Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor wir in die heutige Tagesordnung eintreten, möchte
ich dem Kollegen Dr. Thomas Gambke zu seinem heutigen 65. Geburtstag ebenso gratulieren
({0})
wie dem Kollegen Norbert Schindler, der dieses stolze
Jubiläum gestern hinter sich gebracht hat.
({1})
Beiden Kollegen alle guten Wünsche für das neue Lebensjahr.
Wir müssen noch eine Wahl durchführen. Für den
Beirat der Schlichtungsstelle für den öffentlichen
Personenverkehr schlägt die Fraktion der CDU/CSU
vor, den Kollegen Dr. Stefan Heck und die Kollegin
Daniela Ludwig als Mitglieder zu wählen. Die SPDFraktion schlägt als Mitglied für dasselbe Gremium die
Kollegin Birgit Kömpel vor. Sind Sie mit diesen Vorschlägen einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall.
Dann sind die genannten Kollegen als Mitglieder des
Beirates gewählt.
Schließlich gibt es eine interfraktionelle Vereinbarung, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auf der Drucksache 18/2879 mit dem Titel „Ökologischen Hochwasserschutz voranbringen“ als Zusatzpunkt
zusammen mit dem Tagesordnungspunkt 27 aufzurufen.
Die Tagesordnungspunkte 20 und 24 sollen abgesetzt
werden. Der Tagesordnungspunkt 26 rückt auf die Stelle
des Tagesordnungspunktes 24. - Auch dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin
zum ASEM-Gipfel am 16./17. Oktober 2014,
zum Europäischen Rat am 23./24. Oktober
2014 und zum Euro-Gipfel am 24. Oktober
2014 in Brüssel
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor, über den wir später namentlich abstimmen werden. Nach einer interfraktionellen
Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an
die Regierungserklärung 96 Minuten vorgesehen. Auch das ist offenkundig einvernehmlich. Dann können
wir so verfahren.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
die Bundeskanzlerin Frau Dr. Angela Merkel.
({2})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Der ASEM-Gipfel bietet ein
großes und bedeutendes Forum, auf der Ebene der
Staats- und Regierungschefs regelmäßig Fragen zu besprechen, die von gemeinsamem Interesse für Europa
und Asien sind. Er ist damit auch Ausdruck der immer
enger und wichtiger werdenden Partnerschaft zwischen
Industrieländern, Schwellenländern und Entwicklungsländern, einer Partnerschaft, die wir heute und morgen
auf dem ASEM-Gipfel in Mailand weiter stärken wollen. Die großen globalen Herausforderungen - wir wissen es - werden wir nur gemeinsam bewältigen können.
Eine - um das Motto des Gipfels zu zitieren - verantwortungsvolle Partnerschaft für nachhaltiges Wachstum
und Sicherheit kann hierzu wertvolle Beiträge leisten.
Lassen Sie mich drei Beispiele nennen.
Erstens. In Asien wird deutlich, dass freie und sichere
Seewege wahrlich nicht nur eine regionale Angelegenheit sind, sondern auch unsere Interessen als Handelsnationen sind dort unmittelbar berührt. Zusammen mit
unseren Partnern setzen wir uns dafür ein, dass in strittigen Territorialfragen internationale Streitschlichtungsmechanismen genutzt und vertrauensbildende Maßnahmen ergriffen werden.
Was es bedeutet, wenn Völkerrecht gebrochen und so
die internationale Rechts- und Friedensordnung beschädigt wird, führt uns in Europa die Ukraine-Krise drastisch vor Augen. Die Folgen sind nicht nur für das
betroffene Land, in diesem Fall die Ukraine, verheerend,
sondern auch weit darüber hinaus gravierend. Dem muss
die Staatengemeinschaft geschlossen und entschlossen
entgegentreten.
Am Rande des ASEM-Gipfels werde ich zu Gesprächen mit dem ukrainischen Präsidenten Poroschenko
und dem russischen Präsidenten Putin zusammenkommen. Die Lage in der Ukraine ist trotz der Vereinbarung
der Waffenruhe weiterhin äußerst schwierig. Immerhin
sind seit Inkrafttreten der Waffenruhe über 300 Menschen gestorben; immer noch gibt es täglich Berichte
über Kämpfe und Opfer.
Den entscheidenden Beitrag zur Deeskalation muss
Russland leisten. Ganz wesentlich dafür ist die vollständige Umsetzung der Minsker Vereinbarung vom September. Das verlangt unter anderem den Abzug russischer Waffen, eine effektive Grenzsicherung unter
Führung der OSZE sowie die Durchführung von Kommunalwahlen im Osten der Ukraine, und zwar nach
ukrainischem Recht. Genau diese Dinge werden wir
auch ansprechen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden weiterhin keinerlei Zweifel daran lassen, dass die Verletzung
der territorialen Integrität der Ukraine und der Bruch des
Völkerrechts in unserer unmittelbaren Nachbarschaft
nicht folgenlos bleiben. Deshalb sind Sanktionen ein
wichtiger Teil unseres Ansatzes, den Konflikt um die
Ukraine zu lösen.
({1})
Selbstzweck sind sie aber nicht. Wir suchen unvermindert immer auch den Dialog mit Russland. Das eine,
Sanktionen, schließt das andere, den Dialog, nicht aus um immer wieder die Stärke des Rechts durchzusetzen.
({2})
Zweitens. Die Terrororganisation IS bedroht den Nahen und Mittleren Osten in völlig neuer Qualität. Mehr
noch: Sie bedroht die gesamte freie Welt. Deshalb müssen wir sie auch als weltweite, als gemeinsame Herausforderung begreifen, der wir uns gemeinsam zu stellen
haben. So können wir zum Beispiel zwischen Europa
und Asien eng zusammenarbeiten, um die Reisetätigkeit
potenzieller Dschihadisten einzudämmen. Wir können
uns auch darüber austauschen, wie wir weiteren Radikalisierungstendenzen in unseren Gesellschaften wirksam
begegnen können.
Drittens. Auch die Ebolaepidemie, diese schreckliche
Heimsuchung für die Menschen, die sich mit dem Virus
infizieren, diese Heimsuchung für die Länder Westafrikas, die von ihr ganz besonders betroffen sind, ist in der
globalisierten Welt von heute nur mit einer deutlich engeren internationalen Zusammenarbeit und mit deutlich
effektiveren Strukturen einzudämmen, als wir sie im Augenblick haben. Ebola und vergleichbare Epidemien machen nicht an Grenzen halt; sie gehen uns alle an.
({3})
Diese drei kurz skizzierten Beispiele stehen dafür,
wie wichtig eine verantwortungsvolle Partnerschaft auf
der Welt ist. Sie stehen dafür, wie wichtig bilaterale
Kontakte europäischer und asiatischer Partner sind, und
diese bilateralen Kontakte wird es natürlich auch am
Rande des ASEM-Gipfels geben. In solchen Gesprächen
spüre ich im Übrigen immer wieder deutlich, wie hoch
die Erwartungen an uns in Europa sind, dass wir unsere
Stimme erheben, sie zu Gehör bringen und andere unterstützen. Umso wichtiger ist es, dass wir in Europa stets
aufs Neue verstehen, dass nur ein einiges, nur ein starkes
Europa seine Interessen und Werte in der Welt erfolgreich vertreten kann.
Eine wesentliche Voraussetzung dafür ist und bleibt,
dass Europa stärker aus der europäischen Staatsschuldenkrise hervorgeht, als es in sie hineingegangen ist. Wir
müssen Europa zu neuer Stärke führen. Das ist die große
Herausforderung, die die Mitgliedstaaten der Europäischen Union und die europäischen Institutionen in den
nächsten Jahren gemeinsam leisten müssen. Dazu muss
die europäische Ebene sich wirklich nicht für alles zuständig fühlen, sondern da, wo es darauf ankommt, stark
sein; sie muss ihre Ressourcen auf genau diese Bereiche
konzentrieren. Deshalb ist es von so großer Bedeutung,
dass der Europäische Rat im Juni mit dem neuen Kommissionspräsidenten eine sogenannte strategische
Agenda für die nächsten fünf Jahre beschlossen hat. Genau auf dieser Grundlage werden wir uns beim Europäischen Rat in der nächsten Woche damit beschäftigen,
wie wir Wettbewerbsfähigkeit, Wachstum und Beschäftigung in Europa weiter stärken können, und zwar gezielt und nachhaltig. Genau das ist eine der wichtigen
Lehren aus der Krise der vergangenen Jahre.
Dass wir seit ihrem Beginn den richtigen Weg eingeschlagen haben, belegen erste Erfolge. In den von der
Krise besonders betroffenen Ländern steigt die Produktivität, die Leistungsbilanzen haben sich verbessert und
die Haushaltsdefizite werden abgebaut. Mit Irland, Portugal und Spanien haben drei von fünf Programmländern
ihre Programme bereits erfolgreich abschließen können.
Dennoch - und das werde ich wieder und wieder sagen - sind wir noch lange nicht am Ziel. Die Krise ist
noch nicht dauerhaft, noch nicht nachhaltig überwunden;
denn ihre Ursachen, sowohl im Hinblick auf die Gestaltung der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion
als auch auf die Lage einzelner Mitgliedstaaten, sind
noch nicht vollständig beseitigt. Wir müssen unsere Anstrengungen für nachhaltiges Wachstum, für solide öffentliche Finanzen und die Schaffung von Arbeitsplätzen
weiter entschlossen vorantreiben.
Die kontinuierliche Ausrichtung nationaler Politik auf
Strukturreformen zur Stärkung von Wettbewerbsfähigkeit, von Wachstum und Beschäftigung ist und bleibt
entscheidend für einen dauerhaften Erfolg der Wirtschafts- und Währungsunion. Ich werde mich deshalb
auch weiterhin - obwohl wir das vielmals schon ohne
sichtbare Erfolge getan haben - für eine engere und verbindliche wirtschaftspolitische Koordinierung in Europa
einsetzen. Wir brauchen das, wenn wir in einem Währungsgebiet gemeinsam dauerhaft und nachhaltig wachsen wollen und Beschäftigung generieren wollen.
({4})
Es war richtig und wichtig, dass sich die europäischen
Staats- und Regierungschefs im Juni noch einmal gemeinsam zu den Regeln des gestärkten Stabilitäts- und
Wachstumspakts bekannt haben. Alle - ich betone an
dieser Stelle noch einmal: alle - Mitgliedstaaten müssen
die gestärkten Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts voll respektieren. Diese Regeln müssen gegenüber
allen Mitgliedstaaten glaubwürdig angewandt werden.
Nur dann kann der Pakt seine Funktion als zentraler Anker für Stabilität und vor allen Dingen für Vertrauen in
der Euro-Zone erfüllen.
({5})
Die entsprechenden europäischen Rechtsakte sind im
Übrigen nicht vom Himmel gefallen, sondern sie wurden
vom Europäischen Parlament mit beschlossen. Die
neuen Regeln zur Überwachung nationaler Haushalte
wurden dort nach langen Beratungen vor gerade erst anderthalb Jahren von einer breiten Mehrheit mitgetragen.
Ich bin sicher, dass sich die derzeitige genauso wie die
künftige Europäische Kommission der zentralen Verantwortung bewusst ist, die sie für die Glaubwürdigkeit des
Stabilitäts- und Wachstumspaktes trägt.
Die wirtschaftliche Erholung in Europa, die endlich
- wenn auch noch sehr zaghaft, vielleicht auch zu zaghaft - auch auf dem Arbeitsmarkt bemerkbar ist, ist immer noch zu fragil, als dass wir einfach zur Tagesordnung übergehen könnten. Dazu reicht allein schon ein
Blick auf die Jugendarbeitslosigkeit. Sie macht uns unverändert große Sorgen. Wir müssen deshalb weiter daran arbeiten, dass nationale und europäische Mittel, die
für die Förderung von Jugendbeschäftigung verfügbar
sind, schnell und effektiv eingesetzt werden.
Wir müssen die Mobilität von Arbeitskräften national
und grenzüberschreitend weiter voranbringen. So haben
wir es auf dem Beschäftigungsgipfel in Mailand in der
letzten Woche verabredet. Dennoch ist es nicht zufriedenstellend, dass nur ein ganz kleiner Teil der 6 Milliarden Euro, die für die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit zur Verfügung stehen, bis jetzt abgerufen wurde.
({6})
Es ist auch wichtig - ich habe noch einmal darauf hingewiesen -, dass wir wissen, wohin wir junge Leute ausbilden. Wir haben hier leidvolle Erfahrungen aus der
Zeit der deutschen Einheit. Deshalb muss auch identifiziert werden, wo die Wachstumsregionen Europas liegen.
Meine Damen und Herren, den Europäischen Rat und
den Euro-Zonen-Gipfel in der kommenden Woche werden wir insgesamt dazu nutzen müssen, eine Bilanz zu
ziehen, was die im Rahmen des vor zwei Jahren beschlossenen Pakts für Wachstum und Beschäftigung vereinbarten Maßnahmen bisher gebracht haben. Ich
glaube, es ist wichtig, eine solche Bilanz aufzustellen;
denn nur auf dieser Grundlage sind wir überhaupt in der
Lage, richtige Entscheidungen für die Zukunft zu treffen. Darum wird es vor allem bei dem Ratstreffen im
Dezember gehen, bei dem wir über Investitionen und
über Wachstum sprechen werden sowie über die
Schwerpunkte, in denen das stattfinden soll.
Ohne Zweifel können wir eine Reihe von Fortschritten feststellen. Zum Beispiel hat die Europäische Investitionsbank, an deren Kapitalerhöhung wir hier durch
Beschlüsse mitgewirkt haben, inzwischen Kredite für
rund 230 000 kleine und mittlere Unternehmen in Europa mobilisiert. Das ist eine gute Nachricht.
({7})
Im Übrigen hat die Europäische Investitionsbank - parallel zu den Mitteln aus dem europäischen Haushalt 6 Milliarden Euro zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit eingesetzt. Über die Europäische Investitionsbank
sind inzwischen Kredite in Höhe von 9,6 Milliarden Euro
vergeben worden. Die Europäische Investitionsbank hat
also in kurzer Zeit mehr gemacht, als sie versprochen
hat.
Wir müssen auch über den EU-Haushalt sprechen, für
den wir seit 2012 eine Reihe wichtiger Weichenstellungen vorgenommen haben, die zeigen, dass wir den
Schwerpunkt auf nachhaltiges Wachstum, Beschäftigung
und Wettbewerbsfähigkeit legen. In diesem Zusammenhang geht es aber immer wieder um die richtigen Rahmenbedingungen für Investitionen. Ich glaube, wir können in
Deutschland zeigen, dass Wachstum und Investitionen
gestärkt werden können, ohne dass man den Konsolidierungskurs verlassen muss.
Im Übrigen sind es die Wirtschaft und die Unternehmen, die Arbeitsplätze und Innovationen schaffen. Es
muss also vor allem, wenn wir Wachstum in Europa
wollen, um die Mobilisierung privaten Kapitals gehen,
und das wird zurzeit zu wenig gemacht.
({8})
Wir müssen darüber sprechen, wo wir durch Investitionen
und verbesserte Rahmenbedingungen gezielt Stärkungen
hervorrufen können, um möglichst starke Wachstumsimpulse zu erzeugen. Für mich gehören der gesamte Bereich der digitalen Wirtschaft wie auch die Förderung
kleinerer und mittlerer Unternehmen im Energiebereich
dazu. Über den digitalen Bereich wird in diesem Haus
heute ja noch debattiert; ich glaube, das ist außerordentlich wichtig.
Hinsichtlich der klima- und energiepolitischen Diskussion bedeutet der Europäische Rat in der nächsten
Woche eine weitere wichtige Etappe, und zwar nicht nur
innerhalb der Europäischen Union, sondern auch mit
Blick auf die internationalen Klimaverhandlungen, die
nächstes Jahr in die entscheidende Konferenz in Paris
münden. Wir haben das Ziel einer dauerhaft sicheren,
bezahlbaren und umweltverträglichen Energieversor5486
gung; genauso verfolgen wir ehrgeizige Klimaziele.
Beim Europäischen Rat werden wir konkrete Ziele und
wichtige Eckpunkte für den Klima- und Energierahmen
der EU bis zum Jahr 2030 beraten.
Die Situation in der Ukraine hat uns zudem in besonderem Maße noch einmal die Bedeutung der Energieversorgungssicherheit für unser Land und für Europa vor
Augen geführt. Beide Themen gehören eng zusammen:
Fortschritte beim Ausbau der erneuerbaren Energien und
bei der Energieeffizienz tragen auch dazu bei, die Abhängigkeit Europas von Energieimporten zu verringern.
({9})
Den Beratungen in der nächsten Woche liegen die
Vorschläge der Kommission für einen Klima- und Energierahmen 2030 zugrunde. Danach sollen die Treibhausgasemissionen um 40 Prozent gegenüber 1990 verringert
werden, der Anteil der erneuerbaren Energien soll 2030
bei mindestens 27 Prozent liegen, und der Primärenergieverbrauch soll um 30 Prozent gesenkt werden.
({10})
Wir wollen - ich glaube, hier habe ich die Unterstützung des Bundestages -, ebenso wie viele andere Partner
in der Europäischen Union auch, dass von Europa ein
starkes Signal für den Klimaschutz ausgeht, gerade auch
mit Blick auf die internationalen Klimaschutzverhandlungen.
({11})
Sie müssen im Dezember nächsten Jahres in Paris endlich mit einem ambitionierten Abkommen abgeschlossen
werden. Dazu wollen wir uns auch die Möglichkeit offenhalten, im Kontext eines globalen Abkommens im
Klimabereich über das vorgeschlagene 40-Prozent-Ziel
hinauszugehen.
Für das Gesamtpaket setzt die Bundesregierung auch
auf ein klares Signal für eine rasche und nachhaltige Reform des europäischen Emissionshandels. Er ist und
bleibt das zentrale Klimaschutzinstrument in Europa und
muss seinen Beitrag zur Erreichung der neuen Klimaziele bis 2030 leisten.
({12})
Hier müssen wir es schaffen, die bestehenden Überschüsse an Zertifikaten so schnell wie möglich abzubauen und den Emissionshandel wieder auf Kurs zu
bringen. So können wir Anreize für Investitionen in effiziente Technologien setzen. Damit aber unsere Wirtschaft diese Investitionen tätigen kann, brauchen wir
weiterhin effektive Regelungen, die unsere Wirtschaft
im internationalen Wettbewerb schützen und eine Verlagerung von Produktionskapazitäten ins Ausland verhindern. Deutschland will seine industrielle und wirtschaftliche Stärke nutzen, um den Klimaschutz mit innovativen
Technologien weiterzubringen. Denn es wäre wahrlich
niemandem geholfen, wenn CO2-Emissionen außerhalb
Europas freigesetzt würden und in Europa Arbeitsplätze
verloren gingen.
({13})
Wir Deutschen können uns beim Klimaschutz oder
beim Ausbau der erneuerbaren Energien durchaus noch
ambitioniertere Ziele als die von der Kommission vorgelegten vorstellen. Anderen Mitgliedstaaten hingegen gehen bereits die auf dem Tisch liegenden Vorschläge der
Kommission entschieden zu weit. Es steht also außer
Zweifel: Uns stehen noch schwierige Verhandlungen bevor. Es ist auch noch offen, ob es schon nächste Woche
gelingen wird, einen Klima- und Energierahmen 2030 zu
beschließen, oder erst später.
Wer Europa kennt, weiß, wie wichtig Geduld und
Ausdauer sind. Wer Europa kennt, weiß, dass es richtig
ist, die spezifischen Besonderheiten aller Mitgliedstaaten zu berücksichtigen und niemanden zu überfordern.
Denn unser künftiger Klima- und Energierahmen muss
von allen Mitgliedstaaten - wir müssen das einstimmig
entscheiden - getragen werden. Aber genauso richtig ist
und bleibt: Alle Mitgliedstaaten müssen faire Beiträge
leisten. Deutschland ist bereit, wirtschaftlich schwächere
Mitgliedstaaten bei der Modernisierung ihrer Energiesysteme und ihrer Wirtschaft im Rahmen des Möglichen
zu entlasten. Aber Deutschland erwartet im Gegenzug
auch, nicht über Gebühr belastet zu werden. Auf beides
lege ich Wert.
Es gehört zum Geist der europäischen Zusammenarbeit und der Verantwortung, dass am Ende immer alle einen Beitrag leisten müssen, um ein gemeinsames Ergebnis zu ermöglichen. Ein solches gemeinsames Ergebnis
wird dem Klimaschutz dienen, und es wird dazu dienen,
Klarheit über den anstehenden Investitionsbedarf im
Energiesektor sowie Planungssicherheit für unsere Industrie zu schaffen. Diesen Aspekt darf man nicht unterschätzen. Die Industrie wartet auf klare Signale, wie sich
der Klimaschutz weiterentwickelt.
({14})
Wir werden dabei natürlich auch die Fragen der Verbesserung der Energieversorgungssicherheit für Europa
und für unser Land beraten. Es ist richtig, unsere Energiebezugsquellen und -transportwege weiter zu diversifizieren und unsere Importabhängigkeiten zu verringern.
Diesen Weg müssen wir ebenso entschieden wie mit Augenmaß fortsetzen. Von zentraler Bedeutung ist dabei
auch die europäische Zusammenarbeit beim Ausbau der
Strom- und Gasnetze, insbesondere um die Leitungsverbindungen zwischen den Mitgliedstaaten weiter zu verbessern. Dieser Netzausbau ist zugleich eine zentrale
Voraussetzung dafür, ein weiteres wichtiges Ziel zu erreichen, und das ist die Verwirklichung des EU-Energiebinnenmarktes. Auch dafür setzt sich die Bundesregierung ein.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, ich wünsche mir, dass bei dem heute beginnenden ASEM-Gipfel
und beim Europäischen Rat in der nächsten Woche gezeigt wird, was Europa auszeichnet und was wir in der
globalen Welt brauchen: dass wir am Ende auch bei den
schwierigsten Themen stets eine für alle tragfähige Lösung im Geist der Zusammenarbeit und der Verantwortung finden. Dafür setze ich mich heute und morgen in
Mailand und nächste Woche in Brüssel mit ganzer Kraft
ein und bitte um Ihre Unterstützung.
Herzlichen Dank.
({15})
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Gregor Gysi für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin, Sie haben zum Schluss auch über die Energiefrage gesprochen. Wenn ich es richtig verstanden
habe, soll es ja darum gehen, die Abhängigkeit von Erdgas und Öl aus Russland abzubauen, und wenn ich es
weiter richtig verstanden habe, sind die USA daran interessiert - und Sie auch dazu bereit -, dass Sie den Import
von Erdgas aus den USA - welches übrigens durch Fracking hergestellt wird - ausweiten. Erstens ist Fracking
umweltschädlich, zweitens ging es den USA bei ihrer
Forderung, dass sich die EU von Russland unabhängig
machen solle, und bei der Forderung nach Sanktionen
gegen Russland doch wieder um eigene ökonomische Interessen: dass sie mehr verkaufen können; das kommt
dabei heraus.
({0})
Nun ging der deutsche Export - die dramatische Zahl
hat auch Herrn Gabriel etwas durcheinandergeworfen im August um 5,8 Prozent zurück. Dafür gibt es zwei
Gründe, die Sie nicht benannt haben:
Der erste Grund ist die völlig verfehlte Sanktionspolitik gegenüber Russland, das daraufhin die Importe aus
Deutschland stark reduziert hat. Das ist politisch, ökonomisch und auch sozial der falsche Weg. Es wird geschätzt, dass uns das bis zu 300 000 Arbeitsplätze kosten
kann.
Jetzt sage ich Ihnen, was der Vorteil einer Mitgliedschaft in der EU ist: Der Vorteil einer EU-Mitgliedschaft
besteht darin, dass die Länder politisch, wirtschaftlich
und zivilgesellschaftlich so eng miteinander verflochten
sind, dass ein Krieg zwischen ihnen gar nicht mehr
denkbar wäre; da müsste vollständiger Irrationalismus
herrschen. Wenn das stimmt, dann brauchen wir zu
Russland genauso enge politische, ökonomische und zivilgesellschaftliche Beziehungen: damit ein Krieg zwischen Russland und dem übrigen Europa ebenfalls ausgeschlossen wird.
({1})
Wenn wir das hätten, wenn wir so enge Beziehungen
hätten, könnten wir auch Einfluss nehmen auf Fragen
der Entwicklung der Demokratie, der Freiheit und des
Umgangs mit Lesben und Schwulen und viele andere
Dinge, die uns stören. Das ist der richtige Weg. Der Weg
der Sanktionen ist völlig falsch und schadet letztlich
auch uns, unserer Wirtschaft wie unseren Bürgerinnen
und Bürgern.
({2})
Deshalb ist, finde ich, die Verschiebung des Petersburger
Dialogs ein völlig falsches Signal, das wir in dieser Zeit
überhaupt nicht brauchen können.
Nun nehmen wir ja alle erstaunt zur Kenntnis, dass
sich - es gibt immerhin das Minsker Abkommen - doch
Lösungen in der Ukraine anbahnen. Deshalb sage ich Ihnen noch einmal: Jetzt müssen Sie auch Ihre Bereitschaft
signalisieren, die Sanktionen zurückzunehmen; anders
ist das Verhältnis nicht zu normalisieren.
Für den Rückgang der Exporte gibt es noch einen
zweiten Grund. Dieser zweite Grund hat mit der Politik
in Bezug auf den Süden Europas zu tun. Diese Politik
war und bleibt falsch. Nach wie vor haben wir die Situation, dass die Banken spekulieren können, soviel sie
wollen - es haften immer die Steuerzahlerinnen und
Steuerzahler für sämtliche Verluste. Nach wie vor haben
wir die Situation, dass die Banken, denen das Geld ja in
den Rachen geworfen wird, dieses Geld nicht für Investitionen nutzen, sondern weiter mit Wertpapieren und
Immobilien spekulieren. Die notwendige Regulierung,
die Sie mehrfach angekündigt haben, findet bis heute
nicht statt.
Wenn jetzt angekündigt wird, dass die Europäische
Zentralbank bereit ist, den Banken auch noch die Staatsanleihen abzukaufen, macht das die Banken natürlich
noch reicher und noch sicherer. Vorgestern habe ich
beim Europäischen Gerichtshof in Luxemburg argumentiert - ich finde: in Übereinstimmung mit dem Bundesverfassungsgericht -, weshalb dies rechtswidrig ist. Wir
werden sehen, wie der Europäische Gerichtshof entscheidet. Ein direkter Ankauf von Staatsanleihen - bei
den Staaten - durch die Europäische Zentralbank wäre
durchaus sinnvoll, ist aber durch den Lissabonner Vertrag verboten. Vielleicht müssen wir doch einmal darüber nachdenken, diesen zu korrigieren.
({3})
Jetzt komme ich zu Ihrem Spardiktat gegenüber dem
Süden Europas. Ich will Ihnen einmal wirklich aufzählen, was dort angerichtet worden ist. Die Folgen sind
- zunächst in diesen Ländern und jetzt auch bei uns - erheblich: Über 26 Millionen Bürgerinnen und Bürger in
der EU sind arbeitslos. Millionen junger Menschen haben
keine Perspektive: In Griechenland und Spanien liegt die
Jugendarbeitslosigkeit bei über 50 Prozent, in Italien bei
44 Prozent. In Griechenland bekommen nur 27 Prozent
der Arbeitslosen Arbeitslosengeld. Beim Europäischen
Gerichtshof habe ich die Folgen für Griechenland einmal
konkret wie folgt benannt: Die Säuglingssterblichkeit
stieg in der Zeit der Krise um 21 Prozent, die Kindersterblichkeit stieg um 43 Prozent, die HIV-Ansteckungsquote stieg um 52 Prozent. Die Selbstmordrate stieg um
37 Prozent. - Es tut mir leid, Frau Bundeskanzlerin, aber
das ist das Ergebnis Ihrer Politik.
({4})
- Es tut mir leid, aber es war die Bundesregierung, die
dieses Spardiktat diktiert hat. Und das sind die Folgen
dieses Spardiktats.
({5})
Jetzt sage ich Ihnen Folgendes: Erstens. Die Staatsschulden liegen in den betroffenen Ländern nun auf Rekordniveau. Deshalb gibt es eine mögliche und eine jetzige Folge. Wir haften bekanntlich für 27 Prozent dieser
Darlehen. Ich sehe nicht, wie die Staaten das Geld je zurückzahlen können. Wenn wir mit 27 Prozent haften,
müssen wir irgendwann 300 Milliarden Euro bezahlen.
Ich möchte einmal wissen, woher Sie das Geld nehmen
wollen. Sie unterbreiten keinen einzigen Vorschlag, wie
Sie das machen wollen. Sie unterschreiben die Bürgschaft und verraten uns nicht, was im Haftungsfall passieren soll.
Mein zweiter Punkt. Sie organisieren, dass die betroffenen Länder Tag für Tag weniger Geld haben. Deshalb
können sich die Menschen in diesen Ländern die Importe aus Deutschland nicht mehr leisten. Das ist der
zweite Grund für den Exportrückgang. Aber Deutschland ist Vizeweltmeister beim Export! Das haben wir übrigens immer wieder gerügt, weil wir der Auffassung
sind: Wir sind damit weltweit sehr stark abhängig, wir
müssen stattdessen die Binnenwirtschaft stärken. Aber
Sie haben uns diesbezüglich nie zugehört.
({6})
- Ford hat übrigens schon Kurzarbeit angekündigt, um
Ihnen nur ein Beispiel zu nennen.
({7})
Die Zahl der verlorenen Arbeitsplätze überschreitet bald
300 000. Dann haben wir hier gewaltige soziale Probleme, die Sie damit indirekt verursacht haben.
({8})
Herr Kauder, seit der ersten Debatte habe ich Ihnen
gesagt: Wenn wir das Spardiktat gegen den Süden durchsetzen, werden die Exporte zusammenbrechen. Sie haben mir immer widersprochen. Jetzt brechen die Exporte
zusammen. Der Rückgang von 5,8 Prozent im August ist
erst der Anfang.
({9})
Sie sehen es wieder: Sie hätten gleich auf mich hören
sollen, Herr Kauder; das habe ich Ihnen schon mehrfach
gesagt.
({10})
Wissen Sie, was der Süden gebraucht hätte? Eine Art
Marshallplan, von dem wir nach 1945 profitiert haben.
Das wäre sinnvoll gewesen, weil das ein Aufbauplan gewesen wäre.
({11})
Dann hätten die Länder mehr Geld und könnten die Darlehen zurückbezahlen. Aber das wollten Sie nicht. Wissen Sie, was Ihre Auffassung ist? Dass die Agenda 2010,
erfunden von SPD und Grünen, weltweit ein Heilsbringer ist.
({12})
Ein schwerer Irrtum, kann ich nur sagen.
({13})
Übrigens: Der französische, inzwischen zurückgetretene Wirtschaftsminister hat Folgendes gesagt - ich bin
mit meiner Meinung schließlich nicht alleine -: Die
Sparpolitik in Frankreich und in ganz Europa ist eine
einzige Absurdität. Sie führt in die Rezession und bald
auch zur Deflation. ({14})
Wegen dieser richtigen Erkenntnis musste er zurücktreten. Das ist die Wahrheit in Europa.
({15})
Ich sage Ihnen noch etwas: Der EZB-Präsident
Draghi stemmt sich nun hilflos gegen die Krise und die
Deflation. Die Leitzinsen machen jetzt ein halbes Prozentpünktchen aus. Was ich aber wirklich eine Unverschämtheit finde - da will die Regierung zwar etwas machen, aber bitte handeln Sie nicht halbherzig, Herr Maas,
sondern machen Sie etwas Vernünftiges -, ist, dass die
Banken beim Dispokredit unverschämt hohe Zinsen kassieren, obwohl sie selbst das Geld fast kostenlos erhalten. Das darf nicht mehr geschehen.
({16})
Wissen Sie, dass die Sparerinnen und Sparer in
Deutschland die ganze Krise mit einem Wertverlust ihrer
Sparguthaben bezahlt haben? 23 Milliarden Euro macht
der Wertverlust der Sparguthaben aus. Auch darüber
sprechen Sie nie. Erklären Sie doch einmal den Sparerinnen und Sparern, weshalb sie für die Krise haften, die sie
nicht verursacht haben.
({17})
Ich habe es schon gesagt: Wir müssen die Abhängigkeit vom Export abbauen. Wir brauchen mehr Binnenwirtschaft. Dafür brauchen wir Investitionen. Ich sage
auch Ihnen, Herr Bundesfinanzminister: Ihre schwarze
Null ist nichts wert, wenn dafür auf Zukunft verzichtet
wird. Wir brauchen Investitionen in die Infrastruktur und
in die Bildung. Dafür ist es höchste Zeit. Es wird Ihnen
auch nicht gelingen, diese Bereiche zu privatisieren.
Dann wird eine Rendite erwartet, die für die Bürgerinnen und Bürger unbezahlbar sein wird.
({18})
Deshalb sage ich Ihnen: Wir müssen umsteuern.
Übrigens, Herr Peter Ramsauer, wenn Sie jetzt vorschlagen, alle Maßnahmen auszusetzen, die Rente ab 63,
den Mindestlohn: Mein Gott, damit ruinieren Sie doch
die Binnenwirtschaft. Machen Sie doch einmal eine
kleine volkswirtschaftliche Lehre! Dafür wird es höchste
Zeit! Ganz abgesehen davon, dass das sozial ungerecht
ist. Also: Wir müssen in Europa umkehren.
({19})
Herr Kollege Gysi, bitte kommen Sie zum Schluss.
Ich habe einen Wunsch, den ich Ihnen zum Schluss
mitteilen will: Ich möchte, dass die europäische Integration attraktiv wird, gerade auch für die jungen Leute und
damit für die Zukunft. Die Europawahlen, die wir noch
gar nicht richtig ausgewertet haben, sind ein schlimmes
Zeichen. Rechtsextreme und nationalistische Parteien
hatten große Erfolge. Wenn wir das nicht wollen, Frau
Bundeskanzlerin, müssen Sie dafür sorgen, dass unter
dem Begriff „Europa“ gerade bei der Jugend endlich
wieder mehr Frieden, mehr Demokratie und mehr soziale Wohlfahrt verstanden wird.
({0})
Für die SPD-Fraktion erhält nun der Kollege Thomas
Oppermann das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat in dieser Woche ihre Wachstumsprognose korrigiert. Wir können 2015 mit einem Wachstum
von 1,3 Prozent rechnen. Das ist weniger als erwartet.
Die Ursachen dafür sind bekannt. Unsere Binnenwirtschaft läuft zwar gut, aber die internationalen Konflikte
zwischen Russland und der Ukraine oder im Nahen Osten gehen nicht spurlos an der deutschen Wirtschaft vorbei. Hinzu kommt, dass die Schwellenländer nicht mehr
so stark wachsen. Vor allem aber bereitet uns die ausbleibende Erholung im Euro-Raum ein riesiges Problem.
Das bestätigen auch die Wirtschaftsinstitute in ihren
Gutachten aus der letzten Woche. Gleichzeitig erwecken
sie aber den Eindruck, all das habe mit der Rentenreform
und dem gesetzlichen Mindestlohn zu tun, obwohl der
({0})
erst 2015 in Kraft tritt. Was ist das für eine sonderbare
Argumentation?
({1})
Wenn sich das Wachstum abschwächt, dann kann es
doch nicht falsch sein, wenn jetzt für 4 Millionen Arbeitnehmer in diesem Land eine zusätzliche Kaufkraft von
über 10 Milliarden Euro in den nächsten beiden Jahren
generiert wird.
({2})
Der Mindestlohn schwächt unsere Wirtschaft nicht. Er
wird die Binnennachfrage stimulieren, er wird die Konjunktur ankurbeln und auch für mehr Importe sorgen.
Das ist etwas, was auch unseren europäischen Nachbarn
hilft.
({3})
Deshalb kommt der Mindestlohn genau zum richtigen
Zeitpunkt.
Genauso ist es richtig, dass wir den Rentenbeitrag im
nächsten Jahr senken, wenn die Möglichkeit dazu besteht. Das kann weitere 3 Milliarden Euro Entlastung für
Arbeitnehmer und Arbeitgeber bringen.
Meine Damen und Herren, ich finde es erstaunlich,
dass jetzt sogar die konservativen Wirtschaftsinstitute
fordern, dass wir mehr Schulden machen sollen. Bisher
haben sie uns immer genau das Gegenteil erzählt.
({4})
Unsere Wirtschaft wird im nächsten Jahr über 1 Prozent
wachsen. Das ist deutlich mehr als 2012 und 2013. Mit
diesem Wachstum können wir einen ausgeglichenen
Haushalt erreichen. Den wollen wir und den werden wir
hier im Bundestag im November auch beschließen,
meine Damen und Herren.
({5})
Wir haben eine starke Binnennachfrage und einen
robusten Arbeitsmarkt. Deshalb gibt es überhaupt keinen Grund für Schwarzmalerei und Pessimismus. Kassandra Gysi, es war völlig überflüssig, was Sie da
gesagt haben.
({6})
Keine Panik wegen der wirtschaftlichen Situation,
aber bitte auch keine Panik wegen der Frauenquote.
({7})
In der korrigierten Wachstumsprognose mögen einige
Herren die letzte Chance erkannt haben, die Frauenquote
doch noch zu stoppen. Aber, meine Herren, ich muss Sie
enttäuschen: Die Frauenquote kommt, sie kommt mit
Macht, und sie ist keine Belastung für unsere Wirtschaft,
sondern eine große Chance für Wirtschaft und Gesellschaft.
({8})
Wir brauchen kein schuldenfinanziertes Strohfeuer,
keinen Aktionismus und keine Einmaleffekte. Was wir
brauchen, ist eine Strategie, wie wir mit öffentlichen und
privaten Investitionen die Wettbewerbsfähigkeit unserer
Wirtschaft dauerhaft stärken können. Daran hat diese
Koalition bereits kräftig gearbeitet, meine Damen und
Herren.
({9})
Wir investieren 3 Milliarden Euro mehr in Forschung
und Entwicklung, 5 Milliarden Euro mehr in die Modernisierung der Infrastruktur. Wir entlasten die Länder. Mit
der Übernahme des BAföG werden in den Ländern
1,3 Milliarden Euro frei, die in Kitas und Schulen gesteckt werden können.
({10})
Das schafft nicht nur unmittelbar Arbeit; es sichert auch
langfristig ausreichend qualifizierte Fachkräfte.
({11})
Wir entlasten die Kommunen. Eine jährliche Entlastung um 5 Milliarden Euro bei der Grundsicherung ist
bereits realisiert. Eine weitere Milliarde Euro kommt ab
2015 hinzu, und ab 2017 wird es weitere Entlastungen
geben. Es geht darum, die Investitionsfähigkeit der
Kommunen in Deutschland wiederherzustellen, meine
Damen und Herren.
({12})
Wir entlasten auch die Wirtschaft. Mit der Reform des
EEG haben wir erreicht, dass Strom bezahlbar bleibt.
Energieintensive Unternehmen bleiben von der Umlage
befreit und können in Deutschland investieren. Jetzt ist
auch der Anstieg der EEG-Umlage gestoppt. Insbesondere für Unternehmen ist es auch eine gute Nachricht,
dass es jetzt eine Verständigung über Stromtrassen in
Bayern geben wird. Auch sie gehören zur Versorgungssicherheit und tragen zu Preisstabilität in der Energieversorgung bei.
({13})
Was wir jetzt brauchen, ist eine Investitionsagenda.
Wir müssen Start-ups besser fördern und Bürokratie in
der Wirtschaft abbauen. Bürokratieabbau bleibt unser
gemeinsames Ziel. Daran werden wir arbeiten, meine
Damen und Herren.
({14})
Unsere Wirtschaft ist in hohem Maße auf den Export
angewiesen. Der Löwenanteil, nämlich 60 Prozent unserer Exporte, geht in die Europäische Union. Deshalb
bleibt die alte Wahrheit auch eine neue Wahrheit:
Deutschland geht es auf Dauer nur gut, wenn es allen in
Europa gut geht.
({15})
Wenn es in Schlüsselländern wie Frankreich und Italien kein Wachstum gibt, dann schlägt das auch auf uns
zurück. Deshalb sind dort jetzt harte Strukturreformen
nötig, die auch in Besitzstände eingreifen. Wenn man
selber so etwas noch nicht getan hat, dann lassen sich
solche harten Strukturreformen leicht fordern. Aber wir
Sozialdemokraten wissen, wovon wir reden. Denn wir
haben bei der Agenda 2010 gesehen, dass sich durchgreifende Arbeitsmarktreformen und ein milliardenschweres Sparprogramm jedenfalls gleichzeitig nicht
durchsetzen lassen. Deshalb dringen wir darauf, dass die
EU die Flexibilität des Stabilitätspaktes ausschöpft, um
Strukturreformen zu ermöglichen.
Gleichzeitig brauchen wir aber Wachstumsimpulse
und Innovationsanreize, um die Reformländer zu unterstützen. Wir freuen uns über die Initiative von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, ein 300 Milliarden
Euro schweres Wachstumspaket auf den Weg zu bringen. Aber es muss auch klar sein, dass das nicht aus Mitteln des ESM finanziert wird.
({16})
Der ESM darf nicht geplündert werden.
({17})
Das würde das Vertrauen, das wir gerade hergestellt haben, wieder infrage stellen. Eine Zweckentfremdung der
ESM-Mittel kommt für uns nicht in Betracht, meine Damen und Herren.
({18})
Aber vor allen Dingen müssen die europäischen Länder aufhören, sich gegenseitig die Steuerbasis abzugraben. Das sind Milliardenverluste, und es bezahlen am
Ende immer die Steuerzahler, wenn einzelne Mitgliedsländer Schlupflöcher für internationale Konzerne schaffen, die am Ende nach Hause gehen, ohne überhaupt einen einzigen Euro oder Cent an Steuern zu zahlen. Das
müssen wir stoppen, meine Damen und Herren.
({19})
Ich habe Italien erwähnt. Italien braucht jetzt nicht
einfach nur mehr Geld, sondern es muss zuallererst wieder wettbewerbsfähiger werden. In Italien ist die Produktivität in den letzten 15 Jahren so gut wie gar nicht
gestiegen. Der Abstand zu Deutschland, was die Produktivität angeht, ist stattdessen um 35 Prozent gewachsen.
Matteo Renzi hat seit seinem Amtsantritt ganz entscheidende Reformen angepackt. Ob die Wahlrechtsreform,
die Senatsreform, die Justizreform oder die ArbeitsThomas Oppermann
marktreformen: Ich finde, Matteo Renzi verdient dafür
jede Unterstützung, die wir geben können.
({20})
Und ich danke der Frau Bundeskanzlerin, dass sie
auch der französischen Regierung ihre Unterstützung zugesagt hat und dass sie die Reformanstrengungen der
Regierung Valls gelobt hat. Auch wenn es Meinungsverschiedenheiten gibt, ist und bleibt die deutsch-französische Freundschaft der Lebensnerv und der Motor der europäischen Einigung. Deutschland und Frankreich
dürfen sich nicht auseinanderdividieren lassen, meine
Damen und Herren.
({21})
Meine Damen und Herren, uns beschäftigen die Folgen der internationalen Konflikte für unsere Wirtschaft.
Aber noch viel mehr beschäftigt uns die Lage der Menschen in den Konfliktregionen; denn in Syrien und im
Irak scheint sich jetzt zu bewahrheiten, wovor wir auf
unserer Sondersitzung am 1. September gewarnt hatten.
Die ISIS-Terroristen lösen einen Flächenbrand bis an die
Grenze des NATO-Landes Türkei aus. Seit Wochen toben die Kämpfe um die syrisch-türkische Grenzstadt
Kobane. Es ist gut, dass unter Führung der Vereinigten
Staaten jetzt eine internationale politische und militärische Allianz gegen die ISIS-Terroristen zustande gekommen ist.
({22})
Es ist ganz klar eine Aufgabe der internationalen Gemeinschaft, diesen ISIS-Terrorismus zu stoppen.
({23})
Eine Schlüsselrolle im Kampf um Kobane hat die
Türkei. Natürlich erwartet niemand, dass die Türkei jetzt
in Syrien einmarschiert. Aber die Türkei könnte den
kämpfenden Kurden in Kobane mit anderen Mitteln helfen.
({24})
Das böte eine große Chance, den Frieden zwischen den
Kurden und der türkischen Regierung langfristig zu untermauern. Diese Chance ist bislang nicht genutzt worden. Ich hoffe, dass es noch dazu kommt.
({25})
Wenn ich mir heute die Bilder vor Augen führe, die
wir Tag für Tag aus Kobane sehen, dann bin ich jedenfalls froh, dass wir vor fünf Wochen die dringend benötigten Waffenlieferungen für die Kurden im Nordirak in
diesem Hause nicht abgelehnt haben, meine Damen und
Herren.
({26})
Diejenigen in der Opposition, die uns dafür kritisiert haben, sollten das nun zum Anlass nehmen, ihre Entscheidung noch einmal zu überdenken. Es ist schon bemerkenswert, dass Sie, Frau Göring-Eckardt, plötzlich einen
Einsatz der Bundeswehr in Syrien nicht mehr ausschließen.
({27})
Sie wissen genau, dass es in dieser Situation kein UNMandat geben wird. Der Sicherheitsrat ist in der SyrienFrage blockiert. Weil Sie das genau wissen, gehört Ihre
Forderung eher in das politische Schaufenster. Das halte
ich für nicht überzeugend.
({28})
Das, was ging, nämlich Waffen an die Kurden zu liefern,
haben Sie abgelehnt. Aber das, was definitiv nicht geht,
fordern Sie jetzt. Das ist keine glaubwürdige Politik.
({29})
Im Übrigen, ob mit oder ohne Mandat, halte ich es für
eine völlig abwegige Idee, dass in dieser Situation deutsche Soldaten in den syrischen Bürgerkrieg geschickt
werden.
({30})
Wir haben immer klargemacht, dass für uns die humanitäre Hilfe im Vordergrund steht. Wir sind aber auch im
eigenen Land gefordert. Wir müssen alles dafür tun, dass
die Menschen aus den Kriegsgebieten bei uns menschenwürdig aufgenommen und untergebracht werden. Die
Zeit drängt. Hamburg muss jeden Monat 600 Flüchtlinge
aufnehmen. In München ist die Erstaufnahme zusammengebrochen. Deshalb brauchen wir jetzt drei Dinge:
erstens eine Änderung des Baugesetzbuches für den
schnellen Bau von Unterkünften, zweitens eine Liegenschaftspolitik des Bundes, die eine Unterbringung von
Asylbewerbern unterstützt, und drittens eine weitere
Entlastung der Kommunen im Rahmen des Asylbewerberleistungsgesetzes. Wir werden prüfen, was wir sonst
noch tun können. Wir dürfen die Kommunen in dieser
Situation nicht alleine lassen, meine Damen und Herren.
({31})
Herr Kollege Oppermann, darf der Kollege Ernst eine
Zwischenfrage stellen?
Ja, gern.
Bitte schön.
Danke. - Herr Oppermann, Sie haben gerade die Situation in Syrien dargestellt.
Welche Konsequenzen wollen Sie daraus ziehen,
dass, wie jetzt bekannt geworden ist, die türkische Luftwaffe Stellungen der Kurden bombardiert? Wir haben
also den Fakt, dass offensichtlich ein NATO-Land der
restlichen NATO in den Rücken fällt, indem es die Gegner des IS bekämpft. Darüber hinaus besteht ja auch eine
direkte Bedrohung der NATO-Truppen in dieser Region.
Denken Sie auch darüber nach, die Waffenexporte in die
Türkei, die offensichtlich die Gegner der NATO unterstützt, zu stoppen? Ich halte das für einen unmöglichen
Vorgang. Ich habe dazu aber noch keine einzige Reaktion der Bundesregierung gehört.
Kollege Ernst, ich sehe durchaus die Komplexität der
Situation in der Türkei. Ich sehe mit Sorge, dass jetzt
diese Luftangriffe geflogen werden. Wenn ich mir aber
die Gesamtsituation anschaue, komme ich zu dem
Schluss: Wir müssen trotz dieser komplexen Situation
mit unserem Bündnispartner Türkei reden und darauf
dringen, dass sich die Türkei eindeutig gegen ISIS positioniert und dazu ihren Beitrag leistet. Das ist der erste
Punkt.
({0})
Zweitens würde ich gerne auf die Argumente zurückgreifen, die einige Ihrer Kollegen in einem Text mit der
Überschrift „Kobane retten!“ aufgeschrieben haben.
({1})
Ihre Kollegen schließen darin nicht aus, dass wir die
Kurden, die um diese Stadt kämpfen, notfalls auch mit
militärischen Mitteln unterstützen müssen. So weit
würde ich in diesem Fall gar nicht gehen, weil wir die
bekannten Schwierigkeiten mit unserem Bündnispartner
Türkei haben. Aber ich finde, Sie und Herr Gysi sollten
diese Kollegen, die diesen nachdenklichen Text geschrieben haben, unterstützen und nicht immer der
Mehrheit Ihrer eigenen Fraktion nach dem Munde reden.
({2})
Wir müssen damit rechnen, dass die Zahl der Flüchtlinge aus Syrien und Irak weiter zunimmt. In diesem
Winter könnte im Nahen Osten die größte Flüchtlingskatastrophe seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bevorstehen. Deshalb müssen wir zuerst dafür sorgen, dass
die Flüchtlinge den nächsten Winter überleben. Das
kann nur gelingen, wenn wir die Länder unterstützen, die
90 Prozent der Flüchtlinge aufnehmen. Das sind vor allem Libanon, Türkei und Jordanien.
Des Weiteren kommen aber auch wir selbst nicht umhin, in Europa mehr Flüchtlinge aufzunehmen.
({3})
Es ist kein Ruhmesblatt, wie sich Europa insgesamt in
dieser Frage bisher verhält.
({4})
Einzelne Länder sind an der Grenze ihrer Aufnahmefähigkeit, andere halten sich weitgehend heraus. Flüchtlinge irren auf dem Kontinent umher. Im Mittelmeer
spielen sich Tragödien ab. Das ist beschämend für Europa, meine Damen und Herren.
({5})
Deshalb, Frau Bundeskanzlerin, habe ich die herzliche Bitte: Sprechen Sie auch dieses Thema im Europäischen Rat an. Wir brauchen eine faire Verteilung der
Flüchtlinge auf alle Länder in Europa. Europa muss in
dieser Frage solidarisch zusammenstehen.
Vielen Dank.
({6})
Katrin Göring-Eckardt ist die nächste Rednerin für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr
Präsident! Frau Bundeskanzlerin, die Debatte über mehr
Verantwortung in der Welt ist jetzt acht Monate alt. Die
Debatte ist allerdings acht Monate lang unvollständig
geblieben; denn Sie definieren die Welt und die Verantwortung, die wir dort haben, immer, ohne Europa dabei
mitzudenken. Egal ob es um die Konjunktur geht, egal
ob es um die Flüchtlinge geht, egal ob es um die Arbeitslosen geht: Europa, das sind in Ihren Worten immer die
anderen - oder es ist Krise. Das ist kurzsichtig. Nehmen
Sie die nationalstaatliche Brille endlich ab, und sorgen
Sie dafür, dass klar wird: Wir sind Teil dieses Europas.
({0})
Meine Damen und Herren, auch wenn sich Sigmar
Gabriel und Thomas Oppermann gerade so viel Mühe
geben, es wegzudeuten: Die Konjunktur in Deutschland
verliert an Schwung. Wir brauchen jetzt die richtigen
Weichenstellungen, und das heißt: mehr Investitionen
für Deutschland, mehr Investitionen für Europa, und
zwar, ohne neue Schulden zu machen. Das ist ohne Weiteres möglich. Wir müssen uns nur die Ausgaben anschauen und überlegen, welche Subventionen wir abbauen können. Aber Sie investieren nicht genug, und Sie
verschulden sich trotzdem. Sie verschulden sich bei der
Infrastruktur; Sie verschulden sich bei der Rentenkasse
und bei den Krankenkassen; Sie verschulden sich bei
den künftigen Generationen, egal ob es um das Klima
geht oder um die Rente. Jetzt, Herr Grosse-Brömer, sollen auch noch die Frauen daran schuld sein.
({1})
Sie müssen schon sehr unter der Frauenmacht in Ihrem eigenen Laden leiden.
({2})
Sie sagen es jedem in Europa, der es hören oder nicht
hören will: Man möge sich doch bitte an Deutschland
orientieren. Nun schaue ich mir an, mit welcher Ignoranz
oder, besser gesagt, mit welch warmen Worten Sie auf
die Jugendarbeitslosigkeit eingehen. Dabei ist diese ein
Drama für Europa. Es versteht kein Mensch, warum die
Fördergelder - 6 Milliarden Euro sind das - bei den Jugendlichen nicht ankommen. Sinnvolle Maßnahmen gegen Jugendarbeitslosigkeit werden zu Tode verwaltet,
und wir sind ein Teil davon. Wenn der BA-Chef, Herr
Weise, sich hinstellt und sagt: „Der Kampf gegen Jugendarbeitslosigkeit braucht Zeit“, dann frage ich mich:
Wie lange noch? Bis die Jugendlichen alle erwachsen
sind? - Wir sind dabei, eine Generation für Europa zu
verlieren, die wie keine andere vor ihr dieses gemeinsame Europa verkörpert. Deswegen sage ich: Hängen
Sie sich rein, damit die Jugendarbeitslosigkeit wirklich
bekämpft werden kann.
({3})
Meine Damen und Herren, seit der letzten Woche haben 600 000 Menschen in Europa gegen TTIP, gegen
CETA und gegen TiSA unterschrieben.
({4})
Diese Leute sind gegen eine Handelspolitik, die nur die
Interessen der Global Player vertritt.
({5})
Diese 600 000 Leute - täglich werden es mehr - erwarten Volksvertreter in der Regierung und keine Genossen
der Bosse, Herr Gabriel.
({6})
Die Menschen erwarten von Europa eine Handelspolitik, die gut ist für die Wirtschaft und für die Verbraucher, die gut ist für die Kulturlandschaft und für das
Klima.
({7})
Insofern ist klar und deutlich: Natürlich müssen wir
Handelsabkommen haben. Aber ihnen müssen Standards
zugrunde liegen. Sie müssen dafür sorgen, dass die Interessen der Menschen, die sich so schnell und so intensiv
engagieren, in Ihrer Politik, Herr Gabriel, überhaupt vorkommen und eine Rolle spielen können. Sie können sich
nicht wegducken, Herr Gabriel, und nur mit ein paar
warmen Worten darauf reagieren.
({8})
Die Umweltministerin musste hier letzte Woche eingestehen, dass sie in puncto Klima quasi nichts vorzuweisen hat. Sie werden nächste Woche in Brüssel die
Energie- und Klimaziele für 2030 beschließen. Spätestens dann steht es schwarz auf weiß: Die deutsche Klimapolitik ist nicht mehr als Schall und Rauch. Der
Rauch ist allerdings ziemlich dreckig, weil er vor allen
Dingen aus Braunkohle besteht. 42 Milliarden Euro, so
viel kostet die deutsche Energieerzeugung die Allgemeinheit, sagt die EU-Kommission. Und warum? Weil
im vergangenen Jahr so viel Kohle in Deutschland verstromt wurde wie seit der Wiedervereinigung nicht mehr.
Jetzt soll mit dem Segen der alten EU-Kommission
der Neubau des Atomkraftwerks Hinkley Point staatlich
subventioniert werden. Es kann doch nicht sein, dass wir
die unwirtschaftliche Risikotechnologie Atomkraft mit
staatlicher Beihilfe am Leben erhalten, während die Erneuerbaren längst sauberer und wirtschaftlicher sind und
günstiger Strom produzieren. Wenn Sie als Bundesregierung es ernst meinen mit dem Atomausstieg und der europäischen Energiewende, dann müssen Sie beim Europäischen Rat gegen diese Fehlentscheidungen Druck
machen, und Deutschland muss sich der Klage von
Österreich beim EuGH anschließen.
({9})
Meine Damen und Herren, beim Wahrnehmen von
Verantwortung fallen der Bundesregierung immer gern
die europäischen Nachbarn ein, gerade wenn es um die
Flüchtlinge geht. Gleichzeitig landen immer mehr
Flüchtlinge bei uns in Notunterkünften. In München
schlafen sie unter freiem Himmel. Es fehlt an Decken, an
Helfern, an Unterbringungsmöglichkeiten, faktisch an
allem. Wenn nicht wenigstens immer mehr freiwillige
Helfer da wären, wäre es noch schlimmer. Meine Damen
und Herren, die Lösung wäre: deutlich weniger Seehofer
und deutlich mehr Kretschmann.
({10})
Baden-Württemberg gibt 30 Millionen Euro extra für
Personal und für ein Sonderbauprogramm aus. Bis zu
1 000 Opfer sexueller Gewalt werden aufgenommen.
Meine Damen und Herren, das Boot ist nie voll. Man
muss die Last gerecht verteilen, damit die Kommunen
nicht Schiffbruch erleiden, ja; aber Sie verweigern sich
nach wie vor einem nationalen Flüchtlingsgipfel. Da
könnte man darüber reden, wie es Osnabrück schafft,
47 Prozent der Flüchtlinge in Privatunterkünften unterzubringen, oder warum es eigentlich so ist, dass in Thü5494
ringen kaum unbegleitete Minderjährige aufgenommen
werden können, obwohl das gewollt ist. Die Schieflage
zwischen den Ländern geht auf Ihr Konto, meine Damen
und Herren.
({11})
Das europäische Flüchtlingsrecht ist und bleibt eine
Fehlkonstruktion, und zwar deshalb, weil Sie das so wollen. Sie halten an einer Politik der Abschottung an den
Außengrenzen fest. Sorgen Sie doch endlich dafür, dass
das Seenotrettungsprogramm „Mare Nostrum“ im Mittelmeer weitergeführt wird
({12})
und dass Asylsuchende legal nach Deutschland kommen
können! Das wäre Verantwortung, wie ich sie mir vorstelle.
Frau Kanzlerin, Sie fahren jetzt zum EU-Asien-Gipfel. Ihre Zeit dort werden Sie vermutlich besonders für
die notwendigen Gespräche am Rande nutzen. Bitte sagen Sie Herrn Putin unmissverständlich, dass die EU
ihre Sanktionen erst lockern wird und kann, wenn seinen
Ankündigungen auch Taten folgen und die Ukraine nicht
mehr weiter gewaltsam destabilisiert wird.
({13})
Sagen Sie den Vertretern Chinas, dass mit der brutalen
Gewalt gegen friedliche Demonstrantinnen und Demonstranten in Hongkong endlich Schluss sein muss und sie
der Modernisierung eine Chance geben müssen!
({14})
Ja, die Bedrohung durch die Terrormiliz „Islamischer
Staat“ und die Lage im Nahen Osten sind dramatisch.
Deswegen sage ich Ihnen: Überzeugen Sie Russland und
China, dass sie ihre Blockade im UN-Sicherheitsrat endlich aufgeben, und ergreifen Sie eine Initiative für ein
UN-Mandat! Es kann nicht bei Lippenbekenntnissen
bleiben. Man kann nicht, Herr Oppermann, hier über die
Völkergemeinschaft reden und gleichzeitig sagen, bei
der UN hätte man sowieso keine Chance. Wenn man die
Völkergemeinschaft und ihre gemeinsame Verantwortung ernst nimmt, dann geht man zu den Vereinten Nationen und macht dort Druck. Wenn man das macht,
dann wird man darüber reden müssen, welche gemeinsame Strategie man hat. Ich habe nichts anderes gesagt
als: Wenn man über dieses Gemeinsame redet, dann
kann man nicht als Erstes sagen: Wir sind nicht dabei. Ein Mandat der Vereinten Nationen und ein echtes Engagement, dafür muss und dafür soll sich Deutschland einsetzen. Die Vereinten Nationen müssen stark gemacht
werden. Genau darum geht es. Da können wir uns nicht
wegducken, in keiner Weise, meine Damen und Herren.
({15})
Ich sage Ihnen: „Gemeinsame Verantwortung in der
Welt“, das muss für diese Bundesregierung endlich heißen, Europa auch tatsächlich nicht mehr als lästige
Pflichtveranstaltung zu betrachten. Europa ist nur dann
stark, wenn wir es stark machen, und zwar übrigens auch
gegenüber der AfD, die jetzt so viel neue Unterstützung
bekommt, und gegenüber ihren nationalistischen Geschwistern. Meine Damen und Herren, machen Sie Europa stark! Alles andere ist verantwortungslos.
({16})
Das Wort hat nun der Kollege Hans-Peter Friedrich
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! In der nächsten Woche wird auf dem Europäischen Rat auch das Thema Klimaschutz behandelt. Es
bestehe die Notwendigkeit, Verantwortung in der Welt
zu übernehmen, für Europa die Stimme zu erheben, hat
die Frau Bundeskanzlerin gesagt. Das alles setzt eine solide ökonomische Grundlage in Europa voraus. Deswegen ist das, was Jean-Claude Juncker und seine Kommission in den nächsten Wochen und Monaten
vorbereiten, von entscheidender Bedeutung.
Ich gehe davon aus, dass dem das zugrunde liegen
wird, was Juncker am 15. Juli noch als Kandidat für das
Amt des Präsidenten der Europäischen Kommission vorgelegt hat, dass das die wesentliche Wegweisung sein
wird. Er sagt, das Wichtigste und die erste Priorität seien
für ihn Investitionen, und zwar private und öffentliche
Investitionen, um Wettbewerbsfähigkeit und Arbeitsplätze in Europa zu schaffen.
Meine Damen und Herren, es ist nichts Genaueres bekannt, woher diese 300 Milliarden Euro kommen und
wie sie verwendet werden sollen. Nun kann man natürlich abwarten, bis die Kommission etwas vorlegt. So haben wir es in den vergangenen Jahren gemacht. Ich rate
uns dazu, dieses Verfahren zu ändern und der Kommission, noch bevor sie etwas vorlegt, einige Wegweisungen mitzugeben. Wir können das als Parlament auf dem
Weg über unsere Bundesregierung machen. Wir haben
vielfältige Kontakte; viele von Ihnen haben Kontakte zur
Kommission auf allen Ebenen. Und wir können die
starken Persönlichkeiten im Europäischen Parlament
- Martin Schulz als Parlamentspräsident und Manfred
Weber als Vorsitzender der größten Fraktion - nutzen,
um diese Wegweisungen auch der Kommission mit auf
den Weg zu geben.
Was ist nun das Wichtigste? Was sind unsere Bedingungen für diese Investitionspakete, die Herr Juncker
schnüren will?
Erstens: keine Neuverschuldung. Ich will vorlesen,
was Juncker selbst im Juli gesagt hat:
Ich glaube nicht, dass wir auf der Grundlage ständig wachsender Schuldenberge nachhaltiges
Wachstum schaffen können. Dies ist eine Lehre, die
wir aus der Krise gezogen haben und die wir nicht
aus den Augen verlieren dürfen.
Dr. Hans-Peter Friedrich ({0})
Ich hoffe, dass auch in diesem Hause jeder diese Lektion
aus der Krise gelernt hat: Schulden sind der falsche Weg.
({1})
Zweitens. Es muss klar sein, meine sehr verehrten
Damen und Herren, welche Haftungsfolgen sich für Investitionspakete ergeben, die auf europäischer Ebene für
die Mitgliedstaaten geschnürt werden. Wir wollen hier
im Deutschen Bundestag auch darüber diskutieren, ob
wir diese Haftung einzugehen bereit und in der Lage
sind oder nicht. Deswegen ist es wichtig, dass wir auch
beim Schnüren dieser Pakete Transparenz einfordern.
Drittens. Wir reden nicht nur vom Geldausgeben, sondern von Investitionen. Was sind Investitionen? Nach
Wirtschaftslexikon 24.com liegt eine Investition dann
vor, wenn ein Bestandszugang eintritt. Meine Damen
und Herren, volkswirtschaftlich heißt das: Eine Investition liegt vor, wenn die Substanz einer Volkswirtschaft
gestärkt wird, und nicht dann, wenn einfach Geld ausgegeben wird.
({2})
Ich denke, die Frau Bundeskanzlerin hat zu Recht gesagt: Es kommt entscheidend auf die privaten Investitionen an. Hierzu sagt - auch hier darf ich wieder zitieren Jean-Claude Juncker:
Europa wird nur dann Arbeitsplätze, Wachstum und
Investitionen hervorbringen, wenn wir für die richtigen rechtlichen Rahmenbedingungen sorgen und
ein Klima schaffen, das unternehmensfreundlich
und neuen Arbeitsplätzen zuträglich ist.
So Jean-Claude Juncker. Der Mann hat recht.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist aber
so: Das Schaffen eines unternehmensfreundlichen Klimas und von Rahmenbedingungen ist in erster Linie eine
Aufgabe, die bei den Nationalstaaten bzw. den Mitgliedstaaten der Europäischen Union - und nicht auf der europäischen Ebene - angesiedelt ist. Weil Steuerpolitik, Sozialpolitik und Arbeitsmarktpolitik wesentliche Rahmen
setzen, ist in allererster Linie jeder Mitgliedstaat selbst
dafür verantwortlich, diese Rahmenbedingungen zu gestalten und die Konsequenzen aus Reformfähigkeit oder
Reformunfähigkeit selbst zu tragen. Das ist im Übrigen
Demokratie.
({3})
Wir werden Reformunfähigkeit nicht europäisieren.
Deswegen wird es auch keine europäische Arbeitslosenversicherung geben, bei der die deutschen Arbeitnehmer
Beiträge zahlen und für die Folgen haften müssen, die
andere Nationalregierungen mit ihrer Reformunfähigkeit
produziert haben.
({4})
Meine Damen und Herren, weil es aber so ist, dass die
Mitgliedstaaten die Hauptverantwortung für die Schaffung der Rahmenbedingungen haben, müssen wir natürlich auch auf die nationalen Akteure in Deutschland
blicken. Auch wir sind in der Verantwortung, die Rahmenbedingungen für ein investitionsfreundliches Klima
privater Investoren in Deutschland zu schaffen. Was sind
dafür die Bedingungen?
Die erste Bedingung, dass Menschen investieren können, ist, dass wir ihnen Spielräume geben, Kapital aufbauen zu können, das sie dann investieren können. Hier
spielt die Steuerpolitik eine entscheidende Rolle. Ich
freue mich sehr, dass wir in der Koalition jetzt über das
Thema „kalte Progression“ sprechen; denn diese Spielräume sind notwendig, um überhaupt die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Menschen investieren können.
Zweite Bedingung. Investitionen sind langfristige Kapitalbindungen. Deswegen ist die Voraussetzung für Investitionen, dass derjenige, der investiert, eine Chance
hat, sein Geld wieder zurückzubekommen und vielleicht
eine Rendite zu erzielen. Dazu ist notwendig, dass er
Vertrauen in die wirtschaftliche Entwicklung hat; denn
nur dann wird er investieren. Mein Freund, Volker
Kauder, unser Kollege, sagt immer: „Politik beginnt mit
dem Betrachten der Wirklichkeit.“ Aber daraus muss
man auch Schussfolgerungen ziehen.
Die Wirklichkeit ist - Kollege Oppermann hat es vorhin gesagt -, dass sich die Konjunktur verändert hat. Die
Wirklichkeit vom Oktober 2013 war bei strahlendem
Konjunkturhimmel eine andere, als es die vom Oktober
2014 ist. Jetzt müssen wir diese Wirklichkeit nicht nur
betrachten, sondern auch über Schlussfolgerungen aus
dieser Wirklichkeit reden. Meine Damen und Herren,
wir müssen uns als Vertreter des Volkes die Frage stellen
- das dürfen wir nicht der Presse überlassen; „Können
wir uns das noch leisten?“, so schreibt die Bild-Zeitung
heute Morgen -, was wir uns noch leisten können und
was nicht. Wir müssen die Wirklichkeit in der Welt betrachten und daraus die richtigen Schlussfolgerungen
ziehen.
Deswegen ist es auch richtig, dass sich der eine oder
andere in der Koalition Gedanken macht und diese öffentlich äußert, ob man die eine oder andere neue Vorschrift, neue Belastung, neue soziale Wohltat vielleicht
ein bisschen verschieben oder vielleicht für andere Zeiten aufheben sollte. Ich halte das für notwendig, auch für
die Diskussions- und Debattenkultur in diesem Lande
und in diesem Hohen Haus.
({5})
Dritte Bedingung. Private Investoren investieren natürlich am liebsten dort, wo sie das Risiko, das sie eingehen, auch überblicken können. Aus der Krise 2008
haben wir gelernt, dass Investoren damals Risiken eingegangen sind, die sie nicht überblickt haben. Sie haben
zwar dreimal verbrieft, aber am Ende wusste keiner, wo
das Risiko lag. Private Investoren investieren vor allem
dort, wo sie den Überblick haben: in ihr selbst genutztes
Häuschen, in ihr mittelständisches Unternehmen, in ihren Handwerksbetrieb. Meine Damen und Herren, deswegen ist es richtig, dass wir darüber nachdenken, die
Investitionen in diesen Bereichen anzuregen und anzureizen. Deswegen ist es richtig, dass wir wieder über degressive AfA reden, dass wir wieder über die steuerliche
Dr. Hans-Peter Friedrich ({6})
Absetzbarkeit von Handwerkerleistungen im Bereich der
Energieeffizienzsteigerung reden. All das halte ich für
dringend notwendig.
Was in Deutschland gilt, gilt übrigens auch für die
Mitgliedstaaten. Auch in den Mitgliedstaaten muss jede
Regierung Verantwortung für die Rahmenbedingungen
für Investitionen übernehmen. Wir können und müssen
feststellen: All die Länder, die harte Reformen gemacht
haben, Herr Gysi, haben heute eine bessere Ausgangssituation und gewinnen das Vertrauen privater Investoren in ihren Ländern. Die Leute sollen nicht deswegen
Reformen in ihren Ländern machen, nur weil es die
Deutschen wollen, sondern sie sollen erkennen, dass sie
das Vertrauen privater Investoren nur gewinnen können,
wenn sie die Reformen auch durchführen. Darum geht
es.
({7})
Kommen wir zum Thema der öffentlichen Investitionen. Bei den öffentlichen Investitionen stellt sich die
Frage: Was will die Europäische Union auf den Weg
bringen? 300 Milliarden Euro - ein großer Teil wird
durch private Investitionen in den Ländern wohl schon
aufgebracht werden. Ich bin dem Kollegen Oppermann,
der Bundeskanzlerin und auch dem Bundesfinanzminister sehr dankbar, dass sie klargemacht haben, dass sie
nicht akzeptieren werden, Hand an den ESM zu legen.
Der ESM darf nicht zweckentfremdet werden. Das wäre
auch gegen die ausdrückliche Beschlussfassung dieses
Hauses. Deswegen vielen Dank für die klare Aussage:
Hände weg vom ESM.
({8})
Aber es gibt viele Spielräume im europäischen Haushalt. Es gibt dort viele Fonds: Kohäsionsfonds und andere Fonds. Es ist richtig, dass wir diese Fonds immer
wieder auf ihre Zielgenauigkeit und ihre Sinnhaftigkeit
überprüfen und sie auf das Ziel Investitionen und Wettbewerb ausrichten. Das ist der entscheidende Punkt. Damit muss man nicht bis 2016 warten, bis der mehrjährige
Finanzrahmen offiziell evaluiert wird, sondern man kann
schon jetzt beginnen. Ich erwarte, dass die Kommission
dazu einige Vorschläge macht.
Stichwort Europäische Investitionsbank. Auch hier
geht es nicht darum, dass wir der Europäischen Investitionsbank einen großen Betrag geben und sagen: Sucht
jetzt einmal nach Projekten. Schaut, wie ihr das Geld
ausgebt; irgendwie werdet ihr es schon unter die Leute
bringen. - Es muss vielmehr umgekehrt sein: Erst müssen sinnvolle Projekte gesucht werden, die dem Ziel der
Wettbewerbsfähigkeit dienen. Wenn man diese Projekte
gefunden hat, dann kann man darüber reden, wie die Europäische Investitionsbank sie finanziert. So muss die
Reihenfolge sein. Auch diese Wegweisung würde ich
gerne Herrn Juncker und der Kommission mit auf den
Weg geben.
({9})
Schließlich muss es bei allen öffentlichen Investitionen immer auch um die Frage gehen: Welche Auswirkungen hat das Ganze auf den Mittelstand? Ich bin sehr
froh, dass Herr Juncker in seinen bisherigen Erklärungen
den Mittelstand in besonderer Weise berücksichtigt hat
und dass er eigens dafür den Posten eines Vizepräsidenten geschaffen hat, der sich mit dem Thema Entbürokratisierung, das insbesondere ein Mittelstandsthema ist,
auseinandersetzt.
Im Rahmen der Diskussionen, die wir hier in diesem
Hause darüber führen, wie wir öffentliche Investitionen
in der Zukunft neu gestalten können, beispielsweise
durch Gewinnung privaten Kapitals, rate ich uns dazu,
bei allen Schritten auch immer die Auswirkungen auf die
mittelständische Wirtschaft zu betrachten.
({10})
Es geht nicht darum, irgendwie irgendwo Kapital zu haben, von dem dann die Bankkonsortien und die Großkonzerne profitieren, sondern wir müssen dafür sorgen,
dass die Basis unserer mittelständischen Wirtschaft gestärkt wird. Das ist einer der entscheidenden Punkte.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich denke,
dass wir in Europa und im gesamten Bereich der OECD
aufhören müssen, diesen Akademikerwahn zu pflegen,
der dazu führt, dass wir immer mehr arbeitslose Akademiker produzieren und immer weniger Menschen haben,
die in der Industrie als Fachkräfte oder als Techniker ihre
Arbeit machen können. Wenn Herr Juncker verlangt,
dass der Anteil der Industrieproduktion am Bruttoinlandsprodukt in Europa von 16 auf 20 Prozent gesteigert
werden soll, dann geht das nur, wenn wir qualifizierte
Fachkräfte haben, die als Techniker, als Praktiker anpacken und helfen können, die Industrie nach vorne zu
bringen, anstatt sich als Arbeitslose in einem Elfenbeinturm gegenseitig auf die Füße zu treten.
({11})
In diesem Zusammenhang kann ich die Kommission
nur warnen, die Hand an den Meisterbrief zu legen.
Wenn es einen Schlüssel für die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit in Europa gibt, dann ist es der Export unserer dualen Ausbildung. Nun lese ich mit großer
Befriedigung, dass die Kommission immer erklärt, man
wolle am Meisterbrief überhaupt nichts ändern. Aber es
geht ja nicht allein um den Meisterbrief, sondern darum,
dass der Meisterbrief Voraussetzung für die Gründung
eines Handwerksunternehmens bleiben muss. Das ist der
entscheidende Punkt.
({12})
Ich kann nur davor warnen, die Hand daran zu legen;
denn das würde dazu führen, dass in Deutschland Qualifikationsmöglichkeiten wegbrechen. Ich glaube, Deutschland hat eine wichtige Funktion, nämlich Vorbild für Europa in einer schwierigen und wichtigen Phase zu sein.
Dafür hat dieses Hohe Haus eine große Verantwortung.
Vielen Dank.
({13})
Nächster Redner ist der Kollege Bernd Westphal für
die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Meine sehr verehrten Besucherinnen und Besucher!
Deutschlands Wohlstand basiert zum großen Teil auf seiner Exportstärke. Mehr als die Hälfte unserer Exporte
geht in die Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Die
Eintrübung der wirtschaftlichen Aussichten in der aktuellen Herbstprognose der Wirtschaftsforschungsinstitute zeigt einmal mehr: Nur wenn es unseren europäischen Partnerländern gut geht, kann Deutschland auch
auf Dauer erfolgreich sein.
({0})
Deshalb brauchen wir dringend eine europäische Politik,
die Wachstum und Beschäftigung in ganz Europa stimuliert.
({1})
Die in vielen Mitgliedstaaten anhaltend hohe Arbeitslosigkeit, insbesondere unter jungen Menschen, und
schädliche Deflationstendenzen müssen entschieden
angegangen werden. Das von Jean-Claude Juncker vorgeschlagene 300-Milliarden-Euro-Investitionsprogramm
muss daher schnell umgesetzt und die Finanzierung geklärt werden.
Notwendig ist eine Überprüfung bestehender Programme. Der Abruf finanzieller Mittel auf europäischer
Ebene muss vereinfacht und der Pakt für Wachstum und
Beschäftigung auf seine Wirksamkeit und Umsetzung
hin überprüft werden. Die Genehmigungsverfahren bei
Programmen zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit müssen effizienter gestaltet und die Freigabe der
Gelder muss so schnell wie möglich organisiert werden.
Die EU darf auch bei wichtigen Technologien und
Arbeitsplätzen der Zukunft im globalen Wettbewerb
nicht den Anschluss verlieren. Bei Investitionen in Bildung, Forschung und Entwicklung sowie Infrastruktur
sind alle Mitgliedstaaten dringend gefragt.
({2})
Es müssen alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden,
jetzt hierzulande Investitionen zu stärken, um innerhalb
der EU neue Wachstumsimpulse zu setzen.
Die Stärkung der Wirtschaft muss mit der Stärkung
der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einhergehen.
Viele Menschen sehen in Europa nur den Vorrang des
Wettbewerbs. Dies ist nicht das Europa, das wir den Bürgern versprochen haben.
({3})
Lohndumping ist in einigen Ländern Europas an der Tagesordnung. Deshalb ist die Einführung des Mindestlohns auch hier in Deutschland ein Gebot nicht nur sozialer, sondern vor allem auch ökonomischer Vernunft.
({4})
Es war höchste Zeit für diesen Kurswechsel, weil es inakzeptabel ist, wenn Menschen nicht von ihrer Arbeit
Lohn ein menschenwürdiges Leben führen können.
({5})
Neben anständiger Entlohnung sind Teilhabe der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am Sagen und Haben unerlässlich. Gute Arbeit, soziale Gerechtigkeit, sichere Arbeitsbedingungen und Mitbestimmung stehen
nicht im Gegensatz zu einem innovationsfreundlichen
Umfeld und zu wirtschaftlichem Erfolg, sondern bilden
die Grundlage dafür.
({6})
Europa braucht aber auch eine industriepolitische Initiative. Sie muss mit privaten und öffentlichen Investitionen in Forschung und Entwicklung, in Innovationen,
in Bildung und nicht zuletzt in eine intakte Infrastruktur
verbunden sein. Eine zentrale Bedeutung kommt dabei
der Energieversorgung zu. Europa braucht Versorgungssicherheit und eine gezielte Förderung umweltfreundlicher, ressourcenschonender und effizienter Energieformen. Eine erfolgreiche Umsetzung der Energiewende in
Deutschland ist auch für Europa wichtig. Sie ist allerdings nicht im nationalen Alleingang möglich, sondern
muss europakompatibel sein. Vor allem muss die soziale
Balance durch bezahlbare Energien für private Haushalte gewahrt werden. Auch die Wettbewerbsfähigkeit
der Industrie darf durch steigende Industriepreise nicht
zusätzlich beeinträchtigt werden. Hier ist der Kurs unseres Wirtschaftsministers Sigmar Gabriel absolut zu unterstützen.
({7})
In Europa steigt die Abhängigkeit vom Import von
Energierohstoffen. Damit gehen enorme Risiken für die
Versorgungssicherheit in Form von Menge und Preis
einher. Daher kommt der Exploration, Gewinnung und
Förderung heimischer Rohstoffe eine zunehmende Bedeutung zu. Das gilt auch für die Förderung von Erdgas
und Kohle als Brückentechnologien auf dem Weg ins regenerative Zeitalter. Nur so können wir den Ausstieg aus
der Kernenergie sicher gestalten. Insofern ist der Weg
der Briten ein falscher.
({8})
Vor dem Hintergrund des weltweiten Potenzials und
des bereits heute deutlich erkennbaren wirtschaftlichen
Impulses billigen Erdgases in den USA wäre es geradezu
töricht, die Förderung von Schiefergas in Deutschland
nicht wenigstens, wissenschaftlich begleitet, zu erproben mit unseren hohen Standards, enger behördlicher Kontrolle, jahrzehntelangen Erfahrungen, wissenschaftlichem
Know-how und hochqualifizierten Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern in dieser Branche. Wo denn sonst,
wenn nicht hier, sollen diese Erfahrungen gesammelt
werden? Es muss doch wohl möglich sein, in einem
transparenten, wissenschaftlich begleiteten Prozess Er5498
fahrungen zu sammeln und auf dieser Basis dann politisch zu entscheiden.
Trotz seiner herausragenden Bedeutung wurde der industrielle Sektor in der Vergangenheit häufig als rückwärtsgewandt erachtet und die EU-Industriepolitik lange
Zeit sträflich vernachlässigt. Dienstleistungen und Finanzmarkt standen im Vordergrund. Ordnungspolitische
Vorstellungen reiner Marktregeln dominierten den Kurs.
Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, muss sich ändern.
({9})
Ein erhöhter Globalisierungsdruck, Rohstoffknappheit, die demografische Entwicklung oder dringend zu
lösende Fragestellungen im Klima- und Energiebereich
machen nicht vor den Landesgrenzen der EU-Mitgliedstaaten halt. Sie verlangen nach einer koordinierten europäischen Handhabung. Wir brauchen eine in sich
schlüssige Strategie der EU. Wir brauchen eine Strategie
der nachhaltigen Entwicklung.
Wirtschaftliche Dynamik, sozialer Fortschritt und
Schutz der Umwelt hängen untrennbar und gleichrangig
zusammen. So ist es wichtig und richtig, dass sich die
Bundesregierung bei den Verhandlungen im Zuge des
EU-Klima- und Energierahmens 2030 für drei verbindliche Ziele eingesetzt hat; die Bundeskanzlerin hat auf
diese Zieltrias hingewiesen. Sie muss in den Beschlüssen des Europäischen Rates am 23. und 24. Oktober im
Fokus stehen. Daran werden wir die Bundesregierung
messen.
Weitere wichtige Handlungsfelder auf europäischer
Ebene sind zum Beispiel die Harmonisierung von Steuersätzen, Industrie 4.0, aber auch der Ausbau der Breitbandinfrastruktur.
Es besteht sicherlich Einigkeit darüber, dass wir eine
Innovationsagenda für Europa benötigen. Was dann aber
nicht zusammenpasst, ist die Kürzung von Mitteln für
den Bereich Forschung und Entwicklung im EU-Haushalt um 10 Milliarden Euro. Hier muss die zuständige
Ministerin widersprechen.
({10})
Zum Schluss möchte ich noch einen wichtigen Punkt
ansprechen. Große Sorgen bereiten mir die rechtsradikalen Tendenzen und die nationalen Entwicklungen in einigen Mitgliedstaaten. Mit einer perfiden Ausländerfeindlichkeit wird Stimmung gemacht und dem rechten Rand
der Boden bereitet. Das dürfen wir nicht unwidersprochen hinnehmen. Das dürfen wir nicht zulassen.
({11})
Diese Entwicklung schadet der europäischen Idee, dem
gemeinschaftlichen Zusammenhalt und nicht zuletzt der
Wirtschaft. Sie ist Gift für ein friedliches Miteinander
der Menschen in Europa. Deshalb muss die künftige europäische Wirtschaftspolitik Perspektiven und Teilhabe
für alle bereithalten bzw. schaffen. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten.
Vielen Dank.
({12})
Alexander Ulrich ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
insbesondere von der Bundesregierung durchgesetzte
Austeritäts- und Kürzungspolitik hat Europa in die Rezession getrieben. Deshalb ist die Situation in Deutschland Ergebnis der eigenen Politik.
({0})
Man erntet, was man sät. Dafür tragen diese Bundesregierung, aber auch die Vorgängerregierung die Hauptverantwortung.
({1})
Die Rezession ist nicht nur ein Problem für Deutschland und Europa. Letzte Woche tagten IWF und Weltbank
in Washington. Auch dort wurde dringend angemahnt,
dass Deutschland viel mehr für die Binnennachfrage und
für Investitionen tun muss.
({2})
Aber Herr Schäuble hat sich auch hier weitestgehend
verweigert. Deshalb ist Deutschlands Wirtschaftspolitik
nicht nur ein Problem für Deutschland und Europa, sie
ist mittlerweile ein Problem für die Weltkonjunktur. Ich
fürchte, dass der US-amerikanische Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman recht hat, wenn er die deutsche Wirtschaftspolitik mit dem Schiller-Zitat kommentiert: „Gegen die Dummheit kämpfen selbst die Götter
vergebens.“ Ich glaube, das ist wirklich so, angesichts
dessen, was meine Vorredner gesagt haben.
Herr Friedrich, Sie mahnen immer wieder an, dass es
mehr private Investitionen geben sollte. Aber wenn
Deutschland auf Verschleiß gefahren wird, wenn Deutschland dringende Investitionen nicht tätigt, warum sollen
dann private Investoren an unser Land glauben?
({3})
Private Investitionen folgen öffentlichen Investitionen.
Sie verweigern sich dem wegen des Fetischs der schwarzen Null.
({4})
Herr Schäuble, Sie müssen der schwäbischen Hausfrau einmal erklären,
({5})
warum man angesichts der derzeitigen Niedrigzinspolitik dringende Investitionen nicht jetzt tätigt, sondern
wartet, bis die Zinssätze wieder steigen. Das ist verschleudertes Geld. Dafür werden die künftigen GeneraAlexander Ulrich
tionen zahlen müssen. Jetzt muss investiert werden! Jetzt
ist das Geld billig! Es ist dringend notwendig, in Verkehr, Infrastruktur, Bildung und Forschung zu investieren.
({6})
Deutschland ist nicht Teil der Lösung, sondern
Deutschland ist Teil des Problems. Das fing damit an,
dass die Niedriglohnpolitik Deutschlands mit der
Agenda 2010 und Hartz IV zu riesigen Außenhandelsüberschüssen geführt hat. Das hat den Euro ins Wanken
gebracht. Dann ging es weiter mit der Umdeutung der
Finanzmarktkrise in eine Staatsschuldenkrise. Es folgten
Kürzungsdiktate, die zu verheerenden auch menschlichen Katastrophen in Südeuropa führten. Ganz nebenbei: Ich finde es zynisch, dass Sie sich hier darüber
empören, dass Gregor Gysi Ihnen den Spiegel vorhält.
Ihre Politik in Südeuropa hat zu menschlichen Katastrophen geführt.
({7})
Es geht noch weiter: Man unterlässt jedwede Solidarität, um durch mehr Investitionen die Wirtschaft endlich
wieder in Gang zu bringen. Eine ganze Generation Jugendlicher überlässt man ihrem Schicksal, indem man
ihnen keine Perspektive gibt. Letzte Woche fand in Mailand ein Beschäftigungsgipfel statt. Auf diesem Gipfel
hat Frankreich gesagt: Wir müssen 20 Milliarden Euro in
die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit investieren.
Deutschland hat das abgelehnt. Zur Erinnerung: Wir haben 1,7 Billionen Euro zur Rettung der Finanzmärkte organisiert. Aber zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit sind dieser Bundesregierung 20 Milliarden Euro zu
viel. Das ist zynisch. Das kann man wirklich nicht akzeptieren.
({8})
Ich komme zum Schluss. Die Frau Bundeskanzlerin
hat gesagt, dass 6 Milliarden Euro bereitstehen, aber
nicht abgerufen werden. Sie werden nicht abgerufen,
weil die Länder kein Geld für die Kofinanzierung haben;
denn die ihnen aufoktroyierten Spardiktate führen dazu,
dass dieses Geld nicht bereitsteht. Wir brauchen dringend Investitionen ohne Kofinanzierung. Diesbezüglich
muss Europa viel mehr tun, und auch diese Bundesregierung.
Vielen Dank.
({9})
Der Kollege Matern von Marschall ist der nächste
Redner für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Göring-Eckardt hat der Bundesregierung mangelndes Engagement in der Europapolitik vorgeworfen; diese
Frage wird offensichtlich gerade im Gespräch mit Frau
Merkel geklärt. Ich denke, das Gegenteil ist der Fall: Die
Bundesregierung versucht, europapolitische Impulse zu
setzen. Das wird sie mit Sicherheit insbesondere auf dem
Europäischen Rat am 23. und 24. Oktober 2014 machen.
Die Bundesregierung wird mit Sicherheit auch hinsichtlich der Klimapolitik Impulse setzen. Sie hat - dafür
bin ich ihr sehr dankbar - in der Vergangenheit und auch
heute wiederholt darauf hingewiesen, dass im Rahmen
des Klimapakets die Reform des Emissionshandels eine
ganz wesentliche Rolle spielt. Ich glaube, das ist der entscheidende Punkt, damit wir in der Europäischen Union
insgesamt das Ziel der CO2-Reduktion erreichen. Ich
will nachher noch etwas genauer darauf eingehen. Es
geht, um das vorwegzunehmen, darum, dass wir die Gesamtmenge der CO2-Emissionen in Europa bemessen
und uns ernsthaft das Ziel setzen, die CO2-Emissionen
bis 2030 zu reduzieren, aber auch weit darüber hinaus,
und zwar bis 2050. Bis 2050 sollen die CO2-Emissionen
übrigens um 85 Prozent reduziert werden. Das ist erforderlich, wenn wir die allerschlimmsten Auswirkungen
und Schäden der Klimaveränderungen noch stoppen
wollen. An diesem Ziel hält auch die Bundesregierung
fest. Aus diesem Grund will die Bundesregierung den
CO2-Emissionszertifikatehandel strukturell reformieren.
Es ist ganz wichtig, dass wir erkennen, dass diese ambitionierten, verbindlichen Vereinbarungen, die wir in
Europa treffen müssen, vor dem Hintergrund des Weltklimagipfels im kommenden Jahr in Paris zu sehen sind.
Das ist von ganz entscheidender Bedeutung; denn wenn
wir im Herzen Europas, in Paris, im kommenden Jahr
nicht mit einer gemeinsamen, starken Position in dieser
Frage auftreten, dann wird das als ein Scheitern Europas
in dieser wesentlichen Zukunftsfrage gesehen, und das
darf nicht geschehen.
({0})
Europa muss vielmehr, angeführt von Deutschland,
das diesbezüglich ambitionierte Ziele verfolgt, eine Vorreiterrolle in Sachen Klimaschutz spielen. Wir werden
aber sorgfältig darauf achten - das wird bei der Reform
des Zertifikatehandels genauso wichtig sein -, dass die
energieintensiven Unternehmen, die in diesem Land und
in Europa tätig sind, nicht zur Abwanderung gezwungen
werden, weil sonst anderenorts noch sehr viel mehr CO2
emittiert wird. Das ist die eine Seite. Auf der anderen
Seite werden wir auch sorgsam darauf achten müssen,
dass der Zertifikatehandel so reformiert wird, dass ein
Anreiz für Investitionen in saubere Technologien gegeben wird. Das ist das Wichtige.
({1})
Es kann unmöglich sein, dass es weiterhin rentabel ist,
diese Kohle-Dinos, die uns doch sehr sauer aufstoßen,
um es einmal so zu sagen, weiter zu betreiben, während
neue, moderne Gaskraftwerke stillstehen. Das geht
nicht. Auch unter diesem Aspekt muss der Zertifikatehandel reformiert werden.
({2})
Ich will kurz erläutern, dass Klimapolitik für mich nur
ein Baustein von Nachhaltigkeitspolitik ist. Diese haben
wir hier in Deutschland hoch angesiedelt - sie ist Chef5500
sache -, aber in Europa zeigt sie nur zarte, erste Ausprägungen. Insofern bin ich dankbar, dass Jean-Claude
Juncker seinen ersten Vizepräsidenten Timmermans gebeten hat, sich dieses Themas anzunehmen. Wir werden
sorgsam darauf achten, dass sich daraus auch eine gesamteuropäische Strategie zur Nachhaltigkeit entwickelt.
Wir werden auch deshalb darauf achten, weil - davon
bin ich überzeugt - Klimapolitik als Teil von Nachhaltigkeitspolitik im Zusammenhang mit den globalen
Nachhaltigkeitszielen gesehen werden muss, die nachfolgend zum Klimagipfel in Paris von den Vereinten Nationen verabredet werden. Diesen Zusammenhang zu sehen, ist wichtig. Deswegen brauchen wir auch in Europa
eine Nachhaltigkeitsstrategie, die diesen Namen verdient. Dafür setzen wir uns besonders im Ausschuss für
die Angelegenheiten der Europäischen Union, aber auch
im Nachhaltigkeitsrat ein. Wir werden daran festhalten
und Jean-Claude Juncker daran erinnern.
({3})
Ich möchte den Zusammenhang zwischen diesen verschiedenen Aspekten in einem Gesamtkonzept der
Nachhaltigkeit verdeutlichen. Das ist nicht irgendwie
Gutmenschentum. Wenn wir sehen, wie stark die Auswirkungen des Klimawandels sind - Menschen leiden
durch Überschwemmungen oder durch Dürreperioden
unter Hungersnöten, sie werden in die Flucht getrieben
und durch ihre Flucht auch in Konflikte und in Kriege -,
dann erkennen wir auch, dass es wesentliche sicherheitspolitische Auswirkungen und, um es platt zu sagen, auch
finanzielle Auswirkungen gibt, die wir am Ende tragen
müssen. Deswegen muss man diese Dinge im Zusammenhang einer globalen Nachhaltigkeitspolitik betrachten.
Insofern bin ich sehr dankbar, dass das im Hause von
Minister Müller so gesehen wird. Ich denke zum Beispiel an die wunderbare Initiative letzte Woche, bei der
sich Kinder für die Kinder in Westafrika engagiert haben, die dort gezwungen sind, Kakaobohnen zu ernten,
ohne entsprechend dafür bezahlt zu werden, damit wir
im Supermarkt billige Schokolade kaufen können. Auch
hier engagieren wir uns. Darauf wollte ich hinsichtlich
des Zusammenhangs zwischen Klimapolitik und Entwicklungspolitik in einem Konzept von globaler Nachhaltigkeitspolitik hinweisen.
({4})
Ich möchte zum Schluss noch einmal auf das Zertifikatesystem zu sprechen kommen, damit es auch verstanden wird; denn es ist einigermaßen kompliziert. Ich
glaube, das System des CO2-Zertifikatehandels kann
- Frau Bundeskanzlerin, Sie haben ja gesagt, dass Europa stark sein muss, aber nur dort, wo es die Nationalstaaten nicht auch sein können - die Chance auf Subsidiarität bieten. Denn wenn das allgemeine Ziel der CO2Reduktion verbindlich festgelegt wird, können wir den
einzelnen Staaten mehr Freiheit innerhalb dieser Zielsetzung, innerhalb dieser Reduktionsstufen bieten, sodass
sie die Reduktionsziele entsprechend der sehr unterschiedlichen Gegebenheiten der einzelnen Staaten erreichen. Das muss man sehen.
Ich muss übrigens auch sagen: Wir müssen, Frau
Bundeskanzlerin, wenn wir diese ambitionierten Ziele in
Brüssel verhandeln, natürlich nicht nur auf die Industrie
achten, sondern auch auf die unterschiedlichen Gegebenheiten in den Staaten der Europäischen Union. Polen
hat selbstverständlich ganz andere Möglichkeiten und
auch Vorstellungen. Auch das muss bei einer Lastenverteilung innerhalb des Zertifikatesystems berücksichtigt
werden.
Ich glaube, nachdem ich diesbezüglich mit vielen
wissenschaftlichen Instituten gesprochen habe, dass ein
Preiskorridor ein durchaus gutes und mögliches Verfahren ist, um diese Zertifikate künftig sozusagen auch für
die Wirtschaft planbar zu machen. Ich denke hier an einen Preiskorridor in der Größenordnung von 15 bis 30
Euro pro Tonne CO2. Jetzt ist es so, dass wir durch die
Wirtschaftskrise immer noch einen riesigen Überhang an
Zertifikaten haben, die gar nicht aufgebraucht wurden.
Da geht es um gewaltige Mengen, die wir vielleicht vorübergehend aus dem Markt herausnehmen. Ich denke,
in Zukunft brauchen wir eine Marktstabilitätsreserve,
mit der flexibel umgegangen werden kann, und zwar so
flexibel, dass wir bei den Preisschwankungen nach oben
und nach unten die Menge der Zertifikate dem durch die
Wirtschaftsphasen unterschiedlichen CO2-Ausstoß anpassen können. Das ist sicherlich der richtige Weg.
Wenn wir es bei diesem Zertifikatehandelssystem belassen und es den Staaten darüber hinaus im Detail selber
überlassen, wie sie diese Ziele erreichen, wäre das gut
und würde dem Subsidiaritätsprinzip genügen.
Ich möchte zum Abschluss sagen: Ich glaube, wir
können durchaus darüber nachdenken, ob in Zukunft
noch andere Branchen in den Zertifikatehandel einbezogen werden sollten. Im Augenblick sind hier nur der
Energiesektor und der Industriesektor - und davon auch
nur ein bestimmter Teil - integriert. Damit werden etwa
45 Prozent der CO2-Emissionen Europas erfasst, 45 Prozent immerhin, aber keine 100 Prozent. Deswegen wird
es sinnvoll sein, den Zertifikatehandel auf andere Branchen auszudehnen, gegebenenfalls auf den Wärme- und
auch auf den Transportsektor. Das ist aber eine mittelfristige Perspektive. Erst einmal geht es darum, dass wir
überhaupt gemeinsam zu einem Ziel kommen. Ich
glaube, dass die Bundeskanzlerin die Beste ist, um kraft
ihrer eigenen Überzeugung zu diesem Thema die europäische Gemeinschaft im Rat zu einem gemeinsamen
Ziel zu bringen - auch dank ihrer eigenen Überzeugung
im Hinblick auf die Bedeutung einer nachhaltigen europäischen und globalen Politik.
Danke.
({5})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Annalena Baerbock das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, Sie haben eingangs
gesagt, dass Sie von anderen Staaten immer wieder hören: Wir erwarten, dass Sie Ihre Stimme erheben. - Darauf warten wir ebenfalls sehr lange: dass Sie endlich
Ihre Stimme erheben, und zwar zu wichtigen Punkten.
({0})
Wenn die Vereinten Nationen verkünden, dass der Umfang der Lebensmittelhilfe um 40 Prozent gekürzt werden muss, vor allem für Syrien, dann erwarten wir, verdammt noch mal, dass Sie Ihre Stimme erheben und
sagen: So geht es nicht, wir helfen.
({1})
Wenn Großbritannien weiter auf Atomkraft setzt und
die scheidende EU-Kommission sagt: „Ja, das befürworten wir“, dann erwarten wir von Ihnen als Regierungschefin eines Landes, das aus der Atomkraft aussteigt,
dass Sie Ihre Stimme erheben und deutlich sagen: Nein,
nicht mit uns!
({2})
Wenn die Investitionsschwäche in Europa weiter um
sich greift, dann erwarten wir von Ihnen, dass Sie Ihre
Stimme erheben und endlich in eine nachhaltige Entwicklung investiert wird. Und da ist es wirklich der
Oberknaller, dass Sie in Bezug auf die wirtschaftliche
Entwicklung und auf Nachhaltigkeit in Europa ausgerechnet den EU-Haushalt anführen. Was haben Sie denn
als Teil der Staats- und Regierungschefs dazu beigetragen, dass Europa in den nächsten Jahren einen nachhaltigen Haushalt hat? Gar nichts. Sie haben sich als Rat gemeinsam gegen das Europäische Parlament gestellt, das
mehr Ausgaben für Forschung und Entwicklung, mehr
Ausgaben für Solidarität in Europa und mehr Ausgaben
für den Klimaschutz gefordert hat. Die Kürzung des EUHaushalts, das sind auch Ihre Kürzungen, Frau Bundeskanzlerin.
({3})
Sie haben es verpasst, die wichtige Frage der wirtschaftlichen Entwicklung Europas mit den Klimazielen
zu verzahnen. Sie hätten im Haushalt vor gut einem Jahr
den Startschuss für eine sozial-ökonomische Transformation Europas setzen müssen. Stattdessen haben Sie als
Bundeskanzlerin einer zunächst schwarz-gelben Regierung und dann einer schwarz-roten Regierung dazu beigetragen, dass Arbeitsplätze, Wettbewerbsfähigkeit und
erneuerbare Energien in Deutschland und in Europa gegeneinander ausgespielt werden - und jetzt wundern Sie
sich, dass wir bei den 2030-Zielen nicht wirklich vorankommen!
({4})
Was Sie gebraucht hätten, wäre eine Strategie, wie sie
jüngst im New Climate Economy Report formuliert
wurde, der unter dem Titel „Besseres Wachstum, besseres Klima“ betont, dass ökonomisches Wachstum und
die Eindämmung der Risiken des Klimawandels Hand in
Hand gehen können, wenn es - das betont der Bericht
sehr deutlich - „eine starke politische Führung und eine
glaubhafte, in sich stimmige Politik“ gibt.
