Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie herzlich zur 63. Sitzung des Deutschen Bundestages.
Vor Eintritt in die Tagesordnung möchte ich dem Kollegen Klaus Ernst gratulieren, der in den zurückliegenden Tagen seinen 60. Geburtstag gefeiert hat.
({0})
Alle guten Wünsche für die nächsten Jahre.
Wir müssen dann noch eine Wahl durchführen. Die
Fraktion Die Linke schlägt vor, dass in das Kuratorium
der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland der Kollege Matthias Birkwald als
Nachfolger für den Kollegen Dr. Alexander Neu als ordentliches Mitglied berufen wird und der Kollege Neu
dem Kollegen Birkwald als stellvertretendes Mitglied
nachfolgt, mit anderen Worten, dass sie ihre jeweiligen
Positionen tauschen. Hat dagegen jemand schwerwiegende Bedenken? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das
so beschlossen.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({1})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard
Schick, Kerstin Andreae, Annalena Baerbock,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Risiko und Haftung zusammenführen Gläubigerbeteiligung nach EZB-Bankentest sicherstellen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard
Schick, Kerstin Andreae, Annalena Baerbock,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gemeinsam die Haftung der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler beenden - Für einen einheitlichen europäischen Restrukturierungsmechanismus
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard
Schick, Manuel Sarrazin, Sven-Christian
Kindler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
zu dem Vorschlag für eine Verordnung des
Europäischen Parlaments und des Rates
zur Festlegung einheitlicher Vorschriften
und eines einheitlichen Verfahrens für die
Abwicklung von Kreditinstituten und bestimmten Wertpapierfirmen im Rahmen
eines einheitlichen Abwicklungsmechanismus und eines einheitlichen Bankenabwicklungsfonds sowie zur Änderung der
Verordnung ({2}) Nr. 1093/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates
KOM({3}) 520 endg.; Ratsdok. 12315/13
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3
des Grundgesetzes
Zum Schutz der Allgemeinheit vor Einzelinteressen - Für eine echte Europäische
Bankenunion
Drucksachen 18/97, 18/98, 18/774, 18/3088
ZP 2 Weitere abschließende Beratung ohne Aussprache
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({4}) zu dem Antrag der Abgeordne-
ten Brigitte Pothmer, Beate Walter-Rosenheimer,
Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Jugendarbeitslosigkeit in Europa bekämp-
fen - Stopp des Programms MobiPro-EU so-
fort aufheben
Drucksachen 18/1343, 18/1531
Präsident Dr. Norbert Lammert
ZP 3 Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Haltung der Bundesregierung zu den alarmie-
renden Ergebnissen des Weltklimaberichts
und dem Handlungsbedarf für mehr Klima-
schutz
Dabei soll von der Frist für den Beginn der Beratun-
gen, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Der Tagesordnungspunkt 16 soll abgesetzt werden.
Die Tagesordnungspunkte der Koalitionsfraktionen rü-
cken entsprechend vor.
Darf ich auch zu diesen Vereinbarungen Ihr Einver-
ständnis feststellen? - Das ist der Fall. Dann können wir
so verfahren.
Ich rufe nun unsere Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b
auf:
a) Abgabe einer Regierungserklärung durch den
Bundesminister der Finanzen
Verbesserter automatischer Informationsaus-
tausch - Einigung auf wirksamere Regeln zur
Bekämpfung von Steuerflucht
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Abgabenordnung und des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung
Drucksache 18/3018
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({5})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung 96 Minuten vorgesehen. - Auch das ist offenkundig
einvernehmlich. Dann können wir so verfahren.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung erhält nun der Bundesfinanzminister Dr. Wolfgang
Schäuble.
({6})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir haben in der letzten Woche hier in Berlin
zusammen mit den Vertretern von 51 weiteren Staaten
und Gebieten eine multilaterale Vereinbarung über den
automatischen Informationsaustausch über Finanzkonten unterzeichnet. Danach werden ab 2017 die Steuerbehörden in Deutschland und in den anderen Unterzeichnerstaaten in einem automatisierten Verfahren
Kontoinformationen von den in ihrem Staat oder Gebiet
ansässigen Banken und Finanzdienstleistern erhalten,
und sie werden diese Daten untereinander austauschen.
Das ist ein wichtiger Schritt im Kampf gegen internationale Steuerhinterziehung.
Wer sich, verehrte Kolleginnen und Kollegen, daran
erinnert, wie langwierig und wie mühsam die Verhandlungen allein zur EU-Zinsrichtlinie in den letzten 15 Jahren gewesen sind, der wird um die Tragweite des jetzt
beschlossenen automatischen Informationsaustausches
wissen. Wenn man außerdem bedenkt, dass wir vor mehr
als zwei Wochen in demselben Finanzministerrat, in dem
wir 15 Jahre mit der EU-Zinsrichtlinie nicht so richtig
vorangekommen sind, einstimmig beschlossen haben,
dass wir den automatischen Informationsaustausch ab
2017 über die sogenannte Amtshilferichtlinie in europäisches Recht umsetzen, erkennt man, was hier in kurzer
Zeit an Veränderungen doch möglich geworden ist.
Mit dem Inkrafttreten dieses Informationsaustausches
stehen die Länder, die sich daran beteiligen, als Fluchtort
für Kapitalvermögen nicht mehr zur Verfügung. Somit
wird es schwieriger - unmöglich wird es nie, aber hoffentlich schwieriger -, Kapitaleinkünfte vor der rechtmäßigen Besteuerung zu verbergen. Steuerhinterziehung
wird unattraktiver.
Dieser internationale Informationsaustausch geht auf
eine gemeinsame Initiative von Frankreich, Großbritannien, Italien, Spanien und Deutschland zurück. Wir
haben uns früh für diese umfassende internationale Kooperation eingesetzt. In der immer unübersichtlicher
werdenden Welt des 21. Jahrhunderts können ja kleine,
vor allem aber große Vermögen per Knopfdruck im
Internet auf der ganzen Welt hin- und hergeschoben werden. In einer solchen Welt reichen die bisherigen bilateralen Doppelbesteuerungs- und Informationsaustauschabkommen nicht mehr aus. Wir brauchen einen
internationalen Ordnungsrahmen, in dem einheitliche
Standards gelten. Diesen multilateralen Ansatz treiben
wir jetzt voran.
Wir haben jetzt 52 Unterzeichnerstaaten. Es werden
sich aber weitere Staaten dem Abkommen anschließen.
Insgesamt bekennen sich bereits rund 100 Staaten und
Gebiete zu diesem Abkommen, darunter auch so wichtige Finanzzentren wie die Schweiz und Singapur. Ich
bin sicher, dass in kurzer Zeit weitere Staaten folgen
werden.
({0})
- Luxemburg hat unterzeichnet. Luxemburg ist schon
bei den Unterzeichnerstaaten der vergangenen Woche.
Auch in Luxemburg haben sich die Dinge geändert. Da
bleibt zwar noch viel zu tun, wie wir in den Zeitungen
lesen können. Das ist wahr. Wobei es da, wenn ich es in
den Zeitungen richtig lese - zu dem Thema komme ich
auch noch -, nicht nur illegale Steuerhinterziehung gibt,
sondern eben auch die Ausnutzung von legalen Gestaltungsmöglichkeiten.
({1})
Dagegen etwas zu unternehmen, ist der nächste Schritt.
({2})
Neben der Verringerung legaler Gestaltungsmöglichkeiten ist natürlich zunächst vor allem wichtig, dass wir
dafür sorgen, dass die Gesetze eingehalten werden. Die
Bekämpfung der illegalen Steuerhinterziehung ist deswegen also nicht weniger wichtig. Aber wir haben jetzt
eine neue Phase internationaler Steuerkooperation, weil
alle eingesehen haben, dass es so nicht weitergehen
kann. Das hat auch Konsequenzen für das Bankgeheimnis. Das drückt in vielen Ländern ja ein wichtiges
Grundverständnis zwischen Staat und Bürgern aus. Das
hat natürlich auch etwas damit zu tun, dass die Menschen nicht gegenüber jedermann alles offenlegen wollen. Das Recht auf Privatheit verstehen wir ja auch vor
dem Hintergrund des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung im Datenschutz in seiner Bedeutung immer
besser. Es geht also auch um das Bankgeheimnis. Das
Bankgeheimnis besteht mit diesem automatischen Informationsaustausch jedenfalls gegenüber den Steuerverwaltungen - das muss man sagen - nicht mehr fort. Aber
es bleibt ja Aufgabe des Datenschutzes, dafür zu sorgen,
dass die Bürger nicht gegenüber jedermann ihre privaten
Verhältnisse offenlegen müssen. Wir legen jedenfalls
auch bei dieser Steuerkooperation hohen Wert auf den
Datenschutz. Es müssen auch beim automatischen Informationsaustausch die höchsten Standards gelten. Wir haben dafür eine eigene Datenschutzklausel bei der OECD
hinterlegt.
Diese Form von Steuerpolitik ist im Übrigen ein zentraler Baustein einer stabilitätsorientierten Finanzpolitik.
Wir brauchen in Deutschland nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum, und das erreichen wir nur, wenn wir
Vertrauen bei Investoren und Verbrauchern schaffen
bzw. erhalten. Investoren brauchen Planungssicherheit
und gute Rahmenbedingungen, um weiter am Wirtschaftsstandort Deutschland zu investieren, um Forschung zu betreiben, um Innovationen zu entwickeln,
um gute Arbeitsplätze zu schaffen. Dabei spielen zuverlässige steuerpolitische Rahmenbedingungen eben eine
große, wichtige Rolle. Dazu gehört auch die Zusage,
dass wir in dieser Legislaturperiode keine Steuern erhöhen wollen.
({3})
Im Übrigen will ich in dem Zusammenhang die Bemerkung machen: Unser finanzpolitischer Spielraum ist
bei der Fortsetzung dieser richtigen Finanzpolitik begrenzt. Umgekehrt ist die Bereitschaft des Bundesrats,
einnahmemindernden Gesetzesvorschlägen zuzustimmen - die Zustimmung des Bundesrats zu solchen Gesetzen ist notwendig, wie wir spätestens seit dem gescheiterten Gesetz zum Abbau der kalten Progression
wissen -, nicht vorhanden. Deswegen rate ich dazu,
nicht allzu viel Kreativität bei Steuersenkungsvorschlägen zu entwickeln. Denn da sie kurzfristig nicht zu realisieren sein werden, können sie im Zweifel nur Verunsicherung schüren.
({4})
Das können wir wirtschaftlich überhaupt nicht gebrauchen.
({5})
Es wäre wünschenswert, die Auswirkungen der kalten
Progression endlich zu beseitigen.
({6})
Herr Präsident, ich bekomme hier ein Zeichen, dass
Sie mir etwas sagen wollen.
Nein, das war versehentlich.
Dann bitte ich um Nachsicht.
Weil wir bei Regierungserklärungen, Herr Kollege
Gambke, üblicherweise keine Zwischenfragen zulassen,
bitte ich, das gegebenenfalls zu einem späteren Zeitpunkt zu tun.
Also erinnere ich nur noch einmal daran - wahrscheinlich wäre das auch die Zwischenfrage gewesen -:
Wir haben 2012 ein Gesetz zum Abbau der kalten Progression verabschiedet. Es ist aber leider vom Bundesrat
blockiert worden, und bis heute hat sich daran nichts geändert. Aber wir versuchen, in den laufenden Verhandlungen mit den Ländern darüber eine Einigung zu erzielen, damit wir das endlich schaffen können.
Jetzt haben wir im Zusammenhang mit dem automatischen Informationsaustausch, verehrte Kolleginnen und
Kollegen, eine Diskussion über die Abgeltungsteuer. Ich
erinnere wieder und wieder daran: Die Abgeltungsteuer
ist mit dem Argument eingeführt worden - es war in seiner kommunikativen Wirkung schwer zu übertreffen -:
25 Prozent von X ist mehr als 45 Prozent von nix. - Solange man die Informationen nicht hat, ist eine Abgeltungsteuer in der Abwägung der Argumente - pro und
kontra - zumindest eine mit guten Argumenten versehene Lösung. Wenn der automatische Informationsaustausch eingeführt ist, kann man noch einmal überprüfen,
ob die Argumente dann noch so gelten. Aber ich rate
dazu, dass wir jetzt zunächst einmal warten, bis der automatische Informationsaustausch eingeführt ist. Wir haben jetzt seine Einführung vereinbart. Ab 2017 soll er
funktionieren, und dann können wir es tun. Es ist immer
so: Wenn man den zweiten Schritt vor dem ersten geht,
({0})
gerät man leicht ins Stolpern. Deswegen gehen wir
Schritt für Schritt voran. Das ist sehr viel besser.
({1})
Im Übrigen will ich angesichts öffentlicher Debatten,
die einen manchmal schon amüsieren können, sagen:
Unser Steuersystem ist im Hinblick auf unseren modernen Industriestandort international wettbewerbsfähig.
Wir haben keine höhere Unternehmensbesteuerung als
vergleichbare Industriestaaten. Die Unternehmensbesteuerung in Deutschland ist etwa im Vergleich zu den
Vereinigten Staaten von Amerika spürbar niedriger. Wir
bieten attraktive Rahmenbedingungen für Investitionen
und Innovationen. Wir sollten das weder leichtfertig gefährden noch leichtfertig zerreden.
Aber natürlich ist entscheidend, dass die bestehenden
Steueransprüche auch konsequent durchgesetzt werden.
Dazu ist der automatische Informationsaustausch ein
wichtiger Schritt, indem er illegale Steuerflucht für die
Zukunft erschwert und im Ausland lagernde Kapitalvermögen einer korrekten Besteuerung im Inland zuführt.
Damit bekämpfen wir das Problem, dass den öffentlichen Haushalten durch Steuerflucht Steuereinnahmen in
Milliardenhöhe fehlen.
Indem wir bestehende Steueransprüche durchsetzen
- auch daran muss man erinnern -, sichern wir die
Grundlagen unseres Gemeinwesens. Unser Bildungswesen, unsere Verkehrsinfrastruktur, unsere innere Sicherheit, unsere hohe soziale Absicherung - all das und noch
viel mehr hängt davon ab, dass die öffentlichen Haushalte zuverlässig und auskömmlich finanziert sind. In
diesem Land ist Konsens, dass dabei die Besteuerung an
der Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen auszurichten ist. Deswegen dürfen die Bezieher höherer Einkommen und die Besitzer größerer Vermögen nicht größere
Möglichkeiten haben, sich der legalen Besteuerung zu
entziehen. Niemand soll sich auf Kosten der Allgemeinheit seiner Steuerpflicht entziehen können. Dieses Prinzip wird durch illegale Steuerflucht infrage gestellt.
Da natürlich die Menschen nicht ganz ohne Grund
den Eindruck haben, dass Steuerflucht überwiegend bei
größeren Vermögen stattfindet, handelt es sich um ein
Problem, das mit Fairness und Gerechtigkeit zu tun hat.
So verbessern wir mit dem automatischen Informationsaustausch Fairness und Gerechtigkeit in unserem Lande.
({2})
Nun müssen wir auch - damit komme ich zum zweiten Thema - im Bereich der Unternehmensbesteuerung
auf die Sicherung der Einnahmebasis und auf höhere
Steuergerechtigkeit achten. International tätige Konzerne haben mehr Möglichkeiten - dazu nutzen sie unterschiedliche Steuerregelungen im In- und Ausland
aus -, um ihre Steuerbelastung zu minimieren. Das ist
legal, aber im Übermaß betrieben ist das ein Problem für
die Steuergesetzgebung und für die internationale Zusammenarbeit.
In der globalisierten Welt werden Waren- und Kapitalströme immer mobiler; und damit auch die maßgeblichen Einkunftsquellen. Das ist das objektive Problem.
Einkünfte stammen zunehmend aus immateriellen Werten, die steueroptimiert ins Ausland verlagert werden
können. So transferieren international tätige Konzerne
ihre Einkunftsquellen wie Patente und Lizenzen auf
Tochterunternehmen im Ausland, um von niedrigeren
Steuersätzen zu profitieren. Das führt dann zu Wettbewerbsverzerrungen im Verhältnis zu Unternehmen, die
überwiegend im Inland operieren. Anders als bei multinationalen Konzernen sind die Strukturen und Geschäftsmodelle kleiner und mittlerer Unternehmen wenig dafür
geeignet, die Möglichkeiten der international unterschiedlichen steuerlichen Regulierung auszunutzen.
Deswegen müssen unsere steuerlichen Regelungen an
die höhere Internationalität, Komplexität und auch an
die neue Wirtschaftswelt der digitalen Dienstleistungen
angepasst werden. Leider steigen übrigens dabei
zwangsläufig auch die Anforderungen an Umsetzung
und Vollzug der Regulierung. Einfacher wird es dadurch
nicht.
Wir haben in den letzten Jahren auch bei der Gestaltung der internationalen steuerlichen Bedingungen für
Unternehmen eine Menge erreicht. Wir haben - das geschah wiederum maßgeblich auf unser Betreiben hin im Rahmen der G 20 und im Rahmen der OECD Projekte gegen Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung
initiiert. Das ist die sogenannte BEPS-Initiative. BEPS
steht für Base Erosion and Profit Shifting, also für die
Erosion der steuerlichen Bemessungsgrundlage und die
Verlagerung der Profite. Ziel dieses BEPS-Projekts ist
es, international abgestimmte Standards zu vereinbaren,
um die Möglichkeiten multinational tätiger Unternehmen zur kreativen Steuergestaltung zu begrenzen. Wir
wollen den internationalen Steuerwettbewerb nicht abschaffen, aber wir wollen einen fairen Steuerwettbewerb
für alle. Gewinne sollen dort besteuert werden, wo die
zugrundeliegende unternehmerische Aktivität und die
tatsächliche Wertschöpfung stattfinden. Wir wollen
Doppelbesteuerung - das war schon immer so - verhindern, aber wir wollen auch zunehmend verhindern, dass
es doppelte Nichtbesteuerung gibt. Beides führt nämlich
zu Wettbewerbsverzerrungen und damit zu Behinderungen von marktwirtschaftlichen Prozessen.
({3})
Im Übrigen sollen sich international tätige Konzerne
genau wie andere Unternehmen auch angemessen an der
Finanzierung der öffentlichen Haushalte beteiligen. Es
kann nicht sein, dass sich wenige auf Kosten vieler bereichern. Das gilt übrigens für Staaten wie für Unternehmen, und es gilt in beiden Fällen für kleine wie für
große.
({4})
Im Rahmen dieses Projekts hat die OECD in einer bemerkenswert kurzen Zeit - mein britischer Kollege und
ich haben die Initiative vor drei Jahren in Mexiko gestartet - wirklich enorme Fortschritte auf diesem Gebiet zustande gebracht. Das muss man mit großem Respekt und
voller Dankbarkeit sagen.
Wir haben jetzt im September in Australien im Kreise
der G-20-Finanzminister die ersten 7 von insgesamt
15 Aktionspunkten in Vorbereitung auf den G-20-Gipfel
gebilligt. Die sollen in der kommenden Woche in BrisBundesminister Dr. Wolfgang Schäuble
bane begrüßt werden. Im kommenden Jahr erwarten wir
internationale Verständigung zu weiteren Punkten. Mit
diesen konkreten und umsetzbaren Empfehlungen können die beteiligten Staaten dann den Gesetzgebungsprozess beginnen.
Ich will das wichtigste Beispiel kurz erläutern. Im Bereich der Patent- und Lizenzboxen können international
agierende Unternehmen ihre Patent- und Lizenzeinnahmen an konzerninterne Tochterunternehmen, die ihren
Sitz in Ländern mit einem niedrigeren Steuersatz haben,
verschieben und damit die Besteuerung minimieren.
Deswegen ist der Inhalt der, dass die steuerliche Begünstigung solcher Aktivitäten in Mitgliedsländern nur insoweit noch erlaubt ist, als sie auf eigenen Forschungsund Entwicklungsarbeiten gründen. So können wir den
Missbrauch durch Briefkastenfirmen in Zukunft verhindern. Darauf haben wir uns mit Großbritannien geeinigt.
Wir besprechen im Moment die technischen Fragen für
eine Übergangslösung, und die Vereinbarung soll dann
auf der G-20-Ebene eingebracht werden. Danach werden
wir sie in europäisches Recht überführen. Im Zuge dessen können wir in Deutschland ohne Verstoß gegen europäisches Recht eine Gesetzgebung auf den Weg bringen,
gemäß der die Abzugsfähigkeit in Deutschland nur noch
zugelassen ist, wenn die Regelungen in dem jeweils anderen Staat dieser Vereinbarung entsprechen.
Im Übrigen hat die irische Regierung, wie Sie mitverfolgen konnten, angekündigt - auch dazu haben wir sehr
viel beigetragen -, dass sie das als „Double Irish“ bekannte Schlupfloch für Unternehmen - es besteht im
Wesentlichen darin, dass man rechtlich in Irland ansässig
sein kann, ohne dort und damit auch in der Europäischen
Union steuerpflichtig zu sein - abschaffen will. Das ist
ebenfalls ein wichtiger Schritt.
Schließlich wollen wir auch in der nationalen Steuerpolitik für mehr Gerechtigkeit und Fairness sorgen. Deswegen bringen wir den Gesetzentwurf zur Änderung der
Abgabenordnung und des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung ein, mit dem die Regelungen zur strafbefreienden Selbstanzeige weiterentwickelt werden sollen.
Wir haben uns intensiv mit den Ländern abgestimmt
- Steuerverwaltung ist ja Sache der Länderverwaltungen und sind uns einig, dass wir das Rechtsinstitut der strafbefreienden Selbstanzeige grundsätzlich beibehalten,
aber die Bedingungen ab kommendem Jahr deutlich verschärfen wollen.
({5})
Im Wesentlichen soll die Grenze für die strafbefreiende Selbstanzeige von jetzt noch 50 000 Euro auf
25 000 Euro abgesenkt werden. Bis zu diesem Betrag
bleibt sie straffrei, und es wird auch kein Strafzuschlag
erhoben. Ab 25 000 Euro werden in Zukunft bei einer
Selbstanzeige nach dem jeweiligen Hinterziehungsbetrag gestaffelte Strafzuschläge erhoben. Bei einem Hinterziehungsbetrag von 25 000 Euro bis 100 000 Euro
soll ein Zuschlag von 10 Prozent gezahlt werden, ab
100 000 Euro bis zu 1 Million Euro 15 Prozent und über
1 Million Euro 20 Prozent.
Des Weiteren soll der Berichtigungszeitraum von bisher fünf auf zehn Jahre ausgedehnt werden. Das heißt,
Steuerhinterzieher, die von der Selbstanzeige Gebrauch
machen wollen, müssen zu allen Steuerstraftaten einer
Steuerart die Angaben in vollem Umfang berichtigen,
ergänzen oder nachholen, und zwar für den Zeitraum der
letzten zehn Jahre.
Wir haben zugleich Wünsche aus der Praxis nach
mehr Rechtssicherheit im Bereich der Umsatzsteuervoranmeldung und der Lohnsteueranmeldung aufgegriffen
und setzen sie mit dem Gesetzentwurf um. Wir stellen
den Rechtszustand, wie er vor dem Schwarzgeldbekämpfungsgesetz galt, wieder her, sodass künftig erneut
mehrfache Korrekturen bei den Voranmeldungen im
Laufe eines Jahres möglich sein werden. Das ist sicherlich richtig. Diesbezüglich sind wir damals bei der
Schwarzgeldbekämpfung ein Stück zu weit gegangen.
Die Abgabe einer Selbstanzeige in Form der Umsatzsteuerjahreserklärung für ein abgelaufenes Jahr soll wieder unabhängig davon erfolgen können, ob die Umsatzsteuervoranmeldungen für das laufende Jahr fehlerhaft
waren.
Mit diesen Neuregelungen haben wir einen ausgewogenen Kompromiss von Verschärfung der Folgen einer
Steuerhinterziehung und notwendigen Korrekturmöglichkeiten bei komplexen Voranmeldungen erarbeitet.
Die strafbefreiende Selbstanzeige bietet Steuerhinterziehern weiterhin einen Weg zurück in die Steuerehrlichkeit. Zugleich tragen wir mit der Verschärfung der Bedingungen dem Gerechtigkeitsempfinden Rechnung.
Mit dem automatischen Informationsaustausch, den
internationalen Standards gegen Steuergestaltung und
Steuervermeidung und mit der Neuregelung der strafbefreienden Selbstanzeige unternehmen wir wichtige
Schritte in Richtung von mehr Steuergerechtigkeit. Wir
erhöhen die Steuergerechtigkeit im In- wie im Ausland,
tragen zur Sicherung der Finanzierungsbasis der öffentlichen Haushalte bei und stärken damit das Vertrauen der
Menschen ebenso wie die Rahmenbedingungen für Unternehmer und Investoren. Wir handeln im Sinne des Gedankens der Generalprävention, demzufolge Gesetze
und Regelungen dem Schutz der Allgemeinheit dienen
und das Vertrauen der Gesellschaft in die Rechtsordnung, in diesem Fall die Steuerordnung, stärken, sei es
durch mehr Transparenz, durch einheitliche Standards
oder durch strengere Regeln.
Wir haben nun die Chance, einen internationalen Ordnungsrahmen in Steuerfragen zu schaffen, der unserer
Gesellschaft und unserer Wirtschaft nachhaltigen Nutzen und damit Wohlstand sichern kann, in Deutschland
und weit darüber hinaus. Diese Chance, liebe Kolleginnen und Kollegen, sollten wir nutzen.
Herzlichen Dank.
({6})
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Sahra Wagenknecht für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Das, was Sie hier vorgetragen haben, Herr Schäuble,
hört sich natürlich alles sehr eindrucksvoll an.
({0})
Das Problem ist nur, dass die Geschichte des Kampfes
gegen die Steuerhinterziehung von Millionären und
Konzernen leider eine Geschichte eindrucksvoller Ankündigungen ist, denen in der Regel nichts als heiße Luft
gefolgt ist.
({1})
Herr Schäuble, Sie haben vorhin selbst kurz auf
Luxemburg verwiesen. Es geht heute durch alle Medien,
wie Luxemburg - das ist nicht ganz neu und nicht ganz
unbekannt - den Konzernen in großem Stil durch das
Bereitstellen von Konstruktionen geholfen hat, ihre
Steuerquote legal auf etwa 1 Prozent ihrer Gewinne
- teilweise vielleicht sogar 0 Prozent - herunterzudrücken. Das ist passiert unter Federführung Ihres Kommissionspräsidentenkandidaten, der inzwischen Präsident
der Europäischen Kommission ist, des Herrn Juncker.
Ich muss sagen: Ich finde es schon bemerkenswert, dass
Beihilfe zur Steuerhinterziehung, dass Beihilfe daran,
dass große Konzerne die Allgemeinheit in Europa in
Milliarden- und Billionenhöhe schädigen können,
({2})
in diesem Europa offensichtlich für höchste Funktionen
prädestiniert.
({3})
Allein das ist ein riesiger Skandal.
({4})
Herr Schäuble, Wenn Sie sagen, es handele sich um
legale Möglichkeiten, erwidere ich Ihnen: Es gibt natürlich genauso legale Möglichkeiten, hier in Deutschland
diese Art der Steuerhinterziehung von Konzernen zu
verhindern. Sie brauchen nur dafür zu sorgen, dass Lizenzgebühren, Patentgebühren und Zinsen, die in Länder
fließen, die bekanntermaßen solche Modelle anbieten
und genau diese Gebühren und Zinsen eben nicht besteuern, hier nicht mehr abzugsfähig sind. Natürlich wäre
das möglich.
({5})
Ich kann es nicht mehr hören, dass man sich hinstellt und
sagt: Wir können da nichts tun.
Schauen Sie sich Europa an: Was wurde den Krisenländern alles diktiert? Die Löhne mussten sinken, die öffentliche Beschäftigung musste abgebaut werden. Aber
wer hat auch nur einmal Irland darauf hingewiesen, dass
dieser unsäglich niedrige Unternehmensteuersatz ein
Problem ist?
({6})
Sie berufen sich jetzt darauf, dass das Double-IrishModell abgeschafft sei. Der irische Finanzminister hat
aber gleich hinzugefügt, dass er großzügige Patentboxen
einführen wird. Das heißt, das, was Sie hier machen, ist
nichts anderes, als die Öffentlichkeit für dumm zu verkaufen. Natürlich kann die Politik das verhindern. Der
Wille fehlt. Das ist das zentrale Problem.
({7})
„Die Ära des Bankgeheimnisses ist vorüber.“ Genau
dieser Satz stand übrigens schon einmal im Abschlusskommuniqué eines Weltfinanzgipfels, und das war im
April 2009. Seitdem sind die Auslandsvermögen in der
Schweiz um über 14 Prozent gewachsen, die in anderen
Steueroasen sogar noch mehr. Wir erinnern uns auch gut,
Herr Schäuble, dass Sie noch 2012 ein Abkommen mit
der Schweiz abschließen wollten, das genau dieses
Bankgeheimnis für alle Ewigkeit garantiert und allen
Steuerhinterziehern mit Schweizer Konten eine Weißwäsche garantiert hätte.
({8})
Da war bei Uli Hoeneß & Co. wahrscheinlich schon der
Champagner kalt gestellt.
({9})
Ich erinnere mich auch noch sehr gut, dass Sie sich damals heftig beschwert haben, als dieses Abkommen im
Bundesrat gescheitert ist. Wäre es nicht gescheitert, gäbe
es das jetzige, das Sie gerade so sehr feiern, überhaupt
nicht.
({10})
Sie reden gerne vom Rechtsstaat. Aber in Wahrheit
gibt es doch längst zweierlei Recht in diesem Land. Ein
Schwarzfahrer kann im Knast landen, wenn er ein paarmal ohne Ticket in der S-Bahn erwischt wird. Ein Kleinbetrieb, der mit der Zahlung seiner Mehrwertsteuer im
Rückstand ist, wird unter massiven Druck gesetzt und
nicht selten in den Konkurs getrieben. Großen Konzernen dagegen werden Scheunentore an Möglichkeiten eröffnet, Steuern ganz legal nach unten zu drücken.
Gleichzeitig: Wer als Privatperson die Allgemeinheit um
Millionen prellt, soll auch in Zukunft die Chance haben,
sich bei Witterung von Gefahr durch Selbstanzeige
Straffreiheit zu erkaufen. Das ist doch ein einziger Skandal!
({11})
Wenn ein reuiger Bankräuber seine Beute irgendwann
zurückgibt, kann auch er nicht als unbescholtener Bürger
das Haus verlassen. Bankraub bleibt auch dann strafbar,
wenn man ihn aus Angst vor Aufdeckung selbst zur Anzeige bringt.
({12})
Da muss man Sie von CDU und CSU, aber auch Sie von
der SPD natürlich fragen: Finden Sie das Ausrauben der
Allgemeinheit wirklich so viel harmloser als das Ausrauben einer Bank?
({13})
Wir als Linke sehen das nicht so, zumal es sich beim
Raub an der Allgemeinheit um weit größere Summen
handelt: Allein in Deutschland schätzt man die Ausfälle
durch Steuerbetrug und Steuertricks auf etwa 100 Milliarden Euro jährlich. 100 Milliarden Euro sind fast ein
Drittel des Bundeshaushaltes. Und da behaupten Sie,
ohne rot zu werden, es sei kein Geld da für menschenwürdige Pflege, für ordentliche Bildung, für eine ausreichende Zahl von Kitaplätzen, für armutsfeste Rente?
Was ist denn das für eine Heuchelei? Natürlich ist das
Geld da. Es wird nur mithilfe von Banken und Finanzkriminellen in den Steueroasen dieser Welt versteckt.
Das Problem ist doch, wo das Geld bleibt.
({14})
Insofern finde ich es schon bemerkenswert, dass Politiker, die so gern über Schuldenbremsen und schwarze
Nullen philosophieren, erkennbar so wenig Ehrgeiz zeigen, wenn es darum geht, dieses riesige schwarze Loch
in den öffentlichen Finanzen irgendwann einmal zu stopfen.
Nun weiß man zwar, dass die CDU selbst einschlägige Erfahrungen mit Schwarzgeldkonten und Schattenfinanzen hat,
({15})
Umstände, die nicht zuletzt aufgrund des Schweizer
Bankgeheimnisses nie restlos aufgeklärt werden konnten. Aber man muss natürlich sagen: Auch den SPDFinanzministern Eichel und Steinbrück fiel zum Thema
Steuerhinterziehung nicht viel mehr ein als großzügige
Amnestien und die Einführung dieser unsäglichen Abgeltungsteuer, die dazu führt, dass Menschen, die hart arbeiten, per se höhere Steuersätze haben als Menschen,
die von ihren Vermögenseinkommen leben. Auch das
gehört schleunigst abgeschafft.
({16})
Wenn Sie von der SPD das wollen, dann bringen Sie
doch einen Antrag ein. Wir werden dafür stimmen. Sie
haben doch eine Mehrheit dafür.
({17})
Keine Bundesregierung hat auch nur das Mindeste an
der skandalösen Situation geändert, dass heute, wie in alten feudalen Zeiten, die Reichsten der Reichen kaum
noch Steuern zahlen, während der Fiskus bei denjenigen,
die hart arbeiten und oft viel zu wenig dafür bekommen,
gnadenlos zugreift. Das wird auch das neue Abkommen
nicht ändern.
„Offshore-Leaks“ hat vor einiger Zeit aufgedeckt,
wer so alles Briefkastenfirmen im Steuerparadies Panama unterhält. Die Liste las sich wie das „Who is
who?“ der deutschen Wirtschaft. Da finden wir all Ihre
Freunde und Geldgeber, also die Familien Quandt,
Porsche, Piëch, die Kaffeedynastie Jacobs und viel alten
Adel wie Finck, Habsburg und Wittgenstein.
({18})
Panama dürfte sich in Zukunft eines weiter wachsenden Zuspruchs erfreuen; denn es gehört zu den Ländern,
die dieses Abkommen nicht unterschrieben haben. Auch
die Schweiz lässt sich Zeit. Da sagen Sie aber nicht: Da
können wir nichts machen. - Wo gutes Zureden nicht
hilft, muss man eben ein bisschen ruppiger werden.
({19})
Ich garantiere Ihnen: Würden Sie alle Zinsen und Dividenden, die aus Deutschland oder vielleicht sogar aus
der gesamten EU in solche Steueroasen fließen, mit einer Quellensteuer von, sagen wir, 50 Prozent belegen,
würde die Gesprächsbereitschaft dieser Steueroasen rasant zunehmen.
({20})
Man muss sich natürlich schon fragen, warum Sie die
eigentlichen Organisatoren dieser Steuerflucht, nämlich
die Banken, nach wie vor unbehelligt lassen. Warum
schaffen Sie kein Gesetz, dass die Banklizenz in
Deutschland daran geknüpft ist, dass keine Tochterfirmen in Steueroasen unterhalten werden? Finden Sie es
wirklich normal, dass allein die Deutsche Bank
970 Tochterfirmen in Ländern unterhält, die das Netzwerk Steuergerechtigkeit als Schattenfinanzplätze bezeichnet? Was meinen Sie, was die da machen? Die Südseesonne genießen?
({21})
Es waren übrigens genau diese Hebel, nämlich Quellensteuern und Druck auf die Banken, mit denen die
USA weltweit Abkommen erzwungen haben, die ihnen
jetzt gewährleisten, dass die Kontodaten amerikanischer
Staatsbürger an sie gemeldet werden. Das Pikante an
diesem Fall ist aber, dass sich die USA am Abkommen
über gegenseitigen Informationsaustausch, das Sie hier
beschrieben haben, nicht beteiligen wollen. Das heißt,
die US-Steueroase Delaware ist nach wie vor ein superattraktiver Standort für ausländische Steuerflüchtlinge
weltweit. Ich stelle fest, dass die Bundesregierung auch
das anscheinend demütig hinnehmen wird.
Insoweit muss man schon sagen: Dieses Abkommen
hat erstens zu wenig Unterzeichner. Zweitens beinhaltet
es Regeln, die große Scheunentore an Umgehungsmöglichkeiten öffnen. So werden beispielsweise alte Konten
gar nicht gemeldet. Gemeldet wird auch nicht, wer Anteile eines Unternehmens von weniger als 25 Prozent
hält usw.
Frau Kollegin!
Ich komme zum Schluss. - Das heißt, das Ganze ist
eher ein Konjunkturprogramm für die Nadelstreifenmafia der auf Steuerflucht- und Steuerhinterziehungsberatung spezialisierten Firmen und Banken. Die müssen
sich jetzt ein paar zusätzliche Kniffe ausdenken, um ihrer vermögenden Klientel weiterhin das begehrte Produkt „steuerfreie Millionen“ anbieten zu können.
Und Sie, Frau Wagenknecht, müssen nun zum
Schluss kommen.
Was wir wirklich brauchen in Deutschland, ist endlich
({0})
eine Politik, die nicht mehr vor der geballten Macht des
Geldadels kapituliert. Dafür steht die Linke, und dafür
werden wir weiter kämpfen.
({1})
Frau Wagenknecht, bei aller Liebe: Bei einem 20-prozentigen Redezeitzuschlag des Präsidenten ist irgendwann dann auch der Toleranzrahmen erschöpft.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Carsten Schneider
für die SPD-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
reden heute über zwei Aspekte der Gesetzgebungsmaßnahmen, die markant sind im Hinblick auf die Frage, wer
diesen Staat eigentlich finanziert.
Der erste Aspekt ist, dass wir, wie von Minister
Schäuble schon angesprochen wurde, die legale Steuergestaltung von Großkonzernen einschränken wollen. In
dem Land, in dem die Umsätze erwirtschaftet werden,
müssen die Gewinne auch versteuert werden. Ich werde
darauf noch zu sprechen kommen.
Der zweite Aspekt ist die Abschaffung des Bankgeheimnisses innerhalb der Europäischen Union, wobei
sich viele weitere Staaten und internationale Finanzplätze daran beteiligen. Dass das gelingt, hätte ich mir
vor wenigen Jahren nicht vorstellen können. Deswegen
ist das heute ein großer Schritt.
({0})
Wir machen Gesetze, die sichern sollen, dass unser
Staat von den Bürgerinnen und Bürgern und von den
Unternehmen finanziert wird. Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer zahlen ihre Steuer, die Lohnsteuer wird
direkt abgeführt. Der Rentner zahlt seine Steuern. Alle
zahlen Mehrwertsteuer an der Kasse. Unternehmen haben ein wenig mehr Gestaltungsmöglichkeiten, aber im
Prinzip zahlen auch sie Steuern, zumindest die kleinen
und mittelständischen Unternehmen.
Ein Problem ist dann gegeben, wenn Kapital flexibel
ist und sich verstecken kann. Das betrifft diejenigen, die
über sehr viel Geldvermögen verfügen und es in den vergangenen Jahrzehnten quasi als Sport betrieben haben,
es in die Schweiz, nach Luxemburg, Liechtenstein und
in andere Steueroasen zu schaffen und dort anzulegen.
Das Ganze geschah unter dem Deckmantel des Datenschutzes und der Autonomie des jeweiligen Ziellandes.
Jemand, der arbeitet, muss seine Steuern hier in
Deutschland zahlen. Im Gegensatz dazu haben manche,
die über sehr viel Geld verfügen, keinen einzigen Cent
Steuern auf ihre Kapitalerträge gezahlt. Das war ein asoziales Verhalten.
({1})
Ich glaube, von Günter Grass stammt der Spruch „Der
Fortschritt ist eine Schnecke“. Das trifft hierauf zu: Die
Vorarbeiten für dieses Abkommen laufen seit 2002.
Hans Eichel hat damals die EU-Zinsrichtlinie auf den
Weg gebracht. Es hat sehr lange gedauert, bis sie beschlossen wurde. Österreich, Luxemburg haben sich dagegen gewehrt. Hier haben wir jetzt insbesondere durch
das Entdeckungsrisiko und auch - da gebe ich Ihnen
recht, Frau Wagenknecht - durch die Drohung der amerikanischen Regierung, den europäischen Banken die Lizenz zu entziehen, wenn sie die Kontodaten amerikanischer Staatsbürger nicht herausrücken - das sogenannte
FATCA-Abkommen -, Fortschritte erzielt. Ich hätte mir
nicht vorstellen können, dass die Schweiz - mit ein bisschen Verzögerung, aber sie werden es tun - die Daten
von bisher anonymen Kontoinhabern herausrückt. Das
ist ein großer und wichtiger Schritt.
Was hat der Deutsche Bundestag dazu getan? Ich
glaube, schon einiges. Wir Sozialdemokraten haben immer in den Mittelpunkt gestellt, dass die Finanzierung
dieses Staates fair sein muss. Aus diesem Grund haben
wir das Abkommen, das Sie, Herr Minister Schäuble,
zur Zeit der vorigen Koalition mit der Schweiz schließen
wollten und welches die Anonymität derjenigen, die ihr
Geld dort haben, sichern sollte, im Bundesrat abgelehnt,
und nur weil wir es abgelehnt haben, sind Fälle von berühmten Fußballmanagern öffentlich geworden, die sich
schon gefreut hatten, in der Anonymität bleiben zu können.
Carsten Schneider ({2})
({3})
Deswegen werden wir die Bedingungen für eine strafbefreiende Selbstanzeige deutlich verschärfen. Der automatische Informationsaustausch - dafür haben Sie die
volle Unterstützung der Großen Koalition - ist der richtige Schritt. Ich wünschte mir, die Amerikaner machten
da auch noch mit, überhaupt keine Frage. Ich hoffe, dass
ein solcher Informationsaustausch weltweit eingeführt
wird. Aber es ist überhaupt schon einmal ein großer
Schritt - und dafür will ich mich auch bedanken -, dass
Sie 51 Staaten davon überzeugt haben - Singapur, die
Schweiz etc. -, dieses Abkommen hier in Berlin zu unterzeichnen und sich gläsern zu machen. Das ist ein großer Fortschritt, und dafür sage ich auch: Herzlichen
Dank!
({4})
Mit der Abgeltungsteuer werden wir uns - die Vorarbeiten müssen vorher laufen - spätestens dann, wenn der
automatische Informationsaustausch funktioniert, wieder beschäftigen. Unser Ziel als Sozialdemokraten ist,
dass Einkommen aus Vermögen genauso besteuert werden muss wie Einkommen aus Arbeit.
({5})
Der zweite Aspekt, den Sie angesprochen haben, ist
die scheinbar legale Steuergestaltung von Großkonzernen. Legal ist, was im jeweiligen Staat vom Parlament
beschlossen wurde. Was „legal“ ist, ist aber noch lange
nicht moralisch korrekt. Ich habe heute die Süddeutsche
Zeitung gelesen; darin ging es auch um die Datengrundlage des Tax Justice Network. Dieses Tax Justice Network hat für die Aufklärung von Steuerbetrug viel mehr
getan als viele Regierungen in den vergangenen Jahrzehnten. Dafür muss man einmal Danke sagen: dass eine
zivilgesellschaftliche Organisation und auch der Journalismus hier vorangehen und etwas aufdecken, was uns
hilft, gegen Steuerbetrug vorzugehen.
({6})
In dieser Hinsicht wünschte ich mir von der Steuerverwaltung und auch von den politischen Akteuren in den
jeweiligen Ländern viel mehr Initiative.
Damit komme ich zu Luxemburg. Man muss sich
schon wundern, warum seit den 80er-Jahren Finanzkonzerne ihre Zentralen in Luxemburg haben. Luxemburg
ist ein schönes Land; aber so groß und mächtig ist es eigentlich nicht, und so viele produzierende Unternehmen
sind da eigentlich nicht ansässig, um den Staat zu finanzieren. Man muss sich schon fragen, warum Amazon
dort seinen Europasitz hat. Man muss sich ebenfalls fragen, warum Länder wie die Niederlande und Irland sehr
hart an der Grenze dessen, was moralisch vertretbar ist
- ich meine, diese Grenze wurde bereits überschritten -,
durch Steuerdumpinggesetze dafür gesorgt haben, dass
Gewinne aus Deutschland, aus dem Vereinigten Königreich, aus anderen Ländern der EU in ihre Länder transferiert wurden, wo sie marginal besteuert werden. Das ist
nicht akzeptabel. Dem müssen wir einen großen Riegel
vorschieben. Gewinne müssen dort besteuert werden, wo
sie entstehen.
({7})
Ich erwarte, dass der aktuelle Kommissionspräsident,
Herr Juncker, der 20 Jahre lang Finanzminister und Premierminister von Luxemburg war, über die Handlungsweisen der Luxemburger Steuerbehörden Auskunft gibt.
Denn jetzt hat er in seiner Funktion als Präsident der
Europäischen Kommission eine andere Aufgabe.
Es kann nicht sein, dass wir Deutsche immerzu in
Brüssel Kompromisse suchen und Geld geben. Stichworte sind hier ESM und Bankenrekapitalisierung, über
die wir hier später noch sprechen. Bei all diesen Dingen
wird von Deutschland Solidarität erwartet. Das ist die
eine Seite. Auf der anderen Seite geht es um die Staatseinnahmen, um eine ordentliche und gerechte Besteuerung, was in der Autonomie der Nationalstaaten liegt.
Ich sage hier für die SPD: Wir erwarten innerhalb der
Europäischen Union deutliche Fortschritte in Richtung
einer Fiskalunion, einer gemeinsamen Steuer- und
Finanzpolitik. Nur dann sind wir bereit, uns auf der Ausgabenseite stärker zu engagieren. Beides gehört zusammen.
({8})
Es wird spannend werden, zu sehen, ob dies die Europäische Kommission mit Herrn Juncker an der Spitze
wirklich vorantreibt. Unsere Erwartungshaltung ist klar.
Wenn hier nichts passiert, ist das nicht nur ungerecht,
sondern es führt zu extremen Wettbewerbsverzerrungen.
Ein Unternehmen mit 20 Mitarbeitern in meinem Wahlkreis Erfurt wird normal besteuert. Es hat überhaupt
keine Chance, seinen Steuersatz von knapp 30 Prozent
auf unter 1 Prozent zu drücken. Dieses Unternehmen
steht natürlich im Wettbewerb mit anderen Unternehmen, die keine oder wenig Steuern zahlen. Das ist ungerecht, das ist unfair.
Wir sollten diejenigen schützen, die sich an die Gesetze in Deutschland halten. Dafür, Herr Finanzminister,
haben Sie unsere volle Unterstützung.
({9})
Kerstin Andreae ist die nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am
2. April 2009 haben die Mitglieder der G 20, also auch
Bundeskanzlerin Merkel, die Ära des Bankgeheimnisses
für beendet erklärt. Das hat aber den Finanzminister anscheinend nicht beeindruckt; denn als wäre nichts gewesen, hat er mit der Schweiz darüber verhandelt, Steuerbetrügern weiterhin Anonymität zu gewähren. Nichts
anderes hätte das deutsch-schweizerische Steuerabkommen bedeutet.
({0})
Was wäre das für ein verheerendes Signal gewesen:
Der Ehrliche zahlt Steuern, dem Unehrlichen wird Anonymität gewährt. Fragen Sie doch einmal die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land: Steuerhinterziehung untergräbt den Zusammenhalt in der Gesellschaft. Das ist
wahrlich kein Kavaliersdelikt, sondern dieses Verhalten
führt dazu, dass der Zusammenhalt in der Gesellschaft
auseinanderbricht, dass sich die Menschen nicht mehr
ernst genommen fühlen und dass die einen für die Infrastruktur und das Gemeinwesen zahlen, die anderen nicht.
Es darf nicht sein, dass aus dem Gefühl eine Tatsache
wird.
({1})
Rot-Grün hat diese Pläne im Bundesrat gestoppt und
damit diese Ewigkeitsgarantie für Steuersünder glücklicherweise - so muss man sagen - verhindert. Seither erleben wir eine Rückkehr in die Steuerehrlichkeit, die
sich in diesem Ausmaß keiner hätte vorstellen können:
32 000 Selbstanzeigen von Januar bis September 2014.
Das sind 3 500 pro Monat oder 120 pro Tag. Wenn es
noch irgendeines Beweises bedurft hätte, dass dieses geplante Steuerabkommen in der Grundkonzeption falsch
war, dann ist er hiermit erbracht. Anonymität ist keine
Alternative zum Informationsaustauch.
({2})
Viele haben lange dafür gekämpft, innerhalb und außerhalb der Parlamente. Mein besonderer Dank, mein
Respekt und meine Anerkennung gelten Attac, die die
Aufhebung des Bankgeheimnisses seit jeher zum Thema
gemacht haben.
({3})
Gemeinnützigkeit im besten Sinne, so möchte ich das
einmal nennen. Danke an Attac!
({4})
Sie wissen, ich bin Schwäbin.
({5})
- Nein, ich bin gebürtige Schwäbin; darauf bestehe ich. Umsonst gibt es nichts, auch kein Lob. Dass das Bankgeheimnis jetzt fällt, ist richtig. Dafür verdienen Sie unser Lob. Es ist richtig, dass das jetzt geschieht. Aber wir
brauchen ein paar weitere nächste Schritte, und zwar
nicht irgendwann, sondern jetzt und mit klaren Signalen.
Erstens muss dieser Datentausch sofort in alle - vor
allem auch in alle neuen - Doppelbesteuerungsabkommen aufgenommen werden. Zweitens muss die Abgeltungsteuer abgeschafft werden. Wir müssen aus der
Anonymität herauskommen.
({6})
Warum soll der Informationsfluss international erfolgen,
aber auf nationaler Ebene nicht? Jetzt müssen die Vorbereitungen dafür getroffen werden - das wäre ein Signal -,
dass die Abgeltungsteuer abgeschafft wird. Das wäre in
diesem Zusammenhang richtig.
Außerdem müssen - das ist der dritte Punkt - unfaire
Steuerpraktiken beendet werden. Herr Schneider, ich
habe aufmerksam zugehört, als Sie die legalen Steuergestaltungsmöglichkeiten der Konzerne angesprochen und
gesagt haben: Wir gehen es an. - In Ihrer Rede habe ich
dann aber nichts dazu gehört. An der Stelle bleibt für
mich ein großes Fragezeichen.
Es ist ein Gebot der Gerechtigkeit, dass Kapitalanleger nicht anders behandelt werden als Arbeitnehmer.
Wer von seinem Vermögen lebt, soll nicht anders, geschweige denn besser gestellt werden als jemand, der einer Arbeit nachgeht.
({7})
Bei diesem ist dem Fiskus bekannt, wie hoch sein Einkommen ist. Bei Zinsen, Dividenden und Veräußerungsgewinnen greift jedoch die Abgeltungsteuer. Mit dem Informationsaustausch, der jetzt verabredet wurde, wird
die Situation paradox: Zinsen in Liechtenstein, in Mexiko oder auf den Cayman Islands sind bekannt, Zinsen
innerhalb Deutschlands aber nicht. Das heißt, es braucht
auch über die Zinsen und Vermögenserträge auf deutschen Konten einen Informationsaustausch.
({8})
Aber auch bei der gerade noch legalen Steuervermeidung muss gehandelt werden. Deutschland entgehen
Milliardeneinnahmen. Im Schnitt zahlt ein Mittelständler 30 Prozent mehr Steuern als ein international agierender Konzern. Mitverantwortlich dafür sind die sogenannten Lizenz- und Patentboxen. Auf internationaler
und vor allem auf europäischer Ebene wird versucht, dagegen anzugehen. Die Lizenzboxen locken in verschiedenen EU-Ländern mit niedriger Besteuerung.
Was erleben wir jetzt? Statt für ein europaweites Verbot zu streiten, liebäugelt der Finanzminister offen damit, diese Lizenzboxen auch in Deutschland einzuführen. Damit gefährden Sie zum einen den internationalen
Einigungsprozess, und zum anderen schaffen Sie wiederum ein Steuerschlupfloch für Großkonzerne.
({9})
Wir wollen, dass Sie vorangehen, auch in Europa, und
sich gegen Lizenzboxen hier und in anderen Ländern
aussprechen.
Ich halte den Vorschlag aus Hessen für eine ganz gute
Idee: Patent- und Lizenzausgaben werden nur dann anerkannt, wenn im Empfängerland mindestens 25 Prozent
Steuern darauf gezahlt werden. Was wäre das Signal?
Gewinnverlagerung würde unattraktiver. Die anderen
Länder wüssten, dass wir es mit der Bekämpfung von internationaler Steuergestaltung ernst meinen, und mit den
Mehreinnahmen könnten Sie den Mittelstand entlasten.
Es wird immer gesagt, für die degressive AfA und die
steuerliche Forschungsförderung sei kein Geld da. Nun
bietet sich die Möglichkeit, die Finanzierung zu sichern.
({10})
Sie müssen einen umfassenden Informationsaustausch gewähren. Sie müssen jetzt die Voraussetzungen
schaffen, dass die Abgeltungsteuer fällt, und Sie müssen
verhindern, dass neue Steuergestaltungsmöglichkeiten
für Großkonzerne geschaffen werden. Wenn Sie das machen, dann kommen wir zusammen.
Herzlichen Dank.
({11})
Für die CDU/CSU-Fraktion erhält der Kollege Ralph
Brinkhaus das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe
zum wiederholten Mal ein Déjà-vu-Erlebnis. Die Opposition bemüht sich krampfhaft, irgendetwas zu kritisieren. Aber so richtig gelingt das nicht; denn anscheinend
ist das, was wir hier vollbracht haben, ziemlich gut.
Frau Andreae, ich konnte Ihren Ausführungen an der
einen oder anderen Stelle nicht mehr folgen. Ich glaube,
da ist auch einiges durcheinandergegangen. Sie haben
gesagt, dass Menschen, die über Kapitaleinkünfte verfügen, nicht besser behandelt werden sollen als andere.
Das stimmt, aber man sollte sie auch nicht schlechter behandeln. Sie möchten mit Ihrer Vermögensteuer bzw.
Vermögensabgabe insbesondere den Menschen, die Kapitaleinkünfte erzielen, ganz tief in die Tasche greifen.
({0})
Eigentlich ist heute ein Tag großer Freude. Alle Steuerpolitiker müssten eigentlich vor Begeisterung platzen;
denn das, was in der letzten Woche hier in Berlin erreicht wurde, ist in der Tat ein Meilenstein. Ich möchte
meine Rede dazu nutzen, meine Begeisterung als Steuerpolitiker mit Ihnen allen zu teilen. Der Austausch von
Steuerdaten gehört zu den sensibelsten Bereichen in den
Beziehungen zwischen Staaten. Das hat damit zu tun,
dass jeder eifersüchtig auf seine Steuergesetzgebung
achtet. Bekanntlich sind die Steuergesetzgebung und das
Budgetrecht die Königsrechte eines jeden Parlaments.
Hier lässt man sich ungern in die Karten schauen.
Es ist sicherlich richtig - das wurde bereits von mehreren Rednern angesprochen -, dass es einige Staaten
gab und gibt, die Steuerhinterziehung und Steuervermeidung als Geschäftsmodell entwickelt haben. Insofern ist
es umso erstaunlicher, dass in der letzten Woche über
50 Staaten - weitere werden folgen - ein Abkommen
unterschrieben haben, das vorsieht, dass freiwillig und
automatisch Steuerdaten an andere Staaten weitergegeben werden. Das ist ein riesiger Sprung. Den bisherigen
Informationsaustausch haben wir durch viele Doppelbesteuerungsabkommen organisiert. Hier geschah der Austausch aber nur auf Anfrage. Das war ein fürchterlich anstrengender Prozess, der dazu beigetragen hat, dass
Steuervermeidung und Steuerhinterziehung fröhliche
Urständ gefeiert haben.
Vor diesem Hintergrund ist das, was geschehen ist,
wirklich beeindruckend. Dahinter steckt sehr viel Arbeit.
Frau Andreae und Frau Wagenknecht, ich glaube, dass
Sie das unterschätzen. Mit den Steuern verhält es sich so
wie beim Fußball: Jeder meint, davon Ahnung zu haben.
Wir haben in Deutschland ein paar Millionen Bundestrainer und wahrscheinlich genauso viele Finanzminister, die davon überzeugt sind, zu wissen, wie das Steuersystem gestaltet werden muss. Je nach Blickwinkel sind
die Steuern zu hoch oder zu niedrig. Auf jeden Fall sei
das System viel zu kompliziert. Viele meinen, dass andere zahlen müssten, nur sie selber nicht. Jeder hat also
eine Meinung dazu und ist überzeugt, dass das ganz einfach sei.
Die Vorschläge, die durch das Land geistern, sind Legion. So hieß es einst - durchaus sympathisch -, das
Steuersystem werde so stark vereinfacht, dass man seine
Steuererklärung auf einem Bierdeckel machen könne.
Dann wurde von Stufentarifen gesprochen und davon,
die Zahl der Steuerparagrafen zu halbieren. Das alles
führt nur nicht weiter. Das möchte ich Ihnen anhand des
automatischen Informationsaustausches, des von Herrn
Schäuble angesprochenen BEPS-Abkommens und der
strafbefreienden Selbstanzeige beispielhaft erläutern.
Wir alle sind uns, glaube ich, einig, dass das Steuersystem ergiebig sein soll, damit der Staat seine Aufgaben
erfüllen kann. Es soll zudem einfach und gerecht sein.
Aber es muss auch fair sein. Ein Steuersystem ist dann
fair, wenn jeder, dem das Gesetz die Last der Steuerzahlung auferlegt, seine Steuern tatsächlich zahlt. Man muss
ehrlich sagen: Da waren wir in der Vergangenheit nicht
immer ganz so gut.
Blicken wir auf die 80er- und 90er-Jahre zurück. Damals waren die Steuersätze sehr hoch. Gleichzeitig gab
es sehr viele Möglichkeiten, sich von der Steuerlast zu
befreien, legal durch Abschreibungsmodelle und Verlustzuweisungsgesellschaften, translegal durch eine
weite Dehnung der Gesetze und auch illegal. Es stimmt,
dass damals viele Menschen ihr Geld in die Schweiz gebracht haben, weil sie sich dem deutschen Steuersystem
entziehen wollten. Deshalb haben alle Bundesregierungen, egal von welcher Partei sie gestellt wurden, daran
gearbeitet, die entsprechenden Schlupflöcher zu schließen. Das war nicht immer einfach. Zuerst haben wir die
deutsche Steuergesetzgebung sukzessive verschärft. Des
Weiteren haben die Finanzgerichte entsprechende Urteile gefällt. Auf internationaler Ebene wurden Doppelbesteuerungsabkommen geschlossen. Hier ist sehr viel
kleinteilige Kärrnerarbeit geleistet worden.
Deswegen finde ich es bedauerlich, dass das alles
quasi mit einem Federstich weggewischt und behauptet
wird, nichts sei passiert. Tatsächlich ist sehr viel passiert.
Aber wir müssen auch sehen: Wir sind immer wieder im
wahrsten Sinne des Wortes an unsere Grenzen gestoßen,
nämlich an die Grenzen unseres Landes; denn uns fehlten die Informationen über das Geld, das auf irgendeine
Weise ins Ausland gebracht wurde. Deswegen konnten
wir es nicht besteuern. Es ist daher sehr wichtig, dass der
nun vereinbarte automatische Informationsaustausch tatsächlich umgesetzt wird. Die Grundlage für eine faire
Besteuerung ist, dass wir wissen, wer wo sein Geld liegen hat.
({1})
- Danke, Lothar.
({2})
Das haben wir jetzt erreicht. Carsten Schneider hat es
gesagt: Das ging nicht innerhalb von anderthalb Jahren,
sondern das ist ein Prozess, der seit mindestens 2002 andauert. Wolfgang Schäuble hat jetzt den Ball ins Tor geschossen. Wir sind nun so weit, dass wir auf einem Stand
sind, den wir uns vor wenigen Jahren wirklich nicht zu
erträumen gewagt haben. Das ist gut und richtig.
({3})
Deswegen können wir uns heute einmal so richtig darüber freuen.
Natürlich sind wir mit der ganzen Aktion noch nicht
fertig. Wir werden andere Staaten integrieren müssen.
Ich bin übrigens sehr optimistisch, dass beispielsweise
die Schweiz sehr schnell nachfolgen wird und dass auch
andere Länder nachfolgen werden. Aber wir müssen
auch an anderen Stellen arbeiten.
Ich habe gerade gesagt, dass wir ein faires Steuersystem haben wollen. Ein faires Steuersystem bedeutet
auch, dass derjenige, der auf Einkommen in Deutschland
keine Steuern zahlt, diese Steuern in anderen Ländern
zahlt. Das Problem, das sich entwickelt hat - die Namen
der Firmen, die das in einer großen Extensität betrieben
haben wie Google und Amazon, sind genannt worden -,
ist die doppelte Nichtbesteuerung. Doppelte Nichtbesteuerung heißt, dass Einkommen weder in Deutschland
noch in einem anderen Staat versteuert werden.
Das ist in der Tat nicht nur ein Gerechtigkeitsproblem, sondern das ist auch - das ist mehrfach angesprochen worden - ein Wettbewerbsproblem, weil ein Mittelständler in Erfurt, dem Wahlkreis von Carsten Schneider,
nicht die Chance hat, die doppelte Nichtbesteuerung zu
organisieren. Das ist vielmehr ein zweifelhaftes Privileg
von großen Konzernen. Deshalb müssen wir dagegen
vorgehen.
Auch da hat sich unser Bundesfinanzminister sehr
verdient gemacht, indem er vor zwei Jahren mit seinem
britischen Kollegen George Osborne die sogenannte
BEPS-Initiative angestoßen hat. Die BEPS-Initiative bedeutet, dass sich alle OECD-Staaten darauf einigen, dass
man nach gleichen Standards arbeitet und eines nicht
mehr passiert, nämlich die doppelte Nichtbesteuerung.
Auch da sind wir schon sehr weit. Man hat dieses Mammutprojekt in 15 Teilprojekte aufgeteilt. Sieben davon
sind schon abgeschlossen, acht werden im nächsten Jahr
folgen. Wir werden das gemeinsam mit unserem Koalitionspartner sehr zügig in nationales Recht umsetzen.
Auch das ist ein Meilenstein, der von diesem Bundesfinanzminister und dieser Bundesregierung gesetzt worden ist. Auch darüber können wir uns freuen. Darauf
können wir sehr stolz sein.
({4})
Wenn ich von Fairness im Steuersystem rede, dann
gehört dazu auch, dass derjenige, der in diesem Steuersystem Fehler macht, die Möglichkeit hat, diese Fehler
zu korrigieren, und zwar zu korrigieren, ohne dass er
gleich kriminalisiert wird.
({5})
Wir sprechen heute über die strafbefreiende Selbstanzeige. Die Regelungen für die strafbefreiende Selbstanzeige, die es seit Jahrzehnten gibt, sind in der letzten Legislaturperiode von der christlich-liberalen Koalition
maßgeblich verschärft und stark eingeengt worden. Es
ist nach diesem Gesetz der christlich-liberalen Koalition
nicht mehr möglich, mit der strafbefreienden Selbstanzeige zu zocken.
Dabei sind wir allerdings ein wenig über das Ziel hinausgeschossen; denn es gibt einen Bereich, in dem
Fehler gemacht werden, die aus dem ganz normalen
wöchentlichen oder monatlichen Geschäftsbetrieb herrühren. Das geschieht dann, wenn ich monatlich eine
Umsatzsteuervoranmeldung abgeben oder wenn ich
Lohnsteueranmeldungen vornehmen muss. Die Menschen, die dabei vielleicht einen Fehler gemacht haben
und diesen korrigieren müssen, sind durch die Verschärfung, die wir in der letzten Legislaturperiode gemacht
haben, in einen Bereich gerutscht, in dem es nicht mehr
klar ist, ob es sich um eine Korrektur von Fehlern oder
einen Hinterziehungsakt handelt.
Das werden wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
zur strafbefreienden Selbstanzeige ändern. Das heißt,
wir werden das erreichen, was wir immer erreichen
wollten: Die gewerbliche Wirtschaft, die Steuern zahlt,
kann Fehler korrigieren - das muss auch möglich sein -,
aber diejenigen, die bewusst Steuern hinterziehen, können das nicht mehr, weil man mit dem Instrument der
strafbefreienden Selbstanzeige nicht mehr zocken kann.
Auch das ist gut und richtig, und das ist der zweite
Punkt, den wir heute auf den Weg bringen werden.
({6})
Zur Fairness im Steuersystem gehört aber auch, dass
ich nicht 99,9 Prozent der Steuerpflichtigen unnötig belaste, um 0,1 Prozent der Steuerhinterzieher zu erwischen. Deswegen müssen wir sehr vorsichtig sein und
dürfen den normalen und ehrlichen Steuerpflichtigen
nicht mit Bürokratie belasten und ihm Dokumentationspflichten auferlegen, die ihm das Leben und die tägliche
Arbeit unglaublich schwer machen und die nur dazu dienen, dass man einen minimalen Prozentsatz von Steuerhinterziehern tatsächlich aufdeckt.
Beim BEPS-Projekt und bei vielen anderen Projekten
stellt sich die Frage, ob wir nicht an der einen oder anderen Stelle über das Ziel hinausschießen. Wenn wir das
Ganze wirklich ernst nehmen und wenn wir sagen:
„Keine zusätzlichen Belastungen für die Wirtschaft,
keine zusätzliche Bürokratie, keine zusätzlichen Dokumentationspflichten“, dann müssen wir das, was wir hier
im steuerlichen Bereich beschließen, sehr genau dahin
gehend überprüfen, ob es am Ende des Tages stimmt. Ich
sage Ihnen auch: Mir ist es lieber, in Kauf zu nehmen,
dass der eine oder andere einmal „durchrutscht“, als dass
man die gesamte Wirtschaft mit unzumutbaren Bürokratie- und Informationspflichten belastet.
({7})
Insofern werden wir diesen Punkt sehr genau im Auge
behalten.
Wenn man einmal einen Strich unter die drei Aspekte,
die ich gerade genannt habe - unter den automatischen
Informationsaustausch, unter dieses BEPS-Projekt, das
eine internationale Nichtbesteuerung vermeidet, und unter die Verschärfung der strafbefreienden Selbstanzeige -,
zieht, dann muss man eins sagen: Steuerpolitik ist Kärrnerarbeit, ist kleinteilig, dauert lange und geht nicht
schnell. Deswegen kann ich allen nur sagen: Glauben
Sie niemandem, der behauptet: Ich habe im steuerpolitischen Bereich den großen Wurf in der Tasche. Ich kenne
den grünen Knopf, auf den man nur drücken muss, und
dann haben wir ein supereinfaches Steuersystem, das
völlig gerecht ist, das es vermeidet, dass international an
irgendeiner Stelle Steuern hinterzogen werden. - Das
Ganze ist harte Arbeit.
Wir in dieser Koalition und insbesondere unser Finanzminister haben uns auf den Weg gemacht, diese
harte Arbeit zu leisten. Wir haben heute ein wichtiges
Etappenziel erreicht. Wir werden in der nächsten Zeit
weitere Etappenziele erreichen. Ich denke, dass wir dann
ein viel besseres Steuersystem haben, als wir es vorher
gehabt haben.
Jetzt vielleicht noch einige Sätze zu dem Thema Steuervereinfachung. Das, was ich gerade im Hinblick auf
das internationale Steuerrecht ausgeführt habe - dass es
in diesem Zusammenhang viele kleine Projekte und
viele kleinteilige Maßnahmen gibt, die das Ganze besser
machen -, gilt auch für die Steuervereinfachung. Auch
daran werden wir uns im nächsten Jahr machen. Wir
werden ein Verfahrensvereinfachungsgesetz auf den
Weg bringen, und wir werden mit Hunderten kleinerer
Maßnahmen versuchen, das Steuerrecht unbürokratischer zu machen, Dokumentationspflichten abzuschaffen, das Ganze gerechter und fairer zu machen. Ich
denke, das wird uns auch gelingen. Wir haben mit unserem Koalitionspartner verabredet, dass wir das zustande
bringen. Da ziehen wir an einem Strang; da sind wir uns
total einig.
Ein Steuersystem muss nicht nur dafür sorgen, dass
genügend Steuern da sind, dass der Staat finanziert werden kann, sondern es muss auch handhabbar sein, muss
verlässlich sein, muss fair sein und muss partnerschaftlich sein. Dafür zu sorgen, das ist das, was wir uns in
dieser Legislaturperiode vorgenommen haben. Das ist
viel ambitionierter als Versprechungen, das Steuersystem mit einem großen Wurf komplett zu reformieren
oder zu revolutionieren. Insofern freue ich mich auf die
Arbeit in dieser Legislaturperiode.
Danke.
({8})
Lothar Binding ist der nächste Redner für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, Carsten
Schneider und Ralph Brinkhaus haben sehr gut auf den
Punkt gebracht, worum es heute geht: Letztendlich geht
es um international gerechte und faire Besteuerung der
Unternehmen und darum, dass Arbeitnehmer, Konzerne
und auch alle anderen fair besteuert werden und keiner
mehr belastet wird, als es ihm, bezogen auf die gesellschaftlichen Leistungen, zugemutet werden kann. Der
heutige Beschluss ist ein riesiger Schritt in diese Richtung.
Sahra Wagenknecht hat uns die Steuersätze in Irland
vorgeworfen. Das hat mich ein bisschen irritiert. Sie hat
uns auch das Verhalten von Luxemburg vorgeworfen.
({0})
Auch das hat mich ein bisschen irritiert; schließlich
könnte sie ja wissen, dass wir weder in dem einen noch
in dem anderen Land regieren.
({1})
Es geht natürlich darum, mit diesen Ländern zu verhandeln; das stimmt. Aber auch da wäre Sahra Wagenknecht
gut beraten gewesen, uns zu helfen; denn gerade sie verfügt über ein besonderes Insiderwissen bezüglich Irland:
({2})
Sie hat lange dort in einer Weise gelebt, die es ihr ermöglicht, genau zu wissen, wie internationale Steuerpolitik funktioniert.
({3})
Ich will das nicht näher ausführen. Interessanterweise
fehlen bestimmte Aspekte in den Ausführungen zu ihrer
Biografie. Vielleicht sollten Sie darüber einmal genauer
nachdenken.
({4})
Lothar Binding ({5})
Im Rahmen des Global Forum, einer von der OECD
initiierten Vereinigung, der 122 Länder angehören, ist
ein Steuerabkommen vereinbart worden. Das ist ein Riesenprojekt. Wir wissen, 122 Länder miteinander verhandeln zu lassen, ist keine ganz leichte Aufgabe.
Die Schweiz ist unter diesen 122 Ländern. Aber sie
unterzeichnet das Abkommen noch nicht; vielleicht unterzeichnet sie es im nächsten Jahr. Wir sehen, wie
schwer es ihr fällt, von der Hoffnung auf das DeutschSchweizer Steuerabkommen zum automatischen Informationsaustausch und zur Aufgabe des Bankgeheimnisses zu kommen. Das ist für die Schweiz, glaube ich, ein
unendlich langer Weg. Wenn sie den jetzt zu Ende geht,
haben wir sehr viel erreicht, haben wir international gut
verhandelt. Das gilt - das muss man sagen - sowohl für
unseren Minister. Unterstützt wurde das Ganze aber auch
- da schließe ich mich den Aussagen der Grünen an - von
Attac
({6})
und vom Tax Justice Network. Es war sehr wichtig, dass
die uns geholfen haben. Sie haben uns im internationalen
Diskussionszusammenhang den Rücken sehr gestärkt.
Wir sind uns sicherlich einig, dass sie es verdient haben,
den Status der Gemeinnützigkeit zu behalten.
({7})
Wir brauchen einen internationalen Ordnungsrahmen.
Das Wort „Ordnung“ müssen wir genauer hinterfragen,
wenn wir nach Luxemburg schauen. Wer heute die
Süddeutsche gelesen hat, der weiß: Wer unter dem Stichwort „Ordnungsrahmen“ nach Luxemburg schaut, erschreckt. Es gibt dort keine international erträgliche
Ordnung. Die SPD-Arbeitsgruppe - das will ich berichten - war vor längerer Zeit einmal in Luxemburg und hat
auch mit Jean-Claude Juncker gesprochen. Er hat uns
Deutschen vorgeworfen, dass wir relativ bürokratisch
und unflexibel seien, und erklärt, dass man das in
Luxemburg sehr viel leichter handhaben könne. Er
sagte: Ich brauche nur über diesen Platz zu gehen; dann
bin ich Finanzminister, und dann kann man die Dinge
flexibel regeln. Ich muss sagen: Diese Aussage erscheint
heute in einem anderen Licht. Sie lässt mich fragen, ob
es wirklich gut war, Juncker als konservativen Kommissionspräsidenten zu wählen. Ich glaube, er muss eine
Verantwortlichkeit entwickeln, die ihre Europakonformität noch beweisen muss.
({8})
Der automatische Informationsaustausch wird immer
als Überschrift genannt. Ich frage: Ist er eigentlich wirklich geeignet, die Probleme, die wir haben, zu lösen?
Was passiert heute? Minister Schäuble hat es schon etwas ausgeführt: Heute werden die Gewinne verlagert, im
Wesentlichen durch grenzüberschreitende Verlagerung
der immateriellen Werte wie Patente und Lizenzen. Es
gibt das sogenannte Hybrid Mismatch, bei dem über
Rechtsformgestaltungen und Umwandlungen Gewinne
verlagert werden. Es gibt Zinstricks durch Finanzierungsgesellschaften im Ausland. An Tochterunternehmen werden Zinsen überwiesen, um Gewinne aus
Deutschland zu transferieren. Eine sehr alte Methode
funktioniert über Verrechnungspreise. Das alles ist bekannt.
Es gibt eine zweite Ebene. Neuerdings fangen bestimmte Länder an, zur Gestaltung einzuladen. Ich erwähne noch einmal die niederländische Patentbox, in die
man Patente legt, um anschließend Gewinne in diese
Box zu überweisen - dort steuerfrei, hier gewinnmindernd, sodass man in Deutschland Steuern spart und
in den Niederlanden nicht zahlen muss.
Die Frage ist, ob das, was wir jetzt machen, eigentlich
hinreichend ist, um hierfür Lösungen zu finden. Ich
sage: Ja, wir sind einen sehr großen Schritt weitergekommen.
Ich will ein bisschen genauer erklären, was eigentlich
die Meldestandards sind. Die Meldestandards umfassen
zum Beispiel Finanzinformationen. Was sind Finanzinformationen? Dies sind alle Kapitalerträge, also Zinsen,
Dividenden, Einkünfte aus Versicherungsverträgen,
Kontenguthaben, Erlöse aus der Veräußerung von Finanzvermögen. Es wird also ein großes Spektrum von
Informationen geliefert, die einen sehr genauen Blick
auf die Vermögens- und Einkommensverhältnisse derjenigen bieten, die verlagern. Ein großer Schritt!
Was sind die Meldestandards hinsichtlich der meldepflichtigen Finanzinstitute? Schauen wir nach: Die Banken sind angesprochen, die Verwahrstellen, auch die
Makler, das, was wir Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapiere nennen, die OGAW-Einrichtungen,
und bestimmte Versicherungsgesellschaften. Wir sehen:
Ein breites Spektrum von Instituten wird in den Blick
genommen. Wer weiß, wie auch bisher schon zwischen
diesen Entitäten hin und her jongliert wurde, um international Steuern zu sparen, erkennt, wie wichtig dieser
Schritt ist.
Was wird eigentlich an meldepflichtigen Konten angesprochen? Erst einmal sind es die Konten der natürlichen Personen. Da denken wir an spezielle; das ist klar.
Ein großer Schritt! Es sind aber auch die Konten von
Rechtsträgern, also insbesondere von Trusts und Stiftungen. Auch die werden in den Blick genommen. Es gibt
außerdem eine Pflicht zur Prüfung der passiven Rechtsträger und - so steht es in der Verabredung - der Personen, die diese beherrschen. Die Möglichkeit zu Tricks
mit Briefkastenfirmen, um sich als Person mit einer entsprechenden Hinterziehung hinter solchen Formen zu
verstecken, wird jetzt genommen. Wir merken, dass wir
auf dem Weg zu einem Maß an internationaler Transparenz sind, das wir uns bisher nicht haben träumen lassen.
Deshalb ist dieser Schritt so bedeutend.
Man geht sogar noch weiter. In diesem 45-seitigen
Papier wird auch definiert, welche Sorgfaltspflichten jeweils einzuhalten sind, wird definiert, wie man mit diesen Meldepflichten umzugehen hat. Das geschieht in einer Weise, wie das bisher noch nicht gemacht wurde.
Jetzt besteht natürlich die Aufgabe, diese Meldestandards in jeweiliges nationales Recht umzusetzen.
Lothar Binding ({9})
Ich will mit einer kleinen Warnung schließen. Die
Idee unseres Ministers ist, Steuernachlässe nur noch in
dem jeweiligen Land zu gewähren - auch europäisch -,
in dem die Wertschöpfung eines Unternehmens entsteht.
Ein Land, in dem eine solche Wertschöpfung entstanden
ist, kann also sagen: Ich erlasse euch die Steuern. - Das
ist ein großer Schritt zur Vereinheitlichung und besser
als alles, was wir bis jetzt haben, weil es international
vereinbart ist. Es führt in Richtung Level Playing Field.
Ich meine aber trotzdem: Wir müssen stark überlegen
Herr Kollege Binding.
- eine Sekunde, ich bin sofort fertig -, ob wir uns damit nicht doch dem Geleitzug des internationalen Steuerwettbewerbs und des Race to the Bottom anschließen.
Das müssen wir sicher noch diskutieren. Aber insgesamt
ist das eine sehr positive Entwicklung.
Vielen Dank, auch für die kleine Zugabe.
({0})
Richard Pitterle ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich habe nach den heutigen Meldungen ernsthafte Zweifel, ob jemand an der Spitze der
EU-Kommission sitzen kann, der als Regierungschef
Steuervermeidungsstrategien der Konzerne in Europa
zulasten der europäischen Staaten organisiert hat.
({0})
Aber ich will nicht zu diesem Thema sprechen.
Wir diskutieren heute auch den Koalitionsvorschlag
für die Reform der strafbefreienden Selbstanzeige. Ich
will gleich zu Beginn darauf hinweisen, dass meine
Fraktion hier einen weiter gehenden Antrag eingebracht
hat, der die gänzliche Abschaffung der Selbstanzeige
vorsieht. Viel zu lange konnten Wohlhabende ihre riesigen Vermögen vor dem Fiskus verstecken. Sie mussten
keine ernsthaften Konsequenzen fürchten. Sie wogen
das Entdeckungsrisiko ab und stellten eine Selbstanzeige, wenn sie der Meinung waren, dass dieses zum
Beispiel aufgrund des Ankaufs einer Steuer-CD zu groß
war. Das ging zulasten der Allgemeinheit und der vielen
ehrlichen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler.
Ich finde es daher gut, dass die Regelungen zur strafbefreienden Selbstanzeige aufgrund des Drucks der Öffentlichkeit ein weiteres Mal verschärft werden; denn offensichtlich war die Geldgier noch immer größer als die
Angst vor der Strafe.
({1})
Es ist schlimm genug, dass der Reichtum in unserem
Land so ungleich verteilt ist. Genauso schlimm ist es,
dass viele derjenigen, die viel haben, dem Staat nicht das
geben wollen, was ihm zusteht. Es wird endlich Zeit,
dass die Steuergesetze für alle Menschen, auch die Reichen und Superreichen, gelten.
({2})
Folgende Ansätze des Entwurfs will ich hervorheben:
zuerst einmal die deutliche Anhebung und Staffelung
des zu zahlenden Geldbetrages beim Absehen von der
Strafverfolgung nach § 398 a der Abgabenordnung. In
jenen Fällen konnten sich Steuerhinterzieherinnen und
Steuerhinterzieher bisher für eine im Vergleich lächerliche Zusatzzahlung von 5 Prozent der hinterzogenen
Steuer quasi freikaufen. Das war mit dem Gerechtigkeitsgefühl der Bürgerinnen und Bürger nun wirklich
nicht mehr in Einklang zu bringen. Denn am Ende kam
folgende Botschaft bei den Menschen in diesem Land
an: Wer mehrmals schwarzfährt, wird gleich bestraft;
wenn aber Superreiche Steuern in Millionenhöhe hinterziehen und damit allen schaden, dann wird ein Auge zugedrückt. Das hat zu Recht zu Empörung geführt. Daher
ist es richtig und wichtig, dass die Zusatzzahlungen, die
Steuerhinterzieherinnen und Steuerhinterzieher leisten
müssen, zukünftig auch wehtun.
({3})
Wichtig ist auch, dass die Problematik von Umsatzsteuervoranmeldung und Lohnsteueranmeldung berücksichtigt wurde, wie es die Linke kürzlich in ihrem
Antrag gefordert hat. Ich bin seit vielen Jahren als
Rechtsanwalt im Bereich Wirtschaftsrecht tätig. Aus
meiner Erfahrung kann ich Ihnen daher versichern, dass
man sich zum Beispiel als Kleinunternehmerin oder
Kleinunternehmer gerne mal im tiefen Meer des Steuerrechts verlieren kann. Wenn die Bäckermeisterin, wenn
der Bäckermeister morgens früh aufsteht, um Brot und
Brötchen zu backen, und dann abends nach einem langen Arbeitstag noch den sogenannten Schreibkram erledigen muss, kann sich schon mal der eine oder andere
Fehler einschleichen. Es ist daher gut, dass zukünftig
nachträglich korrigierte oder verspätete Umsatzsteuervoranmeldungen und Lohnsteueranmeldungen wieder
als wirksame Teilselbstanzeige gelten. Mit einer Kriminalisierung solcher menschlichen Fehler ist nämlich niemandem gedient.
({4})
Wer aus Unachtsamkeit oder Überforderung eine falsche
oder verspätete Angabe macht und diese dann korrigiert
oder nachholt, darf nicht denen gleichgestellt werden,
die ihr Geld absichtlich verstecken und ihren Beitrag der
Allgemeinheit bewusst vorenthalten.
({5})
Zuletzt einen Gedanken, den ich als Rechtspolitiker,
der ich auch bin, einbringe: Ich halte es für vernünftig,
dass bei der Strafverfolgung die Verjährungsfristen entgegen den ursprünglichen Plänen nun doch nicht ausgedehnt worden sind; denn bei aller Notwendigkeit eines
schärferen Vorgehens gegen Steuerhinterziehung darf
man auch hier das Verhältnis zu vergleichbaren Delikten
nicht außer Acht lassen. Wenn für den einfachen Betrug
eine Verjährungsfrist von fünf Jahren gilt, so sollte das
auch bei der einfachen Steuerhinterziehung beibehalten
werden.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort erhält nun der Kollege Hans Michelbach für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
puncto Steuergerechtigkeit und Steuerwahrheit hat unsere Bundesregierung, insbesondere der Bundesfinanzminister Dr. Wolfgang Schäuble, nun erfolgreich Meilensteine gesetzt. Das ist eine Tatsache, über die wir uns
heute wirklich freuen können.
({0})
Dies gilt sowohl national wie auch international.
Drei Bereiche sind dabei hervorzuheben: erstens die
Neuregelung der strafbefreienden Selbstanzeige, zweitens der automatische Austausch von Steuerdaten und
drittens die BEPS-Initiative gegen internationale Gewinnverlagerungen.
Zunächst zur Klarstellung: Es ist natürlich nicht verboten, wie es hier nach den Beiträgen der Linken den
Anschein haben muss, Geld im Ausland anzulegen. Es
ist auch nicht verboten, mit diesen Geldanlagen im Ausland Gewinne zu erzielen;
({1})
aber diese Gewinne müssen ordnungsgemäß versteuert
werden. Darauf hat der Staat, darauf hat unsere Gesellschaft einen Anspruch. Deshalb ist die Schließung von
Steuerschlupflöchern ein zentrales Anliegen von CDU
und CSU - und das nicht erst seit dieser Legislaturperiode. Denn Steuerhinterziehung, meine Damen und
Herren, ist gemeinschaftsschädlich und muss deshalb
geahndet werden.
({2})
Da ist zum einen der Gesetzentwurf, mit dem die
Wirksamkeitsvoraussetzungen bei der strafbefreienden
Selbstanzeige neu geregelt werden. Die Berichtigungspflicht erstreckt sich künftig in allen Fällen der Steuerhinterziehung auf einen Zeitraum von mindestens zehn
Jahren, und es wird für Steuersünder deutlich teurer,
wenn das Hinterziehungsvolumen mehr als 25 000 Euro
beträgt.
Ebenso wichtig ist: Das Instrument der strafbefreienden Selbstanzeige bleibt erhalten. Ich sage, das ist auch
gut so; denn es hat sich bewährt und es muss Korrekturmöglichkeiten im Steuerrecht geben. Ohne die strafbefreiende Selbstanzeige wären die vielen Fälle in der Vergangenheit gar nicht erst ans Licht gekommen. Daher
wird im Bereich der Anmeldesteuern für eine gesetzliche
Klarstellung gesorgt, um praktische und rechtliche Verwerfungen zu beseitigen. Zudem ist ein steuerartenübergreifendes Vollständigkeitsgebot nicht vorgesehen; denn
dieses könnte kaum klar und rechtssicher ausgestaltet
werden. Ebenso wird von der Einführung einer Obergrenze bei der Wirksamkeit der Selbstanzeige abgesehen.
Auch wir wollen nicht - das ist ein wichtiger Punkt -,
dass bloße Arbeitsfehler kriminalisiert werden. Insbesondere mit Blick auf den Unternehmensbereich besteht
die Notwendigkeit, steuerliche Korrekturmöglichkeiten
zuzulassen. Insofern ist es zu begrüßen, dass die Sperrwirkung auf den sachlichen und zeitlichen Umfang begrenzt und die Wirksamkeit von Teilselbstanzeigen für
die Korrektur von Umsatzsteuervoranmeldungen und
Lohnsteueranmeldungen wieder eingeführt wird. Allerdings möchten wir diesen sinnvollen Schritt auch noch
auf die Jahreserklärungen erweitern, weil die beabsichtigte Neuregelung sonst nach Abgabe der Jahreserklärung ins Leere laufen würde.
Wir sind also dabei, diesen Gesetzentwurf sachlich
angemessen zu beraten und auch noch rechtzeitig in diesem Jahr zu verabschieden. Das sorgt für Klarheit. Damit ist Rechtssicherheit gegeben. Dieses Gesetz ist dann
für den Steuerpflichtigen handhabbar und transparent.
Das gehört zur Steuerklarheit, Steuerwahrheit und Steuergerechtigkeit, meine Damen und Herren.
({3})
Aber noch viel wichtiger für die Bekämpfung der
Steuerhinterziehung ist das Abkommen über den automatischen Informationsaustausch in Steuersachen, das
auf der Jahrestagung des Globalen Forums zu Transparenz und Informationsaustausch für Besteuerungszwecke hier in Berlin unter Federführung unseres Bundesfinanzministers Dr. Wolfgang Schäuble geschlossen
wurde. 50 Finanzminister haben dieses Abkommen auf
Initiative Deutschlands unterzeichnet. Schon bald werden weitere Staaten folgen. Das ist ein starkes Kooperationsinstrument für die Steuerbehörden international.
Das Geschäftsmodell der Steuerlockvogelangebote gehört der Vergangenheit an. Das ist auch gut so.
({4})
Im Übrigen waren meiner Ansicht nach die Verhandlungen mit der Schweiz über ein Abkommen - das ist
hier angeklungen - damals richtig, weil es viele Verjährungen von Steuerhinterziehungen verhindert hätte. Sie
müssen sich immer fragen - denn Sie haben es damals
verhindert -, wie viele Steuern dem Fiskus aufgrund dieDr. h. c. Hans Michelbach
ses Steuerschlupflochs verloren gegangen sind. Dies
müssen Sie verantworten. Deswegen wäre schon damals
ein erster Schritt richtig gewesen, der dazu geführt hätte,
dass es zu Besteuerungen gekommen wäre, die es heute
nicht gibt.
Lieber Herr Kollege Michelbach, darf der Kollege
Gambke Ihnen eine Zwischenfrage stellen?
Sehr gerne, Herr Präsident.
Bitte schön.
Vielen Dank, Herr Kollege Michelbach, dass Sie die
Frage zulassen. - Das geht jetzt ein Stück zu weit. Sie
können nicht auf der einen Seite den automatischen Informationsaustausch loben und auf der anderen Seite die
Tatsache kritisieren, dass wir als Opposition das Schweizer Steuerabkommen verhindert haben. Herr Kollege
Schneider und Frau Andreae haben sehr schön dargelegt,
warum dies geschehen ist. Unsere Ablehnung hat im Übrigen dazu geführt, dass es zum automatischen Informationsaustausch kommen wird und die Amerikaner
FATCA durchgesetzt haben. Beides werfen Sie der damaligen Opposition vor.
Ich frage Sie in diesem Zusammenhang - Herr Kollege Brinkhaus hat dazu keine Stellungnahme abgegeben, aber wir haben es in der Debatte mehrfach gehört -:
Wie verhalten sich die Regierungsfraktionen, wie verhält
sich die Union zum Thema Lizenzbox? Ich hoffe, dass
Sie in Ihrer Rede darauf eingehen; denn das ist ein kritischer Punkt. Wir haben heute in der Zeitung gelesen, wie
Steuern umgangen werden. Das, was Herr Schäuble mit
Herrn Osborne bezüglich der Lizenzbox verabredet hat,
wird dazu führen - das sagen die Experten; das sagen
nicht diejenigen, die, wie Herr Brinkhaus sagt, oberflächlich darüber schweben -, dass Konzerne weitere
Gestaltungen vornehmen können. Ich bitte Sie, dazu
Stellung zu nehmen.
({0})
Herr Gambke, ich tue das sehr gern. Es waren mehrere Fragen; ich fange zunächst hinten an. Es ist ganz
klar - das hat der Bundesfinanzminister in seiner Rede
deutlich gemacht -: Die Steuern gehören dem Staat, in
dem die Gewinne erwirtschaftet wurden, und nicht dem
Staat, der den höchsten Steuerrabatt gewährt. Deswegen
ist der Ansatz bezüglich der Patente bzw. der Lizenzboxen richtig, letzten Endes so zu verfahren, bei der Besteuerung von der in einem Land entstandenen Wertschöpfung auszugehen. Es gibt überhaupt keinen
Zweifel daran, dass der Bundesfinanzminister hier den
richtigen Weg einschlägt und versucht, andere Länder
auf den Pfad der Tugend zu führen und zu sagen: Diese
Steuerlockvogelangebote, bei denen keine Wertschöpfung in dem jeweiligen Land dahintersteckt, gehören der
Vergangenheit an. Das ist der richtige Weg.
({0})
Der letzte Punkt.
({1})
- Ich bin noch nicht fertig, Herr Gambke. Sie haben mir
sehr viele Chancen gegeben.
Aber ich bin damit fertig, Herr Kollege Michelbach,
({0})
weil der Versuch zu durchsichtig ist, bei solchen Gelegenheiten die Redezeit zu verdoppeln. Also, Herr
Gambke, Sie dürfen sich setzen, und der Kollege
Michelbach ist nicht daran gehindert, entweder das zu
sagen, was er ohnehin sagen wollte, oder sich weiterhin
intensiv mit Ihnen zu beschäftigen.
Herr Präsident, wenn Sie in Ihrer unermesslichen
Weisheit sprechen, höre ich natürlich sofort zu.
({0})
Ich mache das natürlich gerne.
Ich möchte noch einmal deutlich machen, dass die
Steuer- und Finanzschlupflöcher im Ausland für die
Steuerbehörden bisher kaum auffindbar waren. Insofern
wird hier jetzt mit dem Informationsaustausch der glorreiche Endpunkt erreicht. Wir befinden uns in einer optimalen Situation, um dieses Kooperationsinstrument der
Steuerbehörden auf den Weg zu bringen.
Da nützt es gar nichts, meine Damen und Herren von
der Opposition, Maßnahmen gegen Steuerhinterziehung
immer geradezu mit Schaum vor dem Mund zu kritisieren. Über sachliche Überzeugungsarbeit kann ich mich
natürlich freuen. Aber ich habe heute in dieser Debatte
bei Frau Wagenknecht wieder die Attitüde des Klassenkampfes erlebt. Ich frage mich: Wo ist Frau
Wagenknecht? ({1})
Sie hat hier wieder eine Rundum-Schimpfkanonade gegen alle Steuerzahler vorgeführt und sich dann vom
Acker gemacht, meine Damen und Herren.
({2})
- Da ist sie wieder. Wunderbar! Dann nehme ich das zurück.
({3})
Aber meine Äußerung zur Schimpfkanonade war trotzdem richtig.
Ich darf Ihnen sagen: Das Abkommen über den automatischen Steuerdatenaustausch ist kein Grund, sofort
die Abgeltungsteuer zu schleifen und eine Steuererhöhung durch die Hintertür einzuführen; das ist meine feste
Überzeugung. Die Abgeltungsteuer bleibt ein wesentliches Mittel zur Steuervereinfachung. Auch darüber muss
man nachdenken. Man kann nicht immer nur Steuervereinfachung fordern und dann letzten Endes ein Instrument wie die Abgeltungsteuer sofort schleifen wollen.
