Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Gäste auf
der Besuchertribüne und an den Bildschirmen! Meine
Damen und Herren Botschafter! Ich begrüße Sie alle
herzlich zu dieser Plenarsitzung des Deutschen Bundestags, in der wir uns heute Morgen vor Eintritt in unsere
übliche Tagesordnung mit der friedlichen Revolution in
der damaligen DDR und dem Fall der Berliner Mauer
vor 25 Jahren am 9. November 1989 befassen.
„Die Mauer ist weg!“ Ein einfacher Satz. Zu einfach.
Damals unfassbar, vor 25 Jahren, als ein beiläufig vorgelesener Zettel auf einer inzwischen legendären Pressekonferenz in Ostberlin eine Lawine ins Rollen brachte,
die sich dann nicht mehr stoppen ließ, eine Lawine, die
sich freilich seit langem aufgestaut hatte. Die Unfassbarkeit dieses Satzes spiegelt sich in den Gesichtern der
Menschen, die tatsächlich „unverzüglich“ der Ankündigung des neuen Parteisekretärs für Informationswesen
folgten und die Grenzübergänge in Berlin buchstäblich
stürmten.
Die Bilder gingen um die Welt, und sie gingen unter
die Haut: konsternierte Grenzer, tränenüberströmte Gesichter der Menschen, die das Glück dieser Stunden
nicht fassen konnten, Trabi-Kolonnen, elektrisierte Reporter und Jubel, Jubel, Jubel. „Wahnsinn“.
In der Nacht vom 9. zum 10. November 1989 ist wahr
geworden, was in der inoffiziellen Hymne der Solidarnosc in Polen der 80er-Jahre besungen und beschworen
wurde:
Ziehe den Mauern die Zähne der Gitter aus! Sprenge
die Fesseln, zerbreche die Knute! Und die Mauern
stürzen ein und begraben die alte Welt!
Meine Damen und Herren, in der Tat: Der Mauerfall
beschleunigte durch die Symbolkraft der Bilder wie des
Ortes den Zerfall der alten Welt des Kalten Krieges und
des Ost-West-Konfliktes und führte binnen knapp eines
Jahres zur deutschen Einheit.
Berlin war der Ausgangspunkt dieses Prozesses, aber
nicht 1989, sondern im Juni 1953, als ein Volksaufstand
blutig niedergeschlagen wurde. Die glückliche Verbindung von Freiheit und Einheit hat also eine lange Vorgeschichte. Der Mauerfall war der Siedepunkt des Schicksalsjahres 1989 und ein Ereignis, das vielen, die damals
dabei waren, und manchen bis heute wie ein Wunder erscheint.
Ein Wunder war es aber nicht, ebenso wenig wie ein
Naturereignis, sondern die Folge einer nicht nur in der
deutschen Geschichte beispiellosen friedlichen Revolution, die seit Monaten in einem atemberaubenden Tempo
von einem Höhepunkt zum anderen eilte. Sicher ist:
Ohne die zahlreichen Bürgerrechtsbewegungen, die sich
im Spätsommer 1989 zu Volksbewegungen entwickelten
und ihren Veränderungswillen in friedlichen Massendemonstrationen ausdrückten, hätte es diesen 9. November
in Berlin nicht gegeben.
„Wir bleiben hier“ war eine der trotzigen Schlagzeilen der mutigen Bürger, die erkannt hatten, dass sie das
Volk sind. „Wir wollen raus“ war das Pendant der Desillusionierten in der DDR. „Ich möchte am liebsten weg
sein und bleibe am liebsten hier“ hat Wolf Biermann
diese gespaltene Gefühlslage damals besungen. Ich freue
mich, dass Wolf Biermann meine Einladung angenommen hat und der friedlichen Revolution auch heute seine
unverwechselbare Stimme gibt.
({0})
Die Fernsehbilder der DDR-Flüchtlinge, die in Budapest, Prag und Warschau die Zäune der bundesdeutschen
Botschaften überkletterten und schließlich in Sonderzügen nach Westdeutschland reisten, diese Bilder bislang
unvorstellbarer Ereignisse entfalteten große Wirkung
und destabilisierten das System: 1989 wurden allein bis
zum 8. Oktober 53 576 gelungene Fluchtversuche registriert.
Häufig wird vergessen, dass auch der Entschluss
Abertausender DDR-Bürger, ihr Land zu verlassen, sich
auf eine Fluchtreise über Ungarn, Polen oder die Tschechoslowakei zu begeben, Mut verlangte. Ein glücklicher
Ausgang dieses Unternehmens war keineswegs sicher.
Präsident Dr. Norbert Lammert
Sicher für die „Republikflüchtigen“ war nur, dass sie ihr
Zuhause, ihr Hab und Gut aufgeben und Familienangehörige, Freunde, Bekannte und Nachbarn zurücklassen
mussten. Das Wiedersehen, wann und ob überhaupt, war
dabei ungewiss, schon gar in den Jahren vor 1989. Zu
rechnen war allerdings mit Schikanen des Staatsapparates gegenüber den Verbliebenen.
Diese Abstimmung des Volkes mit den Füßen war
1989 kein neues Phänomen für die DDR. Bereits bis
zum Mauerbau 1961 hatten etwa 3,5 Millionen Menschen die DDR verlassen. Die Berliner Mauer und der
beinahe hermetisch abgeriegelte Grenzstreifen des „Arbeiter- und Bauernstaates“ sollten die „Republikflucht“
verhindern, die ein Straftatbestand dieser Republik war,
die zwar deutsch, sicher aber nicht demokratisch gewesen ist.
Allein in Berlin sind bei Fluchtversuchen mindestens
136 Menschen umgekommen, drei noch im Jahr 1989.
Auch an die Mauertoten und an die Schicksale ihrer Familien denken wir heute, wenn wir an die glücklichen
Stunden und Tage des Mauerfalls vor 25 Jahren erinnern.
Die weißen Kreuze, die nur wenige Meter vom Reichstagsgebäude an der Spree angebracht waren, sollen an
sie erinnern. Sie sind vor einigen Tagen gestohlen worden - mit einer „heldenhaften“ Attitüde und einer pseudohumanitären Begründung, die man für blanken Zynismus halten muss.
({1})
Wir werden selbstverständlich diese Kreuze ersetzen,
und sie werden dort bleiben.
({2})
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, mit einem Mahnmal an die Mauertoten und all
die anderen Opfer der SED-Diktatur zu erinnern, ist der
Deutsche Bundestag in diesen Tagen in einem von zahlreichen Bürgerrechtlern, Historikern, ehemaligen Abgeordneten und Künstlern unterzeichneten Aufruf aufgefordert worden, zur - ich zitiere - „Würdigung der
Hoffnungen und Anstrengungen all jener, die dem Kommunismus widerstanden haben und ihren Glauben an
eine demokratische Zukunft und ein Leben in Freiheit
nicht preisgaben“, aber auch - ich zitiere weiter - „zur
Ermunterung zum Widerstand gegen Diktatur und die
Verletzung von Menschenrechten.“
Meine Damen und Herren, der Mauerfall hat sich in
das kollektive Bewusstsein der Deutschen eingeprägt. Er
ist weltweit zum Symbol der Überwindung autoritärer
Systeme in Mittel- und Osteuropa geworden. Jeder, der
dieses Ereignis miterlebt hat, weiß genau, wo er war, als
es stattgefunden hat. Uns scheint es daher oft, als hätte
Deutschland damals die Welt verändert. 1989 gab es
aber vielerorts gigantische Umbrüche mit einer erstaunlichen Parallelität der Ereignisse, die einander bedingten,
beförderten oder beeinflussten und erst durch ihr Zusammenwirken die Welt tatsächlich verändert haben. Drehund Angelpunkt war dabei die Perestroika-Politik des
damaligen Staats- und Parteichefs der Sowjetunion,
Michail Gorbatschow.
Ihre Folgen entfalteten im Laufe des Jahres in allen
Staaten des Ostblocks eine bemerkenswert ähnliche Wirkung: Bereits im Januar 1989 gab es große Demonstrationen tschechischer Bürgerrechtler auf dem Prager
Wenzelsplatz. Anfang Februar 1989 begannen in Warschau die Gespräche am ersten Runden Tisch im damaligen Ostblock, die zu den ersten halbwegs freien Parlamentswahlen in Polen am 4. Juni 1989 führten. Das
„Bürgerkomitee“ als politische Plattform der wieder zugelassenen Solidarnosc errang einen überwältigenden
Sieg. Am gleichen Tag, dem 4. Juni 1989, schlug das
kommunistische Regime in China die studentische Demokratiebewegung mit Panzergewalt auf dem Tiananmen-Platz nieder. Die Volkskammer der DDR verkündete vier Tage später in einer öffentlichen Erklärung in
alter Manier ihre Verbundenheit mit der chinesischen
Staatsführung, die - Zitat - „infolge der gewaltsamen,
blutigen Ausschreitungen verfassungsfeindlicher Elemente“ für Sicherheit und Ordnung habe sorgen müssen.
Soweit dies als Einschüchterung oder Drohung in Richtung der Bürgerbewegung in der DDR gemeint war und
verstanden wurde, hatte es offensichtlich die gegenteilige Wirkung.
Ungarn machte schon Anfang Mai 1989 den Eisernen
Vorhang an seinen Westgrenzen durchlässig und begann
mit dem Abbau seiner elektronischen Sicherungsanlagen. Am 10. September folgte die Öffnung der ungarischen Grenzen für die flüchtigen Bürger der DDR: „Ungarn hat den ersten Stein aus der Berliner Mauer
geschlagen“ - so Bundeskanzler Helmut Kohl, der dann
just in den Stunden des Mauerfalls seinen offiziellen Besuch in Polen abstattete, und diese gerade zitierte Bemerkung bei einer Tischrede beim Abendessen auf Einladung von Tadeusz Mazowiecki machte, des im August
gewählten ersten nichtkommunistischen Ministerpräsidenten Polens nach dem Zweiten Weltkrieg.
Auch die baltischen Staaten sind Austragungsorte dieses grandiosen Transformationsprozesses gewesen: Am
23. August, dem 50. Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes,
bildeten rund 1 Million Menschen eine mehr als 600 Kilometer lange Menschenkette - von Vilnius in Litauen
über Riga in Lettland bis Tallinn in Estland. Sie demonstrierten für nationale Selbstbestimmung und Unabhängigkeit der baltischen Staaten von der Sowjetunion. Es
war der Höhepunkt der bei uns kaum wahrgenommenen
„singenden Revolution“. Ihr Markenzeichen waren verbotene Volkslieder. Gegen sie konnte man mit Panzern
nicht vorgehen. Gegen Kerzen auch nicht.
In der Tschechoslowakei spitzte sich die Lage im November zu. Am 29. Dezember, zum Abschluss der „samtenen Revolution“, wurde Václav Havel, der zu Beginn
des Jahres noch wegen „Rowdytums“ zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden war, zum Staatspräsidenten
gewählt. In Bulgarien und Rumänien beseitigten Palastrevolutionen die Regime. Der Drang nach Freiheit und
Demokratie war Ende des Jahres so stark, dass keine der
kommunistischen Regierungen im damaligen Ostblock
mehr fest im Sattel saß oder überhaupt noch im Amte
war.
Präsident Dr. Norbert Lammert
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, es tut
uns gut gerade an dem Wochenende, an dem wir einen
unstreitigen Höhepunkt der deutschen Geschichte in besonderer Weise würdigen, uns ins Bewusstsein zu heben,
dass nicht nur in Deutschland Anstrengungen unternommen und mit bemerkenswertem Mut bemerkenswerte
Veränderungen herbeigeführt worden sind. Manches
spricht für die Vermutung: Wenn die damalige Entwicklung nur in Deutschland stattgefunden hätte, hätte sie
vermutlich auch in Deutschland so nicht stattgefunden.
({3})
In der DDR vollzog sich eine durchaus andere, aber
im Kontext dieser Entwicklung folgerichtige Veränderung, die - was einem auch mit dem zeitlichen Abstand
von 25 Jahren immer noch beinahe wie ein Wunder vorkommen muss - unblutig, ohne Gewaltanwendung und
trotzdem oder vielleicht gerade deshalb unwiderstehlich
war. Dieses Jahr 1989 hat nicht nur die DDR verändert
und schließlich abgeschafft. Es hat Europa in einer
Weise verändert, wie es selten in einem einzelnen Jahr in
der Geschichte durchgreifende und nachhaltige Veränderungen auf unserem Kontinent gegeben hat. Innerhalb
weniger Monate hat sich die politische Landschaft Europas grundlegend neu gestaltet.
Die Ereignisse von 1989 gleichen jeweils für sich betrachtet einem Mosaik. Jedes einzelne Element für sich
genommen ist wie eine Kerze, die zwar Licht gibt in der
Finsternis, diese aber alleine ganz sicher nicht bezwingen kann. Erst ein Kerzenmeer - so wie in Leipzig - vermag es. Heute sind wir für jedes dieser Lichter und jedes
der einzelnen Ereignisse auf den politischen Bühnen wie
auf den Straßen Europas dankbar. Sie alle zusammen haben das „legendäre Revolutionsjahr 1989“ bewirkt und
dazu beigetragen, das Ende der Teilung Deutschlands
und Europas einzuleiten.
Meine Damen und Herren, Eric Hobsbawm, der
große britische Historiker, hat das 20. Jahrhundert als
„Zeitalter der Extreme“ beschrieben - was es ganz offensichtlich war - und zugleich als das kurze Jahrhundert, das 1914 begonnen habe und 1989 zu Ende gewesen sei. Das ist jedenfalls eine interessante und, wie ich
finde, kluge Interpretation. Tatsächlich ist das 19. Jahrhundert, das Zeitalter der rivalisierenden Nationalstaaten, im Ersten Weltkrieg kollabiert. Mit der Überwindung des Eisernen Vorhangs sowie der Etablierung
demokratischer, frei gewählter Parlamente und Regierungen überall in Europa hat das 21. Jahrhundert begonnen.
Die friedlichen Revolutionen vor 25 Jahren waren ein
Glücksfall der Geschichte. Die Beispiele der allerjüngsten Demokratisierungsbewegungen - auch direkt vor unserer Haustür - zeigen allerdings, dass der glückliche
Ausgang einer Freiheitsbewegung keiner Regel folgt,
schon gar keinem Terminkalender und der Erfolg nicht
sicher ist. Auch der Glaube, dass individuelle Freiheit,
nationale Selbstbestimmung und territoriale Integrität jedenfalls in Europa nun unangefochten seien, erweist sich
als gut gemeinte Illusion.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und
Herren, vom südafrikanischen Friedensnobelpreisträger
Desmond Tutu stammt ein Satz, der nicht nur die Ereignisse des Jahres 1989, wie ich finde, zusammenfasst,
sondern auch für ähnliche Entwicklungen in anderen
Ländern seine Gültigkeit behält. Desmond Tutu schreibt:
Nichts, nicht einmal die modernste Waffe, nicht
einmal die auf brutalste Weise schlagkräftige Polizei, nein, überhaupt gar nichts wird die Menschen
aufhalten können, wenn sie erst einmal entschlossen sind, ihre Freiheit und ihr Menschenrecht zu erringen.
({4})
Diese Einsicht, meine Damen und Herren, ist eine Ermutigung und eine Verpflichtung zugleich. Beides wollen wir heute bekräftigen.
Vielen Dank.
({5})
({6})
Wolf Biermann:
Herr Lammert, ich freue mich, dass Sie mich hierhergelockt haben. Ich ahne schon, weil ich Sie ja als Ironiker kenne, dass Sie hoffen, dass ich den Linken ein paar
Ohrfeigen verpasse.
({7})
Aber das kann ich nicht liefern. Mein Beruf war doch
Drachentöter.
Ich kann Ihnen, Herr Biermann, mit einem Hinweis
auf unsere Geschäftsordnung helfen:
({0})
Sobald Sie für den Deutschen Bundestag kandidieren
und gewählt werden, dürfen Sie hier auch reden.
({1})
Heute sind Sie zum Singen eingeladen.
Wolf Biermann:
Ja. Aber natürlich habe ich mir in der DDR das Reden
nicht abgewöhnt, und das werde ich hier schon gar nicht
tun.
({2})
Ein Drachentöter kann nicht mit großer Gebärde die
Reste der Drachenbrut tapfer niederschlagen. Die sind
geschlagen.
({3})
Es ist für mich Strafe genug, dass sie hier sitzen müssen, dass sie das anhören müssen.
({4})
Wolf Biermann
- „Wollen“. Ihr wollt immer; das weiß ich ja. Aber ihr
könnt nicht.
({5})
Aber so neu bin ich nicht in der Welt. Einige Gesichter kenne ich ja. Jeder Einzelne ist ein Roman. Das muss
mir keiner breitärschig erklären.
({6})
Sehr kompliziert. Aber als Gruppe, die ihr ja auch seid,
seid ihr eben aus meiner Sicht keine Linken.
({7})
- „Gewählt“. Im Deutschen Bundestag kann man doch
nicht erzählen, dass eine Wahl ein Gottesurteil ist, wenn
man die deutsche Geschichte kennt. Sei nicht zu clever! - Gefährlich!
({8})
- Weiß ich doch. Eure Sprüche, die habt ihr drauf; ich
weiß. Ich habe meine auch drauf. Wir müssen uns gar
nichts erzählen. Also, ihr seid dazu verurteilt, das hier zu
ertragen.
({9})
Ich gönne es euch. Ich weiß ja, dass die, die sich Linke
nennen, nicht links sind, auch nicht rechts, sondern reaktionär, dass diejenigen, die hier sitzen, der elende Rest
dessen sind, was zum Glück überwunden ist.
Ich freue mich, dass ich hier ein Lied singen kann, die
Ermutigung.
({10})
- Natürlich, ihr wollt lieber zersungen werden. Ich habe
euch zersungen mit den Liedern, als ihr noch an der
Macht wart.
({11})
Dieses Lied, das Herr Lammert gerne hören möchte
und das ich auch gerne singe, Ermutigung - das sei bei
dieser Gelegenheit angemerkt -, war bei denen, die Widerspruch anmeldeten, in verschiedenem Grade - manche sehr feige, manche sehr mutig, manche zu mutig -,
wie ein Stück Seelenbrot, das sie gegessen haben. Ich
weiß, dass manche, die im Gefängnis saßen, wie mein
Freund Pastor Matthias Storck und seine Frau Tine, mit
diesem Lied in der Zelle überlebt haben. Ich finde es
wunderbar, dass dieses Lied aus den Gefängnissen der
DDR heute im Parlament der deutschen Demokratie gesungen werden kann. Ist das nicht toll?
({12})
({13})
({14})
Das war jetzt nicht Kanzlerwahl mit den üblichen
Gratulationscouren am Präsidentenpult.
Lieber Herr Biermann, ich möchte den Dank für diese
Ermutigung aus gegebenem Anlass mit einer Gratulation
verbinden. Sie feiern heute mit Ihrer Frau Pamela Ihre
Silberhochzeit.
({0})
- Na ja, gut, und es wird gewiss kein Zufall sein, dass
beides auf dasselbe Datum fällt.
({1})
Jedenfalls ist auch dies ein stolzes 25-jähriges Jubiläum.
Ich vermute stark, dass Sie beide heute vor 25 Jahren,
am 7. November 1989, nicht vermutet hätten, dass zu
diesem Anlass ein frei gewähltes deutsches Parlament
im Reichstagsgebäude zusammentreten würde. Im Namen des ganzen Hauses herzliche Gratulation und alle
guten Wünsche für viele glückliche gemeinsame Jahre!
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor wir die vereinbarte Debatte zur Würdigung dieser damaligen Ereignisse beginnen, wollen wir einige der damals beteiligten
Bürgerrechtler in kurzen Filmsequenzen zu Wort kommen lassen. Anschließend sehen wir einen kurzen Zusammenschnitt der denkwürdigen Sitzung des Deutschen Bundestages am 9. November 1989 im Bonner
Wasserwerk.
({3})
Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Denen, die damals dabei waren, wie denen,
die damals nicht dabei sein konnten, wird das in ähnlicher Weise nahegehen.
Unter den Mitgliedern des 18. Deutschen Bundestages gibt es noch ganze elf Abgeordnete, die auch damals
dem Deutschen Bundestag angehörten. Ich finde es
schön, dass die nun folgende vereinbarte Debatte, die
sich mit diesem Ereignis auseinandersetzen soll, mit einer dieser elf Abgeordneten beginnt.
Vereinbarte Debatte
Friedliche Revolution - 25 Jahre nach dem
Mauerfall
Ich erteile der Kollegin Gerda Hasselfeldt das Wort.
({4})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der 9. November
1989 war ein vergleichsweise gewöhnlicher Donnerstag
in einer Sitzungswoche. Und doch sollte dieser Plenartag
überraschend mit dem Singen unserer Nationalhymne
enden, wie wir es gerade gesehen haben. Aus einem gewöhnlichen Tag, aber in durchaus bewegten Zeiten,
wurde ein historischer Tag, der Tag, an dem die Mauer
fiel. Es wurde der Schicksalstag der Deutschen. Auf das
Ende der Plenarsitzung folgte dann auch eine außergewöhnliche Nacht, eine Nacht, die die Welt veränderte.
Die damalige Situation im Plenarsaal, die Bilder, die
in jenen Stunden um die Welt gingen, werde ich nie vergessen: Menschen aus Ost und West, die sich bislang
nicht kannten, laufen aufeinander zu, fallen sich in die
Arme, tanzen auf der Mauer vor dem Brandenburger
Tor, und ihre Gesichtszüge sind von großer Freude und
ebenso großer Ungläubigkeit geprägt. Scheinwerfer, die
lange dazu dienten, Flüchtlinge aufzuspüren, beleuchten
nun den Taumel des Glücks, das Ende von Diktatur und
Spaltung. Von diesen Bildern ging meines Erachtens
auch eine große Symbolkraft aus. Es war, als würde man
in jedem Gesicht die Freiheit sehen. Es waren die Menschen in der ehemaligen DDR, die mit ihrem Engagement das Licht der Freiheit entzündet haben. Sie waren
nicht alleine, sondern, wie der Herr Bundestagspräsident
in seiner Rede zum Ausdruck gebracht hat, begleitet von
vielen Menschen in vielen anderen europäischen Ländern, die auch in ihrer Heimat für Freiheit, Demokratie
und Menschenrechte mutig gekämpft haben.
Das alles geschah ohne Blutvergießen, ohne einen
einzigen Schuss. Hierfür, meine lieben Kolleginnen und
Kollegen, empfinde ich noch heute große Dankbarkeit.
({0})
Vielleicht haben wir im Westen erst in diesen Stunden
so richtig begriffen, welche Kraft die Sehnsucht vieler
Menschen nach Freiheit entfalten kann, dass sie Furcht
und Angst überwindet und einen Staat, der den Menschen die Freiheit vorenthält, auch in die Knie zwingen
kann. Was es aber heißt, durch eine Mauer der eigenen
Freiheit beraubt zu sein, was es heißt, von einem Unrechtsregime bespitzelt und gegängelt zu werden, das
haben die vielen politischen Gefangenen, das haben die
Flüchtlinge und Ausreisewilligen und vor allem die
Mauertoten aufs Bitterste gelehrt. Ihnen allen wollen wir
auch heute gedenken.
Der Fall der Mauer, meine Damen und Herren, war
der erste Schritt in Richtung Freiheit. Ihm sollte dann der
zweite in Richtung Einheit folgen. Fasziniert haben wir
miterlebt, wie bei den Montagsdemonstrationen aus dem
Ruf „Wir sind das Volk“ dann „Wir sind ein Volk“ wurde
und damit plötzlich die Frage der deutschen Einheit auf
der weltpolitischen Agenda stand.
Die Wiederherstellung der staatlichen Einheit war für
uns in der Union nie ein Lippenbekenntnis, sondern immer eine Herzensangelegenheit.
({1})
Wir haben in all den Jahrzehnten der Teilung am Gedanken der deutschen Einheit festgehalten, auch und gerade
als dies im Westen Deutschlands zunehmend unpopulärer wurde und die politische Bereitschaft wuchs, sich mit
einer Zweistaatlichkeit zu arrangieren. Ich darf ganz persönlich sagen: Auf diesen klaren Kurs der Union bin ich
auch heute und gerade heute besonders stolz.
({2})
Bayern hat durch seine Klage gegen den Grundlagenvertrag vor dem Bundesverfassungsgericht im Jahre
1973 erreicht, dass das im Grundgesetz verankerte Wiedervereinigungsgebot für alle Verfassungsorgane unverändert bindend blieb. Tatsächlich ist am 3. Oktober 1990
die staatliche Einheit Deutschlands in freier Selbstbestimmung in Erfüllung gegangen. Unvergessen ist dabei
die historische Leistung von Bundeskanzler Helmut
Kohl. Er hat die einmalige Chance mit Mut und Überzeugungskraft ergriffen, als sich mit dem Mauerfall das
Tor zur Einheit unseres Vaterlandes öffnete.
({3})
Es ist heute aber ebenso wichtig, die großartige Aufbauleistung der Bevölkerung und der Politiker in den
östlichen Bundesländern zu würdigen. Auf das, was dort
in den vergangenen 25 Jahren gemeinsam erreicht
wurde, können alle stolz sein.
({4})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, nach dem
Mauerfall gehören in Deutschland staatliche Unterdrückung und Willfährigkeit der Vergangenheit an. Doch
Freiheit, Demokratie und Menschenrechte sind uns nicht
einfach so gegeben. Das lehrt uns unsere Geschichte,
und das lehren uns auch die Krisenherde dieser Welt. So
darf der 9. November 1989 für uns nicht nur ein Tag der
Freude und der Dankbarkeit sein, sondern soll uns
gleichsam Verpflichtung und Auftrag sein, immer und
überall für die Werte einzutreten, für die ein ganzes Volk
im Herbst 1989 mutig gekämpft hat.
Ich danke Ihnen.
({5})
Das Wort erhält nun die Kollegin Iris Gleicke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Antwort auf die Frage, warum es die Mauer gegeben hat,
ist ganz einfach und unglaublich schwer. Man muss die
Antwort darauf aus meiner Sicht immer damit beginnen,
dass die Mauer ein Monstrum gewesen ist, ein monströses Bauwerk und eine furchtbare Grenze. An dieser
Grenze sind Deutsche von Deutschen ums Leben gebracht worden, weil sie ein anderes und besseres, weil
sie ein freies Leben wollten. Wer das Leben in der Diktatur nicht mehr ertrug und versuchte, die Mauer zu überwinden, der riskierte sein Leben oder zumindest schwere
und schwerste Verletzungen und Jahre im Knast. Wir gedenken der Toten; wir gedenken der Opfer, und wir fühlen mit ihren Angehörigen.
An dieser Mauer sind Menschen gestorben, und an
dieser Mauer sind unzählige Träume zerschellt. Wie
auch immer diejenigen ihr Tun zu rechtfertigen versuchten, die die Mauer errichten ließen - was blieb, war ein
Albtraum für ein ganzes Volk. Man kann die Mauer in
ihren historischen Kontext einordnen; aber man kann sie
nicht rechtfertigen. Das ist das, worauf es ankommt.
({0})
Es gab und es gibt keine Rechtfertigung für den
Schießbefehl und für den Versuch, die eigene Bevölkerung zur Geisel zu nehmen. Die Mauer war weitaus
mehr als der bloße Ausdruck von Willkür einer politischen Clique, die rücksichtslos ihr Herrschaftsgebiet sichern wollte und bereit war, dafür über Leichen zu gehen. Sie war das zu Stein gewordene Symbol der Teilung
Deutschlands, Europas und der Welt. Sie war der weithin
sichtbare Ausdruck des Kalten Krieges. Die Mauer - wir
dürfen das niemals vergessen - war ebenso wie die
DDR-Diktatur in letzter Konsequenz eine Folge des verbrecherischen Zweiten Weltkriegs, den Deutschland angezettelt hatte und der in der ebenso verdienten wie totalen Niederlage endete. Nie wieder Faschismus, nie
wieder Krieg. Dieser Konsens muss fortbestehen. Von
deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen!
({1})
Meine Damen und Herren, vergessen wir bitte auch
nicht, dass die Deutschen in Ost und West in sehr unterschiedlicher Weise für den Zweiten Weltkrieg bezahlt
haben: Für die Westdeutschen gab es die repräsentative
Demokratie, den Marshallplan und die soziale Marktwirtschaft. Für die Ostdeutschen gab es die Diktatur, den
Abbau ganzer Industrieanlagen und eine zum Scheitern
verurteilte Planwirtschaft. Und es gab eine fast unüberwindliche Grenze.
Die Teilung unseres Landes hat über 40 Jahre lang gedauert. Es erstaunt mich immer wieder, dass es heute
Leute gibt, die offenbar ernsthaft glauben, dass sich
diese Teilung mit all ihren Folgen innerhalb von nur
25 Jahren vollständig überwinden ließe. Das ist, mit Verlaub, eine lächerliche Vorstellung. Wir haben unglaublich viel erreicht in den letzten 25 Jahren, um die Folgen
der Teilung zu beseitigen, und den Rest schaffen wir
auch noch.
({2})
Aber es ist noch ein ganzes Stück Weg zu gehen. Ich
wünsche mir so sehr, dass wir diesen Weg gemeinsam
gehen, im Miteinander und ohne die groteske Erbsenzählerei, mit der manche die Kosten der Einheit bis hinters Komma berechnen wollen.
Manchmal sehne ich mich zurück nach dieser Zeit im
November des Jahres 1989, als die Deutschen sich in
den Armen gelegen haben. Ich erinnere mich - ({3})
Ich erinnere mich an die Tränen in den Augen und an
diese unbändige Freude und Erleichterung. Und dann
frage ich mich: Was ist uns heute eigentlich davon geblieben? - Vielleicht geben uns die kommenden Tage etwas von diesem Gefühl zurück. Ich würde es uns allen
wünschen.
({4})
Ich wünsche uns schöne und fröhliche Feiern. Ich wünsche uns, dass das Gedenken nicht irgendwann zum Ritual erstarrt und dass der Ausdruck von innerer Betroffenheit nicht irgendwann zur Maske wird.
Meine Damen und Herren, es gibt in der Geschichte
keine Zwangsläufigkeit und keine Gewissheit; aber es
gibt immer die Hoffnung auf die Vernunft und darauf,
dass sie sich durchsetzt. Man kann das nicht besser sagen als mit den Worten Willy Brandts, der 1964 hier in
Berlin erklärte, die Mauer stehe gegen den Strom der
Geschichte und gegen das Gebot der Menschlichkeit.
({5})
Willy Brandt hat seinen Teil dazu beigetragen, dass sich
die Vernunft durchsetzen konnte und dass sich seine
Hoffnungen erfüllten. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sind stolz darauf.
({6})
Die Mauer wurde fortgespült vom Strom der Geschichte. Sie hatte keinen Bestand. Sie wurde niedergerissen von den Ostdeutschen, die sich ihre Freiheit selbst
erkämpft haben mit einer Revolution, bei der kein einziger Schuss gefallen ist und die wir deshalb voller Stolz
als „unsere friedliche Revolution“ bezeichnen dürfen.
Die Mauer ist gefallen; dieser Traum ist wahr geworden. Andere Träume, die wir damals in diesen Tagen der
Hoffnung hatten, haben sich bislang noch nicht erfüllt.
Was ist eigentlich aus der Sehnsucht danach geworden,
dass aus den Schwertern Pflugscharen werden? Und was
ist eigentlich aus Michail Gorbatschows Vision vom gemeinsamen Haus Europa geworden?
({7})
Wir sind ein Volk. Es ist an uns, all unseren Nachbarn
zu beweisen, dass wir diese Träume nicht aufgegeben
haben, niemals aufgeben werden und dass wir unverdrossen auf die Kraft der Vernunft sowie auf eine bessere
Zukunft vertrauen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Nächster Redner ist der Kollege Gregor Gysi.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor dem
Fall der Mauer fand die legendäre Kundgebung am
4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz
statt. Diese Kundgebung war selbstbestimmt, souverän,
kulturvoll und hatte viel Humor. Damals ging es um eine
grundlegende Reform der DDR; die Hauptlosung aber
lautete: keine Gewalt. Das galt auch später bei der
Maueröffnung und für die gesamte friedliche Revolution. Es ist eine historische Leistung aller Beteiligten in
der DDR, dass es damals zu keinem Zeitpunkt Gewalt
gab.
({0})
Die DDR war eine Diktatur, sie war kein Rechtsstaat.
In ihr gab es staatlich angeordnetes, auch grobes Unrecht. Der wachsende Mut der Bürgerinnen und Bürger
der DDR resultierte auch daraus, dass man die Sowjetunion nicht mehr gegen sich, sondern hinter sich wusste,
und glaubte, es allein mit der SED-Führung aufnehmen
zu können - zu Recht. Nach dem Fall der Mauer ging es
dann um die Überwindung der Spaltung Deutschlands
und Europas.
Der Fall der Mauer war für die Bürgerinnen und Bürger der DDR ein ungeheurer Befreiungsakt. Niemals
vorher und nachher habe ich so überglückliche Gesichter
im Fernsehen gesehen wie in dieser Nacht. Es ist nicht
hinnehmbar, wenn einer Bevölkerung gesagt wird, dass,
abgesehen von bestimmten erlaubten Dienstreisen oder
von einigen dringenden Familienangelegenheiten, nur
Invalide sowie Altersrentnerinnen und Altersrentner den
Westteil der Stadt Berlin, Hamburg, München, Stuttgart,
Paris oder London sehen dürfen. In der Regel bedeutete
das für Frauen, dass sie 60 Jahre, und für Männer, dass
sie 65 Jahre alt werden mussten, bis sie sich den größeren Teil der Erde anschauen durften. Für sie war der
Westen fast so weit weg wie der Mond.
Der Fall der Mauer veränderte aber auch das Leben
der Westdeutschen, der Europäerinnen und Europäer und
führte weltweit zu neuen Strukturen. Beim Fall der
Mauer gab es nämlich genau so glückliche Gesichter im
Westteil der Stadt Berlin wie in der alten Bundesrepublik.
Das Problem ist - das will ich hier offen sagen -, dass
wir statt der Vereinigung einen Beitritt hatten. Die Bundesregierung konnte nicht aufhören, zu siegen, und hat
sich deshalb im Osten nichts angesehen. Wenn man
Dinge wie das Kindertagesstättennetz, die Polikliniken,
jetzt Ärztehäuser, oder die Berufsausbildung mit Abitur
oder einige andere Punkte übernommen hätte - vieles
musste verschwinden -, dann hätte das das Selbstbewusstsein der Ostdeutschen gestärkt und hätte vor allem
dazu geführt, dass die Westdeutschen mit der Vereinigung eine Qualitätssteigerung erlebt hätten, was ihnen
nicht gegönnt wurde.
({1})
Dadurch entstand bei den Westdeutschen die Illusion, für
sie bleibe alles, wie es war. Aber nicht nur die DDR ist
verschwunden, sondern auch die alte Bundesrepublik.
Damit hängen auch einige Enttäuschungen zusammen.
Die alte Bundesrepublik war sozialer als die vereinte.
Die alte Bundesrepublik hätte, im Unterschied zur vereinten, niemals Krieg geführt.
({2})
Zurück zu Ostdeutschland. In der Super Illu vom
9. Oktober 2014 ist eine interessante Umfrage veröffentlicht. Danach schätzt eine Mehrheit der Ostdeutschen
ein, dass es ihr in zehn Punkten deutlich besser geht als
in der DDR, in zehn Punkten wird das Gegenteil behauptet.
Die zehn Punkte, in denen es ihnen nach eigener Einschätzung besser geht, beziehen sich in der Reihenfolge
nach den Mehrheiten auf das Warenangebot, den Urlaub,
die Weltoffenheit, die Meinungsfreiheit, die Entscheidungsfreiheit der Einzelnen und des Einzelnen, die
Wohnverhältnisse, den Umweltschutz, die Selbstverwirklichung und die Verwirklichung der Menschenrechte.
Wir müssen allerdings auch zur Kenntnis nehmen, in
welchen zehn Punkten die Mehrheit der Ostdeutschen
meint, dass es ihr diesbezüglich in der DDR besser gegangen sei. Wiederum in der Reihenfolge nach den
Mehrheiten bezieht sich das auf sichere Arbeitsplätze,
die sicheren, niedrigen Mieten, die Kinderbetreuung,
den Gemeinschaftssinn
({3})
- ich sage ja nur, was die Ostdeutschen denken; ich sage
gar nicht, dass ich es teile -, die Vereinbarkeit von Beruf
und Familie, die Sportförderung,
({4})
den Zusammenhalt der Familien, die soziale Gerechtigkeit und die Gleichberechtigung von Frauen und Männern.
Abgesehen von interessanten kulturellen Momenten
bringt das im Kern doch eines zum Ausdruck. Die Ostdeutschen wollen beides: die Freiheit der Bundesrepublik und höhere soziale Sicherheit und Gerechtigkeit,
wie sie sie von früher kannten. Es gilt aber für alle Menschen in Deutschland folgender Zusammenhang: Soziale
Sicherheit und Gerechtigkeit ohne Freiheit taugen ziemlich wenig.
({5})
Freiheit ohne soziale Sicherheit und soziale Gerechtigkeit verliert an Bedeutung, sie ist zum Teil nicht nutzbar.
Wir alle hier im Saal sind privilegiert. Unsere Meinung können wir ziemlich öffentlich verkünden, die
meisten Menschen nur untereinander. Wir können es uns
leisten, nach London, New York oder Paris zu reisen; für
viele ist dies nicht bezahlbar. Deshalb ist es so wichtig,
die Einheit von Freiheit, Demokratie, sozialer Sicherheit
und sozialer Gerechtigkeit herzustellen.
({6})
Wir brauchen endlich gleiche Lebensqualität in Ost
und West. Es ist doch nicht zu viel verlangt, dass gleicher Lohn für gleiche Arbeit in gleicher Arbeitszeit in
Ost und West bezahlt wird. Es ist doch nicht zu viel verlangt, dass endlich die gleiche Rente für die gleiche Lebensleistung in Ost und West bezahlt wird.
({7})
Es ist auch nicht zu viel verlangt, dass man bei der Mütterrente für ein Ostkind nicht weniger bekommt als für
ein Westkind.
({8})
Ich möchte den Respekt für die Lebensleistungen in den
Biografien, und zwar in Ost und West gleichermaßen.
Die Mauer ist gefallen. Sie muss, soweit noch vorhanden, endlich auch in den Köpfen überwunden werden.
Meiner Generation ist das zum Teil schwergefallen, in
der Generation meiner 18-jährigen Tochter ist das überhaupt kein Problem mehr.
Ich meine, die Mauern müssen generell fallen, und
wir dürfen keine neuen errichten. Damit meine ich die
Mauer zwischen Mächtigen und Ohnmächtigen weltweit
und in unserer Gesellschaft, die Mauer zwischen Armen
und unvorstellbar Reichen weltweit und in unserer Gesellschaft und auch die Mauer an den Außengrenzen der
Europäischen Union.
({9})
Wir dürfen nicht die Flüchtlinge bekämpfen, sondern wir
müssen die Fluchtursachen bekämpfen. Außerdem hat
man Flüchtlinge einfach anständig zu behandeln.
({10})
Lassen Sie mich zum Schluss einen Wunsch äußern:
Die große Feier zum 25. Jahrestag der deutschen Einheit
im nächsten Jahr sollte außerhalb der Regel in Leipzig
begangen werden. Leipzig hat sich das verdient.
({11})
Die nächste Rednerin ist die Kollegin Katrin GöringEckardt.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
25 Jahre, das ist mehr als ein Jubiläum. Das ist eine Generation. 20 Millionen Deutsche wurden nach 1989 geboren, 22 Millionen Menschen sind neu zu uns gekommen und 17 Millionen Menschen haben unser Land
verlassen. Deutschland ist heute ein anderes Land; aber
das Vergangene ist nicht vorbei. Die gespannte Atmosphäre der Friedensgebete, der Geschmack der ersten erkämpften Freiheit auf den Straßen von Plauen, Dresden,
Leipzig, Arnstadt, auf dem Alexanderplatz, die Freude
am Mitgestalten an den Runden Tischen im ganzen
Land, die Selbstemanzipation eines Volkes - das begleitet uns bis heute.
Wo bist du gewesen, damals, am 9. November? Auch
diese Frage begleitet uns. Ich saß am Fernseher. Mein ältester Sohn ist nur ein paar Wochen älter als der Einsturz
der Mauer. Dass er heute einer Tageszeitung sagen kann,
dass bei uns am Küchentisch immer über Politik gesprochen wurde, das ist großartig. „Meine Kinder“, sagt er
- inzwischen hat er drei -, „sollen einmal politische
Menschen werden.“ Das Mitgestalten und die Selbstemanzipation tragen sich fort.
Mauerstücke aus dem Eisernen Vorhang wurden immer wieder herausgebrochen, nicht nur 1953, 1956,
1968, 1980. 1956 standen neben den Ungarn auch Studierende in Rumänien auf. 1962 wurden 24 protestierende Arbeiter in der Sowjetunion massakriert. Diese
Revolution trägt die Namen von Vaclav Havel, von
Andrej Sacharow und Jelena Bonner, von Herta Müller
und Lech Walesa, von Marianne Birthler und Bärbel
Bohley, und - als evangelische Christin sage ich das sie trägt auch den Namen von Johannes Paul II. Diese
Revolution war nicht schwarz-rot-gold; sie war der Beginn eines gemeinsamen, eines wahren, eines wirklichen
Europa.
({0})
Die Revolution war nicht zuerst erfolgreich wegen
der Diplomaten und Staatschefs, sondern weil die DDRDiktatur mit allem gerechnet hat, nur nicht mit Kerzen.
Die DDR war auch nicht nur wirtschaftlich pleite, sie
war politisch, moralisch und ökologisch bankrott,
({1})
und natürlich war die DDR ein Unrechtsstaat. Alle, die
versuchen, darum herumzulavieren, müssen sich anschauen, was war: Ein Staat ohne demokratische Selbstbestimmung, ohne Transparenz der öffentlichen Meinung, ohne unabhängige Justiz ist erst einmal, ganz
banal, eine Diktatur, kein zweiter Nationalsozialismus,
auch kein Stalinismus wie in der Sowjetunion der Gulags. Aber nur, weil die DDR versucht hat, sich den
Mantel der Rechtsförmigkeit umzulegen, wird sie eben
nicht zum Rechtsstaat.
({2})
Wer einen Ausreiseantrag gestellt hatte, verlor seinen
Arbeitsplatz trotz Arbeitsgesetzbuch, und wem eine
feindlich-negative Grundhaltung unterstellt wurde, wurden möglicherweise seine Kinder weggenommen, trotz
Familiengesetzbuch. Der Zorn der SED traf nicht nur die
Oppositionellen; er traf deren Töchter, Söhne oder gar
Freunde.
In der DDR verliefen Alltag und Willkür parallel; da
kann man sich noch so sehr winden. Deshalb muss heute
klipp und klar gesagt werden: Es geht nicht darum, Biografien von früher zu be- oder entwerten. Ulrike Poppe
hat zu Recht gesagt: Die DDR, das waren wir alle. Es
war richtiges Leben im falschen, aber daneben war es
eben auch das Grundfalsche.
Ich habe meinen Vater - er war Tanzlehrer, einer der
wenigen selbstständigen Berufe in der DDR - mehrfach
zum Vortanzen in einen Jugendwerkhof begleitet. Da saßen Jugendliche im Knast, bis aufs Gröbste ihrer Würde
beraubt, manchmal für Diebstahl, aber oft genug einfach
nur für ein falsches Wort. Ich kann die zittrigen Hände
des 16-Jährigen nicht vergessen, der mir seinen Namen
nicht sagen durfte, der nur sagen konnte: Ich hab doch
nichts gemacht, nur einen Witz, einen Witz über die
Mauer. Um dessen Biografie geht es, mindestens ebenso
wie um die Biografie des Zerspaners, den sie in Westdeutschland Dreher nennen, der plötzlich irgendwie zum
Staatsfeind wurde, ohne genau zu wissen, warum. Es
geht auch um die Biografie der Chemikerin, die im Wissenschaftsbetrieb war und einfach versucht hat, nicht anzuecken.
Biografien haben wir alle; aber unsere besondere
Aufmerksamkeit und die Aufarbeitung dessen, was war,
müssen zu allererst denen gelten, die gelitten haben und
manchmal bis heute unter dem leiden, was ihnen angetan
worden ist, meine Damen und Herren.
({3})
Ich will dies in alle Richtungen sagen, weil ich fest
davon überzeugt bin, dass Aufarbeitung der Geschichte
nur dann geht, wenn man sich das je Eigene anschaut.
Das gilt für Sie von der Union ganz genauso mit den
Blockparteien der DDR wie für die Linke. Einen Unterschied gibt es allerdings, nämlich den, dass in der Union
heute niemand bestreiten würde, dass die DDR ein Unrechtsstaat war.
Aber wenn wir Schuldeingeständnis und Versöhnung
wollen, dann müssen wir heute auch den Jungen sagen
können: Haben wir tatsächlich angeschaut, was gewesen
ist, sind wir damit tatsächlich umgegangen, oder haben
wir geschwiegen oder es ignoriert? 25 Jahre danach ist
es Zeit, auch das Schweigen über die eigene Geschichte
und den eigenen Umgang mit ihr zu brechen.
Meine Damen und Herren, heißt eigentlich von Ossis
lernen Siegen lernen? 2015 werden mit dem Bundespräsidenten, dem Präsidenten des Bundesrates und der Bundeskanzlerin vermutlich drei der fünf höchsten Staatsämter des Landes von Menschen besetzt sein, die ihre
Biografie in der DDR begonnen haben. 25 Jahre haben
viele Biografien, aber auch das Land und die Landschaften verändert.
1986, nach dem Super-GAU in Tschernobyl, begann
es mit den Umweltbibliotheken, 1989 stand das Land
vor dem ökologischen Zusammenbruch. Nein, das, was
wir heute erleben, das sind nicht die verspätet blühenden
Landschaften. Aber dass Ostdeutschland heute eine Vorreiterrolle bei den erneuerbaren Energien einnimmt, das
ist nach Braunkohlegestank und vergifteten Flüssen
schon erstaunlich.
Nach 1989 gab es aber auch Verwerfungen. Es gab
Menetekel wie Lichtenhagen oder Hoyerswerda, es wurden Fehler gemacht. Es gab viele und vielleicht für manche zu viele Versprechungen, die nicht einlösbar waren;
auch wurden Menschen allein gelassen. Dennoch hat
sich das zentrale Versprechen der friedlichen Revolution
erfüllt, nämlich die Freiheit, die keine hohle Phrase ist.
Es kann schon sein, dass jemand doof findet, was das
Staatsoberhaupt sagt. Aber hier kommt man dafür nicht
in den Knast, sondern man kriegt seine Zeit in der Tagesschau.
({4})
Freiheit, das ist das großartigste und wunderbarste
Geschenk, das wir bekommen haben. Es ist doch nicht
erstaunlich, dass Leute aus Krieg, Verfolgung, Unfreiheit und Vertreibung hierherkommen und diese Freiheit
mit uns teilen wollen. Freiheit gehört zu den Dingen, die
größer und mehr werden, wenn man sie teilt. 25 Jahre
danach können wir sie jeden Tag erleben, und vor 25
Jahren hätte ich jede Wette gemacht, dass ich niemals
hier stehen würde.
Vielen Dank.
({5})
Der letzte Redner in dieser vereinbarten Debatte ist
der Kollege Arnold Vaatz.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Gestatten Sie mir, mit einem Zitat zu beginnen:
Wir haben hier warme und sichere Unterkunft für jeden,
wir haben hier medizinische Betreuung, jeder wird satt,
und es gibt Arbeit für alle. - Das sagte der Strafvollzugsbeamte, der uns am 23. Dezember 1982 in der Strafvollzugseinrichtung Unterwellenborn begrüßte, zu uns. Das
heißt, es gibt eine ganze Reihe von Dingen, die wichtig
sind für Menschen, die man aber in jedem Gefängnis bereitstellen kann.