Leider müssen wir heute hier konstatieren, dass es
diese starke politische Führung Ihrerseits für wirtschaftliche Entwicklung und Klimaschutz in Europa nicht gibt
und dass es keine stimmige Politik für die Energiewende
in Deutschland und in Europa gibt.
({5})
Wir wünschen uns sehr, dass Sie einmal in den Keller
Ihres Bundeskanzleramtes hinuntersteigen. Vielleicht
finden Sie dort Ihre eingestaubte rote Jacke wieder, die
Sie vor etlichen Jahren vor den Eisbergen von Grönland
präsentiert haben - auch Herr Sigmar Gabriel war dabei -, und dass Sie sich gemeinsam daran erinnern, was
es bedeutet, ambitioniert für Klimaschutz zu kämpfen.
Wie wollen wir unseren europäischen Nachbarn erklären, dass erneuerbare Energien ein wirtschaftlicher,
ein ökonomischer Erfolg sind, wenn wir hier in Deutschland immer wieder die hohen Energiekosten beklagen?
Wie wollen Sie für eine engagierte europäische Klimapolitik kämpfen, wenn Sie noch nicht einmal zum Klimagipfel nach New York reisen und wenn Sie vor einem
Jahr - es war ziemlich genau vor einem Jahr - zwar bei
den CO2-Grenzwerten für Autos auf den Tisch hauen,
aber hier und heute zu den 2030-Zielen, mit denen wir
das 2-Grad-Ziel definitiv nicht erreichen werden, nichts
anderes zu sagen haben als folgenden Satz: „Von deutscher Seite könnte man sich auch andere Ziele wünschen“?
Sie können sich so viel wünschen, wie Sie wollen:
Wenn Sie als Mitglied der Europäischen Union etwas
zum Klimaschutz beitragen wollen, dann braucht es drei
verbindliche und ambitionierte Ziele: Ausbau der Erneuerbaren, Energieeffizienz und CO2-Minderung. Dafür
müssen Sie die verbleibende Woche hart kämpfen, damit
Europa das in die Klimaverhandlungen einbringt; denn
sonst droht die Konferenz in Paris zu scheitern.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
({6})
Joachim Poß ist der nächste Redner für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir stehen in Europa, auch in Deutschland, im Epochenjahr
2014, wie es Heinrich August Winkler nennt, vor großen
Aufgaben und Weichenstellungen. Zwar haben wir seit
der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 und den
nachfolgenden Turbulenzen im Euro-Raum unsere Handlungsfähigkeit verbessert. Aber ich fürchte, dass wir für
die nun kommende Zeit mit den bisherigen Fortschritten,
einschließlich der Bankenunion, nicht auskommen, dass
wir uns in Europa weiter für das rüsten müssen, was da
auf uns zukommt. Das sollten wir ganz realistisch ins
Auge fassen und auch bei allen Fortschritten nicht verschweigen.
Deswegen möchte ich die Bundeskanzlerin, die jetzt
ihren Flug nach Mailand antreten musste, wie sie mir
sagte, in einem Punkt ergänzen. Sie sprach davon, dass
Irland, Portugal und Spanien ihre Programme erfolgreich abgeschlossen hätten. Es mag, technokratisch gesehen, richtig sein, die Programme abzuschließen. Die
Kanzlerin hätte aber hinzufügen sollen: Die wesentlichen Probleme in diesen Ländern sind damit noch nicht
gelöst, vor allen Dingen nicht das Problem der Arbeitslosigkeit, insbesondere der Jugendarbeitslosigkeit.
({0})
Dies zeigen auch andere Strukturdaten. Die Verschuldung in Spanien zum Beispiel wird bis 2015 noch steigen. Das sollten wir nicht aus den Augen verlieren.
Wir als Bundesrepublik Deutschland sollten unseren
Beitrag dazu leisten, dass eine teilweise unfruchtbare
Debatte in Europa - auf der einen Seite die Forderung
nach mehr Investitionen, auf der anderen Seite die nach
mehr Strukturreformen - in der bisherigen Form beendet
wird. Sie führt in eine Sackgasse. Wir brauchen mehr Investitionen in den einzelnen Ländern Europas, und wir
brauchen auch mehr Strukturreformen in den einzelnen
Ländern; das ist nicht zu leugnen.
({1})
Strukturreformen bedeuten ja nicht nur, Arbeitsgesetze zu ändern. Strukturreformen bedeuten vor allen
Dingen, ein vernünftiges Berufsausbildungssystem einzurichten. Strukturreformen bedeuten auch, dass die
staatlichen Institutionen ihre Aufgaben wahrnehmen,
dass etwa die Jugendgarantie tatsächlich umgesetzt wird.
Ich habe nicht verstanden, warum Hollande in Mailand
gesagt hat, wir bräuchten noch 20 Milliarden Euro mehr.
Wir sind aus ganz unterschiedlichen Gründen noch nicht
einmal in der Lage, 6 Milliarden Euro im Rahmen der
Beschäftigungsinitiative kollektiv auszugeben. Das ist
Teil der europäischen Realität.
({2})
Mit dieser Realität müssen wir uns beschäftigen,
ebenso mit der Praxis. Angesichts der Transparenz und
Effizienz in manchen Ländern muss ich sagen: Da ist
noch viel Luft nach oben; da ist man gelegentlich sogar
erschrocken über das Ausmaß. Ich verschweige auch
nicht das Ausmaß der Korruption, das in einigen Ländern erschreckend hoch ist. Auch das muss thematisiert
werden, das können wir nicht so ohne Weiteres tolerieren.
({3})
Deswegen ist die wichtigste Reform in vielen Ländern, Rechtssicherheit herzustellen. Matteo Renzi sagt
nicht umsonst: Ich will eine Justizreform. - Wenn man
in Italien innerhalb von fünf Jahren kein Urteil bekommt
- egal in welcher Angelegenheit -, fördert das nicht die
Rechtssicherheit und auch keine langfristigen Investitionen. Das sind Punkte, über die wir uns verständigen
müssen. Da müssen auch die vorhandenen Möglichkeiten genutzt werden.
Wenn Bulgarien, Italien, die Slowakei und Rumänien
weniger als 56 Prozent der Strukturfördermittel in der
Periode 2007 bis 2013 abgerufen haben, bedeutet das einen Verzicht auf viele Arbeits- und Ausbildungsplätze in
den jeweiligen Ländern. Das muss die Linkspartei auch
einmal zur Kenntnis nehmen, bevor sie mit Schuldzuweisungen arbeitet, die an der Realität in Europa vorbeigehen.
({4})
Strukturmittel in Höhe von 102 Milliarden Euro sind
nicht abgerufen worden. Wir müssen unseren Beitrag
dazu leisten, das konkret zu ändern, und zwar auf der europäischen Ebene. Das muss die neue Kommission leisten. Der Bewilligungsprozess ist in der Tat sehr bürokratisch, und es bestehen Unterschiede in den einzelnen
Ländern, was die Fähigkeit angeht, diese Mittel abzurufen.
Nur nebenbei: Die Jugendarbeitslosigkeit ist nicht nur
ein Problem in den südlichen Ländern. In 18 EU-Ländern liegt sie über 20 Prozent, zum Beispiel in Schweden
bei 27,6 Prozent und in Irland bei 26,9 Prozent.
Das sind die Probleme, mit denen wir uns in den
nächsten Jahren auseinandersetzen müssen mit einem
Policy Mix, der konkrete Fortschritte bei Investitionen
und Strukturreformen sowie eine angemessene Konsolidierung umfasst. Deswegen brauchen wir auch Finanzierungsmittel. Wir brauchen praktische Fortschritte im
Kampf gegen Steuerhinterziehung und Steuervermeidung. Starbucks, Google und Co. und auch große deutsche Konzerne müssen von uns gezwungen werden, endlich Steuern in Europa zu zahlen, damit wir diese
Initiativen finanzieren können.
({5})
Die Aufhebung des sogenannten Bankgeheimnisses,
die jetzt im Ecofin beschlossen wurde - dafür haben einige wie ich jahrzehntelang gekämpft -, kommt zwar etwas spät, aber sie ist gleichwohl richtig und eine wesentliche Voraussetzung, um in diesem Kampf erfolgreicher
zu sein. Man muss es offen sagen: Dagegen gab es in
diesem Parlament massiven Widerstand von Konservativen und Liberalen über Jahre und Jahrzehnte. Das hat
sich geändert. Das halte ich für einen Fortschritt.
Die Möglichkeiten der Europäischen Investitionsbank
zur Ankurbelung der Investitionen sind genannt worden.
Da müssen wir durch Anhebung des Eigenkapitals ein
Vielfaches an Investitionsvorhaben fördern.
In den Gesprächen, die ich in den letzten Monaten in
Europa geführt habe - sei es mit Ökonomen und Vertretern der Wirtschaft oder mit Politikern -, bin ich auf ein
Problem gestoßen, das mir nicht unbekannt ist: Das ist
die wachsende Ungleichheit hier in Europa und auch in
den USA. Auch das ist ein Problem, das durch die Europäische Union und das, was Juncker bisher gesagt hat,
nicht adressiert worden ist.
Wir haben also viel zu tun. Dieses deutsche Parlament
sollte einen wirklich konstruktiven Beitrag leisten.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Maik Beermann für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Gysi,
das war heute wieder einmal ein Demagogenklamauk
sondergleichen, den wir uns hier anhören mussten.
({0})
Wenn wir nämlich auf Sie hören müssten, dann wäre unser leistungsfähiger Staat schon mausetot.
({1})
Frau Göring-Eckardt, ich glaube, dass Herr Gabriel
nicht der Genosse der Bosse ist, sondern meines Wissens
immer noch der Boss der Genossen. Ich glaube, das ist
ein kleiner Unterschied.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gerne möchte ich
die Ausführungen unserer Kanzlerin im Bereich der europäischen Klima- und Energiepolitik untermauern. Basierend auf der chinesischen Weisheit „Der Mann, der
den Wind der Veränderung spürt, sollte keinen Windschutz, sondern eine Windmühle bauen“, betreiben wir
als Union gemeinsam mit unserem Koalitionspartner
eine solide Klima- und Energiepolitik. Durch eine enge
Verzahnung der europäischen Ebene mit unserem Tun
und Handeln hier in Berlin ist es uns gelungen, in den
vergangenen Jahren eine verlässliche Politik in diesen
Bereichen zu erarbeiten.
Im Grunde besteht sogar innerhalb unseres Hauses
eine große Einigkeit darüber, dass der eingeschlagene
Weg eine Grundlage für die europäische Energiepolitik
bilden kann. Mit Herrn Günther Oettinger haben wir in
den vergangenen Jahren auch auf europäischer Bühne
maßgeblich die Weichen der Energiepolitik gestellt.
Wenn der Kollege Hofreiter lieber die Klimakommissarin unterstützen wollte, als auf den Energiekommissar
zu hören, weil er der Meinung war oder ist, dass
Deutschland beim Klimaschutz vom Vorreiter zum
Bremser geworden ist, dann kann ich dem nicht zustimmen. Denn wenn jemand zum Klimaschutzbremser geworden ist, dann eben genau die zuständige Kommission.
Das Abschaffen der ehrwürdigen Glühbirne, Staubsauger mit nur noch 1 000 Watt, die eigentlich gar keinen Staub mehr saugen, weil die Power fehlt, oder Kaffeemaschinen, die sich nach fünf Minuten automatisch
abstellen, sodass man danach einen kalten Kaffee serviert bekommt: All das haben die Menschen in unserem
Land und in Europa nämlich satt, meine Damen und
Herren.
({3})
Wenn man sich die aufwendige Produktion einer
Energiesparlampe vor Augen führt, dann kann man über
eine gewisse positive Klimaschutzbilanz sicherlich nur
schmunzeln. Wie im Energiefahrplan der Europäischen
Kommission erwähnt, sind das Wohlergehen der Menschen, die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie und das
Funktionieren der Gesellschaft insgesamt von sicherer,
nachhaltiger und erschwinglicher Energie abhängig.
Deutschland hat die Energiewende bereits eingeleitet,
was in Europa mittlerweile zu einem geflügelten Wort
geworden ist. Wir sind auf einem guten Weg, uns von
der Atomkraft zu verabschieden und auf erneuerbare
Energien zu setzen.
Anders unsere Nachbarn in Frankreich: Sie setzen
nach wie vor auf Atomstrom als zentralen Energielieferanten. Etwa 60 Prozent der dortigen Stromerzeugung
stammt aus Kernkraftwerken. Frankreich wäre derzeit
wirtschaftlich aber auch überhaupt nicht in der Lage, auf
Atomstrom zu verzichten.
Unsere Freunde in Polen haben ein hohes Vorkommen an Steinkohle. Sie möchten auf diesen kostengünstigen Energieträger ebenso wenig verzichten. Nur durch
niedrige Energiepreise können im internationalen Handel häufig Wettbewerbs- und Standortvorteile erzielt
werden.
Meine Damen und Herren, wir leben nicht auf einer
Insel der Glückseligkeit. Die europäische Klima- und
Energiepolitik ist und bleibt ein Gemeinschaftsprojekt.
Wir müssen unsere nationalstaatlichen Projekte und Ansätze in den europäischen Weg einbringen und weiterhin
als Taktgeber in Europa fungieren.
({4})
Nehmen wir die aktuell hitzigen und kontroversen
Debatten um die Förderung von Schiefergas: Das sogenannte Fracking ist derzeit in einigen EU-Ländern verboten; in manchen Ländern finden aber auch Probebohrungen statt. Ich warne aber in jedem Fall davor, aus
Idealismus diese Möglichkeit von vornherein abzulehnen. Wir dürfen in jedem Fall nicht riskieren, dass energieintensive Unternehmen in die USA abwandern, weil
sich die Energiepreise dort im Sinkflug befinden, während sie in Europa stetig steigen. Das wird uns in Europa
Arbeitsplätze kosten, und auch dem Klimaschutz wäre in
keiner Weise geholfen.
Jedoch dürfen wir in dieser Frage nicht nur die wirtschaftlichen Aspekte bei unserer Entscheidungsfindung
in den Vordergrund stellen. Ebenso sollten der Natur-,
Umwelt- und vor allen Dingen auch der Trinkwasserschutz einen hohen Stellenwert einnehmen.
({5})
Mit Blick auf meinen Wahlkreis Nienburg-Schaumburg im schönen Niedersachsen kann ich Ihnen mitteilen, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass auch die Bevölkerung bei mir zu Hause sehr kontrovers über dieses
Thema diskutiert. Wir sollten aber nicht nur eine Umweltverträglichkeitsprüfung beschließen, sondern auch
darüber nachdenken, ob es nicht notwendig ist, Lagerstättenwasser verpflichtend aufbereiten zu lassen, bevor
es wieder im Erdreich verpresst wird.
({6})
Neben unseren nationalen Bemühungen zum Themenfeld Fracking wird auch in der EU-Kommission ein
europäischer Regulierungsrahmen erstellt. Ich finde, genau hier gehört dieses Thema auch hin. Neben der nationalen Gesetzgebung sind bei solch sensiblen Themen europäische Rahmenbedingungen zu schaffen. Denn nur so
kann einem langfristigen und grenzübergreifenden Natur- und Klimaschutz Rechnung getragen werden.
Sehr geehrte Damen und Herren, ein weiteres Ziel ist
klar - das hat auch die Kanzlerin schon angesprochen -:
Wir müssen die Entwicklung des europäischen Energiebinnenmarktes voranbringen. Hier gibt es noch enorm
viel Arbeit.
Der Binnenmarkt für Gas und Strom muss endlich
funktionieren. Die Transeuropäischen Netze werden den
heutigen und künftigen Anforderungen in keiner Weise
gerecht. So hat Spanien beispielsweise völlig unzureichende Netze nach Frankreich. In den baltischen Staaten
gibt es nach wie vor Regionen, die vom europäischen
Energienetz entkoppelt sind. Dabei ist es längst beschlossene Sache, dass es solche Energieinseln bis 2015
nicht mehr geben soll. Hier brauchen wir mehr Europa,
nicht weniger.
({7})
- Hier brauchen wir mehr Europa; Sie haben völlig
recht.
Machen wir uns nichts vor: Deutschland ohne eigene
Meiler am Netz und ohne das Risiko von Blackouts, falls
unsere Windräder und Solarpanels nicht genug Strom
produzieren, das wird nur dann funktionieren, wenn wir
problemlos Strom über gut ausgebaute Transeuropäische
Netze von unseren europäischen Nachbarn beziehen
können. Wie dem Bericht der Europäischen Kommission
zur Vollendung des Energiebinnenmarktes vom 13. Oktober dieses Jahres zu entnehmen ist, haben nun endlich
die Bemühungen um den Ausbau der transeuropäischen
Stromverbindungen den einen oder anderen Erfolg gezeigt. Entgegen der Kritik von Frau Bulling-Schröter
von der Fraktion Die Linke, die am 24. Juni formulierte,
dass es weder für den Bürger noch für den Staat billiger
werden kann, zeigt der Bericht, dass nicht nur der Stromgroßhandelspreis zwischen 2008 und 2012 um ein Drittel gesunken ist, sondern dass günstigere Preisangebote
auch dem Endkunden geboten werden.
Die Energiewende ist daher für unser Land ein richtiger Schritt auf dem Weg hin zur Industriegesellschaft der
Zukunft. Nur mit einer erfolgreichen Energiewende können nachhaltiges Wachstum und die damit verbundenen
Arbeitsplätze in unserem Land und in Europa gesichert
werden. Zudem müssen wir unsere Unabhängigkeit von
Energieimporten ausbauen. Wir als Christdemokraten
werden für die Fortsetzung der Energiewende auch in
der Europäischen Union werben, um zum Wohle der
Mitbürgerinnen und Mitbürger sowie der Industrie und
Wirtschaft die Energiepolitik der getrennten Wege zu
überwinden. Daher kann ich einer Pressemitteilung wiederum der Fraktion Die Linke nicht folgen. Meine Damen und Herren, Sie wiesen im letzten Monat, am
9. September dieses Jahres darauf hin, dass Deutschland
aufgrund seiner Rolle als Industrienation der Welt als
Vorbild in Sachen Energiereform agieren müsse. Im selben Atemzug wird dann von Ihnen der Besuch der Kanzlerin beim Interessenverband der Industrie kritisiert, wo
eben genau über dieses Thema gesprochen wurde, nämlich wie die Energiewende in der Industrie zu realisieren
ist. Wenn ich mir die Ergebnisse oder die Initiativen auf
der Internetseite der European Left Party in der Arbeitsgruppe „Energie und Umwelt“ anschauen möchte, dann
finde ich nur eine weiße Seite ohne Inhalt. Der Fehler
steckt hier anscheinend wieder einmal im Detail.
({8})
Wir müssen den Unternehmen die richtigen Anreize
und Regulierungsrahmen bieten, die dazu dienen, die nötige Infrastruktur zu schaffen. Wir müssen darauf vertrauen können, dass in unseren EU-Partnerländern eine
gewisse Energiesicherheit nachhaltig besteht. Die von
Angela Merkel geführte Bundesregierung setzt sich natürlich für die Fortführung des EU-Rahmens 2020 mit
seinen drei eigenständigen sowie verbindlichen Zielen
auch für das Jahr 2030 ein. Im Konkreten stehen wir erstens für das Treibhausminderungsziel in Höhe von
40 Prozent, zweitens für das verbindliche EU-erneuerbare-Energien-Ziel in Höhe von 27 Prozent beim Endenergieverbrauch und drittens für ein verbindliches EUEnergieeffizienzziel von 30 Prozent gegenüber dem Basisjahr 2005. Wir als Union stehen hinter der strategischen Agenda des Europäischen Rates. Ich möchte heute
aber auch ausdrücklich betonen, dass nicht nur umweltund klimapolitische Ziele in den Fokus rücken dürfen.
Ebenso müssen wir uns sowohl die wirtschaftlichen als
auch die gesellschaftspolitischen Herausforderungen vor
Augen halten. Die Energie- und Klimaziele dürfen das
dringend benötigte Wachstum bei uns in Europa nicht
ausbremsen.
Ich bin nun ein Jahr lang Bundestagsabgeordneter
und habe in diesem einen Jahr feststellen müssen, wie
schnell sich das Blatt in der politischen Ausrichtung
wenden kann. Die Finanz- und Wirtschaftskrise ist noch
nicht überwunden. Die Konflikte im Irak sowie der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine sind ein beherrschendes Thema in vielen politischen Debatten. Die
Barbarei und die Gräueltaten des IS mit all den schrecklichen Bildern sind uns allgegenwärtig. Noch vor gut einem Jahr hat, denke ich, keiner von uns diese Entwicklungen voraussehen können. Gleichwohl wird von uns
allen politisches Handeln verlangt. Ich rufe Sie daher
auf: Lassen Sie uns die Handelnden sein, die im Wind
der Veränderungen weitreichende und zielgerichtete Entscheidungen treffen! Aufgrund der enormen außenpolitischen Herausforderungen bin ich mir sicher, dass unsere
Bundeskanzlerin Angela Merkel dankbar für jeden konstruktiven und umsetzbaren Debattenbeitrag sein wird.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Abschließender Redner in dieser Aussprache ist der
Kollege Philipp Mißfelder, CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Diese Regierungserklärung zu den drei wichtigen internationalen Gipfeln, die anstehen, hat gezeigt, dass
Deutschland in der Lage ist, Verantwortung zu übernehmen. Wir sind zu Beginn des Jahres bei drei Reden auf
der Münchner Sicherheitskonferenz mit der Frage von
mehr Verantwortung sehr pauschal konfrontiert worden;
der heutige Tag und auch die Vorbereitung auf die drei
Gipfel zeigen, was das konkret bedeutet.
Konkret bedeutet mehr Verantwortung aus Sicht unserer Fraktion nicht automatisch mehr Militär, es bedeutet für uns, dass wir koordinierter vorgehen wollen, was
die Entwicklungszusammenarbeit angeht, aber auch was
abgestimmtes europäisches Handeln angeht. Dafür sind
die Rahmenbedingungen leider schwieriger geworden,
weil wir sehen, dass trotz der Ankündigung des Präsidenten der Europäischen Zentralbank für das OMT-Programm die Zeit, die dadurch gekauft worden ist - auch
wenn es durch die Ankündigung gar nicht notwendig
war, große Schritte zu gehen -, nicht genutzt worden ist,
um die wirklich großen Fragen in Europa zu beantworten.
Leider, muss ich an dieser Stelle sagen, war dies deshalb so, weil weder die strukturellen Reformen, die notwendig sind, in Ländern wie Italien oder Frankreich
vorangegangen sind, noch es gelungen ist, die Bankenunion in dem Maße voranzubringen, wie es notwendig
wäre. Das wird auch deshalb schwieriger, weil wir
Signale haben, dass sich die wirtschaftliche Lage eintrübt. Aber auch da sage ich an dieser Stelle, dass wir auf
den psychologischen Faktor setzen müssen und wir die
Situation nicht schlechter reden sollten, als sie ist.
Wir sind 2008/2009 definitiv stärker aus der Krise herausgekommen, als wir in die Krise gegangen sind. Das
war damals das zentrale Versprechen der Bundeskanzlerin und der damaligen Großen Koalition, und dieses Versprechen ist eingehalten worden.
({0})
Leider haben nicht alle europäischen Länder ihre
Hausaufgaben gemacht, so wie sie es hätten tun müssen
und wie wir es schmerzhaft gemacht haben, beispielsweise mit der Agenda 2010, aber auch in der ersten Großen Koalition und danach mit der Politik der schwarzgelben Koalition. Vor dem Hintergrund befinden wir uns
in einem besonders schwierigen Umfeld. Es ist schwierig, jetzt von integrativen Schritten und davon zu sprechen, wie man Europa stabil weiter voranbringen kann.
Deshalb ist es richtig, dass die Kanzlerin hier klar und
deutlich gesagt hat, dass wir das partnerschaftlich tun
wollen. Wir haben gestern im Auswärtigen Ausschuss
den französischen Außenminister zu Gast gehabt. Ich
meine, die Diskussion ist zu Recht freundschaftlich verlaufen. Die Franzosen wissen selber, vor welch großen
Herausforderungen sie stehen und welche Aufgaben sie
zu erfüllen haben. Leider - das muss ich sagen - stößt
das französische politische System mehr und mehr an
seine Grenzen, und die Franzosen haben Probleme, die
Maßgaben, die sie einst unterschrieben haben, nämlich
den Maastrichter Vertrag, einzuhalten.
Deshalb stehen wir alle miteinander vor einer besonderen Herausforderung. Allerdings muss ich dazu sagen,
dass derjenige, der glaubt, man könnte Fehler, die durch
Schuldenpolitik angerichtet worden sind, durch noch
mehr Schulden dauerhaft und nachhaltig lösen, irrt und
die Probleme nur noch verschärfen wird.
({1})
Die Geldmengenerweiterungspolitik hat Vor- und
Nachteile. Die Geldmengenerweiterungspolitik hat,
wenn sie unkonditioniert stattfindet, fast ausschließlich
Nachteile. Am heutigen Tag warnt der amerikanische
Wirtschaftswissenschaftler Nouriel Roubini vor den großen Risiken in der internationalen Finanzwelt. Es gibt
verschiedene Blasen. Ich möchte meinen Blick auf Amerika richten. Die Studienkredite, die heute in den Vereinigten Staaten von Studenten angesammelt worden sind,
sind größer als die Verschuldung durch alle Kreditkarten
der Vereinigten Staaten von Amerika. Wenn diese Blase
platzen sollte, wird dies definitiv Auswirkungen auf die
Weltwirtschaft haben.
Das heißt: Jeder, der glaubt, dass Verschuldung per se
ein Mittel ist, um Krisen zu verhindern, irrt. Deshalb ist
es auch richtig, dass wir mit unserem Bundesfinanzminister daran festhalten, solide Finanzen auf den Weg
zu bringen, um auf der Basis dieser soliden Finanzen
Europa fortzuentwickeln und wettbewerbsfähiger zu machen.
({2})
Die Kanzlerin trägt besondere Verantwortung, wenn
es darum geht, die Bundesrepublik Deutschland und die
Europäische Union international zu repräsentieren. Viele
unserer Partner verlassen sich auf sie und kommen nach
Berlin, um Gespräche zu führen. Wir hatten diese Woche
Gelegenheit, ausführlich mit unserem Bundesaußenminister abzustecken, was für uns vor den drei großen
Konferenzen, die jetzt anstehen, die wichtigen Themen
sind.
Das eine Thema ist der Streit zwischen Russland und
der Ukraine. Ohne jetzt zu optimistisch zu sein, glaube
ich, sagen zu können, dass wir - da leistet Günther
Oettinger als scheidender Energiekommissar wirklich
überragende Arbeit -, in den nächsten Tagen endlich ein
positives Signal bekommen werden, was den Gasstreit
zwischen der Ukraine und Russland angeht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, darf ich einfach bitten, noch etwas Ruhe zu bewahren. Ich weiß, dass diese
Debatte zu vielerlei Gesprächen Anlass geben kann. Es
geht darum, dass man sie außerhalb des Plenarsaals
führt, damit man den Kollegen Mißfelder gut verstehen
kann.
({0})
Herzlichen Dank, Herr Präsident. - Wenn es gelingen
sollte, eine Einigung zu erzielen - entweder in den
nächsten 48 Stunden oder in der kommenden Woche bei
den weiteren Gesprächen -, dann, glaube ich, eröffnet
das die Chance, den politischen Prozess auf Basis der
Minsker Verabredung von Präsident Putin und Präsident
Poroschenko voranzubringen. Aber ich bin nicht zu optimistisch, weil nach wie vor ein grundsätzlicher Dissens
gerade zwischen Europa und der Russischen Föderation
besteht.
Das zweite große Thema, das uns beschäftigt, ist der
gemeinsame Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Ich habe mit Verwunderung den Vorschlag der
Grünen zur Kenntnis genommen. Wir haben hier über
Waffenexporte diskutiert, und natürlich ist uns die Entscheidung, Waffen in ein Spannungsgebiet, Waffen an
die Kurden zu liefern, nicht leichtgefallen. - Aber wir
haben Waffen an unsere Verbündeten, an unsere Freunde
geliefert, die uns auch nicht enttäuscht haben, sondern in
einem aufopferungsvollen Kampf ISIS in ihrem Bereich
zurückgeschlagen haben. Das ist verlässliche Außenpolitik.
Was ich mich bei Ihrem Vorschlag, Frau GöringEckardt, gefragt habe - ich glaube, Ihre Fraktion ist Ihnen an dieser Stelle eher nicht gefolgt -, ist, welches
politische Konzept dahintersteht. Wollen Sie wirklich,
dass deutsche Soldaten in einen Bodenkrieg auf syrischem Territorium verwickelt werden? Ich kann Ihnen
dazu nur sagen: Nein, wir wollen das nicht. Wir erteilen
diesem Vorschlag eine klare Absage.
({0})
Ein UNO-Mandat ist - das wissen Sie selber - überhaupt nicht absehbar. Wenn wir über regionale Partner
sprechen, dann müssen wir uns deutlich ausdrücken. Ich
weiß, dass die Türkei moralisch unter einem riesigen
Druck steht. Viele sagen: Jetzt müssten die Türken doch
etwas machen. - Ich stimme der politischen Konzeption
der Türken nicht zu, dass sie in Syrien nur einrücken,
wenn sie auch die Möglichkeit haben, einen Kampf gegen Assad zu führen.
Wir haben von diesem Rednerpult aus oftmals gesagt:
Es gibt für die Probleme in Syrien mit Assad keine Lösung. - Aber die Lage in diesem Land hat sich nun einmal dramatisch verändert; wir wissen überhaupt nicht,
wer verlässliche Partner sein könnten. Die syrische
Opposition, die wir als positiv erachten, hat - leider überhaupt nicht die Kraft, gegen Assad vorzugehen;
vielmehr führt eine Intervention unter Umständen letztendlich dazu, dass die Situation nur noch schlimmer
wird und dass man ISIS nur noch begünstigt.
({1})
Das ist nicht in unserem Interesse.
Jeder, der für Einsätze dort ist, muss auch eine politische Konzeption vorlegen. Die Bundeskanzlerin hat das
heute hier getan. Unser vorsichtiger Kurs ist besser als
das hasadeurhafte Verhalten der Grünen.
({2})
Vielen Dank. - Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auf Drucksache 18/2895. Dazu liegt eine ganze Reihe
von Erklärungen zur Abstimmung nach § 31 unserer Ge-
schäftsordnung vor.1) Die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen verlangt namentliche Abstimmung. Ich bitte jetzt die
Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen
Plätze einzunehmen. - Sind alle Abstimmungsurnen be-
setzt? - Das ist der Fall. Dann eröffne ich die Abstim-
mung über den Entschließungsantrag.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme nicht abgegeben hat, aber sie noch abgeben
möchte? - Ich sehe niemanden mehr, der noch abstim-
men möchte. Dann schließe ich die Abstimmung und
bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der
Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung
wird Ihnen später bekannt gegeben.2)
1) Anlagen 2 und 3
2) Ergebnis Seite 5509 C
Vizepräsident Johannes Singhammer
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b
auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Digitale Agenda 2014 bis 2017
Drucksache 18/2390
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss Digitale Agenda ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Konstantin von Notz, Tabea Rößner, Dieter
Janecek, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Den digitalen Wandel politisch gestalten Handlungsempfehlungen der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“
umsetzen
Drucksache 18/2880
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({1})
Ausschuss Digitale Agenda ({2})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Federführung strittig
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 96 Minuten vorgesehen. - Weil ich
keinen Widerspruch höre, gehe ich davon aus, dass Sie
alle damit einverstanden sind. Damit ist das so beschlossen.
({3})
- Ich bitte um Ruhe hier im Plenum, damit wir der Debatte gut folgen können.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Bundesminister Alexander Dobrindt das Wort.
({4})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir haben uns bei den Diskussionen der vergangenen Wochen und Monate über die Digitale Agenda
der Bundesregierung von einem zentralen Leitgedanken
führen lassen: Wir wollen die Stärken der sozialen
Marktwirtschaft nutzen, um die digitale Revolution zu
gestalten. Deutschland hat eine Chance auf ein digitales
Wirtschaftswunder. Das muss der Auftrag sein, den wir
hier erledigen, meine Damen und Herren.
({0})
Wenn man die Entwicklungen der letzten Monate beobachtet, dann wird eines sehr offensichtlich: Wir stehen
nicht am Anfang einer digitalen Revolution, wie viele
immer wieder berichten, sondern wir stecken mittendrin
in einem digitalen Wandel. Das kann man daran feststellen, dass sich die Anzahl der Patente im Bereich der
digitalen Technologien seit der Jahrtausendwende verdoppelt hat, dass der Digitalisierungsanteil über alle
Wirtschaftsbereiche hinweg um 25 Prozent gestiegen ist
und dass die weltweite digitale Datenmenge in den letzten Jahren regelrecht explodiert ist; sie ist seit 2005 um
das 70-Fache gestiegen.
Die Prognosen besagen, dass wir bis 2020 eine weitere Verzehnfachung und dann jedes Jahr wahrscheinlich
eine Verdoppelung dieser Datenmengen erleben werden.
Kurz gesagt, die Digitalisierung hat die Welt - also auch
Europa und Deutschland, vor allem aber das Leben eines
jeden Einzelnen - in nur ganz wenigen Jahren tiefgreifend verändert. Deswegen diskutieren wir auch ganz
neue Phänomene in diesem Bereich. Ich sage sehr klar,
dass die Frage der Teilhabe an der digitalen Welt bei dieser dramatischen Veränderung unserer Gesellschaft natürlich eine Frage der Gerechtigkeit geworden ist. Weiter
sage ich klar, dass digitale Standortfaktoren mittlerweile
genauso entscheidend für Wachstum und Wohlstand sind
wie Rohstoffe, Energieversorgung und Fachkräfte.
Diese digitale Revolution hat einen gesellschaftlichen
Wandel ausgelöst, der vielleicht mit der Erfindung des
Verbrennungsmotors oder der des PC vergleichbar ist.
Diesen Wandel müssen wir nutzen. Wir wollen ihn gestalten. Auch wollen wir Deutschland an eine internationale Spitzenposition heranführen. Im digitalen Zeitalter,
meine Damen und Herren, kann das nur die größte politische Herausforderung bedeuten, der wir uns aktiv als
Politik - gemeinsam mit Wirtschaft und Wissenschaft komplett neu stellen müssen. Die gesellschaftliche Änderung braucht die politische Begleitung.
({1})
Diesem Auftrag haben wir in der Bundesregierung
höchste Priorität eingeräumt. Drei Ressorts setzen sich
intensiv mit dem Thema der digitalen Revolution auseinander. Der Bundesminister für Wirtschaft, der Bundesminister des Innern und der Bundesverkehrsminister
erarbeiten gemeinsam die Digitale Agenda. Ich möchte
an dieser Stelle auch einmal einen ganz herzlichen Dank
aussprechen. Sehr geehrter Herr Gabriel, wir haben gemeinsam mit Innenminister Thomas de Maizère die digitalen Phänomene und Chancen intensiv miteinander diskutiert und das Projekt der Digitalen Agenda gemeinsam
begleitet. Ich kann, wenn ich sehe, wie diese drei Ressorts das in einer erstklassigen, harmonischen und auch
inhaltsstarken Weise umgesetzt haben, nur sagen: In dieser Bundesregierung gibt es ein beispielhaftes Vorgehen
und Zusammenarbeiten.
({2})
Herzlichen Dank, lieber Herr Gabriel, für diese vertrauensvolle Zusammenarbeit!
({3})
Wir sind gemeinsam der Meinung, dass wir in der digitalen Welt an der Spitze stehen müssen, wenn wir
Wachstum und Wohlstand in Deutschland weiterentwickeln wollen. Deswegen gibt es drei ganz klare Aufgaben, die auch in der Digitalen Agenda beschrieben sind:
Erstens. Wir brauchen mehr soziale Marktwirtschaft in
der digitalen Ökonomie. Zweitens. Wir müssen Big Data
als Chance begreifen. Drittens. Wir brauchen den flächendeckenden Zugang zu schnellen Breitbandtechnologien.
Nur wer bereit ist, diese drei Herausforderungen positiv zu begleiten und Entscheidungen zu treffen, hat eine
Chance, dass der Wohlstand, den wir wollen, digital mitbestimmt ist und in Deutschland einkehrt, meine Damen
und Herren.
({4})
Die soziale Marktwirtschaft in einer digitalen Welt zu
definieren, ist keine ganz leichte Herausforderung. Die
Digitalisierung hat nämlich mächtige globalisierte Konzerne entstehen lassen, von denen übrigens keiner aus
Deutschland, nicht einmal aus Europa kommt.
({5})
Die Treiber dieser Entwicklung sind vielleicht in Kalifornien oder China zu finden. Manche sprechen auch
schon davon, wir hätten es vielleicht eher mit Monopolen als mit globalisierten Konzernen zu tun. Ich sage
deswegen auch sehr klar: Man darf die Erkenntnis darüber, dass es sich um große, einflussreiche, globalisierte
Konzerne handelt, nicht überhöhen, aber klar ist, dass es
sich um eine handfeste Herausforderung für die Balance
in unserer sozialen Marktwirtschaft handelt. Jeder, der
heute erkennt, dass es einzelne Konzerne sind, die die
Weiterentwicklung des Digitalen vorantreiben, weiß,
dass ein Stück Wettbewerb in diesen Systemen möglicherweise fehlt. Deswegen ist das für mich eine klare
Frage der Ordnungspolitik. Wir haben die Aufgabe, den
Wettbewerb im Digitalen zu beleben. Wir haben die
Aufgabe, den Wettbewerb zu organisieren, das Antimonopol zu stärken und selber digitales Leistungszentrum
zu werden. Die soziale Marktwirtschaft stärker in das
Digitale hineinbringen und den Wettbewerb fördern, das
muss Aufgabe dieser Bundesregierung sein.
({6})
Das gilt übrigens auch im Bereich der Sharing Economy. In Diskussionen - auch heute wieder nachlesbar sprechen Ökonomen wie Jeremy Rifkin von einer Ablösung der marktwirtschaftlichen Gesellschaft durch eine
Ökonomie des Teilens. Dazu sage ich: Diese Diagnose
mag vielleicht stichhaltig sein, aber die Schlussfolgerung, die daraus gezogen worden ist, ist falsch. Die
Trendwende vom Eigentum zur Nutzung ist nicht der
Sargnagel der klassischen Marktwirtschaft, sondern sie
ist die Chance für neue Geschäftsmodelle, neue Märkte,
mehr Wettbewerb und mehr Wertschöpfung. Das kann
man im Besonderen im Bereich der Mobilität sehr genau
sehen. In einer aktuellen Studie von Roland Berger wird
im Bereich Shared Mobility ein Wachstum von jährlich
bis zu 35 Prozent vorausgesagt. Deswegen ist klar: Auch
in der Sharing Economy müssen Angebot und Nachfrage
zusammengebracht, Technologien und Mobilitätsangebote bereitgestellt sowie Sicherheit gewährleistet werden. Deswegen ist Sharing Economy folglich nicht das
Ende der klassischen Marktwirtschaft, wie es beschrieben wird, nein, es ist eher der Beginn einer neuen sozialen digitalen Marktwirtschaft. Die gilt es, gemeinsam
mit denen zu gestalten, die heute bereit sind, Sharing
Economy zur Verfügung zu stellen.
({7})
Wir bekennen uns in der Digitalen Agenda sehr klar
zur Förderung jungen Unternehmertums, zu neuen Ideen
und zu einem Ausbau des Gründungsgeschehens. Die
Finanzierungsbedingungen für Start-ups in der Wachstumsphase zu gestalten, ist eines der Aufgabenfelder, die
es zu bearbeiten gilt, wenn man die neue soziale digitale
Marktwirtschaft fördern will. Denn die Monopole sind
eine Herausforderung für die soziale Marktwirtschaft.
Wir wollen eine wettbewerbliche Konkurrenzsituation
auch für die nächsten und übernächsten Entwicklungen
erhalten.
Wir haben die Rahmenbedingungen des Wettbewerbs
in der Digitalen Agenda eindeutig beschrieben. Wir wollen, dass Big Data die neue Wertschöpfungskette nicht
nur unterstützt, sondern auch als Grundlage zur Verfügung steht. Big Data ist der Rohstoff des 21. Jahrhunderts. Die Digitalisierung ist die Veredelung dieses Rohstoffes. Die digitale Mobilität und die Vernetzung stehen
im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Wachstum an
Daten, das über Mobilität generiert wird. Wer heute Big
Data als Angstkulisse beschreibt, wer heute Big Data
zum Angstwort macht, der hat nicht verstanden, dass zukünftig jedes Produkt 50 Prozent seines Wertes aus dem
Datenanteil, aus der Digitalisierung erhalten wird. Deswegen müssen wir dafür sorgen, dass wir an der digitalen Wertschöpfung der Zukunft teilhaben. Wir dürfen
uns nicht aus Angst davor der Ressource „digitale Daten“ verschließen.
({8})
Wir sind Vorreiter bei der Mobilität 4.0. Wir haben einen Runden Tisch „Automatisiertes Fahren“ ins Leben
gerufen. Die meisten Daten, die in den nächsten Jahren
erzeugt werden, werden in irgendeiner Art und Weise
mit der Mobilität in Zusammenhang stehen. Wir planen
ein digitales Testfeld Autobahn. Wir wollen sowohl die
technischen als auch die rechtlichen Rahmenbedingungen für automatisiertes Fahren mit entwickeln. Wir sind
dabei, den Grundstein dafür zu legen, damit diese DatenBundesminister Alexander Dobrindt
flut, dieser Datentsunami, der auf uns zukommt, auch
verarbeitet und transportiert werden kann. Maschinen
müssen in die Lage versetzt werden, untereinander zu
kommunizieren, und zwar so, dass zu jedem Zeitpunkt
der schnellstmögliche Austausch von Daten stattfinden
kann. Dazu brauchen wir überall in Deutschland moderne Breitbandtechnologien.
McKinsey hat in einer Studie sehr deutlich unterstrichen, dass die Datenströme auch ein wesentlicher Teil
der zukünftigen Wohlstandsentwicklung sind. Es gibt
diesen engen Zusammenhang zwischen Infrastruktur,
Mobilität und Wohlstand. Deswegen haben wir uns zum
Ziel gesetzt, bis 2018 in ganz Deutschland eine Versorgung mit einer Datenrate von mindestens 50 Mbit zur
Verfügung zu stellen. Da sind wir auf einem guten Weg.
({9})
Wir haben die Voraussetzungen dafür geschaffen,
({10})
dass bei der Frequenzvergabe im nächsten Jahr die nötigen finanziellen Mittel zur Verfügung gestellt werden,
um den Breitbandausbau zu unterstützen.
({11})
Ich habe mit der Netzallianz Digitales Deutschland, in
der die Unternehmen, die investitionswillig sind, zusammengeschlossen sind, in der letzten Woche eine Vereinbarung getroffen, dass die privatwirtschaftlichen Unternehmen allein im nächsten Jahr 8 Milliarden Euro in die
Hand nehmen werden, um den digitalen Ausbau in
Deutschland zu fördern.
({12})
Das ist ein Gemeinschaftsprojekt zwischen Wirtschaft
und Politik. Wir brauchen in jedem Ort - überall; nicht
nur in den Metropolen, sondern in allen Regionen - die
schnellen Breitbandverbindungen.
({13})
Das wird mit einer großen Kraftanstrengung der Wirtschaft und durch die Unterstützung der Politik mit den
nötigen Fördermitteln gelingen. Wir sind auf jeden Fall
vorbereitet, damit Deutschland den Sprung in die digitale Welt schafft.
Danke schön.
({14})
Vielen Dank, Herr Minister. - Bevor wir mit der Aussprache fortfahren, darf ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der
namentlichen Abstimmung zu dem vorangegangenen
Tagesordnungspunkt bekannt geben: abgegebene Stimmen 594. Mit Ja haben gestimmt 118, mit Nein haben
gestimmt 475, Enthaltungen 1. Der Entschließungsantrag ist damit abgelehnt.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 594;
davon
ja: 118
nein: 475
enthalten: 1
Ja
DIE LINKE
Jan van Aken
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Heidrun Bluhm
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Dr. Gregor Gysi
Dr. André Hahn
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Andrej Hunko
Sigrid Hupach
Susanna Karawanskij
Kerstin Kassner
Katja Kipping
Jan Korte
Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig
Michael Leutert
Stefan Liebich
Dr. Gesine Lötzsch
Cornelia Möhring
Niema Movassat
Thomas Nord
Harald Petzold ({0})
Martina Renner
Kersten Steinke
Azize Tank
Frank Tempel
Kathrin Vogler
Dr. Sahra Wagenknecht
Harald Weinberg
Katrin Werner
Birgit Wöllert
Jörn Wunderlich
Pia Zimmermann
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Luise Amtsberg
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({1})
Volker Beck ({2})
Dr. Franziska Brantner
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Katharina Dröge
Dr. Thomas Gambke
Matthias Gastel
Kai Gehring
Anja Hajduk
Britta Haßelmann
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Uwe Kekeritz
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Stephan Kühn ({3})
Christian Kühn ({4})
Renate Künast
Monika Lazar
Steffi Lemke
Vizepräsident Johannes Singhammer
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Peter Meiwald
Beate Müller-Gemmeke
Özcan Mutlu
Omid Nouripour
Cem Özdemir
Brigitte Pothmer
Claudia Roth ({5})
Corinna Rüffer
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Ulle Schauws
Dr. Frithjof Schmidt
Kordula Schulz-Asche
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Hans-Christian Ströbele
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Dr. Julia Verlinden
Doris Wagner
Nein
CDU/CSU
Stephan Albani
Katrin Albsteiger
Peter Altmaier
Artur Auernhammer
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Manfred Behrens ({6})
Veronika Bellmann
Sybille Benning
Dr. André Berghegger
Dr. Christoph Bergner
Ute Bertram
Peter Beyer
Steffen Bilger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Dr. Ralf Brauksiepe
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexandra Dinges-Dierig
Michael Donth
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Hansjörg Durz
Jutta Eckenbach
Uwe Feiler
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer ({7})
Axel E. Fischer ({8})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Thorsten Frei
Dr. Hans-Peter Friedrich
({9})
Hans-Joachim Fuchtel
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Cemile Giousouf
Reinhard Grindel
Ursula Groden-Kranich
Klaus-Dieter Gröhler
Michael Grosse-Brömer
Astrid Grotelüschen
Markus Grübel
Manfred Grund
Oliver Grundmann
Monika Grütters
Dr. Herlind Gundelach
Fritz Güntzler
Olav Gutting
Christian Haase
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Matthias Hauer
Mark Hauptmann
Dr. Stefan Heck
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich ({10})
Mark Helfrich
Jörg Hellmuth
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Dr. Heribert Hirte
Alexander Hoffmann
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Dr. Hendrik Hoppenstedt
Bettina Hornhues
Charles M. Huber
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Erich Irlstorfer
Sylvia Jörrißen
Andreas Jung
Dr. Franz Josef Jung
Xaver Jung
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Steffen Kanitz
Alois Karl
Anja Karliczek
Bernhard Kaster
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Dr. Georg Kippels
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Markus Koob
Carsten Körber
Kordula Kovac
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Roy Kühne
Günter Lach
Uwe Lagosky
Dr. Karl A. Lamers
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Barbara Lanzinger
Dr. Silke Launert
Dr. Katja Leikert
Dr. Philipp Lengsfeld
Philipp Graf Lerchenfeld
Dr. Ursula von der Leyen
Antje Lezius
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Andrea Lindholz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Wilfried Lorenz
Dr. Claudia Lücking-Michel
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Karin Maag
Yvonne Magwas
Thomas Mahlberg
Gisela Manderla
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({11})
Reiner Meier
Dr. Michael Meister
Jan Metzler
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Karsten Möring
Marlene Mortler
Elisabeth Motschmann
Carsten Müller
({12})
Stefan Müller ({13})
Dr. Philipp Murmann
Dr. Andreas Nick
Michaela Noll
Helmut Nowak
Dr. Georg Nüßlein
Florian Oßner
Dr. Tim Ostermann
Henning Otte
Ingrid Pahlmann
Sylvia Pantel
Martin Patzelt
Dr. Martin Pätzold
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Kerstin Radomski
Alexander Radwan
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({14})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht
Anita Schäfer ({15})
Dr. Wolfgang Schäuble
Andreas Scheuer
Jana Schimke
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Heiko Schmelzle
Christian Schmidt ({16})
Gabriele Schmidt ({17})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Dr. Kristina Schröder
({18})
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({19})
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Tino Sorge
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Dr. Wolfgang Stefinger
Albert Stegemann
Vizepräsident Johannes Singhammer
Peter Stein
Sebastian Steineke
Johannes Steiniger
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Rita Stockhofe
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Karin Strenz
Thomas Stritzl
Thomas Strobl ({20})
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Astrid Timmermann-Fechter
Dr. Hans-Peter Uhl
Dr. Volker Ullrich
Arnold Vaatz
Oswin Veith
Thomas Viesehon
Michael Vietz
Volkmar Vogel ({21})
Sven Volmering
Christel Voßbeck-Kayser
Kees de Vries
Marco Wanderwitz
Nina Warken
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({22})
Dr. Anja Weisgerber
Peter Weiß ({23})
Sabine Weiss ({24})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Waldemar Westermayer
Kai Whittaker
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese ({25})
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Oliver Wittke
Dagmar G. Wöhrl
Barbara Woltmann
Heinrich Zertik
Emmi Zeulner
Dr. Matthias Zimmer
Gudrun Zollner
SPD
Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heike Baehrens
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Katarina Barley
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Dr. Matthias Bartke
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Dirk Becker
Lothar Binding ({26})
Burkhard Blienert
Dr. Karl-Heinz Brunner
Marco Bülow
Martin Burkert
Petra Crone
Bernhard Daldrup
Dr. Daniela De Ridder
Dr. Karamba Diaby
Sabine Dittmar
Elvira Drobinski-Weiß
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Dr. Johannes Fechner
Elke Ferner
Dr. Ute Finckh-Krämer
Christian Flisek
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Ulrich Freese
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Ulrike Gottschalck
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Bettina Hagedorn
Metin Hakverdi
Ulrich Hampel
Michael Hartmann
({27})
Dirk Heidenblut
Hubertus Heil ({28})
Gabriela Heinrich
Marcus Held
Wolfgang Hellmich
Dr. Barbara Hendricks
Heidtrud Henn
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({29})
Thomas Hitschler
Dr. Eva Högl
Matthias Ilgen
Christina Jantz
Frank Junge
Josip Juratovic
Thomas Jurk
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Ralf Kapschack
Ulrich Kelber
Marina Kermer
Cansel Kiziltepe
Arno Klare
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe
Birgit Kömpel
Anette Kramme
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Helga Kühn-Mengel
Christine Lambrecht
Christian Lange ({30})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Hiltrud Lotze
Kirsten Lühmann
Dr. Birgit Malecha-Nissen
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Dr. Matthias Miersch
Klaus Mindrup
Susanne Mittag
Bettina Müller
Michelle Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Dietmar Nietan
Ulli Nissen
Mahmut Özdemir ({31})
Aydan Özoğuz
Christian Petry
Jeannine Pflugradt
Detlev Pilger
Sabine Poschmann
Florian Post
Achim Post ({32})
Florian Pronold
Dr. Simone Raatz
Martin Rabanus
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Dr. Carola Reimann
Andreas Rimkus
Sönke Rix
Dennis Rohde
Dr. Martin Rosemann
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({33})
Susann Rüthrich
Johann Saathoff
Annette Sawade
Dr. Hans-Joachim
Schabedoth
Axel Schäfer ({34})
Dr. Nina Scheer
Marianne Schieder
Udo Schiefner
Dr. Dorothee Schlegel
Ulla Schmidt ({35})
Matthias Schmidt ({36})
Dagmar Schmidt ({37})
Carsten Schneider ({38})
Ursula Schulte
Swen Schulz ({39})
Ewald Schurer
Stefan Schwartze
Dr. Carsten Sieling
Norbert Spinrath
Svenja Stadler
Martina Stamm-Fibich
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Kerstin Tack
Claudia Tausend
Michael Thews
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dirk Vöpel
Gabi Weber
Andrea Wicklein
Dirk Wiese
Waltraud Wolff
({40})
Gülistan Yüksel
Dagmar Ziegler
Stefan Zierke
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
Enthalten
CDU/CSU
Josef Göppel
Vizepräsident Johannes Singhammer
Wir fahren jetzt in der Aussprache fort. Ich erteile das
Wort der Kollegin Halina Wawzyniak von der Linken.
({41})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Die Bundesregierung hat also eine Digitale
Agenda vorgelegt, über die wir hier reden sollen.
„Agenda“ bedeutet: Dinge, die zu tun sind. Da hat also
nun die Bundesregierung auf knapp 40 Seiten Dinge aufgeschrieben, die zu tun sind. - Wow, was für eine Leistung!
({0})
Die Grünen weisen in ihrem Antrag zu Recht darauf
hin, dass wir in der vergangenen Legislaturperiode eine
Enquete „Internet und digitale Gesellschaft“ hatten, die
über 100 konkrete Handlungsempfehlungen erarbeitet
hat. Jetzt muss man Sie natürlich fragen: Haben Sie sie
nicht gelesen, halten Sie sich für schlauer, oder warum
schreiben Sie nun, nachdem die Enquete schon aufgeschrieben hat, was zu tun ist, noch einmal auf, was zu
tun ist? Das, was Sie vorgelegt haben, ist folgenlose Ankündigungspolitik.
({1})
Ich hätte jetzt erwartet, dass Sie sich die Handlungsempfehlungen der Enquete einfach mal anschauen und
einen Fahrplan vorlegen, was Sie wann wo umsetzen
wollen, also nicht Dinge aufschreiben, die zu tun sind,
sondern einfach tun.
({2})
Antworten auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, die mit den Veränderungen der Produktionsprozesse und der Gesellschaft durch die Digitalisierung einhergehen, geben Sie mit dieser Digitalen Agenda nicht.
Ich mache das jetzt einfach mal konkret. Kaum eine
Woche vergeht, in der nicht ein neuer Überwachungsskandal bekannt wird. Es ist richtig, sich mit dem Schutz
der Privatsphäre der Internetnutzerinnen und -nutzer
auseinanderzusetzen. Gut ist, dass Sie laut der Digitalen
Agenda „einfach zu nutzende Verschlüsselungsverfahren
… fördern“ und die „Wirtschaft … stärker in die Verantwortung“ nehmen wollen. Aber: Wann kommt die gesetzliche Verpflichtung zur Ende-zu-Ende-Verschlüsselung? Wann formulieren Sie konkret und legen
gesetzlich fest, dass auf die anlasslose Vorratsdatenspeicherung, die Onlinedurchsuchung, die nichtindividualisierte Funkzellenabfrage und die Quellen-TKÜ verzichtet wird?
({3})
Und wann streichen Sie den nicht zu kontrollierenden
Geheimdiensten die Befugnisse nach dem G-10-Gesetz?
Die Formulierungen in der Digitalen Agenda zum Urheberrecht sind so schwammig und allgemein - die hätten Sie auch gleich weglassen können.
({4})
Wenn Sie in dem Bereich wirklich etwas Sinnvolles tun
wollen, dann legen Sie schnellstmöglich ein Aufhebungsgesetz zum Leistungsschutzrecht für Presseverleger vor.
({5})
Sie wollen das Problem der Störerhaftung angehen.
Das machen Sie nur halb; denn Sie wollen die Betreiber
von WLAN-Netzen im öffentlichen Bereich, und dort
auch nur gewerbliche Betreiber, künftig nicht mehr für
die Rechtsverletzungen ihrer Kunden haften lassen. Sie
lösen das Problem nur halb, denn für Private soll die Regelung nicht gelten. Das ist unverständlich. Und auch
hier: keine Aussage, wann ein solcher Vorschlag vorgelegt werden soll.
Außerdem wollen Sie die Netzneutralität gesetzlich
festschreiben. Das ist gut; die Forderung erheben wir
schon lange. Gut ist, dass Sie sie übernehmen. Schlecht
ist, dass Sie an diesem Punkt offenbar machen, wie ernst
Sie selbst Ihre eigene Digitale Agenda nehmen. Kürzlich
veröffentlichte die von Ihnen initiierte Netzallianz ein
Kursbuch für den weiteren Ausbau des Breitbandinternets. Ich zitiere daraus:
Die Netzallianz weist zudem darauf hin, dass die
Entwicklungsfähigkeit der Geschäftsmodelle nachhaltig gesichert werden muss, um weitere Investitionen in den Netzausbau zu ermöglichen. Hierbei
kann die Einführung von Qualitätsmerkmalen bei
der Datenübertragung einen zusätzlichen Beitrag
für die Refinanzierbarkeit von Netzen und damit
auch deren Ausbau im ländlichen Raum leisten.
Sie nennen Qualitätsklassen einfach „Qualitätsmerkmale“ und hoffen, dass keiner mitkriegt, dass Sie die
Netzneutralität opfern wollen, um den Breitbandausbau
zu finanzieren. Das ist mit uns jedenfalls nicht zu machen.
({6})
Ein letzter Punkt. Sie sprechen das Thema Arbeit, genauer: Erwerbsarbeit, zwar an, aber weder haben Sie
Antworten, noch haben Sie irgendeinen Fahrplan, wie
das Thema bearbeitet werden soll. Wann gibt es von Ihnen in Auftrag gegebene Studien dazu, welche Folgen
die Digitalisierung der Gesellschaft für Erwerbsarbeitsplätze hat und welche Auswirkungen dies auf die Solidarsysteme hat? Das ist das Mindeste, was man von einer Regierung erwarten kann.
Kurz und gut - ich komme zum Schluss -: Die Digitale Agenda ist nur Papier. Gemessen werden Sie an den
Taten. Ich hoffe sehr, dass dann mehr herauskommt als
das, was in dieser Agenda steht. Notwendig wäre es, und
das schon viel zu lange.
({7})
Für die Sozialdemokraten spricht jetzt der Kollege
Sören Bartol.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kollegin Wawzyniak, wir können diese Debatte so
miesepetrig wie Sie führen, wir können an allem ein
bisschen rummäkeln, wir können mit hängenden Schultern den Bedenkenträgern und Kritikern das Wort reden,
oder aber wir können hier miteinander um die besten
Ideen ringen und uns vor allen Dingen an die Umsetzung
machen.
({0})
Die Menschen erwarten von uns im Bundestag, dass
wir die Dinge nicht einfach laufen lassen. Entsprechend
hat diese Bundesregierung die Digitale Agenda auf den
Weg gebracht. Diese Koalition hat einen Ausschuss Digitale Agenda etabliert. Das ist der Unterschied: Wir
handeln, und Sie lamentieren immer nur.
({1})
Wer mit seinen Nachbarn über den Alltag spricht,
wird feststellen, dass die Digitalisierung längst das Leben bestimmt. Es wird gesurft, gestreamt, gechattet, gemailt, alternativ auch gerne getwittert oder gebloggt.
({2})
Für viele steht die digitale Kommunikation für ein modernes Lebensgefühl. Gleichzeitig treffe ich aber auch
andere, die skeptisch sind, die die digitale Welt ablehnen. Sie fühlen sich überfordert, beobachtet, ausgeforscht und manipuliert. Das Smartphone steht für sie für
permanente Verfügbarkeit und Kontrolle. Alle sind sich
jedoch einig: Der Megatrend der Digitalisierung ist offensichtlich nicht mehr aufzuhalten.
Der Beschluss der Digitalen Agenda am 20. August
durch die Bundesregierung zeigt: SPD, CDU und CSU
wollen die Digitalisierung aktiv gestalten. Die Netzpolitik ist inzwischen moderne Gesellschaftspolitik. Wir erleben den größten Umbau unserer Gesellschaft seit der
industriellen Revolution.
Damals wie heute stellen sich die gleichen Fragen:
Wie entstehen neue, innovative Ideen für neue Produkte?
Wie entwickelt sich das Verhältnis von Leben und Arbeit? Wie sichern wir gute Ausbildung und Aufstiegschancen für alle? Wie erreichen wir eine gute Infrastruktur und eine schnelle Kommunikation? Und wie schaffen
wir für die Bürgerinnen und Bürger die notwendige Sicherheit der eigenen Person?
Die Digitalisierung ist eine große Chance für
Deutschland. Wir brauchen deswegen keine Angstdebatte der verschränkten Arme. Die Digitalisierung kann
dazu beitragen, dass Familie und Beruf sich besser miteinander vereinbaren lassen. So hilft zum Beispiel das
Internet dabei, dass immer mehr Leute von zu Hause aus
arbeiten können und zum Arbeiten nicht unbedingt an einen anderen Ort wechseln müssen. Die Digitalisierung
kann dafür sorgen, dass harte körperliche Arbeit erleichtert wird, und sie kann mithelfen, dass die Industrie und
der Mittelstand in Deutschland in einer globalen Wirtschaft weiterhin erfolgreich mitspielen können.
Das Internet muss dabei ein Freiraum für alle bleiben.
Es darf keine Nutzer erster und zweiter Klasse geben.
Wir werden daher auch darauf achten, dass wir die Netzneutralität gesetzlich festschreiben. Dabei werden wir
ein ausgewogenes Verhältnis zwischen der Absicherung
eines freien und offenen Netzes für alle und der Förderung von Innovation und Investition erreichen. Gleichzeitig brauchen die Betreiber von WLAN-Netzen
Rechtssicherheit. Dabei sollten wir nicht nur für die gewerbliche, sondern auch für private Anbieter wie Schulen oder Wohngemeinschaften eine gute Lösung finden.
({3})
Digitalisierung heißt Innovation. Sie schafft Wachstum und Beschäftigung. Dafür müssen wir einen neuen
Gründergeist in Deutschland wecken und junge Unternehmen mit dem notwendigen Kapital ausstatten.
Die Digitalisierung wird die Industrie und den Mittelstand in Deutschland verändern. Die Arbeitsplätze werden komplexer und anspruchsvoller. Digitale Technologien werden immer weiter Einzug halten. Gute Bildung
und Ausbildung sind daher die Triebfeder einer erfolgreichen Digitalisierung Deutschlands. Hier sind in der
Schulpolitik insbesondere die Länder gefragt. Sie sollten
den Vorschlag von Bundeswirtschaftsminister Gabriel
aufgreifen: Das Erlernen einer Programmiersprache
muss neben dem Erlernen der klassischen Fremdsprachen zu einem Pflichtfach in der Schule werden.
({4})
Alle klugen Ideen der Digitalisierung unserer Gesellschaft werden wir allerdings nicht umsetzen können,
wenn wir am Ende auf der Datenautobahn im Stau stecken bleiben. Unser Ziel ist deshalb ein schnelles Internet für alle. Wir müssen die digitale Spaltung zwischen
Stadt und Land beenden. Bis 2018 werden wir in ganz
Deutschland flächendeckend Internet mit Geschwindigkeiten von mindestens 50 Megabit pro Sekunde ausbauen. Dafür wollen wir zusätzliche private wie auch
öffentliche Investitionen für den Breitbandausbau mobilisieren.
Seit den Enthüllungen von Snowden ist endgültig
klar: Freiheit und Wohlstand in einer digitalen Welt
funktionieren nicht ohne den Schutz vor der Ausspähung
privater Daten durch ausländische Geheimdienste oder
vor Missbrauch durch Konzerne.
({5})
- Besser lesen.
Genauso müssen wir unsere Unternehmen vor zunehmender Wirtschaftsspionage schützen. Hier wird, denke
ich, das IT-Sicherheitsgesetz des Bundesinnenministers
Lösungen bringen. Ich erwarte von der Bundesregierung, dass sie sich auch bei den Verhandlungen über die
EU-Datenschutz-Grundverordnung für ein hohes Sicherheitsniveau für private Nutzerinnen und Nutzer einsetzt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Digitale Agenda
der Bundesregierung ist ein Maßnahmenplan für die
kommenden Jahre. Dieser Plan wird jetzt vom Parlament
Schritt für Schritt abgearbeitet.
({6})
Es liegt in unseren Händen, ob wir dabei ängstlich nur
die Risiken der Digitalisierung betonen oder ob wir sie
gemeinsam optimistisch als Chance begreifen. Ich lade
alle Kolleginnen und Kollegen im Bundestag, aber auch
alle in der Zivilgesellschaft, in den Unternehmen und in
den Verbänden ein, diese Debatte positiv und vor allen
Dingen mit Zuversicht zu begleiten. Ich glaube, dann
wird uns als Deutschem Bundestag am Ende etwas Gutes und Positives gelingen.
Vielen Dank.
({7})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Konstantin von
Notz, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Warum reden wir hier heute überhaupt über diesen kurzfristig auf die Tagesordnung gesetzten Bericht der Bundesregierung zur Digitalen Agenda, und warum beäugen
sich gleich mehrere Minister kritisch und misstrauisch
auf der Regierungsbank? Richtig, es ist wieder IT-Gipfelzeit.
Sehnsüchtig warten die Menschen, aber auch die
Wirtschaft in diesem Land auf einen digitalen Aufbruch,
und die Erwartungen waren hoch. Vor dem Hintergrund,
dass wir hier, in diesem Hohen Haus, seit Jahren diese
Themen diskutieren, und angesichts des Niveaus der
400 Handlungsempfehlungen der Enquete, von denen
Sie keine einzige umsetzen, ist das, was Sie hier heute
abzufeiern versuchen, hochnotpeinlich.
({0})
Ihre Agenda bleibt sogar weit hinter Ihrem eigenen
Koalitionsvertrag zurück, Thomas Jarzombek, sie verharrt im Nebulösen: Irgendetwas Konkretes? Fehlanzeige. Finanzierung der wohlklingenden Absichtserklärungen? Fehlanzeige. Versprochene Beteiligung von
Parlament, Ausschuss Digitale Agenda und Zivilgesellschaft? Fehlanzeige.
({1})
Stattdessen spielen Sie, Herr Dobrindt, hier weiter Buzzword-Bingo. Sie wollen zeigen, dass Sie nicht mehr im
Neuland unterwegs sind; aber Sie scheitern.
({2})
Nur drei Beispiele dafür:
Erstens. Sie, Herr Gabriel, wollen Deutschland zum
digitalen Wirtschaftsland Nummer eins machen. Das
klingt ja großartig; aber Sie kriegen es noch nicht einmal
hin, Rechtssicherheit für WLAN-Betreiber herzustellen.
({3})
Gleichzeitig bedroht Ihr Kleinanlegerschutzgesetz die
Crowdfunding- und Start-up-Szene in Deutschland massiv. So wird das nichts.
Zweitens. Herr de Maizière will Deutschland zum
Verschlüsselungsland Nummer eins machen, aber er will
weiterhin keine durchgehende Ende-zu-Ende-Verschlüsselung. Er will IT-Sicherheit stärken, hält aber an der
Vorratsdatenspeicherung und dem Bundestrojaner fest.
Das ist widersprüchlich. Das ist kontraproduktiv.
({4})
Drittens. Herr Dobrindt, Sie wollen den Breitbandausbau nun endlich voranbringen - sehr originell -,
Sie wollen ihn aber nicht finanzieren. Die digitale Spaltung zwischen Stadt und Land wird von Jahr zu Jahr
schlimmer, gerade bei Ihnen, in Nordbayern. Aber Sie
legen hier nur unfinanzierte Zielmarken vor, die in der
nächsten Wahlperiode, im Jahr 2018, liegen. Das ist lächerlich.
({5})
Das sind Offenbarungseide in Ihren Zuständigkeitsbereichen. Das geht so nicht, meine Herren Minister. Das
ist kein Aufbruch. Das ist Stillstand. Diese Unzulänglichkeiten sind Ihnen ja total bewusst. Deswegen sprechen Sie, wie der Kollege Bartol gerade, von einem
Maßnahmenplan oder einem Hausaufgabenheft. Wenn
das ein Hausaufgabenheft ist, dann ist das ein schludriges, unergiebiges und schlecht geführtes.
({6})
Fakt ist doch: Niemand ist mit Ihrer Digitalen Agenda
zufrieden. Alle sind enttäuscht: von den netzpolitischen
Sprechern ihrer eigenen Fraktionen
({7})
über die Verbraucherschutzverbände bis hin zur Wirtschaft.
({8})
Sie können dreierlei nicht verdecken:
Sie wissen erstens immer noch nicht, was die Digitalisierung für unsere Gesellschaft eigentlich bedeutet,
({9})
und vor allen Dingen wissen Sie nicht, wie man diesen
Umbruchprozess als Gesetzgeber gestaltet.
Zweitens. Sie haben die Kompetenzstreitigkeiten und
Konkurrenzen zwischen Ihren Ministerien nicht entschärft; Sie haben sie verschärft. Viele Köche verderben
eben den Brei, auch in der Netzpolitik. Die Krönung ist,
dass Sie hier heute die Zuständigkeit des Ausschusses
Digitale Agenda streitig stellen. Das ist wirklich eine
Farce. Unfassbar!
({10})
Drittens. Anderthalb Jahre nach den Enthüllungen
von Edward Snowden steht dazu kein Wort in Ihrer Digitalen Agenda, kein Wort über die Bürgerrechte und den
Datenschutz in der digitalen Welt. Wer soll Sie damit
ernst nehmen? Das ist im Jahr 2014 zu wenig. Das ist
viel zu wenig für die viertgrößte Wirtschaftsnation der
Welt, für einen zentralen gesellschaftlichen Politikbereich und für den Grundrechtsschutz in der digitalen
Welt. Das ist keine Angstdebatte, sondern das ist die
Realität. Edward Snowden ist die Realität. Wer diese
Vertrauenskrise der Menschen ignoriert, ist im digitalen
Phantasialand unterwegs, Herr Gabriel.
({11})
Wenn Sie mal etwas mit Substanz im digitalen Bereich, in der Netzpolitik lesen wollen, empfehle ich Ihnen die Regierungserklärung von Winfried Kretschmann
aus dieser Woche. Er hat die Dimension der digitalen
Revolution verstanden.
({12})
Sie liefern hier ein extrem dünnes Brett ab. Ich sage Ihnen: Diese Bundesregierung geht für die billigen Punkte.
Vizekanzler Gabriel forderte eine Woche vor der Europawahl die Zerschlagung von Google. Na, das ist mal
eine originelle Nummer.
({13})
Nach der Europawahl treffen Sie sich auf Augenhöhe
mit den Google-Managern zu PR-trächtigen Diskussionsabenden. Na, vielen Dank!
Regulierung, Gesetzgebung, Verbraucherschutz, nach
Jahren und Jahrzehnten endlich ein angemessener Datenschutz, die Aufkündigung von Safe Harbor - alles
Fehlanzeige. Diese Große Koalition ist digital so klein.
Ganz herzlichen Dank.
({14})
Nächster Redner ist der Kollege Thomas Jarzombek,
CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine
ganze Reihe von uns waren dabei, als vor einigen Monaten der Historiker Professor Osterhammel einen Vortrag
darüber gehalten hat, welche Veränderungen vor
250 Jahren stattgefunden haben. Damals waren China
und Indien in der Textilindustrie weltweit führend, und
Europa war hoffnungslos hintendran. Dann kamen einige ganz zentrale Innovationen. Es waren Innovationen
in den Prozessen, die Erfindung der Dampfmaschine und
das Kolonialisierungssystem. Diese haben dazu geführt,
dass in einem für damalige Verhältnisse disruptiven
Wandel die so glorreichen Textilindustrien in China und
Indien am Ende vollständig zerstört wurden und Europa
eine Führungsrolle eingenommen hat.
Ich erzähle Ihnen das deshalb, weil sich das, was vor
250 Jahren passiert ist, heute wiederholt. Die Frage ist,
wo wir als Deutschland und als Europa dabei sind. Der
Economist hat gerade eine Studie publiziert, der zufolge
47 Prozent unserer Arbeitsplätze in den nächsten 20 Jahren durch den digitalen Wandel massiv umgewälzt werden. Darauf müssen wir reagieren. Da kann man Angst
bekommen. Kollegen haben mir gesagt: Ihr müsst den
Unternehmen die Angst nehmen. - Aber wir werden denen die Angst nicht nehmen können. Angst ist nichts
Schlechtes, Angst ist gut. Denn Angst ist ein Treiber für
Veränderungen. Wer sich nicht bewegt, den wird es in
zehn Jahren nicht mehr geben. Wer heute in einem Industrieunternehmen ist und den digitalen Wandel nicht
aktiv gestaltet, sondern meint, er könne das einfach aussitzen, den wird es in zehn Jahren nicht mehr geben. Das
ist die zentrale Aussage, die wir immer und immer wieder kommunizieren müssen.
({0})
Deshalb bin ich der Bundeskanzlerin sehr dankbar,
dass sie dieses Thema seit Monaten immer wieder prominent in den Raum stellt, dass sie immer wieder sagt:
Der digitale Wandel ist die zentrale Herausforderung. Heute Morgen hat sie gesagt, dass diese Debatte außerordentlich wichtig ist und dass das ein ganz zentrales
Handlungsfeld ist. - Ich würde mir wünschen bzw. ich
verbinde damit die Hoffnung, dass auch der Bundeswirtschaftsminister dieses Thema noch stärker nach vorne
treiben wird. Ich freue mich, Herr Gabriel, dass Sie in
dieser Debatte anwesend sind. Das ist ein gutes und starkes Signal.
Ich war am Dienstag dabei, als Sie mit Eric Schmidt
geredet haben
({1})
und es auch darum ging, dass vor 15 Jahren - ich glaube,
das ist ein sehr gutes und richtiges Argument - unsere
Industrie schlechtgeredet wurde, dass man sagte, das
habe keine Zukunft mehr, und dass es allen Unkenrufen
zum Trotz richtig war, an der Industrie festzuhalten.
Aber man darf der Industrie jetzt nicht signalisieren:
Auch in den nächsten 15 Jahren wird es einfach so weitergehen, ihr braucht euch nicht zu wandeln. - Das hielte
ich für gefährlich. Deshalb wünsche ich mir, dass wir der
Industrie ganz klar sagen: Ihr müsst loslaufen.
Wir müssen, wenn es Kritik an Google gibt - die ja in
einer ganzen Reihe von Fällen auch berechtigt ist; das
Thema Kartellrecht zum Beispiel verfolgt die Europäische Union genau -, höllisch aufpassen, dass aus Kritik
an Google keine Kritik, keine Verweigerung des digitalen Wandels wird. Damit würden wir nur einem schaden:
uns selbst.
Herr Bundeswirtschaftsminister, Sie haben zu Recht
über die Factory gesprochen - das ist eine tolle Einrichtung hier in Berlin, ein Leuchtturm der Gründungsintensität -, Sie haben zu Recht darüber gesprochen, dass jetzt
auch die Wirtschaft dran ist: dass die DAX-Unternehmen in Start-ups investieren müssen. Aber wir dürfen
nicht nur darüber reden, wir brauchen jetzt auch eine
konkrete Agenda dafür, wie das passieren soll. Wir müssen auch darüber nachdenken: Wie groß sollte der Anteil
des Staates sein - wie auch der Unternehmen -, zu dem
bei Start-ups eingekauft wird? In Frankreich diskutiert
man über eine Quote: dass der Staat mindestens 2 Prozent seiner Einkaufsleistungen bei Start-ups bezieht. Das
ist vielleicht sehr statisch; aber ich glaube, es ist sehr
wichtig, dass wir hier konkret werden.
Und ich würde mir wünschen, dass wir die Gründer
auch stärker ins Schaufenster stellen. Herr Gabriel, Sie
haben Eric Schmidt eingeladen in Ihre Veranstaltung
„Wirtschaft für morgen“. Ich finde, es ist eine exzellente
Idee, eine Veranstaltungsreihe „Wirtschaft für morgen“
durchzuführen. Aber wenn Sie über digitale Wirtschaft
sprechen, warum laden Sie als Ersten Eric Schmidt ein?
Warum laden Sie nicht Malte Siewert, Kolja Hebenstreit
oder Ijad Madisch ein?
({2})
Um einmal drei Gründer zu nennen, die von Deutschland aus globale Unternehmen aufgebaut haben, von
Düsseldorf und Berlin aus.
Ich glaube, in diesem Zusammenhang - Sie haben
eine Initiative genannt: die Factory - ist auch wichtig,
was Simon Schäfer, ein guter Netzwerker in dem Bereich, sagt: Wir brauchen in der Europäischen Union
nicht nur eine Definition, was kleine und mittelständische Unternehmen sind, wir brauchen auch eine Definition, was Start-ups sind. Wir müssen denjenigen, die hier
innovative Firmen aufbauen, Erleichterungen geben, insbesondere was die Bürokratie betrifft.
Ein ganz wichtiges Thema ist auch: Wie ist eigentlich
unsere Kultur im Umgang mit den Veränderungen, die
da kommen? Da komme ich auf das Thema Datenschutz
zu sprechen. Ich glaube, dass Datenschutz eine zentrale
Herausforderung ist für die Gründung neuer Unternehmen, aber auch für die Wettbewerbsfähigkeit unserer bestehenden.
Ich nenne Ihnen mal ein ganz konkretes Beispiel: Mit
Google war bei der „Wirtschaft für morgen“ zuletzt ein
Unternehmen zu Gast, das an vielen Technologien für
das selbstfahrende Auto arbeitet. Sie wissen, welche Bedeutung die Automobilwirtschaft für Deutschland hat.
Sie wissen auch, dass in zehn Jahren das selbstfahrende
Auto das zentrale Wettbewerbsmittel sein wird. Jetzt
nehmen die meisten Szenarien an, dass dieses selbstfahrende Auto in zehn Jahren noch nicht wird fahren können, sondern dass der Fahrer an bestimmten Stellen wird
übernehmen müssen. Dann muss das Auto aber wissen:
Was macht denn der Fahrer? Ist der Fahrer aktiv und
wachsam,
({3})
oder schaut er aus dem Fenster, liest ein Buch oder
schläft sogar? Das lässt sich bei den bisherigen Fahrzeugen einfach herausfinden, weil der Fahrer ja lenkt und
schaltet und bremst - beim selbstfahrenden Auto tut er
nichts mehr davon; also brauchen Sie eine Kamera im
Auto, mit der das Auto feststellt: Ist der Fahrer eigentlich wach oder schläft er?
Mit der Diskussion, die wir über Datenschutz führen,
schüren wir ein Klima der Angst. Wenn eine oberste
Bundesbehörde als Werbemittel kleine Aufkleber verteilt, die man auf seine Handykamera kleben soll, sind
wir, glaube ich, momentan nicht die Treiber des richtigen kulturellen Wandels, sondern haben hier eher ein
Problem.
({4})
Deshalb ist es mir persönlich, ist es uns als Union sehr
wichtig, dass wir mit der europäischen DatenschutzGrundverordnung einen Rahmen schaffen, der nicht nur
die berechtigten Datenschutzinteressen der Bürger berücksichtigt, sondern auch die Innovationsfähigkeit unserer Wirtschaft nicht einengt; das ist wichtig.
({5})
Der Kollege von Notz hat sich sehr darüber beschwert, dass die Digitalpolitik in diesem Hause nicht
das nötige Gewicht hätte.
({6})
- Lieber Konstantin, ich stimme dir bei einigen Thesen
zu - bei dieser liegst du falsch. Schauen wir einmal zurück, wie wir vor fünf Jahren dagestanden haben: Damals hat sich gerade einmal ein Unterausschuss des Kulturausschusses mit Digitalpolitik befasst. Wir hatten die
Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“. Wir haben es geschafft, einen vollwertigen Ausschuss dazu einzurichten. Die Bundeskanzlerin hat den
Schwerpunkt ihrer Haushaltsrede auf das Thema Digitalpolitik gelegt. Und: Wir bewerben uns mit Günther
Oettinger für den Posten des Digitalkommissars in der
Europäischen Union.
({7})
- Frau Kollegin, wenn Sie das nicht begriffen haben,
müssen Sie nachsitzen.
({8})
Die Bundeskanzlerin hat uns klar gesagt: Gerade für
die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft ist
dieses Ressort für digitale Wirtschaft in der Europäischen Kommission das entscheidende.
({9})
Wenn Sie glauben, dass es besser wäre, die Digitalpolitik
in Europa von irgendwelchen Briten, Spaniern oder
sonst wem machen zu lassen, dann haben Sie bei diesem
Thema noch einiges aufzuholen.
({10})
Ich finde es gut, dass es die Digitale Agenda gibt. Ich
glaube, das ist der Schritt in die richtige Richtung. Wir
werden noch sehr viel zu arbeiten haben. Wir werden
noch sehr viele Innovationen sehen, und wir werden
diese gemeinsam gestalten.
Vielen Dank.
({11})
Nächster Redner ist für die Fraktion Die Linke der
Kollege Herbert Behrens.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Blühende Landschaften in der digitalen Welt von morgen, schneller Internetzugang, Telemedizin, Automatisierung der Produktion und kreative Start-ups,
({0})
Deutschland in der Führungsrolle: Mit diesen Versprechen, mit viel Pathos vorgetragen, versucht die Bundesregierung, uns ihre Digitale Agenda zu verkaufen. Eine
wirkliche Agenda sieht anders aus; das hat meine Kollegin Wawzyniak bereits dargestellt.
({1})
Die Digitalisierung wird das Leben der Menschen
stark verändern; das ist inzwischen ein Allgemeinplatz.
Genau aus diesem Grunde gibt es heute schon viele
Menschen, die sich an der Gestaltung der digitalen Gesellschaft aktiv beteiligen und sich damit beschäftigen.
Diese waren aber bei der Formulierung der Digitalen
Agenda überhaupt nicht gefragt. Stattdessen haben drei
Ministerien über Monate zusammengesessen, um auf
40 Seiten zusammenzuschreiben, was in einer Großen
Koalition möglich ist. „Eine bürokratische Kopfgeburt“,
wie es in einem Kommentar hieß; dem stimme ich zu.
({2})
Im internationalen Vergleich befindet sich Deutschland bei der Versorgung mit schnellem Internetzugang
im Hintertreffen. Aktuell haben weniger als 4 Prozent einen schnellen Glasfaseranschluss. Dieser ist aber nötig,
um in der Zukunft nicht bei geringen Bandbreiten hängenzubleiben. 50 Megabit sollen es bis 2018 flächendeckend sein. Das sind aber Downloadgeschwindigkeiten.
Das heißt, Videos online ansehen und jede andere Art
von privatem Konsum können wir damit gut machen.
Aber Sie sprechen in Ihrer Digitalen Agenda selbst von
einer netzbasierten, maßgeschneiderten Produktion, von
einer Industrie 4.0. Dafür brauchen wir aber mehr Bandbreite, viel mehr Brandbreite.
({3})
Diese Bandbreite werden Sie mit Ihrem Energiemix aus
optimierten Kupferkabeln und neuen Funkfrequenzen
für mobiles Internet stabil nicht erreichen. Eine Netzinfrastruktur von morgen braucht ein Glasfasernetz.
Finnland macht es vor: Bis 2015 sollen alle Finnen einen Zugang zu einem Anschluss mit 100 Megabit haben.
Weitere Breitbandvorbilder sind die anderen skandinavischen Länder, die EU-Länder Osteuropas, aber auch
Südkorea. Diese Länder nehmen aber auch das notwendige Geld in die Hand, oder sie gehen innovative Wege,
indem Kommunen und Genossenschaften eigene Glasfasernetze betreiben. Die Bundesregierung dagegen setzt
auf das alte neoliberale Konzept, den Privatinvestoren
und Telekommunikationsunternehmen den Breitbandausbau schmackhaft zu machen. Ich sage noch einmal: Die
Breitbandversorgung ist eine öffentliche Infrastrukturaufgabe.
({4})
Wer auf „marktgetriebenen Ausbau“ setzt - so steht
es in Ihrem Papier -, wer Rahmenbedingungen durch
„optimale Anreize für den Ausbau durch den Markt“
schaffen will, der hat sich bereits heute von seinem Ziel
verabschiedet, einen schnellen Internetzugang für alle zu
ermöglichen.
Was sind denn das für „optimale Anreize“? Sollen die
Telekommunikationsunternehmen also doch Spezialdienste mit höherer Qualität zu höheren Preisen anbieten
dürfen? Das ist das Aus für Netzneutralität. Dazu können sich auch einmal die Minister äußern.
({5})
Keine Ihrer Finanzierungsideen ist seriös. Eine Premiumförderung Netzausbau bieten Sie an; Größenordnung: Fragezeichen. Das digitale Antennenfernsehen
soll zwei Jahre früher umgestellt werden und die frei
werdenden Frequenzen für mobiles Internet genutzt werden; Ertrag: ungewiss.
Der Zeitplan ist heute schon Makulatur. Sicher sind
allerdings die Kosten für die Bürger, die vorzeitig ihre
alten Receiver durch neue ersetzen müssen. Sicher sind
auch erhebliche Kosten für Kultureinrichtungen und beispielsweise auch für Hochschulen sowie für Leute, die
für ihre Arbeit Drahtlosmikrofone brauchen.
({6})
Nachdem ihnen bereits 2010 die 800er-Frequenzen abhandengekommen sind, steht nun der Verlust der 700erFrequenzen bevor.
Sehr geehrte Damen und Herren von der Koalition,
wenn die digitale Infrastruktur nichts taugt, dann können
wir uns alle Zukunftspläne abschminken - Sie auch. Die
Linke fordert deshalb öffentliche Investitionen statt Privatisierung. Das ist solide und innovativ, das ist Politik
für eine digitale Gesellschaft.
Vielen Dank.
({7})
Für die Sozialdemokraten spricht jetzt der Kollege
Lars Klingbeil.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Die Große Koalition
hat in ihrem Koalitionsvertrag schon in der Präambel auf
das Thema der Digitalisierung und die riesige Herausforderung hingewiesen. Dort sind die drei großen Herausforderungen der Zukunft beschrieben: der demografische Wandel, die Frage der Energiewende und die
Digitalisierung unserer Gesellschaft. Schon früh wurde
hier also festgelegt, dass es eine der großen Aufgaben
ist, um die sich diese Koalition kümmern will.
Wir alle wissen, dass die Digitalisierung einen enormen Wandel für unsere Gesellschaft bedeutet und alle
gesellschaftlichen Bereiche durchdringt. Wir reden über
andere Bildungspolitik, über andere Verkehrspolitik,
über Wirtschaftspolitik, über Arbeitsmarktpolitik. Alle
diese Bereiche verändern sich durch die Digitalisierung.
Es geht dabei nicht um die Frage, ob die Digitalisierung schlecht oder gut ist, sondern es geht um die Frage,
wie wir sie politisch gestalten. Das ist die große Aufgabe. Ich bin der Bundesregierung dankbar, dass sie mit
der Digitalen Agenda einen Entwurf vorgelegt hat, was
in den nächsten drei Jahren passieren wird, welche Aufgaben wir gemeinsam angehen wollen. Als Parlament
werden wir natürlich an vielen Stellen schauen, wie wir
bei der Umsetzung dieser Digitalen Agenda behilflich
sein können, wie wir vielleicht den einen oder anderen
Aspekt noch in die Diskussion einbringen. Aber es ist
ein guter Start, den wir in diesem Themenfeld machen.
({0})
Ich will einmal auf das eingehen, was ich hier von der
Opposition erlebe: Das ist Meckern am laufenden Band.
({1})
Ich wünsche mir ja eine Opposition, die stark ist und
den Finger immer wieder in die richtige Wunde legt,
aber ich will einmal historisch aufarbeiten,
({2})
was in den letzten Wochen im Bereich der Digitalisierungspolitik passiert ist.
({3})
Da wurde uns nicht zugetraut, dass wir mit der Großen Koalition im Koalitionsvertrag das Thema verankern. Da wurde gemeckert. Dann wurde gesehen: Da ist
aber vieles in diesen Koalitionsvertrag hineingekommen.
({4})
Dann hieß es, wir bekämen in diesem Bundestag keinen
Ausschuss hin. Dann haben wir gesehen: Der Ausschuss
kommt. Dann wurde gemeckert, dass dieser Ausschuss
keine Federführung bekommen wird. Dann hat der Ausschuss die Federführung bekommen.
({5})
Dann wurde gemeckert, dass die Digitale Agenda der
Bundesregierung nicht kommt. Auch die liegt heute vor
und wird diskutiert. Ich würde gern einmal über Inhalte
diskutieren. Das, was ich erlebe, ist aber Meckern am
laufenden Band. Das reicht nicht, liebe Kollegen von der
Opposition.
({6})
Herr Kollege Klingbeil, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Rößner?
Sehr gern.
Vielen Dank. - Kollege Klingbeil, Sie haben ihn angesprochen, der Kollege Jarzombek eben auch, den
Ausschuss Digitale Agenda, der eingerichtet wurde. Ich
verstehe nicht ganz - vielleicht können Sie mir das erklären -, dass der Ausschuss Digitale Agenda nicht federführend für unseren Antrag zur Digitalen Agenda zuständig ist, sondern jetzt der Wirtschaftsausschuss
federführend sein soll. Das verstehe ich nicht. Vielleicht
können Sie mir das erklären, wenn Sie immer diesen
Ausschuss als so besonders herausstellen.
({0})
Das Entscheidende, liebe Kollegin, ist, dass der Ausschuss Digitale Agenda federführend für die Digitale
Agenda zuständig sein wird,
({0})
dass wir uns in dem Ausschuss mit der Digitalen
Agenda, mit dem Maßnahmenpaket der Bundesregierung, auseinandersetzen werden, dass wir all diese Themen jetzt im Ausschuss behandeln und dass wir sowohl
das Controlling als auch die Frage der Zeitplanung in
diesem Ausschuss behandeln können.
({1})
Das ist das Entscheidende in der Diskussion heute. Das
ist auch fest so verankert.
({2})
Lieber Konstantin von Notz, was ich zum Meckern
noch sagen will: Wenn dann hier der Bundeswirtschaftsminister dafür kritisiert wird, dass er sich mit Google anlegt
({3})
und die Frage von neuen Monopol- und Machtstrukturen
im Internet thematisiert,
({4})
und diese Kritik von den Grünen kommt, dann wundert
mich das an dieser Stelle schon sehr. Ich hätte dabei Unterstützung erwartet. Von uns hat er sie jedenfalls.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte vier
Punkte nennen, die für uns Sozialdemokraten in der Diskussion und in der Digitalen Agenda sehr wichtig sind.
Der erste Punkt ist heute schon oft angesprochen worden, nämlich der Breitbandausbau. Das ist die Grundlage
für alle Maßnahmen, die wir diskutieren und die in der
Digitalen Agenda vorgesehen sind. Wir müssen verhindern, dass es in Deutschland zu einer digitalen Spaltung
kommt. Minister Dobrindt hat vorhin eindrucksvoll beschrieben, welche Maßnahmen er vorhat. Ich betone ausdrücklich: Der Weg der Netzallianz ist der richtige.
Diese Große Koalition wird sich am Erfolg des Breitbandausbaus messen lassen müssen. Ich komme aus der
Lüneburger Heide. Dort gibt es noch genügend Flecken,
die nicht mit ausreichend schnellem Internet versorgt
sind.
({6})
Wir müssen für eine Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse sorgen. Das ist unsere Aufgabe. Ich würde
mich freuen, wenn dies das ganze Haus gemeinsam anpackt.
({7})
Herr Kollege Klingbeil, gestatten Sie eine weitere
Zwischenfrage der Kollegin Wawzyniak?
Sehr gerne.
Herr Kollege Klingbeil, Sie haben gerade gesagt, der
Weg der Netzallianz zum Breitbandausbau ist der richtige. Entnehme ich daraus, dass Sie den Vorschlag der
Netzallianz, aus Qualitätsklassen Qualitätsmerkmale zu
machen und das dann zum Breitbandausbau zu nutzen,
teilen? Und wie verträgt sich das mit der mir bisher bekannten Position der Sozialdemokratie, die Netzneutralität gesetzlich festzuschreiben?
({0})
Liebe Kollegin Wawzyniak, Sie kennen meine persönliche Position.
({0})
Sie kennen auch die Position, die im Koalitionsvertrag
steht. Der Kollege Bartol hat darauf hingewiesen: Wir
werden die Netzneutralität gesetzlich verankern. Ich
habe selbst neulich auf einer Podiumsdiskussion mit ihm
zusammen gesagt, dass mir die Position des Europäischen Parlamentes sehr angenehm ist und dass wir versuchen wollen, in diese Richtung zu gehen. Aber das
stellt nicht infrage, dass der Weg, den Minister Dobrindt
mit der Netzallianz geht, nämlich alle Akteure an einen
Tisch zu holen und die Frage der privaten und der öffentlichen Finanzierung und die Frage der Regulierung zu
klären, der richtige Weg ist.
({1})
Klar ist auch, dass am Ende im Parlament entschieden
wird, wie der Weg bis ins letzte Detail hinein aussieht.
Aber trotzdem ist der Weg der Netzallianz richtig. Es
passiert endlich etwas im Breitbandausbau, und dafür
sollten wir gemeinsam der Bundesregierung dankbar
sein.
({2})
Der zweite Punkt, den ich ansprechen will, sind die
Investitionen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir
müssen dafür sorgen, dass in Deutschland Investitionen
stattfinden. Das ist eine der großen Aufgaben, und das ist
auch in der Digitalen Agenda beschrieben. Wir müssen
über die Frage von Start-ups reden. Dabei geht es um
Wachstumskapital und Rahmenbedingungen. Minister
Gabriel hat neulich ein Bürokratiemoratorium vorgeschlagen. Gestern war der zweite Geburtstag des Bundesverbands Deutsche Startups. Es gab sehr viel Lob für
das Wirtschaftsministerium und das, was auch unter
Minister Gabriel gemacht wurde. Ich glaube, das war
das, was auch der Kollege Jarzombek sagen wollte, auch
wenn ich es nicht an jeder Stelle verstanden habe.
({3})
Wir müssen in Deutschland über eine Datenpolitik reden, die Geschäftsmodelle ermöglicht. Im wirtschaftlichen Bereich liegt die große Herausforderung aber darin,
dass wir Start-up-Branche und Mittelstand und Industrie,
nämlich diejenigen in Deutschland, die Stärken haben,
zusammenbringen und dafür sorgen, dass es auch in 20
bis 30 Jahren noch einen guten Mittelstand und eine gute
Industrie, aber mit innovativen Geschäftsmodellen gibt.
Das ist eine große Aufgabe der Politik, und das steht
auch in der Digitalen Agenda.
Der letzte Punkt, auf den ich eingehen will, ist die
Bildungspolitik. Das ist ein Thema, das in der Digitalen
Agenda zu kurz kommt. Das liegt leider daran, dass der
Bund wenig Zuständigkeiten in der Bildungspolitik hat.
Aber wir wissen alle, dass wirtschaftliches Wachstum,
die Sicherung von Arbeitsplätzen und die Sicherheit im
Netz nur dann gelingen werden, wenn es genügend Menschen gibt, die befähigt sind, sich im Netz zu bewegen.
Deswegen brauchen wir eine gemeinsame Anstrengung
mit den Ländern, um dafür zu sorgen, dass unser Bildungssystem umgekrempelt und auf das digitale Zeitalter vorbereitet wird. Der Vorschlag, das Programmieren
als zweite Fremdsprache einzuführen, ist ein sehr wichtiger Impuls in dieser Diskussion. Wir brauchen eine
bessere Ausstattung an den Schulen, und die Lehrerausbildung muss dahin gehend verändert werden, dass
ausreichend digitale Kompetenz in den Schulen gelernt
und gelehrt wird. Das ist eine Aufgabe, die wir gemeinsam mit den Ländern haben und die wir angehen müssen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Digitale Agenda
liegt vor. Wir haben die nächsten drei Jahre genug damit
zu tun. Ich lade noch einmal alle in diesem Haus ein,
diesen Weg gemeinsam zu gehen. Es ist ein riesiger
Fortschritt, den wir mit der Großen Koalition in einem
Jahr geschafft haben. Ich wäre dankbar, wenn das Meckern aufhört und wir uns auf einen konstruktiven Weg
machen.
Vielen Dank.
({4})
Dieter Janecek ist der nächste Redner für Bündnis 90/
Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Mir kommt diese Debatte wie ein Proseminar an der Volkshochschule vor.
Die Große Koalition erklärt uns das Internet. Vor 20 Jahren wäre das noch spannend gewesen. Aber ich muss
ehrlich sagen: Ich hätte heute schon erwartet, dass Sie
ein bisschen mehr liefern als eine Textsammlung altbekannter Stichworte.
({0})
Wo ist denn der Plan, wie Sie die Digitale Agenda vorantreiben wollen? Wo sind die Handlungsaufträge? Wo
sind die Zahlen?
Sie haben gesagt, das sei ganz oben angesiedelt. Ich
sehe das so: Es ist zwar schön, dass drei Minister damit
befasst sind. Wenn Sie es aber ganz oben ansiedeln, dann
müssten auch die Kanzlerin oder der Vizekanzler heute
hier Reden zur Digitalen Agenda halten, und nicht nur
der Fachminister, der in sonstigen Debatten sehr wenig
vorkommt, wenn ich das so sagen darf.
({1})
Stattdessen streiten Sie um Zuständigkeiten, und das
seit Anbeginn. Wer ist für was zuständig? Wir wissen es
nicht. Sie wissen es auch nicht. Keiner weiß es. Wir würden aber gerne wissen, wohin Sie überhaupt wollen. Als
Nutzer sind wir alle begeistert von anwendungsorientierten und cleveren Onlinediensten. Das erleichtert uns das
Leben. Da werden wahrscheinlich auch Jobs in Gefahr
geraten. Thomas Jarzombek hat recht: Die Berufswelt
wird sich verändern. Als Wirtschaftspolitiker, Herr
Gabriel, bereitet uns die Marktentwicklung Sorge; darin
stimme ich Ihnen vollkommen zu. Die Herkulesaufgabe
der Politik besteht in der Tat darin, für echten Wettbewerb im Bereich der Internetwirtschaft zu sorgen. Die
entscheidende Frage lautet: Was folgt daraus? Eine Zerschlagung von Google kann man zwar androhen. Aber
welche Instrumente haben wir, und sind wir willens,
diese einzusetzen? Welchen Stellenwert geben wir der
deutschen Internetwirtschaft? Das ist für mich die zentrale Frage, die wir beantworten müssen.
({2})
Im Hinblick auf Industrie 4.0 heißt das für mich: Sind
wir denn ausreichend gewappnet und auf dem richtigen
Weg? Ich würde sagen: Bei der Industrie sind wir auf
dem richtigen Weg. Aber beim Mittelstand ist noch viel
zu tun, insbesondere bei den Start-ups. Einige sind innovativ. Aber die Rahmenbedingungen stimmen überhaupt
nicht. Wir müssen für Zugang zu Venture Capital sorgen.
Wir müssen die Bürokratie abbauen und Möglichkeiten
schaffen, dass wir dort, wo Innovationen entstehen - das
betrifft in erster Linie die Start-ups -, Zugänge schaffen.
Das ist die zentrale Aufgabe der Wirtschaftspolitik in
den nächsten Jahren.
Wir müssen mehr über Ziele, Richtung und Chancen
der digitalen Strategie reden. Intelligente und vernetzte
Prozesse und Verfahren können und werden gerade in
Industrie und Mittelstand einen enormen Beitrag zu Ressourceneinsparung und Energieeffizienz leisten. Setzen
Sie hierfür endlich die richtigen Anreize.
({3})
Die Energiewende muss konsequent mit der Digitalisierung zusammengedacht werden. Mit digitaler Verkehrssteuerung können wir Staus vermeiden und die verschiedenen Mobilitätsangebote miteinander vernetzen. Das ist
weit mehr als Carsharing. Dann passiert vielleicht doch
noch das Unvorstellbare. Vielleicht fahren in 10, 15 oder
20 Jahren nicht mehr Sie die Autos, sondern die Autos
Sie. Das ist dann ein völlig anderes Geschäftsmodell.
Das nennt sich autonomes Fahren. Das hat drastische
Auswirkungen auf Produktion, Geschäftsmodelle und
Nutzerverhalten in der Mobilitätswelt. Wenn man das alles bedenkt, dann kommt man zu dem Schluss, dass die
Digitalisierung als Modell für den ökologischen Wohlstand gedacht werden muss. Das tun Sie aber nicht. Das
vermisse ich total bei der Digitalen Agenda. Da könnten
Sie Begeisterung schaffen. Tun Sie das endlich!