Die Leute, die damals schon Steuerpolitik gemacht haben - etwa meine Kollegin Gerda Hasselfeldt -, wissen,
welche Probleme wir mit dem alten Halbeinkünfteverfahren hatten. Das ist doch keine Lösung mehr. Die Abgeltungsteuer sorgt seit 2009, seit ihrer Einführung
durch Peer Steinbrück, für eine gut kalkulierbare und
nachvollziehbare Besteuerung von Zinsen, Dividenden
und Veräußerungsgewinnen und für einen einheitlichen
Steuersatz von 25 Prozent. Die Kreditinstitute erledigen
die steuerlichen Formalitäten für ihre Kunden. - Herr
Präsident?
Jetzt möchte der Kollege Ernst noch mal was fragen,
und so, wie ich Sie kenne, lassen Sie das auch zu.
Ja. Sie kennen mich gut.
Bitte schön.
Danke, Herr Dr. Michelbach. Ich entnehme Ihren
Ausführungen bezüglich der Abgeltungsteuer, dass Sie
der Auffassung sind: Sie sollte so bleiben, wie sie ist,
weil die Steuer sonst so kompliziert zu erheben wäre. Vorher habe ich von Herrn Schneider gehört, der ebenfalls einer Partei angehört, die zurzeit die Regierung
trägt, dass man die Besteuerung nach seiner Auffassung
ab 2017, wenn der Datenaustausch funktioniert, ändern
sollte. Kann ich Ihren Ausführungen entnehmen, dass es
zwischen den Koalitionsfraktionen keinesfalls eine
Einigung darüber gibt, dieses aus meiner Sicht absolut
inakzeptable Recht aufrechtzuerhalten, nach dem
Kapitalerträge bei weitem geringer besteuert werden als
die Einkommen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern?
Herr Kollege Ernst, Sie müssen davon ausgehen, dass
wir uns in dieser Koalition immer einigen.
({0})
Natürlich gibt es unterschiedliche Argumente. Gerade
mit den Kollegen Carsten Schneider und Lothar Binding
und anderen Kollegen einigen wir uns immer. Wir haben
eine hervorragende Zusammenarbeit in der Steuer- und
Finanzpolitik. Deswegen kann ich Ihnen nur sagen:
Steuerrecht ist kein Ersatztummelplatz für den Klassenkampf, sondern man muss Argumente austauschen.
({1})
Es ist nun einmal so, dass ein einheitlicher Steuersatz
von 25 Prozent im Hinblick auf Unternehmensbeteiligungen und die Aktienkultur sehr transparent ist; er ist
kalkulierbar. Deswegen ist zu hinterfragen, ob man solch
ein Steuervereinfachungsmodell, das von der SPD federführend eingeführt wurde, letzten Endes schleifen sollte.
Wir müssen die Argumente austauschen. Es ist ganz normal, dass wir uns nach der Beratung darüber einigen
werden. - Jetzt steht der Herr nicht mehr. Ich mache
dann weiter, Herr Präsident.
({2})
- Ja, die Frage war einfach. Ich habe sie auch gut beantwortet, Herr Kollege Ernst.
Meine Damen und Herren, es steht außer Zweifel:
Der Kampf gegen Steuerhinterziehung kann nur in enger
Zusammenarbeit über Landesgrenzen hinweg zum nachhaltigen Erfolg führen. Deshalb muss es unser Ziel sein,
weitere Staaten von der Unterzeichnung des Abkommens zu überzeugen.
Wir müssen aber auch an anderer Stelle Steuerschlupflöcher schließen.
({3})
Der Finanzminister hat zu Recht darauf hingewiesen:
Die Steuergestaltung durch grenzüberschreitende Gewinnverlagerungen und willkürliche Gewinnkürzungen
mancher internationaler Konzerne muss ein Ende haben.
Mein Unternehmen steht mit internationalen Konzernen im Wettbewerb. Ich ärgere mich natürlich maßlos,
wenn wir die Steuern in voller Höhe zahlen, sich Konkurrenten andererseits in Deutschland einen schlanken
Fuß machen. Das ist Wettbewerbsverzerrung zulasten
des Mittelstandes. Das wird von uns nachhaltig bekämpft werden, meine Damen und Herren.
({4})
Wir müssen außerdem dafür sorgen, dass transnationale Konzerne ihre Gewinne dort versteuern, wo sie sie
erwirtschaften. Ich glaube, die G-20-Länder haben vor
einem Jahr einen Aktionsplan beschlossen, mit dem
Steuerschlupflöcher für multinationale Konzerne gestopft werden sollen.
Ich freue mich, dass Wolfgang Schäuble diese Aufgabe mit großem Engagement weitergetragen hat und
dass es hierfür letztlich Lösungen geben wird. Es muss
Schluss damit sein, dass internationale Großkonzerne
ihre Steuerlast kleinrechnen können.
({5})
Es ist schließlich nicht hinnehmbar, dass manche international agierenden Konzerne Gewinne und Verluste so
lange grenzüberschreitend hin- und herschieben, bis
praktisch keine Steuerlast mehr übrigbleibt. Deswegen
müssen wir dieses Hin- und Herschieben letztlich verhindern. Das ist die Aufgabe.
({6})
Wir haben natürlich gleichzeitig die Frage zu beantworten: Wie können wir in dieser Zeit durch eine aktive
Steuerpolitik Investitionsförderung betreiben? Wir haben - das muss man erkennen - eine Investitionslücke in
Deutschland. Zur Schließung dieser Lücke sind zusätzliche Investitionen von Unternehmen und Staat in einem
Umfang von etwa 3 Prozent des BIP erforderlich. Das
entspricht etwa 80 Milliarden Euro. Deswegen ist die
richtige Steuerpolitik wichtig.
Jetzt haben wir den großen Erfolg, dass wir keine
Nettoneuverschuldung haben und einen ausgeglichenen
Haushalt verabschieden. Dies wird neue Spielräume eröffnen, weil es natürlich nach wie vor Wachstum in
Deutschland gibt. Diese Spielräume werden wir nutzen
müssen, insbesondere beim Thema Abschreibungen. Es
kann nicht sein, dass der Werteverzehr und die Abschreibungen zulasten der Liquidität in den Unternehmen
gehen und damit die Unsicherheit bezüglich der Investitionen steigt. Man muss insbesondere berechenbare, kostengünstige und investitionsfreundliche Rahmenbedingungen schaffen. Daran wollen wir weiterhin arbeiten.
Das ist die Aufgabe, die wir uns gestellt haben: bei Forschung und Entwicklung sowie bei den Abschreibungen.
Natürlich haben unsere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auch einen Anspruch darauf, dass wir uns
mit dem Thema „Kalte Progression“ befassen - ob das
allen gefällt oder nicht. 1 Prozent Lohnerhöhung bedeutet 1,9 Prozent Steuermehreinnahmen beim Staat. Das ist
ein Thema. Es ist nicht richtig, dass alle Mehreinnahmen
durch die Steigerungen der Leistungskraft nur beim
Fiskus landen. Vielmehr gehört das Geld, das von den
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern erwirtschaftet
wird, zunächst einmal den Arbeitnehmern, also den
Steuerzahlern. Dann erst kommt der Fiskus. So wird ein
Schuh daraus. Deswegen ist es notwendig, dass wir uns
damit befassen.
Dann werden wir weiterhin Arbeitsplätze schaffen,
und dann werden wir auch in den Bereichen des internationalen Wettbewerbs weiterhin vorankommen.
Ich bin froh, dass wir diese Erfolge heute feiern können, dass wir damit letzten Endes einen Erfolgsweg gehen und unserem Land dienen: den Steuerzahlern, der
Steuerwahrheit und der Steuergerechtigkeit.
Herzlichen Dank.
({7})
Ich erteile das Wort der Kollegin Lisa Paus für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist
nicht einmal zwei Jahre her - es war Dezember 2012 -,
als das von Herrn Schäuble ausgehandelte Steuerabkommen mit der Schweiz - ein echter Persilschein für Steuerhinterzieher - endgültig scheiterte, und das war gut so.
({0})
Wolfgang Schäuble warf uns Grünen damals billige Polemik vor. Er behauptete, wer beim Schweizer Steuerabkommen wirklich der Meinung sei, man könne da mehr
rausverhandeln, der sei nicht von dieser Welt.
Heute, zwei Jahre nachdem Grüne und SPD im
Bundesrat das Steuerabkommen verhindert haben, Uli
Hoeneß wegen Steuerhinterziehung in der Schweiz
rechtskräftig verurteilt ist
({1})
und sein Banker in Polen verhaftet worden ist, erhalten
Deutsche mit einem Bankkonto in der Schweiz von ihrer
jeweiligen Schweizer Bank Post mit Informationen über
die neue Weißgeldstrategie der Schweizer Regierung.
In einem solchen Schreiben, das mir vorliegt, heißt es
zum Beispiel - ich zitiere -:
Die Schweizer Regierung hat sich zum automatischen Informationsaustausch bekannt.
Weiter:
Für die Finanzinstitute wurde in der Schweiz zudem ein neues Bundesgesetz in die Vernehmlassung
gegeben. Es sieht vor, dass Schweizer Banken die
Steuerkonformität der Vermögen ihrer bestehenden
Kunden abklären müssen. Sollten die Gelder im
Land des Kunden nicht ordnungsgemäß versteuert
sein, ist die Bank gezwungen, die Geschäftsbeziehungen mit dem Kunden abzubrechen.
Und schließlich:
Unsere Bank handelt stets gesetzeskonform. Bitte
beachten Sie, dass wir deshalb nächstens eine
Offenlegung oder Bestätigung der ordentlichen
Versteuerung Ihrer Gelder in Ihrem Domizilland
von Ihnen verlangen müssen.
Das ist die Schweiz im Jahr 2014. Ich bin stolz darauf, Herr Schäuble, dass wir Grünen damals in dieser
Frage standhaft geblieben sind und dass es Ihnen auch
nicht gelungen ist, die SPD-geführten Bundesländer
herauszukaufen, obwohl Sie es, wie wir alle wissen, versucht haben.
({2})
Denn so wurde in der Schweiz ein Wandel möglich, und
so war der Weg frei für das internationale Abkommen
für automatischen Informationsaustausch, unterzeichnet
von 51 Staaten, das Sie heute zu Recht als Meilenstein
im Kampf gegen Steuerhinterziehung bezeichnen.
Die Möglichkeit der strafbefreienden Selbstanzeige,
die heute auch zur Debatte steht, gibt es in Deutschland
seit über 100 Jahren. Die Zahl der Selbstanzeigen war in
den letzten 100 Jahren dennoch durchaus überschaubar.
Das lag aber nicht an der großen Steuerehrlichkeit in unserem Lande, sondern an dem sehr geringen Entdeckungsrisiko. Das hat sich inzwischen geändert: Der
Aufkauf von Steuer-CDs, das gescheiterte Steuerabkommen mit der Schweiz und der nun vereinbarte flächendeckende automatische Informationsaustausch der
Steuerbehörden aus über 50 Ländern haben das Entdeckungsrisiko stark erhöht. Umso wichtiger war es, diese
Entwicklung mit einer Verschärfung der Voraussetzungen für eine strafbefreiende Selbstanzeige zu flankieren.
({3})
Denn nach der derzeit geltenden Regelung ist es immer
noch so, dass sich das Zuwarten bei der Selbstanzeige finanziell lohnen kann. Lassen Sie mich das an einem Beispiel deutlich machen.
Alice Schwarzer hat nach eigenen Angaben mehr als
20 Jahre lang Steuern hinterzogen, muss aber nach geltender Gesetzeslage nur für maximal zehn Jahre nachzahlen und für fünf Jahre einen fünfprozentigen Strafzins zahlen. Das heißt, sie ist mit ihrer Selbstanzeige nach
geltender Gesetzeslage nicht nur einem Strafverfahren
entgangen - das ist der Sinn des Gesetzes -, sondern sie
hat gegenüber dem Steuerehrlichen immer noch viel
Geld gespart. Das darf nicht sein! Das muss aufhören!
({4})
Der vorliegende Gesetzentwurf ändert das. Im Rahmen der Finanzministerkonferenz sind Verschärfungen
erarbeitet worden, die zu den neuen Rahmenbedingungen passen und die sicherstellen, dass der Steuerehrliche
in Deutschland eben nicht mehr der Dumme ist.
Die Ankündigung der Verschärfung hat auch schon
sichtbare Effekte: Waren es 2013 mit 25 000 Selbstanzeigen schon dreimal so viel wie 2012, so ist die Zahl im
Jahr 2014 noch einmal deutlich angestiegen und lag im
Oktober bereits bei knapp 32 000 Selbstanzeigen mit
Mehreinnahmen für den Fiskus in Milliardenhöhe.
Die Reformvorschläge, an denen auch die Finanzministerinnen von den Grünen aus Schleswig-Holstein
und Bremen, Monika Heinold und Karoline Linnert, mitgewirkt haben, tragen eine deutlich grüne Handschrift.
Die Absenkung der Grenze hin zu schwerer Steuerhinterziehung von bisher 50 000 Euro auf 25 000 Euro, die
deutliche Anhebung und Staffelung des Geldzuschlages,
der bei hinterzogenen Steuern anfällt, und die Verdoppelung der Nacherklärungsfrist von fünf auf zehn Jahre das sind wichtige Punkte. Wir setzen uns dafür ein, dass
an ihnen am Ende, nachdem das Gesetz das Parlament
passiert hat, auch festgehalten wird.
({5})
Eine besondere Schwierigkeit gab und gibt es bei den
sogenannten Anmeldesteuern, also bei der Lohn- und
der Umsatzsteuer, insbesondere bei der Umsatzsteuer.
Derzeit können Vorsteueranmeldungen, die um wenige
Tage verspätet eingereicht werden, als vollendete Steuerhinterziehung bewertet werden. Das will aber tatsächlich
niemand, weil das offensichtlich lebensfremd ist. Mittelständische Unternehmen erreichen die Grenze von
25 000 Euro, ab der eine Umsatzsteueranmeldung notwendig ist, schnell, zumal bei der Berechnung, ob diese
Grenze erreicht wurde, auf den zu spät deklarierten Umsatzsteuerbetrag und nicht auf den tatsächlich entstandenen Steuerschaden abgestellt wird. Deswegen sind wir
froh, dass in dem Gesetzentwurf jetzt eine gute Formulierung gefunden worden ist. Allerdings ist zu fragen
- diesbezüglich sehen wir für die Anhörung noch Diskussionsbedarf -, inwieweit das vollständig gut geregelt
ist und ob es bei der Jahreserklärung vielleicht doch
noch Anpassungen geben sollte. Hier sehen wir tatsächlich noch Prüfungs- und Änderungsbedarf.
Ich fasse aus Sicht der Grünen zusammen: Wir sind
Schritte vorangekommen. Wichtige Bausteine liegen
vor. Finanzminister Schäuble kann in gewisser Weise für
sich in Anspruch nehmen, international vom Saulus zum
Paulus geworden zu sein.
({6})
Aber es müssen noch weitere Schritte folgen, und zwar
die, die auf nationaler Ebene möglich sind: Die Abgeltungsteuer gehört abgeschafft. Die Argumente dafür
wurden heute schon mehrfach genannt. Wir brauchen sie
jetzt nicht mehr. Es macht einfach keinen Sinn, Kapitaleinkommen geringer zu besteuern als Arbeitseinkommen.
({7})
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss. - Auch das Thema Steuergestaltung müssen wir noch stärker angehen. Auch da
kann man auf nationaler Ebene etwas machen.
({0})
158 Milliarden Euro gehen dem deutschen Fiskus jedes
Jahr verloren, nicht nur wegen Steuerhinterziehung, sondern auch wegen Steuergestaltung. Das ist eine große
Summe. Das kann so nicht bleiben. Deswegen brauchen
wir dringend eine effizientere und transparentere Steuerverwaltung, die mit den internationalen Konzernen auf
Augenhöhe operieren kann. Deswegen fordern wir Sie
erneut auf: Machen Sie es mit uns zusammen, richten
Sie eine Spezialeinheit auf Bundesebene ein, die auf
Steuerhinterziehung und Steuergestaltung reagieren
kann. Wir brauchen eine solche Spezialeinheit - Stichworte „hohe Einkommen“ und „international agierende
Unternehmen“
Sie müssen jetzt wirklich zum Schluss kommen.
- Entschuldigung -, damit wir endlich dazu kommen,
dass die Finanzämter in diesem Land mit den Steuergestaltern in den großen Steuerabteilungen der großen internationalen Konzerne auf Augenhöhe operieren können.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich bitte sehr um Nachsicht. Ich lege die Redezeiten
nicht fest. Ich muss nur darauf achten, dass das, was wir
selbst beschlossen haben, auch einigermaßen eingehalten wird. Es erleichtert uns die Arbeit sehr, wenn sich
alle darum bemühen, sich an die Vorgaben zu halten.
Der Kollege Andreas Schwarz ist der nächste Redner
für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der spätere
langjährige Präsident des Deutschen Reichstages, der
Sozialdemokrat Paul Löbe, hat am 17. Dezember 1919
in der verfassunggebenden Nationalversammlung in einer bemerkenswerten Rede unter anderem Folgendes
ausgeführt - ich zitiere -:
Gerade im letzten Jahr hat sich das öffentliche Gewissen und die öffentliche Stimme immer lauter gegen diejenigen gekehrt, die als Steuerschieber oder
-flüchtlinge einen Teil ihres Vermögens vor der allgemeinen Not des Volkes in Sicherheit gebracht haben. Es liegt keinerlei Anlass vor, über sie die
schützenden Hände zu erheben.
Zitatende.
({0})
Man sieht, die Bekämpfung der Steuerhinterziehung
war und ist für die SPD immer auch eine Frage der Gerechtigkeit. „Die Kleinen hängt man, die Großen lässt
man laufen“, so lautet ein bekanntes Sprichwort.
Viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hatten
nach der Aufdeckung prominenter Fälle von Steuerflucht den Eindruck gewonnen, dass sich Wohlhabende
vom Tatbestand der Steuerhinterziehung freikaufen können. Der Schaden, den Steuerbetrug anrichtet, ist also
nicht nur fiskalischer Natur. Nein, er hat auch eine gesellschaftspolitische Dimension. Das Gerechtigkeitsgefühl der Menschen in diesem Lande wird erschüttert.
Hier können und dürfen wir nicht tatenlos bleiben. Deshalb handeln wir.
Steuerbetrug ist Betrug an der Allgemeinheit und verbaut Zukunftschancen. Daher ist es richtig und wichtig,
dass wir die Regelungen für die strafbefreiende Selbstanzeige verschärfen. Wir wollen, dass der Staat die Steuern erhält, die ihm zustehen,
({1})
und wir wollen das Gerechtigkeitsgefühl der Bevölkerung wieder ins Lot bringen.
Der vorliegende Gesetzentwurf gibt darauf überzeugende Antworten und findet daher die volle Unterstützung der SPD-Bundestagsfraktion. Wir schaffen die
Selbstanzeige ausdrücklich nicht ab. Ja, die Hand des
Staates bleibt ausgestreckt, aber - das ist für uns entscheidend - zu deutlich erschwerten Bedingungen. Der
amtierende thüringische Finanzminister Wolfgang Voß
hat das im April 2014 überzeugend zusammengefasst
- ich zitiere -:
Die Selbstanzeige wird für Steuerhinterzieher unbequemer, bleibt aber weiterhin handhabbar.
Steuerbetrug darf sich niemals lohnen. Deshalb ist es
richtig, dass wir die Rückkehr zur Steuerehrlichkeit
nicht verbauen, aber eben deutlich erschweren und vor
allen Dingen teurer machen.
Es ist kein Geheimnis, dass es innerhalb der SPD zu
Beginn durchaus auch kontroverse Ansichten zur Beibehaltung der Selbstanzeige gab. Dass wir die Selbstanzeige am Ende aber sogar vor dem bayerischen Finanzminister Markus Söder retten mussten, ist schon ein
Novum. Herr Söder wollte im Frühjahr 2014 eine Obergrenze diskutieren lassen, ab der eine Selbstanzeige generell unwirksam sein sollte. Aber so ist es nach langen,
sehr konstruktiven Gesprächen und Verhandlungen nicht
gekommen. Von Beginn an wurde von der Bund-LänderArbeitsgruppe und der Finanzministerkonferenz parteiübergreifend eine ganz klare Botschaft ausgesendet:
Steuerhinterziehung ist kein Kavaliersdelikt und wird
konsequent bekämpft und bestraft.
({2})
Bund und Länder haben - bei durchaus unterschiedlichen Auffassungen im Detail - an einem Strang gezogen. Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung setzt die gemeinsam verabredeten Beschlüsse
überzeugend um. Für die geleistete Arbeit sprechen wir
Herrn Bundesfinanzminister Dr. Schäuble, dem Vorsitzenden der Finanzministerkonferenz, Dr. WalterBorjans, und allen Beteiligten unseren herzlichen Dank
aus. Das Ergebnis bei der Abstimmung des Finanzausschusses des Bundesrates vorletzte Woche spricht ebenfalls für sich: Bei 15 Jastimmen und einer Enthaltung
durch Brandenburg wurde beschlossen, diesen Gesetzentwurf dem Bundesrat zur Beschlussfassung vorzulegen - ohne Änderung.
Am 8. Oktober 2014 erklärte der hessische Finanzminister, Herr Schäfer:
Die Selbstanzeige bleibt ein wirksames Instrument
zur Bekämpfung von Steuerkriminalität. Dass der
Bund zum 1. Januar 2015 unter aktiver Mitarbeit
Hessens eine Verschärfung der Bedingungen für
eine Selbstanzeige plant, zeigt bereits jetzt Wirkung.
Recht hat er. Man muss ja oft Jahre warten, bis sich
ein Gesetz als erfolgreich herausstellt. Manchmal, so
hört man, wird nie etwas daraus. Welcher Gesetzentwurf
bringt hingegen bereits Milliarden an Mehreinnahmen,
bevor er überhaupt verabschiedet ist? Keine Frage, ein
solch erfolgreiches Gesetz ist ein gutes Gesetz. Den
Druck auf Steuerbetrüger zu erhöhen, hat sich unbestreitbar als der richtige Weg erwiesen. Bis dato gingen
in diesem Jahr schon 32 000 Selbstanzeigen bei den
Steuerbehörden ein, und im vergangenen Jahr waren es
rund 24 000 Anzeigen - ein toller Erfolg. Diesen Weg
werden wir mit der Verabschiedung dieses Gesetzentwurfes konsequent weitergehen.
Wir begrüßen ebenfalls, dass die Straffreiheitsgrenze
auf 25 000 Euro abgesenkt wird. Wer im Bereich von
Kapitalerträgen 25 000 Euro an Steuern hinterzieht, hat
100 000 Euro an Zinsen nicht angegeben und somit bei
einem unterstellten Zinssatz von 2 Prozent 5 Millionen
Euro vor dem Fiskus versteckt.
({3})
Hier geht es nicht um ein Kavaliersdelikt. Nein, hier geht
es um massiven Steuerbetrug. Deshalb ist die Absenkung der Straffreiheitsgrenze wohl sehr begründet.
Noch ein Wort zu den Anmeldesteuern. Das Schwarzgeldbekämpfungsgesetz von 2011 hat die Problematik
im Hinblick auf die Anmeldesteuern der Unternehmer ja
erst geschaffen. Deshalb begrüßen wir, dass die Teilselbstanzeige bei der Lohn- und Umsatzsteuervoranmeldung wieder möglich ist. Dieser Gesetzentwurf hat also
nicht nur Verschärfungen und strenge Regelungen zum
Inhalt, sondern er bietet auch praxisorientierte Verbesserungen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestatten Sie mir,
dass ich diese Rede mit einem Zitat des großen Sozialdemokraten Paul Löbe schließe - seine Worte vom 17. Dezember 1919 sind fast 100 Jahre alt, haben aber an Aktualität nichts eingebüßt. Ich zitiere:
Gleiches Recht für alle, besonders aber gleiches
Recht dem ehrlichen Steuerzahler, der es nicht verdient, dass diejenigen geschont werden, die in den
vergangenen Jahren ihrer Pflicht gegenüber der Allgemeinheit nicht nachgekommen sind.
Dieser Aufforderung kommt der vorgelegte Gesetzentwurf in vollem Umfang nach.
Deshalb kann man auf die Unterstützung der SPDBundestagsfraktion zählen. Wir freuen uns auf weiterhin
gute Gespräche mit den Kolleginnen und Kollegen der
Union und gute Debatten im Finanzausschuss und im
Parlament.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Bettina Kudla ist die nächste Rednerin für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen
Sie mich zunächst einmal auf das Steuerabkommen mit
der Schweiz eingehen, weil dies hier mehrfach kritisch
angesprochen wurde. Ich wundere mich, wie Politiker
stolz darauf sein können, dass sie verhindert haben, dass
aus der Schweiz Milliarden an Steuern nach Deutschland
fließen.
({0})
Deshalb muss man einmal fragen, wer denn die Verantwortung dafür trägt, dass dem deutschen Staat Milliarden an Steuereinnahmen entgehen. Mit der Unterzeichnung des Abkommens wären 2 Milliarden Euro sofort
geflossen.
({1})
Steuereinnahmen in Höhe von 10 Milliarden Euro sind
prognostiziert worden. Wer die harte Nuss Schweiz knacken will, der muss erst einmal ein unterschriebenes Abkommen vorlegen.
({2})
Momentan beteiligt sich die Schweiz noch nicht an
dem automatischen Informationsaustausch. Nach dem
ursprünglich vorgesehenen Abkommen wären künftige
Kapitalerträge genauso wie in Deutschland besteuert
worden. Es hätte also gar keinen Sinn mehr gemacht,
Geld in die Schweiz zu transferieren.
Hinsichtlich der Abgeltungsteuer wurde hier gesagt,
man wolle das genauso wie mit der Lohnsteuer handhaben. Das macht aber doch gar keinen Sinn. Es hat seinen
guten Grund, dass die Abgeltungsteuer nicht so behandelt wird wie die Lohnsteuer, weil man Kapitaleinkünfte
nicht so einfach greifen kann wie die Steuer des Arbeitnehmers. Deswegen hat die Abgeltungsteuer durchaus
ihren Sinn.
({3})
Nun zum Gesetzentwurf zur strafbefreienden Selbstanzeige. Zunächst zur Ausgangslage. Die Bekämpfung
der Steuerhinterziehung ist ein wesentliches Ziel der Koalition. Die Selbstanzeige als Fall der Straffreiheit nach
Beendigung des Delikts ist daher immer wieder rechtfertigungsbedürftig. Mit dem Schwarzgeldbekämpfungsgesetz wurden die Voraussetzungen für eine strafbefreiende Selbstanzeige im Jahr 2011 deutlich verschärft. Der
aktuelle Gesetzentwurf setzt die Eckpunkte der Beschlüsse der Finanzministerkonferenz vom Mai 2014
um.
Kern des Gesetzes ist, dass das Instrument der Selbstanzeige beibehalten wird. Folgende Leitplanken dienen
dem Gesetz als Grundlage: Es wird immer die Abwägung getroffen zwischen dem Gebot der gerechten Bestrafung und der pragmatischen Ermöglichung der Rückkehr in die Legalität. Die strafbefreiende Selbstanzeige
soll dem Steuerpflichtigen den Weg in die Steuerehrlichkeit eröffnen, sofern dieser Steuern hinterzogen hat. Der
strafrechtliche Grundsatz „nemo tenetur se ipsum accusare“, wonach niemand an seiner eigenen Überführung
mitwirken muss, muss trotz der erheblichen Mitwirkungspflichten des Steuerpflichtigen auch im Steuerstrafrecht Geltung behalten.
Die Öffentlichkeit ist durch die Diskussion der vergangenen Monate erheblich sensibilisiert worden. Es ist
ein stärkerer Verfolgungsdruck entstanden, und die Zahl
der strafbefreienden Selbstanzeigen hat sich deutlich erhöht. Das ist zu begrüßen.
Ich möchte aber auch betonen, gerade was die Sensibilisierung der Öffentlichkeit betrifft: Das Recht des
Bürgers auf die Wahrung des Steuergeheimnisses besteht
nach wie vor.
Im Einzelnen zum Gesetz. Wie im Koalitionsvertrag
vorgesehen, wird - wir haben es jetzt schon mehrfach
gehört - der Nacherklärungszeitraum auf zehn Jahre ausgedehnt. Das schafft mehr Rechtssicherheit. Bisher
mussten fünf Jahre nacherklärt werden, und für weiter
zurückliegende Zeiträume wurde geschätzt. Es tritt ein
Sperrgrund ein: Nur wer den Strafzuschlag bezahlt,
bleibt straffrei. Die Staffelung des Zuschlags führt zu einer deutlichen Verschärfung bei der strafbefreienden
Selbstanzeige. Wichtige neue Voraussetzung für die
Wirksamkeit ist, dass die Hinterziehungszinsen sofort
mit Abgabe der Selbstanzeige entrichtet werden; allerdings ist es auch hier gängige Praxis, dass die Finanzämter eine angemessene Frist setzen. Das ist auch notwendig; denn die Belange der kleinen und mittelständischen
Betriebe müssen berücksichtigt werden. Das Gesetz soll
dazu dienen, dem Steuerpflichtigen zu mehr Steuerehrlichkeit zu verhelfen.
({4})
Im Bereich der Anmeldesteuern wird eine Teilselbstanzeige ermöglicht, damit Korrekturen - Fehler passieren
nun einmal im betrieblichen Alltag - nicht kriminalisiert
werden. Die Berichtigungsvorschrift bzw. die ausdrückliche Berichtigungsmöglichkeit des § 153 AO gilt nach
wie vor. Das ist wichtig für die Rechtssicherheit der Unternehmen. Wir haben ferner in dem Gesetz vorgesehen,
dass eine Anlaufhemmung der steuerrechtlichen Festsetzungsverjährung eintritt bei Kapitalerträgen aus Ländern, die am automatischen Informationsaustausch nicht
teilnehmen. Das ist ein deutliches Signal an diejenigen
Steuerpflichtigen, die ihr Geld in Steueroasen anlegen
und dem Fiskus die Einnahmen verschweigen.
Lassen Sie mich zusammenfassen: Der Gesetzentwurf der Bundesregierung findet einen angemessenen
Ausgleich zwischen den verschiedenen Interessen und
beendet vorhandene Missstände. Das Gesetz wird dazu
beitragen, dass die Zahl der Fälle von Steuerhinterziehung, insbesondere großen Ausmaßes, zurückgehen
wird.
({5})
Gleichzeitig bleiben die positiven Wirkungen der Selbstanzeige erhalten. Das wären insbesondere die Möglichkeit der Rückkehr in die Legalität, die Stabilisierung der
Steuereinnahmen, die Vermeidung des verfassungsrechtlich schwierigen Aufeinanderprallens von Selbstbelastungsfreiheit im Strafrecht und weitreichender Mitwirkungspflicht im Steuerrecht.
Es liegt ein wirksamer Gesetzentwurf gegen Steuerhinterziehung vor, der in einigen wenigen Details noch
auf seine Praxistauglichkeit, insbesondere im Hinblick
auf anschlussgeprüfte Unternehmen, überprüft werden
muss.
({6})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Carsten Sieling,
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eigentlich
kann man - erstens - die Debatte heute zusammenfassen
unter der Überschrift: Am Ende wird alles gut.
({0})
Nach vielen Jahren der Debatte haben wir hier jetzt einen Konsens, der am Ende doch relativ breit ist, einen
Konsens dahin gehend, dass Selbstanzeigen zu einem
wirklich wirksamen Schwert gemacht werden müssen
und so ausgestaltet werden müssen, dass sie einen wirksameren Beitrag zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung bieten. Das ist der Kern dessen, was wir heute beschließen. Punkt zwei: Das Bankgeheimnis wird mit
dem Informationsaustausch wegfallen. Auch hierüber
herrschte nicht immer Konsens. Das Dritte: Auch die
Steuerschlupflöcher von Konzernen sollen und müssen
international bekämpft werden.
({1})
Es ist gut, dass wir hierbei einer Meinung sind. Man
hat aber an dem einen oder anderen Redebeitrag gemerkt, dass der Weg dahin steinig und ein bisschen holprig war. Frau Kollegin Kudla hat eben deutlich gemacht,
welche Schwierigkeiten es manchen Abgeordneten bereiten kann, diesen Punkten zuzustimmen. An dem Versuch,
das geplante deutsch-schweizerische Steuerabkommen
zu rechtfertigen, hat man das gesehen.
({2})
Ich will an dieser Stelle auch sagen, Herr Bundesfinanzminister: Sie haben sich mit Ihrer ganzen Hartnäckigkeit für den Abschluss des deutsch-schweizerischen
Steuerabkommens eingesetzt. Man muss aber doch am
Ende feststellen, dass es gut gewesen ist, dass wir Ihnen
in den vergangenen Jahren mit dem Scheitern des Steuerabkommens den Weg eröffnet und die Möglichkeit gegeben haben, Ihre ganze Hartnäckigkeit dafür einzusetzen, den richtigen Weg einzuschlagen: gegen das
Bankgeheimnis und für den Informationsaustausch. Ich
finde es gut, dass wir dafür jetzt gemeinsam stehen und
Fehler beseitigt haben.
({3})
Lassen Sie mich die Angelegenheit mit dem Bankgeheimnis etwas genauer betrachten. Ich will hier im
Hause daran erinnern, dass es Anfang dieses Jahrtausends in der Zeit der rot-grünen Bundesregierung Finanzminister Eichel war, der einen Gesetzesvorschlag
gemacht hat, das Bankgeheimnis aufzuheben. Dieser
Vorstoß ist damals an einer Bundesratsmehrheit unter
der Führung eines Ministerpräsidenten gescheitert, der
seinen Weg in die Wirtschaft gefunden hat und diesen
Weg jetzt auch schon wieder verlassen musste, nämlich
von Herrn Koch aus Hessen.
Die Einführung des Informationsaustausches hätte
zehn Jahre früher kommen können. Aber auch da will
ich sagen, Herr Bundesfinanzminister, liebe Kolleginnen
und Kollegen: Vielleicht sollten wir froh sein, dass wir
das heute zusammen beschließen. Uns Sozialdemokraten gibt das an dieser Stelle ein gewisses Gefühl der
Selbstzufriedenheit, weil wir mit den heutigen Beschlüssen in der Steuerpolitik einen richtig großen Schritt vorankommen werden.
({4})
Ein paar Dinge sind noch anzugehen. Ich will nur eine
Sache herausgreifen, die Abgeltungsteuer. Auch hier
vernehme ich einen großen Konsens darüber, dass wir
dieses Thema weiter bearbeiten müssen. Bei allen unterschiedlichen Akzenten und Betonungen, die es an dieser
Stelle gibt, scheint mir auch die Frage wichtig zu sein:
Wann ist eigentlich der richtige Zeitpunkt, sich damit
auseinanderzusetzen?
({5})
- Der richtige Zeitpunkt kann nicht erst 2017 sein. Wir
und auch Sie, Frau Kollegin Andreae, argumentieren,
dass die Geschäftsgrundlage für die Abgeltungsteuer
durch den automatischen Informationsaustausch entfallen sei. Der richtige Zeitpunkt für die Überführung der
Abgeltungsteuer zurück in die Einkommensteuer ist der
Tag, an dem der automatisierte Informationsaustausch
beginnt. Das wird entweder 2017 oder 2018 sein. Wenn
man das erreichen will - das ist der wesentliche Punkt -,
dann muss man jetzt mit der Arbeit anfangen.
2017 liegt noch in dieser Legislaturperiode - 2018
liegt außerhalb dieser Legislaturperiode -, sodass wir es
uns als Große Koalition mit Handlungsverantwortung
und mit einem Bundesfinanzminister, der hier sehr oft
deutlich gemacht hat, dass es systematisch richtig wäre,
die Abgeltungsteuer wieder in die Einkommensteuer zu
überführen, gar nicht erlauben können, uns nicht auf den
Weg zu machen.
Dies ist auch deswegen so wichtig, weil es viele
schwierige Fragen zu klären gibt. Stichwort Zinseinkünfte: Wie gehen wir in diesem Zusammenhang damit
um? Wollen wir wieder zurück zur Anrechnung von tatsächlichen Werbungskosten, oder erhalten wir weiterhin
die Freibeträge aufrecht? Stichwort Veräußerungsgewinne: Die Spekulationsfrist ist abgeschafft worden.
Diese Regelung müssen wir meines Erachtens beibehalten. Auch bei den Dividenden gibt es wichtige Fragen,
die sachpolitisch zu klären sind.
Heute ist der Tag, an dem vieles gut wird. Aber das
heißt nicht, dass es in Zukunft nicht noch besser werden
darf. Es gibt viele Aufgaben, an die wir politisch herangehen wollen. Wir Sozialdemokraten werden das tun.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({6})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Uwe Feiler, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Mit dem vorliegenden Entwurf eines Gesetzes
zur Änderung der Abgabenordnung und des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung, den wir heute in
erster Lesung miteinander diskutieren, knüpfen wir an
eine durchaus kontroverse und lange öffentliche Debatte
an, die wir nun auch parlamentarisch zum Abschluss
bringen werden.
Der etwas sperrige Titel des Gesetzentwurfs sollte uns
dennoch nicht daran hindern, diesen Baustein zur Bekämpfung von Steuerhinterziehung durch die Weiterentwicklung des Instruments der strafbefreienden Selbstanzeige zu würdigen. Aus meiner Sicht lohnt es sich, noch
einmal deutlich zu machen, dass die strafbefreiende
Selbstanzeige nicht nur eine Möglichkeit für Steuerhinterzieher darstellt, unter nunmehr verschärften Bedingungen wieder zurück in die Gemeinschaft der ehrlichen
Steuerzahler zu finden, die wir bis auf verhältnismäßig
wenige Ausnahmen in Deutschland ja auch haben. Sie
ist vielmehr auch im Interesse des ehrlichen Steuerzahlers und der Finanzverwaltung.
Meine Damen und Herren, wer die Abschaffung der
strafbefreienden Selbstanzeige fordert, verkennt, dass in
kaum einem anderen Rechtsgebiet eine derart umfassende Mitwirkung verlangt wird wie im Steuerrecht.
Umgekehrt fordert die Tatentdeckung nirgendwo einen
derartigen Einsatz an hochqualifiziertem Personal und
vor allem Zeit. Der Einsatz von mehr Steuerfahndern in
den Finanzämtern reicht hierbei allerdings nicht aus. Wir
müssen den Finanzbehörden auch die nötigen Werkzeuge an die Hand geben.
Die Tatentdeckung im Steuerrecht ist deutlich schwieriger als in anderen Rechtsgebieten. Beim Bankraub
merkt der Filialdirektor spätestens am Montagmorgen,
wenn er den Tresorraum aufschließt, dass der Tresor leer
und irgendetwas nicht in Ordnung ist. Das Konto in der
Schweiz, in Liechtenstein oder anderswo finden Sie so
schnell nicht, und wir brauchen in der Finanzverwaltung
die entsprechenden Werkzeuge, um derartige Konten zu
finden.
({0})
Wer die Politik der Bundesregierung und der Regierungskoalition aufmerksam verfolgt, muss bei objektiver
Betrachtung feststellen, dass große Anstrengungen unternommen wurden, um Steuerhinterziehung wirksam zu
bekämpfen. Deshalb ist es wichtig, den Blick nicht nur
auf das Instrument zu richten, sondern auch zu beurteilen, wie sich die strafbefreiende Selbstanzeige in den gesamten Instrumentenkasten einfügt.
Meine Damen und Herren, in der vergangenen Woche
haben sich in Berlin auf Einladung von Bundesfinanzminister Schäuble die Finanzminister von 51 Staaten darauf verständigt, ab September 2017 den automatischen
Informationsaustausch für Besteuerungszwecke einzuführen. Jeder, der mit politischen Prozessen vertraut ist,
weiß, welches Verhandlungsgeschick, aber auch welche
Durchsetzungsstärke vonnöten ist, um die divergierenden Interessen von 51 Staaten unter einen Hut zu bringen. Wir haben eben schon von einem Meilenstein gehört. Für mich als ehemaligen Angehörigen der
Steuerverwaltung ist es ein Felsblock. Herr Bundesminister, vielen Dank, dass Sie diesen Felsblock gesetzt
haben.
({1})
Deutschland gehört damit gemeinsam mit anderen
Staaten zu den Vorreitern dabei, Steuerhinterziehung effizient und effektiv zu bekämpfen und im Interesse des
ehrlichen Steuerzahlers Einnahmen für den Staat zu sichern. Ich bin mir sicher, dass den 51 Staaten, die sich
bisher schon beteiligen, noch weitere Staaten folgen
werden.
Fest steht aber auch, dass es bei 194 Staaten, die es
weltweit gibt, und 51 teilnehmenden Staaten auch in Zukunft weiterer Instrumente bedarf, um Steuerhinterziehung und Steuerflucht wirksam zu verhindern. Das von
der OECD angestoßene BEPS-Projekt wird dazu beitragen, dass dieser Prozess weiter an Fahrt gewinnt. Ich
freue mich bereits auf die Debatten zu diesem Thema im
kommenden Jahr.
Deshalb ist es im Zusammenspiel mit dem oben genannten Abkommen in der EU auch richtig, dass der automatische Informationsaustausch weiter verbessert wird
und auch Dividenden, Veräußerungsgewinne aus Wertpapieren, andere Finanzprodukte, sonstige Finanzerträge
und Kontoguthaben mit einbezogen werden sollen.
Meine Damen und Herren, der zunehmende Verfolgungsdruck wird zu einer weiteren Erhöhung der Anzahl
der Selbstanzeigen führen. Steuersünder werden diese
Kronzeugenregelung dafür nutzen, sich ehrlich zu machen, um wieder in die Gemeinschaft der ehrlichen
Steuerzahler zurückzufinden. Ohne die Möglichkeit der
Selbstanzeige würden wir aufgrund der steuerlichen Verjährungsfristen auf Einnahmen verzichten. Das führt
ebenfalls zu weniger Steuergerechtigkeit.
Hier sind natürlich auch die Länder gefragt und in die
Pflicht genommen, ihre Finanzämter mit ausreichend
Personal auszustatten, um die gewonnenen Erkenntnisse
entsprechend verarbeiten zu können. Hier bleibt für
mich festzustellen, dass auch mein Heimatland Brandenburg mit einem Personalbesatz von circa 85 Prozent der
Personalbedarfsberechnung nicht gerade positiv hervortritt.
({2})
In der öffentlichen Diskussion wird die strafbefreiende Selbstanzeige oft lediglich im Zusammenhang mit
hinterzogenen Steuern bei Kapitalerträgen betrachtet.
Bei den beispielhaft genannten prominenten Einzelfällen
wird aber vollkommen außer Acht gelassen, dass weitere
Steuerverkürzungen zum Beispiel bei anderen Einkunftsarten oder bei den Anmeldesteuern für eine Selbstanzeige infrage kommen können. Die strafbefreiende
Selbstanzeige soll und darf jedoch kein Wellnessangebot
für Steuerhinterzieher darstellen. Deshalb wird - genauso wie bisher - eine umfassende Mitwirkungspflicht
dem Steuerpflichtigen abverlangt, gerade um eine vermeintliche Besserstellung gegenüber dem ehrlichen
Steuerzahler zu unterbinden.
({3})
Konkret soll künftig die strafbefreiende Wirkung der
Selbstanzeige nur noch bei hinterzogenen Beträgen bis
zu 25 000 Euro statt wie bisher bis zu 50 000 Euro eintreten. Hinzu kommt, dass bei hinterzogenen Steuern auf
Kapitalerträge, die nicht automatisch übermittelt werden, die Anlaufhemmung bei der steuerrechtlichen Festsetzungsverjährung ab dem 1. Januar 2015 bis zu zehn
Jahre betragen kann. In Verbindung mit der generellen
Ausdehnung des Berichtigungszeitraums auf zehn Jahre
wird deutlich, dass wir fest entschlossen sind, dieses Instrument zu behalten, aber auch Anpassungen vorzunehmen, die deutlich machen, dass Steuerhinterziehung kein
Kavaliersdelikt darstellt.
Richtig finde ich auch, zukünftig Anstifter und Gehilfen in den Kreis derjenigen aufzunehmen, die einer
Sperre nach § 371 Absatz 2 AO unterliegen und von der
Strafbefreiung ausgenommen werden. Das schließt im
Übrigen Amtsträger, die ihre Position missbrauchen, ein.
Wichtig ist mir an dieser Stelle, zu unterstreichen, dass
wir in § 371 aber auch die Möglichkeit der Korrektur
von Umsatzsteuervoranmeldungen und Lohnsteueranmeldungen verbessert haben, sodass sich Betriebe nicht
dem Verdacht der Steuerhinterziehung ausgesetzt sehen
müssen. Das Gleiche gilt für anschlussgeprüfte Betriebe,
die nunmehr für nicht auf einer Prüfungsanordnung aufgeführte Steuerarten und Zeiträume zum Mittel der
Selbstanzeige greifen können. Wie wir bereits gehört haben, bleibt uns § 153 AO in der bisherigen Form erhalten. Der Unterschied liegt hier in der Strafbarkeit und
der Nichtstrafbarkeit. Wer also eine berichtigte Steuererklärung abgibt, kann auch zukünftig darauf hoffen,
nicht mit einem Strafverfahren konfrontiert zu werden.
Das ist bislang in der Praxis leider ein wenig anders. Ich
freue mich, dass es uns in der Fraktion gelungen ist, mit
dem Bundesfinanzministerium übereinzukommen, dass
wir zu § 153 eine klarstellende Regelung in Form eines
Erlasses erhalten werden.
Die zu leistenden Geldbeträge nach § 398 a AO werden angepasst und zukünftig gestaffelt. 10 Prozent der
hinterzogenen Steuern werden bei Beträgen bis zu
100 000 Euro fällig, 15 Prozent bei Beträgen bis zu
1 Million Euro und 20 Prozent bei darüber hinausgehenden Beträgen. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass sich die Schuld des Straftäters bei der zu
vermeidenden Strafbemessung an der Höhe der hinterzogenen Steuern orientiert.
Noch ein kurzes Wort zur Abgeltungsteuer. Solange
der vereinbarte Informationsaustausch nicht funktioniert, brauchen wir weiterhin eine Abgeltungsteuer. Deswegen ist es falsch, bereits über ihre Abschaffung zu
diskutieren. Ebenso falsch ist, ein wahres Bürokratiemonster wie das Halbeinkünfteverfahren wiederzubeleben. Wir müssen schauen, was wir hier in Zukunft machen.
({4})
Ich freue mich auf die Diskussionen im Ausschuss
und die dazugehörigen Anhörungen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Vielen Dank. - Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/3018 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu weitere Vorschläge? - Ich sehe, das ist nicht der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 c sowie
Zusatzpunkt 1 auf:
5 a) - Zweite und dritte Beratung des von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2014/59/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014
zur Festlegung eines Rahmens für die Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen und zur Änderung der Richtlinie 82/891/EWG des
Rates, der Richtlinien 2001/24/EG, 2002/
47/EG, 2004/25/EG, 2005/56/EG, 2007/
36/EG, 2011/35/EU, 2012/30/EU und
2013/36/EU sowie der Verordnungen
({0}) Nr. 1093/2010 und ({1}) Nr. 648/
2012 des Europäischen Parlaments und
des Rates ({2})
Drucksachen 18/2575, 18/2626
- Zweite Beratung und Schlussabstimmung
des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Übereinkommen vom 21. Mai 2014 über
die Übertragung von Beiträgen auf den
einheitlichen Abwicklungsfonds und
über die gemeinsame Nutzung dieser
Beiträge
Drucksachen 18/2576, 18/2627
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({3})
Drucksache 18/3088
b) - Zweite und dritte Beratung des von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
ESM-Finanzierungsgesetzes
Drucksachen 18/2577, 18/2629
- Zweite und dritte Beratung des von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Änderung der Finanzhilfeinstrumente nach Artikel 19
des Vertrags vom 2. Februar 2012 zur
Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus
Drucksachen 18/2580, 18/2628
Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsauschusses ({4})
Drucksache 18/3082
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Haushaltsauschusses ({5}) zu dem Antrag des Bundesministeriums der Finanzen
Durchführungsbestimmungen zum Instrument der direkten Bankenrekapitalisierung
durch den Europäischen Stabilitätsmechanismus; Einholung eines zustimmenden
Beschlusses des Deutschen Bundestages
nach § 4 Absatz 1 des ESM-Finanzierungsgesetzes
Drucksachen 18/2669, 18/3082
ZP 1 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({6})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard
Schick, Kerstin Andreae, Annalena Baerbock,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Risiko und Haftung zusammenführen Gläubigerbeteiligung nach EZB-Bankentest sicherstellen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard
Schick, Kerstin Andreae, Annalena Baerbock,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gemeinsam die Haftung der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler beenden - Für einen einheitlichen europäischen Restrukturierungsmechanismus
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard
Schick, Manuel Sarrazin, Sven-Christian
Kindler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
zu dem Vorschlag für eine Verordnung des
Europäischen Parlaments und des Rates
zur Festlegung einheitlicher Vorschriften
und eines einheitlichen Verfahrens für die
Abwicklung von Kreditinstituten und bestimmten Wertpapierfirmen im Rahmen
eines einheitlichen Abwicklungsmechanismus und eines einheitlichen Bankenabwicklungsfonds sowie zur Änderung der
Verordnung ({7}) Nr. 1093/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates
KOM({8}) 520 endg.; Ratsdok. 12315/13
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3
des Grundgesetzes
Zum Schutz der Allgemeinheit vor Einzelinteressen - Für eine echte Europäische
Bankenunion
Drucksachen 18/97, 18/98, 18/774, 18/3088
Zu dem BRRD-Umsetzungsgesetz der Bundesregierung liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion Die
Linke sowie der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Erster Redner in dieser Debatte ist der Kollege KlausPeter Flosbach, CDU/CSU-Fraktion.
({9})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir werden heute eines der wichtigsten Gesetze der europäischen Finanzgeschichte verabschieden.
Wir diskutieren seit dem Jahr 2008 über Hilfsmaßnahmen des Staates für Kommunen, über Konjunkturpakete,
über Hilfen für Staaten und Banken in Form von Rettungsschirmen, und wir haben uns unserer Verantwortung gestellt, hier im Deutschen Bundestag dafür zu sorgen, dass bei Krisen wieder Haftung und Verantwortung
zusammengebracht werden und nicht der Staat für Leute
haften muss, die in diesem System Fehler machen.
({0})
Seit Mitte 2012 beraten wir über das Thema der Bankenunion. Was verstehen wir unter Bankenunion? Es
geht im Wesentlichen um zwei Bereiche: einmal eine gemeinsame Aufsicht in Europa für die Banken zu schaffen, nicht nur eine nationale Aufsicht, zum anderen geht
es um die Frage: Was passiert, wenn Banken in eine
Schieflage geraten? Wie kann hier abgewickelt oder saniert werden?
Wir haben im Jahr 2012 erlebt, dass viele europäische
Staaten der Meinung waren, eine gemeinsame Aufsicht
zu schaffen, aber dann, wenn eine Bank in Schieflage
gerät, an europäisches Geld kommen wollten, nämlich
an den Rettungsschirm ESM. Deshalb war es uns im
Deutschen Bundestag wichtig, ein Stoppsignal zu setzen
und zu sagen: Das ist mit uns so einfach nicht zu machen.
Wir haben deshalb hier im Deutschen Bundestag damals eine Entschließung verabschiedet und unserer Bundesregierung Vorgaben gemacht, wie die Verhandlungen
zu führen sind und vor allen Dingen welche Merkmale in
den Verhandlungen nach vorne gestellt werden sollten.
Wir sind der Meinung, dass in Europa alle großen Banken europäisch kontrolliert werden müssen und nicht
mehr national. Aber wir sind genauso der Meinung, dass
kleine Banken, kleine Institute, Sparkassen und Volksbanken, die gewisse Grenzen nicht überschreiten, nicht
europäisch kontrolliert werden müssen, sondern dass
hier proportional gehandelt werden muss.
({1})
Denn es darf nicht sein, dass kleine Banken dem gleichen Regime unterliegen wie die großen. Ich habe als
unsere wichtigste Verantwortung unter anderem gesehen, dass wir Proportionalität gewährleisten und dass
wir uns für die kleinen Institute einsetzen, die gerade in
der Finanzkrise immer dafür gesorgt haben, dass die
Geld- und Kreditversorgung in Deutschland gewährleistet war. Das ist unsere besondere Verantwortung.
Es gab natürlich auch den Wunsch, Banken möglichst
auf die europäische Ebene zu schieben, ohne sie zu prüfen, damit anschließend eine europäische Haftung greift.
Wir als Deutscher Bundestag haben gesagt: Wir sind für
die europäische Aufsicht, aber wir sind nur dann für die
europäische Aufsicht, wenn sich alle großen Banken, die
in Zukunft europäisch kontrolliert werden sollen, einer
Prüfung, einem Stresstest unterziehen, damit nicht
kranke Banken auf der europäischen Ebene abgelagert
werden können.
Diese Prüfung ist soeben erfolgt. Vor gerade zehn Tagen sind die Ergebnisse herausgekommen. Die 130
größten europäischen Banken sind kontrolliert worden.
Von diesen haben 25 die Bedingungen nicht erfüllt; zum
heutigen Zeitpunkt sind es noch 13 Banken. Diese
13 Banken müssen selbst oder mithilfe ihrer Staaten das
Geld aufbringen, damit sie in die europäische Aufsicht
kommen. Es ist eben nicht Angelegenheit der gemeinsamen Haftung, sondern der Banken und der betreffenden
Staaten, dafür zu sorgen, dass diese Banken liquide sind
und keine Gefahr für den Finanzmarkt darstellen.
({2})
Wir haben auch deutlich gemacht, dass wir dafür sind,
dass Banken, die in eine Schieflage geraten, gemeinsam
gerettet werden können. Dafür haben wir das Gesetz, das
wir heute hier vorlegen, das Abwicklungs- und Sanierungsgesetz, geschaffen. Wir in Deutschland haben zwar
bereits seit dem Jahre 2010 ein nationales Gesetz zu diesem Thema gehabt, aber wir gehen mit diesem Gesetz
doch deutlich weiter, als wir es national getan haben.
Wenn Banken in die Schieflage geraten, wenn sie saniert
oder abgewickelt werden müssen, dann wird zum ersten
Mal nicht der Steuerzahler herangezogen.
Wie schaffen wir das? Wenn jemand in die Schieflage
gerät, wird zuerst der Eigentümer herangezogen. Natürlich haben viele Eigentümer von Bankaktien in der Krise
Geld verloren. Wer auf dem Höhepunkt im Jahre 2008
eingestiegen ist, hat mit Commerzbank-Aktien über
90 Prozent verloren. Aber hier geht es darum, dass dem
Eigentümer, dem Aktionär, Geld entzogen wird. Er verliert eventuell sein gesamtes Geld. Wenn das nicht ausreicht, dann werden die Gläubiger herangezogen, und
zwar nicht die kleinen Gläubiger, die wir als Eigentümer
von Einlagen bis 100 000 Euro definieren, sondern die
Eigentümer, deren Einlagen darüber hinausgehen. Ihr
Guthaben bei einer Bank wird in haftendes Eigenkapital
der Bank umgewandelt. Das heißt, jeder ist selbst dafür
verantwortlich, wem er sein Geld anvertraut. Wenn er es
einer Bank anvertraut hat, die ihm hohe Zinsen geboten
hat, aber hinterher nicht liquide ist, dann muss er mit dafür haften. Eigentümer und Gläubiger müssen in Zukunft
haften, wenn eine Bank in Schieflage gerät.
({3})
Wir haben aber auch deutlich gemacht, dass wir uns
für den Fall, dass das alles nicht ausreichen sollte, das
Modell einer gemeinsamen Haftung in Form eines gemeinsamen Fonds vorstellen können. Wer die Anhörungen in der letzten Zeit, die Fachgespräche, die Gespräche
mit der Europäischen Kommission, mit der Bundesbank
verfolgt hat, wird doch als Ergebnis mitnehmen, dass der
Chef des Euro-Rettungsschirmes ESM, Herr Regling,
gesagt hat: Wenn wir diese Gesetzeslage im Jahre 2008
gehabt hätten, dann wären nicht Hunderte von Banken
europaweit in die Schieflage geraten, sondern es wären
nur zwei oder drei Banken gewesen, und die Schieflage
hätte im einstelligen Milliardenbereich gelegen. - Das
heißt, wenn wir das schon damals gehabt hätten, wäre es
eine völlig andere Situation gewesen. Deswegen sollten
wir stolz darauf sein, dass wir dieses Gesetz heute verabschieden, das die Steuerzahler wirklich von der Haftung
befreit.
({4})
Wir haben zur Absicherung noch einen europäischen
Fonds geschaffen. Wir haben natürlich darüber diskutiert: Wie kann ein solcher Fonds finanziert werden? Er
wird 1 Prozent der gedeckten Einlagen umfassen müssen. Er wird nicht vom Staat, sondern von den Banken
finanziert. Die Banken müssen dafür in den nächsten
acht Jahren 55 Milliarden Euro bereitstellen.
Unsere zentrale Frage in diesem Zusammenhang ist:
Wer finanziert einen solchen Fonds? Wer bezahlt das
Ganze? - Natürlich müssen die Großen, von denen die
Risiken ausgehen, den Hauptteil tragen. Aber wir diskutieren immer auch über die Frage: Wie gehen wir mit
kleinen Banken, mit Sparkassen und mit Volksbanken
um? Wir haben damals in Deutschland einen Freibetrag
für kleinere Banken durchsetzen können, weil wir es
selbst entscheiden konnten. Auf europäischer Ebene mit
nahezu 6 000 Banken ist es natürlich schwieriger, Entscheidungen dieser Art zu treffen, weil sich jedes Land
in einer unterschiedlichen Situation befindet. Auch hier
muss ich dem Finanzminister Schäuble dafür danken,
dass sich die deutsche Bundesregierung immer wieder
dafür eingesetzt hat, dass gerade die Kleinen nicht so belastet werden wie die Großen. Herr Schäuble, ich danke
Ihnen an dieser Stelle ausdrücklich, dass Sie zu dieser
Forderung des Deutschen Bundestages immer wieder
gestanden haben.
({5})
Die Opposition wird natürlich darauf hinweisen, dass
das alles nicht ausreicht, dass die Kleinen trotzdem wieder zu stark belastet werden.
({6})
Wir haben auch bei kleinen Banken gesehen - übrigens
auch bei Sparkassen im Verbund mit der Westdeutschen
Landesbank -, wo überall Risiken stecken. Insofern
glaube ich, wir haben hier eine sehr gute Lösung gefunden.
Meine Damen und Herren, auch in Zukunft wird immer wieder die Diskussion geführt werden, ob der Staat
nicht doch irgendwo haften muss. Wenn diese drei Maßnahmen - Eigentümer, Gläubiger und Fonds - nicht ausreichen sollten, sind Länder selbst verpflichtet, die Finanzierung der Banken vorzunehmen.
({7})
Wenn sie das dann immer noch nicht können, können sie
Hilfe aus dem Rettungsschirm beantragen. Sie bekommen eine Unterstützung, aber natürlich, wie wir es kennen, in Verbindung mit einem vollen Programm. Damit
geben sie ein Stück ihrer Eigenständigkeit auf.
Es wird auch die direkte Bankenrekapitalisierung diskutiert, die im Jahr 2012 natürlich von großer Bedeutung
war. Sie müssen bedenken, dass Kommission, Regling
und Bundesbank sagen: Das wäre damals nicht passiert. Klaus-Peter Flosbach
An fünfter Stelle ist jetzt also auch eine Rekapitalisierung möglich, aber nur, wenn alle auf der europäischen
Ebene zustimmen und auch wir als Deutscher Bundestag, die wir das Haushaltsrecht haben. Wer heute behauptet, es gebe eine direkte Bankenrekapitalisierung insofern, als wir es zulassen, dass auf europäisches Geld
zurückgegriffen wird, der stellt die Dinge falsch dar und
dem werden wir so nicht zustimmen können.
({8})
Meine Damen und Herren, in den letzten sechs Jahren
haben wir 30 Gesetze verabschiedet, um Stabilität auf
den Finanzmärkten herzustellen. Denken Sie nur an das
große Abkommen Basel III: mehr Eigenkapital für die
Banken, mehr Liquidität, eine andere Liquidität in den
Banken. Wir haben die Testamente gefordert. Wir haben
Trennbankensysteme eingeführt. Wir haben außerbörsliche Derivate geregelt. Wir haben im Grunde eine europäische Aufsicht auch im Systemrisikobereich geschaffen. Wir haben also die Jahre genutzt, um auf vielfältige
Weise dafür zu sorgen, dass wir wieder einen stabilen
Finanzmarkt in Europa bekommen.
Wir verabschieden heute gemeinsam mit der Bundesregierung ein Gesetz, das genau das abschließt, was wir
sechs Jahre lang in Teilschritten betrieben haben. Wir erleben heute sicherlich den Höhepunkt. Es ist eines der
wichtigsten europäischen Finanzgesetze, mit dem Haftung und Verantwortung wieder zusammengeführt werden, mit dem erreicht wird, dass dann, wenn Banken in
eine Schieflage geraten, nicht die Steuerzahler, sondern
die Banken selbst herangezogen werden.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({9})
Vielen Dank. - Für die Fraktion Die Linke hat jetzt
das Wort Alexander Ulrich.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Am heutigen Tag kann man sagen: versprochen - gebrochen.
({0})
Nach der verheerenden Wirtschafts- und Finanzkrise
hatte die Bundeskanzlerin versprochen, dass nie wieder
der Steuerzahler für marode Banken haften soll. Aber
spätestens am heutigen Tag ist klar, dass auch zukünftig
die Steuerzahler dafür haften werden - wir werden das
heute noch einmal klarlegen -; wir als Linke lehnen das
ab.
({1})
Hätte es die Bankenunion schon 2007 gegeben, Herr
Flosbach, hätte es also das, was uns heute vorliegt, damals schon gegeben, so hätte uns das gegen die Finanzkrise nicht geschützt. James White von der Europäischen
Finanzmarkt-Assoziation hat die Bankenunion als ein
entscheidendes Projekt bezeichnet, das die Marktintegration voranbringt, die Finanzmärkte stärkt und Vertrauen in die europäische Wirtschaft schafft. Kolleginnen und Kollegen, wenn die Interessenvertreter der
Großbanken über ein Regulierungsprojekt derart ins
Schwärmen kommen, dann muss sich die Politik fragen,
was sie falsch gemacht hat. Dazu fällt mir eine Menge
ein:
Zuerst haben Sie Eigenkapitalregeln festgelegt, die
viel zu schwach sind. Lehman hatte kurz vor der Pleite
noch 11 Prozent Kernkapital. Sie haben sich in der EU
auf 8 Prozent verständigt, und diese 8 Prozent sind nicht
nur Mindest-, sondern zugleich auch Höchstgrenze. Das
ist keine Finanzregulierung. Das ist Deregulierung.
({2})
Dann haben Sie die Aufsicht über die Großbanken an die
EZB übertragen, eine Institution, die kraft ihrer Statuten
frei von demokratischer Kontrolle ist und die aufgrund
ihrer geldpolitischen Rolle ganz offenkundig in einen Interessenkonflikt gerät. Und nun beschließen Sie einen
Abwicklungsmechanismus, der festlegt, dass die Gläubiger und Eigentümer von Pleitebanken künftig mit 8 Prozent der Bilanzsumme an den Kosten beteiligt werden
sollen. Danach ist der Steuerzahler wieder dran.
Das gleiche Schonprogramm gegenüber den Banken
legen Sie beim Abwicklungsfonds an den Tag. 55 Milliarden Euro sollen sie einzahlen - bis 2024. Das ist viel
zu spät und viel zu wenig. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bankenrettungen der letzten Jahre haben uns
1 700 Milliarden Euro gekostet. Riskiert wurden sogar
über 4 000 Milliarden Euro. Nun sollen 55 Milliarden
Euro dafür sorgen, dass die Steuerzahler nie wieder für
marode Banken haften müssen? Das ist wirklich ein
schlechter Witz.
Aber noch schlimmer als das, was Sie im Rahmen
dieser Bankenunion gemacht haben, ist, was Sie nicht
machen: Sie geben keine Antwort auf die enorme Konzentration im Finanzsektor, die einzelne Institute in die
Lage versetzt, Staaten zu erpressen. Sie geben auch
keine Antwort auf das Problem des riesigen Einflusses
der Finanzlobbys. Allein in Brüssel sind 1 700 Finanzlobbyisten beschäftigt.
({3})
Es ist kein Wunder, dass die Finanzjongleure ins
Schwärmen kommen. Diese Bankenunion ist für sie
maßgeschneidert.
Wenn Sie es ernst damit meinen, die Steuerzahler zu
schützen, dann lehnen Sie die Richtlinien und Verordnungen zur Bankenabwicklung ab.
({4})
Wir brauchen diese Bankenunion nicht.
({5})
Wir brauchen eine strenge Regulierung, eine Entflechtung und Schrumpfung des Finanzsektors. Wir brauchen
ein Trennbankensystem und eine Zerlegung der Großbanken in kleinere Einheiten. Es muss sichergestellt
werden, dass nie wieder die Steuerzahler für die perverse
Zockerei der Finanzmafia haften müssen.
({6})
Zudem brauchen wir eine demokratische Kontrolle und
ein Ende des enormen Einflusses der Bankenlobbys.
Über all das wird heute aber nicht abgestimmt. Diese
Bankenunion kratzt nicht einmal an der Oberfläche der
eigentlichen Probleme im Finanzsektor. Wir werden ihr
daher nicht zustimmen.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Johannes Kahrs,
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der Kollege Flosbach hat hier ausgeführt, wie
der Vorgang vonstattengehen soll. Der Kollege Ulrich
hat aber leider nicht zugehört. Hätte er zugehört, hätte er
seine Rede gar nicht so halten können, wie er sie gehalten hat,
({0})
oder er hat sie nicht verstanden; man soll aber nicht
gleich das Schlimmste annehmen.
Im Kern wird von der Linken hier wieder an einer alten Legende gestrickt: Die fiesen Banken werden vom
Steuerzahler finanziert; damit werden nur Lobbys bedient.
({1})
Wer braucht überhaupt Banken? - Sie zielen damit auf
eine gewisse Zielgruppe ab, darauf, 10 bis 12 Prozent
der Bevölkerung in Verwirrung zu stürzen, damit diese
Menschen glauben, dass ihre Steuergelder ausgegeben
werden, um Lobbys, Verbände und andere zu retten.
({2})
Ehrlich gesagt: Das ist doch etwas schlicht, selbst für die
Linke. Ich meine, Sie mögen zwar schlichte Strickmuster; aber das muss doch nicht immer so sein.
Hier liegen mehrere Gesetzentwürfe vor, mit denen
dafür gesorgt werden soll, dass die Verfahren vernünftig
ablaufen. Das ist Ihnen eben alles erklärt worden. Aber
wenn Sie im Kern sagen, dass hier der Steuerzahler wieder die Banken finanzieren soll, die nichts geregelt kriegen, dann muss ich Ihnen doch einmal sagen, wozu wir
die Banken brauchen: Die Bürger haben eine enge Verbindung zu den Banken. Die Banken finanzieren den
Mittelstand, und jeder, der eine Lebensversicherung hat,
braucht eine Bank. Die Wirtschaft, die Unternehmen, die
ihre Geschäfte abwickeln, brauchen die Banken ebenfalls.
({3})
- Na, ich versuche, Ihnen das so zu erklären, dass Sie es
auch verstehen. Dazu muss ich mich leider auf Ihr Niveau begeben; das ist mein Problem.
({4})
Das heißt, wenn Sie hier schlicht argumentieren, müssen
wir auch schlicht darauf antworten. Sonst geht es mir
wie dem Kollegen Flosbach, der Ihnen das hier erklärt
hat, aber Sie haben es nicht verstanden. Das ist doch jedes Mal das gleiche Strickmuster. So kommen wir doch
nicht miteinander klar.
({5})
Ich habe mich deswegen entschieden, meine Rede zur
Seite zu legen und zu versuchen, Ihnen das auf Ihrem
Niveau zu erklären.
Erstens. Die Menschen, die Industrie und der Mittelstand brauchen ein funktionierendes Bankensystem.
Zweitens. Wir wollen, dass dieses funktionierende
Bankensystem Bestand hat.
Drittens. Wir alle sind überzeugte Europäer. Wir wollen, dass das auch in Europa funktioniert.
Viertens. Wir wissen, dass in anderen europäischen
Staaten - ob in Griechenland, Spanien oder anderswo ein Aufschwung nur möglich ist und eine Wirtschaft nur
funktionieren wird, wenn auch sie ein funktionierendes
Bankensystem haben.
Fünftens - das kann man alles weiter herunterdeklinieren - brauchen auch diese Staaten Banken, wenn die
Wirtschaft dort funktionieren soll; denn wir müssen am
Ende doch klarkommen.
Zu der dümmlichen Argumentation, mit der Sie hier
aufgetreten sind, hier würden wieder Lobbys und Banken versorgt, kann ich nur sagen:
({6})
Die Banken sind ein integraler Bestandteil unseres Wirtschaftssystems. Wenn diese Banken ausfallen, dann geht
noch sehr viel mehr den Bach runter. Viel schlichter
kann ich das nicht erklären.
({7})
- Wenn Sie sagen, wir hätten keine Lehren gezogen,
dann frage ich Sie, warum wir hier eine Debatte über
zwei von uns vorgelegte Gesetze führen, in denen wir
genau diese Lehren durchdeklinieren.
({8})
Was soll man denn in diesem Hohen Hause sonst
noch machen? Man stößt doch an die Grenzen von Rationalität, wenn nicht zugehört oder verstanden wird.
Das ist doch die Grundlage eines parlamentarischen Systems. Wenn Sie sich das Ganze anschauen, dann werden
Sie feststellen, dass wir der Meinung sind, dass dieser
europäische Bankensektor sicherer gemacht werden
muss. Das haben wir auch vor. Deswegen stehen wir
hier.
Wir als Sozialdemokraten haben einer direkten Bankenrekapitalisierung immer kritisch gegenübergestanden
und stehen ihr auch heute noch kritisch gegenüber.
({9})
- Lesen bildet, denken hilft; Herr Kollege, ich schätze
Sie sehr. - Deswegen haben wir - wenn man in den Gesetzentwurf schaut, wird man das erkennen - sehr viele
Hürden aufgebaut, die dazu führen sollen, dass eben
nicht der Steuerzahler gefordert wird, sondern, wie vom
Kollegen Flosbach mehrfach ausgeführt wurde, zunächst
die Eigentümer, die Unternehmen und die Aktionäre gefordert werden, bevor wir an der Reihe sind. Wir haben
auf europäischer Ebene verhandelt, um den Zugang zu
ESM-Hilfen so anspruchsvoll zu gestalten, wie es hier
dargestellt worden ist, damit das der absolute Notfall ist,
damit es eine Haftungskaskade gibt. Das ist Ihnen doch
alles mehrfach erklärt worden.
Im Sommer 2012 haben einige gedacht, dass das ein
Weg für die maroden europäischen Banken wäre, schnell
an ESM-Geld zu kommen. Das wollten wir nicht. Es
darf keinen schnellen Zugang zu diesem Geld geben; das
muss im Rahmen der Haftungskaskade in sehr vielen
Stufen ausgeschlossen werden. Das ist Ihnen hier klar
gesagt worden.
Gleichzeitig sorgen wir mit den hier vorgelegten Gesetzen dafür, dass der Deutsche Bundestag beteiligt
wird, dass der Haushaltsausschuss beteiligt wird, dass
das nicht in irgendwelche Untergremien geschoben wird,
weil wir keine Lust haben, wieder von irgendwem vor
dem Verfassungsgericht verklagt zu werden. Wir wollen,
dass der Bundestag beteiligt wird. Wir wollen, dass der
Bundestag entscheidet. Wir wollen, dass der Bundestag
mitreden kann; denn es geht um das Geld der Steuerzahler. Das ist hier alles, glaube ich, klar erläutert worden.
({10})
Wenn man das der Linken noch einmal sagen darf: Es
bringt überhaupt nichts, hier irgendwelche großen Theorien in die Welt zu setzen und zu versuchen, die Bevölkerung zu verunsichern. Das führt im Ergebnis nicht zu
dem, was nicht nur wir, sondern auch Sie wollen: dass es
einen vernünftigen Umgang mit den Banken gibt. Wir
wollen, dass der Bankensektor vernünftig reguliert wird.
Eine Bank muss auch einmal pleitegehen können, aber
so, dass die Spareinlagen von Privatpersonen nicht betroffen sind. Das ist jetzt hier alles geregelt worden. Dafür haben wir Sozialdemokraten uns lange eingesetzt,
schon als wir in der Opposition waren. Jetzt, wo wir mitregieren, läuft das alles sehr viel besser. Dem Kollegen
Flosbach konnte man ja anhören, dass vieles aus sozialdemokratischer Feder stammt. Insofern wirkt diese
Große Koalition. Sie funktioniert, und das ist gut. Nur
die Linke hat es nicht verstanden. Das ist aber nichts
Neues.
Vielen Dank.
({11})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Sven-Christian
Kindler, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Nach den etwas schlichten Reden, sowohl des
Kollegen Ulrich als auch des Kollegen Kahrs, will ich
wieder zum Thema der Debatte zurückkommen.
({0})
Wenn wir heute über die Bankenunion und den ESM
reden, dann dürfen wir, finde ich, nicht vergessen, was
der Hauptgrund für die immer noch andauernde Finanzkrise in Europa war. Hauptgrund waren und sind die hohen Schulden des Bankensystems. Bis 2008 hatten Länder wie Irland oder Spanien zum Beispiel deutlich
bessere Haushaltszahlen als Deutschland. Aber in diesen
Ländern gab es einen überbordenden Banken- und Immobiliensektor. In der Krise sind dann aus diesen Bankschulden Staatsschulden geworden. Nach Angaben der
Europäischen Kommission haben die europäischen Staaten von 2008 bis 2012 rund 600 Milliarden Euro für den
Bankensektor bereitgestellt; rund 80 Prozent davon entfielen auf Griechenland, Irland, Spanien und Portugal.
Dieses Geld fehlt uns heute für den Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit. Dieses Geld fehlt uns heute für Investitionen. Wir Grüne sagen klar für die Zukunft: Es
muss in Europa endlich Schluss damit sein, dass Bankschulden in Staatsschulden umgewandelt werden, dass
die Staatshaushalte und die Steuerzahler für die Bankenrettung aufkommen.
({1})
Wir dürfen nicht vergessen: Woran lag diese falsche
Krisenpolitik in den letzten Jahren in Europa? Das lag
auch daran, dass wir keinen Lösungsmechanismus hatten für stark vernetzte Banken in Europa, für die Abwicklung und die Kontrolle. Die Bundesregierung, vor
allen Dingen Bundesfinanzminister Schäuble, hat das in
den letzten Jahren auf europäischer Ebene immer blockiert und torpediert; sie hat immer nur die nationale
Karte gespielt. Dass die Krise im Bankensektor die Staaten in Europa so viel Geld gekostet hat, dass sie sich so
verschärft hat, dafür ist auch die deutsche Bundesregierung verantwortlich. Das war nicht pro-europäisch, das
war national borniert. Und: Das war und ist am Ende
ganz teuer für Europa.
({2})
Dieser Logik der nationalen Bankenrettung mit Steuergeldern folgt leider auch die Umsetzung der BRRDRichtlinie in Deutschland. Auf europäischer Ebene soll
ein Rechtsrahmen bezüglich der Bankenunion geschaffen werden. Trotzdem will die Bundesregierung mit dem
SoFFin nationale Steuermittel weiter ins Schaufenster
stellen. Wir Grüne beantragen heute, dass der SoFFin
nicht um ein weiteres Jahr verlängert wird. Das wäre das
falsche Signal und würde auch dem Grundgedanken der
europäischen Lösung widersprechen.
({3})
Wir Grüne haben von Anfang an eine europäische
Bankenunion gefordert. Wir brauchen eine gemeinsame
Kontrolle, ein gemeinsames Abwägen, auch harte Regelungen, damit Eigentümer und Gläubiger in der Krise
zahlen und nicht wieder die Steuerzahler für die Bankenrettung eintreten müssen. Wir sollten aber auch nicht
vergessen, wer die entscheidenden Fortschritte auf europäischer Ebene durchgesetzt hat. Das war nicht die Bundesregierung. Im Gegenteil: In der entscheidenden
Nacht hat sich das Europäische Parlament bei den zentralen Fragen wie einer effektiven Bankenabwicklung
ganz klar gegen den Europäischen Rat und Wolfgang
Schäuble durchgesetzt. Das war auch dringend notwendig und gut so.
({4})
Leider hat sich an einer anderen entscheidenden Stelle
die deutsche Bundesregierung durchgesetzt, und zwar
bei der Frage des intergouvernementalen Übereinkommens, kurz: IGA.
({5})
- Ja, bei einem ganz zentralen, europapolitisch bedenklichen Punkt, nämlich bei der IGA. - Was heißt IGA? Es
geht darum, dass bis 2024, was viel zu lange ist, die national erhobenen Bankenbeiträge für den Abwicklungsfonds in einem zwischenstaatlichen Vertrag geregelt
werden sollen. Das heißt, das europäische Recht wird
hier ausgehebelt; das Europäische Parlament wird in seinen Rechten beschnitten. Die deutsche Bundesregierung
war mit dieser Haltung in Europa isoliert. Kein anderer
Mitgliedstaat und nicht das Europäische Parlament oder
die Europäische Kommission haben diese Rechtsauffassung geteilt. Denn was innerhalb des europäischen
Rechts geregelt werden kann, darf nicht in zwischenstaatliche Verträge zulasten des Europäischen Parlaments outgesourct werden. Dieser Vorfall - das sage ich
ganz deutlich - ist ein Präzedenzfall für die europäische
Demokratie. Er untergräbt die europäische Demokratie.
Gerade in der Krise brauchen wir aber keine weitere
Schwächung, sondern eine Stärkung des europäischen
Parlaments. Darum geht es.
({6})
Weil wir Grüne die Bankenunion mit der gemeinsamen Abwicklung immer gefordert haben, werden wir
heute trotz unserer Kritik am SoFFin für die BRRDRichtlinie stimmen. Bezogen auf IGA, das intergouvernementale Übereinkommen, werden wir uns enthalten
und es deshalb nicht ablehnen, weil wir zum Ausdruck
bringen wollen, dass wir die Bankenunion und die Abwicklung unterstützen. Gleichzeitig wollen wir klarstellen, dass sich eine solche Umgehung der europäischen
Demokratie nicht wiederholen darf.
({7})
Das neue Instrument der direkten Bankenrekapitalisierung beim ESM lehnen wir Grüne ab; denn hier wird
wieder Steuergeld ins Schaufenster gestellt und eine Parallelstruktur zur europäischen Bankenunion aufgebaut.
Es ist hochproblematisch, dass der gemeinsame Abwicklungsfonds erst 2024 eingerichtet werden soll. Das heißt,
für diese Zeit braucht man einen Letztsicherungsmechanismus, einen sogenannten Common Backstop. Das
kann der ESM aber nicht leisten, jedenfalls nicht mit der
direkten Bankenrekapitalisierung. Der ESM hat nicht die
Kapazität und nicht die Expertise beim Management von
maroden Banken. Gleichzeitig sind die Steuerzahler wieder in der Haftung. Deswegen sagen wir: Wir wollen
eine Kreditlinie vom ESM als Common Backstop, weil
klar ist, dass der Abwicklungsfonds die Banken abwickelt und restrukturiert und die Kredite außerdem zurückgezahlt werden müssen. Das heißt, nicht die Steuerzahler, sondern die Banken sind nachher in der
Verantwortung. Das ist die richtige Lösung. Deswegen
lehnen wir heute die Einführung der direkten Bankenrekapitalisierung beim ESM klar ab.
({8})
Es ist schon angesprochen worden: Natürlich ist die
Einführung der Bankenunion ein wichtiger Schritt für
die Regulierung des Bankensektors. Das reicht aber
nicht. Wir haben immer noch ein Problem mit Großbanken in Europa. Wir haben das Problem, dass es immer
noch eine implizite Staatsgarantie für Großbanken gibt.
Großbanken können am Finanzmarkt spekulieren und
zocken, ohne dass sie reguliert werden. Leider ist es
auch so, dass die Bankenabgabe das Problem nicht löst.
Mit der Einführung eines Risikofaktors geht man völlig
unzureichend auf das Problem Großbanken ein. Die Risiken, das systemische Risiko und die Too-big-to-failProblematik, werden nicht angemessen berücksichtigt.
Nachher werden wahrscheinlich mittelgroße Banken mit
einem risikoarmen Geschäftsmodell die Zeche zahlen.
Ich finde aber, dass es noch nicht zu spät ist. Die Europäische Kommission hat einen Vorschlag vorgelegt.
Im Europäischen Parlament kämpft man jetzt darum, das
zu stoppen und Änderungen einzubringen. Ich fordere
die Bundesregierung und auch die Parlamentarier von
CDU/CSU und SPD auf, hier Änderungen herbeizuführen. Großbanken müssen bei der Bankenabgabe den
Hauptbeitrag leisten - das wäre nur fair und gerecht -,
nicht kleine und mittlere Banken.
({9})
Wir müssen das Großbankenproblem angehen; es ist
weiterhin nicht gelöst. Es müssen weitere Schritte folgen. Wir brauchen ein echtes, hartes Trennbankensystem. Wir brauchen ein scharfes Wettbewerbsrecht mit einer Bankenfusionskontrolle. Wir brauchen eine höhere
Leverage Ratio, damit nachher nicht wieder die Steuerzahler die Verluste von Großbanken ausgleichen müssen. Die Schaffung der Bankenunion ist nur der erste
Schritt; es müssen weitere wichtige Schritte und Reformen für eine konsequente Regulierung des Bankensektors folgen.
Vielen Dank.
({10})
Vielen Dank. - Das Wort hat jetzt Bundesminister
Dr. Wolfgang Schäuble.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Das Gesetzespaket zur Schaffung der Bankenunion, das wir heute verabschieden, ist ein wichtiger
Schritt auf dem Weg, den Euro, die europäische Währung, nach der infolge der Finanz- und Bankenkrise entstandenen Euro-Krise zu stabilisieren. Wir waren in den
letzten Jahren mit der Schaffung des Rettungsschirms
und den Programmen für die Länder sehr erfolgreich.
Die Finanzmärkte vertrauen der europäischen Währung
bei allen konjunkturellen Schwierigkeiten in einem starken Maße. Bei der Schaffung einer Bankenunion ist die
Trennung der Risiken im Bankensektor, die in der Entstehungsphase dieser Krise im Hinblick auf die Staatsverschuldung in der Tat eine Rolle gespielt haben - Herr
Kollege Kindler, Ihre Äußerungen waren ein bisschen
widersprüchlich -, ein zentrales Anliegen. Deswegen ist
das, was wir heute schaffen, ein wichtiger Schritt. Ich
habe noch nicht ganz verstanden, was Sie daran kritisieren. Es war völlig widersprüchlich, wie Sie hier argumentiert haben.
({0})
Wir ziehen zwei Lehren. Erstens: Mit der Schaffung
der Bankenunion, mit der Schaffung einer Bankenaufsicht, die für die grenzüberschreitend agierenden, systemrelevanten Institute zuständig ist, machen wir den
Euro stabil. Wir tun das übrigens im europäischen
Rechtsrahmen; denn, Herr Kollege Kindler, mit der Demokratie ist es so: Sie macht nur Sinn, wenn sie mit dem
Rechtsstaatsprinzip einhergeht. Deswegen müssen wir
uns in Europa im Rahmen der Verträge an komplizierte
rechtliche Grundlagen halten. Deswegen gibt es keine
andere europäische Institution als die Europäische Zentralbank, die eine Bankenaufsicht machen kann, solange
wir nicht eine Vertragsänderung zustande bringen. Das
ist Tatsache; deswegen geht es nicht anders.
({1})
Wir müssen im Zusammenhang mit der Bankenaufsicht
darauf achten, dass bei der Europäischen Zentralbank
die klare Trennung zwischen der Wahrnehmung der
geldpolitischen Verantwortung, bei der sie unabhängig
ist, auf der einen Seite und der Bankenaufsicht auf der
anderen Seite erhalten bleibt, so wie es auf nationaler
Ebene bei der bewährten Arbeitsteilung zwischen BaFin
und Bundesbank immer der Fall war.
Zweitens: Wir können die Haftung in Europa nur insoweit vergemeinschaften, wie wir auch die Entscheidungszuständigkeit vergemeinschaftet haben. Auch da
werden wir durch die europäischen Verträge begrenzt. In
diesem Rechtsrahmen wäre es falsch, bei der Schaffung
der Bankenabgabe einen anderen Weg als den zu gehen,
den wir mit dem intergouvernementalen Abkommen gegangen sind. Wir wären übrigens bei der ersten Klage
beim ersten Gericht in Europa damit gescheitert. Die
Schaffung von Rechtsgrundlagen, die nicht rechtssicher
sind, ist keine Lösung für Probleme, die Stabilität und
Rechtssicherheit schaffen sollen. Deswegen - Herr
Kollege Kindler, möglicherweise haben Sie es nicht
verstanden - war es wichtig, dass es uns gelungen ist, sicherzustellen, dass das Werk, das wir heute für die Bankenunion zustande bringen, auf einer sicheren Rechtsgrundlage steht.
({2})
- Herr Kollege Kauder, die Wahl lasse ich Ihnen, ob er
es nicht verstanden hat. Wenn er wider besseres Wissen
die Dinge falsch darstellt, ist es schlimmer.
({3})
- Ich habe ihn noch geschützt? Also gut, das ist mir gerade egal.
Ich muss nur für den Rest des Hauses und für diejenigen, die uns von außerhalb zuhören, ein Stück weit klarstellen, warum wir das so machen. Die Europäische Bankenaufsicht funktioniert seit dem 4. November. Wir
hatten den Stresstest. Die Banken, die in die Aufsicht
übernommen worden sind, sind durch die Bilanzprüfung
und den Stresstest - das war eine gewaltige Anstrengung sicherer geworden. Sie haben sehr viel mehr Kapital als
während der Bankenkrise. Das ist ein wichtiger Erfolg.
25 Banken haben den Stresstest nicht bestanden. Davon
hatten 12 - darunter die einzige deutsche betroffene
Bank -, weil sich der Stresstest auf die Bilanzzahl Ende
2013 bezogen hat, auf Anordnung der nationalen Bankenaufsicht - bei uns: die BaFin - bereits das Notwendige veranlasst, sodass lediglich 13 Banken in Europa einen zusätzlichen Bedarf haben.
Das Zweite, was wir mit diesem Gesetzespaket erreichen, ist, dass wir sicherstellen, dass in Zukunft nicht
mehr der Steuerzahler haftet, dass also das, was man in
der internationalen Sprache „Moral Hazard“ nennt, dass
die einen die Geschäfte machen und die anderen nachher
die Haftung dafür tragen, beendet wird. Deswegen haben
wir die klare Haftungskaskade, wie es der Kollege
Flosbach dargestellt hat: Zunächst haften die Eigentümer. Wenn die Eigentümer nicht ausreichen, dann haften
die Anleger, die höhere Renditen und höhere Zinsen bekommen haben. Höhere Renditen haben etwas mit höherem Risiko zu tun. Wenn sich das Risiko einmal verwirklicht, ist das eben die Gegenseite. Deswegen ist
diese 8-prozentige vorrangige Beteiligung von Eigentümern und Gläubigern der entscheidende Schritt sowohl
in der europäischen Regelung, die für alle 28 Mitgliedsländer gilt, als auch in der Bankenunion für die Europäische Bankenaufsicht.
({4})
Darüber hinaus haben wir Regelungen. National haben wir schon einen Vorgriff gemacht: Seit 2011 haben
wir das Gesetz. Jetzt schaffen wir es als eine Rechtsverpflichtung für alle europäischen Länder, dass die Banken
selber Fonds aufbauen müssen, sodass dann, wenn eine
Bank in Notlage ist, wenn die Bail-in-Fähigen, also die
Beteiligungen von Eigentümern und bestimmten Anlegern, nicht mehr ausreichen, ein Solidarfonds der Banken die Haftung übernimmt. Für die Europäische Bankenunion machen wir das mit einem gemeinsamen
Fonds, der im Wesentlichen durch die systemrelevanten
großen Banken bezahlt wird. Deswegen haben wir erreicht, dass die Großzahl der Sparkassen und der Kreditgenossenschaften nur mit einer Pauschalsumme ihren
Beitrag zu diesem Fonds leistet und dass dies eben nicht
entsprechend den Regeln der Proportionalität wie bei
den großen systemrelevanten Banken geschieht. Bis zu
einer Bilanzsumme in Höhe von 1 Milliarde Euro müssen sie nur eine Pauschalsumme zahlen. Wir haben auch
ein Optionsrecht eingeführt. Wir werden davon Gebrauch machen - darüber ist sich die Bundesregierung
einig -, dass man die Grenze bis 3 Milliarden Euro anheben kann.
({5})
Das heißt: Wir haben die Interessen der Kleinbanken geschützt.
Jetzt kommt der Punkt: Nach dem Bail-in haftet der
Fonds. Nun bleibt die Frage: Was ist, wenn der Fonds
das Geld noch gar nicht hat? Mit Ihrer These, nach der
wir die intergouvernementale Abgabe und all die schönen Dinge nicht machen sollten, hätten Sie vom ersten
Tag an, weil es den Fonds noch gar nicht gibt, die Haftung der Staaten vergemeinschaftet und vom Tage des
Inkrafttretens an bei jeder anderen Regelung die Situation gehabt, dass der deutsche Steuerzahler am Ende für
die Banken aller anderen europäischen Länder die Risiken getragen hätte. Deswegen haben wir darauf bestanden, dass die Haftung erst im Rahmen des Bankenfonds
vergemeinschaftet wird, wenn die Beiträge eingezahlt
sind, und nicht schon zuvor. Denn dann hätten wir erreicht, dass Sie hinterher wieder kritisiert hätten - ({6})
- Herr Kollege Schick, vielleicht machen Sie von den
Regeln der Geschäftsordnung Gebrauch.
({7})
- Ja gut, dann will ich darauf antworten, wenn Sie mir
die Chance dazu geben. Solange in den Fonds nicht einbezahlt ist, hat der Fonds keine schützende Wirkung.
Das ist immer so im Leben. Erst müssen die Mittel in
den Fonds einbezahlt werden; denn sonst bleibt das Problem: Wer haftet?
Wir haben gesagt: Solange die Mittel nicht einbezahlt
sind, bleibt die Verantwortung bei den Mitgliedstaaten.
Deswegen haben wir auch gesagt: So lange brauchen wir
notfalls noch den SoFFin, damit jede Beunruhigung,
jede Destabilisierung, jede Sorge in einer möglicherweise krisenhaften Situation von vornherein ausgeschlossen ist. Ich verstehe daher überhaupt nicht, warum
Sie jetzt dafür plädieren, den SoFFin zu schließen. Das
ist reine Polemik und sachlich überhaupt nicht zu begründen.
({8})
Herr Kollege Schick, sobald wir die Mittel in den europäischen Fonds - ich bin jetzt wieder im Bereich der
Bankenunion - einbezahlt haben, gibt es eine solidarische Haftung aller Banken, die der Bankenunion angehören, für die Risiken aller Banken. Es ist eben nicht
mehr eine solidarische Haftung der Steuerzahler in Europa für die Fehler, die in anderen europäischen Ländern
gemacht wurden; das ist der Unterschied. Die Solidarität
im europäischen Bankensektor ist Teil der Bankenunion,
aber eine Vergemeinschaftung der Haftung über das hinaus, was wir im Zuge des europäischen Rettungssystems vereinbart haben, ist das nicht.
Zur Frage der direkten Bankenrekapitalisierung. Sie
haben uns, insbesondere mich, kritisiert. Das war, ehrlich gesagt, vom Niveau her auch nicht besser, Herr
Kahrs - das war ein bisschen vornehmer dahergeschwätzt -, als das, was der Kollege von der Linkspartei
zunächst gesagt hatte.
({9})
Bei allem Respekt: Das war ohne Sinn und Gehalt. Wir
haben es doch nicht blockiert, wir haben es vorangetrieben.
({10})
Wir haben darauf geachtet, dass die direkte Bankenrekapitalisierung nicht zum Einfallstor wird, um durch die
Hintertür doch die Haftung für die Bankschulden zu vergemeinschaften. Genau das war der Punkt.
({11})
- Sie müssen mir schon die Chance geben, ein paar
Sätze ohne Unterbrechung zu sagen. - Deswegen haben
wir eine klare Haftungskaskade vereinbart. Sie funktioniert so: Wenn eine Bank notleidend wird, dann stehen
zunächst Eigentümer und Gläubiger in der Pflicht. Danach kommt der Fonds, in den die Bankenindustrie, entweder die Mitgliedstaaten oder die Bankenunion, einbezahlt. Wenn das auch nicht reicht, dann haftet am Ende
der einzelne Staat.