({0})
Meine Damen und Herren, das hat Herr Gysi richtig gesagt: Ohne Freiheit sind alle diese Dinge nicht viel. Ich
füge dem hinzu: Sie sind nichts.
({1})
Der Mauerfall, über den wir heute sprechen, ist ganz
wesentlich von jenen bewirkt worden, die im Sommer
1989 in Scharen die DDR verlassen haben, alles hinter
sich gelassen haben, überhaupt nicht an alle diese
Dinge gedacht haben, die heute den größten Teil unserer politischen Auseinandersetzung in der Bundesrepublik Deutschland ausmachen, die nur eines wollten:
wenn nötig, mit dem nackten Leben den Zustand hinter
sich lassen, der sie einengt, der sie ihrer Selbstbestimmung und ihrer Würde beraubt. Das war das Ziel; das
haben sie erreicht.
({2})
Das war der entscheidende Anstoß dafür, dass diese
Mauer fiel.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich aber auch
sagen: Der Mauerfall als solcher mag mit seinen Bildern
die ganze Welt fasziniert und in seinen Bann gezogen
haben; aber es war noch nicht der Durchbruch. Nach
dem Mauerfall erwartete uns alle in Ostdeutschland noch
härteste Arbeit, um tatsächlich der Demokratie zum
Durchbruch zu verhelfen; denn wie Sie vielleicht wissen, hatten die Grenzbeamten damals Anweisung, einen
sogenannten Querulantenstempel in die Ausweise zu setzen. Was bedeutete das? Etliche bekamen die Stempel
aufs Passbild, mit der Absicht, sie nicht wieder rüberzulassen, wenn sie wieder rüberkommen wollen. Das ist
verbürgt.
Das heißt, die Möglichkeit, die Mauer wieder zu
schließen, die Möglichkeit, 300 000 Menschen wegzulassen und dann zu sagen, jetzt machen wir wieder zu,
und mit dem Rest werden wir leicht fertig, hat nach dem
Mauerfall theoretisch noch bestanden.
Aber, meine Damen und Herren, wir sind eben weiter
gegangen und haben dann versucht, die Strukturen zu
zerstören, die wesentlich waren, um genau den Zustand
DDR so lange Jahre aufrechtzuerhalten. Das Besondere
ist die Besetzung der Staatssicherheit, und das Besondere ist, dass wir es dann geschafft haben, wirklich freie
Wahlen abzuhalten.
Meine Damen und Herren, was wir damals erlebt haben, sollte uns heute eine Mahnung sein, dafür zu sorgen, dass auch alle diejenigen sich unserer Solidarität sicher sein können, die aus einer ähnlichen Situation
herauswollen, aus der wir damals mit Erfolg herausgekommen sind.
({3})
Wir waren in Ostdeutschland nicht in erster Linie die
Untertanen der SED. Wir waren über 40 Jahre lang die
Untertanen der Sowjetunion. Die SED hätte nicht bei
uns regieren können, wenn nicht ständig 500 000 russische Soldaten in den Kasernen als Besatzungsmacht anwesend gewesen wären.
Meine Damen und Herren, deshalb macht es mich besonders nachdenklich, wenn ich einerseits vom Herrn
Bundestagspräsidenten höre, dass der sanftmütige und
freundliche Vaclav Havel unmittelbar vor den Ereignissen in den Tschechoslowakei im Sommer 1989 wegen
Rowdytums eingesperrt war. Andererseits höre ich, wie
eine ganze Regierung, nämlich die in Kiew, pauschal als
faschistisch verunglimpft wird. Das ist dieselbe Tonlage, meine Damen und Herren, und diese Tonlage
möchte ich heute im wiedervereinigten Deutschland in
diesem Hause nicht mehr hören.
({4})
Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir am Ende
mit Ihrer Genehmigung, Herr Präsident, noch einen Vers
zu zitieren von unserem Freund Wolf Biermann, der uns
heute hier ein Lied gesungen hat. Er hat noch mehr gedichtet, zum Beispiel die „Ballade vom gut Kirschenessen“. Da trifft er im Traum Robert Havemann und
schreibt dann:
Ich sang ihm die schönsten Lieder
Da wurde der Himmel plötzlich schwarz
Von tausendfachem Gefieder
Ein Schwarm flog in die kalte Nacht
Und krächzte im Nieselregen ({5}):
„Dem Abendrot, dem Abendrot, dem Abendrot entgegen“
Gen Osten gegen den Wind anschrien
Im Flug die verzauberten Raben
Und jetzt kommt der entscheidende Satz.
Jetzt weiß ich: Sie haben uns alles verziehen
Was sie uns angetan haben.
Vielen Dank.
({6})
Ich schließe diese denkwürdige Debatte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, am 9. November
1989 haben sich die Abgeordneten im Bonner Wasserwerk spontan von ihren Plätzen erhoben und die Nationalhymne angestimmt. Heute beenden wir unsere
Aussprache zu diesen historischen Ereignissen vereinbarungsgemäß mit dem Lied der Deutschen: Einigkeit und
Recht und Freiheit.
({0})
Vielen Dank. Ich unterbreche die Sitzung für drei Minuten, damit wir einen geordneten Schichtwechsel organisieren können. Wir setzen dann die Tagesordnung fort.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die unterbrochene
Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich darf Sie bitten, wieder Platz zu nehmen, damit wir
die Sitzung fortsetzen können. - Die, die noch dringend
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Unterhaltungen führen müssen, bitte ich, dies außerhalb
des Saales zu tun. - Vielen Dank.
Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe,
kommen wir noch zu einer nachträglichen Ausschuss-
überweisung. Interfraktionell ist vereinbart, den Ent-
wurf eines Gesetzes der Bundesregierung zur weiteren
Entlastung von Ländern und Kommunen ab 2015 und
zum quantitativen und qualitativen Ausbau der Kinderta-
gesbetreuung auf Drucksache 18/2586 nachträglich auch
an den Ausschuss für Arbeit und Soziales zu überwei-
sen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 30 a und b auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Einführung des Elterngeld
Plus mit Partnerschaftsbonus und einer
flexibleren Elternzeit im Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz
Drucksachen 18/2583, 18/2625
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend ({0})
Drucksache 18/3086
- Bericht des Haushaltsausschusses ({1}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Drucksache 18/3087
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Franziska Brantner,
Katja Dörner, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Echte Wahlfreiheit schaffen - Elterngeld flexibler gestalten
Drucksachen 18/2749, 18/3086
Zu dem Gesetzentwurf liegt ein Entschließungsantrag
der Fraktion Die Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich erteile jetzt der Bundesministerin Manuela
Schwesig das Wort.
({3})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren Abgeordnete! Ich bin dem Deutschen
Bundestag sehr dankbar für die Feststunde heute zum
25. Jahrestag des Mauerfalls. Frau Katrin Göring-Eckardt
hat es bereits gesagt: Gerade wir, die in Ostdeutschland
groß geworden sind, fragen uns gelegentlich, was wäre,
wenn die Mauer nicht eingerissen worden wäre. - Ich
kann für mich sagen: Ich würde heute mit Sicherheit
nicht als Bundesfamilienministerin hier stehen können,
was ich sehr bedauern würde. Ich hoffe, einige von Ihnen auch.
({0})
Ich freue mich sehr, dass ich an diesem Tag die Gelegenheit habe, das wichtige familienpolitische Projekt Elterngeld Plus als ersten Schritt zur Familienarbeitszeit
mit Ihnen abschließend zu beraten. Ich möchte mich
ganz herzlich bedanken, weil ich schon in den parlamentarischen Beratungen im Ausschuss gespürt habe, dass
es über Fraktionsgrenzen hinweg viel Unterstützung
gibt. Das ist ein gutes Signal.
Das ist auch ein gutes Signal für die Familien in
Deutschland. Im Januar hat mir eine Frau aus Leipzig
geschrieben:
Ich würde mich freuen, wenn das Elterngeld Plus
für mich greifen würde, weil das ein großer Anreiz
wäre, auch in Elternzeit meinen Teilzeitarbeitsplatz
zu behalten und nicht ganz auszusteigen.
Im Juli haben bei einer Allensbach-Befragung 67 Prozent der Eltern mit Kindern unter drei Jahren gesagt:
„Das ElterngeldPlus ist eine gute Regelung.“ Heute ist
es so weit: Der Bundestag wird das Elterngeld Plus beschließen. Wir schlagen mit dem Elterngeld Plus ein
neues Kapitel in der Familienpolitik auf. Wir gehen einen Schritt in Richtung einer modernen Familienpolitik,
die berücksichtigt, dass Mütter und Väter Zeit für die Familie, aber auch gleichzeitig Zeit für den Job haben wollen.
Wir wollen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf
stärken. Wir stärken damit allen jungen Eltern den Rücken, die gemeinsam für ihre Kinder da sein und ihre berufliche Entwicklung dafür nicht aufgeben wollen. Wir
bestärken Mütter und Väter darin, mit dem Elterngeld
Plus im Rücken früher in den Job zurückzukehren. Wir
stärken Mütter und Väter, die Familie und Beruf partnerschaftlich vereinbaren wollen.
Die Frau, die mir im Januar geschrieben hat, ist Managerin für Künstler, ihr Mann Kirchenmusiker. Sie
würde gern schon recht früh nach der Geburt ihres Kindes wieder in den Beruf einsteigen, aber in Teilzeit nicht zuletzt, weil sie ihre Arbeit auch gut von zu Hause
aus machen kann. Mit dem Elterngeld Plus kann sie das
tun und trotzdem ihren Elterngeldanspruch ausschöpfen.
Denn wer während des Elterngeldbezugs wieder einsteigt und Teilzeit arbeitet, bekommt doppelt so lange
Elterngeld Plus. Das ist der erste Vorteil des neuen Gesetzes.
Das Elterngeld Plus kommt den Bedürfnissen von Eltern entgegen, die nach der Geburt ihres Kindes wieder
in den Job einsteigen wollen, aber eben in Teilzeit, um
auch Zeit für die Familie zu haben. Wenn auch der Mann
wieder in Teilzeit einsteigt oder seine Arbeitszeit redu6006
ziert - je nachdem, in welcher Situation er ist -, wenn
sich also beide Zeit für das Kind nehmen, aber auch Zeit
in den Job investieren, dann gibt es Partnerschaftsboni.
Es gibt vier zusätzliche Elterngeld-Plus-Monate, wenn
beide während des Elterngeldbezugs Teilzeit arbeiten,
und zwar vier für den einen Partner und vier für den anderen Partner.
Der Partnerschaftsbonus ist der zweite Vorteil des Elterngeld Plus. Partnerschaftlichkeit wird belohnt. Mehr
Partnerschaftlichkeit - damit ist das Elterngeld Plus ein
Schritt hin zu einer Familienarbeitszeit, eine Arbeitszeit
für Familien in Deutschland, die beides ermöglicht: Zeit
in den Job zu investieren, aber eben auch Zeit für Kinder
zu haben. Das wünschen sich Paare. 60 Prozent der
Paare mit Kindern unter drei Jahren wünschen sich, dass
beide Zeit für die Familie haben und eben auch Zeit für
die Kinder. Aber nur 14 Prozent der Paare schaffen es.
In Deutschland haben wir die Situation, dass fast alle
Männer Vollzeit arbeiten, aber als Väter die Arbeitszeit
gerne ein wenig reduzieren wollen. Und wir haben die
Situation, dass die meisten Mütter zwar im Job sind,
aber oft nur 19 Stunden arbeiten und gerne mehr arbeiten
möchten. Sie wünschen sich ein Modell, in dem sich die
Arbeitszeiten angleichen, partnerschaftlich auf Augenhöhe und nicht starr vorgeschrieben in Form einer 30-,
32- oder 35-Stunden-Woche, sondern gemeinsam ausgehandelt. So würde sich die Lücke allmählich schließen.
Das wünschen sich die Paare. Das wäre für die Paare
und ihr Familieneinkommen gut, aber auch für die Wirtschaft gut; denn bekanntlich ist zweimal 32 mehr als
einmal 40. Das haben Fachleute wie der DIHK-Chef
Schweitzer erkannt.
({1})
Ein weiterer Schritt hin zur Familienarbeitszeit ist das
Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege
und Beruf, über das wir in einer Woche hier im Bundestag beraten. Zur partnerschaftlichen Vereinbarkeit von
Beruf und Familie gehört natürlich auch eine gute, ausreichende und bedarfsgerechte Kinderbetreuung. Mit
dem neuen Kitagesetz beteiligt sich der Bund noch mehr
am Kitaausbau. Die Kommunen haben gestern bei der
Bund-Länder-Konferenz zum Thema frühkindliche Bildung bestätigt, dass die Entwicklung schnell voranschreitet und wir weitere Kitaplätze in Deutschland
brauchen, insbesondere Ganztagsplätze. Ich freue mich
sehr, dass wir gestern mit den Ländern erstmalig in einem Kommuniqué schriftlich festgehalten haben, dass
wir uns auf den Weg machen wollen, gemeinsame Qualitätsstandards für die Kindertagesbetreuung zu entwickeln. Denn wir brauchen nicht nur eine ausreichende
Zahl an Plätzen, sondern auch gute Plätze.
({2})
Alleinerziehende profitieren genauso wie Elternpaare.
Das ist mir ganz wichtig; denn die Familienformen in
Deutschland sind bunt. Wir haben viele Alleinerziehende, die tagtäglich einen harten Job in der Familie machen und gleichzeitig berufstätig sind. Das sind zu
90 Prozent Frauen. Aber auch die 10 Prozent alleinerziehende Männer müssen beachtet werden. Es gibt verschiedene Paarformen, ob nun Ehepaare, Paare ohne
Trauschein oder gleichgeschlechtliche Paare. Für alle
muss die Familienpolitik da sein. Das kommt im neuen
Elterngeld Plus zum Ausdruck. Alleinerziehende profitieren vom neuen Elterngeld Plus genauso wie Familien,
egal ob sie gut, durchschnittlich oder wenig verdienen.
Alleinerziehende können ebenfalls den Partnerschaftsbonus in Anspruch nehmen. Vier zusätzliche ElterngeldPlus-Monate - das gilt auch für Alleinerziehende. Ich
bin den Koalitionsfraktionen dankbar, dass sie auf meine
Bitte hin die Empfehlung der Länder aufgenommen haben, eine Verbesserung für die Alleinerziehenden im
parlamentarischen Verfahren zu erreichen. Das ist ein
ganz wichtiger Punkt und ein Signal an die Alleinerziehenden in unserem Land. Wir stärken ihnen den Rücken
und wollen, dass sie genauso gut von der neuen Familienpolitik profitieren.
({3})
Ich bin auch für eine wichtige Ergänzung aus dem
parlamentarischen Verfahren dankbar, nämlich für die
sogenannte Zustimmungsfiktion. Wenn der Arbeitgeber
auf einen Teilzeitantrag in der Elternzeit nicht innerhalb
einer bestimmten Frist reagiert, gilt die Zustimmung als
erteilt. Das ist gut. Damit haben die Eltern Planungssicherheit. Herzlichen Dank dafür!
({4})
Eine weitere Verbesserung, die wir heute schaffen, ist
die Flexibilisierung der Elternzeit. Es gibt auch später im
Leben eines Kindes, also nach dem dritten Lebensjahr,
Phasen, in der die Eltern eine Auszeit brauchen. Das
kann zum Beispiel die Zeit der Einschulung sein. Es ist
wichtig, dass sich die Eltern auch dann Zeit nehmen
können. Deshalb wird es künftig möglich sein, bis zu
24 Monate einer Elternzeit bis zum 8. Lebensjahr des
Kindes zu nehmen. Eltern erhalten damit mehr Zeit und
mehr Flexibilität bei der Betreuung und der Unterstützung ihrer Kinder, eben dann, wenn es die Familie
braucht.
Zum Ausgleich wird den Unternehmen die Möglichkeit eingeräumt, bei der Anmeldung des dritten Elternzeitabschnitts dringende betriebliche Gründe ins Feld zu
führen. Das zeigt, dass wir versuchen, die Balance zwischen den Notwendigkeiten aufseiten der Arbeitgeber
und den Wünschen der Familien zu halten. So lautet
mein Wunsch und Appell an alle Arbeitgeber, nicht nur
der Wirtschaft, sondern auch der Wissenschaft und des
öffentlichen Bereichs: Wir als Politiker können zwar
gute Gesetze machen, wir können auch die Familien finanziell gut unterstützen, aber wir brauchen die Bereitschaft der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, auch auf
die Situation der Familien Rücksicht zu nehmen! Die
Familien in unserem Deutschland haben eine arbeitsfreundliche Arbeitswelt verdient. Sie brauchen diese arbeitsfreundliche Welt. Das Gute daran ist: Beide profitieren, die Familien und die Arbeitgeber.
({5})
Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, der
Wandel der Bedürfnisse junger Eltern, der Wunsch nach
mehr Partnerschaftlichkeit ist eine Entwicklung, die das
Elterngeld mit in Gang gesetzt hat. Die Familienpolitik
hält mit dieser Entwicklung Schritt. Mit dem Elterngeld
Plus machen wir das Elterngeld moderner, schlagen wir
ein neues Kapitel auf. Die neuen Regelungen zum Elterngeld Plus und zu der Elternzeit gelten für alle Eltern,
deren Kinder ab dem 1. Juli 2015 geboren werden. Insofern hoffe ich, dass jetzt einige Paare in Deutschland zuhören und es sich vielleicht überlegen. Es ist jetzt die
richtige Zeit.
({6})
Ich brauche das nicht zu konkretisieren. Ich glaube, alle
wissen, was gemeint ist. Wenn Sie, Herr Weinberg, noch
Nachhilfe brauchen, dann rufen Sie das noch einmal in
den parlamentarischen Ausschussberatungen auf.
({7})
Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, ich
möchte mich ganz herzlich für die gute Zusammenarbeit
im parlamentarischen Verfahren bedanken. Das sage ich
an die Adresse der Koalitionsfraktionen, das sage ich
aber auch ausdrücklich zu den Oppositionsfraktionen.
Ich freue mich auch sehr, dass die Fraktion der Grünen
im Ausschuss ebenfalls dafür gestimmt hat. Das ist ein
Zeichen dafür, dass man auch über Fraktionsgrenzen
hinweg zusammen gute Dinge machen kann, und das ist
das, was die Familien in Deutschland brauchen.
Herzlichen Dank.
({8})
Vielen Dank. - Nächster Redner in der Debatte ist der
Kollege Jörn Wunderlich, Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Frau Ministerin, in der Tat, auch ich hätte es bedauert, wenn Sie als Familienministerin nicht hier wären.
({0})
Das darf man ruhig einmal sagen.
Aber der Rest ist dann nicht mehr so schön; denn zwischen der ersten Lesung und heute haben sich die Hoffnungen meiner Fraktion, was die Ausschussberatungen
angeht, doch nur partiell erfüllt. Ich kann auf das Gesetz
in Gänze jetzt nicht eingehen; dazu fehlt mir die Zeit. Ich
will einige Knackpunkte nennen.
Kommen wir zum Positiven. Damit bin ich schnell
fertig.
({1})
Die Flexibilisierung der Elternzeit ist an sich eine
schöne Sache. Auch wir haben sie schon immer gefordert, aber nicht nur die Flexibilisierung der Elternzeit,
sondern auch des Elterngeldes. Das ist hier leider unterblieben. Es ist versäumt worden, beim Elterngeld den
Geldanspruch zu flexibilisieren. Allein die Elternzeit
auszuweiten, reicht eben gerade nicht; denn so können
sich das nur Eltern mit einem sehr guten Einkommen
leisten.
Auch zu den Alleinerziehenden haben Sie, Frau
Schwesig, schon etwas gesagt. Es ist schön - das findet
auch meine Fraktion -, dass die Anspruchsvoraussetzungen für die Alleinerziehenden in Bezug auf die Partnermonate geändert wurden. Anfangs war das an das alleinige Sorgerecht geknüpft. Das ist von allen kritisiert
worden. Den Anspruch nunmehr an die Bedingung des
Vorliegens der Voraussetzungen der Steuerklasse II zu
knüpfen, ist in Ordnung. Das wurde auch im Rahmen der
Anhörung von den Sachverständigen empfohlen und von
der Regierung übernommen.
Allerdings wurden andere Empfehlungen aus der
Sachverständigenanhörung eben nicht aufgegriffen, so
zum Beispiel die Anrechnung beim Arbeitslosengeld-IIBezug. Die Bundesregierung lässt hier erneut eine Möglichkeit verstreichen, die Anrechnung von Elterngeld auf
Transferleistungen zurückzunehmen. Die Anrechnung
führt vielfach dazu, dass insbesondere Alleinerziehende
und ihr Kind im ersten Jahr nach der Geburt in Armut leben. Auch Familien mit geringem Einkommen wäre eine
entsprechende Änderung entgegengekommen
({2})
und hätte somit den vielfach zitierten Schonraum für Familien allen Eltern ermöglicht. Aber das konnte leider in
den Beratungen nicht erreicht werden, obwohl sich der
Verband alleinerziehender Mütter und Väter und auch
der Familienbund der Katholiken für eine Anrechnungsfreiheit ausgesprochen haben. Auch die evangelische arbeitsgemeinschaft familie kritisiert die fehlende sozial
gerechte Wirkung des Elterngeldes. Alle Rufer in der
Wüste.
Es stimmt eben nicht, wie von der CDU/CSU in der
ersten Lesung behauptet, dass das Elterngeld Schonraum
schaffe. Schonraum für bestimmte Familien - ja. Aber
gerade die Familien, die es am dringendsten brauchten,
bleiben wieder außen vor. Dabei war es - daran möchte
ich einmal erinnern - eines der Wahlversprechen der
SPD, den Sockelbetrag des Elterngeldes wieder anrechnungsfrei zu stellen. Versprochen - gebrochen. Das vorliegende Gesetz jedenfalls bietet diesbezüglich keine
Grundlage, um die Kinderarmut, Elternarmut und Familienarmut im Lande wirksam zu bekämpfen.
Zu den Mehrlingsgeburten. Mit der, wie es heißt, gesetzlichen Präzisierung soll dem Urteil des Bundessozialgerichts nachgekommen werden, indem festgelegt
wird, dass bei Mehrlingsgeburten nur ein Elterngeldanspruch entsteht. Somit entsteht künftig ein Elterngeldanspruch pro Geburt und nicht pro Kind. Das Urteil des
Bundessozialgerichts hat aber eindeutig und mit allen ju6008
ristischen Auslegungsmethoden festgestellt, dass bei
Mehrlingsgeburten pro Kind ein Elterngeldanspruch entsteht. Insbesondere aus der Historie dieses Gesetzes lässt
sich das eindeutig ableiten. Ich habe das Urteil des Bundessozialgerichts hier vorliegen, und ich möchte einmal
aus den Entscheidungsgründen zitieren:
Ab dem 1.1.2007 ist das Bundeselterngeld an die
Stelle des Bundeserziehungsgeldes getreten …
In diesem war geregelt,
dass für jedes … Kind Erziehungsgeld gewährt
werde, falls in einem Haushalt mehrere Kinder betreut und erzogen würden … Zu dieser Vorschrift
hat das BSG
- und zwar schon 2006 entschieden, dass es sich beim Erziehungsgeld für
Zwillingskinder nicht um einen einheitlichen, sondern um zwei getrennte Ansprüche handelt …
Den Gesetzgebungsmaterialien zum BEEG
- also zum Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz lässt sich entnehmen, dass jeder Elternteil einen Elterngeldanspruch für ein Kind erhalten sollte …
Die Absicht einer Anspruchsbegrenzung bei Mehrlingen ist nicht erkennbar.
Erst mit einer nicht näheren Bemerkung in der Begründung zur Einführung dieses Gesetzes wird davon
ausgegangen, dass keine mehrfache Leistungsgewährung vorgesehen ist. Begründet wird das nicht. Wie da
jetzt von einer entsprechenden Intention des Gesetzes
geredet werden kann, erschließt sich mir nicht. Denn
auch bei der Aufnahme eines Kindes in den Haushalt mit
dem Ziel der Annahme dieses Kindes während laufenden Elterngeldbezugs entsteht ein neuer Elterngeldanspruch. Also Elterngeld nur bei Annahme eines Kindes,
aber nicht bei den eigenen leiblichen Kindern? Das erklären Sie einmal den Eltern von Zwillingen. Dem Sinn
und Zweck dieses Gesetzes entspricht es jedenfalls nicht;
das stellt ja auch das Bundessozialgericht so fest.
({3})
Der Erhöhungsbetrag, der notwendig ist, ist zwar sehr
schön, aber der Mehrlingsanspruch ersetzt nicht das Elterngeld als solches.
Warum wird das so geregelt? Ich habe es schon in der
ersten Lesung so gesagt und ich möchte es hier noch einmal tun: Es sind reine Kostengründe, liebe Kolleginnen
und Kollegen. Aus einem Antwortschreiben des Familienministeriums vom 6. August 2014 ergibt sich das ganz
klar. Da heißt es nämlich: Die Einsparungen bei den
Mehrlingsgeburten sollen dazu dienen, den Partnerschaftsbonus zu finanzieren. - Den einen wird also etwas weggenommen, um es den anderen zu geben. So ist
es tatsächlich: Mehrausgaben in Höhe von 75 Millionen
Euro bei den Partnermonaten stehen Einsparungen in
Höhe von 100 Millionen Euro bei den Eltern von Mehrlingen entgegen.
Zur Teilzeit. Eltern müssen ihren Anspruch auf Teilzeit - richtiger wäre es eigentlich, von Wunsch nach
Teilzeit zu reden - dem Arbeitgeber 13 Wochen vor Teilzeitbeginn mitteilen. Sie haben schon von der Fiktionsfrist gesprochen, Frau Schwesig. Sie haben allerdings
nicht den Zeitraum benannt. Denn der Arbeitgeber hat
dann wohlweislich acht Wochen Zeit, darauf zu reagieren; das ist diese Fiktionsfrist. Das heißt, die Eltern müssen ihren Anspruch anmelden, und dann können sie bis
zu acht Wochen warten, ob der Arbeitgeber sich rührt.
Erst dann, wenn er innerhalb dieser acht Wochen nicht
widersprochen hat, gilt es als genehmigt. Wenn der Arbeitgeber widerspricht, können die Eltern notfalls noch
klagen.
({4})
- Acht Wochen sind es, lieber Paul. Bei Kindern, die älter als drei Jahre sind, sind es acht Wochen. Ja, ich kenne
sogar die Gesetze, über die wir hier reden.
({5})
Für die Eltern ist es aufgrund der Länge dieser Frist
ganz schwierig, Planungssicherheit zu erlangen. Aber
warum das so ist, wurde im Ausschuss durch die SPD ja
schon ausgeführt. Da hieß es nämlich - ich zitiere -, es
handele sich um ein wirtschaftsfreundliches Gesetz. Eigentlich sollte es doch eher familienfreundlich sein.
({6})
Hier hätte die Regierung gestalten können. Die gestalterische Wirkung von Gesetzen, so schreibt Professor Willutzki, ist nicht in Abrede zu stellen.
Der Korridor für Alleinerziehende ist nach wie vor zu
eng, als dass diese vermehrt in den Genuss von Bonusmonaten kommen. Auch das wurde in der Anhörung seitens der Sachverständigen bemängelt.
Und wo der große Unterschied zwischen „zwischen
15 und 30 Wochenstunden“ und „nicht weniger als 15
und nicht mehr als 30 Wochenstunden“ liegt, das muss
mir mal einer erklären. Zwischen Elternzeitstunden oder
Arbeitsstunden von verheirateten oder zusammenlebenden Eltern auf der einen Seite und von Alleinerziehenden auf der anderen Seite ist kein Vergleich zu ziehen.
Wo ist denn jetzt der große Wurf, der das „Plus“ in
diesem Gesetz verdient? Es gibt einige Verbesserungen,
die wenige Familien treffen, aber kaum Verbesserung
der Situation Alleinerziehender, keine Verbesserung für
Familien im ALG-II-Bezug, Schlechterstellung von
Mehrlingseltern, fehlende Planungssicherheit. Bei allem
Respekt, liebe Kollegen: Allein wegen der Flexibilisierung kann meine Fraktion diesem Gesetz nicht zustimmen.
Aber keine Sorge, jeder kriegt seine zweite Chance:
Sie können alle die Versäumnisse beheben, indem Sie
einfach unserem Entschließungsantrag zustimmen, der
all das korrigiert. Und die Welt ist wieder in Ordnung.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({7})
Vielen Dank. - Das Wort hat jetzt Marcus Weinberg,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Ich will gern das Historische aufgreifen. Auch wenn die
Reichweite der Debatte, die wir vorhin geführt haben,
mit der Reichweite der Debatte, die wir jetzt führen,
nicht ganz übereinstimmt, wäre es doch interessant, sich
als Historiker einmal zu überlegen: Wie haben sich in
den letzten fünf oder sechs Jahrzehnten eigentlich die
Wünsche der Familien verändert? Übrigens glaube ich,
dass es da zwischen Leipzig, Berlin, Stendal, Hamburg
und München keinen Unterschied gibt.
Während in den 50er- und 60er-Jahren zunächst einmal der Wunsch nach einer Wohnung kam, dann der
Wunsch nach einer größeren Wohnung, nach einem
Auto, nach einem Urlaub in Italien, im Laufe der Jahrzehnte auch der Wunsch nach einem zweiten Auto, einer
zweiten Waschmaschine, möglicherweise einem Computer, ist die Situation heute eine andere. Wer heute
junge Familien fragt: „Was ist Ihnen eigentlich wichtig?
Was ist Ihr größter Schatz, Ihre Ressource?“, der hört
immer häufiger: Zeit. - Zeit wird in Zukunft eine bedeutende Rolle für Familien spielen, weil sich viele junge
Mütter und Väter sagen: Die Stunde, die ich heute nicht
arbeite, kann ich eines Tages nachholen; aber die Minute, die ich jetzt nicht mit meinem Kind verbringe, ist
verloren.
({0})
Deswegen gibt es diesen Wechsel bei den Paradigmen.
Eltern sagen heute: Ich würde auf vieles verzichten,
wenn ich mehr Zeit gemeinsam mit meiner Familie verbringen könnte.
Ein Gedankengang bei der Entwicklung des Elterngeldes war, dieser Veränderung Rechnung zu tragen. Das
Elterngeld als Vorläufer der heute zu diskutierenden
Weiterentwicklung war ein Maßstab und, so glaube ich,
auch ein Leuchtturm im Bereich der Familienpolitik.
Wir haben in der damaligen Großen Koalition gesagt: Es
wird wichtig sein, die erste Phase nach der Geburt eines
Kindes so zu gestalten, dass Familien Sicherheit haben,
finanzielle Sicherheit haben, damit sie die Erwerbstätigkeit auf der einen Seite und die Zeit für die Familie auf
der anderen Seite besser miteinander kombinieren können; es geht also um die Vereinbarkeit von Familie und
Beruf.
Dass dieses Elterngeld ein Erfolgsmodell war, sieht
man an den Zahlen und daran, dass wir mittlerweile
deutlich über 5 Milliarden Euro jährlich für das Elterngeld ausgeben. Dass mittlerweile auch mehr Väter die
Monate für den Partnerschaftsbonus in Anspruch nehmen, ist ebenfalls ein Indiz für den Erfolg. Im Übrigen
wissen wir als Familienpolitiker, dass das Geld, das wir
ausgeben - demnächst möglicherweise bis zu 6 Milliarden Euro -, andere erwirtschaften müssen. Daher besteht
für uns die Verantwortung, mit den Geldern sachgerecht
umzugehen, um den größtmöglichen Mehrwert und damit auch den größten gesellschaftlichen Nutzen zu erzielen.
({1})
Bereits angesprochen wurde, dass sich die Lebensbedingungen immer weiterentwickeln. Gerade in den letzten Jahren beobachten wir zwei wesentliche Entwicklungen. Familienleitbilder, sowohl die gelebten als auch die
Bewertungen dazu, haben sich verändert. Es gibt - das
kann man monieren oder auch nicht, aber es ist Realität
in der Gesellschaft - Ehepaare mit Kindern, Alleinerziehende mit Kindern, nicht miteinander verheiratete Paare
mit Kindern. Es besteht also eine größere Vielfalt. Das
ist die eine große Veränderung, auf die wir reagieren
müssen, auch mit den Angeboten.
Die zweite Entwicklung ergibt sich bei der Definition
der Rollenbilder oder Rollenkonstellationen im Rahmen
der Familienleitbilder. Es ist tatsächlich so, dass sich 60
Prozent der Eltern wünschen, partnerschaftlich, gemeinsam mehr Zeit mit der Familie und für die Familie zu
verbringen. Es ist so, dass 81 Prozent der jungen Menschen mittlerweile der Ansicht sind, dass beide Elternteile gleichermaßen für das Familieneinkommen verantwortlich sind. Es ist so, dass mehr junge Väter ihre
Arbeitszeit gern reduzieren wollen und mehr junge Mütter gern etwas mehr arbeiten wollen als derzeit. Die
Menschen wollen also die Rollenbilder ändern, hin zu
mehr Partnerschaftlichkeit. Ich glaube, dass das Elterngeld Plus jetzt genau die richtige Antwort auf diese Entwicklung ist.
Wir als Union hielten es immer für richtig und haben
es auch immer gesagt, dass wir die Familien in verschiedenen Lebensphasen und verschiedenen Lebenssituationen mitnehmen und verlässliche Rahmenbedingungen
schaffen müssen.
({2})
Dabei gelten für uns zwei Grundsätze:
Erstens geht es uns darum, die Eigenverantwortung
und die Selbstbestimmtheit der Familien zu achten und
zu stärken. Bei jeder Diskussion heißt es ja: Sie haben
das doch gelesen, beim Betreuungsgeld und bei den Kitaplätzen wollen die Eltern gerne das und das. - Das zu
bewerten steht uns nicht zu. Wir müssen Familien stärken. Und das heißt, zuerst kommen die Eltern und die
Familie, und dann kann man überlegen, an welcher
Stelle der Staat möglicherweise eingreifen kann. Aber
im engeren Sinne gilt: Unser Blick richtet sich auf die
Familien.
Das heißt zweitens für uns auch, dass wir Vertrauen
haben müssen, dass Familien richtige Entscheidungen
treffen. In den Fällen, in denen das nicht der Fall ist,
wird der Staat auch eingreifen. Aber zunächst einmal
sollten wir positiv auf Familien zugehen und ihnen Vertrauen entgegenbringen.
({3})
Marcus Weinberg ({4})
In dem Elterngeld Plus sind vier Komponenten als
zentrale Punkte zur Weiterentwicklung aufgenommen.
Die erste ist die Flexibilisierung bei der Zeit, damit
man zum Beispiel selbstbestimmt sagen kann: In meiner
jetzigen besonderen Familiensituation kombiniere ich
das Basiselterngeld mit dem Elterngeld Plus. - Ich
möchte früher wieder in den Beruf zurückkehren. - Ich
möchte länger Teilzeit arbeiten. - Ich möchte mein Kind
länger betreuen. - Das ist also in einem engeren Sinne
eine Flexibilisierung der Möglichkeiten.
Zweitens - das wurde angesprochen -: Wenn Partnerschaftlichkeit gewünscht wird, dann muss man sie auch
fördern. Das geschieht mit dieser Regelung, nach der Eltern pro Woche 25 bis 30 Stunden parallel arbeiten können. Das muss man natürlich nicht in Anspruch nehmen,
aber wenn die Eltern es wollen, dann ist das auch eine
Chance für - weitestgehend - junge Männer, tatsächlich
mehr Zeit mit ihren Kindern zu verbringen. Das ist,
glaube ich, eine gute Gelegenheit, um das traditionelle
Bild der Familien wiederherzuleiten. Kollege Wunderlich,
das muss in diesem Rahmen passieren. Denn aktuell arbeiten Mütter im Durchschnitt 16 Stunden pro Woche,
Väter knapp über 40 Stunden. Wenn man, wie Sie es
vorgeschlagen haben, diesen Rahmen wieder erweitert,
dann bleibt es doch bei der alten Struktur: Die Mütter arbeiten ein bisschen; die Väter arbeiten ganztags. Deswegen haben wir uns klugerweise auf diese 25 bis 30 Stunden geeinigt.
({5})
Die Flexibilisierung der Elternzeit - das ist die dritte
Komponente - wurde schon angesprochen. Das muss
man in der Konsequenz auch anbieten. In welcher Form
das in besonderen Situationen in Anspruch genommen
wird, bleibt sicherlich offen. Ich will nur an die Situation
der Trennung der Eltern erinnern. In diesem Fall ist es
möglicherweise gut, wenn die Möglichkeit besteht, dass
ein Elternteil noch Elternzeit nehmen kann, damit einer
besonderen Situation mit besonderen Auswirkungen für
das Kind begegnet werden kann.
Die Regelung zu den Mehrlingsgeburten - das ist die
vierte Komponente - haben wir häufig diskutiert, Kollege Wunderlich. Dazu sage ich noch einmal: Das Elterngeld ist eine Lohnersatzleistung. Kindergeld bekommen die Eltern für jedes Kind. Aber das Elterngeld ist
eine Lohnersatzleistung und kann sich deshalb nicht
nach der Anzahl der Kinder richten. Das wäre nicht nur
systemfremd, das wäre auch unlogisch.
({6})
Es liegen drei wesentliche Änderungsanträge vor, die
bereits angesprochen worden sind.
Erstens wurde richtigerweise die Feststellung getroffen, dass es natürlich nicht sein kann, dass wir zwischen
Alleinerziehenden mit alleinigem Sorgerecht und Alleinerziehenden mit gemeinsamem Sorgerecht differenzieren. Deshalb haben wir nach den Diskussionen und
Gesprächen - auch im Nachgang zur Anhörung - entschieden, diese Regelung zu verändern. Das war eine
gute und richtige Entscheidung für den Bereich der Alleinerziehenden.
Zweitens. Die Regelung zur Zustimmungsfiktion erleichtert - das stellt man auch fest, wenn man die heutige
Struktur einer Struktur mit der Zustimmungsfiktion gegenüberstellt - die bürokratischen Abläufe: Wenn in vier
bzw. in acht Wochen niemand widerspricht, gilt das als
genehmigt. Jetzt gibt es ein sehr kompliziertes Verfahren, das teilweise auch ein Problem für die Arbeitgeber
darstellt. Diese Regelung ist, glaube ich, im Sinne einer
Vereinfachung gut und wichtig. Festzuhalten ist auch:
Das bedeutet keine rechtliche Schlechterstellung der Arbeitgeber.
Der dritte Punkt betrifft den Bereich der Wirtschaft.
Wenn wir festlegen, dass die Elternzeit in drei Blöcke
eingeteilt werden kann, dann muss auch berücksichtigt
werden, inwieweit das gegenüber dem Arbeitgeber noch
vertretbar ist. Er muss ja auch Planungssicherheit haben.
Er muss ja auch wissen, wie es zukünftig in seinem kleinen mittelständischen Betrieb aussieht. Deshalb ist es,
glaube ich, richtig, dass wir die Regelung implementiert
haben, dass der Arbeitgeber das Recht hat, einen dritten
Block der Elternzeit aus betrieblichen Gründen abzulehnen. Damit haben wir sowohl den Wünschen der Arbeitgeber als auch gesellschaftlichen Veränderungen Rechnung getragen. Das war gut und richtig.
Zum Schluss möchte ich noch etwas zur Akzeptanz
von Familienpolitik und auch von Leistungen der Familienpolitik sagen. Wir sollten immer sehen, dass das, was
wir investieren, was wir für die Familien tun, auch irgendwo herkommen muss. Noch einmal: Es gibt Leuchttürme in der Familienpolitik der letzten acht, neun Jahre,
die es in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland zuvor nicht gegeben hat. Ich nenne den gesamten
Bereich des Ausbaus der Kindertagesbetreuung - jetzt
mit der neuen Stufe der Qualitätssicherung -, den gesamten Bereich der Elternzeit und auch die Frage, wie
flexibel Familienzeiten gestaltet werden können. Das
muss aber auch für die Wirtschaft machbar und mit der
wirtschaftlichen Entwicklung kombinierbar sein. Vor
diesem Hintergrund war es für uns immer wichtig, klar
zu sagen: Wir wollen keine arbeitsgerechte Familienwelt, sondern eine familiengerechte Arbeitswelt. Aber
das alles muss mit der Wirtschaft abgestimmt werden,
und die Wirtschaft muss auch unterstützt werden.
Es ist gut für die Unternehmen und den Standort,
wenn Teilzeitwünsche stärker berücksichtigt werden;
denn früher sind Frauen und Männer teilweise gar nicht
oder erst nach Jahren in den Beruf zurückgekehrt. Jetzt
können die Unternehmen die Fachkräfte über diese Teilzeitregelung behalten. Es ist ja eines der Hauptziele des
Elterngeldes, dass Fachkräfte, die ja benötigt werden,
dem Betrieb erhalten bleiben. Das Gute für diese Fachkräfte ist wiederum, dass sie in der Frage der Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Familienzeit eine bessere
Möglichkeit der Einteilung bzw. Flexibilisierung haben.
({7})
Marcus Weinberg ({8})
Das Ganze ist ein Standortfaktor für Unternehmen und
für Deutschland; denn - so könnte man einfach sagen zufriedene Arbeitnehmer sind auch gute Arbeitnehmer.
Es muss gelingen, die Probleme der jungen Familien zu
berücksichtigen.
In der Debatte, die momentan geführt wird, hören Sie
immer wieder die Frage: Wie schaffe ich es, das miteinander zu verbinden? Die Arbeitgeber sollten das durchaus positiv sehen und aufgreifen; denn es ist ein Standortfaktor. Dort, wo Betriebskindergärten existieren, wo
Arbeitgeber sich im Sinne der Familienförderung um
ihre Mitarbeiter bemühen, werden schneller Fachkräfte
gewonnen, als wenn das nicht der Fall ist.
Ich freue mich sehr, dass wir heute das Elterngeld
Plus verabschieden, eine gute und richtige Maßnahme
für die Familien, eine gute und richtige Maßnahme für
uns in Deutschland. Um auf den historischen Kontext zu
kommen: Ich glaube, damit kommen wir den neuen
Wünschen junger Familien nach. Das ist auch unsere
Aufgabe.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({9})
Vielen Dank. - Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt Dr. Franziska Brantner.
Liebe Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Damen und Herren auf der Tribüne! Ich würde
gerne den Blick - heute Morgen haben wir ihn zurückgewandt - nach vorne richten und fragen: Wenn in 25 Jahren hier die dann 25- oder 26-Jährigen sitzen, was werden sie uns sagen? Wie sind sie aufgewachsen? Hatten
ihre Eltern genügend Zeit für sie, oder hatten sie nicht
genügend Zeit für sie? Ich glaube, das ist der historische
Maßstab, nach dem wir uns heute in dieser Debatte zu
richten haben.
({0})
Frau Schwesig, Sie gehen mit Ihrem Gesetz in die
richtige Richtung. Die Schritte sind richtig; aber leider
gehen Sie nur den halben Weg. Sie nehmen auf diesem
Weg keineswegs alle Kinder und ihre Eltern mit. Wer
seine Arbeitszeit nur um wenige Stunden reduziert, wird
benachteiligt. Alleinerziehende werden es schwer haben,
diesen starren Korridor von 25 bis 30 Wochenstunden
einzuhalten. Und das Elterngeld wird weiterhin voll auf
das ALG II angerechnet.
Der vorliegende Gesetzentwurf behebt richtigerweise
einen Webfehler der alten Elterngeldregelung: Wenn Eltern sich das Elterngeld aufteilen und dabei in Teilzeit
arbeiten, werden sie in Zukunft nicht mehr bestraft. Außerdem - auch das finde ich wichtig - kann ein größerer
Anteil der Elternzeit in einer späteren Phase genutzt werden, wenn das Kind schon älter ist. Aufgrund dieser Verbesserungen, die unserer Meinung nach in die richtige
Richtung gehen, werden wir dem Gesetz zustimmen.
({1})
Aber es ist eine verpasste Chance, wenn wir nur den
halben Weg gehen. In Ihrem Modell, Frau Schwesig,
verstecken sich zwei gegensätzliche Anreize: Der Partnerschaftsbonus setzt auf der einen Seite einen Anreiz
für eine große Teilzeit. Er animiert vor allem Frauen
- das haben Sie erwähnt -, mehr zu arbeiten. Auf der anderen Seite lohnt sich in Ihrem Modell eine große Teilzeit für diese Frauen auf Dauer nicht; denn dadurch können Eltern das Elterngeld nicht länger beziehen, auch
wenn sie es tatsächlich weniger ausschöpfen als bei einer
kleinen Teilzeit. Wenn sie Halbzeit arbeiten, bekommen
sie jetzt doppelt so lange Elterngeld, wenn sie ihre Arbeitszeit nur um ein Viertel reduzieren, aber auch nur
doppelt so lange. Das ist doch eindeutig ein Anreiz, nur
Halbzeit zu arbeiten und auf eine große Teilzeit zu verzichten.
({2})
Außerdem nehmen Sie nicht alle mit: Für Alleinerziehende mit Kind wird es schwierig sein, den engen Korridor von 25 bis 30 Wochenstunden Arbeitszeit einzuhalten, um zusätzlich vier Monate Elterngeld zu erhalten.
Das haben uns auch alle Sachverständigen in der Anhörung so bestätigt. Es wird schwierig sein, gerade wenn
man mehr als ein Kind hat und alleinerziehend ist, diesen Korridor zu schaffen.
Deswegen schlagen wir Grüne ein Modell vor, das Eltern ermöglicht, den Bezug von Elterngeld wirklich flexibel zu gestalten und über einen längeren Zeitraum zu
strecken; denn wenn eine Mutter oder ein Vater die Arbeitszeit nur zu einem Viertel reduziert, sollten sie viermal so lange Elterngeld bekommen und sich damit auch
Zeit für eine spätere Lebensphase des Kindes aufsparen
können.
In unserem grünen Modell muss sich eine alleinerziehende Mutter nicht an einen starren Korridor halten, sondern sie kann schrittweise wieder in den Beruf einsteigen
und kann sich dabei noch bis zum 14. Lebensjahr des
Kindes Zeit aufheben.
({3})
Der Achte Familienbericht, den wir nachher diskutieren, sagt nämlich eindeutig:
Die zeitliche Begrenzung der Übertragbarkeit der
Elternzeit durch den Zeitpunkt der Vollendung des
achten Lebensjahres ist sachlich unbegründet.
Es gibt dafür keinen Grund, auch nicht zu einem späteren Zeitpunkt. Auch bei einem Wechsel auf eine weiterführende Schule besteht Betreuungsaufwand. Außerdem
wäre es eine Chance gewesen, die ALG-II-Empfänger
nicht mehr schlechter zu stellen und die Änderungen, die
unter Ministerin Schröder gemacht wurden, rückgängig
zu machen.
({4})
Erlauben Sie mir am Ende einen Kommentar zu dem
Kitagipfel. Sie haben es selber angesprochen. Kitaqualität ist extrem wichtig. Für uns war der Gipfel gestern
enttäuschend. Bei der Kitaqualität kann man eindeutig
sagen: Ohne Moos nix los! Wenn Sie mit leeren Taschen
kommen, dann wird es die Qualität nicht steigern. Ich
appelliere an Sie - gestern sprach Herr Schäuble von
10 Milliarden Euro als Investitionen in die Zukunft -:
Kämpfen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
SPD, um mindestens 3 Milliarden Euro für die Kitas!
Gibt es bessere Investitionen in die Zukunft als die in
unsere Kinder?
Ich danke Ihnen.
({5})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Sönke Rix, SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Natürlich, liebe Grüne, mehr geht immer. Das ist gar
keine Frage.
({0})
Was wir hier mit dem Elterngeld Plus machen, ist ein
weiterer wichtiger, großer und guter Schritt für eine Familienarbeitszeit.
({1})
Ich finde es gut, dass hier Konsens besteht, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Wenn wir schon dabei sind, darüber zu reden, was
Konsens im Haus ist und wie solche gesellschaftspolitischen und familienpolitischen Debatten normalerweise
hier ablaufen, finde ich es begrüßenswert, dass wir hier
mehr um das Wie als um das Ob diskutieren. Das ist bei
anderen gesellschaftspolitischen und familienpolitischen
Debatten, die wir hier führen - Stichwort: Ehegattensplitting, Betreuungsgeld usw. -, nicht immer der Fall.