({4})
Während Sie die Digitale Agenda vorrangig zu einer
Streitsache gemacht haben, hat sie Winfried
Kretschmann - Konstantin von Notz hat das bereits erwähnt - zur Chefsache gemacht. Genau darum geht es:
zur Chefsache machen, Handlungsaufträge und Zahlen
benennen, keine Proseminare halten, sondern sagen, was
Sie tun wollen. Tun Sie das, dann diskutieren wir auf einem anderen Niveau beim nächsten Mal.
Danke schön.
({5})
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Jens
Koeppen.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die erfolgreiche digitale Transformation benötigt klare politische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen und Voraussetzungen. Zwei Voraussetzungen
sind in der Tat aus meiner Sicht schon erfüllt bzw. geschaffen worden. Das ist zum einen die von der Bundesregierung vorgelegte Digitale Agenda 2014 bis 2017,
und das ist zum anderen der gleichnamige Ausschuss
Digitale Agenda, den wir ins Leben gerufen haben; das
ist der 23. Ausschuss. Ich bin stolz, Ihnen als Ausschussvorsitzender sagen zu können, dass das weiß Gott keine
Randnotiz ist - ein Ergebnis aus der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“. In nationalen
und internationalen Gesprächen in Botschaften und anderswo wurde uns für die beiden Voraussetzungen, die
Digitale Agenda der Bundesregierung und den Ausschuss Digitale Agenda, sehr großer Respekt entgegengebracht. Es wurde gesagt, es wäre sehr gut, wenn der
eine oder andere Staat auch so etwas hätte.
Die Bedeutung haben wir längst erkannt. Thomas
Jarzombek hat eben darauf hingewiesen. Für Wirtschaft
und Gesellschaft ist die digitale Transformation längst
kein Randthema mehr, sondern Garant für Wohlstand
und für Wachstum. Wir müssen die Wirtschaft, aber
auch die Gesellschaft für die Digitalisierung fitmachen.
Jetzt komme ich zu dem Punkt, was Anspruch und
was Wirklichkeit ist.
({0})
Darauf möchte ich jetzt eingehen. Ich werde nicht müde,
lieber Herr Kollege von Notz, für diesen Ausschuss und
unsere Arbeit zu werben.
({1})
Lassen Sie mich einiges dazu sagen.
Natürlich wurde uns sehr viel Argwohn und Skepsis
von Fachpolitikern, von der Gesellschaft und von der
Opposition entgegengebracht. Ich frage: Was ist unsere
Hauptaufgabe? Unsere Hauptaufgabe ist in allererster
Linie das Zuhören, das Ausgleichen und das Zusammenführen. Das ist wichtig für diesen großen Querschnittsausschuss. Dann geht es weiter. Unsere Hauptaufgabe
ist, dass wir Chancen aufzeigen und dass wir die Potenziale, die die Digitalisierung hat, heben. Wir müssen
mehr als nur ein reiner Communitybespaßungsausschuss
sein; denn das ist für mich einfach zu wenig.
Wir sind auch keine Konkurrenz zu anderen Fachpolitikern - das will ich meinen Kollegen im gesamten Haus
sagen -, sondern wir sind Ergänzung, und wir denken
zusammen, was wir zusammendenken müssen. Wir sind
eine Brücke. Wir werden niemandem etwas wegnehmen,
sondern wir sind ergänzend unterwegs; denn die politische Reaktionszeit ist einfach zu verkürzen. Wir sind
manchmal zu lange auf dem Weg. Es ist auch unsere
Aufgabe, wirtschaftspolitische Themen digital abzuscannen, und wir müssen auch verkehrspolitische, innenpolitische oder verbraucherpolitische Themen digital
abscannen. Das ist eine Aufgabe, die wir sehr ernst nehmen.
({2})
Wir sind also Treiber, wir sind Mahner, wir sind
Ideengeber, und wir wollen auch ein Frühwarnsystem
entwickeln. Die Netzpolitiker müssen sagen: Wenn ihr
so analog denkt wie bisher, passiert in unseren Unternehmen oder in der Gesellschaft genau das, was wir nicht
haben wollen. Deswegen haben wir die Digitale Agenda
2014 bis 2017. Ich finde, das ist eine solide Grundlage;
es wurde auch von einem Aufgabenheft gesprochen.
Aber letztendlich dürfen wir nicht blauäugig sein. Es
gab viel Verriss in den Medien, es gab viel Kritik und
wenig Lob. Für mich ist das unverständlich, weil wir die
Ministerialstrukturen, die wir nun einmal haben, die Finanzabläufe und die Prozesse, die vorhanden sind, nicht
von heute auf morgen verändern können. Es gibt Beharrungskräfte, die wir überwinden müssen. Aber wenn sich
drei Minister federführend mit der Digitalen Agenda beschäftigen, ist das in erster Linie zumindest aus der heutigen Sicht ein Vorteil; denn dieses Konkurrenzverhalten
- sagen wir es ruhig - kann dazu führen, dass wir das
Thema schneller nach vorne bringen.
Wir müssen diese Chance nutzen. Es wird sehr oft
von Industrie 4.0 gesprochen. Ich würde eher von Wirtschaft 4.0 reden. Eine Produktionssteigerung um 30 Prozent könnte mit einer erfolgreichen Umsetzung der Digitalisierung in der Wirtschaft einhergehen. Jetzt ist es
schon so, dass 1 000 Arbeitsplätze im IKT-Bereich weitere 1 000 Arbeitsplätze im vorgelagerten und nachgelagerten Bereich schaffen. Das müssen wir ins Auge fassen, das ist unsere Chance. Die Oxford-Studie hat
gezeigt, dass 47 Prozent der Arbeitsplätze entweder verlustig gehen oder umgewälzt werden. Genau da müssen
wir ansetzen und daran arbeiten, dass sie nicht verloren
gehen, sondern nur - „nur“ in Anführungsstrichen - geändert werden.
Wir müssen die Chance nutzen, dass neue Arbeitsmarktmodelle da sind. Gerade im Bereich der Telemedizin ist viel möglich. Wir müssen auch bei der Information, bei den digitalen Bildungsangeboten, bei Smart
Home und Smart Meter endlich nach vorne kommen.
Smart Home und Smart Meter sind auch der Garant dafür, dass wir die Energiewende schaffen. Ansonsten
kommen wir dort nicht weiter.
Die Digitalisierung ist eine ganz klare Antwort auf
den demografischen Wandel. Ich komme aus einer Region, die nach UNESCO-Angaben als nicht besiedelt
gilt. Das ist ein großer Wahlkreis. Vielen von Ihnen geht
es womöglich ähnlich. Dennoch müssen wir dafür sorgen, dass in Regionen wie dieser eine angemessene
Infrastruktur installiert wird. Denn nur mit einem gut
ausgebauten Netz können wir letztendlich die Chancen
nutzen.
Außerdem müssen wir den Menschen die Angst vor
dem Wort „Digitalisierung“ nehmen. Es gibt eine Arroganz der Sprache bei Juristen, bei Ärzten, aber auch bei
Netzpolitikern. Wir müssen eine andere Sprache finden.
Vieles ist für die Menschen viel zu diffus: Was passiert
mit meiner Tageszeitung? Was passiert mit der Tagesschau um 20 Uhr? Was passiert mit dem Einkauf? Was
passiert mit meinem Arbeitsplatz? Wird es in Zukunft so
sein, dass mein eigener Kühlschrank mich überwacht?
Wir dürfen den Menschen nicht einfach irgendetwas vorsetzen, sondern wir müssen erklären, welche Vorteile mit
Veränderungen verbunden sind: dass sie jederzeit die Tagesschau sehen können, dass auf dem iPad ständig aktuelle Tageszeitungen abrufbar sind und dergleichen
mehr.
Mein Fazit ist, dass die digitale Transformation in der
Zukunft das Topthema ist. Die Frage ist: Wollen wir zusehen, oder wollen wir es selber machen? Vor allen Dingen: Wollen wir selber es vielleicht besser machen, als
Unternehmen es bisher gemacht haben? Es liegt in unserer Hand, ob wir die Wertschöpfung hierbehalten oder ob
wir zusehen, wie sie ins Tal nach Amerika abwandert.
Wir dürfen keine Angsthasen sein, sondern müssen mutig sein. Die Digitalisierung ist der Wachstumsmotor
Nummer eins für Wohlstand und Lebensfreude. Das sollten wir gemeinsam angehen.
({3})
Vielen Dank. - Herr Bundesminister Gabriel ist persönlich angesprochen worden. Er möchte dazu eine Erklärung abgeben. Deshalb erteile ich das Wort Herrn
Bundesminister Gabriel.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Mit dem Internet ist
das Problem verbunden, dass sich Falschaussagen
schnell verbreiten lassen. Ich bin ganz sicher, dass der
Kollege Notz ein großes Interesse an intellektueller Redlichkeit hat,
({0})
wie man seiner Rede entnehmen konnte. Daher wollte
ich ihn bitten, jetzt oder bei einer späteren Sitzung, das
Zitat zu belegen, dass ich öffentlich die Zerschlagung
von Google gefordert hätte; er hat das hier behauptet.
Herr Notz, ich fände es gar nicht schlecht, wenn Sie einmal schauen würden, ob Sie dafür einen Beleg finden.
Ich lese Ihnen gern einmal vor, worauf Sie sich vermutlich beziehen - ich vermute, dass Sie hinterher zu
der Einsicht kommen, dass Ihre Aussage falsch war, sodass Sie bei Ihrer nächsten Rede sagen können, dass Sie
es gar nicht so falsch finden, was ich gesagt habe -:
Wirtschaftsministerium und Bundeskartellamt prüfen, ob ein Unternehmen wie Google seine marktBundesminister Sigmar Gabriel
beherrschende Stellung missbraucht, um durch die
Beherrschung einer „essential facility“, einer wesentlichen Infrastruktur, Wettbewerber systematisch
zu verdrängen. …Wir fassen deshalb zuerst eine
kartellrechtsähnliche Regulierung von Internetplattformen ins Auge. Dreh- und Angelpunkt dabei ist
das Gebot der Nichtdiskriminierung von alternativen Anbietern, die Platzhirsche innovativ herausfordern.
Ich bin mir relativ sicher, dass in dem ganzen Artikel
in der FAZ - er ist relativ lang gewesen - das Wort „Zerschlagung“ nicht einmal vorkommt. Meine herzliche
Bitte ist, dass wir miteinander mit möglichst hoher Redlichkeit umgehen.
Was es gibt, ist mein Hinweis darauf, dass wir in der
analogen Welt, zum Beispiel bei den Strom- und Gasnetzen - auch das findet sich in diesem Artikel wieder -,
ebenfalls Plattformen voneinander getrennt haben - ({1})
- Nein, ich will nicht zerschlagen.
({2})
- Auch nicht angedeutet. - Sie haben behauptet, Herr
Notz, ich hätte öffentlich die Zerschlagung von Google
gefordert. Dies ist falsch!
Ich habe gefordert - offensichtlich war Zuhören eben
nicht die stärkste Seite; ich lese es noch einmal vor -:
Wir fassen deshalb zuerst eine kartellrechtsähnliche
Regulierung von Internetplattformen ins Auge.
Dreh- und Angelpunkt dabei ist das Gebot der
Nichtdiskriminierung von alternativen Anbietern,
die Platzhirsche innovativ herausfordern.
Genau das prüfen wir. Wir reden auch über die Frage der
Erweiterung des Kartellrechts.
Mir ging es nur darum, dass wir gegenseitig nichts in
die Welt setzen, was man nicht gefordert hat. Ich finde,
Sie haben jede Möglichkeit, zu suchen und irgendwo etwas zu finden, dass ich öffentlich die Zerschlagung von
Google gefordert hätte. Manchmal hilft es einfach, nicht
nur Nachrichten, dpa-Meldungen oder Handelsblatt-Artikel, sondern auch den Originaltext zu lesen. Das erleichtert die Kenntnis dessen, was jemand anders gesagt
hat.
({3})
Jetzt hat sich der Kollege Dr. von Notz gemeldet, dem
ich auch das Wort erteile, allerdings mit dem Hinweis,
dass er sich bitte ausschließlich zu dem angesprochenen
Sachverhalt äußern möge; es geht nicht darum, die allgemeine Aussprache fortzusetzen.
Die allgemeine Aussprache hatten wir ja auch schon. Ich bin sehr dankbar, dass sich der Vizekanzler in die
Debatte einschaltet. Herr Gabriel, Sie haben das Wort
„Zerschlagung“ nicht in den Mund genommen - das
mag so sein; ich google das gern noch mal und gucke es
mir genau an -,
({0})
aber Sie haben es - dazu stehe ich - bewusst eine Woche
vor der Europawahl suggeriert und in den Raum gestellt.
Eines machen Sie nicht - das habe ich am stärksten kritisiert; dazu haben Sie kurioserweise gar nichts gesagt -:
Sie machen nicht das, was dieses Haus als Gesetzgeber
machen sollte, nämlich regulieren, sondern Sie treffen
sich mit Eric Schmidt zu lustigen Veranstaltungen. Wenn
man in der Digitalen Agenda danach guckt: „Was mit
Substanz kommt von Gabriel?“, stellt man fest: Da
kommt leider nichts. - Insofern bleibt die Suggestion im
Raum. Ich glaube, Sie haben sie auch bewusst gesetzt.
Herzlichen Dank.
({1})
Jetzt fahren wir mit der Aussprache fort, und ich erteile das Wort der Kollegin Petra Sitte, Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Kritik
und die Vorschläge der Opposition sind von der Koalition hier so ein bisschen unter der Rubrik „Nörgeln und
Meckern“ zusammengefasst worden. Aber ein bisschen
gemeckert hat auch Herr Klingbeil. Er hat gesagt: In dieser Digitalen Agenda kommen Bildung, Wissenschaft,
Kultur und Medien zu kurz.
({0})
Das finde ich auch. Deshalb will ich mich auf diesen Bereich konzentrieren.
Ich will darauf hinweisen, dass wir hier gerade erst in
der letzten Sitzungswoche darüber gesprochen haben,
wie und nach welchen Regeln es an Unis auch zukünftig
möglich sein soll, sogenannte digitale Semesterapparate
zusammenzustellen. Für jene, die das nicht genau kennen: Ein Semesterapparat ist eine digitale Zusammenstellung von Vorlesungsunterlagen und Seminarunterlagen. Das ist für die Studis extrem praktisch.
Geregelt wird dies in § 52 a des Urheberrechtsgesetzes. Dieser ist ausgesprochen eng gefasst. Wenn Gerichte dazu Recht sprechen, legen sie ihn sogar noch enger aus. Infolgedessen ist diese Regelung im Alltag der
Unis nur sehr schwer zu handhaben. Aber - immerhin! es ist nach mehreren Verlängerungen der Frist in der
letzten Woche endlich gelungen, die Regelung zu entfristen.
Aber eigentlich - das hatten wir schon vorhin angesprochen - geht die Digitale Agenda trotzdem noch weiter, auch wenn es unbefriedigend ist, wie Herr Klingbeil
sagt. Sie sagen darin, dass Sie die Bildungs- und Wissenschaftsschranke ins Urheberrecht einführen wollen.
({1})
Unis, Schulen etc. sollen sozusagen auch die Vorteile der
Digitalisierung genießen können, und sie sollen dabei
gerade nicht am Urheberrecht scheitern.
Hierfür gibt es schon seit langem konkrete Regelungsvorschläge; das hätten Sie auch aufnehmen können. Der Witz ist nicht nur, dass es die schon lange gibt;
das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat
sogar selbst die Ausarbeitung eines Regelungsvorschlags in Auftrag gegeben. Der liegt jetzt auch vor, findet sich aber in der Digitalen Agenda nicht wieder. Das
Problem ist - wir kennen es schon -: Die Netzpolitiker
und die Urheberrechtspäpste der Koalition können sich
vermutlich nicht einigen, und wir dürfen jetzt erst einmal
neugierig darauf warten, was denn am Ende dabei herauskommt.
({2})
Wie wäre es denn beispielsweise, wenn es Ihnen endlich gelänge, das Zweitveröffentlichungsrecht für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unabdingbar und
durchsetzungsstark zu gestalten?
({3})
Oder sorgen Sie doch endlich dafür, dass Forschungsergebnisse, die überwiegend mit Bundesmitteln, also mit
öffentlichen Geldern, mit Steuergeldern, finanziert werden, als Open-Access-Publikation erscheinen müssen!
({4})
Darüber hinaus kündigen Sie an, dass Sie die Deutsche Digitale Bibliothek ausbauen wollen. Super! Aber
im Haushalt 2015 sind dafür nur 1,3 Millionen Euro vorgesehen. Die sind einfach notwendig, weil Sie sich vertraglich gebunden haben, und sie dienen auch nur der
technischen Ausstattung.
Das heißt: Der Stau, der sich darin manifestiert, ist
symptomatisch für diese Digitalpolitik. Deutschland
hinkt bei der digitalen Archivierung und der Zugänglichkeit von Kulturgütern im Vergleich zu anderen Ländern
um Jahre hinterher - sogar im Vergleich zu privatwirtschaftlichen Initiativen.
({5})
Wabert nun schon ziemlich viel Lyrik durch Ihre Digitale Agenda, so ist eigentlich noch bezeichnender,
Herr Dörmann, was fehlt. Darüber haben wir hier schon
mehrfach geredet. Wie sich die überaus prekäre ökonomische Lage der meisten Kultur- und Medienschaffenden verbessern soll, sucht man in dem Papier vergebens.
Das ist insofern empörend, als wir mittlerweile zwei Enquete-Kommissionen im Bundestag hatten, die sich umfangreich mit dieser Lage beschäftigt und umfangreiche
Vorschläge gemacht haben.
({6})
- Okay, aber dann - wenn Sie an vielen anderen Stellen
darüber diskutieren wollen - gehört das auf jeden Fall in
Ihre Digitale Agenda.
({7})
Wir haben dazu - das will ich abschließend sagen Folgendes konkret vorgeschlagen: Wir brauchen ein
durchsetzungsstarkes Urhebervertragsrecht für die Medienschaffenden bzw. die Kreativen. Wir brauchen in
diesem Bereich endlich Mindesthonorare. Wir brauchen
den Erhalt und den Ausbau der Künstlersozialkasse.
Schließlich brauchen wir auch eine Reform der Verwertungsgesellschaften wie VG Wort oder GEMA, damit
auch einkommensschwächere oder umsatzschwächere
Kreative Einfluss und Stimme bekommen. Da, meine
Damen und Herren von der Koalition, müssen Sie noch
gewaltig nacharbeiten.
({8})
Die Kollegin Christina Kampmann spricht jetzt für
die Sozialdemokraten.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die
einen nennen sie den „www-Wunschzettel der Bundesregierung“, die anderen reden vom „Windelweichpapier“. Der Deutschlandfunkt wähnt sich im „digitalen
Märchenland“, und Konstantin von Notz glaubt an eine
Aneinanderreihung von Absichtserklärungen.
({0})
Ich sage: Die Digitale Agenda ist kein Wunschzettel und erst recht kein Märchen. Sie ist ein Erfolg. Während
andere sie zerreden, haben wir uns längst an die Umsetzung gemacht.
({1})
Ich bin mir sicher: Das ist der richtige Weg, und von
dem werden wir uns auch nicht abbringen lassen, liebe
Kolleginnen und Kollegen!
({2})
Schauen wir aber einmal genau hin: Was bringt uns
die Digitale Agenda, wenn wir über den Staat der Zukunft reden? Als ehemalige Standesbeamtin weiß ich: Es
muss nicht gleich die Eheschließung sein, die ausschließlich digital zur Verfügung stehen wird. Die Menschen ärgern sich aber zu Recht, wenn sie sich den halChristina Kampmann
ben Tag freinehmen müssen, um das neue Auto
anzumelden oder die Geburtsurkunde für das neugeborene Kind zu beantragen. Unser Ziel ist es deshalb, Behördengänge da, wo es geht, entbehrlich zu machen. Unser Ziel ist es, Verwaltungshandeln transparent zu
machen und Informationen, wann immer es möglich ist,
zur Verfügung zu stellen. Unser Ziel ist die bürgerfreundliche und moderne Verwaltung; denn wir wissen,
dass der innovative Staat das Rückgrat der modernen
Gesellschaft ist. Die Digitale Agenda legt dafür ein Fundament, das auf festen Füßen steht, liebe Kolleginnen
und Kollegen.
({3})
Die Digitale Agenda funktioniert aber nur dann - das
muss jedem von uns klar sein -, wenn Menschen Vertrauen in die Sicherheit der Kommunikation haben.
Denn Daten sind nicht irgendetwas. Daten sind das, was
wir denken, was wir fühlen und was wir anderen mitteilen, und damit ein Teil unserer Persönlichkeit. Allein
diese Tatsache begründet eine enorme Verantwortung,
wenn es um den Umgang mit Daten geht. Diese zu
schützen, einfache Verschlüsselungsmöglichkeiten und
sichere Infrastruktur anzubieten, muss deshalb unser
vorrangiges Ziel sein.
({4})
Um das auch auf europäischer Ebene erreichen zu
können, brauchen wir die europäische DatenschutzGrundverordnung. Sie sagen in der Digitalen Agenda,
die Verabschiedung spätestens 2015 sei das Ziel. Seien
Sie sich gewiss: Hier werden wir Sie beim Wort nehmen,
liebe Minister.
Sie sagen auch, die Digitale Agenda sei ein Hausaufgabenheft. Ich weiß nicht, wie es Ihnen ergangen ist;
aber wenn ich meine Hausaufgaben nicht gemacht hatte,
war Nachsitzen angesagt. Und ich sage Ihnen: Das war
kein Spaß. Deshalb seien Sie sich sicher: Wir werden die
Umsetzung der Digitalen Agenda kritisch und konstruktiv begleiten.
({5})
Die Digitale Agenda ist nicht perfekt. Sie erhebt auch
keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Sie beantwortet
weder alle Fragen, noch hat sie auf alles eine Antwort.
Dass sie da ist, ist dennoch - davon bin ich zutiefst überzeugt - ein Erfolg.
Konstantin von Notz sage ich: Wenn hier etwas im
Nebulösen verharrt, dann sind das Ihre eigenen Vorstellungen einer Digitalen Agenda. Sich an dieser Stelle in
Kritik zu erschöpfen, reicht nicht aus.
({6})
Es reicht auch nicht aus, sich immer nur auf die EnqueteKommission zu berufen.
({7})
Ich glaube, Sie müssten an dieser Stelle auch einmal eigene Ideen präsentieren.
({8})
Dieses Internet hat nicht immer recht, sage ich. Ich
muss es wissen; denn ich komme aus einem Wahlkreis
namens Bielefeld,
({9})
der laut Internet gar nicht existiert.
({10})
Trotzdem ist das Internet etwas Großartiges. Es ist ein
Ort der Freiheit. Das Internet ist ein Ort der Gleichheit
und der Innovation. Es politisch zu gestalten, bedeutet
Herausforderung und Chance zugleich. Ich habe großen
Respekt vor dieser Aufgabe und ebenso große Zuversicht, weil ich davon überzeugt bin, mit der Digitalen
Agenda das richtige Instrument an der Hand zu haben.
Danke schön.
({11})
Die Kollegin Tabea Rößner hat jetzt das Wort für
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Herr Minister Dobrindt ist verliebt.
({0})
- Ja, in das Wort „Tsunami“, in das Wort „Datentsunami“.
({1})
Wo immer er über Breitbandausbau redet, spricht er davon - auch heute übrigens -, dass wir vor einem „Datentsunami“ stehen. Nun gibt es tatsächlich immer größere Datenaufkommen im Netz, zum Beispiel durch
Industrie 4.0, E-Mobility, Teleoffice-Plätze zu Hause.
Das alles wissen wir. Nur ist das nicht, wie das Wort
„Tsunami“ vermuten lässt, eine Naturkatastrophe, vor
der man Angst haben muss und sich schützen muss, sondern es ist eine Chance, die wir packen und ergreifen
müssen.
({2})
Ansonsten nennt der Minister große Begriffe. Da werden zwei Treffen mit der Industrie schnell zu einer
„Netzallianz“ und ein vager Vorhabenplan zu einem
„Kursbuch“. Netzallianz und Kursbuch, das klingt nach
Abenteuer und Ritter der Breitbandrunde;
({3})
aber große Begriffe verlegen keine Leitungen.
({4})
Um Deutschland flächendeckend mit 50 Megabit anzuschließen, braucht man 20 Milliarden Euro. Die Unternehmen wollen im nächsten Jahr 8 Milliarden Euro
investieren. Dafür gebührt ihnen auch Dank. Dafür haben Sie, Herr Minister, allerdings die Netzneutralität
verschachert.
({5})
Die Unternehmen sagen aber auch, dass sie nur 80 Prozent des Landes anschließen können. Der Rest ist für sie
nicht wirtschaftlich. Für ein Fünftel der Bevölkerung
sieht es also schlecht aus. Der Ausbau in ländlichen Regionen wird teuer - da machen wir uns nichts vor -, so
teuer, dass das Engagement der Bundesregierung nur einen Tropfen auf den heißen Stein bedeutet.
Es fehlt an Fördergeldern. Sie stellen auch nichts in
den aktuellen Haushaltsentwurf ein. Stattdessen versteifen Sie sich auf die Frequenzversteigerung. Wissen Sie,
warum das unseriös ist? Sie gaukeln der Öffentlichkeit
vor, das sei das Allheilmittel und damit würde der Breitbandausbau vorankommen. Aber erstens kann keiner genau sagen, wie viel Geld die Versteigerung bringen wird.
4 Milliarden Euro maximal, eher weniger. Die letzte
Versteigerung brachte knapp 4 Milliarden Euro, und
schon das war deutlich weniger als erhofft. Jetzt gibt es
nur noch drei Anbieter. Außerdem werden die Frequenzen der letzten Versteigerung bis heute nicht alle genutzt.
Es ist also äußerst fraglich, ob die geplante Frequenzversteigerung wirklich so viel einbringt.
Zweitens müssen Sie sich den Erlös mit den Ländern
teilen.
({6})
Drittens müssen Sie die Nutzer von Funkanlagen und
Mikrofonanlagen entschädigen. Das wird teurer, als Sie
zugeben. Unter dem Strich bleibt gar nicht mehr so viel
übrig. Deshalb sage ich: Wenn Sie nicht zusätzliche Gelder bereitstellen, bleibt Ihr stetes Bemühen um flächendeckendes Breitband ziemlich erfolglos.
({7})
Außerdem wird die Frequenzumstellung für die Verbraucher teuer. Um die Frequenzen für Breitband nutzen
zu können, muss von DVB-T auf DVB-T2 umgestellt
werden. Das ist schon lange geplant. Das ist auch gut
- Herr Dörmann, ich sehe, Sie melden sich -, und das ist
auch richtig.
({8})
- Wollen Sie sich noch melden?
({9})
- Ich lasse gerne eine Frage zu.
Ich sehe also, dass der Kollege Dörmann sich meldet
und dass die Kollegin Rößner diese Frage schon zugelassen hat. Dann möchte ich Ihnen folgen.
Vielen Dank, Herr Präsident. Vielen Dank, Kollegin
Tabea Rößner. - Wir haben diese Debatte ja schon in der
letzten Woche geführt. Deshalb kenne ich Ihre Thesen,
die darauf hinauslaufen, dass Sie den Leuten suggerieren: Die Große Koalition ist schuld daran, dass ihr eure
Fernseher wegschmeißen könnt. Und das wird so richtig
teuer für euch. - Das haben Sie gerade schon wieder angedeutet.
({0})
Ist Ihnen eigentlich bewusst, warum wir DVB-T2 einführen wollen? Wir machen das deshalb, weil es der
Wunsch der Rundfunkanstalten ist, auf einen modernen
Standard zu kommen; denn die bisherige terrestrische
Verbreitung mit DVB-T ist nicht zukunftsfähig, weil
man damit keine HD-Qualität erreichen kann, die mittlerweile auf anderen Übertragungswegen möglich ist.
Da es ja das Ziel ist, mit DVB-T einen billigen Übertragungsweg für die Nutzerinnen und Nutzer aufrechtzuerhalten, sagen sowohl die Öffentlich-Rechtlichen als auch
die Privaten: Lasst uns diesen Weg gehen. Wir gehen
den Schritt in Richtung der neuen Technologie. - Der
Gag ist: Es wird am Ende sogar für alle Beteiligten billiger, weil dadurch nämlich Effizienzen gehoben werden.
Natürlich muss einmal umgestellt werden. Laut den
Berechnungen, beispielsweise den internen Berechnungen der Öffentlich-Rechtlichen, wird das die Nutzerinnen und Nutzer einmalig 50 Euro kosten, weil ein Zusatzgerät angeschafft werden muss. Sind Sie nicht mit
mir der Meinung, dass wir die Rundfunkanstalten gerade
unter dem Gesichtspunkt einer kostengünstigen und modernen Versorgung der Nutzerinnen und Nutzer unterstützen sollten? Oder kritisieren Sie das Ziel des Koalitionsvertrages? Dann müssten Sie das aber auch bitte
schön denjenigen Nutzerinnen und Nutzern sagen, die
darauf hoffen, dass wir diesen Verbreitungsweg offenhalten.
({1})
Lieber Kollege Dörmann, hätten Sie einen Moment
gewartet, dann hätten Sie meine Ausführungen noch gehört.
({0})
Diese kann ich jetzt nachholen. Ich habe ja schon gesagt,
dass diese Umstellung richtig ist. Sie ist auch gut. Natürlich wollen die Sendeanstalten diese Umstellung.
({1})
- Das habe ich nie infrage gestellt.
({2})
DVB-T2 ist technisch fortschrittlicher. Es ist günstiger;
da haben Sie völlig recht. Aber selbst die Rundfunkanstalten sagen, sie bräuchten eine längere Übergangsfrist
für diese Umstellung.
({3})
Die Umstellung kostet nicht nur die Rundfunkanstalten
Geld, sondern sie kostet auch die Verbraucher, die Mikrofonanlagenbetreiber usw. Geld. Das ist eine Umstellung, die nicht mal eben in ein oder zwei Jahren zu machen ist. Deshalb soll die Übergangsfrist, die auch die
Rundfunkanstalten einfordern, eine wesentlich längere
sein. Ich denke, wir sollten diese Übergangsfrist auch
gewährleisten, damit nicht so viel Elektroschrott entsteht, damit nicht jemand jetzt einen DVB-T-fähigen
Fernseher kauft und ihn in zwei Jahren auf den Müll
schmeißen muss, sondern gleich das richtige Gerät kaufen kann. Solche Geräte sind erst in zwei Jahren richtig
marktfähig und damit auch günstig; denn erst die Marktfähigkeit macht Geräte günstig. Von daher wissen Sie
genau: Wir sind für die Umstellung, aber wir wollen eine
längere Übergangsfrist.
({4})
- Genau.
Wir haben immer gesagt, dass diese Umstellung verbraucherfreundlich sein muss. Insofern ist es wichtig,
dass es diese Übergangsfrist gibt. Das kann man nicht
mal eben so übers Knie brechen. Es gibt Berechnungen
- übrigens auch aus dem Haus des Ministers -, dass
knapp 4 Millionen Haushalte diese DVB-T-Empfänger
nutzen. Wenn man das ausrechnet, ergibt das Kosten in
dreistelliger Millionenhöhe. Wenn die Menschen das tatsächlich begreifen, dann wird Ihnen das um die Ohren
fliegen.
Wissen Sie, Herr Dobrindt, man sagt ja, Verliebtsein
mache blind. Wenn Sie sich jetzt vom Begriff „Datentsunami“ trennen wollen - was ich Ihnen empfehlen würde,
weil das kein schöner, sondern ein sehr negativer Begriff
ist -, dann können Sie wieder auf Brautschau gehen. Ich
rate Ihnen: Schauen Sie doch einmal nach dem Wort
„Förderprogramm“. Das finde ich viel attraktiver. Das
fehlt bei Ihnen aber leider völlig.
Vielen Dank.
({5})
Ich erteile jetzt das Wort zu einer Kurzintervention
dem Kollegen Lenkert.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Kollege
Dörmann, ich möchte nur eines klarstellen: Mit DVB-T2
ist nicht nur die Anschaffung von neuen Geräten für
etwa 50 Euro notwendig, sondern es eröffnet den privaten Rundfunkanstalten auch die Möglichkeit, ihr Programm zu verschlüsseln und es nur noch gegen Bezahlung zur Verfügung zu stellen. Diese Möglichkeit wird
von den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten nicht
in Anspruch genommen werden, aber die privaten erhalten sehr wohl die Möglichkeit.
({0})
Deswegen ist es sehr wohl möglich, dass die Kunden
durch DVB-T2 zukünftig doch stärker belastet werden,
als es hier bisher dargestellt wird.
Der Kollege Dörmann hat die Möglichkeit, darauf zu
antworten.
Sehr geehrter Herr Kollege, da Sie es ansprechen: Es
gibt ein großes Interesse des öffentlich-rechtlichen
Rundfunks, den neuen Standard DVB-T2 zu nutzen, und
zwar deshalb, weil es einfach kostengünstiger ist; man
spart auf Sicht, und das kommt den Beitragszahlerinnen
und Beitragszahlern bzw. den Programmen zugute.
Man hat damit einen neuen Standard, mit dem man in
Zukunft einen für den Nutzer besonders günstigen Weg
der Übertragung etablieren kann. Deshalb sagen die Öffentlich-Rechtlichen: Wir wollen, dass die Privaten dabei sind, weil es auch eine Kostenfrage ist und wir übrigens nur so eine Akzeptanz in der Bevölkerung
erreichen. - Deshalb akzeptieren die Öffentlich-Rechtlichen den Wunsch der Privatsender, dort zu einer Verschlüsselung zu kommen, um den Privatsendern eine
Refinanzierung der Kosten zu ermöglichen.
Deshalb: Man kann darüber streiten, ob der Weg einer
Verschlüsselung der richtige ist; aber alle Fachbeteiligten sind sich einig, dass es am Ende keine Alternative
dazu geben wird. Einen anderen Weg wird es nicht geben. Die Öffentlich-Rechtlichen haben jedenfalls in den
Gesprächen, die ich geführt habe, immer gesagt: Diese
Investition macht am Ende eigentlich nur Sinn, wenn die
Privaten dabei sind. Da muss man zu fairen Bedingungen kommen; denn damit sind Kosten verbunden, die refinanziert werden müssen.
Jede Zuschauerin und jeder Zuschauer kann frei entscheiden, ob man es bucht oder nicht. Es gibt andere
Übertragungswege. Insofern ist es am Ende eigentlich
die Wahl der Zuschauerinnen und Zuschauer, ob sie dieses Geschäftsmodell unterstützen oder nicht.
Wir fahren jetzt in der Rednerliste fort. Nachdem er
schon lange gewartet hat, kommt jetzt der Kollege Klaus
Barthel für die Sozialdemokraten dran, dem ich das Wort
erteile.
({0})
Danke, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf meine Rede haben bestimmt alle schon lange
gewartet.
({0})
Wir sind eigentlich schon mittendrin in dem Thema,
auf das ich hinweisen will: Die Digitalisierung verändert
alle Lebensbereiche der Menschen, auch das Wohnzimmer. Ich will vor allen Dingen auf die wirtschafts- und
arbeitspolitischen Perspektiven eingehen. Im Übrigen ist
es - auch wenn ich mich damit bei einigen hier bestimmt
unbeliebt mache - nicht ganz falsch, dass der Antrag der
Grünen im Wirtschaftsausschuss behandelt wird. Denn
die Wirtschaft wird mit am stärksten verändert; die globalen Wirtschaftsbeziehungen, die Entwicklungen auf
den Finanzmärkten, die wir erleben und erlebt haben
- mit all ihren Licht- und Schattenseiten -, wären ohne
die Digitalisierung nicht denkbar.
Es verändern sich die Bedingungen des Wettbewerbs
innerhalb der Sektoren und zwischen den Sektoren der
Wirtschaft und zwischen den Regionen. Es verändert
sich die ganze Arbeitswelt: die Arbeitsorganisation, die
Arbeitsgestaltung und auch die Arbeitsbeziehungen. Das
passiert eben nicht nur in einigen Bereichen, die hier
gern als Highlights diskutiert werden - die Stichworte
„Industrie 4.0“ und „Gründerszene“ fallen oft -, sondern
es geht quer durch alle Branchen und Betriebe. Es geht
zum Beispiel auch um das Handwerk 4.0, um die industrienahen Dienstleistungen, um die sozialen und die Humandienstleistungen; es geht um die ganze Wertschöpfungskette, vom Rohstoff über die Zulieferung - in
Klammern: Logistik - bis hin zum Einzelhandel, zu den
Verbraucherinnen und Verbrauchern und zur Entsorgung. All diese Bereiche - ich kann das nicht innerhalb
von vier Minuten ausführen - werden ganz praktisch und
hautnah davon berührt, und niemand ist in seinem Arbeitsleben mehr davon ausgenommen.
Ich warne hier immer ein bisschen vor dem falschen
Pathos, das hier manchmal durchklingt und das man immer wieder in den Medien findet. Da ist die Rede von
der „Diktatur der Perfektion“ aufgrund der Digitalisierung. Da ist die Rede vom „Kampfplatz Internet“ und
von einem dritten Weltkrieg, über den gerade entschieden wird. Da ist die Warnung vor „Maschinenstürmerei“
und vor den „Mormonen der digitalen Welt“; das sollen
diejenigen sein, die an der einen oder anderen Stelle
auch einmal „aber“ sagen. Herr Jarzombek, bei aller Koalitionstreue: Ich finde, Angst ist in diesem Zusammenhang ein schlechter Ratgeber.
({1})
Ich halte mich eher an das Wissen. Es wimmelt zurzeit von Studien aller möglichen Verbände, Branchen
und Unternehmen. Aber wenn man fragt: „Was haben
wir eigentlich an systematisiertem Wissen über die Digitalisierung?“, dann stellt man fest: Es existieren wenige
Vorstellungen darüber, wie man zum Beispiel all die
schönen Chancen, die das Internet bietet, zum Vorteil der
Menschen nutzen kann, wie man die Risiken eindämmen
und die digitale Welt gestalten kann. In diesem Bereich
gibt es enormen Forschungsbedarf. Was bedeutet die flächendeckende Digitalisierung für die Wirtschaft und für
die Arbeit? Welche Alternativen in der Entwicklung gibt
es?
Es ist gut, dass wir 1 Milliarde Euro für die Forschung einsetzen können. Aber ich würde mir wünschen,
dass mit Blick auf den Bereich der arbeitsweltbezogenen
Forschung auch im Titel des Haushalts des Wirtschaftsministeriums, der sich auf die digitale Welt bezieht, ein
bisschen mehr getan würde, um die Vorhaben systematisch darzustellen. Wir sind nämlich nicht nur dazu da,
den Lauf der Dinge zu beobachten und zu kommentieren, sondern wir sind auch dazu da, den politischen Rahmen zu setzen. Das bedeutet vor allen Dingen, die Menschen zu befähigen, ihren Arbeits- und Lebensalltag
selbstbestimmter zu gestalten. Dazu gehören die Aspekte der Qualifizierung. Man kann nicht immer nur von
der Notwendigkeit von Weiterbildung reden, sondern
man muss auch sagen, welche Rechte, Instrumente und
Finanzierungsmöglichkeiten man schaffen will, um Weiterbildung und Qualifizierung zu sichern. Man kann
nicht immer nur darüber reden, dass die Digitalisierung
die Arbeitszeit verändert, sondern wir müssen uns überlegen, wie man die gesparte Arbeitszeit nutzen kann, um
die Beschäftigten zu entlasten, um die digitale Prekarisierung zu verhindern und um neue Arbeitslosigkeit zu
vermeiden.
({2})
Wie kann man Gesundheitsschutz unter Berücksichtigung der alten und der neuen Belastungen, zum Beispiel
der psychischen Krankheiten, gewährleisten? Hier brauchen wir eine Humanisierungsstrategie. Was tun wir bezüglich einer neuen Ordnung auf den neuen Arbeitsmärkten? Welche neuen Formen von informeller Arbeit
wird es geben: Cloud Working usw.? Wie können wir all
dem mit einer Mitbestimmungsstrategie begegnen?
Viele der genannten Aspekte sind in der EnqueteKommission angedeutet worden. Aber seien Sie, liebe
Mitglieder der Kommission, einmal ehrlich: Viele Probleme wurden zwar richtig benannt, aber die Empfehlungen waren nicht so deutlich.
({3})
Herr Kollege Barthel, Sie denken an die vereinbarte
Redezeit?
Ich komme zum Schluss.
({0})
Herr Präsident, ich kann meinen letzten Satz nicht
ausführen, wenn die Kollegen dort drüben so unruhig
sind.
({1})
- Sie können gleich etwas dazu sagen, Herr Tauber.
Wir wollen die Arbeitswelt gestalten. Hier geht es
nicht um die Belastungen für die Wirtschaft oder um
Maschinenstürmerei, sondern es geht darum, dass wir
die Voraussetzung dafür schaffen, dass Digitalisierung
funktionieren kann. Wer die politische Gestaltung und
die gesellschaftliche Gestaltung als wirtschafts- und innovationsfeindlich diskreditiert - ich habe die Veränderungen gerade genannt -, ist der eigentliche Blockierer
der digitalen Zukunft.
({2})
Vielen Dank. Das war ein ausführlicher letzter Satz. Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Marian Wendt
für die CDU/CSU.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! „Das Internet ist eine Spielerei für Computerfreaks, wir sehen darin keine Zukunft“ - so der ehemalige Telekom-Chef Ron Sommer vor 24 Jahren.
({0})
Gleich noch ein Zitat: „Das Internet ist nur ein Hype“ Bill Gates, 1993.
Heute debattieren wir mit der Gestaltung der Digitalen Agenda durch die CDU-geführte Bundesregierung
über dieses Internet.
({1})
Zu den beiden Zitaten kann ich nur zwei Dinge sagen:
Das Internet ist kein Hype, sondern es gehört zur Lebenswirklichkeit der Bürgerinnen und Bürger in unserem Land.
({2})
Es ist so selbstverständlich geworden wie der Strom aus
der Steckdose und das Wasser aus dem Hahn.
Zweitens muss ich feststellen, dass die Geschwindigkeit, mit der Innovationen in der IT-Branche unser gesellschaftliches Leben verändern, einzigartig ist. Was
heute der letzte Stand der Technik ist, kann morgen
schon hoffnungslos veraltet sein. Wir haben das eben bei
der DVB-T-Debatte gesehen.
Als Innenpolitiker möchte ich den Schwerpunkt auf
zwei Bereiche der Digitalen Agenda legen, und zwar
zum einen auf das Thema IT-Sicherheit und zum anderen auf das Thema E-Government und moderner Staat.
Zum Thema IT-Sicherheit. Sicherheit und Vertrauen
sind das A und O, wenn es darum geht, Freiheit im Internet zu ermöglichen.
({3})
Bedauerlicherweise unterliegt die Kriminalität im digitalen Raum einer Dynamik, auf die sich unsere Gesellschaft noch nicht eingestellt hat. Nirgendwo auf der Welt
ist der Schaden durch Cybercrime so groß wie in
Deutschland.
({4})
Im vergangenen Jahr betrug er 44 Milliarden Euro.
({5})
Das sind ganze 1,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts
Deutschlands.
({6})
Phänomene wie Identitätendiebstahl, Passwortklau, Kreditkartenbetrug, digitale Erpressung von Daten, Ausspähung von Geschäftsgeheimnissen usw. - das alles bedroht unseren Wohlstand hier in Deutschland.
({7})
Die Cybercrimeszene professionalisiert sich zunehmend.
Leicht zu bedienende Schadsoftware wird im Internet
selbst an IT-Laien verkauft oder vermietet.
({8})
Diesen Entwicklungen müssen und werden wir entschlossen entgegentreten.
({9})
Unser Bundesinnenminister, Dr. Thomas de Maizière,
und sein Haus haben sich dieser Herausforderungen angenommen. Wir werden gemeinsam den Entwurf eines
IT-Sicherheitsgesetzes vorlegen, das entsprechende Maßnahmen zur Verhinderung von Cybercrime vorsieht. Wir
werden klare Verantwortlichkeiten für die Betreiber kri5530
tischer Infrastrukturen, für Telekommunikationsanbieter
und Telemedienanbieter schaffen.
({10})
Damit können wir die IT-Systeme, die Telekommunikationssysteme schützen und das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger sichern. Zudem stärkt das IT-Gesetz die
IT- und Sicherheitsbehörden des Bundes in ihren Kompetenzen. Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik in Bonn zum Beispiel leistet im Bereich
Prävention und hinsichtlich der Aufklärung über Gefahren im Internet eine sehr verdienstvolle Arbeit. Dafür
von dieser Stelle meinen herzlichen Dank.
({11})
Wir werden einfache, sichere und nutzerfreundliche
Sicherheits- und Verschlüsselungstechnologien fördern
und fordern. Wir müssen die Verschlüsselung von Daten
und entsprechenden Kommunikationsverbindungen vorantreiben, Verschlüsseln muss einfach gehen, damit die
Bürger die Verschlüsselungstechnik auch nutzen. Es ist
ja so: Wir können die besten Technologien haben, aber
der Bürger wird die Technik nicht nutzen, wenn sie zu
kompliziert ist. Deswegen ist es unser Ziel, Deutschland
zum Verschlüsselungsort Nummer eins in der Welt zu
machen. Wir wollen die flächendeckende Verschlüsselung mit einem Klick.
Der Staat kann mit gutem Beispiel vorangehen und
den neuen Personalausweis verbessern. Viele von Ihnen
kennen dieses kleine Kärtchen. Viele empfinden es als
Vorteil, dass man nicht mehr eine große Papierkarte als
Ausweis mit sich führen muss, sondern der Ausweis nun
nur noch so groß wie eine EC- oder Kreditkarte ist.
Diese Plastikkarte ist aber nicht nur viel kleiner, in ihr
steckt noch viel mehr.
({12})
- Zum Beispiel. - Wir haben sehr gute Sicherheitstechnologien beim neuen Personalausweis. Der Ausweis hat
Potenzial, und es gilt, dieses Potenzial auszubauen. Der
Ausweis kann ein zentraler Identitätsnachweis im digitalen Zeitalter werden. Dazu werden wir die Anwendungsbereiche des neuen Personalausweises erweitern und die
Nutzerfreundlichkeit verbessern.
Das Thema Personalausweis bringt mich zu dem
zweiten Punkt: moderner Staat, moderne Verwaltung.
Die Menschen in unserem Land wollen moderne IT-Anwendungen nicht nur von Google, Apple oder Microsoft
sehen; sie wollen ebenso mit den Verwaltungsbehörden
in Bund, Land und Kommune einfacher, sicherer und
nutzerfreundlich kommunizieren. Dies muss überall in
unserem Land gelten, in der brandenburgischen Gemeinde Putlitz, in der sächsischen Stadt Torgau oder im
Berliner Bezirk Treptow-Köpenick. Wir brauchen eine
zentrale Steuerung von Bundes wegen, um die IT-Verwaltung der Kommunen, Länder und des Bundes zu
bündeln.
Das E-Government-Gesetz, das in der letzten Wahlperiode verabschiedet wurde, hat hierzu einen Anstoß
gegeben. Aber es ist in den Verwaltungen noch viel zu
tun; denn noch heute werden Akten in Behörde A ausgedruckt, per Post zu Behörde B verschickt und dort wieder eingescannt. Das kann man niemandem mehr erklären. Selbstkritisch müssen auch wir uns hier im Haus
fragen, ob das papierlose Büro tatsächlich schon Realität
ist. Ich denke, noch nicht ganz.
Diese und viele andere Punkte zur Digitalisierung der
Verwaltung werde ich gemeinsam mit den Innen- und
Netzpolitikern meiner Fraktion sehr bald in einem eigenen Antrag zum Regierungsprogramm „Digitale Verwaltung 2020“ aufgreifen.
({13})
- Der ist natürlich eingeschlossen, Kollege von Notz.
({14})
Aber es ist gut, dass wir Sie als Erinnerer haben. Sie sind
sozusagen der Kitt zwischen unseren beiden Fraktionen,
wie ich hier sehe.
({15})
Ich komme zum Schluss. Gemeinsam werden wir die
Sicherheit und das Vertrauen im Internet stärken. Wir
werden nutzerfreundliche, sichere und einfachere Kommunikation mit und innerhalb der Verwaltung ausbauen.
Mit unserer Digitalen Agenda werden wir nicht nur beweisen, dass Bill Gates und Ron Sommer falsch lagen,
sondern wir werden mit ihr auch Wachstum und Wohlstand in unserem Land sichern.
Vielen Dank.
({16})
Das Wort hat die Kollegin Saskia Esken für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Endlich,
möchte man sagen, diskutiert dieses Haus ebenso wie
die Öffentlichkeit auf allen Ebenen und Kanälen darüber, wie die Digitalisierung unser privates, unser gesellschaftliches und unser Arbeitsleben verändert und
weiter verändern wird. Da ist die Rede von mehr Teilhabe am politischen Prozess und am Wissen dieser Welt,
aber auch von Überwachung und der verloren gegangenen Balance von Freiheit und Sicherheit ebenso wie von
Data-Mining, also von Geschäftsmodellen, die auf der
Nutzung unserer persönlichen Daten basieren.
Wir wollen uns aber nicht Bange machen lassen und
sprechen auch vom innovativen Staat, von der Modernisierung von Bildung und Wissenschaft, von neuen Mobilitätskonzepten oder von einem zukunftsfähigen Gesundheitssystem. Wir sprechen von der vierten
industriellen Revolution und ihren weitreichenden Potenzialen für unsere Wirtschaft.
Die SPD bringt ihre Erfahrung der vergangenen
151 Jahre in diesen Prozess der Gestaltung von Zukunft
sehr gerne ein. Wir haben schon einmal eine industrielle
Revolution aktiv mitgestaltet. Heute wie damals geht es
nicht nur um neue Produktionsmethoden. Es geht auch
darum, dass soziale Gerechtigkeit, gleiche Teilhabechancen und freiheitliche Bürgerrechte ihren angemessenen
Platz in der digitalen Welt behalten. Sowohl mit unserem
Programmprozess DigitalLEBEN als auch mit der Digitalen Agenda der Koalitionsregierung nehmen wir Sozialdemokraten diese Herausforderung gerne an.
Verkehrsminister Dobrindt hat deutlich gemacht, dass
für gleiche Teilhabe an der digitalen Entwicklung überall
im Land der gezielte Ausbau des schnellen Internets in
ländlichen Regionen eine prioritäre Aufgabe sein muss.
Eine digitale Spaltung des Landes müssen wir verhindern. Gerade für ländliche Regionen ergeben sich mit
der Digitalisierung neue Chancen zur Bewältigung der
demografischen und der strukturellen Herausforderungen.
({0})
Damit alle Menschen in Deutschland kompetent und
souverän an den Errungenschaften der digitalen Welt
teilhaben können, ist aber auch oder sogar zuallererst ein
Weiteres unabdingbar, und das ist die digitale Bildung.
Schulische und außerschulische Bildungseinrichtungen,
die berufliche Aus- und Weiterbildung ebenso wie die
Hochschulbildung und die Institutionen des lebensbegleitenden Lernens müssen sich in ihren Bildungszielen
und in ihren Lehr- und Lernmethoden der Digitalisierung stellen.
Die Digitale Agenda der Bundesregierung hat sich
dazu vorgenommen:
Der Bund wird gemeinsam mit den Ländern und
weiteren Akteuren aus allen Bildungsbereichen
eine Strategie „Digitales Lernen“ entwickeln, die
die Chancen der digitalen Medien für gute Bildung
entschlossen nutzt, weiter entwickelt und umsetzt.
Als Berichterstatterin meiner Fraktion für diesen Bereich
freue ich mich sehr darauf, diesen spannenden Prozess
aktiv zu begleiten.
({1})
Die Bundesebene verfügt aber durchaus auch über eigene Wege und Werkzeuge, um das digitale Lernen in
Deutschland voranzubringen. Dazu gehört die notwendige Weiterentwicklung gesetzlicher Regelungen wie
- dies wurde alles schon angesprochen - das Urheberrecht, die Störerhaftung oder auch eine Open-AccessStrategie. Dazu gehört zweifellos auch die Qualitätsoffensive Lehrerbildung, in deren Rahmen die medienpädagogische Kompetenz von Lehrkräften gefördert
werden kann. Das ist auch nach deren Einschätzung eine
der wichtigsten Grundlagen für die Digitalisierung des
Lernens.
Ein weiteres mögliches Werkzeug des Bundes sehen
wir in der gezielten Förderung und wissenschaftlichen
Begleitung von Plattformen, auf denen freie, offene digitale Lehr- und Lernmaterialien entstehen können, sogenannten Open Educational Resources. Entsprechend der
Koalitionsvereinbarung würde ich mir wünschen, dass
der Bund hier schon sehr bald erste Schritte geht, um
vorhandene, gute Entwicklungen voranzutreiben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine sehr verehrten Damen und Herren, die Gestaltung einer freien und
gerechten, positiven digitalen Zukunft kann dann gelingen, wenn digital souveräne Bürger gleichberechtigt an
ihr teilhaben. Die Strategie „Digitales Lernen“ wählt für
diese Zielsetzung ebenso wie die gesamte digitale
Agenda der Bundesregierung den richtigen Weg: den
Weg eines gemeinsamen, die politischen Ebenen übergreifenden gesamtgesellschaftlichen Projekts.
Vielen Dank.
({2})
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun der Kollege
Dr. Peter Tauber.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Tat: Es
ist eine lebhafte Debatte. Da geht es nicht nur um Krawattenfarben, lieber Kollege von Notz - auch wenn das
ein Punkt in der Debatte ist, der uns beide verbinden
mag -, sondern wir haben schon gehört, dass es auch in
diesem Hause den Versuch gibt, die Legende fortzuschreiben, Bielefeld existiere wirklich.
({0})
Es gibt also viele Anknüpfungspunkte für eine spannende und lebhafte Debatte.
Mir ist ein Punkt zu Beginn sehr wichtig - ältere Kollegen im Hause wie ich,
({1})
die in der letzten Legislaturperiode schon dabei waren,
können das nachvollziehen -: Es wäre in der letzten Legislaturperiode wahrscheinlich nahezu ausgeschlossen
gewesen, dass wir an einem Donnerstag um diese Uhrzeit in Anwesenheit von zwei Bundesministern über digitale Themen reden. Das zeigt - das ist etwas, was uns
als Parlament in Gänze positiv stimmen sollte und was
wir auch gemeinsam nach außen tragen sollten, auch die
Kollegen der Oppositionsfraktionen -, dass die Politik in
Deutschland verstanden hat, welche Weichen wir aktuell
zu stellen haben. Wenn wir sagen: „Wir müssen positiv
über dieses Thema reden“, und wenn wir - ich habe den
Schlagabtausch zwischen dem Bundeswirtschaftsminister und dem Kollegen von Notz mit großem Interesse
verfolgt - erkannt haben, dass Google-Bashing allein
nicht reicht, sondern dass wir uns fragen müssen: „Was
tun wir eigentlich dafür, dass das nächste Google aus
Deutschland oder aus Europa kommt?“, wenn wir das
verstanden haben und wissen, dass diese Debatte einen
positiven Impuls braucht, und wir alle das trotz Meinungsverschiedenheiten nach außen tragen würden,
dann wäre in der Debatte viel gewonnen. Dazu möchte
ich auch die Kollegen aus den Oppositionsfraktionen
animieren. Das, was dieses Parlament mit der Digitalen
Agenda in dieser Legislaturperiode im Vergleich zur
letzten auf den Weg gebracht hat, ist ein echter Paradigmenwechsel; darauf sollte das Parlament in Gänze stolz
sein, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({2})
Wenn wir einmal von der kurzfristigen Entwicklung
absehen und in die langfristige Perspektive wechseln,
dann werden wir feststellen: Es braucht einen langen
Atem. Die Wurzeln des Silicon Valley sind 1951 gelegt
worden mit der Gründung des Stanford Industrial Parks.
Der erste Boom des Silicon Valley, die erste disruptive
Entwicklung, begann bereits in den 70er- und 80er-Jahren; das ist dreißig Jahre her. Wenn wir wollen, dass in
Deutschland und in Europa ähnliche Zentren entstehen
- ob in Karlsruhe oder in Berlin -, dann müssen wir jetzt
Grundlagen legen. Wir können nicht erwarten, dass so
etwas schon morgen Realität wird, sondern wir müssen
in anderen Zyklen denken und nachdenken. Deswegen
ist es wichtig, dass wir in Europa einen gemeinsamen
Datenschutz schaffen, der aber Innovationen fördert und
der nicht angstgetrieben ist, der Neuerungen zulässt, der
Vertrauen schafft in die Fähigkeit von Unternehmen und
in die Kompetenz des Staates. Auch da habe ich ein bisschen die Sorge, dass ein Großteil unserer öffentlichen
Debatte nicht den positiven Geist atmet, dass wir das gestalten können. Wir brauchen einen gemeinsamen Datenschutz in Europa. Wir brauchen eine europaweite Regelung der Netzneutralität,
({3})
bei der wir natürlich sagen: „Wir wollen Diskriminierungsfreiheit“; aber wir müssen doch zugleich Innovationen zulassen. Wir brauchen natürlich auch beim Urheberrecht Regelungen. Das heißt, wir haben eine volle
Tagesordnung. Ich finde, die Digitale Agenda, die die
Bundesregierung hier vorlegt, ist ein starker Aufschlag.
Wir sollten diesen Prozess positiv begleiten.
Wahrscheinlich wird an einem Punkt ganz besonders
deutlich, dass sich etwas fundamental geändert hat - einige Kolleginnen und Kollegen sind in der Debatte
schon darauf eingegangen -: Wir merken diese Veränderung so deutlich wie nie - das ist wahrscheinlich auf
keinem anderen Feld so -, wenn wir über Bildung reden.
Der für mich entscheidende Punkt ist: Wir merken auf
einmal, dass die alte Regel „Die Jungen lernen von den
Alten“ so nicht mehr gilt. Gerade im digitalen Wandel
erleben wir, dass es die Jungen sind, die den Älteren etwas beibringen. Dafür müssen wir offen sein, das müssen wir annehmen.
Es gibt jüngere Menschen, die diese Entwicklung vorantreiben. Die jungen Menschen gründen Unternehmen
und investieren dann, wenn sie erfolgreich waren und
Geld verdient haben, wieder in ihr Unternehmen. Ob jedes Mitglied des DAX-Vorstandes seine E-Mails selber
liest, weiß ich nicht. Aber wenn er das nicht tut, ist die
Frage: Wie will er denn dann verstehen, was in der Wirtschaft gerade geschieht? Da müssen wir anknüpfen und
sagen: Wenn das der Wandel ist, dann müssen wir auch
auf die jungen Menschen setzen und ihnen vertrauen.
Wenn in 20 Jahren der eine oder andere seinen Kindern die Geschichte von Lukas dem Lokomotivführer
vorliest, dann bin ich mir, auch wenn heute die Lokführer streiken, ziemlich sicher,
({4})
dass die Kinder fragen werden: Warum brauchte man
denn damals einen Lokomotivführer? - Diesen Beruf
wird es dann wahrscheinlich nicht mehr geben.
({5})
Das zeigt, vor welchen Veränderungen wir gerade stehen. Weil das ein wunderschönes Buch ist, hoffe ich,
dass es dann immer noch Eltern geben wird, die diese
Geschichte vorlesen. Aber das zeigt auch, dass wir an
einer Schwelle stehen und wie sehr sich unsere Welt
verändern wird.
Diese Entwicklung sollten wir nicht mit Sorge und
Angst begleiten, sondern wir sollten die Chancen sehen.
Wir werden diese Chancen aber nicht meistern, wenn
wir durch unsere Gesetze - ich komme immer wieder
auf den Datenschutz zurück - Regeln schaffen, die zur
Folge haben, dass es bei uns keine Innovationen mehr
geben wird, dass es Geschäftsmodelle und -ideen und
auch Services am Ende gar nicht mehr in Deutschland
und Europa geben wird; denn durch unsere gesetzlichen
Regelungen machen wir sie unmöglich. Ich glaube nicht,
dass es erstrebenswert ist, so ängstlich zu sein. Ich
glaube, wir sollten uns alle gemeinsam ein bisschen
mehr zutrauen. Durch unser Verhalten wird die Grundlage dafür gelegt, ob in Deutschland auf Dauer Wachstum und Beschäftigung gesichert werden können.
Das Ganze ist natürlich ein Wirtschaftsthema, aber es
ist natürlich auch ein gesellschaftspolitisches Thema.
Wir als Parlament spielen nicht nur in der Frage der Regulierung eine entscheidende Rolle, sondern wir spielen
auch eine Rolle in der Frage: Trauen wir diesem Land
eine positive Veränderung zu? Wenn wir bei diesem
Thema permanent negativ reden: Warum soll dann jemand in diese Branche investieren? Warum soll sich ein
junger Schüler kurz vor dem Ende der Schulzeit für ein
Informatikstudium entscheiden, wenn wir die Perspektiven von Big Data schlechtreden? Wenn wir immer
sagen: „Im Internet werden Daten immer nur missbraucht. Diese ganze Technik ist per se etwas Schlechtes“, warum soll sich dann jemand in diesem Feld eine
Zukunft aufbauen? Deswegen ist es unsere Aufgabe,
über Perspektiven und Chancen zu reden und zu sagen:
Wir müssen da etwas tun. Da geht noch etwas, gerade
für uns in Deutschland. Schließlich haben wir viele
junge kluge Köpfe.
({6})
Der Bundesverkehrsminister hat nicht nur während
seiner Rede, sondern auch während der Debatte immer
wieder einmal versonnen gelächelt; vielleicht ist er wirklich verliebt.
({7})
Ich finde, es gibt schlimmere Zustände; es sei ihm gegönnt.
({8})
- Ich weiß nicht, ob das nun für jemanden von den Grünen Anlass für eine Kurzintervention ist, wenn der
Minister euch hier eine öffentliche Liebeserklärung
macht. Das lasse ich einmal so stehen, weil ich nicht für
den Minister sprechen muss, darf oder kann.
({9})
Wenn er verliebt ist, dann ist er wahrscheinlich, so ähnlich wie die ganze Union, in den Erfolg und ins Gelingen
verliebt.
({10})
Ich sage Ihnen: Wir werden die Sache mit dem Breitbandausbau schaffen. Der Minister hat dafür unsere
volle Unterstützung.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Der Kollege Martin Dörmann hat für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In der letzten Legislaturperiode haben viele der heutigen
Rednerinnen und Redner in der Enquete-Kommission
„Internet und digitale Gesellschaft“ zusammengesessen.
Ich glaube, für uns alle war das ein Lernprozess, als wir
dort angefangen haben, kontrovers zu diskutieren. Wir
haben aber im Lauf der Zeit gesehen: Die Dinge sind
komplex. Man kann auch zwei Meinungen gelten lassen.
Dann muss am Ende mit demokratischer Mehrheit entschieden werden, was der richtige Weg ist.
({0})
Ich glaube, wir alle sollten uns eingestehen, dass nicht
alle von uns direkt die perfekte Lösung für alles haben.
Denn ich glaube, wir müssen verstehen, dass die Digitalisierung eine so weitreichende Ausstrahlungskraft auf
die Gesellschaft, auf Veränderungen hat, dass wir nicht
heute auf Knopfdruck für alles eine Lösung finden. Deshalb bin ich ein wenig enttäuscht, dass diese Differenziertheit, die wir in der letzten Wahlperiode ein Stück
weit hatten, in der Debatte verloren gegangen ist,
({1})
weil die Opposition an vielen Stellen suggeriert hat: Jetzt
legt ihr ein Konzept vor, aber morgen ist noch nicht alles
gelöst.
Entscheidend ist doch, ob wir den richtigen Weg beschreiben, und der steht. Ich will das noch einmal an
zwei Punkten deutlich machen. Zunächst eine Bemerkung an Frau Kollegin Dr. Sitte, weil Sie mich auch persönlich angesprochen haben: Wir stimmen völlig darin
überein, dass die Digitalisierung auch Auswirkungen auf
die Arbeitswelt der Kreativen und Künstler hat. Ich
glaube, die Zielsetzung ist klar: Wir müssen sie unterstützen, wir müssen dafür sorgen, dass sie von ihrer
Arbeit auch leben können. Da spielt das Urheberrecht
eine wichtige Rolle. Sie haben das Thema Künstlersozialkasse genannt. Dazu will ich aber sagen: Auch da
haben Sie suggeriert, wir hätten nichts getan. Fakt ist,
dass wir vor der Sommerpause ein Gesetz zur Stabilisierung dieser Künstlersozialkasse verabschiedet haben,
({2})
und das tritt am 1. Januar 2015 in Kraft. Das einfach zu
negieren, ist nicht richtig.
Zweites Thema: Breitbandausbau. Wir sind uns doch
alle einig darüber, dass das eine riesige Aufgabe ist.
({3})
Ich hätte zumindest einmal erwartet, dass berücksichtigt
wird, welchen Quantensprung die Koalition hier vorhat.
({4})
Wir wollen nämlich 50 Megabit für alle erreichen. Wir
haben heute einen Ausbaustand von 63 Prozent. Wenn
man innerhalb von wenigen Jahren auf 100 Prozent
kommen will, dann ist das ein Quantensprung. Uns allen
ist bewusst, dass das nicht Peanuts sind, über die wir reden.
({5})
Wir brauchen einen Mix.
Herr Kollege!
Ich will daran erinnern, dass die Koalition in der letzten Woche einen sehr umfangreichen Antrag verabschiedet hat, unser Breitbandkonzept mit vielen Bausteinen.
Und: Ja, dazu gehört auch Geld.
({0})
Kollege Dörmann, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Rößner?
Ja, gerne, Revanche ist immer gut, bitte.
({0})
Das ist nicht als Revanche gedacht, aber, lieber Kollege Dörmann, wir haben in unserer Enquete-Kommission sehr konkrete Handlungsempfehlungen gegeben. Es
ist jetzt nicht so, dass wir auf alles eine Antwort hatten,
da gebe ich Ihnen recht. Es gibt sicherlich einige Fragen,
die noch nicht geklärt sind. Das Urheberrecht zum Beispiel ist in vielen Facetten ein schwieriges Thema. Aber
es gibt trotzdem sehr konkrete Handlungsempfehlungen,
und die packen Sie jetzt nicht an. Sind Sie nicht auch der
Auffassung, dass, wenn man sagt, man will tatsächlich
einen Quantensprung hinbekommen, was den Breitbandausbau angeht, man möchte wirklich 2018 diese
50 Megabit erreichen, und eine Finanzierungslücke da
ist, die ganz offensichtlich mit der Versteigerung der Frequenzen nicht geschlossen wird, es dann bedeuten muss,
dass der politische Wille da sein muss, Geld zur Verfügung zu stellen und Förderprogramme aufzulegen? - Da
sehe ich von Ihnen leider keine Anstrengung. Das müssen Sie mir einmal erklären.
({0})
Liebe Kollegin Rößner, das ist jetzt wirklich nicht abgesprochen gewesen, aber ich bin sehr dankbar für diese
Zwischenfrage, weil ich sonst mit meiner Zeit nicht ausgekommen wäre.
({0})
Was zum einen die Vorschläge der Enquete-Kommission angeht, will ich daran erinnern, dass das ein Prozess
über mehrere Jahre war. Sie können nicht erwarten, dass
innerhalb von einem halben Jahr - denn seit dem Koalitionsvertrag ist ein gutes halbes Jahr vergangen - alle
Gesetzentwürfe schon vorliegen. Aber wir sind auf dem
Weg. Sie wissen ganz genau: Die Digitale Agenda, über
die wir heute sprechen, hat so viele Facetten und einen
Rahmen dargestellt, dass wir ganz schön zu tun haben
werden, das rein arbeitstechnisch überhaupt in dieser
Legislaturperiode umsetzen zu können. Aber das machen wir.
Zweiter Punkt: Finanzierung des Breitbandausbaus.
Wir wollen einmal abwarten, was nächstes Jahr dann
versteigert wird; denn die Versteigerung hat eine Besonderheit: Wir wissen noch nicht genau, was herauskommt. Aber ich will daran erinnern, dass es Mindestbeträge gib, und es gibt insgesamt ein Frequenzpaket.
Die Gesamtsumme des Frequenzpaketes, wenn man alle
Frequenzen zusammennimmt, die nächstes Jahr dort
versteigert werden, liegt - ohne dass es da zu einem
Bieterverhalten kommt - bei 1,5 Milliarden Euro. Der
größte Teil davon ist übrigens dann nur für den Bund.
Wenn es aber zu einer Versteigerung kommt, kann
für den Bereich, für den eine Mindestsumme von
450 Millionen Euro eingetragen wurde, nämlich die 700Megahertz-Frequenzen, durchaus ein Mehrfaches
herauskommen. Die Bundesnetzagentur wird eine
Frequenzknappheit feststellen. Das führt dann automatisch zu einer Versteigerung. Wir alle wissen nicht, was
dabei herauskommt.
Ich gebe Ihnen aber recht, dass wir uns nicht nur davon abhängig machen können, was am Ende herauskommt, sondern dass sich die Koalition darauf verständigen muss, dass wir in jedem Fall einen substanziellen
Beitrag des Bundeshaushaltes dort einsetzen. Darin sind
wir uns, glaube ich, in der Koalition auch einig. So habe
ich die Debatte in unserem Ausschuss verstanden.
({1})
Warten Sie doch erst einmal ab, was wir dann zusammen
hinbekommen! Denn wie Sie wissen, müssen wir dazu
noch mit den Ländern zusammenkommen. Aber dabei
sind wir auf einem guten Weg.
({2})
Ich kann an dieser Stelle, um die Zwischenfrage nicht
zu sehr zu strapazieren, auch gleich weitermachen. Denn
in der Tat: Worin liegt das Hauptproblem beim Breitbandausbau? Das ist die Wirtschaftlichkeitslücke vor
allem bei den letzten 20 Prozent der Fläche, die derzeit
nicht wirtschaftlich geschlossen werden kann. Dabei
geht es übrigens nicht nur um öffentliches Geld, sondern
es geht in erster Linie auch um privates Geld, das dort
investiert werden soll. Denn für 1 Milliarde Euro öffentliche Mittel könnten wir 3 Milliarden Euro private Investitionen generieren. Je höher dieser Betrag ist, desto
besser ist es also. Gerade angesichts der konjunkturellen
Unwägbarkeiten der nächsten Jahre - wir wissen noch
nicht genau, in welche Richtung sich das entwickelt wäre das ein super Konjunkturprogramm.
Wenn wir es hinbekommen, das, was an privaten
Investitionen angekündigt ist - 8 Milliarden Euro 2015
laut Netzallianz Digitales Deutschland -, und das, was
darüber hinaus noch notwendig ist, um unser Ziel, die digitale Spaltung in Deutschland zu überwinden, zu erreichen, dann wird eine hohe zweistellige Milliardensumme zusammenkommen. Diese muss übrigens auch
erst einmal sozusagen verbuddelt werden. Das geschieht
schließlich nicht auf Knopfdruck.
Insofern glaube ich, dass die Ziele der Bundesregierung bzw. der Koalition an dieser Stelle durchaus einen
realistischen Hintergrund haben. Ich würde mich freuen,
wenn alle Kolleginnen und Kollegen daran mitwirken,
dass wir zu einer Einigung mit den Ländern kommen
und die Themen DVB-T2, drahtlose Produktionsmittel
und Mikrofone gelöst bekommen. Wir sind auf dem Weg
dahin.
Am 12. Dezember soll es bei einem Treffen der
Bundeskanzlerin mit den Ministerpräsidenten zu einem
Beschluss kommen. Wir arbeiten daran, dass das gelingt.
Dann ist auch der Weg bereitet, den Breitbandausbau
entscheidend nach vorne zu bringen. Nicht zuletzt hat
diese Bundesregierung die digitale Infrastruktur als erstes Maßnahmenpaket in ihrer Digitalen Agenda benannt.
Wir sollten alles daransetzen, dass das umgesetzt wird.
Denn das ist die wirkliche Grundlage dafür, dass die
Digitalisierung umgesetzt werden kann und ein Gewinn
für die Gesellschaft wird.
Vielen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/2390 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Der Antrag auf Drucksache 18/2880 soll an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen
werden. Die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD wünschen Federführung
beim Ausschuss für Wirtschaft und Energie. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Federführung
beim Ausschuss Digitale Agenda.
Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, also
Federführung beim Ausschuss Digitale Agenda. Wer
stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.
Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD, also
Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Energie. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen der CDU/CSUFraktion und der SPD-Fraktion gegen die Fraktion Die
Linke und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Beate Müller-Gemmeke, Kerstin Andreae,
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Solidarität im Rahmen der Tarifpluralität
ermöglichen - Tarifeinheit nicht gesetzlich
regeln
Drucksache 18/2875
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Beate Müller-Gemmeke für die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Heute ist genau der richtige Tag, um
endlich über die geplante gesetzliche Tarifeinheit zu diskutieren. Es geht dabei immerhin um ein Grundrecht;
denn „jedermann und jeder Beruf“ hat das Recht, sich in
Gewerkschaften zu organisieren und über Tarifverträge
zu verhandeln. Das bedeutet nichts anderes als Tarifpluralität. Von daher geht es heute trotz Streik nicht um
GDL und auch nicht um Cockpit, sondern um die Koalitionsfreiheit und die Tarifpluralität, und die gehören zu
den Grundprinzipien unserer Demokratie.
({0})
Die Tarifpolitik aber lebt selbstverständlich von
Solidarität innerhalb und zwischen den Gewerkschaften.
Im Rahmen der Tarifpluralität erwarten wir also Kooperationen. Nur solidarisch, nur gemeinsam können die
Gewerkschaften alle Beschäftigten angemessen vertreten. Diese Solidarität wird aber gerade beeinträchtigt.
Schuld daran sind weder das BAG-Urteil noch die Tarifpluralität. Schuld daran ist die seit vier Jahren andauernde unsägliche Diskussion über eine gesetzliche Tarifeinheit. Wenn sich die Politik einmischt und anfängt,
zwischen erwünschten und nicht erwünschten Gewerkschaften zu unterscheiden, und ein Gesetz in Aussicht
stellt, das elementar die Existenzberechtigung von Gewerkschaften infrage stellt, dann müssen sich die Arbeitgeber nicht ernsthaft auf Tarifverhandlungen einlassen.
Vor allem befeuert das zwangsläufig die Konkurrenz
zwischen den Gewerkschaften; denn es geht immerhin
um ihre Existenz. Deshalb fordern wir heute: Beenden
Sie endlich die Diskussion über die gesetzliche Tarifeinheit! Denn Solidarität lässt sich nicht verordnen und
schon gar nicht gesetzlich erzwingen.
({1})
Die gesetzliche Tarifeinheit ist auch nicht notwendig.
Nach dem BAG-Urteil im Jahr 2010 wurden Krisen,
Chaos und englische Verhältnisse vorausgesagt. Heute,
vier Jahre später, ist aber klar: Eine Flut von Arbeitskämpfen ist definitiv ausgeblieben. Nehmen Sie das endlich zur Kenntnis!
({2})
Weder sind neue streikfähige Gewerkschaften entstanden, noch hat die Zahl der Arbeitskämpfe zugenommen.
Seit 2010 waren alle relevanten Berufsgewerkschaften
zusammen gerade einmal in 29 Tarifkonflikte verwickelt. Zum Vergleich: Bei Verdi waren es rund 600 und
bei der NGG rund 110 Arbeitskämpfe. Auch wenn GDL
und Cockpit bei den aktuellen Tarifverhandlungen streiken, gilt mit Blick auf die gesamten letzten Jahre dennoch: Ein Streikchaos sieht anders aus.
({3})
Die gesetzliche Tarifeinheit ist wahrlich auch kein
„Wünsch dir was“-Thema, um Arbeitgeber zu beglücken; denn die gesetzliche Tarifeinheit ist ein Eingriff in
die verfassungsrechtlich garantierte Koalitionsfreiheit.
Und das lehnen wir strikt ab.
({4})
So warnt beispielsweise der ehemalige Innenminister
Gerhart Baum - seine Kanzlei hat immerhin vier Verfassungsbeschwerden durchgefochten -:
Der Gesetzgeber sollte das Vorhaben der Tarifeinheit aufgeben, wenn er keinen verfassungsrechtlichen Schiffbruch erleiden will.
Sie von den Regierungsfraktionen sollten endlich die
Einschätzungen namhafter Rechtsexperten ernst nehmen.
({5})
Auch die Umsetzung wirft eine Menge Fragen auf:
Wie wird „Betrieb“ definiert? Kann der Arbeitgeber zukünftig Einfluss darauf nehmen, welche Gewerkschaft
die Mehrheit im Betrieb hat? Wenn ja, dann wäre das
fatal. Wie wird die Zahl der Mitglieder ermittelt, und
was passiert bei gleichen oder wechselnden Mehrheitsverhältnissen? Wie kann überhaupt noch ein Flächentarifvertrag ausgehandelt werden? Und ganz wichtig:
Wie sieht es eigentlich mit dem Streikrecht aus?
Für uns ist und bleibt die gesetzliche Tarifeinheit ein
Angriff auf das Streikrecht. Und das ist nicht akzeptabel.
({6})
Die Bundesregierung will diese Frage aber im Gesetz
nicht regeln. Das führt in der Konsequenz zu unzähligen
Gerichtsverfahren. Sie wissen aber - das gilt insbesondere für die SPD -: Das Bundesarbeitsgericht fordert für
jeden Streik ein „tariflich regelbares Ziel“. Minderheitengewerkschaften können dann also nicht mehr legal
zum Streik aufrufen. Das Thema ist elementar wichtig.
Sie müssen hier endlich Farbe bekennen - insbesondere
die SPD!
All das spricht insgesamt gegen eine gesetzliche
Tarifeinheit. Wir Grünen setzen auf Solidarität und
Kooperationen zwischen den Gewerkschaften. Das
funktioniert aber nicht per Gesetz, sondern nur freiwillig, und das ist nicht Aufgabe der Politik, sondern Aufgabe der Gewerkschaften.
Sehr geehrte Mitglieder der Regierungsfraktionen,
zum Schluss noch ein anderer Aspekt, der mich wirklich
ärgert. Die Ministerin behauptet, die Spartengewerkschaften legen „die Axt an die Wurzeln der Tarifautonomie“.
({7})
Auch die Arbeitgeber sagen, die Berufsgewerkschaften
würden das sorgfältig austarierte Tarifgefüge aus der
Balance bringen. Letzteres kann ich nur als scheinheilig
bezeichnen. Tarifflucht, also Mitgliedschaft ohne Tarifbindung, Ausgliederungen, Leiharbeit, Werkverträge
und auch das Aufweichen von Flächentarifverträgen das sind die Gründe für die Zersplitterung der Tariflandschaft. Nicht die Tarifpluralität, sondern diese jahrelange
Praxis der Arbeitgeber ist ein Angriff auf die Tarifautonomie. Die logische Konsequenz ist nicht die Einführung einer gesetzlichen Tarifeinheit, sondern sind soziale
Leitplanken in der Arbeitswelt. Nur so wird die Tarifautonomie tatsächlich gestärkt.
Vielen Dank.
({8})
Für die CDU/CSU hat der Kollege Karl Schiewerling
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich will versuchen, den Rahmen zu setzen, um den es eigentlich in dieser Debatte
geht. Anlass der aktuellen Diskussion, die wir jetzt erleben, ist eine vor vielen Jahren durchgeführte Klage eines
Arztes aus einem Krankenhaus, der weiterhin gerne nach
BAT bezahlt worden wäre, während das Krankenhaus
sagte: Nein, alle Beschäftigten unterstehen jetzt dem
TVöD. Mit Verdi haben wir den Tarifvertrag vereinbart. Normalerweise gelte für ihn jedoch - so war die
Meinung des Arztes - der Tarifvertrag, der für den
Marburger Bund gilt. Das war der Anlass, warum das
Bundesarbeitsgericht im Vierten und Zehnten Senat die
über 50-jährige Rechtsprechung aufgegeben und damit
dem bis dahin gültigen Grundsatz der Tarifeinheit ein
Ende gesetzt hat.
Die Grundlage dieser Tarifeinheit ist übrigens - das
ist spannend - 1954 gelegt worden, und zwar durch den
damaligen ersten Präsidenten des Bundesarbeitsgerichts,
der in einer Lehraussage - apodiktisch, mit nur einem
Satz - gesagt hat: In einem Betrieb gilt ein Tarifvertrag.
- Er hat das anschließend nur ganz vorsichtig begründet.
Auf diesen Satz hat sich 56 Jahre lang die komplette
Arbeitsgerichtsbarkeit in Deutschland berufen. Sie hat
danach ihre Urteile zum Beispiel über die Verhältnismäßigkeit von Streiks usw. gefällt. Das ist im Jahr 2010
beendet worden. Deswegen diskutieren wir die Frage der
Tarifeinheit; denn wir stehen natürlich vor der Frage,
welche Auswirkungen es haben wird, wenn die Rechtsprechung, die 56 Jahre lang gegolten hat, jetzt plötzlich
nicht mehr gilt.
Meine Damen und Herren, uns ist wichtig, bei diesem
Punkt einige Dinge sachlich auseinanderzuhalten.
({0})
Die Tarifautonomie und das Recht von Menschen,
Gewerkschaften zu bilden, ist in Artikel 9 Absatz 3 der
Verfassung geregelt. Es ist ein ganz hohes Rechtsgut,
dass sich Menschen zusammenschließen können, um
ihre Interessen zu vertreten, auch wenn es um wirtschaftliche Interessen - sprich: Berufsgewerkschaften - geht.
Das ist das eine.
Auf der anderen Seite gibt es aber etwas, was nicht
gesetzlich festgeschrieben ist, was sich aber in der
Unternehmenskultur in Deutschland eingebürgert und
was uns zu hohem Wohlstand geführt hat, nämlich der
Betriebsfrieden. Das hat dazu geführt, dass Deutschland
bis heute weltweit eines der Länder ist, in denen am
wenigsten gestreikt wird. Es geht jetzt darum, nach dem
Urteil des Bundesarbeitsgerichtes zu überprüfen, wie
man sich denn zwischen diesen beiden Polen, dem Artikel 9 Absatz 3 der Verfassung und dem guten Brauch
des Betriebsfriedens, auf eine Lösung verständigen
kann.
Wir wissen auch, dass sich die Tarifkonkurrenz von
Branchen- und Spartengewerkschaften gegenseitig aufschaukeln kann.
({1})
Wir wissen darüber hinaus, dass ein Überbietungswettbewerb stattfinden kann. Das erleben wir zurzeit bei einigen Arbeitgebern. Ein solcher Wettbewerb könnte
auch auf eine betriebliche Lohnpolitik und letztendlich
auf Machtpositionen von Berufsgruppen Auswirkungen
haben. Darunter leiden nicht nur Unternehmen, sondern
es könnte auch dazu kommen, dass gesamtgesellschaftliches Konfliktpotenzial entsteht.
Ich sage allerdings an dieser Stelle sehr deutlich, weil
es dazu einen aktuellen Bezug gibt: Entgegen dem, was
die Überschriften einiger Tageszeitungen vermuten
lassen, bedeuten die Konflikte bei der Bahn und im
Luftverkehr, die wir derzeit erleben, nicht, dass bestimmte Gewerkschaften unsere gesamte Volkswirtschaft im Griff haben oder diese gar am Ende ist. Das,
was geschieht, ist ärgerlich für die, die mit dem Flieger
oder mit der Bahn unterwegs sind; aber es bedeutet noch
nicht das Ende der Prosperität unserer Wirtschaft.
({2})
Meine Damen und Herren, wie könnten diese Probleme gelöst werden? Wenn Artikel 9 Absatz 3 des
Grundgesetzes die verfassungsmäßige Grundlage für die
Bildung einer Vereinigung darstellt, dann heißt das: Eine
Gewerkschaft ist nur dann eine Gewerkschaft, wenn sie
auch streiken kann.
({3})
Wenn sie das nicht kann, kann sie nicht wirken. Insofern
liegt hier die natürliche Grenze für Regelungen.
({4})
Wir müssen nach unserer festen Überzeugung eine
gesetzliche Regelung auf den Weg bringen, die, nachdem der Grundsatz der Tarifeinheit weggefallen ist,
Stufen enthält und wodurch letztendlich die Konsensfindung in einem Betrieb oder in einer Branche mit
unterschiedlichen Gewerkschaften, aber mit gleichen
Zielgruppen geregelt wird. Diese Stufen müssen so ausgestaltet sein, dass man am Ende möglichst zu einem
von allen Seiten akzeptierten Tarifvertrag kommt. Wenn
ich sage „möglichst“, heißt das, dass es bei dem Ganzen
am Ende dazu kommen kann - das wissen wir auch -,
dass es keinen Konsens gibt; denn man kann einer Gewerkschaft letztendlich nicht verbieten, zu streiken.
({5})
Aber jede Gewerkschaft, auch eine kleine Gewerkschaft - selbst wenn sie nur sechs Mitglieder der Berufsfeuerwehr in einem kleinen Betrieb repräsentiert -, muss
sich dann überlegen, ob ihr Streik verhältnismäßig ist.
Wenn nämlich ein Gericht feststellt, dass er nicht verhältnismäßig ist, kann es für diese sechs Mitglieder der
Berufsfeuerwehr oder für die entsprechende Gewerkschaft teuer werden, weil sie dann auf Schadensersatz
verklagt werden kann. Deswegen wäre zu überlegen, inwieweit in einem solchen Gesetz wenigstens der eine
oder andere Stichpunkt zur Verhältnismäßigkeit von
Streiks mit aufgenommen werden könnte - ein Punkt,
über den man zumindest nachdenken sollte.
Meine Damen und Herren, auch uns in der Union geht
es um das hohe Gut der Tarifautonomie. Wir haben sie
nicht umsonst im ersten halben Jahr dieses Jahres, als
wir über die Mindestlohngesetzgebung und die Tarifgesetzgebung diskutiert haben, immer wieder in den
Mittelpunkt gestellt. Es geht auch um das Grundrecht
unserer Gesellschaft, sich frei zusammenzutun und gemeinsam Interessen zu vertreten.
Es geht aber auch um die Frage der Tarifverträge
selbst. Unter jedem Tarifvertrag stehen zwei Unterschriften, nämlich die des Arbeitgebers und die der
Arbeitnehmervertretung, der Gewerkschaften. Kein Arbeitgeber ist gezwungen, mit einer Gewerkschaft, die
nur 60 Mitglieder hat, einen Tarifvertrag abzuschließen.
({6})
Kein Arbeitgeber darf sich eigentlich hinterher beklagen, wenn er, nachdem er ganz viele Tarifverträge abgeschlossen hat, weil in seinem Unternehmen so viele Interessensgruppen vertreten sind ({7})
das ist zum Beispiel bei der Lufthansa, bei Fraport oder
anderswo der Fall -, in Bedrängnis gerät, weil eine der
Gewerkschaften anfängt zu streiken.
Ein weiterer Punkt ist mir in diesem Zusammenhang
wichtig: Augenmaß bewahren.
({8})
Jede Gewerkschaft weiß, dass ein Streik, der von der
übrigen Belegschaft nicht akzeptiert ist oder gesellschaftlich nicht mitgetragen wird, nicht von langer
Dauer sein wird;
({9})
einen solchen Streik hält eine Gewerkschaft politisch
nämlich nicht durch.
Deswegen rate ich uns dazu, zwar ein Gesetz auf den
Weg zu bringen, in dem einzelne Schritte treppenförmig
und vielleicht noch der eine oder andere Punkt geregelt
sind, aber bitte nicht zu erwarten, dass dieses Gesetz das
Wunder bewirkt, alle Probleme, die sich aus einer tariflichen Auseinandersetzung ergeben, abschließend zu
lösen. Wir werden auch in Zukunft auf entsprechende
Urteile der Gerichte angewiesen sein. Dazu gehört eben
auch die Klärung der Frage der Verhältnismäßigkeit
bzw. der Verantwortung für den Betrieb und für den Betriebsfrieden. Wir werden uns bei der anstehenden Gesetzesmaßnahme an diese Leitlinien halten.
Ich bin ganz sicher, dass die derzeit laufenden Gespräche der Bundesarbeitsministerin im Auftrag der
Bundesregierung - solche Gespräche führt sie zurzeit
auch mit den Gewerkschaften - auch die Früchte tragen
werden, die nötig sind, um ein Gesetz vorzulegen, das
dann in allen Bereichen konsensfähig ist.
Herzlichen Dank.
({10})
Kollege Schiewerling, nicht nur deshalb, weil Sie
noch Redezeit haben, sondern vor allen Dingen deshalb,
weil die Kollegin Müller-Gemmeke sich gemeldet hat,
frage ich Sie: Sind Sie bereit, noch auf eine Frage oder
Bemerkung der Kollegin einzugehen?
Ja. - Soll ich noch mal ans Rednerpult?
Ja.
Das ist eine Premiere! Das habe ich auch noch nicht
erlebt! Es gibt Leute, die kriegen zweimal Redezeit!
Vielen Dank, Frau Präsidentin. Vielen Dank, Herr
Kollege. - Das hat sich ja alles sehr moderat angehört.
Sie sprechen von Schritten, Treppen usw. Ich möchte
noch einmal ganz konkret nachfragen: Wird das Gesetz
denn die Regelung enthalten, dass am Ende die Gewerkschaft, die die meisten Mitglieder hat, tatsächlich den
Tarifvertrag abschließen kann und ein Tarifvertrag mit
einer Gewerkschaft, die weniger Mitglieder hat, keine
Anwendung findet? Ist das konkret geplant? Das würde
ja zum Teil bedeuten, dass selbst Gewerkschaften, die einen extrem hohen Organisationsgrad haben, beispielsweise 80 Prozent, am Ende doch nicht den Tarifvertrag
abschließen könnten.
Ich bleibe bei der Aussage, die ich vorhin getroffen
habe: Wir werden am Ende kein verfassungskonformes
Gesetz hinbekommen, das einer Gewerkschaft den
Streik verbieten wird.
({0})
Wir werden das nicht hinbekommen; das wissen wir
auch.
Wenn Sie mich fragen, wie das Gesetz aussieht, fragen Sie mich zu viel. Es liegt noch nicht vor. Wir haben
es noch nicht einmal erörtert. Wir sind ganz gespannt,
wie das Gesetz, das man uns vorlegen wird, aussehen
wird. Wenn es vorliegt, werden wir es gemeinsam mit
Ihnen gut beraten. Ich bin ziemlich sicher, dass wir zu einer vernünftigen Lösung kommen werden.
({1})
Der Kollege Klaus Ernst hat für die Fraktion Die
Linke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Schiewerling, das war sehr schön gesagt,
auch der Schluss. Darauf, wie Sie das dann hinkriegen
wollen, bin ich gespannt; ich komme gleich noch darauf
zurück.
Meine Damen und Herren, wenn man hierzulande
über das Streikrecht redet oder wenn man die mediale
Berichterstattung darüber verfolgt, auch jetzt wieder,
dann hat man den Eindruck, man habe es mit einer
Naturkatastrophe zu tun, die nur noch von Tsunamis
oder Hochwasser übertroffen wird. Ich möchte es noch
einmal in aller Klarheit darstellen: Streik ist ein Grundrecht. - Das ist auch sehr schön gesagt worden.
Ein Blick in die Realität zeigt auch, dass in dieser Republik keineswegs zu viel gestreikt wird. Die Statistiken
sind Ihnen doch auch zugänglich. Es gibt nur zwei Länder, in denen noch weniger gestreikt wird als hier, und
das sind die Schweiz und der Staat Vatikanstadt.
({0})
Wir hätten also überhaupt keinen Grund, uns über die
Streikhäufigkeit als Problem für unsere Ökonomie ernsthaft zu unterhalten, aber wir tun es.
Meine Damen und Herren, selbstverständlich werden
immer die Gewerkschaften für Streiks verantwortlich
gemacht. Warum eigentlich? Wer die betriebliche Realität kennt, der weiß, dass viel passieren muss, bevor ein
Arbeitnehmer in Deutschland wirklich einmal streikt.
Die Zahl der Streiktage beweist das auch. Das heißt,
wenn ein Streik stattfindet, hat es vorher im Betrieb gekracht. Da hat ein Unternehmen einen großen Konflikt
mit der Belegschaft. Der Konflikt kann um Löhne gehen,
er kann um die Absenkung von Standards gehen - wie
bei den Piloten - oder um Ähnliches. Aber in der Öffentlichkeit werden immer die Gewerkschaften für Streiks
verantwortlich gemacht - Sie machen das auch -; das
sind dann die Bösen.
Mir kommt das so vor wie bei einem Brand. Bei einem Brand kommt die Feuerwehr; das Haus wird nass
und unbewohnbar. Da sagt doch keiner, die Feuerwehr
sei schuld. Schuld ist vielmehr derjenige, der vorher gezündelt hat, hier vielleicht der Arbeitgeber, meine Damen und Herren. Insofern bitte ich um eine faire Betrachtung dessen, was Streik eigentlich ist.
({1})
Die Arbeitgeber sind bei Streiks im Übrigen immer in
der besseren Situation: Sie müssen nicht streiken, um
das zu kriegen, was sie wollen; sie haben es schon. Die
Arbeitnehmer sind immer in der dummen Situation, dass
sie den Arbeitgebern ein Stück weit das wieder nehmen
müssen, was diese ihnen freiwillig nicht geben. Deshalb
beim Streik und bei der Betrachtung desselben ein wenig
Vorsicht!
Erst diskutieren wir, dass man die Tarifautonomie
stärken muss. Beim Thema Mindestlohn hat das eine
große Rolle gespielt. Jetzt diskutieren wir aber plötzlich
ganz etwas anderes; wir diskutieren über die Einschränkung des Streikrechts. Meine Damen und Herren, ich
war erschüttert über die Aussage von Frau Nahles im
Zusammenhang mit Streiks von Spartengewerkschaften.
Da sagte sie - Zitat -:
Das untergräbt den Zusammenhalt in unserem
Land, und es legt die Axt an die Wurzeln der Tarifautonomie.
Was ist denn das für ein Unfug: „Wenn einer streikt, gefährdet er die Tarifautonomie“?
({2})
Die Tarifautonomie ist geschützt. Sie wird durch einen
Streik angewendet. Ich glaube, die Frau Nahles hat von
Streiks wirklich null Ahnung; ansonsten kann man so einen Unfug nicht erzählen.
({3})
Meine Damen und Herren, jetzt sagen Sie - ich kann
ja auch lesen - Folgendes: Das Streikrecht wird nicht
eingeschränkt, sondern es wird geregelt, dass nur der Tarifvertrag der größeren Gewerkschaft wirkt. Sie wissen
aber selber, dass es rechtlich so ist, dass nur gestreikt
werden darf, um einen Tarifvertrag zu erreichen. Wenn
Sie das so regeln, bedeutet das im Ergebnis, dass Sie den
Streik faktisch aushebeln. In der Antwort auf unsere
Kleine Anfrage haben Sie das folgendermaßen formuliert:
Das Recht, durch Arbeitskampfmaßnahmen den
Abschluss eines Tarifvertrags zu erzwingen, ist von
der Frage zu trennen, ob ein Tarifvertrag angewendet wird.
Respekt! Das wäre genauso, als wenn man sagen würde:
Das Recht, vom Zehnmeterbrett in das Becken zu springen, ist von der Frage zu trennen, ob Wasser im Becken
ist.
({4})
Für wie blöd halten Sie eigentlich die Menschen in diesem Lande, meine Damen und Herren? Streikrecht ist
ein Grundrecht!
Abschließend sage ich: Wenn Sie sich über die Zersplitterung von Tariflandschaften ernsthaft Gedanken
machen wollen, dann sollten Sie sich mit Leiharbeit, Befristung und Werkverträgen beschäftigen.
({5})
Es gibt eine große Zahl von Menschen, die in den gleichen Betrieben teilweise vollkommen andere Tarifverträge haben. Ich habe noch nie - auch nicht während Ihrer Regierungszeit - eine Initiative erlebt, mit der
gefordert worden wäre, dass man das, bitte schön, wieder einheitlich regeln müsse. Jetzt, wo sich einige wehren und sich nicht mehr gefallen lassen, dass sie von der
wirtschaftlichen Entwicklung abgehängt werden, haben
wir hier das große Geschrei.
Ich sage nur: Hände weg vom Streikrecht, meine Damen und Herren!
({6})
Der Kollege Bernd Rützel hat für die SPD-Fraktion
das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden
heute über den Antrag der Grünen, in dem sie fordern,
dass keine Regelung für den Fall angestrebt werden
solle, dass in einem Betrieb mehrere Tarifverträge für
dieselben Arbeitsverhältnisse gelten. Stattdessen soll die
jetzige Situation unverändert fortbestehen, dass nämlich
diejenigen, die Schlüsselpositionen im Betrieb besetzen,
ihre eigenen Interessen durchsetzen können.
Es gibt jedoch Budgetgrenzen. Oder anders ausgedrückt: Der Kuchen kann nur einmal verteilt werden.
Die Durchsetzung von Partikularinteressen einer Sparte
durch Streik wirkt sich, was den Verteilungsspielraum
angeht, gegen alle anderen Beschäftigten im Betrieb aus.
Das, lieber Kollege Klaus Ernst, entspricht dem, was
Andrea Nahles gesagt hat, dass nämlich die Solidarität
auf der Strecke bleibt. Schon lange Zeit vorher hat schon
der Apostel Paulus sinngemäß gesagt: Starke Schultern
tragen mehr.
({0})
Ich sage hier keinesfalls - es ist mir wichtig, das zu
betonen -, dass die Tarifforderungen mancher Spartengewerkschaften überzogen sind. Das liegt mir fern. Mit
Sicherheit haben sie ihre Berechtigung. Das ist Sache
der Tarifpartner. Ich sage aber schon, dass ein Zug nicht
nur deshalb fährt, weil ein Lokführer vorne sitzt, und
dass ein Flugzeug nicht nur deshalb fliegt, weil Piloten
darin sitzen.
({1})
- Ohne geht es auch nicht! Ohne Pilot fliegt kein Flugzeug, ohne Lokführer fährt kein Zug, und ohne Chirurg
gelingt auch keine Operation. Wir brauchen aber auch
die Krankenschwester, wir brauchen den Rangierer, wir
brauchen den Wagenmeister, wir brauchen den Narkosearzt und die Assistentin sowie Bodenpersonal wie zum
Beispiel den Flugzeugbetanker. Es geht doch um ein
großes Getriebe. Es gibt viele Zahnräder bzw. Menschen, die da mitarbeiten. Alle sind wichtig: jeder in seiner Bedeutung und auf seinem Platz. Und nur, wenn alle
zusammenarbeiten, funktionieren die Schweizer Uhr
oder die Bahn oder das Krankenhaus oder die Luftfahrt.
({2})
Diese innerbetrieblichen Verteilungskämpfe gefährden - darüber haben wir heute auch gesprochen - den
Betriebsfrieden. Er ist gefährdet, wenn sich diese Diskussionen in die Tarifverhandlungen hineinverlagern.
Kollege Karl Schiewerling hat es schön erklärt, warum
uns diese Tarifeinheit über sechs Jahrzehnte hinweg in
Deutschland zu Wohlstand verholfen hat. Es war ständige Rechtsprechung. Wir haben uns darauf verlassen
können: die Betriebe, die Gewerkschaften, die Belegschaft - vor allem die Betriebe selbst konnten so immer
weiter wachsen und daraus Wert schöpfen. Ich erinnere
daran, dass bei Tarifautonomie die sogenannte Ordnungs- und Befriedungsfunktion extrem wichtig ist.
Es ist also mitnichten so, dass sich das Bundesarbeitsgericht gegen die Tarifeinheit hin zu Auflösung in Tarifpluralität entschieden hat. Es mahnte lediglich an, dass
es dazu lange keine gesetzliche Grundlage gab.
Herr Kollege Rützel, gestatten Sie eine Frage oder
Bemerkung des Kollegen Ernst?
Ja, bitte.
({0})
- Es ist ihm halt noch etwas eingefallen.
Es ist doch schön, wenn die Debatte ein bisschen belebter wird, sonst wird sie vielleicht ein bisschen fade. Ich möchte folgende Frage stellen, Kollege Rützel. Auch
vor der Änderung der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes gab es ja unterschiedliche Gewerkschaften. Die Rechtsprechung sah nun vor, dass der jeweils
speziellere Tarifvertrag zur Geltung kam, wenn es konkurrierende Tarifverträge gab. Der jeweils speziellere
Tarifvertrag - so die Interpretation - war der Tarifvertrag, der auf Betriebsebene abgeschlossen wurde. Er
wurde dann dem Flächentarifvertrag immer vorgezogen.