Wenn ein Staat aber nicht in der Lage ist, die Mittel
dafür aufzubringen - auch diese Situation gab es in den
letzten Jahren -, dann kann dieser Staat beim europäischen Rettungsschirm ein Hilfsprogramm beantragen.
Es gelten die üblichen Regelungen, die Vereinbarung
von Anpassungsprogrammen mit Überwachung und
Ähnlichem mehr. Erst wenn auch das gar nicht mehr
funktioniert, käme als allerletzte Möglichkeit theoretisch
auch in Frage, dass sich der europäische Rettungsschirm
selbst - aber dann immer noch unter der Verantwortung
des Mitgliedstaats - mit den entsprechenden Anpassungsprogrammen an der Bank beteiligen würde in dem
Sinne, dass er übergangsweise Eigentümer wird. Die
Kaskade ist eindeutig so geregelt, dass der Haftungsfall
sehr unwahrscheinlich wird; um es vorsichtig zu formulieren. Aber ohne die Möglichkeit, dass dies zumindest
theoretisch enthalten ist, Herr Kollege Kindler - und das
ist der Widerspruch, den ich Ihnen vorwerfe, weil Sie es
besser wissen -, hätte es in Europa unter gar keinen Umständen eine Einigung über eine Bankenunion gegeben.
Ich gebe zu: Die Erwartungen der Kollegen in Europa
waren sehr viel weitgehender. Deswegen ist es Unsinn,
dass Sie uns auf der einen Seite vorwerfen, wir hätten
die Verhandlungen auf europäischer Ebene erschwert,
und auf der anderen Seite gegen die direkte Bankenrekapitalisierung polemisieren. Entweder das eine oder das
andere.
Wir haben im Zuge der direkten Bankenrekapitalisierung gesagt: Wir gestalten das so schwierig und unwahrscheinlich wie nur irgend möglich. Darauf haben wir in
den Verhandlungen geachtet. Wenn wir das geländegängiger gemacht hätten und mit den Geldern der Steuerzahler so umgegangen wären wie Rot-Grün, dann wäre
es auf europäischer Ebene einfacher gewesen; das ist
wahr. Aber wir haben es anders gemacht.
Ich sage es noch einmal: Wir haben ein sehr ausgewogenes Paket. Wir machen damit die Euro-Zone stabiler.
Wir sorgen dafür, dass die Steuerzahler nicht mehr die
Haftung für die Banken übernehmen. Wir schonen bzw.
schützen die Besonderheit des deutschen Finanzsektors,
die ihn stark macht. Es ist nämlich gut, dass wir nicht
nur große Banken, sondern auch leistungsfähige Sparkassen und Kreditgenossenschaften haben. Wir tragen
den Eigenheiten des deutschen Finanzsektors Rechnung.
Wir sorgen damit insgesamt dafür, dass die Voraussetzungen erfüllt sind, damit der Steuerzahler nicht mehr
die Haftung für Risiken übernehmen muss, mit denen
andere ihre Geschäfte gemacht haben. Deswegen bitte
ich Sie um Zustimmung zu diesem Gesetzespaket. Wir
machen Europa stabiler. Wir stärken Europa. Wir bringen Europa voran und sichern den Steuerzahler.
({12})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Axel Troost,
Fraktion Die Linke.
({0})
- Entschuldigung, Herr Kollege Troost. Die Kollege
Wagenknecht würde gerne eine Kurzintervention machen.
Eigentlich wollte ich noch eine Frage stellen. Herr
Schäuble war aber so schnell vom Rednerpult weg. Deswegen sage ich das jetzt in Form einer Kurzintervention
- ich denke, auch Axel Troost wird darauf noch einmal
hinweisen -: Ich finde es merkwürdig, wie die Haftungskaskade dargestellt wird. Es wird nicht erwähnt, dass die
Verträge eine Klausel enthalten, mit der die Haftungskaskade ausdrücklich ausgesetzt wird. Dort heißt es
wörtlich, dass bei einer schweren Störung der Finanzmarktstabilität eben keinerlei Haftungskaskade gilt, sondern unmittelbar Steuergeld fließen kann. Ich finde wirklich, dass man das einfach so wegredet, ist ein Fürdumm-Verkaufen der Öffentlichkeit.
({0})
Herr Kollege Schäuble, möchten Sie antworten? Bitte schön.
Frau Kollegin Wagenknecht, es bleibt dabei: Die Regelungen sind so - die kann jeder nachlesen -, wie wir
sie dargestellt haben. Natürlich gibt es auch Situationen,
in denen in Europa gesagt wird: Ja, und was ist, wenn
überhaupt nichts mehr geht? Kann dann auch eine andere Situation eintreten? - Aber die Regeln für die Inanspruchnahme von Mitteln des europäischen Rettungsschirms sind eindeutig. Sie stehen auch nicht unter dem
Vorbehalt. Das haben Sie nicht richtig dargestellt; tut mir
leid. Die Regeln für die Inanspruchnahme von Mitteln
aus dem europäischen Stabilisierungssystem stehen
nicht unter irgendeiner generalklauselartigen Ausnahmebestimmung. Das ist nicht zutreffend. Das Gegenteil ist
die Wahrheit.
({0})
Vielen Dank. - Jetzt hat der Kollege Dr. Axel Troost
das Wort, Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es bleibt dabei: Wir haben massive Kritik an dem vorgelegten Gesetzentwurf, an dem vorgeschlagenen Bankenrettungsfonds. Gestern im Finanzausschuss wurde das
als Meilenstein dargestellt. Kollege Brinkhaus hat von
einem Dach gesprochen, das das Haus zusammenhält.
Aber die grundlegenden Probleme sind für meine Begriffe hier nicht angesprochen worden bzw. wurden harmonisiert.
Das erste Problem ist: Man hat die EZB mit dieser
Aufgabe betraut, wohlwissend, dass dadurch ein Zielkonflikt entsteht, der ungeheuer groß ist. Die beschworene chinesische Mauer zwischen Geldpolitik und
Bankenaufsicht wird es so nicht geben. Bei jeder geldpolitischen Entscheidung, zum Beispiel hinsichtlich des
Aufkaufs von Papieren, wird man fragen müssen:
Könnte das auch aus der Abteilung Bankenaufsicht kommen, weil bestimmte Banken bestimmte Probleme haben?
({0})
Zweitens. Mit der Zuständigkeit der EZB ist klar, dass
man sich auf die Euro-Zone begrenzt hat. Damit ist London - jeder weiß, dass London der größte Finanzplatz
Europas ist - eben nicht Teil des Regulierungsbereichs.
Das heißt, bei jeder Art von Bankenabwicklung - gleich
ob es um deutsche Banken oder Banken aus anderen europäischen Ländern geht - wird es eine Schnittstelle mit
der britischen Aufsicht geben, und keiner weiß, ob das
wirklich funktionieren wird, ob die Mechanismen greifen werden, wie das ausgelegt wird. Das Gleiche gilt natürlich auch für die Schnittstelle New York/USA. Insofern sollte man hier nicht so tun, als würde man etwas
wirklich Stabiles schaffen.
({1})
Drittens. Man ist nicht in Ansätzen - das ist für mich
das Zentrale - an die Frage „too big to fail“ herangegangen. Das Bankensystem und die einzelnen Banken werden nicht massiv verkleinert. Ich will das verdeutlichen:
Zehn Banken in der EU haben ein Geschäftsvolumen,
das größer ist als die jährliche Wirtschaftsleistung, also
das Bruttoinlandsprodukt, von Spanien.
Alleine die Deutsche Bank hat ein Bilanzvolumen,
das so groß ist wie die gesamte Wirtschaftsleistung Italiens. Solche Banken wollen Sie regulieren? Solche Banken wollen Sie - Stichwort: 8 Prozent - wie auch immer
abwickeln, wenn es hier zu Schieflagen kommt? Ich
glaube, nicht einmal eine relativ kleine Bank wie die
Commerzbank ist in diesem Regime wirklich abwickelbar. Deswegen geht es schon darum, die Banken zu verkleinern.
Kollege Kahrs, Ihren arroganten Vortrag hätten Sie
sich sparen können. Denn wir sind diejenigen, die sagen:
Wir müssen die Rolle der Kreditinstitute wieder auf ihre
Kernfunktion, nämlich auf eine der Realwirtschaft dienende Funktion, beschränken.
({2})
Aber diese Situation haben wir ja nicht. Die Bankenlandschaft ist so groß geworden, weil die Banken im Zockergeschäft tätig sind, und nicht, weil sie die Realwirtschaft finanzieren.
({3})
Deswegen muss genau dies angegangen werden.
({4})
Wenn man das systematisch nicht angeht, dann verfehlt
man letztlich das eigentliche Ziel.
({5})
Aber das heißt natürlich, sich auch mit den Mächtigen
anlegen zu müssen. Das ist in diesem Fall nicht passiert.
Kommen wir zu einem Punkt, der für uns zentral ist:
zum Bankenrettungsfonds. Minister Schäuble hat eben
dargestellt, es gehe dabei um einen Solidarpakt und um
die solidarische Haftung für gemeinsame Risiken. Das
hört sich gut an. In der Tat sind wir der Ansicht, dass die
Branche sowohl zur Begleichung der bisherigen Kosten
als auch zur Begleichung zukünftiger Kosten in einen
solchen Fonds einzahlen muss. Er müsste viel größer
sein. Aber einzahlen müssten diejenigen, die wirklich
Risiken erzeugen und mit den Mitteln aus einem solchen
Fonds gerettet werden können. Wenn man mit einem solchen Fonds aber letztlich die Bankenlandschaft Deutschlands plattzumachen versucht, indem man deutsche
Sparkassen und Genossenschaftsbanken bei der Zahlung
der Beiträge massiv mit heranzieht, dann geht das voll
am Thema vorbei,
({6})
weil diese erstens regional organisiert sind, diese Risiken also gar nicht erzeugen, und weil sie zweitens ein jeweils eigenes Sicherungssystem haben. Die retten sich
selber; die brauchen keinen Bankenrettungsfonds. Also
ergibt es auch überhaupt keinen Sinn, dass sie in einen
solchen Bankenrettungsfonds einzahlen.
({7})
Jetzt wird gesagt: Na ja, da haben wir im Prinzip ein
Problem. Es gibt eine Kleinbankenregelung, also eine
Regelung für Banken mit einer Bilanzsumme von unter
1 Milliarde Euro. - Das hört sich erst einmal gut an,
wenn man nicht Bescheid weiß. Wenn man weiß, dass
nur 20 Prozent der Sparkassen darunterfallen, heißt das:
80 Prozent liegen darüber. Diese Banken müssen nicht
nur einen Beitrag von 1 000 bis 50 000 Euro pro Jahr
zahlen, sondern sie müssen deutlich mehr bezahlen.
Eben haben wir vom Minister gehört: Es gibt eine Übergangsregelung - diese will man auch in Anspruch nehmen -, die Banken mit einem Bilanzvolumen von 1 bis
3 Milliarden Euro etwas Erleichterung bringt. - Wir haben das einmal im Einzelnen nachgerechnet. Das sind
maximal 10 Prozent Ersparnis, und das gegenüber viel,
viel höheren Beiträgen, die gezahlt werden müssen.
Damit das nicht so abstrakt bleibt, mache ich das einmal ganz konkret mit Blick auf einige mir nachfolgende
Redner deutlich. Wir haben in Bad Tölz - das ist der
Wahlkreis des CSU-Debattenredners Alexander Radwan eine Sparkasse mit einem Bilanzvolumen von 2 Milliarden Euro. Sie wird, so ist uns im Finanzausschuss vorgerechnet worden, zwischen 240 000 und 300 000 Euro
jährlich in diesen Fonds einzahlen müssen, ohne jemals
gerettet werden zu können. Nehmen wir die Sparkasse
Wuppertal - Kollege Manfred Zöllmer spricht als
Nächster -, die Sparkasse einer Stadt, die völlig pleite
ist, kein Geld mehr für Schulen, Schwimmbäder, Theater
und anderes mehr hat. Diese Sparkasse wird keine
Chance mehr haben, Geld gemeinnützig auszuschütten,
wenn sie denn Gewinne macht. Sie muss jedes Jahr
900 000 Euro an den Fonds abführen, ohne jemals etwas
davon zu haben.
({8})
Wir können aber auch - Kollege Brinkhaus, gut, dass du
gerade etwas sagst ({9})
die Volksbank Bielefeld-Gütersloh oder, Kollege Schick,
die Volksbank Rhein-Neckar heranziehen. Beide Volksbanken werden entsprechend ihrer Größe jeweils um die
0,5 Millionen Euro jährlich in diesen Fonds einzahlen
müssen.
({10})
Dabei ist klar, dass noch niemals eine Volksbank
gerettet werden musste, weil die eigenen Sicherungssysteme immer ausgereicht haben.
({11})
- Nein, es bleibt dabei. Das sind alles Beträge, die der
Gemeinnützigkeit entzogen werden. Deshalb ist das in
dieser Übergangsregelung nicht vernünftig geregelt.
({12})
Deswegen kann ich nur sagen: Gerade bei der Bankenregulierung zeigt sich das gleiche Muster wie bei der
Wirtschafts- und Finanzpolitik der Bundesregierung der
vergangenen 20 Jahre. Auch in diesem Fall findet eine
Umverteilung von unten nach oben statt, in diesem Fall
von den Sparkassen hin zu den Großbanken. Das lehnen
wir ab. Deswegen werden wir dem Gesetzentwurf auf
keinen Fall zustimmen.
Danke schön.
({13})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Manfred Zöllmer,
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Dienstag dieser Woche war wirklich ein historischer
Tag. Die Europäische Zentralbank hat an diesem Tag die
Aufsicht über die großen Banken in den meisten
Ländern in Europa übernommen. Damit ist die erste
Säule der Bankenunion sozusagen in Betrieb gegangen.
Dies ist ein ganz wichtiger Schritt zur Stabilisierung der
Finanzmärkte in Europa, aber auch zur Stabilisierung
der Euro-Zone; denn die Finanzmarktkrise war letztlich
die zentrale Ursache der Staatsschuldenkrise in Europa.
Das wird leider häufig vergessen.
Mit der Bankenunion wird ein Geburtsfehler der
Euro-Zone behoben. Es gab eine ganze Reihe von Geburtsfehlern der Euro-Zone, damals von Bundeskanzler
Kohl und Finanzminister Waigel so verhandelt. Diese
Geburtsfehler sind die Ursache für viele Probleme, mit
denen wir zu kämpfen haben. Ich betone das deshalb,
weil der von mir soeben angesprochene ehemalige
Bundeskanzler Kohl nun in einem Buch versucht, Geschichtsklitterung zu betreiben. Er war unbestreitbar ein
großer Europäer, aber die Fehler bei der Einführung des
Euro muss er, muss die damalige Bundesregierung verantworten.
({0})
Mit der Einführung der Bankenunion gehen wir einen
wichtigen Schritt in Richtung einer europäischen
Finanzmarktunion. Dies tun wir in einer Zeit, in der separatistische und nationalistische Strömungen in Europa
in vielen Ländern hoffähig geworden sind, in einer Zeit,
in der viele sagen, Europa sei in einer veritablen Krise.
Die erste Säule ist also die Bankenaufsicht, die es seit
Dienstag gibt. Die zweite Säule betrifft die Restrukturierung und Abwicklung. Das ist das, was wir heute
beschließen werden.
Das Ziel dieses Gesetzes ist klar: In Zukunft sollen
die Steuerzahler nicht mehr für die Zockereien von
Banken bluten müssen. Auch systemrelevante Banken
sollen in einem geordneten Verfahren abgewickelt werden können. Im Insolvenzfall sollen Eigentümer und
Gläubiger haften. Damit wollen wir auch auf den
Finanzmärkten wieder marktwirtschaftliche Verhältnisse
einführen. Risiko und Haftung müssen wieder zusammengehören.
Mit diesem Gesetz setzen wir eine europäische Richtlinie um. Dies ist sehr komplex, aber wir haben das sehr
gründlich diskutiert. Allein 47 Änderungsanträge haben
wir im Finanzausschuss beschlossen.
Es gab eine Vorbedingung, die wir an die Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs gestellt haben: Wir wollten
vor dem Beschluss den Vorschlag der Kommission zur
europäischen Bankenabgabe kennen. Diese Bankenabgabe speist einen europäischen Abwicklungsfonds.
Kollege Troost hat vorhin Ausführungen zu diesem
Thema gemacht. Das war uns deshalb wichtig, weil wir
unser bewährtes dreigliedriges Bankensystem mit der
Vielzahl kleiner und sehr kleiner Institute, das in dieser
Form einzigartig in Europa ist, erhalten wollen.
({1})
Jetzt kennen wir diesen Vorschlag. Er ist aus unserer
Sicht nicht optimal, aber akzeptabel, weil er die Interessen der kleinen Institute - im Gegensatz zu dem, was du
hier gesagt hast - berücksichtigt. Wir haben es hier mit
einem Solidarsystem des Finanzsektors zu tun. Deswegen müssen wir sagen: Der Finanzminister hat gut
verhandelt. Es gibt zukünftig einen nationalen Spielraum, um kleinere Institute noch weiter zu schonen. Von
dem Wahlrecht zur Entlastung kleinerer und mittlerer
Banken will die Bundesregierung Gebrauch machen; das
begrüßen wir. Wir erwarten, dass die Bundesregierung
dieses Wahlrecht auch nach 2016 zugunsten der kleinen
Institute nutzt.
Lassen Sie mich einfach einmal feststellen: Lösungen
auf europäischer Ebene, bei denen viele Staaten betroffen sind, deren Bankensysteme extrem unterschiedlich
sind, müssen notwendigerweise ein Kompromiss sein.
So muss auch die Ausgestaltung der Bankenabgabe vor
dem Hintergrund von 6 000 europäischen Instituten immer ein Kompromiss sein.
Steuersystematisch wäre die Bankenabgabe übrigens
eine Betriebsausgabe, und Betriebsausgaben sind, das
wissen wir, steuerlich absetzbar. Wir haben es hier aber,
das hatte ich gesagt, nicht mit einer normalen Betriebsausgabe zu tun - die Bankenabgabe ist ein Beitrag des
Bankensystems zur Finanzierung zukünftiger Krisen.
Deshalb wollen wir Sozialdemokraten nicht, dass auf
diesem Weg, quasi durch die Hintertür, die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler wieder an den Kosten einer
möglichen Bankenrettung oder -abwicklung beteiligt
werden.
({2})
In vielen europäischen Ländern - ich weiß das - wird
das anders gesehen. Wir setzen uns auch ein für ein, wie
das auf Englisch heißt, „level playing field“, also für einen gemeinsamen Wettbewerbsrahmen, und bitten die
Bundesregierung, sich auf europäischer Ebene für eine
einheitliche Lösung einzusetzen, damit es nicht zu
Wettbewerbsverzerrungen kommt. Eine Lösung kann
aus unserer Sicht aber nur die Nichtabsetzbarkeit der
Bankenabgabe bei den Steuern zur Folge haben.
Ein weiteres wichtiges Thema dieses Gesetzesvorhabens war die Umsetzung der Haftungskaskade. Die
Umsetzung der Forderung, dass im Falle einer Insolvenz
Eigentümer und Gläubiger ab einer bestimmten Höhe
haften müssen, führt dazu, dass, wenn der Worst Case einer Insolvenz eintritt, letztendlich auch bei Sparkassen
ein Rechtsformwechsel notwendig wird; sonst wäre dieses Haftungsverfahren bei einer öffentlich-rechtlichen
Körperschaft so nicht umzusetzen. Die Sparkassen
haben aber deutlich gemacht: Diese Situation wird nie
eintreten. - Sparkassen haben ein Institutssicherungssystem, das im Krisenfalle in Not geratene Sparkassen auffangen wird; das ist in der Vergangenheit auch schon geschehen. Der Rechtsformwechsel ist von daher nur ein
theoretischer Fall, der nach den Aussagen der Sparkassen so niemals eintreten wird. Für die Umsetzung der
Richtlinie ist es allerdings notwendig, im Gesetz Regelungen für den Worst Case zu implementieren.
Wir lassen den Bundesländern nun ein Wahlrecht, wie
sie mit einer Änderung der Sparkassengesetze umgehen
wollen. Sie haben dann die Möglichkeit, alternative
Wege zu gehen.
Ein weiterer Diskussionspunkt in diesem Zusammenhang war die Umsetzung des Trennbankengesetzes, das
die schwarz-gelbe Bundesregierung in der letzten Legislaturperiode verabschiedet hat.
({3})
- Sie kommen doch gleich dran; dann können Sie ordentlich draufhauen. - Gleichzeitig gibt es auf europäischer Ebene Vorschläge zu Trennbanken. Wir haben uns
im Koalitionsvertrag auf den Report von Herrn Liikanen
bezogen, der auf europäischer Ebene eine Kommission
geleitet und entsprechende Vorschläge gemacht hat.
Deutsche Banken haben gefordert, dass man die deutschen Regelungen, deren Umsetzung nun beginnen
muss, aufweichen solle. Wir Sozialdemokraten haben
dieses abgelehnt, weil „too big to fail“ - die Problematik, dass von den Spareinlagen der Kunden Zockereien
finanziert werden - für uns auf Dauer nicht haltbar ist.
Wir brauchen eine vernünftige gesetzliche Regelung im
Trennbankengesetz. Wir wollen deswegen das deutsche
Recht nicht aufweichen, sondern wir wollen uns im
nächsten Jahr mit dieser Frage und der Umsetzung intensiv beschäftigen.
Die Aufsicht über die europäischen Großbanken wird
nun von der EZB ausgeübt. Wir wollen aber, dass dies
nur übergangsweise der Fall ist. Insofern hat der Kollege
Troost in diesem Punkt völlig recht. Die Sache mit der
chinesischen Mauer ist eher eine Fiktion. Auf Dauer
muss der mögliche Konflikt zwischen Aufsicht und
Geldpolitik durch eine Trennung beider Funktionen aufgelöst werden.
Die EZB arbeitet eng mit den nationalen Aufsehern
zusammen, also Bundesbank und BaFin. In der letzten
Legislaturperiode wollte die schwarz-gelbe Bundesregierung die Bankenaufsicht allein auf die Bundesbank
übertragen. Dies hat die Bundesbank abgelehnt. Wir
stellen fest, dass auch in Zukunft die bewährte Aufgabenteilung zwischen BaFin und Bundesbank bei der
deutschen Bankenaufsicht erhalten bleibt. Wir erwarten,
dass die entsprechenden Informationskanäle so gestaltet
werden, dass beide Institute von der Aufsicht der EZB
profitieren und dass es klare Verantwortlichkeiten gibt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit diesem Gesetzespaket sind noch nicht alle Probleme einer neuen Finanzmarktarchitektur in Europa gelöst.
Herr Kollege Zöllmer, denken Sie an Ihre Redezeit?
Ja, natürlich. - Liebe Kolleginnen und Kollegen von
den Linken, es gibt diesen grünen Knopf eben nicht. Wir
haben noch eine ganze Reihe von Problemen zu lösen.
Aber es ist falsch, den Eindruck zu erwecken, es sei noch
nichts geschehen, wie es einige Ideologen von links und
rechts in Politik und Medien immer wieder versuchen.
Wir machen heute einen großen Schritt in die richtige
Richtung zur Stabilisierung der Finanzmärkte. Das ist
ein wichtiger Integrationsschritt, und das ist gut so.
Herzlichen Dank.
({0})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Dr. Gerhard
Schick, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich will noch einmal kurz auf die Debatte eingehen, die
sich zwischen Herrn Schäuble und uns ergeben hat. Herr
Schäuble, ich weiß, dass Sie das verstehen, und Sie
wissen, dass ich das verstehe: Auf diese Debattenebene
müssen wir nicht gehen, sondern wir können klarmachen, wo die Unterschiede liegen und worin wir uns
einig sind.
Bei folgendem Thema sind wir uns doch völlig einig:
Wir wollen das, was man als den Teufelskreis zwischen
Banken und Staaten bezeichnet, durchbrechen. Das steht
in Ihren Texten, das steht in unseren Texten; darin sind
wir uns einig. Das heißt, wenn eine Bank in eine Schieflage gerät, dass sie also zu hohe Bankschulden hat, dann
soll nicht nachher der Steuerzahler die Last tragen. So
weit herrscht Einigkeit.
Jetzt gibt es aber in zwei Punkten Unterschiede, die
dazu führen, dass wir heute nicht dem gesamten Paket
zustimmen, sondern zu einzelnen Punkten Nein sagen.
Der erste Punkt ist der hypothetische Fall, dass eine portugiesische, spanische oder italienische Bank in eine
Schieflage gerät. Was würde dann passieren? Jetzt sagt
Herr Schäuble, er habe so verhandelt, dass die ESMMittel, also die vom europäischen Steuerzahler bereitgestellten Mittel, nur im äußersten Extremfall genutzt
werden. Deswegen lässt er den jeweiligen Mitgliedstaat
sehr lange in der Verantwortung für die Bank. Das haben
Sie verhandelt, und das haben Sie gerade so dargestellt.
Das führt dazu, dass der jeweilige Nationalstaat für
eine sehr lange Zeit noch in der Verantwortung ist, wenn
eine Bank auf seinem Territorium kippen sollte. Da sagen wir: Genau das ist die Weiterführung des Teufelskreises zwischen Bankschulden und Staatsschulden, den
wir durchbrechen wollen. An dieser Stelle ist das, was
Sie sagen, widersprüchlich. Wir haben an dieser Stelle
einen anderen, besseren Vorschlag, mit dem diese Trennung wirklich erreicht würde.
Wenn man es nämlich in dem Fall, dass in der Übergangszeit, solange der Fonds durch die Bankenabgabe
noch nicht genügend aufgefüllt ist, noch Geld benötigt
wird, so wie in den USA macht, dann ist das die bessere
Lösung. Was wird in den USA gemacht? Wenn der Bankenfonds, den die Banken befüllen, noch nicht genügend
Geld enthält, dann kann er einen Kredit aufnehmen, den
nachher die Banken wieder zurückzahlen müssen. Die
Verpflichtung bleibt bei den Banken. So hat das während
der Krise die Federal Deposit Insurance Corporation in
den USA gemacht. Das wäre auch für Europa die richtige Lösung. Dann bleibt es nämlich dabei, dass Bankenprobleme bei den Banken bleiben und nicht die Steuerzahler einspringen. Das ist unser Vorschlag, und er ist
besser als Ihrer.
({0})
Herr Kollege Schick, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wolfgang Schäuble?
Ich würde dem Abgeordneten Schäuble gerne die Gelegenheit zu einer Zwischenfrage geben.
Vielen Dank. - Herr Kollege Schick, würden Sie mir
bitte bestätigen, dass der europäische Restrukturierungsfonds die Möglichkeit der Kreditaufnahme hat? Sie haben gerade gesagt, der amerikanische Bankenfonds
könne einen Kredit aufnehmen. Das kann auch der europäische Restrukturierungsfonds. Er kann aber den Kredit
nicht unter Vergemeinschaftung der Haftung der Mitgliedstaaten aufnehmen. Dies war der Streitpunkt in den
Verhandlungen; denn wir haben abgelehnt, dass man
über die Kreditaufnahme des Restrukturierungsfonds
doch eine Vergemeinschaftung der Mitgliedstaatenhaftung in der Aufbauphase vornimmt. Darum ging es. Insofern haben Sie es gerade falsch dargestellt.
Danke für die Zwischenfrage. Das ist genau der
Punkt: Warum muss dann noch der Steuerzahler bei dem
ESM-Instrument der direkten Bankenrekapitalisierung
nach wie vor in der Haftung sein? Ich glaube, dass in einem wirklichen Krisenfall tatsächlich eine Kreditaufnahmemöglichkeit wie in den USA - dort ist sie nämlich gegenüber dem Finanzministerium möglich, aber es bleibt
ein Kredit, der von den Banken gezahlt werden muss; so
ist es auch mit einem Volumen von mehreren Milliarden
US-Dollar in den USA passiert - auch für Europa die
bessere Lösung wäre.
({0})
Sie stellen nach wie vor an dieser Stelle Steuerzahlergeld
ins Schaufenster. Wir befürchten, dass der Steuerzahler
erneut in die Haftung gerät, und das wollen wir nicht.
({1})
Der zweite Punkt, in dem es ebenfalls um Steuerzahlergeld geht, bezieht sich auf die Rolle des Soffin in Ihrem Gesetzentwurf. Warum soll, wenn eine deutsche
Bank in Schwierigkeiten gerät, jetzt noch einmal über
den Soffin, den deutschen Finanzmarktstabilisierungsfonds, Steuerzahlergeld angeboten werden? Entweder
vertraut man auf die Gesetze, die Sie mit vorangetrieben
haben, zum Beispiel das Restrukturierungsgesetz, und
sieht das Ganze in der Verantwortung der Gläubiger dann braucht man das nicht -, oder man hat Angst, dass
es nicht funktioniert; dann soll man es aber auch sagen.
Wir meinen, dass es notwendig ist, diesen Teufelskreis
zwischen Bankenproblemen und Steuerzahler wirklich
zu durchbrechen. Deswegen sagen wir zu der Verlängerung des Finanzmarktstabilisierungsfonds in Deutschland Nein.
({2})
Ich will aber auch noch auf das eingehen, was in Zukunft notwendig ist. Denn bei dem, was wir jetzt auf den
Weg bringen und bei dem wir in Bezug auf den europäischen Abwicklungsmechanismus einer Meinung sind,
nämlich dass er jetzt vorangetrieben werden sollte, bleibt
zu sagen: Bei wirklich großen Banken funktioniert das
nicht. Banken wie Barclays und die Deutsche Bank sind
zu groß und komplex. Das zeigt auch die Erfahrung in
den USA, dass die wirklich großen Banken im Ernstfall
nicht durch einen solchen Abwicklungsmechanismus abgewickelt werden können. Deswegen ist es notwendig,
dass diese großen Banken kleiner und in der Struktur
einfacher werden.
An der Stelle war ich sehr überrascht - Herr Kollege
Zöllmer hat es schon angesprochen -, dass die Union
jetzt ausgerechnet bei dem Thema Trennbankensystem
noch einmal hinter die wachsweiche Formulierung Ihres
Gesetzes zurückgehen wollte. Ich habe den Eindruck,
dass Sie nach wie vor, wenn die Deutsche Bank signalisiert, dass sie etwas nicht will, auf Zuruf schnell das Gesetz ändern. So geht das nicht. Man braucht dabei schon
eine gewisse Autorität.
({3})
Der zweite Punkt beim Blick auf die Zukunft ist: Mit
dem Bankenstresstest ist sichergestellt worden, dass die
meisten Banken in Europa grob überleben können. Das
ist aber nicht genug. Wenn die Wirtschaft in Europa stabilisiert werden und sich in der nächsten Zeit gut entwickeln soll, dann brauchen wir nicht nur Banken, die irgendwie überleben, sondern es muss endlich eine
wirkliche Stabilität geschaffen werden. Im internationalen Vergleich ist es nach wie vor so, dass europäische
Banken zu wenig eigenes Kapital haben, zu wenig stabil
sind und die Risiken im Ernstfall immer noch zu leicht
auf andere verlagert werden können. Deswegen bleibt es
auch nach dem Bankenstresstest Aufgabe, das Eigenkapital der Banken zu stärken. Wir brauchen eine Leverage
Ratio, eine Schuldenbremse, für Banken, die deutlich
höher ist als das, was bisher als grobe Beobachtungsgröße von 3 Prozent festgelegt ist.
Wirkliche Stabilität im Finanzsektor ist durch das
heutige Gesetz noch nicht erreicht. Wir kommen einen
Schritt weiter. Aber es bleiben große Aufgaben. Große
Banken müssen kleiner werden, und sie brauchen deutlich mehr Kapital als bisher.
Danke schön.
({4})
Vielen Dank. - Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt
das Wort Norbert Barthle.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wer der Rede
unseres Bundesfinanzministers genau zugehört hat, ist
eigentlich umfänglich informiert über die Inhalte des
vorliegenden Pakets. Aber ich vermute, dass manche da
draußen auch dem Kollegen Schick zugehört haben.
Deshalb ist es mir wichtig, Herr Kollege Schick, zur Erklärung Ihrer Position festzustellen: Sie waren schon immer für die Vergemeinschaftung der Verschuldung und
gemeinsame Haftung bei der Verschuldung.
({0})
Sie gehörten zu denjenigen, die einen gemeinsamen
Schuldentilgungsfonds gefordert haben.
({1})
Genau das ist der Unterschied zwischen Ihrer Auffassung und unserer, die der Minister dargelegt hat.
({2})
Das müssen die Menschen wissen. Dann erklärt sich die
Unterschiedlichkeit Ihrer Position.
({3})
Was das gesamte Paket angeht, haben meine Vorredner die notwendigen Details bereits dargelegt. Ich will
mich daher beschränken auf die direkte Bankenrekapitalisierung durch den ESM. Ich betrachte dieses neue Instrument als sinnvoll. Es rundet das Gesamtpaket ab.
Ganz so neu ist es nicht; denn eigentlich haben die
Staats- und Regierungschefs bereits im Jahr 2012 vereinbart, dies zu machen, allerdings unter der Voraussetzung,
dass es einen einheitlichen Abwicklungsmechanismus
und eine einheitliche Bankenaufsicht gibt. Das wurde als
Voraussetzung immer genannt. Diese haben wir nun erfüllt. Deshalb ist es sinnvoll, diesen letzten Baustein
vollends zu beschließen. Ich werbe daher um Zustimmung zum gesamten Paket.
Erinnern wir uns daran: Die grundsätzliche Funktion
des ESM ist eigentlich, Staaten in massiven Finanzierungsschwierigkeiten mit Hilfskrediten im Rahmen eines Anpassungsprogramms beizustehen, um damit die
Finanzstabilität der gesamten Euro-Zone zu wahren.
Nun hat sich im Zuge der 2010 begonnenen Staatsschuldenkrise gezeigt, dass es durchaus zu negativen Wechselwirkungen zwischen der Schieflage der öffentlichen
Haushalte und den Störungen in den jeweiligen Finanzsektoren kommen kann. Im Extremfall ist es möglich,
dass ein Staat die benötigten Finanzhilfen nicht mehr in
voller Höhe bereitstellen kann, ohne seine eigene Schuldentragfähigkeit zu überdehnen und den Zugang zum
Kapitalmarkt zu verlieren. Wenn eine betroffene Bank
systemrelevant ist, also das Finanzsystem in der EuroZone insgesamt gefährdet, kann unter Umständen eine
direkte Rekapitalisierung dieser Bank durch den ESM
tatsächlich anstehen, allerdings - darauf hat der Finanzminister deutlich hingewiesen - anders, als es sich 2012
viele im europäischen Raum vorgestellt haben. Damals
dachten manche, man könne mit diesem Instrument die
nationalen Bankprobleme aus der Vergangenheit beim
ESM abladen. Dem ist nicht so. Das läuft nicht; denn
dem haben wir einen klaren Riegel vorgeschoben. Die
direkte Rekapitalisierung durch den ESM steht immer
am Ende einer langen Haftungsabfolge, wie sie der Finanzminister dargelegt hat. Die Risiken bleiben bei denjenigen, die zuvor Gewinne eingestrichen haben. Das ist
richtig so.
({4})
Dass wir diesem Prinzip europaweit Gültigkeit verschaffen, ist eine der zentralen Errungenschaften der Bankenunion. Darauf können wir zu Recht stolz sein.
Wenn wir zurückblicken, was wir alles zur Bekämpfung der aktuellen Krise und im weiteren Verlauf zur
Vorbeugung getan haben, dann müssen wir feststellen,
dass das, was wir bisher geleistet haben, durchaus erfolgreich war. Von den fünf Ländern, die unter den Rettungsschirm gegangen sind, nehmen noch zwei Länder,
Griechenland und Zypern, Hilfsprogramme in Anspruch.
Griechenland wird bereits Ende 2014 aus dem Programm aussteigen. Ich frage die Kritiker: Was haben wir
also falsch gemacht? Es funktioniert doch, auch wenn
ein bekannter deutscher Verfassungsrechtler, der schon
einmal in Karlsruhe gescheitert ist, erneut meint, dass
wir dieses Paket ablehnen sollten. Er führt dafür Begründungen auf, die aus meiner Sicht eher juristisch-sophistisch als tragfähig sind.
Für mich ist klar: Diese direkte Bankenrekapitalisierung kommt nur als allerletztes Instrument infrage und
steht am Ende einer langen Haftungskette, und - das ist
mir wichtig - sie erhöht nicht das gesamte Risiko, das
wir mit dem ESM übernommen haben. Das ist und bleibt
Teil des gesamten ESM-Volumens, auch wenn klar ist,
dass am Ende, wenn dieses Instrument angewendet werden sollte, tatsächlich der ESM und die Kapitalgeber des
ESM, also die einzelnen Mitgliedstaaten, dafür haften.
Das ist keine Frage, und das ist nie bestritten worden.
Aber es gibt auch für die Anwendung dieses Instruments klare Leitlinien. Der Haushaltsausschuss hat ihnen gestern zugestimmt. Diese Leitlinien legen für die
Anwendung sehr hohe Hürden fest. Ich will ganz kurz
daran erinnern:
Es muss der Antrag eines Mitgliedstaats erfolgen.
Eine Bank kann sich nicht direkt an den ESM wenden,
sondern nur ein Mitgliedstaat. Es entsteht damit eine
Rechtsbeziehung zwischen dem Mitgliedstaat und dem
ESM.
Eine direkte Rekapitalisierung ist nur dann möglich,
wenn die indirekte Rekapitalisierung nicht mehr möglich
war.
Sie ist immer mit Auflagen verbunden, entweder institutsspezifischen, sektorspezifischen oder gesamtwirtschaftlichen Auflagen. Das ist das, was man als MoU,
Memorandum of Understanding, kennt.
Schließlich steht dieses Mittel im Rahmen der Haftungskaskade erst ganz am Ende, als allerletztes Mittel
zur Verfügung.
Überdies ist es so, dass der beantragende Mitgliedstaat auch bei der direkten Rekapitalisierung dafür sorgen muss, dass eine minimale Kapitalquote der Bank
von 4,5 Prozent erreicht wird. Das bedeutet in der Folge,
dass die direkte Rekapitalisierung nicht bei Banken zum
Tragen kommt, die nicht überlebensfähig sind, sondern
nur Banken gerettet werden, die aufgrund dieser Mindestkapitalquote eine Überlebensperspektive haben. Das
wiederum sichert die Rückzahlung der vergebenen Kredite.
Mit dieser Abfolge ist sichergestellt, dass ein Missbrauch dieses Instruments ausgeschlossen ist. Man kann
sogar annehmen - darauf hat Herr Regling in der Anhörung, die wir durchgeführt haben, hingewiesen -, dass
dieses Instrument vermutlich nie zur Anwendung kommen wird, weil die Hürden für die Anwendung sehr hoch
sind.
Ein wichtiger Punkt, den ich noch erwähnen möchte,
ist die Parlamentsbeteiligung. Wir haben bei all diesen
Maßnahmen immer großen Wert darauf gelegt, dass das
Parlament, der gesamte Deutsche Bundestag oder zumindest der Haushaltsausschuss, in die Entscheidungen
eingebunden wird. Auch bei diesem Instrument ist das
so.
({5})
- Danke, lieber Kollege Johannes Kahrs. - Es ist sogar
so, dass nicht nur die Einführung dieses Instruments,
sondern auch jede einzelne Anwendung zunächst vom
Deutschen Bundestag beschlossen werden muss. Anderenfalls müssten der Finanzminister oder die Bundeskanzlerin Nein sagen. Sie können sich auch nicht der
Stimme enthalten. Wir müssen einen positiven Beschluss herbeiführen, und damit ist der gesamte Bundestag involviert.
Wir haben nach intensiven Beratungen die ursprünglich vorgesehene Regelung, dass gegebenenfalls, wenn
es sich um vertrauliche Informationen handelt, nur das
sogenannte Neunergremium informiert werden sollte,
aus dem Gesetzentwurf wieder herausgenommen. Auf
die rechtlichen Bedenken hat unser Bundestagspräsident
Norbert Lammert schon sehr frühzeitig hingewiesen.
Deshalb haben wir diese Regelung herausgenommen.
Damit sind wir verfassungsrechtlich auf dem sicheren
Weg. Wir haben dies also nicht auf die leichte Schulter
genommen.
Wir wissen, dass damit eine große Verantwortung für
das gesamte Hohe Haus einhergeht; denn im Zweifelsfall müsste der gesamte Deutsche Bundestag die Sachlage beurteilen. Das geht dann, wenn man die notwendige Vertraulichkeit wirklich herstellt; aber die müsste
dann auch gewährleistet sein.
Lassen Sie mich zum Schluss noch zwei, drei Anmerkungen zu der gesamten Situation, in der wir uns befinden, machen. Wir beschließen dieses Paket zur Bankenunion in einer Zeit, in der die Staatsschuldenkrise noch
nicht so richtig überwunden ist. Wenn man sich die
Staatsschuldenquoten der einzelnen Euro-Länder genau
anschaut, stellt man fest, dass sie seit Ausbruch der Krise
nicht gesunken, sondern im Gegenteil gestiegen sind.
Also darf man die Frage der Staatsverschuldung nicht
auf die leichte Schulter nehmen. Anders ausgedrückt:
Wir haben einen Stabilitätspakt beschlossen. Wir haben
einen Fiskalvertrag geschlossen. Wir haben die Verschärfungen des Stabilitäts- und Wachstumspakts beschlossen. Derzeit wird auf europäischer Ebene vorwiegend über Wachstumsimpulse und weniger über die
Frage der Stabilität diskutiert. Das ist etwas, was uns mit
Sorge erfüllt; denn wir sind der Auffassung, dass das
eine nicht ohne das andere zu denken ist und dass man
die Balance zwischen Wachstumsimpulsen und Stabilitätsbemühungen wahren muss. Wer den Wachstumspakt
genau studiert und wer den Fiskalvertrag genau liest, der
stellt sehr schnell fest, dass es dort vorwiegend um Stabilität, um Defizitreduzierung und nicht um Konjunkturprogramme und Ähnliches geht.
Defizitabbau ist der Kernpunkt all dieser vertraglichen Vereinbarungen. Das sollten wir im Auge behalten,
insbesondere dann, wenn in den kommenden Wochen
und Monaten die Europäische Kommission die vorgelegten Haushalte anderer Mitgliedstaaten beurteilen
muss. Wir sind sehr gespannt, wie dies erfolgt, und hoffen, dass damit der Wachstums- und Stabilitätspakt nicht
beschädigt, sondern gestärkt wird.
Danke.
({6})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Lothar Binding,
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beschließen heute
Vorlagen zur Schaffung der Europäischen Bankenunion
im Wesentlichen, um künftig Krisen abzuwenden oder
für den Fall der Krise gewappnet zu sein. Bei den Vorträgen von Manfred Zöllmer, von Vertretern der CDU/
CSU-Fraktion und von Bundesminister Schäuble gab es
immer eine gewisse Nervosität auf der ganz linken Seite
dieses Hauses. Man forderte, irgendwie mehr zu machen; schließlich ist geregelt, dass auf „schwere wirtschaftliche Störungen“ reagiert werden muss, um zu verhindern, dass allzu viel schiefgeht.
An dieser Stelle geht mir ein Bild durch den Kopf,
das vielleicht nicht in allen Punkten zutrifft: Sahra
Wagenknecht und ich wandern in einem Gebirge,
({0})
und ich habe mein Geld vergessen.
({1})
- Das diskutieren wir ein andermal. - Sie bezahlt mein
Frühstück. Wir wandern weiter und stürzen ab. Wir sind
im freien Fall - stellen Sie sich das vor: der Binding und
die Wagenknecht im freien Fall! -, und dann sagt Sahra
Wagenknecht zu mir: Lass uns einmal über die Verzinsung der 10 Euro reden, die ich für dein Frühstück ausgegeben habe. Ich antworte: Nein, es ist viel besser, darüber zu reden, ob man nicht rechtzeitig an ein Netz
hätte denken sollen oder an einen Zaun, der verhindert,
dass wir abstürzen. - Wenn man jedenfalls im freien Fall
ist, dann muss man mehr machen, als über die Zinsen für
die 10 Euro, die sie mir für das Frühstück ausgelegt hat,
zu diskutieren.
({2})
Das ist die Basis, auf der wir heute diskutieren.
({3})
- Wir waren preiswert unterwegs, und die Sahra ist sicher sparsam.
({4})
- Da bin ich mir nicht ganz so sicher.
Eine weitere Frage ist, ob es eigentlich gut ist, zu sagen: Wir wollen die Risiken vom Steuerzahler abwenden. Das sagen wir ja alle, und eigentlich ist das auch
gut. Die Frage ist nur - einmal angenommen, wir hätten
es wirklich geschafft, dogmatisch vom Steuerzahler die
Lasten abzuwenden -: Wie ist es eigentlich, wenn plötzlich der Familienvater die Last trägt oder die Familienmutter oder der Sparer oder jemand, der für seine Altersvorsorge Geld angelegt hat, oder die Alleinerziehende,
die zur Finanzierung der Ausbildung ihrer Kinder ein
Sparbuch angelegt hat? Wenn wir nur über den Steuerzahler reden, dann ist es sicher gefährlich, nicht auch alle
anderen in den Blick zu nehmen. Bei schwerer wirtschaftlicher Störung genügt es eben nicht, allein den
Steuerzahler zu schützen; dann müssen wir die Gesamtgesellschaften vor solchen Risiken schützen. Deshalb ist
es wichtig, dass die entsprechende Klausel vorhanden ist
Lothar Binding ({5})
und dass die Europäische Bankenunion so beschlossen
wird, wie wir es heute tun wollen.
({6})
Die Ausgangslage war recht gefährlich: Wir mussten
Sorge haben, dass eine private Bank in irgendeinem europäischen Land relativ leichtfertig in einen öffentlich
gespeisten Topf greifen kann. Das wäre die Finanzierung
der Mittel zur Deckung der Kosten privater Risiken über
öffentliche Steuern, über Steuern der Bürger. Dieser Idee
wollten wir uns natürlich nicht anschließen, und deshalb
war es klug, sich verstärkt Gedanken zu machen und zunächst die Lage der Banken ein bisschen genauer zu untersuchen. Da gibt es zwei Sachen. Bei der AQR, der Asset Quality Review, guckt man ein bisschen, wie die
Aktiva in den Banken sind, ob sie risikoreich sind oder
nicht. Beim Stresstest guckt man: Wie ist die Entwicklung, wenn eine Bilanz unter Druck gerät?
Meines Erachtens ist nach dem Stresstest bei den
Banken ein bisschen zu viel Selbstzufriedenheit aufgekommen. Ich habe gelesen, dass die Banken, die durch
den Stresstest gefallen sind, gesagt haben: Das war 2013.
Wir haben inzwischen Eigenkapital aufgebaut und sind
jetzt so ausgestattet, wie es der Stresstest verlangt hat.
Eigentlich sind die meisten jetzt auf der sicheren Seite. Da bin ich mir nicht ganz so sicher; denn das reduziert
die Lösung unserer Probleme auf das Eigenkapital.
Gerhard Schick hat gesagt: Wir brauchen eine Leverage
Ratio, um das Risiko unabhängig noch etwas abzusichern. - Aber auch dazu sage ich: Wer nur an das Eigenkapital denkt, ist für die Zukunft nicht nachhaltig aufgestellt.
Was meine ich damit? Ich nehme einmal an, alle Banken hätten genügend Eigenkapital in unserem Sinne.
Dann muss man sich überlegen, wie das Verhalten der
Banker ist, ob die Selbstbeschränkung bezogen auf ganz
bestimmte Geschäftsmodelle funktioniert, ob die Verantwortung, die sie zu übernehmen bereit sind, ausreicht, ob
- ich benutze einmal den Begriff, der im Bankwesen
heute häufig zu finden ist - es eine neue Kultur gibt.
Gibt es keine neue Kultur im Verhalten der Banker, dann
kann das Eigenkapital so hoch sein, wie es will, es wird
immer wieder zu Problemen kommen.
({7})
Die Bankenunion als großes Projekt mit ihren drei
Teilen - Aufsicht, Abwicklungsregime, Notfallabwicklungsfonds - ist eine gute Idee. Trotzdem ist sie keine
abschließende Lösung. Ich glaube, damit müssen wir uns
noch befassen. Wir sind uns wahrscheinlich in den meisten Punkten einig. Was noch fehlt, ist zum Beispiel die
Besteuerung von Finanztransaktionen. Es gibt im Bankwesen Modelle wie den Hochfrequenzhandel und andere
Geschäfte, die besteuert gehören, um die Risiken, die
dort erzeugt werden, in einer Abgabe abzubilden, um
den Steuerzahler zu schützen. - Ich freue mich, dass du
nickst, Hans Michelbach, denn ich weiß, dass das nicht
hundertprozentig deine Meinung ist. Mit dem Nicken signalisierst du aber, dass wir darüber nachdenken können.
So ähnlich ist es natürlich auch mit dem Trennbankensystem für große Banken. Auch da sind wir noch
nicht am Ende. Wir müssen die Risiken im Spekulationsgeschäft von den Risiken, die das Realgeschäft betreffen, abtrennen; denn sonst wird die Realwirtschaft
immer wieder unter Druck geraten, induziert durch Spekulanten, und das wollen wir natürlich vermeiden.
({8})
Es ist sicher auch zu fragen, ob die Ausstattung des
Fonds mit 55 Milliarden Euro genügt. Wenn wir einmal
an die Fonds denken, die die öffentliche Hand, die europäische Staaten aufgebaut haben, dann erkennen wir: Da besteht wenigstens eine Differenz um den Faktor 10 bis 20.
Wir wollen die Banken nur so weit belasten, dass sie es
überleben - das ist klar -, aber 55 Milliarden Euro sind
zu wenig. Diese Größenordnung ist jetzt der Konsens.
Ich will den ersten Schritt in die richtige Richtung nicht
ablehnen, bloß weil wir noch nicht gleich am Ziel ankommen, aber zum Ziel ist es noch ein ganz schön weiter Weg.
({9})
- Ja; darauf komme ich noch. - Trotzdem ist die Größe
des Topfes möglicherweise nicht hinreichend.
Es gibt viele Dinge, die noch zu verbessern sind. Wir
haben schon öfter über die EZB und darüber gesprochen,
dass sie eigentlich die falsche Aufsichtsbehörde ist.
Trotzdem sind wir dankbar, dass sie die Aufgabe übernimmt. Warum? Wir haben keine andere Behörde. Wir
wissen, dass es falsch ist, weil Geld- und Währungspolitik von der Aufsichtsfunktion natürlich abzutrennen ist,
aber wir haben keine andere Behörde. Deshalb sind wir
erst einmal dankbar, dass die EZB das macht; aber wir
sprechen ja von der Sunset Clause.
Wir würden gern in einigen Jahren eine eigene Behörde gründen, die für die Aufsicht zuständig ist, die
auch institutionell von der EZB, die für das Geld zuständig ist, abgetrennt ist. Dann wäre das nicht mehr in einer
Hand. Geldpolitik und Aufsicht in einer Hand, das ist
nämlich schwierig. Das wäre ein großer Schritt. Ich bin
nicht sicher, ob das hier im Haus konsensfähig ist, aber
zumindest in Europa wird es schwierig sein, das zu verhandeln. Dennoch sollten wir uns diesem Verhandlungsauftrag stellen.
Es gibt ein weiteres Problem - darauf hat Axel Troost
schon hingewiesen -, bei dem sicher noch etwas zu tun
ist: Die Bankenunion, wenn auch mit einer Öffnungsklausel, umfasst nur die Euro-Zone. Die Euro-Zone ist
aber nicht Europa; London wurde schon erwähnt. Das ist
sicherlich ein großes Problem. Wir müssen uns vergegenwärtigen, was passiert, wenn es Krisen innerhalb
oder außerhalb der Bankenunion gibt, inwieweit es Infektionskanäle hinein oder heraus gibt. Natürlich haben
wir keine Lust, zu erleben, dass über solche Kanäle die
Bankenunion oder überhaupt Europa infiziert wird. Des5828
Lothar Binding ({10})
halb ist es wichtig, zur Begrenzung künftiger Krisen darüber noch einmal nachzudenken.
Mit Sicherheit ist später auch noch einmal über den
Grundsatz „too big to fail“ nachzudenken. Eine Bank,
die zu groß ist, darf - das sagt schon der Name - nicht
scheitern. Aber wir müssen auch darüber nachdenken,
was eigentlich passiert, wenn es zu Schwarmeffekten
kommt. Denn Kleinheit an sich ist ja noch kein Problem - Größe auch nicht. Auch eine kleine Bank kann
große Sauereien treiben. Insofern müssen wir schauen,
ob wir Schwarmeffekte, die sich aus dem gleichen Verhalten vieler Gleiche ergeben, nicht besser regulieren
sollten. Das ist sicherlich eine sehr offene Frage.
Zur Bankenabgabe an sich und der damit verbundenen Gewinnminderung in der eigenen Bilanz hat
Manfred Zöllmer schon etwas gesagt. Steuersystematisch ist eine Bankenabgabe ja eine Ausgabe. Und Ausgaben sind natürlich kein Gewinn. Das heißt also, eigentlich müsste man diese Ausgabe - die Bankenabgabe als Betriebsausgabe abziehen dürfen.
({11})
- Ja, das Nettoprinzip.
Jetzt machen wir aber an der Stelle eine Ausnahme,
und das können wir auch sehr gut erklären. Denn wir
richten diesen Topf ja zur Abschirmung von Risiken für
die Steuerzahler ein, und wenn wir gleichzeitig einen
Betriebsausgabenabzug zulassen, dann beteiligen wir
den Steuerzahler an dieser für ihn gedachten Abschirmung mit 30 Prozent. Diesen Widersinn kann man nicht
erklären. Vor diesem Hintergrund ist diese Ausnahmeregelung notwendig.
Die Schwierigkeit ist - du hast darauf hingewiesen,
Manfred -: In Europa sehen das manche anders. Da
spürt man auch zum Teil eine etwas andere Kultur. Es
gibt durchaus Länder, die zwar meinen, der Steuerzahler
sollte vielleicht, eventuell - vermeintlich - ein wenig geschützt werden, aber in Wahrheit soll er es selber bezahlen. Das wollen wir natürlich nicht. Wir wollen den Steuerzahler wirklich schützen.
({12})
Diese Abschirmwirkung soll letztendlich vergrößert
werden. Darüber international zu verhandeln, ist sicherlich noch eine Aufgabe für Minister Schäuble - wenn
auch keine beneidenswerte Aufgabe; das wissen wir alle.
Warum spreche ich das an? Diese Ausnahmeregelung
ist keine schöne Lösung; denn es werden in Europa
Wettbewerbsverzerrungen erzeugt, wenn die deutschen
Banken diesen Betriebsausgabenabzug nicht machen
können, während andere, ausländische Banken die Möglichkeit dazu haben. Auf diesen Punkt wollen wir
schauen; unter Wettbewerbsgesichtspunkten ist hier
noch sehr viel zu tun.
Schließlich wollen wir einen weiteren Punkt genauer
in den Blick nehmen: Diese Abgabe richtet sich ja heute
im Wesentlichen nach der Größe. Wir glauben, dass sie
sich im Wesentlichen nach der Risikobelastung richten
muss. Denn die Risikobelastung ist ja der eigentliche Parameter, wenn es um eine Gefährdung in der Zukunft
geht.
Ich will noch etwas zu den Anträgen der Linken und
der Grünen sagen, die in wesentlichen Teilen zustimmend formuliert sind.
Der Antrag der Linken ist aus meiner Sicht ganz gut
gelungen. Es steht aber auch wieder ein typisches K.-o.Argument drin: Ihr wollt die Großbanken vergesellschaften. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir dann
besser zurechtkommen würden als heute. Wahrscheinlich würden dann alle Fehler in wenigen Händen kumuliert. Das wollen wir natürlich nicht.
Auch im Antrag der Grünen gibt es einen kleinen
Pferdefuß. Wir haben den Soffin ja gerade um ein Jahr
verlängert. Sie wollen diese Verlängerung rückgängig
machen. Das ist für uns natürlich ein widersinniger Vorschlag, dem wir nicht folgen wollen.
Ich möchte auch noch ein Wort zur Haftungskaskade
sagen. Denn die Haftungskaskade - Sie können es vielleicht erkennen - ist ziemlich lang. Die Kaskade verläuft
zwischen dem Risiko und der letztendlichen Belastung
des Steuerzahlers. Und wenn man sieht, wie lang sie ist
- ich zitiere das ganz kurz -
Herr Kollege Binding, aber bitte wirklich ganz kurz und nicht die ganze Kaskade!
Dann zitiere ich das auch nicht ganz kurz, sondern beende meine Rede lieber mit folgender Bemerkung: Die
Haftungskaskade ist lang, und diese Länge ist ein Zeichen dafür, wie stark wir den Steuerzahler vor den Haftungsrisiken der Banken schützen wollen. Deshalb ist
die Bankenunion eine sehr gute Lösung, ein wichtiger
erster Schritt in die richtige Richtung.
({0})
Vielen Dank. - Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt
der Kollege Alexander Radwan das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Minister! Als letzter Redner zu diesem Thema möchte
ich gleich dort anschließen, wo der Herr Kollege
Binding aufgehört hat. Denn das ist eigentlich die richtige Formulierung: Die Bankenunion ist ein weiterer
Schritt in die richtige Richtung, um die Finanzmärkte
stabiler zu machen.
Zunächst haben wir den Euro eingeführt. In den letzten Jahren haben wir die Regeln für den europäischen
Binnenmarkt kreiert. Jetzt sind wir dabei, durch die Bankenunion die Aufsicht zu vollziehen. Wie gesagt: Das ist
ein wichtiger, richtiger Schritt. Die Stabilität der FinanzAlexander Radwan
märkte steht im Vordergrund; der Steuerzahler soll durch
eine lange Haftungskaskade geschützt werden, wie der
Herr Kollege Binding ausgeführt hat.
Heute entscheiden wir darüber. Ein Ziel von uns war,
erst zu wissen, was die Bankenabgabe auf europäischer
Ebene bewirken soll. Wir haben dazu einen Vorschlag
bekommen, und ich möchte mich hier beim Finanzminister bedanken, der sich massiv für die deutschen Interessen eingesetzt hat. Wir hoffen, dass diese Bankenabgabe nach der Prüfung das Europäische Parlament und
den Rat passieren wird, damit das, was uns wichtig ist,
für unsere regionalen Banken umgesetzt wird, nämlich
die Annehmung der Institutssicherung, der verbundinternen Verbindlichkeiten und das Wahlrecht über 2016 hinaus bis 2023. Wenn es uns ermöglicht wird, gehen wir
natürlich davon aus, dass diese Option auch gezogen
wird.
({0})
Ich habe versucht, die Argumente der Opposition
nachzuvollziehen und mir vorzustellen - meine Gedanken dazu will ich jetzt einmal darstellen -, wo wir heute
wären, wenn sie umgesetzt würden.
Zum einen ging es um den Vorwurf, IGA, also das Intergovernmental Agreement, abzuschließen, sei undemokratisch. Ich kann nur sagen - ich gehe jetzt nicht so
weit wie das Bundesverfassungsgericht in der Beurteilung der Demokratie auf europäischer Ebene in Bezug
auf das EP -: Wir entscheiden heute darüber. Das Gleiche gilt auch für den ESM. Da entscheiden die nationalen Parlamente. Darum kann ich daran nichts Undemokratisches finden, sondern es ist eher eine Stärkung der
Demokratie auf nationaler Ebene, hier entsprechend einbezogen zu sein. Insofern sollten wir unsere Rechte
wahrnehmen und über den Bundestag hinaus artikulieren
und hochhalten.
({1})
Zum anderen geht es um eine ganz besondere Konstellation - das betrifft Herrn Troost, den ich persönlich
sehr schätze -, nämlich die immer wiederkehrende Diskrepanz, einerseits zu fordern: „Wir müssen in Europa
schneller werden, wir müssen schneller integrieren und
Aufsicht sicherstellen“, aber gleichzeitig andererseits die
europäischen Entscheidungen zu kritisieren nach dem
Motto: „Das, was die Bankenabgabe jetzt für die kleinen
Banken bedeutet, ist zu wenig“. Sie haben ja das Beispiel aus Wahlkreisen von Kollegen gebracht, in meinem
Fall das Beispiel der Sparkasse Bad Tölz-Wolfratshausen. Ich danke dafür. Normalerweise wurde ich in den
letzten Monaten auf eine andere Sparkasse angesprochen.
({2})
Das ist schon einmal ein kollegialer Zug, dass wir jetzt
über die Sparkasse Bad Tölz-Wolfratshausen reden.
Also, auf der einen Seite zu fordern, dass wir schneller
integrieren müssen - Sie kritisieren aber zugleich, dass
inzwischen die Europäische Zentralbank diese Aufgaben
wahrnimmt; da frage ich mich: Wenn sie sie nicht wahrnehmen würde, wo wären wir dann heute? -, und auf der
anderen Seite, wenn Integration stattgefunden hat, zu
kritisieren, dass das Ergebnis nicht ausreichend ist nach
dem Motto: „Europa ist ein Wunschkonzert, und meine
Vorgaben sollen eins zu eins umgesetzt werden“, reicht
mir nicht. Ich werde mit großer Aufmerksamkeit verfolgen, wie der Thüringer Landtag unter dem zukünftigen
Ministerpräsidenten Beschlüsse zur europäischen Finanzmarktregulierung - Sie haben ja sogar New York
genannt - fasst und diese dann global eins zu eins umsetzt.
Europa ist das zähe Ringen, auf der einen Seite Schritt
für Schritt die europäische Integration und die Kapitelmarktaufsicht voranzubringen und auf der anderen Seite
gleichzeitig deutsche Interessen zu wahren und durchzusetzen. Und das ist Finanzminister Schäuble in den Runden hervorragend gelungen. Dafür ein herzliches Dankeschön.
({3})
Wir haben bei der Umsetzung der Richtlinie aus meiner Sicht die Möglichkeiten genutzt, die diese an Flexibilität bietet. Ich nenne hier die Diskussion um den
Rechtsformwechsel. Das ist ja auch ein klassisches Beispiel im Rahmen des Drei-Säulen-Modells mit Genossenschaftsbanken und öffentlich-rechtlichen Banken.
Wir haben jetzt das Modell, dass auf nationaler Ebene
bei Bail-in der Rechtsformwechsel vorgesehen ist, aber
es besteht auch die Möglichkeit, dass die Länder, wenn
sie ein entsprechend gleichwertiges Bail-in regeln, in ihren Sparkassengesetzen Ausnahmen machen. Das zeigt
für mich - das ist auch gelebte Subsidiarität -: Es ist
wichtig, dass wir auf nationaler Ebene das, was wir auf
europäischer Ebene jahrzehntelang zu Recht verteidigt
und hochgehalten haben, auch auf nationaler Ebene behüten und nicht preisgeben. Hier haben wir also die Flexibilität der Richtlinie entsprechend ausgenutzt.
Die Europäische Zentralbank hat jetzt die Aufsicht
übernommen. Herr Troost, ich habe Sie so verstanden,
dass Sie das für falsch halten. Möglicherweise habe ich
Sie falsch verstanden. Das ist jedenfalls ein richtiger
Schritt. Er ist nicht ideal, aber es ist ein richtiger Schritt.
Das sollte man in diesem Zusammenhang auch von Ihrer
Seite betonen. 120 Banken in Europa werden direkt beaufsichtigt. Auch bei diesem Punkt sage ich: Es ist ein
Schritt. Wir werden zukünftig darauf achten müssen, wie
diese Aufsicht funktioniert und wie sie sich entwickelt.
Ein weiterer Kritikpunkt, der genannt wurde, ist, in
einem Haus zusammen Geldpolitik und Aufsicht zu
kombinieren. Auch ich halte das für problematisch. Aber
wenn man das für problematisch hält, muss man auch sagen: Um das auszuschließen, bedarf es einer Änderung
der Verträge. Wenn die Verträge geändert werden, dann
ist der Weg frei. Ich kann mir nicht vorstellen, so wie ich
Finanzminister Schäuble bisher verstanden habe, dass er
diesen Weg nicht gehen will. Aber wir müssen auch
pragmatisch herangehen und fragen: Was ist auf der europäischen Agenda als Nächstes möglich?
Eine weitere Frage neben der nach der Aufsicht auf
europäischer Ebene ist: Wie gehen wir in der EZB zukünftig mit den Regionalbanken um? Hier sehe ich
durchaus auf Level 2 von Normierung und Aufsicht die
Problematik, dass wir die Besonderheiten der Regionalbanken durch die Hintertür Stück für Stück zwar nicht
preisgeben, aber den Kampf, den wir auf europäischer
Ebene führen, dorthin verlagern. Denn die Europäische
Zentralbank hat nicht nur unmittelbare Aufsicht über die
Großbanken, sondern auch mittelbare Aufsicht über alle
Banken. Über 40 Prozent der Regionalbanken, die nicht
unmittelbar beaufsichtigt werden, befinden sich nun in
Deutschland.
Erster Ansatzpunkt ist hier das Meldewesen. Ich halte
es - das muss ich ganz klar sagen - für falsch, dass immer mehr IFRS-Anforderungen durchgereicht werden.
Daher bedarf es hier einer entsprechenden Governance
und Vorgabe, wie es sich weiterentwickeln soll. Unter
diesem Gesichtspunkt halte ich die Lösung - ich habe
mit mir gerungen über das Verhältnis von BaFin und
Bundesbank zueinander; dabei gibt es gute Argumente
für die eine wie für die andere Seite -, die wir gefunden
haben, für gut: BaFin ist jetzt Ansprechpartner, aber wir
betonen zugleich, dass das System der kollegialen Aufsicht durch Bundesbank und BaFin sich bewährt hat.
Das sollte auch für die europäische Ebene eine Blaupause sein, indem wir uns dagegen wenden, dass alles
auf einen Bereich konzentriert wird, und vielmehr die
Splittung als Modell auf europäischer Ebene voranbringen.
Wir wissen, dass wir uns bei den Trennbanken weiterentwickeln müssen. Wir haben auf nationaler Ebene eine
Lösung. Wir haben auf europäischer Ebene einen Verordnungsvorschlag. Es ist umso wichtiger, dass dieser
Vorschlag auf europäischer Ebene sich an den Kriterien
und den Prioritäten, die wir in Deutschland haben, orientiert. Ich muss allerdings sagen: Die europäische Vorgabe
ist für mich nicht ganz konsistent. Die Zeitvorgaben, die
hier genannt werden, halte ich für bemerkenswert. Einmal habe ich einen Verordnungsvorschlag, der unmittelbar gilt, aber gleichzeitig können auf nationaler Ebene
mithilfe von Regelungen, die einen gewissen Rahmen
haben, Ausnahmen gemacht werden. Das ist für mich ein
Widerspruch in sich. Das wird sicher eine ganz wichtige,
aber auch langwierige Diskussion werden.
Zum Thema Steuern - das hat auch der Kollege
Binding angesprochen -: Ich halte es für richtig, dass wir
zwischen den Staaten auf europäischer Ebene für Wettbewerbsgleichheit sorgen, dass wir versuchen, systematisch korrekt zu arbeiten. Darum werden wir dieses sicher
in den nächsten Wochen und Monaten auf europäischer
Ebene nicht nur verfolgen, sondern auch versuchen, die
Mitgliedstaaten für unsere Haltung zu gewinnen.
Letztendlich haben wir es auf europäischer Ebene geschafft, deutsche Standards entsprechend weiterzuentwickeln. Es ist auch wichtig, die Entscheidungen rechtzeitig richtig zu treffen. Vor diesem Hintergrund kann ich es
mir nicht verkneifen, nachdem Sie, Herr Kollege
Zöllmer, vorhin das Thema Griechenland angesprochen
haben, noch ganz kurz zu sagen - das brauchen wir nicht
zu sehr vertiefen -: Ich habe zumindest zu dem Zeitpunkt, als eine andere Bundesregierung zugestimmt hat,
im Europäischen Parlament dagegen gestimmt. Ich war
gegen die Aufweichung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes. - Wir sollten daraus jedenfalls gemeinsam lernen, dass wir uns rechtzeitig mit den richtigen Weichenstellungen in Europa befassen müssen. Wir müssen
rechtzeitig unsere Stimme erheben, um die Weichen
richtig zu stellen. Das schaffen wir heute mit dem Beschluss zur Bankenunion.
Ich danke Minister Schäuble, dass er hier mit Augenmaß vorgegangen ist. Er sollte nicht dafür kritisiert werden, deutsche Interessen zu vertreten und trotzdem die
Aufsicht in Europa zu europäisieren.
Herzlichen Dank. Wir werden zustimmen.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Tagesordnungspunkt 5 a: Wir kommen zur Abstim-
mung über den von der Bundesregierung eingebrachten
Gesetzentwurf zur Umsetzung einer Richtlinie des Euro-
päischen Parlamentes und des Rates zur Festlegung ei-
nes Rahmens für die Sanierung und Abwicklung von
Kreditinstituten und Wertpapierfirmen und zur Ände-
rung weiterer Richtlinien und Verordnungen des Euro-
päischen Parlaments und des Rates - BRRD-Umset-
zungsgesetz.
Hierzu liegen mehrere Erklärungen gemäß § 31 unse-
rer Geschäftsordnung vor.1)
Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe a sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3088, den
Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen
18/2575 und 18/2626 in der Ausschussfassung anzuneh-
men.
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat beantragt,
getrennt abzustimmen: zum einen über Artikel 5 Num-
mern 6 bis 11, Nummern 12 a und 12 b, Nummer 13 a,
Nummer 15 sowie Artikel 7 und zum anderen über den
Gesetzentwurf im Übrigen.
Ich rufe zunächst auf Artikel 5 Nummern 6 bis 11,
Nummern 12 a und 12 b, Nummer 13 a, Nummer 15 so-
wie Artikel 7 in der Ausschussfassung. Ich bitte diejeni-
gen, die zustimmen, um ihr Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Artikel 5 Nummern 6 bis
11, Nummern 12 a und 12 b, Nummer 13 a, Nummer 15
sowie Artikel 7 sind mit den Stimmen der CDU/CSU-
Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen von
Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke in
der Ausschussfassung angenommen.
Ich rufe nun die übrigen Teile des Gesetzentwurfs in
der Ausschussfassung auf. Ich bitte diejenigen, die zu-
stimmen wollen, um ihr Stimmzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Dann sind die übrigen
1) Anlage 2 bis 4
Vizepräsident Peter Hintze
Teile des Gesetzentwurfs mit den Stimmen der CDU/
CSU-Fraktion, den Stimmen der SPD-Fraktion und den
Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und eine Stimme aus der
CDU/CSU-Fraktion so beschlossen.
Alle Teile des Gesetzentwurfes sind damit in zweiter
Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist der
Gesetzentwurf mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion, der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen gegen zwei Stimmen aus der CDU/CSU-Fraktion und die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen worden.
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge.
Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 18/3091. Wer stimmt für den Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Entschließungsantrag ist damit mit den Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen bei Zustimmung durch die
Fraktion Die Linke abgelehnt.
Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 18/3092. Wer stimmt für diesen
Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt
mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPDFraktion bei Enthaltung der Linken und Zustimmung der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Übereinkommen über die Übertragung von Beiträgen auf den einheitlichen Abwicklungsfonds und über die gemeinsame
Nutzung dieser Beiträge. Der Finanzausschuss empfiehlt
unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/3088, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 18/2576 und 18/2627 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit den
Stimmen der CDU/CSU- und der SPD-Fraktion gegen
die Stimmen der Linken und bei Enthaltung der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 5 b: Abstimmung über den von
der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur
Änderung des ESM-Finanzierungsgesetzes. Der Haushaltsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3082, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen
18/2577 und 18/2629 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann
ist der Gesetzentwurf angenommen worden mit den
Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und den Stimmen der
SPD-Fraktion gegen zwei Stimmen aus der CDU/CSUFraktion und die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen und der Fraktion Die Linke. Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der
SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und zwei
Stimmen aus der CDU/CSU-Fraktion dann so angenommen worden.
Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung der Finanzhilfeinstrumente nach Artikel 19 des Vertrags zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus. Der
Haushaltsausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3082, den
Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen
18/2580 und 18/2628 anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPDFraktion gegen die Fraktion Die Linke, die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen und zwei Stimmen aus der
CDU/CSU-Fraktion angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und
der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen sowie
gegen zwei Stimmen aus der CDU/CSU-Fraktion angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 5 c: Beschlussempfehlung des
Haushaltsausschusses zum Antrag des Bundesministeriums der Finanzen mit dem Titel „Durchführungsbestimmungen zum Instrument der direkten Bankenrekapitalisierung durch den Europäischen Stabilitätsmechanismus;
Einholung eines zustimmenden Beschlusses des Deutschen Bundestages nach § 4 Absatz 1 des ESM-Finanzierungsgesetzes“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3082,
dem Antrag des Bundesministeriums der Finanzen auf
Drucksache 18/2669 zuzustimmen. Wer stimmt für die
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion
gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke, der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen und zwei Stimmen aus der
CDU/CSU-Fraktion angenommen worden.
Zusatzpunkt 1. Wir setzen die Abstimmung zu den
Beschlussempfehlungen des Finanzausschusses auf
Drucksache 18/3088 fort.
Vizepräsident Peter Hintze
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/97
mit dem Titel „Risiko und Haftung zusammenführen Gläubigerbeteiligung nach EZB-Bankentest sicherstellen“. Wir stimmen also über die Beschlussempfehlung
des Finanzausschusses ab. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Finanzausschusses? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung des Finanzausschusses ist mit den Stimmen
der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die
Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen worden.
Unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/98
mit dem Titel „Gemeinsam die Haftung der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler beenden - Für einen einheitlichen europäischen Restrukturierungsmechanimus“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung des Ausschusses? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der CDU/
CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der
Fraktion Die Linke angenommen worden.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe e
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/774 mit dem Titel „Zum Schutz der Allgemeinheit vor Einzelinteressen - Für eine echte Europäische
Bankenunion“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung des Ausschusses? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Damit ist die Beschlussempfehlung mit
den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion, der SPD-Fraktion
und der Fraktion Die Linke gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden.
Damit sind wir am Ende dieser Reihe von Abstimmungen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan
Korte, Katrin Kunert, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE
Das Massensterben an den EU-Außengrenzen
beenden - Für eine offene, solidarische und
humane Flüchtlingspolitik der Europäischen
Union
Drucksachen 18/288, 18/2946
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Bevor ich die Aussprach eröffne, warten wir vielleicht noch einen Moment, bis alle ihren Platz gefunden
haben. Diejenigen, die eine Aussprache über individuelle Themen wünschen, bitte ich, den Plenarsaal hierfür zu verlassen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort dem Abgeordneten Wolfgang
Bosbach.
({1})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Neben dem Kampf gegen den Terror des sogenannten Islamischen Staates ist die Bewältigung der ja weltweiten Flüchtlingskrise und -problematik sicherlich die
größte internationale und europäische Herausforderung
sowie auch innenpolitische Herausforderung bei uns in
Deutschland. Über 50 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht, rund 33 Millionen sind Binnenvertriebene, an die 18 Millionen sind über Grenzen geflohen.
Was sich wenige Flugstunden von uns entfernt abspielt, ist eine wahre Tragödie. Menschen fliehen vor
brutalen Diktatoren, vor brutalen Diktaturen, sie fliehen
vor Hungersnot, vor Epidemien und vor dem Terror der
IS-Truppen. Wir erleben gerade eine Tragödie im Grenzgebiet der Länder Syrien/Irak/Türkei. Hunderttausende
campieren dort unter freiem Himmel. Der Winter steht
vor der Tür. Zuerst kommt der Regen, dann kommt die
Kälte, dann kommt der Schnee, dann kommt der Tod.
Wir wissen von den Tragödien im Mittelmeer. Wir wissen, dass Schlepper und Schleuserbanden mit der Not
vieler Menschen brutale Geschäfte machen.
Um einen Punkt in dieser Debatte gleich abzuräumen:
Wenn Menschen in Not sind, wenn sie zu ertrinken drohen, dann fragen wir nicht nach der Staatsangehörigkeit,
wir fragen nicht nach der Religion, wir fragen nicht nach
der Rechtslage, sondern wir retten sie, wir werfen ihnen
Rettungsringe zu. Dazu müssen wir vorher auch in keinem Gesetzesbuch nachlesen. Das ist eine Selbstverständlichkeit. Alles andere wäre im Übrigen unterlassene Hilfeleistung.
({0})
Ich glaube, da gibt es einen großen Konsens über Partei- und Fraktionsgrenzen hinweg. Der Antrag der Linken und von Bündnis 90/Die Grünen geht allerdings
weit darüber hinaus. Im Grunde genommen ist es eine
Anklageschrift gegen die Flüchtlingspolitik der Bundesrepublik Deutschland seit Jahrzehnten.
({1})
Aber der Inhalt dieser Anklageschrift wird den Realitäten in keiner Weise gerecht.
({2})
Von den 700 000 Flüchtlingen aus dem Balkan, zum
Beispiel aus Bosnien-Herzegowina, hat Deutschland allein 350 000 Flüchtlinge aufgenommen. Deutschland
also die Hälfte, alle anderen Länder der Welt zusammen
die andere Hälfte. Wir haben über 40 Prozent der Flüchtlinge aus dem Kosovo aufgenommen. Zurzeit nimmt
kein Land in der Europäischen Union mehr Flüchtlinge
auf als die Bundesrepublik Deutschland. Richtig ist: Es
gibt Länder, die pro Kopf der Bevölkerung mehr Flüchtlinge als Deutschland aufnehmen, darunter auch sehr
kleine Staaten, zum Beispiel die Insel Malta, wo sich
aber auch nur sehr kleine Zahlen ergeben. Es gibt aber
auch große Länder, die sich bei der Aufnahme von
Flüchtlingen - je nach Betrachtungsweise - vornehm zurückhalten oder schäbig verhalten; jeder mag das anders
bewerten. Deutschland alleine wird in diesem Jahr mehr
Flüchtlinge aufnehmen als Portugal, Spanien, Italien und
Griechenland zusammen. In einer solchen Situation
kann man ruhig einmal, wenn auch nur in einem Nebensatz, anerkennen, was Deutschland in der Vergangenheit
bereits geleistet hat, was Deutschland heute leistet und
auch in Zukunft leisten wird.
({3})
Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Situation in allen anderen Büros anders aussieht als bei mir. Alle Gespräche, alle Zuschriften sind angesichts der derzeitigen
Lage von zwei Argumentationslinien geprägt. Die einen
sagen: „Seht ihr nicht die Not der Menschen in der Welt,
die Not der Menschen, die fliehen müssen? Kann ein reiches Land wie Deutschland nicht mehr tun?“, und die
anderen sagen: „Seht ihr nicht, dass unsere Städte und
Gemeinden an den Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit angekommen sind? Viel mehr können wir nicht leisten.“
Für beide Haltungen gibt es übrigens gute Argumente.
Angesichts der dramatischen Situation, wie ich sie
eingangs geschildert habe, ist die Frage: „Kann Deutschland nicht noch mehr tun?“, oder: „Müsste Deutschland
nicht noch mehr tun?“, legitim. Es gibt im Übrigen eine
enorme Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung jenen gegenüber, die tatsächlich verfolgt sind, die tatsächlich
politisch Verfolgte sind, die tatsächlich vor Krieg oder
Bürgerkrieg fliehen. Unser Problem ist aber doch, dass
wir jedes Jahr auch sehr viele Menschen aufnehmen, die
nicht politisch verfolgt sind, die nicht vor Krieg oder
Bürgerkrieg fliehen, die keinen Rechtsanspruch auf einen Daueraufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland
haben. Die allermeisten Menschen von denen werden
das auch wissen.
Eine vernünftige Politik beginnt mit der Betrachtung
der Wirklichkeit. Zu dieser Wirklichkeit gehört, dass
nicht alle, aber viele Städte und Gemeinden unseres Landes an der Grenze ihrer Aufnahmefähigkeit angelangt
sind. Eine Schlagzeile von heute Morgen in einer Kölner
Zeitung: „Roters will keine weiteren Flüchtlinge“. Zur
Vermeidung möglicher Missverständnisse: Es handelt
sich nicht um einen CDU-Oberbürgermeister oder um
einen CSU-Oberbürgermeister, sondern es handelt sich
um den SPD-Oberbürgermeister der Stadt Köln. Die
Stadt Köln wird von einer rot-grünen Ratsmehrheit regiert. Ist Herr Roters xenophob? Ist er ausländerfeindlich?
({4})
Ist er ein latenter Rassist? Nein, er hat Not. Er weiß nicht
mehr, wo er die vielen Flüchtlinge unterbringen kann.
Und das führt zu Spannungen. Das führt zu Spannungen
in der Gesellschaft, das führt zu Spannungen vor Ort.
Wenn wir Politiker, die wir unmittelbar politische
Verantwortung tragen, den Menschen draußen signalisieren, dass uns die Probleme vor Ort nicht interessieren,
dass wir uns gar nicht damit beschäftigen, dass wir sie
ignorieren in der Hoffnung, dass den Menschen gar nicht
auffällt, dass es diese Probleme gibt, dann werden sie
sich anderen politischen Kräften zuwenden, die heute
- darüber sind wir froh - nicht im Deutschen Bundestag
vertreten sind.
({5})
Wir haben auch, aber nicht nur eine Verantwortung
gegenüber den bedrängten Menschen in der Welt. Dieser
Verantwortung wird Deutschland gerecht; wobei ich
nicht sagen würde, dass man nicht noch mehr tun
könnte. Mir fällt in der Politik überhaupt kein Thema
ein, zu dem ich sagen könnte: Da könnte man nicht noch
mehr tun.
({6})
Wir werden hier auch mehr tun müssen; aber wir können
nicht diejenigen aufnehmen, die politisch verfolgt sind,
und diejenigen, die es nicht sind, auch. Wir können nicht
diejenigen aufnehmen, die vor Krieg fliehen, und diejenigen, die nicht vor Krieg fliehen, auch.
({7})
Deswegen ist es wichtig, dass wir die Fluchtursachen
vor Ort bekämpfen, damit die Menschen sich erst gar
nicht auf eine lebensgefährliche Reise begeben müssen.
({8})
Deshalb ist es wichtig, dass wir die Schlepper- und
Schleuserkriminalität bekämpfen.
Ein letzter Punkt: Europa kümmert sich sonst um alles: um Glühbirnen und neuerdings auch um die Saugkraft von Staubsaugern; sie muss europaweit einheitlich
geregelt werden. Es wäre schön, wenn wir uns auch oder
wenigstens darüber einig wären, dass Europa sich auch
darum kümmern muss, dass wir einheitliche Mindeststandards für die Aufnahme von Flüchtlingen und Asylbewerbern in allen Ländern der Europäischen Union bekommen.
({9})
Dass humanitäre Mindeststandards eingehalten werden, ist übrigens nicht nur eine völkerrechtliche Verpflichtung; das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit.
Das schulden wir denjenigen, die wirklich bedrängt sind,
die wirklich in Not sind. Denen wird in Deutschland niemals nicht geholfen werden. Da sind wir aufnahmebereit
wie kaum ein anderes Land in der Welt. Auch das könnte
man im Rahmen der Beschreibung der großen Probleme,
die wir haben, ruhig einmal anerkennen. Wir dürfen unser eigenes Land ruhig einmal loben.
({10})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Ulla Jelpke, Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber
Kollege Bosbach, kein Mensch flieht ohne Not, verlässt
sein Land ohne Not und möglicherweise auch seine Familie.
({0})
Anlass für den Antrag der Linksfraktion, über den wir
heute hier reden, waren die Tragödien, die sich im
Herbst vorigen Jahres im Mittelmeer vor der Insel Lampedusa ereigneten. Dort sind 400 Menschen ertrunken.
Eine Woche später gab es ein weiteres Unglück mit
250 Toten. Ich möchte hier einmal die Bürgermeisterin
von Lampedusa, Giusi Nicolini, zitieren, die damals von
einem regelrechten Massaker an den Flüchtlingen gesprochen hat. Es sei wie im Krieg, sagte sie, und weiter:
Ich bin mehr und mehr davon überzeugt, dass die
europäische Einwanderungspolitik diese Menschenopfer in Kauf nimmt, um die Migrationsflüsse
einzudämmen …, dass ihr Tod für Europa eine
Schande ist.
({1})
Genau das ist der Grund, warum die europäische
Flüchtlingspolitik grundlegend geändert werden muss.
Das UNO-Flüchtlingswerk bzw. der UNHCR führt eine
grausame Statistik über die Menschen, die seit Jahren im
Mittelmeer ums Leben gekommen sind. Fast 2 Prozent
aller Flüchtlinge im Mittelmeer sind darin ertrunken. In
diesem Jahr gab es allein bis Ende August mindestens
3 200 Tote. Je dichter die Abschottung, desto gefährlicher werden die Fluchtrouten. Das treibt die
Todeszahlen in die Höhe. Dieser grausamen Logik muss
man endlich ein Ende bereiten.
({2})
Doch leider kommt von den für diese Flüchtlingspolitik Verantwortlichen, Herr Bosbach, außer Betroffenheitsfloskeln überhaupt nichts. Es heißt einfach: Weiter
so! An diesem Montag zum Beispiel sind 24 Flüchtlinge
im Bosporus ertrunken; sie wollten über das Schwarze
Meer, um nach Rumänien, also nach Europa, zu gelangen. Das ist das Ergebnis der Politik der Abschottung an
den EU-Außengrenzen. Das Massaker, von dem Frau
Nicolini sprach, fordert jeden Tag neue Opfer. Einzig
Italien hat noch im Oktober vorigen Jahres eine Aktion
unter dem Titel Mare Nostrum gestartet. Wir alle wissen,
dass Italien ein Asylsystem mit schweren Mängeln hat.
Aber für diese Rettungsaktion verdient das Land Anerkennung.
({3})
Italien hat die EU um Unterstützung gebeten.
Deutschland und auch kein anderer EU-Staat waren aber
bereit, sich an den Kosten zu beteiligen, Herr Kollege
Bosbach. Diese Aktion kostet in der Tat monatlich
9 Millionen Euro; diese Kosten könnten aber auf viele
EU-Staaten verteilt werden.
Statt Mare Nostrum und Seenotrettung hat die EU am
Montag dieser Woche mit einem Einsatz zur Grenzüberwachung begonnen, den sie Triton nennt. Er bedeutet
noch mehr Abschottung, kostet aber nur 3 Millionen Euro im Monat. Man stellt sich hier doch ernsthaft
die Frage: Ist es billiger, die Menschen ertrinken zu lassen, als sie zu retten und sich auch für Rettungsaktionen
einzusetzen? Für solch einen Zynismus können wir nur
abgrundtiefe Verachtung empfinden.
({4})
Der Bundesinnenminister hat vor einigen Wochen mit
anderen Kollegen aus EU-Staaten einen Brief an das
EU-Innenkommissariat gesandt. Was steht in dem Brief?
Ehrlich gesagt, nur die alte Leier: dichtere Überwachung
der EU-Außengrenzen, engere Zusammenarbeit mit
Transitstaaten, um Flüchtlinge schon in Afrika aufzuhalten, verstärkte Bekämpfung von Schleuserbanden, aber
kein Wort zur Rettung von Flüchtlingen. Auch der
Innenminister hat meiner Meinung nach aus den Tragödien, die wir im vergangenen Jahr im Mittelmeer erlebt
haben, überhaupt nichts gelernt.
Stattdessen pflegt er eine absolut unangemessene
bürokratische Kleinkariertheit, wenn er etwa darüber doziert, im Rahmen von Frontex dürfe nur Grenzüberwachung durchgeführt werden und Frontex habe für Seenotrettung - ich zitiere ihn - „weder das Mandat noch
die erforderlichen Ressourcen“. Ich sage Ihnen: Für die
Rettung aus Seenot braucht man kein Mandat. Im Gegenteil: Das ist eine Pflicht. Wer sich dieser Pflicht bewusst verweigert, macht sich an weiteren Massakern
mitschuldig. Ich gebe Herrn Bosbach recht, dass hier etwas passieren muss und nicht nur geredet werden darf.
({5})
Noch etwas. Wenn Frontex nicht dafür geschaffen ist,
Flüchtlinge zu retten, dann, so sagt die Linke, muss
Frontex eben abgeschafft und durch ein effektives Seenotrettungssystem ersetzt werden.
Was die Bekämpfung von Schleusern angeht, will ich
die Frage aufwerfen: Haben Sie sich eigentlich schon
einmal überlegt, dass es Schleuser nur deswegen gibt,
weil sich die EU weigert, dafür zu sorgen, dass Flüchtlinge auf legalem Wege nach Europa kommen können?
Es ist doch die EU selbst, die die Flüchtlinge damit regelrecht in die Hände von Schleusern treibt. Die richtige
Antwort, die wir in unserem Antrag beschreiben, lautet
deswegen nicht: „Noch mehr Repression und noch mehr
Abschottung“, sondern: Menschen in Not muss, ohne
dass sie sich in Lebensgefahr begeben müssen, ermöglicht werden, in Europa Asyl zu beantragen. Das könnte
ganz einfach durch eine Liberalisierung der Visapolitik
geschehen.
({6})
Statt mit Staaten wie Libyen zu kooperieren, wo
Flüchtlinge eingesperrt sind - übrigens zurzeit 100 000 oder einfach in der Wüste ausgesetzt werden, gilt es,
Kapazitäten für Aufnahmeprogramme zu schaffen, die in
akuten Lagen wie etwa jetzt in der Syrien-Krise auch
kurzfristig greifen. Es ist doch ein Trauerspiel - ich sage
ja nicht, dass wir nichts tun -, dass es Monate und Jahre
dauert, bis wir in Deutschland ein paar Tausend Flüchtlinge aus Syrien aufnehmen, nur weil wir dabei eine unglaubliche Bürokratie an den Tag legen.
Meine Damen und Herren, es muss endlich das unwürdige Dublin-System abgeschafft werden, mit dem
Schutzsuchende gezwungen werden, in dem Land Asyl
zu beantragen, das sie zuerst betreten haben. Für die
Flüchtlinge bedeutet es eine inhumane und zudem völlig
nutzlose Schikane, wenn sie in Deutschland noch vor der
Prüfung ihres Asylantrages festgenommen und zum Beispiel nach Italien abgeschoben werden.
Übrigens hat erst gestern der Europäische Gerichtshof
für Menschenrechte wieder festgestellt, was vielen
Flüchtlingen in Italien blüht - das ist vielen immer noch
nicht klar -: Entweder sie bleiben ganz ohne Unterkunft,
oder sie werden in überfüllte Lager mit - so das Gericht - gesundheitsgefährdenden und gewalttätigen
Zuständen gesteckt. - Es ist wesentlich humaner - es
spricht überhaupt nichts dagegen -, sie dorthin gehen zu
lassen, wo sie Verwandte haben, wo sie die Sprache beherrschen, wo sie besser integrierbar sind. Innerhalb der
EU könnte das auch mit einem Finanzausgleich geregelt
werden.
Meine Damen und Herren, zum Schluss kann ich nur
an das Haus appellieren: Die europäische Flüchtlingspolitik tötet. Deswegen ist es an der Zeit, sie radikal zu
ändern. Mit noch mehr Abschottung wird nur noch mehr
Tod und Leid provoziert. Ein Weiter-so in der europäischen Flüchtlingspolitik darf es einfach nicht geben.
Deswegen werden wir noch weitere Anträge einbringen,
zumal Sie diesen Antrag heute ablehnen werden. Es
muss endlich etwas passieren, damit Menschen nicht
mehr ums Leben kommen.
Danke schön.
({7})
Als nächster Rednerin erteile ich der Abgeordneten
Christina Kampmann, SPD-Fraktion, das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am
17. Januar dieses Jahres habe ich meine erste Rede im
Deutschen Bundestag zu genau diesem Antrag und zu
genau diesem Thema gehalten. Seitdem ist rund ein
Dreivierteljahr vergangen. Insofern ist es jetzt an der
Zeit, die Frage zu stellen, was seitdem eigentlich passiert
ist.
Den Bürgerkrieg in Syrien gab es damals schon, und
er hat nichts von seiner Brutalität und Grausamkeit
verloren. Der Konflikt in Syrien ist aber nur einer von
vielen, der in diesem Jahr täglich Menschenleben kostet.
Seit einiger Zeit erschüttern uns auch die Gräueltaten
einer Terrorgruppe namens „Islamischer Staat“, die mit
einer Gewalttätigkeit und Grausamkeit agiert und überall
dort, wo sie auftaucht, solch unfassbares Leid hinterlässt, dass die Nachvollziehbarkeit derartigen Handelns
längst an ihre Grenzen gestoßen ist.
Das sind aber nur zwei Konflikte zusätzlich zu denen,
die tagtäglich stattfinden, weil Menschen Hunger leiden,
weil Menschen aus ihren Dörfern vertrieben werden
oder schlichtweg keine Perspektive mehr für sich und
ihre Familie sehen. Dies sind Gründe genug, um sich
heute die Frage zu stellen: Was ist seitdem eigentlich
passiert? Was haben wir getan, um unseren Worten vom
17. Januar Taten folgen zu lassen?
Da sei zunächst die finanzielle Unterstützung von
rund 520 Millionen Euro genannt, die wir Syrien haben
zukommen lassen und die vor allem der humanitären
Hilfe dient. Aber auch das THW leistet vor Ort und in
den Flüchtlingslagern in Jordanien und im Nordirak vor
allem durch die Bereitstellung der Wasserversorgung jeden Tag eine immens wichtige Hilfe.