Deshalb bedanke ich mich, dass dieser Konsens zu den
Instrumenten Elterngeld und Elternzeit schon über Jahre
besteht.
({2})
Das Elterngeld ist zuerst eine Idee gewesen von
Renate Schmidt zum Ende der Wahlperiode 2005 und
hat dann seinen Weg in das Wahlprogramm der SPD gefunden. Es ist in der Großen Koalition auf Zustimmung
gestoßen. Wir haben gemeinsam beschlossen, das Elterngeld und die Elternzeit einzuführen. Frau von der
Leyen hat das mit großem Einsatz und großer Begeisterung gemacht, aber nicht ohne ein weiteres Instrument
der Großen Koalition - das war sehr wichtig - auf den
Weg zu bringen, nämlich den Ausbau von Betreuungsplätzen. Das gehört nach wie vor zusammen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({3})
Ich weise noch einmal darauf hin: Wir können mit
dem Elterngeld und dem Elterngeld Plus nicht alle
Probleme lösen, die Sie, Herr Wunderlich, zu Recht
angesprochen haben: Alleinerziehende, Familienarmut,
Kinderarmut. Das Instrument des Elterngelds ist eine
Lohnersatzleistung. Alle sozialen Defizite, die wir ohne
Zweifel bei Familien haben, müssen wir mit anderen Instrumenten beheben. Hier haben wir noch viel vor uns,
liebe Kolleginnen und Kollegen.
({4})
Es ist richtig, dass wir jetzt über ein Thema reden,
was aber gar nicht so neu ist. Ich habe vor längerer Zeit
mit einer Kollegin zusammengesessen, die vor, wie sie
sagte, gefühlten 20 Jahren - ich glaube ihr das nicht, es
waren vielleicht 15 Jahre - ein Netzwerk gegründet hat,
bei dem es um Zeitpolitik ging. Sie hat gesagt: Jetzt,
20 Jahre später, ist es en vogue. Es ist eine große gesellschaftliche Debatte. In großen Wochenzeitungen und Tageszeitungen wird darüber diskutiert.
Es ist eine Debatte, die sowohl auf der Arbeitnehmerals auch auf der Arbeitgeberseite sehr offen geführt
wird. Dass es eine breite und gute Diskussion zu diesem
Thema gibt, zeigt, wie notwendig es ist, nicht nur einen
sicheren Arbeitsplatz, ausreichend finanzielle Mittel für
die Familie und Betreuungsplätze für die Kinder zu bieten - die Eltern wollen arbeiten und brauchen deshalb
Betreuungsplätze -, sondern auch die Möglichkeit zu eröffnen, Zeit für die Familie zu haben. Es hat schon eine
große Dimension, das anzuerkennen.
Meine Worte sind vielleicht auch eine Replik auf das,
was Herr Gysi vorhin so wohlwollend über die DDR gesagt hat: Da waren immer ausreichend Betreuungsplätze
vorhanden. - Aber das war ein anderes System. Es war
ja leider so: Weil gearbeitet werden musste, gab es ebendiese Plätze. Ich finde den Gedanken wichtig, Zeit mit
der Familie zu verbringen - also nicht einfach nur die
Kinder in der Zeit, in der man dem System zur Verfügung stehen muss, unterzubringen. Ich finde es gut, dass
wir das mit dem Instrument des Elterngelds nach wie vor
ermöglichen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({5})
Was wir jetzt machen, ist, dass wir die Partnerschaftlichkeit noch einmal erweitern. Denjenigen, die sich zu
mehr Partnerschaftlichkeit bereit erklären, also sich dafür entscheiden, dass nicht nur ein Elternteil die Betreuung übernimmt - meistens, aber nicht immer ist es die
Mutter -, bieten wir jetzt die Möglichkeit, die Zeit der
Partnerschaftlichkeit und des Bezugs von Elterngeld zu
verlängern.
Das Zweite ist: Wir gestalten es flexibler. Denn es
wird zu Recht angemerkt: Die Zeit mit Kindern umfasst
eben nicht nur die ersten drei Lebensjahre des Kindes
oder die Zeit, in der das Kind in die Kindertagesstätte
geht; es gibt auch die Zeit der Einschulung, die Zeit der
ersten Jahre in der Grundschule und andere Zeiten, in
denen das Kind vielleicht einer gezielten Betreuung bedarf und man mehr Zeit mit ihm verbringen möchte.
Deshalb finde ich es gut, dass wir einen Bezug bis zum
achten Lebensjahr ermöglichen und damit sogar weiter
gehen, als es die Linkspartei gefordert hat.
({6})
- Ja, genau: Es ist erstaunlich, dass wir auch mal weiter
gehen als die Linkspartei, Herr Wunderlich.
Ich komme tatsächlich noch einmal zu Ihnen, Herr
Wunderlich, nämlich zu Ihrer Kritik daran, dass der Kollege Felgentreu in der Debatte im Ausschuss gesagt hat,
das sei auch ein Gesetz für die Wirtschaft, also ein wirtschaftsfreundliches Gesetz. Ist das denn so schlimm? Ist
es denn wirklich so schlimm, wenn das Gesetz auch für
den Arbeitsmarkt und für die Unternehmen gut ist, weil
ihre Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zufrieden
sind? Ich frage mich, warum ein Gegensatz zu denen
aufgebaut wird, die sagen: Ich brauche gut ausgebildete
Fachkräfte, die zufrieden sind, die nicht immer unter
dem Druck stehen, es irgendwie hinzubekommen, mehr
Zeit für die Familie zu haben. - Herr Wunderlich, ich
finde, wir sollten diesen Gegensatz gar nicht erst aufbauen.
({7})
Mich wundert, dass Herr Pols heute nicht da ist. Bestellen Sie ihm schöne Grüße! Er war derjenige, der bei
der Anhörung insbesondere auf die Situation von Kleinbetrieben aufmerksam gemacht hat und die Frage aufgebracht hat, was eigentlich ist, wenn es betrieblich absolut
nicht geht. Da haben wir jetzt mit unserem Änderungsantrag eine Regelung gefunden. Wir wollen den Arbeitgebern aber kein Einspruchs- oder Widerspruchsrecht
geben; wir wissen auch, dass die Hürden hinsichtlich betrieblicher Gründe sehr hoch sind. Was wir wollen, ist,
dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber miteinander ins Gespräch kommen, damit es zu einem Konsens kommt. So
stellen wir sicher, dass die Zufriedenheit des Arbeitnehmers nicht schwindet, nur weil er Angst hat, er könnte
mit seinem Wunsch nach Elternzeit beim Arbeitgeber
auflaufen. Wir haben mit dieser Regelung unseren Willen zum Konsens ausgedrückt.
({8})
Ich bin froh, dass wir hier heute darüber beraten, welche Änderungen wir bei diesem Gesetz noch vornehmen
können, dass wir also nicht über das Ob, sondern über
das Wie diskutieren. Ich bin froh, dass wir das Gesetz
nahezu einstimmig beschließen werden. Denn es ist
wirklich ein gutes Gesetz; es hat eine große Zustimmung
wirklich verdient.
Danke schön.
({9})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Katja Dörner,
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Mit dem Elterngeld Plus wird tatsächlich eine Gerechtigkeitslücke geschlossen - das sehen
wir auch so -, die für eine Gruppe von Eltern relevant
ist, nämlich für diejenigen, die schon relativ kurz nach
der Geburt ihres Kindes wieder Teilzeit arbeiten wollen.
Dieser Webfehler im alten Gesetz, der dazu führte, dass
diese Eltern in der Summe weniger Elterngeld bekamen
als diejenigen, die ihren Alltag anders gestalteten, ist
wirklich überhaupt nicht nachzuvollziehen. Insofern
werden wir zustimmen. Wir selbst haben lange gefordert, dass diese Gerechtigkeitslücke geschlossen wird.
Deshalb ist es selbstverständlich - das ist der Kern dieses Gesetzes -, dass wir auch zustimmen werden.
({0})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, Sie können sich
vorstellen, dass es jetzt leider mit einem großen Aber
weitergeht.
({1})
Begeistert sind wir von diesem Gesetzentwurf nämlich
mitnichten. An einigen Stellen wurde schon angesprochen, dass eine ganz große Gerechtigkeitslücke in diesem Gesetzentwurf bleibt, nämlich die Anrechnung des
Elterngeldes im ALG II. Gerade die Eltern, die eine finanzielle Unterstützung besonders nötig haben, werden
weiterhin vom Elterngeldbezug faktisch ausgeschlossen.
Das ist eine riesige Gerechtigkeitslücke, die weiterhin
unbearbeitet bleibt.
Zu dieser ganz strikten Argumentation, das sei eine
Lohnersatzleistung, muss ich sagen: Das Elterngeld ist
ausdrücklich nicht allein als Lohnersatzleistung eingeführt worden,
({2})
sondern wir haben immer gesagt, es müsse für alle Familien, also auch für arme Familien und für Familien im
ALG-II-Bezug, diesen Schonraum von mindestens einem Jahr geben.
Das Elterngeld hat an das Erziehungsgeld angeschlossen, das eine ganz andere Struktur hat. Ich finde es immer noch gut, dass man das umgestellt hat; das war
zweifelsfrei richtig. Aber dass wir jetzt am Ende der
Strecke da landen, dass die Anrechnung des Elterngeldes
beim ALG II das Einzige ist, was vom damals so groß
angekündigten Sparpaket der schwarz-gelben Regierung
übrig bleibt, ist eine riesige Gerechtigkeitslücke. Ich
hätte mir wirklich gewünscht, dass die Koalition die
Kraft gefunden hätte, das an dieser Stelle zu beheben.
Deshalb bleibt das Gesetz zum Elterngeld weiterhin unbefriedigend.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein gutes Jahr nach
der Bundestagswahl verstärkt sich der Eindruck, dass die
Familienministerin zwar gute kleine Schritte geht, die
großen Herausforderungen aber geflissentlich ignoriert.
Wir haben unlängst die Ergebnisse der Evaluation der
ehe- und familienbezogenen Leistungen vorgelegt bekommen. Wir wissen, dass in der Ehe- und Familienförderung Milliarden ausgegeben werden, die zentrale
familienpolitische Zielsetzungen - beispielsweise Armutsprävention, materielle Stabilität von Familien,
Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie partnerschaftliche Aufteilung von Erwerbs- und Familienarbeit - gerade nicht fördern, sondern ihnen sogar zuwiderlaufen. Das haben wir mittlerweile schwarz auf weiß.
Und was passiert? Wir müssen leider sagen: Es passiert
nichts. Auch das ist aus unserer Sicht ausgesprochen unbefriedigend.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestern hat der Kitagipfel stattgefunden; das hat die Ministerin auch angesprochen. Zukünftig soll es einheitliche Qualitätsstandards geben. Das finden wir gut und richtig. Aber die
Familienministerin ist mit leeren Händen zu diesem Gipfel gefahren. Ich habe die große Sorge, dass eben die
dringend notwendigen Qualitätsverbesserungen in den
Kitas nicht nur jetzt auf die lange Bank geschoben werden, sondern dass die Finanzierung allein an den Ländern und den Kommunen hängen bleibt, weil der Bund
nicht bereit ist, sich stärker zu engagieren. Das, finden
wir, darf auf keinen Fall der Plan für die nächsten Jahre
sein. Der Bund muss deutlich mehr für die Kitas tun und
da mehr investieren. Auch das ist eine zentrale Frage
von besserer Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestern war der Kitagipfel, vorgestern konnten wir in der Zeitung lesen,
dass das Betreuungsgeld ein Rohrkrepierer ist,
({6})
der fast im gesamten Bundesgebiet von den Eltern gar
nicht nachgefragt wird. Die Bundesregierung sollte endlich ein Einsehen haben. Wir haben in der letzten Legislaturperiode lange Diskussionen zum Betreuungsgeld
geführt. Es sprach schon immer alles gegen das Betreuungsgeld. Es wurde wider alle Vernunft eingeführt. Jetzt
zeigt sich überall in der Republik, dass in der Breite die
Eltern diese Leistung gar nicht haben wollen. Deshalb
mein Appell: Halten Sie nicht an diesem unsinnigen Betreuungsgeld fest. Die vorgesehene Milliarde wäre in
den Kitas deutlich besser aufgehoben.
({7})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wir hatten eine
Legislaturperiode unter Schwarz-Gelb, in der familienpolitisch so gut wie alles in die falsche Richtung gelaufen ist. Wir können uns jetzt keine Legislaturperiode
leisten, in der wir nur in Trippelschritten vorankommen.
Wir stimmen heute einem richtigen Schritt zu. Aber
wenn wir wirklich etwas für die Kinder und Familien in
unserem Land tun wollen, dann muss in den nächsten
Jahren deutlich mehr kommen.
Vielen Dank.
({8})
Vielen Dank. - Nächster Redner für die CDU/CSUFraktion ist der Kollege Paul Lehrieder.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegin
Brantner, Sie haben vorhin Bezug auf die Gedenkstunde
heute Morgen genommen und gefragt, ob wir in 25 Jahren auch eine Gedenkstunde mit Blick auf das Elterngeld
feiern. Ich weiß nicht, ob das Elterngeld Plus in 25 Jahren mit so einem großen Aufwand gefeiert wird wie
heute die deutsche Einheit.
({0})
In 25 Jahren wird man aber darauf hinweisen, dass diese
Regierung kraftvoll auf die Veränderungen in der Gesellschaft reagiert hat, indem sie unter anderem das Elterngeld Plus auf den Weg gebracht hat.
Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, die Grünen
heute bedingungslos zu loben, Frau Kollegin Dörner,
aber das, was Sie zum Schluss über das Betreuungsgeld
gesagt haben, provoziert eine Richtigstellung.
Es gibt natürlich Länder, in denen durch die Aufklärung der Eltern eine Inanspruchnahmequote von 70 Prozent erreicht werden konnte, zum Beispiel in Bayern. Es
gibt andere Länder - ich glaube, Mecklenburg-Vorpommern, Frau Ministerin -, in denen die Inanspruchnahmequote bei etwa 15 Prozent liegt. Ich wünsche mir, dass
die Eltern in Mecklenburg-Vorpommern, die zu Hause
erziehen wollen, noch etwas stärker auf die Möglichkeit
des Betreuungsgeldes hingewiesen werden. Dann werden es auch dort 50, 60 oder 70 Prozent der Eltern in Anspruch nehmen. Davon bin ich überzeugt.
({1})
- Bitte? Stellen Sie eine Zwischenfrage, sonst läuft
meine Zeit weiter, Herr Wunderlich.
Es ist richtig - meine Vorredner haben bereits darauf
hingewiesen -: Umfragen zufolge wünschen sich die
meisten Eltern mehr Zeit für ihren Nachwuchs. Doch leider ist der Vater, der oft erst dann nach Hause kommt,
wenn die Kleinen schon schlafen, in vielen Familien
Realität. Auf der einen Seite möchten die Väter gern
mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen und aktiv an der
Erziehung teilhaben, auf der anderen Seite befürchten
sie jedoch einen Karriereknick und schrecken deshalb
oft vor Teil- und Elternzeit zurück. Sie haben die Sorge,
dass eine längere Auszeit oder ein Wechsel in Teilzeit
bei ihrem Chef und im Kollegenkreis nicht gut ankommt.
Laut einer repräsentativen forsa-Studie mit dem Titel
„Väter 2014 - zwischen Wunsch und Wirklichkeit“ befürchten immerhin 41 Prozent der abhängig beschäftigten Väter, dass sich die Elternzeit sehr oder eher negativ
auf ihre Karriere auswirken könnte, und verzichten daher auf Familienzeit. Der Verdienstausfall des Haupternährers mag ein weiterer Grund dafür sein, dass sich bislang nur wenige Männer mehr als zwei Partnermonate
der Elternzeit genehmigen.
Liebe Frau Kollegin Dörner, unbeschadet der Inanspruchnahmequote beim Betreuungsgeld von 70 Prozent
ist die Inanspruchnahmequote bei den Vätermonaten in
Bayern, gerade in Unterfranken, überdurchschnittlich
hoch. Das heißt also: Wir können auch Familienpolitik.
({2})
- Bitte?
({3})
- Frau Kollegin, die Oberfranken sind nicht schlecht,
aber an der Spitze dürfte Unterfranken stehen. Wir müssten einen Faktencheck machen; dann kann ich Ihnen das
nächste Woche gerne sagen.
Weil Frauen im Schnitt weniger verdienen als Männer, entfällt der Großteil der bezahlten Elternzeit häufig
auf die Mütter. Diese wiederum würden oftmals gerne
stärker in ihren Job eingebunden sein; auch darauf wurde
von den Vorrednern ausführlich hingewiesen.
Das Elterngeld, das zum 1. Januar 2007 von unserer
damaligen Bundesfamilienministerin Frau Dr. Ursula
von der Leyen eingeführt wurde, war die erste wichtige
Maßnahme, um diese Aufteilung zu ändern. Besonders
für besserverdienende Väter war es bis zum Stichtag
2007 nicht wirklich eine Option, zugunsten des Babys
auf ihr Gehalt zu verzichten. Erst die Zahlung von mindestens 65 Prozent vom Netto- bzw. seit 2013 vom Bruttogehalt setzte einen attraktiven Anreiz, sich finanziell
abgesichert um den Nachwuchs zu kümmern.
Beim alten Erziehungsgeld konnte der Elternteil, der
sich vorwiegend um das Kind kümmert, für 24 Monate
300 Euro oder alternativ für zwölf Monate 450 Euro Unterstützung beantragen. Voraussetzung war auch damals,
eine Teilzeitarbeit von maximal 30 Stunden pro Woche
und das Einhalten bestimmter Einkommensgrenzen.
Noch einmal, Herr Kollege Wunderlich: Das neue Elterngeld ist eine Lohnersatzleistung, konzipiert für den
Ausfall des Einkommens. Es geht nicht darum, eine Erhöhung der Anzahl der Geburten zu erreichen. Das ist
der Unterschied zum vorherigen Erziehungsgeld.
Umfangreiche Evaluierungen haben die positiven
Wirkungen des Elterngeldes bewiesen. Ich weiß, dass
Sie im Herzen liebend gern unserem guten Gesetzentwurf zustimmen würden, dass Sie das aber aus dogmatischen Gründen leider nicht machen können, Herr Kollege Wunderlich.
({4})
- Das habe ich Ihrer Rede zwischen den Zeilen entnehmen können.
Mit der von den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ausdrücklich empfohlenen Weiterentwicklung des Elterngeldes haben Eltern künftig noch mehr
Entscheidungsfreiheit bei der Ausgestaltung ihrer Lebens- und Berufswünsche.
Herr Kollege Lehrieder, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wunderlich?
Ich bitte darum.
({0})
Bitte schön.
Es gibt einzelne gute Gründe dafür, dieses Gesetz gutzuheißen, es gibt aber auch einzelne gute Gründe, dieses
Gesetz abzulehnen. In der Gesamtschau aber kann man
ihm nicht zustimmen.
Wenn Sie mir jetzt, lieber Kollege Lehrieder, an dieser Stelle erklären können, wie eine alleinerziehende
Mutter, die nach Auskunft des Familienministeriums im
Durchschnitt 7 Stunden pro Woche arbeitet, diese Stundenzahl auf 15 Stunden reduzieren soll, dann überlege
ich mir, ob ich nicht doch zustimme. Wie reduziert man
7 Stunden auf 15 Stunden?
Da ist keine Reduzierung, sondern allenfalls eine
Aufstockung möglich. Das ist mit der Erziehung des
Kindes aber sicherlich nicht kompatibel. Wir werden uns
gerade die Auswirkungen auf Alleinerziehende anschauen müssen; das wurde auch in der Anhörung thematisiert. Wir müssen schauen, ob und inwieweit es
auch für die alleinerziehende Mutter, die in Teilzeit berufstätig ist, eine Möglichkeit gibt, diese Leistung zu erhalten, wenn sie ihre Arbeitszeit reduziert. Ich verweise
da auf das Struck’sche Prinzip des Gesetzgebungsverfahrens: Kein Gesetz verlässt den Bundestag so, wie es
reingekommen ist. - Wir werden die Auswirkungen dieses Gesetzes in den Blick nehmen und schauen, ob für
bestimmte Personengruppen, die möglicherweise noch
nicht ausreichend berücksichtigt wurden, Veränderungen
erforderlich sind.
({0})
Lieber Kollege Wunderlich, Sie können sehen, dass
wir im Gesetzgebungsverfahren auf Änderungsbedarf
mit Blick auf den sogenannten doppelten Anspruchsverbrauch reagiert haben.
({1})
Nach der bisherigen Regelung war es so, dass die vollen
Elterngeldmonate verbraucht worden sind, selbst wenn
man Teilzeit gearbeitet hat. Wir haben gesagt: Jawohl,
der Zeitraum muss verdoppelt werden, wenn ich Teilzeit
in Anspruch nehme.
Von daher sage ich: Wir haben reagiert. Das ursprüngliche Elterngeldgesetz ist mittlerweile acht Jahre alt. Wir
haben gesagt: Jawohl, das Gesetz muss verbessert werden. Ich schließe nicht aus, dass das eine oder andere
noch geschwind nachgebessert werden muss.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Vorredner
haben bereits einige positive Aspekte des Elterngeldes
angeführt. Das geplante Gesetz zur Einführung des Elterngeld Plus mit Partnerschaftsbonus und einer flexiblen Elternzeit, soll, wie bereits ausgeführt, Eltern die
Vereinbarkeit von Beruf und Familie ermöglichen, und
zwar auf partnerschaftliche Weise. Es sorgt für neue Gestaltungsmöglichkeiten und mehr Flexibilität im Alltag;
denn zukünftig sollen Eltern das Elterngeld Plus bei
gleichzeitiger Teilzeitarbeit doppelt so lange nutzen können wie nach der bisherigen Regelung.
Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass wir darüber
diskutiert haben, ob die dreimalige Inanspruchnahme
von Elternzeit, also die Inanspruchnahme von Elternzeit
zu verschiedenen Zeiten, der Wirtschaft zuzumuten ist,
ob das insbesondere den kleinen und mittelständischen
Unternehmen und Handwerksbetrieben zuzumuten ist.
Ich glaube, hochmotivierte und gute Arbeitskräfte sind
in dieser Zeit, in der wir über Fachkräftemangel reden,
auch für den kleinen Handwerksbetrieb von großem
Wert. Viele dieser kleinen Handwerksbetriebe handeln
übrigens schon jetzt, bevor wir diesen Gesetzentwurf
verabschiedet haben, mit ihren Arbeitnehmern in den
verschiedenen Bereichen entgegenkommende Regelungen aus, um ihnen die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu ermöglichen. Ein großes Kompliment an den
Handwerksmeister, der seinen Mitarbeitern schon jetzt
Teilzeit anbietet, um die Betreuung von kleinen Kindern
zu ermöglichen.
Wir wollen, dass das bis zum achten Lebensjahr möglich ist. Der Kollege Weinberg hat darauf hingewiesen,
dass es Situationen gibt, die man nicht planen kann. Man
weiß, dass das Kind mit sechs Jahren in die Schule
kommt. Mit Blick darauf kann man eine Reduzierung
der Arbeitszeit planen. Bei einem Schicksalsschlag oder
einer Trennung der Eltern sieht das anders aus. Es kann
sein, dass man in solchen Zeiten etwas weniger arbeiten
möchte, um sich gezielt um die Erziehung der Kinder
kümmern zu können. Ich glaube, dass wir mit der Regelung bis zum 8. Lebensjahr des Kindes einen guten
Kompromiss gefunden haben. Eine Regelung bis zum
14. Lebensjahr des Kindes wäre meiner Ansicht nach etwas arg weitgehend.
Ich habe mir erlaubt, einmal die Tarifverträge der verschiedenen Branchen durchzusehen. Sie enthalten schon
jetzt familienfreundliche Regelungen: Angefangen bei
der Metallindustrie über den Einzelhandel und den
Großhandel bis zu den sozialen Einrichtungen gibt es
schon sehr viele familienfreundliche Regelungen. Eine
große Klinik kümmert sich sogar um den Kinderkrippenplatz, um Betreuungsplätze und zahlt den Elternanteil an
den Betreuungsplätzen. Es gibt also sehr positive Zeichen. Wir unterstützen die Unternehmen in diesem Bereich; denn wir sagen: Hochmotivierte, gute Mitarbeiter,
die nach der Geburt eines Kindes Teilzeit im Unternehmen arbeiten können und wollen, sind für das Unternehmen ein Gewinn. Das ist keine Belastung für das Unternehmen, sondern ein Gewinn.
({2})
So sollten wir das kommunizieren.
Ich will noch eines sagen: Mit der Einführung des Elterngeldes vor acht Jahren und mit der Schaffung zusätzlicher Kinderkrippenplätze wurde den Unternehmen die
Möglichkeit gegeben, qualifizierte Mitarbeiter, insbesondere Frauen, nach der Geburt eines Kindes einstellen
zu können, ob in Teilzeit oder Vollzeit. Der Krippenausbau in den letzten acht Jahren war ein Wirtschaftspaket
ohnegleichen.
Am Montagnachmittag werden wir in der Ausschussanhörung über den qualitativen Krippenausbau debattieren.
Ich freue mich auf die Fortsetzung der Diskussion.
Ich hoffe, dass Sie heute Abend beizeiten zu Ihren Familien kommen, trotz der unsicheren Verkehrslage heute
in Deutschland. Ein schönes Wochenende! Ich freue
mich auf ein Wiedersehen am Montag.
Danke.
({3})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Bettina
Hornhues, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass
wir heute einen Gesetzentwurf verabschieden, der jungen Eltern nicht nur die Wahlfreiheit und Flexibilität erlaubt, sondern auch einen großer Schritt hinsichtlich der
Vereinbarkeit von Familie und Beruf darstellt. Denn gerade Flexibilität ist das, was auf der Wunschliste der Eltern ganz oben steht.
Wir schaffen mit dem Gesetz zur Einführung des
neuen Elterngeld Plus politische Rahmenbedingungen,
mit denen wir ein wichtiges politisches Ziel unseres Koalitionsvertrages umsetzen, nämlich die Stärkung von
Familien. Wir stärken die Familien, indem wir ihnen
nicht nur mehr Zeit miteinander ermöglichen, sondern
auch dafür sorgen, dass Männer und Frauen ihre AufgaBettina Hornhues
ben in Familie und Beruf partnerschaftlich wahrnehmen
und aufteilen können. Denn in einer immer schneller
werdenden Welt, in der Zeit im Allgemeinen eine
knappe Ressource ist, plädieren wir für mehr Zeit, die
wir vor allem im Alltag mit unseren Familien verbringen
können. Das Elterngeld Plus eröffnet genau diese
Chance.
Dies ist diejenige Art von Politik, die nah dran ist an
den Wünschen und Bedürfnissen der heutigen Gesellschaft im Allgemeinen und an jenen der jungen Eltern
im Besonderen. Ich freue mich daher sehr, dass unsere
Forderung nach einer Weiterentwicklung des Elterngeldes hin zum Elterngeld Plus nun umgesetzt und das Elterngeld Plus als eigenständige Gestaltungskomponente
eingeführt wird. Vor allem die Nutzungsmöglichkeit, die
Elternzeit in Verbindung mit dem Elterngeld Plus zukünftig zwischen dem dritten und dem vollendeten achten Lebensjahr flexibel in Anspruch zu nehmen, sehe ich
daher als einen echten Beitrag zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
Wenn ich von mehr Zeit für Familie spreche, was
meine ich dann eigentlich mit Familienzeitpolitik? Was
versteht man unter diesem neuen Politikfeld? Der
Schlüssel, um familienpolitische Ziele wie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erreichen zu können, liegt
für uns als CDU/CSU-Bundestagsfraktion in einer modernen Familienzeitpolitik. Familienzeitpolitik ist spätestens seit dem Siebten Familienbericht der Bundesregierung ein wichtiger Punkt auf der politischen
Agenda. Auch der Achte Familienbericht, über den wir
heute zu späterer Zeit noch debattieren werden, nimmt
sich ganz und gar des Themas der Familienzeitpolitik an.
Dabei werden hauptsächlich drei Kernkomponenten zusammengefasst:
Erstens. Mehr Zeitsouveränität für Familien, das heißt
die selbstbestimmte Einteilung von Zeit als Ressource.
Zweitens. Eine partnerschaftliche und damit gerechte
Verteilung von Zeit bei Frauen und Männern, was auch
zu mehr Chancengleichheit führt.
Drittens. Die Verzahnung mit einer kommunalen Zeitpolitik für Familien, beispielsweise durch die Abstimmung von Öffnungszeiten der Behörden, Kitas usw.
Der Forderung nach mehr Zeit für Familie folgt auch
die Flexibilisierung der Elternzeit, welche wir mit dem
vorliegenden Gesetzentwurf implementieren wollen.
Nun haben wir bereits während der ersten Gesetzeslesung Ende September die vielen positiven Effekte, die
das neue Elterngeld Plus mit sich bringt, hervorgehoben.
Ich möchte nachfolgend aber noch einmal auf die Zielgruppe eingehen, die von dem neuen Elterngeld Plus besonders profitiert, nämlich Erwerbstätige in Teilzeit. Das
Elterngeld Plus haben wir schließlich für diejenigen Eltern entwickelt, die während des Elterngeldbezugs in
Teilzeit arbeiten wollen.
Die Vorteile liegen auf der Hand: Eltern, die nach der
Geburt des Kindes in Teilzeit arbeiten gehen, können
doppelt so lange vom Elterngeld profitieren. Der frühe
Wiedereinstieg bringt zudem Vorteile, sowohl für die
Wirtschaft als auch für die Erwerbstätigen. Der Arbeitgeber kann früher auf den Arbeitnehmer zugreifen und
von seiner Erfahrung im Unternehmen profitieren. Der
Erwerbstätige selbst bleibt auf dem aktuellen Stand bei
den Anforderungen seines Arbeitsplatzes. Das Ausscheiden aus dem Berufsleben kann verhindert werden. In
diesem Punkt stimmen uns auch die Arbeitgeberverbände zu. Auch sie sehen diesen Vorteil in dem vorliegenden Gesetzesvorhaben.
({0})
Natürlich wäre da noch ein ganz wesentlicher Vorteil:
Durch die verringerte Arbeitszeit bleibt mehr Freiraum
für die Familie. Dies ist sowohl für Väter als auch für
Mütter ein wichtiger Aspekt.
Für mich sind die neuen Gestaltungsmöglichkeiten,
die sich durch das Elterngeld Plus ergeben, nicht nur ein
gelungener Beitrag für eine echte Wahlfreiheit, sondern
vor allem eine Win-win-Situation für alle Beteiligten.
Ich möchte in diesem Zusammenhang aber auch noch
einmal an die Wirtschaft appellieren: Familienfreundlichkeit im Unternehmen darf nicht als Umstand gesehen
werden, sondern sollte als echter Wettbewerbsvorteil genutzt werden.
({1})
Als Politik können wir noch so viele Maßnahmen und
Rahmenbedingungen schaffen: Dies alles nützt nichts
ohne die Unterstützung der Wirtschaft. Familienpolitik
verstehe ich auch als Wachstumsmotor für unsere Wirtschaft.
Ich richte mich hier mit zwei ganz konkreten Ideen an
die Wirtschaft:
Dies sind zum einen die Betriebskindergärten. Viele
Unternehmen gehen hier schon mit positivem Beispiel
voran, dem sich meiner Meinung nach aber noch viele
weitere Betriebe anschließen könnten. Ein Betriebskindergarten kann im Wettbewerb um die besten Fachkräfte
ein großer Pluspunkt sein, sich als Arbeitnehmer für dieses Unternehmen zu entscheiden. Betriebskindergärten
ermöglichen Eltern, frühzeitig an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren.
Zum anderen denke ich an die jungen Mütter, die zu
Beginn der Familiengründung noch ohne Abschluss dastehen. Bei den unter 25-jährigen Müttern sind es immerhin über 50 Prozent, die keinen Berufsabschluss haben. Es wäre daher doch sehr zu begrüßen, noch viele
weitere Unternehmen davon zu überzeugen, dass eine
Ausbildung in Teilzeit angeboten wird. Eine Ausbildung
in Teilzeit absolvieren zu können, bietet jungen Erwachsenen mit Familienverantwortung eine echte Chance.
Seit 2005 besteht die Option der Teilzeitausbildung;
leider wird diese Möglichkeit aber bisher noch viel zu
wenig genutzt. So wurden im Jahr 2012 nur 0,2 Prozent
der Ausbildungsverträge in Teilzeit abgeschlossen. Dabei liegen die Vorteile für die Betriebe doch auch hier
auf der Hand: Die Betriebe erhalten engagierte Fachkräfte, die durch ihre Familienverantwortung viel Orga6018
nisationsgeschick und Verantwortungsbewusstsein mitbringen. Die Teilzeitausbildung lässt sich flexibel in den
Betriebsablauf integrieren und kann vor allem kleinen
Betrieben einen Einstieg in die Fachausbildung bieten,
sollten finanzielle und zeitliche Kompetenzen für eine
Vollausbildung fehlen. Zudem zeichnet Familienfreundlichkeit ein Unternehmen als attraktiven Arbeitgeber
aus. Teilzeitausbildung bietet jungen Eltern und Alleinerziehenden eine wirkliche Chance, Berufsausbildung
und Familie miteinander zu verbinden - ein Mehrwert
nicht nur für die Wirtschaft, sondern für die gesamte Gesellschaft.
Aber kommen wir wieder ganz konkret zurück zum
Elterngeld Plus. Kürzlich wurde ich bei einer Veranstaltung darauf angesprochen, ob wir nicht in Bezug auf Familienleistungen auch etwas für die Selbstständigen machen könnten. An dieser Stelle möchte ich noch einmal
betonen: Auch Selbstständige können vom Leistungspaket des Elterngeld Plus profitieren; denn die Flexibilität
des Elterngeld Plus bringt gerade für Selbstständige besondere Vorteile. Wenn Selbstständige in geringem Umfang erwerbstätig sind oder nachlaufende Einkünfte aus
ihrer Tätigkeit vor der Geburt haben, profitieren sie wie
alle anderen Eltern auch. Das Elterngeld ersetzt nur den
tatsächlich ausfallenden Einkommensanteil. Mit einem
Elterngeld-Plus-Monat wird nur noch ein halber Monatsanspruch des Elterngeldes verbraucht statt wie bisher ein
ganzer.
Zusammenfassend bietet das Elterngeld Plus Familien unabhängig davon, ob in selbstständiger oder nicht
selbstständiger Arbeit, mehr Zeit mit der Familie, und
ermöglicht es durch einen frühen Wiedereinstieg in Teilzeiterwerbstätigkeit den Eltern, Familie und Beruf unter
einen Hut zu bringen.
Dieses Gesetz zeigt, dass wir nicht nur die Arbeit der
Frauen, sondern auch die Erziehungsleistung der Väter
wertschätzen.
Vielen Dank.
({2})
Vielen Dank. - Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Einführung des Elterngeld Plus mit Partnerschaftsbonus und
einer flexiblen Elternzeit im Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz. Der Ausschuss für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3086, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen
18/2583 und 18/2625 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der
Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung bei Enthaltung der
Fraktion Die Linke angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und
Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke angenommen.
Wir stimmen nun über den Entschließungsantrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/3090 ab. Wer
stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und
Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion
Die Linke abgelehnt.
({0})
- Ich höre, die Grünen haben sich beim Abstimmen vertan.
({1})
- Okay. Also, Sie hatten dafür gestimmt.
({2})
Wir wiederholen die Abstimmung. Wer stimmt für
diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? -
Wer enthält sich? - Damit ist der Entschließungsantrag
mit den Stimmen der Fraktionen von CDU/CSU und
SPD gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Ent-
haltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.
Wir setzen die Abstimmung zu der Beschlussempfeh-
lung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend auf Drucksache 18/3086 fort.
Tagesordnungspunkt 30 b. Der Ausschuss empfiehlt
unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 18/2749 mit dem Titel „Echte Wahl-
freiheit schaffen - Elterngeld flexibler gestalten“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfeh-
lung ist mit den Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU,
der SPD und Die Linke gegen die Stimmen der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 31 a und 31 b auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten HansChristian Ströbele, Luise Amtsberg, Volker Beck
({3}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung von
Transparenz und zum Diskriminierungsschutz
von Hinweisgeberinnen und Hinweisgebern
({4})
Drucksache 18/3039
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({5})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({6})
Innenausschuss
Sportausschuss
Finanzausschuss
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Gesundheit
Federführung strittig
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin
Binder, Andrej Hunko, Caren Lay, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Gesellschaftliche Bedeutung von Whistleblowing anerkennen - Hinweisgeberinnen und
Hinweisgeber schützen
Drucksache 18/3043
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({7})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({8})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Federführung strittig
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Hans-Christian Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen.
Danke, Frau Präsidentin. - Liebe Zuhörerinnen und
Zuhörer! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir legen
heute einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der parlamentarischen Gesellschaft in unserem Lande vor. Wir
bringen den Entwurf für ein Whistleblowerschutzgesetz
ein.
„Whistleblower“ ist das englische Wort für Hinweisgeber. Whistleblower sind Menschen, die aus Behörden
oder Institutionen heraus auf Missstände hinweisen und
dabei selber häufig nicht nur viel Ärger, sondern manchmal auch sehr viel Schlimmeres riskieren.
Glücklich das Land, das keine Whistleblower
braucht! Deutschland gehört aber nicht dazu.
({0})
Wir haben eine jahrzehntelange Erfahrung mit Whistleblowern. Ich kann nur sagen: Ohne den Steuerbeamten
aus Köln, der die illegale Parteienfinanzierung durch die
Staatsbürgerliche Vereinigung seinerzeit angezeigt und
in die Öffentlichkeit gebracht hat, hätten wir vermutlich
noch heute eine solche illegale Parteienfinanzierung um einmal beim Bundestag anzufangen.
Ohne die Personen - sie riskieren häufig sehr viel -,
die in den vergangenen Jahren CDs zur Verfügung gestellt haben, die Steuerdaten von Steuerflüchtlingen in
der Schweiz und in Liechtenstein beinhalteten, hätten
wir nicht nur in Bundes- und Länderkassen einige Hundert Millionen Euro weniger, sondern wir hätten auch
keine verbesserte Moral und hätten wahrscheinlich auch
nicht die gestrige Debatte über das neue Gesetz zur Rehabilitierung von Steuersündern geführt.
Wir leben davon, dass es Menschen gibt, für die deren
persönliche Interessen manchmal nicht so sehr im Vordergrund stehen wie die Hilfe für andere Menschen. Das
ist nicht nur im großen staatlichen Bereich so, sondern
das ist auch bei Unternehmen so.
Ohne den Kraftfahrer, der den Gammelfleischskandal
aufgedeckt hat, indem er die Polizei alarmierte, hätten
wir wahrscheinlich Vergiftungen durch vergammeltes
Fleisch erlitten. Ohne die Altenpflegerin, die die Missstände in einem Pflegeheim in Berlin mit 150 Insassen
öffentlich gemacht hat - hier ging es um einen Mangel
an Pflege und um Gesundheitsschäden, die die Insassen
erlitten haben -, wäre dieser Zustand nicht beendet worden. Diese Whistleblowerin musste bis zum Europäischen Gerichtshof klagen, um ihr Recht zu bekommen,
ihr Recht, so etwas im Interesse der Allgemeinheit und
der einzelnen Menschen öffentlich machen zu können.
Das darf in unserer Gesellschaft nicht sein.
({1})
Ohne Edward Snowden wüssten wir heute nicht, dass
wir millionenfach abgeschöpft wurden, und wir wüssten
nicht, was wir brauchen, um uns dagegen zu wehren;
denn nur die Kenntnis darüber versetzt uns Einzelne,
aber auch die Gesellschaft in die Lage, gegen solche
Missstände etwas zu tun.
Vor einigen Wochen hat ein verdienter IT-Experte, der
Mann an der Seite von Edward Snowden, nämlich Jacob
Appelbaum aus den USA, hier am Brandenburger Tor
gesagt, er warte auf einen Whistleblower aus Deutschland, der sei dringend erforderlich. Dieser Forderung
können wir uns nur anschließen. Aber was können wir
einem Whistleblower aus Deutschland an rechtlicher Sicherheit bieten? Um ihm etwas bieten zu können, müssen wir ein solches Gesetz diskutieren und dieses Gesetz
auch verabschieden.
({2})
Es geht also nicht nur darum, die Gesellschaft zu
schützen, sondern es geht auch darum, Unternehmen und
Behörden zu schützen. Auch diese können langfristig
kein wohlverstandenes Interesse daran haben, dass Missstände, rechtswidrige Zustände oder möglicherweise sogar die Begehung strafbarer Handlungen in ihrem Unternehmen oder in ihrer Behörde andauern. Deshalb ist ein
solches Gesetz dringend erforderlich. Es wird etwa von
Amnesty International gefordert. Es wird von der Parlamentarischen Versammlung des Europarats und anderen
Institutionen gefordert. Es wird in einer großen Petition
an den Deutschen Bundestag gefordert. Das ist auch eine
dringende Forderung des Europäischen Gerichtshofs,
der das gerade in dem Fall Heinisch immer wieder betont hat. Darüber müssen wir uns Gedanken machen.
Wir könnten in Europa ein vorbildliches Land werden, wenn wir es schafften, ein solches Gesetz zu verabschieden. Der Entwurf, den wir vorgelegt haben, beruht
auf drei Säulen. Wir wollen zum einen die Arbeitnehmer
schützen, die an ihrem Arbeitsplatz Missstände entdecken. Angenommen, ein Arbeitnehmer meldet Missstände zunächst beim Arbeitgeber oder an einer anderen
Stelle, aber es kommt keine Reaktion. Dann stellt er fest,
dass nicht nur keine Abhilfe geschaffen wird, sondern
dass es auch Gefahren für Leib und Leben, Freiheit,
({3})
Umwelt, Finanzplatzstabilität und Ähnliches gibt. Dann
kann er sagen: Ich melde das einer Stelle außerhalb meiner Arbeit. Wenn auch das noch nichts nützt und wenn
das öffentliche Interesse an der Veröffentlichung eines
solchen Missstandes überwiegt, dann darf dieser Arbeitnehmer auch zur Presse gehen und das öffentlich machen, damit diese Missstände endlich abgestellt werden.
({4})
Eine solche Regelung wollen wir zum anderen auch
für die Beamten schaffen. Im Beamtengesetz wollen wir
im Rahmen eines neuen § 67 a einen entsprechenden
Passus einfügen. Dabei geht es darum: Wenn in einer
Behörde festgestellt wird - ich habe zwei Fälle genannt -, dass möglicherweise sogar Straftaten begangen
werden oder Gefahren für Leib, Leben, Gesundheit,
Freiheitsrechte von Menschen, die Umwelt oder für die
Stabilität der Finanzen nicht gesehen oder beachtet bzw.
keine Schlussfolgerungen daraus gezogen werden, dann
müssen auch die Beamten ihrer Allgemeinwohlverpflichtung, die sie nach dem Gesetz ohnehin haben,
nachkommen und so etwas nicht nur beim Vorgesetzten
anzeigen, sondern das auch in Fällen, in denen das öffentliche Interesse überwiegt, in die Medien bringen
können, damit die Öffentlichkeit bzw. der Deutsche
Bundestag Druck ausüben können, dass solche Zustände
beseitigt werden.
({5})
Ein letzter und ganz wichtiger Punkt. Wir machen
keine Lex Edward Snowden. Wir wollen aber ein Gesetz
machen, das auch solchen Whistleblowern hilft. Deshalb
wollen wir auch die Bestimmungen im Strafrecht ändern, die beispielsweise Staatsgeheimnisse oder Dienstgeheimnisse absolut setzen. Wir sagen: Wenn die Gefahr
der Verletzung von Grundrechten, anderer schwerer
Rechtsverletzungen oder der Begehung schwerer Straftaten besteht, dann ist es wie beispielsweise in dem Fall
der Massenausspähung - der massenhaften Verletzung
der Grundrechte von Millionen von Bürgern auf der ganzen Welt, aber auch in Deutschland - gerechtfertigt, mit
einer solchen Information an die Öffentlichkeit zu gehen
und auch Dokumente vorzulegen, damit man dagegen
angehen kann.
({6})
Deshalb wollen wir die Bestimmungen über Staatsgeheimnisse oder Dienstgeheimnisse entsprechend relativieren und regeln, dass Whistleblower in diesen Fällen,
wenn sie das auf der Grundlage von konkreten Anhaltspunkten annehmen können und das öffentliche Interesse
überwiegt, straffrei gestellt werden. Dann soll die Weitergabe entsprechender Informationen gerechtfertigt
bzw. nicht mehr unbefugt sein.
({7})
Diese gesetzliche Regelung ist dringend geboten.
Zusammenfassend ist festzuhalten: Wir wollen mehr
Transparenz und mehr Aufklärung in unserer Gesellschaft wagen. Deshalb legen wir diesen Gesetzentwurf
vor und fordern die anderen Fraktionen im Deutschen
Bundestag und die Bundesregierung auf, das zu tun,
wozu die Regierung sich schon vor längerem verpflichtet hat, nämlich einen entsprechenden Gesetzentwurf
vorzulegen. Wir wären auch damit zufrieden, dass sie
einfach unseren Gesetzentwurf übernehmen.
({8})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Wilfried Oellers,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir beraten heute den Antrag der Fraktion Die
Linke und den Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen zum Schutz von Hinweisgeberinnen und Hinweisgebern. Missstände, illegales Handeln oder Gefahren werden häufig durch Informationen und Hinweise von
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aufgedeckt. Sie sind
es, die skandalöses Verhalten bzw. skandalöse Handlungen nicht schweigend hinnehmen, sondern durch beherztes Tätigwerden aufdecken und eine entsprechende
rechtliche Verfolgung bzw. Ahndung erst ermöglichen.
Diese Hinweisgeberinnen und Hinweisgeber legen
damit eine Zivilcourage an den Tag, die nicht hoch genug gelobt und anerkannt werden kann. Sie gehen ein
hohes Risiko ein und setzen für das hohe Gut der Gerechtigkeit gar ihren Ruf und ihre Existenz aufs Spiel.
Ich spreche diesen Menschen daher persönlich, aber
auch im Namen der CDU/CSU-Fraktion großen Respekt
aus.
({0})
Menschen, die sich so sehr für andere einsetzen, müssen vor den ihnen drohenden Nachteilen geschützt werden.
({1})
Dies ist unbestritten, und dies sind wir ihnen auch schuldig. Hierzu bringen die Oppositionsparteien nun Vorschläge ein, die die Hinweisgeberinnen und HinweisgeWilfried Oellers
ber schützen sollen. Dabei gilt es jedoch, zunächst
einmal zu prüfen, ob nicht bereits das geltende Recht die
Hinweisgeberinnen und Hinweisgeber schützt.
({2})
Auch wenn ein spezielles Schutzgesetz nicht existiert,
so stellen wir bei sorgfältiger Prüfung und genauer Betrachtung fest, dass die geltende Rechtslage den Schutz
bereits gewährleistet.
Lassen Sie mich an dieser Stelle einige Beispiele nennen.
({3})
Im Bürgerlichen Gesetzbuch ist in § 612 a das sogenannte generelle Maßregelverbot geregelt. Hiernach ist
es dem Arbeitgeber untersagt, einen Arbeitnehmer im
Rahmen einer Vereinbarung oder einer Maßnahme zu
benachteiligen, weil dieser in zulässiger Weise seine
Rechte geltend macht und ausübt. Darin enthalten ist das
von der Rechtsprechung anerkannte allgemeine Anzeigerecht des Arbeitnehmers gegenüber seinem Arbeitgeber. Dieses Anzeigerecht ist von den Arbeitsgerichten
wiederholt bestätigt worden, sodass die Kündigung eines
Arbeitsverhältnisses rechtswidrig ist, wenn sie mit der
Ausübung des Anzeigerechts begründet wird.