Das führte im Ergebnis dazu - ich habe das selber erlebt -,
dass mit kleineren Gewerkschaften - zum Beispiel die
Christliche Gewerkschaft Metall, die kaum Mitglieder
hatte - ein Tarifvertrag abgeschlossen wurde und die Arbeitnehmer dann schlechter bezahlt wurden als nach dem
Flächentarifvertrag. Das wurde allgemein akzeptiert. Ich
habe keine Initiative der Politik gespürt, dieses Tarifdumping zu beenden. Jetzt haben wir plötzlich eine andere Situation. Die kleineren Gewerkschaften versuchen,
im Niveau oft mehr zu erreichen, als eine größere Gewerkschaft - aus welchen Gründen auch immer - in der
Fläche erreicht hat.
Könnte es sein, dass das Motiv, jetzt gesetzlich einzugreifen, darin begründet liegt, dass die Tarifverträge jetzt
in der Tendenz nach oben gehen, während sie, als der
speziellere Tarifvertrag, also der betriebsnähere Tarifvertrag galt, eher in der Tendenz nach unten gingen? Wäre
es im Sinne einer gemeinsamen Gewerkschaftsbewegung nicht sinnvoller - natürlich sind gemeinsame Gewerkschaften besser als verschiedene zersplitterte -, darauf hinzuwirken, dass die einzelnen Gewerkschaften
dies unter sich regeln, als eine gesetzliche Regelung zu
machen?
({0})
Lieber Klaus Ernst, Sie waren Gewerkschafter. Man
ist das immer; es hört nicht auf. Auch ich bin Gewerkschafter. Es kann niemand etwas dagegen haben, dass
man als Gewerkschaft, als Interessenverband so viel wie
möglich für seine Mitglieder herausholt. Das ist berechtigt, das ist verdient. Die entscheidende Frage ist doch,
ob ich das Ganze im Blick habe oder ob ich speziell auf
manche Gruppen schiele. Ich habe das gerade an dem
Bild des Betriebes erklärt. Wenn sich nur manche - ich
will nicht sagen, dass es zu viel ist; um Gottes willen etwas nehmen, bleiben andere auf der Strecke.
({0})
Ich glaube schon, dass die Politik die Aufgabe hat, hier
ausgleichend zu reagieren.
Ich will eines sagen - ich fahre mit meiner Rede fort;
Sie können die Uhr weiterlaufen lassen -: Die Bundesregierung lotet momentan unter Federführung der Arbeitsministerin eine entsprechende gesetzliche Regelung aus.
Ich gebe zu, es ist ein sehr schmaler Grat, auf dem man
sich bewegt.
({1})
Auf der einen Seite stehen die Festschreibung des Mehrheitsprinzips in den Betrieben - das ist vorhin angesprochen worden - und die Ordnung des Verfahrens, und auf
der anderen Seite steht das Recht von Vereinigungen, die
Tarifverhandlungen frei zu führen und dafür auch zu
streiken.
Kollege Rützel, es gibt einen weiteren Wunsch zu einer Frage oder Bemerkung, nämlich des Kollegen Kurth.
Ja, bitte.
Vielen Dank, Herr Rützel, dass Sie die Frage zulassen. - Sie betonen das große Ganze, das Gesamtsystem
Betrieb, und sagen, dass der Verteilungsspielraum begrenzt ist. Ist es aber nicht vielfach so, dass gerade die
Arbeitgeberseite dieses Gesamtsystem in verschiedene
Bestandteile aufspaltet, indem zum Beispiel Betriebseinheiten ausgegliedert werden? Beim Flughafen ist es beispielsweise so, dass vielfach Bodenpersonal, Gepäckabfertigungen in gesonderte Betriebe und schlechtere
Tarife ausgegliedert werden. Ist es dann nicht nachvollziehbar und verständlich, dass die Belegschaften dieser
ausgegliederten Betriebsteile darauf reagieren und dann
zum Beispiel als Gepäckabfertiger, wie es am Frankfurter Flughafen vorgekommen ist, sagen: Dann organisieren wir uns als angegriffene Berufsgruppe - denn das
sind sie - und nehmen das Recht auf Streik wahr.
Wollen Sie als Sozialdemokrat tatsächlich verantworten, dass es nicht mehr möglich sein soll, auf solch einen
Angriff durch den Arbeitgeber mit einem Streik zu reagieren?
({0})
Herr Kurth, ich bin Ihnen für diese Frage sehr dankbar, weil sie die Möglichkeit eröffnet, auf diesen Punkt
genauer einzugehen.
Ich gebe Ihnen absolut recht: Die Geister, die ich rief,
werde ich nicht mehr los.
({0})
Viele Arbeitgeber hatten geglaubt, die Gewerkschaften
durch Zerschlagung und durch das Entstehen vieler kleiner Gewerkschaften besser im Griff zu haben. Dann hat
man irgendwann festgestellt: Auch kleine Gewerkschaften können wehtun, können stechen, können ihre Interessen durchsetzen.
Die Lufthansa ist von 40 Streiks betroffen gewesen,
was sie sich selbst zuzuschreiben hat, weil es wegen der
vielen Einzelbetriebe - ich freue mich, dass der Kollege
Ernst zustimmt - so viele Gewerkschaften gibt. Man
könnte jetzt aufzählen, wie das alles zusammenhängt; es
ist ein kompliziertes System, das dafür sorgt, dass ein
Flugzeug fliegt. Aber die Tarifeinheit, lieber Kollege
Kurth, hat mit dem, was Sie gerade gesagt haben, nichts
zu tun; denn die Tarifeinheit regelt nicht, dass für verschiedene Betriebe ein Tarifvertrag gelten muss. Die Tarifeinheit bezieht sich nur auf den Betrieb selber und
nicht auf die Frage, ob outgesourct wurde und manche
Aufgaben durch eine zweite, dritte, vierte oder fünfte
Firma erledigt werden.
({1})
Über diesen schmalen Grat - ich habe es Ihnen erklärt wollen wir gehen.
Es ist mir auch noch wirklich wichtig, eines zu sagen:
Wir haben schon in den ersten vier Wortmeldungen gehört, dass dieses Gesetz noch diskutiert werden muss,
dass wir darüber reden müssen;
({2})
denn man hat Angst, dass wir an Artikel 9 des Grundgesetzes gehen und dass die Koalitionsfreiheit und das
Streikrecht eingeschränkt werden sollen. Das machen
wir nicht. Wir schränken das Streikrecht nicht ein. Wir
ändern nicht das Grundgesetz; das liegt uns fern. Das
würden auch die Gewerkschaften gar nicht mitmachen.
Wir sind hier eng mit den Gewerkschaften in Kontakt.
Wir werden das gesetzlich verbriefte Streikrecht nicht
antasten.
({3})
Die Sozialpartnerschaft hat uns in den letzten sechs Jahrzehnten - ich habe es erwähnt, weil es mir wichtig ist sehr viel Planungssicherheit, aber auch Teilhabe der Beschäftigten gebracht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Sie
beklagen in Ihrem Antrag, dass die Tarifbindung zurückgeht und Flächentarifverträge aufgeweicht werden. Genau deshalb haben wir ja - Sie gemeinsam mit uns - im
Juli dieses Jahres das Tarifautonomiestärkungsgesetz auf
den Weg gebracht. Ich erinnere an die Regelungen zur
Allgemeinverbindlichkeit. Ich erinnere an das Arbeitnehmer-Entsendegesetz. Die Stärkung der Tarifautonomie wollen wir nun mit einem sehr ausgewogenen Gesetz zur Tarifeinheit fortsetzen; denn in der Krise 2008/
2009 hat sich gezeigt, dass die kluge und schnelle Reaktion der Gewerkschaften und der Unternehmen im
Rahmen der Mitbestimmung sehr schnell geholfen hat,
relativ gut aus der Krise zu kommen.
({4})
Deutschland ist danach weitaus besser neu gestartet als
manch anderes Land.
Zum Schluss will ich sagen: Ich halte es für unsere
Aufgabe, dieses Erfolgsmodell weiterhin zu stärken und
dafür zu sorgen, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gemeinsam für ihre Interessen kämpfen. Denn es
heißt nicht: „Einsam bist du stark“, sondern es heißt:
„Gemeinsam sind wir stark“. Insofern muss die Tarifeinheit gesetzlich geregelt werden.
Vielen Dank.
({5})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege
Wilfried Oellers das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir beraten heute den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Solidarität im Rahmen
der Tarifpluralität ermöglichen - Tarifeinheit nicht gesetzlich regeln“. In meinen Augen ist der Titel des Antrags zwar etwas widersprüchlich, zeigt aber in Teilen
die große Problematik des Themengebiets der Tarifeinheit auf.
Solidarität der Arbeitnehmer untereinander bei Ermöglichung von Tarifpluralität - bereits in diesem Teilausschnitt der Problematik, der lediglich die Interessen
der Arbeitnehmerseite beleuchtet, stellt man bereits fest,
wo die Schwierigkeit in diesem Themengebiet liegt. So
verwundert es nicht, dass man beim Lesen der ersten
Hälfte des Antrags den Eindruck hat: Nun müsste eigentlich die Tarifeinheit gefordert werden, da doch Solidarität gefordert wird.
({0})
Denn Solidarität innerhalb der Arbeitnehmerschaft bei
Tarifpluralität in ein und demselben Betrieb ist nur ganz
schwer zu erreichen.
Der Spannungsbogen des gesamten Themenkomplexes ist nach meiner Auffassung jedoch größer; neben
den berechtigten Interessen der Arbeitnehmerseite müssen auch die Interessen der Unternehmer berücksichtigt
werden. Der Spannungsbogen zieht sich von der verfassungsrechtlich garantierten Tarifautonomie bis hin zum
hohen Gut des Betriebsfriedens.
({1})
Die Interessenlage der Arbeitnehmer ist, sich gemäß
Artikel 9 Absatz 3 des Grundgesetzes im Rahmen der
gewährten Tarifautonomie frei organisieren zu können
und für die eigenen Ziele streiken zu dürfen. Daneben
sollte den Arbeitnehmern allerdings auch die Solidarität
untereinander wichtig sein. Diesem Solidaritätsgedanken steht es jedoch entgegen, sich mit einer kleinen
Gruppe von Mitarbeitern eines Betriebes separat zu organisieren, die aufgrund der von ihr ausgeübten Tätigkeit im Falle eines Streiks ein hohes Druckpotenzial hat
und dieses dazu nutzt, um für sich einen möglichst positiven Abschluss der Tarifverhandlungen zu erreichen.
Die übrigen Arbeitnehmer im Betrieb, deren Tätigkeit
ein weniger hohes Druckpotenzial hat, haben dagegen
von Grund auf eine schlechtere Ausgangsposition.
Kollege Oellers, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Ernst?
Ich würde zunächst gerne fortfahren. Vielleicht erübrigt sich das dann auch schon.
Das Interesse der Unternehmer liegt darin, geordnete
Tarifverhältnisse zu haben, die es ermöglichen, Tarifverhandlungen in einem funktionierenden Tarifvertragssystem zu führen, das Rechtssicherheit und Rechtsklarheit
bietet, und damit zu wissen, dass die Tarifverhandlungen
für die Dauer der Vertragslaufzeit beendet sind. Das
Interesse der Unternehmen am betrieblichen Frieden ist
daher berechtigterweise sehr hoch. Zur Gewährleistung
des betrieblichen Friedens gehört nach meiner Auffassung allerdings auch, dafür Sorge zu tragen, dass keine
Konkurrenz zwischen mehreren Gewerkschaften besteht, die im selben Betrieb identische Berufsgruppen
vertreten; denn das würde den betrieblichen Frieden stören.
Bis zur Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts im
Jahre 2010 wurde diese besondere Situation, die sich aus
den aufgezeigten Interessenlagen ergibt, durch die
Rechtsprechung mit dem Grundsatz der Tarifeinheit geregelt. In Betrieben, die in den Geltungsbereich mehrerer
sich überschneidender Tarifverträge fielen, fand nach
dem Grundsatz der Tarifeinheit nur der Tarifvertrag Anwendung, der dem Betrieb räumlich, betrieblich, fachlich und personell am nächsten stand und deshalb den
Eigenarten und Erfordernissen des Betriebes und der darin tätigen Arbeitnehmer am besten Rechnung trug.
Nachdem sich das Bundesarbeitsgericht im Jahre
2010 von diesem Grundsatz gelöst hat, besteht nun die
besondere Situation, dass in einem Betrieb mehrere Tarifverträge gelten können. Darüber hinaus ist auch eine
Konkurrenzsituation zwischen Gewerkschaften in einem
Betrieb entstanden. Zum Beispiel beanspruchen GDL
und EVG jeweils für sich, sowohl für die Lokführer als
auch für das Zugpersonal und weitere Mitarbeiter, die
bei ihnen Mitglied sind, verhandeln zu dürfen. Dass in
diesem konkreten Fall die Bahn als Arbeitgeber geordnete Verhältnisse wünscht, ist nachvollziehbar. Den gleichen Wunsch hegen auch die Fluggesellschaften und andere betroffene Unternehmen.
Auch zeigt die Gründung von Minigewerkschaften im
Bereich der Feuerwehrleute und der Containerkranführer, dass sich einzelne Berufsgruppen aus der Solidargemeinschaft verabschieden und die oben geschilderte besondere und wichtige Position ihrer Tätigkeit im Betrieb
für sich ausnutzen. Ein solches Vorgehen darf im Sinne
der Solidarität durchaus infrage gestellt werden.
Nun hat das Bundesarbeitsgericht seine Rechtsprechung im Jahre 2010 zur Tarifeinheit mit dem Verweis
auf das Grundrecht der Tarifautonomie nach Artikel 9
Absatz 3 geändert. Anschließend wurde von der Arbeitgeberseite, aber auch von Gewerkschaften, allen voran
vom DGB, der Wunsch geäußert, die Tarifeinheit gesetzlich zu regeln. Das Streikrecht spielt in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle, da es verfassungsrechtlich garantiert ist und naturgemäß das schärfste Schwert
einer Gewerkschaft ist. Dieses Recht muss ihr natürlich
weiterhin zustehen; das steht außer Frage.
({0})
Allerdings ist das Streikrecht im Hinblick auf die weiterentwickelte tarifrechtliche Situation und auch in jedem Einzelfall vor dem Hintergrund der Verhältnismäßigkeit zu beleuchten. Hierzu kann der Gesetzgeber
zumindest gewisse Regeln aufstellen. Insoweit darf
sicherlich nicht in das Grundrecht nach Artikel 9 Absatz 3 GG eingegriffen werden, aber bestimmte Ausgestaltungen sind möglich.
({1})
Dies erscheint mir geboten, um die Interessen der Allgemeinheit zu wahren; denn gerade am Beispiel der aktuellen Streiks im Verkehrsbereich wird deutlich, dass nicht
nur die Interessen der Tarifvertragsparteien zu berücksichtigen sind. In der heutigen Zeit ist die Mobilität für
jedermann ein wichtiges Gut. Die Menschen erwarten,
dass die Verkehrsmittel zur Verfügung stehen, um ihr eigenes Leben organisieren und bewältigen zu können.
Daher sind auch die Interessen der Allgemeinheit im
Rahmen der Erarbeitung von Lösungen zu berücksichtigen.
({2})
Wünschenswert wäre es, wenn die Tarifvertragsparteien diese Problematik im Rahmen der Tarifautonomie
selber lösen und sich hierzu an den Verhandlungstisch
setzen würden. Denn es gehört in meinen Augen auch
zur Tarifautonomie und zum Tarifsystem, Probleme zu
lösen. In der Vergangenheit ist dies immer in einem ausgewogenen Verhältnis gelungen, und das hat Deutschland Wohlstand gebracht. Es kommt nicht von ungefähr,
dass Deutschland weltweit das Land mit den nahezu wenigsten Streiks ist. Wir werden darum auch beneidet.
({3})
In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen,
dass Spartengewerkschaften auch schon zur Zeit des
Grundsatzes der Tarifeinheit gemäß der Rechtsprechung
des Bundesarbeitsgerichts existierten und die Interessen
ihrer Mitglieder vertreten haben. Es kann auch keiner etwas dagegen haben, wenn verschiedene Gewerkschaften
ihre Zuständigkeiten untereinander selber regeln und
aufteilen - ich halte dies sogar für wünschenswert und
geboten, da dies zur Umsetzung der Tarifautonomie gehört -,
({4})
und zwar auf Grundlage von klaren und einverständlichen Regeln. Es ist daher mein Wunsch, dass die Problemstellung hinsichtlich der Tarifeinheit einvernehmlich im Sinne aller Beteiligten gesetzlich gelöst wird und
dass die Tarifautonomie mit ihrem Streikrecht sowie das
hohe Gut des Betriebsfriedens gewahrt werden.
Vielen Dank.
({5})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Klaus Ernst.
({0})
Herr Kollege Oellers, gestatten Sie mir eine Bemerkung zu dem von Ihnen erwähnten Betriebsfrieden. Sie
sind meines Wissens Anwalt für Arbeitsrecht.
({0})
Es müsste Ihnen daher bekannt sein, dass der Begriff des
Betriebsfriedens im Tarifvertragsrecht nicht zu finden
ist. Vielmehr bezieht sich der Begriff des Betriebsfriedens eindeutig auf das Betriebsverfassungsrecht, nach
dem ein Betriebsrat kein Streikrecht hat. Dort heißt es
nämlich, dass Maßnahmen des Arbeitskampfes zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber unzulässig sind.
Jetzt in Bezug auf das Streikrecht permanent mit dem
Begriff des Betriebsfriedens zu argumentieren, geht an
der Logik der Sache vollkommen vorbei.
({1})
Denn ein Streik ist gerade keine Zeit des Betriebsfriedens. Darum heißt es übrigens auch Arbeitskampf. Ich
würde Ihnen diese Information gerne mitgeben und Sie
bitten, diese zu berücksichtigen, wenn Sie über dieses
Thema reden; denn sonst bringen wir das total durcheinander.
Das Streikrecht betrifft eigentlich nur eine Seite der
tarifvertragschließenden Parteien. Die Arbeitgeber streiken ja nicht - das ergibt sich aus der Natur der Sache -;
sie sperren vielleicht aus. Man könnte darüber nachdenken, das zu verbieten; aber das ist eine andere Sache.
Wenn aber das Streikrecht einseitig eine Sache der Arbeitnehmer ist, dann ist es doch auch Sache der Arbeitnehmer, zu überlegen, wie sie ihre Streiks organisieren
wollen. Ob sie das gemeinsam machen - was mir lieber
wäre - oder ob sie es getrennt machen, das sei ihnen selber überlassen. Wie gesagt: Das hat nichts mit dem Betriebsfrieden zu tun. Eine Regelung, die den Betriebsfrieden schützt, würde sich eindeutig gegen das
Streikrecht richten.
({2})
Möchten Sie erwidern, Kollege Oellers?
({0})
Vielen Dank. - Herr Ernst, ich denke schon, dass
beide Themenbereiche zusammen behandelt werden
müssen, weil Betriebsfrieden und Streikrecht sich allein
schon von der Begrifflichkeit her gegenüberstehen.
({0})
Sie haben natürlich recht, wenn Sie feststellen, dass das
Streikrecht als solches im Grundgesetz fest verankert ist.
Allerdings hat es auch immer die Vereinbarung der
Tarifvertragsparteien gegeben, die Friedenspflicht beizubehalten und den Betriebsfrieden hochzuhalten. Ich
denke, dass beide Begriffe und beide Themenbereiche
sehr wohl gegenübergestellt werden können und ich das
hier nicht in unzulässiger Weise vermengt habe.
Vielen Dank.
({1})
Nun hat die Kollegin Jutta Krellmann aus der Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Als Gewerkschafterin stehe ich voll und ganz
zu dem Grundsatz der Tarifeinheit. „Ein Betrieb, eine
Gewerkschaft - ein Betrieb, ein Tarifvertrag“, das ist das
Bild, zu dem ich stehe und das ich richtig und gut finde.
Die Tarifeinheit muss aber politisch hergestellt werden,
und das ist alleine Aufgabe der Gewerkschaften.
({0})
Das Problem ist: Jeder Versuch, die Tarifeinheit gesetzlich festzulegen, zu lenken oder zu reglementieren, ist
praktisch ein Eingriff in die Tariffreiheit. Das lehnen wir
als Linke absolut ab. Hände weg vom Streikrecht!
({1})
Alle bisherigen Redner haben über die Bahn und über
die Lufthansa geredet. Dort, wo ich herkomme, gibt es
keine Spartengewerkschaften. Es gibt keinen Flughafen,
und es gibt keinen Betrieb der Deutschen Bahn. Bei mir
im Wahlkreis gibt es viele Betriebe, die zwar von außen
aussehen wie ein einziger Betrieb, aber wenn man genau
hinschaut, stellt man fest, dass sie nichts anderes als ein
löchriger Schweizer Käse sind.
Ich will ein Beispiel nennen: Ein Betrieb in Springe,
ein Leuchtenhersteller, war früher ein Betrieb und
Mitglied im Verband der Metallindustriellen Niedersachsen. Heute ist dieser Betrieb in zwei Betriebe aufgespalten. Einer ist nach hartem Kampf wieder in den
Arbeitgeberverband eingetreten - für diesen Teil gilt der
Tarifvertrag -, der andere Teil nicht. Für die „alten“ Beschäftigten gelten noch die ursprünglichen Regelungen,
aber jeder, der neu in den Betrieb reinkommt, hat Pech
gehabt. Er bekommt weniger Geld und hat längere Arbeitszeiten als die anderen Beschäftigten. Nichts mehr
mit Tarifeinheit! Pustekuchen! Das haben aber nicht die
Beschäftigten oder die Gewerkschaften veranlasst. Das
waren die Arbeitgeber.
Dass sich nun ausgerechnet die Arbeitgeberverbände
für das Prinzip „ein Betrieb, eine Gewerkschaft“ aussprechen, ist doch völlig unglaubwürdig. Es waren und
sind die Mitgliedsfirmen der Arbeitgeberverbände, die
entscheidend dazu beigetragen haben, dass die historisch
gewachsene Tarifeinheit und damit die Tarifbindung
durchlöchert wurden. Die neoliberale Politik von CDU/
CSU, SPD, FDP und Grünen haben die Arbeitgeber seit
Mitte der 90er-Jahre zum Anlass genommen, Tarifflucht
und Tarifkonkurrenz systematisch voranzutreiben. Die
Arbeitgeber haben in den letzten Jahren nichts unversucht gelassen, um ganze Betriebe und Belegschaften zu
spalten, auszugliedern, gegeneinander in Konkurrenz zu
bringen und im Grunde zu entsolidarisieren. Jetzt kommen genau diese Arbeitgeber plötzlich wie Kai aus der
Kiste und versuchen, uns weiszumachen, dass sie sich
nun darum kümmern wollen, die Belegschaften wieder
zu einen. Wir führen hier aus meiner Sicht eine völlig
unglaubwürdige Debatte über die Themen, die in
Deutschland eine wichtige Rolle spielen.
Frau Nahles ist leider nicht anwesend. Ich hätte ihr
gerne folgende Frage gestellt: Was glauben Sie eigentlich, warum die Arbeitgeber und ihre Verbände so sehr
darauf aus sind, ein Gesetz zur Tarifeinheit zu bekommen? Was glauben Sie, warum das so ist? - Sie machen
sich vor unseren Augen gerade zu Erfüllungsgehilfen der
Arbeitgeber. Die aktuellen Streiks von GDL und Cockpit
werden genutzt, um selbst erzeugte Probleme auf dem
Rücken der Beschäftigten zu lösen, und zwar nicht nur
auf dem Rücken der Beschäftigten der Bahn und der
Lufthansa, sondern auf dem Rücken aller Beschäftigten
in Deutschland.
({2})
Ich kenne keine Gewerkschaft, die streikt um des
Streikes willen und weil es so viel Spaß macht. Wer das
glaubt, hat keine Ahnung, wie schwierig das ist. Es geht
immer um die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen oder um den Erhalt bestehender Regelungen. Deshalb: Tarifeinheit ja, aber ohne Gesetz. Hände
weg vom Streikrecht!
Vielen Dank.
({3})
Der Kollege Michael Gerdes hat für die SPD-Fraktion
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Zuschauerinnern und Zuschauer! Wer mich und meine
Biografie kennt, wird sich nicht wundern, wenn ich sage:
Hände weg vom Streikrecht! Das Streikrecht muss fortbestehen. Es darf nicht angetastet werden.
({0})
Ohnehin sind die Möglichkeiten der Arbeitsniederlegung im Vergleich zu anderen Ländern bei uns einigermaßen starr. Gleichwohl sind wir mit diesen Regelungen, so meine ich, bisher gut gefahren.
Das Thema Tarifeinheit steht auf der politischen
Agenda, weil wir eine gewisse Zunahme an Arbeitskämpfen beobachten. Sie gehen allerdings nicht in die
Breite, sondern die Streiks finden an Stellen statt, wo
sich der Effekt aufgrund der Arbeitsniederlegung weniger Menschen potenziert und die Auswirkungen für viele
Unbeteiligte deutlich spürbar sind. Wenn Förderbänder
in einem Betrieb bestreikt werden, hat das andere Dimensionen als die Streiks beispielsweise von Lokführern
oder Piloten.
Selbstverständlich haben auch Spartengewerkschaften das Recht, ihre Interessen mit Streiks zu vertreten.
Der Streik der GDL zeigt beispielsweise auf: Das Verständnis für die Forderung nach besseren Arbeitsbedingungen und mehr Lohn ist vorhanden, aber es ist nicht
unendlich. Wer als Minderheit eine Schlüsselfunktion
hat, hat auch besondere Verantwortung für die Mehrheit
in seinem Betrieb und auch außerhalb des Betriebes.
Wenn Tausende Pendler an mehreren Tagen im Jahr
streikbedingt gar nicht oder zu spät zur Arbeit kommen,
ist das Gesamtgefüge gefährdet. Speziell bei der Bahn ist
die öffentliche Mobilität zu gewährleisten. - Ich glaube,
Frau Krellmann möchte eine Zwischenfrage stellen.
Kollege Gerdes, genau, ich wollte Sie nur nicht im
Redefluss unterbrechen.
Danke schön.
Möchten Sie der Kollegin Krellmann eine Bemerkung oder Frage gestatten?
Ja, natürlich, ich weiß nur noch nicht, womit ich Sie
gereizt habe, Frau Krellmann.
Sie haben gesagt, dass es so viele neue Streiks gibt.
Da hätte ich gerne von Ihnen gewusst, wo denn eigentlich.
Ich kann mich daran erinnern, Frau Krellmann, dass
die Gewerkschaften in den letzten Jahrzehnten, was
Streiks anging, sehr zurückhaltend waren, aber die Auswirkungen der Streiks in den letzten Monaten - ich
nannte vorhin das Beispiel Mobilität - deutlich zu
spüren sind. Wenn Sie zum Beispiel gestern oder letzte
Woche oder im September am Bahnhof gestanden
haben, dann werden Sie festgestellt haben, dass es
durchaus mehr Streiks gibt. Ich habe gerade auch deutlich gesagt, dass wir mit den Regelungen, die festlegen,
wie bei uns überhaupt gestreikt werden darf - sie sind
relativ starr -, in den letzten Jahren gut leben konnten.
Dennoch bemerken wir jetzt eine Zunahme von Streiks.
Das ist doch der Grund dafür, warum wir hier heute
überhaupt über Tarifeinheit und über eine mögliche Gesetzesänderung diskutieren. - Danke schön.
({0})
Ich fahre fort. Streiks bei der Bahn verursachen für
die Kunden nervige Wartezeiten, aufwendige Planänderungen im Berufsalltag und auch Zusatzkosten für
alternative Transportmittel. Die Koalition hat sich die
sogenannte Tarifeinheit zur Aufgabe gemacht. Noch ist
nicht klar, wie eine gesetzliche Tarifeinheit im Detail
aussehen könnte. Ehrlich gesagt: Die Juristen sind nicht
zu beneiden. Wir suchen im Grunde genommen nach der
Quadratur des Kreises.
({1})
Das Streikrecht ist ein hohes Gut, das wir erhalten
wollen. Die Tarifpolitik der Gewerkschaften und die betriebliche Mitbestimmung sind seit Jahrzehnten feste
Größen in unserem Wirtschaftssystem und in unserem
Sozialstaat. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer brauchen eine starke Stimme. Der Interessensausgleich zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern funktioniert nur
mit den Gewerkschaften, nicht gegen sie und schon gar
nicht gegen ihre Rechte.
({2})
In einem gemeinsamen Positionspapier schlagen
BDA und DGB vor, den Grundsatz der Tarifeinheit gesetzlich zu regeln. Als einen wesentlichen Punkt fordern
sie, dass bei Überschneidung mehrerer Tarifverträge in
einem Betrieb der Tarifvertrag anwendbar ist, an den die
Mehrzahl der Gewerkschaftsmitglieder im Betrieb gebunden ist. Mit diesem vorgeschlagenen Prozedere
würde der Grundsatz der Tarifeinheit beibehalten und
Rechtsklarheit für den Fall einer Kollision unterschiedlicher Tarifverträge geschaffen werden. Das ist ein Punkt,
über den die Tarifparteien, so meine ich, nachdenken
sollten.
Ich sehe im Übrigen auch die Tarifparteien in der
Pflicht, sich über die Tarifeinheit Gedanken zu machen.
Der kurze Satz, den wir heute schon oft gehört haben:
„Ein Betrieb, ein Tarifvertrag“, macht Sinn; so schlecht
war diese Regelung nicht.
({3})
Es geht nicht um „erwünschte“ oder „unerwünschte“
Gewerkschaften, es geht um klare Positionen und
Verhandlungspartner, es geht darum, dass Gewerkschaften als letztes Mittel zum Streik aufrufen können. Wir
wollen eine gesetzliche Regelung, um angesichts der
Rahmenbedingungen, die sich in den letzten Jahren
geändert haben, klare Positionen zu schaffen - gesetzeskonform, im Interesse der Beschäftigten wie im Interesse der Betroffenen. Ich bin dankbar, dass wir dieses
Thema heute auf die Tagesordnung gesetzt haben, um
ausführlich darüber zu diskutieren.
Sicherlich macht sich an dieser Stelle auch das Thema
„Verankerung von Gewerkschaften in Betrieben“ bemerkbar. Die Veränderungen der Branchen durch neue
Technologien und Privatisierung - Sie haben es gerade
auch noch einmal gesagt, Frau Krellmann und Herr
Ernst - stellen die Gewerkschaften seit Jahren vor neue
Herausforderungen. Zersplitterung, meine ich, müssen
wir verhindern. Solidarität hat uns in Deutschland stark
gemacht.
Gestatten Sie mir zum Schluss noch einen Appell an
die Sozialpartner insgesamt: Das Zusammenspiel von
Arbeitnehmern und Arbeitgebern hat sich in Deutschland bewährt. Setzen Sie sich wieder an einen Tisch!
Stellen Sie realistische Forderungen und gemeinsame
Ziele auf! Erhöhen Sie die Tarifbindung! Nur so lassen
sich übertriebene Arbeitskämpfe verhindern.
Herzlichen Dank und Glück auf!
({4})
Die Kollegin Katja Keul spricht nun für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Mit unserem heutigen Antrag wollen wir
Grüne ein grundlegendes liberales Freiheitsrecht vor einem Eingriff durch die Große Koalition verteidigen, ein
liberales Freiheitsrecht,
({0})
das zugleich ein soziales Schutzrecht und Säule unserer
Arbeits- und Wirtschaftsverfassung ist. Es geht um nichts
Geringeres als die Koalitionsfreiheit des Artikels 9
Absatz 3 Grundgesetz, der da heißt:
Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen
zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet.
Wir wollen diese Koalitionsfreiheit vor der Koalition
schützen. Das ist nötig, weil im Koalitionsvertrag vereinbart wurde, dass die betriebliche Tarifeinheit gesetzlich festgeschrieben werden soll, um, so heißt es, „den
… Tarifpluralismus in geordnete Bahnen zu lenken“.
Das ist wirklich nett formuliert: Ich ordne dich, indem
ich dich abschaffe. - Eine gesetzliche Normierung der
Tarifeinheit bringt aber weder eine geordnete Bahn noch
eine gesetzliche Ausgestaltung von Tarifpluralität, sondern ist schlicht ein Grundrechtseingriff.
({1})
Das mit der Gestaltung geht schon deshalb nicht, weil
Artikel 9 Grundgesetz gar keinen Gesetzesvorbehalt enthält und das Vereinigungsrecht der Berufe damit vorbehaltslos gewährleistet wird. Es liegt auch keine Rechtfertigung für einen solchen Eingriff vor in Form von
nachweisbaren schweren Gefahren für das Allgemeinwohl. Streiks von Berufsgewerkschaften sind jedenfalls
nicht der Untergang des Abendlandes, sondern in Artikel 9 Absatz 3 ausdrücklich vorgesehen.
({2})
Kollegin Keul, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Henke?
Bitte sehr.
Vielen Dank, Frau Kollegin Keul, für diese Möglichkeit, eine Frage zu stellen.
Sie zitieren in Ihrem Antrag aus einem Gutachten von
Professor Di Fabio:
Wenn sich Arbeitnehmer eines bestimmten Berufs
als Koalition zusammenschließen, um Tarifverträge
auszuhandeln und notfalls zu streiken, ist dies
genau dasjenige Recht, das der Wortlaut des Art. 9
Abs. 3 GG garantiert.
Das ist eine berufsbezogene Garantie des Grundgesetzes. Dass ich das für richtig halte, wird hier niemanden
wundern.
Meine Frage mit Blick auf Ihren Antrag - weil Sie davon gesprochen haben: wir Grünen -: Ist das die Haltung
der Bundestagsfraktion? Oder kann das Publikum davon
ausgehen, dass das auch eine Haltung der Grünen in den
Bundesländern ist?
Bislang ist es ja so, dass die Landeskabinette noch
keinen Anlass hatten, sich hierzu eine Position zu bilden.
Die Rechtslage ist seit 2010 klar, und wenn wir uns zu
allem, was im Koalitionsvertrag steht, schon im Vorfeld
eine Position bilden müssten, hätten wir viel zu tun.
Aber ich gehe davon aus: Wenn ein solches Gesetz
kommt, dann wird es zustimmungspflichtig sein und
auch die Bundesländer beschäftigen. Dann können Sie
sich darauf verlassen, dass die Grünen hier an der Seite
des Grundgesetzes und an der Seite des Freiheitsrechtes
im Artikel 9 stehen werden.
({0})
Es ist also so, dass Artikel 9 Absatz 3 unseres Grundgesetzes gerade das Vereinigungsrecht der Berufe gewährleistet. Da steht nichts von „betrieblicher Mehrheit“
oder Ähnlichem. Wenn diese Berufe von ihrem Vereinigungsrecht Gebrauch machen, dann nicht, um Briefmarken auszutauschen oder Weihnachtsfeiern zu organisieren,
sondern um als Tarifvertragsparteien Tarifverhandlungen zu führen und dafür eben auch streiken zu können.
Wenn wir einer solchen Vereinigung gesetzlich verwehren, für ihre Berufsgruppe Tarifverhandlungen zu führen, weil diese sich im Betrieb gerade in der Minderheit
befindet, dann sind sie keine Vereinigung mehr im Sinne
des Grundgesetzes.
({1})
Oder, um es mit den Worten des ehemaligen Verfassungsrichters Udo Di Fabio auszudrücken - ich zitiere
dieses Mal eine andere Stelle, auch wenn sie ähnlich
ist -:
Ein vom Gesetz auferlegtes Gebot zur betrieblichen
Tarifeinheit würde für Berufsgewerkschaften den
Kernbereich von Art. 9 Abs. 3 GG betreffen, weil
der hoheitliche Entzug einer in der sozialen Wirklichkeit bereits erkämpften Tarifautonomie der Berufsgewerkschaft ihre Wesensbestimmung nimmt.
Liebe Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten,
ich verstehe ja, dass ihr unter eurer Koalitionsfreiheit leidet. Aber deswegen solltet ihr sie nicht auch den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern verwehren.
({2})
Vor allen Dingen solltet ihr nicht riskieren, dass erst das
Verfassungsgericht einer sozialdemokratischen Arbeitsministerin erklärt, welche Bedeutung dem Grundrecht
der Koalitionsfreiheit für die Arbeits- und Wirtschaftsverfassung in unserem Land zukommt.
Mit Pluralität und Vielfalt ist unsere Bundesrepublik
nicht erst seit 2010 bisher gut klargekommen, und auch
die Streiks der Lokomotivführer werden wir noch überstehen. Nehmen Sie sich also beide die Freiheit, von Ihrem Koalitionsvertrag Abstand zu nehmen. Das dient auf
jeden Fall der Koalitionsfreiheit.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Tobias Zech für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Jahrzehntelang galt der
Grundsatz: ein Betrieb - ein Tarifvertrag. Wir haben das
heute schon mehrmals gehört. Ich habe immer das
Glück, als einer der Letzten zu sprechen, was dazu führt,
dass ich mein Konzept zur Seite legen kann. Aber jetzt
habe ich in das Konzept von Bündnis 90/Die Grünen gesehen; denn zu diesem Thema gab es von Bündnis 90/
Die Grünen einen Fraktionsbeschluss vom 1. Juli 2014.
Darin lese ich: Jahrzehntelang hat es keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegeben, jahrzehntelang waren
sich Gesetzgeber und Rechtsprechung, Gewerkschaften
und Arbeitgeberverbände einig.
Jahrzehntelang galt, dass nur ein Tarifvertrag Anwendung findet. Vor 2010 hieß der Grundsatz in der Rechtsprechung: Die Folgen der Verdrängung anderer Tarifverträge seien im Interesse der Rechtsklarheit und der
Rechtssicherheit hinzunehmen. Die Anwendung mehrerer Tarifverträge nebeneinander führe zu rechtlichen und
tatsächlichen Unzuträglichkeiten, die durch den Grundsatz der Tarifeinheit vermieden würden. - So klar war
die Rechtsprechung bis 2010. Bis dahin konnte damit jeder gut leben.
Jetzt diskutieren wir heute über das Bestehen der Tarifpluralität. Dafür haben Sie einen Zeitpunkt gewählt,
zu dem wir noch nicht einmal einen Gesetzentwurf
vorliegen haben, sondern nur ein Eckpunktepapier. Es
stammt vom Juli 2014 und ist wahrscheinlich schon
überholt. Versuchen wir also, die Verfassungsmäßigkeit
eines Gesetzes zu prüfen, von dem wir nicht wissen, wie
es aussieht
({0})
- auch wir nicht, Kollege Ernst -, von dem aber zu erwarten ist - das hat der Kollege Schiewerling klargemacht -, dass darin auf die Verfassungstreue ein besonderes Augenmerk gelegt wird.
Zudem heißt es in dem vorliegenden Antrag, es gebe
keinen Handlungsbedarf. Eines muss man natürlich
schon sagen: Von britischen oder französischen Verhältnissen sind wir weit entfernt.
({1})
Auch ein Streik ist nicht der Untergang des christlichen
Abendlandes. Zu der vernünftigen Tarifpolitik, die wir
seit 60 Jahren machen, gehört: Arbeitnehmer und Arbeitgeber entscheiden gemeinsam.
({2})
Das Ziel dieser Politik ist aber immer - auch das hat
Karl Schiewerling dargestellt -, den Betriebsfrieden zu
wahren. Streik ist aber die Unterbrechung dieses normalen Zustandes.
({3})
Aber können wir davon ausgehen, dass dieser Zustand so bleibt? Es haben sich natürlich seit 2010 ein
paar kleine Gewerkschaften gegründet. Müssen wir erst
abwarten, wenn wir doch schon sehen, dass sich die Tariflandschaft verändert?
Mit Blick auf die Geschichte müssen wir noch etwas
sagen: 2010 haben sich nach der Änderung der Rechtsprechung die BDA und der DGB in ungekannter Einigkeit gemeinsam aufgemacht und festgestellt, dass für das
Durchsetzen der gemeinsamen Interessen eine Regelung
der Tarifeinheit notwendig ist. Auch das gehört zur
Wahrheit dazu.
Gestern stand in der Süddeutschen Zeitung, dass die
Vereinigung Cockpit seit April sechs Streikaktionen mit
einer Streichung von mehr als 4 300 Flügen und 500 000
betroffenen Passagieren durchgeführt habe. Auch wenn
sich die Zahl der Streiktage im Allgemeinen im Rahmen
hält, nimmt die Zersplitterung natürlich dann ihren Lauf,
wenn ich immer für Partikularinteressen kämpfe. Meine
Meinung ist, dass Zustände wie bei der Lufthansa nicht
auch in anderen Betrieben überhandnehmen dürfen. Daher brauchen wir eine Regelung, und zwar eine gesetzliche Regelung der Tarifeinheit.
({4})
Die sollte insbesondere zwei Schwerpunkte abdecken, zum einen den volkswirtschaftlichen Schaden,
über den wir auch sprechen müssen: Wenn die Bahn
streikt, verursacht das täglich einen Schaden von
100 Millionen Euro. Da ist die Volkswirtschaft aus meiner Sicht ab einer gewissen Dauer unverhältnismäßig
hart getroffen.
({5})
„Die Tarifpolitik der Gewerkschaften lebt von Solidarität“, heißt es in Ihrem Antrag. Unter Solidarität verstehe ich aber nicht, dass einige wenige - es sind teilweise weniger als 1 Prozent der Beschäftigten - einen
ganzen Betrieb lahmlegen können, diesen schlimmstenfalls sogar in der Existenz gefährden können, um eigene
Partikularinteressen durchzusetzen. Uns geht es um die
Solidarität unter den Mitarbeitern und in der Belegschaft. Die Tarifautonomie hat eine Ordnungs- und Befriedungsfunktion. Von der entfernen wir uns immer
weiter. - Das war der erste Punkt.
Der zweite Punkt: Es geht auch darum - das wird früher oder später auch volkswirtschaftliche Folgen nach
sich ziehen -, den innerbetrieblichen Frieden zu sichern.
Eine Tarifkonkurrenz in einem Betrieb kann nur zu immensen betriebsinternen Verstimmungen führen. Glauben Sie mir, ich war früher in einem Betrieb, in dem wir
Spartengewerkschaften hatten. Da wird diskutiert, da
wird auch unter den Kollegen diskutiert. Der Erhalt der
Tarifpluralität kann uns dahin bringen, dass unterschiedliche Arbeitsverträge und Löhne in einer Mannschaft
gelten. Das treibt die Truppe auseinander und gefährdet
in höchstem Maße den Betriebsfrieden.
Wie man diesen zerstört, haben wir jetzt bei der Auseinandersetzung zwischen GDL und EVG wunderbar
beobachten können. Die GDL verhandelt für 30 Prozent
der Zugbegleiter mit und will 5 Prozent mehr Lohn und
wöchentlich zwei Arbeitsstunden weniger erreichen.
Das würde im Ergebnis dazu führen, dass knapp ein
Drittel der Zugbegleiter zwei Stunden weniger arbeitet,
und zwar für mehr Lohn als der Rest der Mannschaft.
Das ist Gift für den Betrieb und kann in diesem zu irreparablen Schäden führen. Schlimmstenfalls drohen Spaltungen der Belegschaft, exzessive Arbeitskämpfe und
eine sinkende Akzeptanz des Tarifvertragsystems. Das
kann eigentlich niemand wollen.
({6})
- Bitte.
Sie lassen die Kollegin Müller-Gemmeke etwas sagen
oder auch fragen? - Bitte schön. Ich halte die Uhr an.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Sehr geehrter Herr
Kollege, Sie haben mich jetzt doch gereizt, zwei Vorbemerkungen zu machen und eine Frage zu stellen.
Das Erste. Sie haben die Verhältnismäßigkeit von
Streiks angesprochen. Ich bin froh, dass wir dafür Gerichte haben, die das zu beurteilen haben, und nicht die
Politik.
({0})
Das Zweite ist: Ich höre bei Ihnen heraus, dass Sie
auch beurteilen, ob Tarifverhandlungen gut verlaufen
oder nicht. Auch da sage ich: Ich glaube, Politik hat
nicht zu beurteilen, ob Tarifverhandlungen gut verlaufen
oder nicht.
Meine Frage ist: Sie reden gerade die ganze Zeit vom
innerbetrieblichen Frieden. Jetzt haben wir nun einmal
die Situation, dass es Tarifpluralität gibt; das heißt, wir
haben die großen DGB-Gewerkschaften, aber wir haben
auch die Berufsgewerkschaften. Jetzt kommen Sie eventuell mit einem Gesetz daher, das besagt, dass da wieder
Ordnung hineingehört.
({1})
Wie die Ordnung auszusehen hat, können wir uns momentan vorstellen.
Da frage ich Sie jetzt wirklich ernsthaft: Glauben Sie,
dass die kleinen Berufsgewerkschaften das einfach so
hinnehmen werden? Ich bin der Meinung, dass es zu
richtiger Konkurrenz in den Betrieben kommen wird.
Natürlich wird der Kampf um die Mehrheit im Betrieb
verschärft. Glauben Sie wirklich, dass die kleinen Berufsgewerkschaften einfach sagen: „Okay, dann hören
wir halt auf“? Stattdessen werden sie kämpfen. Glauben
Sie nicht, dass dann der betriebliche Friede tatsächlich
gestört wird?
({2})
Zunächst einmal danke für die Frage. - Nein, das
glaube ich eben nicht. Wissen Sie, ich bin sogar davon
überzeugt, dass der Grund dafür, warum wir Spartengewerkschaften haben, ist - das muss man fairerweise ansprechen; nehmen wir einmal das Beispiel Marburger
Bund -, dass sich die Ärzte von Verdi nicht richtig vertreten gefühlt haben.
({0})
Dazu gehört natürlich auch, dass man die eigene Meinung artikuliert. Die Frage ist nur, ob man für einen Teil
der Belegschaft spricht oder das Gesamtinteresse im
Blick hat. Ich glaube nicht, dass es zu einer Zersplitterung kommt, weil die Gewerkschafter, die ich bis jetzt
kennengelernt habe - und zwar alle; vielleicht gab es
eine Ausnahme -, nicht die Interessen Einzelner und
kleiner Sparten, sondern immer den Betrieb und die gesamte Belegschaft im Blick gehabt haben. Deswegen ist
meine Antwort auf Ihre Frage: Nein, das glaube ich
nicht.
({1})
- Doch. Das war ein klares Nein auf die Frage.
Die zentrale Herausforderung des anstehenden Gesetzgebungsverfahrens liegt darin, ein demokratisches
und pluralistisches Mehrheitsprinzip bei der Wahrung
der Tarifeinheit im Betrieb zu entwickeln. Es geht darum
- jetzt kommen wir noch einmal zu Ihrem Thema, Frau
Müller-Gemmeke -, die kleineren Gewerkschaften in ein
demokratisches Verfahren mit starken Minderheitsrechten einzubinden. Zudem sollen die Ausnahmen gelten,
dass eine Auflösung nicht erforderlich ist, wenn die Gewerkschaften ihre jeweiligen Zuständigkeiten abgestimmt
haben und die Tarifverträge jeweils für verschiedene Arbeitnehmergruppen gelten. Das ist die sogenannte gewillkürte Tarifpluralität. Eine Auflösung ist ebenfalls
nicht erforderlich, wenn die Gewerkschaften inhaltsgleiche Tarifverträge abgeschlossen haben.
Dass wir ein Gesetz zur Tarifeinheit verfassungskonform ausgestalten werden, sollte selbstverständlich sein.
Diese Verfassungsmäßigkeit haben wir im Koalitionsvertrag festgeschrieben. Wir befinden uns hierbei, wie
Kollege Schiewerling schon gesagt hat, auf einer Gratwanderung. Das ist allen klar. Das Thema ist auch in der
internen Debatte nicht einfach. Wir wollen Spartengewerkschaften nicht verhindern und nicht verbieten.
({2})
Die Frage ist aber, wie wir sie tarifpolitisch agieren lassen.
Durch die Zersplitterung der Tariflandschaft liegt eine
Unverhältnismäßigkeit zwischen Ziel und Schaden vor,
die weder wirtschaftlich noch sozialpolitisch geduldet
werden kann.
({3})
Allein mit Streikdrohungen werden Kunden verschreckt
und immense Schäden angerichtet.
Ich möchte noch eines betonen, bevor ich zum
Schluss komme: Es geht nicht um eine Abschaffung der
Koalitionsfreiheit. Es geht nicht um die Abschaffung eines Grundrechts. Es geht um Rechtsklarheit für den Fall
einer Kollision unterschiedlicher Tarifverträge. Das ist
sowohl der Wunsch der Arbeitgeberseite als auch der
Arbeitnehmerseite. Dessen müssen wir uns annehmen.
Deshalb warten wir auf eine Gesetzesvorlage.
Wir wollen keine Ausschaltung kleiner Gewerkschaften, sondern ihre Einbindung. Jede Gewerkschaft soll
Einfluss auf die Tarifverhandlungen nehmen können.
Mehrere Gewerkschaften in einem Betrieb sollen zur
Kooperation aufgerufen werden. Der Kollege Rützel hat
vorhin gesagt: Gemeinsam statt einsam. - Das steht dahinter. Die Existenzberechtigung der Minderheitsgewerkschaften wird dadurch aber eben nicht infrage gestellt. Das Streikrecht bleibt, wenn es im Interesse der
gesamten Belegschaft besteht. Wir wollen Einheit oder,
besser gesagt, Regeln in der Vielfalt.
Ich möchte abschließend betonen, dass ich mich jetzt
vor allem darauf freue, vom Arbeitsministerium bzw.
von der Ministerin den Entwurf eines verfassungskon5550
formen Gesetzes zu bekommen. Lange genug wurde
dem Thema Tarifeinheit aus dem Weg gegangen. Nun ist
es endlich an der Zeit, einen konkreten Gesetzentwurf
vorzustellen. Die gesetzliche Tarifeinheit darf nicht weiter auf die lange Bank geschoben werden.
Herzlichen Dank.
({4})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Dr. Hans-Joachim Schabedoth für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir scheinen uns ja ziemlich einig zu sein, dass wir alle
bis zum Juni 2010 froh waren über ein funktionierendes
System des tarifpolitischen Interessenausgleiches. Nicht
immer konfliktfrei - wie könnte es auch -, aber stets
konsensfähig. Versuche, die Belastbarkeit der Tarifpartnerschaft auszureizen, hat das nie ausgeschlossen. Es
gab selbst hochrangige Arbeitgeberfunktionäre, die Tarifverträge am liebsten am Lagerfeuer verbrannt sehen
wollten.
({0})
Aber selbst das kühnste ideologische Draufsatteln auf
tarifpolitische Gestaltungsarbeit konnte bislang die Tarifeinheit mit dem Prinzip „Ein Betrieb - ein Tarifvertrag“ nicht beschädigen. Es lässt sich deshalb wirklich
nur schwer nachvollziehen, warum diese Praxis ausgerechnet durch die Arbeitsrechtsprechung infrage gestellt
worden ist. Damit wurde völlig unnötig die Büchse der
Pandora geöffnet, sagen Kritiker. Berufsverbandliche
Organisationen hatten diese Entscheidung als eine Art
Ermutigung missverstanden, Sonderinteressen privilegierter Arbeitnehmergruppen ohne Rücksicht auf Gesamtinteressen zu realisieren. Und es ist nur verständlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass deshalb das
öffentliche Interesse an einer klarstellenden politischen
Rahmensetzung für Tarifeinheit gewachsen ist. Schon
seit Jahren hat es zu dieser Problematik Konsultationen
der Tarifvertragsparteien gegeben. Und auch der politische Rahmensetzer hatte die Hausaufgabe akzeptiert, die
Tarifeinheit neu zu fundieren, ohne die Koalitionsfreiheit und das Streikrecht zu beschädigen. In der abgelaufenen Legislaturperiode gab es jedoch auch in dieser Beziehung einen Stillstand.
Die jetzige Regierung hat dieses Problem also geerbt,
aber nicht, um es abermals auszusitzen, sondern um es
zweckgerecht und verfassungsgemäß zu lösen.
({1})
Seien wir miteinander sehr sicher: Sobald ein beratungsfähiger Entwurf vorliegt, wird sich ja dann auch dieses
Parlament sorgfältig damit auseinandersetzen können.
Und Sorgfalt ist hier der Feind des falschen Eifers. Es
geht dabei schließlich um eine Operation am offenen
Herzen der Tarifautonomie. Gerade deshalb scheint es
mir äußerst fahrlässig,
({2})
hier mit der heißen Nadel Patentlösungen zu stricken
oder gar, Frau Kollegin, Regulierungsnotwendigkeiten
völlig zu leugnen.
({3})
In Ihrem Antrag fällt mir auf, dass Sie das Wort „Tarifpluralität“ so nutzen, als sei das etwas Erstrebenswertes, das man unbedingt gegen Veränderungen erhalten
müsse.
({4})
Ich verstehe ja die Begeisterung für das Prinzip „Lasst
viele Blumen blühen“. Aber bei diesem Gegenstand ist
diese Begeisterung vielleicht doch nicht richtig am
Platze. Ich will das erläutern. Es gibt aus guten Gründen
keine Pluralität bei der Straßenverkehrs-Ordnung. Es
gibt auch nur ein demokratisch legitimiertes Gremium
der Bundesgesetzgebung. Wir befinden uns gerade in ihrem Zentrum.
({5})
Es macht einfach keinen Sinn, für jede Verkehrsteilnehmergruppe eine eigene Ordnung zu schaffen. Es mag ja
eine lustige Vorstellung sein - doch man sollte das lieber
nicht wollen -, dass jede Partei in Konsequenz von Gesetzgebungspluralität Gesetze für die eigene Mitgliedschaft verabschieden darf.
({6})
- Ja, das sage ich Ihnen doch. - Aber genauso fatal ist es,
eine Situation für tolerierbar zu halten, in der jede Berufsgruppe Tarifsetzungsmacht beansprucht.
Ein zentrales Argument der Antragsteller ist, trotz
BAG-Entscheidung von 2010 ließen sich keine negativen Folgen beobachten. Ich halte das für eine leichtfertige Verharmlosung der Situation. Auch bei einem Sturz
von einem Hochhaus sollte man beim Passieren der unteren Stockwerke lieber nicht darauf vertrauen, es könne
doch noch irgendwie gut ausgehen. Warum zum Beispiel
- das ist ein Anlass für Regelungsüberlegungen - sollte
eine potenzielle Vereinigung christlicher Lokführer nicht
versuchen, über Arbeitskämpfe einen noch besseren Tarifvertrag auszuhandeln als die GDL-Kollegen?
({7})
- Ja, das ist auch unbestritten. Aber können Sie mir dann
erklären, warum jemand, der 80 Prozent der Lokführer
organisiert und nur eine marginale Zahl aller anderen
Beschäftigten, sagt: „Ich will auch für die anderen Beschäftigten verhandeln“?
Bisher war es gute Praxis, dass beide Parteien miteinander verabredet haben, wer für was verhandelt. Aber
die Konflikte, die wir jetzt beobachten, sind dadurch entstanden, dass der eine Teil sagt: Nein, ich möchte mit
euch nicht verhandeln, über was ich verhandele und wie
ich für meine Klientelgruppe die Forderungen abgrenze.
({8})
In Kooperationen getrennt marschieren, aber vereint gewinnen - diese Strategie ist ja leider durch die Praxis
entwertet worden. Wir möchten gerne, dass diese Strategie wieder maßgeblich wird.
Kollege Schabedoth, Sie haben es nicht geschafft, jemanden zu animieren, Ihnen eine Frage zu stellen. Ich
bitte Sie, auf die Redezeit zu achten. Es funktioniert jetzt
nicht im Zwiegespräch. Sie hätten das anders lösen müssen.
Darf ich zu meinem Fazit kommen? Wer glaubt, dass
es hier keinen Sprengstoff für das etablierte und bewährte System der Tarifsetzung in unserem Land gibt,
der müsste treu darauf vertrauen, dass zum Beispiel die
Fahrdienstleiter bei der Bahn, die Feuerwehren an den
Flughäfen oder die anlagenführenden Industriemeister
das auch glauben.
Kollege Schabedoth, setzen Sie bitte einen Punkt.
Fazit: Nein zum vorliegenden Antrag, ja zur Debatte,
die nötig wird, um den bald vorliegenden Regierungsentwurf zur Tarifeinheit parlamentarisch zu optimieren.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/2875 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a bis 27 h sowie
den Zusatzpunkt 1 auf:
27 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Durchführung des Haager Übereinkommens vom 30. Juni 2005 über Gerichtsstandsvereinbarungen
Drucksache 18/2846
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({0})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Protokoll Nr. 15 vom 24. Juni 2013 zur Änderung der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten
Drucksache 18/2847
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({1})
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Valerie Wilms, Beate Walter-Rosenheimer,
Harald Ebner, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Maritime Ausbildung in Kooperation mit den
Küstenländern neu ausrichten
Drucksache 18/2748
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Friedrich Ostendorff, Harald Ebner, Bärbel
Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Hofabgabe als Voraussetzung für den Zugang
zur Altersrente für Landwirte abschaffen
Drucksache 18/2770
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({3})
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Sabine Zimmermann ({4}),
Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Sozialrechtliche Diskriminierung beenden Asylbewerberleistungsgesetz aufheben
Drucksache 18/2871
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({5})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Caren
Lay, Dr. Dietmar Bartsch, Jan Korte, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Für eine transparente Haushaltskontrolle
nachrichtendienstlicher Tätigkeiten
Drucksache 18/2872
Haushaltsausschuss ({0})
Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald
Ebner, Steffi Lemke, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Nachhaltige Waldbewirtschaftung sicherstellen - Kooperative Holzvermarktung ermöglichen
Drucksache 18/2876
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft ({1})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Corinna
Rüffer, Beate Müller-Gemmeke, Doris Wagner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Schluss mit Sonderwelten - Die inklusive Gesellschaft gemeinsam gestalten
Drucksache 18/2878
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
ZP 1 Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter
Meiwald, Dr. Valerie Wilms, Steffi Lemke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ökologischen Hochwasserschutz voranbringen
Drucksache 18/2879
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit ({3})
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 18/2872 zum
Tagesordnungspunkt 27 f soll federführend im Haushaltsausschuss beraten werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 28 a bis
28 l. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 28 a:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom
13. Februar 2014 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Costa
Rica zur Vermeidung der Doppelbesteuerung
auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen
und vom Vermögen
Drucksache 18/2659
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({4})
Drucksache 18/2898
Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe a
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/2898,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/2659 anzunehmen.
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der
SPD-Fraktion gegen die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 24. Juni 2013 zur
Änderung des Abkommens vom 4. Oktober
1991 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Norwegen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und über gegenseitige Amtshilfe auf dem Gebiet der
Steuern vom Einkommen und vom Vermögen
sowie des dazugehörigen Protokolls
Drucksache 18/2660
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({5})
Drucksache 18/2898
Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe b
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/2898,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/2660 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen.
- Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion
Die Linke angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung
der Fraktion Die Linke angenommen.
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom
11. März 2014 zur Änderung des Abkommens
vom 1. Juni 2006 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Georgien zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet
der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen
Drucksache 18/2661
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({0})
Drucksache 18/2898
Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/2898,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/2661 anzunehmen.
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung
der Fraktion Die Linke angenommen.
Als kleine Dienstleistung für diejenigen, die uns hier
beobachten und sich jetzt fragen, warum die Abgeordneten bei manchen Gesetzen dadurch abstimmen, dass sie
sich gleich von ihren Plätzen erheben, während sie bei
anderen Gesetzen zweimal abstimmen - einmal durch
Handaufheben und einmal durch Erheben von den Plätzen -: Die Gesetze, über die wir dadurch abstimmen,
dass sich die Abgeordneten gleich von ihren Plätzen erheben, sind sogenannte Vertragsgesetze. Was das ist,
müssen Sie bitte selbst herausfinden. Unsere Zeit reicht
nicht, das zu erläutern.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 28 d:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vorschlag für eine Verordnung des
Rates zur Änderung der Verordnung ({1}) Nr. 354/83 im Hinblick auf die
Hinterlegung der historischen Archive der
Organe beim Europäischen Hochschulinstitut
in Florenz
Drucksache 18/1779
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({2})
Drucksache 18/2851
Sie können davon ausgehen: Alle, die jetzt darüber
abstimmen, haben sich genau informiert, was hinter diesem sperrigen Titel steckt.
Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 18/2851, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/1779 anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPDFraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen
die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 e:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz,
Bau und Reaktorsicherheit ({3}) zu
der Verordnung der Bundesregierung
Zweite Verordnung zur Änderung der Elektro- und Elektronikgeräte-Stoff-Verordnung
Drucksachen 18/2554, 18/2672 Nr. 2, 18/2899
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/2899, der Verordnung der Bundesregierung auf Drucksache 18/2554 zuzustimmen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkte 28 f bis 28 l. Wir kommen zu
den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 28 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({4})
Sammelübersicht 96 zu Petitionen
Drucksache 18/2763
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 96 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({5})
Sammelübersicht 97 zu Petitionen
Drucksache 18/2764
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 97 ist ebenfalls einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({6})
Sammelübersicht 98 zu Petitionen
Drucksache 18/2765
Vizepräsidentin Petra Pau
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 98 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die
Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 28 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({0})
Sammelübersicht 99 zu Petitionen
Drucksache 18/2766
Wer stimmt für diese Sammelübersicht? - Das sind
alle Fraktionen. Damit erübrigen sich die Fragen, wer
dagegenstimmt und wer sich enthält. Die Sammelübersicht 99 ist mit den Stimmen aller Fraktionen angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 28 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({1})
Sammelübersicht 100 zu Petitionen
Drucksache 18/2767
Wer stimmt dafür? - Die Koalition und die Linke.
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist die
Sammelübersicht 100 mit den Stimmen der Koalition
und der Linken gegen die Stimmen des Bündnisses 90/
Die Grünen angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 28 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({2})
Sammelübersicht 101 zu Petitionen
Drucksache 18/2768
Wer stimmt für die Sammelübersicht 101? - Das sind
die Koalition und Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt
dagegen? - Die Linke. Enthaltungen? - Niemand. Damit
ist die Sammelübersicht 101 mit den Stimmen der Koalition und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Linken angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 28 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({3})
Sammelübersicht 102 zu Petitionen
Drucksache 18/2769
Wer stimmt dafür? - Das ist die Koalition. Wer
stimmt dagegen? - Bündnis 90/Die Grünen und die
Linke. Enthaltungen? - Keine. Damit ist die Sammel-
übersicht 102 mit den Stimmen der Koalition gegen die
Stimmen der Opposition angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung und Landwirtschaft ({4})
zu dem Vorschlag für eine Verordnung des
Europäischen Parlaments und des Rates über
die ökologische/biologische Produktion und
die Kennzeichnung von ökologischen/biologischen Erzeugnissen sowie zur Änderung der
Verordnung ({5}) Nr. XXX/XXX des Europäischen Parlaments und des Rates [Verordnung
über amtliche Kontrollen] und zur Aufhebung der Verordnung ({6}) Nr. 834/2007 des
Rates
KOM ({7})180 endg.; Ratsdok. 7956/14
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes
Drucksachen 18/1393 Nr. A.31, 18/2839
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Kirsten Tackmann, Karin Binder, Heidrun
Bluhm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE sowie der Abgeordneten Friedrich
Ostendorff, Harald Ebner, Nicole Maisch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
zu dem Vorschlag für eine Verordnung des
Europäischen Parlaments und des Rates über
die ökologische/biologische Produktion und
die Kennzeichnung von ökologischen/biologischen Erzeugnissen sowie zur Änderung der
Verordnung ({8}) Nr. XXX/XXX des Europäischen Parlaments und des Rates [Verordnung
über amtliche Kontrollen] und zur Aufhebung der Verordnung ({9}) Nr. 834/2007 des
Rates
KOM ({10})180 endg.; Ratsdok. 7956/14
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes
Ökolandbau voranbringen - In Europa und
Deutschland
Drucksache 18/2873
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Dazu gibt es
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner in der
Debatte erhält der Bundesminister Christian Schmidt das
Wort.
({11})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Danke, dass der Deutsche Bundestag in einer StellungBundesminister Christian Schmidt
nahme gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes
mir etwas für die Verhandlungen nach Brüssel mitgibt,
und zwar einstimmig! Das ist nicht selbstverständlich.
Das ist anerkennenswert und unterstreicht den Konsens,
den wir in Deutschland zum ökologischen Landbau erreicht haben.
Die Zeiten des Gegeneinanders von konventioneller
und ökologischer Landwirtschaft sind längst vorbei. Ich
bin auch gegen ideologische Gräben. Wir brauchen
beide Formen der Landwirtschaft. Beide müssen viele
Regeln beachten - das ist die Grundlage für sichere und
gesunde Lebensmittel -, aber beide brauchen keine
Überregulierung.
({0})
Die Biobranche ist eine Wachstumsbranche. Der
Markt zeigt dies unzweifelhaft. Wir sind führend in Europa, was den Marktanteil der Ökobranche angeht. Sie
hat zwischenzeitlich einen Jahresumsatz von etwa
7,5 Milliarden Euro erreicht und führt damit längst kein
Nischendasein mehr. Sie ist ein Teil des Nahrungsmittelmarkts, die den Bedarf in sehr anspruchsvoller Art und
Weise deckt. Das sind Kennzahlen des Erfolgs, der noch
weiter gehen kann. Zusammen mit dem aktuellen Regionaltrend stehen die Zeichen für einen weiteren Spurt der
Biobranche eigentlich gut. Ich möchte allerdings, dass
das Marktpotenzial des gesamten Lebensmittelmarktes
mehr von deutschen Bioprodukten beschickt wird als
bisher. Hier ist noch Spielraum vorhanden.
({1})
Unsere ökologische Landwirtschaft stellt sich bereits
heute hohen Anforderungen, die nicht nur von den Verbrauchern, sondern auch von der Politik an sie herangetragen werden. Auch bedient sie eine überdurchschnittlich sensible Verbraucherschicht, die sehr genau darauf
achtet, was ihr angeboten wird und ob alle Regeln eingehalten worden sind. Diese Auflagen bzw. Regeln werden
von den Bauern bzw. den Organisationen erfüllt, denen
sie weit überwiegend angeschlossen sind, sodass sie ausgezeichnete Produkte anbieten können.
Nun hat die EU-Kommission eine vollständige Revision der Öko-Basisverordnung vorgeschlagen. Normalerweise macht man dann etwas komplett Neues, wenn
das Alte nicht mehr funktioniert. Jetzt frage ich mich eigentlich, was an der geltenden Verordnung, die schon
jetzt wesentliche Grundlage für die Zukunft des ökologischen Landbaus ist, so fundamental nicht funktioniert.
Ich meine, es gibt sehr viele Punkte, die weiterentwickelt
werden müssen; aber im Kern ist die Öko-Basisverordnung nach wie vor tragfähig.
Mit dem nun vorliegenden Brüsseler Legislativvorschlag wird ein Kurswechsel - ich muss sagen: weg von
der Praktikabilität - vollzogen. Ich meine, dass die Kommission weit über das gemeinsame Ziel hinausschießt,
Verlässlichkeit und Verbrauchervertrauen zu sichern.
Seit ich mir die Vorschläge der Kommission genauer angesehen habe - auch Sie haben das in den Beratungen
und bei der Erstellung Ihres Antrags getan -, bin ich
skeptisch. Die drastische Verschärfung der Produktionsvorschriften bereitet mir Sorgen. Es bereitet mir Sorgen,
wenn erforderliche Flexibilitätsregelungen - beispielsweise beim Saatgut oder dem Einsatz von Zuchttieren unreflektiert gestrichen werden sollen. Weiter geht es um
die Einführung gesonderter Schwellenwerte für Rückstände bei Biolebensmitteln. Das ist ebenso problembehaftet und meiner Meinung nach nicht notwendig.
Mit solchen Maßnahmen würde die Kommission
hohe Hürden aufbauen, vor denen viele im ökologischen
Landbau nur kapitulieren können. Das betrifft dann die
gesamte Wertschöpfungskette vom Bauern über die Verarbeitung bis zum Handel. Dieser Kommissionsentwurf
birgt leider die Gefahr, dass er den Ökolandbau nicht
stärkt, sondern schwächt. Das können wir nicht zulassen.
({2})
In einer ersten Stellungnahme im Ministerrat sowie
gegenüber der Kommission habe ich mich für eine gezielte, problembezogene Weiterentwicklung der Rechtsvorschriften ausgesprochen. Wir müssen dabei aber im
System bleiben. Es bleibt meine Skepsis, ob das mit dem
vorliegenden Entwurf wirklich machbar ist. Die gesetzlichen Vorgaben müssen erfüllbar bleiben sowie eine stabile und verlässliche Grundlage bilden. Wir brauchen die
Transparenz der Kontrollsysteme. Allerdings gibt es bei
den Kontrollsystemen einen Punkt, der meiner Ansicht
nach zu wenig beachtet wird. Dabei geht es um die Baustelle der Drittlandsimporte. Für sie wollen wir die gleiche Sicherheit wie für Binnenprodukte.
({3})
Ich teile die Auffassung des Deutschen Bundestages
zu den von ihm genannten Punkten, die geändert werden
müssen. Auch ich bin der Meinung, dass wir die Übertragung in die horizontalen Kontrollmechanismen nicht
notwendigerweise brauchen. Eigentlich brauchen wir sie
gar nicht. Vielmehr sollte das bewährte System der Ökokontrollen beibehalten werden. Sollte sich zeigen, dass
diese und andere Verbesserungen nicht in den bestehenden Entwurf eingepflegt werden können, muss ein völlig
neuer Anfang gemacht werden. Ich werde jedenfalls
nicht dabei helfen, ein totgerittenes Pferd zu satteln. Das
heißt, dass wir mit einer ganzen Anzahl von Kollegen
aus anderen Mitgliedsländern, die dieselbe Skepsis haben wie ich, sehr an die Kommission - das werden wir
auch im Rat zum Ausdruck bringen - appellieren, dass
es nicht zu einer Veränderung um der Veränderung willen kommt. Vielmehr sind wir für eine Flexibilisierung
im Sinne der Marktgängigkeit der Ökoprodukte sowie
für allgemeine, gleiche Vertrauens- und Kontrollgrundsätze für alle Produkte - seien sie in Deutschland, in anderen EU-Ländern oder in Drittstaaten hergestellt.
({4})
Nationale Instrumente müssen natürlich wirken. Ich will
kurz darauf hinweisen: Sie sind in der Ökoverordnung
nicht verboten und nicht angesprochen worden.
Sie wissen, dass wir die Prämiensätze in den letzten
Jahren ständig erhöht haben. In den Jahren 2013 bis
2015 haben wir uns zu einem Prämienanstieg um fast
25 Prozent für diejenigen, die im Ökolandbau aktiv bleiben, entschlossen. Ökolandbau ist bei uns gegenwärtig
eher rückläufig. Mancher Landwirt überlegt sich, ob er
eine teilökologische Umstellung noch halten kann oder
ob er von den Auflagen nicht ein Stück erdrückt wird.
Wir müssen die Branche kontinuierlich und verlässlich unterstützen. Wir haben hierzu das BÖLNProgramm. Sie kennen das. Das Programm werden wir
verstetigen. So sieht es der Koalitionsvertrag vor. Aus
dem Programm haben wir die neue Eiweißpflanzenstrategie herausgenommen. Damit schaffen wir im BÖLNProgramm neue Förderspielräume. An der Begrifflichkeit möchte ich allerdings festhalten, und zwar nicht nur
ökologisch; denn es gibt noch andere Formen, die sinnhaft, vertrauenswürdig und vertrauenserheischend sind.
Auch sie werden von dem Programm unterstützt. Natürlich liegt der Fokus bei der Ökologie.
Wir sind außerdem entschlossen, unangemessene Bürokratie zu verhindern. Diesen Satz sage ich gerne. Ich
bitte Sie, dass Sie das als einen Programmsatz von mir
verstehen. Ich weiß nach genauerer Lektüre dessen, was
uns in Europa auf den Tisch gelegt wird, manchmal sehr
genau, dass die Umsetzung nicht einfach wird. Trotzdem
muss man damit beginnen und für gute Ergebnisse
ackern.
Ich bin mit den Bioverbänden im Gespräch. Wir haben vor, einen Strategieplan zur Stärkung der ökologischen Landwirtschaft zu entwickeln. Die Politik soll
nicht an den Erzeugern vorbeigehen. Sie soll Politik für
die Wertschöpfungskette sein. Ich denke, dass der Antrag - sollte er eine Mehrheit im Deutschen Bundestag
finden, was bei der Zustimmung aller Fraktionen nicht
ganz ausgeschlossen werden kann - für mich eine Rückendeckung bei den schwierigen Verhandlungen sein
wird, die wir in den nächsten Monaten in Brüssel führen
werden. Ich zweifle daran, dass es in diesem Kalenderjahr noch zu entscheidenden Regelungen und Vorlagen
kommen kann. Wir sollten uns darauf vorbereiten, dass
wir dieses Thema intensiv begleiten. Es ist noch nicht
durch. Wir haben im Sinne eines pragmatisch orientierten ökologischen Landbaus in unserem eigenen Land
sehr gut an Boden gewonnen.
Herzlichen Dank.
({5})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Kirsten
Tackmann das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Gäste! Ich möchte daran erinnern: Es geht heute
um die Zukunft von 35 000 Betrieben, die über 1 Million
Hektar Fläche bewirtschaften, also um nicht wenig.
Ich kann mich noch gut erinnern, dass EU-Kommissar Ciolos uns am Rande der Grünen Woche darüber informierte, dass er die EU-Öko-Verordnung novellieren
möchte, also den Rechtsrahmen für den Ökolandbau.
Seine Begründung war zunächst einmal durchaus nachzuvollziehen. Natürlich ist auch der Ökolandbau keine
heile Welt. Der mächtige Lebensmittelhandel knebelt
auch hier die Erzeugerbetriebe. Manchmal riecht es auch
bei Bio ein bisschen sehr nach Werbekampagne. Es gibt
Ausnahmeregelungen, die unterdessen eher zur Regel
geworden sind. Die Ökobilanz eines argentinischen Apfels ist vielleicht in Argentinien noch gut, aber im deutschen Supermarkt eher übersichtlich. Deshalb ist die
Diskussion richtig und wichtig, wie wir das Vertrauen in
Bio wieder stärken können.
({0})
Die Glaubwürdigkeit von Bio ist genau die harte
Währung, die Bio braucht. Ich finde den Anspruch vollkommen richtig, dass natürlich auch bei Importen in die
EU Bio drin sein muss, wenn Bio draufsteht.
({1})
Der Entwurf der neuen EU-Öko-Verordnung, den der
Kommissar dann vorgelegt hat, geht allerdings am selbst
gesteckten Ziel vollkommen vorbei. Er legt sogar die
Axt an die Wurzeln des Ökolandbaus. Diese Kritik teilen
zum Glück wirklich alle Fraktionen hier im Bundestag.
Der wichtigste Streitpunkt für uns ist der Plan, quasi die
Definition des Ökolandbaus zu ändern. Grundidee des
Ökolandbaus ist nämlich, Lebensmittel ökologischer zu
produzieren. Es geht also um umweltverträgliche Prozessqualität. Das muss auch dringend so bleiben. Die
Kommission dagegen will eine Neudefinition über die
Produktqualität. Dazu will sie für Lebensmittel aus ökologischer Produktion andere Grenzwerte als für Lebensmittel aus konventioneller Produktion festlegen. Das widerspricht nun wieder der grundsätzlichen Aufgabe von
Grenzwerten; denn natürlich müssen Grenzwerte in jedem Fall sicherstellen, dass der Verzehr von Lebensmitteln unbedenklich ist.
({2})
Sie sind kein Qualitätssiegel, und sie dürfen es auch
nicht werden - egal aus welcher Produktionsrichtung.
({3})
Im Ergebnis würde diese neue Verordnung - der
Minister hat schon darauf hingewiesen - den Ökolandbau schwächen und nicht stärken. Ökobetriebe und konventionelle Betriebe würden in diesem Fall sogar gegeneinander ausgespielt. Auch das dürfen wir nicht
zulassen. Deshalb sage ich für die Linke ganz klar: Dieser Entwurf muss vom Tisch. In dieser Frage gibt es sogar einen ungewöhnlich breiten Schulterschluss, nicht
nur hier im Haus, sondern sogar zwischen dem DeutDr. Kirsten Tackmann
schen Bauernverband und den Ökolandbauverbänden.
Das ist nach meiner Kenntnis ein Novum in der Geschichte des Ökolandbaus.
Wir hatten der Koalition angeboten, mit einem gemeinsamen Antrag zu signalisieren, dass wir alle dieser
Meinung sind. Leider ist dieser nicht zustande gekommen. Das ist parlamentarischer Kindergarten. Damit
wird aus meiner Sicht in Brüssel eine Chance verspielt.
Das ist einerseits schade. Andererseits werden wir natürlich erstens dem Antrag der Koalition zustimmen, und
zweitens hatten wir die Gelegenheit, mit den Grünen gemeinsam einen sehr viel qualifizierteren und umfassenderen Antrag vorzulegen.
({4})
Denn zur Stärkung des Ökolandbaus muss natürlich viel
mehr getan werden, als in Brüssel nach einem neuen und
besseren Entwurf zu rufen. Die Stärkung des Ökolandbaus ist dabei für die Linke nicht Klientelpolitik, sondern ein Gebot der Vernunft, wobei wir zumindest wichtig finden, dass die nachhaltige Produktion auf allen
Flächen, auf allen Wiesen und in allen Ställen stattfindet.
Der Ökolandbau hat unbestritten viele positive
Effekte. Es ist doch zum Beispiel ökologisch vernünftig,
wenn Tierhaltung und Flächenbewirtschaftung aneinander gekoppelt sind und das benötigte Futter vor Ort angebaut wird.
({5})
Ökolandbau ist nicht nur schonender für Boden, Gewässer, Klima und biologische Vielfalt, sondern auch sozial
vernünftig, weil er mehr Menschen beschäftigt, und
zwar mit guter Arbeit.
({6})
Biolebensmittel erfreuen sich einer so schnell wachsenden Beliebtheit, dass die einheimische Produktion überhaupt nicht hinterherkommt. Deswegen ist es auch
volkswirtschaftlich sinnvoll, den Ökolandbau zu stärken.
Es ist also in unser aller Interesse, einen vernünftigen
und vor allen Dingen verlässlichen Rechtsrahmen für
den Ökolandbau zu organisieren. Nach unserer Einschätzung werden noch mehr Forschungsmittel gebraucht, um
einige Fragen im Ökolandbau besser zu beantworten,
und bessere regionale Verarbeitungs- und Vermarktungsmöglichkeiten. Heute aber spielen wir zunächst einmal
den Ball zum designierten EU-Agrarkommissar Hogan.
Die Iren haben ja gerade bewiesen, dass sie in der Nachspielzeit noch Tore schießen können. Insofern bin ich da
sehr optimistisch.
({7})
Unsere Unterstützung hätte er, die vieler europäischer
Parlamentarier auch. Jetzt ist Nachspielzeit.
Vielen Dank.
({8})
Als nächster Redner hat der Kollege Johann Saathoff
das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Heute ist Welternährungstag. Für den Welternährungstag haben wir uns die Debatte über die ökologische Landwirtschaft ausgesucht; denn der ökologische
Landbau oder, besser gesagt, eine auf regionalen Ressourcen aufbauende extensive Landwirtschaft spielt in
den Entwicklungsländern im Gegensatz zur intensiven
Agrarproduktion in Deutschland, Europa und Amerika
eine viel größere Rolle. Weltweit wird in kleinbäuerlichen Strukturen der überwiegende Anteil an Nahrungsmitteln lokal erzeugt und regional vermarktet. Es gibt
eine extensive Landwirtschaft ganz ohne Kontrollen,
ohne Ökozertifikate und Ökozertifikatsverpflichtung.
Genauso wie wir mit der Weiterentwicklung der Gemeinschaftsaufgabe Küstenschutz den ländlichen Raum
in den Mittelpunkt unserer Agrarpolitik der Zukunft rücken wollen, müssen auch die ländlichen Räume in den
Entwicklungsländern abseits der großen Städte entwickelt werden, um die Lebensbedingungen der Menschen
dort zu verbessern.
({0})
Dazu, liebe Kolleginnen und Kollegen, gehört in erster
Linie die Bekämpfung des Hungers. Jeder Mensch hat
das Recht auf Nahrung; aber ein Recht zu haben und
Brot zu bekommen, sind eben zwei verschiedene Paar
Schuhe.
Genauso wie wir den ökologischen Landbau in kleinbäuerlichen Betrieben in den Entwicklungs- und
Schwellenländern schützen und stärken wollen, wollen
wir auch den ökologischen Landbau in Europa stärken
und damit die Marktchancen der Biolandwirte deutlich
verbessern.
Nun liegt ein Entwurf der EU-Kommission vor, und
als ich ihn gelesen habe, fiel mir ein: Wat de een sien
Uul, is de anner sien Nachtigall.
({1})
Also: Dem einen mag es gefallen, dem anderen nicht. Ich glaube, wir können feststellen: Uns allen gefällt es
nicht. Denn dieser Entwurf von Noch-Kommissar Ciolos
bedeutet eine Bedrohung des ökologischen Landbaus.
Mit unserem gemeinsamen Antrag wollen wir der
Bundesregierung bei ihren Verhandlungen in Brüssel
den Rücken stärken; denn diese setzt sich in Brüssel vehement für gute Rahmenbedingungen für den ökologischen Landbau ein. Und wir wollen, liebe Kolleginnen
und Kollegen, ein Signal an das Europäische Parlament
senden, nämlich dass wir die Rahmenbedingungen des
ökologischen Landbaus weiterentwickeln wollen, aber
mit den von der Kommission vorgeschlagenen Maßnahmen nicht einverstanden sind.
({2})
Meine Kollegin Rita Hagl-Kehl und ich waren kürzlich in Brüssel und haben sowohl mit der Generaldirektion AGRI wie auch mit dem Berichterstatter des Europäischen Parlamentes, dem Grünen Martin Häusling,
gesprochen. Mit Herrn Häusling waren wir uns absolut
einig, genau wie wir es heute im Deutschen Bundestag
sind.
Das Gespräch mit den Kommissionsbeamten verlief
nicht ganz so erfreulich. Am Anfang war von Missverständnissen die Rede: Das sei doch alles gar nicht so
schlimm, und eigentlich seien wir doch einer Meinung;
wir hätten nur unterschiedliche Ansätze. Aber je länger
das Gespräch dauerte, desto kälter wurde es. Es haben
sich deutliche Differenzen herausgestellt. Rita HaglKehl wird auf diese Differenzen weiter eingehen.
Ich möchte an dieser Stelle nur ein Beispiel herausgreifen. Die Kommission schlägt vor, die Rückstandswerte für Pestizide aus der ökologischen Produktion besonders niedrig anzusetzen - auf dem Niveau von
Babynahrung. Auf den ersten Blick könnte man der Meinung sein, das sei doch genau das Richtige. Aber für den
Biolandwirt bedeutet das Folgendes: dass er mehr Geld
für Kontrollen hinsichtlich potenzieller Verunreinigungen mit Pestiziden auszugeben hat, deren Einsatz er eigentlich gar nicht zu verantworten hat. Denn im ökologischen Landbau ist der Einsatz von synthetischchemischen Pestiziden verboten.
Zum anderen - geht es nach dem Willen der EUKommission - soll zukünftig nur noch der Rückstandswert im Endprodukt beachtet werden. Damit würde die
biologische Landwirtschaft eines deutlichen ökologischen Mehrwerts für die Umwelt, für die Gewässer und
für die Böden beraubt werden. Denn wer sich ein wenig
in der ökologischen Landwirtschaft auskennt, der weiß,
dass das System Ökolandbau sowohl einen ökologischen
Mehrwert im Hinblick auf das Produkt erbringt als auch
auf jeder einzelnen Stufe der Produktion die ökologische
Integrität bewahrt; die entscheidenden Qualitätsmerkmale können immer wieder kontrolliert werden. Es wird
eben nicht nur das Endprodukt betrachtet.
Wir alle, liebe Kolleginnen und Kollegen, wollen
heute ein Signal nach Brüssel senden, dass wir diese
Qualitätsmerkmale der ökologischen Land- und Lebensmittelwirtschaft erhalten wollen. Wir wollen verhindern,
dass ökologischer Landbau künftig nur noch unter Glas
stattfinden kann. Wie ökologisch das ist, sollte sich der
eine oder andere einmal überlegen.
({3})
Die Kommission in Brüssel muss einen verlässlichen
und eindeutigen europäischen Rechtsrahmen schaffen.
Nur dadurch kann die ökologisch bewirtschaftete Anbaufläche in Deutschland und Europa ausgeweitet werden, was Landwirten, Verbrauchern, landwirtschaftlichen Nutztieren und der Umwelt gleichermaßen
zugutekäme.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, als nächster Redner
hat der Kollege Harald Ebner das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Vor 90 Jahren hat der Landwirtschaftliche
Kurs die Basis für die Demeter-Bewegung und die ökologische Landwirtschaft gelegt. Grundlage des ökologischen Landbaus ist seither: Bio ist, was mit ökologischen Methoden erzeugt wird. Nach dem Motto „Kein
Gift drauf, kein Gift dran“ weisen diese Produkte viel
weniger Pestizidrückstände auf als unter Einsatz von
Agrochemie erzeugte Lebensmittel, wie das Ökomonitoring seit über zehn Jahren beweist. Der Verzicht auf synthetische Pestizide und Düngemittel - Kollege Saathoff
hat bereits darauf hingewiesen - ist also das, was den
Ökolandbau auszeichnet. Deshalb ist der Beitrag der
Ökolandwirtschaft für den Schutz von Klima, Böden,
Artenvielfalt und Wasser wissenschaftlich und gesellschaftlich anerkannt.
Der Rat für Nachhaltige Entwicklung hat den Ökolandbau zum Goldstandard der Nachhaltigkeit erklärt.
Bio ist also gut für die Umwelt; schon allein deshalb
lohnt es sich, für mehr Ökolandbau zu kämpfen.
({0})
Bio ist aber auch ein Wirtschaftsfaktor mit - Minister
Schmidt hatte es erwähnt - nahezu 8 Milliarden Euro
Umsatz in Deutschland und 20 Milliarden Euro Umsatz
in der EU. Bio ist also gut für die Wirtschaft. Auch deshalb lohnt es sich, für mehr Bio zu kämpfen.
({1})
Der Trend zu Bio geht also weiter; der Minister hat die
Zuwachsraten genannt. Die Menschen wollen Bio, und
sie haben recht damit.
Bio ist gut, aber nicht perfekt. Wir alle wissen:
Nobody is perfect. Minister Schmidt hat die Probleme
adressiert, sie sind bekannt. Einige lassen sich durch Änderungen - wohl gemerkt: Änderungen - der EU-ÖkoVerordnung lösen. Gerade in der Betrugsprävention
wäre innerhalb und außerhalb Europas schon viel gewonnen, wenn die aktuelle EU-Öko-Verordnung konsequent umgesetzt werden würde und Verstöße so sanktioniert würden, dass Wiederholungstäter auch wirklich
abgeschreckt werden.
({2})
Auch Bürokratieabbau ist sinnvoll und notwendig.
Aber mit dem Entwurf der Kommission wird gerade das
nicht erreicht. Statt die Branche mit absurden Ideen,
etwa mit einer Neudefinition von Bio, zu verunsichern
und Ökolandwirte für den Pestizideinsatz ihrer Kollegen
aus der konventionellen Landwirtschaft haftbar zu machen, sollte man beispielsweise endlich die längst überfällige Abschaffung von Teilbetriebsumstellungen anpacken.
({3})
Inhaltlich sind wir in all diesen Fragen dicht beieinander. Umso mehr bedauere ich es, dass Sie, Kolleginnen
und Kollegen von der Koalition, unser Angebot, eine gemeinsame Initiative aller Fraktionen im Bundestag zu
starten, ausgeschlagen haben.
Inhaltlich stimmen wir Ihrem Antrag zu - da steht
nichts Falsches drin -, aber wichtig ist auch, was nicht
im Antrag steht. Auf nationaler Ebene ist die Agrarpolitik der bisherigen Regierungen Merkel ein Generalangriff auf den Ökolandbau. Das kann auch der heutige
richtige Antrag nicht ansatzweise ausgleichen.
({4})
Für mehr deutsche Bioprodukte, Herr Minister, tun
Sie bisher doch gar nichts. Bei der Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik haben die Bundeskanzlerin und die
Union die Rahmenbedingungen für Biobetriebe und solche, die es vielleicht einmal werden wollen, drastisch
verschlechtert. Die Kürzung der Mittel für Agrarumweltmaßnahmen ist nun einmal das Gegenteil von Ökolandbauförderung. Ich kann es nicht ändern, es ist so.
({5})
Eine Auslastung des Bundesprogramms Ökologischer
Landbau und anderer Formen nachhaltiger Landwirtschaft von 90 Prozent, Kollege von der Marwitz, ist eine
gute Auslastung. Aber es bleibt auch unter Schwarz-Rot
ein Selbstbedienungsladen für alle möglichen Akteure
außerhalb des Ökolandbaus, und das muss sich ändern,
Kolleginnen und Kollegen.
({6})
Obwohl Sie wissen, dass Gentechnik über Wohl und
Wehe des Biolandbaus entscheidet, gibt es enorme
Mehrbelastungen dadurch, dass Sie der Zulassung des
„Merkel“-Mais 1507 nicht widersprochen haben und
dass die Abschaffung der Kennzeichnungspflicht für
Honig mit Gentechnik-Bestandteilen nun Ihre Zustimmung gefunden hat. Die bittere Wahrheit ist: Wenn hier
ein paar Freunde des Ökolandbaus reden, ändert das
noch lange nicht die Agrarpolitik der Koalition.
({7})
Der Ökolandbau braucht ein vielfältiges Angebot von
Saatgut. Das Problem ist, dass der Strukturwandel auf
dem Züchtungsmarkt das Gegenteil bewirkt: mehr Konzerne, weniger mittelständische Züchter, die auf die Anforderungen eingehen. Deshalb muss man beispielsweise die Forschungsmittel erhöhen. Man muss auch in
die öffentliche Forschung einsteigen, um ökologische
Tier- und Pflanzenzüchtung voranzubringen.
Es ist richtig: Die Vorlage der Kommission ist eine
Katastrophe. Was aber gar nicht geht, ist, mit dem Finger
nach Brüssel zu zeigen und sich zu Hause einen schlanken Fuß zu machen. Aber leider machen Sie genau das.
Mit dem gleichen gespielten Erstaunen, mit dem Sie im
Ausschuss unserem Antrag begegnet sind, werden Sie
am Ende angesichts der Erfolglosigkeit in Brüssel entrüstet dem Wahlvolk erklären, Sie hätten sich ja bemüht,
es hätte aber nichts genützt. Das haben Sie aber nicht. Es
muss auch hierzulande etwas getan werden. Wer mehr
Bio will, der muss auch vor der eigenen Haustüre kehren.
Danke schön.
({8})
Als nächster Redner hat der Kollege Hans-Georg von
der Marwitz das Wort.
({0})
Frau Präsidentin Bulmahn! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Harald, das war jetzt
ein bisschen sehr drastisch.
({0})
Da müsste einiges richtiggestellt werden. Aber gerade
weil euer Antrag sehr weitreichend ist und weit über das
hinausgeht, über das heute diskutiert werden soll,
({1})
ist klar, dass wir nicht näher darauf eingehen können.
Heute diskutieren wir über den Vorschlag der Kommission, die EU-Öko-Verordnung komplett neu zu strukturieren. Beim ersten Lesen wirken die Forderungen des
ehemaligen Kommissars Ciolos eigentlich plausibel.
Wer sich aber näher mit dem Verordnungsvorschlag befasst, wird schnell nachdenklich. Denn der Teufel steckt,
wie immer, im Detail. Worum geht es? Grenzwerte für
ökologisch erzeugte Produkte sollen eingeführt, Ausnahmeregelungen bei der Verwendung von ökologischem
Saatgut abgeschafft, das Kontrollsystem effizienter gestaltet und das Importregime verbessert werden. Die
Kommission möchte durch diese Maßnahmen das Verbrauchervertrauen in ökologische Produkte stärken, die
Qualitätsstandards der Produkte verbessern und den
Wettbewerb fördern. Das hört sich erst einmal alles gut
an. Es ist nachvollziehbar, dass sich der Rechtsrahmen
für ökologische Produkte fortentwickeln muss. Die Ökobranche hat sich in den letzten Jahren prächtig entwickelt. Ein weiteres Wachstum ist wünschenswert, da die
Ökoproduktion eine besonders umweltschonende Form
der Landbewirtschaftung ist; das wissen wir.
Doch auch die Biobranche musste in den letzten Jahren Nackenschläge verkraften. 2010 beschäftigte uns der
Skandal um dioxinverseuchte Bioeier aufgrund kontaminierter Futtermittel aus der Ukraine. Nur ein Jahr später
stand Italien im Fokus. Über 700 000 Tonnen konventionelles Getreide und Lebensmittel wurden als Bioprodukte umdeklariert und in andere europäische Länder
verkauft. Das Frappierende an diesem Skandal war, dass
selbst Kontrolleure in den Betrug verwickelt waren.
Insofern ist es nachvollziehbar, dass die gesetzlichen
Bestimmungen an steigende Absatzzahlen und Verbraucheransprüche angepasst werden sollen, auch um Betrugsfällen dieser Art vorzubeugen.
Uns stellt sich jedoch die Frage nach der Ausgestaltung. Sind die aktuellen Vorschriften tatsächlich ungeeignet, oder müsste nur die Durchsetzung der geltenden
Bestimmungen schärfer kontrolliert werden? Von wissenschaftlicher Seite hat das Thünen-Institut bei der
Evaluierung der derzeitigen Verordnung festgestellt
- ich zitiere -:
Die Prinzipien des Ökologischen Landbaus sind in
der EU-Verordnung grundsätzlich gut verankert, ein
fairer Wettbewerb und ein reibungsloser Binnenhandel werden sichergestellt. Probleme gibt es jedoch unter anderem bei der Umsetzung der Verordnung in nationales Recht.
Zitat Ende. - Da liegt der Hase im Pfeffer. Jetzt überlegt
sich die Kommission, die Öko-Verordnung komplett zu
erneuern. Meiner Ansicht nach wäre die gezielte Fortentwicklung der bestehenden Verordnung die bessere
Alternative gewesen;
({2})
denn die Umsetzungsprobleme in einigen Mitgliedstaaten werden mit einer neuen Verordnung nicht gelöst, vor
allem nicht, solange Schummeln als Kavaliersdelikt angesehen wird.
Der Entwurf der neuen Öko-Verordnung sieht Regeln
vor, die die Planungssicherheit für Ökolandwirte massiv
verschlechtern würden. Dadurch könnten bestehende
Betriebe - wir haben es heute schon gehört - aus dem
Markt gedrängt und für umstellungswillige Landwirte
größere Hürden aufgebaut werden. Lassen Sie mich anhand zweier Punkte in die Problematik einsteigen:
Erstens. Ein wesentlicher Unterschied zwischen ökologischer und konventioneller Produktionsweise ist der
Verzicht auf chemische Pflanzenschutzmittel. Das heißt,
ökologisch produzierte Pflanzen werden während des
Produktionsprozesses nicht mit chemischen Pflanzenschutzmitteln behandelt. Trotzdem können im Endprodukt minimale Rückstände von Mitteln enthalten
sein. Das erklärt sich dadurch, dass Ökobauern unter
demselben Himmel wie konventionelle Bauern produzieren. Durch Umwelteinflüsse wie Luft, Wasser oder
Bodenbewegungen können Pflanzenschutzmittel auch in
Ökoprodukte gelangen. Allerdings sind in diesen erheblich weniger Rückstände zu finden als in konventionellen Produkten. Laut Ökomonitoring des Landes BadenWürttemberg von 2013 war die Mehrzahl der Proben sogar rückstandsfrei.
({3})
Übrigens gelten derzeit für alle Lebensmittel einheitliche
Rückstandsgrenzwerte, egal ob konventionell oder ökologisch produziert.
({4})
Nun möchte die Kommission neue Grenzwerte speziell für die ökologischen Produkte - nicht für die konventionellen, lieber Kollege Saathoff - einführen. Darin
liegt letztlich das Problem. Denn je niedriger die Grenzwerte angesetzt werden, desto größer ist das Risiko für
den Ökobauern, allein durch unvermeidbare Umwelteinflüsse diese Grenzwerte zu erreichen. Im Klartext: Der
Ökobauer hätte die gesamten Kosten des ökologischen
Produktionsprozesses zu tragen, um am Ende Gefahr zu
laufen, sein Produkt nur konventionell vermarkten zu
dürfen.
({5})
Zweites Beispiel. Wer nach den Kriterien des ökologischen Landbaus produziert, muss auch ökologisches
Saatgut verwenden. Für einige Sorten gibt es Ausnahmeregelungen, da zurzeit nicht ausreichend ökologisches
Saatgut am Markt verfügbar ist. Die Kommission
möchte ab dem Jahr 2017 diese Ausnahmeregelungen
abschaffen, um Anreize für Forschung und Produktion,
so sagen sie, beim ökologischen Saatgut zu schaffen.
Allerdings ist schon jetzt absehbar, dass für viele Gemüsesorten oder neue Züchtungen von Getreide, Öl- oder
Eiweißsaaten die Verfügbarkeit von ökologischem Saatgut nicht gegeben sein wird. Welchen Anreiz soll der
Landwirt haben, neu in die Ökoproduktion einzusteigen,
zum Beispiel in die Gemüseproduktion, wenn er von
vornherein weiß, dass Saatgut für das Produkt, das er
eventuell produzieren möchte, knapp oder nicht vorhanden sein wird?
Dabei ist es aus meiner Sicht gar nicht so schwer, beides unter einen Hut zu bringen. Ausnahmeregelungen
sollten nur für Sorten erlassen werden, deren Verfügbarkeit nicht zugesichert werden kann. Für jede Sorte kann
individuell die Ausnahmeregelung verschärft bzw. gestrichen werden. Stattdessen laufen wir Gefahr, dass sich
Ökolandwirte aufgrund der pauschalen Abschaffung der
Ausnahmeregelung aus der ökologischen Produktion
verabschieden werden. Sie merken, es geht mir nicht
darum, die Vorschriften für den ökologischen Landbau
so gering wie möglich zu halten. Wenn jedoch die EUKommission den Wünschen des Verbrauchers nachkommen möchte, sollte dies nicht zum Verlust von Betrieben
und ökologischer Produktion führen.
({6})
Lassen Sie mich noch kurz auf das Kontrollmanagement eingehen. Um die Einhaltung der ökologischen
Produktionsvorschriften sicherzustellen, werden Betriebe von privaten Kontrollstellen überprüft. Die Arbeit
selbiger wird wiederum von Länderbehörden überwacht.
Dieses System hat sich übrigens in Deutschland wunderbar bewährt. Allerdings lässt der aktuelle Verordnungsentwurf erhebliche Interpretationsspielräume bei den
tatsächlichen Anforderungen an die Kontrollen. Diese
sollen in delegierten Rechtsakten und Durchführungsbestimmungen erst nach Abschluss der politischen Verhandlungen durch die Kommission bekannt gegeben
werden. Das wiederum sichert der Verwaltung eine Vielzahl von Entscheidungsbefugnissen. Das Mitspracherecht der EU-Parlamentarier wird allerdings dadurch
nachhaltig beschnitten. Ferner stellt sich abermals die
Frage nach der Planungssicherheit für Betriebe. Jeder
Landwirt muss wissen, mit welchem Rechtsrahmen er es
zu tun hat.
Ein weiteres Kuckucksei hat sich die Kommission mit
der Abschaffung des Einzelhandelsprivilegs ins Nest gelegt. Zurzeit müssen Einzelhändler, die ausschließlich
endverpackte und kontrollierte Biowaren verkaufen,
nicht kontrolliert werden. Diese Ausnahme von der
Kontrollpflicht soll nun abgeschafft werden. Dadurch
werden beispielsweise Tankstellen oder Kioske in das
Kontrollsystem mit eingebunden. Was das für einen
enormen Aufwand an Verwaltung bedeutet, können Sie
sich sicher vorstellen.
Last, but not least: die Einfuhrregelungen. Die Kommission hat sich auf eine Verschärfung des Importregimes fokussiert, wodurch die Einfuhr von Erzeugnissen aus Drittländern erschwert werden könnte. Die
bestehenden Defizite bei den Kontrollen und der Überwachung der Drittländer werden dadurch garantiert nicht
gelöst. Dies haben wir heute schon mehrfach gehört.