Im Juni haben wir uns auf ein weiteres Aufnahmeprogramm geeinigt, sodass wir insgesamt 20 000 syrische Bürgerkriegsflüchtlinge aufnehmen werden. Bei
der Syrien-Flüchtlingskonferenz in der vergangenen
Woche hat Außenminister Frank-Walter Steinmeier
deutlich gemacht, dass wir uns über die humanitäre Versorgung der Flüchtlinge hinaus auch um die Stabilität
der Aufnahmeländer kümmern müssen, die schon jetzt
an ihre Grenzen gekommen sind.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, angesichts der
Tatsache, dass sich weltweit über 50 Millionen Menschen auf der Flucht befinden, ist das vielleicht nicht
viel. Angesichts dessen, was andere europäische Länder,
insbesondere wenn es um die Aufnahme syrischer
Flüchtlinge geht, beigetragen haben, ist das aber eine
ganze Menge. Wir können uns gewiss nicht darauf ausruhen, wir können es aber als Basis für unser weiteres
Handeln nehmen.
({0})
Aber blicken wir auf die europäische Ebene. Da
macht in diesen Tagen ein Einsatz namens Triton von
sich reden. Wir müssen uns die Frage stellen: Hilft
Triton weiter, wenn es darum geht, das in dem Antrag
formulierte Ziel der Rettung von in Seenot geratenen
Menschen zu erreichen? Die Zweifel, die daran aufkommen, sind berechtigt.
({1})
Das italienische Programm Mare Nostrum durch ein
europäisches zu ersetzen, ist zunächst einmal richtig.
Wir haben uns dazu entschlossen, gemeinsame Außengrenzen zu haben; deshalb ist es auch unsere gemeinsame europäische Aufgabe, für das, was an diesen Grenzen passiert, Verantwortung zu übernehmen.
({2})
Verantwortung bedeutet nicht nur, aber auch, diese
Grenzen zu schützen. Deshalb lehnen wir die im Antrag
der Linken formulierte Forderung nach der Auflösung
von Frontex entschieden ab.
({3})
Verantwortung bedeutet aber vor allem, die Menschen, die ihre letzte Hoffnung darin sehen, sich unter
Gefährdung ihres eigenen Lebens und oft auch des Lebens ihrer Kinder auf einem überfüllten Boot auf den
Weg nach Europa zu machen, zu retten, wenn sie in Seenot geraten sind. Darüber sollten wir nicht diskutieren;
denn das ist unsere elementarste menschliche Pflicht,
liebe Kolleginnen und Kollegen.
({4})
Herr Bosbach, es ist gut, wenn wir uns in diesem Ziel
einig sind; aber Rettung fällt eben nicht vom Himmel dafür muss auch die entsprechende Infrastruktur bereitgestellt werden,
({5})
und es hilft nicht, da auf Europa zu zeigen; denn wir sind
ein Teil von Europa. Wir müssen uns gemeinsam dafür
starkmachen, dass wir genau dieses Ziel erreichen.
({6})
Wir fordern deshalb: Triton muss mindestens genauso
gut ausgestattet sein wie Mare Nostrum; das bezieht sich
sowohl auf den Umfang des Mandats als auch auf die finanzielle Ausstattung. Alles andere ist eine Farce, die in
keiner Weise nachvollziehbar ist und die für uns auch
nicht akzeptabel ist, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({7})
Wenn wir es wirklich ernst meinen mit der Rettung
von in Seenot geratenen Menschen, wenn wir ein weiteres Unglück, wie es sich vor Lampedusa ereignet hat,
verhindern wollen, dann brauchen wir für Frontex ein
eindeutiges Mandat, das über den Grenzschutz hinausgeht und sich in aller Deutlichkeit auch zur Seenotrettung bekennt. Dann brauchen wir auch eine bessere
finanzielle Ausstattung als die rund 3 Millionen Euro,
die derzeit vorgesehen sind. Wenn wir es wirklich ernst
meinen mit den europäischen Werten, die wir jeden Tag
aufs Neue verteidigen, dann müssen wir hier noch eine
Schippe drauflegen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({8})
Europäische Flüchtlingspolitik darf sich aber nicht
nur auf die beschränken, die über das Mittelmeer auf
dem Weg zu uns sind. Wenn Europa es ernst meint mit
Werten wie Solidarität, Gerechtigkeit und Menschlichkeit, dann müssen wir auch über eine Reform des
Dublin-Systems reden. Dublin III funktioniert nämlich
so, wie es derzeit ausgestaltet ist, nicht.
({9})
Es ist zum einen unsolidarisch, weil die Länder, die an
den Außengrenzen sind, stärker belastet werden als andere; das ist ein eindeutiger Fakt, der sich nicht wegdiskutieren lässt.
({10})
Es ist zum anderen ungerecht gegenüber den Flüchtlingen; denn wenn Länder wie Griechenland und Italien
stärker belastet werden als andere, dann ist es für diese
natürlich auch schwieriger, angemessene Unterkünfte,
Nahrungsmittel, medizinische Versorgung und alles, was
man für ein einigermaßen menschenwürdiges Existenzminimum braucht, zur Verfügung zu stellen. Deshalb
muss Dublin III besser heute als morgen reformiert werden.
({11})
Der Linken sage ich mit Blick auf Alternativen: Das
von Ihnen vorgeschlagene Free-Choice-Verfahren, wonach sich jeder das Aufnahmeland selbst aussuchen
kann,
({12})
stellt nur vordergründig eine wirklich gute Alternative
dar; denn das - dessen bin ich mir sicher - würde in einem Wettbewerb um die niedrigsten Standards enden.
Das kann nicht in Ihrem Sinne sein und ist auch nicht im
Sinne der Flüchtlinge.
({13})
Unser Vorschlag dazu ist ein Quotensystem, das sich
an Kriterien wie zum Beispiel Wirtschaftswachstum, Bevölkerungszahl und Arbeitslosigkeit orientieren könnte
und damit zu einer gesamteuropäischen Lösung beiträgt,
die solidarisch und gerecht gegenüber den Flüchtlingen
ist, weil sie - da bin ich mir sicher - zu besseren Standards in den Aufnahmelagern und während des Asylverfahrens führen wird, auch dann, wenn es darum geht,
dass diese Menschen am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Das ist aus unserer Sicht die beste Alternative. Für diese werden wir uns weiterhin starkmachen.
({14})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, tote Menschen vor
den Küsten Europas sind längst zur Alltäglichkeit geChristina Kampmann
worden. Mehr als 3 000 Menschen sind seit Anfang dieses Jahres im Mittelmeer ertrunken. Ich wünsche mir,
dass wir uns jeden einzelnen Tag vor Augen führen, wie
beschämend allein diese Tatsache ist. Ich wünsche mir,
dass wir uns jeden Tag die Frage stellen: Was treibt einen Menschen an, sein Zuhause zu verlassen, mehr Geld
zu zahlen, als er sich eigentlich jemals hätte leisten können, seine Familie zurückzulassen oder auf einen Weg
mitzunehmen, dessen Ziel er nicht kennt und von dem er
noch nicht einmal weiß, ob er es jemals erreichen wird,
und das alles in dem Wissen, dass dieser Weg vielleicht
das eigene Leben und auch das Leben der eigenen Kinder kosten könnte? Ich frage Sie ehrlich: Könnte irgendjemand von Ihnen sich das vorstellen? Kann sich irgendjemand vorstellen, wie verzweifelt ein Mensch sein
muss, um diesen Weg dennoch zu gehen? Ich sage ehrlich: Ich kann es mir nicht vorstellen.
Gerade weil dieser Schritt alles übersteigt, was ich
mir vorstellen kann, sage ich: Egal, worüber wir in Europa diskutieren, egal, welche Pläne die neue Kommission hat: Die menschliche Tragödie, die sich täglich an
den Küsten Europas abspielt, muss ihre Grenze in dem
finden, was unser Dasein als Menschen ausmacht: in
Mitmenschlichkeit, in Achtung voreinander und in einem Minimum an Respekt vor dem Leben jedes einzelnen Menschen.
Danke schön.
({15})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Luise Amtsberg, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Verehrter Kollege Bosbach, ich muss zwei Punkte in Ihrer Rede klarstellen. Der eine Punkt ist, dass der vorliegende Antrag nur von der Linken und nicht von uns Grünen ist, wie Sie gesagt haben. Der andere Punkt ist, dass
wir mitnichten irgendjemandem in den Kommunen unterstellt haben, rassistisch zu sein, nur weil er deutlich
macht, dass die derzeitige Situation in den Kommunen
schlichtweg nur noch mit „Überforderung“ zu beschreiben ist.
Deshalb haben wir als Grünenfraktion gesagt: Wir
wollen einen nationalen Asylgipfel, bei dem die Interessen des Bundes, der Länder und der Kommunen harmonisiert werden. Es ist die Aufgabe der Bundesregierung,
diesen Gipfel vorzubereiten. Es muss auch um eine stärkere finanzielle Beteiligung des Bundes und eine Entlastung der Kommunen gehen. All diese Punkte haben wir
angeführt. Auch heute Nachmittag bei der Debatte um
das Thema Unterbringung von Flüchtlingen gehen wir
auf die Kommunen zu und sagen: Ja, in bestimmten
Ausnahmefällen muss es möglich sein, Flüchtlinge in einem Gewerbegebiet unterzubringen, wenn gewisse Standards erfüllt werden. Da können Sie uns nicht vorwerfen, dass wir uns der Debatte verweigern.
({0})
Wir nehmen die Sorgen vor Ort ernst. Aber heute geht
es um die europäische Flüchtlingspolitik. „Wir können
nicht zulassen, dass das Mittelmeer ein Meer des Todes
ist.“ Das war die Antwort des italienischen Ministerpräsidenten Letta auf die Tragödie, die Katastrophe von
Lampedusa. Noch im selben Monat startete Italien die
Militäroperation Mare Nostrum. Verehrte Kolleginnen
und Kollegen, ich muss einräumen, dass wir von den
Grünen zu Beginn dieser Operation sehr skeptisch waren. Wir haben nicht daran geglaubt, und es war für uns
schlichtweg unvorstellbar, dass die italienische Marine
tatsächlich ein Programm auf den Weg bringt, das ausschließlich auf die Rettung von Menschenleben abzielt.
Ich muss sagen: Ich habe mich damals getäuscht. Mare
Nostrum hätte von Anfang an ein europäisches Programm sein müssen. Es hätte unsere gemeinsame Antwort auf das Sterben im Mittelmeer sein müssen.
({1})
Es wurde schon gesagt: In wenigen Wochen wird das
Programm Mare Nostrum eingestellt, weil es die europäischen Staaten nicht über das Herz brachten, dieses
Programm zu finanzieren. Im Gegenteil: Auch auf Betreiben der Bundesregierung haben sich die Staaten dafür eingesetzt, dass Mare Nostrum eingestellt wird. Dafür hat die EU - auch das wurde schon erwähnt - die
Frontex-Mission „Triton“ ins Leben gerufen, die vor wenigen Tagen anlief und Mare Nostrum zwar zeitlich ablöst, aber ganz bestimmt nicht in dem Ziel, Menschenleben im Mittelmeer zu retten. Das geht auch gar nicht;
denn Triton steht nur ein Drittel der finanziellen Ressourcen zur Verfügung. Im Gegensatz zur italienischen
Marine, die auch auf hoher See gerettet hat, überwacht
Triton lediglich einen Küstenstreifen. Damit ist die Rettung von Flüchtlingen auf hoher See leider nicht gewährleistet. Deshalb frage ich mich ernsthaft: Wer soll diese
Aufgabe in Zukunft übernehmen?
Italien hat dieses Jahr 112 Millionen Euro in die
Flüchtlingsrettung investiert, und das Einzige, was uns
dazu einfällt, ist, nackte Zahlen gegeneinanderzustellen
und uns dafür zu feiern, dass wir mehr Flüchtlinge aufnehmen als Italien oder Portugal. Wir sind die viertstärkste Wirtschaftsnation in der Welt. Wir haben mit
dem Fachkräftemangel und dem demografischen Wandel, der ganze Gegenden aussterben lässt, zu kämpfen.
Aber bei der Flüchtlingsaufnahme machen wir eine zahlenmäßige Spitz-auf-Knopf-Abrechnung mit Ländern
wie Bulgarien und Portugal. Ich finde nicht, dass uns das
gut steht.
({2})
Inhaltlich ist festzustellen: Wir haben zu Triton nachgefragt und sind erst einmal davon ausgegangen, dass
diese Mission tatsächlich ein Ersatz für Mare Nostrum
ist. Uns wurde aber relativ schnell klar, dass dies kein
Ersatz dafür ist. Das Kuriose ist, dass die Bundesregierung der Frontex-Mission Triton zugestimmt hat und im
Nachgang dazu in den Ausschüssen, aber auch im Plenum nicht in der Lage war, unsere Fragen dazu zu beantworten: Welche konkreten Aufgaben wird Triton haben?
Wie hoch ist die finanzielle Beteiligung der Bundesrepublik? Wie gedenkt man, die Mission menschenrechtskonform zu gestalten, wenn jetzt schon klar ist, dass eine
ihrer Aufgaben sein wird, Flüchtlingen bereits an Bord
Fingerabdrücke abzunehmen, und zwar im Zweifel auch
gegen ihren Willen?
Alles, was Sie auf diese vielen Fragen entgegnen können, ist die zynische Rationalisierung des eigenen Versagens, Menschenleben zu retten. Das wird aus den Reihen
der Union ganz deutlich. So wollen Sie die Abschaffung
von Mare Nostrum, weil es angeblich Wasser auf die
Mühlen der Schleuser ist. Was Schleusern aber tatsächlich zugutekommt, sind abgeschottete Land- und Seegrenzen.
({3})
Das ist auch absolut klar. Denn je schwieriger es für
Menschen wird, an den Zäunen vorbei über das Mittelmeer zu gelangen, desto lukrativer wird das Geschäft für
diejenigen, die es betreiben, und desto gefährlicher und
teurer wird es für die, die es in Anspruch nehmen müssen. Ich sage bewusst „müssen“, weil es kaum Möglichkeiten gibt, legal in die Europäische Union einzureisen,
um hier Schutz zu beantragen.
Man kann es noch plastischer machen. Unser Innenminister hat seine Amtskollegen überzeugt, Libyen beim
Aufbau eines Grenzsystems zu unterstützen - welche
Staatlichkeit gibt es dort eigentlich? -, obwohl man
weiß, dass die libyschen Grenzbeamten schon seit langem mit Schleusern zusammenarbeiten. Aber Mare Nostrum soll Wasser auf die Mühlen von Schleusern sein?
Das ist eine Verdrehung von Tatsachen.
({4})
Denken Sie bitte an die Redezeit, Frau Kollegin. Sie
haben sie schon überschritten.
Ich komme zum Schluss. - Lassen Sie mich noch
zwei Punkte ansprechen. Sie haben immer betont, dass
man Menschen vor Ort helfen und die Situation in den
Heimatländern verändern muss. Auch das ist richtig,
aber dann frage ich mich, warum die humanitäre Hilfe so
drastisch gekürzt wird,
({0})
dass das Welternährungsprogramm seine Programme in
Syrien um 40 Prozent kürzen muss. Das fehlt den Menschen vor Ort.
Ich sage abschließend noch etwas zu unserem Abstimmungsverhalten. Auch wir haben nicht auf alles eine
Antwort. Aber wir wollen konstruktiv an Lösungen arbeiten, Herr Bosbach, auch in der Frage legaler Einreisemöglichkeiten und einer anderen Verteilung innerhalb
Europas.
Wir haben Vorschläge gemacht. Unser Wunsch ist es,
darüber zu einem Austausch zu kommen. Wir sind nicht
mit der Linken einer Meinung, wenn sie einfach fordert,
Frontex bzw. den Grenzschutz abzuschaffen, weil das
eine unrealistische Forderung ist. Aber man kann Grenzschutz auch menschenrechtskonform gestalten, und das
muss unsere Aufgabe sein. Bitte lasst uns uns in die
Mitte bewegen und endlich daran arbeiten.
({1})
Als Nächster erteile ich das Wort der Abgeordneten
Nina Warken, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Antrag der
Linken, um den es in der heutigen Debatte geht, blendet
sämtliche Fortschritte der europäischen Asylpolitik aus,
die in jüngster Vergangenheit erzielt wurden. Dazu zählen die Schaffung von gemeinsamen Standards für eine
menschenwürdige Aufnahme und Unterbringung von
Asylbewerbern in Europa sowie Maßnahmen zur Beseitigung von Fluchtursachen und zur Bekämpfung von
Schleuserkriminalität.
Gefordert werden von den Linken stattdessen die
Auflösung der Grenzschutzagentur Frontex, die Einführung eines sogenannten humanitären Visums, sodass
Asylbewerber ihr Aufnahmeland frei wählen können,
sowie ein Freizügigkeitsrecht für alle Asylberechtigten
innerhalb der EU. Die Annahme dieser Forderungen
würde nicht nur die Fortschritte der europäischen Asylpolitik zunichtemachen, sondern sie wäre auch keine Lösung für die Situation im Mittelmeer und damit ein völlig falsches Signal.
({0})
Die Auflösung der europäischen Grenzschutzagentur
Frontex würde das Ende jeglicher Grenz- und Migrationskontrolle bedeuten, was im Hinblick auf illegale Einreisen, Menschenhandel und Drogenkriminalität schlichtweg eine Katastrophe wäre, ganz zu schweigen von den
zurückkehrenden Dschihadisten.
Mit der Einführung eines sogenannten humanitären
Visums könnte jeder, der auch nur vorgibt, schutzbedürftig zu sein, problemlos in die EU einreisen. Die Folge
für uns in Deutschland wäre eine Vielzahl von Personen,
denen unter keinem Gesichtspunkt ein Aufenthaltsrecht
in der EU zusteht. Auch sie landen letztlich in unserem
Asylsystem, wo sie die Kapazitäten in Anspruch nehmen, die eigentlich für Menschen gedacht sind, die in ihrer Heimat systematisch verfolgt werden und die tatsächlich jeden Tag um ihr Überleben bangen müssen. Auch
die Bundeskanzlerin hat in diesem Zusammenhang am
vergangenen Wochenende betont, es sei weniger christNina Warken
lich, „wenn wir zu viele aufnehmen und dann keinen
Platz mehr finden für die, die wirklich verfolgt sind“.
({1})
Eine Auflösung von Frontex und die Einführung eines sogenannten humanitären Visums würden das schon
heute vorhandene Problem des Asylmissbrauchs noch
verstärken. Leittragende wären dann in erster Linie die
tatsächlich Schutzbedürftigen.
Hinzu kommt die Situation in unseren Kommunen. Es
ist leicht, die Aufnahme von mehr und mehr Menschen
zu fordern, wenn man sich keinerlei Gedanken darüber
macht, wie die Konsequenzen vor Ort aussehen. Die Berichte aus unseren Landkreisen, Städten und Gemeinden
sind schon jetzt alarmierend und häufen sich. Bei den
Kapazitäten zur Aufnahme von Flüchtlingen stehen viele
Landkreise schon heute - ich zitiere mehrere Landräte „mit dem Rücken zur Wand“. Daher dürfen wir die Folgen, die eine Annahme des Antrags der Linken hätte, unseren ohnehin mit der Unterbringung und Versorgung
überforderten Kommunen nicht zumuten.
Noch, meine Damen und Herren, noch herrscht bei
uns in der Bevölkerung weitestgehend Solidarität mit
den Flüchtlingen, die zu uns kommen. Das ist gut so;
denn das ist wichtig. Auch ohne den Antrag der Linken
müssen wir leider davon ausgehen, dass der Flüchtlingsstrom durch die vielen gewaltsamen Konflikte weltweit
nicht so schnell abreißen wird. Wenn wir aber diese Solidarität nicht gefährden wollen, dann muss die Politik berechenbar und verlässlich bleiben. Dazu gehört auch,
dass wir gewährleisten, dass bei abgelehnten Asylbewerbern der Aufenthalt zügig beendet wird.
Der Antrag der Linken verfehlt das eigentliche Ziel
einer solidarischen und humanen Flüchtlingspolitik vollkommen. Es kann uns doch nicht darum gehen, so viele
Flüchtlinge wie möglich nach Europa zu holen. Stattdessen sollten wir uns darum bemühen, dass wir durch eine
verstärkte Zusammenarbeit mit den Herkunfts- und
Transitstaaten die Fluchtursachen durch die Verbesserung der Bedingungen vor Ort beseitigen.
({2})
Beschlossene Maßnahmen wie die zusätzlichen Hilfsmittel von rund 640 Millionen Euro für die Anrainerstaaten Syriens, in denen viele Flüchtlinge Schutz gefunden
haben, sind hier der richtige Weg. Nur so packen wir im
Endeffekt das Problem bei der Wurzel.
Die ganze Absurdität sieht man schon daran, dass in
dem vorliegenden Antrag von „humanitär handelnden
Fluchthelfern“ gesprochen wird. Das ist in meinen Augen geradezu zynisch.
({3})
Denn die Schleuser handeln keineswegs aus humanitären Gründen, sondern aus reiner Profitgier.
({4})
Wer das nicht sieht oder nicht sehen will, kann in der
Asylpolitik nicht ernst genommen werden.
({5})
Die Linke spricht weiter von eklatanten Mängeln im
gemeinsamen europäischen Asylsystem, fordert die Abschaffung des Dublin-Systems und stattdessen für jeden
Asylbewerber die freie Wahl des Aufnahmestaates und
ein Freizügigkeitsrecht innerhalb der EU.
({6})
Auch diese Forderungen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, gehen völlig an der Realität vorbei;
denn das Problem sind nicht - damit möchte ich zum
Ende kommen - die bestehenden gemeinsamen Regelungen und Standards, sondern deren Umsetzung durch
alle Mitgliedstaaten. Es kann doch nicht sein, dass von
28 EU-Mitgliedstaaten nur 10 überhaupt Asylbewerber
aufnehmen. Hierunter sind es gerade die nördlichen Mitgliedstaaten - allen voran Deutschland -, wohin die
Asylsuchenden gezielt weiterreisen.
Die freie Wahl des Aufnahmelandes und die Freizügigkeit innerhalb der EU würden diesen Effekt der einseitigen Belastung einzelner Länder verstärken. Die
Folge wäre, dass in einem solchen Fall die Hauptaufnahmeländer die Standards ihrer Asylsysteme deutlich reduzieren werden, um weniger Asylbewerber aufnehmen zu
müssen. Es würde hier zu einem fatalen Abwärtswettlauf
kommen. Dies wäre weder im Sinne einer gemeinsamen
europäischen Asylpolitik noch im Sinne der Betroffenen.
Für ein gerechtes Asylsystem brauchen wir wirksame
Grenzkontrollen, um die tatsächlich Schutzbedürftigen
zu identifizieren und gleichzeitig zügig diejenigen in
ihre Herkunftsländer zurückzuführen, denen kein Aufenthaltsrecht in Europa zusteht.
Lassen Sie uns deshalb diesen Antrag, der in die völlig falsche Richtung geht, mit breiter Mehrheit ablehnen
und damit dem Bundesinnenminister bei seiner Initiative
auf europäischer Ebene für eine bessere Kontrolle der
EU-Außengrenzen, für die Einhaltung der vereinbarten
Regeln des gemeinsamen Asylsystems, für die Bekämpfung von Schleuserkriminalität und Menschenhandel sowie für eine bessere Verzahnung der europäischen Außen-, Flüchtlings- und Entwicklungspolitik gegenüber
den Herkunfts- und Transitländern den Rücken stärken.
Vielen Dank.
({7})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Tom Koenigs, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Bosbach - er ist jetzt schon nicht mehr da hat vorhin gesagt
({0})
- na wunderbar -: Die Tragödie im Mittelmeer muss
aufhören; das ist hier Konsens. - Das müsste auch Konsens sein, ist es aber nicht. Sie reden so - auch Frau
Kampmann hat so geredet -, als wären Sie nicht in der
Regierung. Die Italiener haben mit der Aktion Mare
Nostrum etwas gegen das Sterben im Mittelmeer unternommen. Sie haben gesagt, dass sie europäische Hilfe
brauchen; aber diese europäische Hilfe haben sie nicht
bekommen. Jetzt sagt Herr Bosbach: Europa muss sich
kümmern. - Ja, die Mitgliedstaaten müssen sich kümmern und sich auf europäischer Ebene dafür einsetzen.
({1})
Wo war denn die deutsche Initiative, um die Dublin-Regeln abzuschaffen oder zu verbessern, Frau Kampmann?
Das lag offenbar nicht im Interesse der deutschen Vertretung, und da wird dann nichts gemacht. Genau das ist
das Problem.
Und dann wird Frontex Plus erfunden. Als Ersatz für
Mare Nostrum. Frontex ist in der Tat ein bürokratisches
Monster. Dagegen tun Sie nichts. Das ist ein technisches,
bürokratisches, militärisches Verfahren, das gleichzeitig
die Flüchtlinge abschrecken und retten soll. Das geht
nicht, und das wissen Sie.
({2})
Am vergangenen Montag hat es der Generaldirektor
der Internationalen Organisation für Migration, IOM,
wieder gesagt: Keine Grenzschutzmission wird die
Flüchtlinge dieser humanitären Katastrophen in der Welt
aufhalten. Angesichts solcher Notlagen wie in Syrien,
wie in Somalia, wie in Eritrea und wie im Irak wird es
keinen geben, der diese Flüchtlinge aufhält. Es ist eine
Illusion, zu glauben, irgendjemanden abschrecken zu
wollen oder zu können.
Deshalb stimmt es einfach nicht, dass Dublin II alternativlos ist. Kein bisschen! Meine Damen und Herren
von der CDU/CSU, aber auch von der SPD, Sie sollten
nicht glauben, dass das, was wir da machen, nur auf die
Flüchtlinge wirkt. Das wirkt auch auf uns, das wirkt
auch auf die Bürgerinnen und Bürger der EU. Wo bleiben wir denn mit unserem Glauben an die europäischen
Werte, mit unserem Glauben an die Menschenrechte?
Triton ist nicht billig, Triton ist sehr teuer und kostet
mehr als Geld. Wir können uns doch ein Beispiel an den
Nachbarländern der Krisenherde nehmen. Die haben die
Grenzen nicht zugemacht. Libanon hat die Grenzen
nicht zugemacht, auch Irak macht die Grenzen nicht zu,
Jordanien macht die Grenzen nicht zu. Auch in der
schlimmsten Zeit haben Tunesien und Ägypten die
Grenzen nicht zugemacht, obwohl dort ganz andere Zahlen von Flüchtlingen zu verzeichnen waren und obwohl
diese Länder unter ganz anderen Verhältnissen Flüchtlinge aufnehmen müssen. Daran sollten wir uns ein Beispiel nehmen.
({3})
Abschließend: Wenn wir schon so kleinmütig sind,
dass wir keinen Konsens finden, wie wir das Sterben im
Mittelmeer beenden, wenn wir uns schon nicht trauen,
irgendetwas an dem heiligen, alternativlosen Unwort des
Jahres „Dublin-System“ zu ändern, dann sollten wir wenigstens die Nachbarstaaten der Krisenherde, die anders
herangehen, großzügig durch humanitäre Hilfe unterstützen und nicht die entsprechenden Haushaltstitel kürzen bzw. schmälern.
({4})
Hier ist eine Führungsrolle angesagt. Wenn wir eine
solche einnehmen wollen, wie es der Bundespräsident,
die Verteidigungsministerin und der Außenminister immer wieder sagen, dann sage ich: Bei den Flüchtlingen
könnten wir anfangen.
Vielen Dank.
({5})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Dr. Karamba Diaby, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ja, wir brauchen eine europäische Antwort; denn die Außengrenzen Europas liegen in europäischer Verantwortung. Als Menschenrechtspolitiker sage ich: Es besteht
Handlungsbedarf. Daher freue ich mich, dass wir heute
über europäische Flüchtlingspolitik diskutieren.
Werte Kolleginnen und Kollegen der Linken, Ihr Antrag enthält mehrere Vorschläge, die zur Verbesserung
der europäischen Flüchtlingspolitik beitragen können.
Die Gemeinsamkeiten hat heute meine Kollegin der SPD
Christina Kampmann und haben in der ersten Lesung
mein SPD-Kollege Rüdiger Veit und meine SPD-Kollegin Sabine Bätzing-Lichtenthäler deutlich gemacht. Bezüglich der Probleme und des Handlungsbedarfs besteht
ohne Zweifel über alle Fraktionen hinweg Einigkeit. Das
Ziel einer solidarischen und humanen Flüchtlingspolitik
teilen wir alle hier im Hause.
Wir, die SPD-Fraktion, sind aber anderer Auffassung,
was die Lösung dieser Probleme angeht. Der Antrag der
Linken enthält neben einigen guten Ansätzen auch Vorschläge, die das Ziel verfehlen, wie beispielsweise die
Forderung zur Abschaffung von Frontex. Sie stehen alleine mit dieser Forderung.
({0})
Schließlich hat Frontex im Auftrag der EU eine wichtige
ordnungspolitische Funktion. Daher unterstützt meine
Fraktion Ihren Antrag nicht.
Lassen Sie mich nun zu den diskussionswürdigen Ansätzen kommen. Wir brauchen für in Europa Asylsuchende Möglichkeiten der legalen und sicheren Einreise,
damit sie nicht lebensgefährliche Wege gehen müssen.
Ja, wir brauchen neben der Möglichkeit, als Hochqualifizierte nach Deutschland zu kommen, auch andere legale
Wege. Ob wir dafür nun ein humanitäres Visum, wie die
Grünen es vorschlagen, brauchen oder ob wir andere
Wege gehen müssen, ist noch offen.
({1})
Die Richtung stimmt aber. Im Gespräch zwischen dem
Bundesinnenminister und dem Generaldirektor der Internationalen Organisation für Migration kam die Frage
auf, ob es möglich sei, ein Willkommenszentrum in
Nordafrika aufzubauen. Das ist keine neue Idee. Die
Vorschläge zeigen aber, werte Kolleginnen und Kollegen, dass wir gemeinsam ernsthaft und konstruktiv an
Möglichkeiten der legalen Einreise Asylsuchender arbeiten müssen.
Damit komme ich zum Aspekt der Verantwortungsteilung innerhalb der Europäischen Union. Das DublinSystem ist dringend reformbedürftig; darin sind wir uns
fast alle einig. Wir brauchen eine Flexibilisierung, um
die Verantwortung für die Flüchtlinge fair und solidarisch in der Europäischen Union zu teilen. Bislang trägt
Deutschland einen Löwenanteil, und das ist gut so. Auch
die anderen europäischen Länder müssen ihrer Verantwortung nachkommen.
Wir kennen die Vorschläge, wie eine solidarische Verantwortungsteilung in Europa aussehen könnte. Dabei
können ähnlich dem Königsteiner Schlüssel Quoten für
jedes Mitgliedsland berechnet werden. Die Einwohnerzahl, die Wirtschaftskraft, teilweise auch die Flächengröße und die Arbeitslosenquote werden einbezogen.
Dabei dürfen wir die Erfahrung der Länder mit Vielfalt
und Einwanderung nicht vergessen.
Neben angemessenen Quoten für die europäischen
Staaten dürfen wir die Wünsche der Flüchtlinge nicht
ignorieren. Aspekte wie Verwandtschaftsbeziehungen,
Sprachkompetenzen und Ähnliches erleichtern die Teilhabe und Integration vor Ort. Auch das sollte in diesem
Prozess berücksichtigt werden.
Wir brauchen natürlich auch vergleichbare Standards
in allen europäischen Ländern, was die Verfahren angeht
- das wurde von meinen Vorrednerinnen und Vorrednern
gesagt -, angefangen bei der Registrierung über die Verfahrensdauer bis hin zu den Schutzquoten. So wie es
jetzt ist, darf es nicht bleiben:
({2})
unterschiedliche Schutzquoten, je nachdem, wo der
Asylantrag gestellt werden kann, wohlgemerkt bei gleichen Herkunftsländern.
Wir dürfen in Europa keine Anreize für die Mitgliedstaaten schaffen, ihre Standards in der Asylpolitik zu
senken. Ansonsten wird der Druck auf die Länder steigen, die ein hohes Niveau an Schutzquoten und Sozialstandards bieten, und das ist nicht mein Verständnis von
einem solidarischen Europa.
({3})
Wir alle wissen: Nur ein Bruchteil der Rückführungen
von Flüchtlingen kann stattfinden; denn noch immer gibt
es Menschenrechtsverletzungen gegenüber Flüchtlingen
in den europäischen Grenzstaaten. Hier spreche ich vor
allem von Griechenland und Italien; das ist nicht neu.
Gerade erst hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte geurteilt, dass Flüchtlinge nur dann nach
Italien zurückgeschickt werden dürfen, wenn das Land
eine menschenrechtskonforme Unterbringung und Sozialleistungen gewährleistet.
({4})
Dieses Urteil wird weitreichende Konsequenzen haben:
für das italienische und das europäische Asylsystem.
Das Urteil legt den Finger in die Wunde.
Nächster Aspekt, meine Damen und Herren: Das
deutsche Resettlement-Programm für Flüchtlinge aus
dem syrischen Krisengebiet ist gut. Die Bundesländer
und der Bund haben in gemeinsamer Anstrengung mehr
als 20 000 Flüchtlinge zusätzlich zu den normalen Asylverfahren aufgenommen, und das ist gut so. Ralf Jäger,
Vorsitzender der Innenministerkonferenz, hat recht,
wenn er sagt:
Statt sich hinter Stacheldraht zu verschanzen, brauchen wir ein gesamteuropäisches Aufnahmeprogramm, das den Menschen schnell und wirksam
hilft.
Den Appell von dort möchte ich wiederholen:
Auch die anderen europäischen Länder sollten sich
stärker für syrische Bürgerkriegsflüchtlinge engagieren.
Der Bürgerkrieg in Syrien, meine Damen und Herren, ist
eine der größten humanitären Krisen unserer Zeit.
Syriens Nachbarstaaten bieten Flüchtlingen in bemerkenswerter Zahl Schutz und vorübergehend Heimat. Dafür brauchen sie unsere Unterstützung.
({5})
Daher ist es gut, dass wir bislang etwa 130 Millionen
Euro an humanitärer Hilfe leisten und perspektivisch
500 Millionen Euro insgesamt in den nächsten drei Jahren für die Region bereitstellen.
Abschließend, meine Damen und Herren, möchte ich
Danke sagen. Ich freue mich über die große Hilfsbereitschaft in Deutschland. Es gibt unzählige Ehrenamtliche,
die Verantwortung übernehmen und den traumatisierten
Flüchtlingen das Ankommen erleichtern. Ich möchte ihnen danken.
({6})
Das wäre an sich ein sehr schöner Schluss, Herr Kollege, zumal die Zeit schon weit überschritten ist.
Mein letzter Satz, Herr Präsident. - Wir in diesem
Hause können zwar politische Rahmenbedingungen setzen; das Miteinander lebt aber von der aktiven Bürgergesellschaft.
Danke schön.
({0})
Ab und zu ein Blick auf die Zeit, das wäre solidarisch
mit allen Anwesenden.
Ich rufe als nächste Rednerin die Kollegin Andrea
Lindholz, CDU/CSU-Fraktion, auf.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Das Grundanliegen des vorliegenden Antrags ist absolut richtig: Das Sterben im Mittelmeer muss beendet werden. Trotzdem lehne ich den
Antrag ab; denn er basiert auf einer falschen Problemanalyse, er ignoriert die tatsächlichen Fluchtursachen,
und er zieht kurzsichtige Schlussfolgerungen.
({0})
Ein Großteil der Flüchtlinge, die über das Mittelmeer
nach Europa strömen, stammt aus Syrien und Eritrea.
Aus diesen Ländern stammt ein Drittel der Asylanträge
in Deutschland. Die Menschen fliehen vor Krieg, vor
dem IS-Terror, vor Diktatoren wie Assad in Syrien und
Afewerki in Eritrea. Diese zentralen Fluchtursachen erwähnt der Antrag aber mit keinem Wort. Stattdessen
werden der Freihandel, die EU und vor allen Dingen die
Bundesregierung als Problem hingestellt. Diese Problemanalyse des Antrags kann nur zu falschen Schlussfolgerungen führen.
({1})
In diesem Jahr werden voraussichtlich über
200 000 Asylanträge in Deutschland gestellt. Die Schutzquote des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge beträgt derzeit fast 30 Prozent. Angesichts dieser Fakten
wirkt der Vorwurf einer Abschottungspolitik in Deutschland absurd. Allein 60 000 Flüchtlinge aus Syrien wurden bereits aufgenommen, Tendenz stark steigend.
Die Bundesregierung engagiert sich zudem massiv
mit Blick auf die Fluchtursachen vor Ort. Deutschland
hat allein in den letzten zwei Jahren 635 Millionen Euro
bereitgestellt, um die Flüchtlingskrise rund um Syrien
einzudämmen. Weitere 500 Millionen Euro wurden zugesagt.
Der UNO-Flüchtlingskommissar Guterres lobte
Deutschland kürzlich - ich zitiere ihn -:
Deutschland spielt eine führende Rolle beim
Flüchtlingsschutz und dient als positives Beispiel,
dem andere europäische Staaten folgen können.
({2})
Das sagen nicht wir, das sagt nicht die Bundesregierung.
Frau Kollegin, Kollege Liebich von der Fraktion Die
Linke möchte Ihnen eine Zwischenfrage stellen. Mögen
Sie sie zulassen, oder möchten Sie weitersprechen?
Bitte.
Herr Abgeordneter Liebich.
Vielen Dank. - Frau Kollegin, dass Sie uns nicht recht
geben, ist sehr bedauerlich.
({0})
Deswegen möchte ich auf eine Äußerung einer Ihrer
Kolleginnen verweisen. Ihre Kollegin Dagmar Wöhrl
hat kürzlich ein Flüchtlingslager in Nürnberg besucht.
Sie hat gesagt, sie schäme sich für die Politik der Bayerischen Staatsregierung, weil die Bayerische Staatsregierung nicht rechtzeitig verantwortungsbewusst gehandelt
habe.
Am Mittwoch war Bundesentwicklungsminister Gerd
Müller im Auswärtigen Ausschuss zu Gast. Auch er hat
gesagt, Deutschland müsse mehr tun. Er hat auf eine
Stadt in Jordanien verwiesen, die er kürzlich besucht hat,
die 60 000 Einwohner hat und 100 000 Flüchtlinge aufgenommen hat.
Wenn Sie also unsere Vorschläge nicht teilen, dann
möchte ich gerne wissen, was Sie auf diese Hinweise hin
tun möchten.
Sehr geehrter Herr Kollege, wenn ich Ihnen dazu antworten darf: Mit Blick darauf, was unsere bayerischen
Kommunen derzeit leisten - und als ehemalige stellvertretende Landrätin weiß ich das -, kann ich Ihnen nur
sagen: Bayern tut viel, und Bayern tut mehr als alle anderen Bundesländer.
({0})
Dieser massive Zustrom, der insbesondere auch dadurch bedingt ist, dass die Flüchtlinge von Italien ungehindert nach Bayern durchgewunken werden, war so
nicht absehbar. Nichtsdestotrotz gab es Missstände, die
eingeräumt wurden, die aber auch ausgeräumt werden.
Wir in Bayern tun sehr viel für die Flüchtlinge.
({1})
- Ich habe es gerade dargestellt. Es geht nicht einfach
nur darum, die Menschen vor Ort unterzubringen; es
geht zum Beispiel auch darum, die Kinder einzuschulen.
Die Menschen werden bei uns in Bayern aufgenommen
und ordnungsgemäß untergebracht, und zwar in vielen
bayerischen Kommunen.
Wenn Sie hier sagen, die bayerische Politik wäre verantwortungslos hinsichtlich der Aufnahme von Flüchtlingen,
({2})
dann weise ich das mit aller Entschiedenheit zurück.
({3})
Das ist ein Schlag gegen alle ehrenamtlichen Helfer, alle
Bürgermeister, alle Landräte, alle Stadträte und alle, die
mit dieser Problematik befasst sind.
({4})
Ich stehe heute für die CSU hier, die Sie angegriffen
haben. Ich nehme das, was Dagmar Wöhrl gesagt hat,
zur Kenntnis. Ich habe Ihnen gesagt, dass die Mängel,
die es in Bayern gab, abgestellt wurden bzw. noch werden. Ich hoffe, dass das auch in allen anderen Bundesländern der Fall ist.
Zu Ihrer zweiten Bemerkung, zu Herrn Müller: Ich
weiß, dass wir noch mehr tun müssen. Aber vielleicht
lassen Sie mich meine Rede erst einmal zu Ende bringen.
({5})
Noch eine Zwischenfrage, eine Zwischenfrage des
Kollegen Max Straubinger.
({0})
- Moment, wir müssen erst fragen, ob sie sie zulässt.
Ja, ich lasse sie zu.
Das weiß man unter Parteifreunden nicht immer.
({0})
Bitte schön.
Frau Kollegin Lindholz, würden Sie bestätigen
({0})
oder können Sie bestätigen, dass die Bayerische Staatsregierung im Gegensatz zur Landesregierung in Nordrhein-Westfalen die Kommunen nicht hängen lässt,
({1})
sondern deren Kosten voll übernimmt?
Lieber Kollege Straubinger, ich habe in meiner Antwort gerade schon versucht, zu sagen, dass Bayern mehr
tut als viele andere. Ich hoffe, dass auch andere Länder,
in denen noch Defizite bestehen, nachziehen. Aber es
geht heute meines Erachtens nicht darum, irgendwelche
Schuldzuweisungen vorzunehmen, sondern darum, uns
der Lösung der Probleme zu widmen.
Ich merke, jetzt rennt mir die Redezeit davon. Ich
fahre jetzt mit meiner Rede fort.
Frau Kollegin, ich hatte vergessen, die Uhr anzuhalten. Sie bekommen für Straubinger gleich noch eine Minute extra.
({0})
Ich möchte an dieser Stelle das Lob und den Dank des
UNO-Flüchtlingskommissars, den ich gerade zitiert
habe, an die Menschen vor Ort weitergeben, an die Helfer in den Flüchtlingslagern, aber auch bei uns in den
Kommunen, an die Organisationen und vor allem auch
an die vielen ehrenamtlich Engagierten.
Es ist eine großartige Leistung, die die Menschen in
Deutschland derzeit vollbringen. Es ist unsere Aufgabe,
die Akzeptanz für unser Asylsystem und diese überwältigende Hilfsbereitschaft der Menschen zu erhalten, um
anderen am rechten Rand keine Chance zu geben. Wir
müssen daher alles daransetzen, damit unsere Kräfte
nicht überstrapaziert werden. Es geht, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der Linken, nicht nur darum,
einfach Menschen in einer großen Vielzahl zu uns zu holen, sondern es geht auch um eine gute Versorgung und
Unterbringung vor Ort. Dazu gehört mehr als ein Dach
über dem Kopf. Dazu gehören Beschulung, Integration,
Sprachkurse und vieles mehr.
({0})
Ihr Antrag fordert, Europa solle die Steuerung von Migration aufgeben, seine Grenzen öffnen und jedem ein
Visum gewähren. Das können wir nicht leisten. Die
Fluchtursachen würden damit auch nicht behoben.
({1})
Es gibt heute so viele Flüchtlinge auf der Welt wie
seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Die UN rechnen
mit über 50 Millionen Vertriebenen. Europa verspricht
den Menschen Freiheit, Sicherheit und Wohlstand. Natürlich versuchen daher viele, zu uns zu kommen. Die
italienische Marine hat laut der Internationalen Organisation für Migration innerhalb eines Jahres rund 150 000
Flüchtlinge mit militärischen Mitteln gerettet. Im gleichen Zeitraum wurden aber auch 3 200 Todesfälle registriert. Das sind fünfmal so viele Fälle wie im Jahr vor
Mare Nostrum. Auch diese Mission konnte das Sterben
nicht verhindern.
({2})
Laut Frontex steigen allein in Libyen jede Woche bis
zu 4 000 Flüchtlinge in ein Boot nach Europa. Eine flächendeckende Überwachung ist trotz der militärischen
Mittel von Mare Nostrum angesichts der riesigen Fläche
nicht möglich. Mare Nostrum wird zurückgefahren, und
wir müssen genau beobachten, ob Frontex im Rahmen
der Mission Triton unsere humanitären Verpflichtungen
auf dem Mittelmeer erfüllen kann. Können sie nicht erfüllt werden, müssen wir meines Erachtens nachsteuern.
Letztendlich kann das Sterben auf dem Mittelmeer
aber nur beendet werden, wenn wir verhindern, dass die
Menschen überhaupt in Boote steigen. Dabei stellen sich
für uns drei zentrale Herausforderungen:
Erstens müssen wir Transitländer wie Libyen und
Ägypten unterstützen, um den menschenverachtenden
Schleuserbanden das Handwerk zu legen.
({3})
Der italienischen Marine fehlen die dafür notwendigen
polizeilichen Befugnisse, die Frontex hat.
Zweitens muss Europa seine Mittel stärker bündeln,
um die Fluchtursachen effektiver zu bekämpfen. Unsere
Innenpolitik muss stärker mit der Außen- und Entwicklungspolitik der EU verknüpft werden. Die EU ist mit
Abstand der weltweit größte Geldgeber bei der Entwicklungshilfe. Ein gezielter Einsatz dieser Mittel kann
substanziell zur Stabilisierung der Anrainerstaaten, wie
zum Beispiel Libanon, beitragen; denn die meisten dort
untergekommenen Flüchtlinge wollen zurück in ihre
Heimat, sobald es ihnen möglich ist.
Drittens muss endlich die Blockade im europäischen
Asylsystem gelöst werden. Wir brauchen ein faires und
solidarisches Asylsystem in Europa, das diesen Namen
auch verdient. Es gibt dafür bereits alle erforderlichen
Regelungen. Europa muss das bestehende Regelwerk
nur richtig umsetzen und praxistauglich machen.
Länder wie Italien und Griechenland fordern unsere
Unterstützung beim Schutz der Außengrenzen. Gleichzeitig ignorieren sie aber zentrale Regeln des Asylsystems. Auf Deutschland entfallen heute über 30 Prozent
aller Asylanträge in Europa, während auf Italien trotz
des großen Zustroms nur rund 10 Prozent entfallen. Warum ist das so? Italien ignoriert zum Beispiel zentrale
Regeln und europäische Standards für die humanitäre
Versorgung von Flüchtlingen. Das können und dürfen
wir nicht zulassen.
({4})
Solidarität in der EU darf keine Einbahnstraße sein.
Alle Flüchtlinge müssen direkt nach der Einreise in die
EU registriert werden, so wie es die Dublin-Verordnung
festlegt. Erst dann kann, liebe Kolleginnen und Kollegen, die es schon angesprochen haben, ein notwendiges
europäisches Quotensystem installiert werden, an dem
sich alle EU-Staaten solidarisch beteiligen müssen.
Deutschland hat bereits Sonderprogramme für syrische Flüchtlinge aufgelegt. Diesem Beispiel sollte
Europa endlich folgen. Mit der EU-Richtlinie zum vorübergehenden Schutz im Falle eines Massenzustroms
von Vertriebenen gibt es dafür in Europa bereits eine
Rechtsgrundlage. Alle EU-Staaten müssen sich der langfristigen Folgen der Fluchtursachen bewusst werden und
den Sinn eines praxistauglichen europäischen Asylsystems anerkennen. Deutschland alleine als mahnende
Stimme reicht hierfür nicht aus. Die komplette Auflösung der bestehenden Regelungen des Asylsystems, sehr
geehrte Damen und Herren von der Linken, wie sie Ihr
Antrag fordert, bietet keine Lösung. Sie wäre ein klarer
Rückschritt.
Vielen Dank.
({5})
Als letztem Redner in dieser Aussprache erteile ich
das Wort dem Abgeordneten Frank Heinrich, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich bin sehr dankbar, dass alle Fraktionen es
unterstützen, dass in dieser Debatte, die eine innenpolitische Debatte ist, auch die menschenrechtlichen Aspekte
eine große Rolle spielen. Die letzte Stunde hat das sehr
deutlich gemacht.
Ich habe ein Symbol mitgebracht, ein Symbol für
mich: ein Liederbuch aus dem Norden Nigerias. Vor
14 Tagen fand ich es in einer zerstörten Kirche in einem
zerstörten Dorf in einem Haufen von Müll. Die Bewohner wurden am 24. und 26. August vertrieben. Das letzte
Mal war dort Gottesdienst Ende August.
Warum dieses Symbol und die Erinnerung an dieses
Erlebnis? Es steht dafür, dass ganz viele Menschen - einige Kollegen haben es gesagt - vor realen, lebensbedrohlichen Gefahren auf der Flucht sind. In Nigeria ist
es zumeist Binnenflucht; das ist nur ein Beispiel. Wir
kennen die Folgen des IS und wissen von den vielen
Vertriebenen. Wir wissen von den Krisen in anderen
Staaten. Herr Bosbach hat es gerade gesagt: Terror, brutale Verhältnisse, Tragödien, Dinge, die uns zum Weinen
bringen müssen, sind Ursachen, warum sich Menschen
auf den Weg, auch auf den Weg nach Europa, machen.
Eine humane und dem Grundgesetz entsprechende
Flüchtlingspolitik darf Menschen allerdings nicht einfach unter den Generalverdacht stellen, dass sie Wirtschaftsflüchtlinge seien. Humanität ist mehr, als nur
Grenzen zu ziehen. Allerdings darf ein verantwortungsvoller Antrag - das geht an die Adresse der Linken, die
den Antrag eingebracht hat - auch nicht die EU oder die
Frank Heinrich ({0})
Bundesrepublik einfach unter Generalverdacht stellen
und kritisieren, dass sie Ignoranz und Ablehnung an den
Tag legen würden.
({1})
Das Wort „Massensterben“ in der Überschrift Ihres
Antrages ist für mich billige Polemik, und das ist nicht
hilfreich für diejenigen, über die wir heute sprechen.
Massen sterben in Kriegen und humanitären Katastrophen, zum Beispiel - das wurde gerade gesagt - in
Syrien, im Norden des Iraks, in Liberia, in Zentralafrika
und in vielen anderen Krisengebieten. Nicht die EUPolitik, wie Sie es gesagt haben, Frau Jelpke, treibt die
Menschen in den Tod. Ganz im Gegenteil: Die Hilfe für
Flüchtlinge rettet Leben.
Dennoch sind die Flüchtlingszahlen - wir haben es
gehört - gestiegen und werden angesichts der Weltlage
wahrscheinlich weiter steigen. Die italienische Regierung spricht von 150 000 Bootsflüchtlingen allein in diesem Jahr. Das Bootsunglück von Lampedusa im Oktober
letzten Jahres, das schon angesprochen wurde, bei dem
390 Tote zu beklagen waren, hat die Debatte ausgelöst.
Auch aktuell gab es Meldungen bei Spiegel Online - Sie
haben es wahrscheinlich verfolgt -: im Schwarzen Meer
Dutzende Flüchtlinge, 24 Leichen, einige davon Kinder.
Am 10. September sind in der Nähe von Malta rund
500 Menschen ertrunken. Seit Jahresbeginn kamen je
nach Schätzung 2 500 bis 3 000 Menschen bei ihrer
Flucht über das Mittelmeer ums Leben.
Aber auch auf anderen Fluchtwegen sind Todesfälle
zu verzeichnen, zum Beispiel auf den Wegen durch die
Sahara.
Deshalb müssen wir - das haben alle betont - die
Anstrengungen erhöhen. Jeder einzelne Tote an den
Grenzen der EU und auf dem Mittelmeer ist einer zu
viel. Wir wollen und wir werden - einige Begründungen
haben Sie schon gehört - unsere Verantwortung wahrnehmen. Dies ist in letzter Zeit in Deutschland, auch in
der Gesetzgebung, schon passiert. Neben den genannten
Einsätzen des THW und der Erhöhung der Mittel - Frau
Kampmann, Sie haben darauf hingewiesen - gibt es Bestrebungen, das Asylrecht zu verändern. Die Residenzpflicht wird gelockert, Asylbewerber dürfen früher arbeiten, es gibt den Vorrang von Geldleistungen.
Was ist noch passiert? Es wurde vorhin das Lob des
Flüchtlingskommissars Guterres zitiert, das er uns
ausgesprochen hat, was insbesondere die Aufnahme von
syrischen Flüchtlingen angeht. Wir haben die Quote weit
übererfüllt. Das muss uns nicht nur mit Stolz erfüllen.
Aber, wie mein Kollege Bosbach gesagt hat, man darf
im Nebensatz auch einmal sagen, was hier schon alles
passiert.
({2})
Allerdings sind wir in diesem Konzert nicht alleine;
wir sind als EU unterwegs. Hier müssen schon noch
einige Dinge getan werden, zum Beispiel ein besseres
Programm zur Rettung der Seeflüchtlinge. Dass Mare
Nostrum in Triton übergeht, ist ein guter Schritt. Aber
Aufstockung, Verifizierung und Ausweitung sind notwendig. Schleuserbanden muss das Handwerk mit all
unseren Möglichkeiten gelegt werden. An dieser Stelle
kann ich es nicht anders sagen: Es kommt mir hoch,
wenn ich höre, dass auf dem Rücken der Verletztesten in
unserer Welt Geld gemacht wird und Sie diese Personen
auch noch als Helfer bezeichnen.
Eine Vereinheitlichung der humanitären Standards,
etwa bei der Unterbringung und den Rechtsverfahren,
halte ich für eine Selbstverständlichkeit.
Ich bin sehr nah bei Ihrem Vorschlag, liebe Kollegen
von der SPD, eine feste EU-Quote für die Aufnahme von
Flüchtlingen in Verbindung mit einem möglichen Finanzausgleich einzuführen.
Darum werden wir den Antrag ablehnen: rein sachlich wegen der Polemik, die weit über das vernünftige
Maß in einer Auseinandersetzung hinausgeht, und wegen der unsinnigen Schuldzuweisungen darin, wegen der
Verknüpfung mit Kritik an der allgemeinen Wirtschaftspolitik der Bundesrepublik,
({3})
nicht zuletzt, weil wir der Abschaffung von Frontex
nicht zustimmen können, da dies die Sicherheit an den
Grenzen tatsächlich beeinträchtigen würde, die gerade
von mir emotional angesprochene Tätigkeit der Schleuser eher begünstigen und eine Kontrollierbarkeit ausschließen würde.
Zum Ende noch einmal zum Symbol dieses Liederbuchs. Das vorrangige Ziel von Politik, auch bei uns,
muss sein, dass Menschen - in diesem Fall in Nigeria,
aber auch in vielen anderen Ländern - in Frieden ihre
Lieder singen und ihre Gebete sprechen können, sei es in
einer Synagoge, in einer Moschee oder in einer Kirche.
Dafür stehen wir unter anderem: für Humanität. Wir engagieren uns mit humanitärer Hilfe vor Ort und in der
wirtschaftlichen Zusammenarbeit; Sie haben es genannt.
Solidarität und Humanität müssen sich am Schluss in
der partnerschaftlichen Zusammenarbeit und der Übernahme von Verantwortung in Krisen erweisen. Da bin
ich ganz bei dem Satz, den Sie, Frau Kampmann, gesagt
haben: Lassen Sie uns da noch die eine oder andere
Schippe drauflegen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Innenaus-
schusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem
Titel „Das Massensterben an den EU-Außengrenzen be-
enden - Für eine offene, solidarische und humane
Flüchtlingspolitik der Europäischen Union“. Der Aus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/2946, den Antrag der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 18/288 abzulehnen. Wer für die Be-
Vizepräsident Peter Hintze
schlussempfehlung stimmt, den bitte ich um das Hand-
zeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? -
Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der
CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 36 a bis 36 c auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Vorschlag für einen Beschluss des Rates über einen Dreigliedrigen Sozialgipfel für Wachstum
und Beschäftigung und zur Aufhebung des
Beschlusses 2003/174/EG
Drucksache 18/2953
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches - Umsetzung
europäischer Vorgaben zum Sexualstrafrecht
Drucksache 18/2954
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss Digitale Agenda
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulle
Schauws, Katja Keul, Katja Dörner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Artikel 36 der Istanbul-Konvention umsetzen - Bestehende Strafbarkeitslücken bei sexueller Gewalt und Vergewaltigung schließen
Drucksache 18/1969
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({2})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 37 a bis 37 i sowie
den Zusatzpunkt 2 auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 37 a:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung mautrechtlicher Vorschriften hinsichtlich der Einführung des
europäischen elektronischen Mautdienstes
Drucksache 18/2656
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr und digitale Infrastruktur
({3})
Drucksache 18/2988
- Bericht des Haushaltsausschusses ({4})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Drucksache 18/2991
Der Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/2988, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 18/2656 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den
Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion
ohne Gegenstimmen bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich von den Plätzen
zu erheben. - Wer dagegen stimmt, möge bitte aufstehen. - Wer enthält sich? - Dann ist der Gesetzentwurf
mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPDFraktion ohne Gegenstimmen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 37 b:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll Nr. 15
vom 24. Juni 2013 zur Änderung der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und
Grundfreiheiten
Drucksache 18/2847
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz
({5})
Drucksache 18/3072
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung. Der Ausschuss für Recht und
Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3072, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 18/2847 anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, sich von den Plätzen zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Dann ist der Gesetzentwurf mit
den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion, der SPD-Fraktion, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke ohne Enthaltung angenommen worden.
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr und digitale
Infrastruktur ({0}) zu der Verordnung
der Bundesregierung
Verordnung zur Änderung der Sechzehnten Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes ({1})
Drucksachen 18/2849, 18/2931, 18/3065
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3065, auf eine Änderung oder
Ablehnung der Verordnung auf Drucksache 18/2849 zu
verzichten. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der
CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ohne Enthaltung angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 37 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz
({2})
Übersicht 3
über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
Drucksache 18/2921
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist die Beschlussempfehlung mit Zustimmung aller Fraktionen
ohne Gegenstimme oder Enthaltung angenommen worden.
Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 37 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({3})
Sammelübersicht 103 zu Petitionen
Drucksache 18/2889
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist die Sammelübersicht 103 mit den
Stimmen aller Fraktionen angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 37 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({4})
Sammelübersicht 104 zu Petitionen
Drucksache 18/2890
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist die Sammelübersicht 104 mit Zustimmung der CDU/CSU-Fraktion, der SPD-Fraktion,
der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 37 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({5})
Sammelübersicht 105 zu Petitionen
Drucksache 18/2891
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist diese Sammelübersicht 105 mit den
Stimmen aller Fraktionen ohne Gegenstimmen und Enthaltungen angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 37 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({6})
Sammelübersicht 106 zu Petitionen
Drucksache 18/2892 ({7})
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist die Sammelübersicht 106 mit den
Stimmen der CDU/CSU-Fraktion, der SPD-Fraktion und
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen
der Fraktion Die Linke angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 37 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({8})
Sammelübersicht 107 zu Petitionen
Drucksache 18/2893
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 107 ist damit angenommen worden mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der
Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen ohne Enthaltung.
Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({9}) zu dem Antrag der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Beate Walter-Rosenheimer,
Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Jugendarbeitslosigkeit in Europa bekämpfen - Stopp des Programms MobiPro-EU sofort aufheben
Drucksachen 18/1343, 18/1531
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/1531, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/1343 abzulehnen. Wir stimmen über die Beschlussempfehlung ab.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der CDU/CSUFraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ({10})
Vizepräsident Peter Hintze
bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen
worden.
Ich rufe Zusatzpunkt 3 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Haltung der Bundesregierung zu den alarmierenden Ergebnissen des Weltklimaberichts
und dem Handlungsbedarf für mehr Klimaschutz
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Oliver Krischer, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor
wenigen Tagen hat der Weltklimarat seinen zusammenfassenden Bericht vorgelegt, der zwei zentrale Botschaften enthält.
Die eine Botschaft ist: Der Klimawandel schreitet voran, und zwar viel stärker, als es die Forscher noch vor
wenigen Jahren erwartet hätten. Es ist längst klar: Wir
können eigentlich nicht mehr, wie es auf dem Bericht
vorne draufsteht, vom Klimawandel reden, sondern wir
müssen von der Klimakatastrophe sprechen.
Diese Katastrophe findet nicht nur irgendwo in der
Arktis statt. Sie findet ganz real auch bei uns hier in
Deutschland statt. 2014 wird wahrscheinlich das Jahr
werden, das als das wärmste in die Geschichte der Wetteraufzeichnung eingeht. Die sogenannten Jahrhundertfluten kommen inzwischen alle fünf Jahre, also in immer
schnellerer Folge, und verursachen Milliardenschäden.
Die zweite Botschaft des Weltklimarates ist positiv.
Wir können, wenn wir wollen, das Schlimmste noch verhindern, wenn wir konsequent handeln, wenn die Weltgemeinschaft etwas unternimmt. Das Allerbeste ist: Sie
muss dafür weniger als 0,1 Prozent des Weltbruttoinlandsprodukts, der Wertschöpfung, aufwenden, um den
Klimawandel aufzuhalten. Das bietet eine riesige
Chance für Entwicklung und Wohlstand auf der ganzen
Welt. Diese positive Botschaft sollten wir aufgreifen.
({0})
Dass es bis heute noch kein globales Klimaschutzabkommen gibt, liegt daran, dass es viele nationale Egoismen gibt. Wenn wir endlich vorankommen wollen, dann
braucht es Vorreiter, die die Sache in die Hand nehmen.
Man kann es nicht anders sagen: Deutschland war über
viele Jahre hinweg Vorreiter, angefangen - und ich hätte
nicht gedacht, dass ich das hier einmal sage - bei Helmut
Kohl über die rot-grüne Bundesregierung bis hin zur
letzten Großen Koalition.
({1})
Wir erinnern uns alle daran, wie Angela Merkel und
Sigmar Gabriel in schönen roten Anoraks vor Gletschern
standen. Von da an ging es mit dem Klimaschutz in
Deutschland nur noch bergab. Die Anoraks sind längst
in der Abfallmitverbrennung in einem Braunkohlekraftwerk zu CO2 verbrannt worden; diese Geschichte ist vorbei.
Deutschland ist schon lange kein Vorreiter mehr. Wir
haben Jahre des Nichthandelns, des Stillstandes und des
Rückschrittes erlebt. Die Bundesregierung steht vor dem
Scherbenhaufen ihrer Klimapolitik. Es sieht ganz so aus,
dass wir das Klimaschutzziel, die Verringerung der
Treibhausgasemissionen bis 2020 um 40 Prozent, krachend verfehlen werden. Das liegt vor allen Dingen daran, dass die Emissionen aus dem Energiesektor immer
weiter steigen, weil Uraltkraftwerke und Kohlekraftwerke rund um die Uhr laufen, weil wir im Wärmebereich nur in Trippelschritten vorankommen. Mit Klimaschutz in der Verkehrspolitik haben wir noch gar nicht
angefangen. Mit der Industrialisierung der Landwirtschaft steigen auch die Emissionen in diesem Sektor immer weiter.
Hätten wir nicht die Wall-Fall-Profits - das ist der
Rückgang der CO2-Emissionen durch den Niedergang
der DDR-Wirtschaft, Stichwort „25 Jahre Mauerfall“ und hätten wir nicht das Erneuerbare-Energien-Gesetz,
das Sie vor der Sommerpause noch verstümmelten, dann
wären Deutschlands Emissionen gegenüber 1990 noch
gestiegen. Das ist die Bilanz. Wir stehen vor einer
schwierigen Situation. Aber Sie liefern keine Antworten
auf die drängenden Fragen.
({2})
Ich kann nur sagen: Ich finde es absolut zynisch, dass
Sie trotz der schlechten Bilanz und der vor uns stehenden Herausforderungen die Vorlage des Weltklimaberichtes dafür nutzen, eine Debatte darüber anzustoßen,
ob man das Ziel nicht streichen solle nach dem Motto
„Wir schaffen es nicht, dann canceln wir das ganze
Ziel“. Nun schicken Sie Herrn Homann, den Präsidenten
der Bundesnetzagentur, vor, um die Reaktion der Öffentlichkeit auf einen solchen Vorschlag zu testen. Meine
Damen und Herren von der Großen Koalition, liebe Frau
Hendricks, ich kann Ihnen nur eines sagen: Wenn Sie
das Klimaschutzziel 2020 beerdigen, dann ist das nicht
nur der Abschied von der Vorreiterrolle - die ist schon
lange weg -, dann ist das das Ende jeder Klimaschutzpolitik in Deutschland. Das müssen Sie sich dann ins
Stammbuch schreiben.
({3})
Eines ist klar: Man könnte handeln. Es gäbe in
Deutschland die Möglichkeit, das Klimaschutzziel bis
2020 noch zu erreichen. Dazu müsste man das „dreckige
Dutzend“, die schmutzigsten Kohlekraftwerke aus den
1960er-Jahren, die im Moment rund um die Uhr laufen,
abschalten. Die Möglichkeiten dazu haben Sie. Das wäre
im Sinne der Energiewende und im Sinne eines modernen Strommarktes erforderlich, um der klimafreundlichen Kraft-Wärme-Kopplung, den Gaskraftwerken und
dem Bereich der erneuerbaren Energien eine Chance zu
geben. Diesbezüglich kommt von Ihnen aber gar nichts.
Ich erwarte, dass das Maßnahmenprogramm, das
einst mittelfristiges Sofortprogramm hieß, das dann den
Namen geändert hat und vielleicht irgendwann im Dezember kommt, klare Vorschläge enthält. Ich erwarte,
dass wir in diese Richtung gehen und die schmutzigsten
Kohlekraftwerke endlich vom Markt nehmen.
({4})
Vor allen Dingen - das ist das Allerwichtigste - sollten Sie Klimaschutz endlich als Chance begreifen. Es
geht um Effizienz, Nachhaltigkeit und grüne Wirtschaft.
Mit grüner Wirtschaft schwarze Zahlen schreiben, das ist
die Zukunft. Der Klimaschutz liefert uns die richtige
Vorlage dafür. Darauf müssen Sie sich einstellen. Auf
diesem Gebiet müssen Sie Maßnahmen liefern. Frau
Hendricks, ich erwarte, dass das, was am 3. Dezember
2014 endlich vorgelegt werden soll, mit konkreten Maßnahmen hinterlegt ist, damit wir das Klimaschutzziel erreichen. Eine Aufgabe des Klimaschutzziels wäre eine
Versündigung am Weltklima.
Herr Kollege.
Das wäre eine Versündigung an der nachhaltigen
Wirtschaft. Das wäre eine Versündigung an unseren Kindern und Enkeln.
Danke schön.
({0})
Das Präsidium hat Milde walten lassen, aber es wäre
ganz gut, wenn wir alle darauf achten würden, die Vereinbarungen zur Aktuellen Stunde, auch was die Redezeiten angeht, liebevoll und solidarisch einzuhalten.
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort Dr. Anja
Weisgerber von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Als Umweltpolitikerin bin auch ich der Meinung, dass Klimaschutz ein sehr wichtiges Thema ist.
Aber ich halte es nicht für zielführend - das möchte ich
an dieser Stelle auch ganz klar sagen -, dass das Thema
in jeder Sitzungswoche auf die Tagesordnung gesetzt
wird, heute unter dem Motto: Haltung der Bundesregierung zu den alarmierenden Ergebnissen des IPCC-Rates.
Dazu muss ich erst einmal Folgendes sagen: Das ist kein
neuer IPCC-Bericht, sondern das ist eine Zusammenfassung für die Entscheidungsträger,
({0})
und die Haltung der Bundesregierung ändert sich nicht
von Woche zu Woche.
Derzeit arbeitet die Bundesregierung mit uns zusammen an einem Klimaschutz-Aktionsprogramm. Dieses
Klimaschutz-Aktionsprogramm wird am 3. Dezember
2014 im Kabinett verabschiedet, rechtzeitig vor der
Lima-Konferenz. Darin werden CO2-Minderungspotenziale in allen Sektoren aufgezeigt und konkrete Handlungsmaßnahmen vorgeschlagen. Das ist doch nicht
mehr lange hin. Warten Sie das doch erst einmal ab. Das
sind unsere Antworten auf den IPCC-Bericht.
({1})
Seit der letzten Debatte ist etwas Positives passiert:
Ende Oktober haben die Staats- und Regierungschefs der
EU-Mitgliedstaaten verbindliche Klimaziele beschlossen. Die Tatsache, dass sich 28 EU-Mitgliedstaaten auf
ambitionierte Klimaziele einigen, ist einzigartig in der
Welt. Wir sind damit die Ersten. Was wurde erreicht? Es
wurde beschlossen, die Treibhausgasemissionen bis
2030 um mindestens 40 Prozent im Verhältnis zu 1990
zu reduzieren, den Anteil der erneuerbaren Energien EUweit auf mindestens 27 Prozent auszuweiten und den
Gesamtenergieverbrauch in der EU um mindestens
27 Prozent zu senken.
({2})
Damit sendet Europa ein klares Signal: Schaut her, wir
sind bereit. Das ist unser Beitrag zur internationalen Klimapolitik. Nun seid ihr an der Reihe.
Es ist kein Geheimnis - das sage ich an dieser Stelle
auch ganz klar -, dass Deutschland gerne weitergegangen wäre. Wir wollten zum Beispiel, dass das Ziel bezüglich der erneuerbaren Energien und der Energieeffizienz, das auf EU-Ebene verbindlich verabredet wurde,
auf die nationale Ebene heruntergebrochen wird. Das
sage ich ganz ehrlich an dieser Stelle. Wir wollten auch
30 Prozent als Ziel; das sage ich auch ganz klar. Aber die
Verhandlungen waren schwierig. Polen, Tschechien, Ungarn und die Slowakei wollten nicht mitmachen, haben
auf die Bremse gedrückt. Es war nicht klar, ob es überhaupt gelingen würde, verbindliche Klimaziele zu verabreden. Deswegen sage ich an dieser Stelle ganz klar: Das
ist ein Erfolg. Es steht jeweils das Wörtchen „mindestens“ drin. Das heißt, es sind Mindestziele. Wir können
weitergehen, wenn die äußeren Umstände, etwa die wirtschaftliche Lage, es zulassen. Also: Es gibt wirklich keinen Grund, in die Defensive zu gehen. Die Bundeskanzlerin hat ein gutes Ergebnis erzielt. Wir können mit
diesem Ergebnis selbstbewusst und mit Rückenwind
nach Lima und Paris reisen, meine Damen und Herren.
({3})
Trotzdem sage ich: Wir dürfen uns auf diesem Zwischenerfolg nicht ausruhen. Wir müssen mit diesem Ergebnis im Rücken jetzt den Druck auf internationaler
Ebene erhöhen, die anderen Staaten mitreißen und auch
von anderen Ländern, egal ob es Industrieländer oder
Entwicklungs- und Schwellenländer sind, einen Beitrag
einfordern - wir alleine können das Klima nicht retten -;
sonst können wir das 2-Grad-Ziel nicht erreichen. Wir
brauchen dafür alle Staaten der Welt.
Auch der Stern-Bericht besagt ganz klar: Wenn wir es
schaffen, gerade in den Entwicklungs- und Schwellenländern die Weichen von Anfang an in Richtung einer
kohlenstoffarmen und energieeffizienten Technologie zu
stellen, dann haben wir viel gewonnen.
({4})
Deswegen müssen wir in diesen Ländern massiv ansetzen, auch mit Geldern, die zum Beispiel wir Deutsche
zur Verfügung zu stellen bereit sind.
Außerdem geben auch die Äußerungen vonseiten der
USA und Chinas Anlass zu leiser Hoffnung. Diesen
Worten müssen jetzt allerdings Taten folgen.
({5})
- Das war auch an diese Länder gerichtet. Wir haben mit
den europäischen Beschlüssen schon Taten geliefert,
meine Damen und Herren.
({6})
Auch diese anderen Länder, nämlich die USA und
China, müssen jetzt liefern, und zwar bis zu den Klimakonferenzen in Lima und Paris.
Zuallerletzt möchte ich noch sagen: Mir ist ganz
wichtig, dass es uns gelingt, ein verbindliches Abkommen hinzubekommen, das transparent ist und überprüfbare Kriterien enthält, die auch kontrolliert werden können
({7})
und es ermöglichen, andere Länder, die diese Ziele nicht
einhalten, an den Pranger zu stellen bzw. zu ermutigen,
die Erreichung dieser Ziele wirklich ehrgeizig anzustreben. Denn nur ein ehrgeiziges, beherztes Handeln aller
Länder der Welt führt letztendlich zu einem Erfolg beim
internationalen Klimaschutz.
Vielen Dank.
({8})
Als nächster Rednerin erteile ich der Abgeordneten
Eva Bulling-Schröter, Fraktion Die Linke, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lassen Sie mich mit einer guten Nachricht beginnen:
Der Kohleausstieg, den die Linke schon lange fordert, ist
endlich in trockenen Tüchern.
({0})
Die Regierung hat am Wochenende angekündigt, dass
Strom aus Kohle 2025 Geschichte sein wird. Jetzt will
man sich mit Wirtschaft, Gewerkschaften und Gesellschaft an einen Tisch setzen, um die schrittweise Abschaltung der Kohlekraftwerke in die Tat umzusetzen.
Ausschlaggebend waren die Erkenntnisse der Klimaforschung bzw. die Handlungsempfehlungen dazu. Der
letzte Bericht des Weltklimarats gibt der Politik einen
klaren Auftrag: Es muss endlich Schluss sein mit der
Stromproduktion aus fossilen Energieträgern, und zwar
ohne Wenn und Aber,
({1})
oder, liebe Kolleginnen und Kollegen, das Weltklima
fliegt uns um die Ohren, mit allen uns bekannten Folgen.
Jetzt die schlechte Nachricht, die leider lautet: Nicht
Deutschland hat hier seine Klimahausaufgaben erledigt,
sondern unser Nachbar Dänemark hat den Kohleausstieg
beschlossen. Die dortige Mitte-Links-Regierung hat, wie
ich finde, eine reife politische Entscheidung getroffen,
statt nur darauf zu warten, dass der Energiemarkt das
Kohleproblem löst. Im Übrigen funktioniert das sowieso
nicht. In Schweden gibt es ähnliche Entwicklungen. Da
frage ich mich natürlich: Warum hören die Skandinavier
auf die Wissenschaft, während in Deutschland Monat für
Monat neue Rekorde bei der Stromgewinnung aus Kohle
aufgestellt werden? Die Linke sagt: Der Bund muss endlich eine klare Entscheidung treffen.
({2})
Nur mit einem Kohleausstiegsgesetz, das den Firmen
Planbarkeit ermöglicht, wird die Energiewende zu einem
Erfolg; da bin ich mir sicher, meine Damen und Herren.
Gerade die Landesregierungen brauchen eine Vorgabe
vom Bund für diesen klimapolitisch notwendigen Schritt
nicht nur, sondern sie fordern diese sogar immer öfter
ein.
({3})
Handeln Sie endlich, meine Damen und Herren von
der Bundesregierung, und lassen Sie uns gemeinsam
dem Beispiel der Dänen folgen. Im Übrigen ist im Staate
Dänemark nichts faul. Im Gegenteil, das Beispiel zeigt
uns, dass Klimaschutz im nationalen Alleingang machbar ist. Die Wärmewende hat Dänemark auch schon geschafft, weil Dänemark gleich nach der Ölkrise Ende der
70er-Jahre fleißig auf Effizienzsteigerung gesetzt hat,
während in der Bundesrepublik Doppelfenster eingebaut
wurden.
Beklagenswerterweise funktioniert Politik hierzulande noch immer nach dem Schwarzer-Peter-Prinzip:
Regt sich Protest gegen ein Kohlekraftwerk oder einen
Tagebau, dann zeigt der Bürgermeister mit dem Finger
auf die Landesregierung. Die Landesregierung wiederum zeigt mit dem Finger auf den Bund. Das UmweltmiEva Bulling-Schröter
nisterium klagt dann über das Wirtschaftsministerium.
Berlin verweist auf Brüssel. Ähnlich wie beim Emissionshandel fielen in Brüssel die Entscheidungen. - Daran sind Sie aber eigentlich maßgeblich beteiligt. - Bei
der EU heißt es dann, in Zeiten der Globalisierung
schwäche mehr Klimaschutz Europas Wettbewerbsfähigkeit gegenüber China oder den USA. - Das ist übrigens ein Ball, der oft und gerne über Bande gespielt
wird. Wir kennen diese Argumentation ja von der Lohndrückerei und vom Sozialabbau.
Nein, meine Damen und Herren, wo kommen wir
denn da hin? Wir brauchen ein schlagkräftiges Klimaschutz-Aktionsprogramm, das seinen Namen wirklich
verdient. Alle Sektoren müssen einen Beitrag zur Schließung der Klimaschutzlücke leisten. Um 7 bis 9 Prozent
werden wir bei einem Weiter-so die Marke verfehlen.
Ein Verschlafen des 40-Prozent-Ziels bis 2020 wäre ein
schlimmer Rückschlag.
({4})
Dabei ist der Energiesektor in der Bringschuld. Die
EU-Kommission hat es vorgerechnet: Deutschland ist
das EU-Land mit der größten Fördersumme für Kohle.
Von 1970 bis 2007 wurden EU-weit 380 Milliarden Euro
Steuergelder zur Förderung des Kohlestroms ausgegeben, der Großteil davon in Deutschland. In 37 Jahren
macht das einen Jahresschnitt von über 10 Milliarden
Euro aus. Zudem verursacht dieser Marshallplan für die
Energieriesen immense Folgekosten. Allein 2012 sind
durch die Nutzung fossiler Energien 42 Milliarden Euro
Folgekosten für Mensch, Umwelt und Klima entstanden.
Darüber reden Sie aber nicht.
Die Fakten liegen auf dem Tisch, auch dem Wirtschaftsministerium: Zurzeit liegen 8 Tonnen Kohle von
Greenpeace vor dem Wirtschaftsministerium.
Ich finde, wir brauchen mutige Entscheidungen. Ich
wünsche der Koalition den Mut, den wir für eine mutige
Politik brauchen.
({5})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort für die
Bundesregierung Frau Bundesministerin Dr. Barbara
Hendricks.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Bekämpfung des Klimawandels - wir wissen es alle - ist
die zentrale Herausforderung unserer Zeit. Die Generationen, die nach uns kommen, werden uns dafür danken,
dass wir sie bewältigt haben, oder sie werden uns fragen,
warum wir nicht den Mut gefunden haben, uns der Zerstörung unseres Planeten in den Weg zu stellen.
Der IPCC-Bericht, der am Wochenende vorgelegt
worden ist, ist aus meiner Sicht erschreckend und ermutigend zugleich. Er ist erschreckend, weil der Klimawandel keine ferne Bedrohung ist, sondern bereits stattfindet. Das wird auch von niemandem mehr ernsthaft
bestritten. Das war vor einigen Jahren - auch in manchen Wissenschaftskreisen - noch anders. Dies hat sich
jetzt auch in Wissenschaftskreisen erledigt. Es gibt allerdings noch einzelne Regierungen, wie zum Beispiel die
neue Regierung in Australien, die anderer Auffassung
sind. Im Prinzip wird das aber nicht mehr bestritten.
Der nun vorliegende IPCC-Bericht ist aber zugleich
ermutigend, weil wir noch ein wenig Zeit haben, den
Klimawandel in den Grenzen zu halten, in denen er noch
beherrschbar ist. Der Bericht macht ganz klar: Die Begrenzung der Erwärmung auf 2 Grad im Verhältnis zur
vorindustriellen Zeit ist noch möglich; aber dafür ist entschlossenes und schnelles Handeln natürlich die Voraussetzung.
({0})
- Ja, wir haben nicht mehr viel Zeit; das ist gar nicht zu
bestreiten.
Es muss gelingen, den Ausstoß der Treibhausgase bis
2050 gegenüber 2010 global um 40 bis 70 Prozent zu
senken; bis 2100 müssen es 100 Prozent sein. Deutschland muss Europa mitreißen und wird dies auch weiter
tun,
({1})
und Europa muss die Welt mitreißen.
({2})
Wahr ist: In Deutschland hat sich schon viel bewegt.
Wir verfügen über die notwendigen technischen Mittel,
um den Energiesektor schrittweise zu dekarbonisieren,
die Energieeffizienz deutlich zu steigern und ehrgeizige
Einsparungen in privaten Haushalten, in der Industrie,
im Gebäude- und Transportbereich und bei der Landnutzung zu erzielen; auch das ist uns möglich.
({3})
Jetzt, in diesem Jahr, haben die erneuerbaren Energien
bei uns einen Anteil an der Stromerzeugung von fast
30 Prozent: Aktuell sind es etwa 28,5 Prozent, und wir
sind noch nicht am Ende dieses Jahres. Damit liegt der
Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung erstmals vor dem Anteil von Kohle. Das war bisher
noch nie der Fall. Das ist ein Erfolg.
({4})
Wahr ist aber auch: Die Anstrengungen sind seit einer
Reihe von Jahren - unabhängig davon, wer die politische Verantwortung getragen hat - zu keinem Zeitpunkt
ausreichend gewesen. Deswegen gibt es eine prognostizierte Lücke bei der Erreichung unseres Minderungsziels
von 40 Prozent bis 2020 von 5 bis 8 Prozent. Die Zielerreichung ist keineswegs trivial, sondern durchaus
schwierig. Das heißt aber nicht, dass ich mich etwa davon verabschieden wollte, Herr Krischer. Wir werden
vor dieser Aufgabe nicht davonlaufen, und wir werden
unsere Ansprüche nicht relativieren.
({5})
Meine Kolleginnen und Kollegen, es besteht kein
Zweifel: Das Erreichen des 40-Prozent-Ziels ist die zentrale Herausforderung für mich als Bundesumweltministerin und eines der wichtigsten Projekte dieser Bundesregierung.
({6})
Deswegen werden wir am 3. Dezember im Kabinett unser Aktionsprogramm verabschieden.
({7})
- Doch. - Wir werden damit rechtzeitig vor der in Lima
beginnenden Konferenz ein Signal geben. Die Eckpunkte sind klar: Wir müssen den Anteil fossiler Energieträger reduzieren. Das Ziel ist, den CO2-Ausstoß bis
2050 um 80 bis 95 Prozent zu reduzieren. Das macht
deutlich: Das Zeitalter der fossilen Energie wird sich
- natürlich muss das in einem planmäßigen Prozess geschehen - Stück für Stück dem Ende nähern.
Natürlich brauchen wir auch noch größere Anstrengungen im Gebäudebereich und bei der Energieeffizienz; das liegt auf der Hand. Auch dazu werden wir die
notwendigen Aussagen in unserem Aktionsprogramm
„Klimaschutz 2020“ und auch im „Nationalen Aktionsplan Energieeffizienz“, der verschränkt mit unserem
Aktionsprogramm zeitgleich in der Verantwortung des
Bundeswirtschaftsministers erarbeitet wird, zum 3. Dezember vorlegen. Nach dem Aktionsprogramm, das in
der Verantwortung meines Hauses liegt, werden wir
dann weitere konkrete Schritte angehen, um Maßnahmen für die Zeit zwischen 2020 und 2050 zu entwickeln,
mit überprüfbaren Zwischenzielen, etwa - das liegt ja
auf der Hand - in Zehnjahresmargen.
Meine Damen und Herren, die entscheidende Phase
der Klimaschutzpolitik haben wir jetzt vor uns, insbesondere im Hinblick auf die Ende des nächsten Jahres in
Paris stattfindende internationale Konferenz. Die Bundesregierung - das wissen Sie - engagiert sich gerade im
Hinblick auf diese international notwendigen Abstimmungen Ende des nächsten Jahres mit aller Kraft.
In diesem Zusammenhang möchte ich mich sehr herzlich bei der Bundeskanzlerin bedanken für die Verhandlungen im Europäischen Rat vor knapp zwei Wochen.
Das war ein großer Erfolg, und es ist nicht zuletzt der
Beharrlichkeit der Bundeskanzlerin zu verdanken - neben den guten Vorarbeiten -, dass dies gelingen konnte.
({8})
Es ist kein Geheimnis: Wir hätten uns, insbesondere
in den Bereichen „Energieeffizienz“ und „erneuerbare
Energien“, noch etwas ehrgeizigere Ziele gewünscht.
({9})
Das ist keine Frage. Aber der Beschluss ist ein großer
Schritt nach vorne. Europa hat damit Handlungsfähigkeit und Weitsicht unter Beweis gestellt. Dies wird auch
international durchaus anerkannt. - Ich weiß, Herr Kollege Krischer, wenn man das aus dem Blickfeld des
Aachener Reviers sieht, guckt man vielleicht nicht ganz
so weit.
({10})
Aber zum Beispiel Ban Ki-moon, der die Welt im Blick
hat, hat uns dazu beglückwünscht.
({11})
Erstens. Wir in Europa sind die Ersten, die einen Beitrag zum neuen Klimaschutzabkommen vorlegen können und eben vorgelegt haben. Wir werden unsere Emissionen um 40 Prozent absenken können. Das ist ein sehr
deutliches Signal. Das Ziel ist selbstverständlich verbindlich. Es ist nicht an irgendwelche Bedingungen geknüpft. Jeder Investor in Europa weiß jetzt, worauf er
sich in den nächsten 16 Jahren einstellen muss und welche Investitionen sich langfristig lohnen und welche
nicht. Das Ganze ist also auch ein Modernisierungsprogramm für unsere Volkswirtschaften.
Zweitens. Der Beschluss enthält das Wörtchen „mindestens“. Andere Staaten müssen jetzt nachziehen. Wir
haben im Rahmen des Petersberger Klimadialogs von
China gehört, dass es einen Beitrag leisten wird. Wir
sind gespannt, wie dieser Beitrag aussehen wird, aber
zugleich zuversichtlich, dass er weit über das hinausgeht, was wir von China bisher gesehen haben.
Wie ich höre - man wird sehen, wie das nach den
„midterm elections“ weitergeht -, wollen auch andere
Schwellenländer und nicht zuletzt auch die USA Anfang
2015 ihre Beiträge vorlegen. Ich weiß, dass es für Präsident Obama schwer wird. Deswegen arbeitet die amerikanische Administration an einer Lösung, die man auch
dann umsetzen kann, wenn man keine Mehrheit im Repräsentantenhaus hat.
({12})
Wenn sich diese Dynamik fortsetzt - da bin ich zuversichtlich -, dann werden wir in Paris erfolgreich sein und
ein gutes Abkommen erreichen. Dann sollte die EU bereit sein, noch einmal nachzulegen, wenn denn auch andere Länder ehrgeizige Pläne vorlegen. Dann können
auch wir in der Tat noch einmal nachlegen; das Wörtchen „mindestens“ bedeutet nicht zuletzt dies.
({13})
Drittens. Der Rat hat sich eindeutig zu einem funktionierenden und reformierten Emissionshandel bekannt.
Wir werden weiterhin darauf achten, dass dies so bald
als möglich, nämlich 2017, geschieht. Das gibt Rückenwind. Zugleich bedeutet das natürlich auch, dass die
900 Millionen Zertifikate, die sich im Prozess des Backloadings befinden, sofort in die Stabilitätsreserve überführt werden müssen; denn wir müssen natürlich den
Emissionshandel wieder auf Kurs bringen.
Der nächste Schritt ist die Klimakonferenz in Lima;
das wissen wir. Das Aktionsprogramm und die europäischen Klimaziele unterstreichen die Vorreiterrolle, die
wir einnehmen wollen und die von uns erwartet wird.
Der Wandel in eine Zeit ohne fossile Energieträger
hat längst begonnen: Windräder werden gebaut, Solarpanels installiert, energieneutrale Gebäude geplant und
errichtet. Die Aussage, Klimaschutz schade der Wirtschaft, haben wir längst in die Märchenwelt verbannt.
({14})
Klimaschutz lohnt sich; nicht zu handeln, kostet - das
macht auch der IPCC-Bericht klar.
Wir brauchen einen langen Atem. Wir werden das
Problem des Klimawandels nicht allein in dieser Legislaturperiode lösen und auch nicht in diesem Jahrzehnt.
Vielleicht wird es länger dauern, als dass meine Generation die Früchte dieser Politik wird ernten können. Wir
werden diesen Weg entschlossen gehen, und zwar in der
Zeit unserer jeweiligen Verantwortung, so wie es nötig
ist und unseren Möglichkeiten entspricht - und die sind
umfangreich. Darauf kann man sich verlassen.
({15})
Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Thomas
Gebhart das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die Temperaturen steigen, der Meeresspiegel
steigt, Wetterextreme häufen sich: Der Klimawandel ist
da. Dieser Klimawandel wird aller Wahrscheinlichkeit
nach - dies zeigt uns der Bericht, der jetzt auf dem Tisch
liegt - weitergehen, wenn es uns nicht gelingt, die Emissionen von Treibhausgasen erheblich zu senken.
Wir müssen dazu beitragen - das ist Teil unserer Verantwortung, und es ist auch eine ethische Pflicht und entspricht der ökonomischen Vernunft -, dass es gelingt;
denn viele Untersuchungen zeigen inzwischen ganz klar,
dass es günstiger ist, weltweit jetzt entschieden gegen
den Klimawandel vorzugehen, als einfach alles laufen zu
lassen und zum Schluss für die Schäden und die Folgekosten zu bezahlen.
({0})
Die spannende Frage wird sein, wie es uns gelingt.
Wir müssen zunächst einmal zur Kenntnis nehmen, dass
es sich um ein weltweites Problem handelt. Auf
Deutschland kommen gut 2 Prozent der weltweiten
Emissionen.
({1})
Deutschland wird dieses Problem nicht allein lösen können. Auch Europa wird dieses Problem nicht allein lösen
können. Was wir brauchen, sind weltweite Anstrengungen, und genau aus diesem Grund sind die Weltklimakonferenzen der Vereinten Nationen so wichtig.
({2})
Wir alle haben in den letzten Jahren erlebt, wie zäh
und schwierig die Verhandlungen sind und dass es immer nur in kleinen Schritten vorangeht. Aber diejenigen,
die jetzt die Konsequenz ziehen und sagen, wir sollten es
besser sein lassen, irren gewaltig. Denn letzten Endes
gibt es keine vernünftige Alternative dazu, dass wir auf
dieser Ebene miteinander sprechen, verhandeln, kooperieren und möglichst gemeinsame Lösungen finden.
Deswegen brauchen wir auch einen Erfolg. Wir müssen im nächsten Jahr in Paris zu einem Ergebnis kommen. Wir brauchen ein weltweites Abkommen über den
Klimaschutz, und in wenigen Wochen bei der nächsten
Konferenz in Lima müssen wir den Weg dazu bereiten.
Genau darauf müssen wir hinarbeiten, mit Nachdruck
und möglichst alle gemeinsam.
({3})
Meine Damen und Herren, Europa hat vorgelegt.
Europa hat beschlossen, die Treibhausgasemissionen bis
zum Jahr 2030 um mindestens 40 Prozent zu senken.
Europa geht voran. Dies ist ambitioniert, und Deutschland geht nochmals darüber hinaus, indem wir sagen:
40 Prozent nicht erst 2030, sondern bereits bis zum Jahr
2020.
({4})
Wir wissen auch: Dies reicht noch nicht. Es gibt eine Lücke. Wir müssen noch erhebliche Anstrengungen unternehmen. Deswegen wird es - die Ministerin hat es angesprochen - ein Aktionsprogramm geben. Ich bin sehr
dafür, dass wir in diesem Aktionsprogramm den Fokus
auch auf Bereiche lenken, die bislang noch nicht so im
Mittelpunkt standen.
Ich nenne das Beispiel Kreislaufwirtschaft. Unser
Ziel ist es, aus Abfällen mehr Rohstoffe zu gewinnen,
mehr Recycling zu betreiben und den Rohstoffverbrauch
zu senken. Dies ist ein effektiver Beitrag zum Klimaschutz, und es ist vor allem eine Frage technologischer
Innovation. Hier haben wir noch erhebliche Potenziale,
die wir in den nächsten Jahren nutzen müssen.
({5})
Auf einem wichtigen Feld ist Deutschland vorangegangen: bei der Energiewende. Wir haben enorm viel gemacht. Das zeigen die Zahlen. Im Jahr 2005, vor neun
Jahren, betrug der Anteil der erneuerbaren Energien bei
der Stromerzeugung 10 Prozent. Wir sind heute bei
25 Prozent. Dies ist eine rasante Entwicklung.
({6})
Es wird international sehr genau beobachtet - das erleben wir auch auf den Klimakonferenzen -, was wir in
Deutschland machen. Man spricht von der „German
Energiewende“. Aber es wird auch immer klar: Ob die
deutsche Energiewende zu einem Modell wird, ob uns
andere folgen und diese Energiewende nachahmen, was
wir uns wünschen, hängt letztlich davon ab, ob die Energiewende bei uns, im eigenen Land, gelingt.
