Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 11/7/2014

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Gäste auf der Besuchertribüne und an den Bildschirmen! Meine Damen und Herren Botschafter! Ich begrüße Sie alle herzlich zu dieser Plenarsitzung des Deutschen Bundestags, in der wir uns heute Morgen vor Eintritt in unsere übliche Tagesordnung mit der friedlichen Revolution in der damaligen DDR und dem Fall der Berliner Mauer vor 25 Jahren am 9. November 1989 befassen. „Die Mauer ist weg!“ Ein einfacher Satz. Zu einfach. Damals unfassbar, vor 25 Jahren, als ein beiläufig vorgelesener Zettel auf einer inzwischen legendären Pressekonferenz in Ostberlin eine Lawine ins Rollen brachte, die sich dann nicht mehr stoppen ließ, eine Lawine, die sich freilich seit langem aufgestaut hatte. Die Unfassbarkeit dieses Satzes spiegelt sich in den Gesichtern der Menschen, die tatsächlich „unverzüglich“ der Ankündigung des neuen Parteisekretärs für Informationswesen folgten und die Grenzübergänge in Berlin buchstäblich stürmten. Die Bilder gingen um die Welt, und sie gingen unter die Haut: konsternierte Grenzer, tränenüberströmte Gesichter der Menschen, die das Glück dieser Stunden nicht fassen konnten, Trabi-Kolonnen, elektrisierte Reporter und Jubel, Jubel, Jubel. „Wahnsinn“. In der Nacht vom 9. zum 10. November 1989 ist wahr geworden, was in der inoffiziellen Hymne der Solidarnosc in Polen der 80er-Jahre besungen und beschworen wurde: Ziehe den Mauern die Zähne der Gitter aus! Sprenge die Fesseln, zerbreche die Knute! Und die Mauern stürzen ein und begraben die alte Welt! Meine Damen und Herren, in der Tat: Der Mauerfall beschleunigte durch die Symbolkraft der Bilder wie des Ortes den Zerfall der alten Welt des Kalten Krieges und des Ost-West-Konfliktes und führte binnen knapp eines Jahres zur deutschen Einheit. Berlin war der Ausgangspunkt dieses Prozesses, aber nicht 1989, sondern im Juni 1953, als ein Volksaufstand blutig niedergeschlagen wurde. Die glückliche Verbindung von Freiheit und Einheit hat also eine lange Vorgeschichte. Der Mauerfall war der Siedepunkt des Schicksalsjahres 1989 und ein Ereignis, das vielen, die damals dabei waren, und manchen bis heute wie ein Wunder erscheint. Ein Wunder war es aber nicht, ebenso wenig wie ein Naturereignis, sondern die Folge einer nicht nur in der deutschen Geschichte beispiellosen friedlichen Revolution, die seit Monaten in einem atemberaubenden Tempo von einem Höhepunkt zum anderen eilte. Sicher ist: Ohne die zahlreichen Bürgerrechtsbewegungen, die sich im Spätsommer 1989 zu Volksbewegungen entwickelten und ihren Veränderungswillen in friedlichen Massendemonstrationen ausdrückten, hätte es diesen 9. November in Berlin nicht gegeben. „Wir bleiben hier“ war eine der trotzigen Schlagzeilen der mutigen Bürger, die erkannt hatten, dass sie das Volk sind. „Wir wollen raus“ war das Pendant der Desillusionierten in der DDR. „Ich möchte am liebsten weg sein und bleibe am liebsten hier“ hat Wolf Biermann diese gespaltene Gefühlslage damals besungen. Ich freue mich, dass Wolf Biermann meine Einladung angenommen hat und der friedlichen Revolution auch heute seine unverwechselbare Stimme gibt. ({0}) Die Fernsehbilder der DDR-Flüchtlinge, die in Budapest, Prag und Warschau die Zäune der bundesdeutschen Botschaften überkletterten und schließlich in Sonderzügen nach Westdeutschland reisten, diese Bilder bislang unvorstellbarer Ereignisse entfalteten große Wirkung und destabilisierten das System: 1989 wurden allein bis zum 8. Oktober 53 576 gelungene Fluchtversuche registriert. Häufig wird vergessen, dass auch der Entschluss Abertausender DDR-Bürger, ihr Land zu verlassen, sich auf eine Fluchtreise über Ungarn, Polen oder die Tschechoslowakei zu begeben, Mut verlangte. Ein glücklicher Ausgang dieses Unternehmens war keineswegs sicher. Präsident Dr. Norbert Lammert Sicher für die „Republikflüchtigen“ war nur, dass sie ihr Zuhause, ihr Hab und Gut aufgeben und Familienangehörige, Freunde, Bekannte und Nachbarn zurücklassen mussten. Das Wiedersehen, wann und ob überhaupt, war dabei ungewiss, schon gar in den Jahren vor 1989. Zu rechnen war allerdings mit Schikanen des Staatsapparates gegenüber den Verbliebenen. Diese Abstimmung des Volkes mit den Füßen war 1989 kein neues Phänomen für die DDR. Bereits bis zum Mauerbau 1961 hatten etwa 3,5 Millionen Menschen die DDR verlassen. Die Berliner Mauer und der beinahe hermetisch abgeriegelte Grenzstreifen des „Arbeiter- und Bauernstaates“ sollten die „Republikflucht“ verhindern, die ein Straftatbestand dieser Republik war, die zwar deutsch, sicher aber nicht demokratisch gewesen ist. Allein in Berlin sind bei Fluchtversuchen mindestens 136 Menschen umgekommen, drei noch im Jahr 1989. Auch an die Mauertoten und an die Schicksale ihrer Familien denken wir heute, wenn wir an die glücklichen Stunden und Tage des Mauerfalls vor 25 Jahren erinnern. Die weißen Kreuze, die nur wenige Meter vom Reichstagsgebäude an der Spree angebracht waren, sollen an sie erinnern. Sie sind vor einigen Tagen gestohlen worden - mit einer „heldenhaften“ Attitüde und einer pseudohumanitären Begründung, die man für blanken Zynismus halten muss. ({1}) Wir werden selbstverständlich diese Kreuze ersetzen, und sie werden dort bleiben. ({2}) Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, mit einem Mahnmal an die Mauertoten und all die anderen Opfer der SED-Diktatur zu erinnern, ist der Deutsche Bundestag in diesen Tagen in einem von zahlreichen Bürgerrechtlern, Historikern, ehemaligen Abgeordneten und Künstlern unterzeichneten Aufruf aufgefordert worden, zur - ich zitiere - „Würdigung der Hoffnungen und Anstrengungen all jener, die dem Kommunismus widerstanden haben und ihren Glauben an eine demokratische Zukunft und ein Leben in Freiheit nicht preisgaben“, aber auch - ich zitiere weiter - „zur Ermunterung zum Widerstand gegen Diktatur und die Verletzung von Menschenrechten.“ Meine Damen und Herren, der Mauerfall hat sich in das kollektive Bewusstsein der Deutschen eingeprägt. Er ist weltweit zum Symbol der Überwindung autoritärer Systeme in Mittel- und Osteuropa geworden. Jeder, der dieses Ereignis miterlebt hat, weiß genau, wo er war, als es stattgefunden hat. Uns scheint es daher oft, als hätte Deutschland damals die Welt verändert. 1989 gab es aber vielerorts gigantische Umbrüche mit einer erstaunlichen Parallelität der Ereignisse, die einander bedingten, beförderten oder beeinflussten und erst durch ihr Zusammenwirken die Welt tatsächlich verändert haben. Drehund Angelpunkt war dabei die Perestroika-Politik des damaligen Staats- und Parteichefs der Sowjetunion, Michail Gorbatschow. Ihre Folgen entfalteten im Laufe des Jahres in allen Staaten des Ostblocks eine bemerkenswert ähnliche Wirkung: Bereits im Januar 1989 gab es große Demonstrationen tschechischer Bürgerrechtler auf dem Prager Wenzelsplatz. Anfang Februar 1989 begannen in Warschau die Gespräche am ersten Runden Tisch im damaligen Ostblock, die zu den ersten halbwegs freien Parlamentswahlen in Polen am 4. Juni 1989 führten. Das „Bürgerkomitee“ als politische Plattform der wieder zugelassenen Solidarnosc errang einen überwältigenden Sieg. Am gleichen Tag, dem 4. Juni 1989, schlug das kommunistische Regime in China die studentische Demokratiebewegung mit Panzergewalt auf dem Tiananmen-Platz nieder. Die Volkskammer der DDR verkündete vier Tage später in einer öffentlichen Erklärung in alter Manier ihre Verbundenheit mit der chinesischen Staatsführung, die - Zitat - „infolge der gewaltsamen, blutigen Ausschreitungen verfassungsfeindlicher Elemente“ für Sicherheit und Ordnung habe sorgen müssen. Soweit dies als Einschüchterung oder Drohung in Richtung der Bürgerbewegung in der DDR gemeint war und verstanden wurde, hatte es offensichtlich die gegenteilige Wirkung. Ungarn machte schon Anfang Mai 1989 den Eisernen Vorhang an seinen Westgrenzen durchlässig und begann mit dem Abbau seiner elektronischen Sicherungsanlagen. Am 10. September folgte die Öffnung der ungarischen Grenzen für die flüchtigen Bürger der DDR: „Ungarn hat den ersten Stein aus der Berliner Mauer geschlagen“ - so Bundeskanzler Helmut Kohl, der dann just in den Stunden des Mauerfalls seinen offiziellen Besuch in Polen abstattete, und diese gerade zitierte Bemerkung bei einer Tischrede beim Abendessen auf Einladung von Tadeusz Mazowiecki machte, des im August gewählten ersten nichtkommunistischen Ministerpräsidenten Polens nach dem Zweiten Weltkrieg. Auch die baltischen Staaten sind Austragungsorte dieses grandiosen Transformationsprozesses gewesen: Am 23. August, dem 50. Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes, bildeten rund 1 Million Menschen eine mehr als 600 Kilometer lange Menschenkette - von Vilnius in Litauen über Riga in Lettland bis Tallinn in Estland. Sie demonstrierten für nationale Selbstbestimmung und Unabhängigkeit der baltischen Staaten von der Sowjetunion. Es war der Höhepunkt der bei uns kaum wahrgenommenen „singenden Revolution“. Ihr Markenzeichen waren verbotene Volkslieder. Gegen sie konnte man mit Panzern nicht vorgehen. Gegen Kerzen auch nicht. In der Tschechoslowakei spitzte sich die Lage im November zu. Am 29. Dezember, zum Abschluss der „samtenen Revolution“, wurde Václav Havel, der zu Beginn des Jahres noch wegen „Rowdytums“ zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden war, zum Staatspräsidenten gewählt. In Bulgarien und Rumänien beseitigten Palastrevolutionen die Regime. Der Drang nach Freiheit und Demokratie war Ende des Jahres so stark, dass keine der kommunistischen Regierungen im damaligen Ostblock mehr fest im Sattel saß oder überhaupt noch im Amte war. Präsident Dr. Norbert Lammert Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, es tut uns gut gerade an dem Wochenende, an dem wir einen unstreitigen Höhepunkt der deutschen Geschichte in besonderer Weise würdigen, uns ins Bewusstsein zu heben, dass nicht nur in Deutschland Anstrengungen unternommen und mit bemerkenswertem Mut bemerkenswerte Veränderungen herbeigeführt worden sind. Manches spricht für die Vermutung: Wenn die damalige Entwicklung nur in Deutschland stattgefunden hätte, hätte sie vermutlich auch in Deutschland so nicht stattgefunden. ({3}) In der DDR vollzog sich eine durchaus andere, aber im Kontext dieser Entwicklung folgerichtige Veränderung, die - was einem auch mit dem zeitlichen Abstand von 25 Jahren immer noch beinahe wie ein Wunder vorkommen muss - unblutig, ohne Gewaltanwendung und trotzdem oder vielleicht gerade deshalb unwiderstehlich war. Dieses Jahr 1989 hat nicht nur die DDR verändert und schließlich abgeschafft. Es hat Europa in einer Weise verändert, wie es selten in einem einzelnen Jahr in der Geschichte durchgreifende und nachhaltige Veränderungen auf unserem Kontinent gegeben hat. Innerhalb weniger Monate hat sich die politische Landschaft Europas grundlegend neu gestaltet. Die Ereignisse von 1989 gleichen jeweils für sich betrachtet einem Mosaik. Jedes einzelne Element für sich genommen ist wie eine Kerze, die zwar Licht gibt in der Finsternis, diese aber alleine ganz sicher nicht bezwingen kann. Erst ein Kerzenmeer - so wie in Leipzig - vermag es. Heute sind wir für jedes dieser Lichter und jedes der einzelnen Ereignisse auf den politischen Bühnen wie auf den Straßen Europas dankbar. Sie alle zusammen haben das „legendäre Revolutionsjahr 1989“ bewirkt und dazu beigetragen, das Ende der Teilung Deutschlands und Europas einzuleiten. Meine Damen und Herren, Eric Hobsbawm, der große britische Historiker, hat das 20. Jahrhundert als „Zeitalter der Extreme“ beschrieben - was es ganz offensichtlich war - und zugleich als das kurze Jahrhundert, das 1914 begonnen habe und 1989 zu Ende gewesen sei. Das ist jedenfalls eine interessante und, wie ich finde, kluge Interpretation. Tatsächlich ist das 19. Jahrhundert, das Zeitalter der rivalisierenden Nationalstaaten, im Ersten Weltkrieg kollabiert. Mit der Überwindung des Eisernen Vorhangs sowie der Etablierung demokratischer, frei gewählter Parlamente und Regierungen überall in Europa hat das 21. Jahrhundert begonnen. Die friedlichen Revolutionen vor 25 Jahren waren ein Glücksfall der Geschichte. Die Beispiele der allerjüngsten Demokratisierungsbewegungen - auch direkt vor unserer Haustür - zeigen allerdings, dass der glückliche Ausgang einer Freiheitsbewegung keiner Regel folgt, schon gar keinem Terminkalender und der Erfolg nicht sicher ist. Auch der Glaube, dass individuelle Freiheit, nationale Selbstbestimmung und territoriale Integrität jedenfalls in Europa nun unangefochten seien, erweist sich als gut gemeinte Illusion. Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren, vom südafrikanischen Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu stammt ein Satz, der nicht nur die Ereignisse des Jahres 1989, wie ich finde, zusammenfasst, sondern auch für ähnliche Entwicklungen in anderen Ländern seine Gültigkeit behält. Desmond Tutu schreibt: Nichts, nicht einmal die modernste Waffe, nicht einmal die auf brutalste Weise schlagkräftige Polizei, nein, überhaupt gar nichts wird die Menschen aufhalten können, wenn sie erst einmal entschlossen sind, ihre Freiheit und ihr Menschenrecht zu erringen. ({4}) Diese Einsicht, meine Damen und Herren, ist eine Ermutigung und eine Verpflichtung zugleich. Beides wollen wir heute bekräftigen. Vielen Dank. ({5}) ({6}) Wolf Biermann: Herr Lammert, ich freue mich, dass Sie mich hierhergelockt haben. Ich ahne schon, weil ich Sie ja als Ironiker kenne, dass Sie hoffen, dass ich den Linken ein paar Ohrfeigen verpasse. ({7}) Aber das kann ich nicht liefern. Mein Beruf war doch Drachentöter.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich kann Ihnen, Herr Biermann, mit einem Hinweis auf unsere Geschäftsordnung helfen: ({0}) Sobald Sie für den Deutschen Bundestag kandidieren und gewählt werden, dürfen Sie hier auch reden. ({1}) Heute sind Sie zum Singen eingeladen. Wolf Biermann: Ja. Aber natürlich habe ich mir in der DDR das Reden nicht abgewöhnt, und das werde ich hier schon gar nicht tun. ({2}) Ein Drachentöter kann nicht mit großer Gebärde die Reste der Drachenbrut tapfer niederschlagen. Die sind geschlagen. ({3}) Es ist für mich Strafe genug, dass sie hier sitzen müssen, dass sie das anhören müssen. ({4}) Wolf Biermann - „Wollen“. Ihr wollt immer; das weiß ich ja. Aber ihr könnt nicht. ({5}) Aber so neu bin ich nicht in der Welt. Einige Gesichter kenne ich ja. Jeder Einzelne ist ein Roman. Das muss mir keiner breitärschig erklären. ({6}) Sehr kompliziert. Aber als Gruppe, die ihr ja auch seid, seid ihr eben aus meiner Sicht keine Linken. ({7}) - „Gewählt“. Im Deutschen Bundestag kann man doch nicht erzählen, dass eine Wahl ein Gottesurteil ist, wenn man die deutsche Geschichte kennt. Sei nicht zu clever! - Gefährlich! ({8}) - Weiß ich doch. Eure Sprüche, die habt ihr drauf; ich weiß. Ich habe meine auch drauf. Wir müssen uns gar nichts erzählen. Also, ihr seid dazu verurteilt, das hier zu ertragen. ({9}) Ich gönne es euch. Ich weiß ja, dass die, die sich Linke nennen, nicht links sind, auch nicht rechts, sondern reaktionär, dass diejenigen, die hier sitzen, der elende Rest dessen sind, was zum Glück überwunden ist. Ich freue mich, dass ich hier ein Lied singen kann, die Ermutigung. ({10}) - Natürlich, ihr wollt lieber zersungen werden. Ich habe euch zersungen mit den Liedern, als ihr noch an der Macht wart. ({11}) Dieses Lied, das Herr Lammert gerne hören möchte und das ich auch gerne singe, Ermutigung - das sei bei dieser Gelegenheit angemerkt -, war bei denen, die Widerspruch anmeldeten, in verschiedenem Grade - manche sehr feige, manche sehr mutig, manche zu mutig -, wie ein Stück Seelenbrot, das sie gegessen haben. Ich weiß, dass manche, die im Gefängnis saßen, wie mein Freund Pastor Matthias Storck und seine Frau Tine, mit diesem Lied in der Zelle überlebt haben. Ich finde es wunderbar, dass dieses Lied aus den Gefängnissen der DDR heute im Parlament der deutschen Demokratie gesungen werden kann. Ist das nicht toll? ({12}) ({13}) ({14})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das war jetzt nicht Kanzlerwahl mit den üblichen Gratulationscouren am Präsidentenpult. Lieber Herr Biermann, ich möchte den Dank für diese Ermutigung aus gegebenem Anlass mit einer Gratulation verbinden. Sie feiern heute mit Ihrer Frau Pamela Ihre Silberhochzeit. ({0}) - Na ja, gut, und es wird gewiss kein Zufall sein, dass beides auf dasselbe Datum fällt. ({1}) Jedenfalls ist auch dies ein stolzes 25-jähriges Jubiläum. Ich vermute stark, dass Sie beide heute vor 25 Jahren, am 7. November 1989, nicht vermutet hätten, dass zu diesem Anlass ein frei gewähltes deutsches Parlament im Reichstagsgebäude zusammentreten würde. Im Namen des ganzen Hauses herzliche Gratulation und alle guten Wünsche für viele glückliche gemeinsame Jahre! ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor wir die vereinbarte Debatte zur Würdigung dieser damaligen Ereignisse beginnen, wollen wir einige der damals beteiligten Bürgerrechtler in kurzen Filmsequenzen zu Wort kommen lassen. Anschließend sehen wir einen kurzen Zusammenschnitt der denkwürdigen Sitzung des Deutschen Bundestages am 9. November 1989 im Bonner Wasserwerk. ({3}) Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Denen, die damals dabei waren, wie denen, die damals nicht dabei sein konnten, wird das in ähnlicher Weise nahegehen. Unter den Mitgliedern des 18. Deutschen Bundestages gibt es noch ganze elf Abgeordnete, die auch damals dem Deutschen Bundestag angehörten. Ich finde es schön, dass die nun folgende vereinbarte Debatte, die sich mit diesem Ereignis auseinandersetzen soll, mit einer dieser elf Abgeordneten beginnt. Vereinbarte Debatte Friedliche Revolution - 25 Jahre nach dem Mauerfall Ich erteile der Kollegin Gerda Hasselfeldt das Wort. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000825, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der 9. November 1989 war ein vergleichsweise gewöhnlicher Donnerstag in einer Sitzungswoche. Und doch sollte dieser Plenartag überraschend mit dem Singen unserer Nationalhymne enden, wie wir es gerade gesehen haben. Aus einem gewöhnlichen Tag, aber in durchaus bewegten Zeiten, wurde ein historischer Tag, der Tag, an dem die Mauer fiel. Es wurde der Schicksalstag der Deutschen. Auf das Ende der Plenarsitzung folgte dann auch eine außergewöhnliche Nacht, eine Nacht, die die Welt veränderte. Die damalige Situation im Plenarsaal, die Bilder, die in jenen Stunden um die Welt gingen, werde ich nie vergessen: Menschen aus Ost und West, die sich bislang nicht kannten, laufen aufeinander zu, fallen sich in die Arme, tanzen auf der Mauer vor dem Brandenburger Tor, und ihre Gesichtszüge sind von großer Freude und ebenso großer Ungläubigkeit geprägt. Scheinwerfer, die lange dazu dienten, Flüchtlinge aufzuspüren, beleuchten nun den Taumel des Glücks, das Ende von Diktatur und Spaltung. Von diesen Bildern ging meines Erachtens auch eine große Symbolkraft aus. Es war, als würde man in jedem Gesicht die Freiheit sehen. Es waren die Menschen in der ehemaligen DDR, die mit ihrem Engagement das Licht der Freiheit entzündet haben. Sie waren nicht alleine, sondern, wie der Herr Bundestagspräsident in seiner Rede zum Ausdruck gebracht hat, begleitet von vielen Menschen in vielen anderen europäischen Ländern, die auch in ihrer Heimat für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte mutig gekämpft haben. Das alles geschah ohne Blutvergießen, ohne einen einzigen Schuss. Hierfür, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, empfinde ich noch heute große Dankbarkeit. ({0}) Vielleicht haben wir im Westen erst in diesen Stunden so richtig begriffen, welche Kraft die Sehnsucht vieler Menschen nach Freiheit entfalten kann, dass sie Furcht und Angst überwindet und einen Staat, der den Menschen die Freiheit vorenthält, auch in die Knie zwingen kann. Was es aber heißt, durch eine Mauer der eigenen Freiheit beraubt zu sein, was es heißt, von einem Unrechtsregime bespitzelt und gegängelt zu werden, das haben die vielen politischen Gefangenen, das haben die Flüchtlinge und Ausreisewilligen und vor allem die Mauertoten aufs Bitterste gelehrt. Ihnen allen wollen wir auch heute gedenken. Der Fall der Mauer, meine Damen und Herren, war der erste Schritt in Richtung Freiheit. Ihm sollte dann der zweite in Richtung Einheit folgen. Fasziniert haben wir miterlebt, wie bei den Montagsdemonstrationen aus dem Ruf „Wir sind das Volk“ dann „Wir sind ein Volk“ wurde und damit plötzlich die Frage der deutschen Einheit auf der weltpolitischen Agenda stand. Die Wiederherstellung der staatlichen Einheit war für uns in der Union nie ein Lippenbekenntnis, sondern immer eine Herzensangelegenheit. ({1}) Wir haben in all den Jahrzehnten der Teilung am Gedanken der deutschen Einheit festgehalten, auch und gerade als dies im Westen Deutschlands zunehmend unpopulärer wurde und die politische Bereitschaft wuchs, sich mit einer Zweistaatlichkeit zu arrangieren. Ich darf ganz persönlich sagen: Auf diesen klaren Kurs der Union bin ich auch heute und gerade heute besonders stolz. ({2}) Bayern hat durch seine Klage gegen den Grundlagenvertrag vor dem Bundesverfassungsgericht im Jahre 1973 erreicht, dass das im Grundgesetz verankerte Wiedervereinigungsgebot für alle Verfassungsorgane unverändert bindend blieb. Tatsächlich ist am 3. Oktober 1990 die staatliche Einheit Deutschlands in freier Selbstbestimmung in Erfüllung gegangen. Unvergessen ist dabei die historische Leistung von Bundeskanzler Helmut Kohl. Er hat die einmalige Chance mit Mut und Überzeugungskraft ergriffen, als sich mit dem Mauerfall das Tor zur Einheit unseres Vaterlandes öffnete. ({3}) Es ist heute aber ebenso wichtig, die großartige Aufbauleistung der Bevölkerung und der Politiker in den östlichen Bundesländern zu würdigen. Auf das, was dort in den vergangenen 25 Jahren gemeinsam erreicht wurde, können alle stolz sein. ({4}) Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, nach dem Mauerfall gehören in Deutschland staatliche Unterdrückung und Willfährigkeit der Vergangenheit an. Doch Freiheit, Demokratie und Menschenrechte sind uns nicht einfach so gegeben. Das lehrt uns unsere Geschichte, und das lehren uns auch die Krisenherde dieser Welt. So darf der 9. November 1989 für uns nicht nur ein Tag der Freude und der Dankbarkeit sein, sondern soll uns gleichsam Verpflichtung und Auftrag sein, immer und überall für die Werte einzutreten, für die ein ganzes Volk im Herbst 1989 mutig gekämpft hat. Ich danke Ihnen. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun die Kollegin Iris Gleicke. ({0})

Iris Gleicke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000687, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Antwort auf die Frage, warum es die Mauer gegeben hat, ist ganz einfach und unglaublich schwer. Man muss die Antwort darauf aus meiner Sicht immer damit beginnen, dass die Mauer ein Monstrum gewesen ist, ein monströses Bauwerk und eine furchtbare Grenze. An dieser Grenze sind Deutsche von Deutschen ums Leben gebracht worden, weil sie ein anderes und besseres, weil sie ein freies Leben wollten. Wer das Leben in der Diktatur nicht mehr ertrug und versuchte, die Mauer zu überwinden, der riskierte sein Leben oder zumindest schwere und schwerste Verletzungen und Jahre im Knast. Wir gedenken der Toten; wir gedenken der Opfer, und wir fühlen mit ihren Angehörigen. An dieser Mauer sind Menschen gestorben, und an dieser Mauer sind unzählige Träume zerschellt. Wie auch immer diejenigen ihr Tun zu rechtfertigen versuchten, die die Mauer errichten ließen - was blieb, war ein Albtraum für ein ganzes Volk. Man kann die Mauer in ihren historischen Kontext einordnen; aber man kann sie nicht rechtfertigen. Das ist das, worauf es ankommt. ({0}) Es gab und es gibt keine Rechtfertigung für den Schießbefehl und für den Versuch, die eigene Bevölkerung zur Geisel zu nehmen. Die Mauer war weitaus mehr als der bloße Ausdruck von Willkür einer politischen Clique, die rücksichtslos ihr Herrschaftsgebiet sichern wollte und bereit war, dafür über Leichen zu gehen. Sie war das zu Stein gewordene Symbol der Teilung Deutschlands, Europas und der Welt. Sie war der weithin sichtbare Ausdruck des Kalten Krieges. Die Mauer - wir dürfen das niemals vergessen - war ebenso wie die DDR-Diktatur in letzter Konsequenz eine Folge des verbrecherischen Zweiten Weltkriegs, den Deutschland angezettelt hatte und der in der ebenso verdienten wie totalen Niederlage endete. Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg. Dieser Konsens muss fortbestehen. Von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen! ({1}) Meine Damen und Herren, vergessen wir bitte auch nicht, dass die Deutschen in Ost und West in sehr unterschiedlicher Weise für den Zweiten Weltkrieg bezahlt haben: Für die Westdeutschen gab es die repräsentative Demokratie, den Marshallplan und die soziale Marktwirtschaft. Für die Ostdeutschen gab es die Diktatur, den Abbau ganzer Industrieanlagen und eine zum Scheitern verurteilte Planwirtschaft. Und es gab eine fast unüberwindliche Grenze. Die Teilung unseres Landes hat über 40 Jahre lang gedauert. Es erstaunt mich immer wieder, dass es heute Leute gibt, die offenbar ernsthaft glauben, dass sich diese Teilung mit all ihren Folgen innerhalb von nur 25 Jahren vollständig überwinden ließe. Das ist, mit Verlaub, eine lächerliche Vorstellung. Wir haben unglaublich viel erreicht in den letzten 25 Jahren, um die Folgen der Teilung zu beseitigen, und den Rest schaffen wir auch noch. ({2}) Aber es ist noch ein ganzes Stück Weg zu gehen. Ich wünsche mir so sehr, dass wir diesen Weg gemeinsam gehen, im Miteinander und ohne die groteske Erbsenzählerei, mit der manche die Kosten der Einheit bis hinters Komma berechnen wollen. Manchmal sehne ich mich zurück nach dieser Zeit im November des Jahres 1989, als die Deutschen sich in den Armen gelegen haben. Ich erinnere mich - ({3}) Ich erinnere mich an die Tränen in den Augen und an diese unbändige Freude und Erleichterung. Und dann frage ich mich: Was ist uns heute eigentlich davon geblieben? - Vielleicht geben uns die kommenden Tage etwas von diesem Gefühl zurück. Ich würde es uns allen wünschen. ({4}) Ich wünsche uns schöne und fröhliche Feiern. Ich wünsche uns, dass das Gedenken nicht irgendwann zum Ritual erstarrt und dass der Ausdruck von innerer Betroffenheit nicht irgendwann zur Maske wird. Meine Damen und Herren, es gibt in der Geschichte keine Zwangsläufigkeit und keine Gewissheit; aber es gibt immer die Hoffnung auf die Vernunft und darauf, dass sie sich durchsetzt. Man kann das nicht besser sagen als mit den Worten Willy Brandts, der 1964 hier in Berlin erklärte, die Mauer stehe gegen den Strom der Geschichte und gegen das Gebot der Menschlichkeit. ({5}) Willy Brandt hat seinen Teil dazu beigetragen, dass sich die Vernunft durchsetzen konnte und dass sich seine Hoffnungen erfüllten. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sind stolz darauf. ({6}) Die Mauer wurde fortgespült vom Strom der Geschichte. Sie hatte keinen Bestand. Sie wurde niedergerissen von den Ostdeutschen, die sich ihre Freiheit selbst erkämpft haben mit einer Revolution, bei der kein einziger Schuss gefallen ist und die wir deshalb voller Stolz als „unsere friedliche Revolution“ bezeichnen dürfen. Die Mauer ist gefallen; dieser Traum ist wahr geworden. Andere Träume, die wir damals in diesen Tagen der Hoffnung hatten, haben sich bislang noch nicht erfüllt. Was ist eigentlich aus der Sehnsucht danach geworden, dass aus den Schwertern Pflugscharen werden? Und was ist eigentlich aus Michail Gorbatschows Vision vom gemeinsamen Haus Europa geworden? ({7}) Wir sind ein Volk. Es ist an uns, all unseren Nachbarn zu beweisen, dass wir diese Träume nicht aufgegeben haben, niemals aufgeben werden und dass wir unverdrossen auf die Kraft der Vernunft sowie auf eine bessere Zukunft vertrauen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Gregor Gysi. ({0})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor dem Fall der Mauer fand die legendäre Kundgebung am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz statt. Diese Kundgebung war selbstbestimmt, souverän, kulturvoll und hatte viel Humor. Damals ging es um eine grundlegende Reform der DDR; die Hauptlosung aber lautete: keine Gewalt. Das galt auch später bei der Maueröffnung und für die gesamte friedliche Revolution. Es ist eine historische Leistung aller Beteiligten in der DDR, dass es damals zu keinem Zeitpunkt Gewalt gab. ({0}) Die DDR war eine Diktatur, sie war kein Rechtsstaat. In ihr gab es staatlich angeordnetes, auch grobes Unrecht. Der wachsende Mut der Bürgerinnen und Bürger der DDR resultierte auch daraus, dass man die Sowjetunion nicht mehr gegen sich, sondern hinter sich wusste, und glaubte, es allein mit der SED-Führung aufnehmen zu können - zu Recht. Nach dem Fall der Mauer ging es dann um die Überwindung der Spaltung Deutschlands und Europas. Der Fall der Mauer war für die Bürgerinnen und Bürger der DDR ein ungeheurer Befreiungsakt. Niemals vorher und nachher habe ich so überglückliche Gesichter im Fernsehen gesehen wie in dieser Nacht. Es ist nicht hinnehmbar, wenn einer Bevölkerung gesagt wird, dass, abgesehen von bestimmten erlaubten Dienstreisen oder von einigen dringenden Familienangelegenheiten, nur Invalide sowie Altersrentnerinnen und Altersrentner den Westteil der Stadt Berlin, Hamburg, München, Stuttgart, Paris oder London sehen dürfen. In der Regel bedeutete das für Frauen, dass sie 60 Jahre, und für Männer, dass sie 65 Jahre alt werden mussten, bis sie sich den größeren Teil der Erde anschauen durften. Für sie war der Westen fast so weit weg wie der Mond. Der Fall der Mauer veränderte aber auch das Leben der Westdeutschen, der Europäerinnen und Europäer und führte weltweit zu neuen Strukturen. Beim Fall der Mauer gab es nämlich genau so glückliche Gesichter im Westteil der Stadt Berlin wie in der alten Bundesrepublik. Das Problem ist - das will ich hier offen sagen -, dass wir statt der Vereinigung einen Beitritt hatten. Die Bundesregierung konnte nicht aufhören, zu siegen, und hat sich deshalb im Osten nichts angesehen. Wenn man Dinge wie das Kindertagesstättennetz, die Polikliniken, jetzt Ärztehäuser, oder die Berufsausbildung mit Abitur oder einige andere Punkte übernommen hätte - vieles musste verschwinden -, dann hätte das das Selbstbewusstsein der Ostdeutschen gestärkt und hätte vor allem dazu geführt, dass die Westdeutschen mit der Vereinigung eine Qualitätssteigerung erlebt hätten, was ihnen nicht gegönnt wurde. ({1}) Dadurch entstand bei den Westdeutschen die Illusion, für sie bleibe alles, wie es war. Aber nicht nur die DDR ist verschwunden, sondern auch die alte Bundesrepublik. Damit hängen auch einige Enttäuschungen zusammen. Die alte Bundesrepublik war sozialer als die vereinte. Die alte Bundesrepublik hätte, im Unterschied zur vereinten, niemals Krieg geführt. ({2}) Zurück zu Ostdeutschland. In der Super Illu vom 9. Oktober 2014 ist eine interessante Umfrage veröffentlicht. Danach schätzt eine Mehrheit der Ostdeutschen ein, dass es ihr in zehn Punkten deutlich besser geht als in der DDR, in zehn Punkten wird das Gegenteil behauptet. Die zehn Punkte, in denen es ihnen nach eigener Einschätzung besser geht, beziehen sich in der Reihenfolge nach den Mehrheiten auf das Warenangebot, den Urlaub, die Weltoffenheit, die Meinungsfreiheit, die Entscheidungsfreiheit der Einzelnen und des Einzelnen, die Wohnverhältnisse, den Umweltschutz, die Selbstverwirklichung und die Verwirklichung der Menschenrechte. Wir müssen allerdings auch zur Kenntnis nehmen, in welchen zehn Punkten die Mehrheit der Ostdeutschen meint, dass es ihr diesbezüglich in der DDR besser gegangen sei. Wiederum in der Reihenfolge nach den Mehrheiten bezieht sich das auf sichere Arbeitsplätze, die sicheren, niedrigen Mieten, die Kinderbetreuung, den Gemeinschaftssinn ({3}) - ich sage ja nur, was die Ostdeutschen denken; ich sage gar nicht, dass ich es teile -, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, die Sportförderung, ({4}) den Zusammenhalt der Familien, die soziale Gerechtigkeit und die Gleichberechtigung von Frauen und Männern. Abgesehen von interessanten kulturellen Momenten bringt das im Kern doch eines zum Ausdruck. Die Ostdeutschen wollen beides: die Freiheit der Bundesrepublik und höhere soziale Sicherheit und Gerechtigkeit, wie sie sie von früher kannten. Es gilt aber für alle Menschen in Deutschland folgender Zusammenhang: Soziale Sicherheit und Gerechtigkeit ohne Freiheit taugen ziemlich wenig. ({5}) Freiheit ohne soziale Sicherheit und soziale Gerechtigkeit verliert an Bedeutung, sie ist zum Teil nicht nutzbar. Wir alle hier im Saal sind privilegiert. Unsere Meinung können wir ziemlich öffentlich verkünden, die meisten Menschen nur untereinander. Wir können es uns leisten, nach London, New York oder Paris zu reisen; für viele ist dies nicht bezahlbar. Deshalb ist es so wichtig, die Einheit von Freiheit, Demokratie, sozialer Sicherheit und sozialer Gerechtigkeit herzustellen. ({6}) Wir brauchen endlich gleiche Lebensqualität in Ost und West. Es ist doch nicht zu viel verlangt, dass gleicher Lohn für gleiche Arbeit in gleicher Arbeitszeit in Ost und West bezahlt wird. Es ist doch nicht zu viel verlangt, dass endlich die gleiche Rente für die gleiche Lebensleistung in Ost und West bezahlt wird. ({7}) Es ist auch nicht zu viel verlangt, dass man bei der Mütterrente für ein Ostkind nicht weniger bekommt als für ein Westkind. ({8}) Ich möchte den Respekt für die Lebensleistungen in den Biografien, und zwar in Ost und West gleichermaßen. Die Mauer ist gefallen. Sie muss, soweit noch vorhanden, endlich auch in den Köpfen überwunden werden. Meiner Generation ist das zum Teil schwergefallen, in der Generation meiner 18-jährigen Tochter ist das überhaupt kein Problem mehr. Ich meine, die Mauern müssen generell fallen, und wir dürfen keine neuen errichten. Damit meine ich die Mauer zwischen Mächtigen und Ohnmächtigen weltweit und in unserer Gesellschaft, die Mauer zwischen Armen und unvorstellbar Reichen weltweit und in unserer Gesellschaft und auch die Mauer an den Außengrenzen der Europäischen Union. ({9}) Wir dürfen nicht die Flüchtlinge bekämpfen, sondern wir müssen die Fluchtursachen bekämpfen. Außerdem hat man Flüchtlinge einfach anständig zu behandeln. ({10}) Lassen Sie mich zum Schluss einen Wunsch äußern: Die große Feier zum 25. Jahrestag der deutschen Einheit im nächsten Jahr sollte außerhalb der Regel in Leipzig begangen werden. Leipzig hat sich das verdient. ({11})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die nächste Rednerin ist die Kollegin Katrin GöringEckardt.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 25 Jahre, das ist mehr als ein Jubiläum. Das ist eine Generation. 20 Millionen Deutsche wurden nach 1989 geboren, 22 Millionen Menschen sind neu zu uns gekommen und 17 Millionen Menschen haben unser Land verlassen. Deutschland ist heute ein anderes Land; aber das Vergangene ist nicht vorbei. Die gespannte Atmosphäre der Friedensgebete, der Geschmack der ersten erkämpften Freiheit auf den Straßen von Plauen, Dresden, Leipzig, Arnstadt, auf dem Alexanderplatz, die Freude am Mitgestalten an den Runden Tischen im ganzen Land, die Selbstemanzipation eines Volkes - das begleitet uns bis heute. Wo bist du gewesen, damals, am 9. November? Auch diese Frage begleitet uns. Ich saß am Fernseher. Mein ältester Sohn ist nur ein paar Wochen älter als der Einsturz der Mauer. Dass er heute einer Tageszeitung sagen kann, dass bei uns am Küchentisch immer über Politik gesprochen wurde, das ist großartig. „Meine Kinder“, sagt er - inzwischen hat er drei -, „sollen einmal politische Menschen werden.“ Das Mitgestalten und die Selbstemanzipation tragen sich fort. Mauerstücke aus dem Eisernen Vorhang wurden immer wieder herausgebrochen, nicht nur 1953, 1956, 1968, 1980. 1956 standen neben den Ungarn auch Studierende in Rumänien auf. 1962 wurden 24 protestierende Arbeiter in der Sowjetunion massakriert. Diese Revolution trägt die Namen von Vaclav Havel, von Andrej Sacharow und Jelena Bonner, von Herta Müller und Lech Walesa, von Marianne Birthler und Bärbel Bohley, und - als evangelische Christin sage ich das sie trägt auch den Namen von Johannes Paul II. Diese Revolution war nicht schwarz-rot-gold; sie war der Beginn eines gemeinsamen, eines wahren, eines wirklichen Europa. ({0}) Die Revolution war nicht zuerst erfolgreich wegen der Diplomaten und Staatschefs, sondern weil die DDRDiktatur mit allem gerechnet hat, nur nicht mit Kerzen. Die DDR war auch nicht nur wirtschaftlich pleite, sie war politisch, moralisch und ökologisch bankrott, ({1}) und natürlich war die DDR ein Unrechtsstaat. Alle, die versuchen, darum herumzulavieren, müssen sich anschauen, was war: Ein Staat ohne demokratische Selbstbestimmung, ohne Transparenz der öffentlichen Meinung, ohne unabhängige Justiz ist erst einmal, ganz banal, eine Diktatur, kein zweiter Nationalsozialismus, auch kein Stalinismus wie in der Sowjetunion der Gulags. Aber nur, weil die DDR versucht hat, sich den Mantel der Rechtsförmigkeit umzulegen, wird sie eben nicht zum Rechtsstaat. ({2}) Wer einen Ausreiseantrag gestellt hatte, verlor seinen Arbeitsplatz trotz Arbeitsgesetzbuch, und wem eine feindlich-negative Grundhaltung unterstellt wurde, wurden möglicherweise seine Kinder weggenommen, trotz Familiengesetzbuch. Der Zorn der SED traf nicht nur die Oppositionellen; er traf deren Töchter, Söhne oder gar Freunde. In der DDR verliefen Alltag und Willkür parallel; da kann man sich noch so sehr winden. Deshalb muss heute klipp und klar gesagt werden: Es geht nicht darum, Biografien von früher zu be- oder entwerten. Ulrike Poppe hat zu Recht gesagt: Die DDR, das waren wir alle. Es war richtiges Leben im falschen, aber daneben war es eben auch das Grundfalsche. Ich habe meinen Vater - er war Tanzlehrer, einer der wenigen selbstständigen Berufe in der DDR - mehrfach zum Vortanzen in einen Jugendwerkhof begleitet. Da saßen Jugendliche im Knast, bis aufs Gröbste ihrer Würde beraubt, manchmal für Diebstahl, aber oft genug einfach nur für ein falsches Wort. Ich kann die zittrigen Hände des 16-Jährigen nicht vergessen, der mir seinen Namen nicht sagen durfte, der nur sagen konnte: Ich hab doch nichts gemacht, nur einen Witz, einen Witz über die Mauer. Um dessen Biografie geht es, mindestens ebenso wie um die Biografie des Zerspaners, den sie in Westdeutschland Dreher nennen, der plötzlich irgendwie zum Staatsfeind wurde, ohne genau zu wissen, warum. Es geht auch um die Biografie der Chemikerin, die im Wissenschaftsbetrieb war und einfach versucht hat, nicht anzuecken. Biografien haben wir alle; aber unsere besondere Aufmerksamkeit und die Aufarbeitung dessen, was war, müssen zu allererst denen gelten, die gelitten haben und manchmal bis heute unter dem leiden, was ihnen angetan worden ist, meine Damen und Herren. ({3}) Ich will dies in alle Richtungen sagen, weil ich fest davon überzeugt bin, dass Aufarbeitung der Geschichte nur dann geht, wenn man sich das je Eigene anschaut. Das gilt für Sie von der Union ganz genauso mit den Blockparteien der DDR wie für die Linke. Einen Unterschied gibt es allerdings, nämlich den, dass in der Union heute niemand bestreiten würde, dass die DDR ein Unrechtsstaat war. Aber wenn wir Schuldeingeständnis und Versöhnung wollen, dann müssen wir heute auch den Jungen sagen können: Haben wir tatsächlich angeschaut, was gewesen ist, sind wir damit tatsächlich umgegangen, oder haben wir geschwiegen oder es ignoriert? 25 Jahre danach ist es Zeit, auch das Schweigen über die eigene Geschichte und den eigenen Umgang mit ihr zu brechen. Meine Damen und Herren, heißt eigentlich von Ossis lernen Siegen lernen? 2015 werden mit dem Bundespräsidenten, dem Präsidenten des Bundesrates und der Bundeskanzlerin vermutlich drei der fünf höchsten Staatsämter des Landes von Menschen besetzt sein, die ihre Biografie in der DDR begonnen haben. 25 Jahre haben viele Biografien, aber auch das Land und die Landschaften verändert. 1986, nach dem Super-GAU in Tschernobyl, begann es mit den Umweltbibliotheken, 1989 stand das Land vor dem ökologischen Zusammenbruch. Nein, das, was wir heute erleben, das sind nicht die verspätet blühenden Landschaften. Aber dass Ostdeutschland heute eine Vorreiterrolle bei den erneuerbaren Energien einnimmt, das ist nach Braunkohlegestank und vergifteten Flüssen schon erstaunlich. Nach 1989 gab es aber auch Verwerfungen. Es gab Menetekel wie Lichtenhagen oder Hoyerswerda, es wurden Fehler gemacht. Es gab viele und vielleicht für manche zu viele Versprechungen, die nicht einlösbar waren; auch wurden Menschen allein gelassen. Dennoch hat sich das zentrale Versprechen der friedlichen Revolution erfüllt, nämlich die Freiheit, die keine hohle Phrase ist. Es kann schon sein, dass jemand doof findet, was das Staatsoberhaupt sagt. Aber hier kommt man dafür nicht in den Knast, sondern man kriegt seine Zeit in der Tagesschau. ({4}) Freiheit, das ist das großartigste und wunderbarste Geschenk, das wir bekommen haben. Es ist doch nicht erstaunlich, dass Leute aus Krieg, Verfolgung, Unfreiheit und Vertreibung hierherkommen und diese Freiheit mit uns teilen wollen. Freiheit gehört zu den Dingen, die größer und mehr werden, wenn man sie teilt. 25 Jahre danach können wir sie jeden Tag erleben, und vor 25 Jahren hätte ich jede Wette gemacht, dass ich niemals hier stehen würde. Vielen Dank. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Der letzte Redner in dieser vereinbarten Debatte ist der Kollege Arnold Vaatz. ({0})

