Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich.
Es gibt keine Änderungen der Tagesordnung oder andere aufregende amtliche Mitteilungen, sodass wir ohne
jeden weiteren Verzug in unsere vereinbarte Tagesordnung eintreten können.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Jahresbericht der Bundesregierung zum
Stand der Deutschen Einheit 2014
Drucksache 18/2665
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsauschuss
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. - Auch dazu
gibt es offenkundig Einvernehmen. Dann können wir so
verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Parlamentarischen Staatssekretärin Iris Gleicke.
({1})
Iris Gleicke, Beauftragte der Bundesregierung für
die neuen Bundesländer:
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit steht in
diesem Jahr ganz im Zeichen der friedlichen Revolution
in der DDR. Er würdigt die Verdienste der Bürgerrechtler und Demonstranten, die sich mutig gegen Diktatur
und staatliche Willkür erhoben haben. Sie haben den
Grundstein für Freiheit und Demokratie in Ostdeutschland gelegt und die Einheit unseres Landes überhaupt
erst möglich gemacht.
({2})
Sie haben die Mauer eingerissen.
Ich weiß, wir sprechen häufig vom Fall der Mauer.
Aber diese Mauer ist nicht von alleine umgefallen - im
Gegenteil. Viele Menschen haben erfahren müssen, wie
brutal und unüberwindlich diese Mauer gewesen ist.
Nicht wenige von denen, die versucht haben, sie zu überwinden, sind im Stacheldraht verblutet. Das alles dürfen
wir niemals vergessen.
({3})
Wir dürfen auch niemals vergessen, wie unglaublich
viel wir den Demokratie- und Freiheitsbewegungen im
Ostblock zu verdanken haben: in Ungarn, in der Tschechoslowakei und in Polen. Viel zu verdanken haben wir
einzelnen Menschen wie Michail Gorbatschow, dem ich
von hier aus gute Besserung wünsche. Ich habe heute
Morgen gelesen, dass er im Krankenhaus liegt. Ich
denke an Willy Brandt, Helmut Kohl und Hans-Dietrich
Genscher.
Aber ihre Freiheit, meine sehr verehrten Damen und
Herren, haben sich die Ostdeutschen selber erkämpft,
mit einer Revolution, bei der kein einziger Schuss gefallen ist und die wir deshalb voller Stolz als friedliche Revolution bezeichnen dürfen.
Beauftragte der Bundesregierung Iris Gleicke
({4})
Dass es so friedlich bleiben würde, war damals keineswegs abzusehen. Es gehörte vor 25 Jahren Mut dazu, auf
die Straße zu gehen und zu demonstrieren, in Leipzig
und anderen Städten der DDR.
Ich kenne keinen, der damals keine Angst gehabt
hätte. Denn die Bilder der brutalen Gewalt auf dem Platz
des Himmlischen Friedens im fernen Peking liefen in
dieser Zeit quasi als Dauerschleife im DDR-Fernsehen.
Man darf nicht vergessen, dass Stasi-Vizechef Mittig am
26. September 1989 die Chefs der MfS-Bezirksverwaltungen zusammenrief und forderte, die „feindlich-oppositionellen Zusammenschlüsse“ mit dem Ziel der Zerschlagung „operativ zu bearbeiten“.
Ich erinnere auch daran, dass Verteidigungsminister
Keßler zum 40. Jahrestag der DDR vorsorglich die NVA
für den Einsatz in Ostberlin in Stellung brachte, auf
Grundlage eines Honecker-Befehls „zur Verhinderung
von Provokationen unterschiedlicher Art“.
Die Angst war da. Sie war ganz real. Aber wir haben
sie überwunden. Dieser Mut und die Leidenschaft der
friedlichen Revolutionäre werden in diesem Bericht gewürdigt, und es wird das Leben der ganz großen Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in der DDR gewürdigt,
die ganz einfach versucht hat, ein anständiges Leben zu
führen. Wolfgang Thierse hat in diesem Zusammenhang
einmal vom richtigen Leben im falschen System gesprochen. Das war ein Leben voller Widersprüche. Wir haben gewusst, dass in der Disko die Stasi immer mittanzt.
Aber wir sind trotzdem gerne tanzen gegangen. Es gibt
die schönen Geschichten vom Stolz auf die bestandene
Prüfung, vom Kribbeln im Bauch beim ersten Kuss, von
der ersten Fahrt im eigenen Auto, vom Gartenhaus, in
dem man zumindest weitestgehend seine Ruhe hatte vor
diesem alles wissen wollenden Staat. Aber ich will keine
Ostalgie. Ich will, dass auch die anderen, die schlimmen
Geschichten erzählt werden, die Geschichten vom kleinen und großen Verrat, von Demütigung und Verfolgung, von Knast und Zwangsarbeit, vom Verlust geliebter Menschen durch Ausbürgerung und Flucht und
schlimmstenfalls durch den Tod. All diese Geschichten,
die schönen und die hässlichen, machen die irrsinnigen
Widersprüche dieser DDR-Gesellschaft deutlich. Aus all
dem und noch viel mehr hat unser Leben bestanden.
Roland Jahn hat völlig recht mit seiner Feststellung, dass
niemand „nur Rebell oder nur Angepasster“ war. Das
gilt es zu begreifen, und das gilt es zu respektieren.
({5})
Angesichts dessen empfinde ich die aktuelle Debatte
darüber, ob die DDR nun ein Unrechtsstaat war oder
nicht, schlicht und ergreifend als banal.
({6})
Im Grunde ist es doch ganz einfach: Die DDR war eine
Diktatur, übrigens eine ziemlich üble und spießige Diktatur. Eine Diktatur ist nun einmal ein Unrechtsstaat. Das
gehört zu ihrem Wesen.
({7})
Aber das sagt nur etwas über das System aus. Es sagt
wenig bis nichts über die Menschen, die in diesem System gelebt haben. Deshalb finde ich, dass uns solche Debatten nicht weiterbringen.
({8})
Viel wichtiger ist es, die Erinnerung zu bewahren und
die Opfer dieses Systems angemessen zu würdigen. Deshalb ist es mir so wichtig, dass die Bundesregierung gerade beschlossen hat, die Opferrenten zu erhöhen.
({9})
Wir sind als Ostdeutsche und als Westdeutsche mit
ganz unterschiedlichen Erfahrungen in die Einheit gegangen. Den Ostdeutschen hat das mehr abverlangt als
den Westdeutschen. Das hat etwas mit dem zu tun, was
wir heute als Transformation beschreiben. Während die
Westdeutschen ihr vertrautes Leben weiterführen konnten, brach über die Ostdeutschen nach 1990 eine totale
Veränderung so gut wie aller Lebensbereiche herein: ein
vollständig neues Wirtschafts-, Rechts- und Gesellschaftssystem, eine neue Verwaltung, Bildungsabschlüsse, um deren Anerkennung man sich kümmern
und teilweise kämpfen musste, Alteigentümer, die Ansprüche geltend machten. Es kamen die Treuhand und
eine Phase der Deindustrialisierung, der Massenarbeitslosigkeit und einer massiven Abwanderung. Ich kann
und will das alles hier nicht aufzählen.
Tatsache ist, dass wir Ostdeutschen in den vergangenen fast 25 Jahren eine unglaubliche Anpassungsleistung
hinter uns gebracht haben. Für mich als Abgeordnete mit
einem schönen Büro im Deutschen Bundestag war das
relativ leicht. Andere hatten und haben es da schwerer.