({7})
Die Frage, ob die Energiewende gelingt, bedeutet im
Klartext: Sie muss unter ökologischen Gesichtspunkten
gelingen; sie muss aber auch in der Weise gelingen, dass
die Preise bezahlbar bleiben und die Wirtschaft und die
Industrie am Ende damit klarkommen.
Es geht also darum, die richtige Balance zu halten. Es
geht darum, eine nachhaltige Politik zu betreiben. Deswegen sage ich gerade auch an die Adresse der Grünen:
Wer an dieser Stelle überzieht und die Wettbewerbsfähigkeit einseitig über Gebühr belastet,
({8})
der schadet nicht nur der Energiewende, sondern auch
dem Klimaschutz.
({9})
Sie erweisen ihm einen Bärendienst, weil uns nämlich
niemand in der Welt folgen wird. Das müssen wir beachten. Es bleibt dabei: Die Energiewende muss gelingen.
Das ist unsere Aufgabe. Sie muss unter ökologischen,
ökonomischen und sozialen Gesichtspunkten gelingen.
Das ist unsere Herausforderung und zugleich unsere
Chance. Diese müssen wir nutzen.
({10})
Als nächster Redner spricht Ralph Lenkert.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geehrte Damen und
Herren! Täglich prasseln Schlagzeilen zu den Folgen des
Klimawandels hernieder. Beklemmung macht sich breit,
genauso wie ein Ohnmachtsgefühl. Trotz der vielen Klimagipfel steigt der weltweite CO2-Ausstoß. Die schlechten Nachrichten über einen abrutschenden Eisschild in
der Antarktis und über Kiribati, einen Inselstaat, der im
Pazifik versinkt, bereiten Sorgen. Aber wie kommt es,
dass bei Menschen trotz der Kenntnis der zukünftigen
riesigen Probleme durch den Klimawandel ein kollektiver Verdrängungsmechanismus einsetzt? Wie kommt es,
dass diese Bundesregierung weitermacht wie bisher?
Laut Soziologen liegt die Ursache darin, dass sowohl das
Problem als auch die Lösung für einen einzelnen
Menschen schwer fassbar sind. Sie sind einfach zu gigantisch. Deshalb wird Handeln unterlassen, auch von
dieser Bundesregierung. Berichte über vertagte Klimaschutzverhandlungen und angekündigte Vorhaben gibt
diese Bundesregierung ständig ab. Doch bei all dem gilt:
Außer Spesen bisher nicht viel gewesen!
({0})
Betrachten Sie neben dem globalen Klimaschutz unsere Region; das ist greifbar. Das Klima in Deutschland
verändert sich. Die Wettergrenze zwischen dem maritim
beeinflussten Süden und Westen der Republik und dem
kontinental geprägten Nordosten verschärft sich. Im
Südwesten steigt die Anzahl heftiger Gewitter mit Hagelschlag und lokalen Überschwemmungen. Im Osten
wird es im Sommer immer trockener und wärmer. Wenn
es regnet, dann gibt es zumeist Unwetter. Im Morgenmagazin der ARD lautete die heutige Zahl des Tages:
635 000. Das ist die Anzahl der in diesem Jahr durch
Hagel und Unwetter beschädigten Pkw. Der Schaden beläuft sich auf 1,5 Milliarden Euro. Das ist ein Allzeitrekord. Hinzu kommen - für mich viel gravierender - Tote
und Verletzte, zerstörte Häuser, beschädigte Infrastruktur
und nicht arbeitsfähige Firmen.
All diese Auswirkungen der Unwetter könnten wir
mit Maßnahmen vor Ort verhindern oder verringern.
Hier lässt sich das eine mit dem anderen verbinden. Für
die Linke ist das Prinzip klar. Der Natur muss man möglichst viel Raum zurückgeben, und das dauerhaft. Die
Renaturierung und Wiederbelebung von Feuchtgebieten
wirken der Austrocknung von Böden entgegen, dienen
gleichzeitig dem Hochwasserschutz bei Starkregen und
verbessern das Mikroklima. Es wird regional im
Sommer etwas kühler. Zusätzliche Grünanlagen in städtischen Bereichen fungieren als Wasserspeicher bei
Starkregen und Trockenheit. Sie können Innenstädte an
heißer werdenden Sommertagen abkühlen, senken damit
sogar den Energiebedarf von Klimaanlagen und dienen
gleichzeitig dem Staub- und Lärmschutz. In Thüringen
werden wir zukünftig mehr Flächen entsiegeln und renaturieren. Ehemalige Militärflughäfen und alte Industriebrachen werden grün, speichern Wasser im Boden,
und die optischen Schandflecken verschwinden. Das
verringert zudem die Hochwassergefahr. Ganz nebenbei
bindet die zusätzliche Grünmasse CO2, was wiederum
dem Klimaschutz dient.
All diese Maßnahmen kann man im kleinen Maßstab
beginnen. Es sind Mosaiksteinchen bei der Lösung des
großen Klimaproblems. Aber, meine Damen und Herren
von der Koalition, Sie behaupten, Deutschland allein
könne beim Klimaschutz nichts bewirken. Das ist der
Klassiker: Verdrängung. Beginnen Sie im Kleinen! Legen Sie Klimaschutz- und Klimaanpassungsprogramme
langfristig an! Es ist Schwachsinn, wenn man bei der
Jahrhundertaufgabe Klimaschutz Projekte nach wenigen
Jahren auslaufen lässt. Viele Kommunen, ob im Ruhrgebiet oder in Ostdeutschland, können sich Klimaschutzmaßnahmen nicht leisten, weil sie nicht in der
Lage sind, die benötigten Eigenmittel aufzubringen.
Deswegen fordern wir Förderprogramme, die ohne Eigenmittel auskommen.
Gehen wir die kleinen Schritte zum Klimaschutz vor
Ort. Das gibt vielleicht auch Ihnen die Kraft, die großen
Schritte international zu gehen.
({1})
Die Bundesregierung hat genug geredet. Lassen Sie
uns im Bundestag mit Handeln anfangen, zuerst im Kleinen, im Greifbaren, und dann mit Mut zum Großen. Wir
Abgeordnete, wir bestimmen die Gesetze, wir machen
den Haushalt, wir können entscheiden.
Danke.
({2})
Als nächster Redner spricht Dr. Matthias Miersch.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich glaube, es ist richtig, dass die Grünen diese Aktuelle
Stunde nutzen, um den Bericht des Weltklimarats zum
Thema zu machen. Es ist gut, dass wir immer wieder
über dieses Thema reden. Wenn man die Gazetten richtig
wahrnimmt, dann ist es auch in Deutschland immer noch
so, dass an einigen Stellen gezweifelt wird.
Deswegen will ich am Anfang für meine Fraktion
sehr deutlich machen: Es geht nicht nur um Klimaschutz, sondern es geht auch darum, weitaus höhere
volkswirtschaftliche Folgekosten - nach Sir Nicholas
Stern das Fünffache - zu vermeiden. Klimaschutz ist
auch eine wirtschaftliche Frage.
({0})
Oft wird ein Gegensatz zwischen Wirtschaft und
Ökologie gesehen. Dazu muss man aber sagen: Es geht
letztlich auch um das Verhindern von Abhängigkeiten
von anderen Staaten; denn die Ressourcen sind endlich,
sie sind begrenzt. Auch deswegen ist Klimaschutz mehr
als eine ökologische Frage, es ist ein urökonomisches
Erfordernis, in den Klimaschutz zu investieren.
({1})
Herr Krischer, seien Sie beruhigt. Herr Homann ist
nun wirklich alles andere als von uns vorgeschickt worden. Ich will an der Stelle sagen - ich finde es richtig,
dass auch die Bundesumweltministerin das hier gesagt
hat -: Herr Homann, die 40 Prozent sind unverhandelbar.
({2})
Kümmern Sie sich um gute Netzplanung, aber nicht um
das Klimaschutzziel!
({3})
Ich finde es richtig, dass Sie, Herr Lenkert, die Frage
stellen, wie wir das hier im Parlament machen. Aber ich
fände es gut, erst einmal hinzuhören. Wir haben eine
Bundesumweltministerin, die sich hier eindeutig zum
Klimaschutz und zu dem 40-Prozent-Ziel bekannt hat.
({4})
- Das hat sie. Das können Sie im Protokoll von heute
nachlesen. Sie hat es gerade eben an diesem Pult gesagt.
({5})
Es gehört schon zur Redlichkeit, zuzuhören. - Sie hat
seit ihrer Amtseinführung gesagt, dass wir bis jetzt ein
Defizit haben und uns 7 bis 8 Prozent fehlen.
({6})
Deswegen finde ich es richtig, dass wir, die wir alle
einer Meinung sind - ich hoffe es jedenfalls -, sie in diesem Vorhaben unterstützen und sagen: Ja, es ist richtig
gewesen, alle Ressorts aufzufordern. Denn es darf nicht
nur die Aufgabe des Bundesumweltministeriums in dieser Regierung sein, die Klimaziele zu erreichen.
({7})
Wir hatten in den letzten Jahren eine Blockade zwischen Wirtschafts- und Umweltministerium. Die weichen wir auf. Wir haben jetzt, glaube ich, eine Allianz
zwischen dem Umweltressort, dem Wirtschaftsressort
und auch der Bundeskanzlerin. Das sage ich hier ganz
deutlich. Ich bin mir sehr sicher, dass diese drei auch
ihre Kolleginnen und Kollegen im Kabinett mitnehmen
und wir am 3. Dezember beginnen können, über ein
Maßnahmenpaket zu reden. Ich finde, ein Vorlauf von
einem Jahr für eine neue Bundesregierung ist recht und
billig.
Aber wir müssen als Parlament auch schauen, ob das
ausreicht. Insofern bin ich der Bundesumweltministerin
genauso dankbar dafür, dass sie am Montag die Frage
gestellt hat, wie es mit der Versorgung mit fossiler Energie weitergeht. Frau Bulling-Schröter, das alles ist nicht
einfach. Das wissen auch Sie. In Brandenburg ist das
Verhältnis der Linken zur Kohle auch nicht so ganz einfach.
({8})
- Ja, Herr Krischer, auch in NRW ist das nicht so einfach
mit den Grünen. Danke für den Zwischenruf. - Ich will
damit sagen: Dass die Bundesumweltministerin dieses
Thema auf die Tagesordnung gesetzt hat, ist richtig. Wir
sollten sie dabei unterstützen; denn es kann nicht sein,
dass hochflexible Gaskraftwerke vom Netz gehen und
alte Kohlemöhren sich rechnen. Dabei müssen wir sie
unterstützen.
({9})
Deswegen, Herr Hofreiter, glaube ich, sollten wir
noch einmal Luft holen und schauen, was die Bundesregierung im Dezember vorlegt. Wir sollten - da bin ich
mir ganz sicher - diese Bundesumweltministerin unterstützen
({10})
im Einsatz dafür, dass das eintritt, was wir wollen, nämlich die Vorreiterrolle Deutschlands in der Europäischen
Union und die Vorreiterrolle der Europäischen Union im
UN-Konzert. Unsere Glaubwürdigkeit wird sich letztlich
an der Vorreiterrolle messen lassen müssen. - In der
Aktuellen Stunde gibt es leider nicht die Möglichkeit
nach einer Zwischenfrage; deswegen kann ich sie nicht
zulassen.
Frau Umweltministerin, Sie werden mit Sicherheit in
den nächsten Monaten viel Kraft brauchen; denn das,
was Sie angestoßen haben, war in den letzten Jahren
nicht durchsetzbar. Das muss man hier immer wieder
sagen. Sie haben uns und, ich hoffe, das ganze Haus an
Ihrer Seite.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Als nächste Rednerin spricht Annalena Baerbock.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Da Matthias Miersch gleich losmuss, fange
ich gleich mit Ihnen an: Wir würden die Bundesumweltministerin ja gerne unterstützen. Liebe Frau Hendricks,
dann müssen Sie aber auch ehrlich sein. Sie haben groß
angekündigt: Wir wollen eine Reform des ETS, am besten 2017. - Das wird nicht eintreten, und jetzt sagen Sie
hier: Die Ergebnisse sind ein großer Erfolg. - Das passt
vorne und hinten nicht zusammen.
({0})
Sie haben groß angekündigt: Wir wollen aus der
KfW-Finanzierung für Kohlekraftwerke aussteigen. Jetzt
ist relativ klar, dass das nicht die IPEX-Projekte betreffen wird. Auch das kann man nicht als Erfolg verkaufen.
({1})
Sie haben außerdem groß angekündigt: Kohlekraftwerke müssen vom Markt. - Wir wollen Sie da unterstützen. Aber darum haben wir gehofft, dass Sie jetzt
hier das tun, was Herr Miersch mittlerweile gemacht hat,
nämlich zu sagen: Wir halten an dem 40-Prozent-Ziel
fest.
({2})
- Nein, sie hat gesagt: Wir halten am 2-Grad-Ziel für
2050 fest.
({3})
Außerdem hätten Sie Herrn Homann eine deutliche
Absage erteilen sollen und hätten sagen sollen, dass es
nicht sein kann, dass wir dieses Klimaziel aufkündigen.
Wenn Sie das täten, unterstützen wir Sie dabei; aber
dann kämpfen Sie auch dafür.
Lieber Herr Miersch, kämpfen Sie in der SPD dafür,
dass das auch im Wirtschaftsministerium so gesehen
wird. Es ist ja nicht so, dass es von irgendeiner anderen
Partei geführt wird. An dessen Spitze sitzt die SPD, und
aus diesem Hause wird dieses Ziel infrage gestellt. Deswegen ist es Ihre Verantwortung, für die Erreichung dieses Ziels ordentlich zu kämpfen.
({4})
Was klar ist: Mit den Zielen, die beim EU-Gipfel festgelegt wurden, erreichen wir das 2-Grad-Ziel eben nicht.
Daher kann es doch nicht richtig sein, die Ergebnisse des
EU-Gipfels hier als Erfolg zu verkaufen. Wir müssen
eine Schippe oben drauflegen. Wenn Sie, wie hier immer
propagiert, die Vorreiterin sind, warum machen Sie es
dann nicht wie Dänemark? Frau Weisgerber, Dänemark
hat nach dem Gipfel verkündet: Das reicht uns nicht;
deswegen legen wir eine Schippe oben drauf und sagen:
Wir wollen nicht erst 2030 aus der Kohle aussteigen,
sondern schon 2025. - Solche Worte kamen aus
Deutschland nicht. Man stellt hier eher das Klimaziel
infrage. So etwas macht doch kein Vorreiter.
({5})
- Frau Weißgerber, ich weiß, Sie wollen darüber nicht
reden; Sie haben ja eben noch einmal offiziell zu Protokoll gegeben, dass es Sie nervt, alle zwei Wochen über
Klimafragen zu reden. Wir aber wollen darüber reden.
Weil es ja viel zu tun gibt, legen wir nicht die Hände in
den Schoß; vielmehr müssen wir Antworten geben, und
genau das erwarten wir auch von Ihnen als Regierungsfraktionen.
({6})
- Ja, dann machen Sie mal.
({7})
Der IPCC hat uns klar gesagt, wir müssen jetzt und
nicht irgendwann in 20 Jahren mit dem Klimaschutz anfangen. Das sagt nicht nur der IPCC, sondern das sagen
auch große Wirtschaftsunternehmen. Sie haben Ihnen
vor dem EU-Ratsgipfel doch einen Brief geschrieben
und haben gesagt: Wir brauchen ambitionierte 2030Ziele, weil wir sonst im internationalen Vergleich nicht
mehr wettbewerbsfähig sind. Ignorieren Sie doch nicht
einfach, was Ihnen die Wirtschaft da rät.
({8})
Andere Länder wie Schweden gehen voran. Schweden sagt: Unser Staatskonzern Vattenfall soll aus der
Kohleverstromung aussteigen. Was ist die Antwort aus
Deutschland? Die SPD-Linken-Regierung in Brandenburg sagt - man muss es leider so klar feststellen -: Oh,
mein Gott, die Schweden wollen aus der Kohleverstromung aussteigen; dann steigen wir als Land Brandenburg am besten ein. - Das würde das nur künstlich
verlängern. Weil sich aus wirtschaftlichen Gründen kein
Unternehmen findet, das dieses Risiko eingehen will,
erwägt jetzt der neue Ministerpräsident Woidke sogar,
öffentliche Bürgschaften auszureichen, damit es einen
neuen Betreiber von Kohleverstromung gibt. Das ist
mehr als absurd.
({9})
Wir fordern Sie daher noch einmal eindringlich auf:
Machen Sie als Bundesumweltministerin, als SPD-Fraktion, als Klimapolitiker innerhalb der CDU/CSU deutlich: Hände weg vom Klimaziel! Wir müssen bei dem
40-Prozent-Ziel für 2020 bleiben. Wir müssen dabei
bleiben, den Wandel im fossilen Kraftwerkspark einzuleiten, und zwar nicht nur aus ökologischen, sondern
auch aus ökonomischen Gründen; denn wir wissen: So
kann es im Strommarkt nicht weitergehen. Wenn Sie am
3. Dezember nicht zu dieser Erkenntnis kommen sollten,
dann können Sie gleich die Hotelbuchungen für Lima
stornieren; denn wir brauchen gar nicht nach Lima zu
fahren, wenn Deutschland dort nichts vorzutragen hat.
Wenn Sie sagen: „Wir wollen da nichts weiter tun“,
dann schlagen Sie doch einmal im IPCC-Report nach! In
dem Bericht steht deutlich: Wenn wir so weitermachen
wie bisher, wenn wir an die fossilen Energien nicht herangehen, dann wird es zu einer Erderwärmung um mehr
als 4 Grad Celsius kommen. Wenn es zu einer Erderwärmung um mehr als 4 Grad Celsius kommt, dann steigt
der Meeresspiegel um mindestens 80 Zentimeter. - Sie
können in Ihre zukünftigen Haushalte schon einmal die
Milliarden einstellen, die wir brauchen, um Deutschland
davor zu schützen.
Herzlichen Dank.
({10})
Als nächster Redner spricht der Kollege Andreas
Jung.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In der Debatte vor dieser Aktuellen Stunde ging es um
Flüchtlingsfragen, um die Frage, wie Flüchtlinge gerettet
werden können, und um die Frage der Aufnahme von
Flüchtlingen. Natürlich wurde dort wieder darauf hingewiesen, dass wir eine besondere Verantwortung haben,
dazu beizutragen, dass Menschen ihre Heimat erst gar
nicht verlassen müssen. Dabei ging es angesichts der aktuellen Krisen natürlich um sicherheitspolitische Fragen.
Ich will die Debatte jetzt aber nutzen, um noch einmal
darauf hinzuweisen: Das ist selbstverständlich auch ein
Thema für die Klimapolitik. Auch bei dieser Frage entscheidet sich, ob Menschen ihre Lebensgrundlage, ihre
Heimat verlieren oder ob sie in ihrer Heimat bleiben
können.
Ich erinnere mich an die Weltklimakonferenz in Bali.
Dort hat der Umweltminister von Papua-Neuguinea gesagt: Bei der Frage des Klimaschutzes geht es für mein
Land, für meine Insel, für die Menschen in meiner Heimat nicht um irgendeine politische Frage; es geht um Leben und Überleben. - Er hat an die Weltgemeinschaft appelliert, diese Verantwortung für die Menschen in seiner
Heimat und für die Menschen überall auf der Welt wahrzunehmen. Das führt uns der IPCC-Bericht erneut vor
Augen. Er zeigt uns nochmals und noch eindringlicher
das, was in den letzten Jahren und in den vorausgegangenen Berichten schon herausgearbeitet wurde. Es gibt
keine Ausreden, und es darf keine Ausreden geben. Wir
brauchen ein gemeinsames, international abgestimmtes
Vorgehen. Wir brauchen ein wirksames Klimaschutzabkommen auf internationaler Ebene.
({0})
Weil die Debattenbeiträge hier durchaus differenziert
waren, will ich darauf hinweisen, dass die letzten Klimakonferenzen doch nie daran gescheitert sind, dass
Deutschland oder die Europäische Union nicht bereit gewesen wäre, mitzumachen. Wir haben immer anderes signalisiert. Wir haben dafür gekämpft, wir haben darauf
gedrungen, dass es ein Klimaabkommen gibt. Wir waren
bereit, zu unterschreiben. Wir haben versucht, andere
mitzunehmen. Wir haben auch schon wichtige Schritte
unternehmen können. Deutschland ist hier über viele
Bundesregierungen unterschiedlicher parteipolitischer
Prägung hinweg immer treibender Motor gewesen und
ist es auch weiterhin. Wir stehen dazu und stehen auch
zu dieser Verantwortung.
({1})
Das ist so, und das bleibt so, jetzt vor Lima und dann
auch vor der Konferenz im nächsten Jahr in Paris.
Wenn ich sage: „Es gibt keine Ausreden“, dann will
ich gleichzeitig sagen: Es gibt gar kein Vertun; die Klimaziele bleiben. - Sie haben sich teilweise auf einen Debattenbeitrag von Herrn Homann gestern bezogen. Ich
glaube, es ist in dieser Aktuellen Stunde deutlich geworden: Das ist nicht die Haltung der Bundesregierung. Das
ist nicht die Haltung der Koalition. Das ist nicht die Haltung der Unionsfraktion. In dieser Debatte sprechen von
unserer Seite fünf Redner; alle bekennen sich zu diesem
Klimaziel.
({2})
Sie haben die Bundesumweltministerin gehört; auch sie
hat sich klar dazu geäußert. Sie hat darauf hingewiesen,
dass es eine enge Abstimmung zwischen ihr und der
Bundeskanzlerin gibt. Es ist klar: Niemand wird vorgeschickt; das wird entschieden zurückgewiesen. Die Klimaziele bleiben bestehen.
Wir diskutieren jetzt darüber, wie wir auch in der
Europäischen Union zu ambitionierten Klimazielen
kommen können. Wir haben in Brüssel einen ersten
Schritt machen können. Es ist doch wahr - das ist auch
von der Bundesregierung so vertreten und öffentlich
kommuniziert worden -: Wir Deutsche wären auch bereit gewesen, darüber hinauszugehen. Deshalb war es
uns wichtig, dass formuliert wurde, dass der CO2-Ausstoß in der EU bis 2030 um mindestens 40 Prozent sinken soll. Mindestens - das heißt, da ist Spielraum nach
oben. Wir als Deutsche haben für diesen Spielraum geworben. Aber andere wollten noch nicht einmal das mitmachen. Deshalb war es ein Verhandlungserfolg der
Kanzlerin und der Bundesregierung, dass das erreicht
wurde.
({3})
Darauf gilt es jetzt bei den nächsten Schritten aufzubauen; denn unsere besondere Verantwortung besteht
nicht nur darin, Ziele zu formulieren, sondern auch darin, diese zu erreichen.
Es wurde gefragt: Wo bleibt denn die Ehrlichkeit? Ich finde, es ist schon eine besondere Form von Transparenz, wenn Ziele dargestellt werden und gleichzeitig gesagt wird, dass es im Moment noch eine Lücke gibt und
wir etwas tun müssen, um sie zu schließen. Genau darüber wird jetzt nicht nur diskutiert, sondern das wird im
Dezember vom Bundeskabinett entschieden. Dann werden wir im Bundestag darüber entscheiden und damit
unseren Beitrag dazu leisten.
({4})
Das klare Signal ist: Deutschland hat ehrgeizige Ziele
und ergreift ehrgeizige Maßnahmen, um sie umzusetzen.
Wir stehen zur Reform des Emissionshandels, die wir
brauchen, damit der CO2-Ausstoß von Kohlekraftwerken reduziert wird, und wir sind uns sicher, dass die G 7
dabei eine wichtige Rolle übernehmen müssen. Das haben die Kanzlerin und die Bundesumweltministerin angekündigt. Deutschland und die Bundesregierung werden weiter eine drängende Rolle, eine Vorreiterrolle in
der Klimapolitik spielen.
({5})
- Herr Krischer, Sie haben gesagt, Sie hätten sich nicht
vorstellen können, dass Sie die Regierung Kohl einmal
als Vorreiter bezeichnen würden. Möglicherweise kommen Sie in einigen Jahren auch zu einem milderen Urteil
über diese Bundesregierung. Ich bin mir sicher, wir können die Weichen dafür in den nächsten Wochen stellen.
Danke.
({6})
Als nächster Redner hat der Kollege Frank Schwabe
das Wort.
({0})
Liebe Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und
Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Wir haben
beim Thema Klimaschutz eigentlich zwei Probleme. Das
erste Problem ist die Ungleichzeitigkeit von Handeln
und Wirkung. Wenn CO2 in die Atmosphäre gelangt,
dauert es, bis wir sehen, welche Auswirkungen das hat.
Das ist, glaube ich, ein gravierendes Problem. Das
zweite gravierende Problem ist - der Kollege Lenkert
hat ja dargestellt, welche Probleme mittlerweile auch in
Deutschland sichtbar sind -, dass wir und andere in der
Welt leider für den Klimawandel verantwortlich sind,
aber zuerst andere in der Welt die Auswirkungen zu tragen haben. Ich bin mir ziemlich sicher: Wenn das anders
wäre, würde man weltweit anders über Klimaschutz reden, und dann wären wir deutlich weiter.
Trotzdem will ich optimistisch sein. Der Weg ist international eigentlich durchaus klar. Ich sehe auch gute
Entwicklungen: weg von fossilen Energien, hin zu erneuerbaren Energien, hin zur Energieeinsparung. Die
Welt ist zwar zum Teil durchaus indifferent, aber es gibt
auch Fortschritte. Deswegen bin ich auch optimistisch,
dass wir 2015 in Paris ein gutes Abkommen erreichen
werden.
Wahr ist - das ist hier mehrfach betont worden -: Die
Welt schaut beim Ausbau der erneuerbaren Energien auf
Deutschland. Wir waren diejenigen, die aus Deutschland
heraus die Energierevolution - so muss man das, glaube
ich, benennen - weltweit ermöglicht haben.
({0})
- Ja, natürlich: zunächst einmal „waren“. Wir haben einen Anstoß gegeben, sodass die Preise weltweit deutlich
gefallen sind. - Man schaut aber auch auf das, was bei
uns „Energiewende“ genannt wird, und darauf, wie wir
das in Deutschland organisieren.
Ich will deutlich machen, dass der Beschluss zu den
Klimazielen für 2030 für Europa ein Kompromiss war.
Wir hätten uns in der Tat mehr gewünscht.
({1})
Aber am Ende müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass
mit Blick auf eine Einigung der 28 Staaten zurzeit nicht
mehr möglich ist. Das betrifft die drei Ziele, über die wir
reden. Das betrifft aber auch den Sektor des Emissionshandels. Auch dort ist viel zu wenig passiert. Deswegen
ist es richtig und notwendig, dass das, was wir hier verabredet haben, über alle Fraktionen hinweg eingehalten
wird.
Ich schätze ja vieles an den Grünen, und Sie müssen
uns treiben - das ist auch richtig so -; aber es geht natürlich nicht, dass Sie der Ministerin Falsches unterstellen.
Ich habe noch einmal den Redetext der Ministerin durchgesehen. Wenn dort steht: „Es besteht kein Zweifel: Das
Erreichen des 40-Prozent-Ziels ist die zentrale Herausforderung für mich als Bundesumweltministerin“ - ich
zitiere Frau Hendricks; das hat sie so gesagt - „und eines
der wichtigsten Projekte dieser Regierung“, dann ist das
doch, glaube ich, nicht in Zweifel zu ziehen
({2})
und dann sollten Sie das an dieser Stelle auch nicht tun.
Sie sollten sich auch nicht an Herrn Homann orientieren,
der vielleicht eher im Nachklang seines ehemaligen
Wirtschaftsministers bestimmte private Philosophien
vertritt. Ich finde, man kann ihm sagen, dass er das eigentlich nicht tun sollte. Er muss wissen, dass Dinge anders einsortiert werden, wenn er sich in irgendwelchen
Diskussionsrunden dahin gehend äußert. Aber das gilt
ganz gewiss nicht für diese Bundesregierung. Das gilt
auch für uns alle nicht. Das gilt im Übrigen auch nicht
für den Bundeswirtschaftsminister.
Ich habe gerade noch einmal Revue passieren lassen,
wie es eigentlich zu dem Reduktionsziel von 40 Prozent
gekommen ist. Wenn man das einmal historisch einordnet, war es Bundesumweltminister Sigmar Gabriel, der
in den Jahren 2005 bis 2009 dafür gekämpft hat, dieses
Ziel bei uns in Deutschland festzuschreiben. Insofern
wäre es natürlich völlig absurd, ihm zu unterstellen, dass
er dieses Ziel unterminieren möchte.
({3})
Ganz im Gegenteil: Er wird in der Tat gemeinsam mit
Barbara Hendricks dafür sorgen, dass dieses Ziel auch
eingehalten werden kann.
({4})
Obwohl ich es hier schon mehrfach gesagt habe, will
ich es noch einmal betonen: Das große Verdienst von
Barbara Hendricks ist, dass wir uns ehrlich machen in
der Debatte; denn in den letzten Jahren haben wir uns in
die Tasche gelogen. Ich muss leider auch noch einmal
sagen: Insbesondere in den letzten vier Jahren gab es
eher Rückschritte als Fortschritte.
({5})
In diesem Zusammenhang ist es wichtig, auch darüber
zu diskutieren, dass es im Jahr 2016 einen Klimaschutzplan gibt, weil wir endlich, wie ich finde, gesetzlich
überprüfbar deutlich machen müssen,
({6})
welche Schritte wir im Klimaschutz gegangen sind und
welche wir noch gehen müssen. Deswegen ist es wichtig, dass wir am 3. Dezember 2014 ein solches Klimaaktionsprogramm präsentiert bekommen.
Eines bleibt, auch nach dem 3. Dezember: Wir werden hoffentlich ein gutes Programm - ich kenne es auch
noch nicht - für den Bereich der nichtemissionshandelspflichtigen Sektoren sehen. Was problematisch bleibt, ist
der Bereich der emissionshandelspflichtigen Sektoren;
gar keine Frage. Wir werden Antworten finden müssen,
was passiert, wenn der Emissionshandel auf europäischer Ebene nicht ausreichend funktioniert. Das hat dann
auch etwas mit Kraftwerksparks in Deutschland zu tun.
Diese Frage werden wir miteinander diskutieren müssen.
({7})
Ansonsten wird das 40-Prozent-Ziel in der Tat nicht zu
erreichen sein. Das ist die Diskussion, die wir in den
nächsten Monaten gemeinsam zu führen haben.
({8})
Ich hätte jetzt gerne zitiert, was Sigmar Gabriel bei
der Klimakonferenz in Bali 2007 gesagt hat. Zeit dafür
habe ich leider nicht mehr. Ich kann das irgendwann einmal nachliefern. Dort hat er nämlich deutlich gemacht,
dass es genau darum geht, dass am Ende die Energieversorgungsunternehmen in Deutschland begreifen, dass
wir weg müssen vom herkömmlichen Kraftwerkspark
hin zu erneuerbaren Energien.
({9})
Mein Eindruck ist, dass viele Unternehmen auf einem
guten Weg sind. Unternehmen wie Eon und andere lob5860
byieren mittlerweile für einen höheren CO2-Preis im
Emissionshandel. Wer hätte das vor ein paar Jahren gedacht? Insofern bin ich optimistisch. Wir sollten Vertrauen in die Bundesregierung haben und abwarten, was
am 3. Dezember auf den Tisch kommt. Dann werden wir
hier sicherlich wieder zusammenkommen und das diskutieren.
Ein herzliches Glückauf.
({10})
Als nächster Redner spricht der Kollege Matern von
Marschall.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wenn wir im Dezember nach Peru fahren,
dann werden Deutschland und auch die Staaten der
Europäischen Union deutlich machen: Wir stehen zu unseren auf dem Europäischen Rat am 23. und 24. Oktober
2014 eingegangenen Verpflichtungen, und wir stehen zu
unserer globalen Verantwortung. Wir können klar und
deutlich sagen, wohin die Reise geht. Mit Blick auf die
Konferenz in Paris müssen wir einen klaren und verbindlichen Fahrplan vorlegen. Einen Streik können wir uns
in diesem Zusammenhang nicht mehr leisten. Die Bundeskanzlerin - das ist gesagt worden - hat diese ambitionierten Ziele auf dem Europäischen Rat durchgesetzt.
Dafür sind wir ihr sehr dankbar; Ministerin Hendricks
hat es ausgeführt, und ich möchte das auch noch einmal
sehr ausdrücklich sagen.
({0})
Dass Europa solche ambitionierten Ziele vorträgt,
entspricht auch der besonderen Verantwortung Europas.
Bei einem Blick in die Geschichte Europas müssen wir
nämlich sagen: Die industrialisierten Länder sind maßgeblich verantwortlich für die Schädigung des Klimas,
die wir heute sehen. Das bedeutet auf der anderen Seite
aber nicht, dass weniger industrialisierte Länder keine
Anstrengungen unternehmen müssen. Im Gegenteil, sie
müssen es sehr wohl. Wir wollen und werden ihnen dabei helfen, und zwar unter anderem mit dem Green Climate Fund, der, wie Sie wissen, bis zum Jahr 2020 mit
100 Milliarden Dollar aufgestockt werden muss. Auch
diese Verpflichtung wollen wir gegenüber den weniger
industrialisierten Ländern eingehen.
Eine Klimapolitik, die erfolgreich sein will, ist aber
eine Klimapolitik - davon bin ich ganz fest überzeugt -,
die nicht anklagen und nicht verurteilen darf, sondern
die praktisch und verbindlich vorangehen muss. Darum
geht es in Lima, und darum geht es dann in Paris.
({1})
Die Frage, wie wir diese ambitionierten Klimaziele
vor Ort erreichen, bezieht sich auf ein riesiges Themenfeld. Vieles davon ist heute angesprochen worden. Ich
glaube, wir sollten eine Thematik ganz genau in den Fokus nehmen: Forschung und Entwicklung. Wir haben die
deutsche Hightech-Strategie, wir haben nationale Programme angehängt, wir haben ein Horizon-2020-Programm in Europa. Wir müssen diese Programme verstärken und verstetigen. Es geht im Wesentlichen darum,
dass Unternehmen und Forschung den Weg in eine
marktreife Technologieentwicklung CO2-armer Produkte gemeinsam gehen. Das ist von ganz außerordentlicher Bedeutung.
Frau Staatssekretärin Bär, wir hatten vorgestern
- jetzt kommt ein Punkt, den ich ganz besonders betonen
möchte - eine Veranstaltung in der amerikanischen Botschaft - manche wird das wundern -, bei der wir uns die
dies- und jenseits des Atlantiks befindliche Entwicklung
der Wasserstoff- und Brennstoffzellentechnologie angeschaut haben. Kalifornien - für sich genommen die achtgrößte Volkswirtschaft der Welt - ist dabei, ein Wasserstofftankstellennetz aufzubauen, das bis zum Jahr 2021/
2022 fertiggestellt sein soll. Dann können in diesem großen amerikanischen Bundesstaat die Menschen CO2-frei
mobil unterwegs sein. Weil wir gerade über die Vorreiterrolle diskutieren, will ich schon deutlich sagen, dass
wir uns in Europa und in Deutschland auch aus wirtschaftlicher und technologischer Perspektive anstrengen
müssen, unsere technologische Vorreiterrolle zu halten.
({2})
Ich will noch einmal ganz deutlich sagen: In Kalifornien steht das Silicon Valley. Es stellt sich die Frage, was
von dort in Zukunft an technologischer Vorreiterrolle
noch zu erwarten ist. Die Amerikaner sind eben nicht
hinter dem Mond, wie Sie es von den Grünen immer
meinen.
({3})
Ich glaube im Übrigen auch nicht, dass das TTIP, das Sie
so kritisieren, in dieser Hinsicht schädlich ist. Ganz im
Gegenteil, es wird den Wettbewerb auch um diese herausragenden neuen Technologien beflügeln. Dann werden wir sehen, ob Amerika bei dieser modernen CO2-armen Technologie nicht plötzlich vor uns ist. Wir müssen
uns anstrengen.
({4})
Ich glaube daher, dass wir auf europäischer Ebene besonders stark in Forschung und Entwicklung investieren
müssen.
Gehen wir also mit Freude, aber auch mit Ehrgeiz und
Kraft an diese Herkulesaufgabe! Glauben wir im Übrigen an das Machbare und weniger an die Katastrophe!
Gehen wir nach Peru mit folgender Einstellung: Prima
Klima in Lima.
({5})
Als nächste Rednerin spricht die Kollegin Nina
Scheer.
({0})
Liebe Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen! Der IPCC-Report verlangt die vollständige Dekarbonisierung in allen Sektoren bis spätestens
zum Jahr 2100. Daraus folgt zuallererst für uns in
Deutschland, dass wir natürlich nicht das Minderungsziel von 40 Prozent bis 2020 infrage stellen. Ich bin froh,
dass das hier so deutlich klargestellt wurde. Zu den Äußerungen von Herrn Homann ist alles gesagt worden.
Man sollte sie nicht mit der Bundesregierung in Verbindung bringen. Darüber hinaus - das wurde auch gesagt müssen wir uns für die Schlussfolgerungen einsetzen,
die der IPCC-Report nahelegt, um daraus in Paris entsprechende Handlungserfordernisse zu beschließen.
Wenn wir uns die Chronologie der Klimareporte der
letzten Jahre anschauen, so erkennen wir, dass die Reporte stets eine eindeutige Aussage enthalten: Ein Nichthandeln ist auf jeden Fall viel teurer als ein Handeln, als
eine engagierte Klimapolitik.
({0})
Bereits heute können wir sehen: Die Vollkosten neuer
Wind- und Solaranlagen sind auf dem gleichen Niveau
wie die Vollkosten neuer Steinkohle- und Gaskraftwerke. Die emissionsarmen Technologien verursachen
somit heute schon keine höheren Kosten mehr als die
fossilen Energieträger, die einen großen Rucksack an externen Kosten mit sich schleppen. Insofern ist es jetzt
wichtig, in den Bereichen der Erneuerbare-EnergienTechnologien, der Effizienzsteigerungsmöglichkeiten
und der Wärmeenergiewende endlich auf die Chancen
zu blicken und, wenn wir uns diesen neuen Technologien widmen, nicht so sehr die damit einhergehenden
Belastungen in den Fokus zu nehmen. Die ErneuerbareEnergien-Technologien, durch deren Anwendung wir
den Ausbau in den letzten Jahren erfolgreich hinbekommen haben - darauf ist hingewiesen worden -, zeigen
uns auf, welche wirtschaftlichen Chancen in ihnen stecken; wir müssen sie einfach nur besser wahrnehmen.
Die im Bericht dargestellten Herausforderungen liegen also darin, endlich die Chancen einer nachhaltigen
Wirtschaftspolitik und einer nachhaltigen Wirtschaftsweise zu erkennen und uns auf eine zukunftsfeste Wirtschafts- und Industriepolitik einzuschwören. Die Energiewende ist der Schlüssel zu ebendieser Industriepolitik.
Das ist eine Erkenntnis, die wir aus dem Report zu ziehen haben.
Ich möchte in diesem Zusammenhang ein Zitat von
Ban Ki-moon, dem UN-Generalsekretär, anbringen. Er
sagte auch in Richtung großer Investoren, dass sie mehr
Geld in erneuerbare Energien als in fossile Brennstoffe
stecken sollen. Damit sagt er nicht nur, dass wir die erneuerbaren Energien voranbringen sollen, sondern auch,
dass wir etwas abbauen sollen, dass wir aussteigen sollen.
({1})
Es geht um die Debatte über das sogenannte Devestment. Das hört sich ein bisschen rückwärtsgewandt an;
es ist aber vorwärtsgewandt. Das genau ist der Anknüpfungspunkt. Ban Ki-moon weist richtigerweise darauf
hin, dass es nicht nur um den Ausbau erneuerbarer Energien geht, sondern auch um einen Strukturwandel, um
den Ausstieg aus veralteten Energiegewinnungsformen.
({2})
Dieser Herausforderung müssen wir uns natürlich
auch in Deutschland stellen, gerade vor dem Hintergrund der immensen Überkapazitäten am Strommarkt.
Ich finde es richtig, dass unsere Umweltministerin genau
dieses Themenspektrum benannt hat. Angesichts der
Überkapazitäten bedarf es eines klimaschutzgerechten
Abbaus, und zwar nur eines solchen. Dafür müssen wir
aber einen Perspektivwechsel vornehmen. Jetzt werde
ich vielleicht etwas philosophisch. Aber wenn es um einen Perspektivwechsel geht, müssen wir uns vergegenwärtigen, dass eine Belohnung von Nachhaltigkeitspolitiken in vielen Bereichen nicht angezeigt ist. Wenn wir
schauen, wie Ratingagenturen aufgestellt sind, wie das
Handeln nicht nur von Investoren, sondern auch von
Staaten bewertet wird, dann sehen wir, dass die Bewertungen häufig nicht an Zukunftsfestigkeit und Nachhaltigkeit ausgerichtet sind. Vielleicht wäre es eine Idee, die
Entlastungseffekte, die Investitionen in Zukunftstechnologien mit sich bringen, sowie die Langfristigkeit und
Zukunftsfestigkeit dieser Investitionen in der Bewertung
des Staatshandelns abzubilden.
({3})
Ich sehe, ich bin schon am Ende meiner Redezeit. Insofern möchte ich an dieser Stelle nur einen letzten Aspekt nennen - das wäre eine weitere Forderung an uns
selbst -: Bei internationalen Verhandlungen sollten wir
im Blick behalten, dass im Hinblick auf das internationale Verständnis von Klimaschutzpolitik Korrekturbedarf besteht. Ich finde es nicht gut, dass die Atomenergie
dort nach wie vor - das ist ja nicht erst seit heute so - als
eine klimafreundliche Technologie angesehen wird. Das
ist eine Hausaufgabe, die Deutschland hat; denn wir sind
mit diesem Gedanken schon weit fortgeschritten. Wir
müssen das auch international auf die Beine stellen.
Vielen Dank.
({4})
Als letzter Redner in der Debatte spricht der Kollege
Carsten Müller.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kollegen! Die heutige Aktuelle Stunde ist
eine abermalige gute Möglichkeit, die Haltung der Bundesregierung zu einem Thema zu unterstreichen, das sie
sehr ernst nimmt, nämlich dem Klimaschutz. Ich will dafür gerne einige wenige Belege anführen: Wir haben uns
verpflichtet, die Treibhausgasemissionen bis zum Jahr
2020 um 40 Prozent zu reduzieren. Dazu stehen wir
ohne Wenn und Aber. Mit dem „Aktionsplan Klimaschutz 2020“, an dem intensiv gearbeitet wird und der in
allernächster Zeit sehr scharfe Konturen annehmen wird,
leiten wir die entscheidenden Schritte ein. Wir denken
auch darüber hinaus; denn das große Ziel, das über allem
steht, ist eine Absenkung der klimaschädlichen Emissionen bis zum Jahr 2050 um rund 95 Prozent.
In Ihrem recht maßvoll gehaltenen Beitrag, Herr Kollege Lenkert, haben Sie an sich die zentrale Frage der
heutigen Debatte gestellt, nämlich: Warum macht die
unionsgeführte Bundesregierung in der Klimaschutzpolitik so weiter wie bisher? - Sie haben leider keine
Antwort gegeben. Ich will sie Ihnen gern geben: weil wir
uns grundsätzlich auf dem richtigen Weg befinden.
({0})
- Herr Krischer, zu Ihnen komme ich gleich noch. Deswegen ist es gut, dass Deutschland entgegen Ihren
Behauptungen nach wie vor eine Vorreiterrolle in Europa spielt, Bundeskanzlerin Angela Merkel nach wie
vor Klimakanzlerin ist
({1})
und weltweit mit ihren Äußerungen intensiv beobachtet
wird.
Meine Damen und Herren, das Ziel steht fest: Bis
2030 sollen die CO2-Emissionen um 40 Prozent reduziert werden.
({2})
Ich will mit Blick auf die europäische Ebene etwas Wasser in den Wein geben und einräumen, dass ich mir bei
der Frage des Anteils der erneuerbaren Energien durchaus ambitioniertere Ziele bei der Festlegung hätte wünschen können. Dasselbe gilt selbstverständlich auch für
die Energieeffizienz.
Herr Krischer, jetzt sind Sie dran.
({3})
Sie haben mit der Kollegin Baerbock in dieser Diskussion mächtig auf den Eimer gehauen, und zwar so mächtig, dass ich noch einmal nachschauen musste, aus welchem Heimatbundesland Sie eigentlich stammen. Ich
habe nachgeschaut: Sie kommen aus Nordrhein-Westfalen. Sie waren sogar eine Zeit lang in der Landtagsfraktion tätig; bei der einen oder anderen Gelegenheit ist das
immer einmal angesprochen worden. Das Land Nordrhein-Westfalen hat nun ein Klimaschutzgesetz beschlossen. Ich weiß nicht, ob Sie an den ersten Vorläufern beteiligt waren. Aber ehrlich gesagt ist das eine
herbe Enttäuschung - leider haben Sie es aus unserer
Sicht völlig unterlassen, Frau Baerbock, sich dazu einzulassen -: Leider steht in diesem Klimaschutzgesetz, das
von einer rot-grünen Landesregierung auf den Weg gebracht und verabschiedet wurde und das von einem
grünen ressortzuständigen Minister ganz wesentlich in
die Wege geleitet wurde, ein CO2-Minderungsziel von
25 Prozent.
({4})
- Herr Krischer, ehrlich gesagt: Nutzen Sie Ihre künftigen Redezeiten, um diese Peinlichkeiten zu erklären!
({5})
Ich mache etwas anderes, weil die Zeit voranschreitet.
Ich erspare Ihnen die Peinlichkeit, die von der Landesregierung im Internet eingestellte Sprachregelung, wie
man am besten antworten soll, wenn man diese kritische
Frage gestellt bekommt, in der Langversion vorzulesen.
({6})
Ich gebe Ihnen die Antwort, die richtig ist: weil es die
rot-grüne Landesregierung in Nordrhein-Westfalen nicht
kann und - das befürchte ich - weil sie das nicht will.
({7})
Am besten verwenden Sie, wie gesagt, beim nächsten
Mal etwas Redezeit darauf.
Meine Damen und Herren, Klimaschutzpolitik ist
sehr konkret. Dazu müssen alle Bereiche ihren Beitrag
leisten. Ich will im Wesentlichen einen Beitrag herausgreifen, damit es auch konkret wird, nämlich den Bereich des Verkehrs. Zwischen 1999 und 2012 haben wir
in der Bundesrepublik - das untermauert die Vorreiterrolle - die CO2-Emissionen um 31 Millionen Tonnen gesenkt. Wir haben das mit einem ganzen Bündel an Maßnahmen erreicht, die auch weitergeführt werden sollen,
beispielsweise zum Thema „Elektromobilität“. Da sind
wir mit der Bundesregierung auf einem klugen Weg. Das
Elektromobilitätsgesetz ist mit einer Vielzahl von Anreizen auf den Weg gebracht worden und wird intensiv diskutiert. Ich finde das richtig. Ich finde es auch richtig,
dass wir zu intelligenten Verkehrsverlagerungen gekommen sind.
Angesichts der aktuellen Situation muss ich allerdings anmerken, dass bei diesem Ziel, das so wichtig ist,
der aktuelle Streik der Lokführer in der Bundesrepublik
durchaus kontraproduktiv ist.
({8})
Carsten Müller ({9})
Das ist ein Ansatz, wie man Klimapolitik mit kleinen
und insofern auch unrichtigen Maßnahmen unterminieren kann.
Ich will allerdings gern noch einige Hinweise geben,
was aus meiner und aus unserer Sicht in Angriff genommen werden sollte, beispielsweise ein stärkeres Setzen
auf alternative Antriebe und alternative Treibstoffe. Die
steuerliche Begünstigung von Autos mit Gasantrieb
muss weiterhin gewährleistet sein, und auch Rußpartikelfilter - das habe ich mehrfach gesagt, auch im Koalitionsvertrag steht das eindeutig - sollten weiterhin steuerlich gefördert werden. Frau Hendricks, hier müssten
Sie bitte noch nachbessern und auch schneller liefern.
Gestatten Sie mir zum Schluss, damit es konkret wird,
eine Bemerkung zu einem Bereich, der mir sehr am Herzen liegt. Klimaschutz wird nur dann für alle besonders
gut nachvollziehbar und umsetzbar, wenn wir uns gemeinsam um die steuerliche Förderung von energetischer Gebäudesanierung kümmern. Ich hoffe, dass wir
hier in diesem Hause sehr schnell einen breiten Konsens
herstellen können. Wenn wir hier in diesem Hause Konsens erreichen, dann werden wir auch die Bundesregierung dazu bewegen, dieses wichtige Thema künftig
schneller und entschlossener anzugehen, als sie es bisher
getan hat.
Vielen Dank.
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit schließe ich
die Aktuelle Stunde.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/
EU und weiterer Vorschriften
Drucksachen 18/2581, 18/3004
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({0})
Drucksache 18/3077
- Bericht des Haushaltsausschusses ({1})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Drucksache 18/3083
Hierzu liegen ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke sowie ein Änderungsantrag und ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner in der
Debatte hat der Staatssekretär Dr. Günter Krings das
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! In der heutigen Sitzung liegt dem Deutschen
Bundestag der Entwurf eines Gesetzes der Bundesregierung zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU und
weiterer Vorschriften zur abschließenden Beratung vor.
Grundlage dieses Gesetzentwurfs - das wissen wir - ist
der Abschlussbericht des Staatssekretärsausschusses der
Bundesregierung, der sich mit „Rechtsfragen und Herausforderungen bei der Inanspruchnahme der sozialen
Sicherungssysteme durch Angehörige der EU-Mitgliedstaaten“ - so der ausführliche Titel - befasst hat.
Der Ausschuss war notwendig und richtig, weil es
zwei bewussten oder auch unbewussten Fehlbewertungen der Armutszuwanderung innerhalb der EU entgegenzutreten galt. Es war und ist nicht klug, diese Zuwanderungsprobleme innerhalb der EU zu überschätzen.
Aber es war und ist mindestens ebenso gefährlich für die
Akzeptanz der europäischen Integration, wenn Politiker
die damit zusammenhängenden Probleme ignorieren
oder die Belastungen für Bürger und Städte gar tabuisieren.
Mit dem Gesetzentwurf setzt die Bundesregierung
zentrale Vorschläge des Ausschusses zur Unterbindung
von Missbrauch im Zusammenhang mit dem Freizügigkeitsrecht sowie zur Entlastung betroffener Kommunen
konsequent um. Verschiedene Kommunen und kommunale Spitzenverbände haben in dringlichen Appellen
wiederholt auf die Belastungen hingewiesen, die mit einer steigenden Zuwanderung aus der EU verbunden
sind.
Die Berichte der Kommunen zeigen aber auch: Es
gab und es gibt hier kein flächendeckendes Problem.
Eine Reihe von Kommunen, in erster Linie einige Großstädte, sieht sich aber zu Recht durch die Folgen eines
stetig wachsenden Zuzugs aus anderen Mitgliedstaaten
der Europäischen Union belastet. Die Bundesregierung
hat hier einen Handlungsbedarf erkannt. Die Bundesregierung hat mit dem heute zu verabschiedenden Gesetzentwurf einen Handlungsvorschlag gemacht.
Die Zuwanderung aus anderen EU-Staaten bringt für
unser Land und auch für die zuziehenden Menschen in
erster Linie viele Vorzüge mit sich. Der weit überwiegende Teil der Zuwanderer kommt zu uns, um eine Arbeit oder eine Ausbildung aufzunehmen. Ich will es
deshalb noch einmal sehr deutlich betonen: Die Freizügigkeit in Europa ist eine der bedeutendsten Errungenschaften des europäischen Einigungsprozesses und einer
der sichtbarsten Vorzüge Europas für seine Bürger.
({0})
Die europäische Freizügigkeit hat aber klare rechtliche Voraussetzungen. Sie gilt insbesondere für die Aufnahme einer Ausbildung oder einer Arbeit oder zu einer
Parl. Staatssekretär Dr. Günter Krings
konkreten Suche nach einem Arbeitsplatz. Es gibt keinen europarechtlichen Grundsatz, wonach zum Beispiel
nur die Mehrheit der Zuwanderer, die aus einem Mitgliedstaat nach Deutschland kommt, die rechtlichen Voraussetzungen der Freizügigkeit erfüllen muss. Die Voraussetzung für dieses Recht muss jeder Einzelne
erfüllen. Gerade weil die Europäische Union mehr ist als
ein Staatenbund, gerade weil sie eine Union der Bürger
ist, müssen die Voraussetzungen der Freizügigkeit bei jedem einzelnen Zuwanderer, in seiner Person, vorliegen.
Darauf bestehen wir.
Wir dürfen nicht so tun, als ob mit einem steigenden
Zuzug von Menschen aus anderen Mitgliedstaaten vor
Ort, in den Städten und Gemeinden, nicht auch Probleme
verbunden sein könnten. Betroffene Städte und Gemeinden berichten von einer steigenden Belastung ihrer Systeme der kommunalen Daseinsvorsorge und von einer
Verschärfung sozialer Probleme. Dabei geht es etwa um
den Bereich der Schule, um die Versorgung mit Wohnraum, um die unberechtigte Inanspruchnahme sozialer
Leistungen oder um die Gesundheitsversorgung.
Aktuell sehen sich Städte und Gemeinden zusätzlich
belastet, weil sie eine stetig steigende Zahl von Flüchtlingen und Asylbewerbern aufnehmen sollen; darüber
haben wir heute Mittag in diesem Hause debattiert. Auch
diesbezüglich will der Bund im Rahmen seiner Möglichkeiten dazu beitragen, rasch Lösungen zu finden. Das
letztgenannte Thema ist zwar nicht das Thema dieser
Debatte, man muss aber sehen, dass diese beiden zusätzlichen Aufgaben viele Kommunen vor große Herausforderungen stellen.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf verfolgen wir
zwei zentrale Ziele:
Erstens. Wir wollen die betroffenen Kommunen substanziell entlasten.
Zweitens. Wir wollen die Akzeptanz in unserer Gesellschaft für die Freizügigkeit in Europa nachhaltig sichern. Gerade deshalb ist es wichtig, gegen Missbrauch
im Zusammenhang mit diesem Recht gezielt vorzugehen.
Lassen Sie mich kurz einen Blick auf die Hilfen für
unsere Kommunen werfen: Wir stocken die Bundesbeteiligung an den Kosten der Unterkunft und Heizung
nach dem Sozialgesetzbuch II um 25 Millionen Euro
auf. Das Geld kann, so wir das hier beschließen, noch in
diesem Jahr an die Länder fließen, in denen die besonders involvierten Städte und Gemeinden liegen, damit es
dann möglichst umgehend - hoffentlich - an die betroffenen Kommunen zielscharf weitergegeben werden
kann. Künftig sollen durch eine Änderung im Sozialgesetzbuch V die Impfkosten für Kinder und Jugendliche
mit ungeklärtem Krankenversicherungsstatus übernommen werden.
Zur Unterbindung von Missbrauch im Zusammenhang mit dem Freizügigkeitsrecht sieht der vorliegende
Gesetzentwurf eine Reihe von Maßnahmen vor: Im Freizügigkeitsrecht sollen befristete Wiedereinreisesperren
im Fall von Rechtsmissbrauch oder Betrug ermöglicht
werden. Das Aufenthaltsrecht zur Arbeitssuche soll in
Übereinstimmung mit dem Europarecht befristet und die
Erschleichung von Aufenthaltsbescheinigungen durch
falsche Angaben konsequent unter Strafe gestellt werden. Beim Kindergeld wollen wir wirksam Doppelzahlungen unterbinden.
({1})
Künftig wird die Kindergeldzahlung von der eindeutigen
Identifikation von Antragstellern und Kindern durch Angabe der steuerlichen Identifikationsnummer abhängig
sein. Ferner wollen wir entschieden gegen Scheinselbstständigkeit und Schwarzarbeit vorgehen. Dazu sieht der
vorliegende Gesetzentwurf eine Regelung vor, mit der
die Zusammenarbeit mit der Finanzkontrolle Schwarzarbeit intensiviert wird.
Maßnahmen zur Missbrauchsbekämpfung können jedoch in keinem Fall allein zu einer Lösung der anstehenden Probleme beitragen. Wir wollen den betroffenen
Menschen, die sich mit Recht hier aufhalten, die Integration erleichtern. Wir werden Integrationskurse in besonders betroffenen Kommunen stärker auf den Bedarf von
zuziehenden EU-Bürgern zuschneiden und gezielt spezifische Hemmnisse für eine Teilnahme an Integrationsangeboten abbauen. Damit unterstützen wir nicht nur zuziehende EU-Bürger, sondern wir leisten hiermit auch
einen Beitrag zur Entlastung der Kommunen bei der Integration vor Ort.
Meine Damen und Herren, die Zuwanderung nach
Deutschland ist nicht statisch, sondern ein Prozess, der
in seiner Form, seinem Ablauf und seinen Gründen einem kontinuierlichen Wandel unterworfen ist. Damit
verändern sich auch die sich daraus ergebenden politischen Herausforderungen. Der Gesetzentwurf, den wir
heute beraten, kann auch aus diesem Grund keine Antwort auf alle Probleme im Zusammenhang mit dem Zuzug aus anderen EU-Staaten geben. Er ist aber ein wichtiger Schritt zur Entlastung der Kommunen und zur
Unterbindung von Missbrauch. Damit wollen wir zugleich die Aufnahmebereitschaft in unserer Gesellschaft
insbesondere für Menschen erhalten, die zu uns kommen
und unserer Hilfe in besonderer Weise bedürfen.
Diese Koalition bleibt dabei: Wir treten für Freizügigkeit, aber auch gegen den Missbrauch von Rechten ein.
({2})
Genau das schaffen wir hiermit. Außerdem ist dies ein
großer Beitrag zur Entlastung der Kommunen. Wir zeigen, dass diese Koalition auch die kommunalen Probleme ernst nimmt und sie nicht unter den Teppich kehrt.
Diese Koalition sorgt sich um die Städte und Kommunen
in unserem Land und arbeitet daran mit, dass die Probleme, die dort entstehen, gelöst werden. Aus diesem
Grunde bitte ich Sie ganz herzlich um Zustimmung zu
diesem Gesetzentwurf.
Vielen Dank.
({3})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Ulla Jelpke das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Man
muss hier deutlich sagen: Vor einem Jahr wurde mit dem
Slogan „Wer betrügt, der fliegt“ insbesondere von der
CSU eine doch recht populistische Debatte befeuert, die
vor allen Dingen darauf aus war, Menschen aus Bulgarien und Rumänien und insbesondere Roma, die hierher
zuwandern, auszugrenzen und zu treffen.
({0})
Bis heute hat es keinen einzigen Beleg gegeben, dass
es diesen Missbrauch ernsthaft gibt. Natürlich gibt es
Einzelfälle.
({1})
Aber dass über 400 000 Menschen aus Bulgarien und
Rumänien eingewandert sind, hier arbeiten, Steuern zahlen, in die Sozialsysteme einzahlen und die deutsche Gesellschaft davon im Grunde genommen auch profitiert,
hört man hier nie. Es wird immer auf die Minderheit abgestellt, von der der eine oder andere im Hinblick auf
den Sozialhilfebedarf vielleicht einmal falsch vorgegangen ist. Ich will hier ganz deutlich sagen: Die Linke ist
dafür, dass EU-Bürgerinnen und -Bürger ihre sozialen
Rechte wahrnehmen können und vor allen Dingen der
Bund Unterstützung leisten muss, wenn es in den Kommunen der Hilfe bedarf, insbesondere was Ausbildung
und Fortbildung angeht.
Meine Damen und Herren, die sozialen Rechte der
Unionsbürgerinnen und -bürger werden von dieser Bundesregierung unter Vorbehalt gestellt. Laut Gesetzentwurf soll sein Aufenthaltsrecht verlieren, wer nach sechs
Monaten noch keine Arbeit gefunden hat. Diese Regelung ist pauschal und sehr restriktiv. Mir soll einmal jemand zeigen, wie das gehen soll, wenn man in einem anderen EU-Staat völlig neu anfängt.
Damit nicht genug: In Zukunft sollen auch Kindergeldstellen, Jobcenter und Krankenkassen prüfen, ob
Unionsbürger und -bürgerinnen möglicherweise länger
als ein halbes Jahr in Deutschland verbleiben können,
weil sie die Voraussetzungen erfüllen müssen. In der
Sachverständigenanhörung, die wir im Innenausschuss
durchgeführt haben, haben wir einige Beispiele gehört,
die gezeigt haben, wie absurd die Folgen sein können.
Ein Beispiel: Eine EU-Bürgerin aus Dänemark, die
mit ihrem Mann und zwei Kindern nach Deutschland gekommen ist, wird von ihrem Mann verlassen. Sie hat die
Kinder inzwischen aber gut integriert; sie gehen in den
Kindergarten, sie haben Freunde, sie sprechen die deutsche Sprache. Deshalb möchte die Frau gerne hierbleiben. Aber wenn sie nicht schnell genug Arbeit findet,
kann ihr Folgendes passieren: Die Kindergeldstelle lehnt
ihren Kindergeldantrag ab, die Krankenkasse verweigert
den Versicherungsschutz, das Jobcenter lehnt den Antrag
auf Hartz IV und Qualifikationsmaßnahmen ab. Am
Ende kommt die Ausländerbehörde aber zu einem ganz
anderen Ergebnis und bestätigt ihr Aufenthaltsrecht. Die
Familie darf bleiben, verliert aber ihre sozialen Rechte.
Wie perfide ist denn das? Was ist denn das für ein Bürokratiekram?
({2})
Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, Sie wollen wieder Einreisesperren einführen, wie
wir eben schon gehört haben, beispielsweise dann, wenn
ein EU-Bürger die Behörden getäuscht hat.
({3})
Doch den Unionsbürgerrechten zufolge sind Einreisesperren nur aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und
Ordnung erlaubt. Der Gesetzentwurf geht also weit über
das Erlaubte hinaus und setzt eine Täuschung der Behörden mit einer Bedrohung der öffentlichen Sicherheit
gleich; auch das ist doch völlig absurd. In Sonntagsreden
betonen wir hier immer wieder, wie wichtig die Freizügigkeit der EU ist; das haben wir eben auch wieder gehört. Aber hier schaffen Sie Regelungen, die dieses
Recht aushöhlen. Das nenne ich eindeutig Heuchelei.
({4})
Ich will noch kurz auf den vermeintlichen sozialen
Missbrauch eingehen. Ich habe es eben schon einmal gesagt: Im vergangenen Jahr gab es 91 Fälle, in denen der
Verdacht bestand, dass Sozialhilfemissbrauch bzw. -betrug begangen wurde. Wie gesagt, dem steht gegenüber,
dass über 400 000 Menschen hier arbeiten.
Man fragt sich also wirklich: Warum dieser Aufwand? Warum diese Einschränkung bei einem ganz
wichtigen Recht der EU, nämlich bei der Freizügigkeit?
Dazu hat zu der Anhörung eine zuständige Bezirksstadträtin aus Berlin-Neukölln in ihrer Stellungnahme
geschrieben, dass europäische Unionsbürger lediglich
ihr Recht auf Freizügigkeit nutzten und die damit verbundenen Sozialleistungen in Anspruch nähmen. Dabei
könne nicht automatisch von einem Missbrauch oder
Sozialleistungsbetrug gesprochen werden, sondern in
vielen Fällen lediglich von einer Wahrnehmung von
Rechten.
Man kann es auch anders ausdrücken: Sie stellen mit
diesem Gesetz und Ihrem weiteren Vorhaben das Freizügigkeitsrecht infrage, weil es vereinzelte Fälle von
Missbrauch geben mag. Das nenne ich, mit Kanonen auf
Spatzen zu schießen.
({5})
Meine Damen und Herren, die Linke nimmt den
Grundgedanken der Europäischen Union ernst. Wir sind
dafür, dass alle Unionsbürger und -bürgerinnen die
gleichen Rechte haben. So sollte man es auch weiter
praktizieren. Das Gesetz ist völlig überflüssig und reine
Schikane.
Danke.
({6})
Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Castellucci
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst einmal zwei Feststellungen: Deutschland
braucht Zuwanderung, und Deutschland profitiert von
Zuwanderung.
({0})
Deutschland braucht Zuwanderung, weil wir in einigen Jahren, in einigen Jahrzehnten auch noch Leute
haben müssen, die die Steuern zahlen, die wir für den
Erhalt unserer Infrastruktur brauchen, weil wir Leute
brauchen, die in die Sozialversicherungssysteme einzahlen, damit unter anderem die Renten meiner Generation
auch noch finanziert sind, damit die Angehörigen meiner
Generation und der vielen Generationen, die hoffentlich
noch nachkommen, gepflegt werden können, und wir
brauchen Leute für andere Bereiche, in denen Fachkräftemangel herrscht.
Außerdem profitieren wir von Zuwanderung. So ist es
im Bericht des Staatssekretärs eindeutig festgehalten.
Das gilt insbesondere - darum ging es ja - für die Menschen, die aus Europa zu uns kommen.
({1})
Gleichzeitig - das ist ja kein Wunder - ist Zuwanderung bzw. das Zusammenleben insgesamt immer mit
Problemen behaftet. Das will ja niemand in Abrede
stellen.
Wo stellen sich diese Probleme? Sie stellen sich bei
den Kommunen; denn da kommen die Menschen an, und
da brauchen sie im Zweifel Wohnraum. Ferner müssen
die Kinder in die Schule gehen; denn für sie gilt die
Schulpflicht. Außerdem stellt sich die Frage von Arbeit.
Da stellt sich die Frage, was passiert, wenn jemand
krank wird, usw.
({2})
Deswegen ist es gut - und das ist auch für uns der
zentrale Inhalt dieses Gesetzesvorhabens -, dass wir die
Kommunen entlasten und mit 25 Millionen Euro für
Kosten der Unterkunft unterstützen
({3})
und dass Impfkosten für Kinder von EU-Bürgerinnen
und -Bürgern übernommen werden.
({4})
Zuwanderung ist nicht nur selbst gut, sondern man
muss sie auch gut machen. Was heißt steuern und gestalten?
({5})
Man könnte in Abwandlung eines alten Spruches sagen:
Wer morgen sicher leben will, der muss heute Zuwanderung nicht nur zulassen, sondern er muss sie steuern und
gestalten.
({6})
Wer nicht immer nur in kurzfristigen Zeiträumen
denkt, der weiß, dass wir in den vergangenen Jahren
- nehmen wir einfach das abgelaufene Jahrzehnt - nicht
nur Jahre mit steigenden Zuwanderungszahlen hatten,
sondern sogar Minuszahlen. Wir sind also weit entfernt
von der Zuwanderung, die wir brauchen für den Infrastrukturerhalt, für die Sozialversicherungsbeiträge und
für Steuern in der Zukunft. Wir machen die Zuwanderung nicht gut genug, damit sich diese Versprechen in
Steuern, in Sozialversicherungsbeiträgen und in Integration einlösen können.
Wir haben hier wirklich noch eine große Gemeinschaftsaufgabe vor uns. Es gibt eine Fülle von legalen
Zugangswegen. Diese Fülle von legalen Zugangswegen
ergibt aber noch kein Gesamtkonzept. Daran müssen wir
weiter arbeiten.
({7})
Jetzt zur EU-Freizügigkeit. Das ist eine große Errungenschaft. Das ist zu Recht schon gesagt worden. Ich
finde, das ist fantastisch. Für mich - dabei denke ich an
Sonntag - wächst da ein Stück weit zusammen, was in
Europa zusammengehört. Ich habe das Fernziel, dass wir
irgendwann einmal eine vollständige Freizügigkeit in
Europa haben.
({8})
Ich weiß nicht, ob ich das jemals erleben werde.
({9})
Aber vielleicht kann ich ein Stück weit dafür arbeiten.
In jedem Fall wird es eine Zeit mit einem Übergang
geben, und es ist nicht richtig, wenn wir Übergänge difDr. Lars Castellucci
famieren, die wir doch brauchen, weil die Zuwanderung
auch gestaltet und geregelt werden muss. Zu einer Regelung können, wie es hier vorgesehen ist, auch Elemente
von Befristung oder Wiedereinreisesperren gehören. Bei
Letzteren geht es um Einzelfälle, um schwerwiegende
Einzelfälle. Wir haben zugesagt, dass wir in zwei Jahren
ganz sachlich und nüchtern analysieren werden, ob da
weiterer Steuerungsbedarf besteht.
({10})
Ich möchte gerne etwas aufgreifen, was häufig genannt wird: dass wir die Ängste der Menschen ernst nehmen sollen. Das finde ich richtig.
({11})
Gleichzeitig muss man fragen: Was heißt es denn, die
Ängste der Menschen ernst zu nehmen? Nehmen wir
einmal an, jemand hat Angst vorm schwarzen Mann bitte nicht politisch verstehen!
({12})
Dann nehme ich das vielleicht erst einmal ernst; aber
man kann ja nicht regieren, indem man einen schwarzen
Mann,
({13})
den es gar nicht gibt, ausweist oder mit einer Wiedereinreisesperre belegt, sondern müsste an die Wurzeln der
Ängste herangehen. Die Wurzeln von Ängsten stehen
aus meiner Sicht gar nicht unbedingt eng mit der Frage
der Zuwanderung von Ausländerinnen und Ausländern
in Zusammenhang, sondern haben etwas damit zu tun,
dass die Menschen selbst keinen sicheren Stand haben.
Es ist die Frage, ob sie mithalten können in einer Gesellschaft, die so extrem auf Konkurrenz, auf Leistungsdruck aufbaut, wie wir das in den letzten Jahren zugelassen haben. Wir müssen also die Menschen ernst nehmen
in ihren Ängsten; aber wir dürfen die Ängste nicht zum
Maßstab unserer Politik machen, sondern müssen an den
Wurzeln ansetzen.
({14})
Es gibt nicht nur Menschen mit Ängsten, es gibt auch
die andere Seite: Fast die Hälfte der Menschen sagt, wir
sollten sogar mehr tun, wenn es um Flüchtlinge, beispielsweise aus dem Irak oder aus Syrien, geht. Ich will,
dass wir hier als Politikerinnen und Politiker Unterstützer und Ermöglicher sind für alle die, die sich für dieses
Miteinander in Deutschland einsetzen. Darüber, wie das
gelingen kann, würde sich eine Debatte wahrlich lohnen.
Anfang der Woche ist der Deutsche Dialogpreis verliehen worden. Das war eine ganz wunderbare Veranstaltung, bei der unter anderem Dr. Navid Kermani ausgezeichnet worden ist, der im Mai dieses Jahres hier eine
beeindruckende Rede gehalten hat. Das sind Menschen,
die sich für interreligiösen Dialog, für interkulturellen
Dialog einsetzen, Menschen, die sich anderen, die fremd
sind, nähern und dadurch sich selbst ein Stück weit besser kennenlernen, Menschen, die in vielen Projekten für
ein gutes Miteinander arbeiten. Mein Wunsch ist, dass
wir in unserem Reden und unserem Tun uns diese Menschen, diese Brückenbauerinnen und Brückenbauer, zum
Vorbild nehmen.
({15})
Ich schließe mit einem der Preisträger, dem Rabbiner
Ben-Chorin. Er hat an dem Abend gesagt:
Mauern, die wir nicht sehen, sind gefährlicher als
die, die wir sehen.
({16})
Mit Blick auf die morgige Feierstunde will ich sagen:
Lassen Sie uns weiter gemeinsam daran arbeiten, Mauern abzutragen: um Europa, in Europa und in unseren
Köpfen.
({17})
So tragen wir die Fackel der friedlichen Revolution weiter.
Vielen Dank.
({18})
Als nächster Redner hat der Kollege Volker Beck das
Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Castelluci, Sie haben zu vielem gesprochen, aber nicht
zu dem Gesetzentwurf, um den es heute geht.
({0})
Ich kann das in gewisser Weise verstehen: Es war Ihnen
schon im Ausschuss anzumerken, dass Ihnen ziemlich
unwohl ist bei diesem Gesetzesvorhaben.
Ich bin mit Ihnen von der Koalition einig: Wo Sozialbetrug stattfindet, müssen wir ihn bekämpfen. Deshalb
stimme ich der Regelung, als Voraussetzung für das Kindergeld die Steueridentifikationsnummer zu verlangen,
auch vollkommen zu. Niemand soll für seine Kinder
doppelt Kindergeld beziehen.
({1})
Volker Beck ({2})
Das ist richtig und unterstützenswert, hat mit der EUFreizügigkeit aber überhaupt nichts zu tun.
({3})
Es waren 2 400 deutsche Beamte, die doppelt Kindergeld bezogen haben. Ihr Staatssekretärsbericht weist
nicht einen einzigen doppelten Kindergeldbezug von
Bulgaren oder Rumänen nach.
Sie haben von Ängsten gesprochen. Schüren Sie
keine Ängste! Erfinden Sie keine Ängste in der Bevölkerung! Reden Sie den Menschen nicht ein, es gäbe bei
Bulgaren und Rumänen Sozialbetrug, den es in Wirklichkeit bei den deutschen Beamten gegeben hat, wie der
Bundesrechnungshof festgestellt hat.
({4})
So betreiben Sie nämlich gemeinsam mit Ihrer Kampagne „Wer betrügt, fliegt“ das Geschäft der AfD und nicht
das Geschäft eines demokratischen, friedlichen und
rechtsstaatlichen Europas.
({5})
Auch die Bekämpfung der Schwarzarbeit oder die
bessere Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden, die
Impfaktionen für Kinder aus Europa - ich finde, man
könnte auch die Kinder aus Staaten der EWR impfen,
wenn der Krankenversicherungsstatus nicht geklärt ist -,
all das unterschreiben wir. Die Entlastung der Kommunen durch die Übernahme von 25 Millionen ist nicht genug, aber besser als nichts. Darüber gibt es keinen Streit.
Aber was Sie dann bei der EU-Freizügigkeit machen,
wird durch keine Tatsache in Ihrem Staatssekretärsbericht gedeckt. Das machen Sie nur, um der CSU sagen
zu können: Für eure Kampagne gab es tatsächlich einen
Grund. Es gab dafür keinen Grund; das haben Sie selber
aus dem Staatssekretärsbericht richtig zitiert. Es ist infam, jetzt die EU-Freizügigkeit einzuschränken.
({6})
Ich bin da näher bei der Kanzlerin als bei der Koalition. Die Mitglieder dieser Koalition und die Kanzlerin
sind heute Gott sei Dank kaum da.
({7})
Die Kanzlerin hat gesagt:
Deutschland wird an dem Grundprinzip der Bewegungsfreiheit in der EU nicht rütteln.
({8})
Die Abgeordneten der Koalition, die heute da sind, werden nachher, wenn sie dem Gesetzentwurf zustimmen,
sehr wohl an der Freizügigkeit rütteln.
({9})
Sie regeln Wiedereinreisesperren für EU-FreizügigkeitsBerechtigte über das vorhandene Maß hinaus, das wir
heute schon haben - für Menschen, die eine Gefahr für
die öffentliche Ordnung, Sicherheit und Gesundheit in
Deutschland sind, haben wir diese Regelung schon -, für
Fälle, bei denen das nicht zulässig ist.
Es kann schon sein, dass einmal ein EU-Bürger, nicht
nur ein Deutscher, einen Fehler beim Ausfüllen eines
Antrags beim Jobcenter macht. Das ist nicht okay, egal
ob es vorsätzlich oder fahrlässig ist. Aber dann zu sagen,
dieser Bürger dürfe nicht wieder einreisen, ist eindeutig
europarechtswidrig.
({10})
Auch den Fall, dass jemand zum Beispiel vortäuscht, er
habe einen 400-Euro-Job, den er gar nicht hat, um als
Aufstocker sein Freizügigkeitsrecht zu untermauern und
seine Sozialbezüge zu erhalten, kann man sich ausdenken und könnte es theoretisch geben. Nachgewiesen,
dass das in relevanter Zahl vorkommt, haben Sie nicht.
In diesen Fällen wäre auch eine Wiedereinreisesperre
rechtlich nicht zulässig.
({11})
Sie können ihn rausschmeißen. Aber wenn er zwei Jahre
später - die Einreisesperre soll fünf Jahre dauern - einen
Deutschen oder einen in Deutschland lebenden Ausländer heiratet oder sich verpartnern lässt, dann darf er
natürlich wieder einreisen. Dass Sie das hier verbieten
wollen, verstößt gegen die Richtlinie zur Freizügigkeit
der Europäischen Union. Ich garantiere Ihnen: Früher
oder später wird Sie der Europäische Gerichtshof darauf
hinweisen, und zwar zu Recht.
({12})
Es ist klar - da lag Frau Jelpke nicht ganz richtig -:
Natürlich ist die Freizügigkeit zur Arbeitsaufnahme im
europäischen Recht auf sechs Monate begrenzbar; darüber darf man auch reden. Jetzt steht noch eine Begrenzung von drei Monaten im Gesetz. Bloß, bislang haben
wir gesagt: Es reicht aus, wenn sich die hier lebenden
EU-Bürger ernsthaft um Arbeit bemühen. Sie wollen
jetzt, dass dies mit „Aussicht auf Erfolg“ geschieht; auch
darüber könnte man reden. Aber das soll jetzt auf einmal
das Ausländeramt beurteilen. Mit welcher Expertise sollen die Mitarbeiter das denn machen? Wenn diese Menschen keine Sozialleistungen beanspruchen: Warum
wollen Sie sie dann rausschmeißen? Das ist eine Begrenzung der EU-Freizügigkeit, wie wir sie politisch nicht
wollen und wie wir sie auch nicht brauchen, weil die
Möglichkeiten, aufenthaltsbeendende Maßnahmen einzuleiten, schon nach jetzigem Recht bestehen.
Aber bürokratisieren Sie diesen Quatsch nicht dadurch, indem Sie Ämtern Aufgaben zuweisen, die diese
aus eigener Erkenntnis überhaupt nicht bewältigen
können. Dabei kommen falsche Entscheidungen heraus.
Volker Beck ({13})
Das geht zulasten der Freizügigkeit. Deshalb lehnen wir
diese Regelung ab.
Wir schlagen Ihnen vor: Beschließen Sie die Entlastung der Kommunen. Beschließen Sie die Regelung zum
Kindergeld, und nehmen Sie den Artikel 1 mit der Beschränkung der EU-Freizügigkeit einfach wieder aus
dem Gesetzentwurf heraus. Sie haben eine letzte Chance,
bevor der Gesetzentwurf in den Bundesrat geht. Sie können das heute durch Zustimmung zu unserem Änderungsantrag korrigieren. Ich weiß, Herr Castellucci, im
Herzen sind Sie auf jeden Fall dabei, wenn wir nachher
darüber abstimmen. Ich wünschte mir, es wäre dann
auch in der Realität so.
({14})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Andrea
Lindholz das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Die Freizügigkeit ist und bleibt der
zentrale Bestandteil unseres gemeinsamen europäischen
Wirtschaftsraumes, von dem Deutschland als Exportnation besonders profitiert: Deutschland verkauft 60 Prozent seiner Exporte zollfrei innerhalb der EU. 40 Prozent
unserer Exporte gehen in den Euro-Raum; sie sind sowohl von Zöllen als auch von teuren Währungsschwankungen befreit.
Die europäische Integration fördert aber nicht nur den
deutschen Außenhandel. Unsere Wirtschaft profitiert
auch von den vielen qualifizierten und motivierten Migranten aus der EU. Angesichts unserer überalternden
Bevölkerung und der geringen Geburtenrate kann daran
auch kein Zweifel bestehen.
Von 3,1 Millionen EU-Bürgern, die letztes Jahr in
Deutschland lebten, waren 146 000 arbeitslos gemeldet.
Das entspricht knapp 5 Prozent aller Arbeitslosen in
Deutschland. Die große Mehrheit der ausländischen EUBürger in Deutschland arbeitet, zahlt Steuern und Sozialabgaben und trägt zu unserem Wohlstand bei.
({0})
Ihr Freizügigkeitsrecht bleibt völlig unbestritten.
Trotzdem muss man klarstellen, dass es in den EUVerträgen kein uneingeschränktes Recht auf Freizügigkeit gibt. Wir Bundesbürger haben ein unbedingtes
bzw. unbeschränktes Freizügigkeitsrecht nur innerhalb
Deutschlands, aber nicht in der gesamten EU. In den
EU-Verträgen heißt es wörtlich:
Jeder Unionsbürger hat das Recht, sich … vorbehaltlich der … in den Durchführungsvorschriften
vorgesehenen … Bedingungen frei zu bewegen und
aufzuhalten.
Diese Durchführungsvorschriften sollte unter anderem
die Freizügigkeitsrichtlinie näher definieren. Ihre Vorgaben sind allerdings ungenau. Das Resultat ist, dass es auf
nationaler Ebene teilweise erhebliche Rechtsunsicherheiten gibt.
Fest steht aber, dass die Mitgliedstaaten gewisse
Handlungsspielräume besitzen, um die Freizügigkeit
auszugestalten und zu steuern. Darauf hat auch die Kommission immer wieder hingewiesen.
({1})
- Herr Kollege Beck, ich kenne die Artikel, aber ich
glaube, Sie kennen sie nicht alle. - Artikel 35 der Freizügigkeitsrichtlinie erlaubt den Mitgliedstaaten ausdrücklich, Herr Kollege Beck,
({2})
Missbrauch und Betrug im Rahmen der Freizügigkeit zu
bekämpfen.
({3})
Aus Artikel 7 der Richtlinie geht zudem hervor, dass
speziell das Freizügigkeitsrecht von Personen, die nicht
arbeiten, an Bedingungen geknüpft ist.
({4})
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf nutzt die Bundesregierung ihren rechtlichen Spielraum und zieht wesentliche erste Schlüsse aus dem Bericht des Staatssekretärsausschusses zur Armutsmigration.
({5})
Frau Kollegin, lassen Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Beck zu?
Ich glaube, ich komme noch zu dem Punkt. Aber wir
können es gerne schon vorher diskutieren. Die Zeit wird
ja angehalten.
Ja. Gut.
Würden Sie mir zustimmen, dass in Artikel 35 der
Freizügigkeitsrichtlinie, auf die Sie sich gerade bezogen
haben, anders als in Artikel 15 das Wort „Wiedereinreisesperren“ nicht vorkommt? Dort heißt es nämlich:
Die Mitgliedstaaten können die Maßnahmen erlassen, die notwendig sind, um die durch diese Richtlinie verliehenen Rechte im Falle von Rechtsmissbrauch oder Betrug - wie z. B. durch Eingehung
von Scheinehen - zu verweigern, aufzuheben oder
zu widerrufen.
Volker Beck ({0})
Das ist eine abschließende Aufzählung. Dann heißt es
weiter, „solche Maßnahmen müssen verhältnismäßig
sein“ und sich „nach den Artikeln 30 und 31“ im Verfahrensrecht richten.
Damit ist eindeutig klar, dass Artikel 15 die Spezialregelung ist, und diese regelt die Wiedereinreisesperren
abschließend aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit. Das, was Sie vorgetragen haben, betrifft aber nicht öffentliche Ordnung, Sicherheit
oder Gesundheit.
({1})
Herr Kollege Beck, Sie wissen doch, dass wir dazu
eine völlig andere Rechtsauffassung haben. Sie sprechen
jetzt schon konkret die Wiedereinreisesperren an, die wir
in § 7 Absatz 2 des Freizügigkeitsgesetzes betreffend die
Fälle des § 2 Absatz 7 des Freizügigkeitsgesetzes regeln.
Da ist bereits festgestellt, dass keine Freizügigkeit mehr
besteht. Die Rechtsexperten, die nach unserer Auffassung die korrekte Rechtsauffassung vertreten, sehen Artikel 35 der Freizügigkeitsrichtlinie als Lex specialis zu
Artikel 15 der Freizügigkeitsrichtlinie, den Sie gerade so
schön zitiert haben.
({0})
Da steht ausdrücklich, dass wir die Konsequenzen daraus ziehen dürfen. Das tun wir in § 7 Absatz 2, Herr
Kollege Beck, indem wir Wiedereinreisesperren gegen
diejenigen verhängen, die nach § 2 kein Freizügigkeitsrecht mehr haben.
({1})
Ich gehe davon aus, dass wieder Professoren oder möglicherweise auch Richter darüber zu befinden haben werden, wer nun am Ende recht hat.
({2})
Wir sind der Auffassung: Unsere Regelungen sind europarechtskonform.
Herr Beck, Sie haben sich schon mit meinem Vorgänger, Herrn Geis, immer auseinandergesetzt. Ich sage immer wieder: Dass wir diese Tradition fortsetzen, freut
zumindest die Bürgerinnen und Bürger in meinem Wahlkreis.
Ich setze nun meine Rede fort. Mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf nutzt die Bundesregierung ihren rechtlichen Spielraum und zieht wesentliche erste Schlüsse aus
dem Bericht des Staatssekretärsausschusses zur Armutsmigration. Sie setzt ein wichtiges Signal, indem sie sagt:
Betrug und Missbrauch werden nicht toleriert. Darüber
hinaus greift die Bundesregierung den Kommunen bei
den Kosten unter die Arme. Das geschieht im Wesentlichen mit fünf Maßnahmen.
Erstens werden im Falle von Betrug und Rechtsmissbrauch Wiedereinreisesperren ermöglicht.
Zweitens wird das Aufenthaltsrecht von EU-Bürgern
zur Arbeitsuche auf sechs Monate befristet. Warum?
Weil auch hier Artikel 7 der Freizügigkeitsrichtlinie nur
die ersten drei Monate regelt. Danach werden sehr
strenge Anforderungen gestellt, wann und unter welchen
Voraussetzungen jemand in einem Land bleiben darf. Er
muss nämlich seinen Lebensunterhalt weitestgehend
selbst sicherstellen. Indem wir die Geltungsdauer des
Merkmals der Arbeitsuche von drei auf sechs Monate
verlängern, kommen wir den Menschen sogar entgegen.
Dass eine begründete Aussicht auf Arbeit bestehen
muss, ist aus meiner Sicht gerechtfertigt, genauso wie
die Tatsache, dass darüber verschiedene Stellen zu befinden haben. Denn es gibt unterschiedliche Anspruchsgrundlagen: Möchte jemand Arbeitslosengeld beziehen,
oder bezieht er nur Kindergeld, oder braucht er nur Unterstützung von der Krankenkasse? Wir werden sehen,
sehr geehrter Herr Kollege Castellucci, ob sich die Regelungen in der Praxis bewähren oder ob Nachbesserungsbedarf besteht. Zum jetzigen Zeitpunkt halte ich das für
richtig.
Drittens sorgen wir dafür, dass Doppelzahlungen
beim Kindergeld vermieden werden. Indem bei jedem
Kindergeldantrag die steuerliche Identifikationsnummer
angegeben werden muss, geben wir den Behörden die
Möglichkeit, leichter Überprüfungen vorzunehmen.
Viertens wird die Bekämpfung von Schwarzarbeit
und Scheinselbstständigkeit verbessert, indem die zuständigen Behörden besser vernetzt werden. Die Gewerbeämter sollen künftig schon beim ersten Verdacht auf
Scheinselbstständigkeit prüfen und Verdachtsfälle direkt
an die Finanzkontrolle Schwarzarbeit beim Zoll melden.
Fünftens werden die Kommunen mit zusätzlichen
35 Millionen Euro unterstützt. Diese Unterstützung ergänzt das bereits im März in Folge des Zwischenberichts
beschlossene Entlastungspaket für die Kommunen in
Höhe von über 200 Millionen Euro. Dazu wurde das
Bund-Länder-Programm „Soziale Stadt“ aufgestockt sowie Programme des Europäischen Sozialfonds und ein
EU-Hilfsfonds so zugeschnitten, dass vor allem die stark
belasteten Kommunen von diesen Programmen in den
nächsten Jahren profitieren können.
Die Bundesregierung und der Bundestag packen mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf offensichtliche Probleme im Rahmen der europäischen Freizügigkeit an.
Die kommunalen Spitzenverbände begrüßen ausdrücklich, dass wir uns endlich mit den Problemen der Armutszuwanderung aus der EU befassen. Die Kommunen
werten unsere Initiative als wichtigen ersten Schritt in
die richtige Richtung. Auch das haben uns die Sachverständigen von der kommunalen Ebene in der Anhörung
am 13. Oktober bestätigt.
Der Gesetzentwurf kann nur ein erster Schritt sein.
Wir alle wissen, dass es unklar ist, ob und unter welchen
Bedingungen ein EU-Bürger, der sich zur Arbeitsuche in
Deutschland aufhalten darf, in dieser Zeit Anspruch auf
Hartz-IV-Leistungen hat. Deutsche Gerichte haben in
dieser Frage aufgrund widersprüchlicher Vorgaben in
den Richtlinien unterschiedlich geurteilt. Das Urteil des
EuGH im Dano-Fall wird am 11. November wohl für etwas mehr Klarheit sorgen.
Gerichte sollten allerdings nicht die Rolle des Gesetzgebers übernehmen. Die demokratisch legitimierten Institutionen in Europa sind gefordert, in so weitreichenden Fragen Rechtssicherheit zu schaffen. Auf nationaler
Ebene unternehmen wir heute einen ersten Schritt im
Rahmen des Aufenthalts- und Freizügigkeitsrechts und
schaffen etwas mehr Rechtssicherheit. Nach dem DanoUrteil müssen weitere Schritte folgen.
Wir wollen und brauchen die Freizügigkeit in Europa.
Die öffentliche Akzeptanz dieses Rechts ist aber keine
Selbstverständlichkeit. Es steht außer Frage, dass weitere Schritte kommen müssen. Auch die offene Frage, ob
EU-Bürger in Deutschland für ihre im Ausland lebenden
Kinder Kindergeld in voller Höhe wie in Deutschland
bekommen sollen, gehört für mich dazu. Die Politik auf
europäischer und nationaler Ebene trägt Verantwortung
dafür, dass eine Akzeptanz sichergestellt wird. Mit diesem Gesetzentwurf tragen wir dazu bei. Ich bitte Sie daher heute um Ihre Zustimmung.
Herzlichen Dank.
({3})
Als nächster Redner hat der Kollege Josip Juratovic
das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Kürzlich bei der Anhörung der Sachverständigen zum geplanten Freizügigkeitsgesetz hat
Frau Dr. Giffey, Bezirksstadträtin von Neukölln, einen
entscheidenden Beitrag zu dieser Debatte geleistet. Frau
Giffey begrüßte viele der neuen Regelungen, betonte
aber auch, dass in Neukölln nicht der Missbrauch die
größten Schwierigkeiten bereitet. Kommunen brauchen
vor allem Unterstützung, um mit legaler und gerechtfertigter Zuwanderung zurechtzukommen. Ich kann Frau
Giffey nur zustimmen.
({0})
Es ist entscheidend, dass wir die Kommunen ausreichend unterstützen, und wir haben mit den geplanten
Entlastungen einen wichtigen Schritt dafür geleistet.
Kolleginnen und Kollegen, selbstverständlich müssen
wir Gesetze auf den Weg bringen, die sich auch um
Missbrauchsfälle kümmern. Daher finde ich die neuen
Regelungen zur zeitlichen Begrenzung der Arbeitssuche
oder zum Kindergeldmissbrauch gerechtfertigt. Es ist
aber auch entscheidend, dass wir dem Missbrauch nicht
mehr Aufmerksamkeit schenken, als er verdient.
({1})
Die meisten Menschen, die zu uns kommen, missbrauchen nicht die Freizügigkeit, sondern machen nur von
ihrem Recht Gebrauch. Dieses hohe Gut wollen und
müssen wir schützen.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich gebe offen zu,
dass ich verärgert bin angesichts des bewussten Spiels
mit Ängsten und Vorurteilen der Bevölkerung, zu dem
sich mancher Kollege auch aus diesem Haus im vergangenen Jahr hat hinreißen lassen. Es kann nicht sein, dass,
wenn grenzüberschreitende Mobilität im Einzelfall zu
gesellschaftspolitischen Problemsituationen führt, wie es
in manchen deutschen Kommunen tatsächlich der Fall
ist, statt Unterstützung zu bieten, reflexartig nach Abschottung gerufen wird.
({3})
Es ist die hohe Aufgabe der Politik, nicht dem Reiz zu
erliegen, selbst populistische Meinungsmache zu betreiben.
Kolleginnen und Kollegen, es ist unmoralisch, die
Zuwanderung nur auf wirtschaftliche Nützlichkeit zu reduzieren. Deshalb sollten wir gemeinsam ein positives
Bild der Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union
prägen.
({4})
Die Art und Weise, wie wir das Thema Freizügigkeit behandeln, gibt nämlich Aufschluss darüber, was für ein
Europa wir haben wollen. Was macht uns als Europa
aus? Freizügigkeit darf nicht nur eine Freizügigkeit der
Waren und Dienstleistungen sein, sondern sie ist vor allem das demokratische Grundrecht der Menschen in Europa.
({5})
Es gibt keine gute und schlechte Zuwanderung, es
gibt aber sehr wohl eine gute oder schlechte Aufnahme.