Die Neufassung der EU-Öko-Verordnung hat viele
Schwachpunkte. Der einstige Agrarkommissar Ciolos
wollte den Ökolandbau voranbringen und fit für die
Zukunft machen. Nach meiner Auffassung ist das mit
dem vorliegenden Verordnungsentwurf in keiner Weise
gelungen. Daher nutzen wir die Gelegenheit und geben
unserem Bundesminister Schmidt - lieber Herr Schmidt,
Sie haben es ja heute schon angekündigt - unsere Stellungnahme mit auf den Weg. Wir hoffen sehr - ganz im
Gegensatz zu meinem Kollegen Harald Ebner, der ja
schon unkenrufenmäßig prophezeit hat,
({7})
dass wir letztlich keinen Erfolg haben werden -, dass wir
damit in Brüssel erfolgreich sein werden. Angesichts der
Vehemenz, mit der Sie es heute vorgetragen haben, gehe
ich davon aus, dass wir es sein werden.
({8})
- Ich habe nur noch wenige Minuten Redezeit. Du kannst
gerne einen Einwand machen, dann steh bitte auf. - Okay,
bitte, Kollege Ebner möchte etwas sagen.
Herr Kollege Ebner.
Danke schön, Hans-Georg, dass du mir das freimütig
einräumst.
Wir hatten schon einmal den Fall mit einem Artikel23-Antrag: Das war zum Opt-out. Da wurden hier große
Sprüche geklopft, wie man sich einbringen möchte. Wer
das Protokoll dieser Ratssitzung gelesen hat, der weiß,
wie leidenschaftlich der Einsatz für diesen Antrag des
Bundestages ausfiel. Im Protokoll ist nämlich zu lesen:
Der Vertreter Deutschlands erwähnt, dass im Übrigen
eine Stellungnahme des Deutschen Bundestages vorliege, er nenne einen Punkt daraus, bitte auch die andere
Mitgliedstaaten um eine Stellungnahme dazu; im Übrigen werde man aber der Beschlussvorlage zustimmen. Wenn man so verhandelt, kann dabei nichts herauskommen. Ich bitte darum, dafür zu sorgen, dass das im vorliegenden Fall anders läuft.
Danke.
({0})
Harald, du weißt, dass wir jetzt eine ganz andere Vehemenz haben durch eure Zustimmung
({0})
und durch die Zustimmung der Linken, aber ganz besonders auch durch die Koalition, die einhellig diese
Position vertritt. Ihr habt es ja gehört: Der Minister weiß
sich einer ganz anderen Allianz - auch anderer Länder sicher. Insofern gehe ich davon aus, dass deine Befürchtungen unbegründet sind; wir werden es sehen.
({1})
Ganz zum Schluss: Es tut mir leid, dass wir deinen/
euren Antrag nicht unterstützen können. Das ist sicherlich verständlich; denn ihr schießt wieder einmal weit
- weit! - über das Ziel hinaus.
({2})
Da sind soundso viele Punkte mit angesprochen, daraus
könnte man ein abendfüllendes Programm machen. In5562
sofern: Nehmt jetzt erst einmal unseren Antrag an, und
dann sehen wir weiter.
({3})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Rita Hagl-Kehl
das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr
Minister Schmidt! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als
Berichterstatterin für die Bereiche Ökolandwirtschaft
und Regionalvermarktung ist mir natürlich daran gelegen, dass wir die Bioproduktion in Deutschland steigern,
damit wir mit dem Angebot die größere Nachfrage bedienen können und nicht weiterhin auf den Import angewiesen sind.
Auf den ersten Blick erscheint der Verordnungsentwurf der Kommission positiv, weil gerade die Steigerung
der ökologischen Produktion in Europa als Ziel genannt
wird. Liest man den Verordnungsentwurf allerdings genau durch und spricht mit den Verbänden, dann merkt
man, dass das Gegenteil der Fall wäre, würde diese Verordnung umgesetzt werden. Bei unseren Gesprächen mit
Vertretern der Kommission, die mein Kollege Johann
Saathoff ja schon erwähnt hat, wurden unsere Bedenken
als Missverständnisse abgetan.
Die Kommission beabsichtigt eine vollständige Integration der speziellen rechtlichen Regelungen zur
Gewährleistung des bewährten prozessorientierten
Ökokontrollsystems in die horizontale EU-Kontrollverordnung. Wir sind der Meinung, dass diese Regelungen
im EU-Fachrecht verbleiben müssen; denn im Gegensatz
zu anderen Bereichen der Lebensmittelwirtschaft achtet
der Ökolandbau nicht nur auf die Kontrolle des Endproduktes, sondern auch auf die Kontrolle der Prozessabläufe.
({0})
Dieses System hat sich bewährt und genießt das Vertrauen der Verbraucher. Das Argument der Kommission,
dass wir ja unser System zugleich beibehalten könnten,
ist für uns nicht treffend, da innerhalb der EU die gleichen Regeln und Standards gelten müssen.
Der Verordnungsvorschlag der Kommission beinhaltet eine hohe Anzahl delegierter Rechtsakte; sie begründet das mit der Notwendigkeit von mehr Flexibilität für
ihre Handlungen. Die Anzahl von 43 delegierten Rechtsakten betrachten wir als zu hoch. Wir sind der Überzeugung, dass diese Zahl reduziert werden muss.
({1})
Erforderlich sind klare Vorgaben, um die Kommission in
ihrem Gestaltungsspielraum einzugrenzen. Zentrale
Regelungen der Verordnung müssen dem ordentlichen
Gesetzgebungsverfahren vorbehalten bleiben. Wir sind
nicht bereit, der Kommission einen Blankoscheck auszustellen, da unsere Biolandwirte Rechtssicherheit brauchen.
({2})
Verbesserungen sind auch im Hinblick auf die Kontrolle der Produktion von ökologischen und biologischen
Lebensmitteln in Drittländern nötig. Der Vorschlag der
Kommission enthält keine Regelungen für die aktuell zu
beobachtenden Schwachstellen. Die Anerkennung gleichwertiger Standards für Importware in den Einfuhrregelungen muss unserer Meinung nach beibehalten werden.
Deren anforderungsgerechte Umsetzung in Drittländern
muss aber wesentlich verbessert werden. Die Kontrollen
in Drittländern sind an die bestehenden Risiken anzupassen. Nur dadurch können gleiche Wettbewerbsbedingungen für Erzeuger innerhalb und außerhalb der Europäischen Union geschaffen werden.
Wir möchten bewirken, dass mehr heimische Landwirte aktiv von den Marktchancen profitieren und dass
mehr Betriebe auf eine ökologische Produktionsweise
umstellen. Eine systematische Stärkung der ökologischen Landwirtschaft wollen wir durch den „Zukunftsplan Öko“ erreichen. Im Rahmen dieses Zukunftsplans
wollen wir die unterschiedlichen Fördermaßnahmen für
den Ökolandbau strategisch besser koordinieren.
Durch die Verordnung der Kommission würden wir
das Gegenteil bewirken, nämlich dass unsere Bioproduzenten sich wieder der konventionellen Landwirtschaft
zuwenden. Darin waren sich in den Ausschussberatungen alle Abgeordneten der im Bundestag vertretenen
Parteien einig. Als noch neue Abgeordnete hatte ich deshalb die Vision, dass wir einen fraktionsübergreifenden
Antrag zustande bringen, um unserem Landwirtschaftsminister bei den Verhandlungen den Rücken zu stärken
und in Brüssel ein deutliches Zeichen zu setzen. Vielleicht hätte ich den Ausspruch von Helmut Schmidt beherzigen sollen, der meinte, dass jemand mit Visionen
zum Arzt gehöre.
Der Versuch eines fraktionsübergreifenden Antrags
scheiterte nämlich an unserem Koalitionspartner, der
CDU/CSU-Fraktion, die sich zunächst offen und interessiert zeigte, beim ersten Gespräch dann aber schon kundtat, dass sie aus Prinzip keine Anträge mit den Linken
machen würde; so viel zum Thema Kindergarten, Frau
Dr. Tackmann. Als der Antrag fertig war und er in der
folgenden Sitzungswoche in den Ausschuss sollte,
wurde beim Berichterstattergespräch auch noch kurzerhand die Fraktion der Grünen ausgeladen, die sich gerne
an dem Antrag beteiligt hätte.
Dieser Brüskierung haben wir es zu verdanken, dass
nun zwei Anträge vorliegen, die inhaltlich eigentlich
gleich sind. Es tut mir leid für Sie, Herr Minister, dass
Ihre eigene Fraktion verhindert hat, dass der Deutsche
Bundestag in dieser wichtigen Frage Einigkeit zeigt.
({3})
Was beim Wein geht, geht anscheinend beim Ökolandbau nicht.
({4})
Außerdem ist diese Brüskierung nicht gerade förderlich für die Verhandlungen im Europäischen Parlament,
da der zuständige Berichterstatter, Martin Häusling, mit
dem Johann Saathoff und ich in Brüssel gesprochen
haben und dessen Unterstützung wir natürlich für die
Abstimmungen im Europaparlament brauchen, ebenfalls
der Fraktion der Grünen angehört.
Es ist nur gut, dass die Opposition in so wichtigen
Dingen nicht so starrköpfig wie unser Koalitionspartner
ist und sie deshalb, obwohl sie vom Antrag ausgeschlossen wurde, versprochen hat, diesem zuzustimmen.
Herzlichen Dank.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die
Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung und Landwirtschaft auf Drucksache 18/2839 zu dem Vorschlag für
eine Verordnung des Europäische Parlamentes und des
Rates über die ökologische/biologische Produktion und
die Kennzeichnung von ökologischen/biologischen
Erzeugnissen sowie zur Änderung und zur Aufhebung
bestimmter Verordnungen, hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3
des Grundgesetzes. Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes anzunehmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind alle
Fraktionen. Gibt es Enthaltungen? - Das ist nicht der
Fall. Gibt es Gegenstimmen? - Auch das ist nicht der
Fall. Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen aller Fraktionen angenommen.
Ich komme zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 18/2873 mit dem Titel „Ökolandbau voranbringen - In Europa und Deutschland“. Wer stimmt für
diesen Antrag? - Bündnis 90/Die Grünen und die Fraktion Die Linke. Wer stimmt dagegen? - Die Koalition.
Wer enthält sich? - Niemand. Dann ist der Antrag mit
den Stimmen der Koalition abgelehnt worden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({0})
- zu dem EU-Jahresbericht 2012 über Menschenrechte und Demokratie in der Welt
({1})
Ratsdok. 9431/13
- zu dem Entwurf des EU-Jahresberichts
2013 über Menschenrechte und Demokratie in der Welt
Ratsdok. 10848/14
Drucksachen 18/419 Nr. A.156, 18/2533
Nr. A.60, 18/2866
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch zu diesem Vorschlag, dann ist das so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache, und wenn die Kolleginnen und Kollegen sich gesetzt haben, können wir die Debatte auch beginnen. Ich bitte Sie, dass Sie das jetzt auch
zügig tun. Vielleicht können die Kollegen, die noch die
Diskussion von vorhin fortsetzen wollen - Herr Kollege
Ebner -, das etwas weiter hinten tun.
Als erster Redner in dieser Debatte hat der Kollege
Frank Schwabe das Wort.
({2})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In einer Umfrage der Körber-Stiftung in diesem Jahr haben zwei Drittel der Befragten gesagt, dass der Schutz
der Menschenrechte das wichtigste Ziel der Außenpolitik sei. Ich glaube, es ist wichtig, uns das immer wieder
klarzumachen, und zwar in allen außenpolitischen,
verteidigungspolitischen, aber auch innenpolitischen
Debatten, weil der Schutz der Menschenrechte zum
einen unser Ziel sein muss, zum anderen aber auch die
Legitimation unserer Politik darstellt. Es legitimiert
unsere Politik, wenn wir den Schutz der Menschenrechte
in den Mittelpunkt unserer politischen Anstrengungen
rücken.
Die EU hat 2013 den Friedensnobelpreis bekommen,
sicherlich für die historischen Verdienste, die man hier
nicht noch besonders würdigen muss, aber auch aufgrund einer Erwartungshaltung für die Zukunft. Deshalb
ist es gut, dass die Europäische Union ihre Menschenrechtspolitik weiterentwickelt. Das tut sie mit dem Strategischen Rahmen für Menschenrechte und Demokratie
und einem Aktionsplan, den sie im Jahr 2012 vorgelegt
und beschlossen hat. Dieser Aktionsplan läuft jetzt aus.
Es wäre gut, wenn es einen neuen solchen Aktionsplan
gäbe. Das ist jedenfalls Teil der Beschlussempfehlung,
die uns hier vorliegt.
Es ist ebenfalls gut, dass die Europäische Union mit
Stavros Lambrinidis 2012 einen Sonderbeauftragten für
Menschenrechte ernannt hat. Auch hier ist eine Fortsetzung des Mandats wünschenswert.
Eine der Aufgaben eines solchen Aktionsplans, den es
fortzuentwickeln gilt, und auch des Sonderbeauftragten
müsste es sein, das, was in Artikel 2 des EU-Vertrags
formuliert ist, auch umzusetzen:
Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die
Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte
der Personen, die Minderheiten angehören.
Mein Eindruck ist, dass ein solcher Anspruch bei den
Beitrittsverhandlungen zur Europäischen Union durchaus mit Leben gefüllt und umgesetzt wird. Mein Eindruck ist aber auch, dass wir bei den Mitgliedern, die
schon Teil der Europäischen Union sind, nicht die richtigen Instrumente haben, um dem Anspruch am Ende dauerhaft gerecht werden zu können. Ich glaube, das muss
sich in der Europäischen Union ändern.
Zeichen setzt die Europäische Union auch durch ihren
jährlichen Menschenrechtspreis, den das Europäische
Parlament vergibt, den Sacharow-Menschenrechtspreis.
Malala Yousafzai, die jetzt auch den Friedensnobelpreis
bekommen hat, war im letzten Jahr Trägerin des Sacharow-Menschenrechtspreises. In diesem Jahr gehört die
Menschenrechtsaktivistin Leyla Yunus aus Aserbaidschan zu den Nominierten.
Es kann kein Zufall sein, dass erst vor kurzem Anar
Mammadli den Vaclav-Havel-Menschenrechtspreis des
Europarats zugesprochen bekommen hat, sondern es
verweist - leider - auf eine Verhaftungswelle in Aserbaidschan, die in diesem Jahr exzessiv geworden ist.
Mit absurden, fadenscheinigen Anklagen, die eher an CKlasse-Thriller aus den 70er-Jahren erinnern, werden
Menschen unter Anklage gestellt. Es werden ihnen Drogen untergeschoben.
Es gibt andere, absurd konstruierte Anklagevorwürfe.
Es ist ganz klar: Aserbaidschan prosperiert durch Öl und
Gas. Aber Aserbaidschan sucht auch nach Anerkennung,
durch Gesangswettbewerbe, Europameisterschaften und
Ähnliches. Allerdings muss auch klar sein: Mit Affronts
gegenüber der Europäischen Union, auch während der
gegenwärtigen Präsidentschaft im Europarat, wird es internationale Anerkennung für Aserbaidschan nicht geben können.
Deswegen müssen wir, glaube ich, aus dem Deutschen Bundestag einen klaren Appell an Aserbaidschan
richten: Sorgen Sie dafür, dass insbesondere Ilgar
Mammadov freikommt, der auch nach einem Urteil des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte freigelassen werden muss! Sorgen Sie dafür, dass auch andere
Inhaftierte in Aserbaidschan, die nach den Kriterien des
Europarats als politische Gefangene einzustufen sind,
freigelassen werden!
Sorgen Sie insbesondere dafür, dass Leyla Yunus, die
mit schweren Erkrankungen zu kämpfen hat - ich mache
mir, wie sicherlich auch andere von uns, große Sorgen
um sie -, aus dem Gefängnis freigelassen wird! Es muss
klar sein: Der Präsident von Aserbaidschan, Herr Alijew,
hat persönliche Verantwortung für das Wohlergehen von
Leyla Yunus.
({0})
Wir können nicht über Menschenrechte in der Europäischen Union reden, ohne dabei das Thema Flüchtlinge mit anzusprechen. Dabei ist völlig klar - das wurde
schon mehrfach betont -, dass es zunächst darum geht,
den Menschen vor Ort zu helfen, in den Regionen, aus
denen sie flüchten. Aber bevor gleich wieder geklatscht
wird, will ich, weil wir in der politischen Debatte schon
weiter sind, an der Stelle sagen: Es geht zunächst einmal
um humanitäre Hilfe. Darin stimmen wohl alle überein.
Dann muss das Parlament aber auch dafür sorgen, dass
wir in den Haushaltsberatungen zu einem realistischen
Ansatz für humanitäre Hilfe kommen. Das ist unsere gemeinsame Aufgabe in den nächsten Wochen.
({1})
Es kommen dann aber trotzdem Menschen zu uns, allein Tausende unbegleitete Kinder und Jugendliche. Es
muss, glaube ich, klar sein, was passiert sein muss, wenn
man Kinder und Jugendliche in Boote setzt, von denen
man nicht weiß, ob sie am anderen Ende des Meeres ankommen. Am Ende sind es unsere Werte, liebe Kolleginnen und Kollegen, die mit jedem Toten auf dem Mittelmeer mit Füßen getreten werden.
Trotz „Mare Nostrum“, der Rettungsaktion aus Italien, ist es 2014 bei den Toten im Mittelmeer zu Höchstwerten gekommen. Bisher gab es mehr als 3 000 Tote.
Ich fürchte, bis zum Ende des Jahres werden es noch
deutlich mehr werden. Es ist völlig klar: Wir müssen
besser werden, als es bisher mit dem italienischen
Rettungsprogramm der Fall war. Die Befürchtung ist
aber, dass es eher schwieriger wird. Deswegen ist unsere
Erwartungshaltung an die Europäische Union, ein Programm aufzulegen, das am Ende mehr Menschen rettet,
auch aus der schwierigen Situation auf dem Mittelmeer.
({2})
Ich will die Debatte noch einmal für zwei Appelle zu
Flüchtlingsfragen nutzen. Ich habe das in den letzten
Wochen schon einige Male gesagt.
Ich appelliere an jede Stadt, an die Abgeordneten,
Bürgermeister und andere Verantwortliche in den Kommunen: Kümmern Sie sich um die aktuelle Flüchtlingslage! Bilden Sie runde Tische! Versuchen Sie, zwei
Dinge zu tun, nämlich zum einen der Frage nachzugehen, wie es den Menschen geht und wie die konkrete
Lebenssituation in den Flüchtlingsheimen und -wohnungen ist, und zum anderen: Werben Sie um Verständnis!
Ich glaube, man muss die Flüchtlingsfrage personalisieren. Wenn man das persönliche Schicksal von Menschen erläutert, ist es viel einfacher, um Verständnis zu
werben.
Ich muss, obwohl dies keine Debatte über humanitäre
Hilfe ist, aber auch das Thema Ebola ansprechen, weil
ich die große Sorge habe, dass wir gerade eine zweite
Katastrophe erleben. Die erste Katastrophe ist, dass wir
zu spät reagiert haben. Jetzt muss man, glaube ich, aufpassen und die Länder benennen, statt einfach zu sagen:
„in Afrika“. Wir haben in Sierra Leone, Guinea und
Liberia zu spät reagiert. Jetzt kommt die zweite Katastrophe hinzu. Meine Sorge ist, dass wir jetzt eine Panik
erleben - die leider auch von vielen Medien nicht nur in
den Vereinigten Staaten, sondern auch in Europa und in
Deutschland geschürt wird -,
({3})
die davon ablenkt, wo die Hilfe jetzt dringend vonnöten
ist, und die zudem noch zu einem absurden Rassismus
führt. Damit werden die Menschen, die schon getroffen
und belastet sind, zusätzlich mit Rassismus bestraft. Das
darf nicht sein, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({4})
Menschenrechtspolitik braucht Institutionen. Das gilt
in Europa genauso wie in Deutschland. Eine solche Institution ist der Beauftragte der Bundesregierung für
Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe. Ich
glaube, nach einem halben Jahr kann man sagen, dass
Christoph Strässer die schon sehr gute Arbeit von
Markus Löning in einer hervorragenden Art und Weise
fortführt. Ich rufe schon jetzt dazu auf, in den nächsten
Monaten und Jahren darüber nachzudenken, wie man
diese wichtige Institution weiter stärken kann.
Wir haben weitere wichtige Institutionen. Eine weitere wichtige Institution ist das Deutsche Institut für
Menschenrechte, das ebenso hervorragende Arbeit leistet, unabhängig und nicht schrill, sondern klar in der
politischen Ansage ist. Wer die Debatte kennt, weiß, wie
dringend notwendig es ist, eine gesetzliche Grundlage
für das Deutsche Institut für Menschenrechte zu schaffen. Die Zeit drängt. Ich begrüße deshalb ausdrücklich,
dass Bundesjustizminister Heiko Maas einen Gesetzentwurf vorgelegt und öffentlich benannt hat. Dieser Entwurf befindet sich in der Kabinettsabstimmung. Ich will
in aller Ruhe und Klarheit betonen: Ich gehe davon aus,
dass sich die Koalition der großen Verantwortung bewusst ist. Sonst droht in Kürze die Aberkennung des
A-Status der internationalen Menschenrechtsinstitute.
Sicherlich haben auch Aserbaidschan und Russland einen solchen A-Status. Es gibt aber viele gute Gründe,
warum es trotzdem wichtig ist, unseren A-Status zu erhalten. Ich habe erst heute gehört, dass sich Russland in
der Überprüfung befindet. Es droht den A-Status zu verlieren und auf den B-Status herabgestuft zu werden. Ich
möchte mir die Peinlichkeit nicht ausmalen, dass
Deutschland, während es im nächsten Jahr den Vorsitz
im UN-Menschenrechtsrat übernimmt, gemeinsam mit
Russland von A auf B herabgestuft wird. Wir sollten alles tun, um das zu vermeiden.
({5})
Das Thema der Zukunft wird Wirtschaft und Menschenrechte sein. Das ist bereits ein menschenrechtliches
Schwerpunktthema der Europäischen Union ebenso wie
Deutschlands. Das wird das erste Halbjahr im Ausschuss
für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe bestimmen.
So kritisch man manches an TTIP und CETA sehen
kann, so dankbar bin ich für die entsprechenden Debatten; denn sie eröffnen endlich die Chance, über andere
handelsrechtliche Fragen und andere Abkommen kritisch zu diskutieren. Ich freue mich darüber, dass
Deutschland nach europäischer und internationaler Aufforderung endlich einen nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschrechte vorbereitet. Am 6. November fällt der
Startschuss im Auswärtigen Amt. Ich glaube, das ist ein
großer Erfolg und ganz wichtig für die Bundesrepublik
Deutschland.
({6})
Genauso wichtig ist allerdings, dass das Fakultativprotokoll zum UN-Sozialpakt endlich ratifiziert wird. Im
Bericht der Europäischen Union werden die Länder dazu
ausdrücklich aufgefordert. Damit ist wohl auch Deutschland gemeint. Ich halte es außerdem für überfällig, dass
wir nicht nur an die Entwicklungsländer appellieren, etwas zu tun, sondern auch nach über 20 Jahren mit gutem
Beispiel vorangehen und endlich die ILO 169 zu Rechten der indigenen Bevölkerung ratifizieren und umsetzen. Das steht nach über 20 Jahren dringend an.
Vielen Dank.
({7})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Annette Groth
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Wir debattieren nun über die EU-Menschenrechtsberichte für die Jahre 2012 und 2013. Diese Berichte beleuchten genauso wie beim letzten Mal vor allem die Situation der Menschenrechte in Nicht-EU-Staaten.
Menschenrechtsverletzungen innerhalb der EU will man
wohl verschweigen. Was ist zum Beispiel mit den Waffenexporten aus Ländern der EU? Sie sind, wie wir alle
wissen, für schwerste Menschenrechtsverletzungen mit
verantwortlich. Doch der Bericht fordert keinerlei Konsequenzen, wie zum Beispiel ein Exportverbot für Ausrüstungsgegenstände für Polizeien oder paramilitärische
Einheiten in autoritären Regimen.
Eine Auseinandersetzung mit den äußerst negativen
Auswirkungen von EU-Freihandelsabkommen mit Ländern des globalen Südens fehlt in dem Bericht völlig.
Durch das EU-Abkommen mit Kolumbien zum Beispiel
wären, wenn es in Kraft treten würde, etwa 400 000
Milchbauern in ihrer Existenz bedroht. Das sind die
Auswirkungen von Freihandelsabkommen.
({0})
In vielen Staaten der EU ist eine zunehmende Einschüchterung und Kriminalisierung von Menschen, die
gegen die neoliberale Politik protestieren, festzustellen.
Bei den großen Demonstrationen in Spanien, Italien und
Griechenland ist die Polizei mit unverantwortlicher
Härte gegen die Demonstrierenden vorgegangen. Etliche
wurden verhaftet, viele mit teilweise hohen Geldstrafen
belegt. Dazu herrscht zumeist lautes Schweigen. Ganz
anders ist es bei China, wie wir gerade in Hongkong beobachten. Da ist die Entrüstung zu Recht groß, wenn die
Polizei mit solcher Härte gegen die Demonstrierenden
vorgeht.
Aber auch in Deutschland ist eine solche Entwicklung
festzustellen. Die ständig zunehmende Repression gegen
den antifaschistischen Widerstand, die Blockupy-Bewegung oder die Menschenrechts- und Sozialproteste gefährden das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dagegen müssen wir uns doch alle wehren.
({1})
Wir fordern, dass der nächste Menschenrechtsbericht die
konkreten Folgen dieser Repression für demokratische
Rechte in der EU aufzeigt und die Akteure klar benennt.
Durch die verfehlte Politik in der EU hat die soziale
Ausgrenzung in den letzten Jahren immer mehr zugenommen. Armut, Perspektivlosigkeit, Wohnungsnot,
fehlender Zugang zu Gesundheitsversorgung und Arbeitslosigkeit sind für viele Millionen EU-Bürgerinnen
und EU-Bürger eine traurige Tatsache. Fast 25 Millionen
Menschen in der EU haben keinen Arbeitsplatz, darunter
5 Millionen Jugendliche. In Griechenland leben heute
21 Prozent der Bevölkerung von einem Einkommen, das
weniger als den Mindestlohn von 470 Euro im Monat
beträgt. Mehr als ein Drittel kann die Miete nicht mehr
bezahlen und ist von Obdachlosigkeit bedroht. Ein
Großteil der Arbeitslosen hat keine Krankenversicherung mehr.
Diese schrecklichen Lebensbedingungen sind mit der
EU-Grundrechtecharta keinesfalls vereinbar. Die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich ist demokratiegefährdend und fördert Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Das haben die Wahlen in mehreren EU-Ländern,
zuletzt in Ungarn, klar gezeigt. In Ungarn ist die rechtsextreme Jobbik-Partei inzwischen zweitstärkste politische Kraft. Das ist ein Skandal und macht mir Angst.
({2})
Skandalös - Frank Schwabe hat es gerade erwähnt ist natürlich die EU-Flüchtlingspolitik, die aber in dem
Menschenrechtsbericht überhaupt nicht erwähnt ist. In
den letzten 14 Jahren sind mindestens 25 000 Menschen
im Mittelmeer ertrunken, in diesem Jahr mehr als 3 000.
Ohne „Mare Nostrum“, verehrter Herr Schwabe, wären
es noch viel mehr. Jetzt will die italienische Regierung
„Mare Nostrum“ stoppen, weil sich die anderen EUStaaten weigern, sich finanziell daran zu beteiligen. Das
ist doch eine Schande für uns alle; denn die Zahl der Ertrinkenden wird steigen. Das ist völlig klar.
({3})
Ich habe mich über den Friedenspreis des Deutschen
Buchhandels an Jaron Lanier gefreut und möchte aus
seiner bemerkenswerten Rede zitieren.
Der Anspruch, dass alte Vorrechte über Bord geworfen werden müssen - etwa Datenschutz oder die
Errungenschaften der Arbeiterbewegung -, um
neuer technologischer Effizienz Platz zu machen,
ist grotesk. … Allen Technologie-Schaffenden gebe
ich zu bedenken: Wenn eine neue Effizienz von digitalem Networking auf der Zerstörung von Würde
beruht, seid ihr nicht gut in eurem Fach.
Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist
ein Menschenrecht, das aber nicht den Profitinteressen
von Amazon, Google und Co. geopfert werden darf. Es
ist zu wünschen und zu hoffen, dass in den nächsten
Menschenrechtsberichten der EU alle diese vergessenen
Themen, die aber so wichtig für uns sind, endlich thematisiert werden. Dafür müssen wir uns alle einsetzen.
Vielen Dank.
({4})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Erika
Steinbach das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Koalitionsfreund Schwabe, als politischer Lebensabschnittspartner Ihrer Partei darf ich Ihnen versichern: Wir wollen selbstverständlich das Deutsche Institut für Menschenrechte auf eine gute Grundlage
stellen, damit es endlich den Pariser Prinzipien entspricht. Da sind wir einer Meinung. Das wird auch kommen.
Die beiden vorliegenden EU-Jahresberichte 2012 und
2013 über Menschenrechte und Demokratie in der Welt
zeigen, wie die Europäische Union sich positioniert und
engagiert hat. Aber es ist auch erkennbar - gerade im
Blick auf die aktuellen Entwicklungen in diesem Jahr -,
dass wir vor neuen, ganz gewaltigen Herausforderungen
stehen, die uns noch sehr lange in Atem halten werden.
Dabei ist es nötig, dass die Europäische Union mehr
noch als bisher mit einer Stimme spricht, dass wir alle
beieinander bleiben. Nur so haben wir auch Durchsetzungsmöglichkeiten.
Die künftige EU-Außenbeauftragte Federica
Mogherini hat vor dem Auswärtigen Ausschuss des Europäischen Parlaments verdeutlicht, wo sie die Schwerpunkte ihrer Politik setzen will. Ich finde es gut, dass sie
die Menschenrechte als ein Herzstück der europäischen
Außenpolitik bezeichnet hat. Das ist eine gute, positive
Aussage in diesen schwierigen Zeiten.
({0})
Außerdem haben mich auch ihre Ausführungen zum
Schutz der Zivilgesellschaft sowie zu weiteren klassischen Menschenrechtsthemen, wie zum Thema Todesstrafe oder zum Thema Folter, sehr überzeugt. Es ist
auch gut, dass es einen Sonderbeauftragten der Europäischen Union für Menschenrechte gibt. Stavros Lambrinidis
hat diese Aufgabe in den letzten Jahren sehr verantwortungsvoll wahrgenommen. Deshalb sind wir ausdrücklich für die Erteilung eines Folgemandats. Er hat seine
Arbeit gut gemacht.
Berichte wie die jetzt vorliegenden, die wir beraten,
beschreiben weitgehend die Vergangenheit. Das ist sehr
nützlich; man kann daraus lernen. Inzwischen bedrängen
uns aber auch akut neue gewaltige Herausforderungen
innerhalb und außerhalb der Europäischen Union. So hat
der Terror des „Islamischen Staates im Irak und in
Syrien“ weltweites Entsetzen ausgelöst. Vor allem die
wirklich unbegreifbare, brutale Gewalt gegen religiöse
Minderheiten wie Christen und Jesiden, aber auch gegen
alle anderen Andersgläubigen durch Mord, durch Folter,
durch Vergewaltigung, durch Versklavung, durch Vertreibung macht uns jetzt im 21. Jahrhundert fassungslos;
schließlich haben wir doch eine ganze Weile geglaubt,
die Welt könnte endlich besser werden. Ein Ende ist leider nicht absehbar.
Insofern, glaube ich, ist es gut, dass es deutsche Waffenlieferungen an die dagegen kämpfenden kurdischen
Kräfte gibt; das ist eine richtige Entscheidung gewesen.
Das wird zwar nicht viel helfen, aber kann wenigstens
etwas helfen, die Zivilbevölkerung vor den barbarischen
IS-Horden zu schützen.
Wichtig ist auch Deutschlands humanitäre Hilfe, um
den Hunderttausenden Binnenflüchtlingen über den
Winter zu helfen. Ich begrüße ausdrücklich, dass der
Haushaltsausschuss des Bundestages unter anderem in
der vergangenen Woche zusätzlich 60 Millionen Euro
für die Flüchtlingshilfe bewilligt hat.
({1})
Die Türkei steht zurzeit - ich sage: mit Recht - international für ihr mehr als halbherziges Vorgehen gegen
den IS in der Kritik. Präsident Erdogan ist wirklich dringend gefordert, sich der internationalen Koalition gegen
die islamistischen IS-Terroristen anzuschließen, damit
die Region nicht noch tiefer im Chaos versinkt. Wenn
Erdogan glaubt, dass er durch Toleranz gegenüber dem
IS sein Land vor diesen Verbrechern beschützen kann,
dann irrt er fundamental; davon bin ich überzeugt. Der
IS wird dort nicht haltmachen.
Im aktuellen EU-Fortschrittsbericht ist die Türkei darüber hinaus erneut unter anderem für die Einschränkung
der Medien- und Meinungsfreiheit kritisiert worden.
Auch im Umgang mit Minderheiten ist Ankara noch
weit entfernt von europäischen Standards. Das Menschenrecht auf Religionsfreiheit wird den religiösen
Minderheiten nach wie vor nicht ohne weitgehende Einschränkungen gewährt - und das ist keine Freiheit. Auch
der Völkermord an den Armeniern, an den Assyrern, den
Aramäern und den Chaldäern, der sich im kommenden
Jahr zum 100. Male jährt, wird von der Türkei weiterhin
weitgehend geleugnet.
Die EU-Kommission hält ungeachtet massiver Kritik
im Fortschrittsbericht - so heißt es so schön; richtiger
wäre „Rückschrittsbericht“ - an den Beitrittsgesprächen
mit der Türkei fest. Nichts sei besser geeignet als der Beitrittsprozess, um Reformen anzustoßen und Kooperationsprojekte im Interesse der Europäischen Union voranzubringen, so heißt es. Die Realität sieht aber anders aus. Ich sage
Ihnen: Die Europäische Union ist keine Besserungsanstalt
für unwillige Beitrittskandidaten. Das haben wir eigentlich
nicht nötig.
({2})
Richten wir den Blick in den Osten unseres eigenen
Kontinents: Russland hat mit seiner gewaltsamen Annexion
der ukrainischen Halbinsel Krim das Völkerrecht massiv
gebrochen. Dort stehen vor allem die Krimtataren unter
starkem Druck; Einreiseverbote gegen ihre führenden Vertreter Mustafa Dschemilew und Refat Tschubarow sprechen eine deutliche Sprache. Auch in der Ostukraine bricht
Russland mit seiner aktiven Politik der Unterstützung der
prorussischen Rebellengruppen das Völkerrecht.
Im eigenen Land geht Putin - das haben wir den Medien aktuell entnehmen können - massiv gegen unbequeme Kritiker und Menschenrechtsorganisationen vor.
Gerade hat das russische Justizministerium mit der Zerschlagung der angesehenen Menschenrechtsorganisation
Memorial gedroht. Memorial ist eine im gesamten postsowjetischen Raum aktive Organisation. Deutlich ist,
dass Putin seine repressiven Maßnahmen gegen die Zivilgesellschaft konstant fortsetzt. Er lässt sich nicht beirren, auch nicht durch noch so viele Telefonate, auch
nicht durch noch so vieles Bitten, er macht einfach weiter.
Wir haben über zwei Berichte zu befinden. Beide uns
vorliegenden Berichte machen deutlich, dass die Menschenrechte in der Politik der Europäischen Union ein
immer größeres Gewicht erhalten. Das ist eine gute Botschaft. Fazit ist auch: Die prekäre Weltlage der Gegenwart erfordert, dass dies unabdingbar ist und weiter intensiviert werden muss.
Ich danke Ihnen.
({3})
Als nächster Redner spricht Tom Koenigs.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wörtlich
heißt es im Aktionsplan:
Die EU wird die Menschenrechte in den Mittelpunkt ihrer Beziehungen zu sämtlichen Drittländern
einschließlich ihrer strategischen Partner stellen.
Das ist eine gute Feststellung.
Die 97 Aktionen, die im Aktionsplan enthalten sind,
werden in dem hier zur Debatte stehenden Bericht abgearbeitet. Die EU hat damit den Anspruch bekräftigt, ihre
internen Strukturen und die externe Politik konsequent
auf die Menschenrechte auszurichten. Die jährlichen Berichte sind ein wichtiger Teil dabei.
Meines Erachtens kommt es darauf an, dass man
glaubwürdig bleibt und in der internen Situation genauso
rigoros vorgeht, was die Ansprüche und die Berichte betrifft.
({0})
Denn die Menschenrechtsorientierung ist im Augenblick
von zwei Seiten im Feuer, einerseits von außen, nämlich
durch neu entstandene nichtstaatliche Organisationen
- solche sind es, auch wenn sie sich „Staat“ nennen -,
die frontal die Menschenrechte, die universelle Erklärung der Menschenrechte angreifen, wie der sogenannte
„Islamische Staat“ oder Boko Haram, eine Organisation,
die dies sogar im Namen führt. Das ist eine Infragestellung aller unserer Werte, und die müssen wir ernst nehmen.
Gleichzeitig ist die Europäische Union bezüglich der
Menschenrechte auch in einer internen Krise, nicht nur
weil sich populistische Parteien über Fremdenfeindlichkeit
oder Rassismus zu profilieren versuchen, sondern auch weil
an einzelnen Stellen bis in die konservative Mitte hinein der
Respekt und die Achtung vor den europäischen Menschenrechtsinstitutionen erodieren. Cameron sagt: Wir werden
uns nicht mehr den Richtersprüchen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte unterwerfen. - Das ist ein
Angriff auf die Europäische Menschenrechtskonvention,
die 1953 in Kraft getreten ist. Damit diskreditiert er die
menschenrechtlichen Institutionen. Kürzlich legte sein Justizminister Chris Grayling nach, indem er sagte: Wir werden gegebenenfalls auch aus der Europäischen Menschenrechtskonvention aussteigen. - „Gräulich“, kann ich nur
sagen.
({1})
Die europäische Antwort muss sein, Menschenrechte
als Leitmotiv der Außenpolitik konsequent weiterzuverfolgen und andererseits intern, innerhalb der EU, Menschenrechtsverletzungen ebenso schonungslos anzuprangern und abzustellen. Wir diskreditieren unsere
Glaubwürdigkeit, wenn wir das nicht tun.
Eben ist schon angesprochen worden, dass das Mittelmeer die offene Wunde der Menschenrechtspolitik der
Europäischen Gemeinschaft ist. Es ist nicht nur so, dass
wir uns abschotten, sondern wir betreiben eine Flüchtlingspolitik - wenn man das überhaupt noch „Politik“
nennen kann -, die nicht anders als menschenverachtend
bezeichnet werden kann und vom Kommissionspräsidenten, von der zuständigen Kommissarin, vom EP-Präsidenten bis hin zum Papst auch so bezeichnet worden
ist. Nun gibt es endlich eine Aktion der italienischen
Marine, genannt „Mare Nostrum“, die wenigstens in einzelnen Bereichen Ertrinkende auffischt und an Land
bringt. Jetzt heißt es, dass sie eingestellt werden muss,
weil sie 9 Millionen Euro im Monat kostet. Das kann
doch nicht so sein! Ich habe kein Vertrauen zu einer
Frontex oder Frontex Plus, die letzten Endes doch im
Zeichen der Gefahrenabwehr - so wie übrigens unser
Ausländerrecht auch - handeln: Gefahr Flüchtlinge!
Schutz vor Flüchtlingen, nicht für Flüchtlinge!
({2})
Es hilft auch nicht, Herr Schwabe, wenn Sie sagen,
die humanitäre Hilfe muss angehoben werden. Das haben wir beantragt, und Sie haben erst gestern dagegen
gestimmt. Auch hilft nicht, dass die Beitrittskandidaten
auf Herz und Nieren geprüft werden, sondern wir müssen uns selber prüfen. Da das vereinte Europa stark ist,
könnte es auch stark genug sein, Whistleblowern - die
handeln ja in unserem Sinne, im Sinne der von uns eingebrachten UN-Resolution für Privacy - selbst dann
Asyl zu geben, wenn der „große Bruder“ in den Vereinigten Staaten zürnt. Wenn er deswegen der ganzen Europäischen Gemeinschaft zürnen würde, würden wir das
noch durchhalten - ein kleiner, schwacher Staat wie
Deutschland vielleicht nicht. Das kann sein.
Dazu brauchen wir starke menschenrechtliche Vorgaben, eine starke menschenrechtliche Stimme der Europäischen Gemeinschaft und eine Orientierung nach innen, wie sie verbal nach außen hin besteht. Ich hoffe,
dass zukünftige Berichte in diesem Sinne ausfallen werden. Diese Stimme darf nicht die globale Hoffnung, welche durch die Europäische Gemeinschaft nach außen hin
erweckt wird, Lügen strafen. Dann bleibt nämlich nur
eine Orientierung an Autokraten, Technokraten oder
- noch schlimmer - Theokraten.
Vielen Dank.
({3})
Als letzte Rednerin in dieser Debatte hat die Kollegin
Julia Bartz das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! „Mädchen mit Büchern sind der schlimmste
Albtraum für Terroristen“. So titelte der Daily Telegraph. Malala Yousafzai ist ein solches Mädchen. Sie ist
ein Mädchen, das sich gegen die religiös begründete Unterdrückung wehrte und für das Menschenrecht „Bildung“ - für sie und für andere Kinder - eintritt. Malala
stammt aus dem Swat-Tal in Pakistan, das den meisten
von Ihnen als ehemalige Talibanhochburg bekannt ist.
Systematisch wurden dort die Menschenrechte von
Frauen mit Füßen getreten. Mädchen durften nicht mehr
unverschleiert aus dem Haus gehen. Sie durften nicht
mehr tanzen, nicht mehr Spaß haben. Mädchenschulen
- aus Sicht der Taliban verkörpern sie das Böse schlechthin - wurden einfach dem Erdboden gleichgemacht.
Malala und ihr Vater, ein Lehrer an einer Mädchenschule, leisteten Widerstand. Am 9. Oktober 2012 stoppten Taliban den Schulbus von Malala und anderen Mädchen, die sich dem Schulverbot widersetzten. Aus
nächster Nähe wurde der damals 14-Jährigen, die auf
dem Weg zur Schule war, in den Kopf und in den Hals
geschossen.
Wie durch ein Wunder überlebte sie. Dieser Einschnitt in ihr Leben hielt Malala nicht auf. Heute kämpft
sie weltweit für das Menschenrecht auf Bildung. Malala
macht Hoffnung.
Hoffnung ist wichtig, gerade angesichts des Treibens
der ISIS-Terrormilizen. Die ISIS-Terrormilizen nenne
ich ganz bewusst so. Den Begriff „Staat“, den sie in ihrem Namen verwenden, erkenne ich ihnen ab; denn mit
einem Staat verbinde ich Diplomatie, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltmonopol, keine Willkür und keine Scharia
und nicht Gewalt als einziges Mittel.
({0})
Wie in fast allen Konflikten sind es vor allem Kinder
und Frauen, die unter ISIS leiden. ISIS gibt, so Berichte
dieser Woche, ihre Gräueltaten ganz offen zu. Tausende
Mädchen und Frauen werden auf Sklavenmärkten verkauft, als Haussklavinnen gehalten und Opfer sexueller
Gewalt. Teile von Irak und Syrien sind zu menschenrechtsfreien Zonen verkommen. Krieg und Schrecken
treiben Millionen in die Flucht. Es leben bereits mehr als
3 Millionen Syrer im Exil, 1,5 Millionen Flüchtlinge alleine in der Türkei. Besonders dramatisch ist die Lage
im Libanon. Über 1 Million Flüchtlinge sind dort untergekommen. Das ist eine dramatische Anzahl, wenn man
bedenkt, dass der Libanon selbst nur ungefähr 4,5 Millionen Einwohner hat. Umgerechnet auf Deutschland
würde das 20 Millionen Flüchtlinge bedeuten.
Die Infrastruktur im Libanon steht kurz vor dem Kollaps. Die Situation im Nordirak ist nicht besser. Hier
müssen mehr als 2 Millionen Binnenflüchtlinge untergebracht werden. Unser Minister Gerd Müller war erst
kürzlich vor Ort und hat berichtet, dass die Essenspakete
dort rationiert werden und viele ohne Zelte auf der
Straße leben. Es fehlen Decken und Zelte, von medizinischer Versorgung ganz zu schweigen.
({1})
Rund 12 Millionen Menschen benötigen dringend unsere Hilfe. Um es drastisch zu sagen: Erst kommt der
Regen, dann der Winter und dann der Tod, wenn wir
nicht stärker helfen. Deutschland hat seit 2012 für die
Flüchtlinge in Syrien, im Irak und in den angrenzenden
Staaten bereits über 671 Millionen Euro zur Verfügung
gestellt, erst Anfang Oktober noch einmal weitere Millionen. Ich bitte an dieser Stelle die Europäische Union,
auch wenn noch nicht alle Kommissare neu bestellt sind,
schleunigst ihre vorhandenen Mittel freizugeben und
jetzt zu handeln.
({2})
Tausende flüchten vor den schwarzen Fahnen der
ISIS und sind froh, wenn sie die der Vereinten Nationen
sehen. Nach den Fahnen der Europäischen Union muss
man derzeit dort leider noch suchen. Unsere EU muss
aufwachen und sich stärker als bisher im Nordirak und in
Syrien an der humanitären Hilfe beteiligen. Dass wir
nämlich auf europäischer Ebene viel bewirken können,
zeigen auch die vorgelegten Berichte. Innerhalb der letzten Jahre konnten wir die Menschenrechtspolitik noch
stärker im auswärtigen Handeln der EU verankern. Das
Amt des EU-Sonderbeauftragten für Menschenrechte
wurde geschaffen. Die EU hat 2012 und 2013 mit 30
Partnerländern Menschenrechtsdialoge geführt. Diese
länderspezifischen Menschenrechtsstrategien befinden
sich auf einem guten Weg. 146 wurden ausgearbeitet,
und 123 werden bereits umgesetzt.
Ein wichtiges Signal ist auch die Benennung eines
Beauftragten für Religionsfreiheit; denn die freie Ausübung von Religion ist vielerorts nicht möglich. Das
Christentum ist weltweit die am stärksten verfolgte Religion. Wir wollen Todesstrafe, Folter und Misshandlung
weltweit abschaffen und haben hierfür die Mittel auf
1,33 Milliarden Euro aufgestockt.
Der Europäische Auswärtige Dienst hat mit der Entwicklung eines Konfliktfrühwarnsystems begonnen, in
das auch Menschenrechtsverletzungen als Indikatoren
aufgenommen wurden. Dieses Projekt läuft in acht Ländern der Sahelzone und soll ausgeweitet werden. Es
könnte langfristig dazu dienen, neue Handlungsoptionen
in der Krisenprävention zu eröffnen.
Wie Sie sehen, gibt es zahlreiche Maßnahmen an unterschiedlichen Orten, um Menschenrechte durchzusetzen. Das ist gut so; denn in vielen Teilen dieses Planeten
bleiben besonders Kindern und Frauen Menschenrechte
verwehrt, sei es aus religiösen Gründen, Armut, Gewalt
oder staatlicher Willkür. Auch in Europa müssen wir
noch an der universellen Umsetzung der Menschenrechte arbeiten.
Es gibt 23 623 offiziell registrierte Opfer von Menschenhandel in der Europäischen Union; Tendenz steigend, und zwar von 2008 bis 2010 um 18 Prozent. Unter
den Betroffenen sind 80 Prozent Frauen und Mädchen.
Die tatsächliche Dunkelziffer liegt sicherlich noch weit
über dieser Zahl von 23 623 Opfern. Deshalb ist es richtig und wichtig, dass wir nun in Deutschland das Prostitutionsgesetz verschärfen, um Zwangsprostitution einzudämmen und Opfer sexueller Gewalt zu schützen.
({3})
Meine Damen und Herren, Sie sehen: Menschenrechte sind ein Querschnittsthema, das viele Politikfelder berührt. Wir sind diesbezüglich in unterschiedlichen
politischen Bereichen tätig, insbesondere auch in der
Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik. Zum Beispiel hilft die Bundeswehr in Mali beim Staatsaufbau.
Stabile staatliche Strukturen sind wichtig, damit Kinder
sicher leben können, um Bildung und wirtschaftliches
Wachstum zu ermöglichen und auch um Menschenhandel einzudämmen. Im Norden Malis verläuft eine der
drei Hauptrouten durch die Sahara, über die nahezu der
gesamte afrikanische Menschen-, Waffen- und Drogenhandel abgewickelt wird.
Sie sehen: Die Zusammenhänge sind komplex. In einer immer stärker zusammenwachsenden Welt brauchen
wir einen vernetzten Ansatz aus Diplomatie, humanitärer Hilfe, wirtschaftlicher Zusammenarbeit und Sicherheit. Damit Menschen eine gute Zukunft in ihrer Heimat
finden, beteiligen wir uns zum Beispiel am Aufbau einer
Panafrikanischen Universität.
({4})
In Afghanistan haben wir Schulen auch für Mädchen gebaut und Lehrerinnen ausgebildet. Ohne den Schutz von
ISAF wäre das aber nicht möglich gewesen. Ich hoffe
sehr, dass unsere mittlerweile zwölf Jahre währenden
Anstrengungen von nachhaltigem Erfolg geprägt sind
und Bildung den Grundstein für Afghanistans Zukunft
legt. Um es mit den Worten von Malala zu sagen: Stifte
und Bücher sind Waffen, die Terrorismus besiegen.
Vielen Dank.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die Debatte.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu
den EU-Jahresberichten 2012 und 2013 über Menschenrechte und Demokratie in der Welt. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/
2866, in Kenntnis der EU-Berichte eine Entschließung
anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das ist die Koalition. Wer stimmt dagegen? Das ist die Opposition. Enthaltungen gibt es keine. Dann
ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/
2896. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? Die Linke. Wer stimmt dagegen? - Die Koalition. Wer
enthält sich? - Bündnis 90/Die Grünen. Damit ist dieser
Antrag abgelehnt worden mit den Stimmen der Koalition
bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Rosemarie Hein, Diana Golze, Nicole
Gohlke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Schulsozialarbeit an allen Schulen sicherstellen
Drucksache 18/2013
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Dazu höre ich
keinen Widerspruch. Deshalb ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Debatte. Wenn die Kolleginnen und
Kollegen sich gesetzt haben, können wir auch beginnen.
- Als erste Rednerin hat die Kollegin Dr. Rosemarie
Hein das Wort.
({1})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Sie alle wissen, dass sich die Bedingungen für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen
in den vergangenen Jahrzehnten deutlich verändert haben. Lehren und Lernen ist deutlich schwieriger geworden. Das liegt auch daran, dass sich die Schule in
Deutschland nicht in gleichem Maße mitverändert hat.
So klagen heute Lehrerinnen und Lehrer, dass die ihnen
anvertrauten Schülerinnen und Schüler immer schwerer
zu motivieren seien, dass sie nicht wüssten, was sie wollen, dass die Familien sich zu wenig kümmerten usf.
Ausbildungsbetriebe beklagen, dass die Disziplin und
die Leistungsbereitschaft fehlten, dass die Jugendlichen
nicht gelernt hätten, pünktlich zu sein usw.
Nun könnte man die alten Griechen zitieren, die Ähnliches auch über die Jugendlichen der damaligen Zeit gesagt haben. Aber das hilft uns ja heute nicht weiter. In
der Tat verlangen wir heute sehr viel von jungen Menschen, und in der Tat sind Familien und Lehrkräfte oft
nicht in der Lage, in dieser Situation die nötigen Hilfen
zu bieten. Auch darum hat sich in den letzten Jahrzehnten die Schulsozialarbeit als ein Instrument entwickelt,
das geeignet ist, das Lernen von Kindern und Jugendlichen zu unterstützen. Dabei ist Schulsozialarbeit ein Angebot für Kinder und Jugendliche, aber ebenso für Lehrkräfte und Eltern.
({0})
Schulsozialarbeit erübrigt nicht das soziale Engagement von Lehrerinnen und Lehrern. Sie ist auch kein Ersatz für Freizeitangebote, etwa am Nachmittag an Ganztagsschulen. Sozialpädagogische Fachkräfte sehen oft
Probleme, bevor sie wirklich aufbrechen, und wissen
Rat, wenn es scheinbar nicht mehr weitergeht. Sie können Hilfen vermitteln und manchmal auch einfach Hilfen bieten. Darum ist Schulsozialarbeit ein unverzichtbarer Bestandteil erfolgreicher Schule von heute
geworden.
({1})
Aber Schulsozialarbeit ist noch lange nicht an jeder
Schule verfügbar, und dort, wo es sie gibt, ist sie nicht
dauerhaft gesichert. Oftmals wird Schulsozialarbeit als
Notnagel an vermeintlichen Problemschulen oder in sogenannten sozialen Brennpunkten angesehen, und tatsächlich meinen manche, an Gymnasien sei das alles gar
nicht nötig. Aber erstens ist die Schulsozialarbeit eben
nicht die Feuerwehr, wenn die normale Bildungsarbeit
versagt, und zweitens gibt es beim Lernen an Gymnasien
nicht weniger Probleme; es sind bestenfalls andere.
Schulsozialarbeit ist darum an jeder Schule wichtig.
({2})
Im Jahre 2011 wurde das Bildungs- und Teilhabepaket beschlossen, über das Kindern aus Hartz-IV-Familien zusätzliche Hilfen bei der Teilhabe gewährt werden
sollten. In diesem Zusammenhang hat die SPD damals,
sozusagen als Preis für ihre Zustimmung, zusätzliche
Mittel in Höhe von 400 Millionen Euro pro Jahr ausgehandelt, mit denen unter anderem Schulsozialarbeit finanziert werden sollte. Auch wenn wir das Paket für
fragwürdig halten, waren die 400 Millionen Euro in der
Tat ein Segen. Die Kommunen haben die Mittel in aller
Regel reichlich genutzt; ungefähr 3 000 Schulsozialarbeiterinnenstellen wurden darüber finanziert. In meiner
Heimatstadt Magdeburg konnte damit an zwölf Grundschulen zusätzlich Schulsozialarbeit angeboten werden;
an anderen Schulen wurde die Stundenzahl heraufgesetzt. Viele Kommunen haben das ganz ähnlich gehandhabt.
Das Dumme ist nur, dass dieser Geldregen bis zum
Jahresende 2013 begrenzt war. Nun gibt es zwar noch
das Bildungs- und Teilhabepaket, aber vom Bund nichts
mehr für Schulsozialarbeit. Sie haben den Leuten Appetit gemacht und gezeigt, wie gut es sein könnte, und nun
müssen sie sehen, wo sie bleiben. Das halten wir für wenig sinnvoll.
({3})
Nun erklärte die Ministerin, Frau Wanka, die Länder
könnten ja schließlich mit den ab 2015 eingesparten
BAföG-Mitteln auch Schulsozialarbeit finanzieren.
Doch das ist, glaube ich, eine Milchmädchenrechnung.
Mit 400 Millionen Euro im Jahr kann man maximal
4 000 Stellen finanzieren. Bundesweit gibt es aber
34 000 allgemeinbildende Schulen und noch einmal ungefähr 9 000 berufsbildende Schulen. Wenn man an jeder
Schule nur eine pädagogische Fachkraft haben wollte,
dann wäre ein Finanzvolumen von 1,7 Milliarden Euro
erforderlich, und das ist weit mehr als die gesamte
BAföG-Ersparnis. An großen Schulen bräuchte man natürlich nicht nur eine Fachkraft; man sagt, für 150 Schülerinnen und Schüler sollte idealerweise eine Fachkraft
zur Verfügung stehen. Wir haben 11 Millionen Kinder
und Jugendliche, die derzeit an Schulen in Deutschland
lernen. Rechnen können Sie selber.
Weil Schulsozialarbeit künftig aus der schulischen
Bildungsarbeit nicht mehr wegzudenken ist, haben wir
uns überlegt, wie man das Problem der Finanzierung lösen könnte. Dazu wollen wir einen eigenen Paragrafen
im Kinder- und Jugendhilfegesetz verankern. Das ist
auch deshalb wichtig, weil die Schulsozialarbeit nicht
gegen andere Formen der Jugendhilfe ausgespielt werden soll, sondern als eigenständige, neue Säule verankert
werden soll.
({4})
Natürlich muss man das auch finanzieren, und darum
soll die Schulsozialarbeit bei der Neuordnung der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern in den
nächsten Jahren berücksichtigt werden. Bis die Neuordnung in Kraft treten kann - das wird, wenn wir Glück
haben, 2020 sein -, brauchen wir ein Förderprogramm,
um Schulsozialarbeit flächendeckend aufzubauen. Danach sollte es auf anderem Wege zu finanzieren sein.
Wir sind uns sehr sicher, dass damit den Lehrenden,
den Lernenden und den Familien gut geholfen werden
kann und dass es mehr bringt als die halbseidenen Vorschläge der Ministerin oder viele weitere Hilfsprogramme. Wir sind uns auch sicher: Es wird den Kindern
und Jugendlichen helfen, bessere Lernergebnisse zu erzielen, auf denen sie auf ihrem Lebensweg entsprechend
aufbauen können.
Vielen Dank.
({5})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Christina
Schwarzer das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Damen und Herren! Wie die meisten
von Ihnen vielleicht wissen, komme ich aus Berlin-Neukölln. Manche von Ihnen wissen sicherlich auch, dass
ich dort 14 Jahre lang Kommunalpolitik im Bereich Kinder- und Jugendhilfe gemacht habe. Diese lange Erfahrungszeit hat mir dabei geholfen, sehr gut einschätzen zu
können, welchen Stellenwert Schulsozialarbeit für die
Entwicklung unserer Kinder, aber auch für das Bildungssystem selbst hat, insbesondere an sogenannten Brennpunktschulen.
Die Schulsozialarbeiter sind häufig die Schnittstelle
zwischen Schülern und Eltern, Lehrern und außerschulischen Aktivitäten. Sie unterstützen Kinder und Jugendliche bei gesellschaftlicher Teilhabe, ebnen den Weg, um
ungleiche Startchancen bei der Bildung zu gleichen
Chancen zu machen und einen guten Schulabschluss zu
ermöglichen. Die Lebens- und Entwicklungsbedingungen der Kinder und Jugendlichen werden durch die pädagogische Arbeit der Schulsozialarbeiter nachhaltig
verbessert. Diese hilft, eigenverantwortlich ins Berufsleben zu starten.
Ich kenne keine Schule, die auf die wichtige Arbeit
der Schulsozialarbeiter jemals wieder verzichten
möchte, gerade weil die Sozialarbeiter an den Schulen
einen hervorragenden Job machen. Wenn Sie in Ihrem
Antrag fordern, nur noch qualifiziertes Personal einzustellen, dann schwingt für mich erhebliche Kritik am aktuellen Status quo mit. Diese Kritik kann ich aufgrund
meiner Arbeitserfahrung in Neukölln, einer Kommune
mit einer vergleichsweise hohen Dichte an sogenannten
Brennpunktschulen, nicht teilen.
({0})
- Ach, Herr Mutlu, Sie kennen Berlin ja ganz gut; dann
wissen Sie, was ich meine. - Im Gegenteil: Ich habe die
Qualität der Arbeit der Schulsozialarbeiter als durchweg
sehr gut wahrgenommen.
Die Schüler bringen oft vielfältige Probleme mit; von
kleinen Disputen zu Hause bis hin zur kriminellen Karriere ist oft alles dabei. Ich habe unsere Schulsozialarbeiter immer als aufopferungsvolle Anwälte der Jugendlichen erlebt, die sich mit vollem Einsatz und nach bestem
Wissen und Gewissen um die Kinder und Jugendlichen
bemühen und ihnen bei Bedarf auch ihre Grenzen aufzeigen. Dafür gilt ihnen meine große Anerkennung und
mein Dank. Ich denke, dass sich das ganze Haus dem anschließen kann.
({1})
In meiner Zeit als Kommunalpolitikerin bin ich oft an
meine Grenzen gestoßen. Oft musste ich sagen: Da können wir nichts machen, da muss der Bund ran. Im Bereich der Schulsozialarbeit jedoch wäre mir dieser Gedanke nie gekommen.
({2})
- Ich lerne immer wieder gerne dazu, aber in dem Fall
nicht. - Wer in den Kommunen arbeitet, wer möglicherweise selber dort Praxiserfahrung gesammelt hat, der
weiß besser als jeder andere, dass die Schulsozialarbeit
am besten funktioniert, wenn sie möglichst kleinteilig
und bedarfsgerecht organisiert ist; denn ein Sozialpädagoge im Norden meines schönen Bezirks Neukölln hat
sicherlich ganz andere Aufgaben und Schwerpunkte als
einer in Ehingen, Würzburg oder Lüneburg.
({3})
Wenn ich den vorliegenden Antrag der Linken richtig
verstehe, dann geht es ohnehin nur ums Bezahlen, aber
nicht ums Organisieren, Lenken und Entscheiden. Dennoch: Obwohl wir bei der Schulsozialarbeit von einer
Aufgabe sprechen, die im föderalen System klar den
Ländern und den kommunalen Gebietskörperschaften
zugeordnet ist, stellte der Bund in den Jahren 2011 bis
2013 zusätzliche Mittel zur Verfügung, um die Länder
und Kommunen bei ihrer ureigenen Aufgabe zu unterstützen. Das haben Sie in Ihrem Antrag ganz richtig dargelegt.
Das Stichwort heißt jedoch: Anschubfinanzierung.
({4})
Gemeinsam wurde vereinbart, dass die Anschubfinanzierung 2013 ausläuft; und das ist auch gut so. Eine dauerhafte zweckgebundene Finanzierung der Schulsozialarbeit durch den Bund verbietet das Grundgesetz. Die
Zuständigkeit für das Schulwesen liegt allein bei den
Ländern. Es ist mir klar, dass Sie das durch Ihre Forderung, die Finanzierung in SGB VIII zu verankern, umgehen wollen. Schlau gedacht; aber Tatsache ist: Schulsozialarbeiter arbeiten im schulischen Raum, und ohne
Wenn und Aber bewegen wir uns hier in einem Bereich,
für den die Kompetenz bei den Ländern und Kommunen
liegt.
({5})
Darum widerspricht eine dauerhafte Finanzierung der
Schulsozialarbeit durch den Bund dem Anspruch der
Länder auf die Bildungshoheit. Die Verantwortung der
Länder für den Bildungsbereich spielt auch bei der Finanzierung eine große Rolle. Dennoch hat der Bund die
Länder und Kommunen in den vergangenen Jahren - bis
heute - bei der Bewältigung ihrer eigenen Aufgaben so
stark unterstützt wie nie zuvor.
Lassen Sie mich noch zwei Dinge anmerken:
Erstens. Ab dem Jahr 2014, in dem die 400 Millionen
Euro für die Schulsozialarbeit weggefallen sind, entlastet der Bund die Kommunen um einen riesigen Haushaltsposten. Er übernimmt seit diesem Jahr die Kosten
für die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung komplett von den Kommunen. Das hat das Parlament damals mit der Mehrheit von Schwarz-Gelb beschlossen. Für die Städte und Gemeinden bedeutet das
allein bis zum Jahr 2016 eine Entlastung um über
18 Milliarden Euro.
Zweitens. Nachdem die letzte Bundesregierung hinsichtlich der Entlastung der Kommunen Geschichte geschrieben hat, tut es ihr diese Bundesregierung hinsichtlich der Entlastung der Länder gleich.
({6})
Mit der Übernahme der vollen Finanzierung des
BAföG durch den Bund zum Jahresbeginn 2015 entlastet der Bund die Länder künftig jährlich um
1,2 Milliarden Euro; aber das wissen Sie ja alle.
Wir sehen: Der Bund nimmt seine Aufgabe, die Kommunen und Länder bei ihren vielfältigen Aufgaben zu
unterstützen, sehr ernst. Hier kommen wir aber in einen
Bereich, bei dem es um eine ureigene Aufgabe der Länder in unserem föderalen System geht. Darum sagen wir:
Ja, Schulsozialarbeit ist natürlich an jeder Schule wichtig - das ist vollkommen unstrittig -, und ja, um die Arbeit vernünftig zu leisten, braucht man eine auskömmliche Finanzierung. Wir sagen aber auch: Das müssen die
Länder und die Kommunen selbst machen. Jetzt liegt der
Ball dort, diese großen Einsparungen sinnvoll zu nutzen.
Mein Rat an Länder und Kommunen lautet: Setzen Sie
etwas von dem Geld für die Schulsozialarbeit ein. Wir
sind uns einig, dass es dort besonders gut angelegt ist.
Im Sinne der Schulsozialarbeit: Vielen Dank.
({7})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Beate WalterRosenheimer das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst einmal möchte ich etwas Ungewöhnliches tun,
und mich bei Ihnen, liebe Frau Hein, und bei der Fraktion der Linken dafür bedanken, dass Sie dieses Thema
mit Ihrem Antrag aufgesetzt haben, sodass wir heute in
diesem Hohen Haus über dieses wichtige Thema debattieren dürfen.
({0})
Warum ist mir das so wichtig? Die Schulsozialarbeit
in Deutschland ist ein unverzichtbares Element unserer
Schule; das haben wir gerade schon gehört. Ich glaube,
wir sind uns alle einig, dass Schule heutzutage nicht länger einfach nur ein Ort sein darf, an dem man Wissen
und Fakten vermittelt, die abgefragt werden, ein Ort, an
dem gepaukt, geprüft, benotet und bewertet wird, sondern dass die Schule den Kindern auch die Möglichkeit
bieten soll, sich zu entfalten, sich wohlzufühlen und unterschiedliche Erfahrungen zu machen, und dass sie vor
allem die persönliche Entwicklung fördern soll; denn
Schule ist auch Lebensraum. Gerade in Ganztagsschulen
ist das von zentraler Bedeutung.
({1})
Auch das Thema Inklusion an unseren Schulen stellt
uns vor Herausforderungen. Die Schulsozialarbeit bereitet den Weg zu echter Chancengerechtigkeit in unserem
Bildungssystem. Sie ist eine Stütze auf diesem Weg. Sie
ermöglicht Unterstützung in einer Art und Weise, die im
regelhaften Schulalltag leider nicht möglich ist.
Wie oft hören wir von Brennpunktschulen - das
wurde schon gesagt -, wie oft hören wir von Schülern
und Schülerinnen, die nicht beschulbar seien, wie oft hören wir von Kindern, die schon in der Grundschule total
überfordert sind, die den Erwartungen, die man an sie
richtet, schon in der Grundschule nicht gerecht werden
können und zu Hause keine Unterstützung finden? In der
Schulsozialarbeit gibt es Formen der Zusammenarbeit
und des sozialen Lernens, die viele Kinder und Jugendliche sonst nicht kennenlernen: Gruppenarbeit, Beratung
bei schulischen und persönlichen Problemen, Projektarbeit, Erlebnispädagogik, aber auch berufsorientierte Angebote. Das ist etwas ganz Wesentliches; denn Bildung
ist auch Charakterbildung und Zukunftsförderung.
({2})
Unterstützung bei Fragen wie: „Was mache ich nach
der Schule?“, „Wer bereitet mich auf das Leben danach
vor?“, „Wer begleitet mich?“, brauchen wir dringender
denn je. Mit der notwendigen Zuwendung jenseits von
Mathe, Physik und Englisch können wir Talente und Potenziale unserer Jugendlichen entdecken und fördern, die
sonst vielleicht untergehen.
Schulsozialarbeit ist also Teil einer präventiven Arbeitsmarkt-, Bildungs- und Sozialpolitik. Wenn wir all
die Chancen anschauen, die sie bietet, finde ich es sehr
schade, dass deutschlandweit immer noch so wenige
Schulen Schulsozialarbeit haben. Das ist ein Missstand,
den wir gerne beheben würden. Dass jetzt auch noch die
Finanzierung ins Wanken gerät - das ist einfach so - und
dass ziemlich unklar ist, wie manche Projekte weiterfinanziert werden können, ist mehr als bedauerlich.
Bis Ende 2013 wurde die Schulsozialarbeit - wir haben es gehört - über das Bildungs- und Teilhabepaket
durch den Bund mit unterstützt. Das war eine gute Sache, aber es war in der Ausgestaltung ein bürokratisches
Monster. Das muss man ganz ehrlich sagen. Es ist nicht
klar, wo und wie die Gelder in den Kommunen und Ländern wirklich geflossen sind. Es gab Kompromisse, Unklarheiten, Unzulänglichkeiten und negative Erfahrungen bei der Umsetzung. Die damit verbundene
Hängepartie macht für uns deutlich, dass das Kooperationsverbot abgeschafft werden muss, damit wir da mit
den Ländern besser zusammenarbeiten können.
({3})
- Da stimmen Sie mir zu, Herr Mutlu.
Jetzt komme ich zu Ihnen, Frau Hein, und zu Ihrem
Antrag. Sie schlagen vor, Schulsozialarbeit als Regelleistung des Bundes zu installieren. Das klingt ja erst
einmal wunderbar; dort wäre sie gut aufgehoben. Der
Bund zahlt und kümmert sich um einen flächendeckenden Ausbau von Schulsozialarbeit. Das wäre sehr schön.
Aber wenn wir genauer hinschauen, sehen wir, dass in
Ihrem Antrag die Finanzierung fehlt. Den erforderlichen
Finanzierungsbedarf konkretisieren Sie nicht. Eine Angabe, mit welchen Kosten solch ein Ausbau verbunden
ist, finde ich in dem Antrag leider auch nicht.
Wir Grünen wollen keine Förderung mit der Gießkanne. Wir denken, dass bei weitem nicht alle Regionen
und auch nicht alle Kommunen den gleichen Bedarf haben. Auch nicht jede Schule hat den gleichen Bedarf.
Wir finden, dass die Möglichkeit regionaler Förderung
oder auch die Stärkung einzelner Schulen durchaus ein
gewichtiges Argument ist.
Frau Rosenheimer, lassen Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Hein zu?
Ja.
Vielen Dank, Frau Rosenheimer, dass Sie das zulassen. - Ich will eine kleine Korrektur anbieten, weil ich
gerne möchte, dass wir über das reden, was wir tatsächlich beantragen. Wir beantragen nicht eine Regelleistung
des Bundes, sondern wir beantragen, die Schulsozialarbeit als Regelleistung in das Kinder- und Jugendhilfegesetz aufzunehmen, genauso wie es dort übrigens auch
den Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung gibt, was ja
auch eine Aufgabe von Ländern und Kommunen und
keine Aufgabe vorrangig des Bundes ist. Also insofern
würde sich das nicht beißen. Die Finanzierung habe ich
nachgetragen; sie steht im Antrag. Wir gehen eben nicht
davon aus, dass der Bund hier dauerhaft bestimmte Summen an die Kommunen gibt, sondern dass es im Rahmen
der Bund-Länder-Finanzbeziehungen, also über den
Länderfinanzausgleich, entsprechend vorbereitet und
verrechnet wird.
Okay, gut. Danke für diese Klarstellung.
Darf ich einmal unterbrechen? - Liebe Kollegen, ich
erinnere Sie daran, dass unsere Geschäftsordnung Zwischenfragen zulässt.
({0})
Kurzinterventionen gibt es auch; das ist aber ein anderes
Instrument. Zwischenfragen bitte.
Es ist auf jeden Fall wunderbar, dass ich das jetzt
weiß. Denn wir sagen auch, dass zum Beispiel der Landkreis Starnberg bei mir zu Hause mit Sicherheit in dieser
Hinsicht ganz andere Bedürfnisse hat, was den Bedarf
und auch die finanzielle Ausstattung angeht, als zum
Beispiel Dortmund. Ich habe Ihre Frage vernommen. Sie
dürfen sich wieder setzen.
({0})
Setzen, eins.
({1})
Das gehört aber nicht zur Schulsozialarbeit.
Doch, Ermutigung und Förderung.
Ermutigung ja, aber nicht: Setzen, eins.
Motivation ist sehr wichtig. - Wir Grünen setzen uns
dafür ein, dass die Schulen, die es brauchen, gestärkt
werden. Wir fragen eben auch, ob es spezielle Bedarfe
gibt. Es gibt einfach Gegenden, in denen der demografische Wandel, fehlende Infrastruktur usw. ganz andere
Bedarfe schaffen.
Wir wollen keinen neuen Bürokratieberg durch eine
entsprechende Regelung. Ich bin gespannt, wie das funktionieren soll. Ich möchte nicht, dass wir etwas Ähnliches wie zuvor bekommen, bei dem ziemlich unklar ist,
wie man an die Leistung kommt. Wir brauchen eine
klare, transparente, bedarfsgerechte und verstetigte Finanzierung. Ich finde es unsäglich, dass wirksame Projekte nach zwei, drei Jahren immer wieder auslaufen das Problem haben wir ja in vielen Bereichen - und die
Leute nicht wissen, wie es weitergehen soll. Ich glaube,
hier gibt es noch viel Diskussionsbedarf.
Ich komme zum Ende. Ich finde, ein Gipfel, wie Sie
ihn vorgeschlagen haben, ist eine ganz gute Idee. Es gibt
dringenden Handlungsbedarf. Ich finde, das können wir
im Sinne unserer Kinder und Jugendlichen gemeinsam
angehen.
Ich sage danke fürs Zuhören.
({0})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Ulrike Bahr
das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Meine
ganz persönliche kommunalpolitische Laufbahn ist aufs
Engste mit dem Thema Schulsozialarbeit verknüpft. Als
ehemalige bayerische Hauptschullehrerin kann ich mich
nur zu gut daran erinnern, wie früher über Sinn oder Unsinn von Schulsozialarbeit diskutiert wurde. Aus genau
dieser Zeit habe ich den Kommentar eines damaligen
Stadtrates - ich verrate jetzt nicht, aus welcher Fraktion;
jedenfalls nicht aus der SPD-Stadtratsfraktion - noch
allzu gut im Ohr, der sich damals zum Thema Schulsozialarbeit folgendermaßen äußerte: „Schulsozialarbeit? So
was brauchen wir nicht - wir haben doch einen Zaun um
die Schule“,
({0})
als kämen Probleme immer nur von außen, als könne
man sich allein durch Abschottung ganz leicht schützen.
Hinzu kam eine große Angst vor Stigmatisierung, wenn
eine Schule sich die Blöße geben musste, Unterstützung
von außen - noch dazu sozialpädagogische - in Anspruch zu nehmen, ja nehmen zu müssen.
Diese Grundhaltung, meine sehr verehrten Damen
und Herren, in der Schule gehe es nur ums Lernen und
nicht auch ums Leben und um das Meistern ganz grundsätzlicher, persönlicher Herausforderungen - wozu es
manchmal schlicht auch der Hilfe von außen bedarf -,
gehört zum Glück der Vergangenheit an.
Nun aber zu dem Antrag der Linken. Natürlich halten
auch wir in der SPD-Bundestagsfraktion die Sicherstellung der Schulsozialarbeit für ein wichtiges Mittel und
Instrument, Schulen zum Lebensraum zu machen. Ganz
abgesehen von verfassungsrechtlichen Grundsätzen und
Finanzierungsregeln in unserem föderalen System sehe
ich bei Ihrem Antrag aber ein generelles Problem: Der
Schulsozialarbeit - das gilt im Wesentlichen auch für die
Kinder- und Jugendhilfe - wird von außen, oft unüberlegt, viel zu viel aufgebürdet: Beide werden als Platzhalter für eine Art Generalreparatur verwendet - als wenn
man mit ein bisschen Schulsozialarbeit hier und ein bisschen Jugendsozialarbeit dort gesellschaftliche Probleme
leicht und abschließend lösen könnte.
({1})
Eine kurzsichtige Symptombehandlung bringt uns hier
aber keinen Schritt weiter. Ein neuer Paragraf im SGB
VIII löst nicht automatisch grundlegende Probleme.
Die Kinder- und Jugendhilfe hat mit ihrem Ansatz, jedes Kind und jeden Jugendlichen bestmöglich in seiner
Entwicklung zu begleiten und zu unterstützen, Erfolgsgeschichte geschrieben - eine Erfolgsgeschichte, die wir
unbedingt fortschreiben wollen. Deshalb haben wir uns
im Koalitionsvertrag darauf verständigt, die Kinder- und
Jugendhilfe zu einem inklusiven, effizienten, dauerhaft
tragfähigen und belastbaren Hilfesystem weiterzuentwickeln, und zwar in einem strukturierten und sorgfältigen
Prozess. Diese Weiterentwicklung darf nämlich nicht in
einer unüberlegten Überlastung und in einem vermeintlich einfachen Überstülpen zusätzlicher Zuständigkeiten
münden.
({2})
Solange Bildungs- und damit Schulpolitik in den Zuständigkeitsbereich der Länder fällt, sehe ich diese hier
auch in der Verantwortung, gute Rahmenbedingungen
für Schulsozialarbeit zu gewährleisten. Eine bundeseinheitliche Regelung der Schulsozialarbeit erscheint mir in
Anbetracht des aktuellen schulischen und trägerspezifischen Flickenteppichs weder verfassungsrechtlich realisierbar noch sinnvoll.
Die 400 Millionen Euro jährlich, die die Länder durch
Unterstützung des Bundes in den Jahren 2011 bis 2013
für Schulsozialarbeit verwenden konnten, haben gute
Strukturen geschaffen. Heute und in den nächsten Jahren
entlastet der Bund die Länder und Kommunen wiederum, an anderer Stelle, beispielsweise im Rahmen der
6 Milliarden Euro für die Finanzierung von Kinderkrippen, Kitas, Schulen und Hochschulen. Im Zuge dessen
sehe ich auf Länderseite durchaus Spielraum für nachhaltige Investitionen in die Schulsozialarbeit; wo ein
politischer Wille ist, ist auch ein Weg.
({3})
Sehr verwundert hat mich allerdings Ihre Forderung
nach einem Schulsozialarbeitsgipfel auf Bundesebene;
denn eigentlich gilt es, die Autonomie einer Schule zu
fördern und zu fordern, und es gilt, dem Anspruch einer
Bildungslandschaft der Zukunft gerecht zu werden,
nämlich Schulen zu Bildungshäusern mit ihren ganz spezifischen Bedarfen und Profilen zu entwickeln. Diese
Bildungshäuser wiederum müssen sich vernetzen mit
den Akteuren vor Ort, zum Beispiel mit der Jugendarbeit, aber auch mit den Mehrgenerationenhäusern oder
auch mit Projekten im Rahmen der „Sozialen Stadt“.
Schule als Lebensraum darf auch nicht den Stempel
„Made in Berlin“ tragen. Was wir vielmehr brauchen, ist
die Unterstützung und Stärkung der örtlichen Schulgemeinden mit ihrem breiten Erfahrungsschatz, den Schüler- und Elternvertretungen, den örtlichen Trägern,
Lehrerinnen und Lehrern, die im Übrigen in Ihrem Vorschlag vom Schulsozialarbeitsgipfel unerwähnt bleiben.
Eine Top-down-Strategie kann hier nicht der richtige
Weg sein; denn Schulsozialarbeit ist wie Brückenbauen:
Am besten und am sichersten sind die Brücken dann,
wenn die Menschen, die künftig auf ihnen gehen wollen,
sie selber mit bauen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Als nächster Redner hat der Kollege Paul Lehrieder
das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren auf
den Tribünen, aber auch draußen an den Bildschirmen!
Ausnahmsweise herrscht in diesem Hohen Haus heute
einmal parteiübergreifend Einigkeit. Alle Parteien stimmen zumindest in dem Punkt überein, dass Schulsozialarbeit heute unverzichtbar ist.
({0})
- Frau Hein, bis jetzt haben Sie noch recht. - Moderne
Bildung darf sich nicht auf die Vermittlung von fachlichen Fähigkeiten beschränken. Sie muss auch die Sozial- und Lernkompetenz der Schüler stärken.
({1})
Für Lehrer ist es schwierig, sich neben der Vermittlung
von Sach- und Fachkompetenzen und der Leistungsbewertung auch noch eingehend um die sozialen und individuellen Probleme der Schüler zu kümmern und als
neutraler Ansprechpartner zur Verfügung zu stehen.
Genau diese Lücke schließt - darauf haben die Vorredner zum Teil schon hingewiesen - die Schulsozialarbeit.
Mit ihrer sozialpädagogischen Ausbildung und entsprechenden Methodenkenntnissen haben die Schulsozialarbeiter oftmals eine andere Herangehensweise an die Probleme des Schulalltags. Sie können sich für die
Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler mehr Zeit nehmen und bei Schwierigkeiten gemeinsam mit den Beteiligten nach Lösungen suchen. Vor allem aber arbeiten sie
präventiv, um Kinder in ihrer Persönlichkeit zu stärken,
Mobbing und Gewalt zu verhindern und Schulverweigerung entgegenzutreten. Schon die alten Lateiner wussten: Non scholae, sed vitae discimus. Auch das soziale
Zusammenleben wird in der Schule eingeübt, wie man
mit dem anderen umgeht, wie man sich in ein gesellschaftliches Gefüge einpasst.
Auch die Lehrer profitieren von den neutralen Vertrauenspersonen. Sie können sich vom Schulsozialarbeiter beraten lassen und bei Problemen im pädagogischen
Alltag gemeinsam Strategien ausarbeiten. Auf Wunsch
können selbstverständlich auch Eltern die Hilfe der
Schulsozialarbeiter in Anspruch nehmen. Weil sie mit
anderen Anbietern von Hilfsangeboten in der Kommune
meist gut vernetzt sind, können Schulsozialarbeiter bei
der Suche nach passenden Ansprechpartnern für die Lösung von Problemen helfen.
Gerade in einer Zeit, in der Eltern leider immer mehr
Verantwortung an die Schulen abgeben, gewinnen die
Schulsozialarbeiter gewaltig an Bedeutung. Es ist unbestritten, dass durch den täglichen Kontakt mit den Kindern wertvolle Unterstützer im Prozess des Erwachsenwerdens gefunden werden können.
Die Schulsozialarbeit als Schnittstelle zwischen
Schule, Familie und Jugendhilfe zahlt sich in mehrfacher
Hinsicht aus. Mit gestärkten sozialen Kompetenzen können sich die Schülerinnen und Schüler besser auf den
Unterricht konzentrieren. Damit steigen zugleich ihre
Chancen auf einen guten Schulabschluss, der wiederum
den Einstieg ins Berufsleben erleichtern kann. Ohne
Schulsozialarbeit würde so manches benachteiligte Kind
gleich ganz aus dem Bildungssystem herausfallen. Defizite, die die Kinder beispielsweise von zu Hause mitbringen, können durch konsequente Schulsozialarbeit
ausgeglichen werden.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, meine bisherigen
Ausführungen - ich sehe es am Lächeln der Kollegin
Hein - mögen für Sie wie aus einer Werbeveranstaltung
für Schulsozialarbeit klingen.
({2})
- Dann hätten Sie öfters klatschen können, Frau
Dr. Hein.
({3})
Ja, ich möchte ausdrücklich für Schulsozialarbeit werben, aber eben im Rahmen der verfassungsrechtlichen
Zuständigkeiten.
Bei der Schulsozialarbeit handelt es sich - da reicht es
schon aus, wenn wir uns genau das Wort anschauen:
Schul-Sozialarbeit - um ein professionelles pädagogisches Angebot, das verfassungsrechtlich auf dem Gebiet
der Allgemeinbildung und des Schulwesens bei den Ländern liegt; so ist es in unserer Verfassung normiert. Die
Verantwortung nach dem klar vereinbarten Auslaufen
dieser Anschubfinanzierung liegt bei den Ländern bzw.
bei den kommunalen Gebietskörperschaften. Die Forderung nach einer Fortsetzung der Schulsozialarbeit aus
Bundesmitteln ignoriert, dass dieses Bundesprogramm
von vornherein mit den Ländern auf eine Dauer von drei
Jahren vereinbart worden war.
({4})
Frau Kollegin Hein, Sie sind erfahren genug und Sie
sind lang genug in diesem Parlament, um zu wissen,
dass eine Verankerung der Schulsozialarbeit im
SGB VIII natürlich bedingt, dass die Länder zustimmen.
Dafür werden sie fragen: Wenn ihr uns diese Aufgabe
zuweist, wo bleiben dann die Mittel dafür? - Das haben
wir in vielen Bereichen bereits erlebt. Das heißt also,
ganz ohne Geld vom Bund werden die Kommunen einer
Verankerung der Schulsozialarbeit im SGB VIII nicht
zustimmen. Da müssen wir uns schon ehrlich machen.
({5})
CDU und CSU hatten den Bundesländern für die
Jahre 2011 bis 2013 jeweils 400 Millionen Euro für die
Schulsozialarbeit und für das außerschulische Hortmittagessen von Schülerinnen und Schülern zur Verfügung
gestellt. Dies wurde im Rahmen des Vermittlungsausschusses zum Bildungs- und Teilhabepaket Anfang 2011
beschlossen. Allerdings war dieses Geld - auch darauf
wurde bereits hingewiesen - nur als Anschubfinanzierung gedacht, die im letzten Jahr auslief. Ab diesem Jahr
liegt die Verantwortung für die Schulsozialarbeit wieder
allein bei Ländern und Kommunen; denn eine dauerhafte, zweckgebundene Finanzierung der Schulsozialarbeit durch den Bund verbietet, wie bereits ausgeführt,
das Grundgesetz.
({6})
Die Zuständigkeit für das Schulwesen liegt nun einmal
bei den Ländern.
Meine Vorrednerin, Frau Kollegin Schwarzer, hat bereits darauf hingewiesen, dass den Kommunen ab 2014
mit rund 5 Milliarden Euro aus der größten Kommunalentlastung in der Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland ein Vielfaches für die Kosten der Schulsozialarbeit zur Verfügung steht. Sie haben es im letzten
Jahr mitbekommen: In drei Stufen haben wir die Kommunen im SGB-XII-Bereich entlastet. Darüber hinaus
werden wir die Kommunen mit der kompletten Übernahme des BAföG in den nächsten Jahren entlasten. Wir
geben den Ländern Spielräume, um genau diese Aufgaben, die von uns für drei Jahre befristet übernommen
worden sind, wieder in Länderzuständigkeit bzw. kommunaler Zuständigkeit durchzuführen.
({7})
Es ist völlig richtig: Durch die Kleinteiligkeit der vor
Ort bestehenden unterschiedlichen Aufgabenstellungen
sind die Kommunen - mein großer Respekt an die Gemeinderäte, an die Stadträte, an die Kreisräte, die da entsprechende Verantwortung tragen - vielmehr in der
Lage, zu wissen, wo welche Hilfe passgenau hinkommt.
Die werden das auch tun, davon bin ich überzeugt. Jetzt brauchen wir einen Applaus.
({8})
Eins noch, Frau Kollegin Walter-Rosenheimer von
den Grünen: Sie haben sich erfreut gezeigt über den Antrag. Sie waren letzte Legislaturperiode auch schon im
Bundestag. Hätten Sie einmal die Drucksache aus der
17. Wahlperiode mit der Nummer 17/11870 herausgesucht. Da steht über einem Antrag der Linken, über den
am 21. Februar 2013 hier im Plenum debattiert wurde:
Für ein neues Verständnis der Zusammenarbeit von
Schule und Jugendhilfe - Schulsozialarbeit an allen
Schulen.
Eine Fortführung der durch den Bund geförderten
Schulsozialarbeit wurde vor Jahresfrist bereits gefordert
- alter Wein in neuen Schläuchen, meine Damen und
Herren. Es hat sich an unserer Auffassung nichts geändert.
({9})
Wir haben die Länder und Kommunen massiv entlastet
und werden Spielräume schaffen, damit die Länder und
Kommunen in der Zuständigkeit, in der sie es viel besser
können, genau die Aufgabe machen, die Sie - mit einer
großen Gießkanne - dem Bund angedeihen lassen wollen. Das ist nicht der richtige Weg, Frau Kollegin. Wir
werden leider Ihrem Ansinnen insofern nicht nähertreten
können. Das tut mir fürchterlich leid.
({10})
Noch einmal meinen Respekt an alle Schulsozialarbeiter, an all die, die in den Schulen Verantwortung tragen, die uns helfen, Schülern die Möglichkeit zu geben,
eine Berufsausbildung zu erhalten. Das finde ich ganz
toll. Ich freue mich auch über die Präsenz der Staatssekretäre bei uns in der Familie, die Kollegin Ferner, der
Kollege Kelber und natürlich aus dem Bildungsministerium der Kollege Stefan Müller von der CSU. - Schön,
dass Sie alle da sind und zugehört haben.
Danke schön.
({11})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Fritz Felgentreu, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Linken haben - das finde ich auch - einen spannenden Antrag vorgelegt. Vordergründig geht es um den bundesweiten Ausbau der Sozialarbeit an unseren Schulen, aber
im weiteren Sinne geht es doch um den großen Kontext
Qualität an Schulen.
({0})
In der SPD-Fraktion sind wir überzeugt: Kinder und
Familie fördern wir am besten durch erstklassige Kitas
und erstklassige Schulen.
({1})
Aber was bedeutet das, eine erstklassige Schule? - Natürlich kleine Klassen und gute Ausstattung, einen Ganztagsunterricht, bei dem Lernen, Bewegung, Spiel und
Muße in einem ausgewogenen Rhythmus über den ganzen Tag verteilt sind, Hausaufgabenhilfe, gesundes
Schulessen, vielleicht sogar Heilfürsorge an der Schule.
Für viele wird die Schulsozialarbeit ein ganz wichtiger
Baustein im Gefüge einer erstklassigen Schule sein, gerade da, wo so eine Schule am dringendsten gebraucht
wird und wo die meisten Kinder geboren werden - in
den sozialen Brennpunkten unserer Republik. Ob es
Schulsozialarbeit gibt, kann dafür entscheidend sein,
dass sich ein junger Mensch in der Krise fängt, nicht sitzenbleibt oder seinen Abschluss schafft.
Deshalb ist es richtig, dass wir auch hier im Deutschen Bundestag darüber nachdenken, wie wir die
Schulsozialarbeit stärken können. Wir wissen ja, dass
eine Stärkung gebraucht wird, denn die Förderung der
Schulsozialarbeit - Herr Lehrieder hat eben darüber gesprochen -, die die SPD in der vergangenen Legislaturperiode durchsetzen konnte
({2})
und für die wir in unserem Wahlprogramm geworben haben, ist am 1. Januar 2014 ausgelaufen.
({3})
Nicht nur das Land Nordrhein-Westfalen beklagt jetzt
durchaus zu Recht, dass bundesweit 400 Millionen Euro
im Jahr nicht mehr für die Schulsozialarbeit zur Verfügung stehen.
({4})
- Beruhigen Sie sich! Ich komme gleich dazu.
({5})
Ja, meine Damen und Herren, das Auslaufen dieser
Förderung hat zunächst eine Lücke hinterlassen. Aber in
dieser Legislaturperiode entlastet der Bund die Länder
und Kommunen um 6 Milliarden Euro zusätzlich für die
Bildung von der Kita bis zur Hochschule. Weil es streng
genommen nicht unmittelbar in diesen Zusammenhang
gehört, will ich nicht groß darauf eingehen, dass die
Kommunen bis 2016 außerdem um knapp 20 Milliarden
Euro entlastet worden sind, nachdem der Bund die Kosten für die Grundsicherung übernommen hat. Schon die
6 Milliarden Euro zusätzlich für die Bildung machen den
Verlust, der bei der Schulsozialarbeit entstanden ist,
mehr als wett.
({6})
- Sie können doch eine Zwischenfrage stellen, wenn
Sie so neugierig sind. Nun beruhigen Sie sich doch! Deswegen meine ich, dass die Koalition mit dieser Entlastung einen besseren Weg gefunden hat, um die Qualität von Schule zu verbessern, als Sie ihn vorschlagen,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken.
({7})
Sie wollen im Zusammenhang mit der Jugendförderung regeln, dass Schulsozialarbeit überall als Regelleistung angeboten wird. Damit legen Sie schon ziemlich
weitgehend fest, wie das Geld ausgegeben werden muss,
das der Bund den Ländern und Kommunen zusätzlich
zur Verfügung stellt.
Ich bin Abgeordneter aus Berlin-Neukölln. Mich erschreckt diese Vorstellung gar nicht. Natürlich wäre es
schöner, bei uns im Bezirk frei über das Geld entscheiden zu können. Aber Schulsozialarbeit können wir in
Neukölln an so ziemlich jeder Schule gut gebrauchen.
({8})
Deshalb wäre eine solche Bestimmung aus unserer Sicht
durchaus hilfreich. Angewiesen sind wir auf diese Regelung aber nicht. Wir können auch so entscheiden, dass
wir die zusätzlichen Mittel für Schulsozialarbeit ausgeben, wenn wir das wollen und wenn es nötig ist.
Nun kann ich mir aber auch Gegenden und Schulen in
Deutschland vorstellen, wo noch etwas mehr heile Welt
herrscht als im Berliner Brennpunktquartier. Die gibt es
übrigens sogar in Neukölln. Die Politikerinnen und Politiker dort wollen mit dem Geld, das ihnen zur Verfügung
steht, die Qualität ihrer Schulen vielleicht lieber mit anderen Maßnahmen verbessern als mit Schulsozialarbeit,
die dort nicht ganz so dringend gebraucht wird.
({9})
Die Verbesserung der Schulqualität ist ein langfristiges Reformvorhaben. Wir werden in jeder Legislaturperiode dafür nachlegen müssen. Denn nirgendwo erreichen die Mittel, die wir für Familien einsetzen, Kinder
und Jugendliche effektiver und gerechter als in der Kita
und in der Schule.
Aber weil wir den großen Wurf, der alle Probleme auf
einmal löst, so nicht hinbekommen, ist es besser, den
Ländern und Kommunen Spielraum zu lassen. Dann
können sie ihre eigenen Prioritäten setzen.
({10})
Deshalb geht es um kleinere Schritte, liebe Kolleginnen
und Kollegen - wobei 6 Milliarden Euro gar nicht einmal so ein kleiner Schritt sind -, und um Entscheidungsfreiheit vor Ort, wo man die Probleme am besten kennt.
Die verfassungsrechtlichen Probleme kann man lösen. Herr Lehrieder, Sie haben davon gesprochen, dass
wir vom Bund aus keine Dauerfinanzierung der Schulsozialarbeit machen können. Das ist zwar richtig, aber das
haben wir streng genommen auch beim letzten Mal in
den Jahren 2011 bis 2013 nicht gemacht. Der Bund hatte
mit den Ländern eine Vereinbarung getroffen, aber entlastet wurden die Länder nicht durch eine direkte Finanzierung der Schulsozialarbeit, sondern dadurch, dass der
Bund einen Teil der Wohnkosten im Hartz-IV-Bereich
übernommen hat.
Insofern kann man verfassungsrechtliche Hürden sicherlich durch kreative politische Ansätze umschiffen.
Aber ich finde den Ansatz richtig, dass man diese Entscheidung auf der Ebene lassen muss, wo sie zurzeit gefällt wird.
Am Ende kommt es doch für uns alle vor allen Dingen darauf an, dass alle Jugendlichen ihren Abschluss
machen und danach einen Ausbildungs- oder Studienplatz finden.
({11})
Unsere Aufgabe ist es, dafür die Voraussetzungen zu
schaffen. Damit haben wir noch lange alle Hände voll zu
tun. Dabei ist der Bund in der Pflicht. Für die Umsetzung im Einzelnen sind bei uns die Länder und Kommunen verantwortlich. Wir sollten es bei der Schulsozialarbeit jetzt nicht auf einmal darauf anlegen, an diesem
System etwas zu ändern.
({12})
Ich danke Ihnen.
({13})
Als letzter Redner in dieser Aussprache erteile ich
dem Abgeordneten Heinz Wiese, CDU/CSU-Fraktion,
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Schulsozialarbeit ist unbestritten eine sehr wichtige Aufgabe. Als
Lehrer bringe ich die notwendige Wertschätzung mit und
kann auf meine eigenen Erfahrungen verweisen, wie
wertvoll es ist, wenn ein Schulsozialarbeiter oder eine
Schulsozialarbeiterin einem Pädagogen zur Seite steht.
Ich werde nachher ausführlicher darauf eingehen. Ich
will vorweg nur sagen, dass das in unserem föderalen
System eine hoheitliche Aufgabe der Länder und Kommunen ist. Wir haben bei der Schulsozialarbeit unsere
Verfassung im Auge zu behalten und wollen uns nach ihr
richten. Es ist falsch, mithilfe des SGB VIII quasi durch
die Hintertür eine Zuständigkeit Richtung Berlin zu erkämpfen.
({0})
Wir sehen in der Schulsozialarbeit den Dreiklang aus
Bildung, Erziehung und Betreuung. Dabei rückt vor allen Dingen die Schulsozialarbeit die jeweilige Lebenslage sowie die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler
in den Fokus. Aber um es noch einmal klar zu sagen:
Dafür ist nicht der Bund zuständig, sondern es sind die
Länder und Kommunen. Es war eine Freiwilligkeitsleistung - darauf hat der Kollege Lehrieder schon hingewiesen -, dass der Bund in den Jahren 2011 bis 2013 jeweils
400 Millionen Euro für die Schulsozialarbeit zur Verfügung gestellt hat, aber nicht direkt, sondern im Zuge einer Umwegfinanzierung. Wir wissen noch ganz genau,
wie das damals ablief.
Es handelte sich um eine überhöhte Beteiligung an
den Leistungen der Grundsicherung, die nicht zweckgebunden war. Deshalb hatte man hier Spielraum. Es war
Heinz Wiese ({1})
klar, dass das nur eine vorübergehende Finanzierung,
quasi eine Anschubfinanzierung sein konnte. Dass diese
irgendwann ausläuft, mussten alle Beteiligten wissen.
Deshalb kann sich niemand hinter anderen Argumenten
verstecken.
({2})
Die Linke behauptet in ihrem Antrag, dass es das
Ende bedeutet, wenn der Bund kein Geld mehr gibt. Das
kann überhaupt nicht sein; denn der Bund kann im Rahmen der Subsidiarität zur Seite stehen. Es ist aber festzuhalten, dass es sich hier um Aufgaben der Länder und
Kommunen handelt. Sie sind zuständig.
({3})
Wenn ich mir anschaue, welche Unterstützungsmaßnahmen sich der Bund zur Konsolidierung der Haushalte
der Länder und Kommunen in den letzten Jahren leisten
konnte - beispielweise bei der Grundsicherung und der
Erwerbsminderungsrente -, dann stelle ich fest, dass es
sich hier um große Summen handelt. In der mittelfristigen Finanzplanung von 2013 bis 2016 sind Entlastungen
der Länder und Kommunen in der Größenordnung von
20 Milliarden Euro vorgesehen. Ich gehe davon aus,
dass so etwas nicht so schnell wiederkommt. So etwas
haben wir bislang auch noch nicht erlebt. Wir sollten
heute froh sein und sagen: Die Länder sind so ausgestattet, dass sie ihre eigenen Aufgaben schultern können.
In der Schulsozialarbeit geht es inbesondere um Präventionsmaßnahmen, individuelle Förderung und darum,
Fehlentwicklungen zu vermeiden. Wir wollen rechtzeitig
und prophylaktisch tätig werden. Die Schnittstellen zwischen Schulen, Familien und Jugendhilfe wurden bereits
von dem Kollegen erwähnt. Das gilt für die Schulsozialarbeit an allen Schularten. Ich stehe zu dem, was zuvor
betont wurde, nämlich dass nicht nur Förderschulen, an
denen ich selber tätig war, und die Brennpunktschulen,
sondern auch alle anderen Schulen Schulsozialarbeit benötigen. Ich möchte an dieser Stelle den über 3 000 Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeitern für ihre
wertvolle Arbeit, die sie jeden Tag leisten, herzlich danken.
({4})
Wir haben die Länder in den letzten Jahren spürbar
entlastet und werden das auch in den kommenden Jahren
tun. Wir haben am letzten Freitag hier im Hohen Hause
eine Grundgesetzänderung auf den Weg gebracht, mit
der wir das Kooperationsverbot entschärfen. Wir lockern
es, sodass sich der Bund künftig an der Hochschulfinanzierung beteiligen kann. Wir sind dafür; denn Kooperation ist notwendig und richtig. Sie darf aber nicht in allen
Fällen im Vordergrund stehen.