Viele haben ihre Arbeit verloren und nie wieder eine vernünftige und anständig bezahlte Arbeit gefunden. Wiederum andere haben versucht, sich eine eigene Existenz
aufzubauen, und sind dabei zum Teil entsetzlich gescheitert. Es gibt kaum einen Ostdeutschen, der so etwas nicht
aus der eigenen Familie oder aus dem Freundes- und
Bekanntenkreis kennt. Manchmal wird mit einem sehr
verächtlichen Unterton von den Verlierern der Einheit
gesprochen. Ich finde das nicht nur dumm, sondern
schändlich. Auch sie gehören zu dieser Geschichte der
deutschen Einheit. Auch ihr Beitrag zählt. Sie haben zumindest Anspruch auf unseren Respekt.
({10})
Meine Damen und Herren, in meinen Augen ist die
Geschichte der deutschen Einheit keine reine Erfolgsgeschichte. Trotzdem sage ich, dass ich sehr stolz auf das
Beauftragte der Bundesregierung Iris Gleicke
bin, was wir Ostdeutschen in den letzten 25 Jahren erreicht haben: ein mittlerweile wirklich gut ausgebautes
Verkehrsnetz, die Beseitigung der verheerenden Umweltschäden, sanierte und liebevoll restaurierte Innenstädte, eine verbesserte Wohn- und Lebensqualität sowie
eine moderne, mittelständisch geprägte Industrie- und
Forschungslandschaft. Hinzu kommen Universitäten,
deren Ruf so gut ist, dass immer mehr junge Menschen
aus dem Westen dort studieren wollen. Ohne die große
Solidarität des Westens hätten wir das nie geschafft.
Diese Solidarität wird geradezu entwertet von all den
Erbsenzählern, die uns immer wieder vorrechnen, wie
viele Milliarden, Billionen oder Fantastilliarden Euro bis
jetzt schon im sogenannten Milliardengrab Aufbau Ost
verschwunden sind.
Ich sage Ihnen hier sehr offen: Der Aufbau Ost ist
noch längst nicht abgeschlossen. Auch nach 24 Jahren
gibt es immer noch deutliche Unterschiede: eine Wirtschaftskraft, die gerade mal zwei Drittel von der des
Westens beträgt, ein viel geringeres Steueraufkommen
der Länder und Kommunen sowie Löhne und Gehälter,
die im Durchschnitt 20 Prozent unter denen im Westen
liegen. Sie wissen, meine Damen und Herren, in manchen Branchen haben wir eine Angleichung von 97 Prozent erreicht, in anderen Branchen aber liegen wir bei
45 Prozent Unterschied. Hier wird eine ganz große Disparität deutlich. Wir haben eine deutlich höhere Arbeitslosigkeit und einen wirtschaftlichen Aufholprozess, der
sich so sehr abgeschwächt hat, dass die Pessimisten behaupten könnten, er sei zum Stillstand gekommen.
Wir werden noch eine ganze Weile brauchen, um
diese Unterschiede zu beseitigen. Beim Rentenrecht aber
ist es anders; denn wir werden das in Ost und West noch
immer unterschiedliche Rentensystem in dieser Legislaturperiode endlich angleichen, damit es in dieser Frage
ab 2019 keine Unterschiede mehr gibt.
({11})
Meine Damen und Herren, alle Wirtschaftsdaten besagen, dass der Osten auch über das Jahr 2019 und damit
über das Ende des Solidarpaktes hinaus eine verlässliche
Förderung braucht. Wenn diese nicht kommt, wenn wir
eine Verlängerung nicht hinkriegen, würgen wir den Motor ab, der gerade erst richtig ins Laufen kommt. Dann
waren alle bisherigen Anstrengungen für die Katz. Ich
bin deshalb wirklich froh darüber, dass unsere Bundeskanzlerin, unser Vizekanzler, unser Bundesfinanzminister und unsere Bundesfamilienministerin dazu klare Ansagen gemacht haben. Danke schön.
({12})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir halten
am Auftrag des Grundgesetzes zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse fest. Das gilt natürlich auch
für die strukturschwachen westdeutschen Regionen.
Auch sie brauchen eine solche verlässliche Förderung.
({13})
Es ist deshalb wirklich keine Übertreibung, wenn ich
feststelle: Die Neuordnung des Bund-Länder-Finanzausgleichs, die sich diese Koalition vorgenommen hat, ist
eine echte Schicksalsfrage nicht nur für Ostdeutschland,
sondern für unser ganzes Land.
({14})
Ich bin mir sicher, dass wir diese Aufgabe gemeinsam
meistern werden, weil wir alle wissen, worum es geht.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wir haben
auf dem Weg zur inneren Einheit große Fortschritte gemacht. Das Ziel erreicht haben wir noch nicht. Aus meiner Sicht liegt das daran, dass dieser Weg nur über gegenseitigen Respekt und gegenseitige Anerkennung
beschritten werden kann. Das klingt so leicht und fällt
doch vielen offenbar recht schwer. Die jungen Leute machen es uns vor mit ihrem unverkrampften Umgang miteinander. Ich finde, auch das ist in diesem Jahr ein guter
Grund zum Feiern.
Schönen Dank.
({15})
Dietmar Bartsch ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau
Gleicke, das ist der erste Jahresbericht zum Stand der
Deutschen Einheit, den Sie vorstellen. Ich muss ganz
klar sagen: Im Vergleich zu anderen Politikfeldern, zum
Beispiel der Steuerpolitik oder den ungleichen Einkommens- und Vermögensverhältnissen, bei denen von dem,
was die SPD als Opposition und im Wahlkampf gesagt
hat, nichts übrig geblieben ist, ist es hier anders. Dieser
Bericht trägt Ihre Handschrift. Er ist besser als der Ihrer
Vorgänger. Dazu gehört auch nicht sehr viel, und das ist
auch nicht Ihr Maßstab, hoffe ich, aber das muss ich und
will ich klar anerkennen.
({0})
Es ist auch gut - das will ich deutlich sagen -, dass
Sie in dem Bericht die 25 Jahre nach der friedlichen Revolution würdigen. Das ist vernünftig. Auch hier haben
Sie es eben noch einmal getan. Ich kann mich vielem,
was Sie gesagt haben, durchaus anschließen.
Die DDR ist an ihren ökonomischen, an ihren politischen und an ihren demokratischen Defiziten gescheitert. Das ist unbestritten.
({1})
Es ist so, dass den Oppositionellen, allen, die friedlich
protestiert haben, Dank und auch dauerhafte Anerkennung gebühren. Auch das will ich hier deutlich sagen.
({2})
Ihr Mut war gut. Das hat selbstverständlich seinen Platz
im Bericht zum Stand der Deutschen Einheit. Sie haben
das umfangreich im Bericht und heute noch einmal dargestellt. Zur Wahrheit gehört allerdings auch: Dass dieser Umbruch friedlich verlaufen ist, ist auch ein Verdienst der Sowjetunion. Auch die damaligen Eliten der
DDR haben ihren Beitrag dazu geleistet, dass es friedlich geblieben ist.
In dem Vierteljahrhundert ist viel erreicht worden.
