir müssen doch dafür sorgen, dass
vor allem diejenigen weiterhin von der Gewährung der
SED-Opferrente ausgeschlossen bleiben, die wissentlich und willentlich mit der Stasi zusammengearbeitet
haben. Das wäre ein Schlag ins Gesicht all derjenigen,
die hinreichend nachweisen können, dass sie Opfer dieses verbrecherischen Regimes waren.
Uns ist es wichtig, dass wir auch weiterhin dafür sorgen, dass diejenigen, die eine Stasivergangenheit haben,
die schwerste Verbrechen begangen haben, von der Gewährung der SED-Opferrente ausgeschlossen bleiben.
Deshalb ist es wichtig, dass der Beweis über das Vorliegen der Rehabilitierungsvoraussetzungen, wie es das
Gesetz vorsieht, weiterhin vom Antragsteller erbracht
werden muss. Die privilegierte Entschädigung durch
eine Opferrente wollen wir auch weiterhin auf die
wirklich bedürftigen Opfer beschränken. Das, Frau
Wawzyniak, ist auch der Sinn der Mindesthaftdauer von
180 Tagen in diesem Gesetz.
({4})
- Selbstverständlich, Frau Wawzyniak, ist jeder Tag, den
ein Unschuldiger in Haft verbringt, ein Tag zu viel.
({5})
Deshalb bekommen auch Opfer der SED-Diktatur, die
kürzer als diese Mindesthaftzeit eingesessen haben, eine
Entschädigung, nämlich eine einmalige Entschädigung
gemessen an der Haftzeit.
({6})
Aber eine Haftzeit von wenigen Tagen oder Wochen
kann eben nicht verglichen werden mit dem Leid, dem
Unrecht und auch den psychischen Folgen, die Menschen erlebt haben, die über ein halbes Jahr im Gefängnis eingesessen haben.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion, ich will zum Abschluss noch einmal in besonderer
Weise auf Ihre Vorschläge eingehen. Sie haben ja hier in
beeindruckender Offenheit gesagt, dass es Ihre Partei
war, die bis 1989 das Unrecht in der DDR an allererster
Stelle verantwortet hat.
({8})
Damals war an Entschädigung derjenigen, die Unrecht
erlebt haben, nicht zu denken. Ich habe von den NS-Opfern gesprochen, die in der DDR 40 Jahre auf ihre Entschädigung gewartet haben. Insofern ist es schon beachtlich, dass ausgerechnet Sie sich hier heute an die Spitze
derjenigen stellen, die eine Entschädigung fordern.
Frau Wawzyniak, bei all dem, was Sie hier gesagt haben, was Sie hier ja wortreich und konziliant vorgetragen haben, habe ich einen Satz vermisst. Wenn Sie wirklich etwas für die Wiedergutmachung des durch Ihre
eigene Partei verursachten Unrechts tun wollen, dann
schlage ich Ihnen vor: Stellen Sie sich hier vorne hin,
und sagen Sie uns ohne Wenn und Aber, dass die DDR
ein Unrechtsstaat war.
({9})
Damit tun Sie mehr für die Opfer dieses Systems als mit
Ihren Vorschlägen, die heute hier vorliegen.
({10})
In dem heute vorliegenden Gesetzentwurf wird zum
einen ein wichtiger Punkt des Koalitionsvertrags zwischen CDU/CSU und SPD umgesetzt. Zum anderen
würdigen wir - und das ist noch viel wichtiger - durch
die Erhöhung der SED-Opferrente den Einsatz all derjenigen Menschen, die in der DDR, ungeachtet persönlicher Nachteile, für Freiheit und Demokratie gekämpft
haben und dafür verfolgt und eingesperrt wurden. Die
Erhöhung der Opferrente ist ein wichtiger Ausdruck unserer Wertschätzung ihres Einsatzes.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Nächste Rednerin ist für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen die Kollegin Katja Keul.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wer wie ich zur Zeit der Mauer im Westen
groß geworden ist, hat in der Regel wenig Bezug zu Opfern von SED-Unrecht gehabt.
Mir ist die Realität erstmals als Scheidungsanwältin
begegnet, als eine Mandantin aus unerfindlichen Gründen trotz meiner unterstützenden Hinweise die Formulare zum Versorgungsausgleich partout nicht ausfüllen
konnte oder wollte. Sie kam aus dem Osten, aber im Übrigen schien es ein Routinefall ohne besondere Umstände zu sein.
Irgendwann brach es während einer Beratung aus ihr
heraus, wobei sie am ganzen Körper zitterte: Sie war als
Jugendliche als asozial eingestuft und bereits mit 16 inhaftiert worden. Was sie mir an diesem Tag schilderte,
hat mir erstmals auch emotional nahegebracht, was
SED-Unrecht bedeutet.
Die Bundesregierung hat uns heute einen Gesetzentwurf zur Aufstockung der Opferrente für die von der
politischen Verfolgung in der ehemaligen Sowjetischen
Besatzungszone und der Deutschen Demokratischen Republik Betroffenen vorgelegt. Zum 1. Januar 2015 soll
die monatliche Zuwendung nach § 17 a des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes um 20 Prozent, die monatliche Ausgleichszahlung nach § 8 des Beruflichen
Rehabilitierungsgesetzes von 184 auf 214 Euro aufgestockt werden. Dies sind die ersten Erhöhungen seit der
Einführung der Zuwendungen im Jahre 2007 bzw. 2003
und damit längst überfällig.
Der eingeschlagene Weg ist zu begrüßen. Auch vor
dem zeitlichen Hintergrund des 25. Jahrestages des
Mauerfalls hat dies durchaus eine symbolische Wirkung.
Doch ist dies auch ausreichend?
In der Denkschrift der Bundesregierung zum Einigungsvertrag heißt es ausdrücklich, dass die Rehabilitierung aus rechtspolitischen, humanitären und sozialen
Gründen geboten sei, um das Unrecht und seine Auswirkungen im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten zu beseitigen. Eine Erhöhung um 50 Euro erscheint mir zur
Umsetzung dieses Zieles zu wenig.
Seit der Einführung der Opferrente werden die Außerachtlassung bestimmter Opfergruppen sowie das Kriterium der finanziellen Bedürftigkeit vonseiten des
Dachverbandes der SED-Opfer zu Recht kritisiert. Die
Rente dient als Ausgleich für das erlittene Unrecht und
wird ohne hinreichenden Grund zu einer Sozialleistung
gemacht. Herr Maas, Sie haben gesagt, man will die
wirtschaftlichen Bedingungen für die Opfer verbessern.
Aber wenn der höhere Betrag auf Sozialleistungen angerechnet wird, dann ändert sich für die Betroffenen nichts.
({0})
Um dem eigentlichen Ziel gerecht zu werden, sollte sie
also einkommensunabhängig ausbezahlt werden.
({1})
Ebenso ist die Beschränkung des Kreises der Anspruchsberechtigten auf ehemalige Häftlinge, die mindestens 180 Tage im Gefängnis verbringen mussten, sehr
problematisch. Was ist denn mit denen, die nur wenige
Wochen im Stasigefängnis malträtiert wurden? Sind sie
deshalb keine Opfer? Was ist mit den verfolgten Schülerinnen und Schülern, wie die eingangs erwähnte Mandantin? Was ist mit den aus dem Grenzgebiet Zwangsausgesiedelten? Diese Gruppen erhalten bislang keine
Ausgleichsleistungen. Das ist ungerecht.
({2})
Auch die Leistungssportler der DDR, denen die Einnahme von Dopingmitteln oft ohne deren Wissen bereits
im Kindes- und Jugendalter staatlich verordnet wurde
und die bis heute mit den schweren gesundheitlichen
Langzeitfolgen dieser Vorgehensweise zu kämpfen haben, müssen in den Kreis der Anspruchsteller mit aufgenommen werden.
({3})
Die dadurch erlittenen Einbußen wie Schwerbehinderungen und Persönlichkeitsstörungen werden für diese Personen mit zunehmendem Alter gravierender, sodass es
mit einer Einmalzahlung in diesem Bereich nicht getan
ist.
Meine Fraktion hat bereits im Februar 2013 einen Antrag zur Einführung einer Rente für Dopingopfer der
DDR eingebracht. Getan hat sich bislang nichts. Herr
Maas, Sie haben sich kürzlich zusammen mit Herrn de
Maizière auf einen Entwurf für ein Anti-Doping-Gesetz
verständigt. Die Dopingopfer wurden jedoch auch hier
nicht berücksichtigt. Das ist bedauerlich.