Um allerdings die Willkür und den Missbrauch eines
solchen Anzeigerechts durch den Arbeitnehmer zu verhindern, unterliegt das Anzeigerecht zu Recht bestimmten Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, um sich
wirksam auf das Anzeigerecht berufen zu können. Zunächst müssen sich die Hinweisgeber vor Erstattung einer Anzeige ernsthaft um eine innerbetriebliche Klärung
bemüht haben. Eine Ausnahme wird hiervon gemacht,
wenn es sich um Straftaten mit besonders schweren Folgen handelt. Weiterhin darf eine Anzeige nicht leichtfertig von einem Arbeitnehmer erstattet werden. Er hat den
Sachverhalt sorgfältig zu erfassen, sodass er auch nachgewiesen werden kann.
Herr Kollege Oellers, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele?
Ich würde zunächst gerne fortfahren. Vielleicht erübrigt sich dann diese Zwischenfrage.
Okay.
({0})
Zudem muss die Anzeige darauf gerichtet sein, dem
Missstand, illegalem Handeln oder Gefahren nachzugehen und sie zu beseitigen. Die Anzeige darf nicht die
Zielrichtung haben, dem Arbeitgeber oder gar Kollegen
lediglich zu schaden. Hierdurch würde der Hinweisgeber
zu Recht seine Schutzwürdigkeit verlieren. Als eine weitere Voraussetzung muss sich der Hinweisgeber an eine
öffentliche Stelle wenden.
Abschließend sei nochmals darauf hingewiesen - das
halte ich für besonders wichtig -, dass dieser gesetzliche
Schutz des Arbeitnehmers im Bürgerlichen Gesetzbuch
verankert ist. Es handelt sich um ein allgemeines Recht,
das für alle Arbeitsverhältnisse gilt. Allein diese Norm
gewährleistet daher bereits den Schutz von Hinweisgebern.
Wie weit das Maßregelverbot entwickelt ist, zeigen
nicht nur die oben genannten Voraussetzungen, sondern
auch die umfangreiche Rechtsprechung und die Kommentierung in der Literatur. Sie bieten einen entsprechenden Rechtsschutz. Diese umfangreichen Materialien
zeigen jedoch auch deutlich, dass jeder Fall gesondert zu
betrachten und rechtlich zu bewerten ist.
Wenn Sie nun behaupten, dass durch Ihre Vorschläge
mehr Rechtssicherheit eintreten würde, muss ich Ihnen
an dieser Stelle widersprechen. Sämtliche Vorlagen enthalten auslegungsbedürftige Rechtsbegriffe. Als Beispiel
nenne ich hier „Zumutbarkeit“, „öffentliches Interesse“,
„betriebliches Interesse“, „Angemessenheit“ und „unsachgemäß“. Als weiteren Punkt möchte ich erwähnen,
dass Sie eine Abwägung der jeweiligen Interessen fordern.
Herr Kollege, Entschuldigung, aber ich muss Sie
noch einmal unterbrechen. Der Kollege Konstantin von
Notz würde Ihnen jetzt gerne eine Zwischenfrage stellen.
Dann lasse ich sie gerne zu.
Bitte schön, Herr Kollege von Notz.
Das ist freundlich, Herr Kollege. Vielen Dank. - Würden Sie mir zustimmen, dass wir, wenn wir so stark auf
die Rechtsprechung bei der Bewertung der angesprochenen Problematiken, die wir beide offensichtlich sehen,
abstellen, nicht mehr viele Gesetze machen müssen? Anders formuliert: Finden Sie nicht auch, dass es im Hinblick auf die Rechtssicherheit, die die betreffenden Menschen brauchen, bevor sie sich zu einem solchen Schritt
entscheiden, gut wäre, wenn wir eine klare gesetzliche
Regelung zum Whistleblowerschutz hätten und nicht auf
eine sehr diverse, teilweise widersprüchliche und unklare Rechtsprechung verweisen müssten? Aufgabe dieses Hauses ist es doch, Gesetze für Bereiche zu machen,
wo dies dringend notwendig ist.
Ich stimme Ihnen zu, wenn Sie vorgeben, dass die betreffenden Personen einen besonderen Schutz genießen
müssen und dieser Schutz rechtssicher sein muss; das ist
überhaupt keine Frage.
Ich habe aber auch ausgeführt, dass man zunächst einmal die geltende Rechtslage prüfen muss, bevor man
neue Gesetze erlässt. Da bin ich noch in meinen Ausführungen, und ich komme noch zu weiteren Punkten.
Wenn man das alles vollumfänglich beurteilt, muss man
schon zu dem Ergebnis kommen, dass wir hier in
Deutschland einen entsprechenden rechtssicheren Schutz
haben. Die Besonderheit liegt natürlich darin, dass wir
immer den Einzelfall bewerten müssen.
({0})
Etwas anderes enthalten auch Ihre Gesetzesvorschläge
nicht. Von daher beurteilen wir die Situation eigentlich
ähnlich, sodass meiner Meinung nach an dieser Stelle
kein Handlungsbedarf besteht. Das will ich jetzt weiter
ausführen.
({1})
Ich schloss seinerseits an der Stelle, dass wir auf die
allgemeinen Begrifflichkeiten und die auslegungsbedürftigen Rechtsbegriffe hingewiesen haben. Wie ich gerade schon erwähnt habe, führen diese allgemeinen und
auslegungsbedürftigen Rechtsbestimmungen dazu, dass
wir immer eine Entscheidung im Einzelfall herbeiführen
müssen. Im Streitfall liegt es dann natürlich bei den Gerichten, dies zu entscheiden.
Daher ist festzustellen, dass die hier vorgelegten umfangreichen Textvorschläge zum einen bestimmt nicht
zu mehr Rechtssicherheit führen, als heute schon besteht, und zum anderen eine Einzelfallentscheidung der
Gerichte auch nicht entbehrlich macht. Gerade diese
Einzelfallentscheidung ist erforderlich, da die Sachverhalte in aller Regel komplex und äußerst differenziert zu
beurteilen sind. Eine umfangreiche Abwägung aller Interessen ist somit unumgänglich. Diese ist von den Gerichten vorzunehmen. Das sieht unser Rechtssystem nun einmal so vor.
Dabei ist selbstverständlich nicht zu verhehlen, dass
derartige Verfahren langwierig sind und zuweilen die
Beteiligten sehr belasten. Nur werden Sie diese Verfahren nicht durch neue umfangreiche gesetzliche Regelungen verkürzen können.
({2})
Um nun dem Eindruck entgegenzutreten, dass es mit
§ 612 a BGB nur eine gesetzliche Regelung zum Schutz
von Hinweisgebern gibt, seien nachfolgend weitere Gesetze genannt, die ebenfalls Schutzvorschriften für Hinweisgeber enthalten. So dient zum einen natürlich das
Kündigungsschutzgesetz, also ein weiteres allgemeines
Gesetz, dem Schutz von Hinweisgebern. Wir haben aber
auch spezielle Regelungen im Betriebsverfassungsgesetz, im Arbeitsschutzgesetz, sogar im Bundes-Immissionsschutzgesetz und im BGB. Darüber hinaus darf in
diesem Zusammenhang auch nicht die höchstrichterliche
Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, des Bundesverfassungsgerichts, aber auch des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vergessen werden.
({3})
Auch für Hinweisgeber, die Verschwiegenheitspflichten unterliegen, gibt es gesetzliche Schutzregelungen. So
ist an dieser Stelle insbesondere auf die Regelungen des
Bundesbeamtengesetzes und des Beamtenstatusgesetzes
hinzuweisen. Zu erwähnen ist ebenfalls, dass viele
Betriebe freiwillig Möglichkeiten zur Meldung von
Missständen eingeführt haben, zum Beispiel durch das
Berufen von Ombudsleuten oder durch Betriebsvereinbarungen zwischen den Sozialpartnern, die auf die jeweiligen besonderen Betriebssituationen zugeschnitten
sind.
Auch internationale Vereinbarungen begründen, wie
schon erwähnt, in meinen Augen keinen gesetzgeberischen Handlungsbedarf. Sowohl die Beschlüsse der
G-20-Staaten als auch des Europarates beinhalten keine
Pflicht, ein spezielles Gesetz zum Schutz von Hinweisgebern zu erlassen. Mit den geschilderten Rechtsvorschriften wird die Empfehlung der genannten Gremien
- und eine solche ist es -, den Schutz von Hinweisgebern zu gewährleisten, erfüllt.
({4})
Dies wurde auch in der öffentlichen Anhörung zu diesem Thema am 5. März 2012 bestätigt. Bereits damals
waren die Vorschläge der Opposition, die den jetzigen
Vorschlägen sehr ähneln, nicht geeignet, den Schutz von
Hinweisgebern in der notwendigen Weise zu verbessern.
Die bisherige Rechtslage gewährleistet den Schutz von
Hinweisgebern, so die einhellige Meinung. An dieser Situation hat sich bis heute nichts geändert. Handlungsbedarf besteht derzeit damit nicht.
Die Schutzwürdigkeit und der Respekt vor den Hinweisgebern gebietet es jedoch, die Entwicklung der
Schutzvorschriften durch die Rechtsprechung aufmerksam zu beobachten und gesetzgeberisch dann korrigierend tätig zu werden, sobald Handlungsbedarf angezeigt
ist.
({5})
Da dies derzeit nicht der Fall ist, werden wir diese Vorlagen ablehnen.
Vielen Dank.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, als nächste Kollegin hat Karin Binder das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren auf den Besuchertribünen!
Wer auf Missstände im Betrieb oder in der Behörde hinweist, wer Betrug oder gefährliche Zustände aufdeckt,
kann dafür seinen Arbeitsplatz verlieren, wird möglicherweise gemobbt, von Vorgesetzten schikaniert, verleumdet oder muss mit dem Ende seiner beruflichen
Karriere rechnen,
({0})
und das trotz der bestehenden Gesetzeslage, Herr Kollege Oellers. Ich hoffe, Sie werden gut zuhören.
({1})
Deshalb ist es höchste Zeit, dass wir endlich, in dieser
Legislatur, auch in Deutschland ein Whistleblowerschutzgesetz auf den Weg bringen. Dass dies dringend
notwendig ist, kann ich Ihnen an drei Fällen aufzeigen:
Erstens. Ein Berliner Krankenwagenfahrer wies auf
unhaltbare Zustände im Krankentransport hin und wurde
entlassen. Zwölf-Stunden-Schichten ohne Pause, fehlende Desinfektion nach Transporten von hoch ansteckenden Patienten, Fahrzeuge, die nicht mehr verkehrssicher sind - was bedeutet das für die Patientinnen und
Patienten?
Zweitens. Ein selbstständiger Personalberater hatte
die offene Diskriminierung einer Bewerberin durch ein
Unternehmen angeprangert und wird zu einer Schadensersatzzahlung an dieses Unternehmen verurteilt. Was
sind Diskriminierungsschutz und ein Gesetz wie das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz wert, wenn Menschen, die sich danach richten und dafür einsetzen, solche negativen Folgen zu erleiden haben?
({2})
Drittens. Elf Altenpflegerinnen im Münsterland wurden erst im September fristlos entlassen. Sie hatten die
Leitung des Pflegeheims lange vergeblich auf unhaltbare
Zustände, fehlendes Material und absolute Arbeitsüberlastung aufmerksam gemacht und dann die Heimaufsicht
angeschrieben. Mit Unterlassungsklagen schüchterte der
private Betreiber nicht nur die Heimaufsicht ein, sondern
auch das Umfeld dieses Heimes, sodass die Kritik inzwischen verstummte. Die elf Kolleginnen sind jetzt arbeitslos, und die Patientinnen, die Heimbewohnerinnen, haben keinen Ansprechpartner mehr. Hier sind auf einen
Schlag elf Fachkräfte aus einem Heim mit 47 Beschäftigten entlassen worden. Ich weiß nicht, ob Sie sich diese
Situation für Ihre Angehörigen in einem ähnlichen Fall
wünschen. Die oft demenzkranken Menschen verlieren
Ansprechpartner, Vertrauenspersonen und Fachkräfte.
Ersetzt werden die ausgeschiedenen Personen durch
400-Euro-Jobber, durch Aushilfen, durch Menschen, bei
denen es im Prinzip erst einmal lange Zeit braucht, um
Vertrauen zu ihnen aufzubauen.
Dass sich diese Altenpflegerinnen im Prinzip im Interesse der Patientinnen, im Interesse der Gesellschaft hier
starkgemacht haben, muss Ihnen doch zeigen, dass in
unserem Rechtssystem Defizite herrschen.
({3})
Die Linke sagt: Diese Menschen leisten einen unverzichtbaren gesellschaftlichen Beitrag, und dafür verdienen sie unsere Anerkennung und unseren Schutz.
({4})
Deshalb brauchen wir ein umfassendes Whistleblowerschutzgesetz. Damit beauftragen wir auch Sie als
Regierungskoalition und die Regierung. Denn wir glauben, Nachteile wie der Verlust des Arbeitsplatzes, Mobbing, Verleumdung und andere Dinge, etwa materielle
Nachteile, müssen vermieden werden, wenn sich Menschen für ihre Mitmenschen oder für die Gesellschaft
einsetzen.
({5})
In einem solchen Gesetz muss auf jeden Fall der
Schutz für Beschäftigte in der Privatwirtschaft und im
öffentlichen Dienst verankert sein. Dieser Schutz muss
für Beamtinnen und Beamte ebenso wie für Selbstständige, für Leiharbeiterinnen, für Auszubildende, für Ehrenamtliche, für Militärangehörige oder für Angehörige
von Geheimdiensten gelten.
({6})
Wir brauchen außerdem den Schutz für alle, die im
guten Glauben handeln. Die wenigsten Menschen sind
juristisch ausgebildet und können die feinen Differenzierungen vornehmen, die ihnen entweder tatsächlich helfen und sie schützen oder auch nicht. Der gute Glaube
muss zählen, wenn es darum geht, Gefahren für andere
Menschen abzuwenden.
Die Gewährleistung von Anonymität für Whistleblower ist eine ganz wichtige Sache; denn sonst verlieren sie ihren Arbeitsplatz. Es muss auch die Möglichkeit
geben, sich an andere Stellen und an die Öffentlichkeit
zu wenden, weil der interne Beschwerdeweg leider in
vielen Fällen nicht erfolgreich ist, sondern sich, im Gegenteil, gegen diejenigen wendet, die ihn beschreiten.
Liebe Kollegin, ich war schon sehr großzügig. Deshalb müssen Sie jetzt zum Schluss kommen.
Letzter Satz. - Wir brauchen ganz dringend unabhängige Beratungsstellen und eine unabhängige Ombudsstelle, am besten angesiedelt hier bei uns, beim Parlament, beim Bundestag.
Deshalb kann ich Sie nur bitten: Schauen Sie sich den
Entwurf der Grünen gut an! Wir hätten durchaus noch
Vorschläge zur Ergänzung. Ich würde sagen: Ein umfassendes Whistleblowerschutzgesetz ist wichtig und notwendig.
Danke.
({0})
Als nächster Redner spricht der Kollege Markus
Paschke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sogenannte Whistleblower bzw. Hinweisgeber oder Aufklärer, wie ich sie gern nenne, leisten einen großen
Dienst an unserer Gesellschaft. Es sind in erster Linie
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, aber auch Kunden, Lieferanten und Geschäftspartner, die auf Unregelmäßigkeiten, illegales Verhalten oder sogar Gefahren für
Mensch und Umwelt aufmerksam werden. Ohne deren
Insiderwissen können wir vieles nicht aufdecken und erkennen. Alle diese Menschen stehen in einer gewissen
Abhängigkeit zu dem Verursacher. Wir sind in der
Pflicht, den Aufklärern Rechtssicherheit darüber zu geben, was sie dürfen und was nicht.
Die SPD hat in der letzten Legislaturperiode bereits
einen eigenen Gesetzentwurf zum Thema Hinweisgeberschutz eingebracht.
({0})
Es ist kein Geheimnis, dass unser jetziger Koalitionspartner dem nicht folgen konnte. Aber eine neue Legislaturperiode, mit zum Teil neuen Abgeordneten, bietet ja
die Möglichkeit, vergebene Chancen nachzuholen.
({1})
Das Ergebnis: Wir haben uns im Koalitionsvertrag immerhin auf einen Prüfauftrag verständigt.
({2})
Für mich ist das ein klarer Auftrag, nicht nur zu prüfen,
sondern die Ergebnisse der Prüfung auch umzusetzen.
Wir alle kennen die Fälle, in denen engagierte und
couragierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Missstände
in ihren Betrieben und Skandale offenlegen oder verhindern: der Lkw-Fahrer, der den Gammelfleischskandal
ins Rollen brachte, die Schlachter, die die unmenschlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie in den Fokus der Öffentlichkeit rückten, die Verkäuferinnen, die auf die Mitarbeiterbespitzelung bei
einem großen Discounter aufmerksam machten.
Dies sind nur einige Beispiele - wir haben vorhin
schon weitere gehört -, die verdeutlichen, dass es sich
bei den Hinweisgebern nicht um Denunzianten oder Verräter, sondern - ganz im Gegenteil - um wichtige und
notwendige Aufklärer im Dienst der Allgemeinheit handelt.
({3})
Ohne den Mut dieser Männer und Frauen wäre es nicht
zu notwendigen Veränderungen zum Wohle der Menschen in unserem Land gekommen.
({4})
Deshalb finde ich es umso beschämender, dass gerade
diese Helden - ja, in meinen Augen sind es Helden ({5})
im Anschluss an ihr mutiges Handeln häufig mit Repressalien zu kämpfen haben.
({6})
Für ihre Zivilcourage werden sie zu Recht ausgezeichnet
und belobigt. Aber die Medaille hat leider auch eine unschöne Seite: Mobbing, Strafversetzung oder sogar Entlassung als unmittelbare Reaktion aus dem unmittelbaren beruflichen Umfeld der Aufklärer sind leider keine
Seltenheit.
({7})
Gegenwärtig gibt es in Deutschland bereits vereinzelt
gesetzliche Regelungen, die Hinweisgeber schützen sollen.
({8})
Aber - das sage ich an dieser Stelle deutlich - sie sind
meines Erachtens nicht ausreichend.
({9})
Ich freue mich über die Zustimmung; da hätten Sie sich
die Zwischenrufe vorher doch alle sparen können.
({10})
Es ist die Aufgabe der Politik, nicht die Aufgabe der
Gerichte, zu gestalten, meine Damen und Herren.
({11})
Wir brauchen einen effektiven Schutz für die Aufklärer.
Kommen wir nun zu Ihrem Gesetzentwurf, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von den Grünen. Man
könnte sagen: Problem erkannt,
({12})
aber nicht gelöst. Viele Sachen benennen Sie richtig.
Und es gibt, wie bereits in der letzten Legislaturperiode,
auch einige Schnittmengen zwischen Ihrer und unserer
Fraktion. Aber auch in Ihrem Gesetzentwurf gibt es eine
Vielzahl unbestimmter Rechtsbegriffe, deren Ausgestaltung wieder den Gerichten obliegt.
({13})
Ich will einige Beispiele nennen: Sie schlagen vor, ins
BGB einen § 612 b einzufügen, in dessen Absatz 1 von
„konkreten Anhaltspunkten“ die Rede ist. Für einen Absatz 2 schlagen Sie folgende Formulierung vor:
Der Arbeitnehmer hat das Recht, sich an eine zuständige außerbetriebliche Stelle zu wenden, wenn
… der Arbeitgeber dem Verlangen nach Abhilfe
nicht binnen angemessener Frist oder nach Auffassung des Arbeitnehmers aufgrund konkreter Anhaltspunkte
- da sind sie schon wieder nicht oder nicht ausreichend nachkommt.
({14})
Ich frage: Was sind denn diese „konkreten Anhaltspunkte“? Was ist eine „angemessene Frist“? Und was ist
ein ausreichendes oder nicht ausreichendes Abhilfeschaffen?
Herr Kollege Paschke, lassen Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Ströbele zu?
Gleich, ich möchte nur diesen Gedanken noch zu
Ende bringen. - Kein Hinweisgeber kann das rechtssicher auslegen. Da gucken mich doch Jutta, die Verkäuferin, Miroslaw, der Lkw-Fahrer, oder auch Brigitte, die
Altenpflegerin, groß an und wissen immer noch nicht, ob
sie rechtlich auf der sicheren Seite sind.
Jetzt habe ich diesen Gedanken zu Ende gebracht und
würde die Zwischenfrage von Herrn Ströbele gerne zulassen.
Herr Ströbele, Sie haben das Wort.
Danke, Herr Kollege. Ich fasse mich auch ganz kurz.
Wir haben uns natürlich auch lange Gedanken über
diese Formulierungen gemacht. Den Begriff der „konkreten Anhaltspunkte“ haben wir dem geltenden Gesetz
entnommen, nämlich § 17 Absatz 2 des Arbeitsschutzgesetzes. Dort steht:
Sind Beschäftigte auf Grund konkreter Anhaltspunkte
- genau wie hier der Auffassung, dass die vom Arbeitgeber getroffenen Maßnahmen und bereitgestellten Mittel nicht
ausreichen, um die Sicherheit und den Gesundheitsschutz bei der Arbeit zu gewährleisten, … können
sich diese an die zuständige Behörde wenden.
Das ist geltendes Recht - offenbar ausreichend konkret.
Was haben Sie dagegen, wenn wir diese Formulierung in unseren Gesetzentwurf aufnehmen? - Was die
Beschäftigten hiernach nicht können, ist, sich an die Öffentlichkeit zu wenden. Aber das ist ja nur die zweite
Schlussfolgerung, die wir von einer anderen Voraussetzung abhängig gemacht haben, nämlich von der Güterabwägung.
({0})
Ich bin überzeugt davon, dass gerade jemand, den wir
schützen wollen, in der Lage sein muss, ohne seitenlange
Kommentare oder Urteile
({0})
- oder Gesetze - zu lesen, zu verstehen, welche Rechte
und Pflichten er hat, wie er sich wann verhalten muss,
damit er auf der sicheren Seite ist, wenn er uns Informationen gibt. Ich glaube, es ist wichtig, dass nicht unbestimmte Rechtsbegriffe verwendet werden, die wieder
der Auslegung bedürfen. Im Mittelpunkt muss stehen,
dass möglichst jeder Mensch leicht verstehen kann, worum es geht und welche Rechte und Pflichten er hat.
({1})
Es geht nämlich darum, Missstände aufzudecken nicht um mehr und nicht um weniger. Ich bin der Überzeugung: Der Schutz der Allgemeinheit muss deutlich
über dem Interesse an der Geheimhaltung einer unredlichen Geschäftspraxis stehen. Ich glaube, da sind wir uns
aber auch alle einig.
({2})
Nicht der ehrliche Hinweisgeber soll den Schaden haben, sondern derjenige, der Glykol in den Wein oder
Pferdefleisch in die Lasagne panscht. Die müssen zur
Verantwortung gezogen werden. Das ist der Maßstab unserer Politik.
({3})
Es gibt ja auch schon einige Beispiele, bei denen es
funktioniert. Ich will nur ganz kurz erwähnen: Wir haben
den Wehrbeauftragten, an den sich die Soldaten direkt
wenden können. Die Bürgerinnen und Bürger können
sich direkt an den Petitionsausschuss des Bundestages
und an die Datenschutzbeauftragten wenden. Das alles
sind Beispiele, bei denen es schon funktioniert.
Ich glaube, es ist sinnvoll, dass wir durch ein einfach
und deutlich formuliertes Gesetz diejenigen schützen,
die uns wichtige Hinweise geben können. Ich persönlich
bin überzeugt, dass das auch die Abgeordneten unseres
Koalitionspartners wollen und dass sie ebenfalls das
Wohl der Menschen bzw. der Allgemeinheit im Blick haben.
({4})
Wir werden, so wie wir es vereinbart haben, die geltenden Regelungen überprüfen. Ich bin überzeugt, dass wir
dabei zu einer guten gemeinsamen Regelung im Sinne
der Allgemeinheit, im Sinne der Hinweisgeber kommen
werden.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Wer soll die Frage klären, wenn nicht die Große Koalition?
Danke schön.
({0})
Jetzt hat der Kollege Alexander Hoffmann das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich freue mich, dass wir uns heute die Zeit nehmen, über ein wichtiges Thema zu diskutieren. Die Fragestellung lautet: Wie schützen wir Hinweisgeber in unserer Gesellschaft, in Behörden, in Unternehmen besser?
Gerade wir als Politiker haben den Auftrag, entgegenzuwirken. Es darf keinen Automatismus geben nach dem
Motto „Jeder Hinweisgeber ist ein Verräter, ein Denunziant oder ein Nestbeschmutzer“. Hinweisgeber eröffnen
uns die Chance auf Transparenz, die Chance auf kostbare Hinweise. Zahlreiche Fälle sind heute schon genannt worden. Da gibt es den Lkw-Fahrer, der den Gammelfleischskandal aufdeckt, oder die couragierte
Pflegefachkraft, die die Missstände in ihrer Einrichtung
mutig anprangert.
Gerade dieser zweite Fall - auch das haben wir schon
gehört - mündete in eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Diese ist seither
richtungsweisend beim Schutz von Hinweisgebern. Aber
genau dieser Fall führt mich auch zu der Frage: Was
müssen wir noch regeln?
({0})
Um diese zu beantworten, müssen wir zunächst einmal auf die Historie des Falls schauen. Bemerkenswert
war nämlich, dass in diesem Fall in der ersten Instanz
vom Arbeitsgericht die Kündigung tatsächlich aufgehoben worden ist. Erst in der zweiten Instanz wurde die
Kündigung für rechtmäßig erklärt. Vom Bundesarbeitsgericht wurde diese Entscheidung bestätigt. Dann landete der Fall vor dem Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte. Dort wurde der Pflegefachkraft eine
Entschädigung in Höhe von 15 000 Euro zugesprochen,
und der Fall wurde an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen. Dort kam es zu einem Vergleich. Die Dame
hat dann eine Entschädigung in Höhe von 90 000 Euro
bekommen und im Gegenzug eine ordentliche Kündigung akzeptiert.
Was ist an dieser Entscheidung sonst noch interessant? Die Brüsseler Richter haben bestätigt, dass die
Maßstäbe, die das Arbeitsgericht in erster Instanz, das
Landesarbeitsgericht und dann auch das Bundesarbeitsgericht in diesem Fall angewandt haben, grundsätzlich
die richtigen gewesen sind. Der Europäische Gerichtshof
für Menschenrechte hat nämlich exakt dieselben Maßstäbe angewandt. Er hat auf der einen Seite das Grundrecht der unternehmerischen Freiheit gegen das Interesse
der Öffentlichkeit an dieser überaus wichtigen Information und das Grundrecht der Pflegefachkraft auf Meinungsfreiheit auf der anderen Seite abgewogen. Es fand
also eine Abwägung statt. Nur aufgrund einer anderen
Gewichtung kam der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zu einem anderen Ergebnis. Also folgern
wir daraus doch - Herr von Notz, das ist die konkrete
Antwort auf Ihre Frage -, dass wir in dieser Detailfrage
gerade kein gesetzgeberisches Defizit in Deutschland
haben,
({1})
weil es sich um eine Abwägungsentscheidung handelt,
wie ich gerade aufgezeigt habe. Abwägungsentscheidungen werden Sie nie durch Gesetze ersetzen können.
({2})
Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Keul zu?
Ja, sehr gerne.
Vielen Dank, Herr Kollege Hoffmann, dass Sie diese
Frage zulassen. - Sie sagen: Abwägungskriterien finden
wir in keinen Gesetzen. - Das wäre mir neu. Es ist sicherlich richtig, dass die Richter im Einzelfall immer abwägen müssen. An vielen Stellen ist es jedoch gerade
unsere Aufgabe als Gesetzgeber, die Kriterien und die
Grundlagen in das Gesetz hineinzunehmen, nach denen
die Abwägung stattfinden muss. Selbst die Arbeitsrichter sagen: Wir haben etwas gebaut, wir haben ein Gerüst
geschaffen, mit dem wir bei den Hinweisgebern arbeiten, aber, lieber Gesetzgeber, wir brauchen mehr als den
§ 612 a BGB. Das kann nicht alles Richterrecht sein.
Wir erwarten vom Gesetzgeber, dass er uns die Grundlagen gibt, nach denen wir unsere Entscheidungen treffen
können und müssen.
({0})
Danke, Frau Kollegin Keul, für die Frage. - Ich habe
nicht gesagt, dass in Gesetzen niemals Abwägungskriterien formuliert werden.
({0})
- Nein, das war nicht meine Aussage.
Das ist genau der Punkt. Die Abwägungskriterien, die
in allen Instanzen angewandt worden sind, waren von
der ersten bis zur letzten Instanz genau dieselben. Das
heißt, wenn Sie heute mit einem Gesetz kommen, in das
Sie die Abwägungskriterien hineinschreiben, ändern Sie
in der Sache für diesen Einzelfall gar nichts.
({1})
Deshalb gibt es die Erkenntnis: Nicht überall da, wo
Sie Handlungsbedarf erkennen, besteht er auch tatsächlich. Der Schutz von Grundfreiheiten und der Schutz von
Grundrechten hat Ausstrahlungswirkung in die unterschiedlichsten Rechtsgebiete.
Wie endet nun der Fall? Er endet wie oft in Fällen von
rechtswidriger Kündigung: Es gibt eine Abfindung gegen eine Akzeptanz der ordentlichen Kündigung. In vielen Fällen kommt es dann noch zu einem wohlwollenden
Arbeitszeugnis. Das kann man natürlich beklagen, meine
Damen, meine Herren, aber hier stellt sich doch die
Frage: Könnten wir das mit einer gesetzlichen Regelung
verhindern?
({2})
Auch da habe ich meine Zweifel, meine Damen, meine
Herren. Es geht hier um die menschliche Seite. Wie geht
es dem Lkw-Fahrer, der in seine Firma zurückkommt?
Vielleicht ist es tatsächlich so, dass die Kolleginnen und
Kollegen, die auch solche Lkw fahren, es vielleicht
nachvollziehen können, dass er das gemacht hat. Aber
sie werden es ihm unter Umständen niemals verzeihen
können, weil ihre Arbeitsplätze daran hängen, weil das
Unternehmen ins Wanken gerät. Diese Fälle haben eine
höchstpersönliche, menschliche Seite, und wir werden
gesundes Betriebsklima niemals gesetzlich verordnen
können.
({3})
Was beinhaltet die Entscheidung noch? Zunächst einmal manifestieren die Richter, dass es den Vorrang der
innerbetrieblichen Klärung geben muss. Nur in besonderen Ausnahmefällen kann der Hinweisgeber gleich die
externe Klärung in die Wege leiten. Solche Ausnahmefälle sind Straftaten mit schweren Folgen für Einzelne
oder für die Allgemeinheit.
Mit dem Bekenntnis zur Erforderlichkeit der Abwägung der widerstreitenden Interessen macht das Gericht
zudem ein Weiteres klar: Es darf keinen absoluten
Schutz von Whistleblowing jeglicher Art geben.
Herr Hoffmann, lassen Sie noch einmal eine Zwischenfrage zu, diesmal von der Kollegin Mihalic?
Aber sehr gerne.
Vielen Dank, Herr Kollege Hoffmann, dass Sie die
Zwischenfrage zulassen. - Sie haben vorhin - das haben
die Vorredner auch getan - ausgeführt, dass die Arbeitsgerichte einschlägig entschieden haben bzw. die Schutzvorschriften, die hier genannt worden sind, die es angeblich geben soll, entsprechend ausgelegt haben. Wie
würden Sie das im Fall von Beamtinnen und Beamten
beurteilen? Hier müssen erstens andere Gerichte urteilen, und hier gelten zweitens besondere Pflichten gegenüber dem Dienstherrn. Wie würden Sie hier Hinweisgeberinnen und Hinweisgeber auf Basis der bestehenden
Rechtsgrundlagen schützen wollen?
({0})
Danke für die Frage. - Ich habe vorhin ausgeführt,
dass es beim Schutz von Hinweisgebern um den Schutz
von Grundrechten geht. Grundrechte und Grundfreiheiten sind einfachgesetzlichen Regelungen übergeordnet
und sind auch dem Beamtenrecht übergeordnet. Das hat
mich vorhin zu dem Satz veranlasst, dass Grundrechte
und Grundfreiheiten Ausstrahlungswirkung in die unterschiedlichsten Rechtsgebiete haben. Das heißt, sobald
dort ein Grundrecht geschützt wird und auch das Grund6028
recht auf Meinungsfreiheit gegenüber dem Interesse des
Beamtenrechts überwiegt, wird sich der Grundrechtsschutz durchsetzen. Deswegen hat man an der Stelle das
Problem nicht.
({0})
Wenn man die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zugrunde legt, dann muss
man feststellen, dass Ihre Vorlagen an mancher Stelle
Regelungen enthalten, die überflüssig sind. Auch enthalten sie Regelungen, die weit über das hinausgehen, was
der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte manifestiert hat. Sie erliegen dem Versuch, Regelungen zu einem absoluten Hinweisgeberschutz zu formulieren. Zunächst weichen Sie den Vorrang der internen Klärung
auf. Die in Ihren Vorlagen enthaltene Konstruktion der
Beweislastumkehr geht in beiden Fällen zu weit. Ich will
es Ihnen an zwei Fällen verdeutlichen.
Der erste Fall ist am 5. Februar 2012 vor dem Landesarbeitsgericht Köln entschieden worden. Eine Haushälterin war von einem Ehepaar angestellt worden, um die
zwei minderjährigen Kinder zu betreuen. Das Ehepaar
war mit der Leistung nicht zufrieden und hat der Haushälterin in der Probezeit gekündigt. Darüber war die
Haushälterin erbost und hat das Ehepaar beim Jugendamt angezeigt: Die Kinder seien verwahrlost. Das Ganze
mündete in einen Gerichtsprozess. Schließlich wurde
von einem Kinderarzt ein Gutachten erstellt, und darin
gab es keinerlei Hinweise auf Verwahrlosung.
Der zweite Fall: Bundesarbeitsgericht vom 3. Juli 2003.
Der Leiter eines Jugendzentrums hatte eine Auseinandersetzung mit einem Sozialpädagogen über eine Überstundenabrechnung. Der Sozialpädagoge entschließt sich
angesichts dieser Auseinandersetzung, seine Vorgesetzten aus dem Weg zu räumen, erstattet Anzeige wegen
Untreue bei der Staatsanwaltschaft und verknüpft sie mit
der Behauptung, dass der Leiter der Einrichtung dem
Träger immer wieder fingierte Abrechnungen vorgelegt
hat. Auch dieser Vorwurf kann im Laufe des Verfahrens
nicht bewiesen werden.
({1})
Meine Damen, meine Herren, auch diese Fälle gibt es.
Wenn man Ihre Vorschläge zur Beweislastumkehr zugrunde legen würde, dann müsste das Ehepaar beweisen,
dass die Haushälterin nicht in zulässiger Weise von ihren
Rechten nach § 612 a Absatz 1 BGB Gebrauch gemacht
hat. Das steht so in Ihrem Entwurf. Das Ehepaar muss
also beweisen, dass die Haushälterin die Unwahrheit
sagt und die Kinder nicht verwahrlost sind.
({2})
Im zweiten Fall muss der Leiter der Jugendeinrichtung
beweisen, dass kein Fall der Untreue vorliegt. Da sehen
Sie: Es ist doch nicht so einfach, zu einem ausgewogenen Vorschlag zu kommen und all das zu regeln.
Insofern sage ich: Der Prüfauftrag ist eine hochkomplexe Materie, für die wir Zeit brauchen. Diese Anträge
lehnen wir deswegen leider ab.
({3})
Danke.
({4})
Als nächster Redner spricht der Kollege Andrej
Hunko.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber
Hans-Christian Ströbele, Sie haben vorhin gesagt, wir
könnten in Europa ein vorbildliches Land in puncto
Whistleblowerschutz werden. Leider ist die Realität entgegengesetzt. Zu diesem Ergebnis kommen auch verschiedene internationale Studien über die Situation in
Deutschland beim Whistleblowerschutz. Wir sagen ganz
klar: Das muss sich ändern.
({0})
- Ja. Das war keine Kritik. - Ich verweise etwa auf eine
Studie, in der 14 verschiedene Kriterien für die G-20Länder aufgestellt und Punkte vergeben werden. In fast
allen Kategorien schneidet Deutschland sehr schlecht ab.
Die Studie kommt zu dem Schluss:
Germany has no specific legal protections for
whistleblowers
- es gibt kein spezielles Whistleblowerschutzgesetz other than a limited provision …
Es gibt also nur sehr begrenzte Regelungen. Das haben
wir vorhin schon gehört.
Weiter heißt es:
Nor is there a dedicated agency at the national level
…
({1})
- Ich übersetze es ja gerade für Sie. - Es gibt also keine
Einrichtung auf nationaler Ebene, an die sich Whistleblower wenden können. - Das ist das Zeugnis der internationalen Organisationen.
({2})
Eine ähnliche Studie gibt es von der EU-Kommission.
Insgesamt ist Deutschland rückständig, was das angeht,
und das muss sich ganz klar ändern.
({3})
Zur Wortwahl: Wir reden über „Whistleblower“. Wir
verwenden einen englischsprachigen Begriff. Wir versuchen, ihn mit „Hinweisgeber“ oder „Aufklärer“ zu übersetzen.
({4})
Aber dass der spezielle Begriff englischsprachig ist,
zeigt, dass es dort sozusagen eine weiter entwickelte
Diskussion als hier in Deutschland gibt. Leider haben
wir in Deutschland Begriffe wie „Nestbeschmutzer“
oder „Denunziant“, aber keinen historisch gewachsenen
entsprechenden Begriff für Whistleblower.
({5})
Das zeigt, dass es nicht nur eine gesetzgeberische
Aufgabe ist, vor der wir stehen, sondern auch eine kulturelle Aufgabe, dass wir einen Paradigmenwechsel in
Deutschland brauchen, was Whistleblowerschutz angeht. Viele Beispiele wurden schon genannt.
Natürlich wären ein entsprechendes Gesetz und ein
spezielles Whistleblowerschutzgesetz ein richtiges Signal für einen solchen Paradigmenwechsel.
({6})
Ich begrüße es sehr, dass die Grünen einen Gesetzentwurf vorgelegt haben. Darin stehen sehr viele richtige
Sachen.
({7})
Es gibt ein paar Punkte, über die wir auch reden können.
In bestimmten Punkten geht uns der Entwurf nicht weit
genug. Wir werden darüber in den Ausschüssen diskutieren. Wir sind ja heute erst in der ersten Lesung.
Aber lassen Sie mich, auch mit Blick auf das, was in
den letzten anderthalb Jahren in puncto des berühmtesten Whistleblowers Edward Snowden bekannt geworden
ist, noch einmal betonen: Wir brauchen auch ein Whistleblowerschutzgesetz, das Menschen in Geheimdiensten
und im Militär schützt. Elemente dafür sind im Gesetzentwurf enthalten. Das ist sehr wichtig.
Es wurde auf die Resolution der Parlamentarischen
Versammlung des Europarates von 2010 verwiesen, an
der ich ein bisschen mitgearbeitet habe. Es wurde auf die
Konvention verwiesen, die im April dieses Jahres vom
Europarat verabschiedet worden ist. Es gibt gegenwärtig
in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats
eine weitergehende Diskussion, die genau diesen Schutz
von Whistleblowern in militärischen und geheimdienstlichen Strukturen ins Auge fasst. Das ist der richtige
Weg.
Ich finde, wir sollten in Deutschland nicht hinterhertraben, sondern wir sollten hier tatsächlich Vorreiter
werden.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({8})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Waltraud Wolff
das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren!
„Wir werden im Herbst den Informantenschutz gesetzlich verankern.“
So zitierte der Tagesspiegel vom 5. Oktober 2007 den damaligen Bundesverbraucherschutzminister Horst Seehofer.
Auch damals waren wir in einer Großen Koalition,
({0})
und ich war die verbraucher- und agrarpolitische Sprecherin zu dieser Zeit. Ich muss heute hier konstatieren:
Wären diese Worte damals Wahrheit geworden, müssten
wir heute darüber nicht debattieren.
({1})
Worum geht es, meine Damen und Herren? Es geht
darum, solche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu
schützen, die eklatante Missstände in ihren Unternehmen aufdecken, die sehen, wie in ihren Unternehmen gegen Gesetze verstoßen wird. Es geht um Menschen, die
diese Missstände in ihren Unternehmen schon lange angeprangert haben und immer wieder gegen die Wand gelaufen sind. Diese Leute verdienen Schutz und Respekt.
({2})
Respekt hat Miroslaw Ricard Strecker 2007 bekommen. Herr Strecker fand den Mut, die Polizei zu informieren, um zu verhindern, dass 11,5 Tonnen Gammelfleisch im Handel landen. Horst Seehofer bescheinigte
ihm damals - so zitiert der Tagesspiegel -, dass er „ein
außergewöhnliches Maß an Gemeinsinn“ an den Tag gelegt habe und dass er ein „nachahmenswertes Beispiel“
sei.
({3})
Der damalige Bundesminister zeichnete den Lkw-Fahrer
sogar mit der „Goldenen Plakette“ des Verbraucherschutzministeriums aus - verdient, wie ich meine.
({4})
Waltraud Wolff ({5})
Miroslaw Ricard Strecker ist ein ganz gutes Beispiel.
Er hat Gemeinsinn und sehr viel Mut bewiesen. Schutz
allerdings, meine Damen und Herren, hat Herr Strecker
nicht bekommen.
({6})
Letztendlich bekam er nicht nur die „Goldene Plakette“,
sondern er bekam gleichzeitig auch seine Entlassungsurkunde.
({7})
Das war damals der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Wir als Verbraucherschützer wollten
den Informantenschutz endlich gesetzlich verankern.
Trotz der Zusage des damaligen Ministers haben wir das
nicht geschafft. Warum? Leider gab es auch zu der Zeit
bis in die höchsten Kreise viele, die einen solchen Informantenschutz als Denunziantenschutz verunglimpft haben.
({8})
Meine Damen und Herren, die Forderung, dass der
Informantenschutz nicht für unberechtigte Hinweise gelten darf - meine Kollegen von der CDU/CSU haben darauf hingewiesen -, ist richtig; keine Frage. Dennoch:
Herr Strecker hat verhindert, dass zum Verzehr ungeeignetes Fleisch auf unseren Tellern gelandet ist.
({9})
Er hat auch verhindert, dass Unternehmen durch Betrug
Gewinne erzielen. Ein solches Handeln als Denunziantentum zu bezeichnen, würdigt verantwortungsvolles
Handeln herab. Das geht heute, 2014, gar nicht mehr.
({10})
Die Zeit ist seitdem nicht stehen geblieben. Wir haben
im Bundestag immer wieder über den Informantenschutz
debattiert. In der letzten Legislaturperiode haben wir von
der SPD einen Antrag dazu formuliert. Leider waren wir
in der Opposition; darum ist er in der Rundablage gelandet. Aber auch das Europäische Parlament hat im letzten
Oktober eine Lanze für den Informantenschutz gebrochen. In seiner Entschließung zum organisierten Verbrechen, zu Korruption und zu Geldwäsche wurde explizit
ein besserer Informantenschutz gefordert.
({11})
Die EU-Mitgliedstaaten sind aufgefordert worden, zu
handeln. Dieser Entschließung haben übrigens - das
möchte ich noch einmal deutlich sagen - 33 Abgeordnete von CDU und CSU im Europäischen Parlament zugestimmt.
({12})
Was tun wir nun heute hier? Unser Koalitionsvertrag
sieht vor, zu prüfen, ob die internationalen Vorgaben hinreichend umgesetzt sind.
({13})
Ich bin seit 1998 im Deutschen Bundestag, also lange
genug, um zu wissen, dass Prüfaufträge eigentlich Stillstand bedeuten.
({14})
Ich sage hier - ich denke, auch im Namen meiner Fraktion - ganz klar und deutlich, dass wir eine gesetzliche
Regelung für notwendig erachten.
({15})
In den letzten Jahren hat das Bundesarbeitsgericht
Kriterien dafür erarbeitet, wie ein Informant geschützt
werden soll. Aber diese Kriterien sind sehr vage, sie sind
unbestimmt, und die Abwägung im Einzelfall führt eigentlich zu mehr Unsicherheit als zu Sicherheit. Hier
könnten gesetzliche Regelungen wirklich Klarheit schaffen. Wir würden einerseits Informantenschutz aufwerten,
andererseits auch das öffentliche Interesse in der Abwägung stärken und so eine Kultur der Rechtstreue, wie es
das Europäische Parlament bezeichnet hat, verankern.
({16})
Es ist zweifelsfrei wichtig, dem Schutz von Unternehmen vor unberechtigten Vorwürfen Rechnung zu tragen.
Es ist aber auch wichtig, die Rechte von Menschen zu
stärken, die eklatante Verstöße aufdecken. Wer sollte in
Zeiten von Abhör-, Lebensmittel- und Betrugsskandalen
Rechtssicherheit für Unternehmen und Informanten
schaffen können, wenn nicht diese Große Koalition?
({17})
Wir haben in dieser Legislaturperiode die abschlagsfreie Rente mit 63 umgesetzt. Wir haben den Mindestlohn eingeführt.
({18})
Ich habe große Hoffnung, dass wir es im Rahmen der
Diskussionen in der nächsten Sitzungswoche schaffen
werden, den Informantenschutz auf rechtlich gute Füße
zu stellen.
Herzlichen Dank.
Waltraud Wolff ({19})
({20})
Als nächster Redner hat der Kollege Uwe Lagosky
das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Aufgrund nationaler und internationaler Initiativen wird Whistleblowing, die Hinweisgebung, heutzutage als essenzieller Beitrag zu einer guten Unternehmensführung betrachtet. Es ist im Allgemeininteresse,
dass Hinweise gegeben werden, unter anderem, damit
korruptes Verhalten und Straftaten aufgedeckt werden
können.
({0})
Wenn Whistleblowing beschrieben wird, wird gern
„moralisches Gewissen“ genannt, ebenso „Zivilcourage“, „Heldentat“ und „Mut“. Im Antrag der Grünen
heißt es, dass Hinweisgeberinnen und Hinweisgeber neben Mobbing häufig auch arbeits- und dienstrechtlichen
Konsequenzen ausgesetzt sind. Hierdurch entstehe für
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ein Gewissenskonflikt:
Es ist zu entscheiden, ob sie über die Missstände sprechen oder schweigen.
Die Opposition ist der Meinung, dass es ein neues Gesetz geben soll. Von den Grünen und den Linken sind
entsprechende Anträge bzw. Gesetzentwürfe sowohl in
den Jahren 2011 und 2012 als auch jetzt, 2014, eingebracht worden.
({1})
Ihr gutes Recht.
({2})
CDU/CSU und SPD werden beim Hinweisgeberschutz
prüfen, ob die internationalen Vorgaben hinreichend umgesetzt sind. Das haben wir im Koalitionsvertrag miteinander vereinbart. Ich bin der Auffassung, dass Sie und
wir alle Möglichkeiten haben, eine entsprechende Regelung innerhalb der Koalition einzufordern.
({3})
Insofern sage ich: Dieser Prüfauftrag wird aus meiner
Sicht sicherlich erfolgen.
Jetzt zum Unternehmenskontext. Keine Frage, ein
Mitarbeiter kann sich nicht einverstanden erklären, wenn
unverantwortliche Risiken für das Gemeinwesen oder
Straftaten bei ihm im Betrieb eingegangen werden. Es
braucht - da sind wir uns einig - mutige Mitarbeiter zur
Aufklärung solcher Fälle. Im Gegenzug muss der Hinweisgeber aber auch vor Nachteilen im Betrieb geschützt
werden. Und genau dieser Aspekt wird von der deutschen Gesetzgebung aufgegriffen.
Der Arbeitgeber darf einen Arbeitnehmer bei einer
Vereinbarung oder einer Maßnahme nicht benachteiligen, weil der Arbeitnehmer in zulässiger Weise
seine Rechte ausübt.