Arnold Vaatz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003248, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gestatten Sie mir, mit einem Zitat zu beginnen: Wir haben hier warme und sichere Unterkunft für jeden, wir haben hier medizinische Betreuung, jeder wird satt, und es gibt Arbeit für alle. - Das sagte der Strafvollzugsbeamte, der uns am 23. Dezember 1982 in der Strafvollzugseinrichtung Unterwellenborn begrüßte, zu uns. Das heißt, es gibt eine ganze Reihe von Dingen, die wichtig sind für Menschen, die man aber in jedem Gefängnis bereitstellen kann. ({0}) Meine Damen und Herren, das hat Herr Gysi richtig gesagt: Ohne Freiheit sind alle diese Dinge nicht viel. Ich füge dem hinzu: Sie sind nichts. ({1}) Der Mauerfall, über den wir heute sprechen, ist ganz wesentlich von jenen bewirkt worden, die im Sommer 1989 in Scharen die DDR verlassen haben, alles hinter sich gelassen haben, überhaupt nicht an alle diese Dinge gedacht haben, die heute den größten Teil unserer politischen Auseinandersetzung in der Bundesrepublik Deutschland ausmachen, die nur eines wollten: wenn nötig, mit dem nackten Leben den Zustand hinter sich lassen, der sie einengt, der sie ihrer Selbstbestimmung und ihrer Würde beraubt. Das war das Ziel; das haben sie erreicht. ({2}) Das war der entscheidende Anstoß dafür, dass diese Mauer fiel. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich aber auch sagen: Der Mauerfall als solcher mag mit seinen Bildern die ganze Welt fasziniert und in seinen Bann gezogen haben; aber es war noch nicht der Durchbruch. Nach dem Mauerfall erwartete uns alle in Ostdeutschland noch härteste Arbeit, um tatsächlich der Demokratie zum Durchbruch zu verhelfen; denn wie Sie vielleicht wissen, hatten die Grenzbeamten damals Anweisung, einen sogenannten Querulantenstempel in die Ausweise zu setzen. Was bedeutete das? Etliche bekamen die Stempel aufs Passbild, mit der Absicht, sie nicht wieder rüberzulassen, wenn sie wieder rüberkommen wollen. Das ist verbürgt. Das heißt, die Möglichkeit, die Mauer wieder zu schließen, die Möglichkeit, 300 000 Menschen wegzulassen und dann zu sagen, jetzt machen wir wieder zu, und mit dem Rest werden wir leicht fertig, hat nach dem Mauerfall theoretisch noch bestanden. Aber, meine Damen und Herren, wir sind eben weiter gegangen und haben dann versucht, die Strukturen zu zerstören, die wesentlich waren, um genau den Zustand DDR so lange Jahre aufrechtzuerhalten. Das Besondere ist die Besetzung der Staatssicherheit, und das Besondere ist, dass wir es dann geschafft haben, wirklich freie Wahlen abzuhalten. Meine Damen und Herren, was wir damals erlebt haben, sollte uns heute eine Mahnung sein, dafür zu sorgen, dass auch alle diejenigen sich unserer Solidarität sicher sein können, die aus einer ähnlichen Situation herauswollen, aus der wir damals mit Erfolg herausgekommen sind. ({3}) Wir waren in Ostdeutschland nicht in erster Linie die Untertanen der SED. Wir waren über 40 Jahre lang die Untertanen der Sowjetunion. Die SED hätte nicht bei uns regieren können, wenn nicht ständig 500 000 russische Soldaten in den Kasernen als Besatzungsmacht anwesend gewesen wären. Meine Damen und Herren, deshalb macht es mich besonders nachdenklich, wenn ich einerseits vom Herrn Bundestagspräsidenten höre, dass der sanftmütige und freundliche Vaclav Havel unmittelbar vor den Ereignissen in den Tschechoslowakei im Sommer 1989 wegen Rowdytums eingesperrt war. Andererseits höre ich, wie eine ganze Regierung, nämlich die in Kiew, pauschal als faschistisch verunglimpft wird. Das ist dieselbe Tonlage, meine Damen und Herren, und diese Tonlage möchte ich heute im wiedervereinigten Deutschland in diesem Hause nicht mehr hören. ({4}) Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir am Ende mit Ihrer Genehmigung, Herr Präsident, noch einen Vers zu zitieren von unserem Freund Wolf Biermann, der uns heute hier ein Lied gesungen hat. Er hat noch mehr gedichtet, zum Beispiel die „Ballade vom gut Kirschenessen“. Da trifft er im Traum Robert Havemann und schreibt dann: Ich sang ihm die schönsten Lieder Da wurde der Himmel plötzlich schwarz Von tausendfachem Gefieder Ein Schwarm flog in die kalte Nacht Und krächzte im Nieselregen ({5}): „Dem Abendrot, dem Abendrot, dem Abendrot entgegen“ Gen Osten gegen den Wind anschrien Im Flug die verzauberten Raben Und jetzt kommt der entscheidende Satz. Jetzt weiß ich: Sie haben uns alles verziehen Was sie uns angetan haben. Vielen Dank. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe diese denkwürdige Debatte. Liebe Kolleginnen und Kollegen, am 9. November 1989 haben sich die Abgeordneten im Bonner Wasserwerk spontan von ihren Plätzen erhoben und die Nationalhymne angestimmt. Heute beenden wir unsere Aussprache zu diesen historischen Ereignissen vereinbarungsgemäß mit dem Lied der Deutschen: Einigkeit und Recht und Freiheit. ({0}) Vielen Dank. Ich unterbreche die Sitzung für drei Minuten, damit wir einen geordneten Schichtwechsel organisieren können. Wir setzen dann die Tagesordnung fort. ({1})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. Ich darf Sie bitten, wieder Platz zu nehmen, damit wir die Sitzung fortsetzen können. - Die, die noch dringend Vizepräsidentin Ulla Schmidt Unterhaltungen führen müssen, bitte ich, dies außerhalb des Saales zu tun. - Vielen Dank. Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe, kommen wir noch zu einer nachträglichen Ausschuss- überweisung. Interfraktionell ist vereinbart, den Ent- wurf eines Gesetzes der Bundesregierung zur weiteren Entlastung von Ländern und Kommunen ab 2015 und zum quantitativen und qualitativen Ausbau der Kinderta- gesbetreuung auf Drucksache 18/2586 nachträglich auch an den Ausschuss für Arbeit und Soziales zu überwei- sen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 30 a und b auf: a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung des Elterngeld Plus mit Partnerschaftsbonus und einer flexibleren Elternzeit im Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz Drucksachen 18/2583, 18/2625 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0}) Drucksache 18/3086 - Bericht des Haushaltsausschusses ({1}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/3087 b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Franziska Brantner, Katja Dörner, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Echte Wahlfreiheit schaffen - Elterngeld flexibler gestalten Drucksachen 18/2749, 18/3086 Zu dem Gesetzentwurf liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich erteile jetzt der Bundesministerin Manuela Schwesig das Wort. ({3})

Manuela Schwesig (Minister:in)

Politiker ID: 11005313

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Ich bin dem Deutschen Bundestag sehr dankbar für die Feststunde heute zum 25. Jahrestag des Mauerfalls. Frau Katrin Göring-Eckardt hat es bereits gesagt: Gerade wir, die in Ostdeutschland groß geworden sind, fragen uns gelegentlich, was wäre, wenn die Mauer nicht eingerissen worden wäre. - Ich kann für mich sagen: Ich würde heute mit Sicherheit nicht als Bundesfamilienministerin hier stehen können, was ich sehr bedauern würde. Ich hoffe, einige von Ihnen auch. ({0}) Ich freue mich sehr, dass ich an diesem Tag die Gelegenheit habe, das wichtige familienpolitische Projekt Elterngeld Plus als ersten Schritt zur Familienarbeitszeit mit Ihnen abschließend zu beraten. Ich möchte mich ganz herzlich bedanken, weil ich schon in den parlamentarischen Beratungen im Ausschuss gespürt habe, dass es über Fraktionsgrenzen hinweg viel Unterstützung gibt. Das ist ein gutes Signal. Das ist auch ein gutes Signal für die Familien in Deutschland. Im Januar hat mir eine Frau aus Leipzig geschrieben: Ich würde mich freuen, wenn das Elterngeld Plus für mich greifen würde, weil das ein großer Anreiz wäre, auch in Elternzeit meinen Teilzeitarbeitsplatz zu behalten und nicht ganz auszusteigen. Im Juli haben bei einer Allensbach-Befragung 67 Prozent der Eltern mit Kindern unter drei Jahren gesagt: „Das ElterngeldPlus ist eine gute Regelung.“ Heute ist es so weit: Der Bundestag wird das Elterngeld Plus beschließen. Wir schlagen mit dem Elterngeld Plus ein neues Kapitel in der Familienpolitik auf. Wir gehen einen Schritt in Richtung einer modernen Familienpolitik, die berücksichtigt, dass Mütter und Väter Zeit für die Familie, aber auch gleichzeitig Zeit für den Job haben wollen. Wir wollen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf stärken. Wir stärken damit allen jungen Eltern den Rücken, die gemeinsam für ihre Kinder da sein und ihre berufliche Entwicklung dafür nicht aufgeben wollen. Wir bestärken Mütter und Väter darin, mit dem Elterngeld Plus im Rücken früher in den Job zurückzukehren. Wir stärken Mütter und Väter, die Familie und Beruf partnerschaftlich vereinbaren wollen. Die Frau, die mir im Januar geschrieben hat, ist Managerin für Künstler, ihr Mann Kirchenmusiker. Sie würde gern schon recht früh nach der Geburt ihres Kindes wieder in den Beruf einsteigen, aber in Teilzeit nicht zuletzt, weil sie ihre Arbeit auch gut von zu Hause aus machen kann. Mit dem Elterngeld Plus kann sie das tun und trotzdem ihren Elterngeldanspruch ausschöpfen. Denn wer während des Elterngeldbezugs wieder einsteigt und Teilzeit arbeitet, bekommt doppelt so lange Elterngeld Plus. Das ist der erste Vorteil des neuen Gesetzes. Das Elterngeld Plus kommt den Bedürfnissen von Eltern entgegen, die nach der Geburt ihres Kindes wieder in den Job einsteigen wollen, aber eben in Teilzeit, um auch Zeit für die Familie zu haben. Wenn auch der Mann wieder in Teilzeit einsteigt oder seine Arbeitszeit redu6006 ziert - je nachdem, in welcher Situation er ist -, wenn sich also beide Zeit für das Kind nehmen, aber auch Zeit in den Job investieren, dann gibt es Partnerschaftsboni. Es gibt vier zusätzliche Elterngeld-Plus-Monate, wenn beide während des Elterngeldbezugs Teilzeit arbeiten, und zwar vier für den einen Partner und vier für den anderen Partner. Der Partnerschaftsbonus ist der zweite Vorteil des Elterngeld Plus. Partnerschaftlichkeit wird belohnt. Mehr Partnerschaftlichkeit - damit ist das Elterngeld Plus ein Schritt hin zu einer Familienarbeitszeit, eine Arbeitszeit für Familien in Deutschland, die beides ermöglicht: Zeit in den Job zu investieren, aber eben auch Zeit für Kinder zu haben. Das wünschen sich Paare. 60 Prozent der Paare mit Kindern unter drei Jahren wünschen sich, dass beide Zeit für die Familie haben und eben auch Zeit für die Kinder. Aber nur 14 Prozent der Paare schaffen es. In Deutschland haben wir die Situation, dass fast alle Männer Vollzeit arbeiten, aber als Väter die Arbeitszeit gerne ein wenig reduzieren wollen. Und wir haben die Situation, dass die meisten Mütter zwar im Job sind, aber oft nur 19 Stunden arbeiten und gerne mehr arbeiten möchten. Sie wünschen sich ein Modell, in dem sich die Arbeitszeiten angleichen, partnerschaftlich auf Augenhöhe und nicht starr vorgeschrieben in Form einer 30-, 32- oder 35-Stunden-Woche, sondern gemeinsam ausgehandelt. So würde sich die Lücke allmählich schließen. Das wünschen sich die Paare. Das wäre für die Paare und ihr Familieneinkommen gut, aber auch für die Wirtschaft gut; denn bekanntlich ist zweimal 32 mehr als einmal 40. Das haben Fachleute wie der DIHK-Chef Schweitzer erkannt. ({1}) Ein weiterer Schritt hin zur Familienarbeitszeit ist das Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf, über das wir in einer Woche hier im Bundestag beraten. Zur partnerschaftlichen Vereinbarkeit von Beruf und Familie gehört natürlich auch eine gute, ausreichende und bedarfsgerechte Kinderbetreuung. Mit dem neuen Kitagesetz beteiligt sich der Bund noch mehr am Kitaausbau. Die Kommunen haben gestern bei der Bund-Länder-Konferenz zum Thema frühkindliche Bildung bestätigt, dass die Entwicklung schnell voranschreitet und wir weitere Kitaplätze in Deutschland brauchen, insbesondere Ganztagsplätze. Ich freue mich sehr, dass wir gestern mit den Ländern erstmalig in einem Kommuniqué schriftlich festgehalten haben, dass wir uns auf den Weg machen wollen, gemeinsame Qualitätsstandards für die Kindertagesbetreuung zu entwickeln. Denn wir brauchen nicht nur eine ausreichende Zahl an Plätzen, sondern auch gute Plätze. ({2}) Alleinerziehende profitieren genauso wie Elternpaare. Das ist mir ganz wichtig; denn die Familienformen in Deutschland sind bunt. Wir haben viele Alleinerziehende, die tagtäglich einen harten Job in der Familie machen und gleichzeitig berufstätig sind. Das sind zu 90 Prozent Frauen. Aber auch die 10 Prozent alleinerziehende Männer müssen beachtet werden. Es gibt verschiedene Paarformen, ob nun Ehepaare, Paare ohne Trauschein oder gleichgeschlechtliche Paare. Für alle muss die Familienpolitik da sein. Das kommt im neuen Elterngeld Plus zum Ausdruck. Alleinerziehende profitieren vom neuen Elterngeld Plus genauso wie Familien, egal ob sie gut, durchschnittlich oder wenig verdienen. Alleinerziehende können ebenfalls den Partnerschaftsbonus in Anspruch nehmen. Vier zusätzliche ElterngeldPlus-Monate - das gilt auch für Alleinerziehende. Ich bin den Koalitionsfraktionen dankbar, dass sie auf meine Bitte hin die Empfehlung der Länder aufgenommen haben, eine Verbesserung für die Alleinerziehenden im parlamentarischen Verfahren zu erreichen. Das ist ein ganz wichtiger Punkt und ein Signal an die Alleinerziehenden in unserem Land. Wir stärken ihnen den Rücken und wollen, dass sie genauso gut von der neuen Familienpolitik profitieren. ({3}) Ich bin auch für eine wichtige Ergänzung aus dem parlamentarischen Verfahren dankbar, nämlich für die sogenannte Zustimmungsfiktion. Wenn der Arbeitgeber auf einen Teilzeitantrag in der Elternzeit nicht innerhalb einer bestimmten Frist reagiert, gilt die Zustimmung als erteilt. Das ist gut. Damit haben die Eltern Planungssicherheit. Herzlichen Dank dafür! ({4}) Eine weitere Verbesserung, die wir heute schaffen, ist die Flexibilisierung der Elternzeit. Es gibt auch später im Leben eines Kindes, also nach dem dritten Lebensjahr, Phasen, in der die Eltern eine Auszeit brauchen. Das kann zum Beispiel die Zeit der Einschulung sein. Es ist wichtig, dass sich die Eltern auch dann Zeit nehmen können. Deshalb wird es künftig möglich sein, bis zu 24 Monate einer Elternzeit bis zum 8. Lebensjahr des Kindes zu nehmen. Eltern erhalten damit mehr Zeit und mehr Flexibilität bei der Betreuung und der Unterstützung ihrer Kinder, eben dann, wenn es die Familie braucht. Zum Ausgleich wird den Unternehmen die Möglichkeit eingeräumt, bei der Anmeldung des dritten Elternzeitabschnitts dringende betriebliche Gründe ins Feld zu führen. Das zeigt, dass wir versuchen, die Balance zwischen den Notwendigkeiten aufseiten der Arbeitgeber und den Wünschen der Familien zu halten. So lautet mein Wunsch und Appell an alle Arbeitgeber, nicht nur der Wirtschaft, sondern auch der Wissenschaft und des öffentlichen Bereichs: Wir als Politiker können zwar gute Gesetze machen, wir können auch die Familien finanziell gut unterstützen, aber wir brauchen die Bereitschaft der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, auch auf die Situation der Familien Rücksicht zu nehmen! Die Familien in unserem Deutschland haben eine arbeitsfreundliche Arbeitswelt verdient. Sie brauchen diese arbeitsfreundliche Welt. Das Gute daran ist: Beide profitieren, die Familien und die Arbeitgeber. ({5}) Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, der Wandel der Bedürfnisse junger Eltern, der Wunsch nach mehr Partnerschaftlichkeit ist eine Entwicklung, die das Elterngeld mit in Gang gesetzt hat. Die Familienpolitik hält mit dieser Entwicklung Schritt. Mit dem Elterngeld Plus machen wir das Elterngeld moderner, schlagen wir ein neues Kapitel auf. Die neuen Regelungen zum Elterngeld Plus und zu der Elternzeit gelten für alle Eltern, deren Kinder ab dem 1. Juli 2015 geboren werden. Insofern hoffe ich, dass jetzt einige Paare in Deutschland zuhören und es sich vielleicht überlegen. Es ist jetzt die richtige Zeit. ({6}) Ich brauche das nicht zu konkretisieren. Ich glaube, alle wissen, was gemeint ist. Wenn Sie, Herr Weinberg, noch Nachhilfe brauchen, dann rufen Sie das noch einmal in den parlamentarischen Ausschussberatungen auf. ({7}) Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, ich möchte mich ganz herzlich für die gute Zusammenarbeit im parlamentarischen Verfahren bedanken. Das sage ich an die Adresse der Koalitionsfraktionen, das sage ich aber auch ausdrücklich zu den Oppositionsfraktionen. Ich freue mich auch sehr, dass die Fraktion der Grünen im Ausschuss ebenfalls dafür gestimmt hat. Das ist ein Zeichen dafür, dass man auch über Fraktionsgrenzen hinweg zusammen gute Dinge machen kann, und das ist das, was die Familien in Deutschland brauchen. Herzlichen Dank. ({8})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Jörn Wunderlich, Fraktion Die Linke. ({0})

Jörn Wunderlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003867, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Ministerin, in der Tat, auch ich hätte es bedauert, wenn Sie als Familienministerin nicht hier wären. ({0}) Das darf man ruhig einmal sagen. Aber der Rest ist dann nicht mehr so schön; denn zwischen der ersten Lesung und heute haben sich die Hoffnungen meiner Fraktion, was die Ausschussberatungen angeht, doch nur partiell erfüllt. Ich kann auf das Gesetz in Gänze jetzt nicht eingehen; dazu fehlt mir die Zeit. Ich will einige Knackpunkte nennen. Kommen wir zum Positiven. Damit bin ich schnell fertig. ({1}) Die Flexibilisierung der Elternzeit ist an sich eine schöne Sache. Auch wir haben sie schon immer gefordert, aber nicht nur die Flexibilisierung der Elternzeit, sondern auch des Elterngeldes. Das ist hier leider unterblieben. Es ist versäumt worden, beim Elterngeld den Geldanspruch zu flexibilisieren. Allein die Elternzeit auszuweiten, reicht eben gerade nicht; denn so können sich das nur Eltern mit einem sehr guten Einkommen leisten. Auch zu den Alleinerziehenden haben Sie, Frau Schwesig, schon etwas gesagt. Es ist schön - das findet auch meine Fraktion -, dass die Anspruchsvoraussetzungen für die Alleinerziehenden in Bezug auf die Partnermonate geändert wurden. Anfangs war das an das alleinige Sorgerecht geknüpft. Das ist von allen kritisiert worden. Den Anspruch nunmehr an die Bedingung des Vorliegens der Voraussetzungen der Steuerklasse II zu knüpfen, ist in Ordnung. Das wurde auch im Rahmen der Anhörung von den Sachverständigen empfohlen und von der Regierung übernommen. Allerdings wurden andere Empfehlungen aus der Sachverständigenanhörung eben nicht aufgegriffen, so zum Beispiel die Anrechnung beim Arbeitslosengeld-IIBezug. Die Bundesregierung lässt hier erneut eine Möglichkeit verstreichen, die Anrechnung von Elterngeld auf Transferleistungen zurückzunehmen. Die Anrechnung führt vielfach dazu, dass insbesondere Alleinerziehende und ihr Kind im ersten Jahr nach der Geburt in Armut leben. Auch Familien mit geringem Einkommen wäre eine entsprechende Änderung entgegengekommen ({2}) und hätte somit den vielfach zitierten Schonraum für Familien allen Eltern ermöglicht. Aber das konnte leider in den Beratungen nicht erreicht werden, obwohl sich der Verband alleinerziehender Mütter und Väter und auch der Familienbund der Katholiken für eine Anrechnungsfreiheit ausgesprochen haben. Auch die evangelische arbeitsgemeinschaft familie kritisiert die fehlende sozial gerechte Wirkung des Elterngeldes. Alle Rufer in der Wüste. Es stimmt eben nicht, wie von der CDU/CSU in der ersten Lesung behauptet, dass das Elterngeld Schonraum schaffe. Schonraum für bestimmte Familien - ja. Aber gerade die Familien, die es am dringendsten brauchten, bleiben wieder außen vor. Dabei war es - daran möchte ich einmal erinnern - eines der Wahlversprechen der SPD, den Sockelbetrag des Elterngeldes wieder anrechnungsfrei zu stellen. Versprochen - gebrochen. Das vorliegende Gesetz jedenfalls bietet diesbezüglich keine Grundlage, um die Kinderarmut, Elternarmut und Familienarmut im Lande wirksam zu bekämpfen. Zu den Mehrlingsgeburten. Mit der, wie es heißt, gesetzlichen Präzisierung soll dem Urteil des Bundessozialgerichts nachgekommen werden, indem festgelegt wird, dass bei Mehrlingsgeburten nur ein Elterngeldanspruch entsteht. Somit entsteht künftig ein Elterngeldanspruch pro Geburt und nicht pro Kind. Das Urteil des Bundessozialgerichts hat aber eindeutig und mit allen ju6008 ristischen Auslegungsmethoden festgestellt, dass bei Mehrlingsgeburten pro Kind ein Elterngeldanspruch entsteht. Insbesondere aus der Historie dieses Gesetzes lässt sich das eindeutig ableiten. Ich habe das Urteil des Bundessozialgerichts hier vorliegen, und ich möchte einmal aus den Entscheidungsgründen zitieren: Ab dem 1.1.2007 ist das Bundeselterngeld an die Stelle des Bundeserziehungsgeldes getreten … In diesem war geregelt, dass für jedes … Kind Erziehungsgeld gewährt werde, falls in einem Haushalt mehrere Kinder betreut und erzogen würden … Zu dieser Vorschrift hat das BSG - und zwar schon 2006 entschieden, dass es sich beim Erziehungsgeld für Zwillingskinder nicht um einen einheitlichen, sondern um zwei getrennte Ansprüche handelt … Den Gesetzgebungsmaterialien zum BEEG - also zum Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz lässt sich entnehmen, dass jeder Elternteil einen Elterngeldanspruch für ein Kind erhalten sollte … Die Absicht einer Anspruchsbegrenzung bei Mehrlingen ist nicht erkennbar. Erst mit einer nicht näheren Bemerkung in der Begründung zur Einführung dieses Gesetzes wird davon ausgegangen, dass keine mehrfache Leistungsgewährung vorgesehen ist. Begründet wird das nicht. Wie da jetzt von einer entsprechenden Intention des Gesetzes geredet werden kann, erschließt sich mir nicht. Denn auch bei der Aufnahme eines Kindes in den Haushalt mit dem Ziel der Annahme dieses Kindes während laufenden Elterngeldbezugs entsteht ein neuer Elterngeldanspruch. Also Elterngeld nur bei Annahme eines Kindes, aber nicht bei den eigenen leiblichen Kindern? Das erklären Sie einmal den Eltern von Zwillingen. Dem Sinn und Zweck dieses Gesetzes entspricht es jedenfalls nicht; das stellt ja auch das Bundessozialgericht so fest. ({3}) Der Erhöhungsbetrag, der notwendig ist, ist zwar sehr schön, aber der Mehrlingsanspruch ersetzt nicht das Elterngeld als solches. Warum wird das so geregelt? Ich habe es schon in der ersten Lesung so gesagt und ich möchte es hier noch einmal tun: Es sind reine Kostengründe, liebe Kolleginnen und Kollegen. Aus einem Antwortschreiben des Familienministeriums vom 6. August 2014 ergibt sich das ganz klar. Da heißt es nämlich: Die Einsparungen bei den Mehrlingsgeburten sollen dazu dienen, den Partnerschaftsbonus zu finanzieren. - Den einen wird also etwas weggenommen, um es den anderen zu geben. So ist es tatsächlich: Mehrausgaben in Höhe von 75 Millionen Euro bei den Partnermonaten stehen Einsparungen in Höhe von 100 Millionen Euro bei den Eltern von Mehrlingen entgegen. Zur Teilzeit. Eltern müssen ihren Anspruch auf Teilzeit - richtiger wäre es eigentlich, von Wunsch nach Teilzeit zu reden - dem Arbeitgeber 13 Wochen vor Teilzeitbeginn mitteilen. Sie haben schon von der Fiktionsfrist gesprochen, Frau Schwesig. Sie haben allerdings nicht den Zeitraum benannt. Denn der Arbeitgeber hat dann wohlweislich acht Wochen Zeit, darauf zu reagieren; das ist diese Fiktionsfrist. Das heißt, die Eltern müssen ihren Anspruch anmelden, und dann können sie bis zu acht Wochen warten, ob der Arbeitgeber sich rührt. Erst dann, wenn er innerhalb dieser acht Wochen nicht widersprochen hat, gilt es als genehmigt. Wenn der Arbeitgeber widerspricht, können die Eltern notfalls noch klagen. ({4}) - Acht Wochen sind es, lieber Paul. Bei Kindern, die älter als drei Jahre sind, sind es acht Wochen. Ja, ich kenne sogar die Gesetze, über die wir hier reden. ({5}) Für die Eltern ist es aufgrund der Länge dieser Frist ganz schwierig, Planungssicherheit zu erlangen. Aber warum das so ist, wurde im Ausschuss durch die SPD ja schon ausgeführt. Da hieß es nämlich - ich zitiere -, es handele sich um ein wirtschaftsfreundliches Gesetz. Eigentlich sollte es doch eher familienfreundlich sein. ({6}) Hier hätte die Regierung gestalten können. Die gestalterische Wirkung von Gesetzen, so schreibt Professor Willutzki, ist nicht in Abrede zu stellen. Der Korridor für Alleinerziehende ist nach wie vor zu eng, als dass diese vermehrt in den Genuss von Bonusmonaten kommen. Auch das wurde in der Anhörung seitens der Sachverständigen bemängelt. Und wo der große Unterschied zwischen „zwischen 15 und 30 Wochenstunden“ und „nicht weniger als 15 und nicht mehr als 30 Wochenstunden“ liegt, das muss mir mal einer erklären. Zwischen Elternzeitstunden oder Arbeitsstunden von verheirateten oder zusammenlebenden Eltern auf der einen Seite und von Alleinerziehenden auf der anderen Seite ist kein Vergleich zu ziehen. Wo ist denn jetzt der große Wurf, der das „Plus“ in diesem Gesetz verdient? Es gibt einige Verbesserungen, die wenige Familien treffen, aber kaum Verbesserung der Situation Alleinerziehender, keine Verbesserung für Familien im ALG-II-Bezug, Schlechterstellung von Mehrlingseltern, fehlende Planungssicherheit. Bei allem Respekt, liebe Kollegen: Allein wegen der Flexibilisierung kann meine Fraktion diesem Gesetz nicht zustimmen. Aber keine Sorge, jeder kriegt seine zweite Chance: Sie können alle die Versäumnisse beheben, indem Sie einfach unserem Entschließungsantrag zustimmen, der all das korrigiert. Und die Welt ist wieder in Ordnung. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({7})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Das Wort hat jetzt Marcus Weinberg, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Marcus Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003861, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich will gern das Historische aufgreifen. Auch wenn die Reichweite der Debatte, die wir vorhin geführt haben, mit der Reichweite der Debatte, die wir jetzt führen, nicht ganz übereinstimmt, wäre es doch interessant, sich als Historiker einmal zu überlegen: Wie haben sich in den letzten fünf oder sechs Jahrzehnten eigentlich die Wünsche der Familien verändert? Übrigens glaube ich, dass es da zwischen Leipzig, Berlin, Stendal, Hamburg und München keinen Unterschied gibt. Während in den 50er- und 60er-Jahren zunächst einmal der Wunsch nach einer Wohnung kam, dann der Wunsch nach einer größeren Wohnung, nach einem Auto, nach einem Urlaub in Italien, im Laufe der Jahrzehnte auch der Wunsch nach einem zweiten Auto, einer zweiten Waschmaschine, möglicherweise einem Computer, ist die Situation heute eine andere. Wer heute junge Familien fragt: „Was ist Ihnen eigentlich wichtig? Was ist Ihr größter Schatz, Ihre Ressource?“, der hört immer häufiger: Zeit. - Zeit wird in Zukunft eine bedeutende Rolle für Familien spielen, weil sich viele junge Mütter und Väter sagen: Die Stunde, die ich heute nicht arbeite, kann ich eines Tages nachholen; aber die Minute, die ich jetzt nicht mit meinem Kind verbringe, ist verloren. ({0}) Deswegen gibt es diesen Wechsel bei den Paradigmen. Eltern sagen heute: Ich würde auf vieles verzichten, wenn ich mehr Zeit gemeinsam mit meiner Familie verbringen könnte. Ein Gedankengang bei der Entwicklung des Elterngeldes war, dieser Veränderung Rechnung zu tragen. Das Elterngeld als Vorläufer der heute zu diskutierenden Weiterentwicklung war ein Maßstab und, so glaube ich, auch ein Leuchtturm im Bereich der Familienpolitik. Wir haben in der damaligen Großen Koalition gesagt: Es wird wichtig sein, die erste Phase nach der Geburt eines Kindes so zu gestalten, dass Familien Sicherheit haben, finanzielle Sicherheit haben, damit sie die Erwerbstätigkeit auf der einen Seite und die Zeit für die Familie auf der anderen Seite besser miteinander kombinieren können; es geht also um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Dass dieses Elterngeld ein Erfolgsmodell war, sieht man an den Zahlen und daran, dass wir mittlerweile deutlich über 5 Milliarden Euro jährlich für das Elterngeld ausgeben. Dass mittlerweile auch mehr Väter die Monate für den Partnerschaftsbonus in Anspruch nehmen, ist ebenfalls ein Indiz für den Erfolg. Im Übrigen wissen wir als Familienpolitiker, dass das Geld, das wir ausgeben - demnächst möglicherweise bis zu 6 Milliarden Euro -, andere erwirtschaften müssen. Daher besteht für uns die Verantwortung, mit den Geldern sachgerecht umzugehen, um den größtmöglichen Mehrwert und damit auch den größten gesellschaftlichen Nutzen zu erzielen. ({1}) Bereits angesprochen wurde, dass sich die Lebensbedingungen immer weiterentwickeln. Gerade in den letzten Jahren beobachten wir zwei wesentliche Entwicklungen. Familienleitbilder, sowohl die gelebten als auch die Bewertungen dazu, haben sich verändert. Es gibt - das kann man monieren oder auch nicht, aber es ist Realität in der Gesellschaft - Ehepaare mit Kindern, Alleinerziehende mit Kindern, nicht miteinander verheiratete Paare mit Kindern. Es besteht also eine größere Vielfalt. Das ist die eine große Veränderung, auf die wir reagieren müssen, auch mit den Angeboten. Die zweite Entwicklung ergibt sich bei der Definition der Rollenbilder oder Rollenkonstellationen im Rahmen der Familienleitbilder. Es ist tatsächlich so, dass sich 60 Prozent der Eltern wünschen, partnerschaftlich, gemeinsam mehr Zeit mit der Familie und für die Familie zu verbringen. Es ist so, dass 81 Prozent der jungen Menschen mittlerweile der Ansicht sind, dass beide Elternteile gleichermaßen für das Familieneinkommen verantwortlich sind. Es ist so, dass mehr junge Väter ihre Arbeitszeit gern reduzieren wollen und mehr junge Mütter gern etwas mehr arbeiten wollen als derzeit. Die Menschen wollen also die Rollenbilder ändern, hin zu mehr Partnerschaftlichkeit. Ich glaube, dass das Elterngeld Plus jetzt genau die richtige Antwort auf diese Entwicklung ist. Wir als Union hielten es immer für richtig und haben es auch immer gesagt, dass wir die Familien in verschiedenen Lebensphasen und verschiedenen Lebenssituationen mitnehmen und verlässliche Rahmenbedingungen schaffen müssen. ({2}) Dabei gelten für uns zwei Grundsätze: Erstens geht es uns darum, die Eigenverantwortung und die Selbstbestimmtheit der Familien zu achten und zu stärken. Bei jeder Diskussion heißt es ja: Sie haben das doch gelesen, beim Betreuungsgeld und bei den Kitaplätzen wollen die Eltern gerne das und das. - Das zu bewerten steht uns nicht zu. Wir müssen Familien stärken. Und das heißt, zuerst kommen die Eltern und die Familie, und dann kann man überlegen, an welcher Stelle der Staat möglicherweise eingreifen kann. Aber im engeren Sinne gilt: Unser Blick richtet sich auf die Familien. Das heißt zweitens für uns auch, dass wir Vertrauen haben müssen, dass Familien richtige Entscheidungen treffen. In den Fällen, in denen das nicht der Fall ist, wird der Staat auch eingreifen. Aber zunächst einmal sollten wir positiv auf Familien zugehen und ihnen Vertrauen entgegenbringen. ({3}) Marcus Weinberg ({4}) In dem Elterngeld Plus sind vier Komponenten als zentrale Punkte zur Weiterentwicklung aufgenommen. Die erste ist die Flexibilisierung bei der Zeit, damit man zum Beispiel selbstbestimmt sagen kann: In meiner jetzigen besonderen Familiensituation kombiniere ich das Basiselterngeld mit dem Elterngeld Plus. - Ich möchte früher wieder in den Beruf zurückkehren. - Ich möchte länger Teilzeit arbeiten. - Ich möchte mein Kind länger betreuen. - Das ist also in einem engeren Sinne eine Flexibilisierung der Möglichkeiten. Zweitens - das wurde angesprochen -: Wenn Partnerschaftlichkeit gewünscht wird, dann muss man sie auch fördern. Das geschieht mit dieser Regelung, nach der Eltern pro Woche 25 bis 30 Stunden parallel arbeiten können. Das muss man natürlich nicht in Anspruch nehmen, aber wenn die Eltern es wollen, dann ist das auch eine Chance für - weitestgehend - junge Männer, tatsächlich mehr Zeit mit ihren Kindern zu verbringen. Das ist, glaube ich, eine gute Gelegenheit, um das traditionelle Bild der Familien wiederherzuleiten. Kollege Wunderlich, das muss in diesem Rahmen passieren. Denn aktuell arbeiten Mütter im Durchschnitt 16 Stunden pro Woche, Väter knapp über 40 Stunden. Wenn man, wie Sie es vorgeschlagen haben, diesen Rahmen wieder erweitert, dann bleibt es doch bei der alten Struktur: Die Mütter arbeiten ein bisschen; die Väter arbeiten ganztags. Deswegen haben wir uns klugerweise auf diese 25 bis 30 Stunden geeinigt. ({5}) Die Flexibilisierung der Elternzeit - das ist die dritte Komponente - wurde schon angesprochen. Das muss man in der Konsequenz auch anbieten. In welcher Form das in besonderen Situationen in Anspruch genommen wird, bleibt sicherlich offen. Ich will nur an die Situation der Trennung der Eltern erinnern. In diesem Fall ist es möglicherweise gut, wenn die Möglichkeit besteht, dass ein Elternteil noch Elternzeit nehmen kann, damit einer besonderen Situation mit besonderen Auswirkungen für das Kind begegnet werden kann. Die Regelung zu den Mehrlingsgeburten - das ist die vierte Komponente - haben wir häufig diskutiert, Kollege Wunderlich. Dazu sage ich noch einmal: Das Elterngeld ist eine Lohnersatzleistung. Kindergeld bekommen die Eltern für jedes Kind. Aber das Elterngeld ist eine Lohnersatzleistung und kann sich deshalb nicht nach der Anzahl der Kinder richten. Das wäre nicht nur systemfremd, das wäre auch unlogisch. ({6}) Es liegen drei wesentliche Änderungsanträge vor, die bereits angesprochen worden sind. Erstens wurde richtigerweise die Feststellung getroffen, dass es natürlich nicht sein kann, dass wir zwischen Alleinerziehenden mit alleinigem Sorgerecht und Alleinerziehenden mit gemeinsamem Sorgerecht differenzieren. Deshalb haben wir nach den Diskussionen und Gesprächen - auch im Nachgang zur Anhörung - entschieden, diese Regelung zu verändern. Das war eine gute und richtige Entscheidung für den Bereich der Alleinerziehenden. Zweitens. Die Regelung zur Zustimmungsfiktion erleichtert - das stellt man auch fest, wenn man die heutige Struktur einer Struktur mit der Zustimmungsfiktion gegenüberstellt - die bürokratischen Abläufe: Wenn in vier bzw. in acht Wochen niemand widerspricht, gilt das als genehmigt. Jetzt gibt es ein sehr kompliziertes Verfahren, das teilweise auch ein Problem für die Arbeitgeber darstellt. Diese Regelung ist, glaube ich, im Sinne einer Vereinfachung gut und wichtig. Festzuhalten ist auch: Das bedeutet keine rechtliche Schlechterstellung der Arbeitgeber. Der dritte Punkt betrifft den Bereich der Wirtschaft. Wenn wir festlegen, dass die Elternzeit in drei Blöcke eingeteilt werden kann, dann muss auch berücksichtigt werden, inwieweit das gegenüber dem Arbeitgeber noch vertretbar ist. Er muss ja auch Planungssicherheit haben. Er muss ja auch wissen, wie es zukünftig in seinem kleinen mittelständischen Betrieb aussieht. Deshalb ist es, glaube ich, richtig, dass wir die Regelung implementiert haben, dass der Arbeitgeber das Recht hat, einen dritten Block der Elternzeit aus betrieblichen Gründen abzulehnen. Damit haben wir sowohl den Wünschen der Arbeitgeber als auch gesellschaftlichen Veränderungen Rechnung getragen. Das war gut und richtig. Zum Schluss möchte ich noch etwas zur Akzeptanz von Familienpolitik und auch von Leistungen der Familienpolitik sagen. Wir sollten immer sehen, dass das, was wir investieren, was wir für die Familien tun, auch irgendwo herkommen muss. Noch einmal: Es gibt Leuchttürme in der Familienpolitik der letzten acht, neun Jahre, die es in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland zuvor nicht gegeben hat. Ich nenne den gesamten Bereich des Ausbaus der Kindertagesbetreuung - jetzt mit der neuen Stufe der Qualitätssicherung -, den gesamten Bereich der Elternzeit und auch die Frage, wie flexibel Familienzeiten gestaltet werden können. Das muss aber auch für die Wirtschaft machbar und mit der wirtschaftlichen Entwicklung kombinierbar sein. Vor diesem Hintergrund war es für uns immer wichtig, klar zu sagen: Wir wollen keine arbeitsgerechte Familienwelt, sondern eine familiengerechte Arbeitswelt. Aber das alles muss mit der Wirtschaft abgestimmt werden, und die Wirtschaft muss auch unterstützt werden. Es ist gut für die Unternehmen und den Standort, wenn Teilzeitwünsche stärker berücksichtigt werden; denn früher sind Frauen und Männer teilweise gar nicht oder erst nach Jahren in den Beruf zurückgekehrt. Jetzt können die Unternehmen die Fachkräfte über diese Teilzeitregelung behalten. Es ist ja eines der Hauptziele des Elterngeldes, dass Fachkräfte, die ja benötigt werden, dem Betrieb erhalten bleiben. Das Gute für diese Fachkräfte ist wiederum, dass sie in der Frage der Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Familienzeit eine bessere Möglichkeit der Einteilung bzw. Flexibilisierung haben. ({7}) Marcus Weinberg ({8}) Das Ganze ist ein Standortfaktor für Unternehmen und für Deutschland; denn - so könnte man einfach sagen zufriedene Arbeitnehmer sind auch gute Arbeitnehmer. Es muss gelingen, die Probleme der jungen Familien zu berücksichtigen. In der Debatte, die momentan geführt wird, hören Sie immer wieder die Frage: Wie schaffe ich es, das miteinander zu verbinden? Die Arbeitgeber sollten das durchaus positiv sehen und aufgreifen; denn es ist ein Standortfaktor. Dort, wo Betriebskindergärten existieren, wo Arbeitgeber sich im Sinne der Familienförderung um ihre Mitarbeiter bemühen, werden schneller Fachkräfte gewonnen, als wenn das nicht der Fall ist. Ich freue mich sehr, dass wir heute das Elterngeld Plus verabschieden, eine gute und richtige Maßnahme für die Familien, eine gute und richtige Maßnahme für uns in Deutschland. Um auf den historischen Kontext zu kommen: Ich glaube, damit kommen wir den neuen Wünschen junger Familien nach. Das ist auch unsere Aufgabe. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({9})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt Dr. Franziska Brantner.