Mit der jetzigen Gesetzesänderung bewegt sich die
Bundesregierung lediglich mit kleinen Schritten in die
richtige Richtung. Die Opfer benötigen jedoch eine deutlichere und offensivere Gangart, um die angemessene
Anerkennung - und darum geht es ja, jedenfalls mehr als
um die Beträge - des erlittenen Unrechts zu erfahren.
({4})
Aus diesem Grund fordern wir Grüne, dass alle Betroffenen der Zersetzungsmaßnahmen des Staatssicherheitsdienstes in die Gewährung der Opferpension
einbezogen werden und vollständig auf die Bedürftigkeitsprüfung verzichtet wird. Zudem sollen Personen mit
einer Haftzeit von weniger als 180 Tagen zumindest eine
anteilige besondere Zuwendung erhalten.
Der zu diesem Thema vorgelegte Gesetzentwurf der
Fraktion Die Linke greift einige der genannten Punkte
auf, etwa die Unabhängigkeit vom Einkommen. Wir
haben in der letzten Legislaturperiode Ihrem Entschließungsantrag zugestimmt. Wir werden jetzt den vorliegenden Gesetzentwurf prüfen. Ich bin aber zuversichtlich, dass wir zusammenkommen. Ich hoffe auch, dass
die Anhörung in der nächsten Sitzungswoche weitere
Wege aufzeigt, wie wir angemessen mit dem Thema umgehen können.
Vielen Dank.
({5})
Der Kollege Matthias Bartke spricht jetzt für die Sozialdemokraten.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Koalitionsvertrag haben wir vereinbart, die Zuwendung für
Opfer des SED-Unrechts zu erhöhen. Ich finde, es gibt
keinen besseren Zeitpunkt hierfür als den Monat, in dem
sich der Mauerfall zum 25. Mal jährt.
Jeder Betroffene reagiert unterschiedlich auf Repressionen eines Unrechtssystems. Manche stecken dies weg
und leben danach unbeschwert weiter und auch beruflich
erfolgreich weiter. Andere allerdings erholen sich nie
wieder wirklich von dieser Erfahrung und kommen nicht
mehr auf die Beine. Die beiden Opferrenten, die wir mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf aufstocken werden,
sind gerade für diese Opfer gedacht. Sie sind für diejenigen, die die traumatischen Erfahrungen der Haft und der
Repression nicht verwunden haben und wirtschaftlich
nicht mehr auf die Beine gekommen sind.
Das klingt abstrakt. Ich habe vor einigen Wochen mit
einer meiner Besuchergruppen das Stasigefängnis Hohenschönhausen besucht. Ich kann das nur jedem empfehlen. Ich war von diesem Besuch tief erschüttert. Das
war nämlich überhaupt nicht mehr abstrakt, sondern beklemmend konkret. Das Stasiuntersuchungsgefängnis in
Hohenschönhausen war nur eines von 17 Stasiuntersuchungsgefängnissen in der DDR. Das Prinzip dieser Gefängnisse bestand darin, die Häftlinge zu erniedrigen
und zu brechen. Mit staatlichen Repressionen mussten
nicht nur Republikflüchtlinge rechnen. Das galt beispielsweise auch für Teilnehmer des Aufstands vom
17. Juni 1953, für die Zeugen Jehovas und auch für in
Ungnade gefallene Politiker wie etwa Walter Janka und
Wolfgang Harich.
Seit Gründung der DDR kamen aus politischen Gründen zwischen 200 000 und 250 000 Menschen ins Gefängnis. Aber natürlich waren die Gefängnisse nur die
Spitze des Eisbergs, des Repressionssystems der DDR.
Noch wichtiger als die Verhaftung und Verurteilung von
Fluchtwilligen und Andersdenkenden war die abschreckende Wirkung, die davon ausging. Den meisten Menschen in der DDR war eben immer bewusst, dass man
sie, wenn sie sich auflehnten, jederzeit verhaften konnte.
Sie wussten, dass sie der Stasi dann schutzlos ausgeliefert waren, dass sie ihre Arbeitsstelle und jede berufliche
Perspektive verlieren konnten.
Der Kontroll- und Überwachungsapparat des MfS
wurde im Laufe der Zeit immer weiter ausgebaut. Am
Ende verfügte die Stasi über 91 000 hauptamtliche und
über 180 000 inoffizielle Mitarbeiter, die sogenannten
IMs. Zum Vergleich: Das ist mehr als die Bundeswehr
heute an Soldaten hat.
Ganz besonders tragisch sind in meinen Augen die
Fälle, bei denen die Stasi die psychische Bedrängnis der
Opfer in ihren Gefängnissen ausgenutzt hat, um sie zu
einer Zusammenarbeit zu drängen. Das lief dann häufig
nach dem Motto „Wir könnten Ihre Haft natürlich verkürzen; Sie müssten sich nur etwas kooperationswilliger
zeigen“. In solchen Situationen, Herr Heck, sind dann
doch viele Menschen schwach geworden und haben die
IM-Erklärung unterzeichnet. Ich finde, man sollte vorsichtig sein mit Vorwürfen und Verurteilungen denen gegenüber, die in einer solchen Situation schwach geworden sind.
({0})
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf erhöhen wir die
Opferrenten nach dem Strafrechtlichen und dem Beruflichen Rehabilitierungsgesetz. Das ist nicht nur eine
monetäre Maßnahme. Es ist vor allem auch von Staats
wegen eine moralische Anerkennung des erlittenen Unrechts. Für viele ist das noch viel wichtiger als die Geldleistung: die Anerkennung, dass man selbst keine Schuld
hatte und dass es der Staat DDR war, der verbrecherisch
gehandelt hat. Gerade für die vielen Opfer des SED-Regimes war es daher wichtig, dass Rot-Rot-Grün in Thüringen klargestellt hat, dass die DDR ein Unrechtsstaat
war. Ich finde, Frau Wawzyniak, dass Sie hier noch einmal sehr beeindruckend klargestellt haben, dass dies der
Fall gewesen ist.
({1})
Für eine zukunftsorientierte Politik ist es von eminenter Bedeutung, dass das historische Fundament stimmt.
Hierzu gehört in erster Linie eine gemeinsame Bewertung der jüngeren Vergangenheit unseres Landes. Zu einer
zukunftsorientierten Politik gehört auch, dass man sich zu
seiner Vergangenheit bekennt und daraus die Lehren
zieht. Weiter gehört dazu, dass die Opfer des DDR-Unrechts für ihre erduldeten Leiden wertgeschätzt werden
und eine Entschädigung erhalten. Die geplanten Opferrentenerhöhungen sind daher ein wichtiges und richtiges
Signal zu einem symbolträchtigen Zeitpunkt.
Ich danke Ihnen.
({2})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Mauer ist vor 25 Jahren gefallen - und damit der SED-Unrechtsstaat. Die Opfer leiden noch heute.
„Zu viele Verbote und zu wenig Rechte gab es in diesem
Land“ - das schreibt der Autor Jürgen Brand in seinem
Buch „Hafterlebnisse eines DDR-Bürgers“. Er wollte
frei sein, seine Meinung äußern, und war dann Opfer von
Stasibespitzelung und Bedrängung. Er musste 20 Monate inhaftiert in einer Stasihaftanstalt verbringen. Dort
wurde er in Einzelhaft gehalten, durfte nicht schreiben
und nicht lesen. Er befand sich in Isolation und ist durch
Mitarbeiter der Staatssicherheit bedrängt worden.
„Die Haft dauert an“, schreibt Angelika Cholewa in
der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Auch sie wollte
frei sein und in den Westen übersiedeln. Bei einem
Fluchtversuch an der Grenze zur damaligen Tschechoslowakei wurde sie verhaftet und musste über drei Jahre
in DDR-Haft verbringen. Sie wurde in der Haft schwer
krank und bekam nicht die notwendige medizinische
Versorgung. Ganz im Gegenteil: Man hat ihr sogar noch
gedroht und vorgemacht, dass ihre Mutter im Sterben
liege und sie diese nur sehen dürfe, wenn sie Mitglied
der Stasi werde.