({6})
Deshalb danke ich den vielen Menschen bei uns, den
Kirchen, Gewerkschaften und Bürgerinitiativen, die die
Willkommenskultur in Deutschland pflegen. Die Freizügigkeit ist ein Zugewinn für alle und fördert den Zusammenhalt Europas und die gegenseitige Solidarität.
({7})
Kolleginnen und Kollegen, Zuwanderung muss
selbstverständlich auch politisch gesteuert werden, wie
mit dem aktuellen Gesetz geplant. Auch in Zukunft
bleibt es entscheidend, die Menschen zu schützen und
das Miteinander zu erleichtern. Wir müssen Willkommenscenter stärken und Anlaufstellen für Arbeitsmigranten ausbauen, die den Migranten den Einstieg in den
Arbeitsmarkt erleichtern.
Besonders wichtig: Missbrauch der Arbeitsmigranten
durch Schwarzarbeit muss verhindert werden. Es darf
aber nicht sein, dass wir uns darauf konzentrieren,
diejenigen zu bestrafen, die aus Not handeln, während
diejenigen, die diesen Missstand ausnutzen, unbestraft
davonkommen. Deshalb gilt auch weiterhin: Je besser
und sicherer die Bedingungen für Arbeitsmigrantinnen
oder -migranten auf unserem Markt gesetzlich geregelt
werden, desto weniger Missbrauchsfälle wird es geben.
Der vorliegende Kompromiss geht aus meiner Sicht in
die richtige Richtung, hindert uns aber nicht daran, weiterzudenken und zu handeln.
Übrigens, wir dürfen nicht der Illusion erliegen, das
alles sei einfach.
„Offen sein ist anstrengend.“
Ich bitte um Ihre Zustimmung für das geplante Gesetz
zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Damit schließe ich die Debatte zu diesem Tagesord-
nungspunkt.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU und weiterer
Vorschriften. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3077, den
Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen
18/2581 und 18/3004 anzunehmen.
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/3079 vor, über
den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Ände-
rungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen? - Das
ist die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt da-
gegen? - Das ist die Koalition. Wer enthält sich? - Die
Fraktion Die Linke. Damit ist der Änderungsantrag mit
den Stimmen der Koalition abgelehnt worden.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu-
stimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt für
den Gesetzentwurf? - Das ist die Koalition. Wer stimmt
dagegen? - Bündnis 90/Die Grünen und die Linke. Wer
enthält sich? - Das ist niemand. Damit ist der Gesetzent-
wurf in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition
angenommen worden.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Ge-
setzentwurf mit den Stimmen der Koalition gegen die
Stimmen der Opposition angenommen worden.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Ent-
schließungsanträge.
Wir kommen zunächst zum Entschließungsantrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/3080. Wer stimmt
für diesen Entschließungsantrag? - Die Linke und Bünd-
nis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? - Das ist die
Koalition. Wer enthält sich? - Niemand. Damit ist dieser
Entschließungsantrag auf Drucksache 18/3080 mit den
Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposi-
tion abgelehnt worden.
Wir kommen zum Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/3081. Wer
stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Die Opposi-
tion. Wer stimmt dagegen? - Die Koalition. Gibt es je-
manden, der sich enthält? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist auch dieser Entschließungsantrag mit den Stimmen
der Koalition gegen die Stimmen der Opposition abge-
lehnt worden.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 c auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes und des Sozialgerichtsgesetzes
Drucksachen 18/2592, 18/3000
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({0})
Drucksache 18/3073
- Bericht des Haushaltsausschusses ({1}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Drucksache 18/3084
b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Luise
Amtsberg, Kerstin Andreae, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Aufhebung des Asylbewerberleistungsgesetzes
Drucksache 18/2736
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({2})
Drucksache 18/3073
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Sabine Zimmermann ({4}),
Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Sozialrechtliche Diskriminierung beenden Asylbewerberleistungsgesetz aufheben
Drucksachen 18/2871, 18/3073
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
Hierzu liegen mir mehrere Erklärungen zur Abstimmung nach § 31 unserer Geschäftsordnung vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Das ist dann so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin in dieser Debatte hat die Kollegin Daniela Kolbe das Wort,
das sie dann sofort bekommt, wenn die Kolleginnen und
Kollegen ihre Plätze gewechselt haben. - Das ist jetzt
der Fall.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir leben in beunruhigend unruhigen Zeiten.
Weltweit gibt es derzeit so viele Flüchtlinge wie seit dem
Zweiten Weltkrieg nicht mehr: mehr als 50 Millionen
Menschen - Tendenz steigend. Natürlich ist das auch in
Deutschland spürbar, hier bei uns. In diesem Jahr rechnen wir mit etwa 200 000 Asylanträgen. Ich denke, dass
ich für das gesamte Haus spreche, wenn ich sage: Wir
wollen und wir werden dieser Verantwortung gerecht
werden.
({0})
Wie groß diese Verantwortung ist, kann man erleben,
wenn man derzeit ein Asylbewerberheim besucht. Dort
trifft man eigentlich immer auf erschütternde Geschichten, gerade von Menschen aus Syrien. Meine letzte Begegnung war mit einer Familie: ein Handwerker, seine
Frau, ein Kleinkind und ein Säugling. Ihre Geschichte
war, dass der Mann sich mit seinem zweijährigen Kind
und der hochschwangeren Frau am Mittelmeer in ein
Boot gesetzt hat in dem Wissen, dass das Boot vor diesem gesunken war. - Solche Geschichten gibt es zu
Zehntausenden. Sie lassen uns nachvollziehen und spüren, wie groß die Verantwortung ist, die wir hier zu erfüllen haben.
Wir wissen auch, wie groß die Herausforderung in
den Kommunen ist, wie dort geächzt wird, wie dort nach
Unterbringungsmöglichkeiten gesucht wird. Wir verschließen vor der Verantwortung in beiden Bereichen die
Augen nicht. Wir wissen: Es ist eine gemeinsame
Verantwortung, und der einzig mögliche Weg hier ist,
akzeptable Bedingungen für alle Flüchtlinge zu organisieren. Nur so werden wir auch die Akzeptanz in der Bevölkerung erhalten.
({1})
Wir machen heute den ersten Schritt, allerdings nur
den ersten Schritt in einer ganz schön langen Etappe.
Wir setzen das Verfassungsgerichtsurteil aus dem Juli
2012 eins zu eins um ({2})
nicht mehr, aber auch nicht weniger. Die Berechnung der
Leistungen wird endlich transparent und rechtssicher.
Wir sorgen dafür, dass Kinder und Jugendliche, die
als Flüchtlinge nach Deutschland kommen, Leistungen
aus dem Bildungs- und Teilhabepaket erhalten können.
Das hilft diesen Kindern enorm.
Es wird erstmals einen kleinen Vermögensfreibetrag
und einen höheren Einkommensfreibetrag geben. Das
hilft natürlich den Betroffenen, aber auch den Verwaltungen.
Wir verkürzen die Dauer des Bezugs von Leistungen
nach dem Asylbewerberleistungsgesetz von 48 Monaten
auf 15 Monate. Das ist einfach nur sachgerecht.
Wir nehmen einige Gruppen aus dem Leistungsbezug
nach diesem Gesetz heraus: Opfer von Menschenhandel
und Arbeitsausbeutung sowie solche Menschen, deren
Abschiebung schon seit mehr als anderthalb Jahren aus
rechtlichen oder humanitären Gründen ausgesetzt ist.
Durch diesen letzten Schritt entlasten wir unsere Kommunen jährlich um mehr als 40 Millionen Euro.
Außerdem wird es einen Nothelferparagrafen geben,
der sicherstellt, dass Asylbewerber definitiv Nothilfe erhalten und die Helfer eine Vergütung dafür bekommen.
Ich finde gut, dass wir dieses Urteil im Gesetzentwurf
jetzt eins zu eins umsetzen. Mein Dank gilt dem Ministerium und der Ministerin. Ich finde es gut, dass diese
Regierung dieses Urteil so zügig umgesetzt hat. Das ist
etwas, was der letzten Regierung nicht so schnell von
der Hand gehen wollte.
Aber es ist nur der erste Schritt. Weitere Schritte sind
bereits in der Vorbereitung oder in der Umsetzung - ich
mache das jetzt einmal im Stakkato, weil das schon recht
viel ist -: Wir werden im BAMF mehr Mitarbeiter einstellen, um eine kürzere Antragsbearbeitungsdauer hinzubekommen. Wir werden die Residenzpflicht weitgehend abschaffen. Seit heute können Asylsuchende, wenn
sie drei Monate in Deutschland sind, eine Arbeit aufnehmen. Ab nächster Woche wird, wenn die Menschen
15 Monate in Deutschland sind, auch die Vorrangprüfung wegfallen. Wir werden das Sachleistungsprinzip
weitgehend abschaffen.
Es gibt auch noch einige wenige Punkte, an denen wir
weiterhin hart arbeiten und die wir noch klären müssen.
Es bleibt die große Frage der Entlastung der Länder und
Kommunen - diese Frage ist eminent wichtig; darüber
müssen wir, glaube ich, nicht diskutieren -, und es bleibt
die Frage der Gesundheitsversorgung; das ist definitiv
verbesserungsbedürftig, wie unsere Anhörung gezeigt
hat. Das Bremer Modell, das auch in Hamburg und in
abgewandelter Form in Berlin angewandt wird, weist
uns hier womöglich den richtigen Weg.
Zusammengefasst: Diese Koalition wird ihrer Verantwortung gerecht: gegenüber den Flüchtlingen, gegenüber den Kommunen und gegenüber der Gesellschaft.
Das Gesetz ist ein erster großer Schritt in die richtige
Richtung, und es setzt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts eins zu eins um. Insofern bitte ich um Zustimmung.
Vielen Dank.
({3})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Ulla Jelpke das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit dem
vorliegenden Gesetzentwurf zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes will die Koalition an der sozialrechtlichen Sonderbehandlung von Asylsuchenden,
Flüchtlingen und geduldeten Menschen festhalten.
Dagegen fordert die Linke, dass diese Menschen wie alle
anderen auch Zugang zu regulären Sozialleistungen
erhalten und dass Beschränkungen - egal welcher Art beim Zugang zu Arbeit und Ausbildung unbedingt abgeschafft werden müssen.
({0})
Soziale Rechte dürfen nicht unter aufenthaltsrechtlichen
Vorbehalt gestellt werden.
Meine Damen und Herren, das Asylbewerberleistungsgesetz besteht seit über 20 Jahren. Keine Bundesregierung wollte daran rütteln. Geboren ist es übrigens
aus dem Gedanken der Abschreckung von Flüchtlingen.
Das Bundesverfassungsgericht hat im Juli 2012 klargestellt, dass auch Asylsuchende ein Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum haben.
({1})
Der zentrale Satz des Urteils lautet: Die Menschenwürde
ist „migrationspolitisch nicht zu relativieren“.
({2})
Das sollte auch die Koalition in diesem Haus endlich
einmal ernst nehmen.
({3})
Das Bundesverfassungsgericht hat unter anderem gefordert, das Asylbewerberleistungsgesetz nur auf jene
anzuwenden, die sich voraussichtlich nur vorübergehend
in Deutschland aufhalten. Doch wenn man sich den vorliegenden Gesetzentwurf genau anschaut, muss man
feststellen, dass auch Menschen mit humanitären
Aufenthaltstiteln aus den regulären sozialen Sicherungssystemen herausgehalten werden.
Das betrifft zum Beispiel die syrischen Flüchtlinge.
Über drei Jahre dauert dieser Krieg inzwischen an, und
leider ist nicht abzusehen, wann er beendet wird. Und
trotzdem unterliegen diese Flüchtlinge dem Asylbewerberleistungsgesetz, als könne man davon ausgehen, dass
sie spätestens nächste Woche das Land wieder verlassen
können. Das ist doch schlicht Realitätsverweigerung und
obendrein zynisch gegenüber diesen Menschen.
({4})
Das Asylbewerberleistungsgesetz soll auch weiter für
Menschen gelten, deren Asylantrag abgelehnt wurde, deren Aufenthalt in Deutschland aber weiter geduldet wird,
weil sie auf längere Sicht nicht abgeschoben werden
können. Auch deren Aufenthalt ist weder kurzzeitig
noch vorübergehend. Deswegen müssen auch sie aus
diesem Gesetz herausgenommen werden.
In einer Anhörung des Ausschusses für Arbeit und
Soziales wurden von einer Reihe von Sachverständigen
Verbesserungen - das ist ein ganz wichtiges Thema - bei
der Gesundheitsversorgung angemahnt. Derzeit erhalten
Menschen, die unter das Asylbewerberleistungsgesetz
fallen, allenfalls Hilfe in akuten Notsituationen. Chronische Erkrankungen werden nicht behandelt; die Folgen
sind oft Verschlimmerungen der Erkrankung bis hin zu
schweren Behinderungen. Auch Todesfälle hat es schon
gegeben. In der Expertenanhörung des Sozialausschusses wurden schlimme Beispiele geschildert. In einem
Fall verweigerte das Sozialamt die Operation von
Augenkrebs bei einem Kind. In einem anderen Fall
wurde die medizinisch notwendige Nachsorge einfach
nicht geleistet, weil das Sozialamt Rechnungen nicht bezahlt hatte. Das Recht auf Gesundheit und körperliche
Unversehrtheit darf nicht von einem Aufenthaltsstatus
abhängig gemacht werden, meine Damen und Herren.
Deswegen darf es so nicht weitergehen.
({5})
Meine Damen und Herren, besonders eklatant ist,
dass die Bundesregierung daran festhalten will, geduldeten Flüchtlingen das Taschengeld zu streichen, wenn sie
an ihrer Abschiebung angeblich nicht mitwirken. Dieses
Strafregime verletzt ganz klar das Recht auf ein
menschenwürdiges Existenzminimum. Sie müssen sich
vorwerfen lassen, die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts nicht ernst genommen zu haben.
({6})
Meine Damen und Herren, dasselbe gilt für den Vorrang von Sachleistungen vor Bargeld. Die Asylsuchenden erhalten fertig gepackte Esspakete, die oft nur mangelhafte Waren enthalten. Diese Form der Versorgung ist
absolut entmündigend.
({7})
Auch hier wird die Würde der Betroffenen mit Füßen getreten. Damit muss endlich Schluss sein!
({8})
Deshalb fordert die Linke, das System der sozialen
Diskriminierung von Flüchtlingen endlich zu beenden
und Sondergesetze wie das Asylbewerberleistungsgesetz
abzuschaffen. Auch das hat das Bundesverfassungsgericht als Option durchaus im Sinn gehabt, und das wäre
eigentlich auch das Richtige.
Schönen Dank.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, als nächste Rednerin hat jetzt Jutta Eckenbach das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ich glaube, dass wir - hier möchte ich an das anschließen, was meine Kollegin Frau Kolbe vorhin ausgeführt hat - uns wieder ins Bewusstsein rufen müssen, mit
wem wir es letztendlich zu tun haben. Wer jemals in ein
Übergangsheim gegangen ist, mit den Menschen dort
gesprochen hat, in die Kinderaugen gesehen hat und
festgestellt hat, wie traumatisiert manche Kinder waren,
der wird zustimmen, dass wir unserer Verantwortung in
Deutschland gerecht werden und diesen Menschen helfen müssen. Das tun wir mit voller Überzeugung.
({0})
Ich komme darauf, weil gerade das Wort „Strafregime“ gefallen ist. Es ist unangebracht. Es trifft keinesfalls auf das zu, was wir hier in Deutschland vorfinden.
Ich weise diesen Vorwurf mit aller Schärfe zurück.
Deutschland hat kein Strafregime, und so etwas gibt es
auch nicht in Deutschland.
({1})
Die Anhörung der Sachverständigen am Montag hat
ergeben, dass die Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts rechtlich nicht zu beanstanden ist.
({2})
Ebenso ist das Festhalten am Asylbewerberleistungsgesetz notwendig. Da ja nicht alle bei dieser Anhörung anwesend waren, will ich Ihnen auch sagen, warum.
Der Grundgedanke des sogenannten Asylkompromisses von 1992/1993 war, dass unser Sozialleistungssystem keinen Anreiz für Zuwanderung bieten sollte.
({3})
Wie die Zahlen zeigten, gingen die Anträge auf Asyl damals schlagartig zurück. Also gab es offensichtlich einen
Zusammenhang zwischen der Wahl des aufnehmenden
Landes und den dort angebotenen Leistungen. Dass es
diesen Zusammenhang immer noch gibt, wird auch
durch die neueren Zahlen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge bestätigt.
({4})
So war, unmittelbar nachdem das Bundesverfassungsgericht im Juli 2012 das Urteil verkündet hatte, über das
wir heute reden und das die Grundlage für das heute vorgelegte Gesetz ist, wieder ein Anstieg der Anzahl der
Anträge zu verzeichnen. Während noch im Juni 2012,
also vor Verkündung des Urteils, 770 Anträge gestellt
wurden, wurden im August bereits 1 163, im September
2 257 und im Oktober 4 303 Anträge gestellt.
({5})
Ein weiterer wesentlicher Aspekt, der sich im Rahmen des Verfahrens herausgestellt hatte, war die Frage
der Gesundheitsversorgung nach den §§ 4 und 6 Asylbewerberleistungsgesetz. In einigen Stellungnahmen der
Sachverständigen klang immer wieder an, dass die Gesundheitsversorgung nicht ausreichend sei, es ein Martyrium sei, medizinische Hilfe zu erhalten, und der Bund
seiner Fürsorgepflicht nicht nachkomme.
Ich will nur der Ordnung halber darauf hinweisen,
dass die Ausführung des Asylbewerberleistungsgesetzes
nicht allein in der Zuständigkeit des Bundes liegt, sondern dass hierfür auch die Länder zuständig sind. Genau
das ist in der Anhörung ja auch noch einmal am Beispiel
des Landes Bremen deutlich geworden, das hier anderweitig tätig wird. Das machen übrigens auch andere
Länder, indem sie eine Krankenversorgung, wie sie im
Rahmen der normalen gesetzlichen Krankenversicherung üblich ist, gewährleisten. Dort gibt es eine Krankenkassenkarte. Ich wünsche mir natürlich, dass alle
Länder dieses Modell übernehmen, auch im Interesse
der Gesundheitsversorgung. Die Länder haben es also
selbst in der Hand, die gesundheitlichen Versorgungsleistungen für Asylbewerber zu regeln.
Egal wie die aktuelle Ausgestaltung aussehen wird:
Ich will, weil das von den Linken gerade beanstandet
wurde, an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich betonen, dass der Bundesregierung aus der Zeit von 2004 bis
2014 offiziell kein Fall bekannt ist, bei dem das angebliche Vorenthalten bzw. Verzögern einer medizinischen
oder psychotherapeutischen Behandlung bei einer Person, die dem Asylbewerberleistungsgesetz unterworfen
war, zu körperlichen Schäden oder gar zum Tod geführt
hätte, wie das von den Linken gerade behauptet wurde.
Die Opposition malt an dieser Stelle immer wieder
den Teufel an die Wand und stellt irgendwelche Schreckensbilder dar, was meinem Erachten nach völlig unbegründet ist. Es sei auch noch einmal erwähnt, dass sich
zahlreiche Mitarbeiter des Bundesamtes für Migration
und Flüchtlinge wie auch der Aufnahmeeinrichtungen
vor Ort tagtäglich um die Bedürftigen kümmern. Dass
diese Arbeit immer nur zum Nachteil der Asylbewerber
sei, kann und will ich hier nicht gelten lassen. Deswegen
wollen wir auch heute an diese Menschen denken und
ihnen herzlich danken; denn ihre Aufgabe in diesen Einrichtungen vor Ort ist nicht einfach.
({6})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie
mich noch einmal auf die Forderung der Opposition
eingehen, dass das Asylbewerberleistungsgesetz in die
Leistungssysteme des SGB II und XII einzubetten sei.
Dies ist nicht möglich, da die Zielrichtungen andere
sind; denn während das Asylbewerberleistungsgesetz
auf Hilfen für einen vorübergehenden Aufenthalt gerichtet ist, haben das SGB II und XII dauerhaft in Deutschland lebende Personen im Blick. Insofern machen zum
Beispiel arbeitsmarktpolitische Instrumente in den Erstaufnahmeeinrichtungen wenig Sinn.
Meine Damen und Herren, dass wir alle Fragen der
Asylpolitik allein mit den Änderungen, die für das Asylbewerberleistungsgesetz anstehen, nicht bewältigen werden, ist mir bewusst. Ich glaube, wir sind uns einig, dass
wir alle helfen wollen. Jedoch muss die Hilfe auch
machbar sein.
Ich danke zum Abschluss all denen herzlich, die sich
ehrenamtlich bemühen, in den Einrichtungen für Ruhe
und Frieden zu sorgen, die dort tagtäglich ein- und ausgehen und für die Menschen in den Asylbewerbereinrichtungen und -heimen da sind.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Für Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Verehrte Kollegin Eckenbach, ich bitte doch um ein bisschen mehr Respekt gegenüber dem Bundesverfassungsgericht.
({0})
Sie haben eben schon wieder - Kollegin Jelpke hat auf
den Satz im Urteil des Bundesverfassungsgerichts hingewiesen - versucht, einen Zusammenhang zwischen der
Leistung im Asylbewerberleistungsgesetz und der Zahl
der Menschen, die hierhinkommen, herzustellen. Man
kann darüber streiten. Meines Erachtens ist das, was in
der Anhörung genannt worden ist, methodisch angreifbar. Aber selbst wenn es so wäre: Das Bundesverfassungsgericht hat eindeutig gesagt, dass migrationspolitische Argumente bei der Menschenwürde keine Rolle
spielen dürfen.
({1})
Das heißt, diese Argumente dürfen hier im Bundestag in
der Debatte, die wir führen, überhaupt nicht verwendet
werden. Sie haben es aber in der Ausschussanhörung getan. Herr Kollege Stracke, das gehört sich nicht. Es geht
hier um die Verfassung, die Menschenwürde und um ein
Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Bitte unterlassen
Sie das.
({2})
- Stellen Sie eine Zwischenfrage, Herr Straubinger,
wenn Sie darüber etwas mehr erfahren wollen.
Ich finde es grundsätzlich problematisch, dass wir
hier häufig Gesetzentwürfe besprechen, die an der
Grenze der Verfassungsmäßigkeit sind, und wir auf die
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts warten
müssen, ob sie verfassungsgemäß sind oder nicht. Bei
dem Gesetzentwurf der Bundesregierung ist das schon
wieder so. Ich bin kein Jurist, aber meines Erachtens ist
dieser Entwurf gerade eben noch verfassungsgemäß.
Aber wir haben in der Ausschussanhörung diverse Argumente von den Expertinnen und Experten gehört, die
aufzeigten, wo es verfassungsrechtliche Probleme gibt.
Ich habe dazu in der Ausschusssitzung etwas länger Stellung genommen und die Punkte noch einmal erwähnt.
Hier habe ich nicht die Zeit dazu, weil ich dann meine
Redezeit um ein Vielfaches überschreiten würde. Ich
fände es schön, wenn wir mehr Gesetze verabschieden
würden, bei denen von vornherein klar ist, dass sie der
Verfassung entsprechen.
({3})
Ein weiterer wichtiger Punkt. Wir finden es wichtig,
dass es endlich eine einheitliche Grundsicherung gibt
und keine Dreiklassengrundsicherung, wie wir sie derzeit vorfinden.
({4})
Anknüpfend an die letzte Debatte sage ich: Unionsbürger, die zu uns kommen, verlieren irgendwann ihren Anspruch auf Grundsicherung, ein Teil ist davon ausgeschlossen. Asylbewerber erhalten zwar eine Leistung,
aber sie liegt unterhalb der Leistung, die andere Menschen in diesem Lande erhalten.
({5})
Das ist aus unserer Sicht nicht hinnehmbar. Wir wollen
da eine Vereinfachung.
Ihre Vorlage offenbart das Menschenbild der Großen
Koalition: Es gibt die guten Menschen, die hier länger
leben, und es gibt die schlechten Menschen; das sind
diejenigen, die aus der EU oder von weiter weg zu uns
kommen.
({6})
Wir finden: Alle Menschen müssen und sollten gleich
behandelt werden.
({7})
Ich komme ganz kurz auf ein paar wichtige Probleme
zu sprechen. Es wird hier behauptet, die Urteile des Bundesverfassungsgerichts zum Existenzminimum würden
hier eins zu eins umgesetzt. Das Existenzminimum ist
ein Grundrecht nach Artikel 1 Grundgesetz: „Die Würde
des Menschen ist unantastbar.“ Es umfasst ein physisches Existenzminimum und ein gewisses Maß an sozialer Teilhabe. Und dann gibt es § 1 a Asylbewerberleistungsgesetz, den Frau Jelpke als Strafregime bezeichnet
hat. Unabhängig davon, wie man es bezeichnet,
({8})
besagt § 1 a, dass Leistungskürzungen möglich sind. Es
ist überhaupt nicht festgelegt, in welcher Größenordnung sie erfolgen können. Das ist auch in der Ausschussanhörung kritisiert worden. Diese Leistungskürzungen
können auch dauerhaft vorgenommen werden. Leistungskürzungen, die dauerhaft eine Senkung unter das
Existenzminimum bewirken, widersprechen eigentlich
ganz eindeutig dem Grundrecht auf eine existenzsichernde Leistung.
Im Asylbewerberleistungsgesetz sind, anders als im
SGB II und im SGB XII, keine Mehrbedarfe, zum Beispiel für Alleinerziehende und Schwangere, vorgesehen.
Das ist schon ein Problem. Die Regelleistung selber ist
10 Prozent niedriger als die Leistung für Menschen, die
Arbeitslosengeld II oder die Grundsicherung im Alter
beziehen. Begründet wird dies damit, dass bestimmte
Leistungen als Sachleistungen bereitgestellt werden,
zum Beispiel Hausrat und Gesundheitsleistungen.
Teilweise ist es ziemlich absurd, was in der Begründung steht. Zum Beispiel wird ein Teil dieser Differenz
damit begründet, dass Asylbewerber keine Praxisgebühr
zahlen müssen.
({9})
- Richtig. - Wie auch Sie von der Koalition wissen sollten, gibt es die Praxisgebühr gar nicht mehr. Das macht
zwar nur 2,64 Euro der Differenz zwischen SGB-IILeistungen und den Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, wie Sie es vorgelegt haben, aus; aber
es zeigt, wie Sie an dieses Gesetz herangegangen sind,
nämlich korinthenkackerisch, sehr kleinlich, nicht wirklich fundiert und auch nicht transparent. Offensichtlich
ist es Ihnen nicht einmal aufgefallen, dass die Ausgaben
für die Praxisgebühr herausgerechnet wurden. Deswegen gibt es keinen Grund, Asylbewerbern 2,64 Euro weniger zu geben als anderen.
({10})
Für uns ist wichtig, die Selbstbestimmung und Freiheit der Menschen zu stärken. An der Stelle sind die
Sachleistungen ein Riesenproblem. Auch Asylbewerberinnen und Asylbewerber sollten eine Geldleistung kriegen, mit der sie selbstbestimmt entscheiden können, wie
sie ihr Leben gestalten. Die Ausschussanhörung hat
deutlich gemacht, dass das Existenzminimum auch an
dieser Stelle nicht unbedingt gesichert ist,
({11})
weil die Sachleistungen möglicherweise nicht existenzsichernd sind; das ist schwer zu kontrollieren. Auch an
der Stelle wären Geldleistungen sehr viel sinnvoller als
Sachleistungen.
Herr Kollege Strengmann-Kuhn, Sie denken an die
vereinbarte Redezeit?
Gut. Dann komme ich zum Schluss. - Leider kann ich
zum Punkt Gesundheit nicht mehr viel sagen; aber er ist
schon genannt worden. Auch beim Thema Gesundheit
gibt es ein zentrales Problem; auch hier ist das physische
Existenzminimum gefährdet. Ich wünsche der Kollegin
Kolbe viel Glück dabei, an der Stelle Veränderungen zu
erreichen. Es gibt da auch einen Beschluss des Bundesrates, der einen Weg aufzeigt. Ich finde, das Gesetz, wie
es jetzt vorliegt, ist nicht christlich; Sie sollten vielleicht
einmal über den Begriff „christlich“ in Ihren Parteinamen nachdenken.
({0})
Wir haben einen Gesetzentwurf vorgelegt, der die
Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes vorsieht und eine Gleichstellung schafft. Er ist im Bundesrat
von allen Ländern unterstützt worden, in denen Grüne
und SPD zusammen regieren.
Herr Kollege, der letzte Satz war schon längere Zeit
angekündigt. Er muss jetzt auch erfolgen.
Ja. - Deswegen bitten wir Sie: Stimmen Sie unserem
Gesetzentwurf zu. Denn nur so kriegen wir wirklich ein
Gesetz, das der Verfassung entspricht, Bürokratie abbaut
und die entwürdigende Diskriminierung von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern tatsächlich abschafft.
Vielen Dank.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Kerstin Griese für
die Sozialdemokraten.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meinem Vorredner will ich zum Thema „Respekt“ Folgendes sagen: Ich verstehe, dass man immer noch mehr
wollen kann. Auch ich kann mir noch viele Dinge vor5878
stellen, was wir tun können, um die soziale Situation von
Flüchtlingen in unserem Land zu verbessern. Aber ich
fände es auch ein Zeichen von Respekt, wenn Sie anerkennen, dass wir die Bedingungen des Bundesverfassungsgerichts umgesetzt haben, dass wir jetzt einen richtig großen Schritt machen und an sechs Punkten die
Situation von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern in
unserem Land deutlich verbessern.
({0})
Die Anhörung am Montag hat eindeutig ergeben, dass
wir das Urteil des Bundesverfassungsgerichts eins zu
eins umgesetzt haben. Die Experten haben gesagt, das
sei angemessen und richtig umgesetzt. Die Sätze sind
nach der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe ermittelt worden.
({1})
Das ist ein wichtiger erster Schritt, dieses Urteil umzusetzen.
Die Anhörung hat auch ergeben - den Punkt will ich
noch einmal aufgreifen -, dass wir uns beim Thema Gesundheitsleistungen - da sind wir uns sicherlich einig in der Tat Verbesserungen vorstellen können. Wir haben
darüber sehr konkret mit dem Experten der AOK Bremen diskutiert. Dazu gehört etwa die Idee, dass die Gesundheitsleistungen von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern über Krankenkassen abgerechnet werden.
Diese Sache finden wir gut. In diese Richtung müssen
wir gemeinsam mit den Ländern gehen.
({2})
Ich muss aber auch deutlich sagen: Wir verbessern
jetzt im Asylbewerberleistungsgesetz die Notfallhilfe,
indem wir für Notfallsituationen regeln, dass die Träger
das Geld für die entstandenen Kosten direkt an Krankenhaus oder Arzt überweisen.
({3})
Ich will aber auch deutlich sagen - das habe ich in der
ersten Lesung schon einmal getan -: Was an schrecklichen Fällen in Flüchtlingsheimen passiert ist - da wurde
kein Arzt gerufen -, ist auch schon nach heutiger Gesetzeslage rechtswidrig. In Notfallsituationen haben selbstverständlich Flüchtlinge Anrecht auf medizinische Behandlung in Deutschland.
Ein dritter Punkt aus der Anhörung ist mir wichtig; er
betrifft das, was wir aus der Stadt Dortmund gehört haben. Die Stadt Dortmund zählt sicherlich nicht zu den
reichsten Städten.
({4})
- Der Kollege darf zustimmend nicken, weil er von dort
kommt. - Diese Stadt verfolgt seit vielen Jahren die
Politik, die Flüchtlinge in Wohnungen unterzubringen.
Sie hat damit sehr positive Erfahrungen gemacht. Dort
gibt es keine Konflikte, weil die Privatsphäre gewahrt
wird und weil Gemeinschaftsaktivitäten auf freiwilliger
Basis angeboten werden.
Diese Unterbringung in Wohnungen ist ein erstrebenswertes Ziel, weil es damit auf der kommunalen
Ebene so positive Erfahrungen gibt. Jetzt braucht man
sicherlich noch eine Zeit lang Gemeinschaftseinrichtungen, da die Zahl der Flüchtlinge höher ist. Die Unterbringung in Wohnungen ist aber ein ganz entscheidender
Schritt in Richtung einer positiven Integration.
({5})
Frau Kollegin Griese, gestatten Sie eine Zwischenfrage oder eine Anmerkung des Kollegen Kurth?
Ja, selbstverständlich.
Liebe Kerstin Griese, es freut mich, dass das Beispiel
Dortmund genannt wurde. Die Stadt versucht in der Tat,
Flüchtlinge nicht in Sammelunterkünften, sondern in
Wohnungen unterzubringen.
Allerdings muss ich dann doch die Frage stellen, warum denn zum Beispiel die Kosten für die Unterbringung
weiterhin als Sachleistungen erbracht werden sollen.
Können Sie das einmal begründen? Wenn die Unterbringung in Wohnungen in Ihren Augen eine so vorbildliche
Praxis ist, müsste doch der gesetzliche Rahmen entsprechend gestaltet werden.
Herr Kollege Kurth, herzlichen Dank für diese Frage;
denn sie gibt mir Gelegenheit, darauf hinzuweisen, dass
wir noch die Protokollerklärung des Bundesrates umsetzen werden. Diese sieht vor, dass wir dort Geldleistungen explizit vor Sachleistungen verankern werden, dass
wir dort die Residenzpflicht aufheben werden - das ist
eine ganz wichtige Sache für das praktische Leben der
Asylbewerberinnen und Asylbewerber in unserem Land und dass wir außerdem mit einer Verwaltungsverordnung die sogenannte Vorrangprüfung bei einem Arbeitsplatz abschaffen werden.
Das werden ganz wichtige Dinge sein, um das Leben
der Flüchtlinge im Alltag bei uns zu verbessern. Es geht
immer um zwei Dinge: darum, dass sie gut und anständig wohnen können, und darum, dass sie möglichst früh
anfangen können, sich einen Arbeitsplatz zu suchen und
zu arbeiten. Denn das ist das Wichtigste, um sich in diesem Land zu integrieren. Mit Arbeit kann man seinen
Unterhalt sichern, was sich positiv auf das Selbstbewusstsein auswirkt. Insofern sind das richtige Schritte.
Ich möchte Ihnen noch Folgendes kurz zu Dortmund
sagen: Ich bin sehr froh, dass das Land Nordrhein-Westfalen auf seinem Flüchtlingsgipfel beschlossen hat, die
Landespauschale für die Leistungen zu erhöhen. Damit
werden die Kommunen in ihren Bemühungen unterstützt
- gerade Kommunen wie Dortmund brauchen das -, um
die Flüchtlinge ordentlich unterzubringen.
({0})
Dafür wird die Pauschale jetzt erhöht. Das ist ein ganz
wichtiger Schritt. Der Flüchtlingsgipfel, der dort abgehalten wurde, war ein wichtiges Vorbild, wie man das in
anderen Bundesländern machen könnte.
({1})
Ich will noch einen weiteren Punkt aus der Anhörung
deutlich machen. Denn das Asylbewerberleistungsgesetz
ist nicht dafür da, Migration zu steuern - weder nach
oben noch nach unten. Das Asylbewerberleistungsgesetz
ist für die individuellen Leistungen und die individuellen
Bedarfe der Asylbewerberinnen und Asylbewerber da.
Es ist aber nicht dazu da, Migration zu regulieren.
Dass es Veränderungen bei den Wanderungsbewegungen und Fluchtbewegungen auf dieser Welt gibt, hat mit
den schlimmen weltweiten Krisen zu tun. Das sieht man
allein daran, dass die meisten Flüchtlinge derzeit aus Syrien kommen. Die Veränderungen sind auch durch den
Jahresverlauf bedingt. Mir ist wichtig, festzuhalten: Mit
dem Asylbewerberleistungsgesetz machen wir keine Migrationspolitik, indem wir Zuwanderung regeln, sondern
wir regeln die soziale Situation und die Absicherung der
Flüchtlinge in unserem Land.
({2})
Wir verbessern die Situation in sechs Bereichen: Wir
heben die Bedarfssätze an, wir verkürzen die Wartefrist,
Kinder und Jugendliche werden Bildungs- und Teilhabeleistungen erhalten, sie werden nicht mehr sanktioniert,
wenn ihre Eltern Verstöße begehen, und wir nehmen Opfer von Menschenhandel und bestimmte Gruppen, die
geduldet werden, aus dem Gesetz heraus, sodass sie
heute schon Leistungen gemäß SGB II oder SGB XII erhalten. Dadurch entlasten wir die Kommunen erheblich.
Wir führen außerdem eine Regelung ein, die in medizinischen Notfällen sehr schnell die Finanzierung sichert.
Das sind gute Schritte. Es werden noch weitere folgen. Die wichtigsten sind für mich, dass wir ermöglichen, dass Flüchtlinge bei uns schneller arbeiten können.
Auch die Unterbringung in guten Wohnungen hatte ich
erwähnt. Wir werden außerdem die Residenzpflicht abschaffen und den Vorrang von Geldleistungen vor Sachleistungsbezug ermöglichen. Das ist eine ganze Menge.
Damit zeigen wir, dass wir ein Land sind, das Flüchtlinge, die aus Situationen schwerster Bedrohung zu uns
kommen, willkommen heißt. In diesem Zusammenhang
danke ich allen, die sich ehrenamtlich vor Ort engagieren.
Vielen Dank.
({3})
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Matthäus
Strebl.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir beraten heute abschließend über den Gesetzentwurf zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes und des Sozialgerichtsgesetzes. Wir befassen uns
des Weiteren mit einem Gesetzentwurf der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen und einem Antrag der Fraktion
Die Linke, in denen die Aufhebung des Asylbewerberleistungsgesetzes gefordert wird.
Seit der ersten Beratung haben wir eine Reihe von
Fachleuten zurate gezogen. Die öffentliche Anhörung
mit den Sachverständigen am vergangenen Montag hat
vor allem eines bestätigt: Wir müssen die Vorgaben des
Bundesverfassungsgerichts, insbesondere die Gewährleistung des Grundrechts auf ein menschenwürdiges
Existenzminimum, die Anhebung der Geldleistungen
und die Erhöhung der Transparenz bei der Berechnung
von Leistungen, zeitnah umsetzen. Mit der heutigen Verabschiedung werden wir das auch tun. Dieser Verpflichtung kommen wir mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung nach. Wir gewährleisten insbesondere das
Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum für die Asylbewerber in Deutschland. Das halte ich
für zweifelsfrei wichtig und richtig.
Erneut lehnen wir die Vorlagen der Opposition ab, in
denen die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes gefordert wird. Das Bundesverfassungsgericht hat in
seiner Entscheidung gerade nicht die Abschaffung des
Asylbewerberleistungsgesetzes gefordert.
({0})
Die Situation der Empfänger von Leistungen gemäß Sozialgesetzbuch II ist zweifelsfrei eine andere als von
Flüchtlingen. Bei vielen Flüchtlingen ist schlichtweg unklar, ob und wie lange sie eine Bleibeperspektive in
Deutschland haben. Würde das Sozialgesetzbuch II auch
für Asylbewerber gelten, müssten die ganzen arbeitsmarktpolitischen Instrumente auch für sie zur Verfügung
stehen, egal ob der Aufenthaltsstatus geklärt wurde oder
nicht. Das erscheint mir nicht nachvollziehbar.
Das Recht auf Asyl in Deutschland ist im Grundgesetz Artikel 16 a verankert. Dieses Recht und die daraus
resultierende Verantwortung wollen und werden wir den
verfolgten Menschen weiterhin garantieren. Wir dürfen
bei der ganzen Diskussion aber nicht vergessen, dass
Deutschland für viele Flüchtlinge ein bevorzugtes Asylland ist. Dafür sprechen auch die sogenannten Pull-Faktoren, wie gute Arbeitsbedingungen, gute Arbeitsmarktchancen, stabile Verhältnisse und Religionsfreiheit.
Deshalb sage ich klar und deutlich: Die finanziellen
Leistungen für Asylbewerber dürfen keine Anreize für
eine verstärkte Armutszuwanderung sein.
Bestätigt wurde uns in der öffentlichen Anhörung
auch, dass die Zahl der Anträge auf Asyl unmittelbar
nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts gestiegen ist.
({1})
Nach Auskunft des Bundesamtes für Migration und
Flüchtlinge stieg die Zahl der Asylanträge - Frau Kollegin Eckenbach hat es heute schon gesagt - von Flüchtlingen aus den Westbalkanstaaten.
({2})
- Die Zahlen belegen das. Passen Sie auf! - Die Zahl der
Asylanträge stieg von 770 Anträgen im Juni 2012 auf
1 163 im August und 6 977 im Oktober des gleichen
Jahres. Die Zahl der Anträge hat sich also innerhalb kürzester Zeit fast verzehnfacht.
({3})
Auch wenn sich die Zahl der Asylanträge bekanntermaßen im Herbst erhöht - das wissen wir -, kann angesichts dieser Zahlen nicht ausschließlich von einem jahreszeitbedingten Anstieg gesprochen werden.
Im Rahmen der Asylpolitik hat sich der Bundestag
mit den verschiedensten Fragestellungen beschäftigt.
Dabei ging es insbesondere um die Frage der sicheren
Herkunftsstaaten, um die Residenzpflicht oder auch um
die Entscheidung für oder gegen Sachleistungen. In diesem Zusammenhang hat man auch auf die gestiegene
Zahl der Asylanträge reagiert.
Ich bin mir sicher, dass wir aufgrund der weltweiten
Krisenherde auch in Zukunft über asylrechtliche Problematiken diskutieren werden. Deshalb appelliere ich an
alle, sich der Flüchtlingspolitik verantwortungsvoll zu
widmen. Mit der Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes ist niemandem gedient, es muss vielmehr
mit Leben ausgefüllt werden. Wir werden dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes daher zustimmen und damit die
Situation vieler Asylbewerber in Deutschland verbessern.
Vielen Dank.
({4})
Nächster Redner für die Sozialdemokraten ist der
Kollege Josip Juratovic.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich sehr, dass das Urteil
des Bundesverfassungsgerichts zum Asylbewerberleistungsgesetz endlich umgesetzt wird. Ich wage einmal zu
sagen: Es war auch Zeit.
Wir alle haben die Berichte über Vorfälle in Asylbewerberheimen mitbekommen. Die Vorfälle sind beschämend und einer modernen Gesellschaft wie unserer
unwürdig. Umso wichtiger ist es, die Arbeit der Ehrenamtlichen rund um Flüchtlingsheime zu erwähnen. Sie
dienen als großes Vorbild für unsere gesamte Gesellschaft. Die Ehrenamtlichen und auch die Angestellten
sorgen dafür, dass die Ersterfahrung der Flüchtlinge mit
unserem Land positiv ist. Sie sorgen dafür, dass die Ankommenden Vertrauen in unseren Staat fassen und sich
auch langfristig als Teil unserer Gesellschaft fühlen. Sie
sind offen dafür, dass sich unser Zuhause durch die Zuzüge positiv verändert. Sie sind diejenigen, die das neue
deutsche Wir leben.
({0})
Als Integrationsbeauftragter der SPD-Bundestagsfraktion möchte ich, dass wir uns diese Menschen auch
in der Politik zum Vorbild nehmen. Ihre Offenheit und
Hilfsbereitschaft muss unser Ziel und das Maß unseres
Handelns sein. Das betrifft die Freizügigkeit innerhalb
der EU, über die wir gerade gesprochen haben, genauso
wie die Lebensbedingungen der Flüchtlinge, die in dem
aktuellen Asylbewerberleistungsgesetz behandelt werden.
Meine Vorrednerinnen haben die wichtigen Neuerungen im Asylbewerberleistungsgesetz vorgestellt. Ich
werde deshalb nur ganz kurz die Neuerungen nennen,
die mir persönlich besonders am Herzen liegen: die Verkürzung des Asylbewerberleistungsbezugs, die Verbesserungen bei der medizinischen Versorgung und insbesondere die Aufnahme der Leistungen des Bildungs- und
Teilhabepakets in das Asylbewerberleistungsgesetz.
Diese und andere kleine Schritte sind zusammen ein
großer Schritt, um den Menschen, die neu in Deutschland ankommen, von Beginn an das Gefühl zu vermitteln, dass das, wonach sie sich am meisten gesehnt haben, hier tatsächlich möglich ist: ein menschenwürdiges
Leben für alle.
({1})
Wenn alle Neuankommenden dieses Gefühl vermittelt
bekommen, haben wir ein wichtiges Ziel erreicht. Dann
haben wir unser Land, was das weltweite Ansehen betrifft, ein Stück weitergebracht, und dann haben wir als
Vorbild für den zwischenmenschlichen Umgang dem
Weltfrieden einen großen Dienst erwiesen.
Daher bitte ich um Zustimmung zu dem vorliegenden
Gesetzentwurf zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Abschließender Redner in dieser Aussprache ist der
Kollege Dr. Martin Pätzold für die CDU/CSU.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Wir novellieren das AsylbewerberleistungsDr. Martin Pätzold
gesetz, weil wir dazu den Auftrag des Bundesverfassungsgerichtes haben und weil wir auf die Herausforderungen in der Welt, die uns in Deutschland betreffen,
reagieren. Dieses Jahr werden über 200 000 Flüchtlinge
nach Deutschland kommen. Alleine von Januar bis September dieses Jahres waren es 163 000 Menschen, die
hier einen entsprechenden Antrag gestellt haben. Wir erleben, dass die Konflikte, die es im Irak, in Syrien, im
Nahen Osten im Allgemeinen und in den ehemaligen
Republiken der Sowjetunion gibt, natürlich auch Auswirkungen auf die Politik hier in Deutschland haben.
Deswegen ist es richtig und wichtig, dass wir dieses Gesetz novellieren und deutliche Verbesserungen beschließen.
Aus meiner Sicht sind vor allen Dingen drei Punkte
von Bedeutung - vieles wurde ja schon angesprochen -,
auf die ich als letzter Redner eingehen möchte und die
mir mit Blick auf diese Gesetzesinitiative besonders
wichtig sind, da wir den Betroffenen dadurch, wie ich
glaube, helfen.
Erstens. Im Hinblick auf das Bildungs- und Teilhabepaket beschließen wir, dass es eine verbindliche Unterstützung der Kinder von Flüchtlingen geben wird. Vorher war das eine Entscheidung, die von den Ländern
teilweise unterstützt wurde. Jetzt gibt es einen Rechtsanspruch darauf. Das stärkt die Integration im lokalen
Raum. Deswegen finde ich persönlich, dass das eine
wichtige und gute Sache ist.
({0})
Zweitens. Wir verkürzen die Dauer der Vorläufigkeit
auf 15 Monate. Auch hier ist es wichtig, den Übergang
zu organisieren. Deswegen ist es gut, dass wir die Dauer
der Vorläufigkeit deutlich reduzieren und auf 15 Monate
festlegen.
Auch der dritte Punkt ist wichtig, gerade für uns als
christliche Partei - es wurde schon angesprochen, dass
für uns die Prinzipien Subsidiarität, Solidarität und Personalität von besonderer Bedeutung sind -: Da es auch
um Eigenverantwortung geht, ist es richtig, dass wir einen Freibetrag festlegen, dass es Freigrenzen gibt und
dass auch für Flüchtlinge die Möglichkeit besteht, Geld
anzusparen.
({1})
Dann kann man nämlich selbst entscheiden, welche Ausgaben man tätigt.
Die Frage, die wir in dieser Diskussion andauernd hören, lautet: Ist es menschenwürdig, wie wir Flüchtlinge
unterbringen, oder nicht? Da gibt es den Bundesgesetzgeber - das sind wir Abgeordnete -, der eine Verantwortung hat. Da gibt es aber auch Länder und Kommunen,
die hier in der Verantwortung stehen.
Ich war in der letzten Woche im Nahen Osten, unter
anderem in Jordanien und Israel, und konnte sehen, wie
Flüchtlinge dort untergebracht werden. Alleine Jordanien, ein Land mit ungefähr 6 Millionen Einwohnern,
hat 620 000 Syrer aufgenommen. Erstens können wir
dankbar sein, dass ein Land wie Jordanien Verantwortung übernimmt. Zweitens müssen wir aber feststellen,
dass die Standards dort andere sind als bei uns. Das wird
klar, wenn man sich diese Zahl vor Augen führt. Das
wird aber auch klar, wenn man weiß, wie die wirtschaftlichen Verhältnisse vor Ort sind. Wenn das der Bezugspunkt ist, dann sieht man, wie viel unsere Gesellschaft
für diejenigen leistet, die hier Hilfe suchen. Wir leisten
auch deswegen so viel, weil wir eine historische Verantwortung und eine humanitäre Verantwortung haben.
({2})
Mir persönlich ist wichtig - das habe ich bereits angesprochen -, dass wir als Gesetzgeber nicht nur einen
menschenwürdigen Rahmen festsetzen, sondern dass wir
auch die gesamte Gesellschaft und die Zivilgesellschaft
zur Unterstützung ermutigen. In meinem Wahlkreis
Lichtenberg im Berliner Norden ist es gelungen, mit der
Zivilgesellschaft ordentlich und vernünftig zusammenzuarbeiten und dafür zu sorgen bzw. zu werben, dass es
auch zu einer Beteiligung vor Ort kommt. So gibt es beispielsweise Deutschkurse, die von Menschen im Rentenalter geleitet werden, die dadurch die Kompetenzen,
die sie erworben haben, weitergeben.
Wir brauchen eine starke Zivilgesellschaft und Anerkennung dafür, dass es uns gelingt, Flüchtlinge vernünftig zu integrieren. Ich beispielsweise sammle immer zu
Weihnachten mit einem Einzelhändler vor Ort Geschenke für Flüchtlingskinder; das werde ich auch dieses
Jahr machen. Jeder kann einen Beitrag dazu leisten, dass
es in unserem Land in sozialer Hinsicht besser zugeht.
Auch mit diesem Gesetzentwurf leisten wir als Bundestagsabgeordnete dazu einen vernünftigen Beitrag.
Vielen Dank.
({3})
Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur
Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes und des
Sozialgerichtsgesetzes. Dazu liegt mir eine Reihe von
Erklärungen zur Abstimmung nach § 31 unserer Ge-
schäftsordnung vor.1)
Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt un-
ter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 18/3073, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksachen 18/2592 und 18/3000 anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol-
len, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD ge-
gen die Stimmen der Linken und von Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetz-
1) Anlage 5
Vizepräsident Johannes Singhammer
entwurf ist damit mit den Stimmen von CDU/CSU und
SPD gegen die Stimmen der Linken und von Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Wir kommen jetzt zu Tagesordnungspunkt 8 b. Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Aufhebung des Asylbewerberleistungsgesetzes. Der Ausschuss für Arbeit und
Soziales empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3073, den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/2736 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen
der Linken und von Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt
worden. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung
die weitere Beratung.
Wir kommen jetzt zu Tagesordnungspunkt 8 c. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Sozialrechtliche Diskriminierung beenden Asylbewerberleistungsgesetz aufheben“. Der Ausschuss
empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3073, den Antrag der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 18/2871 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD
gegen die Stimmen der Linken und von Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.
Wir kommen jetzt zu Tagesordnungspunkt 9:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulle
Schauws, Tabea Rößner, Katja Dörner, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Grundlagen für Gleichstellung im Kulturbetrieb schaffen
Drucksache 18/2881
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({0})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das somit beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin Ulle Schauws von Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Gäste, die ich heute besonders begrüßen möchte! Kultur lebt von Vielfalt, und
auf unsere kulturelle Vielfalt sind wir in Deutschland besonders stolz - zu Recht.
Aber Vielfalt heißt nicht nur Auswahlmöglichkeiten
aus einem möglichst breiten kulturellen Angebot. Nein,
das heißt auch, die Unterschiedlichkeit in der Kultur zu
fördern. Kunst als gesellschaftlicher Spiegel gewinnt
durch die Vielfalt der verschiedenen Blickwinkel. Kunst
gewinnt durch die unterschiedlichen Perspektiven derer,
die sie machen.
Darum müssen Frauen in allen Bereichen der Kunst
und Kultur selbstverständlicher Teil sein, genauso wie
Männer. Aber genau da liegt das Problem. Fakt ist: 2014
sind weder Bezahlung, Arbeit oder Macht bei den circa
1 Million Erwerbstätigen in der Kultur- und Kreativwirtschaft in Deutschland gerecht verteilt. Frauen haben hier
- und ich rede von der bestausgebildetsten Frauengeneration, die es je gab - nach wie vor das Nachsehen. Für
den Kulturbetrieb gilt das Gleiche wie für die Wirtschaft: Je höher Gehalt, Ansehen oder Funktion einer
Stelle, desto geringer ist der Frauenanteil. Die Schieflage
besteht - ich betone es nochmals - trotz einer steigenden
Anzahl von Absolventinnen in den künstlerischen Studiengängen. Im Kulturbetrieb herrscht ein großes Ungleichgewicht in der Stellenverteilung zwischen Frauen
und Männern, insbesondere in Leitungen bei Theatern,
Orchestern und auch in den Film- und Fernsehproduktionen.
Aktuell macht die Initiative Pro Quote Regie deutlich,
wie stark diese Missstände sind: Im letzten Jahr waren
unter den 115 aus dem Deutschen Filmförderfonds unterstützten Projekten nur 13 Projekte von Regisseurinnen. In Euro heißt das: 62 Millionen Euro Fördergelder
für Männer gegen 6 Millionen für Frauen. Das heißt, weniger als 10 Prozent der Mittel gingen an Regisseurinnen. Und was glauben Sie wohl, wie viele der Folgen der
beliebtesten deutschen Krimiserie Tatort 2013 unter der
Regie einer Frau gedreht wurden? 3 von 82. Unglaublich, oder?
Meine Damen und Herren, das Grundgesetz verpflichtet die Bundesregierung zur Förderung der tatsächlichen Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen
und Männern. Das gilt auch für den Kulturbetrieb. Die
Bundesregierung steht somit auch in der Verantwortung,
Frauen in öffentlich finanzierten Kultureinrichtungen
und Projekten zu unterstützen. Wir fordern Sie daher
auf: Verteilen Sie die öffentlichen Gelder geschlechtergerecht!
({0})
Die Förderkriterien für den Etat der Beauftragten für
Kultur und Medien müssen sich für Frauen und Männer
gleichermaßen gut auswirken; darum müssen Sie sie anpassen.
Man sollte meinen, 2014 sei es selbstverständlich,
dass Jurys zur Hälfte aus Frauen bestehen. Das ist leider
eine Illusion. Deshalb wollen wir eine 50/50-Besetzung
aller Gremien aus dem Hause der BKM, die Fördergelder vergeben, und wir brauchen eine paritätische Geschlechterverteilung bei der Vergabe von Förderprojekten und Preisen durch Jurys. Hier sollten nur in
begründeten Einzelfällen Ausnahmen möglich sein.
({1})
Und, meine Damen und Herren, es kann ja wohl nicht
sein, dass die Daten zur Situation von Frauen und Männern im Kulturbetrieb 15 Jahre alt sind. Da ist das Wegsehen der Bundesregierung quasi symbolisch. Diesen
Mangel müssen Sie beheben.
Ich höre die Kritikerinnen und Kritiker schon stöhnen: Jetzt auch noch eine Quote für den Kulturbetrieb!
Wenn es um Inhalt, Talent und künstlerische Freiheit
geht, setze sich Qualität schon durch, heißt es ja gerne.
Nein, sagen wir, das ist kein Argument. Künstlerische
Produktionen von Frauen leiden doch nicht an Qualitätsmangel. Künstlerinnen leiden unter den Strukturen in einem System, das ihnen Chancen verwehrt. Eine Quote
bringt mehr künstlerische Freiheit, sie schützt die Freiheit der Kultur.
({2})
Wir wissen: Freiwillige Vereinbarungen und unverbindliche Regelungen haben für Frauen in der Wirtschaft
bislang nichts verbessert. Darum fand ich es schon ganz
schön hanebüchen, wie Sie von der CSU immer noch
verzweifelt versuchen, die Frauenquote in der Wirtschaft
noch mal zu verzögern.
Dass Erfolge hingegen durch verbindliche Vorgaben
erzielt werden können, dafür gibt es gute Beispiele.
Schweden hat 2012 eine Quote für die Filmförderung
eingeführt. 40 Prozent des Filmförderbudgets werden
seitdem in den Positionen Regie, Drehbuch und Produktion an Frauen vergeben. So sieht für uns eine erfolgreiche Film- und eine geschlechtergerechte Kulturförderung aus.
({3})
Meine Damen und Herren, es geht um die Chancengleichheit für Frauen. Es geht nicht darum, ob Frauen
und Männer besser oder schlechter arbeiten. Es geht um
gleiche Arbeitsmöglichkeiten und gleiche Aufstiegschancen. Es geht um eine gerechte Verteilung von Geld
und Perspektiven. Wenn wir als Bundespolitikerinnen
und Bundespolitiker zulassen, dass der Kulturbetrieb
einseitig gefördert wird, dass er selbstverständlich von
Männern dominiert wird, bringen wir die Kultur um die
Chancen der Vielfalt. Es kann doch nicht sein, dass möglichst viele Frauen Kultur konsumieren, aber möglichst
wenige Frauen selbst gestalten und entscheiden können.
Wir wollen die ungerechte berufliche Benachteiligung von Frauen beenden. Wir wollen, dass Frauen in
Kulturbetrieben selbstverständlich sind, dass unser Meinungsbild durch weibliche Vielfalt bereichert wird, dass
sich die Pluralität unserer Gesellschaft hier abbildet. Wir
wollen das kreative Potenzial von Frauen nicht verpassen.
Vielen Dank.
({4})
Für die CDU/CSU spricht jetzt die Kollegin
Dr. Herlind Gundelach.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Große Koalition hat in ihrem Koalitionsvertrag ausdrücklich festgehalten, dass die Gleichstellung von Frauen und Männern für uns eine hohe Priorität hat. Wir haben schon
wichtige Punkte beschlossen und bringen derzeit weitere
wichtige Gesetze auf den Weg. Allein in dieser Woche
werden wir das Elterngeld Plus in zweiter und dritter Lesung beraten. Die flexibleren Lösungen beim Elterngeld
und bei der Elternzeit bedeuten für viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eine ganz erhebliche Erleichterung.
Jede Frau und jeder Mann sollten grundsätzlich jeden
Beruf ergreifen können. Das müssen wir ihnen ermöglichen. Das ist für mich Gleichstellung. Ich weiß aber
auch, dass das einfacher klingt, als es tatsächlich ist. Für
mich bedeutet Gleichstellung außerdem, dass Frauen
und Männer für die gleiche Arbeit auch den gleichen
Lohn bekommen. Die Problematik der Entgeltgleichheit
ist übrigens besonders paradox; denn in der Praxis sind
Frauen häufig besser ausgebildet, haben oft die besseren
Noten und bekommen trotzdem weniger Gehalt für die
gleiche Arbeit. Das ist auf Dauer nicht zu akzeptieren.
Für mich bedeutet Gleichstellung aber auch, dass
Frauen ihre Entscheidungsfreiheit nicht selber begrenzen. Ich war immer eine berufstätige Mutter. Ich weiß,
dass es für Frauen reale Barrieren in der Berufswelt gibt.
Aber es ist auch entscheidend, ob wir diese als Frauen
hinnehmen oder aktiv dagegen angehen. Ich beobachte
nämlich auch, dass junge Frauen oftmals Berufe danach
auswählen, ob sie geeignet sind, Familie und Beruf miteinander zu verbinden. Das ist selbstverständlich absolut
legitim; aber ich möchte Frauen ausdrücklich dazu ermutigen, ihre Wünsche laut zu äußern und sich selber zu
erlauben, reale Entscheidungsfreiheit zu leben.
Die Grenzen, die Frauen im Berufsleben erleben, sind
über viele Jahrzehnte durch Geschlechter- und Rollenbilder entstanden und gewachsen. Wenn Frauen sich selber begrenzen, dann zementieren sie diese Bilder, und
wir werden weiterhin zwischen Frauen- und Männerberufen unterscheiden.
Ich habe aus meiner Meinung nie einen Hehl gemacht: Ich bin eigentlich keine Befürworterin der Quote.
Aber wie die Erfahrung zeigt, ist sie zum jetzigen Zeitpunkt leider immer noch notwendig. Es wäre aber falsch,
zu glauben, dass wir dadurch die Geschlechter- und Rollenbilder ändern können; denn das können nur wir
selbst. Das fängt früh an, nämlich schon in der Art, wie
wir unsere Kinder erziehen. Da finde ich übrigens selbst
bei manchen Feministinnen ganz traditionelle Erziehungsmuster. Also, es gibt genug zu tun.
Es gibt aber Branchen - ich glaube, darin sind wir uns
einig -, in denen die Verbesserung der Arbeitsbedingun5884
gen und auch der Karrierechancen für Frauen nicht so
einfach umzusetzen ist, wie wir das gerne hätten. Eine
dieser Branchen ist zweifellos der Kulturbereich. Grundsätzlich begrüße ich daher den Antrag der Grünen, der
die Gleichstellung von Frauen im Kulturbetrieb thematisiert. Ich bin aber doch etwas verwundert darüber, dass
der Antrag die besonderen Aspekte dieser Branche aus
meiner Sicht überwiegend verkennt, dass dieser Antrag
Themen adressiert, bei denen der Bund schlichtweg der
falsche Ansprechpartner ist, und dass dieser Antrag die
künstlerische Freiheit zum Teil völlig außer Acht lässt.
So können und so sollten wir die Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Frauen im Kulturbereich nicht erreichen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Sie
sprechen in Ihrem Antrag explizit durch Bundesmittel
geförderte Filmprojekte an. Ja, es ist schade, dass die
Zahl der Filme von Regisseurinnen niedriger ist als die
von Regisseuren. Ich würde aber keine Kausalität zwischen Geschlecht und Förderung unterstellen. Das halte
ich in diesem Fall schlichtweg für falsch.
Einen ähnlichen Zusammenhang stellen Sie auch bei
Theaterinszenierungen fest. Ja, die Stücke beim Berliner
Theatertreffen haben zu großen Teilen männliche Regisseure. Auch wenn ich die Spielpläne der deutschen Theaterlandschaft insgesamt durchforste, stelle ich fest: Die
meisten Stücke werden von Männern inszeniert. Aber
ich stelle auch fest, dass es immer mehr Autorinnen und
mehr weibliche Bühnen- und Kostümbildner und auch
Co-Regisseurinnen gibt, vor allem an vielen kleineren,
aber auch durchaus bedeutenden Theatern. Dass vor allem auch Intendantinnen wie Karin Beier und Shermin
Langhoff besondere Aufmerksamkeit bekommen, ist
zweifellos richtig und geschieht meiner Meinung nach
völlig zu Recht. Denn diese Frauen leisten großartige
Arbeit.
Ich möchte aber in diesem Zusammenhang noch eine
Bemerkung machen. Wenn ich mir in den letzten Jahren
beim Berliner Theatertreffen manche Stücke angeschaut
habe, konnte ich zum Teil Geschlechterbilder erkennen,
die mir sonst eher durch meine Großmutter vorgelebt
worden waren. Aber diese Inszenierungen wurden gefeiert, und zwar von beiden Geschlechtern. Das ist auch in
Ordnung; denn über Geschmack lässt sich bekanntlich
nicht streiten. Vielleicht müssen wir eher die Rollenbilder in der Gesellschaft hinterfragen. Warum finden auch
Frauen solche klischeehaften Darstellungen gut? Aber
an dieser Stelle möchte ich ausdrücklich betonen: Für Inszenierungen und Produktionen muss die künstlerische
Freiheit immer oberstes Gebot bleiben.
Berufe im Kunst- oder Kulturbereich haben meistens
besondere Arbeitsbedingungen, die sich nicht wegdiskutieren lassen. Manche Theater haben zum Beispiel Hausregisseure. Diese inszenieren dann vielleicht drei Stücke
in einer Spielzeit und sind somit schätzungsweise sechs
Monate eines Jahres an einen Ort gebunden. Die allermeisten Regisseure inszenieren aber im gesamten
deutschsprachigen Raum und sind so meist nicht länger
als zwei Monate in einer Stadt.
Ich glaube nicht, dass bei der Verpflichtung eines Regisseurs das Geschlecht grundsätzlich eine Rolle spielt.
Aber die Vereinbarkeit von Familie und Beruf spielt bei
der Berufswahl in diesem Fall ganz sicher eine Rolle.
Denn Regisseurinnen und Regisseuren hilft auch eine
Kita mit den besten Öffnungszeiten nichts, wenn sie alle
zwei Monate umziehen müssen. Dann ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf schwer zu erreichen. Ähnliche Probleme haben übrigens beispielsweise auch freie
Bühnen- und Kostümbildner.
Die in dieser Woche zu beschließenden Änderungen
beim Elterngeld Plus können für diese Frauen Erleichterung schaffen. Ich bin daher froh, dass wir damit mehr
Flexibilität für alle schaffen. Denn so können nicht nur
Frauen, sondern auch Paare im Kulturbereich ihre Elternzeit an die besonderen Gegebenheiten ihrer Berufe
anpassen.
Meine Damen und Herren, Quoten im Kulturbereich
können beim besten Willen kein Weg sein. Wenn Menschen mehr Bilder von männlichen Malern kaufen, obwohl es genauso viele weibliche wie männliche Maler
gibt, können wir ihnen letztendlich nichts anderes vorschreiben. Wir können den Geschmack nicht beeinflussen. Deswegen finde ich Ihre Vorschläge für die Vergabe
von Preisen oder die Zusammenstellung von Ausstellungen nicht zielführend, vor allem, da selbstverständlich
im Bereich der institutionellen Förderung durch Bund
und Länder gleichermaßen - darauf haben auch Sie abgehoben - das Gleichstellungsgesetz und die Gremienbesetzungsgesetze durchaus Anwendung finden. Hier
setzen wir uns für weitere Verbesserungen ein. Eine Novellierung dieser Gesetze ist in Arbeit.
Außerdem sind die dauerhaft durch den Bund geförderten Einrichtungen gehalten, die Gleichstellungsanforderungen zu beachten. Auch gibt es konkrete Projektförderung
mit frauenspezifischem Hintergrund. Ich bin durchaus
dafür, dass solche Dinge ausgeweitet werden.
Ich bin auch Ihrer Auffassung, dass es mit Blick auf
weitere Maßnahmen, die zu ergreifen sind, vielleicht
ganz sinnvoll wäre, zu einer Aktualisierung der Daten zu
kommen. Sie sind in der Tat etwas zu alt, um von der
heutigen Warte aus ein Urteil darüber zu erlauben, was
tatsächlich nottut.
Aber für mich und, wie ich glaube, auch für die CDU/
CSU insgesamt ist es ganz wichtig, dass im Bereich der
Kunst immer künstlerische und kulturelle Kriterien maßgeblich sein müssen.
Vielen herzlichen Dank.
({0})
Für die Linke spricht jetzt die Kollegin Sigrid
Hupach.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Vielen Dank an die Kolleginnen und KolleSigrid Hupach
gen von Bündnis 90/Die Grünen, dass wir heute über das
wichtige Thema der Gleichstellung von Frauen im Kulturbetrieb debattieren können. Ihrem Antrag werden wir
zustimmen. Das haben wir schon in der letzten Legislatur getan, als dieser Antrag das erste Mal eingebracht
wurde. Jetzt ist er bereichert um den aktuellen Aufruf
der Initiative Pro Quote Regie, einer Initiative von rund
200 Regisseurinnen, die sich für Gleichbehandlung einsetzen. Auch ich habe diesen Aufruf mit meiner Unterschrift unterstützt.
Gleichstellung im Kulturbetrieb, das sollte im Jahr
2014 eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. Aber
der Kulturbereich ist von Gleichberechtigung von Mann
und Frau genauso weit entfernt wie unsere Gesellschaft
insgesamt. Es gibt eklatant zu wenige Frauen in Leitungs- und Führungspositionen. Von Equal Pay kann keine
Rede sein. Frauen verdienen, wie bereits gesagt, im Kulturbereich im Durchschnitt wesentlich weniger als Männer. Demzufolge sind Frauen in weit höherem Maße von
Altersarmut betroffen. Altersarmut in Deutschland ist
vorwiegend weiblich.
Im Kulturbereich gibt es traditionell einen hohen
Frauenanteil sowohl in der Ausbildung in Medien- und
Kulturberufen als auch bei den Beschäftigten. Zunehmend ist dies im Journalismus so. Andere Bereiche wie
Bibliotheken oder Museen sind heutzutage nahezu Frauendomänen. „Viele Frauen“ ist aber nicht gleichzusetzen
mit „viele Frauen in wichtigen Entscheidungspositionen“. In ihrer Halbzeitbilanz vom Juni 2014 stellt die
Initiative Pro Quote fest, dass der sogenannte Machtanteil von Journalistinnen bei fast allen großen Zeitungen
unter 30 Prozent liegt.
Was ist also zu tun? Der Antrag der Grünen zeigt einige Möglichkeiten auf. Wir brauchen belastbares Zahlenmaterial und Förderkriterien im Etat des Kapitel 5 des
Einzelplans 04, die eine geschlechterparitätische Vergabe von Führungspositionen und Besetzungen von Orchestern, Ausstellungen und Jurys garantieren. Uns Linken geht das nicht weit genug. Die Linke ist für Pro
Quote. Damit ist aber nicht das auf wackeligen Beinen
stehende schwache Quotengesetz gemeint, das die Bundesregierung je nach Wirtschaftslage ab 2015 plant. Wir
als Linke fordern eine Mindestquotierung aller politischen Mandate und öffentlichen Ämter von 50 Prozent
({0})
sowie ein Gleichstellungsgesetz für die private Wirtschaft. Das bezieht auch den Kulturbereich ein, öffentlich gefördert oder nicht.
Es gibt also für die Bundesregierung viel zu tun. Ich
will hier nur einige Beispiele nennen, in denen ein zeitnahes Engagement der Koalition deutliche Verbesserungen für Frauen nicht nur im Kulturbereich bewirken
würde:
Erstes Beispiel, faire und gleiche Entlohnung. Mit der
Einführung von Equal Pay in öffentlich geförderten Kultureinrichtungen und Projekten kann die Bundesregierung
mit gutem Beispiel vorangehen und den Rechtsanspruch
auf gleiche Entlohnung bei gleicher oder gleichwertiger
Arbeit für Frauen durchsetzen. Dazu gehört ein durchsetzungsstarkes Urhebervertragsrecht. Wir Linke haben
hierzu schon in der letzten Legislatur einen Gesetzentwurf eingebracht. Dazu gehört auch die Frauenquote.
Zweites Beispiel, soziale Absicherung. Der Koalitionsvertrag kündigt für Ende 2014 eine Anschlussregelung
zum Arbeitslosengeld-I-Bezug für kurzzeitig Beschäftigte
an, eine Regelung, die auch für viele Kulturschaffende
von großer Bedeutung ist.
({1})
Vorgelegt hat die Koalition aber nichts. Stattdessen wird
heute zu später Stunde in einem sogenannten Omnibusgesetz die Geltungsdauer der bestehenden ungenügenden Regelung um ein Jahr verlängert. Schade! Auch das
wäre eine Möglichkeit gewesen, die soziale Absicherung
im Kreativbereich zu verbessern.
({2})
Wir Linke haben mit unserem Antrag „Kurzzeitig Beschäftigten vollständigen Zugang zur Arbeitslosenversicherung ermöglichen“ das vorgelegt, was die Koalition
verschlafen hat.
Weitere Beispiele, die zu nennen wären, sind die Ausstellungsvergütung, die Problematik der Mehrwertsteuer
im Kunsthandel und - last, but not least - der GabrieleMünter-Preis. Dieser europaweit einzigartige Preis für
Künstlerinnen über 40 Jahre kann seit 2010 nicht mehr
vergeben werden, weil sich das Bundesfamilienministerium aus der Finanzierung zurückgezogen hatte. Nach
jahrelangem Ringen hat das Frauenmuseum in Bonn
jetzt vom Ministerium einen Bewilligungsbescheid erhalten, um eine Vergabe des Preises für 2017 zu organisieren, aber mit der Hälfte des Geldes. Sieben Jahre ohne
Preisvergabe und dann noch ein Sparpreis, das ist eine
Blamage. Kein Mann hätte sich das wohl ohne Protest
gefallen lassen.
Danke.
({3})
Nächste Rednerin ist für die Sozialdemokraten die
Kollegin Hiltrud Lotze.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr verehrte Gäste auf den Besuchertribünen! 65 Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes kann
von einer tatsächlichen Gleichstellung in vielen Bereichen unserer Gesellschaft nicht die Rede sein. Das ist ein
Fakt. Wenn es so weiterginge wie bisher, dann würden
wir wahrscheinlich auch 65 Jahre später uns alle eingestehen müssen, dass es mit gutmütigen Appellen und mit
Freiwilligkeit in der Privatwirtschaft nicht wirklich weiter vorangeht.
Ich bin deswegen dankbar, dass wir mit Manuela
Schwesig eine kompetente und sehr hartnäckige Ministerin haben, die trotz heftigen Gegenwinds - jetzt zitiere
ich den Artikel 3 Absatz 2 Grundgesetz - „auf die Beseitigung bestehender Nachteile“ hinwirkt. Deswegen ist
die Frauenquote ein immens wichtiger Beitrag zur
Gleichstellung von Frau und Mann.
({0})
Die Indikatoren der Ungleichstellung von Frau und
Mann, die wir in der Privatwirtschaft beobachten können, gelten größtenteils auch für den Kunst-, Kultur- und
Medienbereich und sind uns mittlerweile mehr als gut
bekannt. Frauen verdienen für gleiche Arbeit weniger,
sie sind überdurchschnittlich von prekärer Beschäftigung betroffen, und wir treffen sie viel seltener auf den
höheren Hierarchieebenen an, und das trotz nachweislich vorhandener sehr guter Qualifikationen. Sie sind
auch noch viel stärker davon betroffen, dass sich nach
wie vor Familie und Beruf so schlecht miteinander vereinbaren lassen.
Es gibt aber eine Besonderheit im Bereich der Kultur-,
Kreativ- und Medienwirtschaft, nämlich die, dass gerade
hier die Möglichkeit für Frauen besonders groß ist, Karriere zu machen, und zwar jenseits von tradierten
Berufsbildern, also typisch weiblichen und typisch
männlichen Berufen. Die Digitalisierung, über die wir
hier schon häufig intensiv gesprochen haben, verstärkt
diesen Effekt noch. Unter den Selbstständigen im Kultur-, Medien- und Kreativbereich sind überdurchschnittlich viele Frauen. Es zeigt sich aber auch, dass Frauen in
diesem Bereich besonders stark von Arbeitslosigkeit betroffen sind, jedenfalls stärker als Männer.
Wir können also sagen, dass der Kreativ-, Kultur- und
Medienbereich einerseits ein wichtiger und aus der Genderperspektive eigentlich traumhafter Arbeitsmarkt für
Frauen ist, der im Übrigen ein großes Wachstums- und
Beschäftigungspotenzial aufweist. Deswegen arbeiten
wir intensiv am Kreativpakt. Er ist also eigentlich ein
traumhafter Arbeitsmarkt, der aber andererseits für
Frauen ein großes soziales Risiko birgt.
Wir haben in Regierungsverantwortung bereits einige
Weichen gestellt, um die Situation zu verbessern. Ich
nenne als Beispiel nur den Mindestlohn, der positive
Auswirkungen für die Beschäftigten im Kreativ-, Kulturund Medienbereich hat. Noch wichtiger zu erwähnen ist,
dass wir umgehend nach der Regierungsbildung beschlossen haben, die Beiträge zur Künstlersozialkasse zu
stabilisieren. Gerade für selbstständige Frauen, die in der
KSK versichert sind und Mutter werden, ist die KSK
eine ganz wichtige Stütze. Das sind zugegebenermaßen
nur einige und verhältnismäßig kleine Steine, die wir aus
dem Weg geräumt haben, aber sie sind sehr wichtig.
Allerdings sind noch einige dicke Brocken zu bewegen. Es ist deswegen richtig und wichtig, dass der
Antrag der Grünen dies heute hier thematisiert. Der Antrag ist nahezu wortgleich mit einem Antrag der Grünen
aus der letzten Legislaturperiode. Damals hatte auch die
SPD einen Antrag mit dem Titel „Für die tatsächliche
Gleichstellung von Frauen und Männern auch im Kunst-,
Kultur- und Medienbereich“ vorgelegt.
Ich denke - das ist hier schon angeklungen -, wir sind
uns auch heute darüber einig, dass Handlungsbedarf besteht. Auch wenn ganz klar ist, dass die Kompetenz des
Bundes aufgrund der Kulturhoheit der Länder begrenzt
ist, sollte uns das hier nicht davon abhalten, im Rahmen
der gegebenen Möglichkeiten die Gleichstellung zu fördern. Der Antrag der Grünen und auch unser Antrag aus
der letzten Legislaturperiode haben da die Richtung
vorgegeben und die möglichen Handlungsfelder beschrieben. Ganz wichtig dabei ist, dass wir über die
aktuelle Situation genau Bescheid wissen, sprich: Wir
brauchen - ich zitiere aus dem Antrag - „… geschlechtsspezifisches Wissen über die sozialen Rahmenbedingungen der Kunstschaffenden, die Besetzung von Führungspositionen und Gremien sowie die Vergabe von
Stipendien und anderen Fördermaßnahmen …“. Dieser
Forderung aus dem Antrag der Grünen kann ich vorbehaltlos zustimmen.
Gleichzeitig sehe ich, dass ein Bereich in diesem Antrag zu kurz kommt: der Medienbereich. Leider kommt
der Begriff „Medien“ schon im Titel des Antrags nicht
vor. Das ist für uns Grund genug, dieses Thema jetzt im
Kultur-, Kreativ- und Medienbereich aufzugreifen, und
zwar umfassend. Wir sollten uns für dieses wichtige
Thema aber auch Zeit nehmen, um es gründlich zu
behandeln. Ich schlage deswegen vor, dass wir im
Ausschuss für Kultur und Medien ein Fachgespräch zu
diesem Thema führen, um uns alle gemeinsam auf den
neuesten Stand zu bringen. Als zuständige Berichterstatterin setze ich mich dafür ein, und ich bin mir sicher,
dass ich da die Unterstützung der Kolleginnen und Kollegen der Union habe. - Ich sehe da schon Nicken.
Eine Sache noch zum Schluss, die mir besonders
wichtig ist. Wenn wir über Gleichstellung im Kultur-,
Kreativ- und Medienbereich reden, dann gehört ein
wichtiger Aspekt dazu: Das ist die Inklusion. Kultur für
alle bedeutet nicht nur, dass wir allen den Zugang zur
Kultur ermöglichen, sondern auch, dass jeder mitmachen
kann. Wenn wir also unter dem Stichwort „Gleichstellung“ die Fördergrundsätze des Bundes im Kultur- und
Medienbereich unter die Lupe nehmen, dann dürfen wir
das nicht nur unter dem Genderaspekt machen, sondern
wir müssen auch die UN-Behindertenrechtskonvention
ernst nehmen und dabei die Inklusion mitdenken.
({1})
Ich freue mich darüber, dass wir das im Ausschuss
gemeinsam mit allen Fraktionen anpacken wollen.
Vielen Dank.
({2})
Die Kollegin Dr. Astrid Freudenstein spricht als
Nächstes für die CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Kolleginnen und
Kollegen von den Grünen, ich habe mir Ihren Antrag
sehr genau durchgelesen. Mir war er neu; ich bin ja zum
ersten Mal hier. Ich habe wirklich überlegt, ob daraus
noch eine runde Sache werden kann. Ich muss sagen: Je
länger ich darüber nachdenke, desto mehr komme ich zu
dem Ergebnis, dass ich Ihren Antrag eigentlich für ziemlichen Unsinn halte.
Ich will Ihnen auch sagen, warum. Da gibt es zum einen die kulturpolitischen Gründe, etwa die Kulturhoheit
der Länder, die eben schon erwähnt wurde. Die Zuständigkeit für die Kulturförderung liegt zu einem Großteil
bei den Ländern, vor allem aber bei den Kommunen. Sie
wären die Hauptansprechpartner für Ihre Forderungen.
Dort, in den Ländern und in den Kommunen, gelten
natürlich schon jetzt, wie auch bei der Kulturförderung
aus dem Bundesetat, die ganz allgemeinen gleichstellungspolitischen Grundsätze.
Es mag in den Kommunen und in den Bundesländern
mit der Gleichstellung unterschiedlich gut funktionieren.
Für Bayern, mein Land, kann ich sagen: Dort werden
Künstlerinnen durchaus ganz gezielt mit Programmen
gefördert. Schaut man sich die Gewinnerinnen und Gewinner des Bayerischen Kunstförderpreises der vergangenen Jahre an, stellt man fest: Bei der „Darstellenden
Kunst“ haben fast nur Schauspielerinnen und Sängerinnen den Preis gewonnen. In der Kategorie „Bildende
Kunst“ ist es ebenso ausgeglichen wie in den Sparten
„Musik und Tanz“ oder „Literatur“.
Im Übrigen können Sie in Baden-Württemberg schon
einmal damit anfangen, Ihre Forderungen umzusetzen;
da regieren Sie ja. Ich habe aber aus dieser Richtung bisher eigentlich nichts gehört.
({0})
Außerdem ist da der Punkt „Freiheit der Kunst“. Sie
berufen sich in Ihrem Antrag auf Artikel 3 des Grundgesetzes, wonach Männer und Frauen gleichberechtigt
sind. Ich bin sicher, dass niemand in diesem Hause dies
bestreiten wird. Dieses Grundrecht steht natürlich in
keinerlei Widerspruch zu Artikel 5 des Grundgesetzes,
wonach die Kunst frei ist.
Frauen dürfen in unserem Land ihre Kunst natürlich
so frei betreiben wie Männer. Sie dürfen sich aber auch
ganz frei entscheiden, ob sie sich um eine Stelle als Intendantin bewerben oder ob sie das nicht tun. Sie dürfen
Karriere machen wollen, sie dürfen das aber auch nicht
wollen, und sie dürfen Drehbücher einreichen, und sie
dürfen das auch nicht wollen. Die Juroren eines Auswahlgremiums dürfen - ich meine sogar, sie müssen allein nach künstlerischen Kriterien beurteilen, und sie
dürfen daher Frauen oder eben auch Männer prämieren.
Ich will hier auch nicht unterstellen, dass Frauen bei
Preisvergaben regelrecht aussortiert würden.
Fakt ist nämlich: Frauen bewerben sich in einigen Bereichen auch heute noch viel seltener um Führungspositionen als Männer,
({1})
etwa um Intendanten- oder Dirigentenposten. Sie bewerben sich auch seltener um Preise.
Damit sind wir schon mitten in einem weiteren Punkt:
Ihren Zahlenspielereien. Sie stellen in Ihrem Antrag
Zahlen relativ willkürlich gegeneinander und folgern daraus, dass es - ich zitiere - „strukturelle Schranken beim
Zugang ins Berufsleben für Frauen im Kulturbetrieb“
gebe. Was Sie dabei unterschlagen, ist, dass es zwischen
den einzelnen kulturellen Sparten ganz erhebliche Unterschiede bei der Anzahl von Frauen in Führungspositionen gibt. Sie zitieren leider nur die Negativbeispiele.
Richtig ist aber, dass in den Kulturredaktionen der
Rundfunkanstalten, in den Feuilletons der Zeitungen, in
den Bibliotheken und Museen, in den Literaturhäusern
ausgesprochen viele Frauen vertreten sind. Auch die
Tatort-Redaktion des Bayerischen Fernsehens ist voller
Frauen.
({2})
Ebenso ist das bei Ihrem Vergleich zwischen den freiberuflichen Künstlerinnen und Künstlern. Frauen verdienen danach im Schnitt weniger als ihre männlichen
Kollegen. Das ist ein Fakt, den man überhaupt nicht bestreiten kann. In den allgemeinen Diskussionen um den
Gender Pay Gap haben Sie korrekterweise schon einige
Faktoren herausgerechnet. Der dann entstehende Unterschied ist die eigentliche Ungerechtigkeit. Aber auch
hier muss man natürlich ganz genau hinschauen. Gerade
bei den Selbstständigen ist von einer sehr großen Chancengleichheit auszugehen, weil eventuell diskriminierende Faktoren, die es bei Angestelltenverhältnissen mitunter noch geben kann, fehlen. Es ist doch sehr viel
naheliegender, dass Frauen gerade diese Freiberuflichkeit im Kulturbereich nutzen, um Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen.
Das führt mich zum nächsten Punkt. Es sind vermutlich gerade die Frauen, die diese Flexibilität im Kulturbereich nutzen und schätzen, um ihren Beruf ausüben zu
können, auch wenn sie Kinder bekommen. Dann arbeiten sie natürlich nicht so viel wie jemand, der keine
Kinder und keine Familie hat, und verdienen konsequenterweise auch weniger.
({3})
Aber sie sind vielleicht gar nicht unzufrieden mit ihrem
Leben. Das muss kein Missstand sein.
({4})
Richtig ist auch, dass es in speziellen Branchen des
Kulturbetriebs nach wie vor extrem schwierig ist, Beruf
und Familie unter einen Hut zu bringen. Ich nenne hier
einmal das Theater. Nirgendwo sonst gibt es so viele
Wochenend- und Abendtermine. Nirgendwo sonst wird
so viel zeitliche und örtliche Flexibilität verlangt.
({5})
Ein Intendant bringt bekanntlich sein eigenes Ensemble
mit. Die Theaterleute sind in der ganzen Republik unterwegs, wie ein Wanderzirkus, und das muss man organisieren können, auch als Frau.
({6})
Es ist weder schlecht noch rückständig, wenn sich
auch eine Sängerin, eine Regisseurin, eine Tänzerin um
ihr Kind kümmern will.
({7})
Dieser Wunsch ist bei Frauen öfter vorhanden als bei
Männern. In dieser Welt leben wir alle. Ich unterstelle
trotzdem nicht, dass die Frauen allesamt unzufrieden
sind oder an Schranken des Kulturbetriebs scheitern.
({8})
Ich sage einen Satz, auch wenn dieser fast an ein Tabu
rührt: Vielleicht sind manche Frauen, wenn sie denn
Kinder bekommen, in dem Moment gar nicht so stark an
einer beruflichen Karriere interessiert. Ich könnte das
auch nachvollziehen.
({9})
Meine Damen und Herren, Sie sprechen in Ihrem Antrag wörtlich von einer Diskriminierung von Frauen im
Kulturbetrieb; Sie unterstellen also ein halbwegs gezieltes Vorgehen. Ich unterstelle das Gegenteil. Ich meine,
dass gerade in der Kulturbranche die Bereitschaft,
Frauen zu fördern und auf herausgehobene Positionen zu
berufen, besonders ausgeprägt ist, eben weil Frauen
- das stimmt ja - ein ganz besonders großes kreatives
Potenzial mitbringen. Es wäre überhaupt nicht nachvollziehbar, dieses Potenzial nicht zu nutzen. Gerade deshalb übernehmen sehr viele Frauen die Leitung von Museen, Galerien, Literaturhäusern und Bibliotheken.
Ich behaupte auch, dass nur in wenigen Branchen die
Chancengerechtigkeit so hoch ist wie in der Kulturbranche, zum Beispiel weil bei Probespielen in der Regel
hinter einem Vorhang gespielt wird, sozusagen als
Schleier des Nichtwissens für die Juroren.
Auch ich war schon in einer Findungskommission für
einen neuen Intendanten. Es ging um eine städtische
Bühne. In der Findungskommission saßen übrigens drei
Frauen und ein Mann, nicht alle von der CSU; das sage
ich nur, falls Sie meinen, das Ergebnis würde mit der
Parteizugehörigkeit zusammenhängen. Am Schluss bekam ein Mann den Posten. Denn unter den vielen Dutzend Bewerbern war nur eine Handvoll Frauen, und die
passten nicht in das Profil.
Ich meine, wir müssen uns die Eigenheiten des Kulturbetriebes wirklich genauer anschauen.
({10})
Meine Damen und Herren, der Verweis auf die Kulturhoheit der Länder und die Freiheit der Kunst würde
als Grund schon reichen, um Ihren Antrag abzulehnen.
Ihr schräger Blick auf die Wirklichkeit des Kulturbetriebes und die Lebenswirklichkeit der Frauen tut ein Übriges.
Für Ihren nächsten Antrag habe ich einen Tipp: Schlagen Sie doch vor, den Auktionshäusern zu verbieten, einen Gerhard Richter für mehr Geld zu versteigern als die
Bilder seiner weiblichen Kolleginnen. Dann kommen
Sie vermutlich ganz groß raus.
Herzlichen Dank.
({11})
Abschließender Redner in dieser Aussprache ist der
Kollege Burkhard Blienert von den Sozialdemokraten.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich
stelle vorab fest: Der Antrag der Fraktion der Grünen ist
in der Sache richtig.
({0})
Dass er allerdings nicht weit genug greift, darauf hat
meine Kollegin Hiltrud Lotze schon hingewiesen. Denn
darin sind einige Fragen nicht beantwortet. Insofern
müssen wir uns mit dem Antrag und den noch offenen
Fragen tatsächlich noch intensiver beschäftigen.
({1})
Und da Wiederholung tatsächlich das beste pädagogische Element ist, möchte ich an dieser Stelle auch auf
die Situation von Frauen im Filmbereich eingehen. Dabei möchte ich klarmachen, dass wir es nicht nur mit einem gleichstellungspolitischen Thema zu tun haben;
denn das Ganze hat natürlich auch eine kulturelle Dimension.
Auch ich beziehe mich auf die aktuelle Initiative von
Pro Quote Regie, die auch im Antrag der Grünen erwähnt wird. Sie hat uns in den letzten Wochen schon intensiv beschäftigt und wird uns auch noch weiter beschäftigen.
Da haben sich - inzwischen über 200 - deutsche Regisseurinnen zusammengeschlossen und auf einen MissBurkhard Blienert
stand hingewiesen, der mich in seiner Deutlichkeit schon
überrascht hat: Nur 15 Prozent aller deutschen Kinound Fernsehfilme werden von Frauen gemacht, aber
über 42 Prozent der Hochschulabsolventen im Fach Regie sind weiblich. Wie passt das zusammen?
({2})
Ich will noch auf andere Fakten aufmerksam machen,
die auch eine Rolle spielen: Im vergangenen Jahr hat der
DFFF, der Deutsche Filmförderfonds, 115 Filmprojekte
gefördert, aber nur 13 Filme davon wurden von Frauen
inszeniert. 2013 flossen aus dem DFFF insgesamt
62 Millionen Euro, aber nur 6 Millionen Euro gingen an
Projekte von Regisseurinnen. Und noch ein beeindruckender Befund - die beliebteste deutsche Fernsehreihe
ist schon angesprochen worden -: Im vergangenen Jahr
sind ganze 3 von 82 Tatorten von Frauen gedreht worden.
Angesichts dieser Zahlen wundert es mich, dass sich
die kreativen Filmemacherinnen erst jetzt zu Wort gemeldet haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Ruf nach einer
Frauenquote im Kulturbereich irritiert zunächst trotzdem. Regulierung und künstlerische Freiheit passen auf
den ersten Blick irgendwie nicht zusammen; das muss
man berechtigterweise feststellen. Aber insgesamt ergeben sich doch wichtige Hinweise von alleine.
Die Frage, ob eine Quote bei Förderentscheidungen
die richtige Antwort ist ober ob nicht auch der Weg der
Selbstverpflichtung der maßgeblichen Akteure bei Film
und Fernsehen funktionieren kann, möchte ich zunächst
offen lassen. Das ist nicht die entscheidende Frage, die
wir uns jetzt stellen müssen.
Zustimmen kann ich der Forderung nach paritätisch
besetzten Fördergremien - so haben wir es in der letzten
Legislaturperiode auch formuliert -; denn hier geht es
schließlich um die Vergabe öffentlicher Mittel.
Was wir aber vor allem brauchen, ist eine umfassende
Untersuchung, die die strukturellen Ursachen der mangelnden weiblichen Präsenz in der Regie aufdeckt.
Wichtig ist auch eine breite Sensibilisierung für diesen
eklatanten Mangel an Gleichstellung im Filmbereich.
Die heutige Debatte verstehe ich - mit allen Facetten als einen wichtigen Beitrag dazu. Dafür hat die Initiative
Pro Quote Regie den Anstoß gegeben, und dafür können
wir alle gemeinsam nur dankbar sein.
Die Kulturpolitik ist und bleibt aufgefordert, die
Gleichstellung im Kultur- und Medienbereich zu befördern. Die anstehende Novelle des Filmfördergesetzes
bietet übrigens eine passende Gelegenheit dazu.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, solange 85 Prozent
der Filme von Männern gemacht sind, ist unsere Filmkultur in ihrer Vielfalt reduziert. Die Filmkultur kann davon nur profitieren, wenn künftig mehr Frauen auf dem
Regiestuhl sitzen und ihre Filme drehen können.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/2881 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Wir kommen jetzt zu Tagesordnungspunkt 10, den ich
hiermit aufrufe:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über
Maßnahmen im Bauplanungsrecht zur Erleichterung der Unterbringung von Flüchtlingen
Drucksache 18/2752
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit ({0})
Drucksache 18/3070
Hierzu liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke sowie der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Da ich keinen
Widerspruch sehe, gehe ich davon aus, dass Sie alle damit einverstanden sind.