Die Menschen in Ost und West, Gewerkschaften, Kirchen, Vereine, Verbände und im Übrigen alle demokratischen Parteien haben an der Entwicklung mitgewirkt. Es
gibt gute Gründe - auch das will ich betonen -, das Erreichte zu würdigen und auch zu feiern, wie Sie gesagt
haben. Es gibt deutliche Zugewinne an Freiheit, an Lebensqualität, es ist auch bei der Modernisierung der Infrastruktur vieles erreicht worden. Es ist im Übrigen gut,
wenn drei Viertel der ostdeutschen Bevölkerung sagen,
die Wiedervereinigung sei insgesamt eher positiv zu beurteilen. Ich sehe das ganz genauso.
Aber es ist schlichtweg falsch, wie Sie, die Bundesregierung, im Jahresbericht sagen, die Lebensqualität habe
sich in den neuen und in den alten Ländern weitgehend
angeglichen. Das ist nicht der Fall. Ich will auch sagen:
In den 25 Jahren wäre natürlich viel mehr möglich gewesen. Es sind gravierende Fehler gemacht worden, zum
Beispiel mit der Währungsunion, mit der Treuhand-Politik, aber vor allen Dingen dadurch, dass Sie die Möglichkeiten, die Ressourcen der Menschen aus den neuen
Ländern viel zu wenig genutzt haben. Es war ideologische Borniertheit, die das verhindert hat, wodurch wir
die Chancen, die darin gelegen haben, nicht realisiert haben.
Das DIW fragt: Ist Westdeutschland tatsächlich in allen Aspekten das Ideal für Ostdeutschland gewesen? Natürlich nicht, ist meine Antwort.
({3})
Mein Kollege Roland Claus hat immer gesagt: Der Aufbau Ost als Nachbau West ist gescheitert. - Millionen
Menschen im Osten haben nach der Wende Einzigartiges
geleistet. Auch das will ich unterstreichen. Sie haben da
schlicht recht. Aber ihre Transformationserfahrungen
- Sie schreiben, diese könnten heute bei der Bewältigung der globalen Herausforderungen notwendig sein wurden zu wenig genutzt. Diese Feststellung im Jahresbericht ist zumindest bisher folgenlos geblieben.
Ich will allerdings deutlich sagen - Sie haben das am
Rande erwähnt -, dass der Osten bei den zentralen Wirtschaftsdaten weiterhin deutlich dem Westen hinterherhinkt. Das ist ein ganz großes Problem. Schauen wir uns
die Arbeitslosenquote an. Die ostdeutschen Länder tauchen erst ab Platz 10 auf den letzten Plätzen auf, beim
Bruttoinlandsprodukt sind es die letzten Plätze, auf denen die ostdeutschen Länder auftauchen, auch bei der
Steuerkraft liegen die ostdeutschen Länder ganz hinten.
Bei den verfügbaren Einkommen, was die Menschen am
meisten interessiert, liegen die neuen Länder auf den
letzten sechs Plätzen - und das 25 Jahre nach der deutschen Einheit. Wir haben jetzt dieselbe Reihenfolge wie
vor 25 Jahren. Da ist doch etwas nicht in Ordnung. Das
muss man weiterhin benennen. Da besteht ein eklatanter
Widerspruch zwischen Ihrem konkreten Regierungshandeln und dem, was Sie hier beschrieben haben.
({4})
Sie haben das Beispiel der Rente genannt. Dazu muss
ich Ihnen ganz deutlich sagen: 25 Jahre nach der deutschen Einheit beschließen Sie im Zusammenhang mit
der Mütterrente, dass eine Mutter in Stuttgart für ihr
Kind 2,22 Euro monatlich mehr bekommt als eine Mutter in Schwerin. Das ist völlig inakzeptabel. Frau
Gleicke, da hätte ich mir von Ihnen gewünscht, dass Sie
laut und deutlich sagen, dass Sie das nicht akzeptieren.
Dass die Bundeskanzlerin das nicht macht - nun ja, aber
da muss die ostdeutsche Interessenvertreterin deutlich
sagen: 25 Jahre nach der deutschen Einheit wollen wir
das nicht. Da gehört endlich Gleichheit hergestellt.
({5})
Bei der Überleitung der Bestandsrenten Ost ist ganz
viel geleistet worden. Aber es bleiben aus unserer Sicht
weiterhin Ungerechtigkeiten und Rechtswidrigkeiten,
und die gehören abgeschafft. Das werden Sie von uns
auch weiter hören.
Jetzt noch etwas, das wirklich skandalös ist. Vor wenigen Tagen ist hier in Berlin am Leipziger Platz die
„Mall of Berlin“ eröffnet worden. In einer Berliner Zeitung war zu lesen: Obwohl sie eine Stunde pro Woche
länger arbeiten, erhalten die Angestellten - weil: Ostberliner Einzelhandel - in den Läden der neuen Mall
5 Prozent weniger Urlaubs- und 10 Prozent weniger
Weihnachtsgeld als ihre Kollegen am benachbarten Potsdamer Platz. - 100 Meter Entfernung, und da gibt es
wirklich diese Unterschiede? Das ist 25 Jahre nach Wiederherstellung der deutschen Einheit doch völlig inakzeptabel. Was können denn die Menschen dafür, die in
100 Meter Entfernung arbeiten?
({6})
Da ist „gleicher Lohn und gleiche Rente für gleichwertige Arbeit“ 25 Jahre nach Wiederherstellung der deutschen Einheit nicht erreicht. Das können wir alle zusammen doch nicht gut finden. Das können wir doch nicht
akzeptieren. Das muss weiter deutlich gesagt werden.
Sie sagen: Das Bruttoinlandsprodukt ist der zentrale
Maßstab. - Natürlich ist es der zentrale Maßstab. Wenn
die Angleichung in den nächsten Jahren weiter so verläuft wie in den letzten 10 Jahren, werden wir erst in
über 100 Jahren so weit sein, dass der Osten beim Bruttoinlandsprodukt das Westniveau erreicht hat. Das können wir allesamt doch nicht hinnehmen. Da muss doch
etwas geschehen.
Deswegen darf es kein Weiter-so geben. Es muss einen Aktionsplan der Bundesregierung geben, um zum
Beispiel die Transformationserfahrungen der Ostdeutschen aufzunehmen. Was tun wir denn, um das zu verändern? Wir können doch diese Fakten nicht einfach hinDr. Dietmar Bartsch
nehmen. Das ist das Entscheidende. Deswegen müssen
Sie bei den aktuellen Auseinandersetzungen kämpfen,
zum Beispiel bei den Regionalmitteln. Da wird es doch
so sein, dass der Osten hinten runterfällt. Deswegen
müssen Sie beim Länderfinanzausgleich darum kämpfen, dass die Mittel für die neuen Länder nicht immer
weniger werden. Ja, es ist viel erreicht worden, ja, wir
können auch stolz sein, aber es darf kein Ausruhen geben, meine Damen und Herren! Die Menschen in den
neuen Ländern - das kann ich hier klar und deutlich sagen - werden sich da auf das Engagement der Linken
wirklich verlassen können. Wir werden das immer wieder aufrufen, bis wirklich gleichwertige Lebensverhältnisse, wie es im Grundgesetz heißt, erreicht sind.
Herzlichen Dank.