Jürgen Brand und Angelika Cholewa sind nur zwei
von vielen Hunderttausend Opfern dieser Diktatur. Wenn
beinahe 40 000 Menschen zurzeit eine SED-Opferrente
beziehen, dann geht es um 40 000 Schicksale. Es handelt
sich um 40 000 Menschen, die allesamt länger als ein
halbes Jahr in Stasihaft waren und über ein halbes Jahr
Verzweiflung und schreckliche Erlebnisse durchmachen
mussten. Wer vor dem Hintergrund dieser Schicksale
immer noch nicht erkannt hat, welche Dimension der
Unrechtsstaat der SED hatte, der verhöhnt die Opfer,
meine sehr verehrten Damen und Herren.
({0})
Wir müssen bei der Bemessung der SED-Opferrente
eine kluge und rechtsstaatlich exakte Abwägung vornehmen. Natürlich kann gesagt werden, dass 350, 400 oder
450 Euro immer noch besser seien als das, was wir in
diesem Gesetzentwurf vorschlagen. Der entscheidende
Punkt aber ist, dass wir bei der Bewältigung der Leiden
der Opfer zweier Diktaturen auf deutschem Boden die
Frage der Gleichmäßigkeit und der Verhältnismäßigkeit
zu beachten haben. Deswegen meine ich, sollten die Opfer der SED-Diktatur so behandelt werden wie die Opfer
der NS-Diktatur, nicht schlechter, aber auch nicht besser.
Dieser Staat behandelt diese Opfergruppen gleich, weil
damit auch das Signal ausgeht: Wir wollen weder auf
dem Boden dieses Landes noch in Europa jemals wieder
Zustände wie in der SED-Diktatur oder während des NSRegimes haben.
Natürlich kann Geld eine verwundete Seele nicht heilen oder den Rechtsstaat wieder in die Balance bringen;
aber wir sind vor dem Hintergrund unserer Geschichte
und dem, was die Opfer durchgemacht haben, sowie vor
dem Hintergrund ihrer eigenen Selbstachtung verpflichtet, sensibel mit diesem Thema umzugehen und die
SED-Opferrente an dieses Niveau anzupassen. Die Tatsache, dass wir erst im Jahr 2007 - übrigens auch damals
unter der Führung einer Großen Koalition - die SEDOpferrente eingeführt haben, zeigt, dass wir da vielleicht
zu lange gezögert haben.
An dieser Stelle sei auch den Opferverbänden gedacht
und gedankt, die dieses Thema über viele Jahre hinweg
im Bewusstsein der Öffentlichkeit halten und die Opfer
vertreten, die angesichts des ihnen beigefügten Leides
oftmals gar nicht in der Lage sind, ihre Erfahrungen in
der Öffentlichkeit zu artikulieren. Ich habe mich lange
genug geschämt, sagt ein Opfer der SED-Diktatur. Das
Symbol und die Botschaft dieser heutigen Debatte müssen auch sein: Es darf und es muss sich kein Opfer mehr
schämen. Die Symbolik muss auch sein: Die Opfer der
SED-Diktatur sind nicht allein. Sie haben unsere Solidarität und unsere Unterstützung, weil es unser aller Anliegen ist, dass sie rehabilitiert werden und einen Ehrenplatz in der Mitte unserer Gesellschaft finden.
Vielen Dank.
({1})
Vielen Dank, Herr Kollege Ullrich. - Damit schließe
ich die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 18/3120 und 18/3145 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall; denn
ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 26 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ralph
Lenkert, Eva Bulling-Schröter, Caren Lay, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Bundeseinheitliche Netzentgelte für Strom
Drucksache 18/3050
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({0})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auch
für diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne zugleich die Aussprache. Das Wort hat der
Kollege Ralph Lenkert von der Fraktion Die Linke.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Geehrte Kolleginnen
und Kollegen! Die Linke bringt ihren Antrag für bundeseinheitliche Netzentgelte von der Ostsee bis zu den Alpen ein. Der Forderungsteil ist kurz - ich zitiere -:
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der eine
bundeseinheitliche Wälzung der Stromnetzentgelte
für Privat- und Gewerbekunden vorsieht.
({0})
Wälzung ist die Umlage der Kosten des Netzes über den
Strompreis.
Warum fordern wir dies? Die Netze und ihre Betreibung sind eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Aber
gerade in strukturschwachen Regionen sind die Netzentgelte am höchsten. Nach einer Studie der TU Dresden,
beauftragt durch die Sächsische Staatsregierung, betrugen im Jahr 2013 die Netzentgelte in Düsseldorf
4,03 Cent je Kilowattstunde, gleichzeitig 9,29 Cent je
Kilowattstunde im Havelland.
({1})
Bis 2023 würden diese Unterschiede, würden wir so
weitermachen wie bisher, von 4,77 Cent bis auf
14,3 Cent je Kilowattstunde ansteigen. Das wären inklusive Mehrwertsteuer Preisunterschiede beim Endkunden
zwischen heute 6 Cent und über 11 Cent im Jahr 2023.
({2})
Welche sind die Ursachen dafür? Eine Ursache ist das
Alter der Stromleitungen. Ältere Leitungen verursachen
weniger Abschreibungskosten; sie sind damit tendenziell
billiger. Auch die Bevölkerungsdichte ist entscheidend:
Wenn in einer Region weniger Stromkundinnen und -kunden leben, ist natürlich auch die Anzahl derer, die die
Netzentgelte tragen müssen, geringer. Und: Sondertatbestände werden unterschiedlich gewichtet. Die Kosten
von KWK-Anlagen, also von Kraft-Wärme-KopplungsAnlagen, werden bundeseinheitlich umgelegt. Die Kosten von Offshore-Anlagen werden bundeseinheitlich
umgelegt. Industrierabatte werden bundeseinheitlich
umgelegt. Die Aluminiumhütten in Hamburg beispielsweise, die für zusätzliche Arbeitsplätze und Gewerbesteuereinnahmen in Hamburg sorgen, bekommen die
Stromrabatte von allen Kundinnen und Kunden bundesweit finanziert.
Hingegen: Die Kosten für Transportverluste beim
Strom, die Redispatch-Kosten, das heißt die Kosten zur
Sicherung der Netzstabilität, und die Regelenergiekosten
werden nur regional umgelegt, und zwar dort, wo sie anfallen, und das, obwohl die damit bezahlten Leistungen
für ein funktionierendes gesamtdeutsches Stromnetz
zwingend erforderlich sind. Wir fordern ein Ende dieser
Ungleichbehandlung.
({3})
Ein weiterer Grund ist der Ausbau der erneuerbaren
Energien. Gerade in den Regionen, in denen besonders
die erneuerbaren Energien ausgebaut werden, fallen vor
allem hohe Netzentgeltkosten an, zum Beispiel aufgrund
von Netzverstärkung.
Ich möchte Ihnen ein konkretes Beispiel nennen: Eon
erzeugt im Windpark Schönwalde Südost im Landkreis
Dahme-Spreewald Strom. Die dortigen Bewohnerinnen
und Bewohner zahlen auf den Strompreis Netzentgelte
in Höhe von 9,11 Cent je Kilowattstunde. Die Gewinne
dieses Windparks fließen zur Eon-Zentrale nach Düsseldorf. Dort beträgt das Netzentgelt 4,03 Cent. Schön für
die Düsseldorferinnen und Düsseldorfer! Der Landkreis
Dahme-Spreewald hat einen Windpark mit unverstelltem Blick auf Windräder, es findet dort eine Zerschneidung der Landschaft durch die Stromtrassen statt, und
wegen dieses Windparks sind die Stromkosten um
6 Cent höher. Das ist ungerecht.
({4})
Diese Ungerechtigkeit betrifft Regionen in Oberfranken, in Niedersachsen, in Vorpommern, in Brandenburg,
in Thüringen. Diese Regionen haben eine Belastung
durch die Erzeugung der erneuerbaren Energien und eine
Belastung durch die Stromtrassen, ihre Natur wird zerschnitten, und dafür müssen sie auch noch zusätzliche
Netzentgelte zahlen. So wird die Energiewende nicht
funktionieren.
({5})
Wir fordern natürlich nicht, dass Windräder auf der
Düsseldorfer Kö installiert werden.
({6})
Aber wir fordern von den strukturstarken, dicht besiedelten Regionen Solidarität ein. Auch sie sollen ihren Beitrag zu den Netzentgelten leisten. Deswegen fordern wir
einheitliche Netzentgelte.