({4})
Der Arbeitnehmer ist durch das eben genannte Maßregelungsverbot gemäß § 612 a BGB geschützt; das ist
hier heute schon mehrfach gesagt worden. Arbeitnehmer
in Deutschland dürfen ihren Arbeitgeber anzeigen, wenn
er das Recht bricht. Darüber hinaus existieren bereits
zahlreiche spezialgesetzliche Anzeigerechte für Beschäftigte - die Gesetze sind hier ebenfalls schon
genannt worden -, zum Beispiel nach dem Arbeitsschutzgesetz, dem Bundesdatenschutzgesetz oder dem
Betriebsverfassungsgesetz.
Zur derzeitigen Rechtsprechung ist zu sagen: Bei
Straftaten mit schweren Folgen für Einzelne oder für die
Allgemeinheit kann auf den ersten wichtigen Gang, den
Versuch einer innerbetrieblichen Klärung, verzichtet
werden. In der Rechtsprechung ist dieses ungeschriebene Anzeigerecht der Arbeitnehmer so anerkannt.
({5})
- Ungeschrieben, in der Tat.
({6})
Auch wenn es sich nicht um schwere Straftaten handelt, darf Hinweisgebern nicht gekündigt werden, wenn
sie im Vorfeld einer Anzeige oder Veröffentlichung einige Regeln einhalten. So können sich Hinweisgeber an
öffentliche Stellen wenden, wenn sie sich zuvor ernsthaft
um eine innerbetriebliche Klärung bemüht haben. Es soll
sich eben nicht sofort an die Polizei und die Medien gewendet werden. Auch darf eine Anzeige nicht leichtsinnig und mit dem Ziel erfolgen, einer Kollegin oder einem Kollegen erheblichen Schaden zuzufügen. Genau
diese Punkte, die auf die bewährte Rechtsprechung zurückzuführen sind, finde ich ausgesprochen sinnvoll.
In einem Betrieb haben Unternehmensleitung, Führungskräfte und Betriebsrat eine Verantwortung für die
Beschäftigten. Diese Verantwortung erfordert es, mit
Hinweisen im Betrieb sorgsam umzugehen. Es ist zunächst einmal zu klären, ob sie zutreffen, indem man Gespräche mit dem Hinweisgeber, aber auch mit den von
den Hinweisen betroffenen Kolleginnen und Kollegen
führt,
({7})
kurzum, indem man eine Beurteilung der Gesamtsituation vornimmt. Wenn die Gesamtsituation es erfordert,
sind auch arbeits- und strafrechtliche Maßnahmen einzuleiten.
Viele Unternehmen in Deutschland haben Ethikrichtlinien und entsprechende Betriebsvereinbarungen mit
ihren Betriebsräten abgeschlossen. Als ehemaliger
Konzernbetriebsratsvorsitzender eines Energieversorgungsunternehmens hatte ich einmal die Gelegenheit,
eine derartige Ethikrichtlinie und Betriebsvereinbarung
abzuschließen. Um sie umzusetzen, wird in der Regel
auf eine Anlaufstelle im Betrieb Wert gelegt und diese
installiert. Es findet eine Sensibilisierung, eine Belehrung der Beschäftigten statt, indem man unter anderem
Korruptionssachverhalte deutlich macht. Korruptionsrelevante Straftaten werden ebenfalls dort benannt, sodass
die Beschäftigten insgesamt auf diese Situation vorbereitet sind.
Ethikrichtlinien sollen dabei unterstützen, dass mögliche Straftaten oder korruptes Verhalten aufgedeckt werden und dass ein eventueller Rufschaden für den Betrieb
oder für einzelne Mitarbeiter bei nicht korrekten Hinweisen abgewendet werden kann. Sie stellen auch den Hinweisgeber unter Schutz. Wenn man nach den betriebliche Richtlinien und dem geltenden Recht verfährt, sind
Betrieb und Hinweisgeber in der Regel maximal geschützt.
Die betrieblichen Handlungsmöglichkeiten eröffnen
auf der einen Seite den Rechtsweg, verhindern auf der
anderen Seite aber auch, dass Beschäftigte und Arbeitgeber zu Unrecht von Hinweisgebern belastet werden. Unter welchen Rechtfertigungsdruck geraten Betriebe,
wenn keine innerbetriebliche Aufklärung vorgeschaltet
ist? Man muss sich das nur einmal vorstellen: Medien
kommen auf den Vorstand oder Betriebsrat zu, und es
herrscht völlige Unwissenheit bei den Entscheidern.
Keine vorhergehende Information, keine Möglichkeit
zur Umsetzung der innerbetrieblichen Regelungen, die
der Regeltreue dienen, keine Aufklärung des Sachverhaltes, keine Chance, sich mit Vorwürfen auseinanderzusetzen, keine eigene Entscheidung über mögliche Strafanzeigen, keine Kommunikationsstrategie, falls falsche
Hinweise an die Öffentlichkeit gelangt sind - kurz gesagt: Chaos.
Unzutreffende Anschuldigungen sind in der Öffentlichkeit nur schwer oder gar nicht mehr zu korrigieren.
Ungerechtfertigte Anzeigen können finanzielle und existenzielle Folgen für den gesamten Betrieb haben und natürlich auch für die Arbeitsplätze, die dahinter stehen.
Insofern ist die Darstellung, dass Hinweisgebern neben
Mobbing häufig auch arbeits- und dienstrechtliche Folgen bis hin zur Kündigung sowie strafrechtliche Konsequenzen drohen, nur eine Sichtweise der Dinge.
Unternehmen haben mit der Einführung von
Ethikrichtlinien und dazugehörigen Betriebsvereinbarungen erheblich zur Korruptionsprävention beigetragen
oder haben noch die Möglichkeit dazu. Durch die Beteiligung an der Entwicklung von Ethikrichtlinien in Verbindung mit Betriebsvereinbarungen haben auch die Betriebsräte die Möglichkeit, ihren Einfluss in den
Betrieben zu steigern. Es kommt nicht nur auf neue Gesetze an, sondern vielmehr auf eine Kultur im Betrieb,
die die Sozialpartner gemeinsam gestalten, eine Kultur,
die es den Beschäftigten von vornherein leicht macht, intern Hinweise zu geben und so ihren Beitrag zu leisten,
grobe Missstände und Gefahren abzustellen.
Meine Meinung ist: Deutschland hat eine Gesetzgebung, die den Betrieben sowohl Möglichkeiten zur Aufklärung als auch einen ausgewogenen Hinweisgeberschutz bietet. Die im Koalitionsvertrag vorgesehene
Prüfung werden wir vornehmen. Ich bin auf die Ergebnisse gespannt. Als Union lehnen wir den Inhalt des Antrags und des Gesetzentwurfs an dieser Stelle ab.
Herzlichen Dank.
({8})
Als letzter Redner in der Debatte hat jetzt der Kollege
Gerold Reichenbach das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren auf der Tribüne
und am Fernseher! Wir reden hier nicht über den Schutz
von Querulanten oder über den Schutz von denjenigen,
die aus persönlichen Motiven heraus ihrem Arbeitgeber
schaden, sondern wir reden über ganz andere Fälle.
Es ist 20 Jahre her. Der eine oder andere wird sich erinnern an Bilder von zuckenden Kühen aus England und
die Berichte von Menschen, die sich an dieser tödlichen
grausamen Krankheit durch in Umlauf gebrachtes Rindfleisch von erkrankten Tieren angesteckt haben. Gleichzeitig kam hier in Deutschland von der Fleischindustrie
und auch von vielen offiziellen Stellen die Beteuerung:
Das ist ein englisches Problem. Das gibt es bei uns in
Deutschland nicht.
Im Jahr 1994 schilderte die Hygieneamtstierärztin
Margrit Herbst in einem Interview, das im öffentlichrechtlichen Fernsehen ausgestrahlt wurde, wie sie in einem Schlachthof bei der Tierbeschau BSE-Anzeichen an
mehreren Tieren festgestellt hat. Diese Tiere wurden
dann allerdings auf Entscheidung höherer Stellen trotzdem für die Schlachtung und die Inumlaufbringung freigegeben. Dann erst kam auch in Deutschland der BSESkandal ins Rollen.
Jetzt frage ich Sie: Welchen Schutz hat denn diese
Frau genossen, die verhindert hat, dass auch in Deutschland Produzenten und Fleischbetriebe aus Profitgier weiter Fleisch in den Umlauf bringen, das die Gefahr in sich
birgt, dass auch deutsche Bürger sich in Massen an dieser grausamen und tödlich endenden Krankheit infizieren? Sie hatte sich ja zuvor an ihren Vorgesetzten gewendet. Das Ergebnis war: Margrit Herbst wurde fristlos
gekündigt.
Der hier schon ein paarmal angesprochene Fall der
Pflegerin in einem Berliner Klinikum, die ihren Rechtsschutz bis zum EuGH durchklagen musste, macht deutGerold Reichenbach
lich: Offensichtlich sind die Schutzvorschriften, die wir
in den unterschiedlichen Gesetzen durchaus haben, nicht
ausreichend, um Beschäftigte, die Mut zeigen, dann
auch zu schützen. Wer hat denn die Unterstützung und
die Kraft, seine Rechte als Arbeitnehmer bis zum EuGH
durchzuklagen?
Ich nenne Ihnen ein anderes Beispiel. In meinem
Wahlkreis - zwei Ortschaften nebendran - wohnt Rudolf
Schmenger. Das ist einer der hessischen Steuerfahnder,
die sich ebenfalls an ihre Vorgesetzten gewendet haben
und die weggemobbt wurden. Erst nachdem sie aus dem
Dienst entfernt worden sind, konnten über Gerichte im
Nachhinein die Unrechtmäßigkeit des Handelns ihrer
Arbeitgeber und ein Schadenersatzanspruch festgestellt
werden.
({0})
Jetzt komme ich zu den Grünen.
({1})
Wir haben in der vergangenen Legislaturperiode genauso wie Sie einen Gesetzentwurf vorgelegt. Wir werden auch weiterhin dafür eintreten, dass wir Mehrheiten
haben.
({2})
- Ja, lieber Konstantin von Notz, wir regieren hier gemeinsam mit der CDU/CSU. Aber solange Sie sich
- den Fall Schmenger vor Augen - nicht stolz hier hinstellen und sagen können, dass Sie gemeinsam mit der
CDU in Hessen im hessischen Beamtengesetz einen
Hinweisgeberschutz geschaffen haben,
({3})
gilt für Sie das Gleiche wie für den Fußballfan auf der
Tribüne, der lautstark etwas fordert, es aber auf dem
Platz selbst nicht hinbekommt.
({4})
Letzter Satz. Wir werden über das Gesetz, übrigens
auch über die Details, diskutieren. Kollege Ströbele, das,
was Sie da so schön zitiert haben, das sind die Formulierungen, die wir gemeinsam in der Opposition
({5})
bei dem zum Glück verfehlten Versuch der schwarz-gelben Koalition im Zusammenhang mit dem Überwachungsskandal bei Bahn und Post und bei anderen für
einen Hinweisgeberschutz im Beschäftigtendatenschutzgesetz gefunden haben.
Das sind die gleichen Formulierungen, die wir damals
als völlig unzureichend und nicht bestimmt genug kritisiert haben. Jetzt kommen Sie selbst mit diesen Formulierungen. Das heißt, wenn Sie selbst Ihre Aussagen von
damals ernst nehmen würden, dann würden Sie hier zumindest einen gewissen Diskussions- und Regelungsbedarf entdecken und sich nicht einfach nur so hinstellen
und sagen: Wir haben den Stein der Weisen, und die anderen sind nur nicht in der Lage, das zu erkennen.
({6})
Es gibt dazu die Beschlüsse auf europäischer Ebene;
das ist gesagt worden. Auch das Europäische Parlament
hat dazu mehrmals Beschlüsse gefasst. Wir als Sozialdemokraten werden sowohl in der Prüfung, die wir in der
Koalition vereinbart haben, als auch darüber hinaus dafür kämpfen, dass wir hier in diesem Parlament die politischen Mehrheiten dafür bekommen, Menschen, die so
mutig wie Frau Herbst waren, das Schicksal, anschließend arbeitslos auf der Straße zu stehen, in Zukunft zu
ersparen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte um etwas
Zurückhaltung auch bei Zwischenfragen, weil wir sonst
völlig aus dem Zeitrahmen laufen.
({0})
- Ich finde, dass diese Zwischenfragen für eine Debatte
wichtig sind; deswegen habe ich sie auch zugelassen.
Aber ich bitte Sie trotzdem, die Zeit ein bisschen im
Auge zu behalten. Auch die Kolleginnen und Kollegen,
die nach Ihnen zu den anderen Debattenpunkten reden
werden, sollten nicht vor einem leeren Haus sprechen.
Dazu sind die Debatten zu wichtig.
Wir kommen jetzt zu der Überweisung. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 18/3039 und 18/3043 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist jedoch strittig. Deshalb muss ich darüber abstimmen lassen. Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD
wünschen Federführung beim Ausschuss für Arbeit und
Soziales, und die Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/
Die Grünen wünschen Federführung beim Ausschuss für
Recht und Verbraucherschutz.
Ich lasse zunächst über den Überweisungsvorschlag
der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen,
also Federführung beim Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz, abstimmen. Wer stimmt diesem Überweisungsvorschlag zu? - Das sind Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke. Wer stimmt dagegen? - Das ist die
Koalition. Enthaltungen? - Niemand. Damit ist dieser
Überweisungsvorschlag abgelehnt worden.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und SPD abstimmen, also Federführung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales. Wer
stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Die Koali6034
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
tion. Wer stimmt dagegen? - Bündnis 90/Die Grünen
und Die Linke. Wer enthält sich? - Niemand. Damit ist
der Überweisungsvorschlag angenommen worden: Die
Federführung hat der Ausschuss für Arbeit und Soziales.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 32 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Heinz Riesenhuber, Dr. Joachim Pfeiffer,
Dr. Kristina Schröder ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Wolfgang Tiefensee,
Hubertus Heil ({2}), Niels Annen, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Strategische Ziele für die Raumfahrt in dieser
Legislaturperiode absichern
Drucksache 18/3040
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Dazu höre ich
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
Staatssekretärin Brigitte Zypries das Wort.
({4})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Ich möchte mich bei den Mitgliedern des Hohen Hauses dafür bedanken, dass sie es mit
dem Einbringen des Antrags der Koalitionsfraktionen ermöglicht haben, hier im Bundestag eine Debatte zum
Thema Raumfahrt zu führen. Überall in Deutschland ist
die Raumfahrt in diesen Tagen präsent. Es ist schön, dass
wir das im Bundestag nachvollziehen.
Der Astronaut Alexander Gerst ist der wesentliche
Anlass dafür, dass im Moment so viel über Raumfahrt in
Deutschland geredet wird. Alexander Gerst ist nicht nur
ein vorzüglicher Wissenschaftler, der viele Experimente
in der ISS durchführt, sondern er ist auch ein echter
Sympathieträger für die Luft- und Raumfahrt. Mit seinen
zahlreichen Liveschaltungen, Postings bei Twitter und
Facebook lässt er die Welt an allem teilhaben. Insbesondere viele junge Leute reagieren positiv auf ihn.
Das nächste Highlight steht nächste Woche bevor:
Am 12. November soll der Lander auf einem Kometen
ausgesetzt werden.
({0})
- Wunderbar, vielen Dank, Herr Kollege. Ich hätte mich
nicht getraut, diesen Namen auszusprechen. - Er soll
nach zehn Jahren Flug im All dorthin erforschen, aus
welchem Material das frühe Sonnensystem war und wie
der Ursprung der Welt ist, wie das Weltall entstehen
konnte.
Das sind die Themen, die die Öffentlichkeit wahrnimmt.
Aber natürlich schreitet auch der Aufbau des GalileoNavigationssystems voran. Wir alle nutzen täglich das,
was in Form von Datenmengen und Satellitenverbindungen aus dem Weltall kommt, ohne großartig darüber
nachzudenken. Fakt ist aber: Ohne den Weltraum, ohne
die Satelliten, die wir in den Weltraum transportiert haben, und ohne die Raketen, die wir dafür brauchen, wäre
das Leben auf der Erde, wie wir es heute kennen, gar
nicht mehr vorstellbar.
Dabei geht es mir jetzt gerade gar nicht um die
Grundlagenforschung, die in diesem Bereich erfolgt ist,
und um die Materialforschung, die wir der Raumfahrt
verdanken. Das kommt alles dazu. Ich meine ganz real
die täglichen Anwendungen, die wir nutzen: Die Satelliten helfen uns bei der Klimaforschung, der Wettervorhersage und beim Katastrophenschutz, zum Beispiel
durch die Erstellung aktueller Lagebilder.
Die praktische Bedeutung für unseren Alltag spiegelt
sich auch in den Aufwendungen der Bundesregierung
für die zivile Raumfahrt wider. Diese Aufwendungen
sind in den letzten Jahren stark gestiegen. Wir haben in
diesem Jahr 1,3 Milliarden Euro in den Bundeshaushalt
eingestellt. Auch dafür vielen Dank an die Abgeordneten, die das ermöglicht haben.
Einen Teil dieser Mittel verwenden wir für unser nationales Programm im Weltraum. Denn dort betreiben
wir mit TerraSAR-X und TanDEM-X eigene Projekte,
bei denen es um die Ermittlung von Höhenmodellen der
Erdoberfläche geht. Wenn das Programm so gelingt, wie
es geplant ist, wird es zu erheblichen neuen Anwendungen in der Navigation und sonstigen Technologien führen.
Im Bereich der Satellitenkommunikation werden wir
mit der Mission „Heinrich Hertz“, die wir gemeinsam
mit dem Verteidigungsministerium auf den Weg gebracht haben, neue Wege beschreiten.
Die optische Satellitenkommunikation ist ein anderer
Bereich, in dem Deutschland weltweit die Nase vorn hat.
Mit dem Laser Communication Terminal können 20-mal
höhere Datenraten erreicht werden. Da entsteht Spitzentechnologie „Made in Germany“. Es ist gut und richtig,
dass die ESA und das ESOC in Darmstadt jetzt mit
INNOspace eine neue Initiative gestartet haben und damit die Technologien aus der Raumfahrt mit dem zusammenbringen, was wir in anderen Bereichen auf der Erde
machen. Denn wenn wir von Industrie 4.0 und neuen
Technologien reden, dann ist klar, dass damit eine massenhafte Datenverarbeitung verbunden ist. Und wer
kann das besser als die Raumfahrer?
Ehe meine Redezeit aus dem Ruder läuft, möchte ich
noch ein paar Sätze zur ESA-Ministerkonferenz sagen.
Insbesondere die interessierte Wirtschaft kennt zurzeit
kein anderes Thema mehr als das Datum 2. Dezember.
Wir werden dann noch einmal über die institutionelle
Trennung von EU und ESA beraten. Dazu hat die Bundesregierung - das habe ich auch dem Antrag entnommen - dieselbe Position wie der Bundestag: Wir wollen,
dass die ESA in ihrer Autonomie bestehen bleibt und
dass es nur um die punktuelle Zusammenarbeit mit der
EU geht.
({1})
Es hat auch sehr praktische bzw. finanzielle Gründe,
weshalb wir das wollen. Wir haben mit der ESA eine
wirklich schlagkräftige Organisation, bei der wir gerne
einen Deutschen an der Spitzen sehen würden.
({2})
Das zweite Thema ist die Finanzierung der ISS.
Deutschland steht zu seinen Verpflichtungen. Das ist
völlig klar. Aber ich sage auch ganz klar: Wir möchten,
dass andere ebenfalls dazu stehen und dementsprechend
ihren vereinbarten Anteil übernehmen. Das muss durchgesetzt werden.
Die Frage, welche Rakete wir jetzt bauen, bringt mich
zunächst einmal zu der Aussage, dass wir mit der Ariane 5
eine Rakete haben, die ausgesprochen zuverlässig ist.
({3})
Wir haben über 50 erfolgreiche Starts in Folge gehabt ohne einen einzigen Zwischenfall. Und diese Rakete ist
sehr gut am Markt positioniert. Sie müssen wissen, dass
ungefähr 60 Prozent des Marktes für kommerzielle Satellitenstarts auf die Ariane 5 entfallen.
({4})
Die Notwendigkeit, diese Rakete weiterzuentwickeln,
lag also nur darin, dass sie im Start zu teuer ist und dass
man davon ausgeht, dass die Amerikaner mit SpaceX
günstigere Modelle haben. Deswegen wurde vor zwei
Jahren die Entwicklung einer Ariane 5 ME von der
Ministerkonferenz beschlossen und angedacht.
Nun gibt es aber einen neuen Vorschlag einer Ariane
6. Auch wenn jetzt viele zur Eile drängen, kann ich nur
sagen: Man sollte sich das gründlich überlegen. Wir
Deutsche haben mit Großprojekten hinreichend
schlechte Erfahrungen in den letzten Jahren gemacht.
Wenn ich mir die Geschichte der Raketenentwicklung
vor Augen führe, dann stelle ich fest, dass die Entwicklung einer jeden Rakete länger gedauert und mehr gekostet hat als ursprünglich veranschlagt. Ich frage mich
- gewissermaßen noch als Neuling nach knapp einem
Jahr in diesem Amt -: Warum bitte soll es eigentlich
diesmal anders sein als sonst? - Deswegen bin ich sehr
zurückhaltend, um es klar zu sagen. Ich hoffe nichtsdestotrotz, dass wir gemeinsam insbesondere mit unseren
französischen Kolleginnen und Kollegen da noch einen
Kompromiss finden werden.
({5})
Als nächster Redner spricht der Kollege Thomas
Lutze.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Raumfahrt - ohne Zweifel - fasziniert.
Kaum ein anderes Forschungsfeld steht so für Visionen
und Fortschritt wie die Weltraumforschung. Raumfahrt
steht für neue, sagenhafte Erkenntnisse. Raumfahrtforschung steht für ganz neue Perspektiven. Gestatten Sie
mir deshalb, dass ich mich anhand von drei Punkten zu
Ihrem Antrag kritisch äußern muss und ihn kritisch hinterfragen möchte.
Erster Punkt. Wissenschaft sollte in der heutigen Zeit
nicht mehr von Staatsangehörigkeit, Patriotismus oder
propagandistischen Interessen beeinflusst sein. Spätestens 20 Jahre nach Ende des Kalten Krieges sollten wir
zumindest dieses Kapitel schließen.
({0})
Die internationale Zusammenarbeit kommt aber im Antrag der Koalition zu kurz. Ich spreche hier nicht von unserer Zusammenarbeit im Rahmen der ESA, sondern
von der Zusammenarbeit mit anderen Weltraumnationen. Das wären neben Europa zum Beispiel die USA,
Russland, China, mittlerweile auch Indien und andere
Staaten. Im Weltall gibt es keine Grenzen. Ich glaube,
dass es auch in der Weltraumforschung keine Grenzen
geben darf.
({1})
Die Koalition will eine Raumfahrt, die stärker auf
Nutzen, Bedarf, Nachhaltigkeit ausgelegt ist. Verstärken
Sie bitte die internationale Kooperation, wenn Sie ernsthaft nachhaltig arbeiten wollen!
({2})
Zweiter Punkt. Zum fortschrittlichen Umgang mit
Wissenschaft zählt auch, dass moralische Standards
nicht außer Acht gelassen werden. Als Linksfraktion
wollen wir nicht, dass staatliche Gelder dazu aufgebracht werden, zum Beispiel Rüstungskonzerne bei der
Entwicklung von Technologien im Raumfahrtbereich zu
unterstützen. Leider ist es so, dass ursprünglich friedliche Entwicklungen auch von der Rüstungsbranche genutzt werden. Aber die staatliche Förderung muss ausnahmslos im Interesse des Friedens und zum Wohl der
Menschen erfolgen.
({3})
Dritter Punkt. Ein großes Problem sehe ich bei folgenden Äußerungen im Antrag der Großen Koalition
- ich darf zitieren -:
Die hohen Kosten für die Raumfahrt sind nur durch
einen hohen wissenschaftlichen, gesellschaftlichen
oder kommerziellen Nutzen zu rechtfertigen. Das
erfordert
- und jetzt kommt es eine klare Ausrichtung der Raumfahrt auf Nutzen
und Bedarf …
Herr Riesenhuber wird nach mir reden und kann das
vielleicht bestätigen: So funktioniert Wissenschaft nicht.
Forschungsprojekte an dem aktuellen, kurzfristigen Innovationsbedarf auszurichten und noch dazu von den
Kosten abhängig zu machen, führt zu einer Kapitalisierung von Forschung, Wissenschaft und Bildung. Wenn
nur noch Projekte gefördert werden, deren Nutzen von
vornherein abzusehen ist, werden mögliche, eventuell
sogar revolutionäre Entdeckungen unmöglich.
({4})
Der Staat darf Wissenschaft nicht einfach als Mittel
zur Profitmaximierung betrachten. Er muss sie als treibende Kraft des kulturellen Fortschritts verstehen. Wenn
wir uns nicht trauen, Rückschläge in Kauf zu nehmen,
wird auch jeder wissenschaftliche Fortschritt ausbleiben.
Forschergeist braucht Freiheit und keine Grenzen.
({5})
Revolutionäre Entdeckungen, die die Grundsteine für
nahezu die gesamte heutige Forschung gelegt haben, wären in der Vergangenheit so nicht gemacht worden. Die
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben sich
nicht von einem Kosten-Nutzen-Verhältnis einengen lassen. Ihr Motto war immer, Licht ins Dunkel des Universums zu bringen.
Selbstverständlich lassen sich in der Realität nicht
alle Träume verwirklichen. Trotzdem: Wir brauchen den
guten alten Entdeckergeist. Den dürfen wir nicht durch
zwanghaften Effizienzeifer kaputtmachen lassen.
Aus meiner Sicht muss die Zukunft der Raumfahrt
und der Weltraumforschung friedlich, international, kooperativ und dem menschlichen Fortschritt verpflichtet
sein.
({6})
Wenn die Wirtschaft daraus einen Nutzen ziehen kann,
dann ist das gut so. Das darf aber nicht alleine unser
Handeln bestimmen, so wie es im Antrag der Koalition
zum Ausdruck kommt.
Vielen Dank.
({7})
Als nächster Redner hat der Kollege Professor
Dr. Heinz Riesenhuber das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kollegen! Lieber Herr
Lutze, es freut mich erstens, dass Sie die Leidenschaft
von Frau Zypries für die Weltraumfahrt teilen. Es freut
mich zweitens Ihre Begeisterung für den Geist der Wissenschaft. Das ist, finde ich, eine vorzügliche Einstellung.
Über die Wissenschaft, über das Wissenschaftsprogramm,
über die Technologiestrategien, über die Exploration und
über andere Themen wird die ESA 2016 diskutieren.
Heute haben wir hier drei zentrale technologische und
strategische Themen anzusprechen. Ich freue mich sehr,
Frau Staatssekretärin, über die harmonische Übereinstimmung der Bundesregierung mit der Koalition in den
grundsätzlichen Zielen und in der Begeisterung für die
Sache.
Wir haben drei gewichtige Themen. Die eine Frage
ist: Wie wird Europa zukünftig den Zugang zum Weltraum organisieren? Mit der Ariane 5 haben wir ein exzellentes Gerät. Seit 2003 gab es 62 Starts ohne irgendein Problem. Sie ist verlässlich, sie hat sich über die
Jahre bewährt. Aber jetzt haben wir eine andere Welt
- Frau Zypries weist darauf hin -: Wir haben eine Welt,
in der sich die Konkurrenten neu aufstellen, in der die
Ariane wettbewerbsfähig sein muss. Die Fragen, ob sie
billiger werden kann, wesentlich billiger, ob sie flexibler
werden kann, ob die nächste Ariane Kern einer neuen
Familie von Trägern werden wird, sind interessante Fragen.
Deutschland und Frankreich, die zwei Industrienationen, die hier im Wesentlichen beteiligt sind, haben in der
Tat ein neues Konzept vorgelegt, das schon seine Faszination hat. Wir haben bis jetzt eine Weiterentwicklung
zur Ariane 5 ME im Sinn gehabt. Das ist eine kluge und
saubere Strategie. Aber die Frage, ob der Vorschlag für
die nächste Generation Ariane 6 einen Durchbruch in
eine neue Dimension bringen kann, wird interessant
sein. Ich bin nicht sicher, ob das Konzept schon reif ist.
So etwas muss dann auch durchdiskutiert sein. Ich bin
nicht sicher, ob es erreicht werden kann, dass die Industrie die angestrebte höhere Verantwortung tatsächlich
übernimmt. Ich bin nicht sicher, dass wir schon wissen,
ob die Strukturen so sind, dass wir dem privatwirtschaftlichen Ansatz in den Vereinigten Staaten widerstehen
können.
Wir haben es beim Airbus erlebt. Vor 30 Jahren war
das ein freundlicher Gedanke der Bundesregierung gewesen - und natürlich von Herrn Strauß. Er wurde
schrittweise entwickelt. Die Industrie hat sich gegen alle
Erwartungen beteiligt, aber den Durchbruch auf den
Weltmärkten erzielte der Airbus in dem Moment, in dem
die Industrie die Verantwortung übernommen hat und in
der Konkurrenz mit Leidenschaft, Augenmaß und dem
Willen zum Überleben für das jeweils beste technische
Konzept gekämpft hat. Solche Strukturen auch bei der
Ariane zu erreichen, wäre eine faszinierende Sache. Das
ist ein langer Prozess.
Unser Antrag, der ein weiser Antrag ist, schreibt der
Bundesregierung nicht vor, wie das gemacht werden
kann. Wir sprechen über strategische Ziele. Wir achten
die Hoheit der Exekutive bei den Verhandlungen. Wir
bewundern die Kompetenz des DLR, wir freuen uns
über das Zusammenspiel der Bundesregierung mit dem
DLR, aber auch mit ihren Partnern in der Welt. Aber die
Ariane wird eines der Themen sein, über die zu entscheiden ist.
Zweitens - Frau Zypries hat es angedeutet -: Was
passiert mit der Internationalen Raumstation? Das ist
schon eine einzigartige Einrichtung, beruhend auf der
größten technischen Zusammenarbeit, die es in der Welt
überhaupt gibt, einhergehend mit äußerster Komplexität,
mit großer Strahlkraft. Wir haben uns beim Betrieb der
ISS bis 2020 festgelegt. Die Finanzierung muss man
jetzt wieder vernünftig festklopfen. Die alte Kostenverteilung muss stehen.
Aber was passiert danach? Ich bin sehr gespannt darauf, welche Vorschläge dazu kommen. Es wird Zeit:
2020 - bis dahin haben wir uns festgelegt - ist nicht
mehr fern. Bis dahin gilt es, herauszufinden, was wir
wollen: Wie können wir die Kompetenz dafür, dass
Menschen im Weltraum arbeiten können, erhalten? Wie
können wir sie weiter sinnvoll nutzen? Wenn wir die ISS
weiter nutzen wollen, machen die Partner dabei mit?
Welches sind die wissenschaftlichen Anschlussprogramme? Darin liegt durchaus, lieber Herr Lutze, Faszination für das, was in der Wissenschaft, in der Materialforschung, bei Legierungen, in der Pharmazie, in der
Medizintechnik, an Bord der ISS passiert.
Das ist weitestgehend Grundlagenforschung. Grundlagenforschung - jetzt muss ich aufpassen, dass ich
keine Rede über andere Themen halte - ist wirklich auch
dann reizvoll, wenn sich die Industrie vorher überlegt,
was dabei herauskommen kann. Wir wollen jetzt einmal
schauen, dass die Finanzierung der ISS bis 2020 gesichert werden kann und dass es dann verlässlich weiterläuft.
Drittens. Die EU hat jetzt den Auftrag, eine europäische Raumfahrtpolitik zu entwickeln; das ist im 2009 in
Kraft getretenen Vertrag von Lissabon festgelegt. Das ist
eine große Aufgabe. Sie gelingt dann, wenn die EU den
großen strategischen Rahmen für die Raumfahrtpolitik
errichtet und wenn die ESA mit ihrer technischen Kompetenz die Geräte zur Umsetzung so entwickelt, dass die
Nationen, die beteiligt sind, jeweils ihre besten Fähigkeiten mit einbringen können, und wenn daraus dann eine
gemeinsame Strategie von großer Stärke entsteht.
Dass dies gelingt, ist nicht ganz einfach zu erreichen.
Aber wir haben jetzt, an dieser Stelle, die Chance, die
Weichen so zu stellen, dass die Fähigkeit Europas, Weltraumtechnik in die Gesamtstrategie seiner Industrie- und
Wirtschaftspolitik, seiner Klima- und Umweltpolitik einzubeziehen, kombiniert wird mit dem unabhängigen und
bewährten System der ESA und ihrer Partner.
Das sind die drei entscheidenden Punkte. Auch das,
was hier darüber hinaus ansteht, ist von Bedeutung. Wir
haben über die Raumfahrt im Deutschen Bundestag
nicht sehr oft diskutiert; die letzte Weltraumdebatte liegt
ungefähr ein Jahrzehnt zurück; wir denken also durchaus
in chinesischen Zeiträumen. Eine wichtige Frage ist hier
schon mit angemessener Behutsamkeit angesprochen
worden: Wie schön wäre es, wenn wir bald einen deutschen ESA-Generaldirektor bekämen? Deutschland hat
sich bereit erklärt, einen vorzüglichen Kandidaten vorzuschlagen. 30 Jahre ist es her, dass Reimar Lüst zum
Generaldirektor der ESA gewählt worden ist. Er war ein
prachtvoller Kandidat; er war ein exzellenter Generaldirektor. Das Gleiche traue ich auch Johann-Dietrich Wörner zu.
({0})
Ministerratskonferenzen haben ihre Tagesordnung.
Sie haben in aller Regel aber auch eine kluge zweite
Agenda; Frau Bulmahn, Sie wissen es aus Ihrer früheren
Regierungszeit. Die konspirativen Netzwerke, durch die
mit unauffälliger, liebevoller Kooperation vorbereitet
wird, was hernach an Entscheidungen bis hin zu den delikaten Personalentscheidungen entstehen kann, sind
dort lebendig. Nicht durch die Weisheit der Papiere, sondern durch den charmanten und liebenswürdigen Umgang mit Andersmeinenden entsteht dann plötzlich der
Durchbruch zur übergeordneten Wahrheit, nämlich zur
Akzeptanz unseres Kandidaten.
({1})
Schließlich: Zu Recht ist darauf hingewiesen worden,
was für eine wirklich gewinnende und beeindruckende
Arbeit Alexander Gerst im Weltraum geleistet hat. Wir
haben mit unseren Wissenschaftsastronauten immer
Glück gehabt. Ich spreche nicht von Sigmund Jähn. Das
war 1978 in der DDR.
({2})
- Andreas, du erinnerst dich noch aus deiner frühen Jugendzeit. - Alle deutschen ESA-Wissenschaftsastronauten von Ulf Merbold bis Alexander Gerst - ich zähle sie
gar nicht alle auf - waren ganz verschieden, aber sie waren prima: kompetent, nervenstark, mit einer erkennbar
strahlenden Freude an Technik. Sie waren begeistert,
ihre Arbeit zu tun. Besonders die Idee, dass wir es können, dass Deutschland in Technik glanzvoll ist, dass wir
hier verantwortlich mit der Wirklichkeit und unseren
Möglichkeiten umgehen, das haben sie rübergebracht auch über das hinaus, was im Weltraum technisch erreicht werden kann.
({3})
Es ist eine bedeutende Sache, immer wieder mit sichtbaren Beispielen zu zeigen, an welchen Stellen erfolgreich und mit Strahlwirkung gearbeitet werden kann, um
so für Technik zu begeistern. Wenn wir Carbon Nanotubes erklären, begeistert das keinen Menschen, auch
wenn der Durchbruch gigantisch ist; ein Mensch aber,
der im Weltraum erfolgreich arbeitet und wohlbehalten
zurückkehrt, das ist eine gute Sache.
Als wir vor vielen Jahren den Space-Shuttle „Enterprise“ der NASA aus dem Weltraum nach Köln geholt
haben, sagten die Leute erst: Was soll das? Da kommen
vielleicht 5 000 Menschen. - Es waren dann 300 000,
weil die Begeisterung für einen sichtbaren Erfolg in die
nächste Runde weiterträgt. Es kommt immer darauf an,
dass jeder ein bisschen mehr leistet, als er sich zutraut,
jeder: der Arbeiter in der Fabrik ebenso wie der Astronaut im Weltraum.
Aus diesem Geist Deutschlands Zukunft zu bauen,
das ist das Ziel, das wir gemeinsam mit dieser zuversichtlichen und hochkompetenten Regierung haben.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt hat als nächster Redner Dieter Janecek das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Lieber Dr. Riesenhuber,
ob wir die übergeordnete Wahrheit oder gar Weisheit in
diesem Antrag heute finden, das werden wir noch diskutieren. Ich will aber eines gestehen: Eine gewisse kindliche Freude hat mich schon ereilt, als ich erfahren habe,
dass diese Debatte stattfindet. Ich glaube allerdings
nicht, dass wir mit dieser Debatte heute die gesetzlichen
Grundlagen für die Einführung des Warp-Antriebs legen
werden, auch wenn sich manche das erträumen.
Mir fällt dazu eines noch ein: Als im letzten Jahr nach
der Bundestagswahl die Bundesregierung noch nicht gebildet war, hatten wir als Abgeordnete unverhofft ein
bisschen mehr Zeit, und diese Zeit habe ich genutzt, um
mir die 176 Folgen von Star Trek: Deep Space Nine noch
einmal anzuschauen.
({0})
Damit hängt zusammen, dass es bei mir in Sachen Technikbegeisterung jetzt durchaus einen gewissen Überschwang gibt.
Aber kommen wir zum Antrag. In dem Kontext war
für mich ein schönes Erlebnis, dass wir - Dank an Herrn
Willsch und andere - die Möglichkeit hatten, am Dienstag in der Parlamentarischen Gesellschaft mit unserem
Astronauten, Herrn Gerst, direkt zu sprechen. Ein paar
Fragen haben wir ihm gestellt. Ich habe ihm auch eine
Frage gestellt. Es hat mich sehr beeindruckt, wie er sie
beantwortet hat. Ich habe ihn gefragt, wie denn sein
Blick auf die Erde jetzt ist, wo er draußen ist und uns
sieht, wo er auf diesen begrenzten kleinen Planeten sieht.
Er hat so geantwortet: Auf der Erde denken wir oft, unser Lebensraum sei fast unbegrenzt; doch dem, der von
weit draußen die Erde betrachtet, wird schnell klar, wie
verletzlich der Blaue Planet ist. - Das ist natürlich für einen Grünen, aber, ich glaube, auch für Sie alle eine Aussage, die zum Nachdenken anregt und zu der Frage führt,
wofür wir die Raumfahrt eigentlich einsetzen wollen.
Da gibt es natürlich eine ganze Menge von Interessen.
Ein ganz wesentlicher Punkt ist durchaus die Klimaforschung, auch die Frage, wie wir geostationär mit satellitengestützten Systemen die Mobilität verbessern können. Das ist ein durchaus schwieriges Thema. Denken
Sie an die Fragen des Datenschutzes! Wir haben jetzt die
Diskussion um die Pkw-Maut in Deutschland. Wir wissen - das ist die ökologische Perspektive -, dass wir mit
satellitengestützt erfassten Daten Verkehrsflüsse ganz
anders steuern könnten, als wir das mit dem Pickerl aus
Österreich hinbekommen könnten. Auch diese Diskussion gilt es zu führen.
({1})
Ihr Antrag, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen
der Koalitionsfraktionen, enthält eine Reihe von Punkten, denen ich zustimmen kann. Sie wollen den konkreten Nutzen für den Menschen in den Mittelpunkt der
deutschen und europäischen Raumfahrtpolitik stellen.
Das ist auch unser Ansatz. Das unterschreibe ich gern.
Sie sagen: Die Raumfahrt spielt bei der Bewältigung
globaler Herausforderungen - wie der Messung und
Analyse klimatischer Prozesse des Planeten - eine wichtige, vielleicht in der Zukunft sogar entscheidende Rolle.
Auch dem würde ich zustimmen. Es gibt dafür aus der
Vergangenheit sowie mit Blick in die Zukunft eine ganze
Reihe von Beispielen. Beispielsweise soll der deutschfranzösische Satellit Merlin ab 2017 eine Weltkarte der
Methankonzentration erstellen, damit Methanquellen
und Methansenken - das ist ein zentrales Thema beim
Klimaschutz - identifiziert werden können. Das ist also
eine wichtige Mission, zweifelsohne.
Wir reden auch über die Satellitennavigation - Stichwort „SatNav“ -; dieses Thema hatte ich angesprochen.
Hier geht es um die Potenziale von Satelliten für einen
möglichen Wandel im Bereich der Mobilität. Denken Sie
daran, dass wir dann in Zukunft in Ballungsräumen oder
ländlichen Regionen Fahrverhalten durch Geodaten beeinflussen bzw. steuern könnten - ein schwieriges
Thema, zweifelsohne, aber eines, das mich als jemanden, der versucht, ökologische Lösungen zu finden,
durchaus anspricht. Dazu kann die Raumfahrt definitiv
einen Beitrag leisten.
Ein schwieriges Thema ist sicherlich die bemannte
Raumfahrt. Jetzt sind wir alle voller Begeisterung für
Alexander Gerst. Gleichzeitig wissen wir - das beschreiben Sie in Ihrem Antrag durchaus kritisch -, dass die
Frage, ob der Raumfahrt-Robotik die Zukunft gehört
und inwiefern menschlich bemannte Missionen noch
Sinn haben werden, eine zentrale Frage sein wird. Mein
Ansatz wäre, ein Stück weit zu hinterfragen, wofür wir
die bemannte Raumfahrt brauchen. Wenn Sie sagen würden: „Wir brauchen sie, um eine weitere Vision zu verwirklichen, um neue Welten zu entdecken, um die Grenzen unseres Planeten zu verlassen“, wenn Sie das also
auf ein anderes Niveau heben würden, dann wäre das ein
anderer Ansatz, als wenn es - das müssen wir bei aller
Freude selbstkritisch sehen - vornehmlich um Marketing
und PR von Raumfahrt geht. - Diesen Spannungsbogen
wollte ich darstellen.
Zum Schluss komme ich noch zu einer kurzen Einschätzung zur ISS. Ich glaube, dass die ISS ein notwendiges Projekt war und ist. Dass die Kosten aus dem Ruder gelaufen sind, ist nicht schön; da muss man in der
Zukunft besser hinschauen und aufpassen. Dass eine Beteiligung Deutschlands bis 2020 notwendig ist - bei Gesamtprojektkosten von 100 Milliarden Euro; davon
8 Milliarden Euro durch die ESA bereitgestellt -, sehen
wir auch so. Man muss aber sehr genau fragen, wie wir
unser Geld in der Zukunft sinnvoll investieren können.
Auch an der Stelle müssen wir aus Fehlern der Vergangenheit lernen.
Insofern danke ich Ihnen für diesen Antrag und hoffe
sehr auf eine gute Wiederkehr von Herrn Gerst am
10. November.
Danke schön.
({2})
Als nächster Redner hat der Kollege Wolfgang
Tiefensee das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Zypries
musste zu einem ganz dringenden Termin; aber ich
möchte ihr trotzdem ganz herzlich für ihr Lob danken. Lieber Heinz, die Arbeit, die in diesem Antrag steckt,
hat sich offensichtlich gelohnt. Wir haben deutlich gemacht, dass die Legislative die Exekutive in Deutschland und vor allem auch in Europa stärken will.
Ich erkenne bei diesem Thema eigentlich großes Einvernehmen. Herr Lutze, das war ein mühsames Suchen
in dem Antrag, um etwas zu finden, aufgrund dessen Sie
dagegenstimmen könnten. Hier besteht eigentlich großer
Konsens im Haus. Dennoch sehe ich drei große Gefahren bei diesem Thema. Deshalb haben wir diesen Antrag
geschrieben und vorgelegt.
Die erste ist: Trotz aller Euphorie, die besteht, was
Alexander Gerst angeht, was die Raumsonde Rosetta angeht, die auf dem Kometen landen wird, wird immer
wieder diskutiert: Brauchen wir die Raumfahrt eigentlich? Müssen wir so viel Geld dafür ausgeben? - Wenn
es darum geht, im Haushalt die entsprechenden Mittel
bereitzustellen, ist die Akzeptanz nicht durchweg gegeben. Deshalb muss immer wieder darauf hingewiesen
werden, dass Raumfahrt eine Schlüsseltechnologie ist
mit Ausstrahlung auf vielfältige Wissenschaftsbereiche,
auf Wirtschaftsbranchen, auf eine Grundlagenforschung,
die weit über Deutschland und Europa hinaus von Bedeutung ist. Und wir haben ein strategisches Ziel. Herr
Lutze, Sie haben angemahnt, dass wir die internationale
Zusammenarbeit brauchen. Das ist sicherlich richtig.
Aber wir müssen uns andererseits auch als Europäer
stark aufstellen. Der erste Punkt ist also: Wir müssen
mehr dafür tun, um bei diesem Thema, das eigentlich relativ weit weg ist, obwohl es uns im Alltag betrifft, eine
größere Akzeptanz, eine größere Begeisterung zu erzeugen.
Das Zweite ist: Wir brauchen eine Verstetigung der
Haushaltsmittel. In Deutschland ist uns das gelungen.
Wir sind jetzt, wenn ich mir den Aufwuchs anschaue
- 2005 etwa 900 Millionen Euro -, bei 1,4 Milliarden
Euro. Davon entfallen 634 Millionen Euro auf die ESA
und davon wiederum 115 Millionen Euro auf die Trägersysteme. Aber es reicht nicht, diese Haushaltsmittel in
Deutschland zu verstetigen, sondern wir brauchen auch
weiterhin die Unterstützung mindestens unserer großen
Partner Frankreich, Italien und Großbritannien. Bedenken Sie dabei: Den Wirtschaften dort geht es nicht so gut
wie unserer. Man hört erste Stimmen, dass die Programme unter Umständen finanziell gefährdet sind. Wir
brauchen also eine Verstetigung der Haushaltsmittel zur
Umsetzung unserer Raumfahrtstrategie, damit wir all
das, was wir uns vorgenommen haben, auch finanzieren
können.
Das Dritte - das treibt mich noch viel mehr um; es ist
bereits angeklungen - ist die Frage, wie wir in Europa
zusammenarbeiten wollen. Für mich ist ein Programm
wie Galileo nicht nur irgendein Programm zur Satellitennavigation, sondern die Blaupause, wie wir in Europa
zukünftig auch auf anderen Feldern zusammenarbeiten
wollen.
({0})
Wir haben nämlich in diesem großen Maßstab bisher nur
Airbus und Galileo. Dabei sind die drei Themen, die
schon angeklungen sind, noch einmal aufzurufen.
Das ist erstens die Frage: Wie wollen wir die ESA in
Zukunft aufstellen? Die Entscheidungen werden jetzt in
der Diskussion fallen, spätestens bis 2020. Wir sprechen
uns dafür aus, dass es auch weiterhin eine eigenständige,
mit vielfältigen Kompetenzen ausgestattete ESA gibt
und keine Verschmelzung, bei der EU und ESA sich gegenseitig behindern. Der entscheidende Punkt ist, dass
wir schneller, durchsetzungsstärker und wettbewerbsfähiger werden, nicht zuletzt gegenüber unseren Konkurrenten in den USA, in Russland und in China.
Zweitens werden wir uns bei konkreten Projekten wie
zum Beispiel Ariane - also Ariane 5 ME, Ariane 5 Plus
oder eben Ariane 62/64 - schnell entscheiden müssen gründlich prüfen, aber schnell entscheiden müssen -, damit wir den Anschluss nicht verpassen. Wir haben jetzt
die Haushaltsmittel in Höhe von 115 Millionen Euro,
und wir wissen: Falls die Entscheidung zugunsten der
Ariane 6 fällt, werden wir unter Umständen neu nachdenken müssen. Auch dafür braucht es Akzeptanz auf
europäischer Ebene.
Drittens brauchen wir beim Thema ISS eine intensive
Zusammenarbeit.