({7})
Für die CDU/CSU-Fraktion erhält jetzt der Kollege
Mark Hauptmann das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Damen und
Herren! Zum 25. Mal jährt sich der Fall der Mauer. Wir
diskutieren den Jahresbericht der Bundesregierung zum
Stand der Deutschen Einheit 2014 heute zwischen zwei
historischen Terminen. Gestern, am 9. Oktober, vor
25 Jahren haben sich mutige Menschen in Leipzig ein
Herz gefasst und mit Kerzen und Gebeten gegen eine
Diktatur gekämpft. In der Nacht vom 9. auf den 10. November wurden die Grenzübergänge zwischen Ost- und
Westberlin geöffnet. Die Bilder von jubelnden Menschen am Brandenburger Tor gingen in jener Nacht um
die Welt. Das Brandenburger Tor ist bis heute ein bedeutendes Symbol. Es wurde von einem Symbol der Teilung
zu einem Symbol des Zusammenwachsens, und noch
immer trägt dieses Symbol überall in der Welt.
Nicht alle sind jedoch im Zeitalter des Zusammenwachsens angekommen. Auch ein Vierteljahrhundert
nach dem Mauerfall wird der Versuch der Geschichtsverklärung unternommen. Historiker, Politiker, Wissenschaftler, alle sind sich in einem Punkt der Analyse einig: Ein Staat, in dem keine freien Wahlen stattfinden
konnten, ein Staat, der die eigenen Bürger eingesperrt
und diese bei der Suche nach Freiheit an der Mauer kaltblütig erschossen hat, ein Staat, der Kinder aus den Familien herausgerissen und in Kinderheime gesteckt hat,
ein Staat, der politische Häftlinge gefoltert und eingesperrt hat, ein Staat, der alle Parteien gleichgeschaltet
und seine Macht auf die Exekutive, Judikative und Legislative ausgedehnt hat, solch ein Staat war, ist und
bleibt ein Unrechtsstaat.
({0})
Sehr geehrte Damen und Herren, vor diesem Hintergrund sind die jüngsten Äußerungen, die wir von den
Linken gehört haben, geradezu Hohn und Spott und ein
zynischer und billiger Versuch der Geschichtsumdeutung.
({1})
Die Linke hat 2009 vor einem Gericht anerkannt,
Rechtsnachfolgerin der SED zu sein, und trägt in vollem
Umfang bis heute die Verantwortung für das Unrecht.
({2})
- Erstens. Wer schreit, hat unrecht. Bleiben Sie ruhig,
Herr Bartsch!
({3})
Zweitens. Sie tragen als Partei die Verantwortung für
dieses Unrecht. Sie sind die Kinder der PDS, die Enkel
der SED und damit der Unrechtsstaatspartei der DDR.
({4})
Aus dieser Verantwortung entlassen wir Sie nicht.
({5})
Weil wir gerade in meiner Thüringer Heimat eine
Wahl erlebt haben, nach der es vielfältige Gespräche
gibt, ist mein Appell an die Kollegen von den Grünen
und von der SPD: Denken Sie an die Symbolik Ihres
Handelns!
({6})
25 Jahre nach der friedlichen Revolution mit den Stasis
von gestern über Staatssekretärsposten von morgen zu
verhandeln, ist ein Schlag ins Gesicht der Opferverbände
und der Bürgerrechtler in diesem Land.
({7})
Der Jahrestag des Mauerfalls erinnert uns aber nicht
nur an die Sehnsucht der Menschen nach politischer Gestaltungsfreiheit,
({8})
sondern auch an die einzigartige Aufbau- und Anpassungsleistung. Herr Bartsch hat eben das Glas als halbleer bezeichnet.
Herr Kollege Hauptmann, würden Sie zwischendurch
eine Zwischenfrage der Kollegin Lazar gestatten?
Gern.
Bitte schön, Frau Lazar.
Vielen Dank. - Sie haben am Anfang Ihrer Rede den
9. Oktober in Leipzig angesprochen. Ich war damals bei
den Montagsdemonstrationen dabei, und ich war auch
gestern bei den Feierlichkeiten dabei.
({0})
- Ich habe leider den Grund für das Gelächter nicht vernommen, aber das interessiert mich jetzt auch nicht. Ich
möchte nur diesen holzschnittartigen Bemerkungen etwas entgegensetzen.
({1})
Einen wichtigen Anteil daran, dass es vor 25 Jahren in
Leipzig friedlich geblieben ist, hatte der „Aufruf der
Leipziger Sechs“. Von den sechs waren drei Bezirkssekretäre der SED in Leipzig.
({2})
Ich bin keine Befürworterin der ehemaligen SED und
war damals, wie gesagt, auch mit auf der Straße. Ich verwahre mich aber dagegen, dass hier nach 25 Jahren so
platt agiert wird.
({3})
Auch diese drei - damals SED-Funktionäre - haben einiges riskiert. Ich fand es zum Beispiel schade, dass sie
gestern beim Festakt nicht dabei gewesen sind.
({4})
- Sie müssen sich hier nicht moralisch empören. Ich war
damals dabei, und Sie haben nicht das Recht, mich hier
so zu verhöhnen.
({5})
Es geht darum, dass einfach klargestellt wird: Es gab
auch mutige Leute, die damals in Funktion bei der SED
waren. Allein das möchte ich feststellen, und ich
möchte, dass Sie und Ihre Kollegen von der Union das
bitte zur Kenntnis nehmen.
Danke.
({6})
Bevor der Kollege Hauptmann jetzt dazu Stellung
nimmt, möchte ich in aller Ruhe darauf hinweisen, dass
dann, wenn Mitglieder des Deutschen Bundestages an
So ist es.
- kein weiterer Rechtfertigungsbedarf besteht, warum
sie nicht an parallel stattfindenden Veranstaltungen teilnehmen können.
({0})
Herzlichen Dank, Herr Präsident, für diese Klarstellung.
Ich bin kein Mitglied der Grünen. Sie kennen Ihre Geschichte besser, als ich sie kenne. Aber nach meinem
Kenntnisstand der Geschichte der Bündnis-90-Bewegung weiß ich, dass sie aus einer Bürgerrechtsbewegung
entstanden ist.
({0})
Das haben Sie ja gerade auch zu Recht angesprochen.
Gerade mit Blick auf die Geschichte dieser Bürgerrechtsbewegung ist es für mich und unsere Fraktion in
keiner Weise verständlich, wie Sie heute mit den Akteuren verhandeln können, die Sie damals auf der Straße bekämpft haben.
({1})
Staatssekretärin Gleicke hat bereits angesprochen,
dass im Jahresbericht die enorme Aufbau- und Anpassungsleistung der Menschen in Ostdeutschland gewürdigt wird. Das Bruttoinlandsprodukt hat sich von 1999
bis heute im Osten des Landes fast verdoppelt. Die Arbeitslosigkeit hat 2014 den niedrigsten Stand seit 1991
erreicht. In meiner Südthüringer Heimat beträgt die Arbeitslosigkeit rund 5 Prozent und liegt damit unterhalb
des Bundesdurchschnitts. So viel zu den wirtschaftlichen
Entwicklungen, Herr Bartsch.
Trotzdem bleibt festzuhalten - auch das ist natürlich
Teil der Wahrheit -, dass wir unser Ziel einer Angleichung beider Landesteile noch nicht erreicht haben. Je
nach Region bleibt der Osten Deutschlands in seiner
Wirtschaftskraft um bis zu 30 Prozent hinter den westdeutschen Gebieten zurück, obwohl es dort auch heute
schon wirtschaftsstarke Regionen und wirtschaftsstarke
Städte gibt, die Flächenländer, aber auch Städte im Westen der Republik deutlich überholt haben.