({7})
Dies würde im Übrigen auch dazu führen, dass Investoren keinen Bogen mehr um strukturschwache Regionen
machen würden, weil der Strom dort einfach zu teuer ist.
Gemeinsam können wir die Akzeptanz der Energiewende erhöhen, wenn es uns gelingt, die Netzentgelte zu
vereinheitlichen. Wir haben unseren Antrag vorgelegt.
Er ist ein Diskussionsbeitrag.
Es gibt weitere Ungerechtigkeiten, die wir nicht erwähnt haben, zum Beispiel die Ungerechtigkeit der
Netzentgeltbefreiung. Durch die Abschaffung der Netzentgeltbefreiung könnten im Übrigen auch die notwendigen
Erhöhungen in einigen Gebieten kompensiert werden.
Wir haben bewusst darauf verzichtet, dies anzusprechen,
damit die bei einigen Fraktionen bekannten Reflexe,
wenn man an Subventionen für die Industrie herangeht,
nicht auftreten. Wir wollen offen diskutieren.
Es gibt weitere Probleme. Dabei geht es zum Beispiel
um die Frage, ob man die Netzentgelte zukünftig vielleicht nicht mehr nach dem Kilowattstundenverbrauch,
sondern nach der Anschlussleistung berechnet. Wir können über alles reden; wir sind offen. Das Ziel muss aber
sein, bei der Verteilung der Lasten für Gerechtigkeit zu
sorgen, damit wir gemeinsam eine erfolgreiche Energiewende hinbekommen. Deswegen bitte ich Sie ausdrücklich: Sorgen wir gemeinsam dafür, dass die Netzentgelte
in der Bundesrepublik einheitlich werden!
Vielen Dank.
({8})
Für die CDU/CSU hat das Wort der Kollege Thomas
Bareiß.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Lieber
Herr Lenkert, die Forderung nach einer bundeseinheitlichen Wälzung der Stromnetzentgelte für Privat- und Gewerbekunden scheint auf den ersten Blick nachvollziehbar zu sein. Ungleiche Preise sind immer für diejenigen
ein Ärgernis, die davon negativ betroffen sind. Beispiele
gibt es zur Genüge: Der Münchner Mieter wünscht sich
die Mieten von Schwerin, der Nutzer des öffentlichen
Nahverkehrs in Stuttgart würde gerne Berliner Preise bezahlen, und das Kilo Äpfel kostet auf dem Land wahrscheinlich etwas weniger als in der Stadt.
Auch bei den Netzentgelten gibt es Unterschiede.
Hier trifft es viele Regionen in den neuen Ländern, wie
gerade schon beschrieben, aber auch vermehrt den ländlichen Raum in ganz Deutschland. Die Verbraucher aus
diesen Regionen zahlen höhere Netzentgelte und damit
auch höhere Strompreise, da die Kosten im Verteilnetz
auf die betroffenen Kunden nur regional umverteilt werden.
Auch wenn ich den Unmut der Betroffenen nachvollziehen kann, so gilt grundsätzlich: Eine Marktwirtschaft
braucht auch Preisunterschiede. Nur so können Angebot
und Nachfrage effizient ausgeglichen werden. Gleichmacherei ist zwar die vermeintlich leichte Lösung, jedoch nicht nachhaltig und auch nicht immer gerecht.
Bundeseinheitliche Netzentgelte sind weder gerecht,
noch schaffen sie ausreichend Anreize, den Netzausbau
stärker mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien zu
synchronisieren. Im Gegenteil: Sie schaffen weitere Gerechtigkeitsdebatten und Ineffizienzen.
Herr Kollege Bareiß, gestatten Sie eine Zwischenfrage oder eine Zwischenbemerkung des Kollegen
Lenkert?
Nein.
({0})
Es gibt gute Gründe für regionale und differenzierte
Netzentgelte. Erster Grund: In den neuen Bundesländern
wurden die Netze nach der Wiedervereinigung umfangreich modernisiert; das wurde gerade beschrieben. Das
war auch dringend notwendig. Die daraus resultierenden
langfristigen Abschreibungskosten sind nun von den örtlichen Kunden zu tragen. Auch diese profitieren von den
Investitionen.
Das wird sich aber in den nächsten Jahren ändern;
denn in den nächsten Jahren sind verstärkt Neuinvestitionen in die Netze in den alten Bundesländern erforderlich. Auch hier braucht es moderne Netze, die sich an die
zukünftigen Herausforderungen anpassen. Deshalb wird
es in den nächsten Jahren zwangsläufig auch hier zu Verschiebungen kommen.
({1})
Zweiter Grund - auch dieser wurde schon genannt -:
Der zukünftige enorme Ausbau der erneuerbaren Energien findet vor allem in den ländlichen Regionen und
nicht in Ballungsräumen statt.
({2})
Das gilt sowohl für den Westen als auch für den Osten
unseres Landes. Deshalb kann man Düsseldorf auch
nicht mit dem Havelland in Brandenburg vergleichen
- das war das Beispiel, das Sie vorhin genannt haben -,
so wie das auch in Ihrem Antrag zu finden ist.
({3})
Auch in meiner Heimat, in Baden-Württemberg, gibt
es ländliche Gebiete mit einem stärkeren Zubau der erneuerbaren Energien
({4})
und entsprechend höheren Netzentgelten. Das gilt natürlich auch für die dünn besiedelten Gebiete der neuen
Bundesländer, in denen derzeit ein starker Ausbau von
erneuerbaren Energien erfolgt. So ist die Ökostromproduktion in Ostdeutschland um 10 Prozent höher als im
Westen.
Eines kann man schon heute sagen: Der Schwerpunkt
der hohen Netzentgelte wird sich in den kommenden
Jahren noch stärker in den ländlichen Raum verlagern,
auch in den alten Bundesländern. Dadurch ergibt sich
aber nicht nur ein höheres Netzentgelt, sondern auch
eine hohe regionale Wertschöpfung,
({5})
die durch den Ausbau der erneuerbaren Energien gewollt
ist und die von diesem Pult aus oftmals beschrieben und
gelobt wurde.
Der ländliche Raum hat mit der Energiewende ein
neues Wachstumsfeld bekommen,
({6})
das im Übrigen von allen Stromverbrauchern mit über
20 Milliarden Euro jährlich subventioniert wird. Niemand profitiert von der Energiewende mehr als die ländlichen Räume. Landwirte, Kommunen, Häuslebauer und
Handwerksbetriebe auf dem Land profitieren in besonderer Weise von der Energiewende; denn wo erneuerbare Energien ausgebaut werden, entsteht auch regionale
Wertschöpfung.
({7})
Einheitliche Netzentgelte sind nicht gerechter, sondern sie hebeln die bestehende Anreizregulierung aus;
denn das derzeitige Anreizregulierungssystem setzt Effizienzanreize für die verschiedenen kommunalen und regionalen Netzbetreiber.
({8})
Solche regulatorischen Effizienzanreize sind erforderlich, um ineffiziente Investitionen zulasten der Stromverbraucher zu vermeiden.
Ein einheitliches Netzentgelt würde den Effizienzwettbewerb zunichtemachen. Das wäre kontraproduktiv.
Damit würde beispielsweise auch die Sinnhaftigkeit,
dass wir 900 Verteilnetzbetreiber haben, infrage gestellt.
Denn wenn wir ein einheitliches Netzentgelt einführen,
dann würde auch ein großer Verteilnetzbetreiber völlig
ausreichen. Die immer wieder von vielen propagierte
Rekommunalisierung, die auch von Ihnen gewünscht
wird, wäre damit endgültig überflüssig.
Meine Damen und Herren, wer tatsächlich die
Netzentgelte mindern will, muss das System der „vermiedenen Netzentgelte“ angehen und die erneuerbaren
Energien netztechnisch besser steuern. Das System der
vermiedenen Netzentgelte ist überholt; seine Abschaffung würde bei den Netzentgelten um 350 Millionen
Euro entlasten. Das käme vor allem den Regionen mit
höheren Netzentgelten, also auch den vorhin genannten
Regionen, nachhaltig zugute. Vermiedene Netzentgelte
basieren auf der Annahme, dass dezentrale Stromeinspeisungen den Netzausbaubedarf auf der vorgelagerten
Netzebene reduzieren. Dadurch würden, so die Annahme, Infrastrukturkosten vermieden.