Ich eröffne die Aussprache und erteile für die Bundesregierung das Wort der Bundesministerin Dr. Barbara
Hendricks.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Aus Kriegs- und Krisengebieten kommen zahlreiche
Flüchtlinge zu uns, insbesondere aus Syrien, Eritrea und
Afghanistan. Mehr als 130 000 Asylanträge wurden bis
Ende September 2014 gestellt. Insgesamt werden in diesem Jahr mehr als 200 000 Flüchtlinge erwartet. Es ist
eine Frage der Menschlichkeit, dass wir ihnen helfen. Es
ist unsere Pflicht, diese Menschen aufzunehmen und angemessen unterzubringen. Das ist, wie wir wissen, für
die Kommunen keine leichte Aufgabe. Dessen bin ich
mir wohl bewusst. Deswegen ist es nach meiner Überzeugung die Aufgabe der Bundesregierung, die Kommunen zu unterstützen, wo es geht. Ich kann und will dabei
mithelfen, dass die Flüchtlinge schnell ein Dach über
dem Kopf bekommen und dass wir sie so aufnehmen,
dass sie hier angemessen und in Würde leben können.
({0})
Die betroffenen Kommunen unternehmen große Anstrengungen, um möglichst rasch Unterkünfte in ausreichender Zahl zur Verfügung zu stellen. Es müssen dazu
geeignete Grundstücke zur Verfügung stehen. Es müssen
geeignete Gebäude zur Verfügung stehen. Vielfach sind
bauliche Anpassungen nötig. Oft sind leider auch Behelfsunterkünfte unvermeidbar. Die Kommunen unternehmen tatsächlich alle Anstrengungen. Vor kurzem
habe ich in Heidelberg gesehen, wie eine gerade geräumte amerikanische Kaserne umgestaltet werden
konnte - ein Glücksfall. So etwas hilft den Kommunen
natürlich sehr, und die BImA kommt den Kommunen
dabei natürlich auch sehr entgegen.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, unser Gesetzentwurf hält Instrumente bereit, die den Bau von
Flüchtlingsunterkünften auch kurzfristig ermöglichen
sollen. Zur Initiative des Bundesrates vom 19. September 2014 hat die Bundesregierung Stellung genommen
und einige Änderungen vorgeschlagen. Dazu gehört,
dass die vorgesehenen Regelungen bundesweit gelten
sollen. Die Vorschläge der Bundesregierung haben breite
Zustimmung gefunden. Auch die kommunalen Spitzenverbände haben sich durchweg positiv geäußert.
Mit dem heute zu beschließenden Gesetz wollen wir
im Baugesetzbuch neben einigen Klarstellungen auch
befristete Erleichterungen schaffen. Wir wollen ermöglichen, Flüchtlingsunterkünfte auch dann im Innenbereich
zuzulassen, wenn sie sich, wie es sonst im Baurecht
heißt, nicht in die nähere Umgebung einfügen. Das
könnte beispielsweise Büro- oder Geschäftsgebäude betreffen, die dann zu Unterkünften umgenutzt werden
können. Außerdem ermöglichen wir, dass Flüchtlinge auf
Flächen untergebracht werden können, die unmittelbar an
einen bebauten Ortsteil anschließen. Und wir wollen den
Kommunen die Möglichkeit geben, Flüchtlingsunterkünfte eingeschränkt und befristet in Gewerbegebieten
zu ermöglichen. Natürlich bedeutet das nicht, dass wir
die Unterkünfte in Industriegebiete abschieben. Das ist
nicht unsere Intention und auch nicht die des Bundesrates. Aber es gibt Gewerbegebiete, die sich dafür eignen.
Und hier dürfen wir keine unüberwindbaren Hürden zulassen.
Langfristig wird sich auswirken, dass in diesem Gesetzentwurf ausdrücklich vorgesehen ist, die Flüchtlingsunterbringung bei der Aufstellung von Bebauungsplänen
zu berücksichtigen. Dies ist bisher nicht der Fall gewesen. Und wir stellen klar, dass die Unterbringung von
Flüchtlingen zu den Belangen des Allgemeinwohls gehört. Auch dies ist neu im Baurecht.
({1})
Der Bundesrat wird bereits morgen den Gesetzentwurf abschließend beraten, sodass er noch im November, also in diesem Monat, in Kraft treten kann. Ich bin
mir absolut bewusst, dass es für Kommunen nicht einfach ist, quasi über Nacht Flüchtlinge aufzunehmen und
unterzubringen. Auch für die Länder ist es ein Kraftakt.
Die Kolleginnen und Kollegen in den Ländern und in
den Kommunen verdienen für ihren Einsatz große Anerkennung, und sie verdienen unsere konkrete Hilfe. Dazu
dient diese Gesetzesänderung.
Herzlichen Dank.
({2})
Nächste Rednerin ist für die Fraktion Die Linke die
Kollegin Heidrun Bluhm.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
beginne mit den letzten Worten meiner Kollegin Jelpke
vor circa einer Stunde. Sie sagte: Das System der sozialen Diskriminierung von Flüchtlingen müssen wir endlich beenden.
Bei der Rede der Frau Ministerin hat sich alles ganz
harmlos angehört. Ich hatte schon die Befürchtung, dass
sie bis zum Ende ihrer Rede das Wort „Gewerbegebiet“
gar nicht verwenden würde. Fairerweise hat sie das am
Ende doch getan. Insofern wird jetzt deutlich, dass wir
heute hier - das haben wir noch nie gemacht, wenn wir
über eine Novelle des Baugesetzbuches in irgendeiner
Weise verhandelt haben - keine Formalie verhandeln.
Heute geht es nicht um Erleichterungen des Baus, sondern darum, dass wir Menschen, die in größter Not zu
uns kommen, weil sie aus ihrer Heimat vertrieben worden sind, Angehörige, Familienangehörige oder Freunde
verloren haben, die ihre Gesundheit, ihre Wohnung und
ihre Zukunft verloren haben, die nichts als ihr nacktes
Leben haben, in Gewerbegebieten unterbringen wollen.
({0})
All das haben wir schon vor einer Stunde in der Diskussion über das Asylbewerberleistungsgesetz deutlich
gemacht. Jetzt sollen wir also entscheiden, dass Asylbegehrende und Flüchtlinge in Gewerbegebieten wohnen
werden.
({1})
In der öffentlichen Anhörung zu diesem Gesetzesentwurf am Montag hat einer der zwei Befürworter gesagt:
Diese Leute - gemeint waren damit natürlich die Flüchtlinge - seien gottfroh und dankbar, dass sie hier angekommen sind und ein Dach über dem Kopf haben. Für
mich fehlte nur noch der Zusatz: Das sollten sie gefälligst auch sein.
({2})
Die Krisengebiete, so hat es auch die Ministerin gesagt, von denen der Gesetzentwurf spricht, liegen durchweg in Weltregionen, die jahrhundertelang von europäischen Kolonialmächten beherrscht und ausgeplündert
worden sind. Wir, die Europäer, verdanken diesen Ländern einen großen Teil unseres materiellen, wissenschaftlichen und kulturellen Reichtums.
({3})
Wir haben ihnen oft zerstörte Kulturen, geplünderte Natur und willkürlich gezogene Grenzen hinterlassen.
Wenn wir also heute über Maßnahmen zur Erleichterung
der Unterbringung von Flüchtlingen reden, dann sprechen wir nicht über großzügige Almosen, die wir zeitHeidrun Bluhm
weilig verteilen, um eine akute Notlage in irgendeiner
Weise zu beheben,
({4})
sondern über Mitmenschlichkeit, über Solidarität, Unterstützung für Traumatisierte und aus ihrer Heimat Vertriebene.
({5})
Der Grundfehler dieser Gesetzesänderung, Herr
Bartol, liegt in der Unterstellung, wir hätten es mit einem vorübergehenden Notstand zu tun, den wir unter anderem mithilfe einer Änderung im Bauplanungsrecht bis
Ende 2019 wieder beheben können. Wie grotesk ist diese
Vorstellung?
({6})
Der Zustrom von Flüchtlingen und Asylbegehrenden
nach Europa wird nicht abreißen, sondern weiter zunehmen. Die Krisen und Kriege werden nicht plötzlich aufhören, und es besteht die reale Gefahr, dass zu den
Flüchtlingen, die heute kommen, noch Klimaflüchtlinge
hinzukommen werden, denen die zivilisierten Industrienationen die Lebensgrundlage buchstäblich abgegraben
oder weggespült haben.
({7})
Wir haben es also mit einer dauerhaften, umfassenden
europäischen, wenn nicht sogar globalen Aufgabenstellung zu tun.
Der schnelle Aktionismus der Bundesregierung vermittelt hier den Eindruck einer prompten und einvernehmlichen Lösung zwischen Bund und Ländern. Wenn
sich aber, so wie jetzt, hausgemachte, weil jahrelang
ignorierte Probleme aufgestaut haben, wenn Kommunen, die vom Bund im Stich gelassen werden, verständlicherweise nach Auswegen suchen, dann sollten Gesetzes- und Verordnungsänderungen, wenn sie überhaupt
notwendig sind, so ausgestaltet werden, dass sie ein Problem nicht nur aus der Sichtachse verdrängen, sondern
auch keine neuen erzeugen.
Mit diesem Gesetzentwurf wird eine Ausnahmesituation zu einem rechtssicheren Dauerzustand gemacht.
Formale Sicherheit im Baurecht darf aber niemals dazu
missbraucht werden, dass Menschenrechtsverletzungen
zu geregelter Normalität werden.
({8})
Oder glaubt hier wirklich jemand, dass diese Regelungen in fünf Jahren wieder einkassiert werden? - Wohl
nicht, es sei denn, die Linke regiert - dann vielleicht.
({9})
Selbst wenn es im Gesetzestext so nicht vorgesehen ist,
bestätigt meine Erfahrung aus fast zehn Jahren Bundestag: So beständig wie ein Provisorium ist sonst kein Gesetz.
({10})
Und noch schlimmer: Es signalisiert geradezu, dass wir
die Flüchtlinge nicht dauerhaft unter uns haben wollen,
dass ihre Integration nicht organisiert, sondern verhindert werden soll. Dieses Gesetz ist also kein Anreiz,
menschenwürdige Wohnverhältnisse für Flüchtlinge und
Asylsuchende zu schaffen, sondern es fördert die dauerhafte Ausgrenzung und Stigmatisierung von Menschen,
denen wir Hilfe und Respekt schuldig sind.
Was anstelle dieses Gesetzes notwendig ist, haben wir
in unserem vorliegenden Entschließungsantrag beschrieben. Ich will sagen: Die eigentlichen Lösungen sind die,
die wir lange kennen. Wir brauchen einen ausgewogenen
sozialen Wohnungsbau. Wir müssen ihn wiederbeleben;
die Bundesregierung spricht davon, aber bisher ist nichts
zu sehen. Wir brauchen eine bedarfsgerecht ausgestattete
Städtebauförderung mit neuen oder ergänzenden Programmen, die auch der dauerhaften Zuwanderung von
Menschen aus dem Ausland gerecht wird, sodass diese
Menschen in unserer Mitte leben können.
({11})
Und wir brauchen eine bedarfsbezogene Vergabe von
bundeseigenen Liegenschaften an die Kommunen anstelle des Höchstgebotskultes; morgen haben wir Gelegenheit, ausführlicher darüber zu reden.
({12})
Wenn wir all das umsetzen - verbunden mit einer
nicht nur plakativen, sondern tatsächlich gelebten Willkommenskultur -, dann machen wir wirkliche Schritte in
Richtung eines menschenwürdigen Umgangs mit Flüchtlingen und Asylsuchenden,
({13})
die nicht rechtssicher verwahrt, sondern Teil unserer Gesellschaft werden sollen. Schluss also mit der Lagerunterbringung der Vertriebenen in Deutschland!
({14})
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Kai
Wegner.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten
heute über Änderungen im Baugesetzbuch, mit denen
wir eine schnellere und leichtere Flüchtlingsunterbringung gewährleisten, aber vor allen Dingen, liebe Frau
Bluhm, den Städten und Kommunen, die unter einem
enormen Druck stehen, neue Handlungsspielräume eröffnen. Die Städte brauchen schnelle Hilfe, und das gewährleistet heute der Deutsche Bundestag.
({0})
Das Gesetz, das wir heute beraten, geht auf eine Bundesratsinitiative Hamburgs zurück. Meine Damen und
Herren, das ist keine große Überraschung; denn gerade
die großen Städte, die Ballungsgebiete sind in besonderem Maße von den hohen Flüchtlingszahlen betroffen.
Schauen wir uns die Zahlen an: Allein von Januar bis
September 2014 haben rund 136 000 Menschen in
Deutschland Asyl beantragt. Das bedeutet eine Steigerung um 60 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Insgesamt erwarten wir in diesem Jahr in Deutschland 250 000 Asylbewerber.
Meine Damen und Herren, dieser enorme Zustrom
von hilfebedürftigen Menschen stellt unser Land vor
große Herausforderungen und erfordert daher eine nationale Kraftanstrengung. Das betrifft zunächst vor allem
die Unterbringung der Flüchtlinge in den Städten und
Gemeinden. Die Bundesministerin hat es gesagt: Uns
geht es in der Tat darum, schnell für Unterbringungsmöglichkeiten zu sorgen, aber auch darum, angemessene
und würdige Unterbringungsformen für diese Menschen
zu finden.
Meine Damen und Herren, mit dem Gesetz, das wir
heute verabschieden, versetzen wir Kommunen in die
Lage, zeitnah und rechtssicher Unterkünfte für die
Flüchtlinge zu schaffen. Gerade für Kommunen mit angespanntem Wohnungsmarkt, liebe Frau Bluhm, ist das
eine ganz wichtige Erleichterung. Damit zeigt auch der
Bund, dass er seiner Verantwortung für eine würdige
Unterbringung aller Schutzsuchenden nachkommt und
die Städte und Gemeinden eben nicht im Stich lässt.
({1})
Aufgrund der hohen Fallzahlen geben wir den Städten
und Gemeinden neue Handlungsmöglichkeiten an die
Hand. So ermöglichen wir es den Kommunen, von bestimmten Festsetzungen des Bebauungsplans abweichen
zu können.
Außerdem können Flüchtlingsunterkünfte befristet
auch dann im Innenbereich zugelassen werden, wenn sie
sich nicht in die nähere Umgebung einfügen.
Darüber hinaus wird die Unterbringung von Flüchtlingen befristet - ja, Frau Bluhm - auch in Gewerbegebieten und auf Flächen gestattet werden, die unmittelbar
an einen bebauten Ortsteil anschließen. Dabei ist uns
aber klar, dass Gewerbegebiete oder der Außenbereich
immer nur die Ultima Ratio sein können.
({2})
Meine Damen und Herren, ich will das in aller Form
klarstellen: Uns geht es wahrlich nicht darum, Flüchtlinge in Gewerbegebiete oder in die Außenbereiche von
Siedlungen zu drängen. Es geht darum, Städten und Gemeinden schnell zu helfen, damit wir würdige und angemessene Unterbringungsräume schaffen.
({3})
In der Tat, Frau Bluhm: Das Gesetz löst nicht alle
Probleme und begegnet nicht allen Herausforderungen,
die wir bei dieser Thematik haben, aber es ist ein ganz
wichtiger Baustein.
Frau Bluhm, nun haben Sie leider nicht gesagt, was
Sie eigentlich wollen.
({4})
Sie haben in Ihrem Antrag von Wohnungsunterbringung
geschrieben. Ich frage mich, wie Sie das hinbekommen
wollen.
({5})
Wir diskutieren oft im Deutschen Bundestag über die angespannte Situation des Wohnungsmarktes.
({6})
Wir machen uns Gedanken, wie wir bezahlbaren Wohnraum schaffen und wie wir es hinbekommen, neue Wohnungen zu bauen. Wir haben in vielen Städten Vollauslastung bei den Mietwohnungen. In Berlin haben wir
eine Leerstandsquote von 2 Prozent. Das ist gleich null.
Wo wollen Sie denn hier noch Flüchtlinge unterbringen,
Frau Bluhm?
({7})
Sie bieten Lösungen an, die nicht kurzfristig helfen.
Aber unsere Städte und Gemeinden brauchen kurzfristige Lösungen; denn die Menschen kommen jetzt zu uns.
Sie sind jetzt da und wollen jetzt angemessen und würdig untergebracht werden, Frau Bluhm, nicht erst in zwei
oder drei Jahren.
({8})
Meine Damen und Herren, wir müssen die Städte und
Gemeinden noch weiter unterstützen. Wir haben hierfür
Programme. Dazu gibt es eine Diskussion in der Koalition; das will ich gern noch einmal sagen.
Wir sollten auch weitere Mittel aus dem Programm
„Soziale Stadt“ für die Integration von Flüchtlingen zur
Verfügung stellen. Ich denke da an Deutschkurse für
Flüchtlinge, an Nachbarschaftstreffen zwischen Flüchtlingen und angestammten Bewohnern.
({9})
Mir geht es bei allen Maßnahmen, die wir hier diskutieren, um die Akzeptanz der Bevölkerung für unser liberales Asylrecht. Auch diese Herausforderung ist in unserem Land nicht zu unterschätzen.
({10})
Meine Damen und Herren, wir sehen auch weitere
wichtige Maßnahmen neben der Veränderung des Bauplanungsrechts vor. Ich nenne als Beispiel die Residenzpflicht oder die Neuregelung der sicheren Herkunftsstaaten, die heute in Kraft getreten ist.
Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen, die tatsächlich Hilfe brauchen, auch unsere Unterstützung bekommen. Wir müssen diejenigen zielgerichtet unterstützen, die tatsächliche Asylgründe haben. Aber wenn wir
hier in Berlin erleben müssen, dass Plätze und Schulen
illegal besetzt werden, dann dient das nicht der Akzeptanz unseres Asylrechts.
({11})
Das ist inakzeptabel, und das schadet dem eigentlichen
Anliegen der Flüchtlinge.
Meine Damen und Herren, ich begrüße ausdrücklich,
dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mehr
Personal bekommen soll. Wir brauchen schnellere Asylverfahren, und die Flüchtlinge brauchen zeitnah Gewissheit darüber, wie ihr Aufenthaltsstatus ist.
Deutschland steht für eine humane Flüchtlingspolitik.
Das soll so bleiben. Wir stehen zu unserer Verantwortung. Mit diesem Gesetz beweisen wir, dass der Bund
die Städte und Gemeinden bei der Bewältigung dieser
Herausforderung nicht alleine lässt. Ich bitte Sie daher
alle um Ihre Unterstützung; denn die Flüchtlinge brauchen unsere Hilfe, aber auch die Städte und Gemeinden.
Herzlichen Dank.
({12})
Der Kollege Christian Kühn hat als Nächster jetzt das
Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Gäste auf der Tribüne! Ich bin froh, dass es heute
bei uns in Deutschland eine andere Willkommenskultur
gibt und dass sich viele Menschen mit hohem Engagement für das Wohl der Flüchtlinge, die im Augenblick zu
uns kommen, einsetzen.
({0})
Ich bin dankbar, dass wir, anders als Anfang der 90erJahre, eine andere Stimmung und eine andere Debatte in
Deutschland haben. Ich will ganz klar sagen: Das Boot
ist nicht voll; das Boot ist niemals voll.
({1})
Heute geht es um Grundrechte von Menschen, denen
die Grundrechte in ihren Heimatländern versagt wurden,
von Menschen, die gezwungen wurden, ihre Heimat zu
verlassen, die Krieg, Menschenrechtsverletzungen, Zerstörung, Tod und Katastrophen am eigenen Leib erlebt
haben, von Menschen, die oft traumatisiert zu uns kommen. Diese Menschen brauchen eben nicht nur einfach
ein Dach über dem Kopf, sie brauchen eine menschenwürdige Unterbringung, ein soziales Umfeld, das ihnen
dabei hilft, ihre Verluste und die dramatischen Erfahrungen zu verarbeiten. Die Unterkunft ist ein zentraler
Baustein einer menschenwürdigen Flüchtlingspolitik.
Deswegen begrüßen wir es als Grüne, dass in diesem
Gesetzentwurf erstmals die Flüchtlingsunterbringung als
Allgemeinwohl festgeschrieben wird. Das ist ein großer
Schritt.
({2})
Wir Baupolitiker können die Fehler und Versäumnisse der Flüchtlingspolitik der letzten zehn Jahre nicht
mit einer Änderung des BauGB reparieren. Wir müssen
aber beim Thema Unterbringung immer die Menschenwürde der Flüchtlinge im Blick behalten.
({3})
Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Ich bin skeptisch, ob Gewerbegebiete die Anforderungen an eine menschenwürdige Unterbringung erfüllen. Hier müssen wir alle genau
hinschauen; das hat die Anhörung im Bauausschuss ganz
klar gezeigt.
({4})
Die Unterbringung in Gewerbegebieten darf es - das ist
meine Überzeugung - nur in ganz bestimmten Ausnahmefällen,
({5})
nur als Notlösung und nur als reine Übergangslösung geben, also als Ultima Ratio.
({6})
Das steht leider nicht in dem vorliegenden Gesetzentwurf drin. Es ist nicht konditioniert. Das ist letztlich
auch der Grund, warum wir uns heute enthalten.
({7})
Die Kommunen befinden sich in einer Notsituation.
Ich verstehe nicht, warum man jetzt nur am BauGB Änderungen vornimmt. Frau Hendricks hat in ihrer Rede
darauf hingewiesen, dass man Kommunen nun unterstützen muss, wo es geht. Ich finde, dass diese Bundesregierung die Kommunen eben nicht unterstützt, wo es geht.
({8})
Erstens. Organisieren Sie mit den Kommunen einen
Flüchtlingsgipfel, wie wir das in Baden-Württemberg
und auch in Nordrhein-Westfalen gemeinsam mit den
Sozialdemokraten mit großem Erfolg getan haben. Man
braucht einen Flüchtlingsgipfel auch auf nationaler
Christian Kühn ({9})
Ebene, um klarzumachen, dass wir heute einen Rahmen
brauchen, der Flüchtlinge nicht mehr rechtlich ausgrenzt
und Kommunen wirklich hilft. Greifen Sie den Kommunen bei der Gesundheitsversorgung der Flüchtlinge endlich unter die Arme.
({10})
Zweitens. Sorgen Sie endlich dafür, dass die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben den Kommunen Liegenschaften für die Flüchtlinge zu fairen Bedingungen überlässt.
({11})
Es kann doch nicht sein, dass die BImA sich in dieser Situation - und das meine ich wirklich ernst - eine goldene
Nase an der Notlage der Kommunen verdient.
({12})
Die Kommunen werden nicht unterstützt, sondern abgezockt. Das muss beendet werden. Sie müssen die Politik
der BImA dringend ändern.
({13})
Drittens. Legen Sie ein Bauprogramm für eine verbesserte dezentrale Unterbringung von Flüchtlingen in
Wohngebieten auf. Das wäre eine schnelle Hilfe für die
Kommunen; denn sie müssen die Liegenschaften jetzt
anmieten oder erwerben und herrichten. Die Kommunen
brauchen jetzt die Unterstützung bei den Baumitteln.
Gerade die Kommunen in Haushaltsnotlagen brauchen Unterstützung, da die Kommunalaufsicht die benötigten Kredite nicht genehmigt. Der Bund muss diesen
Kommunen mit einem Bauprogramm unter die Arme
greifen. Sie von der Großen Koalition sagen bei fast jeder wohnungspolitischen Debatte, dass nur Bauen,
Bauen, Bauen hilft. Halten Sie sich an Ihre eigenen
Worte!
({14})
Zum Schluss. In der Debatte, die wir über das BauGB
geführt haben, stellen wir eigentlich immer noch die falsche Frage, nämlich: Wie können wir Flüchtlinge auf
Zeit unterbringen? Dabei werden 30 bis 60 Prozent der
Asylsuchenden - je nachdem, welchen Experten man
fragt -, die heute zu uns kommen, dauerhaft in Deutschland bleiben. Wir müssen uns deshalb endlich die Frage
stellen: Wie können wir diese Menschen ab dem ersten
Tag optimal integrieren und unterstützen, damit sie gut
in unserer Gesellschaft ankommen, damit wir ihnen, da
sie ihre alte Heimat gerade verloren haben, eine neue
Heimat geben können?
({15})
Diese Frage müssen wir uns als Allererstes stellen.
Danke.
({16})
Für die Sozialdemokraten spricht jetzt als Mitglied
des Bundesrates Senatorin Jutta Blankau-Rosenfeldt, Senatorin für Stadtentwicklung der Freien und Hansestadt
Hamburg.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Die Steigerung der Flüchtlingszahlen stellt die Länder und viele deutsche Städte, auch
Hamburg, und Gemeinden vor große Herausforderungen. Seit 2011 steigen die Flüchtlingszahlen wieder an.
Für 2015 ist mit einem weiteren Anstieg der Flüchtlingszahlen zu rechnen. Bezogen auf Hamburg bedeutet das
beispielsweise: 2011 kamen circa 2 000 Flüchtlinge nach
Hamburg, 2014 werden es ungefähr 5 200 Flüchtlinge sein.
Hinzu kommen rund 1 000 minderjährige unbegleitete
Flüchtlinge. Insgesamt sind das geschätzt 6 200 Flüchtlinge
in diesem Jahr, für die wir geeignete, menschenwürdige
Unterkünfte schaffen müssen.
({0})
Insbesondere in den Ballungsräumen in Deutschland
ziehen Menschen zu. Diese Entwicklung ist völlig unabhängig davon, ob Flüchtlinge in die Städte kommen. Das
spiegelt sich in einer riesigen Nachfrage nach bezahlbarem Wohnraum wider. Uns fehlt es in Hamburg an bezahlbarem Wohnraum.
({1})
Vor dem Hintergrund wachsender Bevölkerungszahlen hat Hamburg frühzeitig und erfolgreich die Weichen
für mehr Wohnungsneubau gestellt. Der soziale Wohnungsbau ist uns dabei besonders wichtig. Unser 2011
geschlossenes Bündnis für das Wohnen in Hamburg mit
den wohnungswirtschaftlichen Verbänden und den Mietervereinen ist Vorbild für das Bündnis für bezahlbares
Wohnen und Bauen auf Bundesebene gewesen. Wir haben mittlerweile die Baugenehmigungs- und Fertigstellungszahlen maßgeblich steigern können, um der anhaltend hohen Nachfrage gerecht zu werden. Dafür nutzen
wir die knappen Flächenpotenziale, die sich in einem
dichtbesiedelten Ballungsraum wie Hamburg bieten.
Wie viele andere Kommunen haben wir schnell auf
den Zustrom von Flüchtlingen reagiert und nutzen jede
kurzfristig verfügbare und geeignete Fläche sowie bestehende Gebäude, um dort Unterkünfte zu schaffen, die
den Bedürfnissen der bei uns Schutz und Hilfe suchenden Menschen, häufig Familien mit Kindern, gerecht
werden. Aber wir stoßen an Grenzen. Geeignete GrundSenatorin Jutta Blankau-Rosenfeldt ({2})
stücke lassen sich in Ballungsräumen nicht beliebig vermehren, und es wäre falsch, den dringend notwendigen
Wohnungsneubau an dieser Stelle auszubremsen. Bei allem Verständnis für die Forderung, Flüchtlinge in Wohnungen unterzubringen, weil die Integration so besser
gelingt, was stimmt: Wohnungsbau braucht Zeit.
({3})
Aber die Menschen, die zu uns kommen, können nicht
warten, bis diese Wohnungen fertig sind oder genügend
Wohnungen frei werden. Sie brauchen jetzt geeignete
Unterkünfte und keine Zelte.
({4})
Frau Bluhm, ich möchte auf eines hinweisen: Gewerbegebiete sind keine frei schwimmenden Inseln. Es ist
gegen uns ein Urteil des Verwaltungsgerichts ergangen
- es ging um eine Nachbarschaftsklage -, weil wir in einem Gewerbegebiet, das direkt an ein Wohngebiet angrenzt, Flüchtlinge unterbringen wollten. Das ging nicht.
Auch deswegen haben wir die Initiative ergriffen.
({5})
Angesichts dieser Lage besteht ein dringender Bedarf
an planungsrechtlichen Erleichterungen, um schneller
und rechtssicherer als bisher Unterkünfte für Flüchtlinge
schaffen zu können. Deshalb hat der Bundesrat einstimmig auf Initiative der Länder Baden-Württemberg, Bremen und Hamburg diesen Gesetzesantrag auf den Weg
gebracht. Das macht einmal mehr deutlich, dass die
Schaffung von menschenwürdigen Unterkünften für
Flüchtlinge eine bundesweite Herausforderung darstellt,
die alle Bundesländer betrifft.
({6})
Auch der Bund sieht sich in der Pflicht. Ich begrüße den
im Gesetzgebungsverfahren gemachten Vorschlag der
Bundesregierung, den jetzt die Bundestagsfraktionen
von CDU/CSU und SPD als Änderungsantrag aus der
Mitte des Bundestages aufgegriffen haben. Unter Berücksichtigung der inhaltlichen Ziele des Gesetzesantrags des Bundesrates können die notwendigen Erleichterungen so noch schneller auf den Weg gebracht
werden, als dies im Bundesratsentwurf vorgesehen war.
Ich freue mich insoweit auch über diese Einigkeit.
Der Gesetzentwurf stellt ein ausgewogenes Ergebnis dar.
Er ist kein Freifahrtschein für eine wahl- und rücksichtslose Nutzung von Flächen für die Unterbringung von
Flüchtlingen,
({7})
sondern schafft die planungsrechtlichen Voraussetzungen, auf prinzipiell dafür geeigneten Flächen im Innenund Außenbereich und in Gewerbegebieten Unterkünfte
zu errichten und die Umnutzung von bestehenden Gebäuden - die Linke fordert übrigens immer die Umnutzung von Gewerberäumen und Büroflächen in Hamburg,
weil wir ja bezahlbaren Wohnraum brauchen - zu erleichtern.
({8})
Es kommt dabei - auch das betone ich - auf den Einzelfall an.
({9})
Jede Fläche muss daraufhin geprüft werden, ob eine Unterbringung dort möglich und sinnvoll ist. Anbindung an
den Nahverkehr, Einkaufsmöglichkeiten, Betreuungsmöglichkeiten für Kinder und Erwachsene in der Nähe,
das findet sich auch auf Flächen, die eigentlich für Gewerbe reserviert sind, insbesondere dann, wenn in der
Nachbarschaft schon ein Wohngebiet vorhanden ist. Das
wollen wir nutzen können.
({10})
Die Städte und Gemeinden setzen darauf, dass diese
Änderungen im Baugesetzbuch schnell wirksam werden.
Die Sachverständigenanhörung im zuständigen Ausschuss des Deutschen Bundestages, in der auch ein Vertreter meiner Behörde angehört worden ist, hat den
Bedarf der Kommunen an planungsrechtlichen Erleichterungen noch einmal deutlich gemacht. Ich bin mir sicher, dass dieses Vorhaben auch hier im Deutschen Bundestag eine deutliche Mehrheit finden wird.
Vielen Dank.
({11})
Nächste Rednerin ist für die CDU/CSU die Kollegin
Dr. Anja Weisgerber.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Weltweit nehmen die kriegerischen Auseinandersetzungen und politische Verfolgung zu. Dadurch
kommen immer mehr Menschen in unser Land, die
Schutz suchen und denen wir auch Schutz bieten wollen.
Wir übernehmen humanitäre Verantwortung für diese
Menschen, und das ist auch gut so.
Wir haben es aber gerade von der Frau Senatorin gehört: Die Situation stellt uns vor große Herausforderungen, besonders die Kommunen. Unsere Städte, Kreise
und Gemeinden leisten hier tagtäglich Außergewöhnliches. Das möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich loben.
({0})
Doch sie stoßen eben vermehrt an ihre Grenzen. Die
Zahlen der Asylbewerber steigen stetig. Zum Beispiel
sind Anfang Oktober allein an einem Wochenende mehr
als 700 Asylbewerber in Bayern angekommen. Das stellt
eine Frage immer mehr in den Vordergrund: Wie können
wir die Flüchtlinge angemessen unterbringen? Das bestehende Bauplanungsrecht ist momentan zu unflexibel,
um kurzfristig auf den Zustrom reagieren zu können.
Zudem gibt es immer wieder Klagen gegen Baugenehmigungen für Flüchtlingsunterkünfte. Das führte zu
teils sehr zwiespältigen Urteilen. Ich möchte ein Beispiel
nennen: In Baden-Württemberg hat ein Nachbar erfolgreich dagegen geklagt, dass in einem leerstehenden
Lehrlingswohnheim in einem Gewerbegebiet Flüchtlinge untergebracht werden, mit der Folge, dass die
Flüchtlinge aus dem Wohnheim aus- und in einen Container einquartiert werden mussten. Das kann doch nicht
sein; das können wir doch nicht wollen.
({1})
Das zeigt, dass wir diese Änderungen im Baurecht
brauchen. Mit dem Gesetz schaffen wir genau die nötige
Rechtssicherheit, aber auch die nötige Flexibilität, und
das ist gut so.
Den Antrag der Linken habe ich aufmerksam durchgelesen. Sie fordern darin menschenwürdige Flüchtlingsunterkünfte. Das wollen wir alle.
({2})
Auch wir wollen menschenwürdige Unterkünfte. Auch
wir wollen die Flüchtlinge in möglichst vielen dezentralen kleinen Einheiten unterbringen. Aber woher sollen
wir diese Einheiten nehmen? Wir stoßen hier einfach an
unsere Grenzen. Wir alle kennen die Situation in den
Ballungsgebieten. Dort ist Wohnraum ohnehin knapp.
Natürlich brauchen wir neuen Wohnraum, und wir müssen den öffentlichen Wohnungsbau stärken. Die Bundesländer müssen im Übrigen die Mittel, die sie dafür vom
Bund bekommen, auch dafür verwenden.
({3})
Das müssen wir unbedingt angehen. Aber der notwendige Wohnraum wird eben nicht von heute auf morgen geschaffen. Das braucht Zeit, und diese Zeit haben
wir derzeit nicht.
Die Initiative Hamburgs im Bundesrat habe ich wie
einen Hilferuf wahrgenommen. Wir dürfen die Kommunen in dieser Situation nicht im Stich lassen. Deswegen
ist der Gesetzentwurf auch so wichtig.
({4})
Immer wieder wird kritisiert, die Unterbringung von
Flüchtlingen in Ortsrand- oder Gewerbegebieten sei
menschenunwürdig. Aber ich frage: Ist es denn aus Ihrer
Sicht wirklich menschenwürdiger, diese Menschen im
Winter, wenn es kalt ist, in Zelten oder Containern unterzubringen?
({5})
Genau das wollen wir eben nicht.
Wichtig für die Flüchtlinge ist es doch, dass sie ein
Dach über dem Kopf haben. Mit dem Gesetz geben wir
den Ländern und den Kommunen ein Instrumentarium
an die Hand, um schneller und unkomplizierter Hilfe
leisten zu können. Befristet auf fünf Jahre bekommen
die Kommunen mehr Handlungsoptionen. Für den Fall,
dass die Kommunen die Asylbewerber nicht dezentral
im Innenbereich oder im integrierten Wohnbereich unterbringen können, bekommen sie die Möglichkeit,
Flüchtlinge in Außenbereichen unterzubringen, wenn
diese unmittelbar an die bebaute Ortschaft angrenzen.
Unter bestimmten Voraussetzungen - ich betone: unter bestimmten Voraussetzungen - können Unterkünfte
in Gewerbegebieten entstehen. Die Unterbringung in
Gewerbegebieten ist zudem nur auf Flächen möglich,
auf denen bislang schon Anlagen für soziale Zwecke als
Ausnahme zugelassen werden können oder zulässig
sind. Außerdem müssen die Interessen der dort ansässigen Betriebe gewahrt werden, und die Unterbringung
muss mit den öffentlichen Belangen vereinbar sein. Das
heißt, dass in Gebieten mit zu hoher Lärm- oder Geruchsbelästigung ohnehin niemand untergebracht wird.
Das gehört auch zur Wahrheit dazu. Diese Voraussetzungen enthält das Gesetz. Ich bin der Meinung, mit diesem Maßnahmenpaket versetzen wir unsere Städte und
Gemeinden in die Lage, den Menschen schnellstmöglich
zu helfen.
Doch - und das möchte ich abschließend noch sagen - das Gesetz ist eben nur ein Baustein zur Entlastung der Kommunen. Die Lösung der Flüchtlingsfrage
ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe,
({6})
an der sich alle, auch unsere europäischen Nachbarn im
Übrigen, beteiligen müssen.
So ist es ein positives Signal, dass die Bundesanstalt
für Immobilienaufgaben verfügbare Immobilien und
Freiflächen offensiv als Asyl- und Flüchtlingsunterkünfte anbietet.
({7})
Aber auch das allein reicht nicht. Die Städte und Gemeinden brauchen mehr Flexibilität. Mit dem Gesetz
senden wir heute ein wichtiges Signal an die Kommunen
und die schutzbedürftigen Menschen aus, dass die notwendige Flexibilität jetzt geschaffen wird. Deshalb stimmen wir dem Gesetz auch aus Überzeugung zu.
Ich fand es bemerkenswert, dass die Grünen gesagt
haben, dass sie nicht dagegen stimmen, sondern sich enthalten werden. Ein gewisser Bedarf wird also vielleicht
auch bei den Grünen gesehen.
Vielen Dank.
({8})
Abschließende Rednerin in dieser Aussprache ist die
Kollegin Nina Warken, CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Asylbewerberzahlen in Deutschland - das haben wir bereits gehört - haben in den letzten Jahren rapide zugenommen.
2008 waren es lediglich rund 28 000 Asylanträge. 2013
waren es mehr als 127 000 Asylanträge. In diesem Jahr
werden über 230 000 Erstanträge erwartet.
Gründe für diese erhebliche und plötzliche Zunahme
sind unter anderem der Ausbruch des Bürgerkriegs in
Syrien, die akute Bedrohung durch die Terrororganisation „Islamischer Staat“ im Irak und in Syrien, aber auch
die Anziehungswirkung, die von unserem Asylsystem
auf Menschen auf dem Balkan, in Afrika und anderen
Ländern mit großer Armut ausgeht.
Deutschland ist im Vergleich zu allen anderen EUMitgliedstaaten das Land mit den meisten Asylbewerbern und auch das Land, das die meisten Menschen aufnimmt. Dies liegt an den hohen Standards unseres Asylsystems. Das muss man bei der ganzen Kritik, die immer
wieder bezüglich der Mindeststandards bei der Unterbringung vorgebracht wird, auch einmal klar betonen.
Meine Damen und Herren, besonders betroffen vom
rapiden Anstieg der Asylbewerberzahlen sind nun unsere Landkreise und Städte, da sie letztlich für die Unterbringung der Menschen verantwortlich sind. Vielerorts
wissen die Kommunen schlicht nicht mehr, wo sie die
Menschen unterbringen sollen. Hier brauchen wir eine
kurzfristige und möglichst unbürokratische Lösung, die
den Kommunen sofort bei der Unterbringung hilft. Es ist
deshalb der richtige Weg, dass Bund, Länder und die
kommunalen Spitzenverbände derzeit gemeinsam darüber beraten, wie wir unsere Kommunen bei den voraussichtlich anhaltend hohen Asylbewerberzahlen entlasten können - natürlich mit der klaren Zielvorgabe
einer menschenwürdigen Unterbringung.
Der vorliegende Gesetzentwurf zur Änderung des
Bauplanungsrechts ist eine solche Lösung. Er wird mit
der Annahme des Änderungsantrages der Koalition sofort bundesweit wirksam und bedarf keiner Umsetzung
mehr durch die Länder. Mit der Gesetzesänderung wird
es künftig möglich sein, Asylbewerberunterkünfte auch
in Gewerbegebieten einzurichten. Für viele Kommunen
mit leerstehenden Gebäuden in Gewerbegebieten ist das
eine erhebliche Erleichterung, da diese vergleichsweise
schnell und kostengünstig umgewidmet werden können.
Das Gleiche gilt für die Unterbringung von Asylbewerbern in ehemaligen Geschäfts-, Büro- oder Verwaltungsgebäuden. Hier reichte in der Vergangenheit häufig die
Klage eines einzelnen Anwohners aus, die Kommunen
zu zwingen, die Menschen wieder anderswo unterzubringen. Selbstverständlich kann die Unterbringung von
Asylbewerbern nur mit der Akzeptanz der Anwohner gelingen; doch gerade angesichts des nahenden Winters
kann es nicht sein, dass Asylbewerber bei eisigen Temperaturen in Zelten oder Containern hausen müssen.
({0})
Auch die Möglichkeit, dass Asylbewerberunterkünfte
künftig in sogenannten Außenbereichsinseln bzw. im innenbereichsnahen Außenbereich gebaut werden dürfen,
ist für viele Kommunen eine erhebliche Erleichterung
bei der Schaffung von zusätzlichen Kapazitäten für die
Unterbringung.
Bei so vielen Vorteilen für die Kommunen tut sich
selbst die Linke dabei schwer, den Gesetzentwurf zu kritisieren. Wenn man Ihren auf den letzten Drücker eingebrachten Antrag liest, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Linken, merkt man aber, wie wenig Sie von der
Situation in den Kommunen und Landkreisen wissen.
Dort weiß man nicht mehr, wo man die Leute unterbringen soll, und Sie reden davon, man solle doch die Asylbewerber ihren Unterbringungsort selbst wählen lassen.
Wenn es nach Ihnen geht, dürfen Gemeinschaftsunterkünfte nicht mehr als 50 Personen beherbergen und die
Unterbringung in Erstaufnahmeeinrichtungen darf maximal 6 bis 12 Wochen dauern. All das geht doch völlig an
der Realität in den Landkreisen und Kommunen vorbei.
({1})
Dort geht es mittlerweile darum, den Leuten überhaupt
ein Dach über dem Kopf geben zu können.
({2})
Meine Damen und Herren, als Stadt- und Kreisrätin
kann ich Ihnen versichern, dass es unseren Landkreisen
und Kommunen fernliegt, Asylbewerber menschenunwürdig unterzubringen. Es geht mit dem vorliegenden
Gesetzesvorhaben auch nicht darum, Asylbewerber systematisch und dauerhaft in Gewerbegebiete oder in den
Außenbereich abzuschieben; ein Beweis dafür ist doch
schon die Befristung des Gesetzes bis zum Jahr 2019.
Auch die Kritik bezüglich einer angeblich mangelnden
Infrastruktur in diesen Gebieten entspricht nicht der Realität. Die Gewerbegebiete und Außenbereichsinseln, um
die es hier geht, liegen oft nahe an Wohngebieten und
können häufig sogar zu Fuß durchquert werden. Öffentliche Verkehrsmittel, Zugang zum Gesundheitssystem
und zum Bildungssystem sowie sonstige Infrastruktur
sind vorhanden.
({3})
Es gibt keinen Grund, der gegen diesen Gesetzentwurf spricht. Lassen Sie uns ihm also zustimmen, um
unseren Kommunen damit etwas an die Hand zu geben,
mit dem sie unbürokratisch, rechtssicher und in kürzester Zeit dem Anstieg der Asylbewerberzahlen gerecht
werden und den Menschen vor dem nahenden Winter ein
Dach über dem Kopf bieten können.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank, liebe Kollegin. - Schönen guten Abend
von meiner Seite aus.
Vizepräsidentin Claudia Roth
Ich schließe diese Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den vom Bundesrat eingebrachten Entwurf eines Gesetzes über Maßnahmen im Bauplanungsrecht zur Erleichterung der Unterbringung von Flüchtlingen. Der Ausschuss für Umwelt,
Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3070, den
Gesetzentwurf des Bundesrats auf Drucksache 18/2752
in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist
damit in zweiter Beratung angenommen bei Zustimmung von den Koalitionsfraktionen CDU/CSU und
SPD, Gegenstimmen von der Linken und Enthaltung
von Bündnis 90/Die Grünen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist angenommen bei Zustimmung von CDU/
CSU- und SPD-Fraktion, Gegenstimmen der Linken und
Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über die vorliegenden Entschließungsanträge, und zwar zunächst über
den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 18/3075. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt bei Zustimmung der Linken, Ablehnung von CDU/CSU und
SPD und Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen.
Wir kommen zum Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/3076. Wer
stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt bei Zustimmung von Bündnis 90/
Die Grünen und Ablehnung von CDU/CSU, SPD und
Linken.
Damit gibt es einen Themenwechsel und in der Regel
auch einen Sitzwechsel. Ich wünsche denen, die jetzt gehen, einen schönen Restabend und freue mich, ziemlich
zeitnah zum nächsten Tagesordnungspunkt kommen zu
dürfen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Berichts des Ausschusses für Verkehr und digitale Infrastruktur ({0})
gemäß § 62 Absatz 2 der Geschäftsordnung zu
dem Antrag der Abgeordneten Herbert Behrens,
Sabine Leidig, Thomas Lutze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Keine Einführung einer Pkw-Maut in
Deutschland
Drucksachen 18/806, 18/2989
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre und
sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort
Herbert Behrens für Die Linke.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Diskussion hier im Bundestag ging heute eine interessante Debatte im nordrhein-westfälischen Landtag
voraus. Vielleicht haben Sie Gelegenheit gehabt, sich
das anzuhören: Der SPD-Verkehrsminister will keine
Murks-Maut, und der CDU-Abgeordnete Klaus Voussem
sagt: „Keine Maut wäre sicher die beste Lösung.“
({0})
Heute können Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der SPD und von der CDU, Ihrem Verkehrsminister hier
in Berlin ein Stück Orientierung geben. Folgen Sie Ihren
Kolleginnen und Kollegen aus Düsseldorf! Verabschieden Sie sich von der Ausländermaut! Stimmen Sie unserem Antrag zu!
({1})
Die Linke fordert den sofortigen Stopp der Pläne für
eine Pkw-Maut. Diese Maut ist weder erforderlich noch
sinnvoll. Vielleicht war einigen von Ihnen das im März
2014 noch nicht so deutlich wie heute. Darum haben Sie
sich zumindest im Ausschuss geweigert, sich inhaltlich
mit unserem Antrag auseinanderzusetzen. Nach den vielen Diskussionen, die wir gehabt haben, muss aber heute
jedem, der nicht an der Leine des bayerischen Ministerpräsidenten hängt, klar sein: Die Pkw-Maut bringt nicht
mehr Geld, aber auf jeden Fall mehr bürokratischen Aufwand.
({2})
Eigentlich sollte hier, wie gesagt, gar keine Diskussion stattfinden. Man hat uns im Ausschuss eine Anhörung dazu verweigert mit dem Hinweis, es gebe irgendwann einen Gesetzentwurf dazu. Nun hat es in der
vergangenen Woche zwar einen Gesetzentwurf gegeben.
Den kennen wir alle aber gar nicht; denn er war erst einmal nur Gegenstand im Kabinett und geht jetzt in die
Ressortabstimmung.
Einiges aus diesem Entwurf ist aber bekannt geworden. So heißt es, dass 3,7 Milliarden Euro Einnahmen erwartet würden. Die Pkw-Maut werde zu einer Verkehrsinfrastrukturabgabe, die dann alle deutschen Autofahrer
zu zahlen hätten. Das heißt, jeder Kfz-Halter hätte eine
Zwangsmaut zu zahlen. Aber 3 Milliarden Euro sollen
den deutschen Autofahrern im Rahmen eines Gesetzes,
das der Finanzminister erarbeiten muss, zurückerstattet
werden; dadurch werden sie entlastet. Aber auch dieser
Gesetzentwurf liegt noch nicht vor.
Wir haben den Eindruck, dass bei den 700 Millionen
Euro Einnahmen, die nur die ausländischen Autofahrer
einbringen sollen, ähnlich wie bei anderen Großprojekten Einnahmen hochgerechnet und Ausgaben heruntergerechnet werden. Der ADAC hat nachgefragt, ob dieser
Betrag von 700 Millionen Euro, den die Firma AGES
- ein Unternehmen, das sich mit Mauteintreiben beschäftigt - ermittelt hat, stimmt. Er hat nachgerechnet
und ist auf 262 Millionen Euro gekommen.
({3})
Er hat auch festgestellt, dass der Aufwand wesentlich
höher ist als vom Verkehrsminister vorgesehen. Er hat
nämlich 357 Millionen Euro, die allein der Aufbau der
Kontrollstrukturen kosten wird, gar nicht mit eingerechnet. Das heißt, die Berechnung des Verkehrsministers ist
von vorne bis hinten falsch und anzuzweifeln. Das ist ein
weiterer Grund, auf die Einführung der Maut zu verzichten.
({4})
Wir können Wetten abschließen, wer zuerst die
schwarze Null erreicht: Herr Dobrindt mit seiner PkwMaut oder der Finanzminister bei seinem Haushalt.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Zwangsmaut ist
aus unserer Sicht auch rechtlich nicht zu halten. Wie verhält es sich beispielsweise mit innerorts gelegenen Bundesstraßen? Haben die Städte jetzt Anspruch auf die Einnahmen aus der Maut, die dort zu zahlen wäre, oder ist
es zulässig, die Maut nur außerorts einzutreiben? Auch
diese Frage ist völlig ungeklärt. Beispielsweise in Berlin
und anderen Großstädten gibt es viele Kilometer an innerörtlichen Bundesstraßen. Die Städte müssen dafür
aufkommen; aber sie bekommen möglicherweise nichts
von den Mauteinnahmen ab. Ist das zulässig? Ich vermute, es wird Klagen geben.
Auf Menschen mit Behinderungen, die nur teilweise
von der Kfz-Steuer befreit sind, wird auch mit keinem
Wort eingegangen. Die, die voll entlastet werden sollen,
werden nicht zusätzlich belastet. Das ist einfach umzusetzen. Aber wie mit dem Freibetrag bei nur teilweise
Befreiten umgegangen werden soll, auch dazu ist kein
Wort zu finden.
Die Maut bringt also nicht nur keine zusätzlichen Einnahmen, sondern sie wirft auch erheblich mehr Fragen
auf, als es Antworten gibt. Es geht aber nicht um ein
Frage-und-Antwort-Spiel. Es geht vielmehr um die politische Entscheidung: Soll es in Deutschland eine PkwMaut geben, ja oder nein? Diese Frage ist zu beantworten.
Darum bleibt es dabei: Wir brauchen eine politische
Entscheidung gegen die Einführung. Lassen Sie uns die
Pkw-Maut jetzt stoppen! Vielleicht trägt der Bundesfinanzminister dazu bei, indem er seinen Gesetzentwurf
so lange schiebt, dass es nicht mehr zu einer Pkw-Maut
kommen kann. Aber das wäre kein politischer Weg, sondern nur ein Ausweg. Aber den würde ich auch mitgehen.
Danke schön.
({6})
Danke, Herr Kollege Behrens. - Nächster Redner in
der Debatte ist Karl Holmeier für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Am kommenden Sonntag vor 25 Jahren, am 9. November 1989, hat die friedliche Revolution vieler Hunderttausend mutiger Menschen in der ehemaligen DDR das
SED-Unrechtsregime nach jahrzehntelanger Schreckensherrschaft, Stasiterror und Todesschüssen an der
Mauer in sich zusammenbrechen lassen.
({0})
Gott sei Dank! Ich bezeichne es als Wunder, dass dies
friedlich möglich war. Die Wiedervereinigung Deutschlands, auf die die Unionsparteien seit Gründung der beiden deutschen Staaten hingewirkt haben, wurde eingeläutet und möglich. Der 9. November 1989 war und ist
ein großartiger Tag in der deutschen Geschichte. Heute,
25 Jahre später, müssen wir uns mit einem Antrag der
SED-Nachfolgepartei Die Linke beschäftigen, der sinnlos und, wie man bei uns zu Hause sagt, so überflüssig
wie ein Kropf ist.
({1})
Die Fraktion Die Linke hat, wie Herr Behrens schon
gesagt hat, im März 2014 einen Antrag eingebracht,
nach dem der Deutsche Bundestag die Einführung einer
Pkw-Maut in Deutschland ablehnen soll. Zudem, so die
Forderung der Linken, soll die Bundesregierung alle Planungen für die Einführung einer Pkw-Maut unverzüglich
einstellen.
Sehr geehrte Damen und Herren, das tun wir natürlich
nicht. Die Einführung einer Pkw-Maut in Deutschland
war Bestandteil unseres Wahlprogramms zur Bundestagswahl 2013. Auch dafür haben uns die Menschen gewählt und ihr Vertrauen ausgesprochen. Die Einführung
einer Pkw-Maut ist neben vielen anderen guten Dingen
Bestandteil des Koalitionsvertrages zwischen CDU,
CSU und SPD.
({2})
Es war also früh absehbar - auch Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Linken, kennen sicherlich unseren sehr guten Koalitionsvertrag -, dass
Verkehrsminister Dobrindt einen entsprechenden Gesetzentwurf vorlegen wird.
Vor der Sommerpause hat Minister Dobrindt die Eckpunkte zur Einführung einer Pkw-Maut dargelegt und
kurz darauf angekündigt, bis Ende Oktober 2014 einen
Gesetzentwurf vorzulegen.
({3})
Im Sinne eines geordneten Verfahrens wird nun im
Verkehrsausschuss eine Anhörung zur Pkw-Maut durchgeführt; das stand immer fest. Eine Anhörung und eine
inhaltliche Diskussion machen aber erst dann Sinn,
wenn der Gesetzentwurf vorliegt. Dieser liegt nun vor.
Unser Verkehrsminister hat sein Versprechen gehalten.
({4})
Der Gesetzentwurf wurde Ende Oktober vorgelegt, und
er ist gut. Versprochen und Wort gehalten!
({5})
Die Große Koalition trägt die Bundesregierung. Wir
machen eine erfolgreiche Politik für unser Land und
damit für unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger. Die
Beratung der Pkw-Maut kann in Kürze im Deutschen
Bundestag beginnen. Alles hat seine Ordnung. Es gibt
keinen Grund zur Aufregung. Unser erklärtes Ziel ist,
den hohen Standard des deutschen Infrastrukturnetzes zu
erhalten und weiter auszubauen. Nur so können wir den
Verkehrszuwachs im Personen- und Güterverkehr
bewältigen. Mit der kontinuierlichen Ausweitung der
Nutzerfinanzierung erreichen wir eine größere Unabhängigkeit vom Bundeshaushalt. Die Planungssicherheit für
die Finanzierung von dringend erforderlichen Verkehrsinfrastrukturmaßnahmen wird mit der Ausweitung der
Lkw-Maut, über die wir in den letzten Tagen diskutiert
haben, und der Einführung der Infrastrukturabgabe für
Pkw gestärkt.
Mit dem Gesetzentwurf unseres Verkehrsministers
halten wir unser Wahlversprechen ein. Halter von in
Deutschland zugelassenen Kraftfahrzeugen haben keine
Mehrbelastungen.
({6})
Herr Behrens, Sie haben vorhin gefragt, wer sich traut,
mit Ihnen zu wetten. Ich traue mich schon, mit Ihnen
darum zu wetten, dass etwas übrig bleibt. Wir können als
Wetteinsatz gerne 50 Liter Bier nehmen.
Wir legen zudem einen europarechtskonformen Gesetzentwurf vor. Der Bonner Staatsrechtler Professor
Christian Hillgruber stellt in seinem Gutachten fest, dass
die Infrastrukturabgabe niemanden diskriminiere. Die
Kompensation der Infrastrukturabgabe bei der KfzSteuer sei eine legitime Maßnahme. Der Preis für die
Pkw-Jahresvignette bestimmt sich nach Hubraum und
Umweltfreundlichkeit und wird bei 130 Euro gedeckelt.
Halter von nicht in Deutschland zugelassenen Fahrzeugen können wählen zwischen einer Zehntagevignette für
10 Euro, einer Zweimonatsvignette für 22 Euro oder einer Jahresvignette zu den gleichen Bedingungen wie für
in Deutschland zugelassene Fahrzeuge.
({7})
Ich stelle abschließend fest, dass die Linke mit der
Beantragung der heutigen Debatte eigentlich nichts anderes als heiße Luft produziert. Diese Debatte ist nicht
notwendig. Wir werden den Antrag natürlich ablehnen.
Ich freue mich auf die inhaltliche Beratung unseres Gesetzentwurfs in den kommenden Wochen
({8})
und wünsche Ihnen allen gute Fahrt auf deutschen Straßen.
({9})
Danke schön, Herr Kollege Holmeier. - Die Wette
kommt in das Protokoll. Wenn man aber aus Bayern
kommt, sind 50 Liter Bier günstig. Da könnte man schon
etwas drauflegen. Ich werde das dann kontrollieren. Gut, die Wette gilt.
Nächste Rednerin in der Debatte ist Dr. Valerie Wilms
für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Als ich eben die Rede von Herrn
Holmeier gehört habe, habe ich gedacht: Wo bin ich hier
eigentlich? - Alles, was er erzählt hat, habe ich hier noch
nicht erlebt. Es liegt doch noch gar kein Gesetzentwurf
vor. Welche Märchen haben Sie uns aus Bayern wieder
erzählt? Das funktioniert doch hinten und vorne nicht.
({0})
Es ist schön, dass auch das Ministerium jetzt vertreten
ist, liebe Kollegin Bär. Ihr Minister hat nicht Wort gehalten. Monatelang hat er das Parlament hingehalten. Eine
schon vor der Sommerpause von uns im Ausschuss kollegial gemeinschaftlich geplante Anhörung zu Ihrer
CSU-Maut wurde im Oktober mir nichts, dir nichts abgeblasen. Der einzige Grund: Ihr lieber Minister
Dobrindt hat nicht geliefert, was er versprochen hat. Es
gibt auch jetzt noch keinen Gesetzentwurf. Ich darf vermuten, dass dem Minister sehr wohl bekannt ist, was ein
Gesetzentwurf ist.
({1})
Das ist nämlich ein Dokument, das dem Bundestag
schon zugeleitet sein müsste, zumindest aber dem Bundesrat. Davon habe ich noch lange nichts gesehen. Was
bedeutet das? Es kursiert vielleicht nur ein Entwurf im
Internet, über den wir hier mutmaßen dürfen. Das ist
schlicht unverschämt.
({2})
Der Minister hält sich nicht an seine Versprechen.
Statt dem Parlament, dem Gesetzgeber, wirklich etwas
vorzulegen, über das wir entscheiden können, gibt er
blumige Presseerklärungen alle paar Monate heraus. Das
ist eine Missachtung des Parlaments.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns einmal die Details von dem anschauen, was man im Internet
findet. Punkt eins: europäisches Recht.
({4})
Dazu gibt es ein Gutachten - man könnte dafür auch einen besonderen Begriff finden -, das man bestellt hat, in
dem Sie sich die Vereinbarkeit der Maut mit dem europäischen Recht bescheinigen lassen. Alle anderen Experten kommen zum glatt gegenteiligen Schluss. Mit
dem Gefälligkeitsgutachten haben Sie es sogar geschafft,
dass Ihnen der Kommissar Kallas auf die Schulter geklopft hat. Der ist aber nicht mehr Kommissar, der ist
weg. Ich bin gespannt, was das insgesamt dann wirklich
wert ist; denn seit einer Woche haben wir eine neue
Kommissarin, und die fühlt sich nicht an die Aussagen
ihres Vorgängers gebunden, wie sie heute noch einmal
ganz deutlich per Agenturmeldung hat mitteilen lassen.
Ich sage: Auch jetzt diskriminiert Ihre CSU-Maut die
EU-Ausländer. Sie ist und bleibt ein mittelalterlicher
Wegezoll, der überhaupt nicht zum europäischen Gedanken passt.
({5})
Punkt zwei: die elektronische Vignette, wie wir letzte
Woche dem Internet entnehmen konnten. Damit keine
Bildchen an jeder Autoscheibe kleben, geben Sie sich
ganz modern. - Da war doch einmal etwas: Minister für
Modernität oder irgendetwas anderes. - Es müssen nur
alle Fahrzeuge fotografiert werden. Das ist wie bei der
Lkw-Maut, hat aber einen kleinen Haken. Die Daten
werden bei den Pkw nämlich nicht sofort gelöscht. Sie
sollen bis zu 13 Monate aufbewahrt werden. Damit werden Bewegungsprofile aller Autofahrer zentral erfasst.
({6})
Die lieben Kollegen vom BKA rufen schon nach den
Daten zur Verbrechensbekämpfung.
({7})
Davor kann ich nur warnen.
({8})
Wenn Sie schon nicht die Finger von der unseligen Maut
lassen können, dann korrigieren Sie wenigstens diese
Vorratsdatenspeicherung durch die Hintertür. Aber die
Vorratsdatenspeicherung ist ja eine CSU-Nummer.
Punkt drei: Ihre Einnahmen. Aus den vollmundigen
Ankündigungen ist nichts geworden. Stattdessen wurde
es mit jeder Ankündigung weniger. 2013 wurden noch
900 Millionen Euro Einnahmen geschätzt, im Juli dieses
Jahres hat der Minister von nur noch 600 Millionen Euro
gesprochen. Inzwischen kommt er selbst durcheinander.
Er sprach letzte Woche von deutlich mehr als 300 Millionen Euro, dann wieder von einer halben Milliarde
Euro. Ja was denn nun? Sie wissen es offensichtlich
selbst nicht im Ministerium. Vielleicht sind Ihnen auch
ein paar Zahlen durcheinandergekommen. Das kann
schon einmal passieren, wenn man Wohltaten für Bayern
und die Republik durcheinanderbringt; denn das Verkehrsministerium arbeitet nicht nur an der CSU-Maut.
Lassen Sie mich ein Beispiel aufzeigen. Im Sommer
wurden fleißig Geschenke verteilt. Dabei hat der Minister natürlich auch an sich und seinen Wahlkreis gedacht.
({9})
Dort, in Oberau, soll die teuerste Ortsumgehung Bayerns
gebaut werden. Zusammen mit drei geplanten Tunneln
kostet das Ganze eine halbe Milliarde Euro, genauso
viel, wie die CSU-Maut einbringen soll.
({10})
Wir werden genau hinsehen müssen, wohin das Geld am
Ende geht.
Frau Kollegin.
Liebe Frau Präsidentin, ich komme jetzt zum Ende.
Es bleibt festzuhalten: Die CSU-Maut ist untauglich und
bürokratisch. Sie wird keines, aber auch wirklich keines
unserer Probleme lösen, sondern viele neue schaffen.
({0})
Wer mit dummen Ideen ein Gesetz machen will, kann
auch nur ein dummes Gesetz bekommen. Also, lassen
Sie die Finger davon.
Herzlichen Dank.
({1})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Nächster Redner in
dieser Debatte ist Sebastian Hartmann für die SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Da wartet man darauf, was die Opposition sagt, bereitet
sich vor und ist richtig gespannt. Und was passiert? Sie
kritisieren, dass es nichts gibt und dass der Minister angeblich nichts vorgelegt hat. Dann reden Sie über das,
was es nicht gibt - Frau Wilms sagt, dass es das nicht
gibt -, und Sie arbeiten sich an irgendetwas ab, was es
angeblich nicht gibt. Dabei profitiert Ihr Antrag, der sich
eigentlich auf die Geschäftsordnung bezieht, lieber Kollege Behrens, ganz erheblich davon, dass der Minister
Wort gehalten hat.
({0})
Sonst könnten Sie sich doch an keinem einzigen Vorschlag abarbeiten. Es ist eben ein Vorteil der deutschen
Infrastruktur, dass es auch eine digitale Infrastruktur gibt
und dass man im Internet manches Wichtige nachlesen
kann, an dem Sie sich abarbeiten wollen.
Der umgekehrte Fall: Wenn Sie kritisieren wollten,
dass der Minister eben keinen Gesetzentwurf in dem
31 Tage zählenden Oktober vorgelegt hätte, worüber
hätten Sie denn heute geredet?
({1})
Was wollen Sie denn? Sie wollen, dass die Pkw-Maut
nicht kommt. Dann könnten Sie einfach einen Schlussstrich ziehen, und damit wäre die Debatte beendet. Dennoch arbeiten Sie sich an dem ab, was wir hier vielleicht
zur Diskussion bekommen.
({2})
Es spricht doch für eine gute parlamentarische Debatte, dass man einen entsprechenden Vorschlag bekommt, dass man sich diesen Vorschlag anschaut und
ihn da, wo er noch nicht so gut ist, besser macht. Dafür
wird es ein geordnetes Verfahren geben. Dazu wird es
eine Sachverständigenanhörung geben. Dann wird man
das eine oder andere Gutachten, ob jetzt bestellt oder
nicht, vielleicht um ein noch besseres Gutachten ergänzen.
({3})
Dann wird man sehen: Gilt der Koalitionsvertrag oder
nicht? Das wird die Maßgabe der SPD, der CDU und der
CSU sein.
({4})
Es ist ein offenes Geheimnis: Es gibt zwei große Parteien. Wenn sie die absolute Mehrheit verpassen - die
eine deutlich, die andere knapp -, dann gibt es immer
das Problem, dass man einen Kompromiss in der Sache
schließen muss. Ja, wir haben es geschafft, den Mindestlohn und die Rente mit 63 durchzusetzen. Andere wollen
vielleicht eine Infrastrukturabgabe für die deutsche
Infrastruktur organisieren. Ja, das ist so, und das hat man
in den Koalitionsvertrag geschrieben. Der Koalitionsvertrag wird auch die Maßgabe für das Infrastrukturabgabegesetz sein, das der Minister in einem ersten
Referentenentwurf seinen Kolleginnen und Kollegen im
Kabinett zugeleitet hat. Wenn sie darauf reagiert haben,
dann wird es diesen Gesetzentwurf geben.
Ich erinnere einmal daran, dass es für ein solches
Gesetz ein paar klare Kriterien gibt. Über die werden wir
reden, und die werden wir in der parlamentarischen
Debatte genau abarbeiten. Wir als SPD und die andere
tragende Fraktion werden streng darauf achten, dass
diese Kriterien nicht unterlaufen werden; das garantiere
ich Ihnen.
({5})
Ich lese Ihnen etwas vor, damit hier im Parlament
keine Nebelkerzen gezündet werden. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an den 9. November - vielen Dank
für die Ausführungen dazu -; es ist ein besonderes
Datum in unserer Geschichte. Ich möchte mich diesen
Ausführungen natürlich anschließen, Herr Kollege
Holmeier, auch wenn ich zunächst mit dem von der Geschäftsordnung vorgesehenen Bericht gerechnet habe
und dann einen ganz anderen Einstieg vernehmen
konnte. Ich zitiere:
Zur zusätzlichen Finanzierung des Erhalts und des
Ausbaus unseres Autobahnnetzes werden wir einen
angemessenen Beitrag der Halter von nicht in
Deutschland zugelassenen Pkw erheben ({6})
mit der Maßgabe, dass kein Fahrzeughalter in
Deutschland stärker belastet wird als heute. Die
Ausgestaltung wird EU-rechtskonform erfolgen.
Am 7. Juli 2014 wurde ein Konzept vorgestellt, und
daran wurde gearbeitet. Wenn man die öffentliche
Debatte verfolgt, stellt man fest: Aus einem Konzept
wurde ein etwas verschärftes Konzept. Es wurde noch
einmal nachgedacht, ob man die eine oder andere Straße
in das Konzept hineinnimmt, und dann kam es zu dem
Vorschlag, dass man sich vor allen Dingen auf die Bundesfernstraßen konzentriert; denn wir wollen ja nicht die
Grenzregionen abhängen.
({7})
Das wollen wir nicht, und das werden wir auch nicht tun.
Darauf können Sie sich verlassen.
({8})
- Genau, der kleine Grenzverkehr wird ein großes Plus
werden.
Kriterium für die Ausgestaltung dieses Gesetzes ist
nicht nur, dass es EU-rechtskonform sein muss und dass
Pkw-Halter in Deutschland nicht zusätzlich belastet werden. Es gibt ein konkludentes Kriterium. Der Kollege
Wittke aus Nordrhein-Westfalen, aus meinem Heimatland, hat das so schön formuliert:
Vernünftig muss die Regelung schon sein. Vernünftig heißt: Der Aufwand muss deutlich geringer sein
als der Nettoertrag.
({9})
Beides muss in einem vernünftigen Verhältnis stehen …
({10})
Kollege Wittke, Sie haben 10 Prozent als Messlatte
benannt. Das ist doch gut.
({11})
Mehr wollen wir doch nicht. Die Lkw-Maut ist die
Messlatte, an der wir das messen werden.
Ich mache Ihnen jetzt zwei Rechnungen auf, und
diese Rechnungen werden die gesamte Mautdebatte der
folgenden Monate bestimmen: 3,7 Milliarden Euro Einnahmen stehen nur 200 Millionen Euro Erhebungsaufwand gegenüber; das sind sagenhafte 5,4 Prozent. Wenn
Sie es negativ rechnen, dann stehen 700 Millionen Euro
Einnahmen 200 Millionen Euro Aufwand gegenüber;
das sind 30 Prozent. So viel Rechnen muss sein. Daran
werden wir arbeiten; denn das beste und effizienteste
System wird unsere Maßgabe sein.
Alle diejenigen, die das kritisieren, muss man fragen,
ob 500 Millionen Euro für die deutsche Infrastruktur zu
wenig sind, um sich auf den Weg zu machen.
({12})
Da wird die Frage sein, ob Sie den notwendigen Infrastrukturbeitrag anders darstellen können, ohne deutsche
Autofahrerinnen und Autofahrer zusätzlich zu belasten.
Wir werden in der Debatte sehr vernünftig darauf zu
achten haben, dass wir uns genau an diesen Maßgaben
orientieren.
Zu guter Letzt. Es ist als Teil einer modernen Infrastrukturfinanzierung über eine Nutzerfinanzierung nachzudenken. Wenn Sie eine noch weiter gehende Maut auf
allen Straßen - Kommunal-, Bundes- und Landesstraßen - nach Uhrzeit, nach Tageszeit getrennt, wollen,
dann dürfen Sie sich im Plenum nicht darüber beschweren, wenn der Minister liefert und wir Ihnen zusagen, dass
wir ein vernünftiges Gesetzgebungsverfahren durchführen, um den Koalitionsvertrag so umzusetzen, wie wir
ihn vereinbart haben. Nicht mehr und nicht weniger werden wir tun.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({13})
Danke schön, Herr Kollege Hartmann. - Nächster
Redner in der Debatte: Steffen Bilger für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich muss ehrlich sagen, dass wir uns in der Unionsfraktion eigentlich auf die Mautdebatten in dieser Woche gefreut haben und ein bisschen spekuliert haben: Wird
denn die Opposition eine Aktuelle Stunde dazu beantragen?
({0})
- Zumindest kann ich das für den Unionsteil der Koalition sagen. - Aber sie hat uns enttäuscht. Jetzt diskutieren wir zumindest in dieser Debatte über die Pkw-Maut.
Aber das zeigt vielleicht auch, dass die Luft schon ein
Stück weit raus ist, weil Erwartungen der Pkw-MautGegner nicht erfüllt wurden. Nach allem, was in den
letzten Monaten gesagt wurde - „nicht europarechtskonform“, „Quadratur des Kreises, die nicht funktionieren
wird“ -, zeigt sich, dass es anders aussieht und dass wir
ein vernünftiges Gesetz beschließen können, um die
Pkw-Maut in Deutschland einzuführen.
Liebe Frau Kollegin Wilms, ich finde es dann auch
nicht angemessen, von dummen Ideen und dummen Gesetzen zu sprechen. Wir machen eine vernünftige Lösung, die auch den Rückhalt in der Bevölkerung hat.
({1})
Den Linken will ich herzlich danken für den Antrag
und damit auch für die Gelegenheit, jetzt über den Gesetzentwurf, den wir alle offensichtlich kennen, zu diskutieren und uns darüber hier im Plenum auseinanderzusetzen.
Ich will mich auch auf Ihren konkreten Antrag beziehen; denn Sie stimmen in diesem Antrag beispielsweise
in den Chor der Kritiker ein, die sagen: Was soll das
denn mit der Pkw-Maut? Man sollte lieber die LkwMaut erhöhen. - In der Debatte darf man nicht vergessen: Das machen wir schließlich. Die Lkw-Maut - das
sage ich für alle, die das noch nicht mitbekommen haben - wird ausgeweitet.
({2})
Man kann es gar nicht oft genug sagen: Wir gehen die
Lücken in der Infrastrukturfinanzierung konsequent an.
Dem Bund fehlen laut den verschiedenen Expertenkommissionen rund 4 Milliarden Euro pro Jahr. Dieses Problem werden wir lösen; so ist es in der Großen Koalition
vereinbart. Das heißt: mehr Haushaltsmittel, 5 Milliarden Euro in dieser Legislaturperiode, geplant ab 2018
stetig 1,8 Milliarden Euro pro Jahr mehr aus dem Haushalt.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder
-bemerkung der Kollegin Wilms?
Ausgesprochen gern.
({0})
- Das ist die Wahrheit.
({1})
Bitte schön.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Kollege Bilger,
ich habe hier gerade eine Agenturmeldung, eine Meldung von AFP. Darin steht ganz deutlich: Die von Herrn
Dobrindt geplante Pkw-Maut stößt in der Bevölkerung
„überwiegend auf Ablehnung“. Wie passt denn das mit
den Aussagen zusammen, die Sie eben getroffen haben? - Laut dieser Agenturmeldung sprechen sich 54 Prozent der Befragten gegen die Einführung einer PkwMaut auf den Autobahnen aus.
Es gibt ja im Laufe einer solchen Debatte viele Erhebungen. Als die Diskussion über die Pkw-Maut begonnen hat, lag die Unterstützung in der Bevölkerung für
unser Gesetzesvorhaben bei 80 Prozent. Es mag sein,
dass durch diese Diskussion die Zustimmung etwas gesunken ist. Aber ich bin mir sicher, wenn wir uns in einem halben Jahr wieder darüber unterhalten, wird die
Zustimmung wieder deutlich gestiegen sein. Wir haben
auf jeden Fall dauerhaft eine Unterstützung in der Bevölkerung für das Vorhaben der Pkw-Maut. Das kann ich
Ihnen insbesondere als Baden-Württemberger sagen.
({0})
- Nun, lieber Herr Kollege Gastel, auch die Grünen in
Baden-Württemberg haben sich immer mal wieder für
Nutzerfinanzierung ausgesprochen, im Übrigen verbunden mit einem noch erheblicheren Aufwand - wenn wir
schon über Datenschutz sprechen -, mit streckengenauer
Abrechnung usw. Da sollten wir, glaube ich, bei der
Wahrheit bleiben.
({1})
Zurück zu den Zahlen und zu unserem Vorhaben, die
Infrastruktur in Deutschland vernünftig auszufinanzieren: Es geht, wie gesagt, um mehr Haushaltsmittel. Es
geht aber auch um die Ausweitung der Lkw-Maut. Bisher stehen uns rund 4,4 Milliarden Euro im Jahr zur Verfügung. Die Lkw-Maut wird auf die 7,5-Tonner ausgeweitet. Das bringt rund 300 Millionen Euro zusätzlich
pro Jahr ab 2016. Wir werden die Lkw-Maut auf vierspurige Bundesstraßen - das sind weitere 1 100 Kilometer - ausweiten. Das bringt 80 Millionen Euro ab 2015.
Schließlich werden wir sie ab 2018 auf alle Bundesstraßen ausweiten. Das wird etwa 2 Milliarden Euro pro Jahr
bringen.
Die Verkehrspolitiker kennen alle Schwierigkeiten,
die es bei der Umsetzung einer Ausweitung einer LkwMaut geben kann. Ich will aber noch etwas dazu sagen,
weil wir oft gefragt werden, warum das alles so lange
dauert, warum das nicht schneller geht. Wir machen es
so schnell wie möglich, aber es dauert einfach, bis ausgeschrieben ist, bis die Systeme errichtet sind. Die
Lkw-Maut wird so schnell wie möglich - wie ich es
eben dargestellt habe - ausgeweitet. Dann kommt noch
die Pkw-Maut mit Einnahmen von rund 500 Millionen
Euro im Jahr dazu.
Wenn man das alles zusammenrechnet - die 1,8 Milliarden Euro aus dem Haushalt, die zusätzlichen 2 Milliarden aus der Lkw-Maut, die 500 Millionen Euro aus
der Pkw-Maut -, dann sind das mehr als 4 Milliarden
Euro pro Jahr für die Infrastruktur. Damit schließen wir
die vorhin erwähnte, bisher bestehende Lücke.
Deshalb, meine Damen und Herren: Nach Jahren des
Redens über die mangelnde Finanzierung der Infrastruktur kann ich feststellen: Wir reden nicht nur, sondern wir
handeln auch. Wir packen die Probleme, die sich bisher
bei der Infrastrukturfinanzierung stellen, an.
({2})
In Ihrem Antrag äußern Sie größtes Verständnis für
die ausländischen Fahrzeughalter. Sie schreiben:
Ausländische Pkw zahlen in Deutschland etwa das
Doppelte an Mineralölsteuer, als ihnen an Wegekosten zugerechnet werden kann.
({3})
Ich muss sagen: Es ist ja schön, dass Sie so viel Verständnis für die ausländischen Pkw-Fahrer haben. Aber,
mit Verlaub, wen interessiert denn diese Frage in Österreich, in Frankreich oder in der Schweiz? Es ist eben
doch auch eine Frage der Gerechtigkeit. Und wir beenden jetzt die Benachteiligung der deutschen Autofahrer,
die lange Jahre bestanden hat.
({4})
Der Kollege Behrens von der Fraktion Die Linke
möchte Ihnen auch eine Zwischenfrage stellen.
So viele Zwischenfragen hatte ich noch nie.
Vielen Dank. - Herr Bilger, Sie haben gesagt, in Österreich gebe es ein vergleichbares System der MautHerbert Behrens
erhebung, über das Ausländer an der Finanzierung der
Straßen beteiligt werden. Ist neben Österreich noch ein
anderes europäisches Land genau in dieser Weise am
Start, wie es der Verkehrsminister Dobrindt versucht, der
die deutschen Autofahrer nicht über das hinaus belasten
will, was sie schon jetzt beitragen, sondern nur die ausländischen Fahrer belasten will? Gibt es ein vergleichbares Modell, das mir bislang verborgen geblieben ist?
Ihr Vergleich hinkt. Denn man muss ja sehen, dass die
österreichischen Autofahrer zwar natürlich auch in ihr
Mautsystem einzahlen, aber dadurch eine Entlastung des
österreichischen Steuerzahlers gegeben ist. Allein deswegen kann man nicht konstruieren, dass hier eine Diskriminierung von Haltern ausländischer Fahrzeuge stattfinden würde.
Wir haben bisher eine Benachteiligung der deutschen
Autofahrer; denn sie müssen in fast allen Nachbarländern bezahlen. Diese Benachteiligung werden wir jetzt
mit der Pkw-Maut beenden.
Ich will noch ein anderes Thema Ihres Antrags beleuchten.
({0})
Denn Sie sagen ja oft, sie würden dafür stehen, dass den
Menschen mit geringerem Einkommen Unterstützung
zukommt. Das stellen Sie oft in den Mittelpunkt Ihrer
Politik.
In Ihrem Antrag schlagen Sie jetzt aber vor, eine
Busmaut einzuführen.
({1})
Wir erinnern uns ja alle noch, dass wir uns bei der Reform des Personenbeförderungsgesetzes bewusst entschieden haben, keine Busmaut einzuführen, weil wir in
Zeiten von teurer Mobilität mit dem Auto, der Luftverkehrsabgabe und von nicht ganz billigen Zugtickets eine
kostengünstige Alternative bieten wollen. Deswegen haben wir mit der Liberalisierung des Fernbusverkehrs
eine Alternative geschaffen. Ich glaube, an einem Tag
wie heute kann man nur sagen, dass wir froh sein können
über dieses Erfolgsmodell Fernbusse, das eine gute und
vor allem eine kostengünstige Alternative darstellt. Insofern kann ich nicht nachvollziehen, dass ausgerechnet
die Linken sich jetzt für eine Busmaut aussprechen, die
dazu führen würde, dass die Fernbustickets teuer würden.
({2})
Der Fernbus ist eine hervorragende Ergänzung der
Mobilitätsangebote, die wir haben. Er ist insbesondere
für junge Menschen und für Menschen mit einem geringen Einkommen eine sehr gute Alternative. Vor diesem
Hintergrund halte ich Ihre Pläne für falsch. Ihr Antrag ist
zugegebenermaßen ja schon vor einigen Monaten gestellt worden, aber ich kann heute feststellen, dass Ihre
Befürchtungen allesamt nicht eingetreten sind. Im Gegensatz zu den Ausführungen in Ihrem Antrag ist die
vorgeschlagene Mautregelung europarechtskonform. Sie
entspricht den Vorgaben, auf die wir uns im Koalitionsvertrag verständigt haben.
Eines will ich auch noch einmal abschließend betonen.
Aber bitte abschließend.
Wirklich abschließend. - Alle, die sagen: „Das sind ja
nur 500 Millionen Euro“, sollten sich einmal in Erinnerung rufen, wie wir im Verkehrsausschuss oder in anderen Ausschüssen des Deutschen Bundestages um wenige
Millionen streiten. 500 Millionen Euro sind ein wesentlicher Beitrag, um bei der Infrastruktur in Deutschland
voranzukommen.
({0})
Danke, Herr Kollege Bilger. - Ich dränge, weil wir
heute noch eine sehr lange Tagesordnung haben.
Nächste Rednerin in der Debatte: Kirsten Lühmann
für die SPD.
({0})
Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Die Linke hat beantragt, dass wir heute eine
Debatte führen, um den Deutschen Bundestag über den
Stand der Beratungen zu ihrem Antrag zur Maut zu informieren. Herr Behrens, genau darum geht es und nicht
um den Inhalt Ihres Antrages. Diesen haben wir schon in
erster Lesung beraten und werden ihn später noch behandeln. Ich übernehme es sehr gerne, die anwesenden Kolleginnen und Kollegen, die nicht Mitglied im Verkehrsausschuss sind, darüber zu informieren, was wir zu
diesem Antrag schon alles gemacht haben. Wir haben
uns nämlich zusammengesetzt und besprochen, dass wir
eine Sachverständigenanhörung zur Pkw-Maut machen
wollen.
({0})
Der Sinn dieser Anhörung ist, die Frage „Maut oder
nicht Maut?“ zu klären. Wenn ich aber solch eine Frage
stelle und die Sachverständigen sie sinnvoll erörtern sollen, dann muss ich auch eine Alternative haben. Das
heißt, ich brauche einen Gesetzentwurf, der den Sachverständigen vorliegt und der etwas darüber aussagt, wie
eine Mautregelung aussehen könnte. Erst wenn ich beides habe, kann ich vernünftig entscheiden, ob eine PkwMaut Sinn macht oder ob sie keinen Sinn macht. Diese
Entscheidung, dass wir das zusammen beschließen wollen und dass wir zusammen die Anhörung machen wol5906
len, haben wir einvernehmlich getroffen, weil es richtig
ist.
({1})
Dass nun die Vorlage des Gesetzentwurfs nicht so zeitig erfolgte, wie wir es geplant haben, mag man bedauern,
ist aber eigentlich für den Fortgang des Gesetzgebungsverfahrens nicht besonders schlimm. Leider bestand darüber nach der Verlegung der Anhörung im Ausschuss
kein Konsens mehr. Wir sagen aber immer noch: Ja, natürlich werden wir Ihren Antrag debattieren, und wir
werden Ihren Vorschlag zusammen mit dem Vorschlag
des Ministers in einer Anhörung und dann in einer gemeinsamen Debatte hier im Hohen Hause behandeln,
weil es einfach sinnvoll ist, das so zu machen, Kollege
Behrens.
Die Anhörung ist auch deshalb für die SPD so wichtig, weil wir den Sachverständigen einige Fragen vorlegen wollen. Kollege Sebastian Hartmann hat das eine
oder andere angesprochen. Mir ist auch noch etwas anderes wichtig: Ich bekomme im Moment sehr viele
Briefe. Auch in den Bürgersprechstunden kommen die
Menschen zu mir und sagen: Wir glauben euch das nicht
so recht mit eurem Koalitionsvertrag. Ihr werdet dieses
Mautgesetz beschließen, aber die Entlastung über die
Kfz-Steuer wird dann nicht kommen.
({2})
Darum ist es für die Glaubwürdigkeit in diesem Hause
und auch für die Glaubwürdigkeit unserer Politik ganz
wichtig - weil wir Wort halten -, dass wir beides zusammen beschließen: zum einen das Mautgesetz und zum
anderen das Entlastungsgesetz.
({3})
Zum Datenschutz haben wir diverse Modelle und
auch Bundesverfassungsgerichtsurteile. Allerdings denke
ich, dass wir das ein oder andere noch einmal deutlicher
in dem Gesetzentwurf festschreiben müssen.
Ich denke hier insbesondere an Speicherfristen. Ich
glaube, wir sollten uns das eine oder andere Gerichtsurteil noch einmal ansehen und überlegen, ob man das
nicht anders regeln kann.
Aber die E-Vignette erfordert nicht nur Datenschutz,
sie erfordert auch neue Technik. Der Minister hat gesagt,
das Kraftfahrtbundesamt soll die Maut erheben und die
Bundesanstalt für Güterverkehr soll sie kontrollieren.
Beide Behörden brauchen dafür natürlich Fachpersonal.
Die Fachleute haben uns gesagt, dass es erhebliches Personal beanspruchen wird. Der Minister hat jetzt gesagt,
es gebe auch eine andere Lösung. Diese beiden Behörden könnten sich der Mitwirkung Dritter bedienen.
({4})
Was wir noch nicht festgelegt haben, ist die Frage: Wie
werden diese Dritten ausgewählt? Welche Kosten entstehen dadurch, auch für die Technik? Das Ziel - der Kollege Hartmann hat es noch einmal aus dem Koalitionsvertrag vorgelesen - ist, dass wir in dieser Legislaturperiode
mehr Geld für unsere bundeseigenen Straßen erlangen
wollen.
({5})
Dann darf dieses Geld nicht von den Investitionen für
Technik aufgefressen werden.
Zu der Europarechtskonformität wurde schon einiges
gesagt. Wir haben ein Gutachten. Es ist immer gut, eines
im Vorfeld erstellen zu lassen. Wir haben aber auch eine
neue Kommissarin. Violeta Bulc hat gesagt, dass sie sich
den Gesetzentwurf anschauen wird, wenn er denn durch
das Kabinett verabschiedet worden ist. Dann wird sie
mit ihrem Sachverstand entscheiden.
({6})
Ich glaube, es ist gut und richtig so, dass sie das in dieser
Reihenfolge macht.
Ich komme zu unserem Thema zurück: Wann manchen wir die Anhörung? Natürlich ist für uns und die
Sachverständigen auch diese Entscheidung von Frau
Bulc eine Grundlage. Wir können nicht vorher eine Anhörung machen. Ein Stochern im Nebel hilft uns bei der
Entscheidungsfindung nicht einen Deut weiter.
({7})
Das Fazit: Der Beschluss, die Expertenanhörung zu
verschieben, bis wir genug Fakten haben, die die Experten auch beurteilen können, war und ist richtig. Es bleibt
spannend.
Herzlichen Dank.
({8})
Danke, Frau Kollegin. - Letzter Redner in dieser Debatte ist Ulrich Lange für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ja, der Gesetzentwurf zur Maut ist da. Liebe Kollegin
Wilms, ob Sie ihn formal bekommen haben oder nur unformal gelesen haben,
({0})
gelesen haben Sie ihn, weil Sie lesen können und auch
über die modernen technischen Mittel verfügen.
({1})
Sie haben sich über diesen Gesetzentwurf gefreut, weil
Sie gar nicht geglaubt haben, dass er kommt - es ist wie
Weihnachten, wenn man hofft und wartet -, und wenn er
dann doch da ist, dann denkt man sich: Hurra, wie schön.
({2})
Herr Kollege Hartmann, ich mache es nicht oft, aber
ich muss wirklich sagen: Es hat mir und den Kollegen
richtig Spaß gemacht, Ihnen heute zuzuhören; denn es
war richtig gut.
({3})
Liebe Kollegen der Linken, zu dem, was Sie eigentlich diskutieren wollten, gibt es nichts zu sagen als: Guten Abend. Auf Wiedersehen. Das war die Debatte.
({4})
Lassen Sie mich doch noch ein paar Sätze anmerken.
Der Minister hat Wort gehalten. Der Gesetzentwurf liegt
auf dem Tisch. Das ist das Entscheidende.
({5})
- Ein Gesetzentwurf liegt auf dem Tisch,
({6})
ohne das formal bewerten zu wollen, liebe Kolleginnen
und Kollegen.
Es geht doch vor allem um eines: um die Parameter
unseres Koalitionsvertrages. Diese Parameter sind - ich
wiederhole sie gerne - nämlich zwei: mit EU-Recht vereinbar und keine Mehrbelastung für die deutschen Autofahrerinnen und Autofahrer. Genau das haben wir vorgelegt. Auch bei der Europarechtskonformität, liebe
Kollegin Wilms, wäre ich ganz beruhigt; denn auch
wenn die Kommissarin wechselt, die Generaldirektion
MOVE ist ja geblieben. Da wechselt ja nicht alles. Ich
sage auch ganz direkt, was mein Verständnis vom deutschen Gesetzgeber ist: Zunächst einmal machen wir hier
unsere Gesetze, bevor wir sie nach Europa tragen. Wir
sind nicht die Vollzieher Europas.
({7})
Meine Kolleginnen und Kollegen, nachdem vorhin
das Wort „Zwangsmaut“ gefallen ist, sage ich ganz deutlich: Es ist keine „Zwangsmaut“ und auch keine „Rachemaut“, sondern ganz klar eine Gerechtigkeitsmaut, die
wir hier einbringen.
({8})
Herr Kollege, erlauben sie eine Zwischenfrage von einem Kollegen der Linken? - Ja oder nein?
Ja, natürlich. Wir können doch noch länger reden.
Wunderbar!
Das möchte ich laut hören. - Sie denken, bitte schön,
an die lange Debatte, die wir heute noch haben.
Das müssen Sie dem Kollegen der Linken sagen.
Ja, das sage ich ihm ja.
Ich darf drei Minuten darauf antworten.
Sie dürfen selbstverständlich darauf antworten. Keine
Angst! Ich bin ganz gerecht - wie Ihre Maut.
({0})
Es ist schneller gefragt, Frau Präsidentin, als belehrt.
- Herr Kollege, wenn Sie denn von der Ernsthaftigkeit
des Unternehmens, das Sie hier vortragen, so überzeugt
sind und gewiss die Aussage des Bundesministers
Dobrindt unterstützen, dass die Maut ab 1. Januar 2016
- so seine Formulierung - „scharf geschaltet“ werden
soll, wie können Sie dann erklären, dass im Haushalt für
das Jahr 2015, über den wir noch in diesem Jahr abstimmen müssen, keinerlei Vorsorge für all die Momente
der umfangreichen technischen Erfassung getroffen
wird? - Solange Sie diese Frage nicht beantworten können - im Haushalt steht dazu nichts drin -, sind Ihre Belehrungen zur Zukunftsfähigkeit der Maut nichts wert.
({0})
Herr Lange, bitte.
Lieber Herr Kollege Claus, ich glaube, da können Sie
ganz beruhigt sein. Wir haben am 13. November die Bereinigungssitzung, und Sie können davon ausgehen, dass
da entsprechende Beschlüsse gefasst und die entsprechenden Mittel im Haushalt eingeplant werden. Ein
Blick in das Gesetz zeigt: Es tritt 2016 in Kraft. Ich wäre
da an Ihrer Stelle ganz beruhigt, dass wir das haushalterisch in den Griff bekommen. Wir arbeiten ja daran. Wir
freuen uns dann auf Ihre Unterstützung in der Bereinigungssitzung des Haushaltsausschusses. Wenn Ihre einzige Sorge ist, dass es formal noch nicht im Haushalt
steht, kann ich Ihnen sagen: Das werden wir am 13. November sicher klären können. Danke.
({0})
Herr Lange, Ihre Redezeit läuft weiter.
Ja. - Liebe Kolleginnen und Kollegen, 500 Millionen
Euro zusätzlich - das sind fast 10 Prozent unseres Straßenverkehrsetats. Wer hier also davon spricht, dass es
sich um „kein Geld“ handelt, der verkennt einfach den
Verkehrshaushalt.
({0})
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir 500 Millionen Euro zusätzlich an Steuermitteln verwenden würden, wäre das für alle Bürgerinnen und Bürger viel Geld. Auch das sollten wir in
diesem Zusammenhang respektieren.
({1})
Was uns sehr wichtig ist, ist die Zweckbindung der
entsprechenden Mittel - damit die Infrastrukturabgabe
auch in der Verkehrsinfrastruktur, nämlich bei den Straßen, landet. Genau das wollen und werden wir erreichen.
Nun, liebe Kollegin Wilms, müssen Sie noch fünf Minuten meinen Ausführungen zu den Daten zuhören.
Oh nein, fünf Minuten nicht - 58 Sekunden!