Dr. Franziska Brantner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004255, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Liebe Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Damen und Herren auf der Tribüne! Ich würde gerne den Blick - heute Morgen haben wir ihn zurückgewandt - nach vorne richten und fragen: Wenn in 25 Jahren hier die dann 25- oder 26-Jährigen sitzen, was werden sie uns sagen? Wie sind sie aufgewachsen? Hatten ihre Eltern genügend Zeit für sie, oder hatten sie nicht genügend Zeit für sie? Ich glaube, das ist der historische Maßstab, nach dem wir uns heute in dieser Debatte zu richten haben. ({0}) Frau Schwesig, Sie gehen mit Ihrem Gesetz in die richtige Richtung. Die Schritte sind richtig; aber leider gehen Sie nur den halben Weg. Sie nehmen auf diesem Weg keineswegs alle Kinder und ihre Eltern mit. Wer seine Arbeitszeit nur um wenige Stunden reduziert, wird benachteiligt. Alleinerziehende werden es schwer haben, diesen starren Korridor von 25 bis 30 Wochenstunden einzuhalten. Und das Elterngeld wird weiterhin voll auf das ALG II angerechnet. Der vorliegende Gesetzentwurf behebt richtigerweise einen Webfehler der alten Elterngeldregelung: Wenn Eltern sich das Elterngeld aufteilen und dabei in Teilzeit arbeiten, werden sie in Zukunft nicht mehr bestraft. Außerdem - auch das finde ich wichtig - kann ein größerer Anteil der Elternzeit in einer späteren Phase genutzt werden, wenn das Kind schon älter ist. Aufgrund dieser Verbesserungen, die unserer Meinung nach in die richtige Richtung gehen, werden wir dem Gesetz zustimmen. ({1}) Aber es ist eine verpasste Chance, wenn wir nur den halben Weg gehen. In Ihrem Modell, Frau Schwesig, verstecken sich zwei gegensätzliche Anreize: Der Partnerschaftsbonus setzt auf der einen Seite einen Anreiz für eine große Teilzeit. Er animiert vor allem Frauen - das haben Sie erwähnt -, mehr zu arbeiten. Auf der anderen Seite lohnt sich in Ihrem Modell eine große Teilzeit für diese Frauen auf Dauer nicht; denn dadurch können Eltern das Elterngeld nicht länger beziehen, auch wenn sie es tatsächlich weniger ausschöpfen als bei einer kleinen Teilzeit. Wenn sie Halbzeit arbeiten, bekommen sie jetzt doppelt so lange Elterngeld, wenn sie ihre Arbeitszeit nur um ein Viertel reduzieren, aber auch nur doppelt so lange. Das ist doch eindeutig ein Anreiz, nur Halbzeit zu arbeiten und auf eine große Teilzeit zu verzichten. ({2}) Außerdem nehmen Sie nicht alle mit: Für Alleinerziehende mit Kind wird es schwierig sein, den engen Korridor von 25 bis 30 Wochenstunden Arbeitszeit einzuhalten, um zusätzlich vier Monate Elterngeld zu erhalten. Das haben uns auch alle Sachverständigen in der Anhörung so bestätigt. Es wird schwierig sein, gerade wenn man mehr als ein Kind hat und alleinerziehend ist, diesen Korridor zu schaffen. Deswegen schlagen wir Grüne ein Modell vor, das Eltern ermöglicht, den Bezug von Elterngeld wirklich flexibel zu gestalten und über einen längeren Zeitraum zu strecken; denn wenn eine Mutter oder ein Vater die Arbeitszeit nur zu einem Viertel reduziert, sollten sie viermal so lange Elterngeld bekommen und sich damit auch Zeit für eine spätere Lebensphase des Kindes aufsparen können. In unserem grünen Modell muss sich eine alleinerziehende Mutter nicht an einen starren Korridor halten, sondern sie kann schrittweise wieder in den Beruf einsteigen und kann sich dabei noch bis zum 14. Lebensjahr des Kindes Zeit aufheben. ({3}) Der Achte Familienbericht, den wir nachher diskutieren, sagt nämlich eindeutig: Die zeitliche Begrenzung der Übertragbarkeit der Elternzeit durch den Zeitpunkt der Vollendung des achten Lebensjahres ist sachlich unbegründet. Es gibt dafür keinen Grund, auch nicht zu einem späteren Zeitpunkt. Auch bei einem Wechsel auf eine weiterführende Schule besteht Betreuungsaufwand. Außerdem wäre es eine Chance gewesen, die ALG-II-Empfänger nicht mehr schlechter zu stellen und die Änderungen, die unter Ministerin Schröder gemacht wurden, rückgängig zu machen. ({4}) Erlauben Sie mir am Ende einen Kommentar zu dem Kitagipfel. Sie haben es selber angesprochen. Kitaqualität ist extrem wichtig. Für uns war der Gipfel gestern enttäuschend. Bei der Kitaqualität kann man eindeutig sagen: Ohne Moos nix los! Wenn Sie mit leeren Taschen kommen, dann wird es die Qualität nicht steigern. Ich appelliere an Sie - gestern sprach Herr Schäuble von 10 Milliarden Euro als Investitionen in die Zukunft -: Kämpfen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, um mindestens 3 Milliarden Euro für die Kitas! Gibt es bessere Investitionen in die Zukunft als die in unsere Kinder? Ich danke Ihnen. ({5})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Nächster Redner ist Sönke Rix, SPDFraktion. ({0})

Sönke Rix (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003830, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Natürlich, liebe Grüne, mehr geht immer. Das ist gar keine Frage. ({0}) Was wir hier mit dem Elterngeld Plus machen, ist ein weiterer wichtiger, großer und guter Schritt für eine Familienarbeitszeit. ({1}) Ich finde es gut, dass hier Konsens besteht, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wenn wir schon dabei sind, darüber zu reden, was Konsens im Haus ist und wie solche gesellschaftspolitischen und familienpolitischen Debatten normalerweise hier ablaufen, finde ich es begrüßenswert, dass wir hier mehr um das Wie als um das Ob diskutieren. Das ist bei anderen gesellschaftspolitischen und familienpolitischen Debatten, die wir hier führen - Stichwort: Ehegattensplitting, Betreuungsgeld usw. -, nicht immer der Fall. Deshalb bedanke ich mich, dass dieser Konsens zu den Instrumenten Elterngeld und Elternzeit schon über Jahre besteht. ({2}) Das Elterngeld ist zuerst eine Idee gewesen von Renate Schmidt zum Ende der Wahlperiode 2005 und hat dann seinen Weg in das Wahlprogramm der SPD gefunden. Es ist in der Großen Koalition auf Zustimmung gestoßen. Wir haben gemeinsam beschlossen, das Elterngeld und die Elternzeit einzuführen. Frau von der Leyen hat das mit großem Einsatz und großer Begeisterung gemacht, aber nicht ohne ein weiteres Instrument der Großen Koalition - das war sehr wichtig - auf den Weg zu bringen, nämlich den Ausbau von Betreuungsplätzen. Das gehört nach wie vor zusammen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Ich weise noch einmal darauf hin: Wir können mit dem Elterngeld und dem Elterngeld Plus nicht alle Probleme lösen, die Sie, Herr Wunderlich, zu Recht angesprochen haben: Alleinerziehende, Familienarmut, Kinderarmut. Das Instrument des Elterngelds ist eine Lohnersatzleistung. Alle sozialen Defizite, die wir ohne Zweifel bei Familien haben, müssen wir mit anderen Instrumenten beheben. Hier haben wir noch viel vor uns, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({4}) Es ist richtig, dass wir jetzt über ein Thema reden, was aber gar nicht so neu ist. Ich habe vor längerer Zeit mit einer Kollegin zusammengesessen, die vor, wie sie sagte, gefühlten 20 Jahren - ich glaube ihr das nicht, es waren vielleicht 15 Jahre - ein Netzwerk gegründet hat, bei dem es um Zeitpolitik ging. Sie hat gesagt: Jetzt, 20 Jahre später, ist es en vogue. Es ist eine große gesellschaftliche Debatte. In großen Wochenzeitungen und Tageszeitungen wird darüber diskutiert. Es ist eine Debatte, die sowohl auf der Arbeitnehmerals auch auf der Arbeitgeberseite sehr offen geführt wird. Dass es eine breite und gute Diskussion zu diesem Thema gibt, zeigt, wie notwendig es ist, nicht nur einen sicheren Arbeitsplatz, ausreichend finanzielle Mittel für die Familie und Betreuungsplätze für die Kinder zu bieten - die Eltern wollen arbeiten und brauchen deshalb Betreuungsplätze -, sondern auch die Möglichkeit zu eröffnen, Zeit für die Familie zu haben. Es hat schon eine große Dimension, das anzuerkennen. Meine Worte sind vielleicht auch eine Replik auf das, was Herr Gysi vorhin so wohlwollend über die DDR gesagt hat: Da waren immer ausreichend Betreuungsplätze vorhanden. - Aber das war ein anderes System. Es war ja leider so: Weil gearbeitet werden musste, gab es ebendiese Plätze. Ich finde den Gedanken wichtig, Zeit mit der Familie zu verbringen - also nicht einfach nur die Kinder in der Zeit, in der man dem System zur Verfügung stehen muss, unterzubringen. Ich finde es gut, dass wir das mit dem Instrument des Elterngelds nach wie vor ermöglichen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({5}) Was wir jetzt machen, ist, dass wir die Partnerschaftlichkeit noch einmal erweitern. Denjenigen, die sich zu mehr Partnerschaftlichkeit bereit erklären, also sich dafür entscheiden, dass nicht nur ein Elternteil die Betreuung übernimmt - meistens, aber nicht immer ist es die Mutter -, bieten wir jetzt die Möglichkeit, die Zeit der Partnerschaftlichkeit und des Bezugs von Elterngeld zu verlängern. Das Zweite ist: Wir gestalten es flexibler. Denn es wird zu Recht angemerkt: Die Zeit mit Kindern umfasst eben nicht nur die ersten drei Lebensjahre des Kindes oder die Zeit, in der das Kind in die Kindertagesstätte geht; es gibt auch die Zeit der Einschulung, die Zeit der ersten Jahre in der Grundschule und andere Zeiten, in denen das Kind vielleicht einer gezielten Betreuung bedarf und man mehr Zeit mit ihm verbringen möchte. Deshalb finde ich es gut, dass wir einen Bezug bis zum achten Lebensjahr ermöglichen und damit sogar weiter gehen, als es die Linkspartei gefordert hat. ({6}) - Ja, genau: Es ist erstaunlich, dass wir auch mal weiter gehen als die Linkspartei, Herr Wunderlich. Ich komme tatsächlich noch einmal zu Ihnen, Herr Wunderlich, nämlich zu Ihrer Kritik daran, dass der Kollege Felgentreu in der Debatte im Ausschuss gesagt hat, das sei auch ein Gesetz für die Wirtschaft, also ein wirtschaftsfreundliches Gesetz. Ist das denn so schlimm? Ist es denn wirklich so schlimm, wenn das Gesetz auch für den Arbeitsmarkt und für die Unternehmen gut ist, weil ihre Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zufrieden sind? Ich frage mich, warum ein Gegensatz zu denen aufgebaut wird, die sagen: Ich brauche gut ausgebildete Fachkräfte, die zufrieden sind, die nicht immer unter dem Druck stehen, es irgendwie hinzubekommen, mehr Zeit für die Familie zu haben. - Herr Wunderlich, ich finde, wir sollten diesen Gegensatz gar nicht erst aufbauen. ({7}) Mich wundert, dass Herr Pols heute nicht da ist. Bestellen Sie ihm schöne Grüße! Er war derjenige, der bei der Anhörung insbesondere auf die Situation von Kleinbetrieben aufmerksam gemacht hat und die Frage aufgebracht hat, was eigentlich ist, wenn es betrieblich absolut nicht geht. Da haben wir jetzt mit unserem Änderungsantrag eine Regelung gefunden. Wir wollen den Arbeitgebern aber kein Einspruchs- oder Widerspruchsrecht geben; wir wissen auch, dass die Hürden hinsichtlich betrieblicher Gründe sehr hoch sind. Was wir wollen, ist, dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber miteinander ins Gespräch kommen, damit es zu einem Konsens kommt. So stellen wir sicher, dass die Zufriedenheit des Arbeitnehmers nicht schwindet, nur weil er Angst hat, er könnte mit seinem Wunsch nach Elternzeit beim Arbeitgeber auflaufen. Wir haben mit dieser Regelung unseren Willen zum Konsens ausgedrückt. ({8}) Ich bin froh, dass wir hier heute darüber beraten, welche Änderungen wir bei diesem Gesetz noch vornehmen können, dass wir also nicht über das Ob, sondern über das Wie diskutieren. Ich bin froh, dass wir das Gesetz nahezu einstimmig beschließen werden. Denn es ist wirklich ein gutes Gesetz; es hat eine große Zustimmung wirklich verdient. Danke schön. ({9})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Katja Dörner, Bündnis 90/Die Grünen.

Katja Dörner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004030, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Mit dem Elterngeld Plus wird tatsächlich eine Gerechtigkeitslücke geschlossen - das sehen wir auch so -, die für eine Gruppe von Eltern relevant ist, nämlich für diejenigen, die schon relativ kurz nach der Geburt ihres Kindes wieder Teilzeit arbeiten wollen. Dieser Webfehler im alten Gesetz, der dazu führte, dass diese Eltern in der Summe weniger Elterngeld bekamen als diejenigen, die ihren Alltag anders gestalteten, ist wirklich überhaupt nicht nachzuvollziehen. Insofern werden wir zustimmen. Wir selbst haben lange gefordert, dass diese Gerechtigkeitslücke geschlossen wird. Deshalb ist es selbstverständlich - das ist der Kern dieses Gesetzes -, dass wir auch zustimmen werden. ({0}) Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, Sie können sich vorstellen, dass es jetzt leider mit einem großen Aber weitergeht. ({1}) Begeistert sind wir von diesem Gesetzentwurf nämlich mitnichten. An einigen Stellen wurde schon angesprochen, dass eine ganz große Gerechtigkeitslücke in diesem Gesetzentwurf bleibt, nämlich die Anrechnung des Elterngeldes im ALG II. Gerade die Eltern, die eine finanzielle Unterstützung besonders nötig haben, werden weiterhin vom Elterngeldbezug faktisch ausgeschlossen. Das ist eine riesige Gerechtigkeitslücke, die weiterhin unbearbeitet bleibt. Zu dieser ganz strikten Argumentation, das sei eine Lohnersatzleistung, muss ich sagen: Das Elterngeld ist ausdrücklich nicht allein als Lohnersatzleistung eingeführt worden, ({2}) sondern wir haben immer gesagt, es müsse für alle Familien, also auch für arme Familien und für Familien im ALG-II-Bezug, diesen Schonraum von mindestens einem Jahr geben. Das Elterngeld hat an das Erziehungsgeld angeschlossen, das eine ganz andere Struktur hat. Ich finde es immer noch gut, dass man das umgestellt hat; das war zweifelsfrei richtig. Aber dass wir jetzt am Ende der Strecke da landen, dass die Anrechnung des Elterngeldes beim ALG II das Einzige ist, was vom damals so groß angekündigten Sparpaket der schwarz-gelben Regierung übrig bleibt, ist eine riesige Gerechtigkeitslücke. Ich hätte mir wirklich gewünscht, dass die Koalition die Kraft gefunden hätte, das an dieser Stelle zu beheben. Deshalb bleibt das Gesetz zum Elterngeld weiterhin unbefriedigend. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein gutes Jahr nach der Bundestagswahl verstärkt sich der Eindruck, dass die Familienministerin zwar gute kleine Schritte geht, die großen Herausforderungen aber geflissentlich ignoriert. Wir haben unlängst die Ergebnisse der Evaluation der ehe- und familienbezogenen Leistungen vorgelegt bekommen. Wir wissen, dass in der Ehe- und Familienförderung Milliarden ausgegeben werden, die zentrale familienpolitische Zielsetzungen - beispielsweise Armutsprävention, materielle Stabilität von Familien, Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie partnerschaftliche Aufteilung von Erwerbs- und Familienarbeit - gerade nicht fördern, sondern ihnen sogar zuwiderlaufen. Das haben wir mittlerweile schwarz auf weiß. Und was passiert? Wir müssen leider sagen: Es passiert nichts. Auch das ist aus unserer Sicht ausgesprochen unbefriedigend. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestern hat der Kitagipfel stattgefunden; das hat die Ministerin auch angesprochen. Zukünftig soll es einheitliche Qualitätsstandards geben. Das finden wir gut und richtig. Aber die Familienministerin ist mit leeren Händen zu diesem Gipfel gefahren. Ich habe die große Sorge, dass eben die dringend notwendigen Qualitätsverbesserungen in den Kitas nicht nur jetzt auf die lange Bank geschoben werden, sondern dass die Finanzierung allein an den Ländern und den Kommunen hängen bleibt, weil der Bund nicht bereit ist, sich stärker zu engagieren. Das, finden wir, darf auf keinen Fall der Plan für die nächsten Jahre sein. Der Bund muss deutlich mehr für die Kitas tun und da mehr investieren. Auch das ist eine zentrale Frage von besserer Vereinbarkeit von Familie und Beruf. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestern war der Kitagipfel, vorgestern konnten wir in der Zeitung lesen, dass das Betreuungsgeld ein Rohrkrepierer ist, ({6}) der fast im gesamten Bundesgebiet von den Eltern gar nicht nachgefragt wird. Die Bundesregierung sollte endlich ein Einsehen haben. Wir haben in der letzten Legislaturperiode lange Diskussionen zum Betreuungsgeld geführt. Es sprach schon immer alles gegen das Betreuungsgeld. Es wurde wider alle Vernunft eingeführt. Jetzt zeigt sich überall in der Republik, dass in der Breite die Eltern diese Leistung gar nicht haben wollen. Deshalb mein Appell: Halten Sie nicht an diesem unsinnigen Betreuungsgeld fest. Die vorgesehene Milliarde wäre in den Kitas deutlich besser aufgehoben. ({7}) Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wir hatten eine Legislaturperiode unter Schwarz-Gelb, in der familienpolitisch so gut wie alles in die falsche Richtung gelaufen ist. Wir können uns jetzt keine Legislaturperiode leisten, in der wir nur in Trippelschritten vorankommen. Wir stimmen heute einem richtigen Schritt zu. Aber wenn wir wirklich etwas für die Kinder und Familien in unserem Land tun wollen, dann muss in den nächsten Jahren deutlich mehr kommen. Vielen Dank. ({8})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Nächster Redner für die CDU/CSUFraktion ist der Kollege Paul Lehrieder. ({0})

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegin Brantner, Sie haben vorhin Bezug auf die Gedenkstunde heute Morgen genommen und gefragt, ob wir in 25 Jahren auch eine Gedenkstunde mit Blick auf das Elterngeld feiern. Ich weiß nicht, ob das Elterngeld Plus in 25 Jahren mit so einem großen Aufwand gefeiert wird wie heute die deutsche Einheit. ({0}) In 25 Jahren wird man aber darauf hinweisen, dass diese Regierung kraftvoll auf die Veränderungen in der Gesellschaft reagiert hat, indem sie unter anderem das Elterngeld Plus auf den Weg gebracht hat. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, die Grünen heute bedingungslos zu loben, Frau Kollegin Dörner, aber das, was Sie zum Schluss über das Betreuungsgeld gesagt haben, provoziert eine Richtigstellung. Es gibt natürlich Länder, in denen durch die Aufklärung der Eltern eine Inanspruchnahmequote von 70 Prozent erreicht werden konnte, zum Beispiel in Bayern. Es gibt andere Länder - ich glaube, Mecklenburg-Vorpommern, Frau Ministerin -, in denen die Inanspruchnahmequote bei etwa 15 Prozent liegt. Ich wünsche mir, dass die Eltern in Mecklenburg-Vorpommern, die zu Hause erziehen wollen, noch etwas stärker auf die Möglichkeit des Betreuungsgeldes hingewiesen werden. Dann werden es auch dort 50, 60 oder 70 Prozent der Eltern in Anspruch nehmen. Davon bin ich überzeugt. ({1}) - Bitte? Stellen Sie eine Zwischenfrage, sonst läuft meine Zeit weiter, Herr Wunderlich. Es ist richtig - meine Vorredner haben bereits darauf hingewiesen -: Umfragen zufolge wünschen sich die meisten Eltern mehr Zeit für ihren Nachwuchs. Doch leider ist der Vater, der oft erst dann nach Hause kommt, wenn die Kleinen schon schlafen, in vielen Familien Realität. Auf der einen Seite möchten die Väter gern mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen und aktiv an der Erziehung teilhaben, auf der anderen Seite befürchten sie jedoch einen Karriereknick und schrecken deshalb oft vor Teil- und Elternzeit zurück. Sie haben die Sorge, dass eine längere Auszeit oder ein Wechsel in Teilzeit bei ihrem Chef und im Kollegenkreis nicht gut ankommt. Laut einer repräsentativen forsa-Studie mit dem Titel „Väter 2014 - zwischen Wunsch und Wirklichkeit“ befürchten immerhin 41 Prozent der abhängig beschäftigten Väter, dass sich die Elternzeit sehr oder eher negativ auf ihre Karriere auswirken könnte, und verzichten daher auf Familienzeit. Der Verdienstausfall des Haupternährers mag ein weiterer Grund dafür sein, dass sich bislang nur wenige Männer mehr als zwei Partnermonate der Elternzeit genehmigen. Liebe Frau Kollegin Dörner, unbeschadet der Inanspruchnahmequote beim Betreuungsgeld von 70 Prozent ist die Inanspruchnahmequote bei den Vätermonaten in Bayern, gerade in Unterfranken, überdurchschnittlich hoch. Das heißt also: Wir können auch Familienpolitik. ({2}) - Bitte? ({3}) - Frau Kollegin, die Oberfranken sind nicht schlecht, aber an der Spitze dürfte Unterfranken stehen. Wir müssten einen Faktencheck machen; dann kann ich Ihnen das nächste Woche gerne sagen. Weil Frauen im Schnitt weniger verdienen als Männer, entfällt der Großteil der bezahlten Elternzeit häufig auf die Mütter. Diese wiederum würden oftmals gerne stärker in ihren Job eingebunden sein; auch darauf wurde von den Vorrednern ausführlich hingewiesen. Das Elterngeld, das zum 1. Januar 2007 von unserer damaligen Bundesfamilienministerin Frau Dr. Ursula von der Leyen eingeführt wurde, war die erste wichtige Maßnahme, um diese Aufteilung zu ändern. Besonders für besserverdienende Väter war es bis zum Stichtag 2007 nicht wirklich eine Option, zugunsten des Babys auf ihr Gehalt zu verzichten. Erst die Zahlung von mindestens 65 Prozent vom Netto- bzw. seit 2013 vom Bruttogehalt setzte einen attraktiven Anreiz, sich finanziell abgesichert um den Nachwuchs zu kümmern. Beim alten Erziehungsgeld konnte der Elternteil, der sich vorwiegend um das Kind kümmert, für 24 Monate 300 Euro oder alternativ für zwölf Monate 450 Euro Unterstützung beantragen. Voraussetzung war auch damals, eine Teilzeitarbeit von maximal 30 Stunden pro Woche und das Einhalten bestimmter Einkommensgrenzen. Noch einmal, Herr Kollege Wunderlich: Das neue Elterngeld ist eine Lohnersatzleistung, konzipiert für den Ausfall des Einkommens. Es geht nicht darum, eine Erhöhung der Anzahl der Geburten zu erreichen. Das ist der Unterschied zum vorherigen Erziehungsgeld. Umfangreiche Evaluierungen haben die positiven Wirkungen des Elterngeldes bewiesen. Ich weiß, dass Sie im Herzen liebend gern unserem guten Gesetzentwurf zustimmen würden, dass Sie das aber aus dogmatischen Gründen leider nicht machen können, Herr Kollege Wunderlich. ({4}) - Das habe ich Ihrer Rede zwischen den Zeilen entnehmen können. Mit der von den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ausdrücklich empfohlenen Weiterentwicklung des Elterngeldes haben Eltern künftig noch mehr Entscheidungsfreiheit bei der Ausgestaltung ihrer Lebens- und Berufswünsche.

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Herr Kollege Lehrieder, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wunderlich?

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bitte darum. ({0})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Bitte schön.

Jörn Wunderlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003867, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Es gibt einzelne gute Gründe dafür, dieses Gesetz gutzuheißen, es gibt aber auch einzelne gute Gründe, dieses Gesetz abzulehnen. In der Gesamtschau aber kann man ihm nicht zustimmen. Wenn Sie mir jetzt, lieber Kollege Lehrieder, an dieser Stelle erklären können, wie eine alleinerziehende Mutter, die nach Auskunft des Familienministeriums im Durchschnitt 7 Stunden pro Woche arbeitet, diese Stundenzahl auf 15 Stunden reduzieren soll, dann überlege ich mir, ob ich nicht doch zustimme. Wie reduziert man 7 Stunden auf 15 Stunden?

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Da ist keine Reduzierung, sondern allenfalls eine Aufstockung möglich. Das ist mit der Erziehung des Kindes aber sicherlich nicht kompatibel. Wir werden uns gerade die Auswirkungen auf Alleinerziehende anschauen müssen; das wurde auch in der Anhörung thematisiert. Wir müssen schauen, ob und inwieweit es auch für die alleinerziehende Mutter, die in Teilzeit berufstätig ist, eine Möglichkeit gibt, diese Leistung zu erhalten, wenn sie ihre Arbeitszeit reduziert. Ich verweise da auf das Struck’sche Prinzip des Gesetzgebungsverfahrens: Kein Gesetz verlässt den Bundestag so, wie es reingekommen ist. - Wir werden die Auswirkungen dieses Gesetzes in den Blick nehmen und schauen, ob für bestimmte Personengruppen, die möglicherweise noch nicht ausreichend berücksichtigt wurden, Veränderungen erforderlich sind. ({0}) Lieber Kollege Wunderlich, Sie können sehen, dass wir im Gesetzgebungsverfahren auf Änderungsbedarf mit Blick auf den sogenannten doppelten Anspruchsverbrauch reagiert haben. ({1}) Nach der bisherigen Regelung war es so, dass die vollen Elterngeldmonate verbraucht worden sind, selbst wenn man Teilzeit gearbeitet hat. Wir haben gesagt: Jawohl, der Zeitraum muss verdoppelt werden, wenn ich Teilzeit in Anspruch nehme. Von daher sage ich: Wir haben reagiert. Das ursprüngliche Elterngeldgesetz ist mittlerweile acht Jahre alt. Wir haben gesagt: Jawohl, das Gesetz muss verbessert werden. Ich schließe nicht aus, dass das eine oder andere noch geschwind nachgebessert werden muss. Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Vorredner haben bereits einige positive Aspekte des Elterngeldes angeführt. Das geplante Gesetz zur Einführung des Elterngeld Plus mit Partnerschaftsbonus und einer flexiblen Elternzeit, soll, wie bereits ausgeführt, Eltern die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ermöglichen, und zwar auf partnerschaftliche Weise. Es sorgt für neue Gestaltungsmöglichkeiten und mehr Flexibilität im Alltag; denn zukünftig sollen Eltern das Elterngeld Plus bei gleichzeitiger Teilzeitarbeit doppelt so lange nutzen können wie nach der bisherigen Regelung. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass wir darüber diskutiert haben, ob die dreimalige Inanspruchnahme von Elternzeit, also die Inanspruchnahme von Elternzeit zu verschiedenen Zeiten, der Wirtschaft zuzumuten ist, ob das insbesondere den kleinen und mittelständischen Unternehmen und Handwerksbetrieben zuzumuten ist. Ich glaube, hochmotivierte und gute Arbeitskräfte sind in dieser Zeit, in der wir über Fachkräftemangel reden, auch für den kleinen Handwerksbetrieb von großem Wert. Viele dieser kleinen Handwerksbetriebe handeln übrigens schon jetzt, bevor wir diesen Gesetzentwurf verabschiedet haben, mit ihren Arbeitnehmern in den verschiedenen Bereichen entgegenkommende Regelungen aus, um ihnen die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu ermöglichen. Ein großes Kompliment an den Handwerksmeister, der seinen Mitarbeitern schon jetzt Teilzeit anbietet, um die Betreuung von kleinen Kindern zu ermöglichen. Wir wollen, dass das bis zum achten Lebensjahr möglich ist. Der Kollege Weinberg hat darauf hingewiesen, dass es Situationen gibt, die man nicht planen kann. Man weiß, dass das Kind mit sechs Jahren in die Schule kommt. Mit Blick darauf kann man eine Reduzierung der Arbeitszeit planen. Bei einem Schicksalsschlag oder einer Trennung der Eltern sieht das anders aus. Es kann sein, dass man in solchen Zeiten etwas weniger arbeiten möchte, um sich gezielt um die Erziehung der Kinder kümmern zu können. Ich glaube, dass wir mit der Regelung bis zum 8. Lebensjahr des Kindes einen guten Kompromiss gefunden haben. Eine Regelung bis zum 14. Lebensjahr des Kindes wäre meiner Ansicht nach etwas arg weitgehend. Ich habe mir erlaubt, einmal die Tarifverträge der verschiedenen Branchen durchzusehen. Sie enthalten schon jetzt familienfreundliche Regelungen: Angefangen bei der Metallindustrie über den Einzelhandel und den Großhandel bis zu den sozialen Einrichtungen gibt es schon sehr viele familienfreundliche Regelungen. Eine große Klinik kümmert sich sogar um den Kinderkrippenplatz, um Betreuungsplätze und zahlt den Elternanteil an den Betreuungsplätzen. Es gibt also sehr positive Zeichen. Wir unterstützen die Unternehmen in diesem Bereich; denn wir sagen: Hochmotivierte, gute Mitarbeiter, die nach der Geburt eines Kindes Teilzeit im Unternehmen arbeiten können und wollen, sind für das Unternehmen ein Gewinn. Das ist keine Belastung für das Unternehmen, sondern ein Gewinn. ({2}) So sollten wir das kommunizieren. Ich will noch eines sagen: Mit der Einführung des Elterngeldes vor acht Jahren und mit der Schaffung zusätzlicher Kinderkrippenplätze wurde den Unternehmen die Möglichkeit gegeben, qualifizierte Mitarbeiter, insbesondere Frauen, nach der Geburt eines Kindes einstellen zu können, ob in Teilzeit oder Vollzeit. Der Krippenausbau in den letzten acht Jahren war ein Wirtschaftspaket ohnegleichen. Am Montagnachmittag werden wir in der Ausschussanhörung über den qualitativen Krippenausbau debattieren. Ich freue mich auf die Fortsetzung der Diskussion. Ich hoffe, dass Sie heute Abend beizeiten zu Ihren Familien kommen, trotz der unsicheren Verkehrslage heute in Deutschland. Ein schönes Wochenende! Ich freue mich auf ein Wiedersehen am Montag. Danke. ({3})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Bettina Hornhues, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Bettina Hornhues (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004307, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass wir heute einen Gesetzentwurf verabschieden, der jungen Eltern nicht nur die Wahlfreiheit und Flexibilität erlaubt, sondern auch einen großer Schritt hinsichtlich der Vereinbarkeit von Familie und Beruf darstellt. Denn gerade Flexibilität ist das, was auf der Wunschliste der Eltern ganz oben steht. Wir schaffen mit dem Gesetz zur Einführung des neuen Elterngeld Plus politische Rahmenbedingungen, mit denen wir ein wichtiges politisches Ziel unseres Koalitionsvertrages umsetzen, nämlich die Stärkung von Familien. Wir stärken die Familien, indem wir ihnen nicht nur mehr Zeit miteinander ermöglichen, sondern auch dafür sorgen, dass Männer und Frauen ihre AufgaBettina Hornhues ben in Familie und Beruf partnerschaftlich wahrnehmen und aufteilen können. Denn in einer immer schneller werdenden Welt, in der Zeit im Allgemeinen eine knappe Ressource ist, plädieren wir für mehr Zeit, die wir vor allem im Alltag mit unseren Familien verbringen können. Das Elterngeld Plus eröffnet genau diese Chance. Dies ist diejenige Art von Politik, die nah dran ist an den Wünschen und Bedürfnissen der heutigen Gesellschaft im Allgemeinen und an jenen der jungen Eltern im Besonderen. Ich freue mich daher sehr, dass unsere Forderung nach einer Weiterentwicklung des Elterngeldes hin zum Elterngeld Plus nun umgesetzt und das Elterngeld Plus als eigenständige Gestaltungskomponente eingeführt wird. Vor allem die Nutzungsmöglichkeit, die Elternzeit in Verbindung mit dem Elterngeld Plus zukünftig zwischen dem dritten und dem vollendeten achten Lebensjahr flexibel in Anspruch zu nehmen, sehe ich daher als einen echten Beitrag zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Wenn ich von mehr Zeit für Familie spreche, was meine ich dann eigentlich mit Familienzeitpolitik? Was versteht man unter diesem neuen Politikfeld? Der Schlüssel, um familienpolitische Ziele wie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erreichen zu können, liegt für uns als CDU/CSU-Bundestagsfraktion in einer modernen Familienzeitpolitik. Familienzeitpolitik ist spätestens seit dem Siebten Familienbericht der Bundesregierung ein wichtiger Punkt auf der politischen Agenda. Auch der Achte Familienbericht, über den wir heute zu späterer Zeit noch debattieren werden, nimmt sich ganz und gar des Themas der Familienzeitpolitik an. Dabei werden hauptsächlich drei Kernkomponenten zusammengefasst: Erstens. Mehr Zeitsouveränität für Familien, das heißt die selbstbestimmte Einteilung von Zeit als Ressource. Zweitens. Eine partnerschaftliche und damit gerechte Verteilung von Zeit bei Frauen und Männern, was auch zu mehr Chancengleichheit führt. Drittens. Die Verzahnung mit einer kommunalen Zeitpolitik für Familien, beispielsweise durch die Abstimmung von Öffnungszeiten der Behörden, Kitas usw. Der Forderung nach mehr Zeit für Familie folgt auch die Flexibilisierung der Elternzeit, welche wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf implementieren wollen. Nun haben wir bereits während der ersten Gesetzeslesung Ende September die vielen positiven Effekte, die das neue Elterngeld Plus mit sich bringt, hervorgehoben. Ich möchte nachfolgend aber noch einmal auf die Zielgruppe eingehen, die von dem neuen Elterngeld Plus besonders profitiert, nämlich Erwerbstätige in Teilzeit. Das Elterngeld Plus haben wir schließlich für diejenigen Eltern entwickelt, die während des Elterngeldbezugs in Teilzeit arbeiten wollen. Die Vorteile liegen auf der Hand: Eltern, die nach der Geburt des Kindes in Teilzeit arbeiten gehen, können doppelt so lange vom Elterngeld profitieren. Der frühe Wiedereinstieg bringt zudem Vorteile, sowohl für die Wirtschaft als auch für die Erwerbstätigen. Der Arbeitgeber kann früher auf den Arbeitnehmer zugreifen und von seiner Erfahrung im Unternehmen profitieren. Der Erwerbstätige selbst bleibt auf dem aktuellen Stand bei den Anforderungen seines Arbeitsplatzes. Das Ausscheiden aus dem Berufsleben kann verhindert werden. In diesem Punkt stimmen uns auch die Arbeitgeberverbände zu. Auch sie sehen diesen Vorteil in dem vorliegenden Gesetzesvorhaben. ({0}) Natürlich wäre da noch ein ganz wesentlicher Vorteil: Durch die verringerte Arbeitszeit bleibt mehr Freiraum für die Familie. Dies ist sowohl für Väter als auch für Mütter ein wichtiger Aspekt. Für mich sind die neuen Gestaltungsmöglichkeiten, die sich durch das Elterngeld Plus ergeben, nicht nur ein gelungener Beitrag für eine echte Wahlfreiheit, sondern vor allem eine Win-win-Situation für alle Beteiligten. Ich möchte in diesem Zusammenhang aber auch noch einmal an die Wirtschaft appellieren: Familienfreundlichkeit im Unternehmen darf nicht als Umstand gesehen werden, sondern sollte als echter Wettbewerbsvorteil genutzt werden. ({1}) Als Politik können wir noch so viele Maßnahmen und Rahmenbedingungen schaffen: Dies alles nützt nichts ohne die Unterstützung der Wirtschaft. Familienpolitik verstehe ich auch als Wachstumsmotor für unsere Wirtschaft. Ich richte mich hier mit zwei ganz konkreten Ideen an die Wirtschaft: Dies sind zum einen die Betriebskindergärten. Viele Unternehmen gehen hier schon mit positivem Beispiel voran, dem sich meiner Meinung nach aber noch viele weitere Betriebe anschließen könnten. Ein Betriebskindergarten kann im Wettbewerb um die besten Fachkräfte ein großer Pluspunkt sein, sich als Arbeitnehmer für dieses Unternehmen zu entscheiden. Betriebskindergärten ermöglichen Eltern, frühzeitig an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren. Zum anderen denke ich an die jungen Mütter, die zu Beginn der Familiengründung noch ohne Abschluss dastehen. Bei den unter 25-jährigen Müttern sind es immerhin über 50 Prozent, die keinen Berufsabschluss haben. Es wäre daher doch sehr zu begrüßen, noch viele weitere Unternehmen davon zu überzeugen, dass eine Ausbildung in Teilzeit angeboten wird. Eine Ausbildung in Teilzeit absolvieren zu können, bietet jungen Erwachsenen mit Familienverantwortung eine echte Chance. Seit 2005 besteht die Option der Teilzeitausbildung; leider wird diese Möglichkeit aber bisher noch viel zu wenig genutzt. So wurden im Jahr 2012 nur 0,2 Prozent der Ausbildungsverträge in Teilzeit abgeschlossen. Dabei liegen die Vorteile für die Betriebe doch auch hier auf der Hand: Die Betriebe erhalten engagierte Fachkräfte, die durch ihre Familienverantwortung viel Orga6018 nisationsgeschick und Verantwortungsbewusstsein mitbringen. Die Teilzeitausbildung lässt sich flexibel in den Betriebsablauf integrieren und kann vor allem kleinen Betrieben einen Einstieg in die Fachausbildung bieten, sollten finanzielle und zeitliche Kompetenzen für eine Vollausbildung fehlen. Zudem zeichnet Familienfreundlichkeit ein Unternehmen als attraktiven Arbeitgeber aus. Teilzeitausbildung bietet jungen Eltern und Alleinerziehenden eine wirkliche Chance, Berufsausbildung und Familie miteinander zu verbinden - ein Mehrwert nicht nur für die Wirtschaft, sondern für die gesamte Gesellschaft. Aber kommen wir wieder ganz konkret zurück zum Elterngeld Plus. Kürzlich wurde ich bei einer Veranstaltung darauf angesprochen, ob wir nicht in Bezug auf Familienleistungen auch etwas für die Selbstständigen machen könnten. An dieser Stelle möchte ich noch einmal betonen: Auch Selbstständige können vom Leistungspaket des Elterngeld Plus profitieren; denn die Flexibilität des Elterngeld Plus bringt gerade für Selbstständige besondere Vorteile. Wenn Selbstständige in geringem Umfang erwerbstätig sind oder nachlaufende Einkünfte aus ihrer Tätigkeit vor der Geburt haben, profitieren sie wie alle anderen Eltern auch. Das Elterngeld ersetzt nur den tatsächlich ausfallenden Einkommensanteil. Mit einem Elterngeld-Plus-Monat wird nur noch ein halber Monatsanspruch des Elterngeldes verbraucht statt wie bisher ein ganzer. Zusammenfassend bietet das Elterngeld Plus Familien unabhängig davon, ob in selbstständiger oder nicht selbstständiger Arbeit, mehr Zeit mit der Familie, und ermöglicht es durch einen frühen Wiedereinstieg in Teilzeiterwerbstätigkeit den Eltern, Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen. Dieses Gesetz zeigt, dass wir nicht nur die Arbeit der Frauen, sondern auch die Erziehungsleistung der Väter wertschätzen. Vielen Dank. ({2})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Einführung des Elterngeld Plus mit Partnerschaftsbonus und einer flexiblen Elternzeit im Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz. Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3086, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 18/2583 und 18/2625 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Wir stimmen nun über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/3090 ab. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke abgelehnt. ({0}) - Ich höre, die Grünen haben sich beim Abstimmen vertan. ({1}) - Okay. Also, Sie hatten dafür gestimmt. ({2}) Wir wiederholen die Abstimmung. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Entschließungsantrag mit den Stimmen der Fraktionen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Ent- haltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt. Wir setzen die Abstimmung zu der Beschlussempfeh- lung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf Drucksache 18/3086 fort. Tagesordnungspunkt 30 b. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ab- lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- nen auf Drucksache 18/2749 mit dem Titel „Echte Wahl- freiheit schaffen - Elterngeld flexibler gestalten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfeh- lung ist mit den Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und Die Linke gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 31 a und 31 b auf: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten HansChristian Ströbele, Luise Amtsberg, Volker Beck ({3}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung von Transparenz und zum Diskriminierungsschutz von Hinweisgeberinnen und Hinweisgebern ({4}) Drucksache 18/3039 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({5}) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({6}) Innenausschuss Sportausschuss Finanzausschuss Vizepräsidentin Ulla Schmidt Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Gesundheit Federführung strittig b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin Binder, Andrej Hunko, Caren Lay, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Gesellschaftliche Bedeutung von Whistleblowing anerkennen - Hinweisgeberinnen und Hinweisgeber schützen Drucksache 18/3043 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({7}) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({8}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Arbeit und Soziales Verteidigungsausschuss Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Federführung strittig Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Hans-Christian Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke, Frau Präsidentin. - Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir legen heute einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der parlamentarischen Gesellschaft in unserem Lande vor. Wir bringen den Entwurf für ein Whistleblowerschutzgesetz ein. „Whistleblower“ ist das englische Wort für Hinweisgeber. Whistleblower sind Menschen, die aus Behörden oder Institutionen heraus auf Missstände hinweisen und dabei selber häufig nicht nur viel Ärger, sondern manchmal auch sehr viel Schlimmeres riskieren. Glücklich das Land, das keine Whistleblower braucht! Deutschland gehört aber nicht dazu. ({0}) Wir haben eine jahrzehntelange Erfahrung mit Whistleblowern. Ich kann nur sagen: Ohne den Steuerbeamten aus Köln, der die illegale Parteienfinanzierung durch die Staatsbürgerliche Vereinigung seinerzeit angezeigt und in die Öffentlichkeit gebracht hat, hätten wir vermutlich noch heute eine solche illegale Parteienfinanzierung um einmal beim Bundestag anzufangen. Ohne die Personen - sie riskieren häufig sehr viel -, die in den vergangenen Jahren CDs zur Verfügung gestellt haben, die Steuerdaten von Steuerflüchtlingen in der Schweiz und in Liechtenstein beinhalteten, hätten wir nicht nur in Bundes- und Länderkassen einige Hundert Millionen Euro weniger, sondern wir hätten auch keine verbesserte Moral und hätten wahrscheinlich auch nicht die gestrige Debatte über das neue Gesetz zur Rehabilitierung von Steuersündern geführt. Wir leben davon, dass es Menschen gibt, für die deren persönliche Interessen manchmal nicht so sehr im Vordergrund stehen wie die Hilfe für andere Menschen. Das ist nicht nur im großen staatlichen Bereich so, sondern das ist auch bei Unternehmen so. Ohne den Kraftfahrer, der den Gammelfleischskandal aufgedeckt hat, indem er die Polizei alarmierte, hätten wir wahrscheinlich Vergiftungen durch vergammeltes Fleisch erlitten. Ohne die Altenpflegerin, die die Missstände in einem Pflegeheim in Berlin mit 150 Insassen öffentlich gemacht hat - hier ging es um einen Mangel an Pflege und um Gesundheitsschäden, die die Insassen erlitten haben -, wäre dieser Zustand nicht beendet worden. Diese Whistleblowerin musste bis zum Europäischen Gerichtshof klagen, um ihr Recht zu bekommen, ihr Recht, so etwas im Interesse der Allgemeinheit und der einzelnen Menschen öffentlich machen zu können. Das darf in unserer Gesellschaft nicht sein. ({1}) Ohne Edward Snowden wüssten wir heute nicht, dass wir millionenfach abgeschöpft wurden, und wir wüssten nicht, was wir brauchen, um uns dagegen zu wehren; denn nur die Kenntnis darüber versetzt uns Einzelne, aber auch die Gesellschaft in die Lage, gegen solche Missstände etwas zu tun. Vor einigen Wochen hat ein verdienter IT-Experte, der Mann an der Seite von Edward Snowden, nämlich Jacob Appelbaum aus den USA, hier am Brandenburger Tor gesagt, er warte auf einen Whistleblower aus Deutschland, der sei dringend erforderlich. Dieser Forderung können wir uns nur anschließen. Aber was können wir einem Whistleblower aus Deutschland an rechtlicher Sicherheit bieten? Um ihm etwas bieten zu können, müssen wir ein solches Gesetz diskutieren und dieses Gesetz auch verabschieden. ({2}) Es geht also nicht nur darum, die Gesellschaft zu schützen, sondern es geht auch darum, Unternehmen und Behörden zu schützen. Auch diese können langfristig kein wohlverstandenes Interesse daran haben, dass Missstände, rechtswidrige Zustände oder möglicherweise sogar die Begehung strafbarer Handlungen in ihrem Unternehmen oder in ihrer Behörde andauern. Deshalb ist ein solches Gesetz dringend erforderlich. Es wird etwa von Amnesty International gefordert. Es wird von der Parlamentarischen Versammlung des Europarats und anderen Institutionen gefordert. Es wird in einer großen Petition an den Deutschen Bundestag gefordert. Das ist auch eine dringende Forderung des Europäischen Gerichtshofs, der das gerade in dem Fall Heinisch immer wieder betont hat. Darüber müssen wir uns Gedanken machen. Wir könnten in Europa ein vorbildliches Land werden, wenn wir es schafften, ein solches Gesetz zu verabschieden. Der Entwurf, den wir vorgelegt haben, beruht auf drei Säulen. Wir wollen zum einen die Arbeitnehmer schützen, die an ihrem Arbeitsplatz Missstände entdecken. Angenommen, ein Arbeitnehmer meldet Missstände zunächst beim Arbeitgeber oder an einer anderen Stelle, aber es kommt keine Reaktion. Dann stellt er fest, dass nicht nur keine Abhilfe geschaffen wird, sondern dass es auch Gefahren für Leib und Leben, Freiheit, ({3}) Umwelt, Finanzplatzstabilität und Ähnliches gibt. Dann kann er sagen: Ich melde das einer Stelle außerhalb meiner Arbeit. Wenn auch das noch nichts nützt und wenn das öffentliche Interesse an der Veröffentlichung eines solchen Missstandes überwiegt, dann darf dieser Arbeitnehmer auch zur Presse gehen und das öffentlich machen, damit diese Missstände endlich abgestellt werden. ({4}) Eine solche Regelung wollen wir zum anderen auch für die Beamten schaffen. Im Beamtengesetz wollen wir im Rahmen eines neuen § 67 a einen entsprechenden Passus einfügen. Dabei geht es darum: Wenn in einer Behörde festgestellt wird - ich habe zwei Fälle genannt -, dass möglicherweise sogar Straftaten begangen werden oder Gefahren für Leib, Leben, Gesundheit, Freiheitsrechte von Menschen, die Umwelt oder für die Stabilität der Finanzen nicht gesehen oder beachtet bzw. keine Schlussfolgerungen daraus gezogen werden, dann müssen auch die Beamten ihrer Allgemeinwohlverpflichtung, die sie nach dem Gesetz ohnehin haben, nachkommen und so etwas nicht nur beim Vorgesetzten anzeigen, sondern das auch in Fällen, in denen das öffentliche Interesse überwiegt, in die Medien bringen können, damit die Öffentlichkeit bzw. der Deutsche Bundestag Druck ausüben können, dass solche Zustände beseitigt werden. ({5}) Ein letzter und ganz wichtiger Punkt. Wir machen keine Lex Edward Snowden. Wir wollen aber ein Gesetz machen, das auch solchen Whistleblowern hilft. Deshalb wollen wir auch die Bestimmungen im Strafrecht ändern, die beispielsweise Staatsgeheimnisse oder Dienstgeheimnisse absolut setzen. Wir sagen: Wenn die Gefahr der Verletzung von Grundrechten, anderer schwerer Rechtsverletzungen oder der Begehung schwerer Straftaten besteht, dann ist es wie beispielsweise in dem Fall der Massenausspähung - der massenhaften Verletzung der Grundrechte von Millionen von Bürgern auf der ganzen Welt, aber auch in Deutschland - gerechtfertigt, mit einer solchen Information an die Öffentlichkeit zu gehen und auch Dokumente vorzulegen, damit man dagegen angehen kann. ({6}) Deshalb wollen wir die Bestimmungen über Staatsgeheimnisse oder Dienstgeheimnisse entsprechend relativieren und regeln, dass Whistleblower in diesen Fällen, wenn sie das auf der Grundlage von konkreten Anhaltspunkten annehmen können und das öffentliche Interesse überwiegt, straffrei gestellt werden. Dann soll die Weitergabe entsprechender Informationen gerechtfertigt bzw. nicht mehr unbefugt sein. ({7}) Diese gesetzliche Regelung ist dringend geboten. Zusammenfassend ist festzuhalten: Wir wollen mehr Transparenz und mehr Aufklärung in unserer Gesellschaft wagen. Deshalb legen wir diesen Gesetzentwurf vor und fordern die anderen Fraktionen im Deutschen Bundestag und die Bundesregierung auf, das zu tun, wozu die Regierung sich schon vor längerem verpflichtet hat, nämlich einen entsprechenden Gesetzentwurf vorzulegen. Wir wären auch damit zufrieden, dass sie einfach unseren Gesetzentwurf übernehmen. ({8})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Nächster Redner ist Wilfried Oellers, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Wilfried Oellers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004365, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir beraten heute den Antrag der Fraktion Die Linke und den Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen zum Schutz von Hinweisgeberinnen und Hinweisgebern. Missstände, illegales Handeln oder Gefahren werden häufig durch Informationen und Hinweise von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aufgedeckt. Sie sind es, die skandalöses Verhalten bzw. skandalöse Handlungen nicht schweigend hinnehmen, sondern durch beherztes Tätigwerden aufdecken und eine entsprechende rechtliche Verfolgung bzw. Ahndung erst ermöglichen. Diese Hinweisgeberinnen und Hinweisgeber legen damit eine Zivilcourage an den Tag, die nicht hoch genug gelobt und anerkannt werden kann. Sie gehen ein hohes Risiko ein und setzen für das hohe Gut der Gerechtigkeit gar ihren Ruf und ihre Existenz aufs Spiel. Ich spreche diesen Menschen daher persönlich, aber auch im Namen der CDU/CSU-Fraktion großen Respekt aus. ({0}) Menschen, die sich so sehr für andere einsetzen, müssen vor den ihnen drohenden Nachteilen geschützt werden. ({1}) Dies ist unbestritten, und dies sind wir ihnen auch schuldig. Hierzu bringen die Oppositionsparteien nun Vorschläge ein, die die Hinweisgeberinnen und HinweisgeWilfried Oellers ber schützen sollen. Dabei gilt es jedoch, zunächst einmal zu prüfen, ob nicht bereits das geltende Recht die Hinweisgeberinnen und Hinweisgeber schützt. ({2}) Auch wenn ein spezielles Schutzgesetz nicht existiert, so stellen wir bei sorgfältiger Prüfung und genauer Betrachtung fest, dass die geltende Rechtslage den Schutz bereits gewährleistet. Lassen Sie mich an dieser Stelle einige Beispiele nennen. ({3}) Im Bürgerlichen Gesetzbuch ist in § 612 a das sogenannte generelle Maßregelverbot geregelt. Hiernach ist es dem Arbeitgeber untersagt, einen Arbeitnehmer im Rahmen einer Vereinbarung oder einer Maßnahme zu benachteiligen, weil dieser in zulässiger Weise seine Rechte geltend macht und ausübt. Darin enthalten ist das von der Rechtsprechung anerkannte allgemeine Anzeigerecht des Arbeitnehmers gegenüber seinem Arbeitgeber. Dieses Anzeigerecht ist von den Arbeitsgerichten wiederholt bestätigt worden, sodass die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses rechtswidrig ist, wenn sie mit der Ausübung des Anzeigerechts begründet wird. Um allerdings die Willkür und den Missbrauch eines solchen Anzeigerechts durch den Arbeitnehmer zu verhindern, unterliegt das Anzeigerecht zu Recht bestimmten Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, um sich wirksam auf das Anzeigerecht berufen zu können. Zunächst müssen sich die Hinweisgeber vor Erstattung einer Anzeige ernsthaft um eine innerbetriebliche Klärung bemüht haben. Eine Ausnahme wird hiervon gemacht, wenn es sich um Straftaten mit besonders schweren Folgen handelt. Weiterhin darf eine Anzeige nicht leichtfertig von einem Arbeitnehmer erstattet werden. Er hat den Sachverhalt sorgfältig zu erfassen, sodass er auch nachgewiesen werden kann.