Wir sind der Auffassung, dass es richtig ist, künftig
im Hochschulbereich bei Forschung und Lehre Wettbewerbsfähigkeit herzustellen und für künftige Exzellenzinitiativen Gelder bereitzustellen. Aber es ist nicht nur
so, dass wir das Kooperationsverbot ein Stück weit lockern - nicht abschaffen, wie die Grünen es wollen -,
({5})
sondern es gibt auch das Durchgriffsverbot. Wir wollen
am Durchgriffsverbot durchaus festhalten. Das soll bedeuten, dass nicht in allen möglichen Bereichen der
Durchgriff des Bundes bis auf die Ebene der Kommunen
erfolgen kann. Dazu stehen wir, und daran wollen wir
auch künftig festhalten.
({6})
Herr Kollege.
Eine Bemerkung noch, Herr Präsident. - Wir wollen
natürlich, dass das Geld, das die Länder durch die Übernahme des BAföG durch den Bund - das sind 1,17 Milliarden Euro - sparen, von den Ländern in Bildungseinrichtungen investiert, nicht aber zum Stopfen von
Haushaltslöchern verwendet wird. Es ist ein Gebot der
Stunde, dass Schulangelegenheiten auch künftig im Hoheitsbereich der Länder verbleiben. Deshalb lehnen wir
den Antrag der Linken ab.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/2013 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Antiterrordateigesetzes
und anderer Gesetze
Drucksache 18/1565
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({0})
Drucksache 18/2902
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner für die Bundesregierung dem Parlamentarischen
Staatssekretär Professor Dr. Günter Krings das Wort.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! In den letzten Wochen erreichen uns fast täglich
Nachrichten von Schreckenstaten der Terrororganisation „Islamischer Staat“. Die Anhänger dieser radikalen
Miliz haben es sich zum Ziel gesetzt, die sogenannte
westliche Gesellschaft zu schockieren und zu verängstigen, ja, im wahrsten Wortsinne zu terrorisieren.
Auch in Deutschland hat sich eine nicht geringe Zahl
von jungen Männern der Terrororganisation „Islamischer Staat“ angeschlossen und beteiligt sich nun im Nahen Osten an den Greueltaten. Die Gefahr, die von diesen radikalisierten Deutschen für unser Land ausgeht,
darf unter keinen Umständen unterschätzt werden.
Doch gilt es nicht nur, die Bedrohungen durch den internationalen Terrorismus vor Augen zu haben; auch
etwa die Aufklärung der furchtbaren Mordserie der
rechtsextremistischen Gruppe „Nationalsozialistischer
Untergrund“ hat Schwächen und Defizite in der Zusammenarbeit der zuständigen Sicherheitsbehörden aufgezeigt.
({0})
Eine Verbindung zwischen den einzelnen Morden
wurde bekanntermaßen jahrelang nicht erkannt, auch
weil es an einer zeitgemäßen informationstechnischen
Vernetzung der Behörden von Bund und Ländern fehlte.
Diese Defizite hat der NSU-Untersuchungsausschuss
klar herausgearbeitet.
Mit der Antiterrordatei und der Rechtsextremismusdatei haben wir die richtigen Konsequenzen für unsere
föderale Sicherheitsarchitektur gezogen. Dank der Dateien kann ein Behördenmitarbeiter, der ermittelt oder
aufklärt, schnell herausfinden, ob zu einer bestimmten
Person bei anderen Behörden bereits Informationen vorhanden sind und an wen er sich wenden muss. Aus diesem Grunde brauchen wir diese Dateien dringend.
({1})
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil
vom 24. April 2013, das mit Ausgangspunkt unseres
Gesetzgebungsvorhabens ist, die Antiterrordatei als
sinnvolle und im Wesentlichen verfassungsgemäße Einrichtung für die Fälle, in denen eine schnelle und unkomplizierte Kontaktaufnahme möglich ist, erachtet.
Allerdings fordert das Bundesverfassungsgericht einige Änderungen - es ist wichtig, auch das festzuhalten -, die wir nunmehr umsetzen. So fassen wir die Definition der Personen, die gespeichert werden, enger.
Dabei möchte ich noch einmal klarstellen, dass die Voraussetzungen für eine Speicherung im Gesetzentwurf
eindeutig festgelegt sind. Die wichtigste Bedingung ist
zunächst, dass die beteiligten Behörden bereits über entsprechende polizeiliche oder nachrichtendienstliche Erkenntnisse verfügen, die sie auch in ihren eigenen Dateien speichern dürfen. Für die Antiterrordatei und die
Rechtsextremismusdatei werden also keine zusätzlichen
Daten erhoben; es werden nur bereits vorhandene Daten
in einem Index zusammengeführt und damit zur effektiven Terrorbekämpfung nutzbar gemacht.
Meine Damen und Herren, weitere Voraussetzung für
die Speicherung einer Person in der Antiterrordatei ist
zudem, dass diese Person tatsächlich Verbindungen zum
Terrorismus hat, also Mitglied oder Unterstützer einer
terroristischen Vereinigung oder gewaltgeneigter Extremist ist, wie zum Beispiel ein terroristischer Einzeltäter
oder ein Hassprediger. Diese Voraussetzungen werden
mit dem Änderungsgesetz noch einmal geschärft.
Gespeichert werden darüber hinaus auch Kontaktpersonen - das ist richtig -, aber nur Kontaktpersonen, die
nicht in zufälligem Kontakt zu den vorgenannten Personen stehen und zur Aufklärung beitragen können.
Ferner ist mit der Speicherung als Kontaktperson - es
ist wichtig, auch das festzuhalten; im Gesetzentwurf
wird es deutlicher dargestellt - zukünftig keinerlei negatives Urteil verbunden. Es ist im Gesetzentwurf eindeutig klargestellt, dass die Kontaktperson einzig und allein
deshalb als erweitertes Grunddatum zu einer Hauptperson gespeichert wird, weil sie Auskunft zum Beispiel
zum Aufenthaltsort, zum Verbleib einer Hauptperson geben kann.
Die Suche nach einer Kontaktperson führt auch zu
keiner Treffermeldung. Nur wenn die einstellende Behörde die Daten zu einer gesuchten Hauptperson auf Anfrage freigibt, kann die suchende Behörde die hierzu bekannten Kontaktpersonen überhaupt einsehen.
Außerdem haben wir zahlreiche Maßnahmen ergriffen, um die Transparenz der Datei zu erhöhen. Insbesondere wird das Bundeskriminalamt dem Bundestag einen
regelmäßigen Tätigkeitsbericht erstatten. Die Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder müssen die Dateiführung mindestens alle zwei Jahre kontrollieren.
Meine Damen und Herren, im Zuge der Evaluation
der Antiterrordatei mussten wir allerdings feststellen,
dass deren Suchfunktion den Anforderungen einer effektiven Ermittlungsarbeit nach bisherigem Stand nicht genügt. Eine weitaus frühere Entdeckung des rechtsextremistischen Terrortrios NSU wäre möglich gewesen,
wenn es eine Datei mit einer Suchfunktion nach aktuellen technischen Standards gegeben hätte. Deshalb haben
wir die Analysefähigkeit der Dateien erweitert. Die Nutzung der erweiterten Suchfunktion ist jedoch - auch das
ist wichtig - nur in engen Grenzen unter Einhaltung hoher formeller und materieller Hürden möglich.
Meine Damen und Herren, im Ergebnis können wir
feststellen, dass wir heute einen guten und praktikablen
Gesetzentwurf abschließend beraten, der sowohl den
verfassungsrechtlichen Anforderungen des Grundgesetzes als auch den Herausforderungen der Praxis bei der
effektiven Terror- und Extremismusbekämpfung gerecht
wird. Ich bitte Sie alle daher um Zustimmung zu diesem
wichtigen und dringenden Gesetzentwurf.
Vielen Dank.
({2})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Ulla Jelpke, Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Urteil
zur Antiterrordatei hat das Bundesverfassungsgericht
nicht zum ersten Mal die allzu weit ausgedehnten Kompetenzen von Polizei und Geheimdiensten wieder einschränken müssen. Das vorliegende Änderungsgesetz
der Bundesregierung ist nichts weiter als eine dürftige
Flickschusterei. Nicht einmal die offensichtlichsten Verfassungsverstöße werden kaschiert. Die Linke lehnt diesen
Gesetzentwurf ab, weil er zur Bekämpfung des Terrors
nichts beiträgt, aber den Grundrechten weitere Ketten
anlegt.
({0})
Mehrere Sachverständige haben bei der Anhörung im
Innenausschuss schon darauf hingewiesen, dass die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts nicht umgesetzt
werden. Dafür einige Beispiele:
Karlsruhe hat gefordert, bei sogenannten Kontaktpersonen nur die Elementardaten zu speichern. Aber statt
sich auf die Daten zu beschränken, die wir alle im Personalausweis haben, sollen weiterhin auch Handynummern, E-Mail-Adressen und berufliche Anschriften
erfasst werden, obwohl Kontaktpersonen weder Beschuldigte - sie sind also Unschuldige - noch Verdächtige sind.
({1})
Weiterhin sollen Personen gespeichert werden, die
eine den Terror unterstützende Organisation unterstützen. Was genau das Unterstützen von Unterstützern bedeuten soll, weiß kein Mensch und wird im Gesetz auch
nicht weiter ausgeführt.
({2})
Weiter: Die Datei soll Personen umfassen, die Gewalthandlungen durch bloßes Befürworten hervorrufen.
Da bleibt schon unklar, was genau ein „Befürworten“
eigentlich sein soll. Ist hier die Rede von Gewaltaufstachelung oder von Sympathiebekundungen? Können
Ursachenbeschreibungen erfasst werden? Und wie bitte
soll ein kausaler Zusammenhang mit einem Terroranschlag bewiesen werden?
Das sind Gummiparagrafen. Sie sind ein Freibrief für
die Geheimdienste, Personen bei noch so geringen Anhaltspunkten zu speichern. Mit sauberer Gesetzgebungsarbeit hat das wirklich nichts mehr zu tun.
({3})
Meine Damen und Herren, es kommt noch schlimmer: Der Entwurf der Regierung sieht einen völlig neuen
Paragrafen vor, der alle Grundrechtsverstöße der alten
Fassung in den Schatten stellt. In sogenannten Projektdateien sollen die Daten miteinander verknüpft und
quasi experimentell miteinander kombiniert werden. Das
heißt, die Daten werden für einen ganz anderen Zweck
genutzt als für den, zu dem sie ursprünglich erhoben
wurden. Das ist ein ganz klarer Verstoß gegen den
Grundsatz der Zweckbindung.
Hier wird nach einer Salamitaktik verfahren. Die ursprüngliche Begründung für die Datei war ja, sie solle
Schwierigkeiten beim Informationsaustausch zwischen
Polizei und Geheimdiensten beheben. Kaum hat man die
Datei, weckt sie Gelüste auf noch mehr Datenaustausch,
und das bedeutet: weitere Eingriffe in das Grundrecht
auf informationelle Selbstbestimmung.
Die Kritik an der Antiterrordatei gilt im Grundsatz
auch für die Rechtsextremismusdatei, die wir ja heute
hier ebenfalls behandeln. Die Linke ist dafür, Terrorismus und Nazis zu bekämpfen - keine Frage -, nur: Die
Bundesregierung ist dem Parlament bislang jeden Nachweis schuldig geblieben, dass diese Dateien tatsächlich
ein effektives Instrument gegen den Terror sind. Deswegen sagt die Linke: Wir hatten in den letzten Jahren
schon viel zu viele sogenannte Sicherheitsgesetze, die in
Wahrheit nur Freiheitseinschränkungen waren. Damit
muss wirklich endlich Schluss sein.
({4})
Ohnehin würde ein bloßes Herumdoktern am Gesetz
nicht genügen. Das Verfassungsgericht hat ein informationelles Trennungsprinzip zwischen Polizei und Geheimdiensten festgeschrieben, und mehrere Sachverständige haben die Konsequenzen daraus angesprochen: Der
Informationsaustausch zwischen Verfassungsschutz und
BKA muss eingeschränkt werden. Der ganze Komplex
der polizeilich-geheimdienstlichen Zusammenarbeit
muss auf den Prüfstand, weil er, gelinde gesagt, verfassungsrechtlich auf Kante genäht ist.
Ich danke Ihnen.
({5})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Uli Grötsch, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Noch vor
einem Jahr war das Ausmaß der Terrororganisation
„Islamischer Staat“ der deutschen Öffentlichkeit nicht
bekannt. Natürlich haben wir uns über al-Qaida, über
Salafismus und über Dschihadisten unterhalten, aber
dass wir es hier in Deutschland ganz unmittelbar mit reisenden und in Terrorcamps ausgebildeten Terrorkämpfern zu tun haben, von denen eine konkrete und nicht
einschätzbare Gefahr für uns ausgeht, ist eine ganz neue
Dimension des Terrors.
Weil der Terror nicht statisch, sondern dynamisch ist,
ist der Kampf gegen den Terror auch ein Kampf gegen
die Zeit, wie es BKA-Präsident Ziercke formuliert hat.
Wenn es darum geht, Anschläge in Deutschland zu verhindern, zählt jeder Tag. Ich halte daher eine Diskussion
über die Notwendigkeit der Antiterrordatei für unverantwortlich.
({0})
Ich bin sehr glücklich und erleichtert, dass wir nun
fristgerecht einen Gesetzentwurf zur Novellierung des
Antiterrordateigesetzes vorlegen, damit dieses wertvolle
Instrument zum Informationsaustausch der Sicherheitsbehörden über das Jahr 2014 hinaus weitergeführt werden kann.
Dass die Antiterrordatei verfassungsgemäß ist, hat
das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil bereits
eindeutig festgestellt. Das ist insbesondere für diejenigen eine wichtige Nachricht, die sich um das Trennungsgebot von Nachrichtendiensten und Polizeibehörden
Sorgen machen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, hier hat uns die
Realität doch bereits eingeholt; denn das Gemeinsame
Extremismus- und Terrorismusabwehrzentrum sowie
das Gemeinsame Abwehrzentrum gegen Rechtsextremismus sind gelebte Kooperation zwischen Polizei und
Verfassungsschutz.
({1})
Beide Einrichtungen sind unverzichtbare Bausteine der
Sicherheitsarchitektur der Bundesrepublik Deutschland
und - ich sage es ganz deutlich - eine „zeitgemäße Ausformung einer Informations- und Kommunikationsplattform aller beteiligten Behörden“. Auch die ATD ist so
eine Plattform für die fast 40 Sicherheitsbehörden - eben
eine Kontaktanbahnungsdatei, nicht mehr, aber eben
auch nicht weniger.
({2})
Herr Staatssekretär Krings hat gerade schon darauf
hingewiesen: Wir alle hier haben im Nachgang zum
NSU-Skandal und in den Handlungsempfehlungen des
NSU-Untersuchungsausschusses gemeinsam im Haus
den nicht vorhandenen, fatalen Informationsaustausch
der Sicherheitsbehörden bemängelt. Wenn wir unsere
Bürgerinnen und Bürger vor extremistischen Angriffen
schützen wollen, müssen wir Verbrechern informationstechnisch einen Schritt voraus sein.
({3})
Selbstverständlich sind wir uns bewusst, dass wir uns
im Spannungsfeld zwischen dem Bedürfnis nach Sicherheit auf der einen Seite und den zu schützenden Grundrechten auf der anderen Seite bewegen. Das Bundesverfassungsgericht hat festgehalten, dass eine
gemeinsame Verbunddatei ein besonders schwerer
Grundrechtseingriff ist, dem enge Grenzen zu setzen
sind. Ich sage: Gut, dass das Bundesverfassungsgericht
dies auch so klar betont hat.
({4})
Wir als SPD sind nicht der Meinung, dass es ein Supergrundrecht Sicherheit gibt. Nur: Ohne Sicherheit gibt es
eben auch keine Freiheit!
({5})
Wenn es also so etwas wie ein Supergrundrecht geben
sollte, dann muss das, wie wir meinen, zunächst die Freiheit sein und nicht die Sicherheit.
({6})
Natürlich ist das ein Spagat. Wir glauben aber, dass die
Grundrechtseingriffe in der Antiterrordatei verhältnismäßig sind.
Fakt ist doch auch, dass die Anwender sehr sensibel
mit der Datei umgehen. Je höher der Grundrechtseingriff
ist, desto seltener wurde abgefragt. Fast alle Abfragen in
der ATD betrafen die Grunddaten. Sehr selten wurde in
den erweiterten Grunddaten gesucht.
({7})
Die hochsensible Eilfallregelung, die gerade schon angesprochen wurde, wonach die abfragende Behörde unter
bestimmten, im Übrigen klar definierten Voraussetzungen unmittelbaren Zugriff auf die erweiterten Grunddaten hat, wurde - das hat der Evaluierungsbericht gezeigt - im überprüften Zeitraum nur ein einziges Mal
angewendet.
Nur um es noch einmal klarzustellen: In der Antiterrordatei werden nicht die Daten von unbescholtenen
Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes gespeichert,
sondern Daten von Menschen, von denen eine konkrete
terroristische Gefahr ausgeht. Wir haben auch in der
vorliegenden Neufassung noch einmal konkretisiert,
welche Personen als terrorismusnah gelten. Daten von
Kontaktpersonen etwa, die mit einer terrorismusnahen
Hauptperson in Kontakt stehen, dürfen künftig nur noch
als erweiterte Grunddaten gespeichert werden. Als Person sind sie gewissermaßen gar nicht mehr gespeichert,
sondern sie sind einfach nur noch ein Informationsmedium in Bezug auf die Hauptperson.
({8})
Eine weitere Änderung - das ist mir wichtig, anzusprechen - haben wir im neuen § 6 a eingeführt. Im
Koalitionsvertrag haben wir vereinbart, dass die Analysefähigkeit der Antiterrordatei verbessert werden soll.
({9})
Auch der Evaluierungsbericht, der von denen verfasst
wurde, die jeden Tag mit der Antiterrordatei arbeiten, hat
ergeben, dass eine komplexe Abfrage im Datenbestand
der ATD sinnvoll wäre. So ist es künftig möglich, im
Rahmen von einzelfallbezogenen Projekten, Informationen im Rahmen einer erweiterten Nutzung zu sammeln
und auszuwerten und Zusammenhänge darzustellen. Es
weiß hier jeder, wie vernetzt gerade die Zielgruppe ist,
um die es hier geht.
({10})
Diese Möglichkeit gibt es bereits heute in der Rechtsextremismusdatei, sodass es auch nichts Neues ist.
Ich komme zum Schluss. Ich bin mir bewusst, dass
die Antiterrordatei nicht überall und bei jedem auf
Gegenliebe stößt. Auch ich würde mir wünschen, dass
ich ruhigen Gewissens sagen könnte, wir brauchen die
Antiterrordatei und die Rechtsextremismusdatei gar
nicht, weil das Terrorrisiko in Deutschland kalkulierbar
und handhabbar ist. Das ist aber leider nicht so. Wir
dürfen uns nicht belügen. Schließlich tragen wir die Verantwortung für die Sicherheit der Menschen in unserem
Land.
({11})
Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, wäre es ein
richtiges Signal, wenn die Antiterrordatei mit den hier
vorgeschlagenen Änderungen den Beamtinnen und Beamten in den Polizeien und Nachrichtendiensten mit
breiter Unterstützung dieses Hauses auch weiterhin zur
Verfügung stehen würde.
Vielen Dank.
({12})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Irene Mihalic, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Über anderthalb Jahre haben Sie sich
jetzt Zeit genommen, um hier einen verfassungskonformen Gesetzentwurf vorzulegen. Dafür, dass Sie es am
Ende doch nicht geschafft haben, diesen Gesetzentwurf
irgendwie verfassungskonform zu machen, ist es nach
meinem Empfinden eine viel zu lange Zeit.
({0})
Am informationellen Trennungsprinzip und an der
Verfassung - das hat Ihnen auch die Bundesdatenschutzbeauftragte ziemlich deutlich ins Stammbuch geschrieben - stören Sie sich in Ihrem Gesetzesentwurf nicht im
Geringsten. Mit dem Datenschutz sieht es leider nicht
besser aus, und - das nehme ich Ihnen auch persönlich
wirklich übel - Sie lassen die Sicherheitsbehörden bei
der konkreten Umsetzung dieses Gesetzes schlicht und
ergreifend im Regen stehen. Das ist angesichts der
Gefahren des Terrorismus heutzutage völlig unverantwortlich.
({1})
Ich sage Ihnen auch, warum. Der Kollege Grötsch hat
vorhin den Änderungsantrag angesprochen, mit dem Sie
jetzt versuchen, das Ganze verfassungsrechtlich noch irgendwie zu glätten. Zu diesem Zweck definieren Sie im
Gesetzentwurf, was unter einem Projekt bei der weiteren
Datennutzung, § 6 a, zu verstehen ist, damit jeder Benutzer der Antiterrordatei auch weiß, was er zu tun hat. Ich
zitiere die Definition:
Ein Projekt ist eine gegenständlich abgrenzbare und
auf bestimmte Zeiträume bezogene Aufgabe, der
durch die Gefahr oder den drohenden Schaden, die
am Sachverhalt beteiligten Personen, die Zielsetzung der Aufgabe oder deren Folgewirkungen eine
besondere Bedeutung zukommt.
Ja, dann ist ja jetzt alles klar, oder?
({2})
- Es ist ja allein deshalb schon so traurig, Herr Kollege
Reichenbach, weil es sprachlich schon schwierig ist. Ich
weiß ja, dass Sie diesen Vorschlag aus der Expertenanhörung übernommen haben. Es ist zwar fast schon
löblich, dass Sie sich auch einmal an das halten, was die
Experten sagen, aber im Ernst, liebe Kolleginnen und
Kollegen:
({3})
Diesen Satz versteht außerhalb von Professorenzirkeln
kein Mensch.
({4})
Sie wälzen mit dieser Scheindefinition die Verantwortung für die richtige Auslegung des Gesetzes einfach auf
die Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden ab. Das kann
nicht sein.
({5})
Es ist Ihre Aufgabe, einen verfassungskonformen und
umsetzbaren Gesetzentwurf vorzulegen. Was Sie den
Mitarbeitern da zumuten, geht gar nicht.
Genauso sieht es auch bei der Bekämpfung des ISTerrorismus aus. Es vergeht kaum ein Tag, an dem Sie
nicht davor warnen und an dem Sie sich nicht mit den
abenteuerlichsten Forderungen geradezu überschlagen.
Sie schreien nach neuen Gesetzen, die aber im Grunde
völlig nutzlos sind, anstatt den vorhandenen Rechtsrahmen einmal konsequent auszuschöpfen und auch in
die Praxis umzusetzen.
Anstatt beispielsweise lückenlose Grenzkontrollen im
Datenbestand auch bei der Ausreise sicherzustellen,
bringen Sie lieber den Pass mit Terroristenstempel oder
irgendwelche Ersatzdokumente ins Gespräch. Das ist
nicht nur rechtsstaatlich hart an der Grenze, sondern
bringt auch für die Gefahrenabwehr rein gar nichts.
({6})
Das sagen uns auch die Experten bei der Bundespolizei.
Wenn Sie Terrorverdächtige wirksam an der Ausreise
hindern wollen, dann ist die grafische Darstellung auf
dem Perso völlig egal. Worauf es ankommt, ist die Kontrolldichte bei der Ausreise. Das ist das Kerngeschäft.
Darauf sollten Sie sich endlich einmal konzentrieren, anstatt hier irgendwelche verfassungswidrigen Experimente zu veranstalten.
({7})
Aber Sie machen genau das Gegenteil: Allem, was
vernünftig ist, zum Trotz kürzen Sie auch noch das Geld
da, wo es dringend gebraucht wird. Der Haushalt der
Bundespolizei soll in diesem Jahr zum Beispiel erneut
um 51 Millionen Euro gekürzt werden. Und warum?
Man fasst es ja nicht: zur Finanzierung des Betreuungsgeldes. Dazu kommt, dass die Haushaltssperre bei der
Bundespolizei bis heute noch nicht aufgehoben wurde.
Wenn das Ihr sicherheitspolitisches Gesamtkonzept ist,
dann gute Nacht!
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Ihnen und dieser
Bundesregierung - ich spreche Sie an, Herr Krings fehlt es schlicht an einer Strategie für die Bekämpfung
des Terrorismus. In der öffentlichen Debatte sagen Sie
immer, was Sie nicht alles tun wollen, aber die, auf die
es in der Praxis ankommt, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden, lassen Sie schlicht und
ergreifend im Regen stehen: finanziell, gesetzgeberisch
und konzeptionell. Tun Sie endlich das, was im rechtsstaatlichen Rahmen möglich ist. Ein verfassungskonformes Antiterrordateigesetz vorzulegen, haben Sie ja
leider versäumt. Nehmen Sie jetzt wenigstens die Kürzungen bei der Bundespolizei zurück, und sorgen Sie für
ein koordiniertes Vorgehen von Bund und Ländern im
Kampf gegen den Terrorismus und vielleicht auch einmal bei der Deradikalisierung. Die Sonder-Innenministerkonferenz - Herr Krings, das können Sie ja dem Bundesinnenminister einmal mit auf den Weg geben - ist
genau der richtige Ort, um das zu tun.
Wie gesagt: Lassen Sie verfassungswidrige Experimente! Tun Sie das Richtige!
Ganz herzlichen Dank.
({9})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Clemens Binninger, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Das Thema, das wir heute zu behandeln haben, ist außergewöhnlich ernst: eine Terrorarmee, die in einem ganzen
Landstrich zwischen Syrien und Irak herrscht und Schrecken verbreitet, ein Anschlag auf das Jüdische Museum
in Brüssel mit vier Toten, die Planung öffentlicher Enthauptungen in Australien durch IS-Kämpfer, die übrigens nicht in Syrien waren, sondern in Australien gelebt
haben, 450 Personen aus Deutschland, die mutmaßlich
als IS-Kämpfer in dieser Region unterwegs sind und irgendwann auch zurückkommen. Also, vor einer größeren Herausforderung, was die Bedrohungslage angeht,
haben wir in diesem Land selten gestanden. Insofern
muss ich sagen: Ich verstehe es bei allen Unterschieden,
die wir ja immer haben können, überhaupt nicht, dass
Linke und Grüne kein Wort darauf verwenden
({0})
und stattdessen etwas beckmesserisch den Gesetzentwurf kritisieren und ganz andere Sorgen haben. Ihre beiden Beiträge gingen wirklich an der Lebenswirklichkeit
vorbei, und zwar komplett vorbei.
({1})
Frau Mihalic, wenn Sie sagen: „Wir überbieten uns
mit Vorschlägen“ - wobei es gar nicht so viele waren -,
und schon den Vorschlag ablehnen, Ausweise bei der
Ausreise zu kennzeichnen, damit man Personen abhalten
oder wenigstens erkennen kann, entgegne ich Ihnen: Der
Erste, der diesen Vorschlag in die politische Debatte eingebracht hat, war Volker Beck von den Grünen.
({2})
Wen kritisieren Sie denn jetzt: uns oder sich selbst? Das
hätte ich gern heute noch gewusst. Das war jedenfalls
ganz dünnes Eis, auf dem Sie da unterwegs waren.
({3})
Frau Jelpke, in der Rechtsextremismusdatei, mit der
wir uns ja heute auch befassen, sind ausschließlich amtsbekannte Neonazis verzeichnet. Die Sorgen, die Sie sich
machen, kann ich, ehrlich gesagt, nicht nachvollziehen.
Eine der Lehren aus den Verbrechen des NSU war es
doch, dass wir uns an den Kopf gefasst haben und gefragt haben: Wie kann es sein, dass Erkenntnisse über
gewaltbereite Strukturen überall vorhanden sind, aber
niemand sie zusammenführt? Sie schwadronieren jetzt,
als ob man hier den Datenschutz für Neonazis missachten würde.
({4})
Das tun wir nicht. Das, was wir tun, ist eine wichtige und
notwendige Maßnahme.
Da Sie das, was wir hier tun, ablehnen, hätte ich von
Ihnen wenigstens einen Satz dazu erwartet, was Sie stattdessen vorschlagen. Nichts davon! Bei Ihnen hat man
immer den Eindruck: Die Linken haben mehr Angst vor
Sicherheitsbehörden als vor Extremisten. Das ist unfassbar und auch nicht akzeptabel.
({5})
Herr Kollege, der Abgeordnete von Notz würde gerne
eine Zwischenfrage stellen. Möchten Sie sie zulassen?
Selbstverständlich, wenn Sie die Zeit anhalten, Herr
Präsident!
Eine gute Idee. Das mache ich jetzt.
Was heißt „eine gute Idee“?
({0})
Bitte schön, Herr von Notz.
Herr Kollege Binninger, vielen Dank. - Eine Bemerkung darf ich vielleicht machen: Ich weise es für meine
Fraktion und für die Kollegin Mihalic aufs Schärfste zurück, dass wir diese Problematik nicht ernst nehmen.
Das wissen Sie auch; wir sagen das in der Diskussion
immer wieder.
Ich will gleich eine Frage stellen. Ich habe mit Ihnen
ja schon mehrere Diskussionen in dieser Form geführt,
gerade auch zu diesem Thema, und jedes Mal, Herr
Binninger, reden Sie und Ihre Fraktion mit der Inbrunst
der Rechtschaffenheit über die Verfassungskonformität
Ihrer Vorschläge hier im Haus.
An dem Punkt war ich noch nicht, aber Sie dürfen
gerne vorweg fragen. Hervorragend!
Genau, ich schenke Ihnen Redezeit. Das ist ja ein guter Zug von mir. - Jedes Mal sagen Sie mit der Inbrunst
der Überzeugung, wie unglaublich verfassungskonform
Ihre Vorschläge sind. Jetzt haben Sie die Antiterrordatei
genau so, wie wir es Ihnen vorhergesagt haben, von
Karlsruhe um die Ohren gehauen bekommen, genau wegen der Punkte, die wir Ihnen genannt haben. Damals
haben Sie auch schon gesagt: Die Grünen und die Linken kümmern sich nicht um Sicherheit. - Wir haben
ganz schlicht eine Bitte: Legen Sie verfassungskonforme
Gesetze vor! Das ist gut für die Sicherheit in Deutschland; denn die werden nicht gleich wieder von Karlsruhe
eingesammelt.
Vor diesem Hintergrund würde ich gerne wissen: Warum sind Sie denn diesmal überzeugt, dass Sie nicht wieder falschliegen, wie in den letzten sieben Diskussionen,
in denen es um ähnliche Problematiken ging?
({0})
Herr Kollege von Notz, um keine unnötige Schärfe in
die Debatte zu bringen: Ich spreche Ihnen nicht grundsätzlich ab, dass Sie ein Problembewusstsein haben.
({0})
Aber ich habe die Erwartung, dass man, wenn wir hier
im Deutschen Bundestag über so etwas sprechen, ein
paar Sätze mehr zur Bedrohungslage verliert, als es die
Opposition bisher getan hat.
({1})
Dabei bleibe ich auch. Und das kann man, wie ich
glaube, zu Recht erwarten.
Jetzt zu Ihrer Frage. Ich war in meiner Rede noch gar
nicht bei dem Punkt der verfassungsgemäßen Ausgestaltung, aber wenn Sie quasi vorweg danach fragen, will
ich Ihnen trotzdem eine Antwort geben. Ich war bei der
mündlichen Verhandlung und auch bei der Urteilsverkündung in Karlsruhe, übrigens als einziger Abgeordneter - von der Opposition war niemand da. Ich glaube, ich
kann deshalb relativ gut sagen, wie Karlsruhe dieses Gesetz bewertet hat. Man hat gesagt: im Grundsatz verfassungsgemäß, aber vier oder fünf Punkte müssen korrigiert werden.
({2})
- Das ist richtig, aber Ihre immer wieder aufgestellte
Hauptthese, wir würden ein verfassungswidriges Gesetz
vorlegen, wurde von Karlsruhe widerlegt.
({3})
- Sie haben die Punkte so nicht benannt,
({4})
was die Kontaktpersonen anbelangt.
Jetzt gab es Korrekturbedarf. Dem sind wir nachgekommen. Wir haben etwas gemacht, was Sie während
der Zeit der rot-grünen Regierung nie gemacht haben
- ich persönlich kann mich jedenfalls nicht erinnern -:
Wir haben auf die Sachverständigen gehört. Wir haben
zwei Punkte, die von den Sachverständigen bezüglich
der Kontaktpersonen und der Projektdateien vorgeschlagen wurden, umgesetzt.
Ich glaube: Niemand von uns - Sie doch auch nicht kann zu jedem Zeitpunkt vorhersagen, ob ein Gesetz in
Karlsruhe in jedem Falle Bestand hat; so vermessen wird
keiner sein. An die vielen Gesetze, die während der rotgrünen Regierungszeit in Karlsruhe gescheitert sind
- sorry, das kann ich euch nicht ersparen; das Luftsicherheitsgesetz ist das Paradebeispiel -, will ich Sie jetzt nur
kurz erinnern. Da muss niemand mit dem Finger auf - ({5})
- Die Grünen waren da schon im Bundestag, Sie persönlich nicht. - Wir haben jetzt das getan, was wir tun können, damit dieses Gesetz verfassungskonform ist.
Frau Mihalic, Sie haben die im Gesetz enthaltene Definition der Projektdatei etwas ironisiert.
({6})
- Wer das versteht? Ich kann Ihnen ein Beispiel nennen,
das zeigt, worum es da geht. Da geht es um Projekte wie
jenes, das auf Rückkehrer aus Kampfgebieten in Syrien
ausgerichtet ist. Genau dafür gilt diese Definition. Mit
etwas gutem Willen versteht man sie auch.
({7})
Nur wenn man es nicht verstehen will, muss man das
Gesetz ironisieren. Aber das ist der falsche Weg, diese
Debatte zu führen - der ganz falsche Weg.
({8})
Warum brauchen wir überhaupt eine solche Verbunddatei? Das ist doch die Ausgangsfrage. Bei aller Kritik
- vielleicht kommen wir da nicht zusammen; das macht
ja auch nichts - müssten Sie eigentlich eine eigene Antwort darauf parat haben. Warum brauchen wir also eine
solche Verbunddatei? Wir brauchen sie, weil wir aufgrund unserer föderalen Struktur in Deutschland 37 verschiedene Behörden haben, die für die Bekämpfung des
internationalen Terrorismus zuständig sind: Verfassungsschutz, Polizeien, LKA, BKA, MAD, BND und Bundespolizei. 37! Wenn wir wollen, dass diese Behörden im
Interesse der Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger
erfolgreich sind, dann müssen wir sicherstellen, dass die
Informationen, die an 37 verschiedenen Stellen anfallen,
auch zusammengeführt werden. Ich persönlich kann mir
kein anderes Instrument vorstellen, als zu sagen: Die Informationen, die schon da sind, führen wir in einer Datei
zusammen.
({9})
- Wenn Sie einen anderen Vorschlag haben, dann sagen
Sie es. Aber tun Sie nicht so, als ob wir das nicht bräuchten.
Wie war das in der Vergangenheit, wenn eine Polizei
vom Verfassungsschutz eine Information über eine Person haben wollte? Beispiele aus dem NSU-Untersuchungsausschuss zeigen: Dauer der Beantwortung neun Monate! Wir reden hier über Terrorismusbekämpfung. Da können wir uns keine neun Monate erlauben,
sondern es muss im Zweifel innerhalb von Minuten feststehen, ob eine Person schon bekannt ist und irgendwo
als militanter Rechtsextremist oder als gewaltbereiter Islamist aufgefallen ist. Deshalb brauchen wir dieses Instrument. Wir gestalten es mit dem heute vorliegenden
Gesetzentwurf verfassungsgemäß aus. Die Punkte, die
von den Sachverständigen moniert wurden, haben wir
korrigiert.
Zu den Kontaktpersonen.
({10})
- Frau Jelpke, wir sollten schon redlich bleiben. - Der
Sinn und Zweck, warum wir Daten von Kontaktpersonen speichern, ist doch folgender: Was machen Sie,
wenn Sie übers Wochenende den Hinweis auf einen geplanten Anschlag durch zwei Personen bekommen? Die
zwei Verdächtigen sind weg, sie sind verschwunden, keiner weiß, wo sie sind. Dann sind Sie doch darauf angewiesen, dass Sie irgendwo Daten einer Person gespeichert haben, die Ihnen helfen kann, die vielleicht weiß,
wo sich ein Verdächtiger aufhält. Und wenn Sie diese
Person erreichen wollen, dann brauchen Sie natürlich
Telefonnummer, Adresse, E-Mail-Adresse oder Handynummer. Frau Jelpke, Sie können doch nicht kritisieren,
dass wir die Telefonnummern von Kontaktpersonen
speichern. Ja, was denn sonst! Sonst kann ich mit denen
doch gar nicht reden. Was wäre denn das für ein Instrument?
Angesichts solcher Scheuklappen muss ich sagen: Es
ist wirklich schade um die Debattenzeit, wenn man sie
auf diese Weise verschwendet. Das passt auch nicht zur
Realität. Wir speichern die Daten von Kontaktpersonen
so, wie es Karlsruhe vorgegeben hat. Wir brauchen jedenfalls diese Personen,
({11})
und wir brauchen natürlich auch Daten, um mit diesen
Personen im Bedrohungsfall - darum geht es doch - in
Kontakt treten zu können.
({12})
Ein weiterer Punkt, den die Grünen und, ich glaube,
auch Sie von den Linken vorhin angesprochen haben, ist
der Eilfall. Wir haben den Eilfall, bei dem eine Behörde
vorneweg auf alle Daten zugreifen kann, die über eine
Person gespeichert sind, so streng geregelt, weil der Vorwurf bei der Gesetzgebung immer gelautet hat, mit dem
Eilfall werde eine Hintertür geöffnet, und jede Dienststelle dürfe sich alle Daten ansehen; das werde im RahClemens Binninger
men des Eilfalls passieren. Es wurden dunkle Szenarien
für den Datenschutz an die Wand gemalt.
Jetzt haben wir die Terrordatei evaluiert und stellen
fest: Die Bestimmung des Eilfalles war so eng gewählt,
dass er nur einmal angewandt wurde. Nun ziehen Sie daraus den Schluss, dass wir den Eilfall ja gar nicht
bräuchten. Das überzeugt nicht. Solche Argumente gehen - nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch ziemlich weit an der Sache vorbei.
Unsere Sicherheitsbehörden brauchen Instrumente,
mit denen sie in die Lage versetzt werden, der derzeitigen Bedrohungslage, die uns noch eine ganze Weile beschäftigen wird, etwas entgegenzusetzen. Natürlich ist
die Antiterrordatei nicht das einzige Instrument. Natürlich müssen wir uns auch um das Personal kümmern; das
ist aber nicht Gegenstand der heutigen Debatte.
Auch mir persönlich bereitet es etwas Sorge - Sie haben es genannt -, dass es im Haushalt noch Sperrvermerke gibt. Das passt nicht in unsere Zeit, und es passt
nicht zur Bedrohungslage. Deshalb müssen wir an dieser
Stelle Korrekturen vornehmen.
({13})
Im Ergebnis wird es immer so sein: Egal was wir an
gesetzgeberischen Änderungen machen, egal was wir an
Dateien einführen, am Ende sind es die Männer und
Frauen in den Sicherheitsbehörden, die in der Lage sein
müssen, diese Instrumente anzuwenden. Sie müssen wir
ordentlich bezahlen. All das gehört dazu. Hier stehen wir
in der Pflicht. Wir stehen aber auch in der Pflicht, alles
zu tun, was der Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger in
unserem Land dient.
Gerade angesichts der schrecklichen Bedrohung
durch den IS, die uns sicher und leider einige Monate
oder sogar noch länger beschäftigen wird, ist festzuhalten: Die Antiterrordatei ist ein wichtiges Instrument. Wir
bringen sie heute mit den entsprechenden Korrekturen
auf den Weg. Es wäre ein gutes Zeichen gewesen, wenn
Sie sich zu einer Zustimmung zu diesem Instrument hätten entschließen können. Wir werden es tun und damit
einen Beitrag zur Sicherheit unseres Landes leisten.
Herzlichen Dank.
({14})
Als letztem Redner in dieser Aussprache erteile ich
das Wort dem Abgeordneten Gerold Reichenbach, SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ich will hier keine neuen Bedrohungsszenarien aufzeigen.
Ich gehe davon aus, dass es in diesem Haus Konsens
ist, dass wir unsere Sicherheitsbehörden in die Lage versetzen müssen, mit den zur Verfügung stehenden technischen Möglichkeiten im Rahmen der Gesetze Informationen optimal auszutauschen; das gilt auch für die
Dienste. Gerade wir Sozialdemokraten haben vor dem
Hintergrund unserer Geschichte und aus Respekt vor unserer Verfassung immer darauf geachtet, dass das Trennungsgebot nicht aufgeweicht oder durchbrochen wird.
Frau Jelpke, ich muss Ihnen Folgendes sagen: Sie
müssen sich irgendwann einmal entscheiden. Die Linkspartei kann nicht einerseits kritisieren, wenn auch zu
Recht, dass es den Behörden im Zusammenhang mit
dem NSU nicht gelungen ist, Kontaktpersonen bzw. deren Telefonnummern mit dem Terrortrio zusammenzubringen, um die Verbrechen früher aufdecken und das
Trio stoppen zu können, und andererseits kritisieren,
dass wir die Ursache für diesen Umstand beheben wollen. Das passt nicht zusammen.
({0})
Wir stehen zu diesem Instrument. Das Bundesverfassungsgericht hat deutlich gemacht: Dieser tiefe Eingriff
ist vor dem Hintergrund dessen, was wir als Ziel erreichen wollen - Bekämpfung des Terrorismus von rechts,
von Islamisten, von links oder sonst woher zum Schutz
von Gut, Leib und Leben -, zu rechtfertigen, aber - das
hat das Bundesverfassungsgericht auch festgelegt - unter strenger Beachtung des Bürgerrechts auf informationelle Selbstbestimmung. Das Bundesverfassungsgericht
hat gesagt: Wenn Daten zusammengeführt werden, dann
hat das eine neue Qualität, auch wenn die Daten woanders schon erhoben worden sind.
Wir haben uns bei der Novellierung dieses Gesetzes
bemüht, diese Vorgaben genau umzusetzen. Ich denke,
das ist uns auch gelungen. Der ursprüngliche Gesetzentwurf wurde nach der Anhörung im Zuge der parlamentarischen Beratung verändert. Das ist ja auch der Sinn
der parlamentarischen Beratung; insofern gilt das
Struck’sche Gesetz. Die Anhörung hat gezeigt: Der Gesetzentwurf hat Mängel. - Wir haben diese Kritik der
Sachverständigen aufgegriffen: sowohl beim Thema
Kontaktpersonen als auch bei der Berechtigung der Länderbehörden zur Abfrage und hinsichtlich § 6 a des Antiterrordateigesetzes. Ich gebe zu: § 6 a konnte nicht Gegenstand der Beurteilung des Bundesverfassungsgerichts
sein, weil wir ihn neu einführen.
Nach der Anhörung haben wir uns aber bemüht, das
Thema Projekt/Projektdateien so einzugrenzen, dass wir
den Normen, die das Bundesverfassungsgericht hinsichtlich der Antiterrordatei festgelegt hat - das ist auch auf
die Rechtsextremismusdatei zu übertragen -, Genüge
tun.
Liebe Kollegin Mihalic, wir sind uns hinsichtlich Ihrer Kritik durchaus einig - als Innenpolitiker brauchen
wir uns da nicht gegenseitig schlau oder katholisch zu
machen -: Wir müssen uns nicht nur um gesetzliche Instrumente kümmern - auch Clemens Binninger hat das
gesagt -, sondern wir müssen uns auch darum kümmern,
dass wir am Ende genügend Beamte haben, die diese
Gesetze zum Schutze der Bevölkerung anwenden können.
({1})
Das ist völlig unbestritten. Unbestritten ist aber auch die
Tatsache - Sie sind vom Fach -, dass wir als Gesetzgeber keine Dienstvorschriften und keine Umsetzungsanweisungen für Polizeibeamte machen.
({2})
Wir müssen ein Gesetz machen, das juristisch umsetzbar
ist. Der gesetzliche Rahmen für die Eingriffsrechte, den
wir hier festlegen, muss in die polizeiliche Praxis umsetzbar und praktikabel sein.
({3})
Für die Umsetzung sind die Behörden zuständig. Dafür
gibt es Dienstanweisungen, Umsetzungsanordnungen
und, und, und.
Ich glaube, dass der Gesetzentwurf mit den Änderungen, die wir nach der Anhörung eingebracht und im Ausschuss beschlossen haben, tragbar ist. Deswegen bitte
ich um Ihre Zustimmung.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Antiterrordateigesetzes und anderer Gesetze.
Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/2902, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 18/1565 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion
und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion
Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist der
Gesetzentwurf mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion
und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion
Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 18/2911. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist der
Entschließungsantrag abgelehnt mit den Stimmen der
CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und Zustimmung durch die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Lisa
Paus, Britta Haßelmann, Anja Hajduk, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Für eine Bundessteuerverwaltung - Gleiche
Grundsätze von Flensburg bis zum Bodensee
Drucksache 18/2877
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Als erster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Lisa Paus, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute tagen die Ministerpräsidenten in Potsdam, um über die
Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen zu
sprechen. Ein Thema scheint dabei aber schon wieder
vom Tisch zu sein, kaum, dass es einmal darauf lag,
nämlich der Kampf gegen Steuerbetrug durch einen effizienten Steuervollzug. Ein einfaches Veto aus Bayern
scheint zu genügen, damit gar nicht mehr darüber gesprochen wird. Wir sagen: Wir lassen uns den Mund von
den Bayern nicht verbieten.
({0})
Es ist höchste Zeit, dass der Bundestag, der übrigens
auf der Bundesebene der Gesetzgeber ist - das ist nicht
der Finanzminister, und das ist auch nicht die Bundeskanzlerin -, die Themen anspricht, die aus unserer Sicht
mit auf den Verhandlungstisch gehören. Mit unserer Forderung „Für eine Bundessteuerverwaltung - Gleiche
Grundsätze von Flensburg bis zum Bodensee“ wissen
wir Grüne viele Abgeordnete auch aus den Reihen der
CDU/CSU und der SPD in diesem Hause auf unserer
Seite. Lassen Sie uns gemeinsam dieses Thema wieder
auf den Verhandlungstisch bringen.
({1})
Denn die Wahrheit ist: Deutschland entgehen jedes
Jahr zig Milliarden Euro an Steuereinnahmen aufgrund
der ineffizienten Organisation der Steuerverwaltung in
unserem föderalen System. Der Bundesrechnungshof
bemerkte hierzu 2006: Ein Großteil der Steuererklärungen wird in den Finanzämtern nicht mehr ordnungsgemäß geprüft. Der gesetzmäßige und ordnungsgemäße
Vollzug der Steuergesetze ist in Deutschland nicht mehr
gewährleistet. - Wenn Steuergesetze in Deutschland
nicht mehr umgesetzt werden können, dann besteht
wirklich dringender Handlungsbedarf.
({2})
Dafür, dass es so ist, gibt es strukturelle Gründe. Wegen der föderalen Regeln, die wir haben, gilt für jeden
Landesfinanzminister in diesem Land das gleiche Paradox: Er will keine Steuern einnehmen. Denn die Kosten
für einen zusätzlichen Steuerprüfer muss ein Finanzminister zu 100 Prozent zahlen, von den zusätzlichen
Steuereinnahmen bekommt der Finanzminister im Land
aber oft nur 10 Prozent, egal ob in Berlin oder in BadenWürttemberg. Es liegt in diesem Fall also tatsächlich am
System. Deswegen müssen wir dieses System ändern,
meine Damen und Herren.
({3})
2011 haben wir Grüne in elf Landesparlamenten die
Regierung zum Zustand der Steuerverwaltung befragt.
Das Ergebnis: Kamen in Hamburg auf 10 000 Bürger
20 Finanzbeamte, waren es in Bayern gerade noch 12.
Aber damit nicht genug: Bayern reduzierte seine ohnehin niedrige Zahl von Betriebsprüfern noch weiter, während andere Länder wie Schleswig-Holstein in den letzten fünf Jahren die Zahl ihrer Betriebsprüfer um
20 Prozent gesteigert haben.
({4})
Die Wahrscheinlichkeit, Besuch von der Steuerfahndung
zu bekommen, war in Hessen beinahe zehnmal größer
als in Bayern. Es kann nicht sein, meine Damen und
Herren, dass in Deutschland der Wohnort und nicht die
Leistungsfähigkeit darüber entscheidet, wie viel Steuern
jemand zahlt.
({5})
Und doch ist die Realität des Jahres 2014 noch
schlimmer: Der Umzug eines Steuerpflichtigen von einem Bundesland in ein anderes stellt die Finanzämter
hier und heute noch immer vor Herausforderungen unvorstellbaren Ausmaßes. Die elektronischen Daten werden nämlich nicht einfach überspielt, sondern es gehen
auch im 21. Jahrhundert zumeist ausschließlich Papierakten auf die Reise.
({6})
Das neu zuständige Finanzamt muss dann mühsam alle
noch relevanten Steuerbescheide der Altjahre per Hand
in den PC bringen. Sind noch Einsprüche offen oder
Rückstände einzufordern, müssen zusätzlich noch die
Buchungskonten des Steuerpflichtigen mit den Altdaten
gefüttert werden. Wir brauchen endlich eine bundesweit
einheitliche Software, um solchen Koordinationsproblemen ein Ende zu machen, meine Damen und Herren.
({7})
Wie sieht es aus bei den Betriebsprüfungen? Deutschland 2014 heißt, dass große internationale Konzerne in
zentralen Steuerabteilungen Bataillone von Steuerberatern und Anwälten beschäftigen. Ihnen gegenüber sitzen
im Zweifel vielleicht zwei Betriebsprüfer, die selbstverständlich auch dann, wenn das Unternehmen mehrere
Betriebsstätten hat, unabhängig von den Finanzbeamten
im anderen Bundesland und jeweils in Eigenregie, die
Bilanzierungs- und Steuerehrlichkeit prüfen und auswerten. Kein Wunder, dass Unternehmen in Deutschland im
Durchschnitt nur alle 44 Jahre geprüft werden - die
Finanzämter in Deutschland sind einfach hoffnungslos
unterlegen.
({8})
Weitere Aufgaben kommen: Die OECD erarbeitet im
Moment Vorschläge, wie sich die Steuervermeidungsstrategien der Konzerne stoppen lassen. Wir fordern deshalb eine neu zu schaffende Spezialeinheit, die personell
und technisch auf Augenhöhe mit den Steuerabteilungen
der Konzerne zu bringen ist und dann für sämtliche
Steuerangelegenheiten dieser Großkonzerne und von
Einkommensmillionären zuständig sein soll.
({9})
Frau Kollegin, da gibt es den Herzenswunsch des
Kollegen Zimmermann nach einer Zwischenfrage.
Möchten Sie die gestatten? - Ich halte auch die Uhr an.
Bitte schön.
Vielen Dank, Frau Kollegin, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. Sie haben Hessen angesprochen. Das hat
mich jetzt dazu veranlasst, auch länger die Hand zu heben.
Ich weiß, das ist nicht unter Regierungsbeteiligung
Ihrer Partei in Hessen passiert; aber die Steuerverwaltung und vor allem die Steuerfahndung in Hessen haben
ja leider eine wenig rühmliche Vergangenheit. Ich
möchte Sie fragen, ob Ihnen bekannt ist, was man in
Hessen bereit ist zu tun, um die Steuerfahnder, die damals - man muss es ja so sagen - für verrückt erklärt
wurden, zu rehabilitieren.
({0})
- Das ist überhaupt kein Nebenkriegsschauplatz.
Sie haben völlig recht: Dieser Fall ist unsäglich. Zum
Glück haben die betroffenen Steuerbeamten inzwischen
vor Gericht Recht bekommen. Ich teile Ihre Auffassung,
dass sie sich großen Respekt verdient haben.
({0})
Ich war gerade dabei, auszuführen, dass wir eine Spezialeinheit brauchen, die den Steuerabteilungen großer
Konzerne und den Steuerberatern von Einkommensmillionären tatsächlich auf Augenhöhe begegnen kann. Nur
so können wir sicherstellen, dass auch leistungsfähige
Gruppen angemessen an der Finanzierung des Gemeinwesens beteiligt werden. Dadurch würde übrigens auch
der Austausch mit ausländischen Steuerverwaltungen erleichtert, da diese dann nur noch mit einer statt mit
16 Behörden zusammenarbeiten müssten. Eine solche
neue Abteilung macht gerade jetzt Sinn, wo die OECD
neue Vorschläge erarbeitet, wie wir die Steuervermeidungsstrategien der Konzerne endlich stoppen können.
Ich fasse zusammen: Das Thema Bundessteuerverwaltung muss bei den Verhandlungen über die Bund-LänderFinanzbeziehungen zurück auf den Verhandlungstisch.
Erste Schritte, die mindestens gegangen werden müssten, sind: Aufstellung einer Spezialeinheit für den Umgang mit Großkonzernen und Einkommensmillionären.
Der unterschiedliche Zustand der Verwaltungen muss
endlich transparent gemacht werden und durch bundeseinheitliche Zielvereinbarungen kontrolliert werden.
Und wir brauchen endlich eine einheitliche Software.
Ich freue mich auf die Debatte, damit wir hier endlich
vorwärtskommen.
({1})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Margaret Horb, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Immer wenn die Gründung einer Föderalismuskommission ansteht oder eine tagt, steht das Thema
Bundessteuerverwaltung auf der Agenda. Heute beglücken uns die Grünen mit einer Debatte zu diesem
Thema.
Die Diskussion ist wichtig, gerade auch im Kontext
der Föderalismuskommission; denn die Steuerverwaltung ist der Maschinenraum unseres Finanzsystems. Da
ist es nicht so glamourös wie beim Captain, der oben auf
der Brücke steht, das Schiff lenkt und beim Captain’s
Dinner mit den Gästen plaudert. Aber ohne die Mannschaft im Maschinenraum fährt kein Schiff der Welt.
Und ohne eine funktionierende, effiziente Steuerverwaltung funktioniert kein Staat der Welt. Ich finde die Diskussion, die wir heute führen, deshalb gut und richtig.
Von dem vorliegenden Antrag der lieben Kollegen und
Kolleginnen der Grünen kann ich das leider nicht behaupten.
({0})
Da ist zunächst der Titel: „Für eine Bundessteuerverwaltung - Gleiche Grundsätze von Flensburg bis zum
Bodensee“. Ihre Geografiekenntnisse in allen Ehren,
aber gleiche Grundsätze gibt es bereits. Die Abgabenordnung gilt überall in Deutschland gleichermaßen.
({1})
Die Steuerverwaltung ist Ländersache. Die Steuergesetze sind überall gleich, in Flensburg wie am Bodensee.
Kommen wir aber zum Steuervollzug; denn darum
geht es Ihnen ja. Da schreiben Sie in Ihrem Antrag ernsthaft - ich zitiere wörtlich -:
Es kann aber nicht sein, dass die Höhe der Steuerzahlung vom Wohnort abhängt, weil in einem Land
geprüft und im anderen weggesehen wird.
Ist Ihnen eigentlich klar, was Sie damit sagen? Ich selbst
komme aus der Finanzverwaltung. Wenn ich so etwas
lese, dann werde ich sauer, und zwar richtig sauer.
({2})
Ich kenne keinen Mitarbeiter, keine Mitarbeiterin, keinen Sachbearbeiter und keinen Betriebsprüfer in der Finanzverwaltung, der bei Steuererklärungen und -prüfungen wegsieht. Hier sind wir auch ganz schnell im
Bereich von Straftaten. Wenn Sie einzelnen Bundesländern unterstellen, dass sie ihre Steuerverwaltungen extra
schlecht ausstatten, um Standortvorteile zu generieren,
dann müssen Sie das auch belegen.
({3})
Wo wir gerade bei den Ländern sind, liebe Kollegen
und Kolleginnen der Grünen: Lassen Sie mich Ihnen
vorlesen, was Ihr grüner Ministerpräsident Kretschmann
von einer Bundessteuerverwaltung hält. Ich zitiere aus
dem Mannheimer Morgen:
Würde man die Gesetzgebung in diese Richtung ändern, sei der „Kern des Föderalismus“ betroffen, so
der Regierungschef. Denn durch die komplette
Übertragung der Steuerverwaltung nach Berlin könnten die Länder über den Bundesrat keine Gesetzesinitiative des Bundes mehr beeinflussen. „Das ist
aus Gesichtspunkten des Föderalismus keine gute
Position“, stellte Kretschmann klar und ergänzte
barsch: „Es gibt keinen Anlass, diese Diskussion
jetzt weiterzuführen.“
({4})
Das ist doch eine klare Abfuhr. Was zeigt uns das?
Das zeigt, dass sich die Grünen auf Bundesebene nicht
mit ihrem eigenen Ministerpräsidenten abstimmen. Aber
das kennen wir ja schon. Wir sehen daran aber auch,
dass es bei den Ländern oft eine ganz andere Interessenlage als beim Bund gibt. Gerade die großen Bundesländer achten hier sehr genau auf ihre Eigenständigkeit.
Ich komme noch einmal auf mein Bild vom Anfang
meiner Rede zurück. Wenn unsere Steuerverwaltung der
Maschinenraum ist, dann wollen Sie mit Ihrem Antrag
den ganzen Schiffsmotor auswechseln. Das ist nicht realistisch. Das heißt aber nicht, dass der Motor nicht in die
Inspektion muss. Wir haben einigen Wartungsbedarf.
Nationale und internationale Entwicklungen stellen unser Steuersystem vor neue Herausforderungen, neue
Pflichten und Aufgaben. Danach handeln wir.
Im Koalitionsvertrag haben wir die Stärkung des Bundeszentralamtes für Steuern vereinbart. Wir werden die
Steuerfahndungen der Länder stärker unterstützen. Die
Bekämpfung von Steuerhinterziehung muss oberste
Priorität haben. Dafür brauchen wir auch eine stärkere
Einbindung des Bundes.
Das gilt besonders für den Bereich Umsatzsteuerbetrug. Auch wenn prominente Hinterziehungsfälle bei der
Einkommensteuer medial immer besonders viel Aufmerksamkeit erregen: Das meiste Geld wird bei der
Mehrwertsteuer hinterzogen. Hier entstehen der öffentlichen Hand die meisten Verluste. Hier reden wir auch
über organisierte Kriminalität. Diese Form der Steuerhinterziehung ist natürlich länderübergreifend, ja, sie
agiert europaweit, sie agiert weltweit. Deshalb macht
eine Kontrolle und Bekämpfung auf Bundesebene Sinn.
Es macht ebenso Sinn, dass Betriebsprüfungen - insbesondere bei Großunternehmen - auf Bundesebene
stattfinden, sei es in alleiniger Zuständigkeit oder in Zusammenarbeit mit den Ländern. Um die Fälle für die
Bundesbetriebsprüfung auswählen zu können, braucht
das Bundeszentralamt aber auch die notwendigen Daten.
Damit sind wir bei dem Punkt IT. Der zunehmende
Einsatz elektronischer Programme in der Steuerverwaltung ist sinnvoll und notwendig, und das ist Fakt. In einer digitalen und globalisierten Welt muss die Steuerverwaltung digital arbeiten. In diesem Bereich wird eine
ganze Reihe von Projekten gerade umgesetzt, läuft bereits oder ist in Planung. Ich selbst habe im Finanzamt
mit diesen Programmen gearbeitet und kenne den Nutzen und die Probleme. Ich weiß auch um manches
Schönreden von Zahlen, Evaluierungen und wissenschaftlichen Studien. Nur, dadurch erledigt sich keine
einzige Steuererklärung oder Steuerprüfung. Fakt ist:
Wir brauchen eine funktionierende EDV, und wir brauchen den Dialog mit den Praktikern.
Nehmen wir ein ganz besonders anschauliches Beispiel, das sind die ESt-4B-Mitteilungen. Das sind Mitteilungen über Einkünfte, an denen mehrere Personen
beteiligt sind, beispielsweise über Beteiligungen an
GmbHs, Fonds oder Ähnlichem. Diese Mitteilungen
werden in Papierform an das Finanzamt geschickt, das
für den Bezieher der Einkünfte zuständig ist. Diese Mitteilungen und auch jede Korrekturmitteilung werden
zum Teil durch ganz Deutschland geschickt - per Post
oder Kurier - und dann im Finanzamt händisch erfasst
und verarbeitet. Dieses Verfahren ist unglaublich personalintensiv und fehleranfällig. Daher braucht es hier eine
elektronische Lösung, und zwar dringend. Das ist nur ein
Beispiel. Wir müssen im Zuge der Bund-Länder-Verhandlungen in das Thema Modernisierung der IT frischen und starken Wind bringen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir Abgeordnete
haben aber auch noch eine ganz andere Verantwortung:
Steuervollzug und Steuergesetzgebung gehen Hand in
Hand. Gesetze müssen auch praxistauglich sein. Darauf
müssen wir als Abgeordnete achten. Die Verhandlungen
zwischen Bund und Ländern bieten die Chance, wichtige
Teile unseres Motors „Steuervollzug“ zu erneuern, zu reparieren und zu justieren. Das werden wir in den kommenden Monaten auch intensiv tun - mit Sorgfalt, mit
Weitblick und ohne Polemik.
Herzlichen Dank.
({5})
Als nächstem Redner erteile ich dem Abgeordneten
Richard Pitterle, Fraktion Die Linke, das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Sehr geehrte Frau Kollegin Horb, um bei
Ihrem Beispiel zu bleiben: Wir sitzen hier in der Tat auf
dem Deck. Der Maschinenraum ist aber leider auf
16 Boote verteilt, auf die wir von unserem Deck aus keinen Einfluss haben. Ich glaube, das ist das Problem.
({0})
Im Juli 2010 hat die OECD, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, den Zustand der Steuerprüfung in Deutschland scharf kritisiert
und gefordert, „die Steuerprüfung zu verschärfen und
vor allem die Banken härter zu kontrollieren“. So ließen
sich Einnahmen um „viele, viele Milliarden Euro“ im
Jahr erhöhen. Jeffrey Owens, der Leiter der Steuerabteilung der OECD, sagte zutreffend - ich zitiere -: „Investitionen in die Steuerverwaltung sind Investitionen mit
hohen Renditen.“
Aber was ist zwischen Juli 2010 und Oktober 2014
passiert, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition? Es ist in diesem Bereich rein gar nichts passiert, um die Situation zu ändern. Das ist leider die bittere Wahrheit.
({1})
Die Steuergesetze gelten zwar für alle, aber das heißt
noch lange nicht, dass auch alle in Deutschland gleichermaßen die anfallenden Steuern zahlen. Es kommt darauf
an, in welchem Bundesland man wohnt; denn es gibt
große Unterschiede beim Steuervollzug. Wenn die Bundesländer zum einen die Kosten für die Besteuerung zu
tragen haben, aber von den zusätzlich eingetriebenen
Steuereinnahmen aus Betriebsprüfung und Steuerfahndung kaum etwas behalten dürfen - es war von 10 Prozent die Rede -, ist es nicht verwunderlich, dass sich einige Länder „kostenbewusst“ verhalten und ihr Interesse
an intensiven Prüfungen von Steuererklärungen, an Betriebsprüfungen und an Steuerfahndungen eher gering
ist.
Zum anderen hat der Abbau vieler Stellen in der Finanzverwaltung dazu geführt, dass Steuererklärungen,
insbesondere von reichen Selbstständigen und Unternehmen, wenn überhaupt, nur unzureichend geprüft werden
können. Dabei muss sich die Finanzverwaltung meist
auf die Angaben der Steuerpflichtigen verlassen, ohne
sie weiter zu überprüfen.
Bundesweit fehlen nach Angaben der Steuergewerkschaft 15 000 Beschäftigte in der Steuerverwaltung. Seit
langem fordert die Linke eine Aufstockung der Zahl der
Sachbearbeiter, Betriebsprüfer und Steuerfahnder, um zu
einer gerechteren Steuererhebung zu kommen, sodass
alle Steuerzahlerinnen und Steuerzahler entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit besteuert werden.
({2})
Steuervollzug ist zwar Ländersache, aber wer führt
die Regierungen in den Bundesländern - mit Ausnahme
Baden-Württembergs - an? Entweder die CDU, die CSU
oder die SPD. Die Regierungsparteien CDU, CSU und
SPD hätten es somit in der Hand, dort für eine bessere
Umsetzung und Durchsetzung der vom Bund und damit
von uns erlassenen Steuergesetze zu sorgen. Sie tun es
nicht, und das ist schlecht für das gesamte Land.
Eine weitere Ursache für die Steuerungerechtigkeit
innerhalb Deutschlands liegt in der ineffizienten Steuerverwaltung. Sie ist auf die 16 Länder bzw., wie gesagt,
auf 16 Boote verteilt. Das heißt, es gibt unterschiedliche
Datenverarbeitungssysteme, unterschiedliche Personalausstattung und unterschiedliche Interessen. Außerdem
wird von einzelnen Bundesländern - Stichwort Bayern laxer Steuervollzug gezielt als Wettbewerbsvorteil zur
Ansiedlung von Unternehmen eingesetzt.
({3})
Das ist doch nicht zu fassen.
({4})
Ein erster Schritt zu mehr Steuergerechtigkeit innerhalb Deutschlands wäre eine stärkere Zuständigkeit des
Bundes beim Steuervollzug hin zu einer Bundessteuerverwaltung. Das fordern Die Linke und die Grünen seit
mehr als zehn Jahren.
Meine Damen und Herren, der beste Weg zur Steuergerechtigkeit in Deutschland sind eine einheitliche
Durchsetzung der Steuergesetze bundesweit - insbesondere der Steuererhebung -, ein einheitlich funktionierendes Datenverarbeitungssystem in den Finanzverwaltungen, eine ausreichende personelle Ausstattung in den
Finanzämtern, einschließlich Betriebsprüfungen, sowie
Steuerfahndungen.
Wir brauchen eine bundesweit einheitlich handelnde,
leistungsfähige Finanzverwaltung, erheblich erweiterte
Zuständigkeiten des Bundes sowie die von unserer Fraktion vorgeschlagene Bundesfinanzpolizei. Denn nur so
können Steuerumgehung besser bekämpft und Steuerhinterziehung und Steuerbetrug besser verfolgt werden.
Die Linke wird diesem guten Antrag der Grünen zustimmen. Tun Sie es auch, meine Damen und Herren der
Regierungskoalition!
({5})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Andreas Schwarz, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Jedes Jahr gehen
unserem Land Milliarden an Steuereinnahmen verloren,
weil es Menschen, aber manchmal auch Unternehmen
gibt, die Steuern hinterziehen oder Steuerumgehungsstrategien nutzen und damit die Allgemeinheit schädigen. Alles, was dazu beiträgt, dass dem Staat die Finanzmittel zufließen, die ihm auch zustehen und die er
dringend braucht, findet selbstverständlich die volle Unterstützung der SPD-Bundestagsfraktion.
({0})
Der vorliegende Antrag der Grünen ist somit ein interessanter Vorschlag, über den wir natürlich gerne diskutieren. In unserem Leitmotiv für die Verhandlungen über
die Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen
setzen wir uns als SPD-Fraktion für eine stärkere Koordinierung und Vereinheitlichung der Steuerverwaltung
ein, um, wie wir formuliert haben, „einen Standortwettbewerb zu vermeiden und einen gerechten Steuervollzug
zu erreichen“.
({1})
Lassen Sie uns konstruktiv darüber streiten, wie die
Steuerverwaltung effizienter gestaltet werden kann. Die
SPD-Fraktion ist auf jeden Fall dabei. Aber das Ergebnis
steht am Ende eines solchen Diskussionsprozesses fest
und nicht am Anfang. Deshalb bin ich der Überzeugung,
dass es überhaupt keinen Sinn macht, den derzeitigen
Verhandlungen über die Neuordnung der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern vorzugreifen, indem wir jetzt etwas beschließen, obwohl überhaupt noch
nicht feststehen kann, wie das Ergebnis der Verhandlungen zwischen Bund und Ländern am Ende tatsächlich
aussieht.
({2})
Ich unterstreiche aber, dass wir es begrüßen würden,
wenn in den Bund-Länder-Verhandlungen mehr EffiAndreas Schwarz
zienz in der Steuerverwaltung erreicht werden könnte.
Aber, meine lieben Kolleginnen und Kollegen der Grünen, machen wir uns doch nichts vor: Die Signale der
Länder sind momentan nicht sehr ermutigend. Oder haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, die Antwort auf die Zitate der Kollegin Horb, aus
denen hervorgeht, wie Ihr Ministerpräsident in BadenWürttemberg über eine einheitliche Bundessteuerverwaltung denkt? Sie könnten abschließend noch Ihre politischen Freudinnen und Freunde aus dem schwarz-grün
regierten Hessen ansprechen und fragen, wie sie den
Sachverhalt einschätzen und - in unserem Sinne - um
Unterstützung bitten.
({3})
Ich bin mir aber nicht sicher, ob Ihnen Ihre eigenen Parteifreundinnen und -freunde diesen Gefallen tun würden.
Ich weiß aber, dass der Finanzminister Nobert WalterBorjans in Nordrhein-Westfalen bereits fleißig neue Betriebsprüferinnen und -prüfer einstellt. Das ist der richtige Weg.
({4})
Die Steuerverwaltungen müssen endlich personell in
die Lage versetzt werden, ihren Aufgaben gerecht zu werden. Vielerorts ist das leider nicht so. Herr Eigenthaler
von der Deutschen Steuer-Gewerkschaft hat vor zwei
Jahren gesagt - ich zitiere -:
Wenn der Steuerzahler weiß, dass das Finanzamt
nicht so gut besetzt ist, dann wird er lockerer. Und
viele Fälle können gar nicht bearbeitet werden. Unterm Strich sind die Südländer Bayern und BadenWürttemberg hinsichtlich der Personalstärke am
unteren Ende der Skala.
Seit in Baden-Württemberg Nils Schmid Finanzminister ist, wird hier konsequent gegengesteuert. Über
mein Heimatland Bayern kann ich das leider noch nicht
sagen. Auf eine Anfrage der bayerischen SPD-Landtagsfraktion Ende Februar 2014 teilte das bayerische Finanzministerium mit, dass es nach der Personalverteilungsberechnung zum 31. Dezember 2013 16 600 Stellen in den
Finanzämtern des Freistaats gab. Die Iststärke hingegen
wurde mit 14 791,25 Vollzeitkräften angegeben. Wie soll
eine Verwaltung effizient arbeiten, wenn von 16 600 Stellen fast 2 000 unbesetzt sind? Bei fast 2 000 unbesetzten
Stellen verschenkt der Freistaat Bayern viel Geld, das
nachher für die Erfüllung staatlicher Aufgaben fehlt.
Bayern ist dringend aufgerufen, seine Finanzverwaltung
effizienter zu machen.
({5})
Herr Kollege, es gibt den Wunsch der Kollegin Paus
nach einer Zwischenfrage. Wollen Sie diese zulassen?
Lassen wir sie zu.
Bitte schön.
Herzlichen Dank. - Herr Schwarz, Sie haben richtig
beschrieben, wie die Gemengelage in den Bundesländern ist. Das bestreite ich auch gar nicht. Trotzdem habe
ich wahrgenommen, dass wir beide der Auffassung sind,
dass wir Grüne dennoch recht haben.
Von daher möchte ich sagen: Die Bundesländer haben
sich grundsätzlich zu der Frage „Bundessteuerverwaltung, ja oder nein?“ positioniert. Mit unserem Antrag
versuchen wir, uns genau dieser Frage zu stellen. Wir sagen: Zwischen Schwarz und Weiß gibt es vielleicht noch
Schritte dorthin. Vielleicht macht es Sinn, noch einmal
zu verhandeln, ob man nicht doch noch weitere Schritte
gehen kann. Das ist unser Angebot heute.
Verstehe ich Sie richtig, dass Sie bereit sind, mit Ihren
Leuten zu sprechen, so wie wir bereit sind, noch einmal
mit unseren Leuten zu sprechen, um die Schritte hin zu
einer Bundessteuerverwaltung und zu einem effizienteren Steuervollzug in Deutschland zu gehen?
Liebe Frau Kollegin Paus, die Verhandlungen laufen;
das habe ich gerade erwähnt. Alles ist im Fluss, wir sind
im Gespräch. Natürlich werden auch wir mit unseren
Vertretern in den Ländern reden, genauso wie sicherlich
auch Sie mit Ihren Vertretern in den Ländern reden werden. Aber machen wir uns nichts vor: Das wird ein
schwieriger, steiniger Weg. Wir haben den Föderalismus, und das ist auch gut so.
({0})
Hier geht es um die Verlagerung von Kompetenzen.
Dieser Weg - da möchte ich an die Worte eines Sängers
erinnern - wird kein leichter sein; er wird sicherlich auch
steinig sein. Man sollte aber auch hier eine Politik der
kleinen Schritte angehen und versuchen, gemeinsam
eine Lösung zu erarbeiten.
({1})
Die Verhinderung von Steuerhinterziehung ist aber
nicht nur eine Frage der effizienten Ausrichtung der
Steuerverwaltung. Steuerbetrug bzw. -vermeidung kann
nur wirksam bekämpft werden, wenn alle staatlichen
Ebenen ihren Teil dazu beitragen. Da geht es im Moment
in Europa Schlag auf Schlag.
Bereits im Oktober wird sich in Berlin ein globales
Steuerforum treffen, auf dem viele weitere Staaten den
weltweiten Standard für den automatischen Informationsaustausch gegenzeichnen werden. Am Dienstag
wurde verkündet, dass auf europäischer Ebene ab dem
Jahr 2017 in fast allen europäischen Staaten der automatische Austausch von Bankdaten gelten wird. Dies sind
großartige Erfolge, zu denen wir der Bundesregierung
und dem Bundesfinanzminister natürlich ganz herzlich
gratulieren.
({2})
Wir werden noch im November im Deutschen Bundestag eine deutliche Verschärfung der strafbefreienden
Selbstanzeige beschließen. Hier hat die Bundesregierung
in Zusammenarbeit mit den Ländern einen hervorragenden Gesetzentwurf vorgelegt. Es ist gerecht, Steuerhinterziehung streng zu bestrafen, und so wird es für
Steuerhinterzieherinnen und -hinterzieher gerechterweise immer teurer und schwieriger, einer Strafe zu entgehen.
Wir sind sehr zufrieden, dass auf allen Ebenen deutliche Fortschritte bei der Bekämpfung des Steuerbetrugs
erreicht werden konnten. Aber das reicht uns noch nicht.
Deshalb werden wir diesen Weg konsequent weitergehen. Wir laden alle herzlich ein, uns auf diesem Weg zu
begleiten.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Uwe Feiler, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! „Für eine Bundessteuerverwaltung - Gleiche
Grundsätze von Flensburg bis zum Bodensee“ - eine
plakative Überschrift für einen Antrag. Ich hoffe, dass
diese Grundsätze auch nördlich von Flensburg, zum Beispiel auf der Insel Sylt, und im Landkreis Oberallgäu,
der südlich des Bodensees liegt, Anwendung finden sollen.
Plakative Überschriften und Anträge sind meist für
die Galerie gefertigt, ähnlich einem Torwart beim Fußball, der, obwohl der Ball direkt auf ihn zufliegt und er
ihn leicht fangen könnte, einen Schritt zur Seite geht und
zu einer Flugparade ansetzt, um damit zu glänzen. Das
Problem bei diesen Flugeinlagen ist, dass man sich den
Ball manchmal selbst ins Tor wirft.
Vielleicht lohnt es sich zu Beginn der Debatte, die wir
gemeinsam im Finanzausschuss sicherlich noch vertiefen werden, uns noch einmal vor Augen zu führen, dass
es durchaus gute Gründe gab, die Steuerverwaltung zwischen Bund und Ländern aufzuteilen.
({0})
Auch dadurch sollte sichergestellt werden, dass der Zugriff auf die Steuereinnahmen in der gemeinsamen Verantwortung von Bund und Ländern liegt, und verhindert
werden, dass eine staatliche Ebene zum Bittsteller degradiert wird.
({1})
Der Sozialdemokrat Walter Menzel, der eine Bundessteuerverwaltung befürwortete, verwies in den Beratungen
des Parlamentarischen Rats darauf, dass in der Weimarer
Republik der Bund des Öfteren von der Reichsfinanzverwaltung dahin gehend Gebrauch machte, dass er missliebigen Ländern den Geldhahn zudrehte. Auch wenn heutzutage diese Befürchtungen oder Wünsche, je nach
Sichtweise, überholt erscheinen, machen sie im Kern
aber noch einmal deutlich, dass die Länder eben nicht
nur bessere Regierungsbezirke des Bundes, sondern
Partner auf Augenhöhe sind.
Auch ich stehe einer Bundessteuerverwaltung positiv
gegenüber. Wir alle kennen aber auch das Ergebnis der
Föderalismuskommission II. Auf eine Bundessteuerverwaltung konnte man sich damals leider nicht einigen. Ich
begrüße es ausdrücklich, dass der Bundesfinanzminister
hier erneut die Initiative ergriffen hat, dieses Thema
auch für die neuen Gespräche auf die Agenda zu setzen.
({2})
Bislang habe ich noch keinen Vorstoß des Landes Baden-Württemberg vernommen - in dem Sie ja immerhin
den Ministerpräsidenten stellen -, das Grundgesetz und
das Finanzverwaltungsgesetz zu ändern, um die Landesfinanzverwaltung in eine Bundessteuerverwaltung zu
überführen. Ganz im Gegenteil: Auch Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen, wo die Grünen immerhin
mitregieren, lehnen eine Bundessteuerverwaltung entschieden ab und haben das auf der jüngsten Tagung der
Finanzminister noch einmal deutlich gemacht. Der gerade erwähnte Ball, liebe Kolleginnen und Kollegen der
Grünen, befindet sich somit in Ihrem Tor.
({3})
Die Vorbehalte gegen eine Zentralisierung werden Sie
auch nicht mit Geld und warmen Worten zerstreuen.
Beim Lesen des Antrages kann man den Eindruck gewinnen dass es nur darum ginge, den Ländern genügend
Geld für die Übernahme der Pensionslasten anzubieten;
dann würden diese auch zustimmen. So einfach ist es leider nicht.
Wir müssen in der Diskussion aber auch die Themen
sauber trennen. Im Antrag sprechen Sie zum einen die
Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen, das
BEPS-Projekt der OECD-Staaten, Steuervermeidungsmodelle von großen Kapitalgesellschaften und auch Fragen der Effektivität der Steuerverwaltung an. Damit verheben Sie sich.
Herr Feiler, mögen Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schick zulassen?
Ja, natürlich.
Bitte schön.
Herr Kollege, ich möchte nur die Frage stellen, warum Sie eigentlich den Bundesfinanzminister, der Ihrer
Partei angehört, im Regen stehen lassen, obwohl er den
Vorschlag gemacht hat, eine Bundessteuerverwaltung zu
errichten. Es wäre doch sinnvoll, dass der Bundestag ihn
an dieser Stelle unterstützt; schließlich sind wir uns in
der Sache an vielen Stellen einig. Warum unterstützen
Sie ihn nicht?
({0})
Sehr geehrter Herr Kollege, der Bundesfinanzminister, aber auch die Große Koalition sind in Verhandlungen
und debattieren darüber. Die Errichtung einer Bundessteuerverwaltung ist für mich persönlich nur gemeinsam
mit den Ländern durchzusetzen. Dies werden wir - das
haben wir jetzt erfahren müssen - nicht schaffen.
({0})
Deswegen ist der einzige und richtige Weg, das Bundeszentralamt für Steuern entsprechend zu stärken.
({1})
Ich fahre fort. Auch meine Fraktion beschäftigt sich
intensiv mit der Frage, wie die Aufgaben- und Finanzverantwortung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden
mit dem Auslaufen des Solidarpaktes II neu geordnet
werden kann. Das Gleiche gilt im Übrigen für die zuvor
genannten Projekte. Ich bezweifle aber sehr, dass Sie mit
dem Instrument der Bundessteuerverwaltung all diese
Aufgaben lösen, wie Sie es in Ihrem Antrag andeuten.
Jedes einzelne Projekt ist ein Kraftakt, sowohl in der
politischen Diskussion als auch in der Umsetzung.
Die deutsche Finanzverwaltung gehört trotz ihres föderalen Aufbaus zu den effizientesten der Welt.
({2})
Ansonsten wäre Deutschland ja auch kaum angefragt
worden, südeuropäischen Ländern beim Aufbau einer gut
funktionierenden Steuerverwaltung zu helfen. Gleichwohl
weiß ich, dass nichts so gut ist, als dass es nicht noch
weitere Verbesserungspotenziale gibt. Um diese Potenziale zu heben, wurden bereits Maßnahmen ergriffen, an
die ich an dieser Stelle noch einmal erinnern möchte. Als
Beispiel sei die Bekämpfung des Umsatzsteuerbetruges
genannt: Das Bundeszentralamt für Steuern wurde gestärkt und dort eine bundesweite Datenbank eingerichtet,
in der alle Fälle im Bereich des Umsatzsteuerbetrugs
bundesweit erfasst werden und auf die alle mit der Prüfung betrauten Beamten in den Ländern online zugreifen
können.
Zusätzlich wurde mit der „Zentralen Stelle zur Koordinierung von Prüfungsmaßnahmen in länder- und staatenübergreifenden Umsatzsteuer-Betrugsfällen“, die auf
den sinnlichen Namen KUSS hört, ein Informationsaustausch zwischen den Finanzverwaltungen im In- und
Ausland eingerichtet.
Ferner unterstützt das Bundeszentralamt für Steuern
die Länder bei der Besteuerung von Umsätzen im elektronischen Handel, indem im Internet nach Unternehmen
und Personen gesucht wird, die Waren oder Dienstleistungen anbieten. So werden das Umsatzsteueraufkommen, aber auch die Wettbewerbsgerechtigkeit gesichert.
All das sind Ansätze, die auch als Vorbild für andere Bereiche dienen können, um die Kooperation von Bund
und Ländern zu verbessern.
Das Bundeszentralamt für Steuern könnte beispielsweise die Länder auch bei der Entwicklung und dem
Betrieb einer einheitlichen Software für die Finanzverwaltungen des Bundes und der Länder unterstützen.
Entwicklungskosten würden hierdurch sinken, die Fallbearbeitung würde vereinfacht, aber auch eine bundeseinheitliche Auswertung würde ermöglicht. In diesem
Zusammenhang darf ich darauf hinweisen, dass so
darüber hinaus sichergestellt werden könnte, dass der
Informationsaustausch sowohl zwischen den Länderbehörden als auch zwischen Bund und Ländern entscheidend verbessert wird.
Weiter müssen wir uns darüber verständigen, welche
Anreize Ländern gegeben werden können, im eigenen
Interesse ihre Steuerverwaltung zu optimieren.
Ich bitte Sie daher, liebe Kolleginnen und Kollegen
von den Grünen, in den Ländern, in denen Sie Verantwortung tragen, für eine Kompetenzerweiterung des
Bundeszentralamts für Steuern zu werben. In Bayern haben wir ein Alleinstellungsmerkmal. Wir werden innerhalb unserer Fraktion mit den Kolleginnen und Kollegen
der CSU intensiv über das Thema diskutieren.
Zum Schluss meiner Rede noch ein Satz: Bund und
Länder haben im Bereich von Haushalt und Finanzen
eine gemeinsame gesamtstaatliche Verantwortung, der
sie gerecht zu werden haben.
In diesem Sinne bedanke ich mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Als letztem Redner in dieser Aussprache erteile ich
das Wort dem Abgeordneten Lothar Binding, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr verehrte Damen und Herren! Es ist schon verwunderlich, dass wir uns mit einem Antrag so schwertun,
dessen Inhalt irgendwie alle ein bisschen teilen. Lisa
Lothar Binding ({0})
Paus hat gesagt: Es liegt am System. - Das stimmt auch
irgendwie. Aber wer ist eigentlich das System?
({1})
Das System sind irgendwie auch wir.
({2})
Das System sind Menschen. Das System ist vielleicht
auch Ministerpräsident Kretschmann;
({3})
den fragen wir vorsichtshalber gar nicht. Das System
sind auch die grün-rote Regierung in Baden-Württemberg, die schwarz-grüne Regierung in Hessen, ein Finanzminister Söder. Wenn wir uns die alle jetzt einmal
vorstellen, dann merken wir schon, dass es in dieser
komplexen föderalen Lage mit so vielen unterschiedlichen Interessen verständlich ist, wie alle reagieren.
Wir fragen uns einfach, ob es klug ist, jetzt mit einem
solchen Antrag die Verhandlungsoptionen, die wir den
anderen einräumen wollen und müssen, um zu einem guten Ergebnis zu kommen, im Grunde zu beschränken.
Wir wollen die Verhandlungsoptionen offenlassen.
({4})
- Ja, es gibt verschiedene Verhandlungsstile. Nachdem
man 20 Jahre so irgendwie verhandelt hat, könnte man
darüber nachdenken, ob man den alten Stil beibehält
oder einen neuen findet. - Wir wollen an dieser Stelle
nichts verschütten, um die Optionen offenzuhalten.
Jetzt bitte ich Sie alle einmal, in die Rolle eines Landespolitikers zu schlüpfen - ein Soziodrama sozusagen und sich eine Formulierung anzuhören, die im Antrag
enthalten ist: „Übertragung der Kompetenz der Steuerverwaltung auf den Bund“. Welche Reflexe haben wir
im Kopf? Das ist klar: Abwehrreflexe.
({5})
Das verschüttet Verhandlungsoptionen. Insofern ist der
Antrag sogar kontraproduktiv, auch wenn wir im Grunde
gar nicht so weit auseinanderliegen. Wir wissen doch: In
Reinkultur werden wir unsere Ziele nicht erreichen.
Deshalb müssen wir immer die Interessen der anderen
mitdenken.
Margaret Horb und Andreas Schwarz haben es schon
gesagt - Richard Pitterle hat es auch zitiert -: Wir sitzen
in einem Boot. - Das stimmt. Die Abgabenordnung, andere Gesetze, das ist das große Boot. Da sitzen wir drin.
Dieses Bild nehme ich auf: Wir haben aber 16 verschiedene Maschinenräume mit unterschiedlichen Drehzahlmomenten in den Motoren. Die werden anders geschmiert,
({6})
die werden anders gesteuert. Sie wissen, es ist ein großes
Problem, die zu koordinieren. Gehen Sie mal runter in
den Maschinenraum, und sagen Sie den Leuten, dass sie
alle das Gleiche machen sollen! Das wird richtig schwierig!
({7})
Insofern wäre der Antrag gut - er ist auch gut gemeint -,
aber er ist für eine Welt, die wir nicht haben, und das
macht es natürlich schwierig. Ich fände es wichtig, zuvor
einmal festzustellen, dass wir in ganz vielen Einrichtungen, auf ganz vielen Ebenen exzellente Kompetenz
haben.
({8})
Wir haben gute Fachleute im BMF, in den Länderfinanzministerien sowie im Bundeszentralamt für Steuern. Es
wäre wichtig, das zu bündeln. Denn das - so muss man
sagen - gelingt im Moment nicht hinreichend. Deshalb
ist der Vollzug unterschiedlich, und deshalb wird auch
die Steuererhebung nicht von allen als gerecht empfunden. Die Wirkung der vorhandenen Kompetenz geht ein
Stück weit durch innere Reibungskräfte verloren.
Wir wissen - das ist kein Geheimnis -, dass die
Betriebsprüfungen unterschiedlich gehandhabt werden.
Wenn man sich die personelle Ausstattung anschaut
- ich will das nicht ausführen; Andreas Schwarz hat das
hinreichend gemacht -, erkennt man, dass die Gleichheit
der Besteuerung wohl nicht in allen Fällen sichergestellt
werden kann. Dabei geht es - einige Kollegen sind
schon darauf eingegangen - ganz offensichtlich beispielsweise um die EDV. Der Wildwuchs in der EDV ist
ein dickes Problem.
Man könnte übrigens denken, dass das im privaten
Bereich besser läuft. Wer sich einmal in einem Großbetrieb umguckt, wird bemerken, dass sich jede Abteilung
am allerliebsten auf ihre eigene EDV beruft und um
Gottes willen nicht das machen will, was alle anderen
machen. Das ist eine durchaus sehr weit verbreitete
Krankheit. Dadurch wird aber eine Rationalisierung verhindert.
Wir wissen, dass die EDV die Zukunft in der Steuererhebung ist. Speziell bei der Einkommensteuer werden
im Augenblick ein einheitlicher Vollzug bzw. automatisierte Verfahren behindert. Das hängt sehr stark mit 16
nicht gleichen Systemen zusammen.
Deshalb ist das Anliegen des Antrags auch richtig,
eine stärkere Rolle des Bundes zu erreichen, um eine
bessere Abstimmung hinzubekommen. Dem würden die
Länder noch nicht widersprechen; aber die Abgabe von
Kompetenz ist ihnen unangenehm.
In diesem Zusammenhang wird dann auch immer gesagt: Dann müsst ihr auch die Kosten übernehmen. - Die
allerdings sind im Antrag noch nicht so ganz sauber herausgearbeitet worden. Über die Pensionslasten und all
das, was an personellen bzw. finanziellen Aufgaben zu
übernehmen wäre, wenn das Ganze sofort beim Bund
gebündelt werden würde, wurde noch nicht hinreichend
nachgedacht. Man muss sich das einmal abgezinst zum
Zeitpunkt null der Einrichtung dieser Verwaltung vorLothar Binding ({9})
stellen. Ich schaue auf die Regierungsbank, um herauszufinden, wie hoch dieser Betrag ist. - Ich sehe, der
Kollege Kampeter denkt an einen zweistelligen Milliardenbetrag. Das wäre natürlich relativ viel. Darüber
müssten wir dann getrennt reden.
Insofern glauben wir, dass es klug ist, über eine Bündelung der Kompetenzen und auch über eine Zuordnung
von Kompetenzen im Bund nachzudenken und klug mit
den Ländern zu verhandeln. Deshalb sollten wir im Moment auf diesen Antrag verzichten und einmal schauen,
wie die Länder auf unsere Toleranz bzw. unser Angebot
eingehen.
Schönen Dank.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/2877 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Wirtschaftsplans
des ERP-Sondervermögens für das Jahr 2015
({0})
Drucksache 18/2662
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Energie ({1})
Drucksache 18/2903
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Als erster Rednerin in dieser Aussprache erteile ich
das Wort der Abgeordneten Gabriele Katzmarek, SPDFraktion.
({2})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute in zweiter und dritter Lesung kein inhaltlich
neues Gesetz. Das ERP gibt es seit 60 Jahren. Es hat sich
als Programm zur Entwicklung und Unterstützung der
deutschen Wirtschaft bewährt. Selbstverständlich hat
sich in den letzten Jahren beim ERP einiges verändert,
an Bedeutung aber hat es nicht verloren.
Die Veränderungen der Ausrichtung liegen auf der
Hand. Wurden früher kleine Autowerkstätten von nebenan gefördert, geht es heute um Unterstützung zum
Beispiel bei der Gründung eines Biotechunternehmens.
Waren es früher einzelne Industriezweige, die man stärken wollte, geht es heute um den technologischen
Megatrend Industrie 4.0, auf den wir uns konzentrieren
wollen. Dies ist ein Thema, dessen sich das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie angenommen
hat und das auch wir als SPD-Fraktion aufgegriffen haben und über das wir diskutieren. Rechtzeitig Weichen
stellen, begleiten und unterstützen: Das ist wichtig und
richtig. Das ist Wirtschaftspolitik.
({0})
Die aktuellen Korrekturen an den Konjunkturprognosen zeigen: Wir müssen weiterhin alle Möglichkeiten
nutzen, um unsere Wirtschaft zu unterstützen. Im Zentrum stehen dabei kleine und mittelständische Unternehmen. Diesen Unternehmen in ihrer Wachstumsphase und
in ihrer Expansionsphase Geld in Form von Krediten zur
Verfügung zu stellen, ist eine zentrale Herausforderung.
Mit den Sicherheiten, die wir über das ERP bereitstellen,
leisten wir einen Beitrag zur Finanzierungsgrundlage.
Einen weiteren Schwerpunkt legt das Programm auf
den Bereich des Gründens. Start-ups bei ihren ersten
Schritten über günstige Kredite unter die Arme zu greifen, ist ein wichtiger Beitrag, manchmal sogar überlebensnotwendig. Zahlreiche Start-ups aus der IT-Branche,
insbesondere im Bereich der IT-Dienstleistungen, oder
aus der Biotechnologiebranche brauchen verlässliche
finanzielle Rahmenbedingungen.
({1})
Forschende und innovative junge Unternehmen sorgen mit dafür, dass die Wertschöpfung einen lokalen
Niederschlag erfährt, dass mehr Innovationen ihren Weg
zum Markt finden. Als Innovationsschmiede sind kleine
und mittlere Unternehmen wesentlicher Bestandteil der
Wertschöpfungskette. Eine nachhaltige Unterstützung
dieser Betriebe trägt dazu bei, dass Deutschland wettbewerbsfähig bleibt und international konkurrenzfähig ist.
Sehr geehrte Damen und Herren, wir begrüßen deshalb den Gesetzentwurf zur Feststellung des Wirtschaftsplans des ERP-Sondervermögens für 2015. Er
setzt richtige Akzente und wird dazu beitragen, dass
Deutschland auch in den kommenden Jahren gut aufgestellt ist. Das hilft der deutschen Wirtschaft, das trägt zur
Sicherung und zur Schaffung neuer Arbeitsplätze bei.
Was, meine Damen und Herren, aber nicht hilft, ist Pessimismus, vor allem, wenn er politisch instrumentalisiert
und für ideologische Auseinandersetzungen genutzt
wird.
({2})
Mit Verwunderung haben viele meiner Kolleginnen
und Kollegen und ich Aussagen zur Kenntnis genommen, dass der Mindestlohn, die Frauenquote und die
Rente mit 63 unsere heimische Wirtschaft gefährden
oder gar direkt für die um 0,6 Prozent reduzierte Wirtschaftsprognose verantwortlich seien. Einmal abgesehen
von dem logischen Bruch, dass der Mindestlohn erst in
einigen Monaten wirkt, steht fest: Soziale Gerechtigkeit
und wirtschaftlicher Erfolg sind kein Widerspruch. Im
Gegenteil: Soziale Gerechtigkeit und sozialer Frieden
sind Standortvorteile in der Bundesrepublik Deutschland.
({3})
Mein persönliches Highlight - daran möchte ich Sie
teilhaben lassen - bei den in den letzten Tagen gemachten Aussagen ist die Annahme, dass die Frauenquote irgendwie monetär, verwaltungstechnisch oder strukturell
einen negativen Effekt auf die Entwicklung der deutschen Wirtschaft hat. Mit einer ernsthaften Diskussion
hat das natürlich gar nichts zu tun.
({4})
- Ja. - Wer solche Aussagen trifft, der lebt, sage ich mal,
in einer Welt, die wir schon lange überwunden haben.
Dieses Weltbild passt nicht in das heutige Jahrhundert.
Frauen sind kein Wirtschaftshemmnis, meine Damen
und Herren. Frauen sind ein Erfolgsfaktor in modernen
Unternehmen.
({5})
Sehr geehrte Damen und Herren, die Veränderungen
der außenwirtschaftlichen Rahmenbedingungen und die
dadurch eingetrübten Konjunkturaussichten taugen nicht
für ideologische Auseinandersetzungen und auch nicht
dafür, unsere werteorientierte Außenpolitik infrage zu
stellen. Ich kann nur davor warnen, negative Stimmung
zu verbreiten und hier in diesem Parlament beschlossene
Gesetze, noch bevor sie in Kraft treten, wieder infrage zu
stellen; denn das ist schädlich für die Wirtschaft. Das
sollten wir nicht machen.
Unser Ziel ist es, die Wirtschaft gezielt zu unterstützen, und zwar genau dort, wo es notwendig ist. Den Ansatz kann man gut im ERP-Wirtschaftsplangesetz ablesen. Es ist ein optimistischer, ein nach vorne gerichteter
Ansatz. Durch eine intensive und nachhaltige Stärkung
kleinerer und mittelständischer Unternehmen wird es gelingen, Deutschland und Europa wettbewerbsfähig zu
halten.
Vielen Dank.
({6})
Vielen Dank. - Nächster für die Fraktion Die Linke
ist der Kollege Thomas Nord.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst möchte ich
Frau Katzmarek für die Begründung des Gesetzentwurfes und für viele ihrer Argumente danken. Ich will diese
jetzt nicht wiederholen. Was das Gesetz betrifft, sind wir
uns ja hier im Saal in der Sache durchaus einig. Die
Linke wird diesem Gesetzentwurf zustimmen.
Was bleibt, wenn man den Gesetzestext hier nicht
weiter kommentieren will, zum Thema zu sagen, was
noch nicht gesagt worden ist? Aus unserer Sicht ist zu
kritisieren, dass die Verteilung der Gelder aus dem ERPSondervermögen nicht besonders transparent erfolgt.
Wir denken schon, dass daran in den kommenden Jahren
noch gearbeitet werden muss. Ansonsten kann man an
dieser Stelle vielleicht etwas zur Geschichte des Sondervermögens und zu dem, was wir aus ihr lernen können,
sagen.
Das Sondervermögen entstand nach 1948 im Zusammenhang mit dem Marshallplan und wird heute durch
das Wirtschaftsministerium verwaltet. Im Dezember
1949 wurde ein Abkommen über die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den USA geschlossen. Dieses behandelte die
Verwaltung einer Summe von circa 6 Milliarden DMark, die kleinen und mittelständischen Unternehmen
zum Aufbau der Wirtschaft, der Verkehrs- und Energieinfrastruktur als revolvierende Kredite zur Verfügung
gestellt wurden, eine nach dem verlorenen Zweiten
Weltkrieg überlebenswichtige Hilfe für das zerstörte
Westdeutschland. Die Tilgungsleistungen und Zinsen
sind in das Sondervermögen eingeflossen. In den ersten
Jahren wurde auf eine Tilgung zumeist verzichtet. Sie
konnte aber freiwillig erfolgen. Nach dem Schuldenerlass vonseiten der USA 1953 musste Westdeutschland
nur einen geringen Teil des bewilligten Kredits zurückzahlen. Ich will noch einmal die wichtigsten Fakten wiederholen: Zinsen sind in das Sondervermögen eingeflossen, auf eine Tilgung wurde verzichtet. Auch der Begriff
Schuldenerlass ist in diesem Zusammenhang, glaube ich,
nicht ganz uninteressant.
Bereits 1966 waren die Kredite zurückgezahlt. 1953
wurde festgelegt, dass die Mittel ausschließlich dem
Wiederaufbau und der Förderung der deutschen Wirtschaft dienen sollten. Nach Beendigung der eigentlichen
Phase des Wiederaufbaus wurden ERP-Kredite zur Unterstützung der Exportwirtschaft und insbesondere zur
Förderung kleinerer und mittlerer Unternehmen verwendet. Seit den 1990er-Jahren werden die Mittel schwerpunktmäßig zur Förderung des ostdeutschen Mittelstands verwendet, auch das eine durchaus positive
Entwicklung. Heute werden zum Beispiel Förderprogramme zur Verbesserung der Energieeffizienz in kleinen und mittleren Betrieben sowie im privaten Hausund Wohnungsbau aufgelegt. Die Linke befürwortet
diese spezielle Förderung des Mittelstandes, und sie befürwortet, dass ein erheblicher Teil des Vermögens der
Bewältigung der Energiewende dient. Dies entspricht
dem Gedanken der Nachhaltigkeit.
Was also kann man aus dieser Geschichte lernen? Angesichts der europäischen Austeritätsdebatte ist das
ERP-Sondervermögen ein sehr gutes Beispiel dafür,
welche alternativen Möglichkeiten bestehen, um mit der
derzeitigen Lage in der Europäischen Union und insbesondere der Euro-Zone umzugehen.
({0})
Statt den Mitgliedstaaten die Sparkrause anzulegen und
bei sprudelnden Steuerquellen eine Nullrunde für den eigenen Haushalt aufzulegen, stehen hier Wiederaufbau,
wirtschaftlich sinnvolle Kredite und Schuldenerlass im
Mittelpunkt einer klugen Politik. Diese ist inzwischen
ein fast 70-jähriges Erfolgsmodell. Es wird aber offensichtlich heute nicht mehr verstanden; denn sonst gäbe
es ja andere Antworten auf die Staatskrisen unserer Zeit
als die gegenwärtig von der Bundesregierung praktizierten.
Herzlichen Dank.
({1})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Dr. Andreas
Lenz, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten den Gesetzentwurf über die Feststellung des Wirtschaftsplans des ERP-Sondervermögens für das Jahr
2015. Mit dem ERP-Wirtschaftsplangesetz werden in
diesem Jahr Mittel aus dem ERP-Sondervermögen in
Höhe von 807,9 Millionen Euro bereitgestellt. Diese
Mittel ermöglichen Ausleihungen an die verschiedenen
Kreditprogramme in Höhe von rund 6,3 Milliarden Euro.