Das Steueraufkommen pro Einwohner betrug 2013 im
Osten rund 937 Euro, im Westen ungefähr das Doppelte.
Erfolgreiche Wirtschaftspolitik ist daher in den neuen
Ländern immer auch Strukturpolitik. Aufgrund der geringen Zahl von Ansiedlungen von Großunternehmen ist
die Wirtschaftsstruktur hier sehr kleinteilig. Förderinstrumente für kleine und mittelständische Betriebe
sind von großer Bedeutung. Wir alle kennen Maßnahmen wie ZIM und wissen, welche Bedeutung diese haben.
Wir sehen, dass der Anteil des Bereichs Forschung
und Entwicklung am Bruttoinlandsprodukt der ostdeutschen Flächenländer mit 2,5 Prozent über dem Durchschnittswert der Europäischen Union liegt. Ausgezeichnete Forschung ist in der Zukunft aber auch auf
gemeinnützige externe Industrieforschungseinrichtungen angewiesen. Wir als Bundesregierung und als Koalitionsfraktionen stehen hinter INNO-KOM-Ost und anderen externen Industrieforschungsprogrammen, mit denen
wir dort eine Forschungslandschaft entwickeln wollen.
Für eine positive Weichenstellung ist es jedoch auch
vonnöten, dass wir für strukturschwächere Regionen gezielte Maßnahmen entwickeln, um diese Regionen voranbringen zu können. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an den Passus im Koalitionsvertrag zum
Sanierungsbonus für den ländlichen Raum. Dieser Sanierungsbonus eröffnet die Möglichkeit, in strukturschwachen Regionen energetisch optimierten und barrierefreien Wohnraum zu schaffen. Das sorgt für Zuzug und
gleichzeitig dafür, dass diese strukturschwachen Regionen auch in Zukunft wachsen, gedeihen und blühen können.
Der Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der
Deutschen Einheit 2014 macht die positiven Entwicklungen in den neuen Bundesländern und die Anpassungsleistung der ostdeutschen Bürger in den vergangenen 25 Jahren sehr deutlich. Es gilt, dies zu würdigen
und die weiteren Anstrengungen von Bürgern und Unternehmen zu unterstützen. Wir sollten durch solche Programme wie den Sanierungsbonus dabei mithelfen, dass
auch strukturschwache Regionen die Möglichkeit haben,
sich weiterzuentwickeln. Wir sollten über Maßnahmen
nachdenken, die die Weiterführung des Solidarpaktes
oder Förderungen zur Erhöhung von Innovationen und
Investitionen auch in Zukunft ermöglichen. Dafür müssen wir Sorge tragen, damit dieser Transformationsprozess der neuen Bundesländer auch in der Zukunft fortgesetzt wird. Lassen Sie uns das gemeinsam anpacken.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({2})
Nächster Redner ist der Kollege Stephan Kühn für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zehntausende Menschen hat der Wunsch nach Freiheit und Demokratie vor 25 Jahren auf die Straße gebracht. Am 9. Oktober 1989 hat es die SED-Führung
nicht gewagt, die Massendemonstration in Leipzig gewaltsam aufzulösen. Gestern haben Zehntausende Menschen mit dem Lichtfest an den Tag der Entscheidung erinnert. Man darf nicht vergessen: Die friedliche
Revolution ist in der deutschen Geschichte eine Ausnahme. Für uns ist der zentrale Impuls von 1989 die
Selbstermächtigung der Bürger zum politischen Handeln. Der sich daraus ergebende Auftrag, mit aller Kraft
für die Stärkung der politischen Mitbestimmungsrechte
der Bürger gegenüber staatlichen Institutionen einzutreten, besteht für uns unverändert fort.
({0})
Bundespräsident Joachim Gauck hat gestern in seiner
Rede im Leipziger Gewandhaus zutreffend bemerkt,
dass unsere Demokratie - ich zitiere - „ausgehöhlt werden und ausdörren kann, wenn die Bürger sie nicht mit
Leben erfüllen.“ Die Bürgerdemokratie, wie sie 1989 erkämpft wurde, ist teilweise nur noch rudimentär entwickelt. Das muss sich ändern.
({1})
Das beste Mittel gegen Politikverdrossenheit, meine Damen und Herren, heißt mehr Demokratie. Die niedrige
Wahlbeteiligung bei den zurückliegenden Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen mahnt, dass
neue demokratische Impulse dringend gebraucht werden,
({2})
etwa durch einfachere Möglichkeiten der direkten Mitbestimmung der Bürger an politischen Entscheidungen.
Denn es bereitet mir fast körperliche Schmerzen, wenn
auf die Frage „Ist die Demokratie die beste Staatsform?“
in einer aktuellen Umfrage des Allensbacher Instituts im
Auftrag von mehreren ostdeutschen Tageszeitungen im
Osten nur 40 Prozent der Befragten mit Ja antworteten,
hingegen 74 Prozent im Westen.
Ich bin überzeugt, dass die weiteren Entwicklungschancen für die neuen Bundesländer nicht nur davon abhängen, wie stark Innovation, Forschung, Erfindergeist
und mutiges Unternehmertum, sondern auch, wie sehr
der Einsatz für gelebte Demokratie und eine aktive Bürgergesellschaft von uns allen unterstützt wird.
({3})
Wir brauchen neue Formen der Zusammenarbeit und
Vernetzung von Bürgern, Politik, Verwaltung und Unternehmen. Gefordert sind neue Rahmenbedingungen, die
lokales Engagement befördern und nicht behindern, gerade in den Regionen außerhalb der urbanen Wachstumskerne in Ostdeutschland. Es geht um die Aktivierung von Eigenverantwortung und Gründungswillen.
Das Problem ist schließlich nicht das Fehlen von Gründerförderung, sondern das Fehlen von Gründern, im
ländlichen Raum insbesondere von Gründerinnen. Es
muss gelingen, durch Unternehmensgründungen im Radius von Universitäten, Fachhochschulen und Forschungseinrichtungen gut ausgebildete Fachkräfte in der
Region zu halten und den Braindrain zu stoppen. Gerade
die Fachhochschulen, die oft außerhalb der Zentren angesiedelt sind, müssen stärker Motor für die regionale
Wirtschaftsentwicklung werden. Wir müssen neue Wege
gehen, brauchen regional angepasste Konzepte und Lösungen nach dem Grundsatz: Bottom-up statt Top-down.
Offensichtlich ist doch: Das bisherige Konzept einer linearen, nachholenden Modernisierung Ostdeutschlands
ist gescheitert. Die wirtschaftliche Angleichung ist erlahmt. Damit das gelingt, müsste die ostdeutsche Wirtschaft stärker und schneller wachsen als die westdeutsche, was sie aber nicht tut.
Nun hilft es auch wenig, regelmäßig die Kleinteiligkeit der ostdeutschen Wirtschaft und das Fehlen von
Konzernzentralen zu beklagen. Ebenso wenig hilft es
Stephan Kühn ({4})
aber auch, den bloßen Status quo zu beschreiben. Aber
genau das ist das Problem des Berichts zum Stand der
Deutschen Einheit. Er liefert keine neuen Erkenntnisse
und setzt keine neuen Impulse;
({5})
von dieser Kritik will ich das erste Kapitel, das die
Transformationsleistung der Ostdeutschen würdigt, ausnehmen. Trotz großer Erfolge in allen Bereichen haben
wir auch 25 Jahre nach der friedlichen Revolution unverändert große Herausforderungen in Ostdeutschland.