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Herr Kollege Oellers, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele?

Wilfried Oellers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004365, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich würde zunächst gerne fortfahren. Vielleicht erübrigt sich dann diese Zwischenfrage.

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Okay. ({0})

Wilfried Oellers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004365, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Zudem muss die Anzeige darauf gerichtet sein, dem Missstand, illegalem Handeln oder Gefahren nachzugehen und sie zu beseitigen. Die Anzeige darf nicht die Zielrichtung haben, dem Arbeitgeber oder gar Kollegen lediglich zu schaden. Hierdurch würde der Hinweisgeber zu Recht seine Schutzwürdigkeit verlieren. Als eine weitere Voraussetzung muss sich der Hinweisgeber an eine öffentliche Stelle wenden. Abschließend sei nochmals darauf hingewiesen - das halte ich für besonders wichtig -, dass dieser gesetzliche Schutz des Arbeitnehmers im Bürgerlichen Gesetzbuch verankert ist. Es handelt sich um ein allgemeines Recht, das für alle Arbeitsverhältnisse gilt. Allein diese Norm gewährleistet daher bereits den Schutz von Hinweisgebern. Wie weit das Maßregelverbot entwickelt ist, zeigen nicht nur die oben genannten Voraussetzungen, sondern auch die umfangreiche Rechtsprechung und die Kommentierung in der Literatur. Sie bieten einen entsprechenden Rechtsschutz. Diese umfangreichen Materialien zeigen jedoch auch deutlich, dass jeder Fall gesondert zu betrachten und rechtlich zu bewerten ist. Wenn Sie nun behaupten, dass durch Ihre Vorschläge mehr Rechtssicherheit eintreten würde, muss ich Ihnen an dieser Stelle widersprechen. Sämtliche Vorlagen enthalten auslegungsbedürftige Rechtsbegriffe. Als Beispiel nenne ich hier „Zumutbarkeit“, „öffentliches Interesse“, „betriebliches Interesse“, „Angemessenheit“ und „unsachgemäß“. Als weiteren Punkt möchte ich erwähnen, dass Sie eine Abwägung der jeweiligen Interessen fordern.

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Herr Kollege, Entschuldigung, aber ich muss Sie noch einmal unterbrechen. Der Kollege Konstantin von Notz würde Ihnen jetzt gerne eine Zwischenfrage stellen.

Wilfried Oellers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004365, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dann lasse ich sie gerne zu.

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Bitte schön, Herr Kollege von Notz.

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das ist freundlich, Herr Kollege. Vielen Dank. - Würden Sie mir zustimmen, dass wir, wenn wir so stark auf die Rechtsprechung bei der Bewertung der angesprochenen Problematiken, die wir beide offensichtlich sehen, abstellen, nicht mehr viele Gesetze machen müssen? Anders formuliert: Finden Sie nicht auch, dass es im Hinblick auf die Rechtssicherheit, die die betreffenden Menschen brauchen, bevor sie sich zu einem solchen Schritt entscheiden, gut wäre, wenn wir eine klare gesetzliche Regelung zum Whistleblowerschutz hätten und nicht auf eine sehr diverse, teilweise widersprüchliche und unklare Rechtsprechung verweisen müssten? Aufgabe dieses Hauses ist es doch, Gesetze für Bereiche zu machen, wo dies dringend notwendig ist.

Wilfried Oellers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004365, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich stimme Ihnen zu, wenn Sie vorgeben, dass die betreffenden Personen einen besonderen Schutz genießen müssen und dieser Schutz rechtssicher sein muss; das ist überhaupt keine Frage. Ich habe aber auch ausgeführt, dass man zunächst einmal die geltende Rechtslage prüfen muss, bevor man neue Gesetze erlässt. Da bin ich noch in meinen Ausführungen, und ich komme noch zu weiteren Punkten. Wenn man das alles vollumfänglich beurteilt, muss man schon zu dem Ergebnis kommen, dass wir hier in Deutschland einen entsprechenden rechtssicheren Schutz haben. Die Besonderheit liegt natürlich darin, dass wir immer den Einzelfall bewerten müssen. ({0}) Etwas anderes enthalten auch Ihre Gesetzesvorschläge nicht. Von daher beurteilen wir die Situation eigentlich ähnlich, sodass meiner Meinung nach an dieser Stelle kein Handlungsbedarf besteht. Das will ich jetzt weiter ausführen. ({1}) Ich schloss seinerseits an der Stelle, dass wir auf die allgemeinen Begrifflichkeiten und die auslegungsbedürftigen Rechtsbegriffe hingewiesen haben. Wie ich gerade schon erwähnt habe, führen diese allgemeinen und auslegungsbedürftigen Rechtsbestimmungen dazu, dass wir immer eine Entscheidung im Einzelfall herbeiführen müssen. Im Streitfall liegt es dann natürlich bei den Gerichten, dies zu entscheiden. Daher ist festzustellen, dass die hier vorgelegten umfangreichen Textvorschläge zum einen bestimmt nicht zu mehr Rechtssicherheit führen, als heute schon besteht, und zum anderen eine Einzelfallentscheidung der Gerichte auch nicht entbehrlich macht. Gerade diese Einzelfallentscheidung ist erforderlich, da die Sachverhalte in aller Regel komplex und äußerst differenziert zu beurteilen sind. Eine umfangreiche Abwägung aller Interessen ist somit unumgänglich. Diese ist von den Gerichten vorzunehmen. Das sieht unser Rechtssystem nun einmal so vor. Dabei ist selbstverständlich nicht zu verhehlen, dass derartige Verfahren langwierig sind und zuweilen die Beteiligten sehr belasten. Nur werden Sie diese Verfahren nicht durch neue umfangreiche gesetzliche Regelungen verkürzen können. ({2}) Um nun dem Eindruck entgegenzutreten, dass es mit § 612 a BGB nur eine gesetzliche Regelung zum Schutz von Hinweisgebern gibt, seien nachfolgend weitere Gesetze genannt, die ebenfalls Schutzvorschriften für Hinweisgeber enthalten. So dient zum einen natürlich das Kündigungsschutzgesetz, also ein weiteres allgemeines Gesetz, dem Schutz von Hinweisgebern. Wir haben aber auch spezielle Regelungen im Betriebsverfassungsgesetz, im Arbeitsschutzgesetz, sogar im Bundes-Immissionsschutzgesetz und im BGB. Darüber hinaus darf in diesem Zusammenhang auch nicht die höchstrichterliche Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, des Bundesverfassungsgerichts, aber auch des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vergessen werden. ({3}) Auch für Hinweisgeber, die Verschwiegenheitspflichten unterliegen, gibt es gesetzliche Schutzregelungen. So ist an dieser Stelle insbesondere auf die Regelungen des Bundesbeamtengesetzes und des Beamtenstatusgesetzes hinzuweisen. Zu erwähnen ist ebenfalls, dass viele Betriebe freiwillig Möglichkeiten zur Meldung von Missständen eingeführt haben, zum Beispiel durch das Berufen von Ombudsleuten oder durch Betriebsvereinbarungen zwischen den Sozialpartnern, die auf die jeweiligen besonderen Betriebssituationen zugeschnitten sind. Auch internationale Vereinbarungen begründen, wie schon erwähnt, in meinen Augen keinen gesetzgeberischen Handlungsbedarf. Sowohl die Beschlüsse der G-20-Staaten als auch des Europarates beinhalten keine Pflicht, ein spezielles Gesetz zum Schutz von Hinweisgebern zu erlassen. Mit den geschilderten Rechtsvorschriften wird die Empfehlung der genannten Gremien - und eine solche ist es -, den Schutz von Hinweisgebern zu gewährleisten, erfüllt. ({4}) Dies wurde auch in der öffentlichen Anhörung zu diesem Thema am 5. März 2012 bestätigt. Bereits damals waren die Vorschläge der Opposition, die den jetzigen Vorschlägen sehr ähneln, nicht geeignet, den Schutz von Hinweisgebern in der notwendigen Weise zu verbessern. Die bisherige Rechtslage gewährleistet den Schutz von Hinweisgebern, so die einhellige Meinung. An dieser Situation hat sich bis heute nichts geändert. Handlungsbedarf besteht derzeit damit nicht. Die Schutzwürdigkeit und der Respekt vor den Hinweisgebern gebietet es jedoch, die Entwicklung der Schutzvorschriften durch die Rechtsprechung aufmerksam zu beobachten und gesetzgeberisch dann korrigierend tätig zu werden, sobald Handlungsbedarf angezeigt ist. ({5}) Da dies derzeit nicht der Fall ist, werden wir diese Vorlagen ablehnen. Vielen Dank. ({6})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Liebe Kolleginnen und Kollegen, als nächste Kollegin hat Karin Binder das Wort. ({0})

Karin Binder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003738, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren auf den Besuchertribünen! Wer auf Missstände im Betrieb oder in der Behörde hinweist, wer Betrug oder gefährliche Zustände aufdeckt, kann dafür seinen Arbeitsplatz verlieren, wird möglicherweise gemobbt, von Vorgesetzten schikaniert, verleumdet oder muss mit dem Ende seiner beruflichen Karriere rechnen, ({0}) und das trotz der bestehenden Gesetzeslage, Herr Kollege Oellers. Ich hoffe, Sie werden gut zuhören. ({1}) Deshalb ist es höchste Zeit, dass wir endlich, in dieser Legislatur, auch in Deutschland ein Whistleblowerschutzgesetz auf den Weg bringen. Dass dies dringend notwendig ist, kann ich Ihnen an drei Fällen aufzeigen: Erstens. Ein Berliner Krankenwagenfahrer wies auf unhaltbare Zustände im Krankentransport hin und wurde entlassen. Zwölf-Stunden-Schichten ohne Pause, fehlende Desinfektion nach Transporten von hoch ansteckenden Patienten, Fahrzeuge, die nicht mehr verkehrssicher sind - was bedeutet das für die Patientinnen und Patienten? Zweitens. Ein selbstständiger Personalberater hatte die offene Diskriminierung einer Bewerberin durch ein Unternehmen angeprangert und wird zu einer Schadensersatzzahlung an dieses Unternehmen verurteilt. Was sind Diskriminierungsschutz und ein Gesetz wie das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz wert, wenn Menschen, die sich danach richten und dafür einsetzen, solche negativen Folgen zu erleiden haben? ({2}) Drittens. Elf Altenpflegerinnen im Münsterland wurden erst im September fristlos entlassen. Sie hatten die Leitung des Pflegeheims lange vergeblich auf unhaltbare Zustände, fehlendes Material und absolute Arbeitsüberlastung aufmerksam gemacht und dann die Heimaufsicht angeschrieben. Mit Unterlassungsklagen schüchterte der private Betreiber nicht nur die Heimaufsicht ein, sondern auch das Umfeld dieses Heimes, sodass die Kritik inzwischen verstummte. Die elf Kolleginnen sind jetzt arbeitslos, und die Patientinnen, die Heimbewohnerinnen, haben keinen Ansprechpartner mehr. Hier sind auf einen Schlag elf Fachkräfte aus einem Heim mit 47 Beschäftigten entlassen worden. Ich weiß nicht, ob Sie sich diese Situation für Ihre Angehörigen in einem ähnlichen Fall wünschen. Die oft demenzkranken Menschen verlieren Ansprechpartner, Vertrauenspersonen und Fachkräfte. Ersetzt werden die ausgeschiedenen Personen durch 400-Euro-Jobber, durch Aushilfen, durch Menschen, bei denen es im Prinzip erst einmal lange Zeit braucht, um Vertrauen zu ihnen aufzubauen. Dass sich diese Altenpflegerinnen im Prinzip im Interesse der Patientinnen, im Interesse der Gesellschaft hier starkgemacht haben, muss Ihnen doch zeigen, dass in unserem Rechtssystem Defizite herrschen. ({3}) Die Linke sagt: Diese Menschen leisten einen unverzichtbaren gesellschaftlichen Beitrag, und dafür verdienen sie unsere Anerkennung und unseren Schutz. ({4}) Deshalb brauchen wir ein umfassendes Whistleblowerschutzgesetz. Damit beauftragen wir auch Sie als Regierungskoalition und die Regierung. Denn wir glauben, Nachteile wie der Verlust des Arbeitsplatzes, Mobbing, Verleumdung und andere Dinge, etwa materielle Nachteile, müssen vermieden werden, wenn sich Menschen für ihre Mitmenschen oder für die Gesellschaft einsetzen. ({5}) In einem solchen Gesetz muss auf jeden Fall der Schutz für Beschäftigte in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst verankert sein. Dieser Schutz muss für Beamtinnen und Beamte ebenso wie für Selbstständige, für Leiharbeiterinnen, für Auszubildende, für Ehrenamtliche, für Militärangehörige oder für Angehörige von Geheimdiensten gelten. ({6}) Wir brauchen außerdem den Schutz für alle, die im guten Glauben handeln. Die wenigsten Menschen sind juristisch ausgebildet und können die feinen Differenzierungen vornehmen, die ihnen entweder tatsächlich helfen und sie schützen oder auch nicht. Der gute Glaube muss zählen, wenn es darum geht, Gefahren für andere Menschen abzuwenden. Die Gewährleistung von Anonymität für Whistleblower ist eine ganz wichtige Sache; denn sonst verlieren sie ihren Arbeitsplatz. Es muss auch die Möglichkeit geben, sich an andere Stellen und an die Öffentlichkeit zu wenden, weil der interne Beschwerdeweg leider in vielen Fällen nicht erfolgreich ist, sondern sich, im Gegenteil, gegen diejenigen wendet, die ihn beschreiten.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Liebe Kollegin, ich war schon sehr großzügig. Deshalb müssen Sie jetzt zum Schluss kommen.

Karin Binder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003738, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Letzter Satz. - Wir brauchen ganz dringend unabhängige Beratungsstellen und eine unabhängige Ombudsstelle, am besten angesiedelt hier bei uns, beim Parlament, beim Bundestag. Deshalb kann ich Sie nur bitten: Schauen Sie sich den Entwurf der Grünen gut an! Wir hätten durchaus noch Vorschläge zur Ergänzung. Ich würde sagen: Ein umfassendes Whistleblowerschutzgesetz ist wichtig und notwendig. Danke. ({0})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Als nächster Redner spricht der Kollege Markus Paschke. ({0})

Markus Paschke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004371, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sogenannte Whistleblower bzw. Hinweisgeber oder Aufklärer, wie ich sie gern nenne, leisten einen großen Dienst an unserer Gesellschaft. Es sind in erster Linie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, aber auch Kunden, Lieferanten und Geschäftspartner, die auf Unregelmäßigkeiten, illegales Verhalten oder sogar Gefahren für Mensch und Umwelt aufmerksam werden. Ohne deren Insiderwissen können wir vieles nicht aufdecken und erkennen. Alle diese Menschen stehen in einer gewissen Abhängigkeit zu dem Verursacher. Wir sind in der Pflicht, den Aufklärern Rechtssicherheit darüber zu geben, was sie dürfen und was nicht. Die SPD hat in der letzten Legislaturperiode bereits einen eigenen Gesetzentwurf zum Thema Hinweisgeberschutz eingebracht. ({0}) Es ist kein Geheimnis, dass unser jetziger Koalitionspartner dem nicht folgen konnte. Aber eine neue Legislaturperiode, mit zum Teil neuen Abgeordneten, bietet ja die Möglichkeit, vergebene Chancen nachzuholen. ({1}) Das Ergebnis: Wir haben uns im Koalitionsvertrag immerhin auf einen Prüfauftrag verständigt. ({2}) Für mich ist das ein klarer Auftrag, nicht nur zu prüfen, sondern die Ergebnisse der Prüfung auch umzusetzen. Wir alle kennen die Fälle, in denen engagierte und couragierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Missstände in ihren Betrieben und Skandale offenlegen oder verhindern: der Lkw-Fahrer, der den Gammelfleischskandal ins Rollen brachte, die Schlachter, die die unmenschlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie in den Fokus der Öffentlichkeit rückten, die Verkäuferinnen, die auf die Mitarbeiterbespitzelung bei einem großen Discounter aufmerksam machten. Dies sind nur einige Beispiele - wir haben vorhin schon weitere gehört -, die verdeutlichen, dass es sich bei den Hinweisgebern nicht um Denunzianten oder Verräter, sondern - ganz im Gegenteil - um wichtige und notwendige Aufklärer im Dienst der Allgemeinheit handelt. ({3}) Ohne den Mut dieser Männer und Frauen wäre es nicht zu notwendigen Veränderungen zum Wohle der Menschen in unserem Land gekommen. ({4}) Deshalb finde ich es umso beschämender, dass gerade diese Helden - ja, in meinen Augen sind es Helden ({5}) im Anschluss an ihr mutiges Handeln häufig mit Repressalien zu kämpfen haben. ({6}) Für ihre Zivilcourage werden sie zu Recht ausgezeichnet und belobigt. Aber die Medaille hat leider auch eine unschöne Seite: Mobbing, Strafversetzung oder sogar Entlassung als unmittelbare Reaktion aus dem unmittelbaren beruflichen Umfeld der Aufklärer sind leider keine Seltenheit. ({7}) Gegenwärtig gibt es in Deutschland bereits vereinzelt gesetzliche Regelungen, die Hinweisgeber schützen sollen. ({8}) Aber - das sage ich an dieser Stelle deutlich - sie sind meines Erachtens nicht ausreichend. ({9}) Ich freue mich über die Zustimmung; da hätten Sie sich die Zwischenrufe vorher doch alle sparen können. ({10}) Es ist die Aufgabe der Politik, nicht die Aufgabe der Gerichte, zu gestalten, meine Damen und Herren. ({11}) Wir brauchen einen effektiven Schutz für die Aufklärer. Kommen wir nun zu Ihrem Gesetzentwurf, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von den Grünen. Man könnte sagen: Problem erkannt, ({12}) aber nicht gelöst. Viele Sachen benennen Sie richtig. Und es gibt, wie bereits in der letzten Legislaturperiode, auch einige Schnittmengen zwischen Ihrer und unserer Fraktion. Aber auch in Ihrem Gesetzentwurf gibt es eine Vielzahl unbestimmter Rechtsbegriffe, deren Ausgestaltung wieder den Gerichten obliegt. ({13}) Ich will einige Beispiele nennen: Sie schlagen vor, ins BGB einen § 612 b einzufügen, in dessen Absatz 1 von „konkreten Anhaltspunkten“ die Rede ist. Für einen Absatz 2 schlagen Sie folgende Formulierung vor: Der Arbeitnehmer hat das Recht, sich an eine zuständige außerbetriebliche Stelle zu wenden, wenn … der Arbeitgeber dem Verlangen nach Abhilfe nicht binnen angemessener Frist oder nach Auffassung des Arbeitnehmers aufgrund konkreter Anhaltspunkte - da sind sie schon wieder nicht oder nicht ausreichend nachkommt. ({14}) Ich frage: Was sind denn diese „konkreten Anhaltspunkte“? Was ist eine „angemessene Frist“? Und was ist ein ausreichendes oder nicht ausreichendes Abhilfeschaffen?

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Herr Kollege Paschke, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele zu?

Markus Paschke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004371, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gleich, ich möchte nur diesen Gedanken noch zu Ende bringen. - Kein Hinweisgeber kann das rechtssicher auslegen. Da gucken mich doch Jutta, die Verkäuferin, Miroslaw, der Lkw-Fahrer, oder auch Brigitte, die Altenpflegerin, groß an und wissen immer noch nicht, ob sie rechtlich auf der sicheren Seite sind. Jetzt habe ich diesen Gedanken zu Ende gebracht und würde die Zwischenfrage von Herrn Ströbele gerne zulassen.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Herr Ströbele, Sie haben das Wort.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke, Herr Kollege. Ich fasse mich auch ganz kurz. Wir haben uns natürlich auch lange Gedanken über diese Formulierungen gemacht. Den Begriff der „konkreten Anhaltspunkte“ haben wir dem geltenden Gesetz entnommen, nämlich § 17 Absatz 2 des Arbeitsschutzgesetzes. Dort steht: Sind Beschäftigte auf Grund konkreter Anhaltspunkte - genau wie hier der Auffassung, dass die vom Arbeitgeber getroffenen Maßnahmen und bereitgestellten Mittel nicht ausreichen, um die Sicherheit und den Gesundheitsschutz bei der Arbeit zu gewährleisten, … können sich diese an die zuständige Behörde wenden. Das ist geltendes Recht - offenbar ausreichend konkret. Was haben Sie dagegen, wenn wir diese Formulierung in unseren Gesetzentwurf aufnehmen? - Was die Beschäftigten hiernach nicht können, ist, sich an die Öffentlichkeit zu wenden. Aber das ist ja nur die zweite Schlussfolgerung, die wir von einer anderen Voraussetzung abhängig gemacht haben, nämlich von der Güterabwägung. ({0})

Markus Paschke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004371, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bin überzeugt davon, dass gerade jemand, den wir schützen wollen, in der Lage sein muss, ohne seitenlange Kommentare oder Urteile ({0}) - oder Gesetze - zu lesen, zu verstehen, welche Rechte und Pflichten er hat, wie er sich wann verhalten muss, damit er auf der sicheren Seite ist, wenn er uns Informationen gibt. Ich glaube, es ist wichtig, dass nicht unbestimmte Rechtsbegriffe verwendet werden, die wieder der Auslegung bedürfen. Im Mittelpunkt muss stehen, dass möglichst jeder Mensch leicht verstehen kann, worum es geht und welche Rechte und Pflichten er hat. ({1}) Es geht nämlich darum, Missstände aufzudecken nicht um mehr und nicht um weniger. Ich bin der Überzeugung: Der Schutz der Allgemeinheit muss deutlich über dem Interesse an der Geheimhaltung einer unredlichen Geschäftspraxis stehen. Ich glaube, da sind wir uns aber auch alle einig. ({2}) Nicht der ehrliche Hinweisgeber soll den Schaden haben, sondern derjenige, der Glykol in den Wein oder Pferdefleisch in die Lasagne panscht. Die müssen zur Verantwortung gezogen werden. Das ist der Maßstab unserer Politik. ({3}) Es gibt ja auch schon einige Beispiele, bei denen es funktioniert. Ich will nur ganz kurz erwähnen: Wir haben den Wehrbeauftragten, an den sich die Soldaten direkt wenden können. Die Bürgerinnen und Bürger können sich direkt an den Petitionsausschuss des Bundestages und an die Datenschutzbeauftragten wenden. Das alles sind Beispiele, bei denen es schon funktioniert. Ich glaube, es ist sinnvoll, dass wir durch ein einfach und deutlich formuliertes Gesetz diejenigen schützen, die uns wichtige Hinweise geben können. Ich persönlich bin überzeugt, dass das auch die Abgeordneten unseres Koalitionspartners wollen und dass sie ebenfalls das Wohl der Menschen bzw. der Allgemeinheit im Blick haben. ({4}) Wir werden, so wie wir es vereinbart haben, die geltenden Regelungen überprüfen. Ich bin überzeugt, dass wir dabei zu einer guten gemeinsamen Regelung im Sinne der Allgemeinheit, im Sinne der Hinweisgeber kommen werden.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.

Markus Paschke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004371, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wer soll die Frage klären, wenn nicht die Große Koalition? Danke schön. ({0})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Jetzt hat der Kollege Alexander Hoffmann das Wort. ({0})

Alexander Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004304, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich freue mich, dass wir uns heute die Zeit nehmen, über ein wichtiges Thema zu diskutieren. Die Fragestellung lautet: Wie schützen wir Hinweisgeber in unserer Gesellschaft, in Behörden, in Unternehmen besser? Gerade wir als Politiker haben den Auftrag, entgegenzuwirken. Es darf keinen Automatismus geben nach dem Motto „Jeder Hinweisgeber ist ein Verräter, ein Denunziant oder ein Nestbeschmutzer“. Hinweisgeber eröffnen uns die Chance auf Transparenz, die Chance auf kostbare Hinweise. Zahlreiche Fälle sind heute schon genannt worden. Da gibt es den Lkw-Fahrer, der den Gammelfleischskandal aufdeckt, oder die couragierte Pflegefachkraft, die die Missstände in ihrer Einrichtung mutig anprangert. Gerade dieser zweite Fall - auch das haben wir schon gehört - mündete in eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Diese ist seither richtungsweisend beim Schutz von Hinweisgebern. Aber genau dieser Fall führt mich auch zu der Frage: Was müssen wir noch regeln? ({0}) Um diese zu beantworten, müssen wir zunächst einmal auf die Historie des Falls schauen. Bemerkenswert war nämlich, dass in diesem Fall in der ersten Instanz vom Arbeitsgericht die Kündigung tatsächlich aufgehoben worden ist. Erst in der zweiten Instanz wurde die Kündigung für rechtmäßig erklärt. Vom Bundesarbeitsgericht wurde diese Entscheidung bestätigt. Dann landete der Fall vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Dort wurde der Pflegefachkraft eine Entschädigung in Höhe von 15 000 Euro zugesprochen, und der Fall wurde an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen. Dort kam es zu einem Vergleich. Die Dame hat dann eine Entschädigung in Höhe von 90 000 Euro bekommen und im Gegenzug eine ordentliche Kündigung akzeptiert. Was ist an dieser Entscheidung sonst noch interessant? Die Brüsseler Richter haben bestätigt, dass die Maßstäbe, die das Arbeitsgericht in erster Instanz, das Landesarbeitsgericht und dann auch das Bundesarbeitsgericht in diesem Fall angewandt haben, grundsätzlich die richtigen gewesen sind. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat nämlich exakt dieselben Maßstäbe angewandt. Er hat auf der einen Seite das Grundrecht der unternehmerischen Freiheit gegen das Interesse der Öffentlichkeit an dieser überaus wichtigen Information und das Grundrecht der Pflegefachkraft auf Meinungsfreiheit auf der anderen Seite abgewogen. Es fand also eine Abwägung statt. Nur aufgrund einer anderen Gewichtung kam der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zu einem anderen Ergebnis. Also folgern wir daraus doch - Herr von Notz, das ist die konkrete Antwort auf Ihre Frage -, dass wir in dieser Detailfrage gerade kein gesetzgeberisches Defizit in Deutschland haben, ({1}) weil es sich um eine Abwägungsentscheidung handelt, wie ich gerade aufgezeigt habe. Abwägungsentscheidungen werden Sie nie durch Gesetze ersetzen können. ({2})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Keul zu?

Alexander Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004304, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, sehr gerne.

Katja Keul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004067, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Kollege Hoffmann, dass Sie diese Frage zulassen. - Sie sagen: Abwägungskriterien finden wir in keinen Gesetzen. - Das wäre mir neu. Es ist sicherlich richtig, dass die Richter im Einzelfall immer abwägen müssen. An vielen Stellen ist es jedoch gerade unsere Aufgabe als Gesetzgeber, die Kriterien und die Grundlagen in das Gesetz hineinzunehmen, nach denen die Abwägung stattfinden muss. Selbst die Arbeitsrichter sagen: Wir haben etwas gebaut, wir haben ein Gerüst geschaffen, mit dem wir bei den Hinweisgebern arbeiten, aber, lieber Gesetzgeber, wir brauchen mehr als den § 612 a BGB. Das kann nicht alles Richterrecht sein. Wir erwarten vom Gesetzgeber, dass er uns die Grundlagen gibt, nach denen wir unsere Entscheidungen treffen können und müssen. ({0})

Alexander Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004304, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Danke, Frau Kollegin Keul, für die Frage. - Ich habe nicht gesagt, dass in Gesetzen niemals Abwägungskriterien formuliert werden. ({0}) - Nein, das war nicht meine Aussage. Das ist genau der Punkt. Die Abwägungskriterien, die in allen Instanzen angewandt worden sind, waren von der ersten bis zur letzten Instanz genau dieselben. Das heißt, wenn Sie heute mit einem Gesetz kommen, in das Sie die Abwägungskriterien hineinschreiben, ändern Sie in der Sache für diesen Einzelfall gar nichts. ({1}) Deshalb gibt es die Erkenntnis: Nicht überall da, wo Sie Handlungsbedarf erkennen, besteht er auch tatsächlich. Der Schutz von Grundfreiheiten und der Schutz von Grundrechten hat Ausstrahlungswirkung in die unterschiedlichsten Rechtsgebiete. Wie endet nun der Fall? Er endet wie oft in Fällen von rechtswidriger Kündigung: Es gibt eine Abfindung gegen eine Akzeptanz der ordentlichen Kündigung. In vielen Fällen kommt es dann noch zu einem wohlwollenden Arbeitszeugnis. Das kann man natürlich beklagen, meine Damen, meine Herren, aber hier stellt sich doch die Frage: Könnten wir das mit einer gesetzlichen Regelung verhindern? ({2}) Auch da habe ich meine Zweifel, meine Damen, meine Herren. Es geht hier um die menschliche Seite. Wie geht es dem Lkw-Fahrer, der in seine Firma zurückkommt? Vielleicht ist es tatsächlich so, dass die Kolleginnen und Kollegen, die auch solche Lkw fahren, es vielleicht nachvollziehen können, dass er das gemacht hat. Aber sie werden es ihm unter Umständen niemals verzeihen können, weil ihre Arbeitsplätze daran hängen, weil das Unternehmen ins Wanken gerät. Diese Fälle haben eine höchstpersönliche, menschliche Seite, und wir werden gesundes Betriebsklima niemals gesetzlich verordnen können. ({3}) Was beinhaltet die Entscheidung noch? Zunächst einmal manifestieren die Richter, dass es den Vorrang der innerbetrieblichen Klärung geben muss. Nur in besonderen Ausnahmefällen kann der Hinweisgeber gleich die externe Klärung in die Wege leiten. Solche Ausnahmefälle sind Straftaten mit schweren Folgen für Einzelne oder für die Allgemeinheit. Mit dem Bekenntnis zur Erforderlichkeit der Abwägung der widerstreitenden Interessen macht das Gericht zudem ein Weiteres klar: Es darf keinen absoluten Schutz von Whistleblowing jeglicher Art geben.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Herr Hoffmann, lassen Sie noch einmal eine Zwischenfrage zu, diesmal von der Kollegin Mihalic?

Alexander Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004304, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber sehr gerne.

Dr. Irene Mihalic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004353, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Kollege Hoffmann, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. - Sie haben vorhin - das haben die Vorredner auch getan - ausgeführt, dass die Arbeitsgerichte einschlägig entschieden haben bzw. die Schutzvorschriften, die hier genannt worden sind, die es angeblich geben soll, entsprechend ausgelegt haben. Wie würden Sie das im Fall von Beamtinnen und Beamten beurteilen? Hier müssen erstens andere Gerichte urteilen, und hier gelten zweitens besondere Pflichten gegenüber dem Dienstherrn. Wie würden Sie hier Hinweisgeberinnen und Hinweisgeber auf Basis der bestehenden Rechtsgrundlagen schützen wollen? ({0})

Alexander Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004304, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Danke für die Frage. - Ich habe vorhin ausgeführt, dass es beim Schutz von Hinweisgebern um den Schutz von Grundrechten geht. Grundrechte und Grundfreiheiten sind einfachgesetzlichen Regelungen übergeordnet und sind auch dem Beamtenrecht übergeordnet. Das hat mich vorhin zu dem Satz veranlasst, dass Grundrechte und Grundfreiheiten Ausstrahlungswirkung in die unterschiedlichsten Rechtsgebiete haben. Das heißt, sobald dort ein Grundrecht geschützt wird und auch das Grund6028 recht auf Meinungsfreiheit gegenüber dem Interesse des Beamtenrechts überwiegt, wird sich der Grundrechtsschutz durchsetzen. Deswegen hat man an der Stelle das Problem nicht. ({0}) Wenn man die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zugrunde legt, dann muss man feststellen, dass Ihre Vorlagen an mancher Stelle Regelungen enthalten, die überflüssig sind. Auch enthalten sie Regelungen, die weit über das hinausgehen, was der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte manifestiert hat. Sie erliegen dem Versuch, Regelungen zu einem absoluten Hinweisgeberschutz zu formulieren. Zunächst weichen Sie den Vorrang der internen Klärung auf. Die in Ihren Vorlagen enthaltene Konstruktion der Beweislastumkehr geht in beiden Fällen zu weit. Ich will es Ihnen an zwei Fällen verdeutlichen. Der erste Fall ist am 5. Februar 2012 vor dem Landesarbeitsgericht Köln entschieden worden. Eine Haushälterin war von einem Ehepaar angestellt worden, um die zwei minderjährigen Kinder zu betreuen. Das Ehepaar war mit der Leistung nicht zufrieden und hat der Haushälterin in der Probezeit gekündigt. Darüber war die Haushälterin erbost und hat das Ehepaar beim Jugendamt angezeigt: Die Kinder seien verwahrlost. Das Ganze mündete in einen Gerichtsprozess. Schließlich wurde von einem Kinderarzt ein Gutachten erstellt, und darin gab es keinerlei Hinweise auf Verwahrlosung. Der zweite Fall: Bundesarbeitsgericht vom 3. Juli 2003. Der Leiter eines Jugendzentrums hatte eine Auseinandersetzung mit einem Sozialpädagogen über eine Überstundenabrechnung. Der Sozialpädagoge entschließt sich angesichts dieser Auseinandersetzung, seine Vorgesetzten aus dem Weg zu räumen, erstattet Anzeige wegen Untreue bei der Staatsanwaltschaft und verknüpft sie mit der Behauptung, dass der Leiter der Einrichtung dem Träger immer wieder fingierte Abrechnungen vorgelegt hat. Auch dieser Vorwurf kann im Laufe des Verfahrens nicht bewiesen werden. ({1}) Meine Damen, meine Herren, auch diese Fälle gibt es. Wenn man Ihre Vorschläge zur Beweislastumkehr zugrunde legen würde, dann müsste das Ehepaar beweisen, dass die Haushälterin nicht in zulässiger Weise von ihren Rechten nach § 612 a Absatz 1 BGB Gebrauch gemacht hat. Das steht so in Ihrem Entwurf. Das Ehepaar muss also beweisen, dass die Haushälterin die Unwahrheit sagt und die Kinder nicht verwahrlost sind. ({2}) Im zweiten Fall muss der Leiter der Jugendeinrichtung beweisen, dass kein Fall der Untreue vorliegt. Da sehen Sie: Es ist doch nicht so einfach, zu einem ausgewogenen Vorschlag zu kommen und all das zu regeln. Insofern sage ich: Der Prüfauftrag ist eine hochkomplexe Materie, für die wir Zeit brauchen. Diese Anträge lehnen wir deswegen leider ab. ({3}) Danke. ({4})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Als nächster Redner spricht der Kollege Andrej Hunko. ({0})

Andrej Hunko (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004060, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber Hans-Christian Ströbele, Sie haben vorhin gesagt, wir könnten in Europa ein vorbildliches Land in puncto Whistleblowerschutz werden. Leider ist die Realität entgegengesetzt. Zu diesem Ergebnis kommen auch verschiedene internationale Studien über die Situation in Deutschland beim Whistleblowerschutz. Wir sagen ganz klar: Das muss sich ändern. ({0}) - Ja. Das war keine Kritik. - Ich verweise etwa auf eine Studie, in der 14 verschiedene Kriterien für die G-20Länder aufgestellt und Punkte vergeben werden. In fast allen Kategorien schneidet Deutschland sehr schlecht ab. Die Studie kommt zu dem Schluss: Germany has no specific legal protections for whistleblowers - es gibt kein spezielles Whistleblowerschutzgesetz other than a limited provision … Es gibt also nur sehr begrenzte Regelungen. Das haben wir vorhin schon gehört. Weiter heißt es: Nor is there a dedicated agency at the national level … ({1}) - Ich übersetze es ja gerade für Sie. - Es gibt also keine Einrichtung auf nationaler Ebene, an die sich Whistleblower wenden können. - Das ist das Zeugnis der internationalen Organisationen. ({2}) Eine ähnliche Studie gibt es von der EU-Kommission. Insgesamt ist Deutschland rückständig, was das angeht, und das muss sich ganz klar ändern. ({3}) Zur Wortwahl: Wir reden über „Whistleblower“. Wir verwenden einen englischsprachigen Begriff. Wir versuchen, ihn mit „Hinweisgeber“ oder „Aufklärer“ zu übersetzen. ({4}) Aber dass der spezielle Begriff englischsprachig ist, zeigt, dass es dort sozusagen eine weiter entwickelte Diskussion als hier in Deutschland gibt. Leider haben wir in Deutschland Begriffe wie „Nestbeschmutzer“ oder „Denunziant“, aber keinen historisch gewachsenen entsprechenden Begriff für Whistleblower. ({5}) Das zeigt, dass es nicht nur eine gesetzgeberische Aufgabe ist, vor der wir stehen, sondern auch eine kulturelle Aufgabe, dass wir einen Paradigmenwechsel in Deutschland brauchen, was Whistleblowerschutz angeht. Viele Beispiele wurden schon genannt. Natürlich wären ein entsprechendes Gesetz und ein spezielles Whistleblowerschutzgesetz ein richtiges Signal für einen solchen Paradigmenwechsel. ({6}) Ich begrüße es sehr, dass die Grünen einen Gesetzentwurf vorgelegt haben. Darin stehen sehr viele richtige Sachen. ({7}) Es gibt ein paar Punkte, über die wir auch reden können. In bestimmten Punkten geht uns der Entwurf nicht weit genug. Wir werden darüber in den Ausschüssen diskutieren. Wir sind ja heute erst in der ersten Lesung. Aber lassen Sie mich, auch mit Blick auf das, was in den letzten anderthalb Jahren in puncto des berühmtesten Whistleblowers Edward Snowden bekannt geworden ist, noch einmal betonen: Wir brauchen auch ein Whistleblowerschutzgesetz, das Menschen in Geheimdiensten und im Militär schützt. Elemente dafür sind im Gesetzentwurf enthalten. Das ist sehr wichtig. Es wurde auf die Resolution der Parlamentarischen Versammlung des Europarates von 2010 verwiesen, an der ich ein bisschen mitgearbeitet habe. Es wurde auf die Konvention verwiesen, die im April dieses Jahres vom Europarat verabschiedet worden ist. Es gibt gegenwärtig in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats eine weitergehende Diskussion, die genau diesen Schutz von Whistleblowern in militärischen und geheimdienstlichen Strukturen ins Auge fasst. Das ist der richtige Weg. Ich finde, wir sollten in Deutschland nicht hinterhertraben, sondern wir sollten hier tatsächlich Vorreiter werden. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({8})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Waltraud Wolff das Wort. ({0})

Waltraud Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003270, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! „Wir werden im Herbst den Informantenschutz gesetzlich verankern.“ So zitierte der Tagesspiegel vom 5. Oktober 2007 den damaligen Bundesverbraucherschutzminister Horst Seehofer. Auch damals waren wir in einer Großen Koalition, ({0}) und ich war die verbraucher- und agrarpolitische Sprecherin zu dieser Zeit. Ich muss heute hier konstatieren: Wären diese Worte damals Wahrheit geworden, müssten wir heute darüber nicht debattieren. ({1}) Worum geht es, meine Damen und Herren? Es geht darum, solche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu schützen, die eklatante Missstände in ihren Unternehmen aufdecken, die sehen, wie in ihren Unternehmen gegen Gesetze verstoßen wird. Es geht um Menschen, die diese Missstände in ihren Unternehmen schon lange angeprangert haben und immer wieder gegen die Wand gelaufen sind. Diese Leute verdienen Schutz und Respekt. ({2}) Respekt hat Miroslaw Ricard Strecker 2007 bekommen. Herr Strecker fand den Mut, die Polizei zu informieren, um zu verhindern, dass 11,5 Tonnen Gammelfleisch im Handel landen. Horst Seehofer bescheinigte ihm damals - so zitiert der Tagesspiegel -, dass er „ein außergewöhnliches Maß an Gemeinsinn“ an den Tag gelegt habe und dass er ein „nachahmenswertes Beispiel“ sei. ({3}) Der damalige Bundesminister zeichnete den Lkw-Fahrer sogar mit der „Goldenen Plakette“ des Verbraucherschutzministeriums aus - verdient, wie ich meine. ({4}) Waltraud Wolff ({5}) Miroslaw Ricard Strecker ist ein ganz gutes Beispiel. Er hat Gemeinsinn und sehr viel Mut bewiesen. Schutz allerdings, meine Damen und Herren, hat Herr Strecker nicht bekommen. ({6}) Letztendlich bekam er nicht nur die „Goldene Plakette“, sondern er bekam gleichzeitig auch seine Entlassungsurkunde. ({7}) Das war damals der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Wir als Verbraucherschützer wollten den Informantenschutz endlich gesetzlich verankern. Trotz der Zusage des damaligen Ministers haben wir das nicht geschafft. Warum? Leider gab es auch zu der Zeit bis in die höchsten Kreise viele, die einen solchen Informantenschutz als Denunziantenschutz verunglimpft haben. ({8}) Meine Damen und Herren, die Forderung, dass der Informantenschutz nicht für unberechtigte Hinweise gelten darf - meine Kollegen von der CDU/CSU haben darauf hingewiesen -, ist richtig; keine Frage. Dennoch: Herr Strecker hat verhindert, dass zum Verzehr ungeeignetes Fleisch auf unseren Tellern gelandet ist. ({9}) Er hat auch verhindert, dass Unternehmen durch Betrug Gewinne erzielen. Ein solches Handeln als Denunziantentum zu bezeichnen, würdigt verantwortungsvolles Handeln herab. Das geht heute, 2014, gar nicht mehr. ({10}) Die Zeit ist seitdem nicht stehen geblieben. Wir haben im Bundestag immer wieder über den Informantenschutz debattiert. In der letzten Legislaturperiode haben wir von der SPD einen Antrag dazu formuliert. Leider waren wir in der Opposition; darum ist er in der Rundablage gelandet. Aber auch das Europäische Parlament hat im letzten Oktober eine Lanze für den Informantenschutz gebrochen. In seiner Entschließung zum organisierten Verbrechen, zu Korruption und zu Geldwäsche wurde explizit ein besserer Informantenschutz gefordert. ({11}) Die EU-Mitgliedstaaten sind aufgefordert worden, zu handeln. Dieser Entschließung haben übrigens - das möchte ich noch einmal deutlich sagen - 33 Abgeordnete von CDU und CSU im Europäischen Parlament zugestimmt. ({12}) Was tun wir nun heute hier? Unser Koalitionsvertrag sieht vor, zu prüfen, ob die internationalen Vorgaben hinreichend umgesetzt sind. ({13}) Ich bin seit 1998 im Deutschen Bundestag, also lange genug, um zu wissen, dass Prüfaufträge eigentlich Stillstand bedeuten. ({14}) Ich sage hier - ich denke, auch im Namen meiner Fraktion - ganz klar und deutlich, dass wir eine gesetzliche Regelung für notwendig erachten. ({15}) In den letzten Jahren hat das Bundesarbeitsgericht Kriterien dafür erarbeitet, wie ein Informant geschützt werden soll. Aber diese Kriterien sind sehr vage, sie sind unbestimmt, und die Abwägung im Einzelfall führt eigentlich zu mehr Unsicherheit als zu Sicherheit. Hier könnten gesetzliche Regelungen wirklich Klarheit schaffen. Wir würden einerseits Informantenschutz aufwerten, andererseits auch das öffentliche Interesse in der Abwägung stärken und so eine Kultur der Rechtstreue, wie es das Europäische Parlament bezeichnet hat, verankern. ({16}) Es ist zweifelsfrei wichtig, dem Schutz von Unternehmen vor unberechtigten Vorwürfen Rechnung zu tragen. Es ist aber auch wichtig, die Rechte von Menschen zu stärken, die eklatante Verstöße aufdecken. Wer sollte in Zeiten von Abhör-, Lebensmittel- und Betrugsskandalen Rechtssicherheit für Unternehmen und Informanten schaffen können, wenn nicht diese Große Koalition? ({17}) Wir haben in dieser Legislaturperiode die abschlagsfreie Rente mit 63 umgesetzt. Wir haben den Mindestlohn eingeführt. ({18}) Ich habe große Hoffnung, dass wir es im Rahmen der Diskussionen in der nächsten Sitzungswoche schaffen werden, den Informantenschutz auf rechtlich gute Füße zu stellen. Herzlichen Dank. Waltraud Wolff ({19}) ({20})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Als nächster Redner hat der Kollege Uwe Lagosky das Wort. ({0})