Diese Grundannahme ist nachweislich falsch.
({9})
Denn gerade die Anlagen für fluktuierende erneuerbare
Energien wie Wind- und Sonnenenergie sind die Ursachen für den erheblichen Netzausbau, der gerade auch
die Verteilnetzumlagen ständig nach oben treibt. Bei den
erneuerbaren Energien ist die Einspeisung nicht planbar,
und die Anlagen sind nur schwer steuerbar, da eine Abnahmepflicht existiert. Es entstehen erhebliche Kosten
für den Ausbau des bestehenden Netzes, da der Überschussstrom ins vorgelagerte Netz gedrückt wird. Darüber sollten wir reden, statt über die Art und Weise, wie
wir die Netzentgelte zulasten der Verbraucher anders
verteilen können.
({10})
Meine Damen und Herren, auch die erneuerbaren
Energien müssen in Zukunft netzverträglicher ausgebaut
werden. Wir sollten uns ernsthaft überlegen, ob die
Netzanschlusspflicht und die Entschädigungsregelungen in der jetzigen Form noch sinnvoll sind. Denn der
Ausbau von Windanlagen in netzschwachen Regionen
geht lediglich zulasten der Verbraucher, die die stillstehenden Windräder über die EEG-Umlage entschädigen.
Deshalb ist es gut, dass wir dieses Problem zeitnah
angehen möchten. Wir sollten ernsthaft über eine deutliche Senkung der Entschädigung für stillstehende Anlagen nachdenken.
({11})
Heute erhält ein stillstehendes Windrad 95 Prozent
der EEG-Vergütung. Wenn man diesen Wert absenken
würde, gäbe es einen Anreiz für Anlagenbetreiber, in
Regionen mit ausreichenden Netzen zu investieren. Das
wäre volkswirtschaftlich sinnvoll; es wäre aber auch für
die betroffenen Regionen eine spürbare Entlastung in der
Zukunft.
Meine Damen und Herren, wir müssen natürlich auch
die Netze weiter ausbauen. Denn das zeigt auch diese
Debatte: Der Ausbau der erneuerbaren Energien alleine
reicht nicht aus. Neuer Strom muss auch abtransportiert
werden: vom Land in die Stadt, vom Norden in den Süden. Das bedeutet, Netze müssen ausgebaut und ertüchtigt werden. Hierfür haben wir bisher die gesetzlichen
Rahmenbedingungen geschaffen. Jetzt müssen wir auch
den Ausbau vorantreiben.
Herzlichen Dank.
({12})
Der Kollege Lenkert hat jetzt die Möglichkeit zu einer Kurzintervention.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Kollege Bareiß,
ich möchte Ihnen kurz ein paar Punkte erklären, die Sie
unserem Antrag wahrscheinlich nicht komplett entnommen haben. Das bundeseinheitliche Netzentgelt führt
nicht zu Effizienzverlusten bei den Netzbetreibern. Denn
wir planen - wenn Sie den Antrag richtig gelesen hätten,
dann wüssten Sie das -, dass die Netzbetreiber sich wie
bisher von der Bundesnetzagentur ihre jeweiligen Netzentgelte genehmigen lassen. Dann wird das Netzentgelt wie
bisher, aber eben bundesweit einheitlich, mit der Stromrechnung von allen Stromkunden eingezogen. Das Geld
fließt in einen Fonds, aus dem dann die Netzbetreiber die
ihnen jeweils zustehenden und genehmigten Netzentgelte zurückerhalten. Damit werden keine Effizienzverluste eintreten. Das ist der erste Punkt.
Der zweite Punkt ist: Sie sagten, das wäre ein Vorteil
für die einheimische Wirtschaft. Wenn zwischen zwei
Regionen im Industriebereich ein Strompreisunterschied
von 100 Prozent besteht, dann liegt eine Wettbewerbsverzerrung vor und wird die strukturschwache Region
noch strukturschwächer. Dann müssen die dortigen
Handwerksbetriebe aus Kostengründen - wegen der höheren Energiekosten - in die ohnehin schon strukturstarken Regionen wegziehen. Das verstärkt das Ungleichgewicht weiter, und damit wird es noch schwieriger, die
Energiewende zu meistern. Diesen Aspekt sollten Sie
also auch nicht vergessen.
Ein letzter Punkt: Die TU Dresden hat, beauftragt
durch die sächsische Staatsregierung, ermittelt, dass inklusive der Modernisierung der Netze im Westen die
Schere zwischen Regionen mit den niedrigsten Netzentgelten und denen mit den höchsten sich immer weiter
öffnen wird.
Im Übrigen kann ich Ihnen einen der Kreise nennen,
die die höchsten Netzentgelte im Jahr 2023 haben werden. Das ist der Wahlkreis Vorpommern-Rügen Ihrer
Bundeskanzlerin. Dieser Kreis wird den dritthöchsten
Netzentgeltpreis aus den eben genannten Gründen haben.
Wir sind der Meinung, dass alle gleichmäßig an den
Lasten der Energiewende beteiligt werden sollten. Unterschiede zwischen 4,7 Cent und 14 Cent Netzentgelt
sind einfach nicht vermittelbar. Obendrauf kommt die
Mehrwertsteuer. Dadurch wird man noch mehr geschröpft. Reden Sie also nicht von Maßnahmen, die Sie
vielleicht ergreifen wollen! Ergreifen Sie endlich Maßnahmen! Wenn Sie mit anderen Maßnahmen die
Netzentgelte senken, werden wir dem nicht entgegenstehen.
({0})
Herr Kollege Bareiß, Sie haben die Möglichkeit, darauf zu erwidern.
Herzlichen Dank. - Herr Lenkert, der Unterschied
zwischen uns beiden ist, dass Sie erhöhte Preise neu verteilen wollen. Ich möchte versuchen, erhöhte Preise zu
reduzieren. Ich glaube nicht, dass es günstiger wird, indem wir alles sozialisieren.
({0})
Auch wenn ich Ihr Anliegen verstehen kann, müssen wir
berücksichtigen, dass in den Regionen, die erhöhte
Netzentgelte haben, eine regionale Wertschöpfung stattfindet;
({1})
darauf bezog sich ein großer Teil meiner Rede. Es gibt
also sowohl Vorteile als auch Nachteile für die betreffenden Regionen. Wir werden darüber in den nächsten Monaten intensiv sprechen. Es handelt sich aber nicht um
ein Ost-West-Problem, sondern um ein generelles Problem der Energiewende. Das muss fein austariert werden. Wir müssen unsere Anstrengungen darauf verwenden, die Kosten zu reduzieren. Für mich bietet eine
Sozialisierung keine Grundlage. Sie wird nicht zu einer
Lösung führen.
Herzlichen Dank.
({2})
Jetzt hat der Kollege Oliver Krischer für Bündnis 90/
Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist in der Tat richtig: Die Netzentgelte in Deutschland
sind reformbedürftig. Vor allen Dingen muss eine Leistungskomponente eingeführt werden, weg von der reinen Kilowattorientierung der Netzentgelte; denn es entstehen Kosten dadurch, dass das System vorgehalten
werden muss, egal wie viele Kilowattstunden bezogen
werden. Die Große Koalition hat das als wichtiges
Thema erkannt; das steht auch im Koalitionsvertrag.
Aber ich hätte mir gewünscht, Herr Bareiß, dass Sie sagen, wie der Stand ist und was Sie unternehmen. Dazu
habe ich leider nichts gehört; ich habe nur von der Abregelung der Windkraftanlagen gehört. Das ist eigentlich
nicht das Thema. Ich hätte mir gewünscht, dass Sie eine
Ansage zur Einführung einer Leistungskomponente bei
den Netzentgelten machen.
({0})
Der zweite Punkt ist: Wir müssen die Anreizregulierungsverordnung novellieren; denn im Moment werden
Verteilnetzbetreiber, die nicht in ihre Netze investieren,
tendenziell eher belohnt werden als diejenigen, die vorangehen und moderne Netze, sogenannte Smart-Netze,
bauen. Auch dieses Problem wird im Koalitionsvertrag
benannt. Sogar die Bundesnetzagentur weist darauf hin,
dass hier etwas getan werden muss. Aber, Herr Bareiß,
auch dazu habe ich nichts gehört. Es wäre interessant, zu
erfahren - vielleicht sagt der Kollege Becker gleich noch
etwas dazu -, wie der Stand ist und wann wir mit etwas
rechnen können.