Deshalb ist aus unserer Sicht ein Routinebericht einfach
zu wenig.
Richtig ist der Ansatz, dass die Förderung nach Bedarfen und nicht mehr nach Himmelsrichtungen erfolgen
muss. Die Förderprogramme für die ostdeutschen Bundesländer nach und nach in ein gesamtdeutsches System
für strukturschwache Regionen zu überführen, ist richtig. Dazu drei Zahlen: Das Steueraufkommen der ostdeutschen Flächenländer lag im vergangenen Jahr bei
937 Euro pro Einwohner, in den westdeutschen Flächenländern allerdings bei 1 817 Euro. Zudem erreichen die
kommunalen Steuereinnahmen in Ostdeutschland gerade
einmal 58 Prozent des Westniveaus. Ich betone das so
ausführlich und deutlich, weil die Wirtschafts- und Steuerkraft in den ostdeutschen Bundesländern bei den aktuellen Verhandlungen zur Neugestaltung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen nicht einfach ausgeklammert
werden darf.
({6})
Mit Fokus auf den demografischen Wandel heißt es
oft, Ostdeutschland sei das Labor für wirtschaftliche und
gesellschaftliche Transformationsprozesse und nehme
eine Vorreiterrolle bei der Entwicklung neuer Lösungen
ein. Zweifelsohne: Der demografische Wandel stellt die
neuen Bundesländer vor besondere Herausforderungen.
Sie sind früher und fast flächendeckend betroffen. Wir
brauchen daher eine Klärung, was die Sicherung der Daseinsvorsorge vor allem in strukturschwachen ländlichen
Räumen in den Kommunen konkret heißt. Erforderlich
wäre eine Diskussion um soziale, kulturelle und wirtschaftliche Mindeststandards und innovative Lösungen.
Denn neue Ideen gibt es zahlreich, beispielsweise dazu,
wie die Abwärtsspirale beim öffentlichen Nahverkehr im
ländlichen Raum gestoppt werden kann. Mit dem Kombibus zum Beispiel werden neben Personen auch Güter
bewegt. Der Betrieb ist so wirtschaftlicher, zudem vernetzt der Kombibus die regionalen Wirtschaftsakteure
miteinander. Da das Personenbeförderungsgesetz so etwas nicht vorsieht, konnte das Projekt nur mit einer Ausnahmegenehmigung starten.
Wir brauchen eine Bundesregierung, die endlich erkennt, dass die Neugestaltung der Daseinsvorsorge mit
dem Ziel „gleichwertiger Lebensverhältnisse“ nicht
durch die Aneinanderreihung von geförderten Modellprojekten oder Pilotprojekten zu bewerkstelligen ist. Für
den kommenden Bericht wünsche ich mir, Frau Staatssekretärin, dass darin Vorschläge enthalten sein werden,
wie über einzelne Initiativen hinaus Lösungen für die
Fläche entwickelt werden können. Ich hoffe, dass dazu
von Ihnen Impulse kommen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({7})
Wolfgang Tiefensee ist der nächste Redner für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich
stehe ganz unter dem Eindruck des 9. Oktober 1989. Die
25-Jahr-Feiern, liebe Monika Lazar, haben uns wieder
all die Ereignisse vor Augen geführt: eine Diktatur, eine
ehern erscheinende Mauer, ein Regime, das nicht weichen will - alles das stürzt plötzlich zusammen.
Ich finde es ermüdend, dass wir Jahr für Jahr über die
Frage reden müssen, ob das nun ein Unrechtsstaat war
oder nicht. Herr Bartsch, kann man nicht einfach mal sagen - und die Zeit hier nutzen -: „Es war ein Unrechtsstaat, wir bekennen uns dazu“? Die Transformationsleistung ist deshalb so hoch zu honorieren, weil zwei völlig
unterschiedliche Systeme zu transformieren waren. Das
ist das Hauptthema. Ich wünschte mir, dass Sie das endlich anerkennen und dass wir dieses Kapitel schließen
können.
({0})
Eine Diktatur hat einen Kitt, der sie zusammenhält:
Neben Repression ist das die Angst. Die Angst ist 1989
überwunden worden. Ich möchte heute in meiner Rede
drei Aspekte in den Mittelpunkt stellen, die mir wichtig
erscheinen, weil sie deutlich machen, was wir aus den
Ereignissen des 9. Oktober bzw. aus dem Herbst 1989
mitnehmen können.
Das Erste ist: Mut gegen Ohnmacht. Es gibt auch in
einer Demokratie Ohnmacht. Bundespräsident Gauck
hat gestern sehr schön gesagt: Es ist eine zum Teil selbst
verschuldete Ohnmacht. - Lassen Sie uns den Bürgerinnen und Bürgern immer wieder erklären, dass man in einem demokratischen System sein Schicksal, seine Angelegenheiten in die eigenen Hände nehmen muss. Das
beginnt beim Engagement im Verein und endet damit,
dass man zur Wahl geht. Es ist nicht akzeptabel, dass wir
in Ostdeutschland und auch in Deutschland insgesamt
eine solche Abstinenz bei Wahlen haben. Lassen Sie uns
an die Bürgerinnen und Bürger appellieren: Seid nicht
ohnmächtig, sondern engagiert euch!
({1})
Das Zweite, das aus dem 9. Oktober resultiert, ist die
Frage: Solidarität oder Abgrenzung? Wir Ostdeutsche
sind ohne viele Vorbedingungen Teil der Europäischen
Union geworden. Westdeutschland und die Europäische
Union haben uns mit namhaften Geldbeträgen unterstützt. Das hat uns die Chance gegeben, die eigenen Ärmel aufzukrempeln, um so weit zu kommen, wie wir
jetzt sind.
Interessant ist, dass die Ostdeutschen zum Teil mit
verschränkten Armen und relativ herablassend auf die
schauen, denen es schlechter geht. Erinnern wir uns, wie
das noch vor 1989 am Balaton war, als man nicht ins Hotel kam und keinen Platz im Restaurant bekam, weil man
nicht mit D-Mark zahlte. Jetzt plötzlich sind wir auf der
Sonnenseite. Wir haben nicht zuletzt mit Blick auf die
Vorläufer der friedlichen Revolution in der Tschechoslowakei, in Polen, in Ungarn und in der ehemaligen Sowjetunion die Verpflichtung, mit denjenigen solidarisch zu
sein, denen es nicht so gut geht.
({2})
Frau Bundeskanzlerin, wir brauchen einen Kurswechsel, vor allem auch einen Kurswechsel in der Mentalität;
dabei meine ich dieses Von-oben-herab-Agieren, das uns
oftmals zu eigen ist. Wir brauchen einen Aufbau Süd.
Wir brauchen eine Solidarität, durch die wir die notwendigen Kräfte bündeln. Das muss auf Augenhöhe geschehen und nicht von oben herab. Das ist wichtig.
Das Dritte, was ich sagen möchte, ist: Wir brauchen
auch eine Solidarität denjenigen gegenüber, die außerhalb Europas leben. Wir erinnern uns daran, wie es war,
als die Flüchtlinge nach Westdeutschland gekommen
sind. Wir brauchen eine Willkommenskultur. Das ist die
zentrale Aufgabe des 21. Jahrhunderts, die wir zu bewältigen haben.