Uwe Lagosky (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004335, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Aufgrund nationaler und internationaler Initiativen wird Whistleblowing, die Hinweisgebung, heutzutage als essenzieller Beitrag zu einer guten Unternehmensführung betrachtet. Es ist im Allgemeininteresse, dass Hinweise gegeben werden, unter anderem, damit korruptes Verhalten und Straftaten aufgedeckt werden können. ({0}) Wenn Whistleblowing beschrieben wird, wird gern „moralisches Gewissen“ genannt, ebenso „Zivilcourage“, „Heldentat“ und „Mut“. Im Antrag der Grünen heißt es, dass Hinweisgeberinnen und Hinweisgeber neben Mobbing häufig auch arbeits- und dienstrechtlichen Konsequenzen ausgesetzt sind. Hierdurch entstehe für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ein Gewissenskonflikt: Es ist zu entscheiden, ob sie über die Missstände sprechen oder schweigen. Die Opposition ist der Meinung, dass es ein neues Gesetz geben soll. Von den Grünen und den Linken sind entsprechende Anträge bzw. Gesetzentwürfe sowohl in den Jahren 2011 und 2012 als auch jetzt, 2014, eingebracht worden. ({1}) Ihr gutes Recht. ({2}) CDU/CSU und SPD werden beim Hinweisgeberschutz prüfen, ob die internationalen Vorgaben hinreichend umgesetzt sind. Das haben wir im Koalitionsvertrag miteinander vereinbart. Ich bin der Auffassung, dass Sie und wir alle Möglichkeiten haben, eine entsprechende Regelung innerhalb der Koalition einzufordern. ({3}) Insofern sage ich: Dieser Prüfauftrag wird aus meiner Sicht sicherlich erfolgen. Jetzt zum Unternehmenskontext. Keine Frage, ein Mitarbeiter kann sich nicht einverstanden erklären, wenn unverantwortliche Risiken für das Gemeinwesen oder Straftaten bei ihm im Betrieb eingegangen werden. Es braucht - da sind wir uns einig - mutige Mitarbeiter zur Aufklärung solcher Fälle. Im Gegenzug muss der Hinweisgeber aber auch vor Nachteilen im Betrieb geschützt werden. Und genau dieser Aspekt wird von der deutschen Gesetzgebung aufgegriffen. Der Arbeitgeber darf einen Arbeitnehmer bei einer Vereinbarung oder einer Maßnahme nicht benachteiligen, weil der Arbeitnehmer in zulässiger Weise seine Rechte ausübt. ({4}) Der Arbeitnehmer ist durch das eben genannte Maßregelungsverbot gemäß § 612 a BGB geschützt; das ist hier heute schon mehrfach gesagt worden. Arbeitnehmer in Deutschland dürfen ihren Arbeitgeber anzeigen, wenn er das Recht bricht. Darüber hinaus existieren bereits zahlreiche spezialgesetzliche Anzeigerechte für Beschäftigte - die Gesetze sind hier ebenfalls schon genannt worden -, zum Beispiel nach dem Arbeitsschutzgesetz, dem Bundesdatenschutzgesetz oder dem Betriebsverfassungsgesetz. Zur derzeitigen Rechtsprechung ist zu sagen: Bei Straftaten mit schweren Folgen für Einzelne oder für die Allgemeinheit kann auf den ersten wichtigen Gang, den Versuch einer innerbetrieblichen Klärung, verzichtet werden. In der Rechtsprechung ist dieses ungeschriebene Anzeigerecht der Arbeitnehmer so anerkannt. ({5}) - Ungeschrieben, in der Tat. ({6}) Auch wenn es sich nicht um schwere Straftaten handelt, darf Hinweisgebern nicht gekündigt werden, wenn sie im Vorfeld einer Anzeige oder Veröffentlichung einige Regeln einhalten. So können sich Hinweisgeber an öffentliche Stellen wenden, wenn sie sich zuvor ernsthaft um eine innerbetriebliche Klärung bemüht haben. Es soll sich eben nicht sofort an die Polizei und die Medien gewendet werden. Auch darf eine Anzeige nicht leichtsinnig und mit dem Ziel erfolgen, einer Kollegin oder einem Kollegen erheblichen Schaden zuzufügen. Genau diese Punkte, die auf die bewährte Rechtsprechung zurückzuführen sind, finde ich ausgesprochen sinnvoll. In einem Betrieb haben Unternehmensleitung, Führungskräfte und Betriebsrat eine Verantwortung für die Beschäftigten. Diese Verantwortung erfordert es, mit Hinweisen im Betrieb sorgsam umzugehen. Es ist zunächst einmal zu klären, ob sie zutreffen, indem man Gespräche mit dem Hinweisgeber, aber auch mit den von den Hinweisen betroffenen Kolleginnen und Kollegen führt, ({7}) kurzum, indem man eine Beurteilung der Gesamtsituation vornimmt. Wenn die Gesamtsituation es erfordert, sind auch arbeits- und strafrechtliche Maßnahmen einzuleiten. Viele Unternehmen in Deutschland haben Ethikrichtlinien und entsprechende Betriebsvereinbarungen mit ihren Betriebsräten abgeschlossen. Als ehemaliger Konzernbetriebsratsvorsitzender eines Energieversorgungsunternehmens hatte ich einmal die Gelegenheit, eine derartige Ethikrichtlinie und Betriebsvereinbarung abzuschließen. Um sie umzusetzen, wird in der Regel auf eine Anlaufstelle im Betrieb Wert gelegt und diese installiert. Es findet eine Sensibilisierung, eine Belehrung der Beschäftigten statt, indem man unter anderem Korruptionssachverhalte deutlich macht. Korruptionsrelevante Straftaten werden ebenfalls dort benannt, sodass die Beschäftigten insgesamt auf diese Situation vorbereitet sind. Ethikrichtlinien sollen dabei unterstützen, dass mögliche Straftaten oder korruptes Verhalten aufgedeckt werden und dass ein eventueller Rufschaden für den Betrieb oder für einzelne Mitarbeiter bei nicht korrekten Hinweisen abgewendet werden kann. Sie stellen auch den Hinweisgeber unter Schutz. Wenn man nach den betriebliche Richtlinien und dem geltenden Recht verfährt, sind Betrieb und Hinweisgeber in der Regel maximal geschützt. Die betrieblichen Handlungsmöglichkeiten eröffnen auf der einen Seite den Rechtsweg, verhindern auf der anderen Seite aber auch, dass Beschäftigte und Arbeitgeber zu Unrecht von Hinweisgebern belastet werden. Unter welchen Rechtfertigungsdruck geraten Betriebe, wenn keine innerbetriebliche Aufklärung vorgeschaltet ist? Man muss sich das nur einmal vorstellen: Medien kommen auf den Vorstand oder Betriebsrat zu, und es herrscht völlige Unwissenheit bei den Entscheidern. Keine vorhergehende Information, keine Möglichkeit zur Umsetzung der innerbetrieblichen Regelungen, die der Regeltreue dienen, keine Aufklärung des Sachverhaltes, keine Chance, sich mit Vorwürfen auseinanderzusetzen, keine eigene Entscheidung über mögliche Strafanzeigen, keine Kommunikationsstrategie, falls falsche Hinweise an die Öffentlichkeit gelangt sind - kurz gesagt: Chaos. Unzutreffende Anschuldigungen sind in der Öffentlichkeit nur schwer oder gar nicht mehr zu korrigieren. Ungerechtfertigte Anzeigen können finanzielle und existenzielle Folgen für den gesamten Betrieb haben und natürlich auch für die Arbeitsplätze, die dahinter stehen. Insofern ist die Darstellung, dass Hinweisgebern neben Mobbing häufig auch arbeits- und dienstrechtliche Folgen bis hin zur Kündigung sowie strafrechtliche Konsequenzen drohen, nur eine Sichtweise der Dinge. Unternehmen haben mit der Einführung von Ethikrichtlinien und dazugehörigen Betriebsvereinbarungen erheblich zur Korruptionsprävention beigetragen oder haben noch die Möglichkeit dazu. Durch die Beteiligung an der Entwicklung von Ethikrichtlinien in Verbindung mit Betriebsvereinbarungen haben auch die Betriebsräte die Möglichkeit, ihren Einfluss in den Betrieben zu steigern. Es kommt nicht nur auf neue Gesetze an, sondern vielmehr auf eine Kultur im Betrieb, die die Sozialpartner gemeinsam gestalten, eine Kultur, die es den Beschäftigten von vornherein leicht macht, intern Hinweise zu geben und so ihren Beitrag zu leisten, grobe Missstände und Gefahren abzustellen. Meine Meinung ist: Deutschland hat eine Gesetzgebung, die den Betrieben sowohl Möglichkeiten zur Aufklärung als auch einen ausgewogenen Hinweisgeberschutz bietet. Die im Koalitionsvertrag vorgesehene Prüfung werden wir vornehmen. Ich bin auf die Ergebnisse gespannt. Als Union lehnen wir den Inhalt des Antrags und des Gesetzentwurfs an dieser Stelle ab. Herzlichen Dank. ({8})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Als letzter Redner in der Debatte hat jetzt der Kollege Gerold Reichenbach das Wort. ({0})

Gerold Reichenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003615, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren auf der Tribüne und am Fernseher! Wir reden hier nicht über den Schutz von Querulanten oder über den Schutz von denjenigen, die aus persönlichen Motiven heraus ihrem Arbeitgeber schaden, sondern wir reden über ganz andere Fälle. Es ist 20 Jahre her. Der eine oder andere wird sich erinnern an Bilder von zuckenden Kühen aus England und die Berichte von Menschen, die sich an dieser tödlichen grausamen Krankheit durch in Umlauf gebrachtes Rindfleisch von erkrankten Tieren angesteckt haben. Gleichzeitig kam hier in Deutschland von der Fleischindustrie und auch von vielen offiziellen Stellen die Beteuerung: Das ist ein englisches Problem. Das gibt es bei uns in Deutschland nicht. Im Jahr 1994 schilderte die Hygieneamtstierärztin Margrit Herbst in einem Interview, das im öffentlichrechtlichen Fernsehen ausgestrahlt wurde, wie sie in einem Schlachthof bei der Tierbeschau BSE-Anzeichen an mehreren Tieren festgestellt hat. Diese Tiere wurden dann allerdings auf Entscheidung höherer Stellen trotzdem für die Schlachtung und die Inumlaufbringung freigegeben. Dann erst kam auch in Deutschland der BSESkandal ins Rollen. Jetzt frage ich Sie: Welchen Schutz hat denn diese Frau genossen, die verhindert hat, dass auch in Deutschland Produzenten und Fleischbetriebe aus Profitgier weiter Fleisch in den Umlauf bringen, das die Gefahr in sich birgt, dass auch deutsche Bürger sich in Massen an dieser grausamen und tödlich endenden Krankheit infizieren? Sie hatte sich ja zuvor an ihren Vorgesetzten gewendet. Das Ergebnis war: Margrit Herbst wurde fristlos gekündigt. Der hier schon ein paarmal angesprochene Fall der Pflegerin in einem Berliner Klinikum, die ihren Rechtsschutz bis zum EuGH durchklagen musste, macht deutGerold Reichenbach lich: Offensichtlich sind die Schutzvorschriften, die wir in den unterschiedlichen Gesetzen durchaus haben, nicht ausreichend, um Beschäftigte, die Mut zeigen, dann auch zu schützen. Wer hat denn die Unterstützung und die Kraft, seine Rechte als Arbeitnehmer bis zum EuGH durchzuklagen? Ich nenne Ihnen ein anderes Beispiel. In meinem Wahlkreis - zwei Ortschaften nebendran - wohnt Rudolf Schmenger. Das ist einer der hessischen Steuerfahnder, die sich ebenfalls an ihre Vorgesetzten gewendet haben und die weggemobbt wurden. Erst nachdem sie aus dem Dienst entfernt worden sind, konnten über Gerichte im Nachhinein die Unrechtmäßigkeit des Handelns ihrer Arbeitgeber und ein Schadenersatzanspruch festgestellt werden. ({0}) Jetzt komme ich zu den Grünen. ({1}) Wir haben in der vergangenen Legislaturperiode genauso wie Sie einen Gesetzentwurf vorgelegt. Wir werden auch weiterhin dafür eintreten, dass wir Mehrheiten haben. ({2}) - Ja, lieber Konstantin von Notz, wir regieren hier gemeinsam mit der CDU/CSU. Aber solange Sie sich - den Fall Schmenger vor Augen - nicht stolz hier hinstellen und sagen können, dass Sie gemeinsam mit der CDU in Hessen im hessischen Beamtengesetz einen Hinweisgeberschutz geschaffen haben, ({3}) gilt für Sie das Gleiche wie für den Fußballfan auf der Tribüne, der lautstark etwas fordert, es aber auf dem Platz selbst nicht hinbekommt. ({4}) Letzter Satz. Wir werden über das Gesetz, übrigens auch über die Details, diskutieren. Kollege Ströbele, das, was Sie da so schön zitiert haben, das sind die Formulierungen, die wir gemeinsam in der Opposition ({5}) bei dem zum Glück verfehlten Versuch der schwarz-gelben Koalition im Zusammenhang mit dem Überwachungsskandal bei Bahn und Post und bei anderen für einen Hinweisgeberschutz im Beschäftigtendatenschutzgesetz gefunden haben. Das sind die gleichen Formulierungen, die wir damals als völlig unzureichend und nicht bestimmt genug kritisiert haben. Jetzt kommen Sie selbst mit diesen Formulierungen. Das heißt, wenn Sie selbst Ihre Aussagen von damals ernst nehmen würden, dann würden Sie hier zumindest einen gewissen Diskussions- und Regelungsbedarf entdecken und sich nicht einfach nur so hinstellen und sagen: Wir haben den Stein der Weisen, und die anderen sind nur nicht in der Lage, das zu erkennen. ({6}) Es gibt dazu die Beschlüsse auf europäischer Ebene; das ist gesagt worden. Auch das Europäische Parlament hat dazu mehrmals Beschlüsse gefasst. Wir als Sozialdemokraten werden sowohl in der Prüfung, die wir in der Koalition vereinbart haben, als auch darüber hinaus dafür kämpfen, dass wir hier in diesem Parlament die politischen Mehrheiten dafür bekommen, Menschen, die so mutig wie Frau Herbst waren, das Schicksal, anschließend arbeitslos auf der Straße zu stehen, in Zukunft zu ersparen. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte um etwas Zurückhaltung auch bei Zwischenfragen, weil wir sonst völlig aus dem Zeitrahmen laufen. ({0}) - Ich finde, dass diese Zwischenfragen für eine Debatte wichtig sind; deswegen habe ich sie auch zugelassen. Aber ich bitte Sie trotzdem, die Zeit ein bisschen im Auge zu behalten. Auch die Kolleginnen und Kollegen, die nach Ihnen zu den anderen Debattenpunkten reden werden, sollten nicht vor einem leeren Haus sprechen. Dazu sind die Debatten zu wichtig. Wir kommen jetzt zu der Überweisung. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 18/3039 und 18/3043 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist jedoch strittig. Deshalb muss ich darüber abstimmen lassen. Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD wünschen Federführung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales, und die Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/ Die Grünen wünschen Federführung beim Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz. Ich lasse zunächst über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen, also Federführung beim Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz, abstimmen. Wer stimmt diesem Überweisungsvorschlag zu? - Das sind Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke. Wer stimmt dagegen? - Das ist die Koalition. Enthaltungen? - Niemand. Damit ist dieser Überweisungsvorschlag abgelehnt worden. Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD abstimmen, also Federführung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Die Koali6034 Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn tion. Wer stimmt dagegen? - Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke. Wer enthält sich? - Niemand. Damit ist der Überweisungsvorschlag angenommen worden: Die Federführung hat der Ausschuss für Arbeit und Soziales. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 32 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Heinz Riesenhuber, Dr. Joachim Pfeiffer, Dr. Kristina Schröder ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Wolfgang Tiefensee, Hubertus Heil ({2}), Niels Annen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Strategische Ziele für die Raumfahrt in dieser Legislaturperiode absichern Drucksache 18/3040 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({3}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die Staatssekretärin Brigitte Zypries das Wort. ({4})

Brigitte Zypries (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003870

Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte mich bei den Mitgliedern des Hohen Hauses dafür bedanken, dass sie es mit dem Einbringen des Antrags der Koalitionsfraktionen ermöglicht haben, hier im Bundestag eine Debatte zum Thema Raumfahrt zu führen. Überall in Deutschland ist die Raumfahrt in diesen Tagen präsent. Es ist schön, dass wir das im Bundestag nachvollziehen. Der Astronaut Alexander Gerst ist der wesentliche Anlass dafür, dass im Moment so viel über Raumfahrt in Deutschland geredet wird. Alexander Gerst ist nicht nur ein vorzüglicher Wissenschaftler, der viele Experimente in der ISS durchführt, sondern er ist auch ein echter Sympathieträger für die Luft- und Raumfahrt. Mit seinen zahlreichen Liveschaltungen, Postings bei Twitter und Facebook lässt er die Welt an allem teilhaben. Insbesondere viele junge Leute reagieren positiv auf ihn. Das nächste Highlight steht nächste Woche bevor: Am 12. November soll der Lander auf einem Kometen ausgesetzt werden. ({0}) - Wunderbar, vielen Dank, Herr Kollege. Ich hätte mich nicht getraut, diesen Namen auszusprechen. - Er soll nach zehn Jahren Flug im All dorthin erforschen, aus welchem Material das frühe Sonnensystem war und wie der Ursprung der Welt ist, wie das Weltall entstehen konnte. Das sind die Themen, die die Öffentlichkeit wahrnimmt. Aber natürlich schreitet auch der Aufbau des GalileoNavigationssystems voran. Wir alle nutzen täglich das, was in Form von Datenmengen und Satellitenverbindungen aus dem Weltall kommt, ohne großartig darüber nachzudenken. Fakt ist aber: Ohne den Weltraum, ohne die Satelliten, die wir in den Weltraum transportiert haben, und ohne die Raketen, die wir dafür brauchen, wäre das Leben auf der Erde, wie wir es heute kennen, gar nicht mehr vorstellbar. Dabei geht es mir jetzt gerade gar nicht um die Grundlagenforschung, die in diesem Bereich erfolgt ist, und um die Materialforschung, die wir der Raumfahrt verdanken. Das kommt alles dazu. Ich meine ganz real die täglichen Anwendungen, die wir nutzen: Die Satelliten helfen uns bei der Klimaforschung, der Wettervorhersage und beim Katastrophenschutz, zum Beispiel durch die Erstellung aktueller Lagebilder. Die praktische Bedeutung für unseren Alltag spiegelt sich auch in den Aufwendungen der Bundesregierung für die zivile Raumfahrt wider. Diese Aufwendungen sind in den letzten Jahren stark gestiegen. Wir haben in diesem Jahr 1,3 Milliarden Euro in den Bundeshaushalt eingestellt. Auch dafür vielen Dank an die Abgeordneten, die das ermöglicht haben. Einen Teil dieser Mittel verwenden wir für unser nationales Programm im Weltraum. Denn dort betreiben wir mit TerraSAR-X und TanDEM-X eigene Projekte, bei denen es um die Ermittlung von Höhenmodellen der Erdoberfläche geht. Wenn das Programm so gelingt, wie es geplant ist, wird es zu erheblichen neuen Anwendungen in der Navigation und sonstigen Technologien führen. Im Bereich der Satellitenkommunikation werden wir mit der Mission „Heinrich Hertz“, die wir gemeinsam mit dem Verteidigungsministerium auf den Weg gebracht haben, neue Wege beschreiten. Die optische Satellitenkommunikation ist ein anderer Bereich, in dem Deutschland weltweit die Nase vorn hat. Mit dem Laser Communication Terminal können 20-mal höhere Datenraten erreicht werden. Da entsteht Spitzentechnologie „Made in Germany“. Es ist gut und richtig, dass die ESA und das ESOC in Darmstadt jetzt mit INNOspace eine neue Initiative gestartet haben und damit die Technologien aus der Raumfahrt mit dem zusammenbringen, was wir in anderen Bereichen auf der Erde machen. Denn wenn wir von Industrie 4.0 und neuen Technologien reden, dann ist klar, dass damit eine massenhafte Datenverarbeitung verbunden ist. Und wer kann das besser als die Raumfahrer? Ehe meine Redezeit aus dem Ruder läuft, möchte ich noch ein paar Sätze zur ESA-Ministerkonferenz sagen. Insbesondere die interessierte Wirtschaft kennt zurzeit kein anderes Thema mehr als das Datum 2. Dezember. Wir werden dann noch einmal über die institutionelle Trennung von EU und ESA beraten. Dazu hat die Bundesregierung - das habe ich auch dem Antrag entnommen - dieselbe Position wie der Bundestag: Wir wollen, dass die ESA in ihrer Autonomie bestehen bleibt und dass es nur um die punktuelle Zusammenarbeit mit der EU geht. ({1}) Es hat auch sehr praktische bzw. finanzielle Gründe, weshalb wir das wollen. Wir haben mit der ESA eine wirklich schlagkräftige Organisation, bei der wir gerne einen Deutschen an der Spitzen sehen würden. ({2}) Das zweite Thema ist die Finanzierung der ISS. Deutschland steht zu seinen Verpflichtungen. Das ist völlig klar. Aber ich sage auch ganz klar: Wir möchten, dass andere ebenfalls dazu stehen und dementsprechend ihren vereinbarten Anteil übernehmen. Das muss durchgesetzt werden. Die Frage, welche Rakete wir jetzt bauen, bringt mich zunächst einmal zu der Aussage, dass wir mit der Ariane 5 eine Rakete haben, die ausgesprochen zuverlässig ist. ({3}) Wir haben über 50 erfolgreiche Starts in Folge gehabt ohne einen einzigen Zwischenfall. Und diese Rakete ist sehr gut am Markt positioniert. Sie müssen wissen, dass ungefähr 60 Prozent des Marktes für kommerzielle Satellitenstarts auf die Ariane 5 entfallen. ({4}) Die Notwendigkeit, diese Rakete weiterzuentwickeln, lag also nur darin, dass sie im Start zu teuer ist und dass man davon ausgeht, dass die Amerikaner mit SpaceX günstigere Modelle haben. Deswegen wurde vor zwei Jahren die Entwicklung einer Ariane 5 ME von der Ministerkonferenz beschlossen und angedacht. Nun gibt es aber einen neuen Vorschlag einer Ariane 6. Auch wenn jetzt viele zur Eile drängen, kann ich nur sagen: Man sollte sich das gründlich überlegen. Wir Deutsche haben mit Großprojekten hinreichend schlechte Erfahrungen in den letzten Jahren gemacht. Wenn ich mir die Geschichte der Raketenentwicklung vor Augen führe, dann stelle ich fest, dass die Entwicklung einer jeden Rakete länger gedauert und mehr gekostet hat als ursprünglich veranschlagt. Ich frage mich - gewissermaßen noch als Neuling nach knapp einem Jahr in diesem Amt -: Warum bitte soll es eigentlich diesmal anders sein als sonst? - Deswegen bin ich sehr zurückhaltend, um es klar zu sagen. Ich hoffe nichtsdestotrotz, dass wir gemeinsam insbesondere mit unseren französischen Kolleginnen und Kollegen da noch einen Kompromiss finden werden. ({5})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Als nächster Redner spricht der Kollege Thomas Lutze. ({0})

Thomas Lutze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004103, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Raumfahrt - ohne Zweifel - fasziniert. Kaum ein anderes Forschungsfeld steht so für Visionen und Fortschritt wie die Weltraumforschung. Raumfahrt steht für neue, sagenhafte Erkenntnisse. Raumfahrtforschung steht für ganz neue Perspektiven. Gestatten Sie mir deshalb, dass ich mich anhand von drei Punkten zu Ihrem Antrag kritisch äußern muss und ihn kritisch hinterfragen möchte. Erster Punkt. Wissenschaft sollte in der heutigen Zeit nicht mehr von Staatsangehörigkeit, Patriotismus oder propagandistischen Interessen beeinflusst sein. Spätestens 20 Jahre nach Ende des Kalten Krieges sollten wir zumindest dieses Kapitel schließen. ({0}) Die internationale Zusammenarbeit kommt aber im Antrag der Koalition zu kurz. Ich spreche hier nicht von unserer Zusammenarbeit im Rahmen der ESA, sondern von der Zusammenarbeit mit anderen Weltraumnationen. Das wären neben Europa zum Beispiel die USA, Russland, China, mittlerweile auch Indien und andere Staaten. Im Weltall gibt es keine Grenzen. Ich glaube, dass es auch in der Weltraumforschung keine Grenzen geben darf. ({1}) Die Koalition will eine Raumfahrt, die stärker auf Nutzen, Bedarf, Nachhaltigkeit ausgelegt ist. Verstärken Sie bitte die internationale Kooperation, wenn Sie ernsthaft nachhaltig arbeiten wollen! ({2}) Zweiter Punkt. Zum fortschrittlichen Umgang mit Wissenschaft zählt auch, dass moralische Standards nicht außer Acht gelassen werden. Als Linksfraktion wollen wir nicht, dass staatliche Gelder dazu aufgebracht werden, zum Beispiel Rüstungskonzerne bei der Entwicklung von Technologien im Raumfahrtbereich zu unterstützen. Leider ist es so, dass ursprünglich friedliche Entwicklungen auch von der Rüstungsbranche genutzt werden. Aber die staatliche Förderung muss ausnahmslos im Interesse des Friedens und zum Wohl der Menschen erfolgen. ({3}) Dritter Punkt. Ein großes Problem sehe ich bei folgenden Äußerungen im Antrag der Großen Koalition - ich darf zitieren -: Die hohen Kosten für die Raumfahrt sind nur durch einen hohen wissenschaftlichen, gesellschaftlichen oder kommerziellen Nutzen zu rechtfertigen. Das erfordert - und jetzt kommt es eine klare Ausrichtung der Raumfahrt auf Nutzen und Bedarf … Herr Riesenhuber wird nach mir reden und kann das vielleicht bestätigen: So funktioniert Wissenschaft nicht. Forschungsprojekte an dem aktuellen, kurzfristigen Innovationsbedarf auszurichten und noch dazu von den Kosten abhängig zu machen, führt zu einer Kapitalisierung von Forschung, Wissenschaft und Bildung. Wenn nur noch Projekte gefördert werden, deren Nutzen von vornherein abzusehen ist, werden mögliche, eventuell sogar revolutionäre Entdeckungen unmöglich. ({4}) Der Staat darf Wissenschaft nicht einfach als Mittel zur Profitmaximierung betrachten. Er muss sie als treibende Kraft des kulturellen Fortschritts verstehen. Wenn wir uns nicht trauen, Rückschläge in Kauf zu nehmen, wird auch jeder wissenschaftliche Fortschritt ausbleiben. Forschergeist braucht Freiheit und keine Grenzen. ({5}) Revolutionäre Entdeckungen, die die Grundsteine für nahezu die gesamte heutige Forschung gelegt haben, wären in der Vergangenheit so nicht gemacht worden. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben sich nicht von einem Kosten-Nutzen-Verhältnis einengen lassen. Ihr Motto war immer, Licht ins Dunkel des Universums zu bringen. Selbstverständlich lassen sich in der Realität nicht alle Träume verwirklichen. Trotzdem: Wir brauchen den guten alten Entdeckergeist. Den dürfen wir nicht durch zwanghaften Effizienzeifer kaputtmachen lassen. Aus meiner Sicht muss die Zukunft der Raumfahrt und der Weltraumforschung friedlich, international, kooperativ und dem menschlichen Fortschritt verpflichtet sein. ({6}) Wenn die Wirtschaft daraus einen Nutzen ziehen kann, dann ist das gut so. Das darf aber nicht alleine unser Handeln bestimmen, so wie es im Antrag der Koalition zum Ausdruck kommt. Vielen Dank. ({7})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Als nächster Redner hat der Kollege Professor Dr. Heinz Riesenhuber das Wort. ({0})

Prof. Dr. Dr. Heinz Riesenhuber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001849, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kollegen! Lieber Herr Lutze, es freut mich erstens, dass Sie die Leidenschaft von Frau Zypries für die Weltraumfahrt teilen. Es freut mich zweitens Ihre Begeisterung für den Geist der Wissenschaft. Das ist, finde ich, eine vorzügliche Einstellung. Über die Wissenschaft, über das Wissenschaftsprogramm, über die Technologiestrategien, über die Exploration und über andere Themen wird die ESA 2016 diskutieren. Heute haben wir hier drei zentrale technologische und strategische Themen anzusprechen. Ich freue mich sehr, Frau Staatssekretärin, über die harmonische Übereinstimmung der Bundesregierung mit der Koalition in den grundsätzlichen Zielen und in der Begeisterung für die Sache. Wir haben drei gewichtige Themen. Die eine Frage ist: Wie wird Europa zukünftig den Zugang zum Weltraum organisieren? Mit der Ariane 5 haben wir ein exzellentes Gerät. Seit 2003 gab es 62 Starts ohne irgendein Problem. Sie ist verlässlich, sie hat sich über die Jahre bewährt. Aber jetzt haben wir eine andere Welt - Frau Zypries weist darauf hin -: Wir haben eine Welt, in der sich die Konkurrenten neu aufstellen, in der die Ariane wettbewerbsfähig sein muss. Die Fragen, ob sie billiger werden kann, wesentlich billiger, ob sie flexibler werden kann, ob die nächste Ariane Kern einer neuen Familie von Trägern werden wird, sind interessante Fragen. Deutschland und Frankreich, die zwei Industrienationen, die hier im Wesentlichen beteiligt sind, haben in der Tat ein neues Konzept vorgelegt, das schon seine Faszination hat. Wir haben bis jetzt eine Weiterentwicklung zur Ariane 5 ME im Sinn gehabt. Das ist eine kluge und saubere Strategie. Aber die Frage, ob der Vorschlag für die nächste Generation Ariane 6 einen Durchbruch in eine neue Dimension bringen kann, wird interessant sein. Ich bin nicht sicher, ob das Konzept schon reif ist. So etwas muss dann auch durchdiskutiert sein. Ich bin nicht sicher, ob es erreicht werden kann, dass die Industrie die angestrebte höhere Verantwortung tatsächlich übernimmt. Ich bin nicht sicher, dass wir schon wissen, ob die Strukturen so sind, dass wir dem privatwirtschaftlichen Ansatz in den Vereinigten Staaten widerstehen können. Wir haben es beim Airbus erlebt. Vor 30 Jahren war das ein freundlicher Gedanke der Bundesregierung gewesen - und natürlich von Herrn Strauß. Er wurde schrittweise entwickelt. Die Industrie hat sich gegen alle Erwartungen beteiligt, aber den Durchbruch auf den Weltmärkten erzielte der Airbus in dem Moment, in dem die Industrie die Verantwortung übernommen hat und in der Konkurrenz mit Leidenschaft, Augenmaß und dem Willen zum Überleben für das jeweils beste technische Konzept gekämpft hat. Solche Strukturen auch bei der Ariane zu erreichen, wäre eine faszinierende Sache. Das ist ein langer Prozess. Unser Antrag, der ein weiser Antrag ist, schreibt der Bundesregierung nicht vor, wie das gemacht werden kann. Wir sprechen über strategische Ziele. Wir achten die Hoheit der Exekutive bei den Verhandlungen. Wir bewundern die Kompetenz des DLR, wir freuen uns über das Zusammenspiel der Bundesregierung mit dem DLR, aber auch mit ihren Partnern in der Welt. Aber die Ariane wird eines der Themen sein, über die zu entscheiden ist. Zweitens - Frau Zypries hat es angedeutet -: Was passiert mit der Internationalen Raumstation? Das ist schon eine einzigartige Einrichtung, beruhend auf der größten technischen Zusammenarbeit, die es in der Welt überhaupt gibt, einhergehend mit äußerster Komplexität, mit großer Strahlkraft. Wir haben uns beim Betrieb der ISS bis 2020 festgelegt. Die Finanzierung muss man jetzt wieder vernünftig festklopfen. Die alte Kostenverteilung muss stehen. Aber was passiert danach? Ich bin sehr gespannt darauf, welche Vorschläge dazu kommen. Es wird Zeit: 2020 - bis dahin haben wir uns festgelegt - ist nicht mehr fern. Bis dahin gilt es, herauszufinden, was wir wollen: Wie können wir die Kompetenz dafür, dass Menschen im Weltraum arbeiten können, erhalten? Wie können wir sie weiter sinnvoll nutzen? Wenn wir die ISS weiter nutzen wollen, machen die Partner dabei mit? Welches sind die wissenschaftlichen Anschlussprogramme? Darin liegt durchaus, lieber Herr Lutze, Faszination für das, was in der Wissenschaft, in der Materialforschung, bei Legierungen, in der Pharmazie, in der Medizintechnik, an Bord der ISS passiert. Das ist weitestgehend Grundlagenforschung. Grundlagenforschung - jetzt muss ich aufpassen, dass ich keine Rede über andere Themen halte - ist wirklich auch dann reizvoll, wenn sich die Industrie vorher überlegt, was dabei herauskommen kann. Wir wollen jetzt einmal schauen, dass die Finanzierung der ISS bis 2020 gesichert werden kann und dass es dann verlässlich weiterläuft. Drittens. Die EU hat jetzt den Auftrag, eine europäische Raumfahrtpolitik zu entwickeln; das ist im 2009 in Kraft getretenen Vertrag von Lissabon festgelegt. Das ist eine große Aufgabe. Sie gelingt dann, wenn die EU den großen strategischen Rahmen für die Raumfahrtpolitik errichtet und wenn die ESA mit ihrer technischen Kompetenz die Geräte zur Umsetzung so entwickelt, dass die Nationen, die beteiligt sind, jeweils ihre besten Fähigkeiten mit einbringen können, und wenn daraus dann eine gemeinsame Strategie von großer Stärke entsteht. Dass dies gelingt, ist nicht ganz einfach zu erreichen. Aber wir haben jetzt, an dieser Stelle, die Chance, die Weichen so zu stellen, dass die Fähigkeit Europas, Weltraumtechnik in die Gesamtstrategie seiner Industrie- und Wirtschaftspolitik, seiner Klima- und Umweltpolitik einzubeziehen, kombiniert wird mit dem unabhängigen und bewährten System der ESA und ihrer Partner. Das sind die drei entscheidenden Punkte. Auch das, was hier darüber hinaus ansteht, ist von Bedeutung. Wir haben über die Raumfahrt im Deutschen Bundestag nicht sehr oft diskutiert; die letzte Weltraumdebatte liegt ungefähr ein Jahrzehnt zurück; wir denken also durchaus in chinesischen Zeiträumen. Eine wichtige Frage ist hier schon mit angemessener Behutsamkeit angesprochen worden: Wie schön wäre es, wenn wir bald einen deutschen ESA-Generaldirektor bekämen? Deutschland hat sich bereit erklärt, einen vorzüglichen Kandidaten vorzuschlagen. 30 Jahre ist es her, dass Reimar Lüst zum Generaldirektor der ESA gewählt worden ist. Er war ein prachtvoller Kandidat; er war ein exzellenter Generaldirektor. Das Gleiche traue ich auch Johann-Dietrich Wörner zu. ({0}) Ministerratskonferenzen haben ihre Tagesordnung. Sie haben in aller Regel aber auch eine kluge zweite Agenda; Frau Bulmahn, Sie wissen es aus Ihrer früheren Regierungszeit. Die konspirativen Netzwerke, durch die mit unauffälliger, liebevoller Kooperation vorbereitet wird, was hernach an Entscheidungen bis hin zu den delikaten Personalentscheidungen entstehen kann, sind dort lebendig. Nicht durch die Weisheit der Papiere, sondern durch den charmanten und liebenswürdigen Umgang mit Andersmeinenden entsteht dann plötzlich der Durchbruch zur übergeordneten Wahrheit, nämlich zur Akzeptanz unseres Kandidaten. ({1}) Schließlich: Zu Recht ist darauf hingewiesen worden, was für eine wirklich gewinnende und beeindruckende Arbeit Alexander Gerst im Weltraum geleistet hat. Wir haben mit unseren Wissenschaftsastronauten immer Glück gehabt. Ich spreche nicht von Sigmund Jähn. Das war 1978 in der DDR. ({2}) - Andreas, du erinnerst dich noch aus deiner frühen Jugendzeit. - Alle deutschen ESA-Wissenschaftsastronauten von Ulf Merbold bis Alexander Gerst - ich zähle sie gar nicht alle auf - waren ganz verschieden, aber sie waren prima: kompetent, nervenstark, mit einer erkennbar strahlenden Freude an Technik. Sie waren begeistert, ihre Arbeit zu tun. Besonders die Idee, dass wir es können, dass Deutschland in Technik glanzvoll ist, dass wir hier verantwortlich mit der Wirklichkeit und unseren Möglichkeiten umgehen, das haben sie rübergebracht auch über das hinaus, was im Weltraum technisch erreicht werden kann. ({3}) Es ist eine bedeutende Sache, immer wieder mit sichtbaren Beispielen zu zeigen, an welchen Stellen erfolgreich und mit Strahlwirkung gearbeitet werden kann, um so für Technik zu begeistern. Wenn wir Carbon Nanotubes erklären, begeistert das keinen Menschen, auch wenn der Durchbruch gigantisch ist; ein Mensch aber, der im Weltraum erfolgreich arbeitet und wohlbehalten zurückkehrt, das ist eine gute Sache. Als wir vor vielen Jahren den Space-Shuttle „Enterprise“ der NASA aus dem Weltraum nach Köln geholt haben, sagten die Leute erst: Was soll das? Da kommen vielleicht 5 000 Menschen. - Es waren dann 300 000, weil die Begeisterung für einen sichtbaren Erfolg in die nächste Runde weiterträgt. Es kommt immer darauf an, dass jeder ein bisschen mehr leistet, als er sich zutraut, jeder: der Arbeiter in der Fabrik ebenso wie der Astronaut im Weltraum. Aus diesem Geist Deutschlands Zukunft zu bauen, das ist das Ziel, das wir gemeinsam mit dieser zuversichtlichen und hochkompetenten Regierung haben. ({4})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt hat als nächster Redner Dieter Janecek das Wort.

Dieter Janecek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004312, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Lieber Dr. Riesenhuber, ob wir die übergeordnete Wahrheit oder gar Weisheit in diesem Antrag heute finden, das werden wir noch diskutieren. Ich will aber eines gestehen: Eine gewisse kindliche Freude hat mich schon ereilt, als ich erfahren habe, dass diese Debatte stattfindet. Ich glaube allerdings nicht, dass wir mit dieser Debatte heute die gesetzlichen Grundlagen für die Einführung des Warp-Antriebs legen werden, auch wenn sich manche das erträumen. Mir fällt dazu eines noch ein: Als im letzten Jahr nach der Bundestagswahl die Bundesregierung noch nicht gebildet war, hatten wir als Abgeordnete unverhofft ein bisschen mehr Zeit, und diese Zeit habe ich genutzt, um mir die 176 Folgen von Star Trek: Deep Space Nine noch einmal anzuschauen. ({0}) Damit hängt zusammen, dass es bei mir in Sachen Technikbegeisterung jetzt durchaus einen gewissen Überschwang gibt. Aber kommen wir zum Antrag. In dem Kontext war für mich ein schönes Erlebnis, dass wir - Dank an Herrn Willsch und andere - die Möglichkeit hatten, am Dienstag in der Parlamentarischen Gesellschaft mit unserem Astronauten, Herrn Gerst, direkt zu sprechen. Ein paar Fragen haben wir ihm gestellt. Ich habe ihm auch eine Frage gestellt. Es hat mich sehr beeindruckt, wie er sie beantwortet hat. Ich habe ihn gefragt, wie denn sein Blick auf die Erde jetzt ist, wo er draußen ist und uns sieht, wo er auf diesen begrenzten kleinen Planeten sieht. Er hat so geantwortet: Auf der Erde denken wir oft, unser Lebensraum sei fast unbegrenzt; doch dem, der von weit draußen die Erde betrachtet, wird schnell klar, wie verletzlich der Blaue Planet ist. - Das ist natürlich für einen Grünen, aber, ich glaube, auch für Sie alle eine Aussage, die zum Nachdenken anregt und zu der Frage führt, wofür wir die Raumfahrt eigentlich einsetzen wollen. Da gibt es natürlich eine ganze Menge von Interessen. Ein ganz wesentlicher Punkt ist durchaus die Klimaforschung, auch die Frage, wie wir geostationär mit satellitengestützten Systemen die Mobilität verbessern können. Das ist ein durchaus schwieriges Thema. Denken Sie an die Fragen des Datenschutzes! Wir haben jetzt die Diskussion um die Pkw-Maut in Deutschland. Wir wissen - das ist die ökologische Perspektive -, dass wir mit satellitengestützt erfassten Daten Verkehrsflüsse ganz anders steuern könnten, als wir das mit dem Pickerl aus Österreich hinbekommen könnten. Auch diese Diskussion gilt es zu führen. ({1}) Ihr Antrag, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen, enthält eine Reihe von Punkten, denen ich zustimmen kann. Sie wollen den konkreten Nutzen für den Menschen in den Mittelpunkt der deutschen und europäischen Raumfahrtpolitik stellen. Das ist auch unser Ansatz. Das unterschreibe ich gern. Sie sagen: Die Raumfahrt spielt bei der Bewältigung globaler Herausforderungen - wie der Messung und Analyse klimatischer Prozesse des Planeten - eine wichtige, vielleicht in der Zukunft sogar entscheidende Rolle. Auch dem würde ich zustimmen. Es gibt dafür aus der Vergangenheit sowie mit Blick in die Zukunft eine ganze Reihe von Beispielen. Beispielsweise soll der deutschfranzösische Satellit Merlin ab 2017 eine Weltkarte der Methankonzentration erstellen, damit Methanquellen und Methansenken - das ist ein zentrales Thema beim Klimaschutz - identifiziert werden können. Das ist also eine wichtige Mission, zweifelsohne. Wir reden auch über die Satellitennavigation - Stichwort „SatNav“ -; dieses Thema hatte ich angesprochen. Hier geht es um die Potenziale von Satelliten für einen möglichen Wandel im Bereich der Mobilität. Denken Sie daran, dass wir dann in Zukunft in Ballungsräumen oder ländlichen Regionen Fahrverhalten durch Geodaten beeinflussen bzw. steuern könnten - ein schwieriges Thema, zweifelsohne, aber eines, das mich als jemanden, der versucht, ökologische Lösungen zu finden, durchaus anspricht. Dazu kann die Raumfahrt definitiv einen Beitrag leisten. Ein schwieriges Thema ist sicherlich die bemannte Raumfahrt. Jetzt sind wir alle voller Begeisterung für Alexander Gerst. Gleichzeitig wissen wir - das beschreiben Sie in Ihrem Antrag durchaus kritisch -, dass die Frage, ob der Raumfahrt-Robotik die Zukunft gehört und inwiefern menschlich bemannte Missionen noch Sinn haben werden, eine zentrale Frage sein wird. Mein Ansatz wäre, ein Stück weit zu hinterfragen, wofür wir die bemannte Raumfahrt brauchen. Wenn Sie sagen würden: „Wir brauchen sie, um eine weitere Vision zu verwirklichen, um neue Welten zu entdecken, um die Grenzen unseres Planeten zu verlassen“, wenn Sie das also auf ein anderes Niveau heben würden, dann wäre das ein anderer Ansatz, als wenn es - das müssen wir bei aller Freude selbstkritisch sehen - vornehmlich um Marketing und PR von Raumfahrt geht. - Diesen Spannungsbogen wollte ich darstellen. Zum Schluss komme ich noch zu einer kurzen Einschätzung zur ISS. Ich glaube, dass die ISS ein notwendiges Projekt war und ist. Dass die Kosten aus dem Ruder gelaufen sind, ist nicht schön; da muss man in der Zukunft besser hinschauen und aufpassen. Dass eine Beteiligung Deutschlands bis 2020 notwendig ist - bei Gesamtprojektkosten von 100 Milliarden Euro; davon 8 Milliarden Euro durch die ESA bereitgestellt -, sehen wir auch so. Man muss aber sehr genau fragen, wie wir unser Geld in der Zukunft sinnvoll investieren können. Auch an der Stelle müssen wir aus Fehlern der Vergangenheit lernen. Insofern danke ich Ihnen für diesen Antrag und hoffe sehr auf eine gute Wiederkehr von Herrn Gerst am 10. November. Danke schön. ({2})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Als nächster Redner hat der Kollege Wolfgang Tiefensee das Wort. ({0})

Wolfgang Tiefensee (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004176, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Zypries musste zu einem ganz dringenden Termin; aber ich möchte ihr trotzdem ganz herzlich für ihr Lob danken. Lieber Heinz, die Arbeit, die in diesem Antrag steckt, hat sich offensichtlich gelohnt. Wir haben deutlich gemacht, dass die Legislative die Exekutive in Deutschland und vor allem auch in Europa stärken will. Ich erkenne bei diesem Thema eigentlich großes Einvernehmen. Herr Lutze, das war ein mühsames Suchen in dem Antrag, um etwas zu finden, aufgrund dessen Sie dagegenstimmen könnten. Hier besteht eigentlich großer Konsens im Haus. Dennoch sehe ich drei große Gefahren bei diesem Thema. Deshalb haben wir diesen Antrag geschrieben und vorgelegt. Die erste ist: Trotz aller Euphorie, die besteht, was Alexander Gerst angeht, was die Raumsonde Rosetta angeht, die auf dem Kometen landen wird, wird immer wieder diskutiert: Brauchen wir die Raumfahrt eigentlich? Müssen wir so viel Geld dafür ausgeben? - Wenn es darum geht, im Haushalt die entsprechenden Mittel bereitzustellen, ist die Akzeptanz nicht durchweg gegeben. Deshalb muss immer wieder darauf hingewiesen werden, dass Raumfahrt eine Schlüsseltechnologie ist mit Ausstrahlung auf vielfältige Wissenschaftsbereiche, auf Wirtschaftsbranchen, auf eine Grundlagenforschung, die weit über Deutschland und Europa hinaus von Bedeutung ist. Und wir haben ein strategisches Ziel. Herr Lutze, Sie haben angemahnt, dass wir die internationale Zusammenarbeit brauchen. Das ist sicherlich richtig. Aber wir müssen uns andererseits auch als Europäer stark aufstellen. Der erste Punkt ist also: Wir müssen mehr dafür tun, um bei diesem Thema, das eigentlich relativ weit weg ist, obwohl es uns im Alltag betrifft, eine größere Akzeptanz, eine größere Begeisterung zu erzeugen. Das Zweite ist: Wir brauchen eine Verstetigung der Haushaltsmittel. In Deutschland ist uns das gelungen. Wir sind jetzt, wenn ich mir den Aufwuchs anschaue - 2005 etwa 900 Millionen Euro -, bei 1,4 Milliarden Euro. Davon entfallen 634 Millionen Euro auf die ESA und davon wiederum 115 Millionen Euro auf die Trägersysteme. Aber es reicht nicht, diese Haushaltsmittel in Deutschland zu verstetigen, sondern wir brauchen auch weiterhin die Unterstützung mindestens unserer großen Partner Frankreich, Italien und Großbritannien. Bedenken Sie dabei: Den Wirtschaften dort geht es nicht so gut wie unserer. Man hört erste Stimmen, dass die Programme unter Umständen finanziell gefährdet sind. Wir brauchen also eine Verstetigung der Haushaltsmittel zur Umsetzung unserer Raumfahrtstrategie, damit wir all das, was wir uns vorgenommen haben, auch finanzieren können. Das Dritte - das treibt mich noch viel mehr um; es ist bereits angeklungen - ist die Frage, wie wir in Europa zusammenarbeiten wollen. Für mich ist ein Programm wie Galileo nicht nur irgendein Programm zur Satellitennavigation, sondern die Blaupause, wie wir in Europa zukünftig auch auf anderen Feldern zusammenarbeiten wollen. ({0}) Wir haben nämlich in diesem großen Maßstab bisher nur Airbus und Galileo. Dabei sind die drei Themen, die schon angeklungen sind, noch einmal aufzurufen. Das ist erstens die Frage: Wie wollen wir die ESA in Zukunft aufstellen? Die Entscheidungen werden jetzt in der Diskussion fallen, spätestens bis 2020. Wir sprechen uns dafür aus, dass es auch weiterhin eine eigenständige, mit vielfältigen Kompetenzen ausgestattete ESA gibt und keine Verschmelzung, bei der EU und ESA sich gegenseitig behindern. Der entscheidende Punkt ist, dass wir schneller, durchsetzungsstärker und wettbewerbsfähiger werden, nicht zuletzt gegenüber unseren Konkurrenten in den USA, in Russland und in China. Zweitens werden wir uns bei konkreten Projekten wie zum Beispiel Ariane - also Ariane 5 ME, Ariane 5 Plus oder eben Ariane 62/64 - schnell entscheiden müssen gründlich prüfen, aber schnell entscheiden müssen -, damit wir den Anschluss nicht verpassen. Wir haben jetzt die Haushaltsmittel in Höhe von 115 Millionen Euro, und wir wissen: Falls die Entscheidung zugunsten der Ariane 6 fällt, werden wir unter Umständen neu nachdenken müssen. Auch dafür braucht es Akzeptanz auf europäischer Ebene. Drittens brauchen wir beim Thema ISS eine intensive Zusammenarbeit. Wir müssen also mehr Akzeptanz und Begeisterung erzeugen. Wir wollen dafür sorgen, dass die Haushaltsmittel in unserem Haushalt und in dem anderer europäischer Länder verstetigt und aufgestockt werden, wo das möglich ist, auch in Ländern, wo die wirtschaftliche Situation schwierig ist. Und wir brauchen eine Zusammenarbeit, die uns schlagkräftiger und wettbewerbsfähiger macht. Dann ist mir um die Vision und um das ganz Konkrete nicht bange. Vielen Dank. ({1})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Als nächster Redner hat der Kollege Andreas Mattfeldt das Wort.