Die Gelder des ERP-Sondervermögens - ERP steht
für European Recovery Program - haben, wie wir vorhin
von Herrn Nord gehört haben, ihren Ursprung im Marshallplan des damaligen US-Außenministers George
Marshall. Man kann zu Recht sagen, dass es ein Glücksfall war, dass Deutschland neben anderen europäischen
Ländern Hilfe über den Marshallplan zuteilwurde.
Deutschland war es im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern nicht erlaubt, die Gelder einfach konsumtiv auszugeben; es war Auflage, den Kapitalstock zu erhalten. Wenn sich Gregor Gysi, wie heute Morgen,
Gedanken über einen Marshallplan für europäische Krisenländer macht,
({0})
muss er wissen, dass sich Deutschland durch den Marshallplan eben nicht zusätzlich verschuldet hat. Mit dem
langfristig angelegten Einsatz der Gelder für Zinsverbilligungsdarlehen konnte ein Hebel gefunden werden, um
die ursprünglichen Hilfsgelder um ein Vielfaches zu erhöhen. Investitionen vor allem in Handwerk und Mittelstand wurden so erfolgreich angereizt.
Auch heute noch helfen die ERP-Förderungen zahlreichen Existenzgründern und innovativen mittelständischen Unternehmen. Das Programm trägt zur Sicherung
und Schaffung zahlreicher Arbeitsplätze bei. Die ERPProgramme umfassen im Wesentlichen die regionale
Wirtschaftsförderung, die Finanzierung von Existenzgründungen, die Förderung von Innovationen und das
Gebiet der Exportfinanzierungen.
Das Regionalförderprogramm umfasst ein Kreditvolumen von 350 Millionen Euro, und es ist nach wie vor
wichtig. Das Volumen der Gründerkredite beträgt rund
3,7 Milliarden Euro. Hiermit werden Existenzgründungen, Unternehmensübernahmen und Wachstumsfinanzierungen mittelständischer Unternehmen gefördert.
Hierunter fällt auch der High-Tech-Gründerfonds, der
eine Finanzierung technologieorientierter Neugründungen mit hohem Kapitalbedarf auf Basis von Beteiligungskapital ermöglicht. Die Innovationsfinanzierung
unterstützt die marktnahe Forschung und die Entwicklung innovativer Produkte. Das ERP-Exportfinanzierungsprogramm ermöglicht eine Festzinsfinanzierung
deutscher Exportaufträge und umfasst rund 1 Milliarde
Euro.
Angesichts der aktuellen Niedrigzinsphase wird die
Frage laut, ob man Zinsverbilligungsmaßnahmen überhaupt noch braucht. Diese Frage ist sicherlich berechtigt.
Jedoch werden bei Existenzgründungen von den Banken
immer noch hohe Risikoaufschläge erhoben. Gerade in
Bereichen, in denen Banken bei der Kreditvergabe zurückhaltend sind oder ein geeignetes Angebot fehlt, können in vielen Fällen erst die Förderprogramme eine Finanzierung ermöglichen.
Die Bundesregierung hat die Wachstumsprognose in
dieser Woche, wie schon gehört - wir alle wissen es -,
nach unten korrigiert. Die Herbstprognose geht von einem Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts in Höhe von
1,2 Prozent aus, bisher waren 1,8 Prozent erwartet worden. 2015 wird der Zuwachs voraussichtlich 1,3 Prozent
betragen. Dies ist sicherlich auch und vor allem den
zahlreichen Krisen auf der Welt geschuldet, die nun auf
die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland durchschlagen. Stabilisierend wirkt die gute Beschäftigungssituation. Allein 2014 steigt die Zahl der Beschäftigten
noch einmal um 325 000 Personen an. Dadurch ist auch
die Inlandsnachfrage intakt und steigt dieses Jahr um
1,4 Prozent.
Wir müssen nun jedoch alles tun, um die Wettbewerbsfähigkeit der heimischen Wirtschaft dauerhaft zu
sichern. Das heißt, wir brauchen weiterhin einen flexiblen und damit aufnahmefähigen Arbeitsmarkt und einen stabilen wirtschaftspolitischen Rahmen, um langfristige Investitionen zu ermöglichen. Gerade bei der
Energiepolitik haben wir hier erste wichtige Weichen gestellt.
({1})
Wir brauchen natürlich mehr Investitionen. Die ERPProgramme helfen vor allem dem Mittelstand dabei,
diese zu tätigen. Lediglich 8 Prozent der Investitionen
tätigen der Staat oder öffentliche Institutionen. Wir müssen es also schaffen, privates Kapital für Investitionen zu
mobilisieren; die Kanzlerin sprach diesen Punkt heute
Vormittag bereits an. Dafür brauchen wir ein Klima für
Investitionen und Innovationen, das es Gründern ermöglicht, ihre Ideen in Form von Produkten auch durch privates Kapital zu verwirklichen.
Wir geben in Deutschland mittlerweile viel Geld für
Forschung und Entwicklung aus. Wir haben die Zielmarke von 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts bereits
überschritten. Damit nehmen wir weltweit eine Spitzenposition ein. Ja, wir sind ein Land der Ideen. Wir müssen
jedoch verstärkt dafür sorgen, die Ideen auf die Straße zu
bringen. Es muss gelingen, dass aus Ideen Firmen und
Produkte werden, die international konkurrenzfähig
sind. Dazu bedarf es - da jede Schöpfung auch ein Wagnis ist - Wagniskapitals.
({2})
Die KfW, die hauptsächlich für die ERP-Programme
verantwortlich ist, ist eine Bank und deshalb dem Bankenrecht, also dem KWG, unterworfen. Banken stellen
die Risikobetrachtung in den Vordergrund. Gerade bei
Start-ups brauchen wir jedoch eine Chancenbetrachtung.
Wenn ich mit jungen Gründern spreche, dann sagen
mir diese, dass wir in Deutschland gute Startprogramme
haben. Vor allem hervorzuheben ist der High-TechGründerfonds mit einem Volumen von circa 300 Millionen Euro, der mit privatem Kapital kofinanziert wird.
Hier werden jährlich circa 40 Unternehmen mit bis zu
1 Million Euro gefördert. Rund 250 Unternehmen aus
dem Hightechbereich wurden so innerhalb der letzten
sechs Jahre finanziert und ihre Produkte erfolgreich auf
den Weg gebracht.
Mit dem Förderprogramm EXIST, das Teil der Hightech-Strategie ist, werden innovative Unternehmensgründungen unterstützt. Der Schwerpunkt liegt dabei darauf,
die Zahl der Ausgründungen aus wissenschaftlichen Einrichtungen zu erhöhen.
Lassen Sie mich das an einem Beispiel verdeutlichen.
Ein Studienfreund von mir gründete vor sechs Jahren
mithilfe des EXIST-Programms eine Firma. Im Anschluss wurde das Unternehmen vom High-Tech-Gründerfonds erfolgreich weiterfinanziert. Im Rahmen des
German Silicon Valley Accelerators, einem Programm
des Wirtschaftsministeriums, wurde das Start-up nach
Silicon Valley eingeladen, um so den Eintritt in den USamerikanischen Markt zu unterstützen. Mein Studienfreund lernte dort Venture-Capital-Geber kennen, die er
in Deutschland vergebens suchte. Das ist grundsätzlich
gut. Die Firma hat mittlerweile über 30 Mitarbeiter und
steht kurz vor dem Erreichen dauerhafter Gewinne. Aber
noch besser wäre es doch, wenn dieses Kapital von privaten Investoren aus Deutschland zur Verfügung gestellt
worden wäre.
({3})
Wir brauchen auch in Deutschland die Möglichkeiten
der Wachstumsfinanzierung nach der Gründungsphase.
Strukturell geht es darum, dass beispielsweise institutionelle Anleger mehr Spielraum für Anlageformen der
Wagnisfinanzierung erhalten. Die Tatsache, dass Eigenkapital höher besteuert wird als Fremdkapital, ist dabei
häufig nicht förderlich. Darüber hinaus brauchen wir für
schnell wachsende Unternehmen langfristig die Möglichkeit der Kapitalmarktorientierung. Diese muss natürlich seriös und transparent ausgestaltet sein. Nur so kann
langfristig genügend Eigenkapital zur Verfügung gestellt
werden.
Existenzgründer von heute sind der Mittelstand von
morgen. Die Innovationen von heute sind der Wohlstand
von morgen. Wir brauchen das ERP-Sondervermögen
auch weiterhin für die Regionalförderung und für die
Mittelstandsfinanzierung. Doch genauso wie in den
50er-Jahren müssen wir uns die Frage stellen, wie wir
aus den Mitteln des ERP-Sondervermögens den größtmöglichen Nutzen für unsere Volkswirtschaft, für Gründungen, Innovationen und Investitionen erzielen. Hier
wurde bereits vieles erreicht, aber gemeinsam können
wir noch mehr erreichen.
Herzlichen Dank.
({4})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist
Dieter Janecek, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Ich stelle in der heutigen Debatte viel Einigkeit fest, von links bis zur CSU.
Auch die Grünen - das wird Sie nicht verwundern - loben das ERP-Programm. Allerdings stellen wir auch ein
Stück weit infrage, inwiefern es zeitgemäß ist, ein solches Programm zu haben.
Aber wir haben es. Es ist gut für den Mittelstand. Es
ist auch gut, darauf hinzuweisen, dass wir zu Dank verpflichtet sind, nämlich seit 1948 den Vereinigten Staaten.
Das Programm zahlt sich noch heute aus. Rund 800 Millionen Euro beträgt der Umfang im nächsten Jahr. Das
ist nicht schlecht.
({0})
Worauf sollten wir achten? Wir sollten natürlich auf
die Zielgenauigkeit des Programmes achten. In den letzten beiden Jahren sind jeweils nur zwei Drittel abgerufen
worden. Da kann man sicherlich noch etwas machen.
Ich möchte die Debatte nutzen, um auf ein paar Rahmenbedingungen hinzuweisen. Die Europäische Zentralbank hat ihren Leitzins auf ein historisch niedriges Niveau gesenkt. Das heißt, wir bleiben mittelfristig auf
niedrigem Niveau. Deswegen sind Fremdfinanzierungen, auch bei den jeweiligen Hausbanken, aktuell zu
niedrigen Zinsen zu haben. Da ein Hauptinstrument der
ERP-Förderung Zinsvergünstigungen sind, kann es sein,
dass die Attraktivität der ERP-Programme sinkt und wir
über Korrekturen nachdenken müssen. Das gilt für die
Zukunft. Aktuell können wir mit den verschiedenen
ERP-Programmen sehr zufrieden sein. Diese Koalition
und auch frühere Koalitionen können sich den Erfolg der
ERP-Programme aber nicht ans Revers heften; denn es
geht hier um Gelder, die aufgrund historischer Entscheidungen zur Verfügung stehen.
Wenn man sich aber die bisherige Wirtschaftspolitik
der Großen Koalition ansieht, dann sieht man neben den
bestehenden Programmen wie dem ERP, gerade was den
Mittelstand angeht, ein großes Nichts. Zugegeben, Sie
haben sich an der Reform des EEG versucht; aber mehr
als eine Fortführung der Politik für große, stromfressende Konzerne ist Ihnen dabei nicht gelungen. Diesbezüglich stehen Sie ganz in der Tradition von SchwarzGelb. Herr Gabriel redet auch viel über die Förderung
des Mittelstands, über den Bürokratieabbau und die Förderung von Wagniskapital. Aber auch diesbezüglich
warte ich darauf, dass Taten den schönen Worten folgen.
({1})
Die steuerliche Freistellung des INVEST-Zuschusses,
den die Bundesregierung mit dem sogenannten Zollkodex-Gesetz plant, ist angesichts der veranschlagten Steuerausfälle in Höhe von 10 Millionen Euro nur ein sehr
kleiner Beitrag, der in seiner Wirkung zudem höchst
fraglich ist.
({2})
- Da haben Sie recht. Es muss langsam losgehen. Immerhin passiert etwas.
Jetzt kommen wir einmal zu den eingetrübten Konjunkturaussichten. Die Notwendigkeit einer klugen und
vor allem wirksamen Wirtschaftspolitik haben hier mehrere verdeutlicht. Dabei müssen wir das Rad aber nicht
unbedingt neu erfinden, sondern wir sollten die Vorschläge, die im Raum stehen, endlich einmal umsetzen:
Ich denke an den Koalitionsvertrag, in dem die steuerliche Forschungsförderung angedacht wurde. Jetzt ist es
an der Zeit, dieses Vorhaben endlich in die Tat umzusetzen.
({3})
Eine Begrenzung der steuerlichen Förderung auf kleine
und mittlere Unternehmen würde die Kosten begrenzen
und die Zielgenauigkeit der Innovationsförderung erhöhen.
Ich denke an eine Erhöhung der Abschreibungsgrenze
für geringwertige Wirtschaftsgüter.
({4})
- Applaus auch aus der Union. Das freut mich.
Investitionsfördernd wäre auch die Einführung einer
stärkeren Förderung der Gebäudesanierung.
({5})
- Auch dafür bekommen wir Applaus. Das ist schön.
Dann können wir ja alle gemeinsam handeln.
Außerdem - auch dafür bekomme ich möglicherweise Applaus - würde eine konsistente und wirksame
Förderung des Breitbandausbaus den Menschen und Unternehmen in der Bundesrepublik helfen.
({6})
Auch das würde Innovationskräfte freisetzen.
Dies war eine sehr harmonische Rede, bis auf Weiteres wahrscheinlich die letzte dieser Art. Freuen wir uns
doch, dass diese Mittel da sind und wir sie einsetzen
können.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank. - Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf über die
Feststellung des Wirtschaftsplans des ERP-Sondervermögens für das Jahr 2015. Der Ausschuss für Wirtschaft
und Energie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 18/2903, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/2662 anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung mit den Stimmen aller Fraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, aufzustehen. - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Beratung mit den Stimmen aller
Fraktionen angenommen.
({0})
- Ja, das ist einen Applaus wert.
({1})
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Zimmermann ({2}), Sigrid Hupach, Klaus
Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Kurzzeitig Beschäftigten vollständigen Zugang zur Arbeitslosenversicherung ermöglichen
Drucksache 18/2786
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({3})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Debatte. Erster Redner für die Fraktion Die Linke ist Matthias W. Birkwald.
({4})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! In Deutschland arbeiten 43 Prozent aller abhängig Beschäftigten in Minijobs, in Teilzeit oder als Leiharbeiter. Fast die Hälfte aller neuen Arbeitsverträge ist
befristet. Diese Menschen brauchen gute Arbeit, unbefristet, gut bezahlt und zu guten Arbeitsbedingungen.
({0})
Darum will die Linke das Problem an der Wurzel packen
und prekäre Jobs wie Leiharbeit und Befristungen eindämmen.
({1})
Heute geht es aber um Folgendes: Hundertausenden in
prekärer Beschäftigung fehlt der Zugang zum Arbeitslosengeld I. Die Beschäftigungsverhältnisse von 700 000 Leiharbeiterinnen, Lagerarbeitern, Kellnern, Filmtechnikern,
Schauspielerinnen, IT-Fachleuten und vielen anderen
dauern weniger als zehn Wochen. Das sind nur gut zwei
Monate.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bitte stellen Sie sich
das einmal vor: Zehn Wochen arbeiten, und dann stehen
Sie wieder ohne Perspektive auf der Straße. Überlegen
Sie einmal: Wenn Sie so leben müssten, was hieße das
für Ihre Familienplanung? Wenn Sie so leben müssten,
was hieße das für Ihre Urlaubsplanung? Wenn Sie so leben müssten, was hieße das für Ihren Wunsch, einen
Kredit für den Kauf einer Wohnung oder eines Hauses
aufzunehmen? Das dürfte auch die Kollegen aus der
Union interessieren. Ja, richtig, die Antwort lautet dreimal: sehr schwierig bis unmöglich. Ich sage: Das ist ein
völlig unhaltbarer Zustand.
({2})
Das muss ganz dringend geändert werden. 700 000 kurzzeitig beschäftigte Menschen leben in dieser ständigen
Unsicherheit, und sie werden dann auch noch doppelt
und dreifach diskriminiert. Die meisten Kurzzeitbeschäftigten erhalten nämlich gar kein Arbeitslosengeld I.
Dabei haben sie sehr wohl Beiträge zur Arbeitslosenversicherung bezahlt. Nein, viele fallen, wenn sie arbeitslos
werden, direkt in Hartz IV. Das ist ungerecht, und das
darf nicht so bleiben.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und
SPD, Sie haben in Ihrem schwarz-roten Koalitionsvertrag versprochen, dieses Problem dauerhaft zu lösen, und
zwar besonders für Kulturschaffende und Kreative. Dazu
wollen Sie die bis Dezember 2014 befristete Sonderregelung für Kurzzeitjobs neu gestalten. Nach dieser Sonderregelung muss man innerhalb von zwei Jahren sechs
Monate gearbeitet haben, um einen Anspruch auf Arbeitslosengeld I zu bekommen. Diese Regelung hat aber
nur ganz wenigen geholfen. Im vergangenen Jahr haben
gerade einmal 222 Betroffene von dieser fast wirkungslosen Sonderregelung profitiert. Das ist nur ein Tropfen
auf den heißen Stein. Das reicht vorne und hinten nicht.
({4})
Die Bundesregierung hat nun gestern beschlossen,
diese befristete Sonderregelung einfach zu verlängern,
damit die Kurzzeitbeschäftigten ab 1. Januar nicht völlig
im Regen stehen.
({5})
Heute wird unser Antrag debattiert, Herr Schipanski. Da
wollten Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, natürlich nicht mit völlig leeren Händen dastehen.
Das kann ich gut verstehen. Man sieht also: Links wirkt.
({6})
Glaubwürdig sind Sie nicht, liebe Kolleginnen und
Kollegen von Union und SPD; denn Sie haben in Ihrem
Koalitionsvertrag versprochen, die Rahmenfrist, in der
man Anwartschaften für das Arbeitslosengeld erwerben
kann, von zwei auf drei Jahre auszuweiten. Machen Sie
es einfach! Setzen Sie Ihr Versprechen um, und setzen
Sie unseren weitergehenden Antrag um. Die Kurzzeitbeschäftigten dürfen jedenfalls nicht länger durch den Rost
fallen.
({7})
Wir fordern: Verlängern Sie die Rahmenfrist von zwei
auf drei Jahre. Streichen Sie die Verdienstgrenze, an der
viele scheitern. Sorgen Sie dafür, dass alle Beschäftigten
nach einem halben Jahr Arbeit Anspruch auf drei Monate Arbeitslosengeld I haben, nach acht Monaten Arbeit
Anspruch auf vier Monate Arbeitslosengeld I, und nach
zehn Monaten Arbeit sollten die Menschen Anspruch
auf fünf Monate Arbeitslosengeld I erhalten. Das würde
vielen Künstlerinnen, Kellnern, Hilfsarbeitern und Sekretärinnen helfen, und es käme sehr vielen Migrantinnen und Migranten zugute.
Herr Kollege Birkwald.
Liebe Koalitionärinnen und Koalitionäre, handeln Sie
endlich, und zwar vor Weihnachten.
Herzlichen Dank.
({0})
Danke schön. - Nächster Redner ist der Kollege
Albert Weiler, CDU/CSU-Fraktion.
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist
immer wieder spannend, Herrn Birkwald zuzuhören,
wenn er Weihnachtsgeschenke verspricht. Nur, wo die
Kohle dafür herkommen soll, ist fraglich. Aber egal, das
ist Mode bei den Linken und wird so weitergehen; damit
habe ich mich schon abgefunden in der kurzen Zeit, in
der ich jetzt hier in Berlin bin.
Wenn ich mich mit Anträgen der Fraktion Die Linke
beschäftigen muss, stelle ich immer wieder fest, dass
diese Anträge leider wenig mit der realen Welt da draußen zu tun haben. Aber das überrascht nicht bei einer
Partei, die in ihrer sozialistischen - meines Erachtens:
kommunistischen - Scheinwelt lebt
({0})
und in Thüringen im Landtag - man höre und staune! als Landtagsabgeordnete sogar noch zwei Stasi-Spitzel
beheimatet.
({1})
Man muss sich einmal vorstellen, wie sich Zwangsinternierte fühlen müssen, die lediglich in den Westen fliehen
wollten und durch solche skrupellosen Leute verraten
und dann eingesperrt und traktiert wurden. - Und diese
Stasi-Spione wollen jetzt in Thüringen auch noch an die
Macht kommen.
({2})
- Pfui, ja.
({3})
- Man darf das nicht unter den Teppich kehren. Ich
werde - wie jetzt - persönlich immer wieder daran erinnern; das sind wir den Opfern einfach schuldig.
({4})
Nicht nur, dass Sie in Ihrem Antrag mit veraltetem
Zahlenmaterial argumentieren, Sie suggerieren mit diesem Antrag mal wieder, dass halb Deutschland - wahrscheinlich sogar ganz Deutschland - davon betroffen sei.
Dem ist aber nicht so; damit müssen wir jetzt endlich
einmal aufräumen. Sie zitieren nur die Zahlen, die Ihnen
nützen. Das ist unlauter und unseriös. Richtig ist, dass
die Anzahl derjenigen, die im Fall von Erwerbslosigkeit
das Arbeitslosengeld I nach der Sonderregelung für
kurzzeitig Beschäftigte erhalten haben, in den zurückliegenden Jahren jährlich lediglich bei knapp 230 lag.
({5})
Sie vergessen aber, zu erwähnen, dass es im Berichtszeitraum insgesamt nur circa 310 Antragsteller gab. Das
heißt, wir hatten eine Bewilligungsquote von 70 Prozent,
meine Damen und Herren; das ist ein Haufen.
({6})
Sie müssen die Antworten der Bundesregierung auf Ihre
Anfragen richtig lesen - ich unterstelle Ihnen, dass Sie
das können ({7})
und dürfen die Leute nicht durch Darstellung falscher
Tatsachen verschaukeln; aber das ist bei Ihnen historisch
bedingt.
({8})
Nichtsdestotrotz gibt es Handlungsbedarf vor allem im
Hinblick auf die Berufsgruppe der Künstler, aber auch in
anderen Branchen, die noch nicht erwähnt wurden: Logistik, Gastronomie, Tourismus, Landwirtschaft. Deshalb haben wir auch diese Personengruppen im Rahmen
einer Sonderregelung für die Anwartszeiten begünstigt.
Gerade in der Branche der Künstler kommt es häufig zu
kurzen befristeten Beschäftigungsverhältnissen, sodass
die zwölf Monate Vorversicherungszeit in der Rahmenfrist nicht erfüllt werden können.
Herr Kollege Weiler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Birkwald?
Lassen Sie mich jetzt einmal weitermachen! Ich bin
gleich fertig.
({0})
- Dann macht der Herr Birkwald wieder eine Kurzintervention, und dann werde ich ihm ordentlich antworten.
({1})
Die letzte Große Koalition hatte daher eine befristete
Sonderregelung eingeführt: Personen, deren Erwerbsbiografie wiederkehrend unterbrochen ist, müssen lediglich sechs statt zwölf Monate Vorversicherungszeiten
innerhalb der Rahmenfrist vorweisen. Diese Sonderregelung wurde in der letzten Legislaturperiode bis Ende dieses Jahres verlängert.
Der Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD sieht
im Handlungsfeld „aktive Arbeitsmarktpolitik“ unter anderem vor, dass die Koalition zu der befristeten Sonderregelung Ende 2014 eine Anschlussregelung einführen
wird. Meine Damen und Herren, das tun wir.
({2})
- Moment! - Das BMAS hat hierzu grundlegende Änderungen im SGB III vorgeschlagen, die wir jetzt intensiv
miteinander diskutieren. Aber wir können hier und jetzt
keine Schnellschüsse brauchen, sondern müssen eine
ausgewogene, allen Arbeitslosen gerecht werdende Lösung finden.
({3})
Ich halte die Privilegierung einer bestimmten Berufsund Personengruppe sozialpolitisch für problematisch.
Schon jetzt ist schwer vermittelbar, warum kurzbefristet
Beschäftigte für einen Leistungsanspruch nur sechs Monate Versicherungszeit benötigen, während der Normalbeschäftigte - eine Friseurin oder ein Gärtner -, der mit
seinen Beiträgen dieses Privileg ja auch mitfinanziert,
für diesen Anspruch selbst zwölf Monate arbeiten muss.
Wir handeln nach dem Motto „klug bedacht ist gut
gemacht“. Daher haben sich CDU/CSU und SPD nun
auf eine Verlängerung bis Ende 2015 verständigt, um so
genügend Raum und Luft zu gewinnen, um in einem
durchdachten Schritt die Rahmenfristen so zu regeln,
dass sie für alle Beschäftigten gerecht sind.
Diesen Anspruch haben wir uns gegeben. Dafür brauchen wir Zeit. Wir werden es gut machen. Klug bedacht
ist gut gemacht.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Brigitte
Pothmer, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Weiler, auch wenn ich nicht der Fraktion der
Linken angehöre und auch nie angehören werde, so
muss ich Ihnen doch sagen: Diese Rede war vollständig
daneben.
({0})
Sie mögen im Detail den Lösungsvorschlägen der Linken nicht zustimmen, aber das Problem, das in dem Antrag aufgezeigt wird, ist real.
({1})
Lieber Herr Weiler, es zeugt einfach von Unkenntnis,
wenn Sie sagen, dass kurzfristig Beschäftigte im Wesentlichen aus dem kulturschaffenden Bereich kommen,
also Künstlerinnen und Künstler sind. Nein, das sind
83 Prozent der Beschäftigten in der Wissenschaft; sie haben Arbeitsverträge mit einer Dauer unterhalb eines Jahres.
({2})
Die Projektarbeit nimmt zu, Leiharbeit nimmt zu.
({3})
Ich will hier gar nicht den Eindruck erwecken, als sei
das alles prekäre Beschäftigung. Da gibt es durchaus
auch gut bezahlte Stellen. Aber viele dieser Beschäftigungsverhältnisse werden zu prekären Beschäftigungsverhältnissen, weil die sozialen Sicherungssysteme diesem neuen Flexibilitätsarrangement nicht angemessen
sind.
({4})
Es ist nicht hinzunehmen, dass all diese Menschen
mit einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung
in die Arbeitslosenversicherung einzahlen, aber im Falle
der Arbeitslosigkeit keinen Cent herausbekommen. Das
ist eine Gerechtigkeitslücke.
({5})
Ich finde, bevor Sie den Mund so weit aufmachen,
machen Sie erst einmal Ihre Hausaufgaben.
({6})
Diese Bundesregierung hat für diese Gruppe von Menschen derzeit eine Regelung, die, um es Ihnen einmal
klar zu sagen, 0,5 Prozent derjenigen trifft,
({7})
die Sie erreichen wollen.
({8})
Mann, wenn ich so eine Arbeit abgeliefert hätte, dann
wäre ich hier ein bisschen vorsichtiger.
({9})
Auch Sie sehen das Problem. Deswegen haben Sie im
Koalitionsvertrag vereinbart, dass es hier zu einer Neuregelung kommen soll. Eigentlich sollte die Regelung
bereits jetzt vorliegen. Jetzt haben Sie das um ein Jahr
verschoben. Ich rede an dieser Stelle nicht von Arbeitsverweigerung. Ich will zu Ihren Gunsten unterstellen,
dass Sie sich vielleicht in einer Lernkurve befinden und
damit noch nicht ganz fertig sind.
({10})
Die Lösung, die Sie angedacht haben, nämlich die
Rahmenfristzeiten auf drei Jahre auszuweiten, wird noch
weniger Menschen dazu bringen, dass sie die Möglichkeiten, die sie haben, tatsächlich - - Oh, jetzt bin ich ein
bisschen durcheinander.
({11})
Ich beginne noch einmal von vorne. Die Ausweitung der
Rahmenfrist wird am Ende dazu führen, dass noch weniger Menschen davon profitieren als von Ihrer derzeitigen
Regelung. Das könnten Sie wissen; das müssten Sie sogar wissen.
Ich kann mich nur wundern, Herr Birkwald, warum
Sie in Ihrem Antrag diesen Vorschlag aufgegriffen haben. Bereits 2012 hat das IAB ein Gutachten erstellt und
ist darin zum Ergebnis gekommen, dass die Ausweitung
der Rahmenfristen noch weniger Menschen privilegiert,
als das derzeit der Fall ist.
({12})
Deswegen finde ich Ihren Antrag in diesem Punkt wirklich falsch.
({13})
Lassen Sie mich zusammenfassen. Wir haben zunehmend Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt. Aber dieser
Flexibilität müssen wir ein Mindestmaß an sozialer Sicherung zur Seite stellen. Dabei müssen wir drei Punkte
beachten: Erstens. Es darf keine Sonderregelung für bestimmte Personengruppen geben, weil das das System
zunehmend undurchsichtig macht. Zweitens. Leistungen
müssen Gegenleistungen folgen. Es kann nicht angehen,
dass die Menschen einzahlen und nichts herausbekommen.
({14})
Drittens. Die Regelung muss einfach und unbürokratisch
sein.
({15})
Unser Vorschlag lautet: Wer innerhalb einer Rahmenfrist vier Monate gearbeitet hat, bekommt zwei Monate
Arbeitslosengeld, bei sechs Monaten drei Monate, und
so geht das weiter. Das ist ein durchschaubares klares
System. Von dem können alle kurzfristig Beschäftigten
profitieren. Ich schlage vor, Herr Birkwald: Setzen Sie
sich damit einmal auseinander.
({16})
Sie werden begeistert sein.
Ich danke Ihnen.
({17})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Markus Paschke,
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich
freue mich, dass wir zu so später Stunde noch so viele
Zuhörer haben, und werde jetzt versuchen, das wieder
auf ein etwas ruhigeres Niveau zu bringen.
({0})
Gesetze müssen immer wieder den sich ändernden
Bedingungen und Gegebenheiten auf dem Arbeitsmarkt
angepasst werden. Das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Deshalb finde ich Ihren Antrag im Kern
auch richtig, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von der Linken.
({1})
Das ist auch wenig überraschend, weil er doch im
Wesentlichen aus dem Koalitionsvertrag abgeschrieben
ist.
({2})
Das Ziel der Koalition ist, den Zugang zur Arbeitslosenversicherung besonders für kurzfristig Beschäftigte
zu verbessern. Das ist dringend nötig. Ich will einmal ein
Beispiel bringen, um zu verdeutlichen, worum es geht:
Helga ist 40 Jahre alt, sie schlägt sich seit Jahren auf
Borkum mit Saisonarbeit durch. Ihre Anstellungen sind
immer wieder von mehr oder weniger langen Zeiten der
Erwerbslosigkeit, vor allem im Winter, unterbrochen.
Hat sie eine Anstellung, dann zahlt sie vom ersten Tag
an auch Beiträge in die Arbeitslosenversicherung ein.
Aber im Gegensatz zu ihren Kolleginnen, die ganzjährig
beschäftigt sind, ist es für sie kaum möglich, innerhalb
von zwei Jahren überhaupt die erforderlichen zwölf Monate Beitragszeiten zusammenzubekommen. Die bisherige Sonderregelung für kurzfristig Beschäftigte greift
für sie auch nicht, weil sie in der Regel länger als zehn
Wochen am Stück arbeitet. Das bedeutet: Helga hat gar
keine Wahl und muss sofort Arbeitslosengeld II beantragen.
Das ist in meinen Augen eine Gerechtigkeitslücke.
({3})
Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass die Betroffenen
eine Absicherung durch die Arbeitslosenversicherung
bekommen und nicht immer zum Jobcenter gehen müssen.
({4})
Keine Frage: Da müssen wir ran, und da gehen wir
ran.
({5})
Die Sonderregelung für kurzfristig Beschäftigte läuft
Ende des Jahres aus. Deswegen werden wir sie in einem
ersten Schritt, um Rechtssicherheit zu schaffen - das ist
der wesentliche Grund -, um ein Jahr bis Ende 2015 verlängern. Das verschafft uns Zeit und Raum für einen angemessenen Diskussionsprozess; denn um es noch einmal klar zu sagen: Es geht nicht nur um eine schnelle,
sondern vor allem um eine nachhaltige, gerechte und
gute Lösung.
({6})
Das bedeutet, eine Regelung für alle Beschäftigten zu
finden.
({7})
Eine generelle Verlängerung der Rahmenfrist von zwei
auf drei Jahre ist sicherlich eine gute Idee.
({8})
Auch über die Veränderung der Sonderregelung für
kurzfristig Beschäftigte wird nachzudenken sein; denn
es ist natürlich schwer vermittelbar, warum Beschäftigte
wie Helga,
({9})
von denen wir viele in Ostfriesland haben, trotz Beitragszahlung keinen Leistungsanspruch erwerben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, ich
erwähnte anfangs, dass ich Ihren Antrag im Kern für
richtig halte,
({10})
aber ich bin auch der Meinung, dass er zu kurz greift.
Denn wir sollten uns umfassend überlegen, wie wir den
Versicherungsschutz in der Arbeitslosenversicherung effektiv stärken können und welche Regelungslücken wir
schließen wollen. Wir sollten zum Beispiel überlegen,
wie wir mit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern für
die Zeit umgehen, in der sie Angehörige pflegen, und ob
wir sie für die Zeit in die Arbeitslosenversicherung einbeziehen können. Wir sollten uns überlegen, wie wir für
Eltern, die in flexibler Elternzeit sind, oder bei einer beruflichen Weiterbildung den Versicherungsschutz aufrechterhalten können. Das waren nur drei Beispiele für
Probleme, über die wir nachdenken sollten; die möglichen Lösungen für diese Probleme wollen abgewogen,
bewertet und bedacht werden - mit ausreichend Zeit.
Diese Überlegungen finde ich leider so nicht in Ihrem
Antrag.
({11})
Ich weiß, es fällt Ihnen schwer, aber glauben Sie mir:
Wir werden im nächsten Jahr einen guten Gesetzentwurf
vorlegen.
({12})
Ich denke, wir werden die Rahmenfrist verlängern
und eine Lösung für alle kurzfristig Beschäftigten und
Normalbeschäftigten finden. Wir werden die Arbeitslosenversicherung stärken.
Herr Kollege.
Ich komme sofort zum Schluss.
Das wäre sehr nett, Herr Kollege Paschke.
Lassen Sie mich abschließend feststellen: Es macht
wenig Sinn, die Bundesregierung zu einem Handeln aufzufordern, das bereits im Koalitionsvertrag vereinbart
ist.
({0})
Wenn Sie unsere Ideen gut finden, dann schließen Sie
sich unseren Überlegungen und Gesetzentwürfen an! Ich
lade Sie herzlich ein, dabei zu sein und gemeinsam die
Arbeitslosenversicherung zu stärken.
Danke schön.
({1})
Vielen Dank. - Das Wort hat jetzt Dr. Astrid
Freudenstein, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Es gibt Branchen und Berufe, in denen man nicht auf eine lebenslange Position
hoffen kann, weil es sie schlichtweg nicht gibt. Es gibt
nicht einmal mittelfristige Beschäftigungen. Das trifft
vor allem die Kreativen und Künstler, seien es Schauspieler, Maskenbildner, Kameraleute, ob sie Helga,
Thomas oder auch anders heißen, ganz egal.
Sie arbeiten in der Regel projektbezogen und eng befristet. Wenn die Filmrolle abgedreht ist, dann gibt es
vielleicht für den Schauspieler oder die Schauspielerin
schlicht und ergreifend keinen Bedarf mehr. Dann steht
er oder sie wieder auf der Straße. Das hat nichts mit
Können oder Qualität zu tun. Wir wissen sehr gut, dass
auch richtige Filmstars gelegentlich auf der Straße stehen und nach neuen Engagements suchen.
Wir haben uns in der Koalition vorgenommen, ebendieser spezifischen Situation von Kunstschaffenden gerecht zu werden, weil es gerade bei ihnen oft brüchige
Erwerbsbiografien gibt. Dem wollen wir begegnen. Wir
haben zum Beispiel noch vor der Sommerpause das Gesetz zur Stabilisierung des Künstlersozialabgabesatzes
beschlossen, um die Beitragssätze stabil zu halten und
das System, das freischaffenden Künstlern Zugang zur
gesetzlichen Renten-, Pflege- und Krankenversicherung
gewährt, bezahlbar und stabil zu machen.
Wir haben uns auch vorgenommen - auch das ist im
Koalitionsvertrag nachzulesen, und hier setzt auch Ihr
Antrag an -, im Arbeitslosengeld-I-Bezug eine Anschlussregelung für überwiegend kurzfristig Beschäftigte einzuführen. Auch dabei geht es überwiegend um
Künstler und Kreative.
Konkret soll es eine von zwei auf drei Jahren verlängerte Rahmenfrist geben, innerhalb derer die Anwartschaftszeit für den Bezug von ALG I erfüllt werden
muss. Das wäre eine deutliche Verbesserung für die Betroffenen, gezielt für all jene, die branchenbedingt brüchige Erwerbsbiografien haben. Der Bundesverband der
Film- und Fernsehschauspieler hat im Übrigen ebendiesen Passus im Koalitionsvertrag ausdrücklich gelobt.
({0})
Künstler und Kreative werden damit eine größere
Chance haben, die vom Gesetz geforderte Anwartschaftszeit ansammeln zu können. Wir wollen also
durchaus eine Lösung finden, die lebensnah ist. Wer in
die Arbeitslosenversicherung einzahlt, darf nicht von
den Leistungen ausgeschlossen werden, nur weil es im
eigenen Beruf strukturbedingt zu befristeten Arbeitsverhältnissen kommt. Ich glaube, bis zu diesem Punkt sind
wir uns auch völlig einig.
({1})
Das bedeutet aber nicht, dass wir grundsätzlich den Weg
verlassen wollen, den wir beschritten haben. Darin sind
wir uns wahrscheinlich nicht mehr einig, Herr Birkwald.
Wir wollten eine Sonderregelung. Das war damals die
Motivation für diese Maßnahmen. Wir sind nach wie vor
davon überzeugt, dass es richtig ist, Grenzen zu ziehen
und spezifisch dort Ausnahmen vorzusehen, wo es strukturelle Nachteile auszugleichen gilt.
Was Sie in Ihrem Antrag fordern, geht darüber weit
hinaus und würde womöglich viele positive Entwicklungen, die die arbeitsmarktpolitischen Reformen der vergangenen Jahre gebracht haben, aufs Spiel setzen. Deswegen werden wir Ihrem Antrag nicht zustimmen.
Ich schließe mich meinem Vorredner an: Wir werden
einen guten Gesetzentwurf vorlegen
({2})
und darüber mit Sicherheit noch viel diskutieren dürfen.
Danke schön.
({3})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Ralf Kapschack,
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Zuschauer auf der Besuchertribüne! Frau
Freudenstein hat es angesprochen: Wir haben im Sommer
einstimmig das Gesetz zur Stabilisierung des Künstlersozialabgabesatzes beschlossen. Das war gut und wichtig für den Erhalt der sozialen Absicherung von Künstlern und freien Publizisten. Aber in der Debatte ist auch
deutlich geworden: Das reicht nicht. Der Tenor war eindeutig: Wir müssen etwas tun, um auch dieser Beschäftigungsgruppe, in der kurzfristige Beschäftigung besonders verbreitet ist, einen leichteren, einen besseren und
einen schnelleren Zugang zum Arbeitslosengeld zu verschaffen. Kurzfristige Beschäftigung ist nicht nur ein
Problem der Kultur- und Medienbranche. Aber sie ist
hier traditionell besonders stark verbreitet. Deshalb
schauen die Beschäftigten dieser Branche sehr genau darauf, was wir nun tun.
({0})
Nehmen wir als Beispiel die Filmwirtschaft. 17 Prozent der abhängig Beschäftigten in der Filmwirtschaft
waren in den vergangenen zwei Jahren weniger als sechs
Monate beschäftigt. 30 Prozent waren zwischen sechs
und zwölf Monate beschäftigt. Das heißt, nicht einmal
die Hälfte der abhängig Beschäftigten in der Filmwirtschaft erfüllt die Voraussetzungen für das Arbeitslosengeld I. Insofern bin ich dankbar für den Antrag und die
Möglichkeit, über dieses Problem ausführlich zu diskutieren. Die bisherige Regelung hat, wie bereits angesprochen, gerade einmal 200 Menschen im Jahr geholfen.
Das ist eindeutig zu wenig. Dass es nur so wenige sind,
liegt an den Zugangsvoraussetzungen. Insofern ist es
richtig, über eine längere Rahmenfrist nachzudenken,
also die Zeit, in der der Anspruch auf das Arbeitslosengeld erfüllt werden muss. Darin sind wir uns mit Ihnen
völlig einig.
({1})
Wahrscheinlich ist es auch richtig, über eine einheitliche Anwartschaftszeit nachzudenken und auf Sonderregelungen künftig zu verzichten; denn nach den bisherigen Erfahrungen erreichen Sonderregelungen viel zu
wenige. Das hat mit den Zugangsvoraussetzungen zu
tun, die aufgrund verfassungsrechtlicher Vorgaben so
strikt sein müssen. Wie die zukünftige Regelung aussehen soll, werden wir in Ruhe prüfen. Damit es keinen
rechtlosen Zustand und keine Verschlechterung gibt,
werden wir die Geltungsdauer der bestehenden Regelung verlängern, um Zeit zu haben, eine vernünftige
Neuregelung auf den Weg zu bringen. Ob eine generelle
Verkürzung der Anwartschaftszeit, wie Sie es in Ihrem
Antrag fordern, vernünftig ist, werden wir uns in Ruhe
anschauen, und zwar sowohl unter arbeitsmarktpolitischen als auch unter finanziellen Gesichtspunkten; denn
irgendjemand muss das bezahlen.
({2})
- Das werden wir uns in Ruhe anschauen. - Entscheiden
werden wir über die künftige Regelung im kommenden
Jahr. Die Kleine Anfrage der Linken gibt schon einige
Hinweise auf die Dimension des Problems.
Herr Birkwald, eine Bemerkung noch zum Schluss.
Sie haben bemängelt, dass die Regelung noch nicht vorliegt. Sie haben im Ausschuss gesagt, das Ministerium
für Arbeit und Soziales sei das fleißigste in der Regierung.
({3})
Wer wäre ich, dem zu widersprechen?
({4})
Aber auch der Fleißige kann nur eines nach dem anderen
tun. Wir werden das tun. Wir werden eine vernünftige
Regelung vorlegen. Ich freue mich auf die Beratungen
im Ausschuss.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({5})
Vielen Dank. - Das war der letzte Redner in dieser
Debatte.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/2786 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Damit ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Thomas Feist, Uda Heller, Albert
Rupprecht, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Willi Brase, Rainer Spiering, Dr. Ernst
Dieter Rossmann, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion SPD
Berufliche Bildung zukunftssicher gestalten - Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung stärken
- zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Rosemarie Hein, Diana Golze, Sabine
Zimmermann ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Das Recht auf Ausbildung umsetzen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Beate
Walter-Rosenheimer, Brigitte Pothmer, Kai
Gehring, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Berufliche Bildung sichern - Jungen Menschen Zukunftschancen bieten
Drucksachen 18/1451, 18/1454, 18/1456, 18/2856
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Erster Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Dr. Thomas Feist, CDU/CSU-Fraktion.
({2})
Verehrte Frau Präsidentin! Meine liebe Kolleginnen
und Kollegen! Wir debattieren heute - wenn man auf die
Uhr schaut - zur besten Sendezeit über berufliche Bildung. Genau dort gehört sie auch hin.
({0})
Ich möchte mich für die konstruktiven Beratungen im
Ausschuss bedanken; denn wir haben festgestellt: Wenn
wir etwas für berufliche Bildung tun, dann tun wir das
nicht zulasten der akademischen Bildung. Aber wofür
wir uns einsetzen wollen und einsetzen müssen, ist: Wir
müssen verstärkt für die Gleichwertigkeit der akademischen und der beruflichen Bildung in unserem Land werben.
({1})
Es haben sich verschiedene Punkte herauskristallisiert, die für uns wichtig sind. Da ist zum einen - das ist
in dem Antrag beschrieben - die Berufsorientierung. Ich
ergänze das und sage: Berufs- und Studienorientierung;
denn beides muss in Deutschland möglichst flächendeckend durchgeführt werden, und zwar auf hohem
Niveau.
({2})
Wir werden die Länder nicht aus ihrer Pflicht entlassen, ihren Beitrag zu leisten. Wir werden uns im Bund
dafür einsetzen, dass wir solche Vorhaben über Kofinanzierungsmodelle nach Möglichkeit und nach Kassenlage
unterstützen. Aber die Länder, die ab dem nächsten Jahr
voll davon profitieren, dass der Bund die BAföGZahlung allein übernimmt, haben genug finanzielle
Spielräume, und sie müssen an der schulischen Berufsund Studienorientierung ansetzen.
({3})
Warum ist das so wichtig, Berufs- und Studienorientierung als Einheit zu sehen? Das ist deswegen besonDr. Thomas Feist
ders wichtig, weil wir es uns nicht leisten können, weder
im Sinne der jungen Menschen noch aus volkswirtschaftlicher Sicht, junge Menschen erst einmal den Umweg über ein nach zwei oder drei Semestern abgebrochenes Studium in die berufliche Bildung gehen zu lassen.
Wir müssen vielmehr sagen: Die berufliche Bildung ist
eine gute Grundlage. Sie ist keine Sackgasse, und sie
darf auch nicht zur Resterampe der Bildungsrepublik
Deutschland werden.
({4})
Wir müssen vor allem die Jugendlichen in den Blick
nehmen, die besonderen Förderbedarf haben. Wir werden uns in der nächsten Zeit mit den Modellen der assistierten Ausbildung auseinanderzusetzen haben, auch mit
dem Übergangssystem. Hier müssen wir fragen: Wie
kann das zeitgemäß gestaltet werden, wie können wir
Betriebe, die schwächeren Jugendlichen eine Möglichkeit zur Ausbildung geben, gezielt unterstützen?
Wir müssen auch etwas für die tun, die aus der beruflichen Bildung heraus weitergehen wollen. Ich denke da
an die Meister. Wir haben eine tolle BAföG-Erhöhung.
Die kann sich sehen lassen. Manche sagen, sie komme
etwas spät. Aber sie kommt nicht zu spät. Wir müssen
auch im Bereich der Aufstiegsfortbildung, also beim
Meister-BAföG, aufpassen, dass wir den Anschluss nicht
verlieren.
({5})
Den Anschluss nicht zu verlieren, heißt auch, dass wir
uns überlegen müssen, welche Berufsgruppen wir dort
erreichen und ob es vielleicht auch Berufsgruppen gibt,
die wir bisher mit unserem Modell nicht erreichen. Da
müssen wir etwas tun. Wir müssen auch etwas dafür tun,
die Familienfreundlichkeit als Komponente des MeisterBAföG herauszustellen. Natürlich - das ist ein Thema
für uns alle - stellt sich uns auch die Frage der Inklusion:
Was können wir tun, um auch Menschen mit Beeinträchtigungen ein weiterführendes Studium im Beruf zu ermöglichen?
({6})
Wenn ich sage: „Berufliche Bildung ist keine Sackgasse“, dann heißt das: Wir haben in Deutschland
hervorragende Möglichkeiten - ich denke da an das Weiterbildungsstipendium oder auch das Aufstiegsstipendium -, junge Leute berufsbegleitend oder in Vollzeit
weiterzubilden, sodass sie gute Abschlüsse erreichen
können. Ich weiß, dass die Zahl derjenigen, die ein solches Stipendium in Anspruch nehmen wollen, höher
liegt als die Zahl derer, die wir im Moment fördern können. Das sollte für uns ein Ansporn sein, in diesem Bereich zu überlegen, wie wir vielleicht nicht mehr diesen,
aber die nächsten Haushalte fröhlich und hoffnungsfroh
für die Berufsbildung gestalten können.
({7})
Wie wichtig die berufliche Bildung ist, zeigt sich
auch daran, dass nun plötzlich neben der Bildungspolitik
auch andere Politikbereiche erkannt haben, dass diese
wichtig ist. Die Wirtschaftspolitiker sagen: Wir müssen
etwas für die duale Ausbildung tun. Auch im Bereich
Arbeit und Soziales ist das ein wichtiges Thema.
Lassen Sie uns eins nicht vergessen: Wenn wir über
berufliche Bildung, auch im europaweiten Vergleich, reden, dann heißt das: Mobilität braucht Qualität. Das
heißt auch, dass wir für die Abschlüsse hier in Deutschland kämpfen müssen, damit sie auch im europäischen
Rahmen richtig bewertet werden. Nicht zuletzt - ich
sehe, meine Zeit reicht für diesen letzten Punkt mit Erlaubnis der Präsidentin noch aus - heißt das auch, dass
wir den Meisterbrief in Deutschland schützen müssen.
Es ist Grundvoraussetzung, dass wir in Europa eine Mobilität haben, die Qualität zur Basis hat.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Vielen Dank. - Das Wort hat jetzt Dr. Rosemarie
Hein, Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Verehrter Herr Dr. Feist, ich finde es schon interessant,
dass Sie diesmal eine sehr problemorientierte Rede gehalten haben,
({0})
wenngleich ich vieles nicht so fröhlich und hoffnungsfroh sehe wie Sie und auch auf andere Probleme hinweisen möchte.
({1})
In der Tat bietet die duale Berufsausbildung in der
Regel einen guten Start ins Berufsleben - da sind wir uns
einig -, wenn man denn einen Ausbildungsplatz bekommt. Eine Viertelmillion junger Menschen bekam im
vergangenen Jahr keinen Ausbildungsplatz, sondern
landete im Übergangssystem. Darum sollten wir vor lauter Stolz auch nicht übersehen, dass es in unserem
Berufsbildungssystem reichlich Defizite gibt, und diese
Defizite sind größer als das, was Dr. Feist eben angemahnt hat. Man kann nämlich einen Jugendlichen, der
sich trotz Schulabschluss mehrfach vergeblich um einen
Ausbildungsplatz bemüht hat, nicht erklären, warum
ausgerechnet er von dem Erfolgsmodell duale Berufsausbildung nicht profitieren kann.
({2})
Die entscheidenden Fehlstellen können Sie mit den
Hinweisen und Angeboten, die Sie eben gemacht haben,
wahrscheinlich nicht beseitigen, wiewohl ich schon annehme, dass manches von dem, was Sie eben vorgeschlagen haben, wichtig ist.
({3})
Ich will ein paar Fakten benennen:
Erstens. Über 10 Prozent der 18- bis 24-Jährigen hat
heute weder eine Hochschulzugangsberechtigung noch
eine Ausbildung und befindet sich auch nicht in Ausbildung. Das kann man nicht als Erfolg verkaufen.
({4})
Zweitens. Im Koalitionsvertrag steht geschrieben,
dass in Deutschland eine Ausbildungsgarantie umgesetzt
werden soll. Ich habe mich gefragt: Das klingt gut; aber
was soll das heißen? Wer garantiert jetzt wem was? Sollen Jugendliche einen Rechtsanspruch auf einen Ausbildungsplatz erhalten? Nein, so ist das nicht gemeint; denn
sonst hätten Sie ja unserem Antrag zustimmen können.
({5})
Sollen Unternehmen garantieren, dass sie ausbilden?
Nein, auch das ist nicht gemeint. Denn derzeit bildet nur
einer von fünf Betrieben aus, und es sieht nicht so aus,
als ob irgendjemand daran etwas ändern möchte. Will
der Staat jedem Jugendlichen eine Ausbildung garantieren? Nein, auch das ist nicht gemeint. Es geht vielmehr
wieder einmal um Programme, um zusätzliche Vorhaben, die man fördern kann.
({6})
Einige davon haben Sie ja genannt. Liebe Koalition, wer
solche Begriffe in einen Koalitionsvertrag hineinschreibt
und sie dann gar nicht umsetzen will, der begeht Vertragsbruch.
({7})
Drittens. Sie kommen ja nicht einmal weiter mit den
Gesprächen über eine Allianz für Aus- und Weiterbildung, an der nur neu ist, dass die Gewerkschaften mit
am Tisch sitzen, was auch wichtig ist.
({8})
Wenn Sie mit diesem Instrument, der Allianz für Ausund Weiterbildung, in dieser Legislatur noch irgendjemandem irgendetwas garantieren wollen, dann müssen
Sie endlich zu Potte kommen;
({9})
sonst bleibt es nämlich bei den Warteschleifen, bei den
Programmen und Progrämmchen, über die Sie wohl
schon selbst den Überblick verloren haben.
({10})
Viertens. Bitte, hören Sie auf, den Jugendlichen immer wieder einzureden, sie seien eigentlich selbst schuld
daran, dass sie keinen Ausbildungsplatz finden;
({11})
denn weil sie ihre zweite Chance nutzen müssten, hätten
sie ihre erste vertan. Nein, wenn von den 250 000 jungen
Leuten, die jetzt im Übergangssystem sind, drei Viertel
einen Schulabschluss besitzen, dann haben nicht sie ihre
erste Chance vergeben, sondern wir, die Gesellschaft,
haben ihnen keine Chance gegeben. Da Abhilfe zu
schaffen, liegt auf unserem Tisch, hier bei allen im Haus.
({12})
Fünftens. Wer nur auf das duale System schielt, handelt mindestens fahrlässig. Denn wenn ein Großteil der
etwa 200 000 jungen Leute in Berufsfachschulen ihre
Ausbildung selber bezahlen muss, dann hat das bundesdeutsche Berufsbildungssystem versagt.
Wenn angesichts zurückgehender Schülerzahlen irgendwann einmal die Physiotherapeuten knapp werden,
dann werden wir das schmerzlich am Rücken spüren. So
weit, finden wir, darf es nicht kommen. Darum fordern
wir Sie auf, die Selbstgerechtigkeit, mit der wir oft über
die berufliche Bildung in Deutschland reden, aufzugeben und die Dinge anzupacken, die wirklich angepackt
werden müssen. Vielleicht reden wir in einigen Monaten, wenn der nächste Berufsbildungsbericht da ist, wieder über das Recht auf Ausbildung.
Vielen Dank.
({13})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Rainer Spiering,
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Vor allen Dingen liebe
junge Menschen dort oben! Ich wollte eigentlich einen
anderen Auftakt wählen, wenn ich ehrlich sein soll, aber
Frau Dr. Hein, ich habe schon beim letzten Mal relativ
wenig von dem verstanden, was Sie gesagt haben. Sie
müssen in einem anderen Land leben als ich.
({0})
Ich bin wirklich von hoher Fassungslosigkeit geprägt.
Wenn Sie sich schon auf Zahlen beziehen: Es gibt die
neue OECD-Studie. Die OECD, die der Bundesrepublik
Deutschland beim Bildungsreport ja nicht unbedingt
wohlgesonnen gegenübersteht, bescheinigt der Bundesrepublik Deutschland jetzt den höchsten Erfolg beim
Abschluss Sek II. Schauen Sie einfach nach! Vor allen
Dingen bestätigt sie der Bundesrepublik Deutschland die
höchste Eingangsquote ins Berufsleben, in Arbeit und
Brot, von allen Ländern der Welt, nämlich über unser
duales Berufsausbildungssystem. Lesen Sie es einfach
nach!
({1})
Ich kann das, was Sie hier beitragen, ganz ehrlich eigentlich nur noch als eine verspätete verbale, ideologisch orientierte Attacke auf ein System wahrnehmen,
das Sie nicht wollen.
({2})
Eigentlich hatte ich die Rede auf die jungen Menschen gemünzt, die dort oben sitzen. Es tut mir leid, dass
ich jetzt ein bisschen aus der Haut gefahren bin.
({3})
Deswegen werde ich die Rede substanziell ein bisschen
ändern.
Ich glaube, wenn wir hier diskutieren, machen wir einen großen Fehler. Thomas Feist hat recht gut beschrieben, wie unsere Ausgangssituation ist. Ich für meinen
Teil habe den Eindruck, dass wir aus bestimmten Interessen heraus häufig viel mehr über die jungen Menschen sprechen als mit ihnen.
({4})
Wir reden über die Wertbeständigkeit unseres Schulsystems, darüber, welche Vorteile dieses Schulsystem hat.
Wir prangern immer wieder an - das höre ich in vielen
Reden -: Die Einmündungsquote in das duale System ist
zu niedrig. - Das mag faktisch richtig sein, aber dann
muss man hinterfragen, warum sie zu niedrig ist.
Ich habe mich in den letzten Wochen und Monaten
damit beschäftigt, zu hinterfragen: Was wissen wir eigentlich valide? Welche Forschungsergebnisse haben
wir zu der Frage, was junge Menschen bewegt, in ein
Ausbildungssystem zu gehen? Was mir zugänglich ist,
sind die Arbeiten des Bundesinstituts für Berufsbildung.
Aber das Institut fragt auch nicht die Interessenlage der
jungen Menschen ab; es argumentiert mit Zahlen. Ich
weiß, dass es die Shell-Jugendstudie gibt, die sich über
viele Jahre mit Interessen und Interessenbekundung junger Menschen auseinandergesetzt hat, also eine nachhaltige wissenschaftliche soziologische Studie ist. Aber ich
habe bis jetzt nirgendwo etwas zu der Frage finden können: Was ist eigentlich die Motivationslage der jungen
Menschen, ihren Werdegang zu ändern, den Weg zu
wählen, den sie wählen?
Ich bin in letzter Zeit aus unterschiedlichen Gründen
häufiger im Ausland gewesen; ich weise auf die USA
und die Ukraine hin. Dort gibt es eine unglaublich hohe
Jugendarbeitslosigkeit. Es besteht auch Perspektivlosigkeit in hohem Maß - übrigens mit all den politischen
Folgerungen, die das auch hat. Deswegen wäre mir
eigentlich sehr daran gelegen, dass wir uns in dem Rahmen, in dem wir heute sind, mit validen Forschungsergebnissen an Universitäten zu der Frage auseinandersetzen: Warum bewegt die Jugend sich heute so, wie sie
sich bewegt? Warum wählt die Jugend häufig den akademischen Weg, was ich völlig richtig finde? Was ich noch
richtiger fände, wäre, wenn die Jugendlichen ein breites
Spektrum an Angeboten hätten, die sie überprüfen könnten. Haben sie die? Haben sie die Auswahlmöglichkeit?
Haben wir die Möglichkeit, zu überprüfen, warum sie
was tun? Meine Erkenntnis ist: Wir wissen es nicht.
Mein deutlicher Appell: Lassen Sie uns universitäre
Forschung verstärken! Lassen Sie uns verstärkt endlich
wieder zu einer starken Berufsschullehrerausbildung an
unseren Universitäten kommen!
({5})
Thomas Feist hat die Frage der Berufsorientierung
angesprochen. Ich möchte noch einen Aspekt dazufügen.
Wir haben über das Erasmus-Programm eine sehr starke
Möglichkeit, Studentinnen und Studenten ins europäische Ausland und auch über den großen Teich zu bringen. Unsere Möglichkeiten, jugendliche Auszubildende
in europäische Nachbarstaaten zu bringen, sind dagegen
ausgesprochen gering. Wir haben ganz wenig Geld dafür. Das wird von den Handwerkskammern sowie Industrie- und Handelskammern über mobile Beratungsstellen
vermittelt. Ich möchte Sie alle intensivst bitten, mit uns
gemeinsam den Weg zu gehen, die Berufsorientierung zu
stärken und über mobile Beratungsstellen, die Handwerk
und Industrie anbieten, den jungen Menschen eine Perspektive im Ausland zu geben - mit all den Vorteilen,
die das hat. Ich glaube, das ist ein ehrenwertes Ziel.
Herzlichen Dank fürs Zuhören.
({6})
Vielen Dank. - Das Wort hat jetzt Beate WalterRosenheimer, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer!
Knapp fünf Monate ist es jetzt her, dass wir hier im Plenum den Berufsbildungsbericht 2014 der Bundesregierung debattiert haben. Alle Fraktionen dieses Hauses haben in der damaligen Aussprache ihre Konzepte,
Vorschläge und Ziele im Bereich der beruflichen Bildung vorgestellt. Jetzt ist es Zeit, Bilanz zu ziehen.
Ich muss Ihnen ehrlich sagen, dass ich - auch wenn
Sie, Herr Spiering, mich jetzt wahrscheinlich in einem
anderen Land wähnen - enttäuscht bin; denn wenig ist
seitdem gelungen. Schon Ihre damaligen Ausführungen
zum Berufsbildungsbericht waren - verzeihen Sie! eine Mischung aus Floskeln, Prüfaufträgen und Ankündigungen. Schon damals haben Sie uns gesagt, dass Ihnen das alles sehr wichtig sei und dass Sie jetzt loslegen
würden. Ich frage Sie heute: Wo ist denn nun die Allianz
für Aus- und Weiterbildung?
({0})
- Sie sind die Große Koalition, egal in welchem Ressort.
Hallo?
Wo ist Ihre so groß angekündigte Ausbildungsgarantie? Wo sind Ihre Initiativen, um den Übergangsbereich
zu lichten?
({1})
Wo sind die Maßnahmen, um benachteiligten Jugendlichen echte zielführende Perspektiven zu eröffnen? Wo
sind Ihre Programme, um den jungen Menschen so früh
wie möglich eine fundierte Berufsorientierung zu ermöglichen? Ich sage Ihnen - ich finde es wirklich bedauerlich -: Was Sie bisher vorgelegt haben, ist unbefriedigend.
({2})
Wir brauchen aber zufriedenstellende Antworten auf die
Frage, wie wir unser System der beruflichen Bildung für
die Zukunft fit machen können. Wir waren uns in den
Debatten zum Berufsbildungsbericht 2014 oft einig, dass
es darum geht, wie wir den jungen Menschen die besten
Chancen eröffnen und wie wir es schaffen, unsere Fachkräfte für morgen auszubilden. Die Probleme stehen
schwarz auf weiß dokumentiert im Berufsbildungsbericht. Wir kennen die entsprechenden Stichworte alle:
Verstetigung eines oft nicht zielführenden Übergangsbereichs, regionale Disparitäten, offene Ausbildungsstellen
und gleichzeitig eine hohe Zahl von Jugendlichen, die
keine Ausbildung finden. Das sind wahrlich keine kleinen Probleme, liebe Große Koalition.
({3})
- Ja, kümmern Sie sich darum. Das ist gut. Fangen Sie
an. Die Zeit läuft. Unsere Vorschläge kennen Sie. Sie
können gerne noch einmal unseren Bericht lesen.
({4})
- Ja, doch! - Kleine Schönheitskorrekturen werden hier
nicht zu einem guten Ergebnis führen.
({5})
Die Probleme haben sich inzwischen manifestiert. Deshalb sind, nebenbei gesagt, auch die unsinnigen Sparansätze im Haushaltsentwurf der Regierung bei der beruflichen Bildung höchst kontraproduktiv.
Ein Aspekt, der mir oft zu kurz kommt, ist die Qualität der Ausbildung. Alle Bemühungen der Wirtschaft,
die darauf abzielen, den Auszubildenden qualitativ
hochwertige Ausbildungsplätze anzubieten, begrüße ich
ausdrücklich; aber das ist keine Selbstverständlichkeit
mehr in diesem Land. Sie alle kennen den im September
vorgestellten Ausbildungsreport 2014. Ich bin der festen
Überzeugung, dass wir noch einmal genauer auf die dort
vorgestellten Ergebnisse schauen müssen. Wenn dort offen artikuliert wird, dass gesetzliche Vorgaben zum Beispiel im Jugendarbeitsschutzgesetz unterlaufen werden,
dann ist Handlungsbedarf gegeben.
({6})
Wenn dort weiter davon die Rede ist, dass einige Azubis
offensichtlich noch nicht einmal eine grundlegende Betreuung erfahren, ist doch der gesamte Sinn eines Lernverhältnisses infrage gestellt. Was fällt Ihnen in der Koalition denn zu diesem Thema ein?
({7})
- Galaxie! Anderes Land! Das haben wir heute schon
gehört.
Meine Position ist klar: Wer Jugendliche in der Ausbildung nicht ernst nimmt und denkt, an der Qualität der
Ausbildung sparen zu können, muss schleunigst zu einem Umdenken veranlasst werden. Das ist im Übrigen
für mich schlicht das Gebot der Stunde, auch wenn Sie
das in einem anderen Land wähnen. Auch die Arbeitgeberverbände wissen ganz genau, wie schwer es künftig
sein wird, Nachwuchs zu sichern. Ich begrüße ausdrücklich, wenn wir hier an einem Strang ziehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Großen Koalition, Sie merken, dass meine Bilanz für Sie nicht gut
ausfällt. Ich lege Ihnen noch einmal wärmstens ans Herz,
sich unseren Antrag anzuschauen und unseren Konzepten und Ideen zu folgen. Ganz einfach Augen zu und
sich wegducken gefährdet akut die Zukunft unseres Landes.
Danke.
({8})
Vielen Dank. - Das Wort hat jetzt Uda Heller, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Guten Abend, sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Vor allen Dingen, liebe Jugendlichen auf
den Tribünen, ich denke, wir behandeln heute ein sehr
wichtiges Thema für Sie! Ich kann nur sagen: Berufsplanung ist Lebenswegeplanung, individuelle Perspektive
und Möglichkeit der gesellschaftlichen Teilhabe.
Die derzeitige Situation in Deutschland im europäischen und internationalen Vergleich ist eine gute. Mit
dieser Feststellung möchte ich, verehrte Vorrednerin, auf
Ihre Ausführungen reagieren, weil Sie jeden Aspekt
schlechtgeredet haben. Das ist nicht Sinn einer solchen
Debatte. Sie sollten uns auch mitteilen, welche Vorstellungen Sie haben.
({0})
Wir verzeichnen mit 7,9 Prozent die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit in Europa.
({1})
Deutschland ist das drittbeliebteste Land unter den Studenten.
({2})
Rund Dreiviertel aller Auszubildenden sind mit ihrer
Ausbildung zufrieden oder sogar sehr zufrieden.
Mit dem Antrag der Koalition zeigen wir, dass wir
uns nicht auf dem Erreichten ausruhen, sondern die anstehenden Probleme erkannt haben und Lösungen aufzeigen. Deutschland steht durch den demografischen
Wandel vor einem ernstzunehmenden Problem auf dem
Ausbildungs- und Arbeitsmarkt.
Entscheidend ist es, die Attraktivität der beruflichen Bildung zu steigern, um unsere Jugendlichen für eine duale
Ausbildung zu gewinnen. Das gilt insbesondere für die
Mädchen, da sie mit einem Anteil von 39 Prozent noch
deutlich unterrepräsentiert sind. Wir wollen durch eine
individuelle Ansprache jeden mitnehmen und da abholen, wo er gerade ist, indem wir Barrieren ausräumen
und Übergänge erleichtern. Jeder hat eine faire Chance
verdient, auch Menschen mit Behinderung.
({3})
Durch eine noch bessere Verzahnung zwischen
Schule, Ausbildung, Beruf und Hochschule können breitere Beschäftigungsperspektiven und attraktive Karrieremöglichkeiten geschaffen werden. Wir wollen Unternehmen für die betriebliche Ausbildung gewinnen, vor allen
Dingen kleine und mittelständische Unternehmen.
Bei diesen Herausforderungen behalten wir die Ganzheitlichkeit der beruflichen Bildung und die jungen
Menschen als Zielgruppe im Blick. Für mich gibt es
zwei zentrale Schwerpunkte.
Erstens. Die Durchlässigkeit muss weiter optimiert
werden. Hier sind wir bereits auf einem guten Weg. Das
Programm „ANKOM“ ermöglicht die Anrechnung beruflicher Kompetenzen auf Hochschulstudiengänge. Die
Initiative „DECVET“ verbessert die Durchlässigkeit
zwischen den Teilsystemen der beruflichen Bildung. Wir
haben den Hochschulzugang über eine berufliche Qualifikation erleichtert und den Meister dem Bachelor
gleichgesetzt. 2014 wurden insgesamt 187 Millionen
Euro in das Meister-BAföG investiert.
({4})
Daraus lassen sich erste Erfolge durch den steigenden
Anteil der Erwerbstätigen mit Meister- und Technikerabschluss erkennen.
Zweiter Schwerpunkt ist für mich die Berufsorientierung. Wir haben heute 329 anerkannte Ausbildungsberufe und 7 500 Bachelorstudiengänge. Um hier den
Überblick zu gewährleisten, haben wir zahlreiche Programme aufgesetzt, die helfen, den Einstieg zu verbessern: zum Beispiel das Berufsorientierungsprogramm
„BOP“, das Ausbildungsstrukturprogramm „Jobstarter“
oder das Sonderprogramm „Berufseinstiegsbegleitung
Bildungsketten“.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, diese komplexen Maßnahmen gilt es nun zu evaluieren, zielführend zusammenzufassen und flächendeckend zu verstetigen. Darüber hinaus fordern wir in unserem Antrag eine
frühe und praxisnahe Berufs- und Studienorientierung an
allen allgemeinbildenden Schulen, aber auch an den
Gymnasien.
({5})
Denkbar ist zum Beispiel der Einsatz von Auszubildenden als Berufsbotschafter an Schulen; denn so findet Berufsberatung auf Augenhöhe statt.
Der Bund steht in der Berufsbildung nicht in alleiniger Handlungsverantwortung. Auch die Länder haben
die Priorität der Querschnittsaufgabe erkannt. Meine
Landtagskollegen haben beispielsweise ein Strategiepapier zur beruflichen Bildung erarbeitet. Hier stehen wir
im intensiven Gedankenaustausch zum Thema. Der konstruktive Dialog zwischen Bund und Ländern in der dualen Ausbildung ist notwendig und sicher auch noch ausbaufähig.
Meine Damen und Herren der Opposition, ich würde
mich sehr freuen, wenn wir heute nicht nur über den
grundsätzlichen Handlungsbedarf Einigkeit erzielen,
sondern wir mit Ihnen tatkräftige Mitstreiter bei der Umsetzung dieser Maßnahmen haben.
({6})
Ich lade Sie alle herzlich ein, unseren Antrag zu unterstützen und damit die Bildungspolitik in Deutschland zukunftssicher zu gestalten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Vielen Dank. - Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Willi Brase, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist die Aufgabe der
Opposition, darauf hinzuweisen, wo etwas möglicherweise nicht richtig klappt. Wenn ich mir aber den Haushalt des BMBF anschaue, in dem 65 Millionen Euro für
Berufsorientierung bereitstehen, und noch die BA-Mittel
in Höhe von 50 Millionen Euro hinzurechne, dann muss
man feststellen, dass wir allein 115 Millionen Euro dafür
ausgeben, dass Jugendliche eine vernünftige Orientierung erhalten. Da können Sie einmal schauen, was wir
hier auf den Weg bringen, sehr geehrte Damen und Herren.
({0})
Ich sage das deshalb, weil bei allen Debatten letztendlich klar sein muss, dass die Gründe, aus denen junge
Leute eine duale Ausbildung beginnen oder auch nicht
beginnen, häufig sehr unterschiedlich sind und von Region zu Region variieren. Ausbildungsmärkte sind regionale Märkte. Und weil sie regionale Märkte sind, werden
wir dafür sorgen, dass wir mit der Ausbildungsgarantie,
mit der assistierten Ausbildung und mit einigen wenigen
Maßnahmen endlich dazu kommen, dass möglichst allen
Jugendlichen ein vernünftiges und auch tatsächliches
Angebot in den Regionen gemacht werden kann.
({1})
Wir werden auch dafür sorgen, dass dieses regional
organisiert wird. Regionales Ausbildungsmanagement
ist richtig. Dort sind alle beteiligt. Es gibt das sehr gute
Beispiel der Jugendberufsagentur in Hamburg, einem sozialdemokratisch regierten Bundesland. Dieses wollen
wir bundesweit in den Ländern umsetzen.
({2})
- Ich habe noch ein bisschen Zeit, keine Sorge. - Das
zur Genese und dazu, wo es hier langgehen muss.
Wir werden aber ebenso über Folgendes zu diskutieren haben: Wenn das BAföG erhöht wird, dann wollen
wir auch das Meister-BAföG erhöhen. Warum? Das duale Ausbildungssystem als Einstieg bietet mit einem
Ausbildungsabschluss jederzeit die Möglichkeit, weiter
nach oben zu kommen. Sie können in dieser Ausbildungsstruktur die Aufstiegsfortbildung machen, Sie können den Meister machen - deshalb brauchen wir auch
die entsprechenden Erhöhungen -, Sie können den Fachwirt machen, Sie können danach zur Hochschule oder
zur Fachhochschule gehen. Ich sage ganz bewusst heute
Abend hier auch: Dieser Zweig ist genauso viel wert wie
der schulische oder hochschulische Weg. Dafür treten
wir ein, und dafür kämpfen wir.
({3})
Wir wissen aber - es ist gut, dass die Opposition darauf hinweist -: Ja, es gibt ein Übergangsproblem - einen Übergangsbereich; kein Übergangssystem -, das
sich entwickelt hat. In diesem Bereich - auch das sagen
wir leider seit Jahren; da hat Frau Hein recht - muss endlich positiv aufgeräumt werden. Welche Maßnahmen
brauchen wir, welche nicht? Wir sind sehr dafür, dass
wir die Einstiegsqualifizierung nutzen. Warum sollen
junge Leute, die manchmal - der eine mehr, die andere
weniger - Zeit für die Ausbildung brauchen, nicht bis zu
vier Jahre lang eine Einstiegsqualifizierung machen?
Wenn wir diesen jungen Menschen den direkten Einstieg
in einen Betrieb ermöglichen, damit sie danach eine
drei- oder dreieinhalbjährige Ausbildung beginnen können, dann ist das der richtige Weg. Dann können wir die
Ausbildungsgarantie auch erfüllen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Vielen Dank. - Wir kommen jetzt zur Abstimmung
über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung auf
Drucksache 18/2856.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der
Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/
1451 mit dem Titel „Berufliche Bildung zukunftssicher
gestalten - Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung
stärken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenprobe! - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD
gegen die Stimmen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/1454 mit dem Titel „Das Recht auf Ausbildung
umsetzen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung?
- Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU,
SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen
der Fraktion Die Linke angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/1456 mit dem Titel „Berufliche Bildung sichern - Jungen Menschen Zukunftschancen bieten“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der CDU/CSU, der SPD und
der Fraktion Die Linke gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen bei einigen Enthaltungen aus der
Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Agnieszka Brugger, Dr. Tobias Lindner, Doris
Wagner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Mehr Gerechtigkeit bei der Entschädigung
von Einsatzunfällen
Drucksache 18/2874
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Die Debatte wird von der Kollegin Agnieszka
Brugger, Bündnis 90/Die Grünen, eröffnet.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
möchte meine Rede mit der Schilderung eines Schicksals beginnen, das auf einem wahren Fall beruht, der Geschichte einer Soldatin, die in ihren Einsätzen im Kosovo Ende der 90er-Jahre und Anfang 2000
Traumatisches erlebt hat und heute unter einer schweren
Posttraumatischen Belastungsstörung leidet. Der Einsatzunfall hat sie völlig aus dem Leben gerissen, und auf ihrem Leidensweg fühlt sie sich alleingelassen. Anders als
ein Kamerad, der 2009 in Afghanistan Ähnliches durchgemacht hat und unter den gleichen Symptomen leidet,
bekommt sie keine einmalige Entschädigungszahlung,
obwohl auch sie dauerhaft arbeitsunfähig ist. Denn momentan bekommen nur Menschen, die nach dem Stichtag im Jahre 2002 in einem oder durch einen Einsatz versehrt wurden und dauerhaft zu über 50 Prozent
erwerbsunfähig sind, eine einmalige Unfallentschädigung von 150 000 Euro; Witwen und Witwer oder Kinder von getöteten Soldatinnen und Soldaten erhalten
100 000 Euro.
Die Bundeswehr ist seit Anfang der 90er-Jahre an internationalen Missionen beteiligt. Doch aufgrund des
willkürlich festgelegten Stichtags im Jahr 2002 erhalten
Soldatinnen und Soldaten, die unter einer Einsatzschädigung aus den Einsätzen beispielsweise in Kambodscha
oder im ehemaligen Jugoslawien leiden, nach der derzeitigen Regelung keine finanzielle Entschädigung. Das
Gleiche gilt für die Beamtinnen und Beamten, die im
Auslandseinsatz waren; ich will sie an dieser Stelle explizit erwähnen, weil sie oft aus dem Fokus geraten.
Meine Damen und Herren, wir sprechen hier von einem Betrag, der für die Betroffenen immense Symbolkraft hat und der auch dafür steht, ob sich der Staat, der
sie in einen Auslandseinsatz geschickt hat, für ihr körperliches und seelisches Wohl verantwortlich fühlt.
({0})
Es geht ihnen oft in erster Linie nicht um die finanzielle
Leistung, sondern vor allem um Wahrnehmung und Anerkennung. Die jetzige Stichtagsregelung ist daher eine
nicht zu rechtfertigende Ungleichbehandlung von Menschen, die bei Einsätzen der Bundeswehr körperlich und/
oder psychisch schwer versehrt wurden. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen auch von der Koalition, kann
nicht in unser aller Sinne sein.
({1})
Das Verteidigungsministerium als Dienstherr und das
Parlament haben an dieser Stelle eine besondere Verantwortung und eine Fürsorgepflicht. Denn egal wie man zu
bestimmten Auslandseinsätzen steht oder ob man sie,
wie die Linke, gar generell ablehnt, wir alle hier haben
eine Verantwortung für die Menschen, die das Parlament
mit seiner Mehrheit in einen gefährlichen Einsatz entsendet und die im schlimmsten Fall geschädigt zurückkehren.
Seit 2004 gab es genau drei Anläufe, die gesetzlichen
Regelungen zur Entschädigung von Einsatzunfällen zu
ändern. Gerade das Parlament hat insbesondere in der
letzten Legislaturperiode über die Fraktionsgrenzen hinweg viele Verbesserungen durchgesetzt. Das haben wir
gemeinsam, also alle hier vertretenen Fraktionen, auf
den Weg gebracht, an einigen Punkten auch gegen den
Widerstand aus der Regierung. Das waren sehr wichtige
Änderungen.
Es gibt keinen nachvollziehbaren Grund, warum
Menschen, die bei einem Einsatz der Bundeswehr erheblich geschädigt wurden, nur deshalb keine Entschädigung erhalten sollen, weil die Schädigung vor irgendeinem Stichtag erfolgt ist. Das Gleiche gilt für die
Hinterbliebenen von im Einsatz gestorbenen Soldatinnen
und Soldaten.
Wir Grüne haben die willkürliche und ungerechte
Stichtagsregelung schon bei den Beratungen zum Einsatzversorgungs-Verbesserungsgesetz im Jahr 2011 kritisiert. Nun hat auch das Ministerium das endlich erkannt,
und Frau Ministerin von der Leyen hat angekündigt,
dass sie im Rahmen des Artikelgesetzes zur Steigerung
der Attraktivität den Stichtag auf den 1. Juli 1992 zurückdatieren will. Das ist zwar ein Schritt in die richtige
Richtung, und der Kreis der Betroffenen wird dadurch
auch vergrößert, aber nach wie vor ist es ein willkürlich
gewählter Stichtag.
({2})
Wir fragen uns schon, wo dieses Gesetz eigentlich
bleibt, das ursprünglich für September angekündigt war.
({3})
Wann ist der Leidensweg der Betroffenen endlich zu
Ende, sodass sie nach vorne schauen können? Denn die
ewige Warterei ist für die betroffenen Menschen eine
Zumutung.
({4})
Wir Grüne sind der Auffassung, dass jeder Mensch,
der im Auftrag der Bundeswehr im Einsatz versehrt
wurde, das Recht hat, eine angemessene Entschädigung
zu erhalten, Stichtag hin oder her. Ebenso sollte es keine
Rolle spielen, ob die betroffenen Soldatinnen und Soldaten aktiven Dienst leisten oder Reservistinnen und Reservisten sind. Genau das fordern wir heute mit unserem
Antrag: Die uneingeschränkte Fürsorgepflicht des
Dienstherrn, sie muss unabhängig von Stichtag und Status sein.
({5})
Frau Kollegin Brugger, denken Sie an die Zeit?
Ich komme gleich zum Schluss. - Das Leid des einen
sollte nicht mehr wiegen als das Leid der anderen. Deshalb hoffen wir, meine Damen und Herren von der Koalition, dass Sie diese Idee nicht einfach vom Tisch wischen, nur weil sie von der Opposition kommt. Wir
laden Sie ein: Lassen Sie uns diese Ungerechtigkeit gemeinsam beseitigen! Wir bieten Ihnen gerne an, aus un5616
serem Antrag eine interfraktionelle Initiative zu machen;
denn das sind wir den Angehörigen der Parlamentsarmee
Bundeswehr schuldig.
({0})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Robert
Hochbaum, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee,
und sie ist eine Parlamentsarmee im Einsatz. Das ist die
Realität, und dessen müssen wir uns als Parlamentarier
jeden Tag bewusst sein.
Jeden Tag, an dem wir hier in Deutschland aufstehen,
ist ein Soldat in Afghanistan, am Horn von Afrika oder
anderswo an Land, in der Luft oder auf See im Dienst
und dient unter erheblichem persönlichem Einsatz unserem Land. Aktuell sind das fast 4 000 von ihnen, fernab
ihrer Heimat.
Unsere Soldatinnen und Soldaten verdienen unseren
tiefsten Respekt und ein Höchstmaß an Unterstützung.
Ihr Mut, ihr Einsatz und ihre Stärke können nicht hoch
genug bewertet werden. Darum möchte ich es nicht versäumen - das kann von dieser Stelle aus gar nicht oft genug getan werden -, ihnen für ihren aufopferungsvollen
Einsatz für ihr Land zu danken.
({0})
Ein jeder von ihnen trägt seinen Teil dazu bei, die jeweilige Mission zu erfüllen, eine Mission, in die wir sie
entsandt haben. Es ist daher unsere Pflicht und unsere
Verantwortung zugleich, unsere Soldatinnen und Soldaten unentwegt und nachdrücklich in ihren Aufgaben zu
unterstützen.
Wie viele von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen,
habe ich in den letzten Jahren im Rahmen von zahlreichen Besuchen bei der Truppe in den Einsatzgebieten
sehr konkret die erheblichen Gefahren, denen unsere
Soldatinnen und Soldaten ausgesetzt sind, vor Augen geführt bekommen. Fast jeder von Ihnen wird mir beipflichten: Darunter waren unzählige Gespräche und Situationen, die man so schnell nicht vergessen wird.
Wir alle denken sicherlich noch an das Sprengstoffattentat von Kabul im Juni 2013, bei dem durch einen Autobombenanschlag auf einen ISAF-Bus vier Bundeswehrsoldaten getötet wurden. Ebenso erinnern Sie sich
sicherlich an den Hubschrauberabsturz in Kabul im Dezember 2012, bei dem sieben Bundeswehrsoldaten und
viele afghanische Zivilisten ums Leben kamen. Natürlich denken wir auch an viele weitere schreckliche Vorkommnisse und deren Folgen.
Für mich erwächst daraus ein konkreter Auftrag für
uns alle, nämlich der Auftrag, sich auch mit den negativen Folgen der Einsätze und der Hilfe für die Einsatzgeschädigten der Bundeswehr auseinanderzusetzen. Dazu
gehört neben der entsprechenden Versorgung und der
Bereitstellung von Einsatzmaterial eben auch die Fürsorge gegenüber denjenigen, die an Körper und Seele
verwundet aus dem Einsatz zurückkehren.
Aus diesem Grund haben wir uns als CDU/CSU mit
verschiedenen Koalitionspartnern dieser Thematik bereits sehr früh angenommen, vor allem, nachdem wir
festgestellt hatten - Frau Brugger, Sie haben das angesprochen -, dass das auch von Ihnen, liebe Kolleginnen
und Kollegen der Grünen, im Jahr 2004 ins Leben gerufene Einsatzversorgungsgesetz bei weitem nicht ausreicht. Deshalb beschlossen wir im Jahr 2011 das Einsatzversorgungs-Verbesserungsgesetz und im Jahr 2012
das Bundeswehrreform-Begleitgesetz. Man sieht also:
Es wäre besser gewesen, wenn Sie, liebe Kolleginnen
und Kollegen von den Grünen, sich schon damals mehr
Gedanken über die Gesetzgebung gemacht hätten. Dann
wären die von uns aufgelegten Verbesserungen und auch
die heutige Debatte nicht erforderlich gewesen.
({1})
Wenn man sich den heute vorliegenden Antrag genau
anschaut, meint man, Sie hätten in den letzten Tagen
sehr aufmerksam Zeitung gelesen - Sie haben das angesprochen - und aus den Zeitungen bzw. bei uns abgeschrieben. Natürlich haben auch Sie inzwischen mitbekommen, dass unsere Ministerin mit einem neuen
Artikelgesetz - auch das wurde schon angesprochen demnächst weitere Verbesserungen plant.
({2})
Es scheint, Sie wollten wieder einmal auf den fahrenden
Zug aufspringen, wie so oft; doch Sie springen, wie so
oft, zu kurz. Die Regierung handelt bereits. Verbesserungen sind auf dem Weg. Eines können Sie mir mit Sicherheit glauben: Die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr werden in der Zukunft ebenso wie in der
Vergangenheit bei der Großen Koalition in guten Händen sein.
Herzlichen Dank.
({3})
Vielen Dank. - Für die Fraktion Die Linke spricht
jetzt Dr. Alexander Neu.
({0})
Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Frau
Präsidentin! Die Regelung einer einmaligen UnfallentDr. Alexander S. Neu
schädigung für Soldatinnen und Soldaten ist zu begrüßen. Das unterstützen auch die Linken.
({0})
Die Linke versteht und akzeptiert aber die Stichtagsregelung nicht. Als Stichtag ist der 30. November 2002 vorgesehen. Es handelt sich hierbei um eine Zweiklassenregelung - Frau Brugger hat das gewissermaßen genauso
bewertet -, die für die Geschädigten, die vor dem
30. November 2002 eine Verletzung erlitten haben, wie
Hohn klingen muss.
({1})
Sind Ihnen diese Menschen weniger wert? Ist Ihnen deren Leistung weniger wert als die Leistung derjenigen,
die nach dem 30. November 2002 eine Verletzung erlitten haben? Diese Fragen müssen Sie sich gefallen lassen. Die Stichtagsregelung zeugt von einem gewissen
Verständnis der politischen Entscheider in Bezug auf
Menschen, nämlich von einem instrumentellen Verständnis, und das lehnen wir ab.
({2})
Wenn die Bundesregierung in ihren verschiedenen
Konstellationen seit den 90er-Jahren meint, die Bundeswehr in die Welt schicken zu müssen, um international
Verantwortung zu übernehmen, dann muss sie auch die
volle Verantwortung für die Soldatinnen und Soldaten
übernehmen und darf sich nicht mit einer selektiven Verantwortung in Form von Stichtagsregelungen begnügen.
({3})
Abgesehen davon werden wir nicht müde, festzustellen, dass die Übernahme globaler Verantwortung nicht
mit militärischen Mitteln zu realisieren ist.
({4})
Mit militärischen Mitteln kann man keine Konflikte lösen, sondern maximal einen Frozen Conflict erzeugen.
Die Übernahme globaler Verantwortung mit zivilen Mitteln ist kostengünstiger, die Übernahme globaler Verantwortung mit zivilen Instrumenten ist effektiver, und die
Übernahme globaler Verantwortung mit zivilen Instrumenten ist nachhaltiger, da ursachenorientiert.
({5})
Nun zu den Grünen. Der Antrag mag ja gut gemeint
sein, Frau Brugger, aber er ist letztlich schwachbrüstig
und schlapp. Etwas bellen, aber dann nicht beißen - das
ist das, was ich daraus lese. Mit Ihrem Antrag springen
Sie in zweifacher Hinsicht zu kurz:
Erstens. Sie fordern eine Prüfung. Die Linke fordert
keine Prüfung, sondern sie fordert ein klares Ende der
Stichtagsregelung.
({6})
Der zweite Punkt, den ich moniere: Es kann doch
nicht nur darum gehen, Soldatinnen und Soldaten einzubeziehen. Es muss auch um zivile Kräfte gehen, die in
Auslandsmissionen, in UN-Missionen, OSZE-Missionen
und EU-Missionen, eingesetzt werden. Auch hier müssen Momente der sozialen Absicherung bei Unfällen und
Folgen von gewaltsamer Einwirkung gefunden werden.
Im Mai dieses Jahres kam es bei einem Selbstmordattentat im ostafrikanischen Dschibuti zu Verletzungen
von drei deutschen Experten im Rahmen der Mission
EUCAP Nestor. Das Auswärtige Amt, die Europäische
Union und EUCAP Nestor haben sich gewissermaßen
spontan und ohne große Hürden auf eine Finanzierung
für die drei verletzten Deutschen geeinigt. Aber eine
konkrete Regelung zur Absicherung fehlt immer noch.
Sie muss her. Das wäre die sinnvolle Ergänzung zum militärischen Bereich.
({7})
Mehr noch. Eine umfassende Regelung im Hinblick
auf soziale Absicherung umfasst drei Aspekte: eine Rentenabsicherung, eine Absicherung bei Berufsunfähigkeit
und eine Absicherung bei Arbeitslosigkeit nach Beendigung der Mission. Um eine effektive zivile Außenpolitik
mit ausreichend qualifiziertem und schnell verfügbarem
Personal unterfüttern zu können, sind diese Schritte unausweichlich. Nur dann kommt die Bundesregierung ihrer Fürsorgepflicht umfassend nach.
Ich danke Ihnen.
({8})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Dr. Karl-Heinz
Brunner, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen
und Kollegen! In diesen Tagen bereiten sich viele Freiwillige auf ihren Einsatz in Westafrika vor. Sie sind einem Aufruf gefolgt, bei der Bewältigung der schlimmsten Katastrophe, die die Menschen erreichen kann,
nämlich der Ebolaepidemie, zu helfen, das zu tun, was
getan werden muss, Erkrankte medizinisch zu versorgen,
Aufklärung zu betreiben, Sterbende zu begleiten und Familien und Angehörigen Beistand zu leisten. Dass sich
über 2 000 Soldatinnen und Soldaten gemeldet haben
und helfen wollen, zeigt, was für eine Truppe wir haben.
Darauf, so meine ich, können wir stolz sein, nein, dafür
müssen wir dankbar sein. Deshalb von mir und sicherlich auch im Namen des gesamten Hauses unseren Respekt, unsere Anerkennung und unseren aufrichtigen
Dank für Ihr Engagement, liebe Soldatinnen und Soldaten.
({0})
Mit Dank ist es aber nicht getan. Denn so, wie diese
Frauen und Männer unter Einsatz ihrer Gesundheit, ihres
Lebens für uns und für die Erkrankten ohne zu fragen
Verantwortung übernehmen, so ist es unsere verdammte
Pflicht, diese Verantwortung auch ihnen gegenüber zu
übernehmen. Daher ist es gut, dass mit dem heutigen
Prüf- und Berichtsauftrag der Grünen an die Bundesregierung zur Entschädigung der Soldatinnen und Soldaten,
aber ebenso der Zivilbeschäftigten in der Bundeswehr
diese Verantwortung wieder in den Fokus genommen
wird.
Jedoch, so glaube ich, geht es eben nicht nur darum,
Soldatinnen und Soldaten, Reservistinnen und Reservisten und Zivilbeschäftigte gleich zu behandeln und Gerechtigkeit herzustellen, wie es im Antrag steht. Nein, es
geht auch darum, ein Signal zu setzen, das Signal: Wir
sind für euch und eure Familien da, genauso, im gleichen
Maße, wie ihr für Deutschland da seid; nicht nur den Rücken freihalten, ganz einfach da sein.
Genau deswegen haben wir das sogenannte Wehrdienstbeschädigungsverfahren bei Einmalentschädigungen schon vereinfacht. Genau deswegen haben wir in
den letzten Haushaltsberatungen eine neue Stichtagsregelung eingefordert, die vorsieht, dass auch Einsatzunfälle von vor 2002, etwa bei den Einsätzen im ehemaligen Jugoslawien, dazu zählen. Genau deshalb wird es als
Attraktivitätssteigerung der Bundeswehr in dem Artikelgesetz stehen, das zur Vorlage kommen wird.
({1})
Meine Kolleginnen und Kollegen, ich spreche aus der
Erfahrung im Stiftungsrat der Härtefallstiftung. Haupthindernis für eine schnelle und gute Gewährung von Hilfe
und Versorgungsleistungen für Menschen bei der Bundeswehr ist fast nie der Unwille. Es ist auch selten die
strenge Auslegung der Gesetzeslage, und es ist selten
fehlendes Geld. Haupthindernisse sind fehlendes Personal, die lange Bearbeitungsdauer und manchmal mangelnde Sensibilität. Deswegen haben wir bei der Härtefallstiftung übrigens auch zugehört und zusätzliche
Stellen geschaffen.
({2})
Ich spreche aus Erfahrung, wenn ich Ihnen sage: Es geht
nicht um die Höhe der Entschädigung, sondern es geht
darum, ernst genommen zu werden und Anerkennung zu
erhalten. Diese wollen, ja müssen wir den Soldatinnen
und Soldaten geben. Verantwortung heißt mehr, als juristisch richtig zu liegen; Verantwortung heißt letztendlich,
das Richtige zu tun. Konkret, meine Kolleginnen und
Kollegen, heißt dies, durch vernünftige Entschädigungsregeln, unbürokratische Bearbeitung und vielleicht - unsere Ebolahelfer hätten es verdient - eine eigens hierfür
zu schaffende Auszeichnung unseren Respekt zu zeigen.
({3})
All dies gehört dazu, wenn wir die Attraktivität unserer Bundeswehr steigern wollen. Ich sage: Dies ist bei
der Ministerin, die wir Sozialdemokraten dabei gerne
unterstützen, und bei uns, bei der SPD, gut aufgehoben.
Wir tragen als Mitglieder des Bundestages und als Bürger unseres Landes eine große Verantwortung, nicht nur
gegenüber der Welt, sondern auch zu Hause. Ich freue
mich auf die Beratungen. Ich glaube, dass wir gemeinsam zu guten Ergebnissen kommen, dieser Verantwortung gerecht zu werden.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Julia Bartz,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Am 24. September eröffnete unser Bundestagspräsident Norbert Lammert die Ausstellung „Operation Heimkehr“. Im Paul-Löbe-Haus sind immer noch
die Fotoaufnahmen von Soldatinnen und Soldaten zu sehen, die von Auslandseinsätzen zurückgekehrt sind. Hieraus zitiere ich Hauptfeldwebel Holger Roßmeier, der
traumatisiert aus Afghanistan zurückkam:
Früher war ich jemand, der immer alles hinbekommen hat, einer, auf den man sich hundertprozentig
verlassen konnte. Und plötzlich schaffte ich es nicht
einmal mehr, morgens aufzustehen. Ich wollte aber
nicht als Weichei dastehen. Deshalb habe ich jede
Therapie zunächst abgelehnt.
Wir alle wissen: Auslandseinsätze können traumatisch sein. Die Erfahrungen, Erlebnisse und Eindrücke
haben häufig langfristige Folgen, die teilweise erst später zutage treten. Es sind oft kurze Momente, die sich
tief in die Seele einbrennen. Als Entscheider über Auslandseinsätze hat der Deutsche Bundestag eine besondere Verantwortung gegenüber denjenigen Soldatinnen
und Soldaten, die mit einer Einsatzschädigung nach
Hause zurückkehren.
In Afghanistan haben wir schmerzhafte Erfahrungen
machen müssen, aus denen wir aber die richtigen Konsequenzen gezogen haben: Posttraumatische Belastungsstörungen wurden als Einsatzschädigung anerkannt, und
die medizinische Behandlung wurde ausgebaut. Wir haben aus den Einsatzerfahrungen am Hindukusch gelernt
und die Versorgung unserer Soldatinnen und Soldaten
entsprechend angepasst:
2004 wurden mit dem Einsatzversorgungsgesetz die
Versorgungsleistungen für Soldaten im Auslandseinsatz
verbessert. Damals wurde auch der Stichtag 1. Dezember 2002 festgeschrieben.
Mit dem Einsatz-Weiterverwendungsgesetz von 2007
haben Soldatinnen und Soldaten sowie Zivilbeschäftigte,
die während eines Auslandseinsatzes schwer verwundet
wurden, ein Anrecht auf Weiterbeschäftigung bekommen.
Mit dem Einsatzversorgungs-Verbesserungsgesetz
von 2011 haben wir die Versorgung von Einsatzgeschädigten und Hinterbliebenen weiter verbessert. Die
Entschädigungsleistung für Betroffene haben wir von
80 000 Euro auf 150 000 Euro fast verdoppelt.
({0})
Auslandseinsätze der Bundeswehr sind mit einem Risiko für unsere Soldatinnen und Soldaten behaftet. Wir
sichern ihnen deshalb die bestmögliche Ausstattung und
die bestmögliche Versorgung zu. Dies gilt erst recht für
Verwundete. Viel Positives wurde in den vergangenen
Jahren in diesem Bereich umgesetzt, und wir haben viel
in die Sicherheit und Versorgung unserer Soldatinnen
und Soldaten investiert.
An dieser Stelle möchte ich ausdrücklich auch die
Arbeit der katholischen und evangelischen Militärseelsorger hervorheben. Sie kümmern sich sowohl im Einsatzgebiet als auch in den Heimatgebieten um unsere
Truppe, die Rückkehrer und die Familien. Als moralischer Anker für unsere Soldatinnen und Soldaten leisten
sie einen wichtigen Beitrag zum Gelingen der Auslandseinsätze.
({1})
Auch die Psychosozialen Netzwerke und Familienzentren sind eine wichtige Anlaufstelle für Einsatzrückkehrer und deren Angehörige.
Frau Kollegin Bartz, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Brugger?
Ja, bitte.
Bitte schön.
Vielen Dank, Frau Präsidentin, vielen Dank, Frau
Kollegin Bartz. - Ich höre den Reden sehr aufmerksam
zu, Ihrer Rede, Frau Bartz, und auch der von Herrn
Hochbaum. Ich habe von der Union jetzt aber noch nicht
vernommen, ob Sie uns zustimmen und das Anliegen
unterstützen, den Stichtag einfach aufzuheben und damit
alle geschädigten Soldatinnen und Soldaten gleich zu behandeln. Oder finden Sie, dass mit der Rückdatierung
des Stichtages, der dann am Ende immer noch willkürlich gewählt ist, die Arbeit getan ist? Ich möchte wirklich gerne hören, wie sich die Union zu diesem Vorschlag konkret positioniert.
Bitte gedulden Sie sich noch einen Moment. Darauf
werde ich im weiteren Verlauf meiner Rede noch eingehen.
({0})
Wir setzen uns weiterhin für die Verbesserung der
Versorgung von Einsatzgeschädigten ein. Erst gestern
haben wir im Verteidigungsausschuss zwei entsprechende Anträge eingebracht. Wir wollen die Familien
von PTBS-Betroffenen bei der Betreuung und Therapie
noch stärker einbinden und die Lotsen besser ausstatten.
Auch Ihr Antrag, liebe Kollegin Brugger, spricht ein
wichtiges Anliegen an: die Entschädigung bei Einsatzunfällen. Nach der derzeitigen Rechtslage gelten die Regelungen für einmalige Einsatzentschädigungen erst für
Unfälle ab dem 30. November 2002. Nun war bekanntermaßen die Bundeswehr auch vor dem Afghanistan-Einsatz bereits an Auslandseinsätzen beteiligt. Wir wollen
diese Gerechtigkeitslücke jetzt schließen.
Wie Sie sicherlich wissen, haben wir das Problem bereits erkannt und werden es im Zuge des Bundeswehrattraktivitätsgesetzes lösen. Ihr Antrag ist somit eigentlich
hinfällig, da er bereits auf Regierungshandeln trifft.
({1})
Geplant sind die Einbringung des Gesetzes noch in diesem Jahr und eine zügige Umsetzung im ersten Quartal
2015.
({2})
Wir Parlamentarier - insbesondere spreche ich hier
für die CDU/CSU-Fraktion - stehen auch hier ganz klar
an der Seite unserer Bundeswehr. Wir lassen unseren
Soldatinnen und Soldaten die bestmögliche Ausrüstung
und größtmögliche Unterstützung zukommen. Wir sind
stolz auf unsere Soldatinnen und Soldaten und zutiefst
dankbar für ihren Einsatz.