Einerseits müssen die Disparitäten, die es außerhalb
unseres Erdteils gibt, in den Blick genommen werden. In
den nächsten Tagen fahre ich nach Bangladesch und
Vietnam, um dort einmal mehr zu sehen: Was passiert da
mit unseren Wertschöpfungsketten? Wie können wir
mehr Verantwortung dafür tragen, dass der Lebensstandard auch außerhalb Deutschlands und außerhalb Europas gehoben wird?
Auf der anderen Seite haben wir uns mit der Frage zu
beschäftigen, wie wir mit den Flüchtlingen umgehen,
wie wir mit denjenigen umgehen, die zu uns kommen
wollen, weil wir einen höheren Lebensstandard haben.
Das ist die zentrale Aufgabe. Wir können die Schotten
dichtmachen. Das würde eine Weile gehen. Dann würden wir uns aber verhalten wie früher der Junker, der um
seine Grundstücke einen Zaun gezogen hat; und die anderen haben daran gerüttelt. Nein, wir brauchen einen
Plan, wie wir mit denjenigen umgehen, denen es dreckiger geht als uns. Auch das ist eine Botschaft des 9. Oktober 1989: Wir brauchen Solidarität auch denjenigen gegenüber, die es schlechter haben als wir. Alle Kräfte
müssen gebündelt werden, damit wir dieses Menschheitsproblem im 21. Jahrhundert lösen. Ansonsten wird
es auch für uns schwierig werden. Wir sind verpflichtet
dazu.
({3})
Das sind für mich die Botschaften des 9. Oktober
1989. Lassen Sie uns mit dieser Kraft, mit diesem Stolz
des 9. Oktober 1989 diese Herausforderung gemeinsam
angehen.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort erhält nun der Kollege Roland Claus für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vielleicht
zu Beginn etwas zur Versöhnung: Ich habe in der Debatte über den letzten Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit und in den Jahren zuvor häufig beklagt,
dass es im Bundestag eine unsichtbare ostdeutsche
Mehrheit bei dieser Frage gibt. Ich habe heute den Eindruck, dass sich das wesentlich gebessert hat. Wir erfahren wesentlich mehr Zuspruch bei diesem Thema. Ich
stelle mit Befriedigung fest: Es geht doch, links wirkt!
({0})
Seitens der CDU ist uns gesagt worden: Wir entlassen
Sie nicht aus Ihrer Verantwortung für die Geschichte. Da
muss ich Ihnen antworten: Das ist ungeheuer anmaßend.
Wir entscheiden noch immer selbst, wie wir uns dazu
verhalten. Und wir wollen nicht aus dieser Verantwortung entlassen werden. Das entscheiden aber nicht Sie.
({1})
Ich habe nicht vergessen, wie ich mit 34 Jahren in
Halle Abend für Abend der Adressat für Protest und Kritik von Tausenden Bürgerinnen und Bürgern war. Die
unter solchen Schmerzen und Bitternissen gewonnenen
Erkenntnisse bleiben für uns in der Erinnerung und sind
uns eine Mahnung. Wir haben auch nicht vergessen, dass
unsere Vorgängerpartei nicht in der Lage war, sich selbst
geistig zu befreien,
({2})
sondern eine Befreiung von außen nötig hatte. Diese Erkenntnisse haben uns geprägt, und die werden wir in Erinnerung behalten.
({3})
Der Jahresbericht beginnt mit einem historischen
Rückblick. Das ist ebenso angemessen wie inzwischen
auch vielseitig verklärt. Wir hatten noch nie eine solche
Flut von Umfragen dazu, wie man die deutsche Einheit
interpretieren kann. In diesem Zusammenhang kann man
die Frage stellen: Was ist eigentlich der Unterschied zwischen Gott und den Historikern? Die Antwort lautet:
Gott kann die Geschichte nicht mehr ändern.
({4})
Ich will mich deshalb an die Fakten halten. Wie bewerten Bürgerinnen und Bürger die deutsche Einheit?
Das ist in der Tat sehr interessant: Im Osten bewerten
75 Prozent die deutsche Einheit positiv, im Westen sind
das nur 48 Prozent. Das heißt, nicht einmal die Hälfte
der Bürgerinnen und Bürger im Westen und Süden der
Republik bewertet die Einheit positiv. Nehmen wir die
unter 30-Jährigen, also die Jahrgänge 85 und jünger: Im
Osten bewerten 96 Prozent von ihnen die deutsche Einheit positiv und im Westen 66 Prozent. Das sind Menschen, die keinerlei Erfahrungen aus dem geteilten
Deutschland haben. Hier reproduziert sich also geschichtliche Erfahrung auf eine interessante Weise. Aber
das muss uns doch auffordern, daraus etwas abzuleiten.
Der Grund für diese unterschiedliche Einschätzung ist
natürlich, dass im Westen und Süden die Vereinigung
keine positiven Erfahrungen für die Menschen und ihren
Lebensalltag gebracht hat. Das Einzige, das im Bewusstsein geblieben ist, ist, dass der Soli zu zahlen ist. Nichts
oder fast gar nichts aus der DDR wurde für deutschlandtauglich erklärt. Das war ein Fehler.
({5})
Dietmar Bartsch ist hier bereits darauf eingegangen,
dass der Jahresbericht in seiner Analyse wesentlich besser, genauer und präziser geworden ist. Ja, das stimmt:
Die Analyse ist besser. Aber leider ist das bei den
Schlussfolgerungen nicht der Fall. Deshalb lautet die
Denksportaufgabe für uns weiterhin: Was lernen wir für
ganz Deutschland aus dieser Entwicklung im Osten, aus
diesen Umbrüchen, aus diesem Umgang mit der Transformation? Wir haben das in unserem Entschließungsantrag ausdrücklich deutlich gemacht und diese Transformationserfahrungen - wenn ich das übersetze -, also
persönlich gemachte Erfahrungen bei der Bewältigung
gesellschaftlicher Umbrüche, hervorgehoben.
Sie haben hier einen anderen Begriff benutzt und gesagt: Wir haben bedeutende Anpassungsleistungen erbracht. - Das fanden Sie auch noch besonders prima. Ich
kann nicht finden, dass Anpassung an ein System - wie
im Westen so auf Erden - die Lösung der Zukunftsaufgaben ist. Wir müssen in dieser Situation neu denken
und gerade das, was der Osten als Erfahrungsvorsprung
neu einbringt, aufnehmen. Da ist „Anpassungsleistung“
für mich kein positiv besetzter Begriff.
({6})
Ich wünsche mir deshalb, dass wir über diese besonderen Erfahrungen, die im Osten für die ganze Republik
gemacht wurden, noch weiter nachdenken und dass wir
zur Kenntnis nehmen, dass wir natürlich noch eine ungleiche wirtschaftliche und Einkommensentwicklung
haben. Wir stagnieren bei zwei Dritteln. Wir erreichen
bei den kommunalen Steuern im Osten nur 58 Prozent
des Bundesniveaus. Der Knüller ist natürlich das, was
Sie sich bei der Mütterrente geleistet haben: 25 Jahre
deutsche Einheit und dann noch immer eine ungleiche
Anerkennung von Erziehungsleistungen - das ist ein
Skandal. Das wird Ihnen die Linke nie durchgehen lassen.