Last, but not least haben wir - auch das ist ein wesentlicher Punkt - ein absurdes Sammelsurium von Ausnahmetatbeständen. Ich will nicht wieder die Golfplätze erwähnen. Nur so viel: Mir kann keiner erklären, warum
der Betreiber eines Golfplatzes verminderte Netznutzungsentgelte zahlt. Wir müssen § 19 Absatz 2 der Stromnetzentgeltverordnung reformieren, Stichwort: Mitternachtsparagrafen. Dazu höre ich von Ihnen gar nichts.
Aber das würde die Verbraucher entlasten und tatsächlich etwas bringen.
({1})
Nun haben die Kollegen von der Linken einen Antrag
eingebracht, der ein Problem beschreibt, das real existiert. Ich finde es nur ein bisschen schade, Ralph
Lenkert, dass das hier als Ost-West-Problem aufgezogen
wird.
({2})
Wenn überhaupt, dann ist das ein Problem zwischen Ballungsgebieten und ländlichen Regionen.
({3})
Wenn man für die Energiewende ist, sollte man das differenziert darstellen und hinzufügen - hier bin ich Kollegen Bareiß ausnahmsweise dankbar -, dass ländliche
Regionen von der Energiewende überwiegend profitieren. Damit wird Wertschöpfung in die ländlichen Regionen verlagert. Das heißt, das ist etwas Positives.
Sie stellen das Problem so dar, als ob die hohen Netzentgelte allein durch die Energiewende verursacht wären. Das ist aber überhaupt nicht der Fall. Gerade im Osten haben wir hohe Netzentgelte, weil in den vergangenen 25 Jahren nach der Wiedervereinigung stark in die
Netze investiert worden ist und deshalb die Kosten dort
gestiegen sind. Im Westen steht das in vielen Regionen
noch bevor. Das hat gar nichts mit der Energiewende zu
tun, das hat etwas mit dem Alter der Netze zu tun. Bei
mir zu Hause steht ein Verteilerkasten aus den 50er-Jahren vor der Haustür. Der wird irgendwann ausgetauscht
werden müssen, und dann stehen Investitionen an. Wenn
es so läuft, wie Sie es machen wollen, dann führt das am
Ende dazu, dass der Osten die Umlage des Westens bezahlt. Das kann nicht in Ihrem Sinne sein. Da schießen
Sie an der Stelle ein Eigentor.
({4})
Worüber wir wirklich reden müssen, ist die Frage, wie
wir die Kosten für die Ausbaukomponenten, die durch
die Energiewende verursacht werden, tatsächlich gerecht
verteilen können. Da, finde ich, haben Sie mit Ihrem An6402
trag einen Punkt getroffen, über den man reden muss.
Das ist aber Teil der Frage, wie wir modernisieren und
wie wir den ganzen Komplex der Netzentgelte neu ordnen. Das steht auf der Tagesordnung. Wenn Ihr Antrag
einen Anlass bietet, darüber zu reden und auch einmal zu
hören, welche Vorstellungen die Große Koalition dazu
hat, dann ist das insgesamt gut.
Man muss aber auch ein bisschen aufpassen, was man
mit so einer Debatte anfängt. Das haben wir gerade vom
Kollegen Bareiß gehört. Ich würde sagen: Der Kollege
ist nicht immer ganz so auf der Seite der erneuerbaren
Energien; diesen Eindruck habe ich, wenn ich die Debatten so verfolge. Es wird die Frage gestellt: Brauchen wir
überhaupt 900 Verteilnetzbetreiber? Wenn wir Netzentgelte komplett ausgleichen, dann muss man auch die
Frage beantworten, wie wir dafür sorgen, dass weiter regional und dezentral effizient gewirtschaftet wird.
Das haben Sie zwar angesprochen, man sucht aber in
Ihrem Antrag vergeblich die Lösung. Die findet man
nicht. Das geht an der Stelle nicht. Deshalb hoffe ich darauf, dass wir im Wirtschaftsausschuss eine vernünftige
fachliche Debatte führen; denn das ist etwas für Feinschmecker der Energiewende. Ich hoffe, dass wir am
Ende eine Lösung finden werden.
Wenn der Antrag der Anlass dazu ist, dass wir insgesamt die vielen fachlichen Detailfragen, von der Leistungskomponente über die Anreizregulierungsverordnung
und die Ausnahmetatbestände bis hin zur regionalen
Verteilung und zu regionaler Gerechtigkeit, unter einen
Hut bringen können, dann wäre das am Ende ein gutes
Ergebnis. Darauf freue ich mich. Wenn das der Anlass
ist, dann ist das okay.
Danke schön.
({5})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dirk Becker für die
Sozialdemokraten.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ich habe gerade zu Oliver Krischer aus Spaß gesagt:
Mensch, du kannst ja auch vernünftig sein.
({0})
Was will ich damit sagen? Ich bin der Fraktion Die
Linke durchaus dankbar, dass sie sich dem Energiethema
widmet, mit dem man in der Tat vielleicht keine Wahlkämpfe gewinnt. Es sind etliche Themen in der Pipeline,
die für die Energiewende unverzichtbar sind, und das
Thema der Verteilnetze, der Übertragungsnetze gehört
unstrittig dazu.
Ich will zu Beginn auch mit Blick auf Thomas Bareiß
kurz den Koalitionsvertrag zitieren, wenn ich darf, Herr
Präsident. Dort ist nämlich das festgehalten, was Oliver
Krischer eben gesagt hat.
Die Koalition wird das System der Netzentgelte auf
eine faire Lastenverteilung bei der Finanzierung der
Netzinfrastruktur überprüfen.
Es ist klar: Wir haben in den Koalitionsverhandlungen erkannt, dass es hier Handlungsbedarf gibt. Es gibt
Unterschiede, die aus den eben dargestellten Gründen
herrühren. Wir wollen uns das anschauen und dann für
eine fairere Verteilung sorgen.
Aber, lieber Ralph Lenkert, man darf das Thema nicht
an diesem Punkt beenden.
({1})
Man darf nicht nur eine Gerechtigkeitsdebatte daraus
machen, sondern es handelt sich auch um eine Frage der
Technik, der neuen Herausforderungen, der Weiterentwicklung und ob wir Leistungskomponenten brauchen.
Auch das ist im Koalitionsvertrag genauso adressiert.
Das heißt, es geht nicht nur um die Frage, ob es gerecht
oder fair ist, sondern auch darum, wie ich die künftigen
Herausforderungen angehen kann. Man muss aufpassen
- das hat Oliver Krischer gesagt -, dass man die Anreize
für Effizienzmaßnahmen hochhält, dass man aber die
ungerechten Differenzierungen, die gesamtsystematisch
entstanden sind - denn die Energiewende ist eine gesamtdeutsche Herausforderung -, ausgleicht.
Lieber Thomas Bareiß, gestatte mir einen Hinweis.
Möglicherweise könnte hier und da der Eindruck entstehen, dass wir in dieser Debatte grundsätzlich noch einmal die Frage der Entschädigungsregelung diskutieren.
Du kennst die offizielle Sprachregelung in der Koalition.
Wir haben das im Rahmen der EEG-Novelle diskutiert.
Wir sind zu einer anderen Überzeugung gekommen, und
die gilt bis zum Ende dieser Legislaturperiode. Ich sage
das nur, damit für Außenstehende an dieser Stelle keine
Verunsicherung entsteht.
({2})
Was mir relativ wichtig ist, ist, dass wir Folgendes
noch einmal miteinander besprechen - das klang eben an -:
Das ist die Frage, ob Annahmen der Energiewende heute
noch so zutreffen wie beispielsweise zu dem Zeitpunkt,
als wir über die vermiedenen Netznutzungsentgelte gesprochen haben. Wir haben vor einigen Jahren angenommen, dass wir mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien weniger Investitionen in die Netze zu tätigen haben.