Wir müssen also mehr Akzeptanz und Begeisterung
erzeugen. Wir wollen dafür sorgen, dass die Haushaltsmittel in unserem Haushalt und in dem anderer europäischer Länder verstetigt und aufgestockt werden, wo das
möglich ist, auch in Ländern, wo die wirtschaftliche Situation schwierig ist. Und wir brauchen eine Zusammenarbeit, die uns schlagkräftiger und wettbewerbsfähiger
macht. Dann ist mir um die Vision und um das ganz
Konkrete nicht bange.
Vielen Dank.
({1})
Als nächster Redner hat der Kollege Andreas
Mattfeldt das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Immer, wenn ich gefragt werde, was
denn das wohl herausragendste Ereignis in meinem Geburtsjahr 1969 war - an die SPD: das war nicht, dass
Willy Brandt Kanzler wurde -, antworte ich: Das bedeutendste Ereignis war die Mondlandung, die den Amerikanern 1969 geglückt war, und der legendäre Satz von
Neil Armstrong beim Betreten des Mondes, als er sagte:
Das ist ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber ein
großer Sprung für die Menschheit. - Ich glaube, dem ist
nichts hinzuzufügen. Dass die Menschheit es geschafft
hat, auf dem Mond zu landen, war eben nicht nur für
Neil Armstrong ein besonderer Moment, das war nicht
nur für die USA ein besonderer Moment, sondern - ich
kenne es aus Erzählungen - das war auch bei uns in
Deutschland ein besonderes Highlight-Ereignis. Auch
der Wirtschaftsminister sagte am Dienstag, dass er sich
gut daran erinnern kann. Ich glaube, das dokumentiert
die Bedeutung noch einmal eindrucksvoll.
Die Raumfahrt hat sich seit 1969 weiterentwickelt.
Sie hat unseren technischen und auch medizinischen
Fortschritt erheblich geprägt. Gerade wenn wir Europäer
im Bereich des technischen Fortschritts weiter vorne mit
dabei sein wollen, ist es zwingend, dass wir uns einen eigenständigen Zugang zum All erhalten. Hier dürfen wir
uns eben nicht auf andere Nationen, Herr Lutze, verlassen. Was passiert, wenn wir keine geeignete europäische
Trägerrakete einsetzen können, haben wir erst kürzlich
erleben müssen, als aufgrund eines Konstruktionsfehlers
der Sojus-Trägerrakete ein für das Satellitennavigationssystem Galileo bestimmter Satellit nicht in die richtige
Umlaufbahn befördert werden konnte und daher nicht
mehr nutzbar ist. Deshalb ist für mich klar: Wir dürfen
uns im Bereich von Trägerraketen nicht abhängen lassen
und müssen weiterhin aktiv sein.
Wenn ich an andere Nationen denke, denke ich an Nationen, die zurzeit wirtschaftlich sehr erfolgreich agieren, wie zum Beispiel an China. Sie haben ganz klare
Strategien. Sie setzen auf eigene Entwicklungen, und sie
verlassen sich eben nicht auf andere. Nationen wie
China sehen und nutzen die Chancen, die sich aus neuen
Entwicklungen für sie technologisch, aber im weiteren
Verlauf auch wirtschaftlich ergeben. Gerade im Telekommunikations- oder im Verteidigungsbereich sehe ich
erhebliche Türen, die wir nicht zuschlagen dürfen. Nein,
im Gegenteil, Europa muss unter dem Dach der ESA in
der Raumfahrt weiterhin führend agieren.
Hierzu möchte der vorliegende Antrag der Koalitionsfraktionen, über den wir heute debattieren, beitragen. Mit einem klaren Bekenntnis der Mehrheit des
Deutschen Bundestages möchten wir die Verhandlungen
von Frau Staatssekretärin Zypries auf der ESA-Ministerratskonferenz stärken und untermauern. Europa soll wissen, dass das deutsche Parlament mit ganz großer Mehrheit zur weiteren Entwicklung der ESA-Idee steht,
meine sehr verehrten Damen und Herren.
Viele Menschen in Deutschland - Sie haben es eben
gehört - verfolgen in diesen Tagen die Aktivitäten unseres deutschen Astronauten Alexander Gerst, der auf der
ISS seinen Dienst tut und die Menschen in unserem
Land mit seiner Arbeit und vor allem - das darf ich sagen - mit seiner Berichterstattung begeistert. Der Nutzen
der Raumfahrt wird von Herrn Gerst, wie ich meine, sehr
eindrucksvoll dargestellt. Hierzu nutzt Alexander Gerst
alle heute üblichen medialen Kanäle. Erstmals können
wir die Mission eines deutschen Astronauten auch in den
sozialen Netzwerken hautnah und ganz persönlich begleiten. Ich jedenfalls freue mich jeden Morgen sehr auf
das Bild von Alexander Gerst aus der ISS. Die Menschen - das sieht man an den Kommentaren sehr eindrucksvoll - begleiten Alexander Gerst bei der Mission.
Sie sind, so mag man fast denken, bei der ESA-Mission
live dabei.
Was für mich aber neben aller wissenschaftlichen Arbeit von enormer Bedeutung ist, ist, dass Gerst es
schafft, junge Menschen für technische und physikalische Zusammenhänge zu begeistern. Ich gehe sogar
noch einen Schritt weiter: Gerst schafft es, dass viele
junge Menschen intensiv darüber nachdenken, ihre Studiengänge und ihre zukünftigen Berufe auch in technischen Bereichen zu suchen. Meine Damen und Herren,
das wollen wir doch. Wir geben über zahlreiche Haushaltstitel viel Geld aus, um für die technischen und wissenschaftlichen Berufe, die sogenannten MINT-Berufe,
zu werben - leider, wie ich häufig feststelle, mit verhaltenem Erfolg. Deshalb sollten wir darüber nachdenken,
ob es nicht vielleicht sinnvoller und sogar günstiger ist,
erneut eine bemannte Raumfahrtmission auf die ISS in
unsere Planungen aufzunehmen, gerade auch nach dem
großen Erfolg von Alexander Gerst.
Natürlich wissen wir, dass Raumfahrt Geld kostet.
Gerade deshalb ist es wichtig, dass wir bei aller Euphorie zur Raumfahrt die Wirtschaftlichkeit im Auge behalten. Ich persönlich bleibe dabei - das kommt auch in
dem Antrag zum Tragen -, dass ich die Weiterentwicklung der Ariane 5 - dann als ME - befürworte, bevor wir
eine komplett neue Ariane 6 entwickeln. Dies ist nicht
nur aus haushälterischer Sicht - dazu komme ich später
noch -, sondern ganz besonders aus technologischen
Gründen wichtig.
Wir setzen mit der jetzigen Ariane-Generation eine
Technologie ein, die erst seit 2008 in dieser Art fliegt.
Diese an Zuverlässigkeit unschlagbare Trägerrakete jetzt
schon auszutauschen, ist technologischer, vor allem aber
wirtschaftlicher Unsinn. Eine vernünftige Weiterentwicklung ist wesentlich sinnvoller als eine komplette
Neuentwicklung. Die derzeitige Weiterentwicklung ist
haushaltstechnisch noch finanzierbar, während eine
komplett neue Ariane-6-Generation uns vor große haushaltstechnische Probleme stellen wird, die ich mir als
Haushälter derzeit gar nicht vorstellen kann.
Das gilt übrigens auch für die Haushalte einiger ESAPartnerländer, wenn ich mir deren Haushaltslage anschaue.
Allein die groben Schätzungen gehen von Kosten für
die Ariane-6-Entwicklung in Höhe von 4,31 Milliarden
Euro aus. Erfahrungsgemäß ist bei solchen Schätzungen
mit erheblichen Kostensteigerungen zu rechnen. Die
Restentwicklungskosten mit Abschluss der Weiterentwicklung zur Ariane 5 ME betragen hingegen nur
1,2 Milliarden Euro. Der Erstflug ist bereits für 2018 geplant.
Meine Damen und Herren, diese Zahlen untermauern,
dass die Neuentwicklung einer Ariane 6 nicht nur aus
technologischer, sondern gerade auch aus haushaltspolitischer Sicht zum jetzigen Zeitpunkt der völlig falsche
Weg wäre, den sich nicht nur Deutschland nicht leisten
kann. Deshalb mein Appell an Frau Zypries, an die Ministerratskonferenz: Lassen Sie uns die bewährte Technologie weiterentwickeln und verlässlich zum Vorteil
von uns Europäern nutzen!
Herzlichen Dank.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit schließe ich
die Debatte.
Ich glaube, ich kann im Namen des ganzen Hauses sagen, dass wir Alexander Gerst eine gute Rückkehr wünschen und der Bundesregierung gute Verhandlungen auf
der Ministerkonferenz. Da geht es wirklich um wichtige
Entscheidungen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3040 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 33 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Achter Familienbericht
Zeit für Familie - Familienzeitpolitik als
Chance einer nachhaltigen Familienpolitik
und Stellungnahme der Bundesregierung
Drucksache 17/9000
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin in dieser Debatte erhält die Staatssekretärin Caren Marks das
Wort. - Frau Marks, Sie haben das Wort.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist
nunmehr zwei Jahre her, dass die Bundesregierung den
Achten Familienbericht „Zeit für Familie - Familienzeitpolitik als Chance einer nachhaltigen Familienpolitik“
vorgelegt hat. Der Bericht hat jedoch an Aktualität
nichts eingebüßt. Im Gegenteil: Zeit ist für Familien ein
Megathema. Denken wir an das erwerbstätige Paar, das
sich partnerschaftlich um seine Kinder kümmert, an Alleinerziehende, die ganz besonders auf einen familienfreundlichen Arbeitsplatz und zeitlich flexible Betreuungsangebote angewiesen sind. Denken wir auch an die
Familie, in der die Kinder noch in die Kita oder zur
Schule gehen und in der gleichzeitig ein Angehöriger
pflegebedürftig wird.
Für die Bundesregierung steht daher außer Frage, Familienzeitpolitik zu einem starken Thema zu machen.
Wir greifen deshalb den Achten Familienbericht in dieser Legislaturperiode in verschiedener Hinsicht auf - mit
einer modernen und lebenslaufbezogenen Zeitpolitik für
Familien, die die Wünsche der meisten Familien nach
mehr Zeit füreinander ernst nimmt, mit einer Familienpolitik, die gleichzeitig darauf setzt, Müttern und Vätern
beides zu ermöglichen: Zeit für Familie und Zeit für den
Beruf. Das ist der Anspruch, den junge Familien heute
an die Familienpolitik haben; denn die Lebenswirklichkeit und die Wünsche von Familien haben sich verändert.
Zur Lebensrealität von Familien gehört, dass immer
mehr Mütter berufstätig sind. Es gehört auch dazu, dass
sich Väter zunehmend an der Erziehung und Betreuung
ihrer Kinder beteiligen. Eltern brauchen flexible Lösungen, insbesondere am Arbeitsplatz, aber auch darüber hinaus, zum Beispiel beim bürgerschaftlichen Engagement; aber sie wollen, jeder für sich, auch ein festes und
ausreichendes Einkommen, und sie wollen sich beide
aktiv in der Familie einbringen. Es ist sicherlich nicht
immer leicht, alles unter einen Hut zu bekommen. Ein
Schlüssel zum Erfolg ist die Partnerschaftlichkeit.
Die Mehrheit der Familien wünscht sich eine partnerschaftliche Aufteilung. Die wenigsten aber können
diesen Wunsch bislang realisieren. Zeit ist zu einer
Kategorie der Lebensqualität geworden, insbesondere
von Familien.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, deshalb lohnt sich der Blick in den
Familienbericht. Die Kommission hat wichtige Eckpunkte für eine Zeitpolitik für Familien entwickelt. Es
gilt, Rahmenbedingungen zu gestalten und Partnerschaftlichkeit zu stärken.
Wir brauchen eine neue Qualität in der Arbeitsteilung
zwischen Männern und Frauen in Familie und Beruf;
denn sie steht für eine gerechte Balance im Leben beider
Geschlechter und sie trägt den Wünschen vieler Frauen
und Männer Rechnung. Dabei geht es vor allem um
Zeitsouveränität und um Zeitkompetenz. Es geht also
nicht nur um ein reines Mehr an Zeit, sondern auch um
den Umgang mit der Zeit. Es geht um eine lebenslaufbe6042
zogene Zeitpolitik, die viele gesellschaftliche Bereiche
betrifft: die Arbeitswelt oder den Lebensalltag von Familien sowie das unmittelbare Umfeld vor Ort.
Stets bedarf es verschiedener Partner, die sich für gute
Rahmenbedingungen für Familien einsetzen. So haben
wir mit unserem Unternehmensprogramm und mit den
670 Lokalen Bündnissen für Familie auch die Wirtschaft
und die Zivilgesellschaft mit an Bord. Der Staat braucht
starke Partner; ohne sie geht es nicht.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, was setzen
wir konkret um, um dem Leitbild der Partnerschaftlichkeit gerecht zu werden? Nach dem Elterngeld und dem
Rechtsanspruch auf die Betreuung von Kindern ab dem
ersten Lebensjahr kommt jetzt der nächste Schritt in
diese Richtung, das Elterngeld Plus. Heute Vormittag haben wir diesen Gesetzentwurf verabschiedet. Mit dem
Elterngeld Plus stärken wir sowohl die Zeitsouveränität
von Müttern und Vätern als auch die Partnerschaftlichkeit. Das neue Elterngeld Plus ist eine Antwort auf die
Frage vieler Familien, wie eine zeitgemäße Familienpolitik aussehen muss.
Bei einer zeitgemäßen Familienpolitik müssen wir
alle Generationen im Blick haben. Wir müssen uns verstärkt der Frage zuwenden, wie wir Menschen bei der
Fürsorge und Pflege älterer und hilfsbedürftiger Familienmitglieder besser unterstützen können. Wir haben
deshalb einen Gesetzentwurf zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf auf den Weg
gebracht, der genau dies zum Ziel hat.
Eine moderne Zeitpolitik entsteht nicht von allein. Sie
ist Aufgabe vieler Akteure. Übrigens profitieren nicht
nur Familien davon, sondern auch die Arbeitgeber. Eine
moderne Familienpolitik ist längst ein harter Standortfaktor. Wir sind zusammen gefordert, für eine neue und
nachhaltige Arbeits- und Lebensqualität einzutreten. Das
lohnt sich für die Familien, aber auch für die gesamte
Gesellschaft in unserem Land.
Herzlichen Dank.
({0})
Als nächster Redner in der Debatte spricht Harald
Petzold.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher! Wir
diskutieren heute den Achten Familienbericht der Bundesregierung. Das ist gut so. Ich will aber vorweg sagen:
Wir diskutieren einen Bericht, der eigentlich schon vor
zweieinhalb Jahren vorgelegt werden sollte. Ich finde es
ein wenig bedauerlich, Frau Staatssekretärin, dass es
nicht wenigstens ein Wort der Erklärung oder Entschuldigung dafür gibt, dass Sie das Parlament zweieinhalb
Jahre auf diesen Familienbericht haben warten lassen.
({0})
Ich finde, dass man durchaus nachfragen muss, auch
wenn es inzwischen einen Regierungswechsel gegeben
hat, wo die Gründe dafür liegen.
Ich möchte drei Punkte nennen, die aus Sicht meiner
Fraktion gut am Familienbericht sind. Zum einen stellen
Sie das Thema „Zeit für Familie“ voran; das ist ein
wichtiges Thema. Ich finde darüber hinaus, dass der geforderte Ausbau der Kinderbetreuung, der im Familienbericht thematisiert wird, ein wichtiger Punkt ist, über
den wir diskutieren sollten. Das ist meiner Fraktion ein
wichtiges Anliegen. Ich bin froh, dass es in meiner Heimat Brandenburg in den nächsten Jahren gelingen wird,
den Betreuungsschlüssel im Kitabereich weiter zu verbessern, dass es gelingen wird, die Rahmenbedingungen
für die Arbeit in Kitas und damit auch die Bedingungen
für die Betreuung insgesamt weiter zu verbessern.
({1})
Ich finde es auch gut, dass der Achte Familienbericht das
Thema „Flexibilisierung von Elternzeit“ aufgreift.
Es ist aber dramatisch, Frau Staatssekretärin, dass im
Familienbericht kein einziges Wort über die Themen
„Kinderarmut“ und „Armut von Familien“ verloren
wird. Neben dem Thema „Zeit für Familie“ ist es vor allen Dingen die Lebenssituation von Familien, die darüber entscheidet, ob Kinder gut aufwachsen und Familien sich erfolgreich entwickeln können.
({2})
Die Koalition kann dazu aber nicht sehr viel sagen; denn
das Thema Kinder- oder Familienarmut kommt im Koalitionsvertrag nicht vor.
Nun ist es ja nicht so, dass im Koalitionsvertrag keine
wichtigen Themen vorkommen würden. Beispielsweise
wird die Frage, ob Kinder beim Fahrradfahren einen
Helm tragen sollen, im Koalitionsvertrag ziemlich ausführlich behandelt. Das ist ein wichtiges Thema - das
will ich ausdrücklich sagen -; aber ein ebenso wichtiges
Thema wie Kinderarmut kommt eben nicht vor. Deswegen bin ich sehr froh, dass eine Politikerin wie Diana
Golze, die hier viele Jahre erfolgreich Familienpolitik
betrieben hat, in meiner Heimat Brandenburg jetzt als
Ministerin das Thema „Kinderarmut und Familienarmut“ ganz oben auf die Tagesordnung gesetzt hat und
dass die Koalition in Brandenburg aus Linken und SPD
dieses Thema zu einem zentralen Punkt ihrer Familienpolitik machen wird.
({3})
Familien haben keine Zeit; Sie haben das zu Recht
kritisiert, Frau Staatssekretärin. Die Arbeitswelt, sprich:
die Unternehmen und der öffentliche Dienst, nehmen
wenig bis keine Rücksicht auf Familien. Familien müssen ihre Arbeitszeit besser einteilen können. Aber die
Erfahrung zeigt, dass die freiwilligen Initiativen, wie der
Leitfaden „Erfolgsfaktor Familie“, leider nicht mehr als
heiße Luft sind. Gerade einmal 0,13 Prozent aller Unternehmen beteiligen sich daran. Ich bin froh, dass Sie wenigstens die Lokalen Bündnisse für Familie angesproHarald Petzold ({4})
chen haben; denn ich bin der Meinung: Hier wird aktiv
Politik betrieben. Auch hier setzt Brandenburg mit seinen Lokalen Bündnissen für Familie aus meiner Sicht einen wichtigen Impuls. Es ist ein Vorreiter für Familienfreundlichkeit in der Arbeitswelt geworden.
({5})
Ich habe mich sehr gefreut - das will ich abschließend
sagen, und ich bitte Sie, Frau Staatssekretärin, das Ihrer
Chefin zu sagen -, dass zumindest in der Schwerpunktplanung von Frau Ministerin Schwesig das Thema „lesbische und schwule Familien“, also sogenannte Regenbogenfamilien, einen höheren Stellenwert bekommen
soll. Sie haben im Ausschuss ausgeführt, dass das in der
Vorhabenplanung ganz vorne steht. Ich freue mich, dass
dieses Thema unter Ihrer Führung mehr Aufmerksamkeit erfährt. Es stimmt mich sehr hoffnungsvoll, dass
dieses Thema inzwischen in allen Fraktionen angekommen ist. Es gibt engagierte Abgeordnete, die sich persönlich dafür einsetzen. Ich habe deswegen die große Hoffnung, dass wir hier im Bundestag einen neuen Umgang
mit den Lebensfragen von Regenbogenfamilien erreichen werden. Aufmerksamkeit alleine genügt aber nicht.
Wir müssen auch gleiche Rechte schaffen; das ist eine
wichtige Voraussetzung. In diesem Zusammenhang muss
man sich fragen: Warum wird lesbischen Frauen die
künstliche Befruchtung verwehrt? Warum wird Schwulen und Lesben das gemeinsame Adoptionsrecht verwehrt? Warum werden Lesben und Schwule als potenzielle Pflegeeltern benachteiligt? Antworten auf diese
Fragen blieben bisher offen.
Familienpolitik ist Teil der gesellschaftlichen Verhältnisse. Sie wurde immer wieder verschiedentlich interpretiert. Es kommt aber darauf an, sie zu verändern. Dafür werden wir Linke uns einsetzen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen allen ein erholsames Wochenende mit Ihren
Familien.
({6})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Ingrid
Pahlmann das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen!
Es wurde alles rascher, damit mehr Zeit ist.
Es ist immer weniger Zeit.
Diese Erfahrung des Dichters und Chemikers Elias
Canetti dürfte jedem von uns, der mit einem vollgepackten Terminkalender zwischen Berlin und Wahlkreis hinund herpendelt, gerade in Zeiten des Bahnstreiks nur
allzu bekannt sein. Diese Erfahrung machen aber auch
Familien in unserem Land.
Selbst wenn der Achte Familienbericht Deutschland
im internationalen Vergleich einen hohen Zeitwohlstand
attestiert, sehen sich Familien zunehmend mit den Herausforderungen wachsenden Zeitmangels konfrontiert.
Auch durch die neuen Rollen von Männern und Frauen
wird das Familienleben häufig von Zeitknappheit und
Zeitkonflikten geprägt. Verstehen Sie mich nicht falsch:
Dass junge Eltern heute mehrheitlich eine partnerschaftliche Aufteilung von Familien- und Erwerbsarbeit
anstreben, ist in meinen Augen eine gute und wirklich
richtige Entscheidung. Es bedeutet aber auch, dass die
Rahmenbedingungen entsprechend angepasst und viele
Lebensbereiche - vom Arbeits- und Erwerbsleben in den
Unternehmen über Infrastruktur und Kinderbetreuung flexibler werden müssen; denn Familien brauchen Zeit
für ihr Familienleben.
Eltern brauchen Zeit, um ihre Kinder zu erziehen, und
sie brauchen Zeit, wenn Angehörige Unterstützung benötigen oder pflegebedürftig werden. Dabei geht es nicht
einfach nur um ein Mehr an Zeit allein; Frau Marks wies
bereits darauf hin. Entscheidend ist vielmehr die Stärkung der Zeitsouveränität der Familien, eine optimierte
Synchronisation von Zeitstrukturen aller relevanten Institutionen, eine Umverteilung von Zeit im Lebenslauf,
zwischen den Geschlechtern und den Generationen, und
auch eine stärkere Nutzung familienexterner Dienstleistungen.
Bundesregierung und Sachverständige stimmen darin
überein, dass eine moderne Familienpolitik Familien ermöglichen sollte, über ihren Zeitgebrauch souverän zu
entscheiden. Für uns als Union heißt das, dass jede Familie selbst entscheiden soll, welches Lebens- und Betreuungsmodell für sie das richtige ist. Wir erkennen die
Vielfalt der Familien an und wollen sie darin unterstützen.
({0})
Mit dem heute Vormittag verabschiedeten Gesetz zum
Elterngeld Plus und zur flexibleren Elternzeit setzen wir
diese Politik um. Ziel ist es, den Eltern mehr Zeit für die
Familie zu geben und neue Gestaltungsmöglichkeiten
sowie mehr Flexibilität im Alltag zu schaffen. Die Elternzeit kann nun länger in Anspruch genommen werden. Wenn zum Beispiel in der Phase des Schuleintritts
besonderer Betreuungsbedarf besteht, können sich Eltern diese Zeit nehmen. Das ist sicher bei der Mehrheit
der Kinder, die heute oft schon frühzeitig Übergangsphasen gewohnt sind, zum Beispiel durch die frühkindlichen
Betreuungseinrichtungen, nicht der Fall. In jenen Familien jedoch, in denen Kinder diesen besonderen Bedarf
haben, müssen sich die arbeitenden Eltern nun nicht
mehr durch Krankschreibung oder ähnliche Schritte die
Zeit für ihre Kinder freischaufeln. Auch für die Arbeitgeber stellt dies eine bessere und verlässlichere Lösung
dar.
Der demografische Wandel, der zurzeit wie ein
Schreckgespenst durch unser Land geistert, birgt zumindest in diesem Punkt eine Chance. Menschen werden
immer älter und bleiben dabei gesünder. Dieses Potenzial müssen wir aktivieren, um sie für die Familienzeit
zu gewinnen. Explizit wird hier der Bundesfreiwilligendienst als geeignetes Instrument zur Förderung des zivil6044
gesellschaftlichen Engagements älterer Menschen genannt. Es sollte zu diesem Zweck genutzt werden.
Gerade vor zwei Tagen hatte ich ein Gespräch mit einer
Besuchergruppe Bundesfreiwilligendienstleistender, die
allesamt weit über 27 Jahre alt waren. Diese haben mir
bestätigt, was die Sachverständigen angeregt haben: Der
Bundesfreiwilligendienst ermutigt auch die Älteren, die
frei gewordene Zeit durch freiwilliges Engagement für
die Gesellschaft zu nutzen. Wieder einmal wird deutlich:
Der Bundesfreiwilligendienst ist ein Erfolgsmodell.
({1})
Die Mehrgenerationenhäuser - ein anderes Thema -,
deren Finanzierung wir für nächstes Jahr gesichert haben, sind geeignete Plattformen für die Förderung und
Koordinierung zivilgesellschaftlichen Engagements in
den Kommunen. Mit den von Ursula von der Leyen ins
Leben gerufenen Häusern haben wir deutschlandweit
eine Infrastruktur geschaffen, die vor Ort einen ganz
wichtigen Beitrag zum Zusammenhalt unserer Gesellschaft leistet, die Möglichkeit zur gesellschaftlichen
Teilhabe für und zwischen allen Altersgruppen eröffnet
und zum freiwilligen Engagement anregt.
Mit dem Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz haben wir
auch bürgerschaftliches Engagement in der Pflege gestärkt. Die Versorgung pflegebedürftiger Angehöriger
kostet Familien viel Kraft und Zeit. Mit dem zu erwartenden Anstieg der Zahl der Pflegebedürftigen steigt
nicht nur der Bedarf an ausgebildeten Pflegekräften,
sondern auch der an ehrenamtlich in der Pflege Aktiven.
Sie engagieren sich zum Beispiel in Betreuungsgruppen
oder entlasten Pflegende durch die stundenweise Übernahme der Betreuung und Versorgung. Sie unterstützen
auch bei der Beratung von Pflegebedürftigen und ihren
Angehörigen.
Doch die Engagementbereitschaft im Bereich Pflege
wird heute bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Auch
hier setzt das Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz an. Menschen, die sich in der Pflege engagieren möchten, können sich entsprechend schulen und qualifizieren lassen
sowie kostenlos die Pflegekurse der Pflegekassen besuchen. Auch der Aus- und Aufbau von Selbsthilfegruppen, Organisationen und Kontaktstellen wird finanziell
stärker gefördert als bisher. All diese Maßnahmen bringen Entlastungen für betreuende Angehörige und schaffen zeitliche Freiräume.
Der Wohlstand einer Gesellschaft ist eben nicht allein
in Zahlen des Bruttoinlandsprodukts zu messen. Zeitwohlstand hat sowohl auf die Lebensqualität als auch auf
die Zufriedenheit von Familien einen erheblichen Einfluss und spielt bei der Entscheidung für Kinder eine bedeutende Rolle.
({2})
Wir wollen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für Familien so gestalten, dass sich junge Menschen
für Kinder entscheiden können, und wir wollen Familien
Handlungsspielräume für eine souveräne Gestaltung ihrer Möglichkeiten geben. Wichtige Weichenstellungen
haben wir heute auf den Weg gebracht. Lassen Sie uns
gemeinsam daran arbeiten, Zeitwohlstand und Zeitsouveränität für Familien zu mehren.
Ich danke Ihnen und wünsche Ihnen ein schönes Wochenende.
({3})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Franziska Brantner für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Danke schön. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und liebe Kollegen! Liebe Damen und Herren! Ich habe
keine Zeit. Ich kann jetzt nicht. Ich muss jetzt los. - Das
sind Sätze, die uns allen sehr bekannt sind. Ich habe Zeit. Diesen Satz kennt man nicht, da möchte man gleich
nachfragen: Oh Gott, hast du deinen Job verloren? Ist alles okay? Bist du krank? Ist es in unserer Gesellschaft eigentlich normaler, zu sagen, dass man keine Zeit hat, als
zu sagen, dass man Zeit hat, Zeit für seine Kinder, für die
Eltern, für die Freunde, für die Gesellschaft oder auch
nur für sich?
Verdichtung der Arbeitszeit, Entgrenzung des Arbeitslebens, das betrifft Familien ganz besonders. Denn
sie haben neben dem Beruf noch andere Verpflichtungen. Diese Verpflichtungen rufen zum Beispiel: Mama,
bastelst du mit mir? Oder der Sohnemann ruft: Ich habe
jetzt Hunger.
Keine Zeit zu haben, das gehört mittlerweile für die
meisten Familien zur Realität. Damit verbunden ist das
Gefühl, nicht allen Ansprüchen und auch nicht seinen eigenen Wünschen gerecht werden zu können. Eine Studie
der AOK zeigt, dass das Auswirkungen hat, nicht nur auf
die Eltern, sondern eben auch auf die Kinder. Gestresste
Eltern haben häufiger Kinder mit gesundheitlichen Beschwerden.
Der Achte Familienbericht, über den wir heute diskutieren, gibt einen Strauß an Empfehlungen. Eine davon
möchte ich gerne zitieren. Empfohlen wird „ein bedarfsgerechter Ausbau an qualitativ hochwertigen Betreuungsplätzen in Kindertageseinrichtungen und in der Tagespflege, der den Bedürfnissen der Kinder und Eltern
entspricht …“
Weiter heißt es:
Erst wenn für alle Kinder Ganztagsbetreuungsplätze in hervorragender Qualität vorhanden sind,
haben Eltern tatsächlich eine Wahlmöglichkeit.
Wir haben es heute Morgen schon andiskutiert. Das Ergebnis des Kitagipfels ist vor allen Dingen unter finanziellen Gesichtspunkten bestimmt noch nicht der richtige
und letzte Satz auf dem Weg zu hervorragender Qualität
für alle Plätze.
({0})
Ich kann wirklich nur an Sie alle appellieren: Nehmen
Sie sich etwas von den 10 Milliarden Euro Zukunftsinvestitionen, und nutzen Sie dieses Geld zur Verbesserung der Kitaqualität. Liebe SPD, kämpfen Sie dafür,
dass etwas davon bei den Kindern ankommt. Sie, liebe
CDU/CSU, können Herrn Schäuble sagen, dass das doch
wirklich eine lohnenswerte Investition in Deutschland
ist.
({1})
- Aber es reicht nicht.
Gute Familienzeitpolitik verändert die Arbeitswelt.
Erlauben Sie mir, noch einmal zu zitieren. Das ist ein
klassisch wissenschaftlicher Satz. Er lautet:
Kritisch reflektiert werden sollte das Bild des voll
verfügbaren und „sorglosen“ Arbeitnehmers ohne
private Verpflichtungen …
Das heißt übersetzt: Es gibt immer noch das Modell des
Unverheirateten ohne Kinder. Diese Arbeitnehmer sind
sorgenlos und immer verfügbar. Ich glaube, hier müssen
wir ansetzen. Der Arbeitsmarkt muss sich nach den Familien richten. Es darf nicht sein, dass sich die Familien
nach dem Arbeitsmarkt zu richten haben.
({2})
Frau Schwesig ist jetzt nicht da, daher spreche ich
Sie, Frau Marks, an. Die Idee von Frau Schwesig ist ja
die einer Familienarbeitszeit. Eine solche Familienarbeitszeit würden laut DIW nur 1 Prozent der Eltern in
Anspruch nehmen. Das heißt, das hört sich immer schön
an, aber es trifft nur für 1 Prozent der Eltern zu. Ist das
wirklich die Signalwirkung, die wir uns wünschen? Verlieren wir dabei nicht diejenigen aus dem Blick, die unter einer Doppelbelastung aus Zeitdruck und geringem
Einkommen leiden, die sich eine Reduzierung ihrer Arbeitszeit allein schon aus finanziellen Gründen nicht
leisten können?
Es braucht eben mehr als die Signalwirkung von gut
verdienenden Doppelverdienerpaaren. Wir brauchen
mehr als dieses 1 Prozent. Wir brauchen gezielte und
auch gesetzliche Reformen, um etwas voranzubringen.
Auch an dieser Stelle möchte ich aus dem Achten Familienbericht zitieren. Dieser schlägt vor, dass im Teilzeitund Befristungsgesetz ein Recht der Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer erweitert wird „auf Mitsprache bei
der Lage der Arbeitszeit“. Das halte ich für einen wichtigen Punkt. Dabei geht es gar nicht darum, ob man weniger oder mehr arbeitet, sondern darum, wann man anfängt und wann man aufhört. Ich glaube, dass das ein
wichtiger und zentraler Punkt ist.
Zudem zeigen Studien, dass Mütter nicht unbedingt
weniger arbeiten wollen, sondern meistens sogar noch
mehr. Hauptsächlich wollen sie aber selbstbestimmt arbeiten und bestimmen können, wann sie mit der Arbeit
beginnen und wann sie mit der Arbeit aufhören.
({3})
Vielleicht können Sie das mitnehmen. Ich glaube, das
hätte mehr Effekt als die Familienarbeitszeit.
Auch Lebenszeit- und Kontenmodelle sind wichtige
Ansätze, die es zu vertiefen gilt, damit man im Leben
auch einmal aussteigen kann für Kinder, für Pflege, für
eine Weiterbildung oder für ein Ehrenamt, dann aber zurückkommen kann.
Abschließend möchte ich noch einmal aus dem Familienbericht zitieren:
Gesellschaftliche Erwartungen prägen die Zeitverwendung des Einzelnen. Gesellschaftliche Erwartungen orientieren sich an Werten. Der Stellenwert
familiärer Verantwortung muss stärker im gesellschaftlichen Wertekanon verankert werden.
Nehmen wir uns die Zeit, dies zu ändern, damit es
wieder normal wird, zu sagen: Ich habe Zeit für dich.
Ich danke.
({4})
Die Kollegin Yüksel hat nun für die SPD-Fraktion
das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich sehe,
trotz - oder wegen - Bahnstreik sind Sie hiergeblieben.
Das freut mich natürlich; denn das Thema Familienpolitik ist zentral und liegt uns besonders am Herzen. Dafür
möchte ich Ihnen natürlich danken. - Das war jetzt keine
Kritik.
({0})
Der Familienbericht der Bundesregierung aus dem
Jahr 2012 hat das Thema „Zeit für Familie“ als Schwerpunkt. Das ist ein sehr wichtiges Thema für einzelne Familien und auch für unser Land. Wir setzen uns für mehr
Zeitsouveränität ein und greifen die Empfehlungen der
Sachverständigenkommission auf.
Wir wollen es den Familien ermöglich, ihr Leben frei
nach ihren persönlichen Wünschen und individuellen
Zielen zu gestalten. Wenn beide Elternteile einer Erwerbstätigkeit nachgehen wollen oder müssen, ist es
Aufgabe der Politik, die Rahmenbedingungen dafür zu
schaffen.
Familienpolitik bedeutet, Familien im Alltag zu entlasten und ihnen mehr Möglichkeiten für ein gemeinsames Miteinander und Füreinander zu eröffnen, damit sie
sich frei entfalten und ihre Ziele verfolgen können.
Meine Kinder sind mittlerweile erwachsen und gehen
ihre eigenen Wege. Ich erinnere mich aber noch sehr gut
an meine eigene Zeit als junge berufstätige Mutter, in der
es nicht so einfach war, Familie und Beruf miteinander
zu vereinbaren. Heute erleichtern die gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen diese Aufgabe. Es besteht
aber nach wie vor Handlungsbedarf.
Der vorliegende Bericht bietet eine gute Grundlage,
an der wir gemeinsam ansetzen sollten. Ein zentraler
Punkt einer modernen Familienzeitpolitik ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Denn Familien brauchen
notwendige Auszeiten in unterschiedlichen Lebensphasen. Insbesondere in Zeiten der Familiengründung und
der Pflege von Angehörigen ist es für Familien wichtig,
die Möglichkeit zu haben, ihre Zeit flexibel einzuteilen.
Nach der Einführung des Elterngeldes folgt nun also
die Weiterentwicklung durch das Elterngeld Plus. Darüber freuen wir uns als SPD-Fraktion sehr; denn dadurch werden im Alltag mehr Flexibilität und Zeiträume
geschaffen.
({1})
Um Eltern dieses zu ermöglichen, ist auch eine bedarfsgerechte Kinderbetreuung notwendig. Mit der Aufstockung des Sondervermögens Kinderbetreuungsausbau
auf 1 Milliarde Euro werden nun zusätzliche Betreuungsplätze geschaffen. Jedoch müssen auch Zeitstrukturen mehr an die Alltagsrealität der Familien angepasst
werden.
In dem Bericht wird eine bessere Abstimmung zwischen Arbeitszeiten und Öffnungszeiten von Kitas,
Schulen, Behörden und Kultureinrichtungen gefordert.
Ebenso wird die Bedeutung von Ganztagsschulen hervorgehoben. Ausreichend Plätze gibt es bislang leider
nicht. Hier ist eine Baustelle, an der wir noch zu arbeiten
haben.
Viele Familien fragen sich, wie sie die Kinderbetreuung während der Schulferien organisieren können. Initiativen vor Ort leisten hier bereits gute Arbeit. Es müssen aber weitere Schritte ergriffen werden, um Familien
zu unterstützen. Flexiblere Arbeitszeitmodelle sollten
daher, langfristig gesehen, unbedingt unterstützt werden.
Für uns Sozialdemokraten bleibt die Familienarbeitszeit
das Ziel; denn sie ist der richtige Weg hin zu einer nachhaltigen Familienpolitik.
({2})
Sie entspricht den Wünschen vieler Eltern, da sie Müttern und Vätern partnerschaftlich mehr Freiraum erlaubt.
Auch beim Thema Pflege sah die Sachverständigenkommission weiteren Handlungsbedarf; denn auch dieser Bereich berührt Familien und deren Zeitmanagement
stark. Mit dem Entwurf eines Gesetzes zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf entlasten wir
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die sich der verantwortungsvollen Aufgabe der Pflege ihrer Angehörigen stellen wollen oder aufgrund ihrer Familiensituation
stellen müssen. Familien können somit souverän über
ihre Zeit entscheiden und mehr füreinander da sein.
Es ist wichtig und richtig, dass sich in dem Bericht
dem Thema Familienzeitpolitik gewidmet wird. Die gesellschafts- und familienpolitischen Rahmenbedingungen an die heutigen Lebensmodelle der Bevölkerung
anzupassen, ist für die Funktionsfähigkeit unserer modernen Gesellschaft unerlässlich. Erste zentrale Maßnahmen zur Ermöglichung von mehr Flexibilität im Alltag
und mehr Partnerschaftlichkeit sind bereits auf den Weg
gebracht. Die Ergebnisse des Berichtes zeigen uns aber,
dass es noch weitere wichtige Bereiche in der Familienzeitpolitik gibt, an denen wir arbeiten müssen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Familie ist eine
wichtige Säule in unserem Leben. Sie bietet Schutz, Sicherheit, Geborgenheit und Liebe. Sie ist das Fundament
einer funktionierenden Gesellschaft. Um diese Säule
auch weiterhin stabil zu halten, müssen wir gemeinsam
„Zeit für Familie“ schaffen. Lassen Sie uns die Ergebnisse des Familienberichtes dazu nutzen, dieses Ziel mit
voller Energie weiter zu verfolgen.
Ich danke Ihnen ganz herzlich und wünsche Ihnen
noch einen schönen Heimweg.
({3})
Das Wort hat der Kollege Markus Koob für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Zuschauer! Nie wurde mehr Geld in Familien investiert als heute. Nie wurden Familien qualitativ besser
gefördert als heute. 200 Milliarden Euro gibt der Staat
Jahr für Jahr für 156 ehe- und familienbezogene Leistungen aus. Das investieren wir, das investiert die Gesellschaft gerne; denn Investitionen in die Familie sind nicht
nur Investitionen in die Gesellschaft, sondern auch Investitionen in Zukunft und Nachhaltigkeit.
In dem Achten Familienbericht der Bundesregierung
wird Zeit gefordert: Zeit in den Familien füreinander, um
sich umeinander zu kümmern, Zeit miteinander verbringen zu können. Das ist gut und richtig so. Gerade in den
letzten Wochen ist diesbezüglich vieles auf den Weg gebracht worden.
Wir haben heute - das ist mehrfach erwähnt worden das Elterngeld Plus beschlossen. Das ist ein starkes
Signal zugunsten der partnerschaftlichen Erziehungsverantwortung und gewährt den Eltern eine längere gemeinsame Zeit in der Familie. In den nächsten Wochen werden wir zudem über den Entwurf eines Gesetzes zur
besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf zu
beraten haben.
Zukünftig werden die von der Union in der Vergangenheit auf den Weg gebrachten Pflegezeit und Familienpflegezeit ausgebaut werden. Neu ist, dass dann jeder Arbeitnehmer und jede Arbeitnehmerin eine bis zu
zehntägige Arbeitsauszeit nehmen kann, um einen Angehörigen zu pflegen. Während dieser zehn Tage besteht
die Möglichkeit, Pflegeunterstützungsgeld durch die
Pflegekasse des Angehörigen zu erhalten.
Zentraler Punkt des Gesetzes ist der zukünftige
Rechtsanspruch auf Familienpflegezeit. Für einen Beschäftigten wird es ab 2016 möglich sein, bis zu 24 Monate vom Arbeitgeber teilweise freigestellt zu werden,
um einen Angehörigen zu pflegen. Dazu müssen bei
verhältnismäßig geringen Lohneinbußen mindestens
15 Stunden in der Woche parallel weitergearbeitet werden.
Jeder Mensch, der einen Angehörigen pflegt, verdient
unsere Anerkennung und Unterstützung. Mit dem Gesetzentwurf zur besseren Vereinbarkeit von Familie,
Pflege und Beruf erreichen wir beides. Angehörige haben nun ein Instrument, sich auf die Notsituation der Familie einzustellen und die letzten Wochen und Monate in
intensiver Familienzeit zu verbringen. Das sind wir den
Familien in Deutschland schuldig.
({0})
Eine fast schon überfällige Anpassung findet zudem
bezüglich der Begrifflichkeit der nahen Angehörigen im
Pflegezeitgesetz statt. Wenn Stiefeltern, Schwägerinnen
und Schwager oder Menschen in lebenspartnerschaftsähnlichen Gemeinschaften keinen Rechtsanspruch auf
Pflegebegleitung ihrer Angehörigen haben, dann ist das
aus der Zeit gefallen und gehört geändert. Diese Änderung vollziehen wir mit dem Gesetzentwurf.
Aber nicht nur das Elterngeld Plus und die bessere
Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf wird den
Familien mehr Zeit füreinander geben. Zentral für die effizientere Zeitnutzung in den Familien, wie sie der Achte
Familienbericht fordert, ist der Kitaausbau, den wir bereits vor einigen Jahren auf den Weg gebracht haben. Bis
2014 hat der Bund 5,4 Milliarden Euro in den Ausbau
der Kinderbetreuung und die Übernahme der Betriebskosten der Kinderbetreuungseinrichtungen investiert.
Allein in dieser Legislaturperiode unterstützt der
Bund die Kommunen beim Betreuungsausbau mit zusätzlichen 550 Millionen Euro, damit auch in den nächsten Jahren qualitativ hochwertige Kindertagesplätze
geschaffen werden können. Wir möchten eine flächendeckende Betreuung für Kinder berufstätiger Eltern. Durch
flexiblere Betreuungszeiten der Kinder soll es den Eltern
ermöglicht werden, Familie und Beruf leichter miteinander zu vereinbaren. Mit einer besseren Zeitsynchronisation wirken wir direkt positiv auf das Zeitbudget der Familien ein, indem diese den Tagesablauf nicht nach den
Kitaöffnungszeiten richten müssen, sondern in ihrer Arbeitszeit- und damit anschließend auch in ihrer Familienzeitgestaltung freier sind.
Der CDU/CSU-Fraktion ist es wichtig, die Verbesserung der Kitas voranzutreiben. Kitas dürfen keine Parkplätze für Kinder sein; sie müssen vielmehr erste qualitativ hochwertige Bildungseinrichtungen der Gesellschaft
darstellen.
({1})
Im Bereich der Kindertagesbetreuung bewegt sich vieles. Wir sind noch nicht am Ziel, aber auf einem guten
Weg dorthin.
Den Ausbau der Kindertagesstätten haben wir mit finanziellen Entlastungen der Kommunen flankiert. Überhaupt haben die Kommunen seit Amtsantritt von Angela
Merkel eine erhebliche Entlastung erfahren. Der Schlüssel für mehr Familienzeit, die der Achte Familienbericht
der Bundesregierung einfordert, liegt auch in der besseren finanziellen Ausstattung der Kommunen, damit
diese ihre Aufgaben wie die Kindertagesbetreuung besser wahrnehmen können. Wir als Union haben nicht nur
dafür gesorgt, dass der Bund die Kosten für die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung übernimmt, sondern wir zahlen den Kommunen von 2015 bis
2017 zusätzlich 1 Milliarde Euro pro Jahr.
Ein Meilenstein der Politik der Großen Koalition zur
Entlastung der Kommunen wird zudem das geplante
Bundesteilhabegesetz im nächsten Jahr werden. Dieses
Gesetz wird die Kommunen im Bereich der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung aller Voraussicht nach um 5 Milliarden Euro entlasten. Durch die
Entlastung der Kommunen wird Geld für weitere wichtige kommunale Aufgaben wie den Kindertagesbetreuungsausbau und den Erhalt von Schwimmbädern, Bibliotheken, Theatern und anderen Einrichtungen für
Familien frei.
Seit der Vorstellung des Achten Familienberichts der
Bundesregierung sind zweieinhalb Jahre vergangen, aber
die Zeit wurde von der CDU/CSU-geführten Bundesregierung gut und effizient genutzt. Das Elterngeld wurde
um das Elterngeld Plus ergänzt. Der Kindertagesstättenausbau wurde weiter vorangetrieben. Familiäre Pflege
wird auf neue, stabilere Füße gestellt.
Die beste Familienpolitik ist eben die Politik, die Zeit
für Familien schafft. Damit haben wir in den vergangenen Legislaturperioden bereits begonnen, und wir werden es in den kommenden Jahren konsequent fortführen.
Ich freue mich mit Ihnen allen gemeinsam - in diesem Thema gibt es nämlich eine breite Übereinstimmung -, an diesem wichtigen Thema zu arbeiten und gemeinsam etwas für die Familien in unserem Land zu
erreichen. Auch wenn ich ein Vertreter der Gattung „unverheiratet und kinderlos“ bin und viel Zeit habe, liegen
mir die Familien nichtsdestotrotz sehr am Herzen.
Herzlichen Dank und ein schönes Wochenende.
({2})
Das Wort hat die Kollegin Gudrun Zollner, ebenfalls
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Gäste auf den
Zuschauertribünen! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zeitpolitik ist heute als Teil von Gesellschaftspolitik
nicht mehr wegzudenken. Unser Wohlstand bemisst sich
nicht mehr nur am Bruttoinlandsprodukt. Vielmehr wird
der Zugang zur Ressource Zeit ein immer wichtigerer Indikator für die Lebensqualität jedes Einzelnen. Jeder
Einzelne von uns empfindet Zeit anders, je nachdem, in
welcher Lebensphase er sich gerade befindet. Ich
möchte mich deshalb bei der ehemaligen Familienministerin Kristina Schröder nicht nur für die Erstellung des
Achten Familienberichts bedanken, sondern auch dafür,
dass sie dieses wichtige Thema Zeit in den Fokus gerückt hat.