({0})
55 Sekunden zu den Daten. - Frau Wilms, passen Sie
mal auf. Wir saßen doch gemeinsam beim NDR. Da haben Sie zu mir gesagt: Wenn es doch wenigstens eine intelligente Maut wäre, mit der man steuern und erfassen
könnte, wie die Menschen auf der Straße unterwegs
sind! ({0})
Das ist doch Heuchelei. Wenn man solch ein System einführt, dann gilt: Big Toni is watching us.
({1})
- Natürlich! Das wäre die Überwachung à la Grüne.
({2})
Das ist genau die Art, auf die Sie den Menschen vorschreiben wollen, wie sie sich zu bewegen haben. Sie
wollen den Menschen vorschreiben, was sie zu essen haben, wann sie zu fahren haben. Nein, meine Damen und
Herren, so nicht! Das ist heuchlerisch.
({3})
Mit einem solchen System könnte man Bewegungsprofile erstellen. Und dann denken Sie doch mal bitte an Ihr
bürokratisches Monster Citymaut, das Sie auch noch in
Ihrem Köcher haben!
({4})
Ich würde an Ihrer Stelle etwas vorsichtiger sein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Pkw-Infrastrukturabgabe
({5})
hilft uns bei der Finanzierung. Sie ist ein Teil der Gerechtigkeit auf deutschen Straßen.
({6})
Dafür werden wir sie einführen.
Danke schön.
({7})
Vielen Dank, Herr Kollege Lange. - Ich schließe
diese lebhafte und lebendige Aussprache. Die Wette gilt,
Herr Holmeier: 50 Liter.
Ich bitte diejenigen, die der nächsten Debatte nicht
folgen wollen, die Plätze zu wechseln.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf - liebe Kollegen und Kolleginnen, ich bitte Sie, Platz zu nehmen -:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter
deutscher Streitkräfte an der von den Vereinten Nationen geführten Friedensmission in
Südsudan ({0}) auf Grundlage der Resolution 1996 ({1}) des Sicherheitsrates der
Vereinten Nationen vom 8. Juli 2011 und Folgeresolutionen, zuletzt 2155 ({2}) vom 27.
Mai 2014
Drucksache 18/3005
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({3})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre und
sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Die Debatte beginnt Dr. Ralf Brauksiepe, Staatssekretär, für die Bundesregierung.
({4})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen, wir haben in der Tat jetzt über ein trauriges Thema zu reden; denn drei Jahre nach seiner Unabhängigkeit befindet sich der Südsudan in einer politischen und humanitären Krise, und das trotz des starken
Engagements der internationalen Gemeinschaft. Liebe
Kolleginnen und Kollegen, ich betone nicht „wegen“,
sondern „trotz“ des starken Engagements der internationalen Gemeinschaft.
Wir haben es nicht zu verantworten, dass es so ist.
Wir haben an vielen Stellen Not und Leid lindern können. Das ist auch in Zukunft unsere Aufgabe und unsere
Verantwortung, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({0})
Seit Dezember 2013 kommt es zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Anhängern des Präsidenten
Kiir und des ehemaligen Vizepräsidenten Machar. Der
Konflikt zwischen Regierung und oppositionellen Rebellen hat sich auf große Teile des Landes ausgeweitet
und zu großem Leid geführt.
Über 10 000 Menschen sind ums Leben gekommen.
Von den Einwohnern Südsudans mussten mehr als 1,4
Millionen ihre Häuser verlassen. Sie befinden sich im eigenen Land auf der Flucht. 450 000 Südsudanesen sind
in die Nachbarländer geflohen. Mehrere Millionen Menschen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen.
Das ist eine traurige Entwicklung, wenn man an den
hoffnungsvollen Aufbruch vor drei Jahren denkt, als der
Südsudan nach einer langen Periode von Auseinandersetzungen in die Unabhängigkeit entlassen wurde und
die Hoffnung auf eine friedliche Entwicklung bestand,
die sich leider bisher nicht erfüllt hat.
Umso wichtiger ist es, dass die internationale Gemeinschaft und Deutschland als ein Teil dieser Gemeinschaft die Menschen im Südsudan unterstützen und hier
weiterhin Verantwortung übernehmen.
Die bisherigen Versuche der nordafrikanischen Regionalorganisation IGAD, einen längerfristigen Waffenstillstand und ein Friedensabkommen zu erreichen, waren leider wenig erfolgreich. Weder Präsident Kiir noch
sein früherer Vize Machar sind derzeit bereit, Zugeständnisse einzugehen und den Konflikt zu lösen. Vielmehr versuchen offensichtlich beide Seiten weiterhin,
ihre militärische Ausgangslage zu verbessern bzw. eine
militärische Konfliktlösung zu erreichen.
Auch wenn inzwischen die bewaffneten Auseinandersetzungen zurückgegangen sind, bleibt die Lage im Land
nach wie vor angespannt. Gerade die humanitäre und die
allgemeine Sicherheitslage haben sich im gesamten
Land massiv verschlechtert.
UNMISS nimmt derzeit den Schutz der Zivilbevölkerung sowie alle anderen Aufgaben des Mandats unter
schwierigen Bedingungen so gut wie möglich wahr.
Knapp 100 000 Menschen sind aktuell in UNMISS-Lagern untergebracht, wo die VN-Mission für die Sicherheit der Flüchtlinge garantiert.
Auf die bewaffneten Auseinandersetzungen hatte die
Mission der Vereinten Nationen im Südsudan unmittelbar reagiert und ihre Lager für alle um Schutz suchenden
Südsudanesen geöffnet und damit wahrscheinlich Tausende vor dem Tod bewahrt.
Für dieses schnelle und verantwortungsvolle Handeln, liebe Kolleginnen und Kollegen, gebühren allen
Angehörigen der Mission unsere Anerkennung und unser herzlicher Dank.
({1})
Auch der Sicherheitsrat hat konsequent auf die
Entwicklungen im Südsudan reagiert. In der Sicherheitsratsresolution 2155 sind die Aufgaben von UNMISS
deutlich gestärkt und klar auf den Schutz der Zivilbevölkerung ausgerichtet worden. Die Zahl der maximal einzusetzenden Soldaten wurde deutlich von bisher 7 000
auf 12 500 angehoben.
Wie gefährlich dieser Einsatz für die VN-Friedenstruppen ist, wird anhand der Geschehnisse im
UNMISS-Lager in Bor am 17. April dieses Jahres
deutlich. Dort versuchten bewaffnete Rebellen, das
UNMISS-Camp zu stürmen, um Flüchtlinge anzugreifen. Nur durch den Gebrauch ihrer Waffen konnten die
Peacekeeper verhindern, dass es zu einer Katastrophe
kam. Das heißt: Nur durch die Entsendung bewaffneter
Soldaten und die Ausstattung mit einem robusten Mandat durch den Sicherheitsrat kann die Zivilbevölkerung
wirklich wirksam geschützt werden.
Angesichts dieser schwierigen Lage im Südsudan und
der zahlreichen Herausforderungen, mit denen sich die
VN-Friedensmission konfrontiert sieht, ist es deshalb
umso wichtiger, dass Deutschland einen Teil zur Lösung
des Konflikts beiträgt und sich wie bisher im Rahmen
der Vereinten Nationen engagiert. Wir sind seit Beginn
der Mission UNMISS als Bundesrepublik Deutschland
beteiligt. Wir haben uns mit Einzelpersonal in den Führungsstäben der Mission und mit Verbindungsoffizieren
beteiligt, zuletzt mit 16 Soldatinnen und Soldaten und
7 Polizistinnen und Polizisten. Sie verrichten ihren Auftrag häufig abseits der medialen Aufmerksamkeit, aber
hochprofessionell im Sinne der Sache.
Ich möchte allen unseren Soldatinnen und Soldaten
sowie den eingesetzten Polizistinnen und Polizisten bei
UNMISS meine - und ich hoffe unser aller - Hochachtung für ihr bemerkenswertes Engagement und für ihre
Professionalität aussprechen.
({2})
Mit unserer fortgesetzten Beteiligung im Rahmen von
UNMISS - auch künftig soll die Obergrenze bei 50 Soldatinnen und Soldaten liegen - setzen wir ein deutliches
Zeichen, dass wir bereit sind, unserer Verantwortung in
den VN-Missionen in Afrika weiterhin nachzukommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte dafür um Zustimmung.
Danke.
({3})
Vielen Dank, Herr Kollege Brauksiepe. - Nächster
Redner in der Debatte: Jan van Aken für die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wieder
einmal steht die Verlängerung der Teilnahme der
Bundeswehr am UNMISS-Einsatz im Südsudan auf der
Tagesordnung. Wieder einmal werben Sie hier mit viel
Schönrednerei, aber auch mit einer gehörigen Portion
Selbsttäuschung, Herr Brauksiepe, um Zustimmung.
Unsere Zustimmung werden Sie dafür allerdings nicht
bekommen.
({0})
Sie weisen hier auf die vielen Probleme, die es im
Südsudan gibt, aber auch auf die Schwierigkeiten bei der
Beendigung von Gewalt und auf den notwendigen
Friedensprozess hin. Aber eine Sache blenden Sie alle
völlig aus, nämlich die Tatsache, dass UNMISS das völlig falsche Instrument war und ist, um die Krise im
Südsudan zu bewältigen.
({1})
UNMISS war von Anfang an ein Mandat mit Schieflage.
Die Mission wurde 2011 eingerichtet, um die südsudanesische Regierung dabei zu unterstützen, Stabilität zu
schaffen und den Friedensprozess voranzubringen. Das
hatte aber von vornherein zwei ganz große Haken.
Erstens. Stabilität und Frieden können nicht militärisch erkämpft werden, sondern nur durch eine aktive
Friedenspolitik, durch Dialog, durch soziale, durch wirtschaftliche Entwicklung erreicht werden.
({2})
Zweitens gibt es ein ganz zentrales Problem: Die
südsudanesische Regierung unter Salva Kiir ist, damals
wie heute, Teil des Problems im Südsudan. Sie selbst ist
eine der größten Bedrohungen für die Zivilbevölkerung
im Sudan.
({3})
Bis heute jedoch braucht UNMISS für jeden einzelnen
Schritt die Genehmigung genau dieser südsudanesischen
Regierung. Das kann nicht funktionieren.
({4})
Unter den Augen von mehreren Tausend UN-Soldaten und Zivilpersonal eskalierte im letzten Dezember die
Situation aufgrund eines Konfliktes innerhalb der Regierung. Seitdem kämpfen abtrünnige Milizen gegen die
Zentralregierung. Mittlerweile sind 3,5 Millionen Menschen im Südsudan auf humanitäre Hilfe angewiesen,
450 000 Menschen sind in Nachbarstaaten geflohen,
1,3 Millionen Menschen sind auf der Flucht innerhalb
des Südsudan und 100 000 von ihnen haben Zuflucht bei
UNMISS gesucht.
({5})
Aber an diesem Punkt haben wir ein echtes Problem:
UNMISS ist bis heute nicht auf die Versorgung von so
vielen Menschen eingestellt. Überflutungen, drohende
Krankheitsausbrüche, Mangelernährung und Gewalt all das sind alltägliche Probleme, auf die UNMISS überhaupt nicht eingestellt ist, mit der sie überhaupt nicht
umgehen kann.
Als Reaktion auf die Eskalation im letzten Dezember
haben Sie das Mandat deutlich verändert: mehr Soldaten, weniger Staatsaufbau. Wir lehnen diesen Fokus auf
das Militärische einfach ab.
({6})
Die UNO sitzt im Südsudan mittlerweile zwischen allen Stühlen: Die Regierung wirft UNMISS vor, die Opposition zu unterstützen, unter anderem dadurch, dass sie
auch Rebellen in den Flüchtlingslagern unterbringt. Die
Rebellen wiederum werfen UNMISS vor, die Regierung
zu unterstützen und Regierungstruppen per Hubschrauber zu transportieren. Das ging so weit, dass sie sogar einen UNMISS-Hubschrauber abgeschossen haben. Und
die Zivilbevölkerung hat überhaupt kein Vertrauen mehr
in UNMISS, weil UNMISS sie eben nicht vor den Gewalttaten der Regierungstruppen schützt.
({7})
Das ist das große Drama von UNMISS im Moment.
Anstatt jetzt so weiterzumachen und sich wieder einmal mit ein paar Soldaten und ein paar Polizisten aus der
Verantwortung zu stehlen, sollte die Bundesregierung
endlich einmal wirklich Verantwortung übernehmen. Da
können Sie vieles tun und auch viel Gutes tun:
Erstens. Warum unterstützen Sie eigentlich nicht die
Forderung von 50 zivilgesellschaftlichen Organisationen
nach einem vollständigen Waffenembargo? Waffen und
Munition kommen immer noch in dieses Land, auch direkt an die südsudanesische Regierung. Machen Sie sich
doch als Bundesregierung diese Forderung zu eigen!
({8})
Sorgen Sie dafür, dass der Zufluss an Waffen und Munition in den Südsudan gestoppt wird!
Zweitens. Stärken Sie die zivilgesellschaftlichen Organisationen im Südsudan! Die gibt es; die gibt es immer noch. Es ist doch gerade die Jugend im Südsudan,
die die Zukunft darstellt. Diese Jugend brauchen wir in
Zukunft. Diese Jugend braucht auch jetzt internationale
Unterstützung.
({9})
Drittens und letztens. Vergessen Sie nicht, dass der
Bürgerkrieg nicht überall ist. Unterstützen Sie doch vor
allem die Regionen, in denen momentan nicht gekämpft
wird, in denen auch die Dinka und die Nuer, die verschiedenen Volksgruppen, friedlich zusammenarbeiten.
Wenn die Unterstützung dieser Regionen ein Erfolg
wird, wenn in diesen Regionen Entwicklung funktioniert, dann können sie beispielgebend für den ganzen
Südsudan sein.
Deshalb sage ich Ihnen: Sie können im Südsudan im
Moment sehr viel Gutes tun. Das Militärische gehört
nicht dazu.
({10})
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland
keine Waffen exportieren sollte, natürlich auch nicht in
den Südsudan.
({11})
Vielen Dank, Herr Kollege van Aken. - War das jetzt
eine Wortmeldung?
({0})
- Gut. Ich glaube, Sie hätten sich deutlicher gemeldet.
Ich wusste nicht, ob die Handbewegungen etwas zu bedeuten hatten.
({1})
Gut. Offensichtlich war das keine Wortmeldung.
Nächster Redner: Thomas Hitschler für die SPD.
({2})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir beraten heute über eine deutsche Beteiligung an einer Mission der Vereinten Nationen. Eine
Mission in einem Konflikt, der in der öffentlichen Wahrnehmung wenig präsent ist, der es nicht in die alltäglichen Schlagzeilen schafft, aber dennoch so grausam ist
und unglaubliches menschliches Leid verursacht. Ein
Konflikt, bei dem auch wir Verantwortung übernehmen
müssen.
Die Geschichte des Südsudan ist keine friedliche;
aber gerade in den letzten Jahren waren Hoffnungen und
fürchterliches Leid eng beieinander. Was als Auseinandersetzung zwischen Präsident und Vizepräsident angefangen hat, hat sich schnell militarisiert, als sich Teile
der Streitkräfte auf verschiedene Seiten geschlagen
haben. In der Folge steht der Südsudan, dieser junge
Staat, der 2011 in die UN-Familie aufgenommen wurde,
derzeit dem Scheitern näher als der erfolgreichen Staatsbildung.
Perfiderweise wurden politische Konflikte mittlerweile auf die Ebene des Zusammenlebens unterschiedlicher Volksgruppen verschoben. Und inzwischen ist der
Konflikt zu einem Bürgerkrieg zwischen zwei Ethnien,
den Nuer und den Dinka, geworden, der die Gesellschaft
des Südsudan zerrissen hat.
Die Folgen: Hunderttausende Menschen sind innerhalb des Landes auf der Flucht, und viele Ausländer haben das Land verlassen. Hunger geht um und bedroht
nach Oxfam-Schätzungen bis zu 2 Millionen Menschen.
Vergewaltigungen und der Einsatz von Kindersoldaten
sind alltäglich geworden. Gleichzeitig wird der Südsudan massiv beeinflusst von den Interessen größerer
Nachbarstaaten, was eine diplomatische Lösung nicht
unbedingt erleichtert.
Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat auf
diese Entwicklung entsprechend reagiert und den Fokus
von UNMISS in der Resolution 2155 angepasst: Der
Auftrag von UNMISS ist nun verstärkt der bessere
Schutz von Zivilisten, von Flüchtlingen, von humanitären Helferinnen und Helfern. Die Zahl der Blauhelmsoldaten im Land wird auf 12 500 erhöht. Damit bewegt
sich UNMISS vom ursprünglichen Auftrag, festgelegt in
der Resolution 1996, ein gutes Stück weit weg. Nach
dieser Resolution sollte UNMISS nämlich der Unterstützung des Südsudans beim Aufbau staatlicher Institutionen dienen. Dass dieser Wechsel notwendig geworden
ist, ist zutiefst bedauerlich. Dass auf eine verschlechterte
Situation reagiert wird, ist allerdings nachvollziehbar.
Die Verschiebung der Konfliktlinie auf die Ebene der
ethnischen Zugehörigkeit erschwert die Konfliktbewältigung in besonderer Weise. Selbst wenn es zu einem politischen Friedensschluss kommt, werden die zwischen
den Volksgruppen aufgerissenen Gräben noch lange
wahrgenommen werden. Zu viel Blut ist dafür mittlerweile geflossen. So wurde erst im April dieses Jahres
- der Staatssekretär hat es berichtet - ein Lager der Vereinten Nationen in der Stadt Bor angegriffen. In diesem
Lager lebten 5 000 Flüchtlinge, als eine Gruppe von
Männern, die vorgeblich eine Friedenspetition übergeben wollten, plötzlich das Feuer auf unbewaffnete
Männer, Frauen und Kinder eröffnete. Dabei starben
48 Menschen. Und diese Menschen, liebe Kolleginnen
und Kollegen, glaubten sich bereits in Sicherheit. Auch
diese neue Form der Brutalität zwingt uns dazu, weiterhin Verantwortung zu übernehmen.
Meine Damen und Herren, ein Abflauen der Kampfhandlungen im Südsudan, wie es in den vergangenen
Wochen feststellbar war, zeigt nach Einschätzung der
Mehrzahl der Experten leider keine Entspannung der
Situation. Dies ist vielmehr jahreszeitlich bedingt. Die
Regenzeit hat Teile des Landes unpassierbar und für
größere militärische Kampagnen ungeeignet gemacht.
Aber die Regenzeit endet in diesem Monat.
Vor diesem Hintergrund, Kolleginnen und Kollegen,
ist unsere Aufgabe am heutigen Abend, über eine Verlängerung des Mandats zur deutschen Beteiligung an
UNMISS zu entscheiden. Mit unserem deutschen Beitrag übernehmen wir dabei Verantwortung. Derzeit tragen 16 Soldaten und 7 Polizisten vor Ort zum Schutz
von Zivilpersonen und humanitären Helferinnen und
Helfern bei. Dabei handelt es sich nicht um kämpfende
Einheiten, sondern um solche, die Führungs- und Unter5912
stützungsaufgaben wahrnehmen und ihren internationalen Kameradinnen und Kameraden bei technischer Ausstattung und Ausbildung helfen.
Die Kosten für diesen Einsatz - für das kommende
Kalenderjahr auf etwa 1 Million Euro beziffert - sind zu
vernachlässigen angesichts dessen, was durch UNMISS
erwirkt werden kann und was UNMISS in der Tat bereits
geleistet hat.
({0})
Ich bin dem deutschen Kontingent für die Erfüllung
der dortigen Aufgabe sehr dankbar. Sie sind nicht nur
umgeben von schrecklichem menschlichen Leid, sondern arbeiten dort gemeinsam mit vielen anderen Nationen daran, ein Land aufzubauen, das eine gute Zukunft
mehr als verdient hat. Lassen Sie uns mit der heutigen
Entscheidung auch ein Signal der Unterstützung für die
Polizisten und Soldaten vor Ort geben. Das haben sie
mehr als verdient, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({1})
Wir alle wissen - da stimme ich Herrn van Aken zu -,
dass militärisches Engagement diesen Konflikt nicht beenden wird. Die Ursachen des Konflikts sind viel zu differenziert, historisch zu tief verwurzelt und regional zu
weit verteilt. Zur Lösung des Konflikts sind diplomatische Initiativen, die auch auf die Anrainerstaaten des
Südsudan und deren Partikularinteressen eingehen, sehr
notwendig. Zu einer dauerhaften Verbesserung der Lage
der Menschen im Südsudan ist der Aufbau eines funktionierenden und demokratischen Staatswesens, ja von Institutionen und Strukturen notwendig. Diese müssen
kommen, und dazu wird auch unser Land einen wichtigen Beitrag leisten. Davon bin ich fest überzeugt.
Für mich ist die Beteiligung an dieser Mission auch
ein gutes Beispiel. Die Beteiligung zeigt, was mit den
schwierigen Worten „Verantwortung in der Welt“ gemeint sein kann. Dies bedeutet eben nicht nur mehr
Kampfeinsätze, sondern vor allem humanitäre Verantwortung,
({2})
Unterstützung beim Aufbau von Staaten und Hilfe zur
Selbsthilfe sowie gleichzeitig - das darf auch nicht vernachlässigt werden - Schutz von Menschen, die Hilfe
geben wollen. Auch deshalb bitte ich Sie, der Mandatsverlängerung zuzustimmen.
Erlauben Sie mir, einen letzten Aspekt hinzuzufügen.
Die Bevölkerung im Südsudan hat ein Trauma erlitten,
dessen Folgen noch in Generationen spürbar sein werden. Daher müssen die Menschen, die unter diesem
Konflikt gelitten haben, dringend auch Zugang zu Betreuungsmechanismen bekommen, welche helfen, die
zwischenmenschlichen Konflikte zu lösen. Institutionen
der Aussöhnung zwischen den Ethnien und den Bürgerkriegsparteien müssen gebildet und unterstützt werden,
um zu verhindern, dass aus Feindschaft Tradition wird.
Gerade wir Europäer können auch in diesem Jahr deutlich bestätigen, wie wichtig ein solcher Prozess ist.
All dies muss geleistet werden, damit die Menschen
im Südsudan eine Zukunft haben, an der sie arbeiten
können, anstelle einer Gegenwart, in der sie kämpfen
müssen. Dafür braucht es zunächst jedoch Sicherheit
und Stabilität. Hier sind wir an dem Punkt angekommen,
wo unsere Zustimmung zum Mandat wichtig wird. Was
militärisches Engagement nämlich leisten kann und derzeit dringend leisten muss, ist der Schutz der Bevölkerung, die allein durch die Zugehörigkeit zu bestimmten
Volksgruppen unfreiwillig zu Bürgerkriegsparteien
geworden sind. Diese Menschen haben sicher kein Interesse daran, dass ihr gerade einmal drei Jahre altes
Heimatland verwüstet und auseinandergerissen wird. Für
diese Menschen wollen wir gemeinsam mit anderen
Nationen eine Umgebung errichten, in der ein friedvolles Zusammenleben möglich ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist nach derzeitigem Stand nicht wahrscheinlich, dass der Konflikt im
Südsudan den Rest der Region in Flammen setzt. Die
Welt der Menschen im Südsudan selbst steht aber bereits
in Flammen. Auch für diese Menschen bitte ich heute
um Ihre Zustimmung zur Verlängerung des Mandats für
den deutschen Beitrag zu UNMISS. Ein Sprichwort aus
der Region lautet: Die beste Zeit, einen Baum zu pflanzen, war vor 20 Jahren. Die nächstbeste Zeit ist jetzt.
Vielen Dank.
({3})
Vielen herzlichen Dank, Herr Kollege Hitschler. Nächster Redner in der Debatte: Dr. Frithjof Schmidt für
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Vereinten Nationen stufen die Lage im Südsudan als
eine der vier schwersten humanitären Krisen auf dieser
Welt ein. Gemeinsam mit Syrien, dem Irak und der Zentralafrikanischen Republik gilt der Südsudan als sogenannter Level-3-Notfall. Das ist die höchste Alarmstufe
der UNO. Insofern ist es unabdingbar, dass die UNO in
einer solchen Situation interveniert.
Es ist auf der anderen Seite erschreckend, dass der
Südsudan schon fast wieder aus dem Fokus der internationalen Öffentlichkeit und Aufmerksamkeit verschwunden ist. Man nennt das den CNN-Effekt: Wenn CNN
nicht mehr berichtet, dann haben wir es mit einer schon
fast wieder vergessenen Krise zu tun. Vergegenwärtigen
Sie sich einmal die Berichterstattung: Das Thema
kommt eigentlich fast nicht mehr vor, obwohl sich seit
Dezember ein Bürgerkrieg entwickelt hat. Die Zahlen
sind genannt worden: Knapp 1,9 Millionen Menschen
wurden vertrieben oder mussten in die Nachbarstaaten
flüchten. 3,8 Millionen Menschen sind schon auf humanitäre Hilfe angewiesen. Es fehlt am Nötigsten. Und
UNICEF warnt davor, dass in den nächsten Monaten allein 50 000 Kinder vom Hungertod bedroht sind.
Deswegen kann man die Arbeit der Vereinten Nationen nicht hoch genug einschätzen. Man muss klar sagen:
UNMISS leistet vor Ort einen unverzichtbaren Beitrag
zum Schutz der Zivilbevölkerung und zur Verteilung der
humanitären Hilfe.
({0})
Ja, es stimmt, auch UNMISS hat große Probleme. Ja,
es stimmt, UNMISS schafft es leider nicht, alle Flüchtlinge zu schützen. Gerade auch in Bezug auf die von den
Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei vorgebrachten Argumente möchte ich sagen: Fakt ist, mehr als
100 000 Flüchtlinge sind in UNMISS-Camps geflüchtet
und haben dort Schutz gefunden.
({1})
Das alleine ist doch Grund genug für eine Fortsetzung
dieses Einsatzes. Insofern ist es notwendig, diesem Einsatz zuzustimmen. Ich kann nur sagen: Ein Abzug oder
auch nur eine Schwächung von UNMISS hätte grauenvolle Konsequenzen für diese Menschen.
Natürlich wird UNMISS alleine keine dauerhafte Lösung erreichen. Klar ist, ein Ende der Krise und das Ende
der Gewalt können nur durch einen politischen Prozess,
der alle Konfliktparteien mit einbezieht, herbeigeführt
werden. Dabei ist auch die Bundesregierung gefordert.
Sie muss sich energisch dafür einsetzen, dass der UN-Sicherheitsrat endlich ein Waffenembargo beschließt. Die
Europäische Union ist dabei soeben vorangegangen, und
die UNO sollte folgen.
({2})
Die Vereinten Nationen beklagen außerdem seit langem einen eklatanten Personalmangel. Wir sollten also
prüfen, ob wir die Mandatsobergrenze nicht ausschöpfen
können. Auch im Bereich der Polizei sollten wir die Anstrengungen deutlich verstärken. Die UNO ist da in ihren
Bitten und Wünschen sehr deutlich.
({3})
Doch vor allem sollte Deutschland noch mehr Verantwortung bei der Bekämpfung der humanitären Krise
übernehmen. Die Vereinten Nationen rechnen für dieses
Jahr mit Kosten von 1,8 Milliarden US-Dollar für humanitäre Nothilfe im Südsudan. Davon sind gerade einmal
62 Prozent finanziert. Deutschland stellt dafür im Augenblick 16,6 Millionen Euro zur Verfügung. Das ist
deutlich weniger als das, was Großbritannien, Japan oder
Dänemark zur Verfügung stellen. Ich finde, hier kann
und muss unser Land mehr leisten.
({4})
Dafür und auch für das vorliegende Mandat für die
Bundeswehr haben Sie unsere politische Unterstützung.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({5})
Vielen Dank, Frithjof Schmidt. - Letzter Redner in
dieser Debatte: Roderich Kiesewetter für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin dem Kollegen Frithjof
Schmidt ausdrücklich dankbar, nicht nur für seine Anregung hinsichtlich der Obergrenzen, sondern auch dafür,
dass hier im Hause ein sehr breiter Konsens für das
UNMISS-Mandat vorhanden ist. Dafür danke ich ausdrücklich Ihrer Fraktion.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, am 8. Juli
2011 wurde das UNMISS-Mandat von den Vereinten
Nationen beschlossen. Das war einen Tag vor der Unabhängigkeit des Südsudan. Es ist außergewöhnlich selten,
dass die Vereinten Nationen ein Mandat vor der Gründung eines Staates ins Leben rufen. Das zeigt auch, wie
ernst die Vereinten Nationen diese Staatenbildung nehmen. Ich erinnere mich noch sehr intensiv, mit welcher
Ernsthaftigkeit wir - die eine oder andere Kollegin und
der eine oder andere Kollegen und ich - im Unterausschuss für Zivile Krisenprävention im Jahr 2011 die Teilung des Sudan verfolgt haben, mit welchen Befürchtungen wir das damals beraten haben. Ich muss sagen: Viele
der Befürchtungen sind eingetreten. Dass es uns aber gelungen ist, ein Mandat - auch von deutscher Seite - bereits im Jahr 2011 einzurichten, zeugt von der Handlungsfähigkeit des Bundestages, meine sehr verehrten
Damen und Herren.
Ich möchte deshalb auch klarstellen, dass das, was
hier heute von der Linkspartei vorgestellt wurde,
schlichtweg falsch ist. Die Vereinten Nationen verfolgen
hier kein militärisches Mandat, sondern Militär leistet
Unterstützung im Rahmen eines ganzheitlichen Ansatzes.
({0})
Ich will das auch von der deutschen Seite her deutlich
machen. Die militärische Seite des Mandats kostet uns
etwa 1 Million Euro; zumindest wurde das in den Haushaltsberatungen für 2015 veranschlagt. Zeitgleich wenden wir 40 Millionen Euro auf für humanitäre Hilfe, für
Nothilfe im Bereich des Welternährungsprogramms und
für die Unterstützung von NGOs. Ein Verhältnis von
1 zu 40! Nennen Sie mir einen Einsatz, wo dieses Verhältnis noch einmal erreicht wird! Ich sage, hier wird
ausdrücklich deutlich, dass die Bundesrepublik Deutsch5914
land den Schwerpunkt ihrer Förderung eindeutig auf die
zivile Unterstützung legt.
({1})
Was leisten wir Deutsche noch? Ich möchte hier die
Afrikapolitischen Leitlinien der Bundesregierung ansprechen, die im Frühjahr dieses Jahres verabschiedet
worden sind. Klar, sie sind ein erster Schritt, sie umfassen gerade einmal 17 Seiten, aber sie machen eines deutlich: Wir wollen die Eigenverantwortung Afrikas stärken
und auf der anderen Seite gute Regierungsführung unterstützen.
Afrika ist ein Kontinent, der ungeheuer im Umbruch
ist. Zurzeit leben in Afrika etwas mehr als 1 Milliarde
Menschen. Zum Ende dieses Jahrhunderts sollen dort
knapp 4 Milliarden Menschen leben, mehr als dreimal so
viele wie jetzt. Wie wollen wir denn dafür Sorge leisten,
wenn nicht dadurch, dass wir bereits jetzt im Sinne dieser Leitlinien mit der Stärkung der Eigenverantwortung
und der Stärkung der jeweiligen Zivilgesellschaften beginnen?
Die Afrikapolitischen Leitlinien verweisen ausdrücklich auch auf den Südsudan; aber sie reichen natürlich
bei weitem nicht aus. Deshalb rege ich an, dass wir auch
im Rahmen des Weißbuch-Prozesses stärker den Fokus
darauf richten, mit welchen Partnern wir zusammenarbeiten wollen. Wir müssen in Afrika die Partner - sei es
in der Zivilgesellschaft, sei es in den Regierungen -, die
unterstützend wirken, stabilisieren. Dazu dienen einerseits die Einsätze; viele Einsätze der Bundeswehr werden in diesen Regionen durchgeführt. Zum anderen gehen auch unterstützende Leistungen, wie wir sie bei
Ebola erleben, eindeutig in diese Richtung.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie deshalb auch Afrika
Teil unserer strategischen Überlegungen im WeißbuchProzess werden. Hier geht es auch darum, welche Aufgaben wir beispielsweise im Südsudan erfüllen wollen,
wie wir die regionale Einbindung des Südsudans sichern
wollen, im Übrigen auch, wie wir die rund 75 Prozent
Christen unter den 11 Millionen Einwohnern vor einem
zunehmenden Salafismus, zunehmenden Islamismus
auch im afrikanischen Raum schützen können.
Ein Letztes. Am Sonntag feiern wir den 25. Jahrestag
des Mauerfalls. Die Barrieren heute sind außerhalb
Europas. Wir müssen alles dafür tun, dass die Barrieren
außerhalb Europas nicht zu einer neuen Mauer werden.
({2})
Nehmen wir Deutsche den 25. Jahrestag des Mauerfalls
zum Anlass, auch darüber nachzudenken, wie wir als
Europäer aktiv daran mitwirken können, dass Afrika
nicht ein Kontinent der Abschottung wird, sondern ein
Kontinent der Teilhabe. Das ist Sicherheitspolitik von
morgen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({3})
Vielen Dank, Herr Kollege Kiesewetter.
Ich schließe die sehr intensive und sehr nachdenkliche Aussprache. Da wir heute nicht abstimmen, sondern
interfraktionell beschlossen worden ist, die Überweisung
der Vorlage auf Drucksache 18/3005 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorzunehmen, gehe
ich davon aus, dass Sie damit einverstanden sind. - Das
ist der Fall. Dann ist damit die Überweisung beschlossen.
Bevor ich den Tagesordnungspunkt 13 aufrufe, bitte
ich darum, die Plätze zügig zu wechseln. Auch Ihnen
wünsche ich noch einen schönen Restabend.
({0})
- Ja, wir sehen uns gleich wieder.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und
Energie ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Jürgen Trittin,
Agnieszka Brugger, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kündigung des bilateralen Atomabkommens
mit Brasilien
Drucksachen 18/2610, 18/2907
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre, ich
sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich gebe das Wort der ersten Rednerin in der Debatte,
Dr. Nina Scheer für die SPD-Fraktion.
({2})
Sehr geehrte Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen
und Kollegen! Schon zum zweiten Mal in dieser Legislaturperiode haben wir dieses doch wichtige Thema auf
der Tagesordnung: eine Überprüfung der bilateralen
Atomabkommen, nun den Fall des deutsch-brasilianischen Abkommens. Ich möchte an dieser Stelle wiederholen, dass ich es wichtig finde, dass die Atomabkommen auf den Prüfstand kommen. Es ist an dieser Stelle
aber auch festzustellen, dass es uns nicht gelingen wird,
Ihrem Antrag dahin gehend zu entsprechen, dass
Deutschland eine Kündigung dieses Vertrages herbeiführt. Dazu möchte ich Folgendes ausführen.
Es steht fest, dass wir aus heutiger Sicht das 1975 geschlossene Atomabkommen so nicht mehr gutheißen
können. Es stammt aus einer Zeit, in der Deutschland
noch nicht den Atomausstieg beschlossen hatte, und ist
natürlich in diesem Lichte zu sehen. Konsequenterweise
muss natürlich eine Betrachtung des Atomabkommens
aus heutiger Sicht zu der Einsicht führen, dass es so
nicht aufrechterhalten werden kann bzw. überprüft werden muss. Ich schließe allerdings auch daraus, dass man
in der Gemengelage, in der wir stecken, den Blick auf
Elemente des Atomabkommens richten sollte, die möglicherweise beinhalten könnten, einen Informationsfluss
mit Brasilien aufrechtzuerhalten und damit einen Rahmen zu gewinnen, wodurch dazu beigetragen werden
kann, mit den Folgelasten von Atomenergienutzung in
Brasilien verantwortlich umzugehen.
({0})
Ich weiß nicht, ob dies der Inhalt eines abzuändernden
und anzupassenden Atomabkommens sein könnte und
ob so etwas Bestand haben könnte. Wenn das aber möglich wäre, dann müssen wir uns dem stellen. Insofern
finde ich es wichtig, dass ein regierungsinterner Austausch darüber stattfindet, ob nicht dieses Atomabkommen und auch andere Atomabkommen dahin gehend
überarbeitet werden müssen. Wenn man in einem entsprechenden Abstimmungsprozess zu einem Ergebnis
gekommen ist, sind daraus dann auch die richtigen Konsequenzen zu ziehen. Ich plädiere dafür, dass dieser Austausch offen geschieht. Offen heißt auch, dass möglicherweise weitere Kündigungen in Betracht gezogen
werden müssen. Wir haben in der Vergangenheit auch
schon einmal eine Kündigung vorgenommen. Aber die
Wahrheit ist auch, dass unter Rot-Grün nur ein einziges
Atomabkommen gekündigt wurde. Wir haben, wenn ich
das jetzt richtig zusammenzähle, 183 Atomabkommen.
All das ist, wie gesagt, bis heute nicht abschließend
geklärt. Insofern hoffe ich, dass wir zu einer Klärung
kommen; denn den Status quo aufrechtzuerhalten finde
ich wie Sie nicht gut.
Vielen Dank.
({1})
Danke, Frau Kollegin Scheer. - Nächster Redner in
der Debatte: Hubertus Zdebel für Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Das Atomabkommen zwischen Deutschland und Brasilien wurde vor nunmehr 39 Jahren während der Militärdiktatur in Brasilien unterzeichnet. Alle fünf Jahre verlängert sich der Vertrag automatisch um weitere fünf
Jahre, solange ihn keiner der zwei Staaten kündigt.
Zum 18. November dieses Jahres, also in einigen Tagen, könnte die Bundesregierung das Abkommen per
diplomatischer Note kündigen. Es würde dann zum
18. November nächsten Jahres auslaufen. Das sind die
Fakten.
Das deutsch-brasilianische Atomabkommen von 1975,
das nach wie vor in Kraft ist, sieht sowohl die Gewinnung und Aufbereitung von Uranerzen als auch die Herstellung von Kernreaktoren und die Urananreicherung
vor. Es ist also in dem Sinne ein Atomförderungsabkommen. Insgesamt acht Atomkraftwerke, eine Urananreicherungsanlage und eine Wiederaufbereitungsanlage
sollten in Brasilien mit deutscher Technik gebaut werden. Dieser Atomvertrag war zu Beginn der 80er-Jahre
für rund ein Drittel der brasilianischen Auslandsschulden verantwortlich und führte mithilfe einer deutschen Hermesbürgschaft zum Bau des Atomkraftwerks Angra 2, das
weniger als 2 Prozent aller in Brasilien erzeugten Elektrizität produziert, obwohl es 14 Milliarden US-Dollar gekostet
hat. Siemens/KWU freute sich damals über den Milliardenauftrag. Es war ein „Bombengeschäft“, wie es damals
wörtlich hieß.
Stets hatten Kritikerinnen und Kritiker gemahnt, das
brasilianische Militär habe versucht, mittels Urananreicherung in den Besitz von Atombomben zu gelangen.
Nach dem Übergang zur Demokratie Anfang der 90erJahre bestätigte die brasilianische Regierung dies indirekt durch bestimmte Äußerungen. Auch das muss man
wissen, weil die Rolle des Militärs in Brasilien immer
noch sehr stark ist.
Sehr geehrte Damen und Herren, die Linke meint:
Atomausstieg in Deutschland und weitere Atomförderung im Ausland passen nicht zusammen.
({0})
Deutschland verweist gern auf den Atomausstieg. Bis
2022 sollen alle kommerziellen Reaktoren abgeschaltet
werden. Das ist aber leider nur die halbe Wahrheit.
Deutschland ist weiter ein Atomstaat. Nach 2022 wird
weiter Uran aus aller Welt nach Deutschland geliefert, wie
es auch jetzt immer noch der Fall ist. In den Anreicherungsanlagen in Gronau und der Brennelementefabrik in Lingen
wird das radioaktive Material weiterverarbeitet und angereichert. Auch aus Brasilien treffen dort nach wie vor Lieferungen ein, nach wie vor. Das geschieht auf Basis des
Atomabkommens von 1975, das weiterhin in Kraft ist.
Wer ankündigt, sich im eigenen Land aus der Atomkraft verabschieden zu wollen, sollte keine doppelten
moralischen Standards anwenden und kann deswegen
auch nicht weiter den Ausbau der Atomkraft im Ausland
unterstützen. Das ist nicht länger hinnehmbar.
({1})
Die Große Koalition will aber an dem deutsch-brasilianischen Abkommen festhalten. Deutschland und deutsche Konzerne sollen im internationalen Atomgeschäft
weiter mitmischen können. Das finden wir auch völlig
unakzeptabel.
({2})
Besonders schwierig und opportunistisch finde ich
das Verhalten der SPD an dieser Stelle. Ich habe nicht
vergessen, dass sich die SPD in der vergangenen Legislaturperiode und auch schon vorher, als sie in der Opposition war, dafür starkgemacht hat, dass keine Hermesbürgschaften für das geplante Atomkraftwerk Angra 3 in
Brasilien erteilt werden - teilweise mit gutem Erfolg.
Jetzt, wo Sie wieder mit der CDU/CSU in der Regierung
sind, machen Sie wieder alles mit. Das finden wir extrem
opportunistisch.
({3})
Deshalb fordert die Linke ganz klar: Das deutsch-brasilianische Abkommen zur Förderung von Atomenergie
muss gekündigt werden, und zwar sofort. Wir werden
den Antrag der Grünen unterstützen und entsprechend
die Beschlussempfehlungen der Ausschüsse ablehnen.
In diesem Sinne herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Nächster Redner in
der Debatte ist für die CDU/CSU-Fraktion Andreas
Lämmel.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, die Strategie, die Sie mit Ihrem Antrag der Bundesrepublik Deutschland empfehlen, nämlich die Kündigung des Atomvertrages mit Brasilien, ist genauso falsch
wie die Entscheidung, sich jetzt mit den Linken in Thüringen in ein Boot zu setzen.
({0})
Das Boot wird absaufen, und Sie werden Mühe haben,
den Untergang zu überleben.
({1})
Deswegen werden wir nicht den Fehler machen, aus dem
Abkommen mit Brasilien auszusteigen, und zwar aus
verschiedenen Gründen.
Es gibt das Selbstbestimmungsrecht eines jeden Landes über seinen Energiemix. Wie Sie sicherlich sehr genau wissen, hat die Atomenergie in Brasilien nur einen
verschwindend geringen Anteil an der Stromerzeugung.
({2})
Weltweit werden 436 Atomkraftwerke betrieben.
70 weitere sind geplant. Nun stellt sich die Frage, wer
diese 70 Atomkraftwerke plant und baut. Deutschland
unterstützt jedenfalls nirgendwo in der Welt den Bau von
Atomreaktoren.
Das bilaterale Abkommen mit Brasilien ist eines von
fast 190 Abkommen, die die Bundesrepublik Deutschland mit vielen Ländern in der Welt geschlossen hat.
Dieses Abkommen stellt also überhaupt keine Besonderheit dar, sondern es ist eines unter vielen. Die Bundesrepublik Deutschland hat allein mit Russland 16 bilaterale
Abkommen geschlossen.
({3})
Meine Damen und Herren von der Linken, Sie haben
das Abkommen nicht genau gelesen. Sie haben sich auf
Fakten aus den 80er-Jahren gestützt. Wir schreiben aber
das Jahr 2014.
({4})
Wenn Sie das alles nicht so schnell nachvollziehen können, kann ich Ihnen zwar nicht helfen. Aber ich kann Ihnen versichern, dass sich die Welt seit den 80er-Jahren
weitergedreht hat, vielleicht bei Ihnen im Kopf nicht.
({5})
Welche Folgen hätte es, wenn wir dieses Abkommen
kündigen würden? Das würde bedeuten, dass die gesamte bilaterale Zusammenarbeit mit Brasilien aufgekündigt würde. Auf dem diplomatischen Parkett würde
die Frage gestellt werden, warum wir ein Abkommen
mit einem demokratischen Staat kündigen. Brasilien hat
- anders als es früher zu Ihrer Zeit in der DDR üblich
war - gerade erst seine Präsidentin wiedergewählt. Brasilien ist ein demokratisches Land.
({6})
- Ja, aber das ist schon 30 Jahre her.
({7})
- Das hat doch damit nichts zu tun. Sie können sich ruhig ereifern. Sie können dann, wenn Sie Ihre Rede halten, alles in Ruhe darlegen.
({8})
Wir sind jedenfalls der Auffassung, dass uns dieses
Abkommen die Möglichkeit bietet, auf Expertenebene
Einfluss zu nehmen. Die deutschen Atomkraftwerke
sind nach wie vor die sichersten der Welt.
({9})
Deutschland verfügt über ein enormes Know-how und
enorme Erfahrungen auf dem Gebiet der Sicherheit und
der Entsorgungstechnologie. Wir wären doch verrückt,
wenn wir nicht die Möglichkeiten, die uns dieses Abkommen bietet, nutzen würden, unser Know-how und
unsere Erfahrungen den Brasilianern beim Betrieb der
Atomkraftwerke bzw. bei der Aufrüstung der sicherheitstechnischen Anlagen zu vermitteln.
({10})
Meine Damen und Herren von den Grünen, wenn Sie
den Koalitionsvertrag mit den Linken in Thüringen kündigen würden, hätten Sie nichts mehr zu sagen; da könAndreas G. Lämmel
nen Sie reden, wie Sie wollen. Genauso verhält es sich
mit dem Abkommen mit Brasilien. Wenn man ein solches Abkommen kündigt, hat man praktisch keinen Partner mehr, mit dem man sprechen kann.
Man sollte ruhig einmal einen Blick in das Abkommen werfen. Sie verschweigen, dass aus diesem Abkommen überhaupt keine Verpflichtungen für Deutschland
entstehen. Es gibt keine Verpflichtung, den Brasilianern
in schwierigen Fällen zu helfen. Es handelt sich vielmehr um ein Abkommen, das gewährleistet, dass man
sich auf Expertenebene zu speziellen Fragen, die sich
von Zeit zu Zeit stellen, austauscht. Aus diesem Grunde
haben sich mehrfach deutsche Mitarbeiter in Brasilien
aufgehalten. Sie haben sich zu speziellen Fragen betreffend die Sicherheitstechnik und die Entsorgung ausgetauscht.
Den Brasilianern ist doch nicht verborgen geblieben,
dass Deutschland aus der Atomenergie aussteigt. Aber
deswegen verschwindet das entsprechende Know-how
in Deutschland nicht. Wir sind stolz darauf, dass wir in
Deutschland über eine solch geballte Ladung an Wissen
und technischen Lösungen verfügen. Diese können wir
anderen Ländern anbieten, um ihre Reaktoren sicherer
zu gestalten.
Der Kollege von der Linken hat das bereits erwähnt:
Eine Hermesbürgschaft für den Bau neuer Atomanlagen
wird Deutschland nicht geben. Das ist das Entscheidende. Wir tragen mit diesem Abkommen doch nicht
dazu bei, dass neue Anlagen irgendwo in der Welt errichtet werden, und wir unterstützen nicht aktiv die Errichtung neuer Anlagen, sondern wir versuchen, mit unserem Wissen dazu beizutragen, dass die Welt sicherer
wird und dass die Anlagen, die in Betrieb sind, sicherer
werden. Deswegen gibt es keinen Grund, dieses Abkommen mit Brasilien zu kündigen.
({11})
Deswegen können wir als CDU/CSU-Fraktion und
als Koalition Ihrem Antrag leider nicht zustimmen.
Vielen Dank.
({12})
Vielen Dank, Herr Kollege Lämmel. - Nächste Rednerin in der Debatte ist Sylvia Kotting-Uhl für Bündnis 90/Die Grünen.
Vielen Dank, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Herr Lämmel, das war jetzt schon eine
Zumutung, als Sie von „Aufrüstung“ usw. gesprochen
haben.
({0})
Ich gehe davon aus, dass alle, die hier sitzen, wie das
so üblich ist bei uns, diesen Antrag sorgfältig und gründlich gelesen haben. Trotzdem - vielleicht auch in der
Hoffnung, dass wir nicht vollkommen aneinander vorbeireden - will ich Ihnen ein Stück daraus zitieren:
Begründet wurde der Atomausstieg 2011 von der
damaligen Bundesregierung unter der heute noch
amtierenden Bundeskanzlerin mit dem Risiko, das
der Gesellschaft nach Fukushima nicht mehr zumutbar sei. Wenn diese Begründung ernst gemeint
war, dann ergeben sich aus ihr weitere Aufgaben:
sich mit allen Möglichkeiten dafür einzusetzen,
dass dieses Risiko auch anderen Gesellschaften
nicht länger zugemutet wird.
({1})
Ich zitiere weiter:
Selbstverständlich entscheidet jedes Land selbst
über seine Energieversorgung und seine Energiequellen. Aber kein Land lebt in einer globalisierten
Welt unter einer Glasglocke. Regierungen treffen
ihre Entscheidungen nicht unbeeinflusst von Entwicklungen in anderen Ländern, von Beratungen
und Absprachen mit diesen. Die deutsche Regierung kann direkt und indirekt Einfluss auf andere
Länder nehmen, wenn sie sich nicht nur im eigenen
Land, sondern auch international zum nicht zumutbaren Risiko durch Atomkraft bekennt.
({2})
Das ist die moralisch-ethische Begründung für unsere
Forderung zur Aufkündigung dieses Abkommens, zumal
eines Abkommens mit einem Land wie Brasilien, dessen
beabsichtigter Atomweg nicht wirklich klar ist, da er
sich der effektiven Kontrolle durch die IAEA entzieht.
Vor der Sommerpause haben wir in der Tat bereits einen Antrag, der Brasilien und Indien zum Gegenstand
hatte, behandelt. Es wurde beklagt, dass er zu kurzfristig
eingereicht worden sei. Das war aber notwendig, weil
das Abkommen mit Indien auslief und es genauso wie
jetzt das Abkommen mit Brasilien - wenn es nicht zum
18. November gekündigt wird, dann läuft es auch automatisch fünf Jahre weiter - fünf Jahre weitergelaufen
wäre.
Die Hauptbegründung für die Ablehnung, wenigstens
die der SPD, war damals, es sei keine Zeit für die Beratung gewesen. Dieses Mal war Zeit. Es wäre auch, Frau
Scheer, Zeit für einen Abstimmungsprozess innerhalb
der Regierung gewesen. Das Argument ist also nicht
mehr brauchbar. So verschiebt sich die Argumentation.
({3})
Ich will für die neuen Argumente von Ihnen, Herr
Lämmel, den Bericht des Ausschusses zitieren; denn der
war etwas klarer als Ihre heutige Argumentation:
Gegenstand des Abkommens sei eben nicht nur der
Bau oder der Betrieb von Atomreaktoren. Das Abkommen enthalte vielmehr auch Regelungen zu
Fragen der Sicherheit, der Entsorgung, des Strah5918
lenschutzes und der Nichtverbreitung von Kernbrennstoffen. … Bei einer Kündigung des Abkommens müsste man diese Aspekte neu verhandeln.
Ich sage Ihnen: Ja, verhandeln Sie neu, verhandeln
Sie besser, und verhandeln Sie vor allem wirklich Sicherheit! Das jetzige Abkommen, dessen Aufgabe die
Förderung der Atomkraft ist, wozu auch der Bau von
Angra 3 in einer erdrutschgefährdeten Bucht gehört,
spottet, was die Sicherheitsvorstellungen betrifft, jeder
Beschreibung.
({4})
Eine Forderung von unserem damaligen Antrag ist
übrigens bereits umgesetzt. Die Hermesbürgschaften
werden nicht mehr gegeben. Dazu hieß es in der letzten
Debatte, damals noch von Frau Motschmann:
Wenn die Hermesbürgschaften zurückgezogen werden, dann können diese Länder ihre Stromversorgung nicht gewährleisten und nicht finanzieren.
Es geht doch trotzdem. Lernen Sie noch ein Stück weiter, und stimmen Sie heute unserem Antrag zu.
Ich will Ihnen zum Schluss noch eine Begründung geben, warum für unsere internationale Glaubwürdigkeit
die Aufkündigung dieses Abkommens so wichtig ist. Ich
zitiere dazu aus einem Brief von 65 brasilianischen Organisationen, den alle Fraktionen bekommen haben und
der einen Aufruf an die deutsche und an die brasilianische Regierung enthält. Sie schreiben:
Aber die von der deutschen Regierung angekündigte Stilllegung umfasst weder die Forschungsreaktoren noch die Urananreicherungsanlagen noch
die Brennelementefabriken. Diese Aktivitäten erfolgen auch auf Basis des noch gültigen deutschbrasilianischen Atomvertrags. Ein Teil des in
Deutschland angereicherten Urans kommt aus Brasilien. …
Dies bedeutet, dass Deutschland den Atomzyklus
intern und im Ausland fortsetzt.
Etwas weiter unten heißt es:
Es ist nicht hinnehmbar, dass Deutschland für sein
eigenes Territorium andere Sicherheitsregeln festlegt und gleichzeitig diese Art der Energieproduktion in anderen Ländern fördert.
({5})
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. - Liebe
Kolleginnen und Kollegen, unser Verhalten kommt dort
als Doppelmoral an. Lassen Sie uns Klarheit schaffen.
Lassen Sie uns zeigen, dass wir es auch international
ernst meinen mit der Bewertung des Risikos. In
Deutschland hat die Zivilgesellschaft den Atomausstieg
erreicht. Helfen wir alle der brasilianischen Zivilgesellschaft, die nach britischen Studien zu 67 Prozent den
Atomausstieg will, mit der Kündigung dieses antiquierten Abkommens.
Vielen Dank.
({0})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Letzte Rednerin in der
Aussprache ist Hiltrud Lotze für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich schicke einmal vorweg: Ich komme aus dem Wahlkreis Lüchow-Dannenberg - Lüneburg. Da liegt Gorleben, und ich bin die Letzte, die hier eine Lanze für die
Atomenergie brechen wird.
({0})
- Genau. Das empfehle ich.
Wir haben schon gehört: Die Bundesrepublik
Deutschland hat auf dem Gebiet der friedlichen Nutzung
der Kernenergie die schon genannten 182 bilateralen
Abkommen mit 56 Staaten. Wir werden uns auch für
Kündigungen dieser Abkommen einsetzen, wenn sie
hinsichtlich unserer deutschen Ausrichtung, aus der
Atomenergie auszusteigen und die Energiewende zum
Erfolg zu führen, nicht mehr tragbar sind.
Bevor wir aber über Kündigungen reden, müssen wir
uns die Realitäten etwas genauer anschauen. Dieses Abkommen mit Brasilien wurde 1975 geschlossen. Es ist
ein Rahmenabkommen zum Austausch von Informationen und nicht eine Vereinbarung einer konkreten technischen Unterstützung. Einer der Initiatoren des hier vorliegenden Antrags, Jürgen Trittin - er sitzt da drüben -,
war von 1998 bis 2005 Umweltminister in der rot-grünen Koalition.
({1})
- Genau. - Schon damals wussten wir alle, dass die Militärdiktatur dort dieses Abkommen mit unterschrieben
hat. In der Amtszeit von Jürgen Trittin wurde genau ein
solches Abkommen gekündigt. Es war aber eben nicht
das mit Brasilien, sondern das mit dem Iran, und das zu
Recht, sage ich.
({2})
- Bitte, lassen Sie mich ausreden. Ich rede ja weiter. Zuhören! Wir haben doch gerade verabredet, einander bis
zum Ende zuzuhören.
SPD und Grüne haben damals in der Koalition eine
Linie verabredet, die auch heute noch gilt und umgesetzt
wird: Die Verträge sollen daraufhin geprüft werden, ob
sie mit den eigenen atompolitischen Grundsätzen noch
übereinstimmen oder diesen zuwiderlaufen. Diese Überprüfungen finden regelmäßig statt. Im Übrigen haben
meine Kollegin Nina Scheer und ich schon vor Wochen
entsprechende Fragen gestellt und diese Überprüfung erneut angeregt.
({3})
Wir steigen also aus, und wir wollen weltweit natürlich auch andere gewinnen, das ebenfalls zu tun. Aber
wir können uns in die Souveränität anderer Länder nicht
einmischen.
({4})
Wir wollen ja auch nicht, dass andere in unsere Energiewende hineinreden.
({5})
Wir werden weiterhin Verträge wie den mit Brasilien
überprüfen und entweder auf dem Verhandlungswege
ändern oder notfalls kündigen. Ich sage „notfalls kündigen“, weil diese Verträge auch jetzt noch ihren Sinn haben: Durch den vereinbarten Informationsaustausch bleiben wir über das auf dem Laufenden, was in Sachen
Atomenergie in anderen Ländern passiert. So sind wir
sprachfähig, wenn wir über die Sicherheit von AKWs im
internationalen Rahmen sprechen wollen.
Liebe Kollegin, denken Sie an die Redezeit.
Meine Überzeugung ist: Wir sollten besser den Dialog mit anderen Ländern pflegen mit dem Ziel einer Anpassung der bestehenden Verträge an unsere neue energiepolitische Ausrichtung, und das bedeutet: keine
Unterstützung bei Neubauten, Schwerpunkt des Informationsaustausches bei den Themen Stilllegung, Rückbau, Entsorgung und Endlagerung.
Im Übrigen: Deutschland hat schon einen Vertrag mit
Brasilien zu den erneuerbaren Energien abgeschlossen ({0})
unter Sigmar Gabriel als Umweltminister.
({1})
Frau Kollegin, denken Sie an die Redezeit.
Ich bin schon am Ende. - Wir sind davon überzeugt,
dass die Abkommen bei unseren beiden Ministern
Sigmar Gabriel und Barbara Hendricks in guten Händen
sind. Auf alles andere werden wir aufpassen. Deswegen
werden wir dem Antrag heute nicht zustimmen können.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen jetzt zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Energie zu dem Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Kündigung des bilateralen Atomabkommens mit Brasilien“.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 18/2907, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/2610 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung von CDU/
CSU und SPD, Ablehnung von Bündnis 90/Die Grünen
und von der Linken.
Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe,
bitte ich, gegebenenfalls die Plätze zu wechseln. Bitte
noch einmal Konzentration!
Jetzt ist der erste Redner nicht da, der Kollege
Brauksiepe.
({0})
Mag jemand für ihn reden, oder soll ich einfach umstellen?
({1})
- Moment! Ich habe den Tagesordnungspunkt noch gar
nicht aufgerufen.
({2})
- Herr Kollege Brauksiepe, haben Sie schon mal das
Bier von der Wette getestet?
({3})
- Das war jetzt freundlich gemeint. Wir haben vorher gewettet; da waren Sie nicht da. - Er hat es nicht getestet.
({4})
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter
deutscher Streitkräfte an der AU/UN-HybridOperation in Darfur ({5}) auf Grundlage der Resolution 1769 ({6}) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom
31. Juli 2007 und folgender Resolutionen, zuletzt 2173 ({7}) vom 27. August 2014
Drucksache 18/3006
Auswärtiger Ausschuss ({0})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch, sehe auch keinen Widerspruch. Dann
ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Brauksiepe. - Danke,
dass Sie noch rechtzeitig gekommen sind, Herr
Brauksiepe!
({1})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich bitte um Entschuldigung. Ich war mit
dem außenpolitischen Sprecher der CDU/CSU-Fraktion
und einer internationalen Delegation im Abgeordnetenrestaurant - nachweislich mit Wasser; das steht noch auf
den Tischen.
({0})
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung wendet sich heute an Sie mit der Bitte, der Fortsetzung der
Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der
AU/UN-Hybrid-Operation in Darfur zuzustimmen.
UNAMID, die gemeinsam von den Vereinten Nationen und der Afrikanischen Union geführte Friedensmission in Darfur, zählt zu einer der weltgrößten Friedenstruppen und hat nach wie vor eine entscheidende
Funktion in der Region. Ihr Auftrag umfasst die Umsetzung des Darfur-Friedensabkommens, die Unterstützung
des Friedensprozesses, den Schutz von Zivilisten und die
Sicherung des humanitären Zugangs. Das ist weiß Gott
kein einfacher Auftrag.
Die Sicherheitslage in Darfur ist trotz der erzielten
Fortschritte von UNAMID weiterhin angespannt und instabil. Dies ist besorgniserregend. Die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Regierung und Rebellengruppen halten auch im elften Jahr des Konflikts an. Die
immer wieder aufflammenden Kämpfe in der Region
führen zu Massenflucht, Zehntausenden neuer Binnenflüchtlinge und Flüchtlingsströmen in die Nachbarländer. All dies - man muss das wiederholen, was wir auch
schon beim Südsudan diskutiert haben - gipfelt in einer
humanitären Tragödie.
Die Zahl der Menschen, die auf humanitäre Hilfe angewiesen sind, ist 2014 wieder deutlich angestiegen.
Waren Ende 2013 noch 3,5 Millionen Menschen in Darfur auf humanitäre Hilfe angewiesen, so ist die Zahl
mittlerweile auf fast 3,9 Millionen angewachsen. Solange diese humanitäre Tragödie andauert und die Sicherheitslage so instabil ist, dass Vertriebene auf Flüchtlingslager und humanitäre Hilfe angewiesen sind, bedarf
es weiterhin des Schutzes durch UNAMID.
Ich will das ausdrücklich betonen: Die zivile Komponente leistet hervorragende Arbeit. Aber es hängt eben
das Zivile mit dem militärischen Schutz zusammen. Ich
möchte an der Stelle das, was der Kollege Schmidt in der
Debatte zu UNMISS gesagt hat, aufgreifen: Alleine die
Tatsache, dass wir denjenigen Schutz bieten, die in die
Flüchtlingslager kommen, rechtfertigt die VN-Missionen und rechtfertigt auch, dass wir uns daran beteiligen,
und zwar auch mit militärischem Schutz. Es ist zynisch,
etwas anderes zu behaupten, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({1})
Schon die bloße Gegenwart einer so großen internationalen Präsenz hat - bei allen Problemen, die es gibt eine mäßigende Wirkung auf die Konfliktparteien.
UNAMID schafft den notwendigen Rahmen, innerhalb
dessen sich die politischen Bemühungen um ein Ende
der Krise in Darfur weiterentwickeln können - und das
wird noch ein langer Weg sein.
Mit der Resolution des Sicherheitsrates der Vereinten
Nationen vom 27. August wurde das UNAMID-Mandat
bis zum 30. Juni 2015 verlängert. Seit Beginn der Mission ist Deutschland als einer der wenigen westlichen
Truppensteller an der Mission beteiligt; es hat sich mit
Einzelpersonal in den Führungsstäben und mit Verbindungsoffizieren an dieser Mission beteiligt.
Mit unseren derzeit zehn deutschen Soldatinnen und
Soldaten im Hauptquartier El Fasher und den fünf Polizeivollzugsbeamten unterstützen wir die Auftragsdurchführung der Mission. Das ist im Verhältnis zur Gesamtzahl an Personal in der Mission sicherlich nur ein kleiner
Beitrag, aber er erfolgt an zentraler Stelle und setzt ein
wichtiges Zeichen der Unterstützung der Mission.
Die eingesetzten deutschen Soldatinnen und Soldaten
arbeiten unter den schwierigsten Umständen. Oft sind
sie auf sich alleine gestellt, und sie arbeiten - ähnlich
wie im Südsudan; diese Situation ist bei UNMISS und
UNAMID ähnlich - häufig abseits der öffentlichen Aufmerksamkeit. Aber - und auch das gilt für beide Missionen, liebe Kolleginnen und Kollegen - unsere Soldatinnen und Soldaten - und ich schließe die Polizistinnen
und Polizisten an der Stelle ausdrücklich mit ein - verrichten ihren Auftrag unter schwierigen Umständen hoch
professionell und vorbildlich. Dafür können wir ihnen
dankbar sein, meine Damen und Herren.
({2})
Ich will auch die schon vom Kollegen Kiesewetter in
der vorangegangenen Debatte erwähnten afrikapolitischen Leitlinien der Bundesregierung in diesem Zusammenhang ausdrücklich erwähnen: Das, was wir im Rahmen von UNAMID tun, liegt genau auf der Linie dieser
afrikapolitischen Leitlinien. Wir werden deshalb unsere
Bereitschaft zur Hilfe und unser Engagement in Afrika
weiterhin beibehalten.
Bis zu 50 Soldatinnen und Soldaten können demnach
weiterhin bei dieser wichtigen VN-Mission eingesetzt
werden. Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, das
Hohe Haus - auch den jetzt eingetroffenen Kollegen
Mißfelder -,
({3})
herzlich um Unterstützung für dieses Mandat. Wir haben
einen schwierigen Weg erfolgreich beschritten und sollten ihn gemeinsam weitergehen - im Interesse der Menschen, die auch in Darfur unsere Unterstützung, unsere
Hilfe und eine Zuflucht brauchen.
Herzlichen Dank, Kolleginnen und Kollegen.
({4})
Vielen Dank, Dr. Brauksiepe. - Die nächste Rednerin
in der Debatte ist Christine Buchholz für die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit sieben Jahren beteiligt sich die Bundeswehr nun an der Militärmission UNAMID in Darfur. Selbst die Bundesregierung muss zugeben: Die Ergebnisse sind mehr als
ernüchternd. Die Kriminalität hat massiv zugenommen.
Der bewaffnete Konflikt hat eine landesweite Dimension
bekommen. 2014 sind in Darfur erneut fast eine halbe
Million Menschen zu Flüchtlingen geworden.
Der Antrag der Bundesregierung liest sich wie ein
Dokument des Scheiterns.
({0})
Trotzdem fordern Sie eine Verlängerung der deutschen
Beteiligung. Eine Begründung bleiben Sie schuldig.
({1})
Sie behaupten einfach - Sie eben auch, Herr Brauksiepe -,
der Einsatz sei „unverzichtbar“ zur Stabilisierung der Sicherheitslage.
Die frühere Sprecherin von UNAMID, Aicha Elbasri,
ist da ehrlicher. Sie übergab Tausende interne UNAMIDDokumente dem amerikanischen Magazin Foreign Policy. In der Bilanz stellt sie der Mission ein vernichtendes Urteil aus. Frau Elbasri sagt - ich zitiere -:
Die Präsenz von UNAMID Peacekeepern hat weder
die Regierung noch die Rebellen von Angriffen gegen Zivilisten abgeschreckt.
Eines ihrer vielen Beispiele ist die Entführung, Ausraubung und Misshandlung einer vielköpfigen Delegation von Flüchtlingen am 24. März 2013. Sie waren in
drei Bussen unter UNAMID-Schutz auf dem Weg zu einer Friedenskonferenz. Opfer und Fahrer gaben zu Protokoll, dass UNAMID-Soldaten die Busse bereitwillig
an eine bewaffnete Bande übergaben. Einige hätten den
Entführern sogar Zustimmung signalisiert. Aber Frau
Elbasris Dokumente zeigen auch, dass UNAMID Angriffe durch die Truppen der Regierung in Khartoum
systematisch herunterspielt, und es ist auch so, wie mein
Kollege Jan van Aken eben in Bezug auf UNMISS argumentiert hat, dass ihr Wohl und Wehe von der sudanesischen Regierung abhängig ist. Während die frühere
Sprecherin von UNAMID also schwere Vorwürfe gegen
die eigene Mission erhebt, geht die Bundesregierung
schweigend darüber hinweg. Das kann doch wohl nicht
wahr sein.
({2})
Es gibt noch ein weiteres Argument: Das Geld, das für
diese Mission - die größte und teuerste Mission der UN ausgegeben wird, fehlt an anderer Stelle. UNAMID kostet
jedes Jahr 1,3 Milliarden US-Dollar. Der deutsche Anteil
daran beträgt nicht nur eine halbe Million Euro an Zusatzausgaben, die Sie im Antrag nennen, sondern insgesamt
rund 91 Millionen US-Dollar. Hochgerechnet hat die Bundesrepublik Deutschland also für diesen Militäreinsatz
bereits rund eine halbe Milliarde Dollar ausgegeben. Es
wäre besser, das Geld in sinnvollen Hilfs- und Entwicklungsprojekten anzulegen, um endlich die Ursachen für
Flucht und Gewalt in Darfur zu bekämpfen.
({3})
Sieben Jahre UNAMID-Militäreinsatz haben gezeigt:
Weder die Mission noch die deutsche Beteiligung daran
tragen etwas zur Lösung der Konflikte in Darfur bei. Es
drängt sich der Eindruck auf, dass Bundeswehreinsätze
wie diese Beteiligung an UNAMID längst zum Selbstzweck geworden sind. Die Linke findet sich nicht damit
ab, dass das zur Normalität werden soll. Wir werden der
Verlängerung dieses Mandates nicht zustimmen.
({4})
Danke, Frau Kollegin Buchholz. - Nächster Redner
in der Debatte: Dr. Karl-Heinz Brunner aus Illertissen
für die SPD.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Egal ob in Neu-Ulm, Berlin oder al-Faschir, egal ob, Frau Präsidentin, in Illertissen, Babenhausen oder Nyala, eines vereint die Menschen überall: Sie
wollen und brauchen eine Perspektive. Sie wollen wissen, dass das, was sie heute tun, auch morgen noch Bestand hat, und sie wollen, dass es ihren Kindern und ihrer Familie gut geht. Sie wollen ihre Wünsche,
Meinungen, Ideen und Pläne offen und ohne Druck leben. Wenn wir heute allerdings den Blick auf Darfur
werfen, blicken wir dabei - so möchte ich sagen - fast in
ein dunkles Loch.
Und doch ist dieses Land unserem Blick fast entschwunden. Die Gier nach Sensation lenkt den Blick auf
Syrien, den Irak, die Ukraine, die Angst um Ebola den
Blick weg vom täglichen Leid, von der Perspektivlosigkeit und von Angst und Schrecken in Darfur. Und doch:
Die humanitäre Lage in der Region ist unverändert dramatisch. Seit Beginn der bewaffneten Auseinandersetzungen 2003 sind schätzungsweise 300 000 Menschen
ums Leben gekommen. Die UNO vermutet über 2,4 Millionen Menschen auf der Flucht. Der Sudan ist das Land
mit den meisten Binnenflüchtlingen schlechthin, ein
Land, in dem seit 1999 wachsende Einnahmen aus der
Erdölförderung wirtschaftliche und machtpolitische
Konflikte entfachen. Man könnte fast sagen: Nicht Armut, sondern Gier ist die Triebfeder, die das Land auseinanderdriften lässt, ein Land, in dem ethnische Konflikte
und politische Auseinandersetzungen stets angeheizt
werden und in dem durch selbsternannte Befreiungsarmeen, zahlreiche Splittergruppen und nicht zuletzt den
Staat Menschen instrumentalisiert werden.
Es wurde sprichwörtlich mehr Öl ins Feuer gegossen,
als Löschmittel zur Verfügung stehen könnten. Darfur ist
ein Land, in dem die regierungsnahen Milizen Menschenrechtsverletzungen begehen, Frauen und Mädchen
vergewaltigen, ganze Dörfer dem Erdboden gleichmachen und Menschen aus ihrer angestammten Heimat vertreiben. Ich könnte die Aufzählung noch ewig weiterführen mit dem vom Internationalen Strafgerichtshof in Den
Haag verurteilten Präsidenten, mit der herrschenden Kriminalisierung, mit Straftaten gegen sexuelle Minderheiten und Homosexuelle, mit Entführungen und Gewalt,
der sich auch unsere westlichen Helfer und NGOs ausgesetzt sehen.
Fest aber steht: Der Sudan ist ein Land, das vor sich
selbst flüchtet und keine Perspektiven und schon gar
nicht die Sicherheit schafft, die Menschen benötigen.
Dies ist nicht Schwarzmalerei, sondern bittere Realität.
Das konnte ich vor wenigen Tagen von Hilde Johnson
- bis Juli Sonderbeauftragte der Vereinten Nationen für
den Südsudan - persönlich erfahren.
Erlauben Sie mir eine Bemerkung am Rande: Wenn
der Sudan es mit über 2 Millionen Binnenflüchtlingen zu
tun hat, dann sollten wir angesichts der aktuellen Flüchtlingszahlen in Europa und Deutschland genug Mut haben, einigen Tausend Menschen den Neuanfang zu ermöglichen, die vor dem Schrecken und Morden des IS
geflohen sind. Das wäre auch Verantwortung.
({0})
Kolleginnen und Kollegen, trotz vielfältiger Bemühungen konnten die Kämpfe in Darfur nicht beendet
werden, geschweige denn ein dauerhafter Frieden etabliert werden. Absprachen werden, soweit sie überhaupt
getroffen werden konnten, von allen Seiten gebrochen.
Manchmal übermannt einen in dieser Situation der
Wunsch, wie bei einem abgestürzten Rechner den ResetKnopf zu suchen und alles wieder auf Neuanfang, auf
Start zu stellen, in der Hoffnung, beim zweiten Anlauf
wird es besser. Das geht jedoch nicht; so funktioniert die
Welt nicht. Eine politische Lösung ist daher nach meiner
Auffassung unabdingbar. Und die internationale Gemeinschaft muss vor Ort sein. Unsere Unterstützung ist
unabdingbar. Hier müssen wir Verantwortung übernehmen.
Deswegen haben wir 2007 deutsche Soldatinnen und
Soldaten sowie Polizistinnen und Polizisten dorthin geschickt. Sie sind Teil der vom Sicherheitsrat entsandten
Friedenstruppe UNAMID. Sie sollen Zivilisten schützen, humanitäre Hilfe erleichtern, humanitäre Helfer sichern und die Friedensverhandlungen unterstützen.
Keine leichte Aufgabe. Aber sie übernehmen Führungsaufgaben, beraten, geben technische Unterstützung und
bilden die truppenstellenden Nationen aus.
Das Ganze, meine Damen und Herren, ist jedoch kein
Selbstläufer. Unsere Leute versuchen, stabile Strukturen,
Sicherheit zu schaffen. Das zarte Pflänzchen eines gemeinsamen nationalen Dialogs gibt es bereits. Kann es
wachsen? Die Umsetzung des Doha-Friedensabkommens von 2011 geht langsam voran. Ob dies Anlass zur
Hoffnung gibt, sei nach all den Rückschlägen dahingestellt. Bei einem bin ich mir aber sicher: Wenn ein möglicher Friedensprozess auch nur annähernd in Gang
kommen soll, dann muss die humanitäre Notlage in Darfur dringend gelöst werden.
UNAMID läuft übrigens nicht immer so rund, wie wir
es uns wünschen; das haben die Vorredner bereits angesprochen. Die Kommunikation ist nicht gerade ideal.
Das, was UNAMID vor Ort leisten kann, ist verbesserungsbedürftig. Aber sicherlich wird niemand erwarten,
dass UNAMID und Deutschland alle Probleme dieser
Welt lösen. Dennoch sollten wir den Mut haben, zu sagen, was wir eigentlich wollen: Ganz konkret Verantwortung übernehmen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das
UNAMID-Mandat ist konkrete deutsche Verantwortung,
ein Versuch zur Konfliktlösung im Sudan. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten stehen zu dieser
Verantwortung.
Lassen Sie mich am Ende meiner Ausführungen den
deutschen Soldatinnen und Soldaten, den Polizisten, den
Militärbeobachtern und den Stabsoffizieren ein herzliches Dankeschön für ihren Dienst sagen. Genauso
möchte ich allen Hilfsorganisationen, den vielen ungenannten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die im Sudan unter schwierigsten Bedingungen ihre Aufgabe erfüllen, meinen Respekt und Dank aussprechen.
({1})
Die SPD stimmt der Mandatsverlängerung zu.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({2})
Vielen Dank, Herr Kollege Brunner. - Nächste Rednerin in der Debatte: Agnieszka Brugger für Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit
über zehn Jahren herrscht in Darfur im Sudan ein grausamer Bürgerkrieg. Um die Gewalt einzudämmen, haben
die Afrikanische Union und die Vereinten Nationen 2007
eine Friedensmission auf den Weg gebracht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, seit sieben Jahren
debattieren wir dieses Mandat. Ich finde, wir sollten es
nicht als reine Routineberatung betrachten, sondern wir
haben dabei auch die Verantwortung, das schreckliche
Schicksal vieler Menschen im Sudan wieder in Erinnerung und in den Fokus der Öffentlichkeit zu bringen.
({0})
Die Eskalation von Gewalt findet nicht nur in Darfur
statt, sondern mittlerweile auch in weiten Teilen des
Landes, im Bundesstaat Blauer Nil oder in Südkordofan.
In diesem Bürgerkrieg sind sowohl die vielen bewaffneten Rebellenorganisationen, aber auch die sudanesischen
Truppen für das Leid und die Verbrechen gegenüber der
Zivilbevölkerung verantwortlich.
Meine Damen und Herren, über 5 Millionen Menschen sind im Sudan von Hunger bedroht. 2,4 Millionen
Menschen sind ihrer Heimat beraubt, und seit Anfang
dieses Jahres sind aufgrund aufflammender Gewalt zusätzlich 400 000 auf der Flucht. Am Anfang dieses Monats gab es die schreckliche Meldung, dass 200 Frauen
und Mädchen Opfer einer Massenvergewaltigung im
Norden von Darfur geworden sein sollen. Dieses grauenhafte Verbrechen muss rückhaltlos aufgeklärt werden
und die Täter zur Verantwortung gezogen und bestraft
werden.
({1})
Dabei ist es völlig inakzeptabel, dass das sudanesische
Militär UNAMID daran hindert, diesen Vorwürfen nachzugehen.
Meine Damen und Herren, ich finde diese Zahlen
schwer vorstellbar; ich finde sie schockierend, und ich
finde, sie dürfen uns auch nicht kaltlassen. Sie zeigen,
dass sich die Sicherheitslage im Sudan wieder verschlechtert hat. Die Vereinten Nationen haben diese Mission bei der Mandatierung im Sicherheitsrat vom Auftrag her angepasst. Sie haben auch Lehren aus den
letzten Jahren gezogen. Das Zentrum dieses Mandates
bilden nun drei Aufgaben: An allererster Stelle steht der
Schutz der Zivilbevölkerung, aber eben auch die Vermittlung zwischen den Konfliktparteien sowohl auf nationaler als auch auf kommunaler Ebene. Und es ist klar:
Dieser Konflikt und dieser Krieg können nur ein Ende
finden, wenn es eine politische Lösung gibt. Dazu müssen alle gesellschaftlichen Gruppen in die Verhandlungen über eine gemeinsame Zukunft des Landes eingebunden werden. Die dritte Aufgabe von UNAMID ist
aber auch wichtig: der Schutz von humanitären Helferinnen und Helfern; denn auch sie werden mittlerweile immer häufiger Opfer von Gewalt durch die Konfliktparteien und sind von Plünderungen und Übergriffen
bedroht.
Meine Damen und Herren, UNAMID kann sicherlich
nicht alle Probleme lösen; aber die Mission ist ein wichtiger Beitrag für mehr Stabilität und Sicherheit im Sudan. Ich finde schon auch, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir uns die ehrliche Frage stellen müssen, ob
diese Mission eigentlich gut genug ausgestattet ist, um
diese Ziele zu erfüllen, und ob das deutsche Engagement
der dramatischen Situation angemessen ist.
({2})
Die Lage hat sich verändert, die Vereinten Nationen
haben das Mandat angepasst - nur eines bleibt gleich:
der deutsche Beitrag. Und der ist, freundlich formuliert,
mehr als bescheiden. Die personale Obergrenze, die in
diesem Mandat festgeschrieben ist, beträgt 50 Bundeswehrangehörige; derzeit sind elf vor Ort. Die Zahl der
Polizeikräfte, die nicht Teil dieses Mandates sind, ist
noch geringer: Es sind fünf Polizistinnen und Polizisten.
Diejenigen, die diese Mission erlebt haben, sagen uns
immer wieder, dass gerade mehr Polizistinnen und Polizisten gebraucht werden, und zwar dringend.
({3})
Ich kann überhaupt nicht verstehen, dass das Auswärtige Amt die finanzielle Unterstützung für die Ausbildung afrikanischer Polizeiangehöriger im letzten Jahr
um mehr als die Hälfte gekürzt hat. Liebe Kolleginnen
und Kollegen, das ist angesichts der Lage das völlig falsche Signal. Wir Grüne fordern Sie auf: Nehmen Sie
diese Kürzung zurück!
({4})
Meine Damen und Herren, auch ich möchte all jenen
danken, die sich mit oder ohne Uniform im Rahmen von
UNAMID oder außerhalb für eine bessere Zukunft im
Sudan einsetzen. Dass sie das auch unter persönlichen
Entbehrungen und großen Risiken tun, zeigt nicht zuletzt
der tragische Tod von drei UNAMID-Angehörigen im
letzten Monat, die Übergriffen von Rebellen zum Opfer
gefallen sind. Ihnen und den Menschen im Sudan, die
bereits seit Jahren unermessliches Leid erfahren und
trotzdem Glauben und Hoffnung nicht verlieren, sind es
die internationale Gemeinschaft und auch Deutschland
als Mitgliedstaat der Vereinten Nationen schuldig, sich
noch stärker zu engagieren. Denn es wird bei weitem
nicht alles getan, was notwendig wäre; es wird bei weitem nicht alles getan, was getan werden könnte - auch
nicht das, was getan werden müsste.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank, Agnieszka Brugger. - Letzte Rednerin
in dieser Debatte: Julia Bartz für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
1992, ein kleines schwarzafrikanisches Dorf in den
Nuba-Bergen im Sudan.
({0})
- Kommt. - Spätabends spielt die zwölfjährige Mende
Nazer gerade mit ihrer Katze. Plötzlich hört sie
Schreie:“ Es brennt! Die Araber kommen!“ Sie rennt
davon, wird aber von den Milizen aufgegriffen. Gemeinsam mit anderen Mädchen wird Mende verschleppt und an einen Sklavenhändler verkauft. Nach
Jahren der Ausbeutung als Sklavin gelingt ihr schließlich die Flucht in die Freiheit.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Mende Nazer ist heute als Schriftstellerin und
Menschenrechtsaktivistin bekannt.
Ähnlich wie ihr erging und ergeht es heute noch immer vielen Mädchen und jungen Frauen in Darfur.
Trotz umfangreicher Bemühungen der internationalen
Gemeinschaft ist es noch nicht gelungen, den Konflikt in
der Region beizulegen und einen dauerhaften, nachhaltigen Frieden zu sichern. Die Sicherheitslage in Darfur ist
weiterhin äußerst angespannt. Die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen dem sudanesischen Regime, Rebellengruppen und den verschiedenen Ethnien
dauern an. Zudem ist die Kriminalität hoch.
Entsprechend ist auch die humanitäre Lage prekär. In
den vergangenen Monaten sind weitere 400 000 Menschen vor der Gewalt geflohen. Derzeit befinden sich
insgesamt 2,4 Millionen Binnenflüchtlinge in Darfur.
Deren Versorgung ist unter diesen Umständen nur beschränkt möglich. Denn sowohl die Zivilbevölkerung als
auch die über 5 000 humanitären Helferinnen und Helfer, denen ich an dieser Stelle ganz herzlich für ihren
Einsatz danken möchte,
({1})
werden immer wieder Ziel gewaltsamer Übergriffe und
Plünderungen.
Seit 2003 sind in Darfur über 300 000 Menschen getötet worden. Deshalb hat die internationale Gemeinschaft beschlossen, in Darfur aktiv zu werden. Seit 2007
stellen die Vereinten Nationalen und die Afrikanische
Union eine Friedenstruppe für die Region.
Heute beraten wir über die Verlängerung des Mandats
mit der Obergrenze von 50 Soldatinnen und Soldaten,
mit denen wir uns weiterhin an der UNAMID-Mission
beteiligen wollen. Derzeit sind elf deutsche Soldatinnen
und Soldaten sowie fünf Polizisten vor Ort.
Angesichts der Gesamtstärke der UN-Mission von
circa 16 000 Mann erscheint das möglicherweise gering.
Die deutsche Beteiligung ist aber wichtig, um deutlich
zu machen: Uns sind alle Länder in der Region wichtig.
Für uns sind nicht nur womöglich direkt ableitbare Interessen ausschlaggebend.
Somit können auch maximal 50 Soldatinnen und Soldaten einen wichtigen Beitrag leisten. Denn das Ziel dieser Friedensmission ist es, die Zivilbevölkerung in Darfur zu schützen. Ein weiteres Ziel ist es, die Sicherheit
des humanitären Personals sicherzustellen. Denn nur
wenn gewährleistet werden kann, dass entwicklungspolitische und humanitäre Helferinnen und Helfer vor
Ort sicher wirken können, kann es uns gelingen, im Verbund von militärischen, diplomatischen und polizeilichen Instrumenten einen nachhaltigen Erfolg in einer
Krisenregion zu erreichen.
({2})
So setzt zum Beispiel das Auswärtige Amt die Ausbildung afrikanischer Polizisten für Einsätze bei
UNAMID fort. Auf der Wiederaufbaukonferenz in Doha
hat Deutschland bereits 16 Millionen Euro für den Wiederaufbau Darfurs zugesichert.
Die Mission ist also eingebettet in einen ressortübergreifenden und vernetzten Ansatz. Zudem haben wir als
Handelsnation ein grundlegendes Interesse an stabilen
Handelspartnern und freien Handelswegen auch und besonders in und um Afrika. Aus all diesen Gründen ist unsere Hilfe für die Afrikanische Union und die Region im
Rahmen der UNAMID-Friedensmission wichtig.
Schicksale wie das von Mende Nazer - ich denke, darüber sind wir uns alle in diesem Haus einig - sollen sich
nicht wiederholen. Dies ist nur möglich, wenn in der Region ein dauerhafter und nachhaltiger Frieden gewährleistet ist, auch wenn der Weg dorthin noch lang sein
wird.
Irgendwann, meine Damen und Herren, will auch
Mende Nazer wieder zurück in den Sudan. Eine Rückkehr sei erst, sagt sie, möglich, wenn in dem Land Sicherheit herrscht. Genau dieses Ziel, Sicherheit für die
Menschen im Sudan, verfolgen wir mit dieser Friedensmission.
Deshalb bitte ich Sie, dem Antrag zuzustimmen.
({3})
Vielen Dank, Frau Kollegin Bartz. - Ich schließe die
Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3006 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Vizepräsidentin Claudia Roth
Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Matthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann
({0}), Klaus Ernst, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes für mehr Kontinuität der
Beitragssätze in der gesetzlichen Rentenversicherung ({1})
Drucksache 18/3042
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})
Finanzausschuss
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
({3})
- Ich sehe, dass einige Abgeordnete gehen. Wir haben
aber noch reichlich Abstimmungen; das will ich nur sagen.
({4})
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1) Ich sehe, Sie sind einverstanden.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs
auf Drucksache 18/3042 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse sowie an den Haushaltsausschuss
gemäß § 96 der Geschäftsordnung vorgeschlagen. Gibt
es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verringerung der Abhängigkeit von
Ratings
Drucksache 18/1774
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({5})
Drucksache 18/3066
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.2) -
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Finanzausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 18/3066, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 18/1774 in der Ausschussfassung anzu-
nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? -
Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung ange-
nommen bei Zustimmung von CDU/CSU, SPD und
Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Linken.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
1) Anlage 6
2) Anlage 8
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetz-
entwurf ist bei Zustimmung von CDU/CSU, SPD und
Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Linken an-
genommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Thomas Gambke, Britta Haßelmann, Lisa
Paus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Umsatzsteuerbetrug bekämpfen
Drucksache 18/1968
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.3) Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/1968 an den Finanzausschuss vorgeschlagen. Sie sind damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten
Gesetzes zur Änderung des Agrarstatistikgesetzes
Drucksache 18/2707
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung und Landwirtschaft
({6})
Drucksache 18/3064
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.4) -
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Er-
nährung und Landwirtschaft empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 18/3064, den Gesetz-
entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/2707 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-
men wollen, um ihr Handzeichen. - Wer stimmt dage-
gen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit
in zweiter Beratung angenommen bei Zustimmung von
CDU/CSU, SPD und den Linken und bei Enthaltung von
Bündnis 90/Die Grünen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-
setzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf
ist angenommen bei Zustimmung von CDU/CSU, SPD
und den Linken und Enthaltung von Bündnis 90/Die Grü-
nen.
3) Anlage 7
4) Anlage 10
Vizepräsidentin Claudia Roth
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. André Hahn, Katrin Kunert, Jan Korte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Anti-Doping-Gesetz für den Sport vorlegen
Drucksache 18/2308
Überweisungsvorschlag:
Sportausschuss ({7})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1) Niemand ist dagegen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/2308 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes
Drucksache 18/2602
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz
({8})
Drucksache 18/3069
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.2) -
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Recht und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 18/3069, den Ge-
setzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf
Drucksache 18/2602 anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
bei Zustimmung von CDU/CSU und SPD und bei Ent-
haltung der Linken und von Bündnis 90/Die Grünen an-
genommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetz-
entwurf ist angenommen bei Zustimmung von CDU/
CSU und SPD und Enthaltung der Linken und von
Bündnis 90/Die Grünen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zu dem Dritten Zusatz-
1) Anlage 9
2) Anlage 11
protokoll vom 10. November 2010 zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen vom
13. Dezember 1957
Drucksache 18/2655
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz
({9})
Drucksache 18/3071
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.3) -
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung. Der Ausschuss für Recht und
Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 18/3071, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 18/2655 anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Der
Gesetzentwurf ist angenommen bei Zustimmung von
CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen und Ge-
genstimmen der Linken.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung des Haager Übereinkommens vom 30. Juni 2005 über
Gerichtsstandsvereinbarungen
Drucksache 18/2846
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz
({10})
Drucksache 18/3068
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({11}) zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine Zimmermann ({12}), Sigrid Hu-
pach, Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE
Kurzzeitig Beschäftigten vollständigen Zu-
gang zur Arbeitslosenversicherung ermögli-
chen
Drucksachen 18/2786, 18/3067
Der Gesetzentwurf zur Durchführung des Haager
Übereinkommens über Gerichtsstandsvereinbarungen in
der Ausschussfassung des Ausschusses für Recht und
Verbraucherschutz beinhaltet Änderungen des Rechts-
pflegergesetzes, des Gerichts- und Notarkostengesetzes,
des Altersteilzeitgesetzes und des Dritten Buches Sozial-
gesetzbuch.
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.4) -
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.
3) Anlage 12
4) Anlage 13
Vizepräsidentin Claudia Roth
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 23 a. Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten
Gesetzentwurf zur Durchführung des Haager Übereinkommens über Gerichtsstandsvereinbarungen. Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3068,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/2846 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen mit Zustimmung von CDU/CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen
und Enthaltung der Linken.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit Zustimmung von CDU/CSU, SPD,
Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Linken angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 b. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Arbeit und Soziales zum Antrag der
Fraktion Die Linke mit dem Titel „Kurzzeitig Beschäftigten vollständigen Zugang zur Arbeitslosenversicherung ermöglichen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3067, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/2786 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung von CDU/CSUFraktion und SPD-Fraktion, bei Gegenstimmen der Linken und Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes zur Änderung des Mikrozensusgesetzes 2005 und des Bevölkerungsstatistikgesetzes
Drucksache 18/2141
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({13})
Drucksache 18/3078
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen vor.
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1) -
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.
Damit kommen wir zur Abstimmung. Der Innenaus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/3078, den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung auf Drucksache 18/2141 anzunehmen. Hierzu
liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 18/3089 vor, über den wir zuerst
abstimmen müssen. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer
1) Anlage 14
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Änderungsantrag ist abgelehnt bei Zustimmung von Bündnis 90/Die
Grünen, Ablehnung von CDU/CSU- und SPD-Fraktion
und Enthaltung der Linken.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen: Zustimmung
CDU/CSU- und SPD-Fraktion, Gegenstimmen Linke,
Enthaltung Bündnis 90/Die Grünen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist angenommen: Zustimmung von CDU/CSUund SPD-Fraktion, Gegenstimmen der Linken und Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/99/EU über die
Europäische Schutzanordnung, zur Durchführung der Verordnung ({14}) Nr. 606/2013
über die gegenseitige Anerkennung von
Schutzmaßnahmen in Zivilsachen und zur
Änderung des Gesetzes über das Verfahren in
Familiensachen und in den Angelegenheiten
der freiwilligen Gerichtsbarkeit
Drucksache 18/2955
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({15})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.2) Ich sehe, Sie sind einverstanden.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/2955 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Nein, das ist nicht der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung der Finanzaufsicht über Versicherungen
Drucksache 18/2956
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({16})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.3) -
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/2956 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
2) Anlage 15
3) Anlage 16
Vizepräsidentin Claudia Roth
anderweitige Vorschläge? - Nein, das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung der Abgabenordnung an den Zollkodex
der Union und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften
Drucksache 18/3017
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({17})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1) -
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/3017 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Nein. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Europäischen Übereinkommen vom 27. No-
1) Anlage 17
vember 2008 über die Adoption von Kindern
({18})
Drucksache 18/2654
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({19})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.2) Ich sehe, auch damit sind Sie einverstanden.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/2654 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Auch
dazu gibt es, wie ich sehe, keine weiteren Vorschläge.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
({20})
Ich berufe die nächste Sitzung auf morgen, Freitag,
den 7. November, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.
Bitte denken Sie daran, möglichst frühzeitig von zu
Hause loszufahren, damit Sie wirklich um 9 Uhr da sind.
Schönen Abend!