Andreas Mattfeldt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004108, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Immer, wenn ich gefragt werde, was denn das wohl herausragendste Ereignis in meinem Geburtsjahr 1969 war - an die SPD: das war nicht, dass Willy Brandt Kanzler wurde -, antworte ich: Das bedeutendste Ereignis war die Mondlandung, die den Amerikanern 1969 geglückt war, und der legendäre Satz von Neil Armstrong beim Betreten des Mondes, als er sagte: Das ist ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber ein großer Sprung für die Menschheit. - Ich glaube, dem ist nichts hinzuzufügen. Dass die Menschheit es geschafft hat, auf dem Mond zu landen, war eben nicht nur für Neil Armstrong ein besonderer Moment, das war nicht nur für die USA ein besonderer Moment, sondern - ich kenne es aus Erzählungen - das war auch bei uns in Deutschland ein besonderes Highlight-Ereignis. Auch der Wirtschaftsminister sagte am Dienstag, dass er sich gut daran erinnern kann. Ich glaube, das dokumentiert die Bedeutung noch einmal eindrucksvoll. Die Raumfahrt hat sich seit 1969 weiterentwickelt. Sie hat unseren technischen und auch medizinischen Fortschritt erheblich geprägt. Gerade wenn wir Europäer im Bereich des technischen Fortschritts weiter vorne mit dabei sein wollen, ist es zwingend, dass wir uns einen eigenständigen Zugang zum All erhalten. Hier dürfen wir uns eben nicht auf andere Nationen, Herr Lutze, verlassen. Was passiert, wenn wir keine geeignete europäische Trägerrakete einsetzen können, haben wir erst kürzlich erleben müssen, als aufgrund eines Konstruktionsfehlers der Sojus-Trägerrakete ein für das Satellitennavigationssystem Galileo bestimmter Satellit nicht in die richtige Umlaufbahn befördert werden konnte und daher nicht mehr nutzbar ist. Deshalb ist für mich klar: Wir dürfen uns im Bereich von Trägerraketen nicht abhängen lassen und müssen weiterhin aktiv sein. Wenn ich an andere Nationen denke, denke ich an Nationen, die zurzeit wirtschaftlich sehr erfolgreich agieren, wie zum Beispiel an China. Sie haben ganz klare Strategien. Sie setzen auf eigene Entwicklungen, und sie verlassen sich eben nicht auf andere. Nationen wie China sehen und nutzen die Chancen, die sich aus neuen Entwicklungen für sie technologisch, aber im weiteren Verlauf auch wirtschaftlich ergeben. Gerade im Telekommunikations- oder im Verteidigungsbereich sehe ich erhebliche Türen, die wir nicht zuschlagen dürfen. Nein, im Gegenteil, Europa muss unter dem Dach der ESA in der Raumfahrt weiterhin führend agieren. Hierzu möchte der vorliegende Antrag der Koalitionsfraktionen, über den wir heute debattieren, beitragen. Mit einem klaren Bekenntnis der Mehrheit des Deutschen Bundestages möchten wir die Verhandlungen von Frau Staatssekretärin Zypries auf der ESA-Ministerratskonferenz stärken und untermauern. Europa soll wissen, dass das deutsche Parlament mit ganz großer Mehrheit zur weiteren Entwicklung der ESA-Idee steht, meine sehr verehrten Damen und Herren. Viele Menschen in Deutschland - Sie haben es eben gehört - verfolgen in diesen Tagen die Aktivitäten unseres deutschen Astronauten Alexander Gerst, der auf der ISS seinen Dienst tut und die Menschen in unserem Land mit seiner Arbeit und vor allem - das darf ich sagen - mit seiner Berichterstattung begeistert. Der Nutzen der Raumfahrt wird von Herrn Gerst, wie ich meine, sehr eindrucksvoll dargestellt. Hierzu nutzt Alexander Gerst alle heute üblichen medialen Kanäle. Erstmals können wir die Mission eines deutschen Astronauten auch in den sozialen Netzwerken hautnah und ganz persönlich begleiten. Ich jedenfalls freue mich jeden Morgen sehr auf das Bild von Alexander Gerst aus der ISS. Die Menschen - das sieht man an den Kommentaren sehr eindrucksvoll - begleiten Alexander Gerst bei der Mission. Sie sind, so mag man fast denken, bei der ESA-Mission live dabei. Was für mich aber neben aller wissenschaftlichen Arbeit von enormer Bedeutung ist, ist, dass Gerst es schafft, junge Menschen für technische und physikalische Zusammenhänge zu begeistern. Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter: Gerst schafft es, dass viele junge Menschen intensiv darüber nachdenken, ihre Studiengänge und ihre zukünftigen Berufe auch in technischen Bereichen zu suchen. Meine Damen und Herren, das wollen wir doch. Wir geben über zahlreiche Haushaltstitel viel Geld aus, um für die technischen und wissenschaftlichen Berufe, die sogenannten MINT-Berufe, zu werben - leider, wie ich häufig feststelle, mit verhaltenem Erfolg. Deshalb sollten wir darüber nachdenken, ob es nicht vielleicht sinnvoller und sogar günstiger ist, erneut eine bemannte Raumfahrtmission auf die ISS in unsere Planungen aufzunehmen, gerade auch nach dem großen Erfolg von Alexander Gerst. Natürlich wissen wir, dass Raumfahrt Geld kostet. Gerade deshalb ist es wichtig, dass wir bei aller Euphorie zur Raumfahrt die Wirtschaftlichkeit im Auge behalten. Ich persönlich bleibe dabei - das kommt auch in dem Antrag zum Tragen -, dass ich die Weiterentwicklung der Ariane 5 - dann als ME - befürworte, bevor wir eine komplett neue Ariane 6 entwickeln. Dies ist nicht nur aus haushälterischer Sicht - dazu komme ich später noch -, sondern ganz besonders aus technologischen Gründen wichtig. Wir setzen mit der jetzigen Ariane-Generation eine Technologie ein, die erst seit 2008 in dieser Art fliegt. Diese an Zuverlässigkeit unschlagbare Trägerrakete jetzt schon auszutauschen, ist technologischer, vor allem aber wirtschaftlicher Unsinn. Eine vernünftige Weiterentwicklung ist wesentlich sinnvoller als eine komplette Neuentwicklung. Die derzeitige Weiterentwicklung ist haushaltstechnisch noch finanzierbar, während eine komplett neue Ariane-6-Generation uns vor große haushaltstechnische Probleme stellen wird, die ich mir als Haushälter derzeit gar nicht vorstellen kann. Das gilt übrigens auch für die Haushalte einiger ESAPartnerländer, wenn ich mir deren Haushaltslage anschaue. Allein die groben Schätzungen gehen von Kosten für die Ariane-6-Entwicklung in Höhe von 4,31 Milliarden Euro aus. Erfahrungsgemäß ist bei solchen Schätzungen mit erheblichen Kostensteigerungen zu rechnen. Die Restentwicklungskosten mit Abschluss der Weiterentwicklung zur Ariane 5 ME betragen hingegen nur 1,2 Milliarden Euro. Der Erstflug ist bereits für 2018 geplant. Meine Damen und Herren, diese Zahlen untermauern, dass die Neuentwicklung einer Ariane 6 nicht nur aus technologischer, sondern gerade auch aus haushaltspolitischer Sicht zum jetzigen Zeitpunkt der völlig falsche Weg wäre, den sich nicht nur Deutschland nicht leisten kann. Deshalb mein Appell an Frau Zypries, an die Ministerratskonferenz: Lassen Sie uns die bewährte Technologie weiterentwickeln und verlässlich zum Vorteil von uns Europäern nutzen! Herzlichen Dank. ({0})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit schließe ich die Debatte. Ich glaube, ich kann im Namen des ganzen Hauses sagen, dass wir Alexander Gerst eine gute Rückkehr wünschen und der Bundesregierung gute Verhandlungen auf der Ministerkonferenz. Da geht es wirklich um wichtige Entscheidungen. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/3040 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 33 auf: Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Achter Familienbericht Zeit für Familie - Familienzeitpolitik als Chance einer nachhaltigen Familienpolitik und Stellungnahme der Bundesregierung Drucksache 17/9000 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0}) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin in dieser Debatte erhält die Staatssekretärin Caren Marks das Wort. - Frau Marks, Sie haben das Wort. ({1})

Caren Marks (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003587

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist nunmehr zwei Jahre her, dass die Bundesregierung den Achten Familienbericht „Zeit für Familie - Familienzeitpolitik als Chance einer nachhaltigen Familienpolitik“ vorgelegt hat. Der Bericht hat jedoch an Aktualität nichts eingebüßt. Im Gegenteil: Zeit ist für Familien ein Megathema. Denken wir an das erwerbstätige Paar, das sich partnerschaftlich um seine Kinder kümmert, an Alleinerziehende, die ganz besonders auf einen familienfreundlichen Arbeitsplatz und zeitlich flexible Betreuungsangebote angewiesen sind. Denken wir auch an die Familie, in der die Kinder noch in die Kita oder zur Schule gehen und in der gleichzeitig ein Angehöriger pflegebedürftig wird. Für die Bundesregierung steht daher außer Frage, Familienzeitpolitik zu einem starken Thema zu machen. Wir greifen deshalb den Achten Familienbericht in dieser Legislaturperiode in verschiedener Hinsicht auf - mit einer modernen und lebenslaufbezogenen Zeitpolitik für Familien, die die Wünsche der meisten Familien nach mehr Zeit füreinander ernst nimmt, mit einer Familienpolitik, die gleichzeitig darauf setzt, Müttern und Vätern beides zu ermöglichen: Zeit für Familie und Zeit für den Beruf. Das ist der Anspruch, den junge Familien heute an die Familienpolitik haben; denn die Lebenswirklichkeit und die Wünsche von Familien haben sich verändert. Zur Lebensrealität von Familien gehört, dass immer mehr Mütter berufstätig sind. Es gehört auch dazu, dass sich Väter zunehmend an der Erziehung und Betreuung ihrer Kinder beteiligen. Eltern brauchen flexible Lösungen, insbesondere am Arbeitsplatz, aber auch darüber hinaus, zum Beispiel beim bürgerschaftlichen Engagement; aber sie wollen, jeder für sich, auch ein festes und ausreichendes Einkommen, und sie wollen sich beide aktiv in der Familie einbringen. Es ist sicherlich nicht immer leicht, alles unter einen Hut zu bekommen. Ein Schlüssel zum Erfolg ist die Partnerschaftlichkeit. Die Mehrheit der Familien wünscht sich eine partnerschaftliche Aufteilung. Die wenigsten aber können diesen Wunsch bislang realisieren. Zeit ist zu einer Kategorie der Lebensqualität geworden, insbesondere von Familien. Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, deshalb lohnt sich der Blick in den Familienbericht. Die Kommission hat wichtige Eckpunkte für eine Zeitpolitik für Familien entwickelt. Es gilt, Rahmenbedingungen zu gestalten und Partnerschaftlichkeit zu stärken. Wir brauchen eine neue Qualität in der Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen in Familie und Beruf; denn sie steht für eine gerechte Balance im Leben beider Geschlechter und sie trägt den Wünschen vieler Frauen und Männer Rechnung. Dabei geht es vor allem um Zeitsouveränität und um Zeitkompetenz. Es geht also nicht nur um ein reines Mehr an Zeit, sondern auch um den Umgang mit der Zeit. Es geht um eine lebenslaufbe6042 zogene Zeitpolitik, die viele gesellschaftliche Bereiche betrifft: die Arbeitswelt oder den Lebensalltag von Familien sowie das unmittelbare Umfeld vor Ort. Stets bedarf es verschiedener Partner, die sich für gute Rahmenbedingungen für Familien einsetzen. So haben wir mit unserem Unternehmensprogramm und mit den 670 Lokalen Bündnissen für Familie auch die Wirtschaft und die Zivilgesellschaft mit an Bord. Der Staat braucht starke Partner; ohne sie geht es nicht. Meine sehr geehrten Damen und Herren, was setzen wir konkret um, um dem Leitbild der Partnerschaftlichkeit gerecht zu werden? Nach dem Elterngeld und dem Rechtsanspruch auf die Betreuung von Kindern ab dem ersten Lebensjahr kommt jetzt der nächste Schritt in diese Richtung, das Elterngeld Plus. Heute Vormittag haben wir diesen Gesetzentwurf verabschiedet. Mit dem Elterngeld Plus stärken wir sowohl die Zeitsouveränität von Müttern und Vätern als auch die Partnerschaftlichkeit. Das neue Elterngeld Plus ist eine Antwort auf die Frage vieler Familien, wie eine zeitgemäße Familienpolitik aussehen muss. Bei einer zeitgemäßen Familienpolitik müssen wir alle Generationen im Blick haben. Wir müssen uns verstärkt der Frage zuwenden, wie wir Menschen bei der Fürsorge und Pflege älterer und hilfsbedürftiger Familienmitglieder besser unterstützen können. Wir haben deshalb einen Gesetzentwurf zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf auf den Weg gebracht, der genau dies zum Ziel hat. Eine moderne Zeitpolitik entsteht nicht von allein. Sie ist Aufgabe vieler Akteure. Übrigens profitieren nicht nur Familien davon, sondern auch die Arbeitgeber. Eine moderne Familienpolitik ist längst ein harter Standortfaktor. Wir sind zusammen gefordert, für eine neue und nachhaltige Arbeits- und Lebensqualität einzutreten. Das lohnt sich für die Familien, aber auch für die gesamte Gesellschaft in unserem Land. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Als nächster Redner in der Debatte spricht Harald Petzold. ({0})

Harald Petzold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004374, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher! Wir diskutieren heute den Achten Familienbericht der Bundesregierung. Das ist gut so. Ich will aber vorweg sagen: Wir diskutieren einen Bericht, der eigentlich schon vor zweieinhalb Jahren vorgelegt werden sollte. Ich finde es ein wenig bedauerlich, Frau Staatssekretärin, dass es nicht wenigstens ein Wort der Erklärung oder Entschuldigung dafür gibt, dass Sie das Parlament zweieinhalb Jahre auf diesen Familienbericht haben warten lassen. ({0}) Ich finde, dass man durchaus nachfragen muss, auch wenn es inzwischen einen Regierungswechsel gegeben hat, wo die Gründe dafür liegen. Ich möchte drei Punkte nennen, die aus Sicht meiner Fraktion gut am Familienbericht sind. Zum einen stellen Sie das Thema „Zeit für Familie“ voran; das ist ein wichtiges Thema. Ich finde darüber hinaus, dass der geforderte Ausbau der Kinderbetreuung, der im Familienbericht thematisiert wird, ein wichtiger Punkt ist, über den wir diskutieren sollten. Das ist meiner Fraktion ein wichtiges Anliegen. Ich bin froh, dass es in meiner Heimat Brandenburg in den nächsten Jahren gelingen wird, den Betreuungsschlüssel im Kitabereich weiter zu verbessern, dass es gelingen wird, die Rahmenbedingungen für die Arbeit in Kitas und damit auch die Bedingungen für die Betreuung insgesamt weiter zu verbessern. ({1}) Ich finde es auch gut, dass der Achte Familienbericht das Thema „Flexibilisierung von Elternzeit“ aufgreift. Es ist aber dramatisch, Frau Staatssekretärin, dass im Familienbericht kein einziges Wort über die Themen „Kinderarmut“ und „Armut von Familien“ verloren wird. Neben dem Thema „Zeit für Familie“ ist es vor allen Dingen die Lebenssituation von Familien, die darüber entscheidet, ob Kinder gut aufwachsen und Familien sich erfolgreich entwickeln können. ({2}) Die Koalition kann dazu aber nicht sehr viel sagen; denn das Thema Kinder- oder Familienarmut kommt im Koalitionsvertrag nicht vor. Nun ist es ja nicht so, dass im Koalitionsvertrag keine wichtigen Themen vorkommen würden. Beispielsweise wird die Frage, ob Kinder beim Fahrradfahren einen Helm tragen sollen, im Koalitionsvertrag ziemlich ausführlich behandelt. Das ist ein wichtiges Thema - das will ich ausdrücklich sagen -; aber ein ebenso wichtiges Thema wie Kinderarmut kommt eben nicht vor. Deswegen bin ich sehr froh, dass eine Politikerin wie Diana Golze, die hier viele Jahre erfolgreich Familienpolitik betrieben hat, in meiner Heimat Brandenburg jetzt als Ministerin das Thema „Kinderarmut und Familienarmut“ ganz oben auf die Tagesordnung gesetzt hat und dass die Koalition in Brandenburg aus Linken und SPD dieses Thema zu einem zentralen Punkt ihrer Familienpolitik machen wird. ({3}) Familien haben keine Zeit; Sie haben das zu Recht kritisiert, Frau Staatssekretärin. Die Arbeitswelt, sprich: die Unternehmen und der öffentliche Dienst, nehmen wenig bis keine Rücksicht auf Familien. Familien müssen ihre Arbeitszeit besser einteilen können. Aber die Erfahrung zeigt, dass die freiwilligen Initiativen, wie der Leitfaden „Erfolgsfaktor Familie“, leider nicht mehr als heiße Luft sind. Gerade einmal 0,13 Prozent aller Unternehmen beteiligen sich daran. Ich bin froh, dass Sie wenigstens die Lokalen Bündnisse für Familie angesproHarald Petzold ({4}) chen haben; denn ich bin der Meinung: Hier wird aktiv Politik betrieben. Auch hier setzt Brandenburg mit seinen Lokalen Bündnissen für Familie aus meiner Sicht einen wichtigen Impuls. Es ist ein Vorreiter für Familienfreundlichkeit in der Arbeitswelt geworden. ({5}) Ich habe mich sehr gefreut - das will ich abschließend sagen, und ich bitte Sie, Frau Staatssekretärin, das Ihrer Chefin zu sagen -, dass zumindest in der Schwerpunktplanung von Frau Ministerin Schwesig das Thema „lesbische und schwule Familien“, also sogenannte Regenbogenfamilien, einen höheren Stellenwert bekommen soll. Sie haben im Ausschuss ausgeführt, dass das in der Vorhabenplanung ganz vorne steht. Ich freue mich, dass dieses Thema unter Ihrer Führung mehr Aufmerksamkeit erfährt. Es stimmt mich sehr hoffnungsvoll, dass dieses Thema inzwischen in allen Fraktionen angekommen ist. Es gibt engagierte Abgeordnete, die sich persönlich dafür einsetzen. Ich habe deswegen die große Hoffnung, dass wir hier im Bundestag einen neuen Umgang mit den Lebensfragen von Regenbogenfamilien erreichen werden. Aufmerksamkeit alleine genügt aber nicht. Wir müssen auch gleiche Rechte schaffen; das ist eine wichtige Voraussetzung. In diesem Zusammenhang muss man sich fragen: Warum wird lesbischen Frauen die künstliche Befruchtung verwehrt? Warum wird Schwulen und Lesben das gemeinsame Adoptionsrecht verwehrt? Warum werden Lesben und Schwule als potenzielle Pflegeeltern benachteiligt? Antworten auf diese Fragen blieben bisher offen. Familienpolitik ist Teil der gesellschaftlichen Verhältnisse. Sie wurde immer wieder verschiedentlich interpretiert. Es kommt aber darauf an, sie zu verändern. Dafür werden wir Linke uns einsetzen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen allen ein erholsames Wochenende mit Ihren Familien. ({6})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000305

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Ingrid Pahlmann das Wort. ({0})

Ingrid Pahlmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004369, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es wurde alles rascher, damit mehr Zeit ist. Es ist immer weniger Zeit. Diese Erfahrung des Dichters und Chemikers Elias Canetti dürfte jedem von uns, der mit einem vollgepackten Terminkalender zwischen Berlin und Wahlkreis hinund herpendelt, gerade in Zeiten des Bahnstreiks nur allzu bekannt sein. Diese Erfahrung machen aber auch Familien in unserem Land. Selbst wenn der Achte Familienbericht Deutschland im internationalen Vergleich einen hohen Zeitwohlstand attestiert, sehen sich Familien zunehmend mit den Herausforderungen wachsenden Zeitmangels konfrontiert. Auch durch die neuen Rollen von Männern und Frauen wird das Familienleben häufig von Zeitknappheit und Zeitkonflikten geprägt. Verstehen Sie mich nicht falsch: Dass junge Eltern heute mehrheitlich eine partnerschaftliche Aufteilung von Familien- und Erwerbsarbeit anstreben, ist in meinen Augen eine gute und wirklich richtige Entscheidung. Es bedeutet aber auch, dass die Rahmenbedingungen entsprechend angepasst und viele Lebensbereiche - vom Arbeits- und Erwerbsleben in den Unternehmen über Infrastruktur und Kinderbetreuung flexibler werden müssen; denn Familien brauchen Zeit für ihr Familienleben. Eltern brauchen Zeit, um ihre Kinder zu erziehen, und sie brauchen Zeit, wenn Angehörige Unterstützung benötigen oder pflegebedürftig werden. Dabei geht es nicht einfach nur um ein Mehr an Zeit allein; Frau Marks wies bereits darauf hin. Entscheidend ist vielmehr die Stärkung der Zeitsouveränität der Familien, eine optimierte Synchronisation von Zeitstrukturen aller relevanten Institutionen, eine Umverteilung von Zeit im Lebenslauf, zwischen den Geschlechtern und den Generationen, und auch eine stärkere Nutzung familienexterner Dienstleistungen. Bundesregierung und Sachverständige stimmen darin überein, dass eine moderne Familienpolitik Familien ermöglichen sollte, über ihren Zeitgebrauch souverän zu entscheiden. Für uns als Union heißt das, dass jede Familie selbst entscheiden soll, welches Lebens- und Betreuungsmodell für sie das richtige ist. Wir erkennen die Vielfalt der Familien an und wollen sie darin unterstützen. ({0}) Mit dem heute Vormittag verabschiedeten Gesetz zum Elterngeld Plus und zur flexibleren Elternzeit setzen wir diese Politik um. Ziel ist es, den Eltern mehr Zeit für die Familie zu geben und neue Gestaltungsmöglichkeiten sowie mehr Flexibilität im Alltag zu schaffen. Die Elternzeit kann nun länger in Anspruch genommen werden. Wenn zum Beispiel in der Phase des Schuleintritts besonderer Betreuungsbedarf besteht, können sich Eltern diese Zeit nehmen. Das ist sicher bei der Mehrheit der Kinder, die heute oft schon frühzeitig Übergangsphasen gewohnt sind, zum Beispiel durch die frühkindlichen Betreuungseinrichtungen, nicht der Fall. In jenen Familien jedoch, in denen Kinder diesen besonderen Bedarf haben, müssen sich die arbeitenden Eltern nun nicht mehr durch Krankschreibung oder ähnliche Schritte die Zeit für ihre Kinder freischaufeln. Auch für die Arbeitgeber stellt dies eine bessere und verlässlichere Lösung dar. Der demografische Wandel, der zurzeit wie ein Schreckgespenst durch unser Land geistert, birgt zumindest in diesem Punkt eine Chance. Menschen werden immer älter und bleiben dabei gesünder. Dieses Potenzial müssen wir aktivieren, um sie für die Familienzeit zu gewinnen. Explizit wird hier der Bundesfreiwilligendienst als geeignetes Instrument zur Förderung des zivil6044 gesellschaftlichen Engagements älterer Menschen genannt. Es sollte zu diesem Zweck genutzt werden. Gerade vor zwei Tagen hatte ich ein Gespräch mit einer Besuchergruppe Bundesfreiwilligendienstleistender, die allesamt weit über 27 Jahre alt waren. Diese haben mir bestätigt, was die Sachverständigen angeregt haben: Der Bundesfreiwilligendienst ermutigt auch die Älteren, die frei gewordene Zeit durch freiwilliges Engagement für die Gesellschaft zu nutzen. Wieder einmal wird deutlich: Der Bundesfreiwilligendienst ist ein Erfolgsmodell. ({1}) Die Mehrgenerationenhäuser - ein anderes Thema -, deren Finanzierung wir für nächstes Jahr gesichert haben, sind geeignete Plattformen für die Förderung und Koordinierung zivilgesellschaftlichen Engagements in den Kommunen. Mit den von Ursula von der Leyen ins Leben gerufenen Häusern haben wir deutschlandweit eine Infrastruktur geschaffen, die vor Ort einen ganz wichtigen Beitrag zum Zusammenhalt unserer Gesellschaft leistet, die Möglichkeit zur gesellschaftlichen Teilhabe für und zwischen allen Altersgruppen eröffnet und zum freiwilligen Engagement anregt. Mit dem Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz haben wir auch bürgerschaftliches Engagement in der Pflege gestärkt. Die Versorgung pflegebedürftiger Angehöriger kostet Familien viel Kraft und Zeit. Mit dem zu erwartenden Anstieg der Zahl der Pflegebedürftigen steigt nicht nur der Bedarf an ausgebildeten Pflegekräften, sondern auch der an ehrenamtlich in der Pflege Aktiven. Sie engagieren sich zum Beispiel in Betreuungsgruppen oder entlasten Pflegende durch die stundenweise Übernahme der Betreuung und Versorgung. Sie unterstützen auch bei der Beratung von Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen. Doch die Engagementbereitschaft im Bereich Pflege wird heute bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Auch hier setzt das Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz an. Menschen, die sich in der Pflege engagieren möchten, können sich entsprechend schulen und qualifizieren lassen sowie kostenlos die Pflegekurse der Pflegekassen besuchen. Auch der Aus- und Aufbau von Selbsthilfegruppen, Organisationen und Kontaktstellen wird finanziell stärker gefördert als bisher. All diese Maßnahmen bringen Entlastungen für betreuende Angehörige und schaffen zeitliche Freiräume. Der Wohlstand einer Gesellschaft ist eben nicht allein in Zahlen des Bruttoinlandsprodukts zu messen. Zeitwohlstand hat sowohl auf die Lebensqualität als auch auf die Zufriedenheit von Familien einen erheblichen Einfluss und spielt bei der Entscheidung für Kinder eine bedeutende Rolle. ({2}) Wir wollen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für Familien so gestalten, dass sich junge Menschen für Kinder entscheiden können, und wir wollen Familien Handlungsspielräume für eine souveräne Gestaltung ihrer Möglichkeiten geben. Wichtige Weichenstellungen haben wir heute auf den Weg gebracht. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, Zeitwohlstand und Zeitsouveränität für Familien zu mehren. Ich danke Ihnen und wünsche Ihnen ein schönes Wochenende. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Dr. Franziska Brantner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Franziska Brantner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004255, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke schön. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Liebe Damen und Herren! Ich habe keine Zeit. Ich kann jetzt nicht. Ich muss jetzt los. - Das sind Sätze, die uns allen sehr bekannt sind. Ich habe Zeit. Diesen Satz kennt man nicht, da möchte man gleich nachfragen: Oh Gott, hast du deinen Job verloren? Ist alles okay? Bist du krank? Ist es in unserer Gesellschaft eigentlich normaler, zu sagen, dass man keine Zeit hat, als zu sagen, dass man Zeit hat, Zeit für seine Kinder, für die Eltern, für die Freunde, für die Gesellschaft oder auch nur für sich? Verdichtung der Arbeitszeit, Entgrenzung des Arbeitslebens, das betrifft Familien ganz besonders. Denn sie haben neben dem Beruf noch andere Verpflichtungen. Diese Verpflichtungen rufen zum Beispiel: Mama, bastelst du mit mir? Oder der Sohnemann ruft: Ich habe jetzt Hunger. Keine Zeit zu haben, das gehört mittlerweile für die meisten Familien zur Realität. Damit verbunden ist das Gefühl, nicht allen Ansprüchen und auch nicht seinen eigenen Wünschen gerecht werden zu können. Eine Studie der AOK zeigt, dass das Auswirkungen hat, nicht nur auf die Eltern, sondern eben auch auf die Kinder. Gestresste Eltern haben häufiger Kinder mit gesundheitlichen Beschwerden. Der Achte Familienbericht, über den wir heute diskutieren, gibt einen Strauß an Empfehlungen. Eine davon möchte ich gerne zitieren. Empfohlen wird „ein bedarfsgerechter Ausbau an qualitativ hochwertigen Betreuungsplätzen in Kindertageseinrichtungen und in der Tagespflege, der den Bedürfnissen der Kinder und Eltern entspricht …“ Weiter heißt es: Erst wenn für alle Kinder Ganztagsbetreuungsplätze in hervorragender Qualität vorhanden sind, haben Eltern tatsächlich eine Wahlmöglichkeit. Wir haben es heute Morgen schon andiskutiert. Das Ergebnis des Kitagipfels ist vor allen Dingen unter finanziellen Gesichtspunkten bestimmt noch nicht der richtige und letzte Satz auf dem Weg zu hervorragender Qualität für alle Plätze. ({0}) Ich kann wirklich nur an Sie alle appellieren: Nehmen Sie sich etwas von den 10 Milliarden Euro Zukunftsinvestitionen, und nutzen Sie dieses Geld zur Verbesserung der Kitaqualität. Liebe SPD, kämpfen Sie dafür, dass etwas davon bei den Kindern ankommt. Sie, liebe CDU/CSU, können Herrn Schäuble sagen, dass das doch wirklich eine lohnenswerte Investition in Deutschland ist. ({1}) - Aber es reicht nicht. Gute Familienzeitpolitik verändert die Arbeitswelt. Erlauben Sie mir, noch einmal zu zitieren. Das ist ein klassisch wissenschaftlicher Satz. Er lautet: Kritisch reflektiert werden sollte das Bild des voll verfügbaren und „sorglosen“ Arbeitnehmers ohne private Verpflichtungen … Das heißt übersetzt: Es gibt immer noch das Modell des Unverheirateten ohne Kinder. Diese Arbeitnehmer sind sorgenlos und immer verfügbar. Ich glaube, hier müssen wir ansetzen. Der Arbeitsmarkt muss sich nach den Familien richten. Es darf nicht sein, dass sich die Familien nach dem Arbeitsmarkt zu richten haben. ({2}) Frau Schwesig ist jetzt nicht da, daher spreche ich Sie, Frau Marks, an. Die Idee von Frau Schwesig ist ja die einer Familienarbeitszeit. Eine solche Familienarbeitszeit würden laut DIW nur 1 Prozent der Eltern in Anspruch nehmen. Das heißt, das hört sich immer schön an, aber es trifft nur für 1 Prozent der Eltern zu. Ist das wirklich die Signalwirkung, die wir uns wünschen? Verlieren wir dabei nicht diejenigen aus dem Blick, die unter einer Doppelbelastung aus Zeitdruck und geringem Einkommen leiden, die sich eine Reduzierung ihrer Arbeitszeit allein schon aus finanziellen Gründen nicht leisten können? Es braucht eben mehr als die Signalwirkung von gut verdienenden Doppelverdienerpaaren. Wir brauchen mehr als dieses 1 Prozent. Wir brauchen gezielte und auch gesetzliche Reformen, um etwas voranzubringen. Auch an dieser Stelle möchte ich aus dem Achten Familienbericht zitieren. Dieser schlägt vor, dass im Teilzeitund Befristungsgesetz ein Recht der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erweitert wird „auf Mitsprache bei der Lage der Arbeitszeit“. Das halte ich für einen wichtigen Punkt. Dabei geht es gar nicht darum, ob man weniger oder mehr arbeitet, sondern darum, wann man anfängt und wann man aufhört. Ich glaube, dass das ein wichtiger und zentraler Punkt ist. Zudem zeigen Studien, dass Mütter nicht unbedingt weniger arbeiten wollen, sondern meistens sogar noch mehr. Hauptsächlich wollen sie aber selbstbestimmt arbeiten und bestimmen können, wann sie mit der Arbeit beginnen und wann sie mit der Arbeit aufhören. ({3}) Vielleicht können Sie das mitnehmen. Ich glaube, das hätte mehr Effekt als die Familienarbeitszeit. Auch Lebenszeit- und Kontenmodelle sind wichtige Ansätze, die es zu vertiefen gilt, damit man im Leben auch einmal aussteigen kann für Kinder, für Pflege, für eine Weiterbildung oder für ein Ehrenamt, dann aber zurückkommen kann. Abschließend möchte ich noch einmal aus dem Familienbericht zitieren: Gesellschaftliche Erwartungen prägen die Zeitverwendung des Einzelnen. Gesellschaftliche Erwartungen orientieren sich an Werten. Der Stellenwert familiärer Verantwortung muss stärker im gesellschaftlichen Wertekanon verankert werden. Nehmen wir uns die Zeit, dies zu ändern, damit es wieder normal wird, zu sagen: Ich habe Zeit für dich. Ich danke. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Kollegin Yüksel hat nun für die SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Gülistan Yüksel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004448, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich sehe, trotz - oder wegen - Bahnstreik sind Sie hiergeblieben. Das freut mich natürlich; denn das Thema Familienpolitik ist zentral und liegt uns besonders am Herzen. Dafür möchte ich Ihnen natürlich danken. - Das war jetzt keine Kritik. ({0}) Der Familienbericht der Bundesregierung aus dem Jahr 2012 hat das Thema „Zeit für Familie“ als Schwerpunkt. Das ist ein sehr wichtiges Thema für einzelne Familien und auch für unser Land. Wir setzen uns für mehr Zeitsouveränität ein und greifen die Empfehlungen der Sachverständigenkommission auf. Wir wollen es den Familien ermöglich, ihr Leben frei nach ihren persönlichen Wünschen und individuellen Zielen zu gestalten. Wenn beide Elternteile einer Erwerbstätigkeit nachgehen wollen oder müssen, ist es Aufgabe der Politik, die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen. Familienpolitik bedeutet, Familien im Alltag zu entlasten und ihnen mehr Möglichkeiten für ein gemeinsames Miteinander und Füreinander zu eröffnen, damit sie sich frei entfalten und ihre Ziele verfolgen können. Meine Kinder sind mittlerweile erwachsen und gehen ihre eigenen Wege. Ich erinnere mich aber noch sehr gut an meine eigene Zeit als junge berufstätige Mutter, in der es nicht so einfach war, Familie und Beruf miteinander zu vereinbaren. Heute erleichtern die gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen diese Aufgabe. Es besteht aber nach wie vor Handlungsbedarf. Der vorliegende Bericht bietet eine gute Grundlage, an der wir gemeinsam ansetzen sollten. Ein zentraler Punkt einer modernen Familienzeitpolitik ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Denn Familien brauchen notwendige Auszeiten in unterschiedlichen Lebensphasen. Insbesondere in Zeiten der Familiengründung und der Pflege von Angehörigen ist es für Familien wichtig, die Möglichkeit zu haben, ihre Zeit flexibel einzuteilen. Nach der Einführung des Elterngeldes folgt nun also die Weiterentwicklung durch das Elterngeld Plus. Darüber freuen wir uns als SPD-Fraktion sehr; denn dadurch werden im Alltag mehr Flexibilität und Zeiträume geschaffen. ({1}) Um Eltern dieses zu ermöglichen, ist auch eine bedarfsgerechte Kinderbetreuung notwendig. Mit der Aufstockung des Sondervermögens Kinderbetreuungsausbau auf 1 Milliarde Euro werden nun zusätzliche Betreuungsplätze geschaffen. Jedoch müssen auch Zeitstrukturen mehr an die Alltagsrealität der Familien angepasst werden. In dem Bericht wird eine bessere Abstimmung zwischen Arbeitszeiten und Öffnungszeiten von Kitas, Schulen, Behörden und Kultureinrichtungen gefordert. Ebenso wird die Bedeutung von Ganztagsschulen hervorgehoben. Ausreichend Plätze gibt es bislang leider nicht. Hier ist eine Baustelle, an der wir noch zu arbeiten haben. Viele Familien fragen sich, wie sie die Kinderbetreuung während der Schulferien organisieren können. Initiativen vor Ort leisten hier bereits gute Arbeit. Es müssen aber weitere Schritte ergriffen werden, um Familien zu unterstützen. Flexiblere Arbeitszeitmodelle sollten daher, langfristig gesehen, unbedingt unterstützt werden. Für uns Sozialdemokraten bleibt die Familienarbeitszeit das Ziel; denn sie ist der richtige Weg hin zu einer nachhaltigen Familienpolitik. ({2}) Sie entspricht den Wünschen vieler Eltern, da sie Müttern und Vätern partnerschaftlich mehr Freiraum erlaubt. Auch beim Thema Pflege sah die Sachverständigenkommission weiteren Handlungsbedarf; denn auch dieser Bereich berührt Familien und deren Zeitmanagement stark. Mit dem Entwurf eines Gesetzes zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf entlasten wir Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die sich der verantwortungsvollen Aufgabe der Pflege ihrer Angehörigen stellen wollen oder aufgrund ihrer Familiensituation stellen müssen. Familien können somit souverän über ihre Zeit entscheiden und mehr füreinander da sein. Es ist wichtig und richtig, dass sich in dem Bericht dem Thema Familienzeitpolitik gewidmet wird. Die gesellschafts- und familienpolitischen Rahmenbedingungen an die heutigen Lebensmodelle der Bevölkerung anzupassen, ist für die Funktionsfähigkeit unserer modernen Gesellschaft unerlässlich. Erste zentrale Maßnahmen zur Ermöglichung von mehr Flexibilität im Alltag und mehr Partnerschaftlichkeit sind bereits auf den Weg gebracht. Die Ergebnisse des Berichtes zeigen uns aber, dass es noch weitere wichtige Bereiche in der Familienzeitpolitik gibt, an denen wir arbeiten müssen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Familie ist eine wichtige Säule in unserem Leben. Sie bietet Schutz, Sicherheit, Geborgenheit und Liebe. Sie ist das Fundament einer funktionierenden Gesellschaft. Um diese Säule auch weiterhin stabil zu halten, müssen wir gemeinsam „Zeit für Familie“ schaffen. Lassen Sie uns die Ergebnisse des Familienberichtes dazu nutzen, dieses Ziel mit voller Energie weiter zu verfolgen. Ich danke Ihnen ganz herzlich und wünsche Ihnen noch einen schönen Heimweg. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Markus Koob für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Markus Koob (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004331, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer! Nie wurde mehr Geld in Familien investiert als heute. Nie wurden Familien qualitativ besser gefördert als heute. 200 Milliarden Euro gibt der Staat Jahr für Jahr für 156 ehe- und familienbezogene Leistungen aus. Das investieren wir, das investiert die Gesellschaft gerne; denn Investitionen in die Familie sind nicht nur Investitionen in die Gesellschaft, sondern auch Investitionen in Zukunft und Nachhaltigkeit. In dem Achten Familienbericht der Bundesregierung wird Zeit gefordert: Zeit in den Familien füreinander, um sich umeinander zu kümmern, Zeit miteinander verbringen zu können. Das ist gut und richtig so. Gerade in den letzten Wochen ist diesbezüglich vieles auf den Weg gebracht worden. Wir haben heute - das ist mehrfach erwähnt worden das Elterngeld Plus beschlossen. Das ist ein starkes Signal zugunsten der partnerschaftlichen Erziehungsverantwortung und gewährt den Eltern eine längere gemeinsame Zeit in der Familie. In den nächsten Wochen werden wir zudem über den Entwurf eines Gesetzes zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf zu beraten haben. Zukünftig werden die von der Union in der Vergangenheit auf den Weg gebrachten Pflegezeit und Familienpflegezeit ausgebaut werden. Neu ist, dass dann jeder Arbeitnehmer und jede Arbeitnehmerin eine bis zu zehntägige Arbeitsauszeit nehmen kann, um einen Angehörigen zu pflegen. Während dieser zehn Tage besteht die Möglichkeit, Pflegeunterstützungsgeld durch die Pflegekasse des Angehörigen zu erhalten. Zentraler Punkt des Gesetzes ist der zukünftige Rechtsanspruch auf Familienpflegezeit. Für einen Beschäftigten wird es ab 2016 möglich sein, bis zu 24 Monate vom Arbeitgeber teilweise freigestellt zu werden, um einen Angehörigen zu pflegen. Dazu müssen bei verhältnismäßig geringen Lohneinbußen mindestens 15 Stunden in der Woche parallel weitergearbeitet werden. Jeder Mensch, der einen Angehörigen pflegt, verdient unsere Anerkennung und Unterstützung. Mit dem Gesetzentwurf zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf erreichen wir beides. Angehörige haben nun ein Instrument, sich auf die Notsituation der Familie einzustellen und die letzten Wochen und Monate in intensiver Familienzeit zu verbringen. Das sind wir den Familien in Deutschland schuldig. ({0}) Eine fast schon überfällige Anpassung findet zudem bezüglich der Begrifflichkeit der nahen Angehörigen im Pflegezeitgesetz statt. Wenn Stiefeltern, Schwägerinnen und Schwager oder Menschen in lebenspartnerschaftsähnlichen Gemeinschaften keinen Rechtsanspruch auf Pflegebegleitung ihrer Angehörigen haben, dann ist das aus der Zeit gefallen und gehört geändert. Diese Änderung vollziehen wir mit dem Gesetzentwurf. Aber nicht nur das Elterngeld Plus und die bessere Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf wird den Familien mehr Zeit füreinander geben. Zentral für die effizientere Zeitnutzung in den Familien, wie sie der Achte Familienbericht fordert, ist der Kitaausbau, den wir bereits vor einigen Jahren auf den Weg gebracht haben. Bis 2014 hat der Bund 5,4 Milliarden Euro in den Ausbau der Kinderbetreuung und die Übernahme der Betriebskosten der Kinderbetreuungseinrichtungen investiert. Allein in dieser Legislaturperiode unterstützt der Bund die Kommunen beim Betreuungsausbau mit zusätzlichen 550 Millionen Euro, damit auch in den nächsten Jahren qualitativ hochwertige Kindertagesplätze geschaffen werden können. Wir möchten eine flächendeckende Betreuung für Kinder berufstätiger Eltern. Durch flexiblere Betreuungszeiten der Kinder soll es den Eltern ermöglicht werden, Familie und Beruf leichter miteinander zu vereinbaren. Mit einer besseren Zeitsynchronisation wirken wir direkt positiv auf das Zeitbudget der Familien ein, indem diese den Tagesablauf nicht nach den Kitaöffnungszeiten richten müssen, sondern in ihrer Arbeitszeit- und damit anschließend auch in ihrer Familienzeitgestaltung freier sind. Der CDU/CSU-Fraktion ist es wichtig, die Verbesserung der Kitas voranzutreiben. Kitas dürfen keine Parkplätze für Kinder sein; sie müssen vielmehr erste qualitativ hochwertige Bildungseinrichtungen der Gesellschaft darstellen. ({1}) Im Bereich der Kindertagesbetreuung bewegt sich vieles. Wir sind noch nicht am Ziel, aber auf einem guten Weg dorthin. Den Ausbau der Kindertagesstätten haben wir mit finanziellen Entlastungen der Kommunen flankiert. Überhaupt haben die Kommunen seit Amtsantritt von Angela Merkel eine erhebliche Entlastung erfahren. Der Schlüssel für mehr Familienzeit, die der Achte Familienbericht der Bundesregierung einfordert, liegt auch in der besseren finanziellen Ausstattung der Kommunen, damit diese ihre Aufgaben wie die Kindertagesbetreuung besser wahrnehmen können. Wir als Union haben nicht nur dafür gesorgt, dass der Bund die Kosten für die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung übernimmt, sondern wir zahlen den Kommunen von 2015 bis 2017 zusätzlich 1 Milliarde Euro pro Jahr. Ein Meilenstein der Politik der Großen Koalition zur Entlastung der Kommunen wird zudem das geplante Bundesteilhabegesetz im nächsten Jahr werden. Dieses Gesetz wird die Kommunen im Bereich der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung aller Voraussicht nach um 5 Milliarden Euro entlasten. Durch die Entlastung der Kommunen wird Geld für weitere wichtige kommunale Aufgaben wie den Kindertagesbetreuungsausbau und den Erhalt von Schwimmbädern, Bibliotheken, Theatern und anderen Einrichtungen für Familien frei. Seit der Vorstellung des Achten Familienberichts der Bundesregierung sind zweieinhalb Jahre vergangen, aber die Zeit wurde von der CDU/CSU-geführten Bundesregierung gut und effizient genutzt. Das Elterngeld wurde um das Elterngeld Plus ergänzt. Der Kindertagesstättenausbau wurde weiter vorangetrieben. Familiäre Pflege wird auf neue, stabilere Füße gestellt. Die beste Familienpolitik ist eben die Politik, die Zeit für Familien schafft. Damit haben wir in den vergangenen Legislaturperioden bereits begonnen, und wir werden es in den kommenden Jahren konsequent fortführen. Ich freue mich mit Ihnen allen gemeinsam - in diesem Thema gibt es nämlich eine breite Übereinstimmung -, an diesem wichtigen Thema zu arbeiten und gemeinsam etwas für die Familien in unserem Land zu erreichen. Auch wenn ich ein Vertreter der Gattung „unverheiratet und kinderlos“ bin und viel Zeit habe, liegen mir die Familien nichtsdestotrotz sehr am Herzen. Herzlichen Dank und ein schönes Wochenende. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Gudrun Zollner, ebenfalls für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Gudrun Zollner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004455, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Gäste auf den Zuschauertribünen! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zeitpolitik ist heute als Teil von Gesellschaftspolitik nicht mehr wegzudenken. Unser Wohlstand bemisst sich nicht mehr nur am Bruttoinlandsprodukt. Vielmehr wird der Zugang zur Ressource Zeit ein immer wichtigerer Indikator für die Lebensqualität jedes Einzelnen. Jeder Einzelne von uns empfindet Zeit anders, je nachdem, in welcher Lebensphase er sich gerade befindet. Ich möchte mich deshalb bei der ehemaligen Familienministerin Kristina Schröder nicht nur für die Erstellung des Achten Familienberichts bedanken, sondern auch dafür, dass sie dieses wichtige Thema Zeit in den Fokus gerückt hat. Für kinderlose Paare ist der Faktor Zeit ein ganz wichtiger Aspekt bei der Entscheidung für oder gegen Nachwuchs geworden. Nach neuesten Studien sehen es 85 Prozent der Menschen in Deutschland als wichtig an, eigene Kinder zu haben. Wenn allerdings fehlende Zeit dazu führt, sich gegen Nachwuchs zu entscheiden, wird mittel- und langfristig unsere gesamte Gesellschaft darunter leiden. Gerade im Zusammenspiel von Familie und Beruf kommt Zeitknappheit eine entscheidende Rolle zu. Durch die steigende Erwerbstätigkeit von Frauen und Müttern ist die Bewältigung von Zeitkonflikten zu einer zentralen Herausforderung geworden. Besonders Familien brauchen Zeit, um sich als solche erfahren zu können. Zeitkonflikte haben aber nicht nur im familiären Bereich negative Folgen, sie führen auch zu erheblichen gesamtpolitischen und gesamtwirtschaftlichen Konsequenzen. Deshalb muss es auch der Wirtschaft wichtig sein, eine familienfreundliche Unternehmenskultur anzubieten. ({0}) Die Erwerbsarbeit ist heute der wichtigste externe Taktgeber für die Zeitgestaltung innerhalb der Familie. Deshalb ist es für eine nachhaltige Familienpolitik entscheidend, die Arbeitszeit auf der einen Seite und die Zeit mit der Familie auf der anderen Seite in Einklang zu bringen. Wir müssen Frauen und Männern, Müttern und Vätern alternative Karrierepfade anbieten, um auf allen Hierarchieebenen arbeiten zu können. ({1}) Führungsaufgaben und Familienzeit dürfen sich nicht länger gegenseitig ausgrenzen. Zudem muss Vereinbarkeit von Familie und Beruf auch beim Übergang der Kinder in die Schule gewährleistet sein. Kinder hören im Alter von sechs Jahren nicht auf, Kind zu sein. Besonders für Alleinerziehende ist das ein entscheidender Punkt. Der Familienbericht verweist zu Recht darauf, dass vor allem sie unter Zeitdruck und Zeitkonflikten leiden. Die 1,6 Millionen Alleinerziehenden mit ihren 2,2 Millionen Kindern sind auch Familie. Sie sind EinEltern-Familien und bedürfen unserer besonderen Unterstützung. Laut den Familienleitbildern sehen übrigens 88 Prozent der deutschen Bevölkerung auch eingetragene Lebenspartnerschaften mit Kindern als Familie. Ich möchte noch einen Punkt betonen, der mir selber sehr am Herzen liegt. Zeitpolitik und Zeitsouveränität müssen auch zum Ziel haben, den Menschen zu ermöglichen, ihre Lebensplanung selbstverantwortlich zu gestalten. Dazu gehört auch, die Entscheidung zu akzeptieren, dass eine Mutter oder ein Vater zu Hause bleibt, um sich ausschließlich um die Erziehung der Kinder zu kümmern. Die vielen jungen Väter, die sich ganz bewusst für mehr Zeit für ihre Kinder entscheiden, unterstützen wir durch das heute verabschiedete Elterngeld Plus, mit dem wir auch den Empfehlungen des Achten Familienberichts Rechnung tragen. ({2}) Politik, Wirtschaft und Gesellschaft - es ist unsere gemeinsame Aufgabe, Familien zu schützen und zu unterstützen, die Rahmenbedingungen für mehr Zeitsouveränität zu schaffen, die in, mit und um Familien erbrachten Leistungen mehr anzuerkennen. Das müssen unsere primären Handlungsziele sein. Es darf nicht so weit kommen wie in den USA, wo Firmen wie Facebook und Apple die Möglichkeit des Social Freezing anbieten. Das Einfrieren von Eizellen löst keinesfalls Probleme bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder trägt zur Entzerrung der sogenannten Rushhour des Lebens bei. ({3}) Nicht die Frauen müssen sich den Firmen anpassen, sondern die Firmen - wie beispielsweise Facebook und Google - den Frauen. ({4}) Der richtige Ansatz ist vielmehr, eine familienfreundliche Arbeitswelt zu schaffen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Zollner, ich störe ungern, aber die Uhr vor Ihnen zeigt Ihnen unmissverständlich an, wie viel Zeit Sie schon überschritten haben. Kommen Sie also bitte zum letzten Satz.