Für kinderlose Paare ist der Faktor Zeit ein ganz
wichtiger Aspekt bei der Entscheidung für oder gegen
Nachwuchs geworden. Nach neuesten Studien sehen es
85 Prozent der Menschen in Deutschland als wichtig an,
eigene Kinder zu haben. Wenn allerdings fehlende Zeit
dazu führt, sich gegen Nachwuchs zu entscheiden, wird
mittel- und langfristig unsere gesamte Gesellschaft darunter leiden. Gerade im Zusammenspiel von Familie
und Beruf kommt Zeitknappheit eine entscheidende
Rolle zu. Durch die steigende Erwerbstätigkeit von
Frauen und Müttern ist die Bewältigung von Zeitkonflikten zu einer zentralen Herausforderung geworden. Besonders Familien brauchen Zeit, um sich als solche erfahren zu können. Zeitkonflikte haben aber nicht nur im
familiären Bereich negative Folgen, sie führen auch zu
erheblichen gesamtpolitischen und gesamtwirtschaftlichen Konsequenzen. Deshalb muss es auch der Wirtschaft wichtig sein, eine familienfreundliche Unternehmenskultur anzubieten.
({0})
Die Erwerbsarbeit ist heute der wichtigste externe
Taktgeber für die Zeitgestaltung innerhalb der Familie.
Deshalb ist es für eine nachhaltige Familienpolitik entscheidend, die Arbeitszeit auf der einen Seite und die
Zeit mit der Familie auf der anderen Seite in Einklang zu
bringen. Wir müssen Frauen und Männern, Müttern und
Vätern alternative Karrierepfade anbieten, um auf allen
Hierarchieebenen arbeiten zu können.
({1})
Führungsaufgaben und Familienzeit dürfen sich nicht
länger gegenseitig ausgrenzen. Zudem muss Vereinbarkeit von Familie und Beruf auch beim Übergang der
Kinder in die Schule gewährleistet sein. Kinder hören im
Alter von sechs Jahren nicht auf, Kind zu sein. Besonders für Alleinerziehende ist das ein entscheidender
Punkt. Der Familienbericht verweist zu Recht darauf,
dass vor allem sie unter Zeitdruck und Zeitkonflikten leiden. Die 1,6 Millionen Alleinerziehenden mit ihren
2,2 Millionen Kindern sind auch Familie. Sie sind EinEltern-Familien und bedürfen unserer besonderen Unterstützung. Laut den Familienleitbildern sehen übrigens
88 Prozent der deutschen Bevölkerung auch eingetragene Lebenspartnerschaften mit Kindern als Familie.
Ich möchte noch einen Punkt betonen, der mir selber
sehr am Herzen liegt. Zeitpolitik und Zeitsouveränität
müssen auch zum Ziel haben, den Menschen zu ermöglichen, ihre Lebensplanung selbstverantwortlich zu gestalten. Dazu gehört auch, die Entscheidung zu akzeptieren,
dass eine Mutter oder ein Vater zu Hause bleibt, um sich
ausschließlich um die Erziehung der Kinder zu kümmern. Die vielen jungen Väter, die sich ganz bewusst für
mehr Zeit für ihre Kinder entscheiden, unterstützen wir
durch das heute verabschiedete Elterngeld Plus, mit dem
wir auch den Empfehlungen des Achten Familienberichts Rechnung tragen.
({2})
Politik, Wirtschaft und Gesellschaft - es ist unsere gemeinsame Aufgabe, Familien zu schützen und zu unterstützen, die Rahmenbedingungen für mehr Zeitsouveränität zu schaffen, die in, mit und um Familien erbrachten
Leistungen mehr anzuerkennen. Das müssen unsere primären Handlungsziele sein.
Es darf nicht so weit kommen wie in den USA, wo
Firmen wie Facebook und Apple die Möglichkeit des
Social Freezing anbieten. Das Einfrieren von Eizellen
löst keinesfalls Probleme bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder trägt zur Entzerrung der sogenannten Rushhour des Lebens bei.
({3})
Nicht die Frauen müssen sich den Firmen anpassen, sondern die Firmen - wie beispielsweise Facebook und
Google - den Frauen.
({4})
Der richtige Ansatz ist vielmehr, eine familienfreundliche Arbeitswelt zu schaffen.
Kollegin Zollner, ich störe ungern, aber die Uhr vor
Ihnen zeigt Ihnen unmissverständlich an, wie viel Zeit
Sie schon überschritten haben. Kommen Sie also bitte
zum letzten Satz.
Aus diesem Grund gehört Familienzeitpolitik als
wichtiges Politikfeld in das Zentrum unserer familienpolitischen und wirtschaftspolitischen Arbeit in dieser
und weiteren Legislaturperioden. Hierfür gibt der Achte
Familienbericht wichtige Impulse.
({0})
Vielen herzlichen Dank und allen ein gutes und hoffentlich schnelles Nachhausekommen.
Danke schön.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9000 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Vizepräsidentin Petra Pau
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 34 a bis 34 c auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Gesine Lötzsch, Heidrun Bluhm, Caren Lay,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE
LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Reform der Liegenschaftsveräußerungen
({0})
Drucksache 18/2882
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Finanzausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({2})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Heidrun
Bluhm, Caren Lay, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Sofortiges Moratorium für die Wohnungsund Grundstücksverkäufe durch die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Tobias
Lindner, Christian Kühn ({3}), Lisa
Paus, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Moratorium beim Verkauf von Wohnim-
mobilien in Städten mit angespanntem
Wohnungsmarkt durch die Bundesanstalt
für Immobilienaufgaben
Drucksachen 18/1952, 18/1965, 18/2908
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Christian Kühn ({4}), Dr. Tobias Lindner,
Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für eine nachhaltige und zukunftsweisende
Liegenschaftspolitik des Bundes
Drucksache 18/3044
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({5})
Innenausschuss
Sportausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Heidrun Bluhm für die Fraktion Die Linke.
({6})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen
der Koalition - ich wende mich jetzt zunächst einmal
insbesondere an Sie -, ich bin sehr gespannt, wie Sie
heute begründen wollen, warum Sie weiter fleißig zum
Höchstgebot Wohnungen durch die Bundesanstalt für
Immobilienaufgaben verkaufen lassen, obwohl Wohnungsknappheit und steigende Mieten in vielen deutschen Groß- und Hochschulstädten längst zu einer alltäglichen Realität geworden sind.
Nichtsdestotrotz begrüße ich natürlich auch die Kolleginnen und Kollegen von den Grünen.
({0})
Die Folgen treffen schon lange nicht mehr nur einkommensschwache Mieterhaushalte, sondern auch viele
von denen, die sich selbst als gutsituiert und gutbürgerlich bezeichnen würden.
Die Linke hat die kritische Situation und die rasante
Zuspitzung des Angebots und der Nachfrageverhältnisse
auf den Wohnungsmärkten in den zurückliegenden Jahren immer wieder benannt. Wir haben schon vor langer
Zeit begonnen, in Anträgen aufzuzeigen, was zu tun ist,
um das zu ändern.
({1})
Die Antwort der Bundesregierung, egal ob Große Koalition oder die Koalition von CDU/CSU und FDP, war
in leichter Variation immer die gleiche: Die Wohnungsversorgung in Deutschland ist gut, und der Markt wird es
schon richten.
({2})
Diese jahrelange Ignoranz und geradezu religiöse Marktgläubigkeit sind neben dem aktiv praktizierten Privatisierungswahn ursächlich für die nicht gelösten Wohnungsprobleme und für das Entstehen der jetzt nicht
mehr zu versteckenden Zuspitzung in Großstädten wie
Hamburg und Berlin.
Vor ein paar Tagen haben wir die Bundesregierung
aufgefordert, wirksam gegen Wohnungsnot und Mietwucher in den Studentenstädten vorzugehen. Gerade gestern haben Sie beschlossen, dass in diesen Städten nun
Asylsuchende und Flüchtlinge wegen der Wohnungsnot
wahrscheinlich auch in Gewerbegebieten untergebracht
werden.
Ich stelle fest: Auch diese Bundesregierung will keine
Probleme lösen. Sie will sie bestenfalls verharmlosen
und wegdelegieren.
({3})
Dabei könnte der Hendricks’sche wohnungspolitische
Dreiklang aus Wiederbelebung des sozialen, aber toten
Wohnungsbaus, einer Investitionsoffensive und flankierenden mietrechtlichen Regelungen eigentlich wirklich
etwas bewegen.
({4})
Aber da klingt nichts. Ich höre keine Sinfonie, und ich
sehe auch keine Bewegung.
Nun haben wir mit unserem Antrag „Sofortiges Moratorium für die Wohnungs- und Grundstücksverkäufe
durch die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben“ die
Bundesregierung aufgefordert, einfach einmal nichts zu
tun, einfach einmal die Füße stillzuhalten. Wenigstens
das sollte ihr doch gelingen.
({5})
Aber nein! Dabei könnte die Bundesregierung an dieser
Stelle sozusagen mit hauseigenen Mitteln ein ganz klein
wenig, sozusagen als wichtiges Signal, zur Entspannung
der Mietensituation in extrem angespannten Wohnungslagen beitragen, damit nicht, wenn die Regierung doch
noch aufwacht - ups! -, plötzlich alles weg ist, was den
Mieterinnen und Mietern in diesem Land, was dem Gemeinwohl helfen könnte, statt zu sagen: Da schauen wir
dann, wenn es soweit ist. Ich denke zum Beispiel an die
5 000 eigenen Wohnungen des Bundes hier in Berlin, die
von der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben verwaltet werden.
Sie selbst müssten nur Ihren Koalitionsvertrag ernst
nehmen und Ihre eigene Bundesanstalt für Immobilienaufgaben veranlassen, das zu tun, was im Koalitionsvertrag steht, nämlich - ich zitiere -: „mit Rücksicht auf die
vielen am Gemeinwohl orientierten Vorhaben der Kommunen, wie der Beschaffung von sozialem Wohnraum
und einer lebendigen Stadt, eine verbilligte Abgabe von
Grundstücken“ zu realisieren,
({6})
wenn auch nur bis maximal 100 Millionen Euro.
Allein der aktuell laufende Verkauf von 48 Wohnungen in Berlin an der Großgörschenstraße bzw. Katzlerstraße, mit dem die BImA 7,1 Millionen Euro für das
„Schäuble-Denkmal“, die schwarze Null, beisteuern
soll, ist nicht nur ein Skandal, sondern ein weiterer
Treibsatz für die überbordende Spekulation mit Wohnraum. 7,1 Millionen Euro für 48 Wohnungen, das ist das
39-Fache der jetzigen Jahresmiete! Kein seriöser Bestandshalter, der die Wohnungen innerhalb des Mietspiegels vermieten will, kann diesen Preis bezahlen.
({7})
Das können nur Finanzspekulanten, die diese Mietwohnungen für Superreiche zu Luxusappartements oder zu
luxuriösen Anlageobjekten machen wollen. Die Bundesregierung weiß das; aber leider geht ihr wohl auch das
am Allerwertesten vorbei.
({8})
Nun hat das Land Berlin der BImA einen Kaufantrag
für deren gesamtes Berliner Portfolio vorgelegt. Bravo!
Wir sind gespannt, wie weit die Kaufpreisvorstellungen
wohl auseinandergehen werden und wie sich beide Großen Koalitionen - die eine im Land, die andere im
Bund - da einigen. Ich glaube erst an eine Einigung,
wenn die Tinte auf den Kaufverträgen trocken ist.
({9})
Heute schon wird zu bedenken gegeben, dass einem
nicht marktgerechten Verkauf haushaltsrechtliche Vorschriften des Bundes und gar das europäische Beihilferecht entgegenstehen. Na, dann ändern wir das eben.
({10})
Deshalb bieten wir Ihnen heute mit unserem Entwurf eines Gesetzes zur Reform der Liegenschaftsveräußerungen einen Weg an, genau das zu tun.
Die Linke weiß, dass die Bundesregierung viel zu tun
hat. Deswegen haben wir ihr an dieser Stelle schon einmal einen Vorschlag gemacht, der dabei helfen kann, das
umzusetzen, was sie immer behauptet, tun zu wollen. Sie
werden damit Ihrem Koalitionsvertrag gerecht und liefern endlich den Beweis, dass es Ihnen ernst ist mit dem
Bündnis für bezahlbares Wohnen.
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort hat der Kollege Norbert Brackmann für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Schon beim Beitrag der Kollegin Bluhm eben
ist ein Stück weit deutlich geworden, worüber wir heute
reden bzw. nicht reden. In der Tagesordnung ist angekündigt: Liegenschaftspolitik. Sie haben hier gesprochen
über Immobilienpolitik
({0})
mit Schwerpunkt hier auf Berlin. Da machen wir schon
sehr feine Unterschiede. Denn wenn wir über Liegenschaftspolitik reden, dann reden wir nicht über ein herrenloses Vermögen, das herumliegt und mit dem wir in
irgendeiner Form spielen können, sondern über ein Vermögen des Bundes; dieses Vermögen des Bundes ist das
Vermögen des Steuerzahlers. Und mit dem Vermögen
des Steuerzahlers haben wir ordentlich umzugehen.
({1})
So wie hanseatische Kaufleute damit umgehen würden,
müssen auch wir mit diesem Vermögen umgehen und als
Wahrer dieses Vermögens dafür sorgen, dass es uns erhalten bleibt. Das ist der erste Punkt.
Der zweite Punkt, auf den ich eingehen möchte, sind
die gesetzlichen Rahmenbedingungen, die wir selbst als
Gesetzgeber uns gesetzt haben.
Kollege Brackmann, gestatten Sie eine Frage oder
Bemerkung der Kollegin Paus?
Gerne.
Kollege Brackmann, Sie sind ja im Haushaltsausschuss, und im Haushaltsausschuss werden die Einzelpläne behandelt. Da gibt es auch in einem Einzelplan einen Titel zur Stadtentwicklung. Da beraten Sie unter
anderem über Städtebauförderungsprogramme. Von daher wissen Sie, dass sozialer Wohnungsbau in Deutschland zurzeit zu wenig stattfindet, dass in den Ballungsräumen über Jahre zu wenig investiert worden ist. Das
ist also ein Thema, das aktuell auch bei Ihnen diskutiert
wird.
Finden Sie nicht, dass es richtig wäre, wenn sich der
Bund bei der Veräußerung einer Mietimmobilie anders
verhalten würde als die normalen privaten allgemein bekannten Spekulanten im Land Berlin?
({0})
Finden Sie nicht, dass der Bund berücksichtigen sollte,
dass ihm, wenn er auf der einen Seite Einnahmen dadurch erzielt, dass er sich nicht entsprechend dem verhält, was im Grundgesetz festgeschrieben ist, nämlich
für das Gemeinwohl zu sorgen, auf der anderen Seite zusätzliche Ausgaben entstehen?
({1})
Ich bin mit Ihnen der Auffassung, dass wir mit der
Wohnungsbauförderung in dem Einzelplan dafür sorgen
müssen, dass bezahlbarer Wohnraum bei uns geschaffen
und erhalten wird.
({0})
Das ist eine wichtige Aufgabe, die der Bund auch wahrnimmt. Allein im Haushalt 2015 werden wir den Ländern, den Kommunen 518 Millionen Euro für die Förderung von sozialem Wohnungsbau bereitstellen - und das,
obwohl nach der Zuständigkeitsregelung zwischen
Bund, Ländern und Kommunen, die im Grundgesetz
verankert ist, Wohnraumpolitik Aufgabe der Länder ist.
Die Länder haben Wert darauf gelegt, dass sie das auf
Länderebene, auf kommunaler Ebene machen, und das
ist auch richtig so, weil die Wohnungsbausituation in
Berlin natürlich eine andere ist als in Hintertupfingen.
Aus diesem Grund ist das eine gute, eine kluge Politik,
bei der die Länder und Kommunen vom Bund nachhaltig
unterstützt werden.
Ich fahre in meiner Rede fort. - Liegenschaftspolitik
muss deshalb darauf basieren, Mittel zu organisieren, damit wir zum Beispiel im Rahmen der Städtebauförderung entsprechende Politik gestalten können. Deswegen
kommt es darauf an, dass wir uns hier im Bundestag
über die Aufgabenteilung verständigen. Auf der einen
Seite müssen wir als Haushälter, als Vermögensverwalter dafür sorgen, dass wir Einnahmen haben, damit auf
der anderen Seite die Fachpolitiker Probleme lösen können. Das ist auch ein Stück Haushaltswahrheit und
Haushaltsklarheit. Deswegen müssen wir bei unserer
Vermögenspolitik genau so vorgehen, wie im Übrigen
auch die Länder vorgehen.
Ich darf mich da noch einmal auf die Linken beziehen. In § 63 Landeshaushaltsordnung Brandenburg ist
dieselbe Regelung enthalten, wie wir sie im Bund haben.
Auch Brandenburg veräußert Liegenschaften vorschriftsgemäß zum vollen Wert. Insofern steht die Politik, die
Sie hier vertreten, im Gegensatz zu Ihrem eigenen Handeln in Brandenburg.
({1})
Das, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ist in sich
widersprüchlich. Da ist es sehr wohlfeil, hier aufzutreten
und zu sagen: Macht auf Bundesebene etwas anderes!
Vor diesem Hintergrund wäre es, wenn wir Vermögen
des Bundes verkaufen, wenn wir Wohnungen verkaufen,
auch wettbewerbsrechtlich, beihilferechtlich ein Problem bzw. würde uns große Sorgen machen, wenn wir an
dieser Stelle Sonderkonditionen für einzelne Aufgaben
und für einzelne Zwecke anböten.
Sie haben weiterhin behauptet, Frau Kollegin Bluhm,
der Bund hätte das Potenzial, mit den 5 100 Wohnungen
in Berlin die Wohnungspolitik in Berlin aktiv mitzugestalten. Diese 5 100 Wohnungen, die der Bund in Berlin
hält, sind exakt 0,3 Prozent des Wohnungsbestands in
Berlin.
({2})
Wenn Sie mir sagen wollen, dass damit großartig Wohnungspolitik hier in Berlin gemacht werden kann,
({3})
dann geht das am Thema wesentlich vorbei.
({4})
Der Wohnungsmarkt hier ist dramatisch größer.
({5})
Dann setzen Sie in Ihrem Gesetzentwurf noch einen
obendrauf, und das entlarvt Sie, glaube ich, vollends. In
Ihrem Gesetzentwurf wollen Sie regeln, dass Verkäufe
nicht stattfinden dürfen; es sei denn zum Beispiel an besonders geförderte Kommunen oder landeseigene Gesellschaften.
({6})
- Die machen sozialen Wohnungsbau wie andere auch,
aber dies - so hat es Berlin für sich entschieden - in
Form einer Aktiengesellschaft, also gewinnorientiert.
Und dann wollen Sie sie bezüglich des vom Bund gekauften Wohnraums vom Weiterveräußerungsverbot
ausnehmen. Das heißt, dass die landeseigene Gesellschaft mit dem ehemaligen Bundesvermögen Gewinn
machen kann. Und dann schreiben Sie noch - weil Ihnen
selbst das ja bewusst ist -, dass dem Bund ein Vorkaufsrecht eingeräumt wird, und zwar zu dem Preis, der am
Markt erzielt würde. Sie glauben doch selbst nicht, dass
wir am Anfang vergünstigt Grundstücke an diese Aktiengesellschaft übertragen und hinterher, wenn ein Gewinn am Markt erzielt werden kann, ein Vorkaufsrecht
ausüben, über das wir die Gewinnmarge auch noch zahlen. Da würden wir zu Recht nicht nur vom Bundesrechnungshof, sondern wohl zuallererst auch von Ihnen
angegriffen, dass wir das Vermögen des Bundes verschleudert hätten. Das, meine lieben Damen und Herren,
kann doch nicht Ziel der Politik des Bundes sein, die auf
Nachhaltigkeit gerade für die Schichten ausgerichtet ist,
für die Sie vorgeben zu kämpfen, so etwas zu unterstützen.
Im Übrigen unterstützt der Bund die Kommunen mit
seiner Politik aktiv. Wir haben das Erstzugriffsrecht beschlossen, das es den Ländern und Kommunen ermöglicht, Immobilien gerade nicht zu Konditionen des freien
Marktes zu erwerben, sondern zum Gutachterwert. Sie
selbst haben ja das Beispiel Großgörschenstraße angesprochen. Da hat die landeseigene gewinnorientierte Gesellschaft einen Preis geboten, der deutlich unter dem
Verkehrswert lag. Klar, sie will - das muss sie nach dem
Gesetz ja auch - damit Gewinn machen. Wir haben gesagt: Nein, das geht nicht; wir verlagern diese Aufgabe
nicht. Wir führen stattdessen das Erstzugriffsrecht ein.
Dieses Erstzugriffsrecht erweist sich bundesweit als
hervorragendes Modell - einige Hundert Gemeinden haben davon schon Gebrauch gemacht -, und auch der designierte Bürgermeister der Stadt Berlin, der Stadtentwicklungssenator Müller, hat jetzt einen solchen Antrag
gestellt, weil er erkannt hat, dass es die einzig vernünftige Lösung ist, wenn man vom Preis des freien Marktes
weg will, zum Gutachterwert zu erwerben. Deswegen
hat er dem Bund angeboten, alle infrage kommenden
Berliner Flächen zu erwerben. Diese Wohnungsbaupolitik ist, glaube ich, für die Kommune, für das Land Berlin, genau richtig. Wir als Bund werden dieses Bemühen
unterstützen.
Kollege Brackmann, gestatten Sie eine weitere Bemerkung oder Zwischenfrage der Kollegin Paus? - Ich
mache aber gleich darauf aufmerksam, dass das die
letzte Zwischenfrage ist, die ich zumindest aus Ihren
Reihen zulassen werde.
Dann lasse ich sie besonders gerne zu.
({0})
Herr Brackmann, Sie haben gerade ein bisschen insinuiert, dass die landeseigene Berliner Gesellschaft einen
Preis geboten hätte, über den sie einen hohen Gewinn
und der Bund einen hohen Verlust machen würde. Das
möchte ich richtigstellen: Ich glaube, wir beide wissen,
dass die Gesellschaft einen an den Bestandsmieten und
am Mietpreisspiegel orientierten Preis geboten hat. Es
ging nicht darum, Gewinn zu machen. Das Wertgutachten hatte offenbar eine andere Grundlage.
Sind Sie nicht mit mir zusammen der Meinung, dass
es richtig wäre - gerade auch mit Blick darauf, dass wir
in den nächsten Wochen über das Thema Mietpreisbremse und die Frage der Verdrängung und Gentrifizierung usw. diskutieren werden -, wenn auch für den Bund
der Standard gelten würde, ein Objekt dann nicht zu verkaufen, wenn feststeht, dass alle Mieterinnen und Mieter, die sich derzeit in diesem Mietobjekt befinden, das
Objekt nach dem Verkauf definitiv verlassen müssen?
Außerdem würde mich in diesem Zusammenhang
Folgendes interessieren: Ich kenne keinen Experten, der
nachvollziehen kann, wie dieses Wertgutachten auf einen Wert von 7,1 Millionen Euro für diese Immobilie
gekommen ist. Wir haben mehrfach angefragt, ob wir
dieses Wertgutachten bekommen können. Der zuständige Staatssekretär hat im Bauausschuss ebenfalls gesagt, dass er mehrfach versucht hat, dieses Wertgutachten aus dem zuständigen Ministerium zu erhalten, um
sich ein eigenes Bild darüber machen zu können. Denn
niemand kann verstehen, wie dieses Wertgutachten auf
den Betrag von 7,1 Millionen Euro kommt. Bisher liegt
uns das nicht vor.
({0})
Wenn Sie jetzt darauf rekurrieren, dass das richtig sei
und dass andere das hätten anerkennen müssen, dann
frage ich Sie: Können Sie mir erklären, wie diese
7,1 Millionen Euro zustande kommen und ob das ein adäquater Preis ist? Wir jedenfalls können das nicht nachvollziehen und sagen: Es ist kein adäquater Preis, und es
ist richtig gewesen von der landeseigenen Gesellschaft
- nicht aus Gewinninteresse heraus, sondern im Sinne
und zum Schutz der Mieterinnen und Mieter -, diese
7,1 Millionen Euro nicht zu akzeptieren, sondern einen
angemessenen Kaufpreis zu fordern, der so hoch ist, dass
die Menschen, die jetzt dort wohnen, dort auch tatsächlich wohnen bleiben können.
Erster Punkt. Zu dem Gutachten selbst kann ich Ihnen
natürlich nichts sagen, weil es ein laufendes Verfahren
ist
({0})
und ich im Übrigen das Gutachten im Detail auch nicht
kenne. Es wäre auch unredlich, in einem laufenden Verfahren ein solches Gutachten einigermaßen öffentlich
auf den Markt zu geben. Aber ganz falsch, Frau Kollegin, kann das Gutachten nicht sein. Nehmen wir einmal
die anderen öffentlich gewordenen oder zumindest in
unseren Kreisen öffentlich gewordenen Zahlen: Einmal
haben wir diese 7,1 Millionen Euro laut Gutachten; dann
haben wir das millionenbeschwerte, aber geringere Angebot - die Zahl nenne ich jetzt einmal nicht -,
({1})
das die landeseigene Berliner Gesellschaft abgegeben
hat; und schließlich einen Wert, der auf dem Markt erzielt werden könnte ({2})
er scheint ja bekannt zu sein; er soll beim 39-Fachen des
Mietwertes liegen -, der also, wenn ich das einmal hochrechne, bei 9 Millionen Euro liegt. Wenn nun der im
Gutachten genannte Wert genau in der Mitte zwischen
Höchstwert und dem niedrigeren Angebot liegt, spricht
das zumindest dafür, dass das Gutachten nicht völlig daneben liegt. Deswegen habe ich auch gar keinen Grund,
dieses Gutachten anzuzweifeln.
({3})
Damit sind wir beim nächsten Punkt. Wo wird eigentlich wie Wohnungsbaupolitik gemacht? Ich hatte bereits
gesagt, dass wir nicht nur Geld zur Verfügung stellen
- ich habe diese 518 Millionen Euro genannt, die wir
2015 überweisen -, sondern trotz der bewussten Entscheidung, eine Aufgabenteilung vorzunehmen und die
Wohnungsbaupolitik in die Zuständigkeit der Länder
und Kommunen zu geben, den Kommunen und Ländern
auch eine ganze Reihe von Handlungsoptionen mit auf
den Weg gegeben. Es gibt Umwandlungsverbote,
Milieuschutzsatzungen und Zweckentfremdungsverbote.
Vor einigen Monaten haben wir hier mit der Mietpreisbremse auch noch eine weitere Möglichkeit geschaffen.
Es ist also ein großes Repertoire, das den Kommunen
und Ländern zur Verfügung steht, um in ihrer Zuständigkeit aktiv Wohnungsbau- und Mietpreispolitik zu betreiben.
({4})
Das sollte man als allererstes nutzen, um Einfluss zu
nehmen.
({5})
Außerdem sollte man sich darum bemühen, den Bau von
Wohnungen so voranzutreiben, dass er sich lohnt - auch
in großen Städten und nicht nur auf dem flachen Land -,
({6})
und so für den entsprechenden Zuwachs an Wohnungen
sorgen.
Ein weiterer Punkt betrifft uns alle gemeinsam. Hier
geht es um Haushaltswahrheit und Haushaltsklarheit.
({7})
Wo kämen wir hin - ich könnte damit im Zweifel noch
leben und meine Kolleginnen und Kollegen im Haushaltsausschuss auch -, wenn wir im Haushaltsausschuss
das, was Sie für die Wohnungspolitiker fordern - es
wäre ein Leichtes, die Umweltpolitiker zu ermuntern,
uns aufzufordern, dass wir auch noch etwas Umweltpolitisches machen und Ähnliches -, für uns in Anspruch
nehmen würden? Dann würden all diese inhaltlichen
Fragen in den Haushaltsausschuss verlagert und wir
würden entscheiden, wer wo etwas günstiger bekommt.
({8})
- Der Kollege Dr. Krüger lacht schon. Wir haben da also
ein ähnliches Verständnis. - Wir würden uns also nicht
zwingend dagegen wehren, aber es wäre unkorrekt; denn
es gäbe dann keine Haushaltswahrheit und keine Haushaltsklarheit mehr. Aber so wie das Verständnis der Arbeit in diesem Parlament ist, auch völlig zu Recht ist, ist
es unsere Aufgabe im Haushaltsausschuss, das Vermögen zu erhalten und zu mehren,
({9})
damit an anderer Stelle die Fachpolitiker mit den Mitteln, die das Parlament ihnen zur Verfügung stellt, in den
einzelnen Bereichen, für die sie da sind, das Optimale
tun können.
({10})
- Auch wenn Sie sich nicht zu Wort gemeldet haben:
Die 100 Millionen Euro für die Konversionsflächen haben einen völlig anderen Hintergrund, nämlich den
Kommunen vor dem Hintergrund der Lasten, die durch
die Konversion entstehen, zu helfen, umzustrukturieren.
Aber das ist keine Politik, die inhaltlich dazu führt, dass
wir Kommunen überfordern, überfrachten oder Ähnliches.
({11})
Nach dem Baurecht liegen alle diese Zuständigkeiten
bei den Kommunen. Daran will diese Koalition auch
nichts ändern; denn das ist gut, das ist richtig so, und das
lenkt die Entscheidungskraft dahin, wo von ihr Gebrauch gemacht werden muss.
({12})
Das ist klassische kommunale Selbstverwaltung.
({13})
Deswegen - damit möchte ich heute schließen - ist es
nicht der richtige Weg, über Verbilligung von Grundstücken, über Verbilligung von Wohnungsverkäufen und
über Subventionierung des Preises den Versuch zu machen, mittelbar eine Art Mietpreisbremse einzuführen.
Wir sind der Meinung: Wenn man das machen will, dann
muss das so gemacht werden, dass man die vielfältigen
Möglichkeiten der Schaffung neuen Wohnraums wahrnimmt. Dabei unterstützt der Bund. Bei der Attraktivitätssteigerung von Wohnraum unterstützt der Bund. Die
Neuschaffung von Wohnungen kann nach Bau- und Planungsrecht nur von den Gemeinden gemacht werden.
Wenn jeder, der daran beteiligt ist, gemeinsam mit uns
an einem Strick ziehen würde, dann würden wir für die
Mieter in unserem Land viel mehr bewegen als mit solchen Vorlagen, die nichts anderes sind als Schaumschlägerei.
Danke schön.
({14})
Das Wort hat der Kollege Christian Kühn für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Brackmann, erst einmal stelle ich fest, dass
Sie 17 Minuten Zeit hatten, dass Sie eine reine haushalterische Rede gehalten haben und heute kein Wohnungspolitiker und kein Baupolitiker der Union zu einem zentralen Thema der Bau- und Wohnungspolitik spricht.
Das zeigt, welchen Stellenwert Bauen und Wohnen bei
der Union hat, nämlich gar keinen.
({0})
Zweitens stelle ich fest, dass Sie die Verbindung zwischen dem Kaufpreis für den Erwerb von Immobilien
und den Folgen auf den Wohnungsmärkten zumindest
ignorieren. Ich finde, dies ist eine Grundvoraussetzung,
um Wohnungspolitik betrachten zu können. Liegenschaftspolitik ist im Kern Wohnungs- und Baupolitik.
Das können Sie auch mit Ihrer 17-minütigen Rede, die
Sie gehalten haben, nicht einfach wegwischen.
({1})
Ich will Ihnen weiterhin sagen: Wenn Sie als Union
bei der Liegenschaftspolitik in der Form weitermachen
und rein auf die Gewinnmaximierung setzen, werden Sie
in der Wohnungs- und Baupolitik am Ende versagen und
nichts Richtiges hinkriegen.
Ich sage Ihnen außerdem: Bei den Konversionsliegenschaften machen Sie ja etwas für die Kommunen,
weil Sie die Kommunen da unterstützen wollen. Aber es
gibt auch andere Handlungsfelder bzw. Probleme der
Kommunen, die man dringend angehen muss, beispielsweise die angespannten Wohnungsmärkte und die Herausforderung, dass Kommunen jetzt viele Flüchtlinge
unterbringen müssen und händeringend nach Flächen suchen. Überall dort müssen Sie als Bund das Instrument
Bundesanstalt für Immobilienaufgaben einsetzen. Das
tun Sie nicht. Deswegen versagen Sie bei diesen Aufgaben und machen im Kern, so finde ich, eine neoliberale
Liegenschaftspolitik statt eine verantwortliche Bau- und
Wohnungspolitik.
({2})
Bei der Großgörschenstraße setzen Sie - das sage ich
Ihnen auch - auf den Höchstpreis. Das ist skandalös. Gerade die Großgörschenstraße liegt in einem Wohnungsmarkt, der einer der dynamischsten in ganz Deutschland
ist. Da heizt der Bund nun mit dem Verkauf zum absoluten Höchstpreis die Spirale, die dort entsteht, noch weiter an. Einerseits lassen Sie sich heute als Große Koalition im Bundesrat als Anwälte der kleinen Mieterinnen
und Mieter feiern und sagen: „Wir tun doch etwas dafür“, andererseits heizen Sie solche Preisspiralen mit Ihrer Liegenschaftspolitik an. Das passt nicht zusammen.
So wird die Mietpreisbremse, die sowieso schon durchlöchert ist, zu einer reinen Alibiveranstaltung. So werden
Ihre Wohnungspolitik und ihre Baupolitik zu einer Alibiveranstaltung.
({3})
Ich fordere Sie deswegen auf: Ändern Sie § 1 BImAGesetz. Nehmen Sie dort städtebauliche Kriterien hinein.
Nehmen Sie wohnungspolitische Ziele hinein, und ändern Sie die Haushaltsordnung. Lassen Sie die Liegenschaftspolitik nicht zu einem reinen Gnadenakt werden.
Ich habe gehört, es soll ein Spitzengespräch wegen der
Großgörschenstraße geben. Ich finde, Liegenschaftspolitik darf nicht davon abhängen, ob ein Finanzminister den
Daumen nach oben hält oder nach unten senkt. Es muss
vielmehr um strukturelle Fragen, um städtebauliche Fragen und um wohnungsbaupolitische Fragen gehen.
({4})
In unserem Antrag fordern wir ein umfassendes Konzept zur Liegenschaftspolitik, das zeigt, wie auf der einen Seite haushalterische Fragen und auf der anderen
Seite strukturelle wie städtebauliche und wohnungspolitische Fragen berücksichtigt werden können und wie ein
effektiver Mieterschutz gewährleistet werden kann. Daran sollten Sie sich orientieren.
Ihre Rede, Herr Brackmann, hat ganz klar gezeigt,
dass Sie sich in der Großen Koalition überhaupt nicht einig sind. Sie sind sich auch in der Union nicht einig; das
merke ich, wenn ich mit Ihren Kollegen aus Berlin spreche.
({5})
Sie versagen einfach in der Wohnungspolitik und der
Liegenschaftspolitik in Gänze.
Christian Kühn ({6})
Wir haben auch ein Verkaufsmoratorium beantragt.
Das wäre das Geringste, das Sie tun könnten, um die
Wohnungsmärkte zu entspannen. Auch das tun Sie nicht.
Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen haben die
Dinge in ihren Haushaltsordnungen geändert. Dort werden heute auch Konzeptvergaben und die Berücksichtigung städtebaulicher Kriterien ermöglicht. Daran sollte
sich der Bund orientieren. In diesen Ländern wird eine
gute Bau- und Wohnungspolitik gemacht - auf Bundesebene leider nicht, weil Sie von der Union es blockieren.
({7})
Ich höre von Ihnen immer: Die Haushaltsordnung
steht dem Ganzen entgegen. - Haben Sie doch einfach
mal ein bisschen Mut! Wir hier im Parlament können die
Haushaltsordnung ändern. Das Europarecht steht dem
auch nicht entgegen; das hat uns der Wissenschaftliche
Dienst des Bundestages bestätigt.
({8})
Ich sage Ihnen ganz klar: Sie können heute hier in der
Großen Koalition Farbe bekennen und sich entscheiden,
ob Sie eine andere Liegenschaftspolitik machen wollen
oder eben nicht. Ich glaube, Sie werden wieder sagen:
Nein, wir lassen alles so, wie es ist. - Damit versagen
Sie in der Liegenschaftspolitik. Damit lassen Sie die
Mieterinnen und Mieter in Deutschland im Regen stehen. 40 000 Wohnungen gehören dem Bund, gerade in
Gebieten mit angespannten Wohnungsmärkten; das ist
mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Damit können Sie den Mieterinnen und Mietern etwas geben und
auch wirklich dafür sorgen, dass sie weiterhin zu bezahlbaren Preisen vernünftig wohnen können. Das wollen
Sie nicht. Insofern versagen Sie hier.
Sie von der Großen Koalition versagen in der Liegenschaftspolitik, und Sie versagen in der Wohnungsbaupolitik leider in Gänze.
Danke schön.
({9})
Das Wort hat der Kollege Dr. Hans-Ulrich Krüger für
die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Für uns Sozialdemokraten ist es gute Tradition, bezahlbaren Wohnraum zu schaffen, auch und
gerade für Menschen, die nicht viel Geld im Portemonnaie haben. Es ist nicht in Ordnung, wenn viele Menschen 50 Prozent und mehr ihres Nettogehaltes für einigermaßen vernünftiges Wohnen ausgeben müssen.
Gegen diese Entwicklung haben wir bereits einiges getan. So haben wir im Kabinett die Mietpreisbremse beschlossen; sie wurde eben schon angesprochen. Damit
wird ab 2015 die Miete in angespannten Märkten nur
noch maximal 10 Prozent über der ortsüblichen Vergleichsmiete liegen dürfen.
Im Haushalt 2014 haben wir bereits die Städtebauförderungsmittel von 455 auf 700 Millionen Euro erhöht.
Damit kann der Investitionsbedarf bei den vordringlichen städtebaulichen Innovationsprojekten in den Kommunen abgedeckt werden. Darüber hinaus entwickeln
wir das Programm „Soziale Stadt“ mit 150 Millionen
Euro zum Leitprogramm der sozialen Integration. Damit
unterstützen wir die Stabilisierung und Aufwertung
strukturschwacher Stadt- und Ortsteile.
Nun liegen uns heute hier ein Gesetzentwurf der Linken und Anträge der Grünen und der Linken vor, bei denen man nach Lektüre den Eindruck gewinnen kann,
dass bezahlbarer Wohnraum deshalb knapp wird, weil
die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben ihre gesetzliche Pflicht wahrnimmt und nicht mehr benötigte bundeseigene Wohnungen zum entsprechenden Marktwert verkauft.
Fakt ist in der Tat, dass die BImA als zuständige Bundesbehörde für die Verwertung der vom Bund nicht mehr
benötigten Bundesliegenschaften - zurzeit bundesweit
circa 70 000 Wohnungen - eine besondere Verantwortung für den Immobilien- und den Wohnungsmarkt sowie die regionale Entwicklung hat. Dieser Verantwortung kommt sie im Rahmen ihres gesetzlichen Auftrags
nach, sprich: nach dem geltenden Haushaltsrecht veräußert sie zum vollen Verkehrswert.
Hierbei ist es auch heute schon in der Regel gute Tradition, dass die BImA die zu veräußernden Wohnungen
entsprechend § 194 Baugesetzbuch zuerst den Kommunen und deren Wohnungsbaugesellschaften aufgrund einer entsprechenden Wertermittlung zum Verkehrswert
anbietet. Hier ein Moratorium zu fordern, also ein Veräußerungsverbot, wie es die Anträge der Linken und der
Grünen tun, ist meines Erachtens ein falscher Ansatz.
Gerade einmal 0,3 Prozent des gesamten Wohnungsbestandes - die Zahl sprach eben schon jemand an - gehören der BImA in Berlin, 99,7 Prozent eben nicht. Aber
wir müssen und sollen an alle betroffenen Mieterinnen
und Mieter denken. Da ist die Fokussierung nur auf einen kleinen Teil der betroffenen Menschen eben nicht
die Lösung, bei der wir haltmachen dürfen. Will man
nämlich wirklich helfen, müssen die Instrumente, die
Kommunen und Länder haben, auch genutzt werden.
Gegebenenfalls müssen diese Instrumente geschaffen
werden.
Eine Zweckentfremdungsverbotsverordnung, die in
aller Regel die Umwandlung in Ferienwohnungen kontrolliert, ist in diesem Zusammenhang sicherlich hilfreich. Sie bleibt aber nur Stückwerk, wenn sie nicht von
einer Umwandlungsverordnung flankiert wird, mit der
die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnung vor
allen Dingen in Milieuschutzgebieten genehmigungspflichtig wird.
({0})
Auch sollte man die Rechte und Möglichkeiten des
Baugesetzbuches nutzen. So schreibt zum Beispiel der
Ihnen sicherlich bekannte § 172 Baugesetzbuch die Erhaltung baulicher Anlagen und der Eigenart von Gebäuden vor. Wörtlich heißt es dort - ich zitiere -:
Die Gemeinde kann in einem Bebauungsplan oder
durch eine sonstige Satzung Gebiete bezeichnen, in
denen
1. zur Erhaltung der städtebaulichen Eigenart …
2. zur Erhaltung der Zusammensetzung der Wohnbevölkerung … oder
3. bei städtebaulichen Umstrukturierungen …
der Rückbau, die Änderung oder die Nutzungsänderung … der Genehmigung bedürfen.
Sie sehen also: Der Gesetzgeber, liebe Kolleginnen
und Kollegen, hat genügend Instrumente, um den Patienten „mangelnder Wohnraum“ mit bezahlbaren Mieten
entsprechend versorgen zu können.
({1})
Fazit: Auf der einen Seite haben wir die Kommunen
und die Länder, die die bestehenden gesetzlichen Instrumente des Baugesetzbuches nutzen bzw. diese per Umwandlungsverordnung schaffen müssen. Auf der anderen
Seite haben wir den Bund, der mit Maßnahmen der Städtebauförderung, der Förderung des sozialen Wohnungsbaus, also mit einer aktiven Wohnungspolitik, diese Aufgabe unterstützt.
In diesem Zusammenhang spielt die BImA die ergänzende wichtige Rolle, die man diskutieren und gegebenenfalls auch modifizieren darf. Ich verweise hier bereits
auf einen Antrag der SPD aus der letzten Legislaturperiode, und zwar vom 12. Juni 2012, in dem bereits gefordert wurde, die Tätigkeit der BImA stärker als bisher an
strukturpolitischen Zielsetzungen auszurichten.
({2})
Einen ersten Schritt, liebe Kolleginnen und Kollegen,
haben wir mit der Regelung im Koalitionsvertrag getan,
indem wir 100 Millionen Euro bereitgestellt haben, um
eine verbilligte Abgabe von Konversionsflächen an
kommunale Träger zu ermöglichen.
Hier müssen wir weiterarbeiten, und hier müssen wir
Akzente setzen - in dem Bewusstsein, dass wir als Bund
die Aufgabenerfüllung der Länder und Kommunen zwar
unterstützen, aber nicht ersetzen können.
Ich danke Ihnen.
({3})
Der Kollege Klaus Mindrup hat ebenfalls für die
SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es ist gut, dass wir heute über Liegenschaftspolitik reden. Als langjähriger Kommunalpolitiker habe
ich mich damit natürlich schon beschäftigt.
Ich bin im Frühjahr nach Schöneberg gefahren, als
mich die betroffenen Mieter dorthin eingeladen hatten,
und habe das Gespräch gesucht. Wenn ich über die Liegenschaftspolitik rede, denke ich zuallererst an diese
Menschen. Ich verstehe aber auch, dass wir über Zahlen
reden müssen, wenn wir über Liegenschaftspolitik sprechen. Das möchte ich dankend aufgreifen.
Laut der Bilanz der BImA lag der Wert der Grundstücke und der Gebäude, die sie verkaufen will, Ende 2013
bei 2 875 273 105,53 Euro. Das ist der geplante Erlös
dessen, was die BImA laut Bilanz insgesamt über die
Jahre veräußern will. Sie hatte im Jahr 2013 einen Umsatz von 4,8 Milliarden Euro gemacht. Allerdings stammten davon 4,2 Milliarden Euro aus Vermietung und Verpachtung und mit 440 Millionen Euro nur 9 Prozent aus
dem Verkauf von Liegenschaften. An den Bundeshaushalt wurden 2,8 Milliarden Euro abgeführt. Das ist
sechsmal so viel, wie aus Verkäufen eingenommen
wurde.
Warum nenne ich diese Zahlen hier? Manchmal hat
man in der Diskussion den Eindruck, dass Wohl und
Wehe des Bundeshaushalts an den Verkaufserlösen der
BImA hängt und dass der Bundeshaushalt, wenn wir
nicht zum Höchstpreis veräußern, an dieser Stelle ein
Problem bekommt. Das ist offenbar eine deutliche Übertreibung.
({0})
Kommen wir nun zurück zu unseren Berliner Nachbarn, den Mieterinnen und Mietern der Katzlerstraße/
Großgörschenstraße. Sie haben Angst, dass sie aus ihren
Wohnungen verdrängt werden.
({1})
Diese Sorge ist auch absolut berechtigt; denn in
Deutschland hat sich nicht nur ein grauer Kapitalmarkt,
sondern auch ein grauer Baumarkt entwickelt. Es ist Praxis, dass solche Häuser rücksichtslos und - was mindestens genauso schlimm ist - erfolgreich entmietet werden,
um dann die Wohnungen als Eigentumswohnungen zu
veräußern. Hier ist es Aufgabe der Politik, auf allen Ebenen tätig zu werden.
({2})
An dieser Stelle muss ich die CSU loben. Sie hat in
Bayern eine Umwandlungsverordnung beschlossen, sodass man nicht mehr einfach ohne Genehmigung Mietwohnungen in Eigentumswohnungen umwandeln darf.
({3})
In der Pressemitteilung der Bayerischen Staatskanzlei
vom 4. Februar 2014 heißt es wörtlich:
Damit setzen wir nunmehr um, was wir vor den
Landtagswahlen angekündigt haben und was im
vergangenen Jahr am Widerstand der FDP gescheitert war.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sehe die FDP
hier im Bund nicht mehr. Ich kann Ihnen aber sagen: Die
SPD steht auf jeden Fall an der Seite derer, die eine soziale und zugleich wertkonservative Politik machen wollen.
({4})
Kollege Mindrup, gestatten Sie eine Bemerkung oder
Frage der Kollegin Lötzsch?
Ja, bitte.
Herzlichen Dank, Herr Kollege. Ich will eine Zwischenbemerkung machen.
Ich hoffe, dass Sie in der SPD miteinander kommunizieren. Falls Sie nicht miteinander kommunizieren sollten, darf ich Ihnen mitteilen, dass wir im Haushaltsausschuss - Herr Kühn, dort werden viele Fragen beraten,
die uns alle betreffen, und darum können sich Haushälter
auch zu diesen Fragen äußern; das nur als kleine Nebenbemerkung - über das Moratorium gesprochen haben.
Der Vertreter der SPD, Johannes Kahrs, hat mehrmals
gesagt: Leute, lasst uns diesen Antrag verschieben, wir
kriegen schon eine gute Lösung hin.
Nach zweimaligem Verschieben wurde das Thema
auf die Tagesordnung gesetzt, und wir haben über das
Moratorium abgestimmt. Die Vertreter der Koalition haben dagegen gestimmt. Die heldenhaften Berliner SPDAbgeordneten und die heldenhaften Berliner CDU-Abgeordneten, die der Berliner Presse erzählen, dass sie alles tun würden, um die Mieterinnen und Mieter zu unterstützen, sind einfach gegangen, weil sie sich an der
Abstimmung nicht beteiligen wollten.
Es geht hier um die Frage der politischen Ehrlichkeit.
Sie rennen in Berlin durch die Gegend und erzählen, wie
man den Bund beeinflussen wolle, wie man sich gegenüber dem Bundesfinanzministerium eingebracht habe.
Das Bundesfinanzministerium hat mir übrigens mitgeteilt, dass ihm ein Brief der Berliner Abgeordneten nicht
vorliegt.
Seien Sie doch ehrlich! Sagen Sie, Sie können sich
nicht durchsetzen, Sie wollen sich nicht durchsetzen.
Tun Sie hier nicht so, als stünden Sie auf der Seite der
Mieterinnen und Mieter. Oder sagen Sie, Sie wollen eine
entsprechende Regelung endlich umsetzen. Dann sorgen
Sie aber auch dafür, dass Ihre Fraktionskollegen entsprechend abstimmen. Ich finde, so geht das nicht. Das ist
unehrlich gegenüber der Öffentlichkeit.