Der Gegenbeweis ist heute an vielen Stellen erbracht:
Die Netze haben neue Funktionen erhalten; sie müssen
anders aufgestellt werden; andere Investitionen sind erforderlich. Von daher müssen wir an dieser Stelle in Erwägung ziehen, dass die vermiedenen Netznutzungsentgelte heute eigentlich nicht mehr zeitgemäß sind, und
müssen darüber hinaus - wir haben das beim Thema Eigenverbrauch und beim EEG diskutiert - schauen, wie
wir alle stärker an den Kosten der Infrastruktur beteiligen, unabhängig davon, ob sie sie ständig nutzen oder
nur als Rückfalloption betrachten. Diese Investitionen
sind für das gesamte System erforderlich, und alle sind
daran zu beteiligen.
Von Oliver Krischer wurde eben die Frage gestellt:
Wie seid ihr denn aufgestellt? Es ist so - ich glaube, das
weißt du auch; der Zeitplan ist ja nicht geheim -, dass
bis zur Sommerpause des nächsten Jahres die Regierung
eine Reform der Anreizregulierungsverordnung plant
und dass wir in dem Zusammenhang die vom Kollegen
Lenkert aufgeworfenen Fragen prüfen.
Ich will an dieser Stelle eines aber auch sagen - ich
habe es Ihnen vorweg schon gesagt -: Wir haben natürlich schon Gespräche mit den Akteuren im Markt geführt; denn so etwas macht man nicht am Reißbrett und
nicht, indem man das nur als Gerechtigkeitsfrage behandelt. Dabei hat man es mit etwas zu tun, was oft vorkommt: Jeder Übertragungsnetzbetreiber hat eine andere
Position. Den Vorschlag, den Sie machen, sehe ich gegenwärtig - ich sage es einmal vorsichtig - noch am
weitesten weg. Es gibt viele Vorschläge dazu, wie man
so etwas in einem Übergang, vielleicht in verschiedenen
Stufen, modellieren kann.
All das werden wir besprechen, gern mit der Opposition, in jedem Fall aber mit den Akteuren am Markt. Das
Problem ist angekommen, es steht auf der Agenda der
Großen Koalition, und wir werden es entsprechend lösen.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank, Herr Kollege Becker. - Sie hatten gefragt, ob das Zitieren des Koalitionsvertrags zulässig ist.
Ich möchte Ihnen hier eindeutig erklären: Es ist zulässig;
allerdings wird es auf die Redezeit angerechnet.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Herlind
Gundelach für die CDU/CSU.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Unsere Netze
sind in allen drei Spannungsebenen ein unverzichtbarer
Teil unseres Energiesystems - ich glaube, da sind wir
uns einig -, und sie sind auch das Rückgrat unserer
Energieversorgung. Daraus folgt: Ohne eine ausreichende Netzkapazität kann letztendlich auch die Energiewende nicht gelingen. Um dieses Rückgrat der Energiewende kontinuierlich stabil zu halten, arbeiten wir
seit vielen Jahren daran, die Netzinfrastruktur mit der
Energieerzeugung und dem Energieverbrauch in Einklang zu bringen; denn Netzausbau und Ausbau der erneuerbaren Energien bedingen einander und müssen deswegen eng verzahnt miteinander gestaltet werden.
Dabei müssen wir aber auch berücksichtigen, dass der
Aus- und Umbau unseres Stromnetzes je nach regionaler
Beschaffenheit unterschiedliche Anforderungen aufweist und dadurch auch unterschiedlich intensiv ausgeprägt ist. Dies hat vor allem zwei Gründe - auf sie sind
die Vorredner schon eingegangen; deswegen, denke ich,
muss ich das nicht auch noch tun -: Diese betreffen zum
einen die Entwicklung in den neuen Bundesländern und
zum anderen all die Regionen, wo erneuerbare Energien
in stärkerem Umfang installiert worden sind als anderswo.
Ich möchte einmal ganz nüchtern auf die von der Linken präsentierten Zahlen eingehen. Sie sprechen in Ihrem Antrag davon, dass es teilweise eine Kostendifferenz von 100 Prozent geben würde, bei einem Verbrauch
von 3 500 Kilowattstunden eine Kostendifferenz von
192 Euro. Da habe ich selber angefangen, ein bisschen
zu rechnen. Gehen wir davon aus, dass die Netznutzungsentgelte ungefähr 22 Prozent des Strompreises ausmachen.
({0})
Ich habe die Netzentgelte in ungefähr gleich großen
Städten im Westen und im Osten miteinander verglichen
und erhielt ganz andere Zahlen. Sie haben in Ihrem Antrag - darauf ist schon hingewiesen worden - eine Großstadt, nämlich Düsseldorf, mit einer Region, dem Havelland, verglichen. Damit ändern Sie Vergleichsparameter.
Jeder Statistiker wird Ihnen sagen, dass das nicht geht.
Ich habe die Netzkosten der Kleinstädte Wittenberge
in Brandenburg und Bad Saulgau in Baden-Württemberg miteinander verglichen. Beide Städte haben rund
17 000 Einwohner. Vergleicht man nun auf Grundlage
des von Ihnen zitierten Vergleichsportals Verivox, müssen die Wittenberger bei einem Verbrauch von 3 500 Kilowattstunden rund 168 Euro an Netzkosten bezahlen,
die Bad-Saulgauer rund 170 Euro. Ich glaube, das ist
kein allzu großer Unterschied.
({1})
Dieser Vergleich belegt, dass Sie Ihre Argumente offensichtlich nur mit einer bestimmten Brille gewählt haben;
denn höhere Netznutzungsentgelte - das ist heute schon
deutlich geworden - sind nicht nur im Osten und in
strukturschwachen Regionen zu finden. Vielmehr zeigt
sich, dass diese Netznutzungsentgelte regional unterschiedlich hoch ausfallen, und zwar im Westen wie im
Osten.
({2})
Regionale Unterschiede müssen aus meiner Sicht aber
auch regional gelöst werden.
({3})
Genau aus diesen Gründen werden die Netznutzungsentgelte gemäß dem Verursacherprinzip regional gewälzt und
dort getragen, wo sie anfallen. Wir haben in Deutschland
doch auch ganz bewusst keinen Einheitsmietpreis und
keinen Einheitswasserpreis. So etwas wie ein Länderfinanzausgleich für Netze wäre nicht marktwirtschaftlich
und aus unserer Sicht auch nicht umsetzbar.
Davon abgesehen ignorieren Sie einen weiteren
Punkt, auf den ich jetzt nur kurz eingehen möchte, nämlich dass mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien
durchaus auch Wertschöpfung in diesen Regionen erfolgt, was zu erhöhten Steuereinnahmen und auch mehr
Ausbildungs- und Arbeitsplätzen führt. Durch eine bundesweite Vereinheitlichung der Netzentgelte würden wir
den gewünschten Standortwettbewerb der Länder unterbinden. Die Höhe der Netzentgelte stellt gerade für
stromintensive Unternehmen einen bedeutsamen Standortfaktor dar, der durch die Schaffung bundeseinheitlicher Netzentgelte nicht nachteilig beeinflusst werden
sollte. Für die industriell geprägten Bundesländer, die
nicht von einer gestärkten Wertschöpfung durch die
Energiewirtschaft profitieren, könnten einheitliche
Netzentgelte zu einer Mehrbelastung von bis zu 40 Prozent führen.
Die Energiewende führt, wie Sie in Ihrem Antrag
richtig ausgeführt haben, zu einer Dezentralisierung unseres Energiesystems. Daher ist in der Vergangenheit
auch immer wieder über die sachgerechte und angemessene Ausgestaltung der Netznutzungsentgelte diskutiert
worden. Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, die
Netzentgelte dahin gehend zu überprüfen; das hat Herr
Becker gerade gesagt. Das werden wir auch machen. Vor
diesem Hintergrund haben wir bereits 2007 die Berechnung der Netznutzungsentgelte auf das Anreizregulierungssystem umgestellt. Ich kann mich erinnern, dass
ich damals im Vermittlungsausschuss, als wir die ersten
Überlegungen dazu anstellten, auf Länderseite dabei
war. Das war ein schwieriger Komplex; aber ich glaube,
der Ansatz, den wir damals gewählt haben, war richtig.
Dieses System soll Netzbetreibern gerade Anreize zur
Steigerung der Effizienz geben und damit zu Kostensenkungen für den Verbraucher führen. Die Genehmigung
der Netzentgelte erfolgt durch die Bundesnetzagentur,
die diese Prüfung sehr sorgfältig durchführt und dabei
stets das Interesse der Verbraucher im Blick hat.