Gudrun Zollner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004455, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aus diesem Grund gehört Familienzeitpolitik als wichtiges Politikfeld in das Zentrum unserer familienpolitischen und wirtschaftspolitischen Arbeit in dieser und weiteren Legislaturperioden. Hierfür gibt der Achte Familienbericht wichtige Impulse. ({0}) Vielen herzlichen Dank und allen ein gutes und hoffentlich schnelles Nachhausekommen. Danke schön. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/9000 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Vizepräsidentin Petra Pau Ich rufe die Tagesordnungspunkte 34 a bis 34 c auf: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch, Heidrun Bluhm, Caren Lay, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform der Liegenschaftsveräußerungen ({0}) Drucksache 18/2882 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss ({1}) Innenausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Finanzausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({2}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Heidrun Bluhm, Caren Lay, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Sofortiges Moratorium für die Wohnungsund Grundstücksverkäufe durch die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Tobias Lindner, Christian Kühn ({3}), Lisa Paus, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Moratorium beim Verkauf von Wohnim- mobilien in Städten mit angespanntem Wohnungsmarkt durch die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben Drucksachen 18/1952, 18/1965, 18/2908 c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Christian Kühn ({4}), Dr. Tobias Lindner, Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Für eine nachhaltige und zukunftsweisende Liegenschaftspolitik des Bundes Drucksache 18/3044 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss ({5}) Innenausschuss Sportausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Heidrun Bluhm für die Fraktion Die Linke. ({6})

Heidrun Bluhm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003740, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen der Koalition - ich wende mich jetzt zunächst einmal insbesondere an Sie -, ich bin sehr gespannt, wie Sie heute begründen wollen, warum Sie weiter fleißig zum Höchstgebot Wohnungen durch die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben verkaufen lassen, obwohl Wohnungsknappheit und steigende Mieten in vielen deutschen Groß- und Hochschulstädten längst zu einer alltäglichen Realität geworden sind. Nichtsdestotrotz begrüße ich natürlich auch die Kolleginnen und Kollegen von den Grünen. ({0}) Die Folgen treffen schon lange nicht mehr nur einkommensschwache Mieterhaushalte, sondern auch viele von denen, die sich selbst als gutsituiert und gutbürgerlich bezeichnen würden. Die Linke hat die kritische Situation und die rasante Zuspitzung des Angebots und der Nachfrageverhältnisse auf den Wohnungsmärkten in den zurückliegenden Jahren immer wieder benannt. Wir haben schon vor langer Zeit begonnen, in Anträgen aufzuzeigen, was zu tun ist, um das zu ändern. ({1}) Die Antwort der Bundesregierung, egal ob Große Koalition oder die Koalition von CDU/CSU und FDP, war in leichter Variation immer die gleiche: Die Wohnungsversorgung in Deutschland ist gut, und der Markt wird es schon richten. ({2}) Diese jahrelange Ignoranz und geradezu religiöse Marktgläubigkeit sind neben dem aktiv praktizierten Privatisierungswahn ursächlich für die nicht gelösten Wohnungsprobleme und für das Entstehen der jetzt nicht mehr zu versteckenden Zuspitzung in Großstädten wie Hamburg und Berlin. Vor ein paar Tagen haben wir die Bundesregierung aufgefordert, wirksam gegen Wohnungsnot und Mietwucher in den Studentenstädten vorzugehen. Gerade gestern haben Sie beschlossen, dass in diesen Städten nun Asylsuchende und Flüchtlinge wegen der Wohnungsnot wahrscheinlich auch in Gewerbegebieten untergebracht werden. Ich stelle fest: Auch diese Bundesregierung will keine Probleme lösen. Sie will sie bestenfalls verharmlosen und wegdelegieren. ({3}) Dabei könnte der Hendricks’sche wohnungspolitische Dreiklang aus Wiederbelebung des sozialen, aber toten Wohnungsbaus, einer Investitionsoffensive und flankierenden mietrechtlichen Regelungen eigentlich wirklich etwas bewegen. ({4}) Aber da klingt nichts. Ich höre keine Sinfonie, und ich sehe auch keine Bewegung. Nun haben wir mit unserem Antrag „Sofortiges Moratorium für die Wohnungs- und Grundstücksverkäufe durch die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben“ die Bundesregierung aufgefordert, einfach einmal nichts zu tun, einfach einmal die Füße stillzuhalten. Wenigstens das sollte ihr doch gelingen. ({5}) Aber nein! Dabei könnte die Bundesregierung an dieser Stelle sozusagen mit hauseigenen Mitteln ein ganz klein wenig, sozusagen als wichtiges Signal, zur Entspannung der Mietensituation in extrem angespannten Wohnungslagen beitragen, damit nicht, wenn die Regierung doch noch aufwacht - ups! -, plötzlich alles weg ist, was den Mieterinnen und Mietern in diesem Land, was dem Gemeinwohl helfen könnte, statt zu sagen: Da schauen wir dann, wenn es soweit ist. Ich denke zum Beispiel an die 5 000 eigenen Wohnungen des Bundes hier in Berlin, die von der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben verwaltet werden. Sie selbst müssten nur Ihren Koalitionsvertrag ernst nehmen und Ihre eigene Bundesanstalt für Immobilienaufgaben veranlassen, das zu tun, was im Koalitionsvertrag steht, nämlich - ich zitiere -: „mit Rücksicht auf die vielen am Gemeinwohl orientierten Vorhaben der Kommunen, wie der Beschaffung von sozialem Wohnraum und einer lebendigen Stadt, eine verbilligte Abgabe von Grundstücken“ zu realisieren, ({6}) wenn auch nur bis maximal 100 Millionen Euro. Allein der aktuell laufende Verkauf von 48 Wohnungen in Berlin an der Großgörschenstraße bzw. Katzlerstraße, mit dem die BImA 7,1 Millionen Euro für das „Schäuble-Denkmal“, die schwarze Null, beisteuern soll, ist nicht nur ein Skandal, sondern ein weiterer Treibsatz für die überbordende Spekulation mit Wohnraum. 7,1 Millionen Euro für 48 Wohnungen, das ist das 39-Fache der jetzigen Jahresmiete! Kein seriöser Bestandshalter, der die Wohnungen innerhalb des Mietspiegels vermieten will, kann diesen Preis bezahlen. ({7}) Das können nur Finanzspekulanten, die diese Mietwohnungen für Superreiche zu Luxusappartements oder zu luxuriösen Anlageobjekten machen wollen. Die Bundesregierung weiß das; aber leider geht ihr wohl auch das am Allerwertesten vorbei. ({8}) Nun hat das Land Berlin der BImA einen Kaufantrag für deren gesamtes Berliner Portfolio vorgelegt. Bravo! Wir sind gespannt, wie weit die Kaufpreisvorstellungen wohl auseinandergehen werden und wie sich beide Großen Koalitionen - die eine im Land, die andere im Bund - da einigen. Ich glaube erst an eine Einigung, wenn die Tinte auf den Kaufverträgen trocken ist. ({9}) Heute schon wird zu bedenken gegeben, dass einem nicht marktgerechten Verkauf haushaltsrechtliche Vorschriften des Bundes und gar das europäische Beihilferecht entgegenstehen. Na, dann ändern wir das eben. ({10}) Deshalb bieten wir Ihnen heute mit unserem Entwurf eines Gesetzes zur Reform der Liegenschaftsveräußerungen einen Weg an, genau das zu tun. Die Linke weiß, dass die Bundesregierung viel zu tun hat. Deswegen haben wir ihr an dieser Stelle schon einmal einen Vorschlag gemacht, der dabei helfen kann, das umzusetzen, was sie immer behauptet, tun zu wollen. Sie werden damit Ihrem Koalitionsvertrag gerecht und liefern endlich den Beweis, dass es Ihnen ernst ist mit dem Bündnis für bezahlbares Wohnen. Herzlichen Dank. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Norbert Brackmann für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Norbert Brackmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004017, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schon beim Beitrag der Kollegin Bluhm eben ist ein Stück weit deutlich geworden, worüber wir heute reden bzw. nicht reden. In der Tagesordnung ist angekündigt: Liegenschaftspolitik. Sie haben hier gesprochen über Immobilienpolitik ({0}) mit Schwerpunkt hier auf Berlin. Da machen wir schon sehr feine Unterschiede. Denn wenn wir über Liegenschaftspolitik reden, dann reden wir nicht über ein herrenloses Vermögen, das herumliegt und mit dem wir in irgendeiner Form spielen können, sondern über ein Vermögen des Bundes; dieses Vermögen des Bundes ist das Vermögen des Steuerzahlers. Und mit dem Vermögen des Steuerzahlers haben wir ordentlich umzugehen. ({1}) So wie hanseatische Kaufleute damit umgehen würden, müssen auch wir mit diesem Vermögen umgehen und als Wahrer dieses Vermögens dafür sorgen, dass es uns erhalten bleibt. Das ist der erste Punkt. Der zweite Punkt, auf den ich eingehen möchte, sind die gesetzlichen Rahmenbedingungen, die wir selbst als Gesetzgeber uns gesetzt haben.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Brackmann, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Paus?

Norbert Brackmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004017, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne.

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Kollege Brackmann, Sie sind ja im Haushaltsausschuss, und im Haushaltsausschuss werden die Einzelpläne behandelt. Da gibt es auch in einem Einzelplan einen Titel zur Stadtentwicklung. Da beraten Sie unter anderem über Städtebauförderungsprogramme. Von daher wissen Sie, dass sozialer Wohnungsbau in Deutschland zurzeit zu wenig stattfindet, dass in den Ballungsräumen über Jahre zu wenig investiert worden ist. Das ist also ein Thema, das aktuell auch bei Ihnen diskutiert wird. Finden Sie nicht, dass es richtig wäre, wenn sich der Bund bei der Veräußerung einer Mietimmobilie anders verhalten würde als die normalen privaten allgemein bekannten Spekulanten im Land Berlin? ({0}) Finden Sie nicht, dass der Bund berücksichtigen sollte, dass ihm, wenn er auf der einen Seite Einnahmen dadurch erzielt, dass er sich nicht entsprechend dem verhält, was im Grundgesetz festgeschrieben ist, nämlich für das Gemeinwohl zu sorgen, auf der anderen Seite zusätzliche Ausgaben entstehen? ({1})

Norbert Brackmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004017, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin mit Ihnen der Auffassung, dass wir mit der Wohnungsbauförderung in dem Einzelplan dafür sorgen müssen, dass bezahlbarer Wohnraum bei uns geschaffen und erhalten wird. ({0}) Das ist eine wichtige Aufgabe, die der Bund auch wahrnimmt. Allein im Haushalt 2015 werden wir den Ländern, den Kommunen 518 Millionen Euro für die Förderung von sozialem Wohnungsbau bereitstellen - und das, obwohl nach der Zuständigkeitsregelung zwischen Bund, Ländern und Kommunen, die im Grundgesetz verankert ist, Wohnraumpolitik Aufgabe der Länder ist. Die Länder haben Wert darauf gelegt, dass sie das auf Länderebene, auf kommunaler Ebene machen, und das ist auch richtig so, weil die Wohnungsbausituation in Berlin natürlich eine andere ist als in Hintertupfingen. Aus diesem Grund ist das eine gute, eine kluge Politik, bei der die Länder und Kommunen vom Bund nachhaltig unterstützt werden. Ich fahre in meiner Rede fort. - Liegenschaftspolitik muss deshalb darauf basieren, Mittel zu organisieren, damit wir zum Beispiel im Rahmen der Städtebauförderung entsprechende Politik gestalten können. Deswegen kommt es darauf an, dass wir uns hier im Bundestag über die Aufgabenteilung verständigen. Auf der einen Seite müssen wir als Haushälter, als Vermögensverwalter dafür sorgen, dass wir Einnahmen haben, damit auf der anderen Seite die Fachpolitiker Probleme lösen können. Das ist auch ein Stück Haushaltswahrheit und Haushaltsklarheit. Deswegen müssen wir bei unserer Vermögenspolitik genau so vorgehen, wie im Übrigen auch die Länder vorgehen. Ich darf mich da noch einmal auf die Linken beziehen. In § 63 Landeshaushaltsordnung Brandenburg ist dieselbe Regelung enthalten, wie wir sie im Bund haben. Auch Brandenburg veräußert Liegenschaften vorschriftsgemäß zum vollen Wert. Insofern steht die Politik, die Sie hier vertreten, im Gegensatz zu Ihrem eigenen Handeln in Brandenburg. ({1}) Das, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ist in sich widersprüchlich. Da ist es sehr wohlfeil, hier aufzutreten und zu sagen: Macht auf Bundesebene etwas anderes! Vor diesem Hintergrund wäre es, wenn wir Vermögen des Bundes verkaufen, wenn wir Wohnungen verkaufen, auch wettbewerbsrechtlich, beihilferechtlich ein Problem bzw. würde uns große Sorgen machen, wenn wir an dieser Stelle Sonderkonditionen für einzelne Aufgaben und für einzelne Zwecke anböten. Sie haben weiterhin behauptet, Frau Kollegin Bluhm, der Bund hätte das Potenzial, mit den 5 100 Wohnungen in Berlin die Wohnungspolitik in Berlin aktiv mitzugestalten. Diese 5 100 Wohnungen, die der Bund in Berlin hält, sind exakt 0,3 Prozent des Wohnungsbestands in Berlin. ({2}) Wenn Sie mir sagen wollen, dass damit großartig Wohnungspolitik hier in Berlin gemacht werden kann, ({3}) dann geht das am Thema wesentlich vorbei. ({4}) Der Wohnungsmarkt hier ist dramatisch größer. ({5}) Dann setzen Sie in Ihrem Gesetzentwurf noch einen obendrauf, und das entlarvt Sie, glaube ich, vollends. In Ihrem Gesetzentwurf wollen Sie regeln, dass Verkäufe nicht stattfinden dürfen; es sei denn zum Beispiel an besonders geförderte Kommunen oder landeseigene Gesellschaften. ({6}) - Die machen sozialen Wohnungsbau wie andere auch, aber dies - so hat es Berlin für sich entschieden - in Form einer Aktiengesellschaft, also gewinnorientiert. Und dann wollen Sie sie bezüglich des vom Bund gekauften Wohnraums vom Weiterveräußerungsverbot ausnehmen. Das heißt, dass die landeseigene Gesellschaft mit dem ehemaligen Bundesvermögen Gewinn machen kann. Und dann schreiben Sie noch - weil Ihnen selbst das ja bewusst ist -, dass dem Bund ein Vorkaufsrecht eingeräumt wird, und zwar zu dem Preis, der am Markt erzielt würde. Sie glauben doch selbst nicht, dass wir am Anfang vergünstigt Grundstücke an diese Aktiengesellschaft übertragen und hinterher, wenn ein Gewinn am Markt erzielt werden kann, ein Vorkaufsrecht ausüben, über das wir die Gewinnmarge auch noch zahlen. Da würden wir zu Recht nicht nur vom Bundesrechnungshof, sondern wohl zuallererst auch von Ihnen angegriffen, dass wir das Vermögen des Bundes verschleudert hätten. Das, meine lieben Damen und Herren, kann doch nicht Ziel der Politik des Bundes sein, die auf Nachhaltigkeit gerade für die Schichten ausgerichtet ist, für die Sie vorgeben zu kämpfen, so etwas zu unterstützen. Im Übrigen unterstützt der Bund die Kommunen mit seiner Politik aktiv. Wir haben das Erstzugriffsrecht beschlossen, das es den Ländern und Kommunen ermöglicht, Immobilien gerade nicht zu Konditionen des freien Marktes zu erwerben, sondern zum Gutachterwert. Sie selbst haben ja das Beispiel Großgörschenstraße angesprochen. Da hat die landeseigene gewinnorientierte Gesellschaft einen Preis geboten, der deutlich unter dem Verkehrswert lag. Klar, sie will - das muss sie nach dem Gesetz ja auch - damit Gewinn machen. Wir haben gesagt: Nein, das geht nicht; wir verlagern diese Aufgabe nicht. Wir führen stattdessen das Erstzugriffsrecht ein. Dieses Erstzugriffsrecht erweist sich bundesweit als hervorragendes Modell - einige Hundert Gemeinden haben davon schon Gebrauch gemacht -, und auch der designierte Bürgermeister der Stadt Berlin, der Stadtentwicklungssenator Müller, hat jetzt einen solchen Antrag gestellt, weil er erkannt hat, dass es die einzig vernünftige Lösung ist, wenn man vom Preis des freien Marktes weg will, zum Gutachterwert zu erwerben. Deswegen hat er dem Bund angeboten, alle infrage kommenden Berliner Flächen zu erwerben. Diese Wohnungsbaupolitik ist, glaube ich, für die Kommune, für das Land Berlin, genau richtig. Wir als Bund werden dieses Bemühen unterstützen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Brackmann, gestatten Sie eine weitere Bemerkung oder Zwischenfrage der Kollegin Paus? - Ich mache aber gleich darauf aufmerksam, dass das die letzte Zwischenfrage ist, die ich zumindest aus Ihren Reihen zulassen werde.

Norbert Brackmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004017, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dann lasse ich sie besonders gerne zu. ({0})

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Brackmann, Sie haben gerade ein bisschen insinuiert, dass die landeseigene Berliner Gesellschaft einen Preis geboten hätte, über den sie einen hohen Gewinn und der Bund einen hohen Verlust machen würde. Das möchte ich richtigstellen: Ich glaube, wir beide wissen, dass die Gesellschaft einen an den Bestandsmieten und am Mietpreisspiegel orientierten Preis geboten hat. Es ging nicht darum, Gewinn zu machen. Das Wertgutachten hatte offenbar eine andere Grundlage. Sind Sie nicht mit mir zusammen der Meinung, dass es richtig wäre - gerade auch mit Blick darauf, dass wir in den nächsten Wochen über das Thema Mietpreisbremse und die Frage der Verdrängung und Gentrifizierung usw. diskutieren werden -, wenn auch für den Bund der Standard gelten würde, ein Objekt dann nicht zu verkaufen, wenn feststeht, dass alle Mieterinnen und Mieter, die sich derzeit in diesem Mietobjekt befinden, das Objekt nach dem Verkauf definitiv verlassen müssen? Außerdem würde mich in diesem Zusammenhang Folgendes interessieren: Ich kenne keinen Experten, der nachvollziehen kann, wie dieses Wertgutachten auf einen Wert von 7,1 Millionen Euro für diese Immobilie gekommen ist. Wir haben mehrfach angefragt, ob wir dieses Wertgutachten bekommen können. Der zuständige Staatssekretär hat im Bauausschuss ebenfalls gesagt, dass er mehrfach versucht hat, dieses Wertgutachten aus dem zuständigen Ministerium zu erhalten, um sich ein eigenes Bild darüber machen zu können. Denn niemand kann verstehen, wie dieses Wertgutachten auf den Betrag von 7,1 Millionen Euro kommt. Bisher liegt uns das nicht vor. ({0}) Wenn Sie jetzt darauf rekurrieren, dass das richtig sei und dass andere das hätten anerkennen müssen, dann frage ich Sie: Können Sie mir erklären, wie diese 7,1 Millionen Euro zustande kommen und ob das ein adäquater Preis ist? Wir jedenfalls können das nicht nachvollziehen und sagen: Es ist kein adäquater Preis, und es ist richtig gewesen von der landeseigenen Gesellschaft - nicht aus Gewinninteresse heraus, sondern im Sinne und zum Schutz der Mieterinnen und Mieter -, diese 7,1 Millionen Euro nicht zu akzeptieren, sondern einen angemessenen Kaufpreis zu fordern, der so hoch ist, dass die Menschen, die jetzt dort wohnen, dort auch tatsächlich wohnen bleiben können.

Norbert Brackmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004017, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Erster Punkt. Zu dem Gutachten selbst kann ich Ihnen natürlich nichts sagen, weil es ein laufendes Verfahren ist ({0}) und ich im Übrigen das Gutachten im Detail auch nicht kenne. Es wäre auch unredlich, in einem laufenden Verfahren ein solches Gutachten einigermaßen öffentlich auf den Markt zu geben. Aber ganz falsch, Frau Kollegin, kann das Gutachten nicht sein. Nehmen wir einmal die anderen öffentlich gewordenen oder zumindest in unseren Kreisen öffentlich gewordenen Zahlen: Einmal haben wir diese 7,1 Millionen Euro laut Gutachten; dann haben wir das millionenbeschwerte, aber geringere Angebot - die Zahl nenne ich jetzt einmal nicht -, ({1}) das die landeseigene Berliner Gesellschaft abgegeben hat; und schließlich einen Wert, der auf dem Markt erzielt werden könnte ({2}) er scheint ja bekannt zu sein; er soll beim 39-Fachen des Mietwertes liegen -, der also, wenn ich das einmal hochrechne, bei 9 Millionen Euro liegt. Wenn nun der im Gutachten genannte Wert genau in der Mitte zwischen Höchstwert und dem niedrigeren Angebot liegt, spricht das zumindest dafür, dass das Gutachten nicht völlig daneben liegt. Deswegen habe ich auch gar keinen Grund, dieses Gutachten anzuzweifeln. ({3}) Damit sind wir beim nächsten Punkt. Wo wird eigentlich wie Wohnungsbaupolitik gemacht? Ich hatte bereits gesagt, dass wir nicht nur Geld zur Verfügung stellen - ich habe diese 518 Millionen Euro genannt, die wir 2015 überweisen -, sondern trotz der bewussten Entscheidung, eine Aufgabenteilung vorzunehmen und die Wohnungsbaupolitik in die Zuständigkeit der Länder und Kommunen zu geben, den Kommunen und Ländern auch eine ganze Reihe von Handlungsoptionen mit auf den Weg gegeben. Es gibt Umwandlungsverbote, Milieuschutzsatzungen und Zweckentfremdungsverbote. Vor einigen Monaten haben wir hier mit der Mietpreisbremse auch noch eine weitere Möglichkeit geschaffen. Es ist also ein großes Repertoire, das den Kommunen und Ländern zur Verfügung steht, um in ihrer Zuständigkeit aktiv Wohnungsbau- und Mietpreispolitik zu betreiben. ({4}) Das sollte man als allererstes nutzen, um Einfluss zu nehmen. ({5}) Außerdem sollte man sich darum bemühen, den Bau von Wohnungen so voranzutreiben, dass er sich lohnt - auch in großen Städten und nicht nur auf dem flachen Land -, ({6}) und so für den entsprechenden Zuwachs an Wohnungen sorgen. Ein weiterer Punkt betrifft uns alle gemeinsam. Hier geht es um Haushaltswahrheit und Haushaltsklarheit. ({7}) Wo kämen wir hin - ich könnte damit im Zweifel noch leben und meine Kolleginnen und Kollegen im Haushaltsausschuss auch -, wenn wir im Haushaltsausschuss das, was Sie für die Wohnungspolitiker fordern - es wäre ein Leichtes, die Umweltpolitiker zu ermuntern, uns aufzufordern, dass wir auch noch etwas Umweltpolitisches machen und Ähnliches -, für uns in Anspruch nehmen würden? Dann würden all diese inhaltlichen Fragen in den Haushaltsausschuss verlagert und wir würden entscheiden, wer wo etwas günstiger bekommt. ({8}) - Der Kollege Dr. Krüger lacht schon. Wir haben da also ein ähnliches Verständnis. - Wir würden uns also nicht zwingend dagegen wehren, aber es wäre unkorrekt; denn es gäbe dann keine Haushaltswahrheit und keine Haushaltsklarheit mehr. Aber so wie das Verständnis der Arbeit in diesem Parlament ist, auch völlig zu Recht ist, ist es unsere Aufgabe im Haushaltsausschuss, das Vermögen zu erhalten und zu mehren, ({9}) damit an anderer Stelle die Fachpolitiker mit den Mitteln, die das Parlament ihnen zur Verfügung stellt, in den einzelnen Bereichen, für die sie da sind, das Optimale tun können. ({10}) - Auch wenn Sie sich nicht zu Wort gemeldet haben: Die 100 Millionen Euro für die Konversionsflächen haben einen völlig anderen Hintergrund, nämlich den Kommunen vor dem Hintergrund der Lasten, die durch die Konversion entstehen, zu helfen, umzustrukturieren. Aber das ist keine Politik, die inhaltlich dazu führt, dass wir Kommunen überfordern, überfrachten oder Ähnliches. ({11}) Nach dem Baurecht liegen alle diese Zuständigkeiten bei den Kommunen. Daran will diese Koalition auch nichts ändern; denn das ist gut, das ist richtig so, und das lenkt die Entscheidungskraft dahin, wo von ihr Gebrauch gemacht werden muss. ({12}) Das ist klassische kommunale Selbstverwaltung. ({13}) Deswegen - damit möchte ich heute schließen - ist es nicht der richtige Weg, über Verbilligung von Grundstücken, über Verbilligung von Wohnungsverkäufen und über Subventionierung des Preises den Versuch zu machen, mittelbar eine Art Mietpreisbremse einzuführen. Wir sind der Meinung: Wenn man das machen will, dann muss das so gemacht werden, dass man die vielfältigen Möglichkeiten der Schaffung neuen Wohnraums wahrnimmt. Dabei unterstützt der Bund. Bei der Attraktivitätssteigerung von Wohnraum unterstützt der Bund. Die Neuschaffung von Wohnungen kann nach Bau- und Planungsrecht nur von den Gemeinden gemacht werden. Wenn jeder, der daran beteiligt ist, gemeinsam mit uns an einem Strick ziehen würde, dann würden wir für die Mieter in unserem Land viel mehr bewegen als mit solchen Vorlagen, die nichts anderes sind als Schaumschlägerei. Danke schön. ({14})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Christian Kühn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Christian Kühn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004333, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Brackmann, erst einmal stelle ich fest, dass Sie 17 Minuten Zeit hatten, dass Sie eine reine haushalterische Rede gehalten haben und heute kein Wohnungspolitiker und kein Baupolitiker der Union zu einem zentralen Thema der Bau- und Wohnungspolitik spricht. Das zeigt, welchen Stellenwert Bauen und Wohnen bei der Union hat, nämlich gar keinen. ({0}) Zweitens stelle ich fest, dass Sie die Verbindung zwischen dem Kaufpreis für den Erwerb von Immobilien und den Folgen auf den Wohnungsmärkten zumindest ignorieren. Ich finde, dies ist eine Grundvoraussetzung, um Wohnungspolitik betrachten zu können. Liegenschaftspolitik ist im Kern Wohnungs- und Baupolitik. Das können Sie auch mit Ihrer 17-minütigen Rede, die Sie gehalten haben, nicht einfach wegwischen. ({1}) Ich will Ihnen weiterhin sagen: Wenn Sie als Union bei der Liegenschaftspolitik in der Form weitermachen und rein auf die Gewinnmaximierung setzen, werden Sie in der Wohnungs- und Baupolitik am Ende versagen und nichts Richtiges hinkriegen. Ich sage Ihnen außerdem: Bei den Konversionsliegenschaften machen Sie ja etwas für die Kommunen, weil Sie die Kommunen da unterstützen wollen. Aber es gibt auch andere Handlungsfelder bzw. Probleme der Kommunen, die man dringend angehen muss, beispielsweise die angespannten Wohnungsmärkte und die Herausforderung, dass Kommunen jetzt viele Flüchtlinge unterbringen müssen und händeringend nach Flächen suchen. Überall dort müssen Sie als Bund das Instrument Bundesanstalt für Immobilienaufgaben einsetzen. Das tun Sie nicht. Deswegen versagen Sie bei diesen Aufgaben und machen im Kern, so finde ich, eine neoliberale Liegenschaftspolitik statt eine verantwortliche Bau- und Wohnungspolitik. ({2}) Bei der Großgörschenstraße setzen Sie - das sage ich Ihnen auch - auf den Höchstpreis. Das ist skandalös. Gerade die Großgörschenstraße liegt in einem Wohnungsmarkt, der einer der dynamischsten in ganz Deutschland ist. Da heizt der Bund nun mit dem Verkauf zum absoluten Höchstpreis die Spirale, die dort entsteht, noch weiter an. Einerseits lassen Sie sich heute als Große Koalition im Bundesrat als Anwälte der kleinen Mieterinnen und Mieter feiern und sagen: „Wir tun doch etwas dafür“, andererseits heizen Sie solche Preisspiralen mit Ihrer Liegenschaftspolitik an. Das passt nicht zusammen. So wird die Mietpreisbremse, die sowieso schon durchlöchert ist, zu einer reinen Alibiveranstaltung. So werden Ihre Wohnungspolitik und ihre Baupolitik zu einer Alibiveranstaltung. ({3}) Ich fordere Sie deswegen auf: Ändern Sie § 1 BImAGesetz. Nehmen Sie dort städtebauliche Kriterien hinein. Nehmen Sie wohnungspolitische Ziele hinein, und ändern Sie die Haushaltsordnung. Lassen Sie die Liegenschaftspolitik nicht zu einem reinen Gnadenakt werden. Ich habe gehört, es soll ein Spitzengespräch wegen der Großgörschenstraße geben. Ich finde, Liegenschaftspolitik darf nicht davon abhängen, ob ein Finanzminister den Daumen nach oben hält oder nach unten senkt. Es muss vielmehr um strukturelle Fragen, um städtebauliche Fragen und um wohnungsbaupolitische Fragen gehen. ({4}) In unserem Antrag fordern wir ein umfassendes Konzept zur Liegenschaftspolitik, das zeigt, wie auf der einen Seite haushalterische Fragen und auf der anderen Seite strukturelle wie städtebauliche und wohnungspolitische Fragen berücksichtigt werden können und wie ein effektiver Mieterschutz gewährleistet werden kann. Daran sollten Sie sich orientieren. Ihre Rede, Herr Brackmann, hat ganz klar gezeigt, dass Sie sich in der Großen Koalition überhaupt nicht einig sind. Sie sind sich auch in der Union nicht einig; das merke ich, wenn ich mit Ihren Kollegen aus Berlin spreche. ({5}) Sie versagen einfach in der Wohnungspolitik und der Liegenschaftspolitik in Gänze. Christian Kühn ({6}) Wir haben auch ein Verkaufsmoratorium beantragt. Das wäre das Geringste, das Sie tun könnten, um die Wohnungsmärkte zu entspannen. Auch das tun Sie nicht. Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen haben die Dinge in ihren Haushaltsordnungen geändert. Dort werden heute auch Konzeptvergaben und die Berücksichtigung städtebaulicher Kriterien ermöglicht. Daran sollte sich der Bund orientieren. In diesen Ländern wird eine gute Bau- und Wohnungspolitik gemacht - auf Bundesebene leider nicht, weil Sie von der Union es blockieren. ({7}) Ich höre von Ihnen immer: Die Haushaltsordnung steht dem Ganzen entgegen. - Haben Sie doch einfach mal ein bisschen Mut! Wir hier im Parlament können die Haushaltsordnung ändern. Das Europarecht steht dem auch nicht entgegen; das hat uns der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages bestätigt. ({8}) Ich sage Ihnen ganz klar: Sie können heute hier in der Großen Koalition Farbe bekennen und sich entscheiden, ob Sie eine andere Liegenschaftspolitik machen wollen oder eben nicht. Ich glaube, Sie werden wieder sagen: Nein, wir lassen alles so, wie es ist. - Damit versagen Sie in der Liegenschaftspolitik. Damit lassen Sie die Mieterinnen und Mieter in Deutschland im Regen stehen. 40 000 Wohnungen gehören dem Bund, gerade in Gebieten mit angespannten Wohnungsmärkten; das ist mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Damit können Sie den Mieterinnen und Mietern etwas geben und auch wirklich dafür sorgen, dass sie weiterhin zu bezahlbaren Preisen vernünftig wohnen können. Das wollen Sie nicht. Insofern versagen Sie hier. Sie von der Großen Koalition versagen in der Liegenschaftspolitik, und Sie versagen in der Wohnungsbaupolitik leider in Gänze. Danke schön. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Hans-Ulrich Krüger für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Hans Ulrich Krüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003575, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für uns Sozialdemokraten ist es gute Tradition, bezahlbaren Wohnraum zu schaffen, auch und gerade für Menschen, die nicht viel Geld im Portemonnaie haben. Es ist nicht in Ordnung, wenn viele Menschen 50 Prozent und mehr ihres Nettogehaltes für einigermaßen vernünftiges Wohnen ausgeben müssen. Gegen diese Entwicklung haben wir bereits einiges getan. So haben wir im Kabinett die Mietpreisbremse beschlossen; sie wurde eben schon angesprochen. Damit wird ab 2015 die Miete in angespannten Märkten nur noch maximal 10 Prozent über der ortsüblichen Vergleichsmiete liegen dürfen. Im Haushalt 2014 haben wir bereits die Städtebauförderungsmittel von 455 auf 700 Millionen Euro erhöht. Damit kann der Investitionsbedarf bei den vordringlichen städtebaulichen Innovationsprojekten in den Kommunen abgedeckt werden. Darüber hinaus entwickeln wir das Programm „Soziale Stadt“ mit 150 Millionen Euro zum Leitprogramm der sozialen Integration. Damit unterstützen wir die Stabilisierung und Aufwertung strukturschwacher Stadt- und Ortsteile. Nun liegen uns heute hier ein Gesetzentwurf der Linken und Anträge der Grünen und der Linken vor, bei denen man nach Lektüre den Eindruck gewinnen kann, dass bezahlbarer Wohnraum deshalb knapp wird, weil die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben ihre gesetzliche Pflicht wahrnimmt und nicht mehr benötigte bundeseigene Wohnungen zum entsprechenden Marktwert verkauft. Fakt ist in der Tat, dass die BImA als zuständige Bundesbehörde für die Verwertung der vom Bund nicht mehr benötigten Bundesliegenschaften - zurzeit bundesweit circa 70 000 Wohnungen - eine besondere Verantwortung für den Immobilien- und den Wohnungsmarkt sowie die regionale Entwicklung hat. Dieser Verantwortung kommt sie im Rahmen ihres gesetzlichen Auftrags nach, sprich: nach dem geltenden Haushaltsrecht veräußert sie zum vollen Verkehrswert. Hierbei ist es auch heute schon in der Regel gute Tradition, dass die BImA die zu veräußernden Wohnungen entsprechend § 194 Baugesetzbuch zuerst den Kommunen und deren Wohnungsbaugesellschaften aufgrund einer entsprechenden Wertermittlung zum Verkehrswert anbietet. Hier ein Moratorium zu fordern, also ein Veräußerungsverbot, wie es die Anträge der Linken und der Grünen tun, ist meines Erachtens ein falscher Ansatz. Gerade einmal 0,3 Prozent des gesamten Wohnungsbestandes - die Zahl sprach eben schon jemand an - gehören der BImA in Berlin, 99,7 Prozent eben nicht. Aber wir müssen und sollen an alle betroffenen Mieterinnen und Mieter denken. Da ist die Fokussierung nur auf einen kleinen Teil der betroffenen Menschen eben nicht die Lösung, bei der wir haltmachen dürfen. Will man nämlich wirklich helfen, müssen die Instrumente, die Kommunen und Länder haben, auch genutzt werden. Gegebenenfalls müssen diese Instrumente geschaffen werden. Eine Zweckentfremdungsverbotsverordnung, die in aller Regel die Umwandlung in Ferienwohnungen kontrolliert, ist in diesem Zusammenhang sicherlich hilfreich. Sie bleibt aber nur Stückwerk, wenn sie nicht von einer Umwandlungsverordnung flankiert wird, mit der die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnung vor allen Dingen in Milieuschutzgebieten genehmigungspflichtig wird. ({0}) Auch sollte man die Rechte und Möglichkeiten des Baugesetzbuches nutzen. So schreibt zum Beispiel der Ihnen sicherlich bekannte § 172 Baugesetzbuch die Erhaltung baulicher Anlagen und der Eigenart von Gebäuden vor. Wörtlich heißt es dort - ich zitiere -: Die Gemeinde kann in einem Bebauungsplan oder durch eine sonstige Satzung Gebiete bezeichnen, in denen 1. zur Erhaltung der städtebaulichen Eigenart … 2. zur Erhaltung der Zusammensetzung der Wohnbevölkerung … oder 3. bei städtebaulichen Umstrukturierungen … der Rückbau, die Änderung oder die Nutzungsänderung … der Genehmigung bedürfen. Sie sehen also: Der Gesetzgeber, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat genügend Instrumente, um den Patienten „mangelnder Wohnraum“ mit bezahlbaren Mieten entsprechend versorgen zu können. ({1}) Fazit: Auf der einen Seite haben wir die Kommunen und die Länder, die die bestehenden gesetzlichen Instrumente des Baugesetzbuches nutzen bzw. diese per Umwandlungsverordnung schaffen müssen. Auf der anderen Seite haben wir den Bund, der mit Maßnahmen der Städtebauförderung, der Förderung des sozialen Wohnungsbaus, also mit einer aktiven Wohnungspolitik, diese Aufgabe unterstützt. In diesem Zusammenhang spielt die BImA die ergänzende wichtige Rolle, die man diskutieren und gegebenenfalls auch modifizieren darf. Ich verweise hier bereits auf einen Antrag der SPD aus der letzten Legislaturperiode, und zwar vom 12. Juni 2012, in dem bereits gefordert wurde, die Tätigkeit der BImA stärker als bisher an strukturpolitischen Zielsetzungen auszurichten. ({2}) Einen ersten Schritt, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben wir mit der Regelung im Koalitionsvertrag getan, indem wir 100 Millionen Euro bereitgestellt haben, um eine verbilligte Abgabe von Konversionsflächen an kommunale Träger zu ermöglichen. Hier müssen wir weiterarbeiten, und hier müssen wir Akzente setzen - in dem Bewusstsein, dass wir als Bund die Aufgabenerfüllung der Länder und Kommunen zwar unterstützen, aber nicht ersetzen können. Ich danke Ihnen. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Klaus Mindrup hat ebenfalls für die SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Klaus Mindrup (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004354, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, dass wir heute über Liegenschaftspolitik reden. Als langjähriger Kommunalpolitiker habe ich mich damit natürlich schon beschäftigt. Ich bin im Frühjahr nach Schöneberg gefahren, als mich die betroffenen Mieter dorthin eingeladen hatten, und habe das Gespräch gesucht. Wenn ich über die Liegenschaftspolitik rede, denke ich zuallererst an diese Menschen. Ich verstehe aber auch, dass wir über Zahlen reden müssen, wenn wir über Liegenschaftspolitik sprechen. Das möchte ich dankend aufgreifen. Laut der Bilanz der BImA lag der Wert der Grundstücke und der Gebäude, die sie verkaufen will, Ende 2013 bei 2 875 273 105,53 Euro. Das ist der geplante Erlös dessen, was die BImA laut Bilanz insgesamt über die Jahre veräußern will. Sie hatte im Jahr 2013 einen Umsatz von 4,8 Milliarden Euro gemacht. Allerdings stammten davon 4,2 Milliarden Euro aus Vermietung und Verpachtung und mit 440 Millionen Euro nur 9 Prozent aus dem Verkauf von Liegenschaften. An den Bundeshaushalt wurden 2,8 Milliarden Euro abgeführt. Das ist sechsmal so viel, wie aus Verkäufen eingenommen wurde. Warum nenne ich diese Zahlen hier? Manchmal hat man in der Diskussion den Eindruck, dass Wohl und Wehe des Bundeshaushalts an den Verkaufserlösen der BImA hängt und dass der Bundeshaushalt, wenn wir nicht zum Höchstpreis veräußern, an dieser Stelle ein Problem bekommt. Das ist offenbar eine deutliche Übertreibung. ({0}) Kommen wir nun zurück zu unseren Berliner Nachbarn, den Mieterinnen und Mietern der Katzlerstraße/ Großgörschenstraße. Sie haben Angst, dass sie aus ihren Wohnungen verdrängt werden. ({1}) Diese Sorge ist auch absolut berechtigt; denn in Deutschland hat sich nicht nur ein grauer Kapitalmarkt, sondern auch ein grauer Baumarkt entwickelt. Es ist Praxis, dass solche Häuser rücksichtslos und - was mindestens genauso schlimm ist - erfolgreich entmietet werden, um dann die Wohnungen als Eigentumswohnungen zu veräußern. Hier ist es Aufgabe der Politik, auf allen Ebenen tätig zu werden. ({2}) An dieser Stelle muss ich die CSU loben. Sie hat in Bayern eine Umwandlungsverordnung beschlossen, sodass man nicht mehr einfach ohne Genehmigung Mietwohnungen in Eigentumswohnungen umwandeln darf. ({3}) In der Pressemitteilung der Bayerischen Staatskanzlei vom 4. Februar 2014 heißt es wörtlich: Damit setzen wir nunmehr um, was wir vor den Landtagswahlen angekündigt haben und was im vergangenen Jahr am Widerstand der FDP gescheitert war. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sehe die FDP hier im Bund nicht mehr. Ich kann Ihnen aber sagen: Die SPD steht auf jeden Fall an der Seite derer, die eine soziale und zugleich wertkonservative Politik machen wollen. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Mindrup, gestatten Sie eine Bemerkung oder Frage der Kollegin Lötzsch?

Klaus Mindrup (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004354, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, bitte.