({0})
Werte Kollegin, wir haben in Berlin ein Problem mit
der Glaubwürdigkeit. Diese Glaubwürdigkeit hängt auch
mit der rot-roten Koalition in Berlin zusammen, die
nämlich keine alternative Liegenschaftspolitik hinbekommen hat; die haben wir jetzt erstaunlicherweise mit
den Kollegen von der CDU hinbekommen. Als Sie noch
mit uns regiert haben, hatten wir die Politik des Höchstpreises. Das habe ich damals kritisiert.
({0})
- Entschuldigung. Ich bin Berliner SPD-Mitglied und
auch Landesvorstandsmitglied. Mir wurde immer gesagt: Wenn die Linke in Berlin Höchstpreispolitik macht,
dann stehst du ja links von den Linken. Wie soll man so
etwas durchsetzen? Wo stehst du eigentlich?
Es ist doch vernünftige Politik, dass man nicht alles
zum Höchstpreis veräußert. Wir sind an dem Thema
dran, Frau Lötzsch. Die SPD-Fraktion hat am Dienstag
einstimmig den klaren Beschluss gefasst, dass wir eine
andere Liegenschaftspolitik im Bund haben wollen.
({1})
Für uns ist ganz entscheidend, dass wir vorbildlich handeln.
({2})
Der Bund muss vorbildlich sein.
Wir haben das Bündnis für bezahlbares Bauen und
Wohnen ins Leben gerufen. Wir haben uns mit der
Union auf die Mietpreisbremse verständigt. Die ist aber
noch nicht gesetzlich umgesetzt. Herr Brackmann, machen wir uns doch nichts vor: Wenn die Mietpreisbremse
Gesetzeskraft hat, reduziert das logischerweise den Ertragswert der Immobilien, die in Gebieten mit angespannter Wohnraumlage veräußert werden sollen. In
Berlin wurde dies von den städtischen Wohnungsbaugesellschaften mit dem Mietenbündnis bereits vorweggenommen. Das heißt, es kann kein so hoher Preis erzielt
werden. Wenn Ihre Kolleginnen und Kollegen in Berlin
der Umwandlungsverordnung zustimmen würden, dann
würde uns das noch weiterbringen; denn das würde wiederum den Wert senken.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Paus?
Gerne.
Da Sie gerade gesagt haben, dass Sie sich in der SPDBundestagsfraktion intensiv mit dem Thema auseinandersetzen, dass das Bieterverfahren zur Großgörschenstraße abgeschlossen ist und dass damit zu rechnen ist,
dass das diesem Hause in den nächsten Wochen vorliegt,
frage ich: Können Sie uns auch mitteilen, wie die Situation hinsichtlich der Großgörschenstraße konkret aussieht? Können Sie uns heute hier sagen, dass die Häuser
in der Großgörschenstraße nicht zum Höchstpreis verkauft werden? Wie ist die Beschlusslage der SPD-Fraktion in dieser Frage?
Das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich muss hier ganz
klar sagen: Wir haben einen Koalitionsvertrag, und im
Augenblick haben wir noch keine geänderte Grundlage.
Darauf komme ich im weiteren Verlauf meiner Rede
aber noch zu sprechen.
Was für mich persönlich wichtig ist - das ist auch
noch einmal ein Appell an die Kolleginnen und Kollegen
aus dem Bundesfinanzministerium -, ist Folgendes: Man
sollte vor der Einführung der Mietpreisbremse keinen
Schlussverkauf von Bundesimmobilien vornehmen. Das
ist ganz wichtig; denn die Spekulationsökonomie ist ein
wenig wie eine griechische Tragödie: Man weiß schon
am Anfang, dass es am Ende schiefgeht.
Wir als SPD wollen eine andere Liegenschaftspolitik.
Wir wollen, dass bei Veräußerungen auch die städte-,
wohnungs- und strukturpolitischen Ziele im Blick behalten werden können. Wir wollen Konzeptverfahren, und
zwar zum Festpreis. In der Mitteilung der EU-Kommission vom 10. Juli 1997 ist klar festgelegt, dass man das
machen kann, wenn man will. Vor allen Dingen kann
man das machen, wenn man ein klares wohnungspolitisches Ziel, hier: bezahlbare Mieten, hat.
Genauso kann man vorgehen, wenn es um die dringend notwendige Unterbringung von Flüchtlingen geht.
Dann muss man nicht zum Höchstpreis verkaufen. Das
ist auch finanzpolitisch sinnvoll. Es macht doch keinen
Sinn, auf der einen Seite Wohnungen teuer zu veräußern
und auf der anderen Seite einen viel höheren Aufwand
zu betreiben und viel mehr Geld auszugeben, um neuen
Wohnraum zu schaffen und darüber hinaus auch noch
Grundsicherungsleistungen und Wohngeld zu zahlen.
Wenn man das nicht ganzheitlich sieht, hält man sich
eben auch nicht an das Prinzip von Haushaltsklarheit
und Haushaltswahrheit. Diese Art der Kreislaufwirtschaft ist wirklich unsinnig: Man kann doch nicht auf der
einen Seite das Geld einnehmen, das man auf der anderen Seite wieder ausgibt.
Wir reden hier immer von der schwarzen Null. Diese
schwarze Null muss nachhaltig sein. Sie darf nicht mit
hohen Folgekosten erkauft werden. Das würde uns nämlich teuer zu stehen kommen. Hohe Folgekosten entstehen, wenn man nicht investiert oder ohne Augenmaß
Vermögen aus der Hand gibt.
Der Koalitionsvertrag bietet Orientierung. Seine
Überschrift lautet: „Deutschlands Zukunft gestalten.“
Gestalten müssen wir auch in der Bau- und Liegenschaftspolitik. Das Streben nach Nachhaltigkeit ist das
richtige Motiv. Wir müssen den Nachhaltigkeitsgedanken dort stärker einbeziehen. Wir müssen ökologisch,
wirtschaftlich und sozial handeln. Dieser Ansatz zieht
sich auch durch den Koalitionsvertrag.
Insofern ist ein Moratorium keine Lösung. Wir müssen schauen - diesbezüglich hoffe ich auf weitere konstruktive Gespräche mit der Union, vor allen Dingen mit
den Baupolitikern -, dass wir zu einer Baupolitik kommen, die dem Prinzip der Nachhaltigkeit Rechnung trägt.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 18/2882 und 18/3044 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Haushaltsausschusses auf Drucksache 18/2908. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/1952 mit dem
Titel „Sofortiges Moratorium für die Wohnungs- und
Grundstücksverkäufe durch die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/1965 mit dem Titel „Moratorium
beim Verkauf von Wohnimmobilien in Städten mit angespanntem Wohnungsmarkt durch die Bundesanstalt für
Immobilienaufgaben“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der
Unionsfraktion und der SPD-Fraktion gegen die Fraktion Die Linke und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 35 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten HansWerner Kammer, Arnold Vaatz, Ulrich Lange,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Gustav
Herzog, Sören Bartol, Kirsten Lühmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung
zukunftsfest gestalten
Drucksache 18/3041
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur ({0})
Sportausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Vizepräsidentin Petra Pau
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich bitte, die notwendigen Umgruppierungen rasch
vorzunehmen, damit ich die Aussprache eröffnen kann.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundesminister für Verkehr und digitale Infrastruktur,
Alexander Dobrindt.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Schifffahrt ist in der Tat eine der tragenden Säulen der deutschen Volkswirtschaft. Die Grundlage dafür, dass wir eine leistungsfähige Schifffahrt und
leistungsstarke Wasserwege gestalten und erhalten, ist
eine starke und effiziente Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung.
Wir haben mit unserer Prognose für die Güterverkehre in den letzten Monaten sehr deutlich darauf
hingewiesen, dass wir Güterverkehrssteigerungen von
40 Prozent erwarten. Wenn wir diese Güterverkehrssteigerungen, die notwendig sind, um den Wohlstand auch
in Deutschland zu erhalten, auf den Verkehrsträgern abbilden wollen, brauchen wir auch sehr starke und intakte
Wasserstraßen. Die Entlastung von Schiene und Straße
kann nur durch die Kapazitäten der Wasserstraße erfolgen. Deswegen haben wir in unseren ganzen Reformbemühungen der Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung immer dieses Ziel hochgehalten. Die
Leistungsfähigkeit muss am Schluss gesteigert werden.
Eine Reform der Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung darf nicht dazu führen, dass wir am Schluss weniger Kapazitäten auf den Wasserstraßen abbilden. Vielmehr müssen wir mehr Kapazitäten abbilden.
({0})
Deswegen haben wir von der Koalition gleich zu Beginn Grundsätze formuliert, wie man eine Reform der
Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung beschreiben
kann. Ein Grundsatz war, die Regionalität zu erhalten.
Ein weiterer war, die Kompetenz vor Ort zu stärken. Ein
dritter Grundsatz war, die eigenständige Aufgabenerfüllung zu sichern. Diese Grundsätze sind nicht zu jeder
Zeit als oberste Grundsätze einer Reform genannt worden. Lange Zeit hat man auch über andere Möglichkeiten nachgedacht.
({1})
Wir gehen gemeinsam - das war immer unsere Überzeugung - in die Richtung: Stärkung der lokalen Kräfte bei
der Reform der Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung.
({2})
- Der Beifall zeigt, dass wir uns einig sind und dass die
Reform gelungen ist.
({3})
Selten ist mir so viel Applaus in diesem Haus entgegengeschallt wie jetzt gerade.
({4})
Das überrascht mich fast.
({5})
Wir haben in der Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung 14 000 Mitarbeiter. Sie ist eine der größten Bundesbehörden, auf jeden Fall die größte Bundesbehörde
im Bereich der Infrastruktur. Das zeigt auch die Dimension. Die Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung mit
ihren Mitarbeitern ist überall vor Ort in Deutschland vertreten und organisiert überall vor Ort in Deutschland die
Wirtschaftsverkehre. Das zeigt auch ihre Bedeutung für
das ganze Land. Vielleicht gab es auch deswegen diese
intensive Diskussion. 20 Jahre hat es gedauert, eine Reform in ihren wesentlichen Grundzügen zu beschreiben
und jetzt auch umzusetzen. Dass wir dieses Ziel jetzt erreicht haben, ist in der Tat ein sehr gutes Ergebnis.
Die Reform schafft Planungssicherheit für die Wirtschaft, für die Nutzer der Wasserstraßen und für die Beschäftigten der WSV. Die Standorte der bisherigen
39 Wasser- und Schifffahrtsämter bleiben erhalten. Wir
haben Revierverantwortungen gezeichnet. Wir werden
eine stärkere Vernetzung der Standorte innerhalb der Reviere umsetzen. Insbesondere durch diese Vernetzung
innerhalb der Revierstruktur werden der regionale
Gedanke der Reform unterstützt und die lokale Verantwortung vor Ort gestärkt.
In den nächsten Wochen und Monaten wird den künftigen Wasserstraßen- und Schifffahrtsämtern der Prozess
der Reformumsetzung nahegebracht. Ich will ausdrücklich betonen, dass die Konkretisierung der Struktur - angesichts der Breite der WSV dauert eine derartige Umsetzung eine gewisse Zeit - natürlich bedeutet,
fachlichen und organisatorischen Anregungen gegenüber weiter offen zu sein. Wir haben diese Struktur gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen, also mit
den Mitarbeitern der WSV, entwickelt. Dies soll auch in
den nächsten Monaten für den Umsetzungsprozess gelten. Die bessere Idee ist immer der Konkurrent zur guten
Idee. Deswegen sind wir an möglichen Weiterentwicklungen durchaus interessiert.
Wir haben eine organisatorische Aufgabentrennung
- so war es formuliert - von Verkehr und Infrastruktur
geprüft. Wir kamen eindeutig zu dem Ergebnis, dass eine
solche Aufgabenaufteilung mit einer entsprechenden
Ämterstruktur nicht zweck- und zielführend ist. Vorzuziehen ist eindeutig eine Struktur mit größeren Zuständigkeitsbereichen in den einzelnen Revieren. Deswegen
haben wir der Aufgabentrennung von Verkehr und Infrastruktur eine klare Absage erteilt, meine Damen und
Herren.
Wir wollen die Kompetenzen vor Ort stärken. Deswegen ist, was die zentrale Steuerung betrifft, die Zustän6060
digkeit der im Mai vergangenen Jahres eingerichteten
Generaldirektion Wasserstraßen und Schifffahrt richtig
gewesen, und sie bleibt richtig. Diese Zuständigkeit endet aber dort, wo regionale Belange und Kenntnisse
maßgeblich sind. Ich glaube, auch das ist ein deutliches
Bekenntnis zur Stärkung der Funktionsfähigkeit vor Ort.
Wir richten die WSV intensiv nach den spezifischen
Revieranforderungen aus. Damit sichern und fördern wir
die intensive Kooperation zwischen einzelnen Revierverwaltungen und der verladenden sowie der Transportwirtschaft. Wir entsprechen damit zugleich den regional
sehr unterschiedlichen Anforderungen. Das gilt insbesondere für die spezifischen Belange der Küste und der
Seeschifffahrt. Die Organisation und Kontrolle der Verkehrssicherung in der Deutschen Bucht bleiben ebenso
eine vorrangige Vor-Ort-Aufgabe wie die Regelung des
Schiffverkehrs von der Nord- und Ostsee in die deutschen Seehäfen.
Mit der Reform stärken wir die regionale Kompetenz
und den unmittelbaren Revierbezug und sichern kurze
Abstimmungswege zwischen Wirtschaft und Verwaltung.
Meine Damen und Herren, die Verwaltung dient der
Wirtschaft, die Verwaltung dient den Wirtschaftswegen,
und die Verwaltung dient vor allem der Wertschöpfung,
die die Wirtschaft auf diesen Verkehrswegen erbringen
kann. Deswegen kann eine besonders enge Vor-Ort-Abstimmung zwischen Verwaltung und Wirtschaft am besten mit unserem Reviergedanken erreicht werden.
Schleusen, Wehre, Brücken, Pumpen und all das, was
wir an technischen Bauwerken an den Wasserwegen
kennen, brauchen Planung und Betreuung mit einem
großen ingenieurtechnischen Sachverstand. Manchmal
ist nicht nur ingenieurtechnischer Sachverstand, sondern
auch ein erhebliches Maß an Improvisationstalent erforderlich. Das kann die WSV. Das müssen wir auch für die
Zukunft sichern. Das geht nur mit entsprechenden Fachkräften und Planungskapazitäten. Deswegen war es mir
und unserem Haus ein besonders großes Anliegen, im
nächsten Jahr wie auch in diesem Jahr zusätzliche Fachkräftestellen zu erwirken, sodass die notwendige Kompetenz an Ingenieurleistung und Improvisationstalent
nicht verloren gehen.
({6})
Meine Damen und Herren, ich freue mich, dass wir
den Umsetzungs- und Modernisierungsprozess in dieser
sehr konstruktiven Art und Weise gemeinsam mit den
Mitarbeitern und den Interessenvertretungen gestalten
konnten. Das Mitwirkungsverfahren, wie wir es im Einvernehmen mit dem Hauptpersonalrat festgelegt und
schriftlich vereinbart haben, hat dieses harmonische Miteinander gesichert. Ich möchte mich beim Hauptpersonalrat und bei allen Beschäftigten ausdrücklich für die
konstruktive Zusammenarbeit in den letzten Monaten
bedanken.
Wir modernisieren mit dieser Reform nicht nur eine
der größten Flächenverwaltungen unseres Landes, sondern wir stärken damit zugleich die große Bedeutung unserer Wasserstraßen im Transport- und Güterverkehr.
Mit den Mitteln aus dem zusätzlichen Investitionspaket
in dreistelliger Millionenhöhe, die wir in die Wasserstraßen und Schifffahrtswege in dieser Wahlperiode investieren werden, stellen wir klar, dass die Wasserstraßen
beim Investitionshochlauf des Verkehrsministeriums über
alle Transportwege hinweg eine ganz bedeutende Rolle
einnehmen werden.
Gemeinsam schaffen wir es, dass die Wasserstraße für
die Anforderungen der Zukunft fit wird und für den
Transport der Güterverkehre gerüstet ist. Das ist eine
große Reform, nicht nur für die Mitarbeiter, sondern im
Besonderen auch für die deutsche Wirtschaft.
Danke schön.
({7})
Das Wort hat der Kollege Herbert Behrens für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Dobrindt, wenn Sie das, was Sie vorgelegt haben
und jetzt mit einem Antrag der Koalitionsfraktionen unterlegen, als das Ergebnis eines 20-jährigen Prozesses
bezeichnen, dann ist das noch erbärmlicher, als es ohnehin ist. Das ist wirklich entlarvend.
({0})
Eine zweite Anmerkung. Die Improvisationsfähigkeit
der Kolleginnen und Kollegen in der WSV, die Sie ausdrücklich begrüßen, entspringt nicht dem Wunsch, innovativ und improvisierend tätig zu sein, sondern dieses
Improvisieren ist schlicht eine Notwendigkeit, weil teilweise das Personal fehlt, weil die Ausstattung fehlt, weil
entsprechende Rahmenbedingungen nicht gegeben sind.
Diese Notwendigkeit, zu improvisieren, möchte ich
gerne durch eine vernünftige WSV-Reform vermeiden.
({1})
Mit dem Auftrag, die WSV umzubauen, ist die Androhung verbunden gewesen: Wir machen aus der WSV
als einer Ausführungsverwaltung eine Gewährleistungsverwaltung. All das, was an Kompetenzen abzugeben
ist, sollte abgegeben werden. Nur noch geringe Zuständigkeiten sollten in den Händen der WSV-Beschäftigten
bleiben.
Sechs Berichte hat es bedurft, um über die Ziele des
WSV-Reformprozesses zu berichten. Wir haben mindestens 20 Debatten hier im Plenum und im Ausschuss dazu
geführt, um uns mit dieser Frage auseinanderzusetzen.
Die Kolleginnen und Kollegen selbst haben sich mit Protestaktionen von Schweinfurt bis nach Wilhelmshaven
eingebracht, um auf ihr Anliegen aufmerksam zu machen. Es hat Streiks bedurft, um auf die Frage der Beschäftigungssicherung hinzuweisen, ohne dass es letztendlich zu einem Tarifvertrag gekommen wäre, weil sich
das Ministerium geweigert hat.
Das macht den Kolleginnen und Kollegen weiterhin
Sorgen, aber auch - das haben Sie eben gesagt - die
Wirtschaft ist davon betroffen. Die Wirtschaftsverbände
machen sich Sorgen, dass dieser Prozess nicht so vorangeht, wie er vorangehen müsste.
Nun kommt dieser Antrag dazu. Jetzt wäre die
Chance gewesen - insbesondere durch den Einfluss der
SPD -, endlich einmal Butter bei die Fische zu geben
und zu sagen: Jetzt ist die Möglichkeit da, das falsche
Einstielen der WSV-Reform, damals maßgeblich betrieben von der FDP, zu beenden und die richtige Richtung
einzuschlagen. Aber was lesen wir? Forderungen mit einem hohen Finanzierungsvorbehalt, sehr vage Ankündigungen und dann auch noch unzutreffende Hinweise auf
die umfängliche Beteiligung der Belegschaft. Wenn man
mit den Kolleginnen und Kollegen spricht, stellt man
fest, dass das so nicht zutrifft.
Die Binnenschifffahrt braucht verlässliche Investitionen. Wenn jetzt schon Forderungen gestellt werden, die
unter einem Finanzierungsvorbehalt stehen werden
- weil der Finanzminister an der schwarzen Null festhalten will, obwohl die Steuereinnahmen, wie wir gehört
haben, vermutlich sinken werden -, dann kann man sich
von vornherein davon verabschieden, dann sind zwei
von acht Forderungen heute schon erledigt.
Die anderen Ankündigungen betreffen die Generaldirektion Wasserstraßen und Schifffahrt. Eben wurde erwähnt, dass eine Generaldirektion aufgebaut wurde. Das
war aber im Mai 2013. Just vor Auslaufen der letzten
Wahlperiode musste schnell noch einmal ordentlich
draufgehauen werden, ohne zu wissen, was danach
kommt. Ein Jahr später wird immer noch daran herumgedoktert, die Generaldirektion in Gang zu bringen. Kollegen erzählen, dass erst jetzt ein Mietvertrag abgeschlossen wurde. Erst jetzt beginnt der Umbau, und
wann die Arbeit aufgenommen wird, ist fraglich.
Das ist keine zuverlässige Perspektive für die Beschäftigten. Gleichzeitig soll die Zahl der Wasser- und
Schifffahrtsämter von 39 auf 18 verringert werden. Das
bedeutet erst einmal Totalumbau. Keiner weiß genau,
wie dieser aussehen soll, weil es gleichzeitig angeblich
keinen Abbau der Außenstellen geben soll, damit die
operative Arbeit, die geleistet werden muss, weiterhin
möglich ist.
Was die Beteiligung der Beschäftigten angeht, ist natürlich der Hauptpersonalrat beteiligt worden. Er muss
auch beteiligt werden. Das gilt auch für andere Personalräte. Wir haben schließlich ein Personalvertretungsgesetz. Danach sind bei Personalumsetzungen immer die
Beschäftigtenvertreter zu beteiligen.
Darüber hinaus werden die Erfahrungen aus früheren
Reformprozessen der WSV überhaupt nicht mit einbezogen. Es hat früher Arbeitsgruppen gegeben, in denen die
Beschäftigten - damals allerdings aus der Not heraus,
mit weniger Geld und Personal auskommen zu müssen ihre Arbeit neu organisiert haben. Das war ein hochinnovativer Prozess. Das sagen die Kolleginnen und Kollegen heute noch. Das ist aber bei diesem großen Umbau
überhaupt kein Thema.
Insofern sind wichtige Fragen überhaupt nicht geklärt
worden: Wie kriegen wir vernünftige beschäftigungssichernde Maßnahmen hin, die die Arbeit so erhalten, dass
sie weiterhin von der WSV erledigt werden kann? Die
ausgebildeten Fachkräfte werden jetzt nicht mehr ein
Jahr übernommen, sondern zwei Jahre. Das war’s. Das
ist keine Perspektive, weder für die jungen Leute und
erst recht nicht für eine arbeitsfähige WSV.
({2})
Über den Antrag müssen wir das Problem noch einmal angehen. Wir wollen eine Perspektive für eine WSV,
die sowohl den Kunden als auch den Beschäftigten zugutekommt und die es ermöglicht, die künftigen Aufgaben zu bewältigen.
Vielen Dank.
({3})
Die Kollegin Bettina Hagedorn hat für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Für die SPD-Fraktion will ich an dieser Stelle sagen: Heute führen wir eine erfreuliche Debatte anlässlich
eines richtig guten Anlasses, Herr Minister. Der sechste
WSV-Bericht in Verbindung mit einem gemeinsamen
Antrag der Großen Koalition zu dessen Umsetzung bestätigt, dass wir gemeinsam auf einem richtig guten Weg
sind und dass wir ein richtig gutes Signal an die über
12 000 Beschäftigten der WSV senden wollen und senden können.
({0})
Darüber sind wir gemeinsam sehr froh.
({1})
Herr Minister, gerade wir beide - ich bin die Haushälterin für den Verkehrsbereich - haben in der Vergangenheit schon manches Mal freundschaftlich die Klingen
gekreuzt. Ich danke Ihnen an dieser Stelle auch ganz persönlich; denn wir hatten es - das ist schon angesprochen
worden - in der letzten Legislaturperiode mit einer Kahlschlagpolitik und einem unsäglichen Reformversuch zu
tun, der letzten Endes, wie noch im fünften WSV-Bericht dokumentiert ist, einen Personalabbau auf unter
10 000 Mitarbeiter beinhaltet hätte, mit der Zielsetzung
des damaligen Haushaltsausschusses, zu einer reinen
Gewährleistungsverwaltung zu kommen.
Wir haben im Koalitionsvertrag eindeutig vereinbart,
dass wir in diesem Bereich eine Neuorientierung vornehmen wollen. Aber ich glaube, dass man es den Mitarbeitern nicht verdenken kann, dass viele von ihnen gesagt
haben: Ich will darauf hoffen, allein mir fehlt der
Glaube. - Diese Glaubwürdigkeit hat die Große Koali6062
tion jetzt mit diesem Schritt wiedererlangt; davon bin ich
fest überzeugt.
Ich will Ihnen deshalb persönlich danken, weil ich
weiß, dass es auch ein sehr großes Beharrungsvermögen
gab, die Beschäftigten nicht in der Form mit einzubeziehen, wie wir es verabredet und wie wir es uns gemeinsam gewünscht haben. Sie haben das gemacht. Sie haben
den Hauptpersonalrat nicht nur angehört, sondern seinen
Belangen auch zur Durchsetzung verholfen. Das hat
auch der Personalrat anerkannt. Das ist ein wichtiger
Schritt; denn eine Reform kann nicht auf dem Papier gedeihen, sondern nur, wenn alle an einem Strang und in
eine Richtung ziehen. Ich danke Ihnen dafür, dass wir
das gemeinsam hinbekommen haben.
({2})
Einige Aufgaben liegen noch vor uns. Aber wir haben
auch noch ein bisschen Zeit. Das Personal spielt eine
wichtige Rolle. Der Haushaltsausschuss in neuer Zusammensetzung hat im Mai dieses Jahres in einem Maßgabebeschluss, lieber Eckhardt Rehberg, Ihrem Ministerium
geraten, eine Fachkräfteoffensive - ganz im Gegensatz
zu dem, was in der letzten Legislaturperiode gemacht
wurde - zu starten. Wir haben im Haushalt 2014, der in
der Summe einen Aufwuchs von 35 Stellen vorsieht, den
ersten Schritt gemacht. Wir sehen besonderen Bedarf in
den technischen Berufen, bei den Ingenieuren, aber auch
bei den Technikern und Handwerkern. Nicht nur die von
Ihnen zu Recht erwähnten technisch anspruchsvollen
Bauwerke, sondern auch viele Planungsprozesse erfordern Sachverstand. Dieser ist notwendig, wenn wir Prozesse beschleunigen und Geld in das Wasserstraßennetz
des Bundes rechtssicher investieren wollen. Der Haushalt 2015, der schon als Regierungsentwurf vorliegt,
sieht 50 weitere Stellen bei der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung vor. Diese Stellen werden wir auch schaffen.
Wir haben noch manches miteinander vor. Es darf
nicht verschwiegen werden, dass ungefähr 200 Millionen Euro, die eigentlich in Wasserstraßen investiert werden sollen, nicht verausgabt werden können, nicht weil
Sie oder wir die Taschen zugenäht hätten, sondern weil
aktuell nicht ausreichend Personal zur Verfügung steht,
um die Voraussetzungen zu schaffen, das Geld rechtssicher auszugeben.
Der Herr Finanzminister hat gerade eine neue, große
Investitionsoffensive im Umfang von 10 Milliarden
Euro für die nächsten Jahre angekündigt. Die Große Koalition hat sich allerdings noch nicht darauf verständigt,
wofür konkret das Geld ausgegeben werden soll. Wir
sind sicher, dass ein Teil des Geldes für die Infrastruktur,
für die Sie zuständig sind, Herr Minister, bereitgestellt
wird. Ich wünsche mir, dass dann auch mehr in die Wasserstraßen investiert wird. Aber das bedeutet, dass wir
für das Personal, das für die Wasserstraßen zuständig ist,
viel mehr tun müssen. Ein guter Schritt ist, dass die Auszubildenden jetzt zwei Jahre übernommen werden und
dass die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung mit über 10
Prozent eine unverändert hohe Ausbildungsquote vorzuweisen hat. Das ist aber nur der erste Schritt. Weitere
Schritte müssen folgen. Ich hoffe, dass wir diese Schritte
gemeinsam machen werden.
Vielen Dank.
({3})
Die Kollegin Dr. Valerie Wilms hat für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Gäste! Lassen Sie uns als Erstes festhalten: Unsere
Beschäftigten in der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung
leisten hervorragende Arbeit. Das können wir gar nicht
oft genug betonen.
({0})
Sie unterhalten die vielen Wasserstraßen und sind dafür
zuständig, dass unzählige Kanäle, Schleusen und Brücken reibungslos funktionieren. Die vielen motivierten
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die ich auf meinen
Reisen zu den Ämtern der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung persönlich kennengelernt und schätzen gelernt
habe, sind es inzwischen leid, auf die Umsetzung der Reform zu warten. Es muss jetzt endlich losgehen. Sonst
glaubt niemand mehr an eine Reform.
Liebe Kolleginnen und Kollegen dieser großen Stillstandskoalition,
({1})
Ihr Antrag macht deutlich - genauso wie das, was Frau
Hagedorn eben gesagt hat; da hilft es auch nichts, wenn
Sie, Herr Herzog, hier etwas hineinbölken -, dass Sie
eine Reform überhaupt nicht wollen
({2})
und damit den Stillstand in der Mammutbehörde WSV
in Stein meißeln.
Bereits seit Anfang der 90er-Jahre begleiten wir das
Projekt WSV-Reform im Bundestag. Jetzt hatten Sie
wirklich die einmalige Gelegenheit, mit der begonnenen
Reform, die in der letzten Wahlperiode auf Druck fast aller Fraktionen, außer der SPD und der Linkspartei, angestoßen wurde, ein gutes und sinnvolles Projekt weiterzuführen. Stattdessen bleibt die Reform noch nicht einmal
auf halber Strecke stehen. Aufgemachte Baustellen werden gar nicht erst abgeschlossen.
Lassen Sie mich drei Baustellen nennen:
Erstens. Effizienten Verwaltungsstrukturen und mehr
Verantwortung für die Beschäftigten geben Sie eine Absage. Kosteneinsparungen und wirtschaftliches Handeln
bleiben weiterhin Fremdworte.
Zweitens. Die auf dem Papier neu gegründete
GDWS, Generaldirektion Wasserstraßen und Schifffahrt,
hat zwar in Bonn mittlerweile irgendwo eine Hütte gefunden, aber es findet sich immer noch kein Mitarbeiter
dafür. Niemand möchte dort arbeiten. Daher frage ich
Sie: Bis wann wollen Sie eigentlich die neue Leitungsebene der WSV in Bonn wirklich einrichten? Wann sind
Mitarbeiter der WSV wirklich bereit, dorthin zu gehen?
Drittens. Der neue Zuschnitt der Ämter sollte bis
2020 fertiggestellt sein. Jetzt sieht man das nicht mehr so
eng und peilt 2024 an. Womöglich wird es aber noch
später oder gar nichts. Das zeigt: Sie verschieben jetzt
alles auf den Sankt-Nimmerleins-Tag. Verantwortliches
Handeln, Herr Minister, Herr Staatssekretär, liebe Kolleginnen und Kollegen der so Großen Koalition, sieht anders aus.
({3})
Wie Sie so etwas richtig machen können, haben wir
Ihnen vor ein paar Wochen hier im Plenarsaal gezeigt,
zwar nicht an einem späten Freitagnachmittag, aber an
einem Donnerstagabend. Wir haben Ihnen gezeigt, wie
eine Reform gelingen kann.
Wir brauchen dringend eine echte Anlagenbuchhaltung. Herr Minister, Sie hatten mir gesagt, dass gerade
einmal 10 Prozent aller Wasserstraßen bewertet sind.
Schauerlich! Damit hätte man schon längst weiter sein
können. Wir brauchen dringend ein echtes Controlling.
Ich habe immer noch nicht gesehen, dass hier ein richtiges System eingeführt worden ist. Wir brauchen dringend eine echte Kosten- und Leistungsrechnung, die bis
in alle Ebenen geht. Fehlanzeige!
Ohne dass diese Punkte umgesetzt werden, wird es
keine Budgetverantwortung der Mitarbeiter vor Ort geben können. Apropos Mitarbeiter: Bisher kann uns die
Bundesregierung auf Nachfrage noch nicht einmal klar
beantworten, wie viele Mitarbeiter die Wasser- und
Schifffahrtsverwaltung tatsächlich für die Erledigung
welcher Aufgaben benötigt. Wir haben es eben schon gehört: 12 000 oder 14 000, würfeln wir doch. Trotzdem
werden schon einmal die Behördenreviere neu strukturiert oder - sagen wir es besser - an Wahlkreisgrenzen
angepasst. Lieber Herr Minister, das Thema hatten wir
schon gestern bei der Mautdebatte, an der Sie leider
nicht teilnehmen konnten.
({4})
Ich erinnere an die Ortsumgehung in Oberau in Ihrem
Wahlkreis.
Das ist die falsche Reihenfolge. So geht das nicht.
Konsequent und sinnvoll wäre: erst Personalbedarfsplanung und dann die Vorlage des Standortkonzepts. Aber
Sie erarbeiten erst ein unausgegorenes Standortkonzept
und schauen dann, wie viele Beschäftigte Sie wo unterbekommen. Das kann nicht funktionieren.
({5})
Außerdem bin ich gespannt, wie Sie mit der von uns
schon lange geforderten Priorisierung der Wasserstraßen
umgehen werden. Hier gibt es Bestrebungen aus bestimmten Ecken Ihres Hauses, Herr Minister, bei der
Aufstellung des Bundesverkehrswegeplanes diese ganzen Priorisierungen wieder einzusammeln. Wenn Sie das
wirklich vorhaben, können Sie die Arbeit am Bundesverkehrswegeplan auch gleich ganz einstellen. Das wäre
nach meiner Auffassung wirklich die beste Lösung; denn
dann verkommt dieser Bundesverkehrswegeplan nicht
wieder zu einer unfinanzierbaren Wunschliste.
Ich fordere Sie daher auf: Halten Sie sich an Ihre Versprechen beim Bundesverkehrswegeplan! Das werden
wir im nächsten Jahr hoffentlich sehen. Gehen Sie diese
Reform endlich an! Beenden Sie die Zeit der leeren
Sprechblasen! Die Beschäftigten der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung und die Schifffahrt werden es Ihnen
danken.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat der Kollege Gustav Herzog für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zuletzt hatten wir am 10. Oktober eine Debatte zu einem
der wichtigen Verkehrsträger unseres Landes geführt.
Der Anlass war damals ein älter gewordener Antrag der
Grünen. Ich habe Ihnen versprochen: Wir als Koalition
werden einen besseren Antrag vorlegen. Versprochen
und Wort gehalten! Heute diskutieren wir einen guten
Antrag der Koalitionsfraktionen.
Ich will mit einem herzlichen Wort des Dankes an
meinen Kollegen Hans-Werner Kammer, aber auch an
die zuständigen Haushälter Bettina Hagedorn und
Eckhardt Rehberg beginnen, die immer dafür gesorgt haben, dass unsere Wünsche zumindest in dem Bereich, in
dem sie es als Haushälter für erfüllbar halten, auch eine
Realisierungschance haben. Ich glaube, es ist gut, wenn
Verkehrspolitiker und Haushälter so eng zusammenarbeiten und Ihnen, Herr Minister, sozusagen die Vorlage
liefern, um das alles schön zu realisieren.
({0})
Die Grundlage für den Antrag der Koalition ist das,
was wir nach intensiven Verhandlungen in den Koalitionsvertrag hineingeschrieben haben. Aber die Ausgangslage ist eine weniger schöne: Oktober 2010, jener
berühmte Herbst der Entscheidungen, in dem nicht nur
der Unsinn beschlossen worden ist, die Laufzeit der
Atomkraftwerke zu verlängern, sondern in dem von
Schwarz-Gelb im Haushaltsausschuss auch jener berühmt-berüchtigte Beschluss gefasst worden ist - Kollege Behrens, die Linken haben da gepennt und zunächst
zugestimmt -, Personal abzubauen und aus einer funktionierenden Verwaltung einen Apparat zu schaffen, der
nur noch Aufträge vergibt und der der Auftragserfüllung
nur noch hinterherrennt.
Die Berichte 1 bis 5 waren immer von Kritik begleitet, und zwar in der ganzen Breite,
({1})
von der Wirtschaft, von den Beschäftigten. Auch die
Fachpresse hat sich nie lobend darüber geäußert. Jetzt,
Herr Minister Dobrindt, legen Sie den sechsten Bericht
vor: Lob von allen Seiten. Ich bin schon misstrauisch gefragt worden, warum ich Sie in diesem Zusammenhang
immer wieder lobe. Dieses Lob ist gerechtfertigt. Sie
kennen mich auch als heftigen Kritiker.
({2})
Für jene, die dieser Debatte folgen oder die Reden
nachlesen: Liebe Frau Kollegin Wilms, lieber Herr Kollege Behrens, ich weiß, dass Sie hier kritisieren müssen;
aber es hörte sich etwas nach Ritual an. Es schien, dass
Sie sich wirklich bemüht haben, an dem, was wir aus
dem sechsten Bericht machen wollen, immer noch etwas
zu kritisieren. Okay, das nehmen wir zur Kenntnis, und
wir werden das Ganze im Ausschuss noch im Detail diskutieren.
({3})
Frau Kollegin Wilms, die Einführung einer Buchhaltung als den entscheidenden Fortschritt einer Reform
hier im Plenum vorzutragen, zeigt doch, wie sehr Sie
sich bemüht haben, irgendwo irgendetwas zu finden.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie sehr dieser Prozess von den Beschäftigten nicht nur wohlwollend begleitet, sondern auch mitgestaltet worden ist, zeigt auch,
dass Vertrauen da war, den damals zwischenzeitlich ausgesetzten Streik völlig zu beenden.
Wenn wir hier von einer Verwaltung bzw. einer Behörde sprechen, ist es für die Menschen, die mit der Materie nicht so sehr zu tun haben, wichtig, darauf hinzuweisen, dass die meisten der 12 000 bis 14 000 Beschäftigten
mehr im handwerklich-technischen Bereich aktiv sind.
Das sind Leute, die bei jedem Wetter hinausfahren und
dafür sorgen, dass das Schleusentor auf- und zugeht, die
durch Hochwasser entwurzelte Bäume entfernen, um die
Verkehrssicherheit sicherzustellen, die überwiegend im
Schichtbetrieb arbeiten. Das sind keine Schreibtischarbeiter, sondern Leute, die unter erschwerten Bedingungen arbeiten, und sie haben unseren Respekt und unsere
Anerkennung verdient.
({5})
Diese Leute sind ins Zweifeln darüber gekommen, ob
die Politik ihre Arbeit überhaupt noch zu schätzen weiß.
Wir haben deren Vertrauen mit der klaren Aussage wiederhergestellt: Die Standorte bleiben erhalten. Es werden
nur sozialverträgliche Umsetzungen vorgenommen. Wir müssen uns als Parlament gemeinsam mit dem
Ministerium bemühen, dafür zu sorgen, dass die Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung ein attraktiver Arbeitgeber wird.
({6})
Dieser Arbeitgeber steht in Konkurrenz zu vielen anderen, die gute und besser bezahlte Jobs anbieten. Die
Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung soll gute
Leute haben, die das Geld, das wir zur Verfügung stellen, auch ausgeben können.
Ich habe die Pressemitteilung des Kollegen Ulrich
Lange von heute Mittag, 12.13 Uhr, gelesen. Er hat darauf verwiesen, dass ab 2016 zusätzlich 10 Milliarden
Euro für Investitionen in die Infrastruktur zur Verfügung
stehen sollen, und er hat verlangt, dass ein Teil davon in
die Verkehrsinfrastruktur fließt. Ich bin voll dafür. Ich
hätte mir nur gewünscht, dass er neben der Straße, der
Schiene und den Brücken auch die Wasserstraßen erwähnt hätte; denn dafür brauchen wir ebenfalls eine
Menge Geld, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({7})
Abschließend will ich darauf hinweisen, dass jetzt
auch aus den Ländern große Zustimmung kommt. Ich
schaue einmal in das Land der Binnenschifffahrt, nämlich nach Nordrhein-Westfalen. Dort gibt es einen Antrag von SPD, CDU, Grünen, FDP - dort ist die FDP
noch im Parlament - und Piraten - ich habe etwas geschmunzelt; selbst die Piraten stehen mit auf dem Antrag vom September dieses Jahres zu diesem Thema. Darin
wird ein klares Bekenntnis zu den Bundeswasserstraßen,
zur Binnenschifffahrt abgelegt. Über 50 Prozent des
Umschlags findet in Nordrhein-Westfalen statt. Das findet hier auch seinen Niederschlag.
Auch die Verkehrsministerkonferenz hat klar gesagt,
dass sie dazu steht. Das finde ich gut.
Lassen Sie mich, Kolleginnen und Kollegen, nach all
den etwas ernsten Ausführungen noch etwas Schönes sagen und zeigen, was auf unseren Wasserstraßen alles
möglich ist. Der gute Uli Stahl aus Altrip hat mit einem
umgebauten Angelkahn von Altrip aus - das ist in
Rheinland-Pfalz - eine Tour über Duisburg bis nach
Eberswalde gemacht. Er ist 1 820 Kilometer auf unseren
Bundeswasserstraßen gefahren und hat 685 Brücken und
40 Schleusen bewältigt. Auch so etwas kann man auf unseren Wasserstraßen machen, und das ist gut so.
Ich freue mich auf die Debatte im Ausschuss.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({8})
Der Kollege Hans-Werner Kammer hat für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Verehrte Zuhörer! Wir debattieren heute zum wiederholten Mal die Reform der WSV, diesmal im Zusammenhang
mit unserem sehr guten Antrag „Wasserstraßen- und
Schifffahrtsverwaltung zukunftsfest gestalten“. Ich bin
der Überzeugung, dass sich der lange Diskussionsprozess gelohnt hat; denn mit dem sechsten Bericht des
Ministeriums ist klar, wohin die Reise geht. Auch der
Kollege Herzog hat diesen Antrag eingangs lobend erwähnt. An unserem Antrag hat er intensiv mitgearbeitet.
Das gilt auch für Frau Hagedorn und Eckhardt Rehberg.
Ich glaube, gemeinsam haben wir damit etwas Hervorragendes vorgelegt.
Die Umsetzung wird zwar noch einige Zeit in Anspruch nehmen, aber ich bin überzeugt, dass mit Bundesminister Alexander Dobrindt die Wasserstraßen- und
Schifffahrtsverwaltung für die Zukunft fitgemacht wird.
Er hat heute die Bedeutung dieser Verwaltung für die
Wirtschaft insgesamt noch einmal herausgestellt.
Wir verwirklichen damit ein zentrales Projekt der
Verkehrspolitik der Großen Koalition. Der Koalitionsvertrag sieht vor, dass bei der WSV-Reform die regionalen Kompetenzen gesichert und die Beschäftigten stärker
in den Reformprozess eingebunden werden sollen. Das
ist gelungen.
Kern des Vorhabens ist die neue Aufgabenstruktur der
WSV. Die veraltete Struktur aus Kaisers Zeiten wird gerade generalüberholt. Eine neue Generaldirektion hat bereits die Koordination der WSV in ganz Deutschland
übernommen, Frau Wilms. Die Zeit von sieben parallel
arbeitenden Direktionen ist vorbei. Die regionalen Kompetenzen sind künftig bei den 18 Wasserstraßen- und
Schifffahrtsämtern, die über mehr Befugnisse verfügen
als ihre Vorgängereinrichtungen. Das war auch unser gemeinsames Ziel.
Das operative Geschäft der WSV findet dort statt, wo
es hingehört: auf der Ämterebene. Dieser Punkt war für
den Kollegen Herzog und für mich in der zurückliegenden Diskussion um die Reform von ganz entscheidender
Bedeutung.
({0})
Darum haben wir immer gerungen; denn die Wasserstraßennutzer und die Wirtschaft brauchen starke Ansprechpartner vor Ort. Die bekommen sie in der Zukunft. Es ist
ein schlüssiges Konzept, das unser Verkehrsminister mit
dem sechsten Bericht auf den Tisch gelegt hat.
Sichergestellt ist darin auch, dass alle 39 Ämterstandorte erhalten werden. Es wird auch keinen Kahlschlag
beim Personal geben. Stattdessen soll der Eigenerledigungsanteil bei der WSV wieder steigen.
Die touristische Nutzung der Wasserstraßen haben
wir dabei ebenfalls im Auge. Das ist auch ein wichtiger
Punkt. Die Sorgen einiger Bundesländer, vor allem der
neuen Bundesländer, sind deshalb unbegründet.
Wir werden die Wasserstraßenverwaltung flächendeckend stärken. Keine Region wird abgehängt.
Herr Behrens, Sie haben von einer erbärmlichen Reform gesprochen. Ich hätte mich gefreut, wenn die Linke
zukunftsorientiert daran mitgearbeitet und in allen Fällen
- auch Sie in Ihrem Vortrag hier - die Wahrheit gesagt
hätte. In Wilhelmshaven hat zum Beispiel niemand protestiert. Ich habe den Prozess mit den Wilhelmshavenern
vor Ort intensiv begleitet.
({1})
Frau Wilms, Herr Kollege Herzog hat ja schon darauf
hingewiesen, dass Ihnen gerade noch die Buchhaltung
eingefallen ist. Sie haben aber noch einen tollen Punkt
genannt: Sie haben gesagt, wir müssten uns erst mal mit
dem Personal auseinandersetzen und sehen, ob wir damit
klarkommen, und dann könnten wir über die Standorte
reden. - Aber ohne Standorte brauchen wir kein Personal. Deshalb ist der vom Ministerium vorgeschlagene
Weg, zuerst die Standorte zu zementieren und dann das
Personal entsprechend einzusetzen, wie es vor Ort benötigt wird, genau richtig.
Mit den acht Kernforderungen unseres Antrages unterstützen wir die hervorragende Arbeit des Ministeriums und geben gleichzeitig klare Ziele vor. Ich will nur
einige davon erwähnen:
Im Rahmen der verfügbaren Haushaltsmittel soll
durch Erhalt und Ausbau der Bundeswasserstraßen die
Erreichbarkeit der deutschen Binnen- und Seehäfen optimiert werden. Das fordern wir in unserem Antrag. Dazu
wird uns das Ministerium entsprechende Berichte und
eine Priorisierung der notwendigen Investitions- und Erhaltungsmaßnahmen vorlegen.
Gleichzeitig soll die Einrichtung der 18 Wasserstraßenund Schifffahrtsämter zügig erfolgen. Die Beschäftigten
sollen daran beteiligt werden - das hat der Minister schon
ausgeführt. Ziel ist es, die operativen Verantwortlichkeiten und regionalen Entscheidungskompetenzen in den
18 Revieren zu stärken. So wird die WSV zu einem modernen Dienstleister für die Schifffahrt.
Außerdem soll die Deckung des Fachkräftebedarfs
offensiv angegangen werden. Auch das steht in unserem
Antrag. Dazu müssen die gesetzlichen und tariflichen
Möglichkeiten sowie Aus-, Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten genutzt werden. Erste Schritte sind dank
der Unterstützung durch die Haushälter der Koalition bereits gelungen.
Wichtig ist dabei, dass die Arbeitsfähigkeit der WSV
auch während des Reformprozesses erhalten bleibt; denn
der Verkehr muss weiter fließen. Deshalb sollen die Reformbemühungen zunächst die Generaldirektion und die
18 Ämter umfassen. Änderungen in anderen Bereichen,
etwa den Außenbezirken, Bauhöfen oder Revierzentralen, sollen auf das Notwendigste beschränkt sein. So gehen wir die Reform Schritt für Schritt an.
Und wir werden letztendlich - das ist für Frau Wilms
wichtig - bis zum Frühjahr 2015 ein Rechtsbereinigungsgesetz einbringen.
Sie sehen, wir gehen auf die wesentlichen Punkte des
sechsten Berichts zur Reform der WSV ein und bringen
so die Reform weiter voran. Auch für die Opposition
sollte es jetzt leicht sein, mit an Bord zu kommen und
sich dem guten Antrag der Koalition anzuschließen.
Ich wünsche allen ein schönes Wochenende und einen
streikfreien Nachhauseweg.
Danke schön.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3041 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 12. November 2014, 13 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.
Ich wünsche Ihnen alles Gute - ob zu Wasser, zur
Schiene, zur Straße oder wie auch immer - für das Wochenende.