Eine Vereinheitlichung der Netzentgelte würde hingegen nach unserer Auffassung zu einer Aushebelung des
Wettbewerbs und damit zu einer Entkopplung der Anreizmechanismen führen.
({4})
Netzbetreiber hätten dann keine großen Anreize mehr
für eine effiziente Bewirtschaftung ihrer Netze. Im Netz
darf der Effizienzdruck nicht über Regulierung erfolgen,
sondern muss weiterhin über den marktwirtschaftlichen
Mechanismus des Preises funktionieren; alles andere
geht aus meiner Sicht in Richtung Planwirtschaft. Sie
fordern im Prinzip eine Situation ein, die einer Verstaatlichung der Netze gleichkommt. Planwirtschaft und Verstaatlichung durch die Hintertür, das wollen wir nicht
unterstützen.
({5})
Um die Wirkungsweise des Anreizregulierungssystems beurteilen zu können, haben wir die regelmäßige
Erstellung eines Evaluierungsberichts durch die Bundesnetzagentur eingeführt. Dieser Evaluierungsbericht ist
bis zum 31. Dezember 2014 dem Bundesministerium für
Wirtschaft und Energie vorzulegen. Der Bericht wird unter anderem Angaben zum Investitionsverhalten der
Netzbetreiber und zur Notwendigkeit von Maßnahmen
zur Beseitigung von Investitionshemmnissen enthalten.
Sollten wir bei Überprüfung der Anreizregulierung
feststellen, dass die vorhandene Netzentgeltsystematik
nicht ausreichend greift, müssen wir uns Gedanken machen, wie wir eine Novellierung systematisch angehen
können, ohne dass bereits bestehende marktwirtschaftliche Instrumente ausgehebelt werden.
Ich sehe beispielsweise in der steigenden Eigenstromversorgung durchaus eine Herausforderung, der wir uns
auch im Bereich der Netze stellen müssen. Hier könnte
man zum Beispiel über eine Änderung der Netzanschlusskosten oder anderes nachdenken. Nicht durchdachte
Schnellschüsse, wie sie Ihrem Antrag zugrunde liegen,
sollten wir aus meiner Sicht in jedem Fall vermeiden.
Herzlichen Dank.
({6})
Abschließender Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Johann Saathoff, SPD.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Als ich den Antrag der Linken zum ersten Mal
gelesen habe, dachte ich, ich müsste in meiner Rede
heute Details aus der Evaluierung der Anreizregulierungsverordnung vortragen, was ich gar nicht kann, weil
der Prozess noch nicht abgeschlossen ist. Ich diskutiere
über dieses Thema oft genug mit meinem Sohn
Christian, einem Auszubildenden im Bereich der erneuerbaren Energien. Diese Gespräche sind für den Rest unserer Familie, liebe Kolleginnen und Kollegen, keine
große Freude.
({0})
Ich denke, Sie werden mir alle dankbar sein, wenn ich
uns das so kurz vor dem Abschluss dieser Sitzungswoche erspare.
Stattdessen möchte ich lieber den Gedanken Ihres Antrags aufgreifen. „Entsolidarisierung“ war der erste Begriff, der mir dabei einfiel. Es ist nicht richtig, dass die
Lasten des regionalen Netzausbaus ungerecht verteilt
werden. Wir alle wollen im Sinne der Gerechtigkeit und
der gleichen Lebensverhältnisse insbesondere der Menschen in den ländlichen Räumen einheitliche finanzielle
Rahmenbedingungen bei den Netznutzungsentgelten
schaffen.
Wenn Sie einen Blick in unseren Koalitionsvertrag
geworfen haben - er ist schon zitiert worden -, haben
Sie gesehen, dass wir das System der Netzentgelte überprüfen wollen - was wir ja bereits tun -, und dies vor allem mit Blick auf eine faire Lastenverteilung bei der Finanzierung der Netzinfrastruktur. Liebe Kolleginnen und
Kollegen, wie es aussieht, besteht Konsens über das
Ziel; nur über den Weg dahin sind wir uns uneins.
Den fairen Lastenausgleich dürfen wir aber nicht nur
auf die Netzentgelte beziehen. Die Energiewende ist eine
gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Deshalb muss sich
auch die gesamte Gesellschaft an den Lasten beteiligen.
Der Zustand, den Sie in Ihrem Antrag beschreiben, nämlich dass Stromkunden in ländlichen Räumen und Regionen mehr Netzentgelte zu zahlen haben als Stromkunden
in Ballungsgebieten, ist ein gutes Beispiel für die wachsende Kluft zwischen den Ballungsgebieten und den
ländlichen Regionen.
Ich komme aus einer ländlichen Region. Mein Wahlkreis ist einer der wenigen Wahlkreise in Deutschland
ohne einen einzigen Autobahnkilometer.
({1})
Schnelles Internet gibt es längst nicht überall, und wir
führen immer wieder Diskussionen über den Erhalt von
Institutionen der Daseinsvorsorge. Er ist ein Beispiel für
viele ländliche Regionen in Deutschland, die in ihrer
Entwicklung einfach mehr und mehr abgehängt werden.
Für dort lebende Menschen macht das die Sache nicht
einfacher. Deshalb freue ich mich darüber, dass wir in
dieser Legislaturperiode zum Beispiel die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des
Küstenschutzes“ zu einer Gemeinschaftsaufgabe „Ländliche Entwicklung“ weiterentwickeln wollen. Damit
können wir künftig viel für die Menschen in den ländlichen Räumen tun. Dieses Projekt werden wir im Frühjahr 2015 starten. Auch beim Breitbandausbau wollen
wir viel Geld in die Hand nehmen. Ziel ist es, bis 2018
alle Haushalte in Deutschland mit einer Übertragungsgeschwindigkeit von 50 Megabit pro Sekunde zu versorgen.
Um wieder zur Energie zurückzukehren, möchte ich
den Bundeswirtschaftsminister zitieren, der dieses Jahr
nicht müde wurde, zu betonen, dass wir die Lasten der
Energiewende wieder auf mehr Schultern verteilen wollen, und das wollen wir auch nach der Novelle des EEG.
Allerdings werden wir dabei nicht den von Ihnen vorgeschlagenen Weg eines Gesetzes beschreiten; denn die für
die Netzentgelte maßgeblichen Bestimmungen sind Verordnungen.
Die Netzentgelte sind für uns aber nur ein Teilaspekt
zukünftiger Aufgaben, zu denen ich noch einige Sätze
sagen möchte: Das Bundesministerium für Wirtschaft
und Energie hat kürzlich ein Grünbuch zum Strommarktdesign vorgelegt. Dieses Grünbuch ist ein Diskussionspapier, und wir in der SPD-Bundestagsfraktion beraten dieses Thema schon seit einiger Zeit sehr intensiv
unter Federführung meines Kollegen Dirk Becker. Dabei
ist eine ganz zentrale Frage, ob die notwendigen Reservekapazitäten allein in einem Strommarkt 2.0 wirtschaftlich vorgehalten und eingesetzt werden können oder ob
wir dafür einen zweiten Markt oder Mechanismus, einen
Kapazitätsmechanismus, brauchen. Eine weitere Aufgabe besteht darin, einen möglichst großen Teil des geplanten Netzausbaus zu vermeiden, indem wir den Bedarf mit intelligenten Netztechnologien oder smarter
Steuerung kompensieren. Dadurch würden bestimmte
Kosten erst gar nicht entstehen, und gerade die Kosten,
die nicht entstehen, sind doch die besten. Ich denke, da
sind wir uns einig.
Nun, am Ende meiner Rede am Ende dieser Sitzungswoche, freue ich mich auf eine fünfstündige Zugfahrt in
diese wunderbare Region ohne Autobahn und ohne
schnelles Internet, die für mich trotzdem die schönste
Region Deutschlands ist, dahin, wo Deiche hoch und
Berge Fehlanzeige sind,
({2})
in das schöne Ostfriesland.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Komm’t
gaud na Huus hen!
({3})
Lieber Herr Kollege Saathoff, vielen Dank für die
Schilderung der Heimatregion. - Damit sind wir am
Ende unserer Aussprache angelangt.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3050 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung und auch dieser Woche.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages ein auf Dienstag, den 25. November 2014,
10 Uhr.
Die Sitzung ist geschlossen. Kommen Sie alle gut
nach Hause.