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herzlichen Dank, Herr Kollege. Ich will eine Zwischenbemerkung machen. Ich hoffe, dass Sie in der SPD miteinander kommunizieren. Falls Sie nicht miteinander kommunizieren sollten, darf ich Ihnen mitteilen, dass wir im Haushaltsausschuss - Herr Kühn, dort werden viele Fragen beraten, die uns alle betreffen, und darum können sich Haushälter auch zu diesen Fragen äußern; das nur als kleine Nebenbemerkung - über das Moratorium gesprochen haben. Der Vertreter der SPD, Johannes Kahrs, hat mehrmals gesagt: Leute, lasst uns diesen Antrag verschieben, wir kriegen schon eine gute Lösung hin. Nach zweimaligem Verschieben wurde das Thema auf die Tagesordnung gesetzt, und wir haben über das Moratorium abgestimmt. Die Vertreter der Koalition haben dagegen gestimmt. Die heldenhaften Berliner SPDAbgeordneten und die heldenhaften Berliner CDU-Abgeordneten, die der Berliner Presse erzählen, dass sie alles tun würden, um die Mieterinnen und Mieter zu unterstützen, sind einfach gegangen, weil sie sich an der Abstimmung nicht beteiligen wollten. Es geht hier um die Frage der politischen Ehrlichkeit. Sie rennen in Berlin durch die Gegend und erzählen, wie man den Bund beeinflussen wolle, wie man sich gegenüber dem Bundesfinanzministerium eingebracht habe. Das Bundesfinanzministerium hat mir übrigens mitgeteilt, dass ihm ein Brief der Berliner Abgeordneten nicht vorliegt. Seien Sie doch ehrlich! Sagen Sie, Sie können sich nicht durchsetzen, Sie wollen sich nicht durchsetzen. Tun Sie hier nicht so, als stünden Sie auf der Seite der Mieterinnen und Mieter. Oder sagen Sie, Sie wollen eine entsprechende Regelung endlich umsetzen. Dann sorgen Sie aber auch dafür, dass Ihre Fraktionskollegen entsprechend abstimmen. Ich finde, so geht das nicht. Das ist unehrlich gegenüber der Öffentlichkeit. ({0})

Klaus Mindrup (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004354, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Werte Kollegin, wir haben in Berlin ein Problem mit der Glaubwürdigkeit. Diese Glaubwürdigkeit hängt auch mit der rot-roten Koalition in Berlin zusammen, die nämlich keine alternative Liegenschaftspolitik hinbekommen hat; die haben wir jetzt erstaunlicherweise mit den Kollegen von der CDU hinbekommen. Als Sie noch mit uns regiert haben, hatten wir die Politik des Höchstpreises. Das habe ich damals kritisiert. ({0}) - Entschuldigung. Ich bin Berliner SPD-Mitglied und auch Landesvorstandsmitglied. Mir wurde immer gesagt: Wenn die Linke in Berlin Höchstpreispolitik macht, dann stehst du ja links von den Linken. Wie soll man so etwas durchsetzen? Wo stehst du eigentlich? Es ist doch vernünftige Politik, dass man nicht alles zum Höchstpreis veräußert. Wir sind an dem Thema dran, Frau Lötzsch. Die SPD-Fraktion hat am Dienstag einstimmig den klaren Beschluss gefasst, dass wir eine andere Liegenschaftspolitik im Bund haben wollen. ({1}) Für uns ist ganz entscheidend, dass wir vorbildlich handeln. ({2}) Der Bund muss vorbildlich sein. Wir haben das Bündnis für bezahlbares Bauen und Wohnen ins Leben gerufen. Wir haben uns mit der Union auf die Mietpreisbremse verständigt. Die ist aber noch nicht gesetzlich umgesetzt. Herr Brackmann, machen wir uns doch nichts vor: Wenn die Mietpreisbremse Gesetzeskraft hat, reduziert das logischerweise den Ertragswert der Immobilien, die in Gebieten mit angespannter Wohnraumlage veräußert werden sollen. In Berlin wurde dies von den städtischen Wohnungsbaugesellschaften mit dem Mietenbündnis bereits vorweggenommen. Das heißt, es kann kein so hoher Preis erzielt werden. Wenn Ihre Kolleginnen und Kollegen in Berlin der Umwandlungsverordnung zustimmen würden, dann würde uns das noch weiterbringen; denn das würde wiederum den Wert senken.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Kollege, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Paus?

Klaus Mindrup (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004354, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gerne.

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Da Sie gerade gesagt haben, dass Sie sich in der SPDBundestagsfraktion intensiv mit dem Thema auseinandersetzen, dass das Bieterverfahren zur Großgörschenstraße abgeschlossen ist und dass damit zu rechnen ist, dass das diesem Hause in den nächsten Wochen vorliegt, frage ich: Können Sie uns auch mitteilen, wie die Situation hinsichtlich der Großgörschenstraße konkret aussieht? Können Sie uns heute hier sagen, dass die Häuser in der Großgörschenstraße nicht zum Höchstpreis verkauft werden? Wie ist die Beschlusslage der SPD-Fraktion in dieser Frage?

Klaus Mindrup (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004354, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich muss hier ganz klar sagen: Wir haben einen Koalitionsvertrag, und im Augenblick haben wir noch keine geänderte Grundlage. Darauf komme ich im weiteren Verlauf meiner Rede aber noch zu sprechen. Was für mich persönlich wichtig ist - das ist auch noch einmal ein Appell an die Kolleginnen und Kollegen aus dem Bundesfinanzministerium -, ist Folgendes: Man sollte vor der Einführung der Mietpreisbremse keinen Schlussverkauf von Bundesimmobilien vornehmen. Das ist ganz wichtig; denn die Spekulationsökonomie ist ein wenig wie eine griechische Tragödie: Man weiß schon am Anfang, dass es am Ende schiefgeht. Wir als SPD wollen eine andere Liegenschaftspolitik. Wir wollen, dass bei Veräußerungen auch die städte-, wohnungs- und strukturpolitischen Ziele im Blick behalten werden können. Wir wollen Konzeptverfahren, und zwar zum Festpreis. In der Mitteilung der EU-Kommission vom 10. Juli 1997 ist klar festgelegt, dass man das machen kann, wenn man will. Vor allen Dingen kann man das machen, wenn man ein klares wohnungspolitisches Ziel, hier: bezahlbare Mieten, hat. Genauso kann man vorgehen, wenn es um die dringend notwendige Unterbringung von Flüchtlingen geht. Dann muss man nicht zum Höchstpreis verkaufen. Das ist auch finanzpolitisch sinnvoll. Es macht doch keinen Sinn, auf der einen Seite Wohnungen teuer zu veräußern und auf der anderen Seite einen viel höheren Aufwand zu betreiben und viel mehr Geld auszugeben, um neuen Wohnraum zu schaffen und darüber hinaus auch noch Grundsicherungsleistungen und Wohngeld zu zahlen. Wenn man das nicht ganzheitlich sieht, hält man sich eben auch nicht an das Prinzip von Haushaltsklarheit und Haushaltswahrheit. Diese Art der Kreislaufwirtschaft ist wirklich unsinnig: Man kann doch nicht auf der einen Seite das Geld einnehmen, das man auf der anderen Seite wieder ausgibt. Wir reden hier immer von der schwarzen Null. Diese schwarze Null muss nachhaltig sein. Sie darf nicht mit hohen Folgekosten erkauft werden. Das würde uns nämlich teuer zu stehen kommen. Hohe Folgekosten entstehen, wenn man nicht investiert oder ohne Augenmaß Vermögen aus der Hand gibt. Der Koalitionsvertrag bietet Orientierung. Seine Überschrift lautet: „Deutschlands Zukunft gestalten.“ Gestalten müssen wir auch in der Bau- und Liegenschaftspolitik. Das Streben nach Nachhaltigkeit ist das richtige Motiv. Wir müssen den Nachhaltigkeitsgedanken dort stärker einbeziehen. Wir müssen ökologisch, wirtschaftlich und sozial handeln. Dieser Ansatz zieht sich auch durch den Koalitionsvertrag. Insofern ist ein Moratorium keine Lösung. Wir müssen schauen - diesbezüglich hoffe ich auf weitere konstruktive Gespräche mit der Union, vor allen Dingen mit den Baupolitikern -, dass wir zu einer Baupolitik kommen, die dem Prinzip der Nachhaltigkeit Rechnung trägt. Herzlichen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 18/2882 und 18/3044 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Haushaltsausschusses auf Drucksache 18/2908. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/1952 mit dem Titel „Sofortiges Moratorium für die Wohnungs- und Grundstücksverkäufe durch die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/1965 mit dem Titel „Moratorium beim Verkauf von Wohnimmobilien in Städten mit angespanntem Wohnungsmarkt durch die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der SPD-Fraktion gegen die Fraktion Die Linke und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 35 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten HansWerner Kammer, Arnold Vaatz, Ulrich Lange, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Gustav Herzog, Sören Bartol, Kirsten Lühmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung zukunftsfest gestalten Drucksache 18/3041 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur ({0}) Sportausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss Vizepräsidentin Petra Pau Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich bitte, die notwendigen Umgruppierungen rasch vorzunehmen, damit ich die Aussprache eröffnen kann. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundesminister für Verkehr und digitale Infrastruktur, Alexander Dobrindt. ({1})

Alexander Dobrindt (Minister:in)

Politiker ID: 11003516

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Schifffahrt ist in der Tat eine der tragenden Säulen der deutschen Volkswirtschaft. Die Grundlage dafür, dass wir eine leistungsfähige Schifffahrt und leistungsstarke Wasserwege gestalten und erhalten, ist eine starke und effiziente Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung. Wir haben mit unserer Prognose für die Güterverkehre in den letzten Monaten sehr deutlich darauf hingewiesen, dass wir Güterverkehrssteigerungen von 40 Prozent erwarten. Wenn wir diese Güterverkehrssteigerungen, die notwendig sind, um den Wohlstand auch in Deutschland zu erhalten, auf den Verkehrsträgern abbilden wollen, brauchen wir auch sehr starke und intakte Wasserstraßen. Die Entlastung von Schiene und Straße kann nur durch die Kapazitäten der Wasserstraße erfolgen. Deswegen haben wir in unseren ganzen Reformbemühungen der Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung immer dieses Ziel hochgehalten. Die Leistungsfähigkeit muss am Schluss gesteigert werden. Eine Reform der Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung darf nicht dazu führen, dass wir am Schluss weniger Kapazitäten auf den Wasserstraßen abbilden. Vielmehr müssen wir mehr Kapazitäten abbilden. ({0}) Deswegen haben wir von der Koalition gleich zu Beginn Grundsätze formuliert, wie man eine Reform der Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung beschreiben kann. Ein Grundsatz war, die Regionalität zu erhalten. Ein weiterer war, die Kompetenz vor Ort zu stärken. Ein dritter Grundsatz war, die eigenständige Aufgabenerfüllung zu sichern. Diese Grundsätze sind nicht zu jeder Zeit als oberste Grundsätze einer Reform genannt worden. Lange Zeit hat man auch über andere Möglichkeiten nachgedacht. ({1}) Wir gehen gemeinsam - das war immer unsere Überzeugung - in die Richtung: Stärkung der lokalen Kräfte bei der Reform der Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung. ({2}) - Der Beifall zeigt, dass wir uns einig sind und dass die Reform gelungen ist. ({3}) Selten ist mir so viel Applaus in diesem Haus entgegengeschallt wie jetzt gerade. ({4}) Das überrascht mich fast. ({5}) Wir haben in der Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung 14 000 Mitarbeiter. Sie ist eine der größten Bundesbehörden, auf jeden Fall die größte Bundesbehörde im Bereich der Infrastruktur. Das zeigt auch die Dimension. Die Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung mit ihren Mitarbeitern ist überall vor Ort in Deutschland vertreten und organisiert überall vor Ort in Deutschland die Wirtschaftsverkehre. Das zeigt auch ihre Bedeutung für das ganze Land. Vielleicht gab es auch deswegen diese intensive Diskussion. 20 Jahre hat es gedauert, eine Reform in ihren wesentlichen Grundzügen zu beschreiben und jetzt auch umzusetzen. Dass wir dieses Ziel jetzt erreicht haben, ist in der Tat ein sehr gutes Ergebnis. Die Reform schafft Planungssicherheit für die Wirtschaft, für die Nutzer der Wasserstraßen und für die Beschäftigten der WSV. Die Standorte der bisherigen 39 Wasser- und Schifffahrtsämter bleiben erhalten. Wir haben Revierverantwortungen gezeichnet. Wir werden eine stärkere Vernetzung der Standorte innerhalb der Reviere umsetzen. Insbesondere durch diese Vernetzung innerhalb der Revierstruktur werden der regionale Gedanke der Reform unterstützt und die lokale Verantwortung vor Ort gestärkt. In den nächsten Wochen und Monaten wird den künftigen Wasserstraßen- und Schifffahrtsämtern der Prozess der Reformumsetzung nahegebracht. Ich will ausdrücklich betonen, dass die Konkretisierung der Struktur - angesichts der Breite der WSV dauert eine derartige Umsetzung eine gewisse Zeit - natürlich bedeutet, fachlichen und organisatorischen Anregungen gegenüber weiter offen zu sein. Wir haben diese Struktur gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen, also mit den Mitarbeitern der WSV, entwickelt. Dies soll auch in den nächsten Monaten für den Umsetzungsprozess gelten. Die bessere Idee ist immer der Konkurrent zur guten Idee. Deswegen sind wir an möglichen Weiterentwicklungen durchaus interessiert. Wir haben eine organisatorische Aufgabentrennung - so war es formuliert - von Verkehr und Infrastruktur geprüft. Wir kamen eindeutig zu dem Ergebnis, dass eine solche Aufgabenaufteilung mit einer entsprechenden Ämterstruktur nicht zweck- und zielführend ist. Vorzuziehen ist eindeutig eine Struktur mit größeren Zuständigkeitsbereichen in den einzelnen Revieren. Deswegen haben wir der Aufgabentrennung von Verkehr und Infrastruktur eine klare Absage erteilt, meine Damen und Herren. Wir wollen die Kompetenzen vor Ort stärken. Deswegen ist, was die zentrale Steuerung betrifft, die Zustän6060 digkeit der im Mai vergangenen Jahres eingerichteten Generaldirektion Wasserstraßen und Schifffahrt richtig gewesen, und sie bleibt richtig. Diese Zuständigkeit endet aber dort, wo regionale Belange und Kenntnisse maßgeblich sind. Ich glaube, auch das ist ein deutliches Bekenntnis zur Stärkung der Funktionsfähigkeit vor Ort. Wir richten die WSV intensiv nach den spezifischen Revieranforderungen aus. Damit sichern und fördern wir die intensive Kooperation zwischen einzelnen Revierverwaltungen und der verladenden sowie der Transportwirtschaft. Wir entsprechen damit zugleich den regional sehr unterschiedlichen Anforderungen. Das gilt insbesondere für die spezifischen Belange der Küste und der Seeschifffahrt. Die Organisation und Kontrolle der Verkehrssicherung in der Deutschen Bucht bleiben ebenso eine vorrangige Vor-Ort-Aufgabe wie die Regelung des Schiffverkehrs von der Nord- und Ostsee in die deutschen Seehäfen. Mit der Reform stärken wir die regionale Kompetenz und den unmittelbaren Revierbezug und sichern kurze Abstimmungswege zwischen Wirtschaft und Verwaltung. Meine Damen und Herren, die Verwaltung dient der Wirtschaft, die Verwaltung dient den Wirtschaftswegen, und die Verwaltung dient vor allem der Wertschöpfung, die die Wirtschaft auf diesen Verkehrswegen erbringen kann. Deswegen kann eine besonders enge Vor-Ort-Abstimmung zwischen Verwaltung und Wirtschaft am besten mit unserem Reviergedanken erreicht werden. Schleusen, Wehre, Brücken, Pumpen und all das, was wir an technischen Bauwerken an den Wasserwegen kennen, brauchen Planung und Betreuung mit einem großen ingenieurtechnischen Sachverstand. Manchmal ist nicht nur ingenieurtechnischer Sachverstand, sondern auch ein erhebliches Maß an Improvisationstalent erforderlich. Das kann die WSV. Das müssen wir auch für die Zukunft sichern. Das geht nur mit entsprechenden Fachkräften und Planungskapazitäten. Deswegen war es mir und unserem Haus ein besonders großes Anliegen, im nächsten Jahr wie auch in diesem Jahr zusätzliche Fachkräftestellen zu erwirken, sodass die notwendige Kompetenz an Ingenieurleistung und Improvisationstalent nicht verloren gehen. ({6}) Meine Damen und Herren, ich freue mich, dass wir den Umsetzungs- und Modernisierungsprozess in dieser sehr konstruktiven Art und Weise gemeinsam mit den Mitarbeitern und den Interessenvertretungen gestalten konnten. Das Mitwirkungsverfahren, wie wir es im Einvernehmen mit dem Hauptpersonalrat festgelegt und schriftlich vereinbart haben, hat dieses harmonische Miteinander gesichert. Ich möchte mich beim Hauptpersonalrat und bei allen Beschäftigten ausdrücklich für die konstruktive Zusammenarbeit in den letzten Monaten bedanken. Wir modernisieren mit dieser Reform nicht nur eine der größten Flächenverwaltungen unseres Landes, sondern wir stärken damit zugleich die große Bedeutung unserer Wasserstraßen im Transport- und Güterverkehr. Mit den Mitteln aus dem zusätzlichen Investitionspaket in dreistelliger Millionenhöhe, die wir in die Wasserstraßen und Schifffahrtswege in dieser Wahlperiode investieren werden, stellen wir klar, dass die Wasserstraßen beim Investitionshochlauf des Verkehrsministeriums über alle Transportwege hinweg eine ganz bedeutende Rolle einnehmen werden. Gemeinsam schaffen wir es, dass die Wasserstraße für die Anforderungen der Zukunft fit wird und für den Transport der Güterverkehre gerüstet ist. Das ist eine große Reform, nicht nur für die Mitarbeiter, sondern im Besonderen auch für die deutsche Wirtschaft. Danke schön. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Herbert Behrens für die Fraktion Die Linke. ({0})

Herbert Behrens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004007, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Dobrindt, wenn Sie das, was Sie vorgelegt haben und jetzt mit einem Antrag der Koalitionsfraktionen unterlegen, als das Ergebnis eines 20-jährigen Prozesses bezeichnen, dann ist das noch erbärmlicher, als es ohnehin ist. Das ist wirklich entlarvend. ({0}) Eine zweite Anmerkung. Die Improvisationsfähigkeit der Kolleginnen und Kollegen in der WSV, die Sie ausdrücklich begrüßen, entspringt nicht dem Wunsch, innovativ und improvisierend tätig zu sein, sondern dieses Improvisieren ist schlicht eine Notwendigkeit, weil teilweise das Personal fehlt, weil die Ausstattung fehlt, weil entsprechende Rahmenbedingungen nicht gegeben sind. Diese Notwendigkeit, zu improvisieren, möchte ich gerne durch eine vernünftige WSV-Reform vermeiden. ({1}) Mit dem Auftrag, die WSV umzubauen, ist die Androhung verbunden gewesen: Wir machen aus der WSV als einer Ausführungsverwaltung eine Gewährleistungsverwaltung. All das, was an Kompetenzen abzugeben ist, sollte abgegeben werden. Nur noch geringe Zuständigkeiten sollten in den Händen der WSV-Beschäftigten bleiben. Sechs Berichte hat es bedurft, um über die Ziele des WSV-Reformprozesses zu berichten. Wir haben mindestens 20 Debatten hier im Plenum und im Ausschuss dazu geführt, um uns mit dieser Frage auseinanderzusetzen. Die Kolleginnen und Kollegen selbst haben sich mit Protestaktionen von Schweinfurt bis nach Wilhelmshaven eingebracht, um auf ihr Anliegen aufmerksam zu machen. Es hat Streiks bedurft, um auf die Frage der Beschäftigungssicherung hinzuweisen, ohne dass es letztendlich zu einem Tarifvertrag gekommen wäre, weil sich das Ministerium geweigert hat. Das macht den Kolleginnen und Kollegen weiterhin Sorgen, aber auch - das haben Sie eben gesagt - die Wirtschaft ist davon betroffen. Die Wirtschaftsverbände machen sich Sorgen, dass dieser Prozess nicht so vorangeht, wie er vorangehen müsste. Nun kommt dieser Antrag dazu. Jetzt wäre die Chance gewesen - insbesondere durch den Einfluss der SPD -, endlich einmal Butter bei die Fische zu geben und zu sagen: Jetzt ist die Möglichkeit da, das falsche Einstielen der WSV-Reform, damals maßgeblich betrieben von der FDP, zu beenden und die richtige Richtung einzuschlagen. Aber was lesen wir? Forderungen mit einem hohen Finanzierungsvorbehalt, sehr vage Ankündigungen und dann auch noch unzutreffende Hinweise auf die umfängliche Beteiligung der Belegschaft. Wenn man mit den Kolleginnen und Kollegen spricht, stellt man fest, dass das so nicht zutrifft. Die Binnenschifffahrt braucht verlässliche Investitionen. Wenn jetzt schon Forderungen gestellt werden, die unter einem Finanzierungsvorbehalt stehen werden - weil der Finanzminister an der schwarzen Null festhalten will, obwohl die Steuereinnahmen, wie wir gehört haben, vermutlich sinken werden -, dann kann man sich von vornherein davon verabschieden, dann sind zwei von acht Forderungen heute schon erledigt. Die anderen Ankündigungen betreffen die Generaldirektion Wasserstraßen und Schifffahrt. Eben wurde erwähnt, dass eine Generaldirektion aufgebaut wurde. Das war aber im Mai 2013. Just vor Auslaufen der letzten Wahlperiode musste schnell noch einmal ordentlich draufgehauen werden, ohne zu wissen, was danach kommt. Ein Jahr später wird immer noch daran herumgedoktert, die Generaldirektion in Gang zu bringen. Kollegen erzählen, dass erst jetzt ein Mietvertrag abgeschlossen wurde. Erst jetzt beginnt der Umbau, und wann die Arbeit aufgenommen wird, ist fraglich. Das ist keine zuverlässige Perspektive für die Beschäftigten. Gleichzeitig soll die Zahl der Wasser- und Schifffahrtsämter von 39 auf 18 verringert werden. Das bedeutet erst einmal Totalumbau. Keiner weiß genau, wie dieser aussehen soll, weil es gleichzeitig angeblich keinen Abbau der Außenstellen geben soll, damit die operative Arbeit, die geleistet werden muss, weiterhin möglich ist. Was die Beteiligung der Beschäftigten angeht, ist natürlich der Hauptpersonalrat beteiligt worden. Er muss auch beteiligt werden. Das gilt auch für andere Personalräte. Wir haben schließlich ein Personalvertretungsgesetz. Danach sind bei Personalumsetzungen immer die Beschäftigtenvertreter zu beteiligen. Darüber hinaus werden die Erfahrungen aus früheren Reformprozessen der WSV überhaupt nicht mit einbezogen. Es hat früher Arbeitsgruppen gegeben, in denen die Beschäftigten - damals allerdings aus der Not heraus, mit weniger Geld und Personal auskommen zu müssen ihre Arbeit neu organisiert haben. Das war ein hochinnovativer Prozess. Das sagen die Kolleginnen und Kollegen heute noch. Das ist aber bei diesem großen Umbau überhaupt kein Thema. Insofern sind wichtige Fragen überhaupt nicht geklärt worden: Wie kriegen wir vernünftige beschäftigungssichernde Maßnahmen hin, die die Arbeit so erhalten, dass sie weiterhin von der WSV erledigt werden kann? Die ausgebildeten Fachkräfte werden jetzt nicht mehr ein Jahr übernommen, sondern zwei Jahre. Das war’s. Das ist keine Perspektive, weder für die jungen Leute und erst recht nicht für eine arbeitsfähige WSV. ({2}) Über den Antrag müssen wir das Problem noch einmal angehen. Wir wollen eine Perspektive für eine WSV, die sowohl den Kunden als auch den Beschäftigten zugutekommt und die es ermöglicht, die künftigen Aufgaben zu bewältigen. Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Kollegin Bettina Hagedorn hat für die SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Bettina Hagedorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003545, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Für die SPD-Fraktion will ich an dieser Stelle sagen: Heute führen wir eine erfreuliche Debatte anlässlich eines richtig guten Anlasses, Herr Minister. Der sechste WSV-Bericht in Verbindung mit einem gemeinsamen Antrag der Großen Koalition zu dessen Umsetzung bestätigt, dass wir gemeinsam auf einem richtig guten Weg sind und dass wir ein richtig gutes Signal an die über 12 000 Beschäftigten der WSV senden wollen und senden können. ({0}) Darüber sind wir gemeinsam sehr froh. ({1}) Herr Minister, gerade wir beide - ich bin die Haushälterin für den Verkehrsbereich - haben in der Vergangenheit schon manches Mal freundschaftlich die Klingen gekreuzt. Ich danke Ihnen an dieser Stelle auch ganz persönlich; denn wir hatten es - das ist schon angesprochen worden - in der letzten Legislaturperiode mit einer Kahlschlagpolitik und einem unsäglichen Reformversuch zu tun, der letzten Endes, wie noch im fünften WSV-Bericht dokumentiert ist, einen Personalabbau auf unter 10 000 Mitarbeiter beinhaltet hätte, mit der Zielsetzung des damaligen Haushaltsausschusses, zu einer reinen Gewährleistungsverwaltung zu kommen. Wir haben im Koalitionsvertrag eindeutig vereinbart, dass wir in diesem Bereich eine Neuorientierung vornehmen wollen. Aber ich glaube, dass man es den Mitarbeitern nicht verdenken kann, dass viele von ihnen gesagt haben: Ich will darauf hoffen, allein mir fehlt der Glaube. - Diese Glaubwürdigkeit hat die Große Koali6062 tion jetzt mit diesem Schritt wiedererlangt; davon bin ich fest überzeugt. Ich will Ihnen deshalb persönlich danken, weil ich weiß, dass es auch ein sehr großes Beharrungsvermögen gab, die Beschäftigten nicht in der Form mit einzubeziehen, wie wir es verabredet und wie wir es uns gemeinsam gewünscht haben. Sie haben das gemacht. Sie haben den Hauptpersonalrat nicht nur angehört, sondern seinen Belangen auch zur Durchsetzung verholfen. Das hat auch der Personalrat anerkannt. Das ist ein wichtiger Schritt; denn eine Reform kann nicht auf dem Papier gedeihen, sondern nur, wenn alle an einem Strang und in eine Richtung ziehen. Ich danke Ihnen dafür, dass wir das gemeinsam hinbekommen haben. ({2}) Einige Aufgaben liegen noch vor uns. Aber wir haben auch noch ein bisschen Zeit. Das Personal spielt eine wichtige Rolle. Der Haushaltsausschuss in neuer Zusammensetzung hat im Mai dieses Jahres in einem Maßgabebeschluss, lieber Eckhardt Rehberg, Ihrem Ministerium geraten, eine Fachkräfteoffensive - ganz im Gegensatz zu dem, was in der letzten Legislaturperiode gemacht wurde - zu starten. Wir haben im Haushalt 2014, der in der Summe einen Aufwuchs von 35 Stellen vorsieht, den ersten Schritt gemacht. Wir sehen besonderen Bedarf in den technischen Berufen, bei den Ingenieuren, aber auch bei den Technikern und Handwerkern. Nicht nur die von Ihnen zu Recht erwähnten technisch anspruchsvollen Bauwerke, sondern auch viele Planungsprozesse erfordern Sachverstand. Dieser ist notwendig, wenn wir Prozesse beschleunigen und Geld in das Wasserstraßennetz des Bundes rechtssicher investieren wollen. Der Haushalt 2015, der schon als Regierungsentwurf vorliegt, sieht 50 weitere Stellen bei der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung vor. Diese Stellen werden wir auch schaffen. Wir haben noch manches miteinander vor. Es darf nicht verschwiegen werden, dass ungefähr 200 Millionen Euro, die eigentlich in Wasserstraßen investiert werden sollen, nicht verausgabt werden können, nicht weil Sie oder wir die Taschen zugenäht hätten, sondern weil aktuell nicht ausreichend Personal zur Verfügung steht, um die Voraussetzungen zu schaffen, das Geld rechtssicher auszugeben. Der Herr Finanzminister hat gerade eine neue, große Investitionsoffensive im Umfang von 10 Milliarden Euro für die nächsten Jahre angekündigt. Die Große Koalition hat sich allerdings noch nicht darauf verständigt, wofür konkret das Geld ausgegeben werden soll. Wir sind sicher, dass ein Teil des Geldes für die Infrastruktur, für die Sie zuständig sind, Herr Minister, bereitgestellt wird. Ich wünsche mir, dass dann auch mehr in die Wasserstraßen investiert wird. Aber das bedeutet, dass wir für das Personal, das für die Wasserstraßen zuständig ist, viel mehr tun müssen. Ein guter Schritt ist, dass die Auszubildenden jetzt zwei Jahre übernommen werden und dass die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung mit über 10 Prozent eine unverändert hohe Ausbildungsquote vorzuweisen hat. Das ist aber nur der erste Schritt. Weitere Schritte müssen folgen. Ich hoffe, dass wir diese Schritte gemeinsam machen werden. Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Kollegin Dr. Valerie Wilms hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Dr. Valerie Wilms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004190, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Lassen Sie uns als Erstes festhalten: Unsere Beschäftigten in der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung leisten hervorragende Arbeit. Das können wir gar nicht oft genug betonen. ({0}) Sie unterhalten die vielen Wasserstraßen und sind dafür zuständig, dass unzählige Kanäle, Schleusen und Brücken reibungslos funktionieren. Die vielen motivierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die ich auf meinen Reisen zu den Ämtern der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung persönlich kennengelernt und schätzen gelernt habe, sind es inzwischen leid, auf die Umsetzung der Reform zu warten. Es muss jetzt endlich losgehen. Sonst glaubt niemand mehr an eine Reform. Liebe Kolleginnen und Kollegen dieser großen Stillstandskoalition, ({1}) Ihr Antrag macht deutlich - genauso wie das, was Frau Hagedorn eben gesagt hat; da hilft es auch nichts, wenn Sie, Herr Herzog, hier etwas hineinbölken -, dass Sie eine Reform überhaupt nicht wollen ({2}) und damit den Stillstand in der Mammutbehörde WSV in Stein meißeln. Bereits seit Anfang der 90er-Jahre begleiten wir das Projekt WSV-Reform im Bundestag. Jetzt hatten Sie wirklich die einmalige Gelegenheit, mit der begonnenen Reform, die in der letzten Wahlperiode auf Druck fast aller Fraktionen, außer der SPD und der Linkspartei, angestoßen wurde, ein gutes und sinnvolles Projekt weiterzuführen. Stattdessen bleibt die Reform noch nicht einmal auf halber Strecke stehen. Aufgemachte Baustellen werden gar nicht erst abgeschlossen. Lassen Sie mich drei Baustellen nennen: Erstens. Effizienten Verwaltungsstrukturen und mehr Verantwortung für die Beschäftigten geben Sie eine Absage. Kosteneinsparungen und wirtschaftliches Handeln bleiben weiterhin Fremdworte. Zweitens. Die auf dem Papier neu gegründete GDWS, Generaldirektion Wasserstraßen und Schifffahrt, hat zwar in Bonn mittlerweile irgendwo eine Hütte gefunden, aber es findet sich immer noch kein Mitarbeiter dafür. Niemand möchte dort arbeiten. Daher frage ich Sie: Bis wann wollen Sie eigentlich die neue Leitungsebene der WSV in Bonn wirklich einrichten? Wann sind Mitarbeiter der WSV wirklich bereit, dorthin zu gehen? Drittens. Der neue Zuschnitt der Ämter sollte bis 2020 fertiggestellt sein. Jetzt sieht man das nicht mehr so eng und peilt 2024 an. Womöglich wird es aber noch später oder gar nichts. Das zeigt: Sie verschieben jetzt alles auf den Sankt-Nimmerleins-Tag. Verantwortliches Handeln, Herr Minister, Herr Staatssekretär, liebe Kolleginnen und Kollegen der so Großen Koalition, sieht anders aus. ({3}) Wie Sie so etwas richtig machen können, haben wir Ihnen vor ein paar Wochen hier im Plenarsaal gezeigt, zwar nicht an einem späten Freitagnachmittag, aber an einem Donnerstagabend. Wir haben Ihnen gezeigt, wie eine Reform gelingen kann. Wir brauchen dringend eine echte Anlagenbuchhaltung. Herr Minister, Sie hatten mir gesagt, dass gerade einmal 10 Prozent aller Wasserstraßen bewertet sind. Schauerlich! Damit hätte man schon längst weiter sein können. Wir brauchen dringend ein echtes Controlling. Ich habe immer noch nicht gesehen, dass hier ein richtiges System eingeführt worden ist. Wir brauchen dringend eine echte Kosten- und Leistungsrechnung, die bis in alle Ebenen geht. Fehlanzeige! Ohne dass diese Punkte umgesetzt werden, wird es keine Budgetverantwortung der Mitarbeiter vor Ort geben können. Apropos Mitarbeiter: Bisher kann uns die Bundesregierung auf Nachfrage noch nicht einmal klar beantworten, wie viele Mitarbeiter die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung tatsächlich für die Erledigung welcher Aufgaben benötigt. Wir haben es eben schon gehört: 12 000 oder 14 000, würfeln wir doch. Trotzdem werden schon einmal die Behördenreviere neu strukturiert oder - sagen wir es besser - an Wahlkreisgrenzen angepasst. Lieber Herr Minister, das Thema hatten wir schon gestern bei der Mautdebatte, an der Sie leider nicht teilnehmen konnten. ({4}) Ich erinnere an die Ortsumgehung in Oberau in Ihrem Wahlkreis. Das ist die falsche Reihenfolge. So geht das nicht. Konsequent und sinnvoll wäre: erst Personalbedarfsplanung und dann die Vorlage des Standortkonzepts. Aber Sie erarbeiten erst ein unausgegorenes Standortkonzept und schauen dann, wie viele Beschäftigte Sie wo unterbekommen. Das kann nicht funktionieren. ({5}) Außerdem bin ich gespannt, wie Sie mit der von uns schon lange geforderten Priorisierung der Wasserstraßen umgehen werden. Hier gibt es Bestrebungen aus bestimmten Ecken Ihres Hauses, Herr Minister, bei der Aufstellung des Bundesverkehrswegeplanes diese ganzen Priorisierungen wieder einzusammeln. Wenn Sie das wirklich vorhaben, können Sie die Arbeit am Bundesverkehrswegeplan auch gleich ganz einstellen. Das wäre nach meiner Auffassung wirklich die beste Lösung; denn dann verkommt dieser Bundesverkehrswegeplan nicht wieder zu einer unfinanzierbaren Wunschliste. Ich fordere Sie daher auf: Halten Sie sich an Ihre Versprechen beim Bundesverkehrswegeplan! Das werden wir im nächsten Jahr hoffentlich sehen. Gehen Sie diese Reform endlich an! Beenden Sie die Zeit der leeren Sprechblasen! Die Beschäftigten der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung und die Schifffahrt werden es Ihnen danken. Herzlichen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Gustav Herzog für die SPDFraktion. ({0})

Gustav Herzog (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003148, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zuletzt hatten wir am 10. Oktober eine Debatte zu einem der wichtigen Verkehrsträger unseres Landes geführt. Der Anlass war damals ein älter gewordener Antrag der Grünen. Ich habe Ihnen versprochen: Wir als Koalition werden einen besseren Antrag vorlegen. Versprochen und Wort gehalten! Heute diskutieren wir einen guten Antrag der Koalitionsfraktionen. Ich will mit einem herzlichen Wort des Dankes an meinen Kollegen Hans-Werner Kammer, aber auch an die zuständigen Haushälter Bettina Hagedorn und Eckhardt Rehberg beginnen, die immer dafür gesorgt haben, dass unsere Wünsche zumindest in dem Bereich, in dem sie es als Haushälter für erfüllbar halten, auch eine Realisierungschance haben. Ich glaube, es ist gut, wenn Verkehrspolitiker und Haushälter so eng zusammenarbeiten und Ihnen, Herr Minister, sozusagen die Vorlage liefern, um das alles schön zu realisieren. ({0}) Die Grundlage für den Antrag der Koalition ist das, was wir nach intensiven Verhandlungen in den Koalitionsvertrag hineingeschrieben haben. Aber die Ausgangslage ist eine weniger schöne: Oktober 2010, jener berühmte Herbst der Entscheidungen, in dem nicht nur der Unsinn beschlossen worden ist, die Laufzeit der Atomkraftwerke zu verlängern, sondern in dem von Schwarz-Gelb im Haushaltsausschuss auch jener berühmt-berüchtigte Beschluss gefasst worden ist - Kollege Behrens, die Linken haben da gepennt und zunächst zugestimmt -, Personal abzubauen und aus einer funktionierenden Verwaltung einen Apparat zu schaffen, der nur noch Aufträge vergibt und der der Auftragserfüllung nur noch hinterherrennt. Die Berichte 1 bis 5 waren immer von Kritik begleitet, und zwar in der ganzen Breite, ({1}) von der Wirtschaft, von den Beschäftigten. Auch die Fachpresse hat sich nie lobend darüber geäußert. Jetzt, Herr Minister Dobrindt, legen Sie den sechsten Bericht vor: Lob von allen Seiten. Ich bin schon misstrauisch gefragt worden, warum ich Sie in diesem Zusammenhang immer wieder lobe. Dieses Lob ist gerechtfertigt. Sie kennen mich auch als heftigen Kritiker. ({2}) Für jene, die dieser Debatte folgen oder die Reden nachlesen: Liebe Frau Kollegin Wilms, lieber Herr Kollege Behrens, ich weiß, dass Sie hier kritisieren müssen; aber es hörte sich etwas nach Ritual an. Es schien, dass Sie sich wirklich bemüht haben, an dem, was wir aus dem sechsten Bericht machen wollen, immer noch etwas zu kritisieren. Okay, das nehmen wir zur Kenntnis, und wir werden das Ganze im Ausschuss noch im Detail diskutieren. ({3}) Frau Kollegin Wilms, die Einführung einer Buchhaltung als den entscheidenden Fortschritt einer Reform hier im Plenum vorzutragen, zeigt doch, wie sehr Sie sich bemüht haben, irgendwo irgendetwas zu finden. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie sehr dieser Prozess von den Beschäftigten nicht nur wohlwollend begleitet, sondern auch mitgestaltet worden ist, zeigt auch, dass Vertrauen da war, den damals zwischenzeitlich ausgesetzten Streik völlig zu beenden. Wenn wir hier von einer Verwaltung bzw. einer Behörde sprechen, ist es für die Menschen, die mit der Materie nicht so sehr zu tun haben, wichtig, darauf hinzuweisen, dass die meisten der 12 000 bis 14 000 Beschäftigten mehr im handwerklich-technischen Bereich aktiv sind. Das sind Leute, die bei jedem Wetter hinausfahren und dafür sorgen, dass das Schleusentor auf- und zugeht, die durch Hochwasser entwurzelte Bäume entfernen, um die Verkehrssicherheit sicherzustellen, die überwiegend im Schichtbetrieb arbeiten. Das sind keine Schreibtischarbeiter, sondern Leute, die unter erschwerten Bedingungen arbeiten, und sie haben unseren Respekt und unsere Anerkennung verdient. ({5}) Diese Leute sind ins Zweifeln darüber gekommen, ob die Politik ihre Arbeit überhaupt noch zu schätzen weiß. Wir haben deren Vertrauen mit der klaren Aussage wiederhergestellt: Die Standorte bleiben erhalten. Es werden nur sozialverträgliche Umsetzungen vorgenommen. Wir müssen uns als Parlament gemeinsam mit dem Ministerium bemühen, dafür zu sorgen, dass die Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung ein attraktiver Arbeitgeber wird. ({6}) Dieser Arbeitgeber steht in Konkurrenz zu vielen anderen, die gute und besser bezahlte Jobs anbieten. Die Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung soll gute Leute haben, die das Geld, das wir zur Verfügung stellen, auch ausgeben können. Ich habe die Pressemitteilung des Kollegen Ulrich Lange von heute Mittag, 12.13 Uhr, gelesen. Er hat darauf verwiesen, dass ab 2016 zusätzlich 10 Milliarden Euro für Investitionen in die Infrastruktur zur Verfügung stehen sollen, und er hat verlangt, dass ein Teil davon in die Verkehrsinfrastruktur fließt. Ich bin voll dafür. Ich hätte mir nur gewünscht, dass er neben der Straße, der Schiene und den Brücken auch die Wasserstraßen erwähnt hätte; denn dafür brauchen wir ebenfalls eine Menge Geld, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({7}) Abschließend will ich darauf hinweisen, dass jetzt auch aus den Ländern große Zustimmung kommt. Ich schaue einmal in das Land der Binnenschifffahrt, nämlich nach Nordrhein-Westfalen. Dort gibt es einen Antrag von SPD, CDU, Grünen, FDP - dort ist die FDP noch im Parlament - und Piraten - ich habe etwas geschmunzelt; selbst die Piraten stehen mit auf dem Antrag vom September dieses Jahres zu diesem Thema. Darin wird ein klares Bekenntnis zu den Bundeswasserstraßen, zur Binnenschifffahrt abgelegt. Über 50 Prozent des Umschlags findet in Nordrhein-Westfalen statt. Das findet hier auch seinen Niederschlag. Auch die Verkehrsministerkonferenz hat klar gesagt, dass sie dazu steht. Das finde ich gut. Lassen Sie mich, Kolleginnen und Kollegen, nach all den etwas ernsten Ausführungen noch etwas Schönes sagen und zeigen, was auf unseren Wasserstraßen alles möglich ist. Der gute Uli Stahl aus Altrip hat mit einem umgebauten Angelkahn von Altrip aus - das ist in Rheinland-Pfalz - eine Tour über Duisburg bis nach Eberswalde gemacht. Er ist 1 820 Kilometer auf unseren Bundeswasserstraßen gefahren und hat 685 Brücken und 40 Schleusen bewältigt. Auch so etwas kann man auf unseren Wasserstraßen machen, und das ist gut so. Ich freue mich auf die Debatte im Ausschuss. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Hans-Werner Kammer hat für die CDU/ CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Hans Werner Kammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003783, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Verehrte Zuhörer! Wir debattieren heute zum wiederholten Mal die Reform der WSV, diesmal im Zusammenhang mit unserem sehr guten Antrag „Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung zukunftsfest gestalten“. Ich bin der Überzeugung, dass sich der lange Diskussionsprozess gelohnt hat; denn mit dem sechsten Bericht des Ministeriums ist klar, wohin die Reise geht. Auch der Kollege Herzog hat diesen Antrag eingangs lobend erwähnt. An unserem Antrag hat er intensiv mitgearbeitet. Das gilt auch für Frau Hagedorn und Eckhardt Rehberg. Ich glaube, gemeinsam haben wir damit etwas Hervorragendes vorgelegt. Die Umsetzung wird zwar noch einige Zeit in Anspruch nehmen, aber ich bin überzeugt, dass mit Bundesminister Alexander Dobrindt die Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung für die Zukunft fitgemacht wird. Er hat heute die Bedeutung dieser Verwaltung für die Wirtschaft insgesamt noch einmal herausgestellt. Wir verwirklichen damit ein zentrales Projekt der Verkehrspolitik der Großen Koalition. Der Koalitionsvertrag sieht vor, dass bei der WSV-Reform die regionalen Kompetenzen gesichert und die Beschäftigten stärker in den Reformprozess eingebunden werden sollen. Das ist gelungen. Kern des Vorhabens ist die neue Aufgabenstruktur der WSV. Die veraltete Struktur aus Kaisers Zeiten wird gerade generalüberholt. Eine neue Generaldirektion hat bereits die Koordination der WSV in ganz Deutschland übernommen, Frau Wilms. Die Zeit von sieben parallel arbeitenden Direktionen ist vorbei. Die regionalen Kompetenzen sind künftig bei den 18 Wasserstraßen- und Schifffahrtsämtern, die über mehr Befugnisse verfügen als ihre Vorgängereinrichtungen. Das war auch unser gemeinsames Ziel. Das operative Geschäft der WSV findet dort statt, wo es hingehört: auf der Ämterebene. Dieser Punkt war für den Kollegen Herzog und für mich in der zurückliegenden Diskussion um die Reform von ganz entscheidender Bedeutung. ({0}) Darum haben wir immer gerungen; denn die Wasserstraßennutzer und die Wirtschaft brauchen starke Ansprechpartner vor Ort. Die bekommen sie in der Zukunft. Es ist ein schlüssiges Konzept, das unser Verkehrsminister mit dem sechsten Bericht auf den Tisch gelegt hat. Sichergestellt ist darin auch, dass alle 39 Ämterstandorte erhalten werden. Es wird auch keinen Kahlschlag beim Personal geben. Stattdessen soll der Eigenerledigungsanteil bei der WSV wieder steigen. Die touristische Nutzung der Wasserstraßen haben wir dabei ebenfalls im Auge. Das ist auch ein wichtiger Punkt. Die Sorgen einiger Bundesländer, vor allem der neuen Bundesländer, sind deshalb unbegründet. Wir werden die Wasserstraßenverwaltung flächendeckend stärken. Keine Region wird abgehängt. Herr Behrens, Sie haben von einer erbärmlichen Reform gesprochen. Ich hätte mich gefreut, wenn die Linke zukunftsorientiert daran mitgearbeitet und in allen Fällen - auch Sie in Ihrem Vortrag hier - die Wahrheit gesagt hätte. In Wilhelmshaven hat zum Beispiel niemand protestiert. Ich habe den Prozess mit den Wilhelmshavenern vor Ort intensiv begleitet. ({1}) Frau Wilms, Herr Kollege Herzog hat ja schon darauf hingewiesen, dass Ihnen gerade noch die Buchhaltung eingefallen ist. Sie haben aber noch einen tollen Punkt genannt: Sie haben gesagt, wir müssten uns erst mal mit dem Personal auseinandersetzen und sehen, ob wir damit klarkommen, und dann könnten wir über die Standorte reden. - Aber ohne Standorte brauchen wir kein Personal. Deshalb ist der vom Ministerium vorgeschlagene Weg, zuerst die Standorte zu zementieren und dann das Personal entsprechend einzusetzen, wie es vor Ort benötigt wird, genau richtig. Mit den acht Kernforderungen unseres Antrages unterstützen wir die hervorragende Arbeit des Ministeriums und geben gleichzeitig klare Ziele vor. Ich will nur einige davon erwähnen: Im Rahmen der verfügbaren Haushaltsmittel soll durch Erhalt und Ausbau der Bundeswasserstraßen die Erreichbarkeit der deutschen Binnen- und Seehäfen optimiert werden. Das fordern wir in unserem Antrag. Dazu wird uns das Ministerium entsprechende Berichte und eine Priorisierung der notwendigen Investitions- und Erhaltungsmaßnahmen vorlegen. Gleichzeitig soll die Einrichtung der 18 Wasserstraßenund Schifffahrtsämter zügig erfolgen. Die Beschäftigten sollen daran beteiligt werden - das hat der Minister schon ausgeführt. Ziel ist es, die operativen Verantwortlichkeiten und regionalen Entscheidungskompetenzen in den 18 Revieren zu stärken. So wird die WSV zu einem modernen Dienstleister für die Schifffahrt. Außerdem soll die Deckung des Fachkräftebedarfs offensiv angegangen werden. Auch das steht in unserem Antrag. Dazu müssen die gesetzlichen und tariflichen Möglichkeiten sowie Aus-, Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten genutzt werden. Erste Schritte sind dank der Unterstützung durch die Haushälter der Koalition bereits gelungen. Wichtig ist dabei, dass die Arbeitsfähigkeit der WSV auch während des Reformprozesses erhalten bleibt; denn der Verkehr muss weiter fließen. Deshalb sollen die Reformbemühungen zunächst die Generaldirektion und die 18 Ämter umfassen. Änderungen in anderen Bereichen, etwa den Außenbezirken, Bauhöfen oder Revierzentralen, sollen auf das Notwendigste beschränkt sein. So gehen wir die Reform Schritt für Schritt an. Und wir werden letztendlich - das ist für Frau Wilms wichtig - bis zum Frühjahr 2015 ein Rechtsbereinigungsgesetz einbringen. Sie sehen, wir gehen auf die wesentlichen Punkte des sechsten Berichts zur Reform der WSV ein und bringen so die Reform weiter voran. Auch für die Opposition sollte es jetzt leicht sein, mit an Bord zu kommen und sich dem guten Antrag der Koalition anzuschließen. Ich wünsche allen ein schönes Wochenende und einen streikfreien Nachhauseweg. Danke schön. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/3041 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 12. November 2014, 13 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen alles Gute - ob zu Wasser, zur Schiene, zur Straße oder wie auch immer - für das Wochenende.