({3})
Vielen Dank. - Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/2874 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Zweiten Gesetzes zur Änderung des Bundesfernstraßenmautgesetzes
Drucksachen 18/2444, 18/2657
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr und digitale Infrastruktur ({0})
Drucksache 18/2857
- Bericht des Haushaltsausschusses ({1}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Drucksache 18/2858
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr und digitale
Infrastruktur ({2}) zu dem Antrag der
Abgeordneten Dr. Valerie Wilms, Stephan Kühn
({3}), Oliver Krischer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Lkw-Maut nachhaltig und ökologisch ausrichten
Drucksachen 18/1620, 18/2857
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. Sind Sie damit
einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist
so beschlossen.
Das Wort hat der Kollege Florian Oßner, CDU/CSUFraktion.
({4})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Vor allem liebe Kolleginnen der Grünen! Bezüglich Ihres Antrages: Sie werden einfach nicht müde,
({0})
die gleichen ideologischen und populistischen Phrasen
immer und immer wieder vorzutragen. Aber auch ständige Wiederholungen machen falsche Hypothesen nicht
wahr.
({1})
Phasenweise sind auch eklatante Widersprüche in Ihrem Antrag auszumachen. So wird zum Beispiel vor einer Differenzierung bei den Mautgebühren zwischen
Autobahnen und Bundesstraßen gewarnt; denn man
wolle die ländlich geprägten Regionen nicht weiter belasten. Für mich als Bayer ist das von ganz besonderer
Bedeutung. Das wäre definitiv ein richtiger Ansatz,
wenn nicht zwei Sätze davor verlangt würde, dass der
Druck zur Verlagerung auf Schiene und Schiff erhöht
werden solle, sprich: Die Mautgebühren für Straßen sollen signifikant angehoben werden.
({2})
Gerade das bedeutet eine Mehrbelastung des ländlichen
Raums. Das ist aus meiner Sicht an Widersprüchlichkeit
wirklich nicht zu überbieten. Das ist mit uns nicht zu
machen.
({3})
Zudem ist es nicht zielführend, dass ständig Schiene
und Straße gegeneinander ausgespielt werden nach dem
Motto: Die Schiene ist gut, und die Straße ist böse.
({4})
Derartiges Schubladendenken der Grünen hat in einer
vernünftigen und gesamtheitlichen Verkehrspolitik wirklich nichts zu suchen. Wir sagen deshalb: Die Schiene ist
gut, und die Straße ist gut.
({5})
Fakt ist auch, dass der Antrag der Grünen teilweise
nur das wiederholt, was wir bereits umgesetzt haben
oder was wir in Kürze umsetzen werden.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Änderung
des Bundesfernstraßenmautgesetzes entwickeln wir die
Lkw-Maut zukunftsfest und vor allem ökologisch sowie
nachhaltig weiter. Wir reformieren die Lkw-Maut im
Einklang mit dem europäischen Recht. Wir werden dem
Schwerlastverkehr die durch ihn verursachte Luftverschmutzung anrechnen.
({6})
Zu einem späteren Zeitpunkt wird auch die Anrechnung
der Lärmbelastung dazukommen. Hierfür müssen jedoch
noch die Grundlagendaten neu erhoben werden.
({7})
Durch die Einführung einer eigenen, günstigen Mautklasse - der Euro-6-Norm - schaffen wir Anreize, in einen modernen, verbrauchs- und schadstoffarmen Fuhrpark zu investieren. Liebe Grüne, das ist bereits
nachhaltige und ökologische Verkehrspolitik,
({8})
und nicht nur das: Es ist auch verantwortungsvolle
Wirtschaftspolitik. Dafür stehen wir als CSU.
({9})
- Natürlich auch die CDU.
({10})
Zudem werden wir als Union da, wo es sinnvoll ist,
die Verlagerung von Verkehr auf die Schiene fördern.
Wir wissen, dass die Bahn eines der umweltfreundlichsten Verkehrsmittel ist.
({11})
- Nur die Ruhe! - Wir wissen aber auch - das darf man
in dieser Diskussion nicht vergessen -, dass mit der
Schiene nicht alle Probleme gelöst werden können. Sie
ergibt bei längeren Strecken und größeren Gütermengen
Sinn. Es bringt somit nichts, den Lkw aus ideologischen
Gründen zu verteufeln.
({12})
Wir sind uns aber auch darüber im Klaren, dass der Lkw
seinen Beitrag zur Nutzerfinanzierung leisten muss. Die
Einnahmen der Lkw-Maut sind zweckgebunden für unsere Verkehrswege.
({13})
Das neue Wegekostengutachten erzwingt Mindereinnahmen von 460 Millionen Euro von 2015 bis 2017. Wir
passen deshalb die Verkehrspolitik immer wieder an
neue Gegebenheiten an. So wird zum 1. Juli 2015 die
Lkw-Maut auf weitere rund 1 100 Kilometer vierspurige
Bundesstraßen ausgeweitet. Des Weiteren werden wir
die Mautpflichtgrenze von 12 Tonnen auf 7,5 Tonnen
absenken. Damit wollen wir die Nutzerfinanzierung weiter ausbauen und stärken.
({14})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich denke, es
herrscht parteiübergreifend Konsens in diesem Haus,
dass es eine der großen Aufgaben in dieser Legislaturperiode sein wird, eine leistungsfähige Infrastruktur in
unserem Land sicherzustellen.
({15})
Wir als Verkehrspolitiker der CDU/CSU sind uns mit
den Koalitionspartnern dieser besonderen Verantwortung auch in der Vergangenheit immer bewusst gewesen.
({16})
Deshalb haben wir bereits in der letzten Legislaturperiode mit unserem damaligen Bundesverkehrsminister
Dr. Peter Ramsauer und jetzt mit unserem Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt große Anstrengungen
unternommen, um zusätzliche Mittel für eine moderne,
sichere und leistungsstarke Verkehrsinfrastruktur zu generieren,
({17})
unter Anwendung des Prinzips des Finanzierungskreislaufs. Auch die nachhaltige und ökologische Ausrichtung der Lkw-Maut
({18})
haben wir dabei fest im Griff. Daher würde ich mir statt
vermeintlich guter Ratschläge und populistischer Anschuldigungen der Grünen in dieser Thematik einfach
ein Stück weit mehr Pragmatismus statt Ideologie wünschen.
({19})
Herr Kollege, Sie denken an die Zeit!
Ich bin beinah am Ende. - Aus den genannten Gründen werden wir daher dem Antrag der Grünen nicht zustimmen. Ich werbe für den Antrag der Koalitionsfraktionen.
Ein herzliches Vergelts Gott fürs Zuhören.
({0})
Vielen Dank, Herr Kollege Oßner. - Nächster Redner
ist der Kollege Thomas Lutze, Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Da muss man ja schon fast ein schlechtes Gewissen haben, wenn man jetzt nach dem Schluss Ihrer Rede hier
am Pult steht.
Aber zur Sache: Eine Lkw-Maut muss so angelegt
sein, dass sie einen wirksamen Beitrag zur Finanzierung
des Straßenverkehrs leistet.
({0})
Deswegen war es richtig, dass sie 2005 eingeführt
wurde. Richtig ist auch, dass nach zehn Jahren eine weitere Reform kommt. Aber die Vorlage der Regierung
- es tut mir leid; auch Ihre Rede konnte mich insofern
nicht überzeugen - ist völlig unzureichend und geht in
vielen Punkten am Thema vorbei.
({1})
Statt zum Beispiel weiter mit irgendwelchen dünnen
Public-Private-Partnership-Finanzierungen zu arbeiten,
sollte in der Verkehrspolitik endlich ein echtes Verursacherprinzip Einzug halten. Wussten Sie eigentlich, dass
die Belastung durch einen beladenen 40-Tonner für Stra5622
ßen und Brücken rund 60 000 Mal höher ist als durch einen 1 Tonne schweren Pkw? Im Schnitt kommen auf
Autobahnen zurzeit rund 20 Pkw auf einen Lkw.
Wie sieht die Realität aus? Trotz der Maut ist es für
viele große Spediteure offenbar billiger, mit Lkw vom
Mittelmeer über die Autobahn an die Nordsee zu fahren,
statt die Bahn oder ein Schiff zu benutzen. Wir brauchen
aber eine Maut, die sich an den tatsächlichen Kosten des
Fernverkehrs auf der Straße orientiert.
({2})
Eine neue Maut sollte für unsere Begriffe auch endlich Anreize schaffen. Sie haben es angedeutet, allerdings in die Zukunft verschoben. Aber für einen Spediteur muss es lohnenswert sein, wenn seine Lkw-Flotte
weniger Abgase produziert. Es muss für einen Lkw-Spediteur lohnenswert sein, wenn seine Lkw weniger Lärm
produzieren. Dazu machen die Grünen vernünftige Vorschläge, denen wir als Linke zustimmen.
({3})
Letztendlich muss eine Lkw-Maut so angelegt sein,
dass der Gütertransport im Fernverkehr auf der Straße
nicht die Regel ist, wie es derzeit der Fall ist, sondern
eine Ausnahme darstellt.
({4})
Lösen Sie sich endlich von der einflussreichen Lobby einiger weniger Großkonzerne im Speditionsbereich!
Wenn Sie Brücken und Straßen reparieren wollen, dann
brauchen Sie viel Geld.
({5})
Statt aufwendig zu überlegen, wie Sie mit einer PkwMaut Millionen Berufspendlerinnen und Berufspendler
abzocken können, müssen Sie verursachergerecht besteuern. Dann haben vielleicht auch regionale Produkte
wieder eine Chance auf dem Markt.
({6})
Es kann doch nicht sein, dass nach wie vor Äpfel aus
Nordafrika billiger sind als Äpfel aus dem eigenen Bundesland.
Wir als Linke lehnen den Vorstoß der Regierung ab
und sagen Ja zu der Gesetzesinitiative der Grünen.
Vielen Dank.
({7})
Für die Sozialdemokraten spricht jetzt der Kollege
Sebastian Hartmann.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Kein Donnerstagabend ohne Lkw-Maut. Es ist wieder so
weit, und auch das Stichwort Pkw-Maut darf nicht fehlen. Es wird ebenso wie die Frage der ausreichenden
Einnahmen regelmäßig angesprochen.
Aber was beraten wir heute tatsächlich? Wir wollen
heute die Änderung des Bundesfernstraßenmautgesetzes
beschließen. Darauf möchte ich mich in meinen Ausführungen konzentrieren.
({0})
- Die CSU ist begeistert. Danke, Herr Kollege. Wir können uns auch an der Sachpolitik und an den Realitäten
orientieren, statt allgemeine Ausführungen zu machen,
die heute Abend gar nicht zur Diskussion stehen.
Hinter uns liegen gute Beratungen. Wir haben eine
spannende Anhörung von Expertinnen und Experten
durchgeführt, und wir haben damit einen wichtigen Beitrag zur Weiterentwicklung der Maut geleistet.
Tatsächlich erhebt Deutschland einen Beitrag von
schweren Lkw. Dieser orientiert sich nicht an irgendetwas, sondern an der Berechnung eines wissenschaftlichen Wegekostengutachtens. Das wird nicht einfach im
Raum stehen gelassen - das reicht nicht aus -, sondern
wir werten es auch politisch. Damit kann sich das Gewerbe auf eine verlässliche und berechenbare Umsetzung dieser entsprechenden Erkenntnisse verlassen. Darauf hat das Gewerbe einen Anspruch, und darauf
müssen wir im Interesse unseres Landes auch dringend
achten.
Daher fällt die Senkung der Mautsätze nicht vom
Himmel, sondern sie ist das Ergebnis dieser Systematik.
Wir orientieren uns an den tatsächlichen Wegekosten
bzw. daran, was wissenschaftlich ermittelt worden ist,
aber wir übernehmen es nicht unpolitisch. Denn wir haben darauf geachtet, dass wir bei den Bundesstraßen und
Bundesautobahnen nicht willkürlich entscheiden, sondern auch beachten, was das für Auswirkungen haben
kann. Denn wir wollen nicht, dass entlegene Regionen
einfach abgehängt werden und damit Erreichbarkeitsdefizite noch weiter verschärft werden. Darauf können sich
alle verlassen.
({1})
Wir werden uns aber an einigen Stellen dem zugrunde
liegenden EU-Richtlinienregime zuwenden müssen. Tatsächlich ist es ein Problem, wenn wir uns aufgrund der
niedrigen Kapitalverzinsung bzw. der niedrigen Zinsen
daran orientieren müssen, das hier gebundene Kapital
abzubilden. Ironie der Geschichte ist, dass sich die Verkehrsmenge, die für die Einnahmen ursächlich sein
muss, nicht wesentlich verändert hat. Auch das Gegenargument, dass wir niedrigere Baukosten bei der Wiederherstellung verschlissener Straßen zu verzeichnen haben,
reicht nicht aus, um die Abbildung dieses Effekts zu
rechtfertigen. Das ist einer der Punkte, an dem wir die
Maut zukünftig dringend weiterentwickeln müssen.
Zunehmender Verkehr bedeutet zunehmenden Verschleiß. Doch das ist ein klassischer Zielkonflikt. Denn
jede Maut hat zwei Ziele: Auf der einen Seite wollen wir
dauerhaft verlässliche Einnahmen erzielen, um unsere
Infrastruktur auf gutem, europaweit hohem Niveau zu
erhalten. Auf der anderen Seite entfaltet jede Maut eine
ökologische, ökonomische und möglicherweise auch
eine soziale Lenkungswirkung. Das sind Zielkonflikte.
Die Ziele stehen miteinander in Konkurrenz. Wenn wir
zu erfolgreich sind, weil sich die ökologische Lenkungswirkung entfaltet, weil beispielsweise die Spediteure
ganz bewusst in umweltfreundlichere Lkw investieren,
die weniger Luftbelastung und Lärmbelastung verursachen, und ihre Flotten so umstellen, dass Umwelt und
Anwohner geschont werden, dann erzielen wir automatisch weniger Einnahmen. Wir sind dann Opfer des eigenen Erfolgs und befinden uns in einem klassischen Zielkonflikt, weil wir darauf angewiesen sind, dauerhaft
hohe Investitionen, zu denen die Einnahmen aus der
Lkw-Maut neben der Steuerfinanzierung zu einem Drittel beitragen, in die deutsche Infrastruktur zu tätigen.
({2})
- Der Donnerstagabend dient dazu, einiges aufzuklären,
auch wenn es zuvor hoch herging. Da kann man sich
dann in Nordrhein-Westfalen auf pragmatische Art dem
nähern, was der Kollege Oßner aus Bayern so schön eingeleitet hat.
({3})
Tatsächlich verbleiben 460 Millionen Euro weniger
an Einnahmen. Das liegt aber nur daran, dass wir uns auf
den Weg gemacht haben, die Maut entsprechend weiterzuentwickeln. Bei uns ist das nicht nur Theorie. Wir lasten die externen Kosten tatsächlich an. Wir kümmern
uns um die Luftschadstoffbelastungen. Auch hier muss
die EU-Richtlinie dringend weiterentwickelt werden.
Wir können bislang nur 13 Prozent anlasten. Wir werden
uns zukünftig auch um den Aspekt Lärm kümmern.
Doch hier ist die EU-Richtlinie so kompliziert aufgestellt, dass wir zuerst ein Lärmkataster erstellen müssen.
Da das einen enormen Kostenaufwand erforderlich
macht, müssen wir uns fragen, ob das nicht einfacher
und günstiger geht.
Tatsächlich werden wir zwei wesentliche Schritte gehen, indem wir im nächsten Jahr die Maut vertiefen und
verbreitern werden. Wir werden mehr Tonnage und vierstreifige Bundesstraßen in die Bemautung einbeziehen.
Das wird im Gegensatz zu den Schritten, die wir nun gehen, eine wirkliche Ausweitung bedeuten. Auch hier
werden wir als Koalition nicht innehalten. Tatsächlich
sind weitere 30 000 Kilometer Bundesstraße fest eingeplant. Wir werden das so ausgestalten, dass es rechtssicher und verlässlich ist. Wir werden alles tun, um 2018
wiederum einen höheren Beitrag zur Finanzierung der
deutschen Infrastruktur zu erreichen.
({4})
Das ist kein Selbstzweck. Wir brauchen dauerhaft hohe
Investitionen in unsere Infrastruktur. Wir werden das auf
einem Weg machen, der sich an den tatsächlichen Gegebenheiten orientiert und nicht nur an Theorie und gutachterlichen Erkenntnissen, die in der EU-Richtlinie
nicht abgebildet sind. Das ist etwas, wozu ich ernsthaft
einlade.
Die Linke hat für heute Abend angekündigt - deshalb
musste dieser Punkt aufgerufen werden -, einen weiteren wesentlichen Aspekt in die Debatte einzubringen.
Sehr geehrter Kollege von der Linken, Ihre Rede ist
zwar beendet, aber diesen wesentlichen Aspekt habe ich
nicht erkennen können.
({5})
- Dann sind wir schon mehrere. - Vielleicht liegt es daran, dass Sie keine Zeit hatten, diesen Aspekt einzubringen. Wir laden Sie zu Folgendem ein: Wenn Sie den
Grünen zustimmen und ihren Weg mitgehen, dann müssen Sie den Weg der Großen Koalition - sie ist auf einem
sehr guten Weg, was die Fortentwicklung der Lkw-Maut
angeht - auch mitgehen. Denn der umfasst einige
Punkte, den die Grünen benannt haben. Daher gehe ich
nach Ihrem Beitrag von Ihrer Zustimmung zur Änderung
des Bundesfernstraßenmautgesetzes aus.
Vielen Dank.
({6})
Für Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin
Dr. Valerie Wilms.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Das war ein sehr engagierter Beitrag von Ihnen, Kollege
Oßner. Normalerweise bin ich ja für diese Einlagen bei
unseren Donnerstagabendsitzungen immer zuständig.
Aber es wäre auch noch ganz gut gewesen, wenn nicht
nur so eine Klamauknummer dabei herausgekommen
wäre, sondern wenn auch noch ein bisschen Inhalt gekommen wäre.
({0})
Aber jetzt zu dem Gesetzentwurf, über den wir heute
reden. Der vorliegende Gesetzentwurf ist wirklich ein
besonderer Fall; denn hier gilt das Struck’sche Gesetz
nicht. Dieses Gesetz wird ohne jede Änderung verabschiedet. Weder Bundesrat noch Bundestag haben etwas
beanstandet. Das kennen wir sonst überhaupt nicht. Das
Gesetz wird so durchgewunken, wie es von der Bundesregierung geschrieben wurde. Als Begründung verstecken sich die Befürworter nämlich hinter einer EURichtlinie.
Gleichzeitig hadern wir aber alle mit dem Ergebnis,
das dabei herauskommt; denn die Lkw-Maut wird sinken. Wir haben also weniger Einnahmen. Was passiert
draußen, in der Praxis? Die Infrastruktur bricht uns immer mehr zusammen, sie bröselt weg. Nicht einmal
Spediteure können sich richtig freuen; denn die Preissenkung werden sie zum größten Teil an ihre Kunden im
Handel und produzierenden Gewerbe weitergeben müssen. Endverbraucher werden überhaupt nichts merken.
Der Anteil der Mautkosten an einem Endpreis ist nämlich viel zu gering. Das merkt niemand beim Einkauf.
Fehlen wird aber am Ende mindestens eine halbe Milliarde Euro im Bundesetat. Die muss eingespart werden,
oder sie wird unsere zukünftigen Schulden vergrößern.
Man muss es sagen, wie es ist: Dieses Gesetz wird kein
Problem lösen, sondern nur neue Probleme schaffen.
({1})
Herzlichen Glückwunsch an diese 80-Prozent-Koalition zu diesem Meisterwerk!
({2})
Es ist keinesfalls so, dass es keine Kritik gab. Wir haben vor 14 Tagen eine umfangreiche Expertenanhörung
im Verkehrsausschuss gehabt. Da ist deutlich geworden,
dass es eine ganze Reihe von Kritikpunkten gibt. Gerade
die EU-Kommission wollte in ihrer Richtlinie gern
höhere Mautsätze festlegen. Aber die Mitgliedstaaten
haben das einfach verhindert. Kollege Ferlemann, Sie
wissen das. Das fällt uns jetzt auf die Füße.
Auch bei der Einbeziehung von Lärm- und Luftverschmutzung wurden Fehler gemacht. Seit 2011 - das
liegt schon drei Jahre zurück - ist es europaweit erlaubt,
diese Kosten bei der Mauthöhe zu berücksichtigen. Aber
wir haben zwei Verkehrsminister von der CSU hinter
uns, und nichts ist passiert. Schade!
({3})
Stattdessen fummelt dieses Ministerium unter CSUFührung wieder an seinem Lieblingsthema herum, nämlich an einer bürokratischen Pkw-Maut. Aber da ist die
Machtfrage von Herrn Seehofer sicherlich wichtiger als
ein solides Verkehrsnetz. Sie können also von uns nicht
erwarten, dass wir diesem Gesetzentwurf auch noch unseren Segen erteilen. Wir werden ihn ablehnen.
({4})
Was können wir mit diesem Scherbenhaufen nun
wirklich anfangen? Wir Grüne machen Ihnen konkrete
Vorschläge: Erstens brauchen wir eine Initiative auf europäischer Ebene zur Revision der Eurovignettenrichtlinie. Herr Ferlemann, nicht nur lächeln, bitte machen in
Brüssel!
({5})
Zweitens müssen wir schnellstens umfassende Möglichkeiten zur Einbeziehung externer Kosten schaffen. Lkw
machen nicht nur Straßen und Brücken kaputt, sondern
sind auch für Umweltschäden in Höhe von etwa 88 Milliarden Euro im Jahr verantwortlich. Drittens muss der
Verkehrsminister endlich für Klarheit bei Toll Collect
sorgen. Viertens muss die Lkw-Maut auf allen Straßen
für Fahrzeuge ab 3,5 Tonnen eingeführt werden.
Das sind die Kernforderungen meiner Fraktion. Sie
können noch einige mehr in unserem Antrag finden. Es
wäre schön, wenn Sie sich dem anschließen könnten.
({6})
Aber wollen wir doch etwas herausarbeiten, was in
dieser Expertenanhörung ein ganz wichtiger Punkt war.
Wir müssen uns grundlegende Gedanken darüber machen, wie wir die organisierte Verantwortungslosigkeit,
die wir derzeit in der Verkehrsinfrastruktur haben, endlich beenden können. Der neue Bundesverkehrswegeplan wird wieder nicht funktionieren, wenn wir uns nur
an den lokalen Wünschen vor Ort orientieren; aber genau das machen Sie jetzt leider wieder. Umgekehrt wäre
es richtig: Der Bund muss zuerst definieren, welches
Netz nötig ist. Erst dann darf geprüft werden, was mit
den lokalen Wünschen passiert; denn sonst landen wir
wieder bei den sinnlosen Wünsch-dir-was-Listen.
({7})
Der zweite Punkt, verehrte Kolleginnen und Kollegen, ist noch viel wichtiger. Heute haben wir ein ineffizientes System mit den Bundesunternehmen DEGES
und VIFG, Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft. Dazu kommen 16 Länderverwaltungen, das Bundesministerium und auch noch Toll Collect. Alle mischen in diesem Geschäft irgendwie mit. Kein Bürger
blickt mehr durch, wenn es zum Beispiel um eine
Ortsumgehung geht.
Frau Kollegin Dr. Wilms, denken Sie an die vereinbarte Redezeit und die schon fortgeschrittene Tageszeit.
Vielen Dank, Herr Präsident. Ich bin in der Endphase
meiner Rede.
({0})
Ich will die lieben Kollegen noch einmal ein bisschen
aufmischen.
Ganz konkret wurde in der Anhörung eine Verkehrsinfrastrukturmanagementgesellschaft vorgeschlagen. Bei
allen Differenzen, die wir heute zu diesem Gesetzentwurf haben: Lassen Sie uns diesen Vorschlag wirklich
einmal ernsthaft diskutieren, damit wir aus der Falle, in
der wir jetzt sind, herausfinden und damit es nicht erst
wieder irgendwo ein Unglück braucht, um tatsächlich einen Wandel in der Politik einzuleiten.
Herzlichen Dank.
({1})
Abschließender Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Thomas Jarzombek, CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist eine
besondere Ehre, der letzte Redner des heutigen Plenartages zu sein und dann auch noch von der Vorrednerin der
Opposition so viel Lob für das eigene Tun zu bekommen, inklusive solch umfangreicher Ausführungen zu
Ortsdurchfahrungen, die zeigen, dass offensichtlich
nicht mehr viel Kritik an diesem Gesetzentwurf zu üben
ist.
Ich glaube, dass die Regierung in der Tat in einer
schwierigen Situation einen guten Job gemacht hat.
Denn durch die sinkenden Zinsen ist es ein Problem,
dass uns 460 Millionen Euro Mauteinnahmen fehlen.
Wir können keine Mauteinnahmen nach Willkür erheben
- das ist gut -; vielmehr müssen wir uns nach Gutachtern richten. Das gehört sich so in einem Rechtsstaat. Ich
finde, dass all die Möglichkeiten wirklich ausgenutzt
wurden, die man ausnutzen kann, um den sogenannten
Mautschaden zu begrenzen.
Wir haben nun die externen Kosten für den Lärm berücksichtigt. 1 000 Kilometer weiteres Straßennetz wird
mit bemautet. Die Maut gilt künftig schon für die Lkw
ab 7,5 und nicht erst ab 12 Tonnen, und es gibt auch Anreize, die Abgasnorm Euro 6 zu erfüllen. Ich glaube, das
ist ein gutes System. Man sollte berücksichtigen, dass
wir hier schon in der letzten Legislaturperiode einen geschlossenen Kreislauf installiert haben. Insofern stehen
wir hier insgesamt gut da.
Ein Kompliment mache ich an dieser Stelle dem Bundesverkehrsminister, der es nämlich geschafft hat, den
Finanzminister dafür zu gewinnen, das, was an Lücken
noch bleibt, aus dem Gesamthaushalt zu decken,
({0})
sodass die Investitionslinien nicht gekürzt werden müssen.
({1})
Ich glaube, das ist ein gutes Ergebnis.
Ich höre an dieser Stelle immer viele Debatten darüber, wer in dieser Regierung was macht. Ich muss einfach einmal sagen: Der Verkehrsminister liefert hier, und
zwar eine Lösung, die dermaßen gut ist, dass man sie
wie Sie, Frau Kollegin Wilms, als Meisterwerk bezeichnen kann. Dieses Kompliment nehmen wir einfach einmal unwidersprochen an.
Frau Kollegin Wilms, Sie haben ein weiteres Wesensmerkmal beschrieben: Dieser Gesetzentwurf ist so gut,
dass es an ihm keinerlei Änderungen gab, weder im
Bundestag noch im Bundesrat. Ich finde, ganz ehrlich,
bei dieser exzellenten Qualität der Gesetzgebung - Sie
wissen ja, in Nordrhein-Westfalen gibt es nicht nur Fans
der Pkw-Maut ({2})
bekommt man schon Lust auf den Gesetzentwurf zur
Pkw-Maut.
({3})
Ich finde, die Latte liegt hoch. Ich bin davon überzeugt,
wenn das so weitergeht, werden wir das hinbekommen.
Wir werden sicher auch über die Zukunft der LkwMaut reden. Hier sind einige Themen dazu schon angesprochen worden. Wir können erst einmal sagen: Das,
was wir heute haben, ist ein gutes System.
Über Toll Collect wurde gesprochen. Ich möchte hier
ausdrücklich eine Lanze für Toll Collect brechen; ich
habe das schon einmal in einer anderen Debatte getan.
Ich finde, das ist ein tolles Unternehmen, das diesen Job
seit zehn Jahren wirklich einwandfrei macht. Es gab Probleme zu Beginn, ja; damit hatten wir aber nichts zu tun.
2005 sind die CDU und die CSU - um das deutlich zu
betonen - in die Bundesregierung eingetreten. Fortan
lief alles exzellent.
({4})
Dass Toll Collect Planungssicherheit bis 2018 bekommt, ist gut. Es ist wichtig, dass wir eine vernünftige
Folgeregelung finden. Mit dem, was da überlegt wird
- Sie kennen das alles -, sind wir auf dem richtigen
Weg. Ich glaube, dass das Vorbild für viele andere Dinge
sein kann. Es ist auch eine Frage der Gerechtigkeit, dass
gerade die Transitverkehre deutlich an den Kosten beteiligt werden, die wir in der Verkehrsinfrastruktur haben.
({5})
Ich glaube, dass wir in der Zukunft noch über Erweiterungen reden müssen, zum Beispiel was das Thema
Lang-Lkw betrifft. Das ist ein ganz wichtiges Thema. Es
geht um Mengen, die da transportiert werden. Ich habe
meinen Wahlkreis in Düsseldorf und damit in einer Stadt
mit sehr vielen innerstädtischen Autobahnen. Wenn wir
die Anzahl der Lkw und gleichzeitig die Achslast reduzieren können, sodass die Straßen geschont werden,
({6})
dann kommt das den Menschen in diesem Land zugute.
Die möchten gern, dass man in der Stadt leisere Verkehre, weniger Verkehre und straßenschonendere Verkehre hat. Dafür werden sich in zukünftigen Novellen
dieses Gesetzes sicherlich Anreize schaffen lassen.
Ich glaube, dass Sie mit diesen Vorschlägen einverstanden sind. Darüber freue ich mich.
Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
({7})
Vielen Dank.
Vizepräsident Johannes Singhammer
Wir kommen in der Folge zu einer Reihe von Abstimmungen.
Zunächst kommen wir zur Abstimmung über den von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Bundesfernstraßenmautgesetzes.
Der Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/2857, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 18/2444 und 18/2657 anzunehmen. Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer
stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Damit ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen der
Großen Koalition gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die
Grünen bei Enthaltung der Linken in zweiter Beratung
angenommen.
Wir kommen jetzt zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte jetzt diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der
Gesetzentwurf mit den Stimmen der Großen Koalition
gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Linken angenommen.
Wir setzen jetzt die Abstimmung zu den Beschlussempfehlungen des Ausschusses für Verkehr und digitale
Infrastruktur auf Drucksache 18/2857 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/1620 mit
dem Titel „Lkw-Maut nachhaltig und ökologisch ausrichten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Niemand. Damit ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der
Großen Koalition gegen die Stimmen des Bündnisses 90/
Die Grünen und der Linken angenommen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung des Bundesdatenschutzgesetzes Stärkung der Unabhängigkeit der Datenschutzaufsicht im Bund durch Errichtung einer obersten Bundesbehörde
Drucksache 18/2848
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss Digitale Agenda
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1) -
Ich sehe, dass sich kein Widerspruch erhebt und Sie da-
mit einverstanden sind.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/2848 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
1) Anlage 4
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt auf den Tagesordnungspunkt 17:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zum Erlass und zur Änderung von
Vorschriften zur Durchführung unionsrechtlicher Vorschriften über Agrarzahlungen und
deren Kontrollen in der Gemeinsamen Agrarpolitik
Drucksache 18/2708
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung und Landwirtschaft
({1})
Drucksache 18/2894
Auch die Reden hierzu sollen zu Protokoll gegeben
werden. - Weil sich kein Widerspruch erhebt, gehe ich
davon aus, dass Sie alle damit einverstanden sind.
Manchmal ist ein sehr sperriger Titel durchaus Programm, so wie im Falle dieses Gesetzentwurfs: Mit
diesem Gesetz beschließen wir heute den letzten Baustein der nationalen gesetzlichen Umsetzung der Reform der Europäischen Agrarpolitik. Und wir müssen
heute insgesamt feststellen, dass die punktuellen Verbesserungen für Landwirte, Umwelt und Verbraucher
mit einem extrem erhöhten Ausmaß an Bürokratie bezahlt werden müssen.
Eine Folge dieser Bürokratiezunahme ist, dass die
Landwirte in diesem Jahr erst dann erfahren, was sie
zu welchen Bedingungen anbauen können, wenn die
Planung und Aussaat jahreszeitlich eigentlich schon
erfolgt ist. Wir alle werden ja seit Monaten nach den
Details der Umsetzung gefragt, den Landwirten fehlte
bislang jede Planungssicherheit. Das Verfahren hat
insgesamt viel zu lange gedauert und muss in Zukunft
beschleunigt werden.
Meine persönliche Erfahrung mit der GAP-Reform
begann als aktiver Landwirt, als ich noch gar nicht daran gedacht hatte, für den Deutschen Bundestag zu
kandidieren, mit einem Besuch von Agrarkommissar
Ciolos in meiner Heimat Baden-Württemberg. Damals
sagte der Kommissar, es sei sein Ziel bei dieser angestrebten Reform, dass es in ganz Europa so aussehen
solle, wie in Baden-Württemberg: bäuerliche Landwirtschaft, Natur- und Umweltschutz schon allein
durch zahlreiche natürliche Landschaftselemente wie
Gewässerränder, Hecken, Naturschutzgebiete und
ähnliches, die bei uns bereits weit mehr als die geforderten 5 Prozent beim Greening umfassen, nämlich
19 Prozent. Er sagte sehr deutlich: In Baden-Württemberg muss sich gar nichts ändern. Ich denke, jeder
wird mir zustimmen, wenn ich heute zu dem Schluss
komme, dass die Realität der GAP-Reform diesem Anfangsziel nicht entspricht.
Wir haben mehr Bürokratie, die unternehmerische
Freiheit der Landwirte wird immer weiter eingeschränkt, ihre Fachexpertise wird von teils lebensfremden Entscheidungen am grünen Tisch ausgehebelt, und
- das ist das Schlimmste - der Umwelt wird damit faktisch nicht gedient. Im Gegenteil ist jetzt schon abzusehen, dass die Reform zu vermehrtem Maisanbau und
zu vermehrter Glyphosatanwendung führen wird. War
das wirklich das Ziel?
Ist es wirklich eine Maßnahme, die dem Natur- und
Umweltschutz dient, wenn immer mehr landwirtschaftliche Fläche aus der Produktion genommen wird? Von
der Widersprüchlichkeit, dass gleichzeitig der Flächenverbrauch für Photovoltaik deutlich zunehmen
soll, will ich hier gar nicht reden.
Die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag
hat die Umsetzung der GAP-Reform in nationales
Recht konstruktiv mitgetragen. Wir haben uns zu Recht
und angemessen gegen weitere nationale Verschärfungen ausgesprochen und hier auch Erfolge für die
Landwirte und letztlich auch für Verbraucher und Umwelt erreicht. Trotzdem darf auch die EU-Rechtssetzung nicht in Stein gemeißelt sein, sondern muss sich
an ihrer Praxistauglichkeit und an ihren Auswirkungen messen lassen.
Wir begrüßen deshalb außerordentlich die Ankündigung des designierten EU-Agrarkommissars Phil
Hogan bei der Anhörung im Europäischen Parlament,
diese Reform bereits 2015 auf den Prüfstand zu stellen.
Es geht uns hier nicht um ein Zurückdrehen von Fortschritten, aber es gibt einfach in vielen Einzelheiten
berechtigte Zweifel, ob diese Regelungen praxistauglich sind und ob sie wirklich geeignet sind, die gesteckten Ziele zu erreichen. Das muss deshalb geprüft werden. Wir unterstützen den neuen Kommissar darin,
Lösungen mit den Landwirten zu erarbeiten und nicht
gegen sie. Wir brauchen Lösungen statt Verbote. Das
ist der Grundsatz der CDU/CSU-Bundestagsfraktion,
wenn es um Agrarpolitik geht, und das sollte auch für
die europäische Agrarpolitik gelten.
Mit dem nun vorliegenden Entwurf zur Durchführung der Agrarzahlungen und deren Kontrolle in der
Gemeinsamen Agrarpolitik haben wir nach langen und
intensiven Gesprächen endlich eine Planungs- und
Rechtssicherheit für unsere Landwirtschaft erreicht.
Im Gesetzentwurf sollen die durch die GAP-Reform
geänderten EU-rechtlichen Vorgaben zu den Grundanforderungen an die Betriebsführung und zu den
Standards für den Erhalt von Flächen in gutem landwirtschaftlichen und ökologischen Zustand, den
Cross-Compliance-Auflagen, umgesetzt werden.
Im Einzelnen sollte dazu das bisherige Direktzahlungen-Verpflichtungen-Gesetz als Agrarzahlungen-Verpflichtungen-Gesetz neu gefasst werden. Mit
dieser Novellierung werden unionsrechtlich gebotene
Änderungen umgesetzt und datenschutzrechtliche Vorschriften konkretisiert. Denn, wie jeder weiß, leisten
die Direktzahlungen einen sehr wichtigen Beitrag zur
Einkommenssicherung und Risikoabsicherung unserer
landwirtschaftlichen Betriebe in Deutschland.
Im Zuge der Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik
wurde mit dem Begriff Cross-Compliance die Bindung
von EU-Agrarzahlungen an Anforderungen geknüpft.
Dies bringt eine längst überfällige Klarheit bei wichtigen Details des Greening der EU-Direktzahlungen,
insbesondere zu den Zwischenfrüchten, den Leguminosen, den Kurzumtriebsplantagen und den Feld- und
Randstreifen als ökologische Vorrangflächen.
Dennoch war und ist uns beim Greening besonders
wichtig gewesen, den Artenreichtum des Grünlandes
zu erhalten, und deshalb ist es auch richtig, dass Grünland auch Grünland bleibt - wenngleich wir es so gestalten wollen, dass unsere Landwirtschaft weiterhin
wirtschaften kann und Bauern auch Futterqualitäten
mit ihrem Grünland erreichen können.
Landwirtschaft ist Teil unseres Lebens. Vieles von
dem, was wir Tag für Tag konsumieren und nutzen,
kommt von unseren Bauernhöfen. Unsere Landwirtinnen und Landwirte produzieren qualitativ hochwertige, sichere Lebensmittel. Zudem erwartet die Gesellschaft von ihnen, dass sie sich um die Kulturlandschaft
kümmern, den Kampf gegen den Klimawandel unterstützen und die Vielfalt erhalten.
Mit der Novellierung der GAP haben wir in der
Europäischen Gemeinschaft einen gemeinsamen und
verantwortungsvollen Rahmen gefunden, um die natürlichen Ressourcen sowie eine ausgeglichene Entwicklung der ländlichen Räume zu schaffen. Damit ist
und bleibt die GAP unseren Bäuerinnen und Bauern
auch weiterhin ein verlässlicher Partner.
So fördern wir die kleinen und mittleren Betriebe
mit einem Zuschlag für die ersten Hektare. Darüber
hinaus werden wir für die Junglandwirteprämie eine
1-Prozent-Obergrenze verwenden und die Zahlung für
die maximale zulässige Obergrenze von 90 Hektar gewähren. An diesen Beispielen sehen Sie: Wer die Situation unserer Bäuerinnen und Bauern kennt, der redet
nicht lange über Zahlen, sondern der handelt, so wie
wir von der CDU/CSU es tun.
Die Gemeinsame Agrarpolitik hat auf die sich wandelnden gesellschaftlichen Anforderungen reagiert,
und die Koalition hat die Herausforderungen, wie man
an diesem Gesetzentwurf gut erkennen kann, sehr gut
gemeistert. Die Anforderungen der Landwirtschaft
nach Verlässlichkeit, Planbarkeit, aber auch Praktikabilität haben wir mit diesem Entwurf erreicht.
Mit dieser jetzt vorliegenden Planungs- und Rechtssicherheit kann nun noch pünktlich zum Spätsommer
die Herbstsaat ausgefahren werden.
Mit der Beschlussfassung über das Gesetz „zur Änderung von Vorschriften zur Durchführung unionsZu Protokoll gegebene Reden
rechtlicher Vorschriften über Agrarzahlungen und deren Kontrollen in der Gemeinsamen Agrarpolitik“
schließen wir heute einen Diskussionsprozess ab, der
bereits 2008 mit dem sogenannten „Health Check“ begonnen hat. Damals wurde ein Teil der Direktzahlungen
der 1. Säule gekürzt und in den Bereich der ländlichen
Entwicklung umgeschichtet. Die Gesamtausrichtung der
Gemeinsamen Agrarpolitik, GAP, blieb dabei grundsätzlich erhalten.
Erstmals wurden neue Herausforderungen als
Schwerpunkte der zukünftigen GAP formuliert. Dazu
zählen der Klimawandel, das Wassermanagement, die
Erhaltung der biologischen Vielfalt, der verstärkte
Einsatz erneuerbarer Energien im Agrarsektor. Diese
Ziele sind richtig! Doch leider ist dieses Konzept in
der Umsetzung gescheitert.
Das Gesetz, was wir heute beschließen, schafft eine
nicht unerhebliche Mehrbelastung an Bürokratie für
unsere Betriebe. Gleichzeitig ist der tatsächliche Effekt für Natur, Umwelt, Klima und Biodiversität sehr
begrenzt.
Ich kann die Kritik der Landwirte am zeitlichen Ablauf dieses Gesetzesvorhabens gut verstehen. Die delegierte Rechtsakte der Europäischen und der Kompromiss zur GAP kommen deutlich zu spät.
Doch jetzt herrscht endlich Rechtsklarheit.
Das Direktzahlungen-Verpflichtungsgesetz soll als
Agrarzahlungen-Verpflichtungsgesetz neu gefasst werden. So soll das bisherige System der Cross-Compliance-Vorschriften durch die notwendigen Ermächtigungen zu Rechtsverordnungen angepasst werden.
Die Vorschläge der Bundesländer dazu werden in
wesentlichen Punkten aufgegriffen und umgesetzt.
Aber bei aller Kritik haben wir als SPD erreicht, dass
zukünftig der Erhalt von Dauergrünland eine Fördervoraussetzung im Rahmen des sogenannten „Greenings“ ist. Zukünftig ist die Umwandlung von Grünland zu Ackerland ausgeschlossen. Diesen Erfolg
haben wir im Rahmen des Gesetzes zur Durchführung
der Direktzahlungen in den teils zähen Verhandlungen
erzielt. In den vergangenen 20 Jahren ist der Grünlandanteil bundesweit um 650 000 Hektar zurückgegangen, das entspricht in etwa der landwirtschaftlichen Nutzfläche von Rheinland-Pfalz.
Mit jedem Hektar Grünland, den wir umgebrochen
haben, verursachten wir bis zu 40 Tonnen CO2-Emissionen. Dies entspricht etwa 300 000 gefahrenen Autokilometern. Mit dem erzielten Erfolg leisten wir also
zukünftig einen wesentlichen Beitrag zum Umwelt- und
Klimaschutz.
In diesem Zusammenhang wurde auch erreicht,
dass jährlich 4,5 Prozent der Direktzahlungen von
2015 bis 2020 in die 2. Säule umgeschichtet werden.
Die Richtung stimmt, aber der Anteil ist aus unserer
Sicht noch viel zu gering. Die SPD hatte eine Umschichtung von 15 Prozent gefordert.
Bei der Verwaltung und Kontrolle der Agrarzahlungen ist es erforderlich, personenbezogene Daten der
Landwirte zu nutzen. Der Schutz dieser Daten soll
durch den vorliegenden Entwurf gewährleistet werden.
Ein wichtiger Erfolg ist die Aufnahme des Status des
sogenannten „Ökolandwirts“ in die Anlage zum InVeKos-Daten-Gesetz. Damit kann zumindest an dieser
Stelle Bürokratie eingespart werden. Nicht im Gesetzentwurf enthalten ist hingegen, dass die InVeKos-Daten über Kontrollen im Bereich der Direktzahlungen
hinausgehend genutzt werden können. Regelungen, die
eine Doppelförderung in diesem Bereich vermeiden,
sind Sache der Länder. Maßnahmen, die in Bezug zum
Düngemanagement und der Nutzung von InVeKos-Daten stehen, müssen an anderer Stelle geregelt werden.
Aus Sicht der SPD sollen entsprechende Anpassungen bei der Novellierung des Düngegesetzes getroffen
werden, um hier einen wirksamen Vollzug zu vereinfachen und den Bundesländern entgegenzukommen.
Die Zahlungen aus der GAP werden künftig die
Aufgabe haben, einen Ausgleich zwischen den gesellschaftlichen Anforderungen an eine nachhaltige Landbewirtschaftung, der Erhaltung lebenswerter Kulturlandschaften, der Entwicklung ländlicher Räume und
der Marktausrichtung landwirtschaftlicher Unternehmen herzustellen.
Aus diesem Grund drängt die SPD darauf, ab 2020
gänzlich aus dem System der zwei Säulen der GAP
auszusteigen. Das fordern wir seit Jahren. Die SPD
will weg vom Gießkannenprinzip der 1. Säule hin zu
einer Politik, mit der ländliche Räume effektiv und effizient gestaltet werden können. Öffentliche Gelder
also nur für öffentliche Leistungen! Die Direktzahlungen und das Zwei-Säulen-Modell der Europäischen
Agrarpolitik in der jetzigen Ausgestaltung haben für
uns Sozialdemokraten keine Zukunft mehr.
Wie sie den Äußerungen des neuen EU-Agrarkommissars Hogan entnehmen können, hat dieser bereits
eine Halbzeitbilanz für 2016 angekündigt. Wichtig ist,
dass wir die Bilanz und die Auswirkungen einer grundsätzlichen Reform nochmals auf wissenschaftlicher
Grundlage bewerten, uns rechtzeitig positionieren und
die Beschlüsse von 2013 dann konsequent weiterentwickeln.
Was für ein Wortungetüm: „Entwurf eines Gesetzes
zum Erlass und zur Änderung von Vorschriften zur
Durchführung unionsrechtlicher Vorschriften über Agrarzahlungen und deren Kontrollen in der Gemeinsamen Agrarpolitik“. Hinter dieser Ansammlung an
Wörtern verbirgt sich abschließend der Beschluss zur
Reform der Gemeinsamen EU-Agrarpolitik. Es war
eine Debatte, die so lang, sperrig und zäh war wie der
Titel des Gesetzes.
Für die neue Förderperiode 2014 bis 2020 gab es
viele neue Ideen. Ökologischer, gerechter und zuZu Protokoll gegebene Reden
kunftsfähiger sollte Agrarpolitik werden auch im Interesse der ländlichen Räume. Als Linksfraktion im
Deutschen Bundestag haben wir bereits im Jahr 2010
ein eigenes Konzept auf den Tisch gelegt und skizziert,
wohin nach unserer Meinung die Reise gehen soll.
Am Anfang dieser Debatten schien es tatsächlich so,
als ob ein Paradigmenwechsel gelänge, nämlich eine
Förderung nach dem Prinzip: öffentliches Geld für öffentliche Leistungen. Geld sollte der erhalten, der
mehr Arbeitsplätze schafft, der besser Umwelt und
Klima schont. Auch viele Umwelt-, Verbraucher- und
kritische Bauernverbände hegten ähnliche Hoffnungen. Auch der EU-Agrarkommissar Dacian Ciolos sah
das so.
Was ist daraus geworden? Vom Greening, also der
Ökologisierung der Direktzahlungen an die Bauernhöfe, ist nicht viel übrig geblieben. Einige nennen es
nun verächtlich „Greenwashing“. Und die Berücksichtigung sozialer Leistungen sucht Frau leider vergebens. Trotzdem! Ich würde eher sagen: „Das Glas
ist halb voll.“ Denn was wirklich neu ist: Die Direktzahlungen gibt es nicht mehr einfach so dafür, dass
man landwirtschaftliche Nutzfläche besitzt und Gesetze einhält. Sie sind nun an bestimmte ökologische
Anforderungen geknüpft. Das ist gut so. Und die 5 Prozent ökologische Vorrangflächen sind ein Anfang. Auf
diesen fünf Prozent der Betriebsfläche kann man viel
Gutes tun, was auch die Akzeptanz in der Gesellschaft
erhöht: zum Beispiel Hecken anlegen oder Pufferstreifen an Wäldern, Feldern und Gewässern wild-, bienenund insektenfreundlich gestalten.
Und es wäre mehr drin gewesen, was leider in
Deutschland nicht genutzt wird: Nach den EU-Vorgaben können die EU-Mitgliedstaaten Agrarbetriebe mit
vielen Beschäftigten unterstützen; das war eine zentrale Forderung der Linken. Es geht dabei nicht um ein
Rundum-sorglos-Paket für ineffiziente Betriebe, sondern darum, dass zum Beispiel Betriebe mit Tierhaltung mehr Leute beschäftigen als reine Ackerbaubetriebe.
Und damit all diese neuen Änderungen der GAP
auch in Deutschland wirksam werden, mussten die entsprechenden Regelungen in nationales Recht umgesetzt werden. Vergangenen Freitag beschloss der Bundesrat die Direktzahlungen-Durchführungsverordnung
und gab der nationalen GAP-Umsetzung damit den
letzten, inhaltlichen Feinschliff. Heute beschließen wir
die technische Umsetzung.
Gut finden wir, dass die Anregungen des Bundesrates mehrheitlich aufgenommen wurden. Allerdings hätten wir uns gewünscht, dass die Bundesregierung auch
den Hinweis zum Thema Düngerecht aus der Länderkammer berücksichtigt hätte.
Ich habe bei dem massiven Druck, den der Bauernverband und die CDU/CSU auf das Agrarministerium
ausüben, meine Zweifel, dass wir eine fortschrittliche
Novelle des Düngerechts bekommen, die uns sowohl
vor Strafzahlungen wegen der Nichteinhaltung der
EU-Nitratrichtlinie bewahrt als auch - noch viel wichtiger - den Nährstoffüberschuss in den Gewässern
wirksam reduziert. Dieser Debatte kann die Koalition
dieses Mal noch ausweichen, aber die Uhr tickt.
Als Anwälte bäuerlicher Interessen haben wir
Grüne immer konstruktiv für die Entwicklung und
Umsetzung einer sinnvollen modernen, zukunftsweisenden bäuerlichen, sozialen und ökologischen gemeinsamen Agrarpolitik gekämpft.
Das Greening ist das Symbol für die aktuelle GAPReform. Das Greening soll die enormen vielfältigen
gesellschaftlichen Leistungen, welche die bäuerliche
Landwirtschaft jeden Tag erbringt, entlohnen. Nur
dafür, sind wir Grünen überzeugt, werden Europas
Bürgerinnen und Bürger bereit sein, die europäische
Landwirtschaft weiter mit 55 Milliarden Euro pro Jahr
zu unterstützen.
Leider stellen wir fest, dass vom hohen Anspruch
der GAP-Reform nicht viel mehr als eine fast leere
Hülle übrig geblieben ist. Meine Herren und Damen
von der Union, Sie zusammen mit dem Deutschen
Bauernverband können sich stolz diese weitestgehende
Verhinderung der Reform auf ihre Fahne schreiben.
Sie haben sich alle erdenkliche Mühe gegeben, bei jeder Gelegenheit das Zukunftsprinzip „öffentliche
Gelder für öffentliche Leistungen“ infrage zu stellen.
Sie haben bis zuletzt versucht, diese Reform zu verzögern, zu verhindern und zu torpedieren. Selbst jetzt
lassen Sie in Brüssel noch Ihren Reformbestatter,
Berichterstatter Albert Deß, gegen die letzten Reste
des Greenings zu Felde ziehen, in der Hoffnung, dass
mit dem neuen Kommissar Phil Hogan neue - alte Zeiten anbrechen. Zu befürchten ist ein Rückfall in
Marktradikalismus, Export und gnadenlose Liberalisierung. Damit erweisen sie der bäuerlichen Landwirtschaft einen Bärendienst. Die Leidtragenden sind am
Ende die Bauern und Bäuerinnen, die Sie vorgeben zu
vertreten.
Fakt ist: 0,56 Prozent der Betriebe, das heißt die
circa 1 700 größten Betriebe in Deutschland, bekommen 16,8 Prozent der Agrargelder. Das entspricht
2014 circa 960 Millionen Euro! Über 550 000 Euro
pro Großbetrieb! Was für ein Wahnsinn! Welche
Verschwendung öffentlicher Gelder! Welche gesellschaftliche Ungerechtigkeit!
Ihre Agrarpolitik orientiert sich am Leitspruch: Den
Großen wird gegeben - Der Teufel ({0}) immer auf den
größten Haufen!
Was wir gebraucht hätten, wäre ein wirklicher
Ausgleich für Nachteile für kleine, strukturell benachteiligte Betriebe - zum Beispiel auch in bayerischen
Berggebieten, Herr Minister. Ihre Umverteilungsprämie verdient diesen Namen nicht. 30 Prozent der Mittel
der ersten Säule wären möglich gewesen, um kleinen
Betrieben gezielt zu helfen. Von diesen haben sie nur
Zu Protokoll gegebene Reden
6,8 Prozent genutzt. 15 Prozent der Mittel hätten Sie,
Herr Minister, von der ersten in die zweite Säule umschichten können. Diesen Spielraum haben Sie mit
4,5 Prozent nur minimal genutzt.
Das wären Mittel für die Förderung von strukturpolitischen Programmen und Umweltförderungsmaßnahmen gewesen, die der Landwirtschaft, dem ländlichen Raum und der ganzen Gesellschaft nützen.
Stattdessen wird das Geld nun weiter mit der Gießkanne über die Fläche verteilt. Damit düngen sie
jedoch nur den Anstieg der Boden- und Pachtpreise,
beflügeln außerlandwirtschaftliche Kapitalinvestoren
und beschleunigen damit den Strukturwandel, der zum
immer weiteren Verlust von bäuerlichen Existenzen
führt. Das ist nicht akzeptabel.
Von uns Grünen werden Sie deshalb zu dieser Politik zum Nachteil der Landwirtschaft auch weiterhin ein
vehementes Nein hören. Wir Grüne werden weiter für
eine Agrarpolitik streiten, die gleichermaßen die Leistungen der bäuerlichen Landwirtschaft für Umwelt,
Tier und Menschen entlohnt und die große Vielfalt
bäuerlicher Betriebe erhält.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/2894, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/2708 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung
zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer ist dafür? Wer ist dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen der
Großen Koalition und der Linksfraktion bei Enthaltung
von Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Wir kommen jetzt zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Der Gesetzentwurf ist damit mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD
und der Linken bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe jetzt auf den Tagesordnungspunkt 18:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 14. April 2014 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und
der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen Körperschaft des öffentlichen Rechts
Drucksache 18/2587
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({0})
Drucksache 18/2785
Auch hierzu sollen die Reden zu Protokoll gegeben
werden. - Ich sehe, dass Sie damit einverstanden sind.
Die Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen setzt
sich aus 229 reformierten, presbyterianischen und
kongregationalistischen sowie unierten Kirchen in
108 Staaten zusammen. Mit etwa 80 Millionen Mitgliedern weltweit ist die Weltgemeinschaft die größte protestantische Weltorganisation.
Bis Ende 2013 residierte die Weltgemeinschaft reformierter Kirchen in Genf. Am 1. Januar 2014 nahm
sie nun ihre Arbeit an ihrem neuen Amtssitz in Hannover auf, nachdem sie die Bewerbungen der Städte Utrecht und Johannesburg zurückgewiesen hatte. Genf
wurde aus finanziellen Gründen verlassen, der neue
Sitz Hannover überzeugte mit seinem kirchlichen Umfeld. In der Landeshauptstadt befinden sich die beiden
Mitgliedskirchen, die Evangelisch-Reformierte Kirche
und die Lippische Landeskirche.
Die Ansiedelung der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen in Deutschland belegt das positive Verhältnis von Staat und Kirchen in unserem Land. Die niedersächsische Landeshauptstadt entwickelt sich mit
dem Umzug immer mehr zu einem protestantischen
Zentrum in Deutschland und Europa, in dem sich die
große Vielfalt des Protestantismus zeigt.
Bereits im Dezember 2012 wurden der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen von der niedersächsischen Landesregierung die Rechte einer Körperschaft
des öffentlichen Rechts verliehen. Dadurch wurde die
Weltgemeinschaft in die Lage versetzt, einen Vertrag
mit der Bundesregierung schließen zu können.
Am 11. und 14. April 2014 unterzeichneten die Bundesregierung und die Weltgemeinschaft Reformierter
Kirchen einen Vertrag mit dem Ziel, der Weltgemeinschaft und ihren Mitarbeitern die Wahrnehmung ihrer
Aufgaben in Deutschland zu erleichtern.
Ein Vertragsschluss war notwendig, da es bislang
keine passenden allgemeinen gesetzlichen Regelungen
für einen solchen besonderen Fall der Ansiedelung
gab. Die vereinbarten Regelungen umfassen eine erleichterte Visaerteilung für die ausländischen Beschäftigten und Gäste der Weltgemeinschaft, die Befreiung
vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels für die ausländischen Beschäftigten und ihre unmittelbaren Angehörigen, den Zugang der unmittelbaren Angehörigen zum
deutschen Arbeitsmarkt sowie die von Zöllen und Steuern befreite Einfuhr von Möbeln und persönlicher
Habe der Beschäftigten. Eine weitere Erleichterung ist
der Zugang zur gesetzlichen Krankenversicherung.
Der Inhalt des Vertrages bezieht sich somit auf Gegenstände, deren Regelung dem Deutschen Bundestag
vorbehalten ist. Der vorliegende Gesetzentwurf der
Bundesregierung schafft die Voraussetzungen, um den
vertraglich zugesagten Sonderrechten innerstaatlich
zur Geltung zu verhelfen.
Mit der gemäß Artikel 8 des Vertrages notwendigen
Zustimmung des Bundestages wird die Arbeit der Mitarbeiter der Weltgemeinschaft eine enorme Erleichterung erfahren. Dies ist vor allem in Hinblick auf die
wertvolle Arbeit, die die Weltgemeinschaft für den ökumenischen und interreligiösen Dialog leistet, wünschenswert.
Ich bitte daher um Ihre Zustimmung.
Wir beraten heute den Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Weltgemeinschaft
Reformierter Kirchen. Die Weltgemeinschaft der Reformierten Kirchen ist eine internationale Dachorganisation von zurzeit 229 reformierten, presbyterianischen und kongregationalistischen sowie unierten
Kirchen in 108 Staaten, denen rund 80 Millionen
Christen weltweit angehören.
Das Exekutivkomitee der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen hat am 5. November 2012 entschieden, seinen Sitz von Genf, Schweiz, wo die Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen seit 1948 ansässig ist,
nach Hannover zu verlegen. Hannover hat man gewählt, da die niedersächsische Landeshauptstadt in
unmittelbarer Nähe zu den beiden Mitgliedskirchen
der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen, nämlich
der Evangelisch-Reformierten Kirche und der
Lippischen Landeskirche, liegt. Außerdem haben der
Reformierte Bund, die Union Evangelischer Kirchen
und die Evangelische Kirche in Deutschland, die mit
der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen zusammenarbeiten, ihren Sitz in Hannover.
Ebenso wie die Bundesregierung begrüßen wir die
Ansiedlung der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen in Hannover. Der Vertrag zwischen der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen und der Bundesrepublik Deutschland dient nun dazu, diese Ansiedlung
sowie ihre Tätigkeit in Deutschland zu erleichtern.
Für mich als Angehörigem der Badischen Landeskirche war die Beschäftigung mit dem Glaubensbekenntnis der evangelisch-reformierten Kirchen eine
spannende Erfahrung, die ich im Zusammenhang mit
diesem Vertrag erneuert habe. Gleichzeitig stellt sich
mir auch wieder unmittelbar die Frage, warum sich
bei so viel Gemeinsamem das Trennende doch immer
in den Vordergrund schiebt. Und das eben nicht nur
zwischen evangelisch und katholisch, sondern wie wir
hier sehen eben auch innerevangelisch. Das Vermögen, stärker das Verbindende zu sehen, zu betonen
oder auch einzuüben, wird eine immer wichtigere Aufgabe in heterogenen, multikulturellen Gesellschaften
werden. Unser Tagesordnungspunkt ist für mich auch
eine Erinnerung daran. In diesem Zusammenhang will
ich auch etwas zu dem Begriff des „Sonderrechts“ sagen. Er wird in der Gesetzesbegründung verwendet
und ist ja auch zutreffend. Unsere Gesellschaft ist nun
aber so gestrickt, dass Sonderrechte gerne beäugt werden, nach dem Motto: „Da nimmt sich jemand etwas
heraus.“ Nun ist es so, dass in einem Vertrag mit Protestanten natürlich nicht nur Rechte sondern auch
Pflichten festgeschrieben sind; das ist der eine Punkt;
und der ist gut so. Der andere, ebenfalls weit über unseren aktuellen Kontext hinausweisende Punkt ist:
Auch Sonderrechte, vor allem solche, die anderen
nichts wegnehmen, gehören zu heterogener und multikultureller werdenden Gesellschaften. Sie sollen Zusammenleben ermöglichen, dass eigenen Traditionen
entspricht, und dabei den gesellschaftlichen Zusammenhalt insgesamt im Blick behält. Wie weit sie jeweils
gehen, muss immer ausbalanciert werden, aber dass es
Sonderrechte gibt und geben muss ist davon unbenommen. Sie gehören in eine bunter werdende, pluralistische Welt.
Zurück zur Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen:
Besonders beeindruckend ist für mich das Bekenntnis
von Accra aus dem Jahr 2004, das ebenfalls den Charakter des unmittelbaren Handelns hat: Nach diesem
Bekenntnis sind Christinnen und Christen aufgrund biblischer Lehre angehalten, sich für soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit einzusetzen. Die negativen
ökonomischen und ökologischen Auswirkungen des
heute vorherrschenden Weltwirtschaftsmodells verpflichten die reformierte Kirchenfamilie, dieses Problem als eine den Glauben an das Evangelium Jesu
Christi tangierende Frage anzusehen.
In dem Bekenntnis von Accra heißt es - ich zitiere - :
Die Politik ungehinderten Wachstums unter den Industrieländern und das Streben nach Gewinn multinationaler Unternehmen haben die Erde ausgeplündert und die Umwelt schwer geschädigt. …
Diese Krise steht in direktem Verhältnis zur Entwicklung der neoliberalen wirtschaftlichen Globalisierung, die auf folgenden Überzeugungen beruht:
ungehinderter Wettbewerb, schrankenloser Konsum, ungebremstes Wirtschaftswachstum und Anhäufung von Reichtum sind das Beste für die ganze
Welt;
Privatbesitz beinhaltet keine soziale Verpflichtung;
Finanzspekulation, Liberalisierung und Deregulierung des Marktes, Privatisierung öffentlicher Versorgungsbetriebe und nationaler Ressourcen, ungehinderter Zugang für ausländische Investitionen
und Importe, niedrigere Steuern und ungehinderter
Kapitalverkehr schaffen Wohlstand für alle;
Soziale Verpflichtungen, der Schutz von Armen und
Schwachen, Gewerkschaftsleben und zwischenmenschliche Beziehungen sind dem Wirtschaftswachstum und der Kapitalakkumulation untergeordnet.
Diese Ideologie, die von sich behauptet, es gäbe zu
ihr keine Alternative, verlangt den Armen und der
Schöpfung unendliche Opfer ab und verspricht
fälschlicherweise, die Welt durch die Schaffung von
Reichtum und Wohlstand retten zu können. Sie tritt
mit dem Anspruch auf, alle Lebenssphären beherrZu Protokoll gegebene Reden
schen zu wollen und verlangt absolute Gefolgschaft, was einem Götzendienst gleichkommt.
Das sind starke Worte, die aber in der Tradition von
Zwingli und Calvin stehen und in der evangelisch-lutherischen und katholischen Soziallehre durchaus Entsprechungen finden. Sie knüpfen eine Verbindung zwischen dem Glaubensbekenntnis und einer sozialethischen Verantwortung. Mit Franziskus hat ja auch
die katholische Kirche einen Erneuerer ähnlicher Ausrichtung.
Zwingli selbst sagte einmal: „In einer Futterkrippe
wird er ({0}) geboren, während wir in Daunenfedern
schnarchen.“ Und für sein Christentum leitet er daraus ab: „Ein Christ sein heißt nicht, von Christus zu
schwätzen, sondern ein Leben zu führen, wie er es geführt hat.“
In diesem Sinne freuen wir uns, dass die Weltgemeinschaft der Reformierten Kirchen ihren Sitz nun
bei uns in Deutschland hat, und stimmen diesem Vertrag gerne zu.
Wir verhandeln heute den Entwurf eines Gesetzes zu
dem Vertrag vom 14. April 2014 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen - Körperschaft des öffentlichen
Rechts. Es handelt sich hierbei um das erforderliche
Zustimmungsgesetz zum Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen, WGRK.
Die Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen setzt
sich aus 227 reformierten, presbyterianischen und
kongregationalistischen sowie unierten Kirchen in
108 Ländern zusammen. Zu der größten protestantischen Weltorganisation gehören 80 Millionen Christinnen und Christen weltweit.
Im Januar 2013 eröffnete die WGRK ihren Amtssitz
in Hannover. Sie verlegte den Amtssitz samt der sieben
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Genf nach Hannover. Hintergrund war die finanzielle Lage des
WGRK, aber auch die Tatsache, dass Hannover der
Sitz des Reformierten Bundes ist. Der Reformierte
Bund ist der Dachverband der 430 reformierten Gemeinden, Synoden und Kirchen in Deutschland.
Mit dem Vertrag hat die Bundesregierung der
WGRK bestimmte Privilegien und Sonderrechte eingeräumt, wie die kostenlose und zügige Erteilung von
Visa für die ausländischen Beschäftigten und Gäste
der Weltgemeinschaft, die Befreiung vom Erfordernis
eines Aufenthaltstitels für die ausländischen Beschäftigten und ihre unmittelbaren Angehörigen, den Zugang der unmittelbaren Angehörigen zum deutschen
Arbeitsmarkt, die von Zöllen und Steuern freie Einfuhr
von Möbeln und persönlicher Habe der Beschäftigten,
die Erteilung von Sonderausweisen durch das Auswärtige Amt und den Zugang zur gesetzlichen Krankenversicherung. Da sich der Vertrag auf Gegenstände bezieht, deren Regelung dem Gesetzgeber vorbehalten
ist, muss der Bundestag seine Zustimmung geben, damit der Vertrag in Kraft treten kann.
Die Linke fordert, langfristig eine Debatte über die
Sonderrechte von Religionsgemeinschaften aus Artikel 140 Grundgesetz in Verbindung mit Artikel 137 ff.
der Weimarer Reichsverfassung und deren Überprüfung zu führen. Das betrifft auch Bereiche, die sich
nachteilig auf die Rechte von Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern in kirchlichen Einrichtungen auswirken - Stichwort „Dritter Weg“ - oder die Staatsleistungen.
Die Linke wird diesem Vertragsgesetz zustimmen.
Wir unterstützen religiöse Vielfalt und Bemühungen
zum interreligiösen Dialog. Wir wollen der Arbeit der
WGRK keine Hindernisse in den Weg legen.
Es kommt höchst selten vor, dass sich das Plenum
des Bundestages detailliert mit einer religiösen Tradition beschäftigt. Die Bundesregierung gibt uns nun die
Gelegenheit, die Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen kennenzulernen, mit der sie jüngst einen Staatsvertrag abgeschlossen hat, zu dem sie den Bundestag
heute um Zustimmung ersucht.
In Deutschland steht die reformierte Tradition des
Protestantismus in der Regel im Schatten derjenigen
im Gefolge Martin Luthers, ist aber zahlenmäßig nicht
zu vernachlässigen. Der Reformierte Bund, der als
deutscher Dachverband der reformierten Gemeinden
gilt und auch Mitglied der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen ist, spricht von etwa 2 Millionen reformierter Gemeindemitglieder in Deutschland, das sind
circa 9 Prozent aller Protestanten.
Mit der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen
kommt nun das weltkirchliche Element des reformierten Protestantismus nach Deutschland. Dies freut uns
außerordentlich, denn bei vielen Debatten über das
Verhältnis von Religionsgemeinschaften und Staat, Religion und Politik steht in der Regel das degressive
Element im Vordergrund: Religion als weniger bedeutender Teil der Gesellschaft oder sogar als deren Bedrohung. Insofern sind es die positiven Meldungen, die
die Zustimmung des Bundestages zu diesem Staatsvertrag begleiten, wert, angemessene Aufmerksamkeit zu
finden. In diesem Sinne möchte ich zwei theologische
Spezifika des reformierten Christentums benennen, die
auch eine Bedeutung für die heutige Gesellschaft haben können:
Johannes Calvin, einer der Begründer der reformierten Tradition, ging davon aus, dass Christus die
Kirche leite, sodass sie keiner Hierarchie bedürfe.
Dies führte zur Ausbildung einer presbyterial-synodalen Kirchenordnung, also in gewissem Sinne zu einer
Frühform demokratischer Meinungs- und Willensbildung. Das ist nicht gering zu schätzen und kann in eiZu Protokoll gegebene Reden
Volker Beck ({0})
ner Zeit, in der Verdruss an der Politik groß ist, vielleicht neue Impulse setzen.
Ebenso betonte Calvin die Freiheit des Gewissens
vor menschlichen Gesetzen. Dies ist natürlich Ausfluss
der Verfolgungssituation, der viele reformierte Gläubige im 16. Jahrhundert ausgesetzt waren. Nicht umsonst wird Calvins Reformation als „Reformation der
Flüchtlinge“ bezeichnet. Wer davon ausgeht, dass
staatliche Gesetze und das eigene Gewissen in der Regel nicht zur Deckung zu bringen sind, bewahrt sich
eine gesunde Skepsis gegenüber scheinbar selbstverständlichen oder traditionellen Regelungen des Zusammenlebens - eine Skepsis, die sich fruchtbar und
gewinnbringend auf Debatten auswirken kann, wie
und auf welche Weise wir angesichts zunehmender religiöser Pluralität unser Religionsverfassungsrecht zukunftsfest machen können.
Die Ansiedlung der Weltgemeinschaft Reformierter
Kirchen ist damit ein doppeltes Zeichen. Einerseits die
Annahme eines Angebotes, das unsere Verfassung religiösen Gemeinschaften bietet: des Status einer Körperschaft öffentlichen Rechts. Und andererseits die
- so hoffe ich - selbstbewusste Beteiligung an den hier
geführten Debatten um die Frage des richtigen Stellenwerts von Religion in der Gesellschaft - eine Beteiligung, die sich aus den oben skizzierten Erfahrungen
und Überzeugungen speist: der Staat als notwendige
irdische Ordnung, die nach Calvin dafür zu sorgen hat,
dass die Kirche ihren Dienst in Freiheit ausüben kann.
In diesem Sinne ist der Staatsvertrag auch Ausdruck
der besonderen Stellung, die eine weltweite religiöse
Gemeinschaft in einem staatlichen Gemeinwesen hat:
grenzüberschreitende, kulturübergreifende Begegnungen und Erlebnisse zu stiften und möglich zu machen.
Dazu bedarf es ganz profaner Rechtspositionen, wie
sie im Staatsvertrag zum Ausdruck kommen. Selbstverständlich brauchen die Mitarbeitenden in der Verwaltung für die Dauer ihrer Arbeit in Deutschland einen
Aufenthaltstitel, sie benötigen Ausweise und sie müssen sich gesetzlich krankenversichern dürfen. Insofern
kann man sogar davon sprechen, dass es sich gar nicht
um einen religiösen Staatsvertrag im engeren Sinn
handelt, weil keine Vereinbarungen über religiöse
Rechte und Eigenschaften getroffen werden. Religionspolitisch ist das, wie ich ausgeführt habe, aber trotzdem bzw. gerade deswegen zu begrüßen.
Deshalb ein herzliches Willkommen an die Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen in Deutschland.
Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung zu dem Vertrag vom 14. April 2014 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen wird dieser internationalen Dachorganisation reformierter und unierter Kirchen die erforderlichen rechtlichen Grundlagen für die
Wahrnehmung ihrer Aufgaben in Deutschland verschaffen, wenn der Deutsche Bundestag heute zustimmt.
Die Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen umfasst
derzeit 229 nationale Kirchen in 108 Staaten mit rund
80 Millionen Gläubigen weltweit. Allein in Deutschland zählen zu den Mitgliedern der Weltgemeinschaft
die Evangelisch-Reformierte Kirche mit Sitz in Leer,
Ostfriesland, die Lippische Landeskirche mit Sitz in
Detmold, die Evangelisch-Altreformierte Kirche in
Niedersachsen mit Sitz in der Grafschaft Bentheim
sowie der Reformierte Bund mit Sitz in Hannover. In
diesem Reformierten Bund wiederum sind zahlreiche
reformierte Gemeinden aus den großen unierten Landeskirchen der EKD Mitglied - so übrigens auch
meine eigene Kirchengemeinde Wickrathberg.
Zu den Aufgaben des internationalen Verbandes gehören unter anderem die Pflege des ökumenischen und
interreligiösen Dialogs, die Erörterung theologischer
Fragen sowie Missionsarbeit weltweit, bei der die
wirtschaftliche und soziale Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung im Mittelpunkt stehen.
Das Exekutivkomitee der Weltgemeinschaft hat bereits im November 2012 entschieden, seinen Sitz von
Genf nach Hannover zu verlegen. Die EvangelischReformierte Kirche und der Reformierte Bund in
Deutschland haben sich um diesen Sitz beworben. Die
niedersächsische Hauptstadt liegt in unmittelbarer
Nähe zur Evangelisch-Reformierten Kirche und zur
Lippischen Landeskirche, beides Mitgliedskirchen der
WGRK. Außerdem haben der Reformierte Bund, die
Union Evangelischer Kirchen und die Evangelische
Kirche in Deutschland ihren Sitz in Hannover, sodass
bereits heute von einem Zentrum des Protestantismus
in Deutschland gesprochen werden kann.
Die Bundesregierung begrüßt daher ausdrücklich
die Ansiedlung der Weltgemeinschaft Reformierter
Kirchen in Hannover. Die Entscheidung unterstreicht
das positive Verhältnis von Staat und Kirchen in der
Bundesrepublik Deutschland, das auch international
Anerkennung findet. Die Bundesregierung würde auch
andere kirchliche internationale Organisationen willkommen heißen, die diesem Beispiel folgen wollen. Da
es bisher noch keine gesetzliche Regelung über die
Ansiedlung von Nichtregierungsorganisationen in
Deutschland gibt - ein Gaststaatgesetz ist noch nicht
in Kraft -, war es erforderlich, mit der Weltgemeinschaft einen Vertrag zu schließen, der der Organisation, ihren ausländischen Amtsträgern, Beschäftigten
und Gästen bestimmte Rechte einräumt.
Die niedersächsische Landesregierung hat im Vorfeld der Vertragsverhandlungen der Weltgemeinschaft
Reformierter Kirchen als Religionsgemeinschaft auf
ihren Antrag hin den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts gemäß Artikel 140 GG in Verbindung
mit Artikel 137 Absatz 5 Satz 2 WRV verliehen. Besondere Privilegien, die normalerweise mit diesem Status
verbunden sind, zum Beispiel Steuern von ihren Mitgliedern zu erheben, kommen bei der WeltgemeinZu Protokoll gegebene Reden
schaft als internationaler Dachorganisation jedoch
nicht in Betracht.
Daher waren bestimmte Erleichterungen für die
Niederlassung der Weltgemeinschaft und ihre ausländischen Beschäftigten und eingeladenen Gäste zwingend in einem Vertrag zu regeln. Dazu gehören die
kostenlose und zügige Erteilung von Visa für die ausländischen Beschäftigten und Gäste, die Befreiung
vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels für die ausländischen Beschäftigten und ihre unmittelbaren Angehörigen, der Zugang der unmittelbaren Angehörigen zum
deutschen Arbeitsmarkt, die von Zöllen und Steuern
freie Einfuhr von Möbeln und persönlicher Habe der
Beschäftigten, die Erteilung von Sonderausweisen
durch das Auswärtige Amt und der Zugang zur gesetzlichen Krankenversicherung.
Der Vertrag, der sich damit auf Gegenstände bezieht, deren Regelung dem Gesetzgeber vorbehalten
sind, zum Beispiel beim Aufenthaltsgesetz und beim
Fünften Buch Sozialgesetzbuch, bedarf für sein Inkrafttreten noch der Zustimmung des Deutschen Bundestages in Form eines Gesetzes. Der Innenausschuss
hat in seiner Sitzung am 8. Oktober 2014 erfreulicherweise einstimmig die Annahme des Gesetzentwurfs in
unveränderter Form beschlossen. Ich bitte Sie daher
um breite Zustimmung zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/2785, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 18/2587 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. Wer ist dafür? - Wer ist dagegen? - Wer
enthält sich? Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen des gesamten Hauses angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Damit ist dieser Gesetzentwurf mit den Stimmen des gesamten Hauses angenommen.
Ich rufe jetzt auf den Tagesordnungspunkt 19:
- Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom
22. Juni 2010 zur zweiten Änderung des Partnerschaftsabkommens zwischen den Mitgliedern der Gruppe der Staaten in Afrika, im
Karibischen Raum und im Pazifischen Ozean
einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits
({0})
Drucksache 18/2591
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Internen Abkommen vom 24. Juni
2013 zwischen den im Rat vereinigten Vertretern der Regierungen der Mitgliedstaaten der
Europäischen Union über die Finanzierung
der im mehrjährigen Finanzrahmen für den
Zeitraum 2014 bis 2020 vorgesehenen Hilfe
der Europäischen Union im Rahmen des
AKP-EU-Partnerschaftsabkommens und über
die Bereitstellung von finanzieller Hilfe für
die überseeischen Länder und Gebiete, auf
die der vierte Teil des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union Anwendung findet ({1})
Drucksache 18/2588
- Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung ({2})
Drucksache 18/2840
- Bericht des Haushaltsausschusses ({3})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Drucksache 18/2843
Auch hierzu sollen die Reden zu Protokoll gegeben
werden. - Ich sehe keinen Widerspruch. Sie sind also damit einverstanden.
Verträge sind oft technisch und „trocken“, aber
eben auch die Grundlage für reale Projekte in der Entwicklungszusammenarbeit und damit für Veränderungen im Leben von vielen Millionen Menschen. Es ist
mir wichtig, ins Bewusstsein zu rufen, dass es bei all
den technischen Details, die gleich kommen, tatsächlich um das Schicksal von Menschen geht.
Die heute zur abschließenden Beratung und Abstimmung vorliegenden Gesetzentwürfe der Bundesregierung sind eine Fortschreibung und Aktualisierung bestehender Verträge zwischen der Europäischen Union,
EU, und den Staaten Subsahara-Afrikas, der Karibik
und des Pazifiks, kurz AKP-Staaten. Im Vertragstext
des am 23. Mai 2000 in Cotonou geschlossenen
AKP-EG-Partnerschaftsabkommens, auch CotonouAbkommen, das die traditionell gute Partnerschaft
zwischen der EU und den AKP-Staaten regelt, wurden
regelmäßige Revisionen vereinbart, damit das Vertragswerk aktuell bleibt und auf jüngere Entwicklungen in der Welt reagiert werden kann. Dem trägt der
Gesetzentwurf auf Drucksache 18/2591 als zweite Änderung des Partnerschaftsabkommens zwischen den
Mitgliedern der Gruppe der AKP-Staaten einerseits
und der EU und ihren Mitgliedstaaten andererseits
Rechnung.
Das sogenannte Interne Abkommen auf Drucksache
18/2588 dient der Einrichtung und Finanzausstattung
des 11. Europäischen Entwicklungsfonds, EEF. Sobald
das Interne Abkommen durch alle Mitgliedstaaten
Frank Heinrich ({0})
ratifiziert ist, stehen für die Entwicklungszusammenarbeit der EU mit den AKP-Staaten - basierend auf
dem AKP-EG-Partnerschaftsabkommen - von 2014
bis 2020 insgesamt 30,506 Milliarden Euro zur Verfügung. Die Bundesrepublik beteiligt sich mit
6 278 073 788 Euro und ist damit größter Einzahler
aller Mitgliedstaaten ({1}). Dadurch erhält Deutschland im EEF-Verwaltungsausschuss auch den größten Stimmanteil und
kann die Mittelvergabe entsprechend beeinflussen.
Die EU-Kommission ruft die Gelder gemäß ihrer
Programmierung bzw. Bedarfsanmeldungen sowie
der darauf basierenden, mit qualifizierter Mehrheit
angenommenen EU-Ratsbeschlüsse bei den Mitgliedstaaten dreimal jährlich ab. Die Mittel werden als Zuschüsse an die AKP-Staaten vergeben. Nach meiner
Einschätzung belegt das Abkommen einmal mehr, wie
wichtig der EU die Zusammenarbeit mit den AKPStaaten ist, für mich als „Afrika-Politiker“ insbesondere mit Subsahara-Afrika.
Des Weiteren werden durch das Interne Abkommen
Gelder für die Überseeischen Länder und Gebiete,
ÜLG, für die Verwaltungskosten der EU-Kommission
sowie für die Europäische Investitionsbank, EIB, wie
etwa für den Ausschuss für die Verwaltung der Mittel
der AKP-Investitionsfazilität bei der EIB, zur Verfügung gestellt.
Die Ratifizierung insbesondere des Internen Abkommens bis Ende des Jahres ist wichtig, damit der
11. EEF vollumfänglich arbeitsfähig ist. Das von der
Europäischen Kommission bereits prognostizierte Zusagevolumen an die AKP-Staaten in 2015 hängt stark
vom Zeitpunkt der Ratifizierung des Internen Abkommens des 11. EEF ab. Hier heißt es nun^, zügig zu sein.
Eine Vielzahl von Projekten, die bereits ins Auge gefasst sind, können erst unter dem 11. EEF verbindlich
zugesagt werden. Mit dem Gesetzentwurf auf Drucksache 18/2588 werden die von deutscher Seite erforderlichen Voraussetzungen für das Inkrafttreten des Internen Abkommens nach Artikel 59 Absatz 2 Satz 1 des
Grundgesetzes und für die Einrichtung des 11. EEF
geschaffen.
Die Ressortabstimmung zu beiden Gesetzentwürfen
verlief einvernehmlich. Sämtliche Ausschüsse, an die
beide Vertragsgesetzentwürfe überwiesen wurden,
nahmen die Entwürfe an, bei Stimmenthaltung der Oppositionsfraktionen bzw. im Falle des Internen Abkommens auch mit Zustimmung der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen. Es freut mich, dass die Notwendigkeit der
Gesetzentwürfe in diesem Maße anerkannt wird. Ich
stimme den beiden Gesetzentwürfen gerne zu und
möchte abschließend noch einmal betonen, dass hinter
diesen Vertragstexten und Zahlen Menschen stehen,
die von der Entwicklungszusammenarbeit der EU mit
den AKP-Staaten profitieren werden.
Das Thema Handel ist derzeit in aller Munde. Seit vielen Monaten debattieren wir über das geplante Handelsabkommen der EU mit den USA, TTIP, der Vertragstext
für das Handelsabkommen mit Kanada, CETA, liegt uns
bereits vor. Ich begrüße sehr, dass durch die breite öffentliche Debatte, die wir im Zuge dieser Abkommen führen,
das Thema Handel eine derartige hohe Aufmerksamkeit
genießt, wie ich es in meiner nun mehr als zwölfjährigen
Tätigkeit als Berichterstatter für das Thema Welthandel
im Entwicklungsausschuss noch nicht erleben durfte.
Doch dürfen wir nicht zulassen, dass der Anschein entsteht, dies seien die einzigen Freihandelsverträge,
über die wir zu beraten haben. Wir dürfen die zahlreichen Abkommen, die die EU derzeit mit Entwicklungsund Schwellenländern verhandelt bzw. plant zu verhandeln, nicht übersehen. So steht beispielsweise das
Abkommen mit Vietnam kurz vor dem Abschluss.
Auch heute haben wir über zwei Gesetzesentwürfe
abzustimmen, die sich teilweise mit Freihandelsabkommen befassen, nämlich den Partnerschaftsabkommen zwischen der EU und den Mitgliedern der Gruppe
der Regionen Afrika, Karibik und Pazifik, kurz AKP.
Bereits im Jahr 2000 wurde das Cotonou-Abkommen zwischen der Europäischen Union und den AKPStaaten vereinbart, um die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen durch eine entwicklungspolitische
Partnerschaft auf eine neue Grundlage zu stellen. Dabei wurde vereinbart, WTO-konforme Wirtschaftspartnerschaftsabkommen, kurz EPAs, auszuhandeln. Für
uns Sozialdemokraten muss das oberste Ziel von solchen Partnerschaftsabkommen sein, Entwicklungsländer in die Lage zu versetzen, besser am Welthandel
teilnehmen zu können. Dazu sollen der Süd-Süd-Handel sowie die regionale und die interregionale Kooperation gestärkt werden, zudem sollen die Kapazitäten
der AKP-Staaten bei internationalen Verhandlungen
und bei Produktions- und Handelsfragen ausgebildet
werden.
Den AKP-Staaten muss die Möglichkeit eingeräumt
werden, sensible Produkte von der Liberalisierung
auszunehmen und dauerhaft zu schützen. Für alle anderen Produktbereiche müssen die Vertragspartner die
Möglichkeit erhalten, längstmögliche Übergangsfristen zu vereinbaren. Nur so können sich die im Aufbau
befindlichen Industrie- und Dienstleistungssektoren in
Entwicklungsländern wettbewerbsfähig entwickeln.
Wir haben in unserem Koalitionsvertrag mit der
Unionsfraktion eindeutig unseren Anspruch an Freihandelsabkommen formuliert. Dort steht, dass wir uns
für verbindlich festgeschriebene, international anerkannte menschenrechtliche, ökologische und soziale
Mindeststandards wie die ILO-Kernarbeitsnormen als
festen Bestandteil aller Handelsabkommen der EU
einsetzen.
Dieses Ziel muss seine Umsetzung finden: In allen
Wirtschaftspartnerschaftsabkommen, die die Europäische Union abschließt, müssen diese Mindeststandards verbindlich verankert sein - nur so ist ein fairer
Welthandel möglich. Wir fordern daher auch von den
Partnerländern eine Verpflichtung, dass sie die politiZu Protokoll gegebene Reden
schen, kulturellen und sozialen Menschenrechte achten und die Einhaltung und Umsetzung aller acht ILOKernarbeitsnormen verbindlich gewährleisten.
Eine Chance, damit einen entscheidenden Schritt
weiterzukommen, erhalten wir bereits im kommenden
Jahr. Der Vertragstext des Cotonou-Abkommens sieht
vor, dass das Abkommen nach jeweils fünf Jahren erneut überarbeitet werden muss, 2015 steht diese Überarbeitung erneut an. Hier besteht die Chance, eine Anpassung von Artikel 50, in dem die Arbeitsstandards
aufgeführt sind, durchzuführen und verbindliche Regelungen zu verankern. Gestrichen werden sollte vor allem der Absatz, wonach Arbeitsnormen nicht für protektionistische Zwecke genutzt werden sollten. Im
Gegenteil sollten bei Verstößen gegen Arbeitnehmerrechte Handelssanktionen folgen. Dies ist allerdings
nicht Inhalt des vorliegenden Gesetzentwurfes, der den
Artikel 50 überhaupt nicht zum Gegenstand hat, sodass die Formulierung aus dem Jahr 2000 weitergilt.
In den vergangenen Monaten haben verschiedene
afrikanische Staaten ihre Interimsabkommen abgeschlossen, was vor allem auf den Druck, der durch die
Fristsetzung der Europäischen Union auf den 1. Oktober 2014 entstanden ist, zurückzuführen ist. Für die
Länder, die, wie beispielsweise Kenia, noch kein Interimsabkommen abgeschlossen haben, muss die Europäische Union unbedingt eine Fristverlängerung aussprechen, damit diese Staaten ihre Marktzugänge nicht
verlieren. Ich sehe es als dringende Aufgabe der Europäischen Union, mit diesen Staaten nachzuverhandeln
und die Abkommensentwürfe nachzubessern.
Die heute vorliegenden Gesetzentwürfe beziehen
sich auf die Revision aus dem Jahr 2010 und sind
kein Freibrief für Wirtschaftspartnerschaftsabkommen. Diese müssen meiner Ansicht nach als gemischte
Abkommen dem Deutschen Bundestag jeweils noch zur
Ratifizierung vorgelegt werden. Wir müssen uns dann
hier im Parlament jedes einzelne Abkommen genau
anschauen und auch den Mut haben, gegebenenfalls
bereits EU-seitig beschlossene Abkommen aufzuhalten
und Nachbesserungen einzufordern. Wir wollen Fairhandels- und keine Freihandelsabkommen.
Zunächst möchte ich mein Befremden darüber ausdrücken, dass der Bundestag mit zwei derart weitreichenden Gesetzentwürfen nur ganz am Rande und
auch reichlich spät befasst wird. Wir hatten leider auf
Betreiben der Koalition keinerlei Debatte im federführenden Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung über die beiden Vorlagen. Damit
höhlen hier Parlamentarier und Parlamentarierinnen
ihre eigenen, wenigen Rechte auch noch weiter aus.
Denn, sollen Vorgänge, die die internationalen Beziehungen der Europäischen Union zu immerhin fast
80 Staaten Afrikas, der Karibik und des Pazifiks betreffen und die die Umsetzung von über 30 Milliarden
Euro im Rahmen dieser Beziehungen regeln, nur Angelegenheit von EU-Bürokraten sein, und die Parlamente
nicken nur noch ab? Mein Selbstverständnis als Parlamentarierin ist ein anderes: Auch wenn es hier um
zwischen vielen Akteuren ausgehandelte Verträge
geht, die schwerlich zu verändern sind, muss in den
Parlamenten zumindest die Gelegenheit bestehen, sich
kritisch damit auseinanderzusetzen. Wir haben zu beiden Gesetzentwürfen erhebliche Kritik. Wir werden
den Gesetzentwürfen deshalb nicht zustimmen.
Worum geht es? Im Juni 2000 wurde in Cotonou,
Benin, das AKP-EG-Partnerschaftsabkommen zwischen den damaligen EG-Mitgliedstaaten und 78 afrikanischen, karibischen und pazifischen Staaten, AKPStaaten, für den Zeitraum von 20 Jahren abgeschlossen. Das Abkommen löste das vorherige von Lomé,
Togo, ab. Es wird alle fünf Jahre einer Revision unterzogen. Die zweite Revision wurde 2010 mit dem Änderungsabkommen von Ouagadougou, Burkina Faso,
vorgenommen. Dieses Änderungsabkommen liegt uns
nun als Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Ratifizierung vor.
Das Änderungsabkommen soll der wachsenden Bedeutung neuer regionaler Akteure Rechnung tragen,
insbesondere dem Bedeutungsgewinn der Afrikanischen Union, AU. Als neue lokale Akteure sollen Parlamente, kommunale Körperschaften, die Zivilgesellschaften und die Privatwirtschaft stärker einbezogen
werden. Der Zusammenhang zwischen Sicherheit und
Entwicklung wird nun stärker betont, im Hinblick auf
fragile Staaten wird auf eine Kombination von diplomatischer, entwicklungspolitischer und sicherheitspolitischer Zusammenarbeit gesetzt. Genau diese Ausrichtung auf Vernetzte Sicherheit und zivil-militärische
Zusammenarbeit lehnen wir aber ab.
Die Integration der AKP-Staaten in das Weltwirtschaftssystem ist strategisches Ziel des Änderungsabkommens und soll durch Handelshilfe unterstützt
werden. Wir kritisieren, dass die Finanzierung der
Handelshilfe, wie sie das Abkommen vorsieht, zulasten
anderer entwicklungspolitischer Aufgaben geht. Letztlich werden Entwicklungsgelder umgewidmet, um die
Interessen der europäischen Unternehmen zu bedienen. Im Abkommen ist viel von regionaler Integration
und von entwicklungspolitischer Kohärenz die Rede.
Die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen, die die EU
sehr energisch und zuletzt leider erfolgreich vorangetrieben hat, sprechen aber eine ganz andere Sprache.
Einige der neuen Festlegungen begrüßen wir, insbesondere die Stärkung der Paritätischen Parlamentarischen Versammlung und der nationalen, regionalen
und lokalen Parlamente. Diese Festlegung steht nun
aber im krassen Widerspruch zum Verfahren, mit dem
das Änderungsabkommen hier - vier Jahre nach Abschluss - behandelt wird.
Dem Abkommen liegt ein Finanzprotokoll bei, das
die finanzielle Zusammenarbeit zwischen EG, jetzt EU,
und AKP regelt. Über die Bereitstellung der Finanzierung schließen die Mitgliedstaaten im Rat ein Internes
Abkommen zur Einrichtung und Ausstattung des EuroZu Protokoll gegebene Reden
päischen Entwicklungsfonds, EEF. Auch dieses Interne
Abkommen liegt hier als Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Ratifizierung vor. Darin wird die Laufzeit des aktuellen Europäischen Entwicklungsfonds
- 11. EEF - mit der Laufzeit des Mehrjährigen Finanzrahmens der EU synchronisiert. Hintergrund ist, dass
der nächste EEF ab 2020 Teil des Europäischen Haushalts werden soll. Bislang läuft der EEF außerhalb des
Haushalts und kann daher auch nicht vom Europäischen Parlament kontrolliert werden.
Die Fraktion Die Linke begrüßt es grundsätzlich,
dass der EEF ab 2020 in den EU-Haushalt integriert
werden soll. Wir haben dies immer gefordert, um die
Transparenz zu erhöhen und die parlamentarische
Kontrolle zu ermöglichen. Allerdings stellen sich auch
Fragen im Hinblick auf die Beteiligung der Partnerstaaten an der Programmierung des EEF: Wie kann
verhindert werden, dass eine Stärkung des EP dazu
führt, dass wichtige Entscheidungen nur noch zwischen EP und Kommission verhandelt werden und die
Partner im Süden vollkommen ausgeschlossen bleiben? Wir sind der Meinung, dass eine echte Stärkung
der Paritätischen Versammlung aus EU- und AKPParlamentariern eine gute Lösung wäre.
Der 11. EEF soll mit insgesamt 30,5 Milliarden
Euro ausgestattet werden. Deutschlands Anteil daran
beträgt 6,28 Milliarden Euro. Das Interne Abkommen
legt die politischen und strategischen Grundlagen und
Ziele der Entwicklungsfinanzierung dar: Beseitigung
der Armut, nachhaltige Entwicklung und schrittweise
Integration der AKP-Staaten in die Weltwirtschaft. Da
steht aber auch: Die Durchführung soll im Einklang
mit der Organisation und Arbeitsweise des Europäischen Auswärtigen Dienstes stehen. Was heißt das
denn? Die Linksfraktion stand der Einrichtung des
Europäischen Auswärtigen Dienstes skeptisch gegenüber. Insbesondere haben wir uns dagegen gewehrt,
dass über den EAD geo- und sicherheitspolitische
Erwägungen in die Programmierung der entwicklungspolitischen Instrumente Eingang finden. Insofern
haben wir hier nach wie vor Klärungsbedarf, was
diese Verquickung betrifft.
Aus dem EEF werden derzeit immer noch Unterstützungsleistungen für Militäreinsätze in Afrika finanziert. Was vor Jahren als „Übergangslösung“ bezeichnet worden war, findet nach wie vor statt. Soll das den
ganzen 11. EEF über, also bis 2020, so weiterlaufen?
Die Finanzierung von Militärmissionen, Ausstattung
der Soldaten etc. mit Entwicklungsgeldern ist nicht nur
politisch inakzeptabel, sondern auch rechtlich fragwürdig. Die Linksfraktion will dieser Gelder umwidmen zugunsten eines friedenspolitischen Instruments
im EEF, also eines Afrikanischen Zivilen Friedensdienstes. Wir fordern die Bundesregierung auf, eine
solche Initiative in Brüssel voranzutreiben.
Mit den beiden vorliegenden Gesetzesentwürfen
sollen die inhaltliche Revision des Cotonou-Abkommens und die Verabschiedung des Budgets für den
Europäischen Entwicklungsfonds, EEF, ratifiziert werden. Leider können wir beiden Entwürfen nicht zustimmen.
Wir befürworten zwar die Aktualisierung politischer und entwicklungspolitischer Themen im
Cotonou-Abkommen, wie die Betonung regionaler
Integration und die Einführung der Bekämpfung des
Klimawandels. Aber die Entwicklung des Abkommens
im Bereich Handel läuft in die grundsätzlich falsche
Richtung. Sie hat bisher eher zur Verschlechterung der
Beziehungen zwischen Europa und Afrika beigetragen.
Die im Entwurf festgehaltene „Bereinigung“ um das
„gegenstandslos gewordene“ AKP-EG-Handelsregime, das nun durch die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen, EPAs, ersetzt wird, kritisieren wir auf das
Schärfste. Die vorgesehene Handelshilfe, die vor allem
auf eine Umsetzung der EPAs abzielt, können wir nicht
durch ein Ja zum Gesetzentwurf legitimeren.
Erinnern wir uns: Das Cotonou-Abkommen umfasst
drei wesentliche Säulen: die Entwicklungszusammenarbeit, Wirtschafts- und Handelsbeziehungen und die
politische Dimension. Es wurde beschlossen, um
gemeinsam mit den afrikanischen Staaten Armut zu
bekämpfen, einhergehend mit einer schrittweisen
Eingliederung der AKP-Staaten in die Weltwirtschaft.
Das Abkommen von 2000 hebt die Gleichheit der Partner und ihre Eigenverantwortung hervor.
So wie jedoch die Handelssäule heute durch die mit
enormem politischen Druck durchgesetzte Unterzeichnung der EPAs ausgestaltet wurde, beinhaltet „Cotonou“ einen eindeutigen Ziel- und Interessenskonflikt
von Armutsbekämpfung und Handelspolitik. Die negativen Auswirkungen der EPAs auf die Zielerreichung
der Armutsbekämpfung sind eindeutig. Sie drohen eine
eigenständige und nachhaltige Entwicklung in den
Partnerländern zu verhindern. Mit ihrem Abschluss
sollen sich die AKP-Staaten unter anderem zum Abbau
von Importzöllen, zum Verbot von Exportsteuern und
zur Liberalisierung ihrer öffentlichen Dienstleistungsmärkte verpflichten. Damit werden wichtige entwicklungspolitische Steuerungsinstrumente der AKP-Regierungen zugunsten eines freien Marktzugangs für
europäische Unternehmen preisgegeben.
Die EU braucht eine grundsätzlich andere Handelspolitik; die bisherige behindert und konterkariert
unsere Bemühungen um eine nachhaltige und menschenrechtsbasierte Entwicklung weltweit. Es stellt
sich die grundsätzliche Frage, wie der Fokus auf
Armutsbekämpfung im Rahmen des Cotonou-Abkommens wieder gestärkt werden kann, ohne durch die
handelspolitische Faktenschafferei torpediert zu
werden!
Auch zur Verabschiedung des Budgets für den Europäischen Entwicklungsfonds, EEF, enthalten wir uns.
Wir begrüßen zwar sehr die darin angelegte Verschiebung des EEF in den regulären Haushalt der EU
- endlich wird somit die parlamentarische Kontrolle
Zu Protokoll gegebene Reden
über die Mittelverwendung sichergestellt -, der
Finanzierung der African Peace Facility aus dem EEF
stehen wir aber sehr skeptisch gegenüber. EEF-Aktivitäten gelten als Entwicklungshilfeleistung, zertifiziert
vom DAC in Paris, und dürfen daher nicht für Militärausbildung ausgegeben werden. Die African Peace
Facility dient aber dem Aufbau der Afrikanischen
Friedens- und Sicherheitsarchitektur, APSA, die neben
einer zivilen Dimension eben auch die Stärkung der
militärischen Schlagkraft umfasst. Letzteres darf nicht
aus dem EEF finanziert werden - Maßnahmen im militärischen Bereich dürfen nicht zulasten der Mittel gehen, die für die nachhaltige Bekämpfung von Hunger
und Armut bereitgestellt werden.
Wir kommen zur
zweiten Beratung
und Schlussabstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zu dem
Zweiten Änderungsabkommen zum AKP-EU-Partnerschaftsabkommen. Der Ausschuss für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/2840, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 18/2591 anzunehmen. Das ist ein Vertragsgesetz, und deshalb gibt es nur eine zweite Lesung.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, sich zu erheben. Wer gegen diesen Gesetzentwurf stimmt, den bitte ich, sich jetzt zu erheben. - Wer
enthält sich? - Dann ist dieser Gesetzentwurf mit den
Stimmen von CDU/CSU und SPD bei Enthaltung der
Linken und von Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes
zu dem Internen Abkommen über die Finanzierung der
im mehrjährigen Finanzrahmen vorgesehenen Hilfe der
Europäischen Union im Rahmen des AKP-EU-Partnerschaftsabkommens. Der Ausschuss für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung empfiehlt unter
Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/2840, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 18/2588 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. Wer ist dafür? - Wer ist dagegen? - Wer
enthält sich? - Damit ist dieser Gesetzentwurf in zweiter
Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD bei
Enthaltung von den Linken und Bündnis 90/Die Grünen
angenommen.
Wir kommen jetzt zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist dieser
Gesetzentwurf angenommen mit den Stimmen von CDU/
CSU und SPD bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und den Linken.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung angekommen.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 17. Oktober 2014,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen einen
angenehmen Abend. Kommen Sie morgen gut erholt
und ausgeruht um 9 Uhr wieder hierher ins Plenum.