({7})
Es gibt im Osten viele Ansätze für neue Entwicklungspfade in Sachen sozialökologischer Umbau, bei der
Förderung erneuerbarer Energien und beim Stadtumbau.
All diese Erkenntnisse und all diese gewonnenen Erfahrungen - auch die gemachten Fehler - stellen ein Feld
dar, das völlig brachliegt und viel zu wenig für die gesamtdeutsche Entwicklung genutzt wird.
Herr Kollege.
Deshalb wünschen wir uns eins: dass der nächste Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit in der Analyse lobenswert für uns ist
({0})
und dass er in den Schlussfolgerungen endlich vorankommt und nicht bei dem stehen bleibt, was wir jetzt
vorliegen haben.
({1})
Das Wort erhält nun der Kollege Peter Stein für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Am 9. Oktober 1989, also fast auf den Tag genau
heute vor 25 Jahren, fand eine der denkwürdigsten Montagsdemonstrationen in der DDR statt. Daran haben gestern 200 000 Menschen in Leipzig erinnert. Wie an jedem anderen Montag zuvor fand damals in der Leipziger
Nikolaikirche ein Friedensgebet statt. Dort sprachen
Menschen offen über ihre Probleme, über ihre Situation
in ihrer Heimat, der DDR, dort sprachen Menschen, die
sich der SED-Diktatur widersetzten. Es war schon fast
routinemäßig so, dass auch an diesem Montag die Plätze
in der Nikolaikirche schon ab Mittag von Genossen und
Kandidaten der SED besetzt waren.
Doch irgendwie war an diesem Montag vieles anders.
Es lag etwas in der Luft: Ängste und Sehnsüchte waren
körperlich greifbar. Der Gedanke, dass die SED das
Massaker am Platz des Himmlischen Friedens in Peking
gutgeheißen hatte, war in den Köpfen. Gerüchte machten
die Runde, Kampfgruppen standen bereit, und viele fragten sich, ob die chinesische Lösung in Leipzig zur Anwendung kommen würde.
Rund 70 000 Menschen zogen über den Leipziger Innenstadtring und zeigten Mut zur Freiheit. Für viele war
es bis heute die größte Form von Opposition und Wiederstand in ihrem Leben. Erstmalig gab es das Gefühl eiPeter Stein
ner selbstgeschaffenen Freiheit. Dabei blieben sie friedlich ebenso wie die Sicherheitsorgane, die offensichtlich
vor dieser Menschenmenge kapitulierten. Örtliche Funktionäre und Kommandeure hatten, anders als viele in der
Führung der SED, Respekt vor den Demonstrierenden.
Mit Kerzen und Gebeten, mit Worten wie „Keine Gewalt!“ und „Wir sind das Volk!“ wurde die SED-Diktatur
schließlich in die Knie gezwungen. Und die Welt schaute
im Fernsehen zu.
Fernsehbilder gingen um die Welt und hatten Signalwirkung. Es folgten für die Menschen in den neuen Ländern Tage, Wochen und auch noch zwei Jahre der Gefühle und Veränderungen. Für die Menschen in den
neuen Bundesländern änderte sich nämlich fast alles.
Aber auch für den Westen änderte sich eine Welt, und
zwar zum Besseren. Daher geht an dieser Stelle mein
Dank an die Bundesregierung, die in der heute vorliegenden Unterrichtung die Leistungen der Menschen in
den neuen und alten Ländern hervorhebt und würdigt.
Denn auch für mich, der, wie viele wissen, in den alten
Bundesländern geboren ist und nach Rostock ging, hat
sich vieles geändert.
Die Politik in der gesamten Republik ist bunter geworden: Die Grünen hatten sich zu dem Zeitpunkt in den
alten Bundesländern etabliert. Im Osten kam eine neue
Kraft hinzu, die heute immer noch auf ihrem Weg in die
alte Richtung weitermarschiert. Mittlerweile gibt es
Koalitionen, die man sich vorher gar nicht hat vorstellen
können. Die aktuellen Gespräche in Thüringen deuten
an, dass möglicherweise ein weiteres Farbenspiel hinzukommt. Ich möchte an das erinnern, was gestern 200 000
Menschen in Leipzig damit auch zum Ausdruck gebracht haben. Hier nehme ich Anlehnung an die Bibel
und schaue zu den Grünen, zu den Bündnis-90-Leuten:
Bevor der Hahn dreimal gekräht hat, hast du mich
verraten.
Und der Hahn hat für mich gestern in Leipzig gekräht.
({0})
Ich bin heute 46 Jahre alt und feiere in diesen Tagen
mein persönliches Bergfest. Ich bin 23 Jahre in den alten
Bundesländern groß geworden und jetzt seit 23 Jahren in
Rostock. Wenn Sie mich fragen, als was ich mich fühle,
dann antworte ich: Ich fühle mich als Deutscher, als Europäer und als Rostocker. Auf das, was die Menschen im
vereinigten, freien und demokratischen Deutschland und
vor allem in den vergangenen Jahren in Ost und West gemeinsam vollbracht haben, bin ich stolz. Denn ich bin
ein Teil dessen. Und jeder von uns hier ist ein Teil dieses
geeinten Deutschlands, weil wir hier leben und Verantwortung tragen.
Vor allem die Menschen in den neuen Ländern nutzten die Chancen, die sich mit der Wiedervereinigung ergeben haben, auch wenn sie dazu ihre Heimat verlassen
mussten. Die Lebensqualität hat sich spürbar, fühlbar,
riechbar angeglichen. Wie sah es für mich aus, als ich
1990/1991 nach Rostock kam und die Stadt nach der
Wende kennenlernte? Es war grau, teilweise ruinenhaft.
Trabbis tuckerten über marode Straßen, hinterließen einen öligen Duft. Die Luft roch süßlich und war durch
den Qualm der Kohleöfen braun geräuchert. Das hat sich
alles geändert. In Sachsen-Anhalt sah ich heruntergewirtschaftete Industrie und um sie herum kaputte Natur
und Umwelt. Die Lebenserwartung dort lag um bis zu
20 Jahre niedriger als im Westen.
Und heute? Die Infrastruktur ist modernisiert. Die
Umwelt ist weitgehend wiederhergestellt. Das Bruttoinlandsprodukt hat sich mehr als verdoppelt. Die Wirtschaftskraft ist beachtlich gewachsen, nicht zuletzt auch
deshalb, weil viele Menschen in den neuen Ländern ihre
Chance über eine zweite und dritte Ausbildung nutzen
mussten und genutzt haben. Die Abwanderung ist heute
weitgehend gestoppt. Viele, die in den 90er-Jahren ihre
Heimat verlassen haben und in die alten Länder gegangen sind, kehren wieder zurück. Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Thüringen erreichten im letzten Jahr bei den Zuzügen mit weit über
20 Prozent bundesweit die höchsten Zuwachsraten.
Die Haushaltslage in den Kommunen hat sich verbessert. Der Schuldenstand im Osten liegt oft merklich hinter dem vergleichbarer westdeutscher Kommunen zurück.
Auch der demografische Wandel soll uns hier kein
Wasser in den Wein gießen, sondern er wird als Chance
und Herausforderung begriffen. Wir leben länger, werden älter, bleiben auch länger gesund. Ich finde, das ist
eine gute Sache, und wir sollten uns darüber freuen.
({1})
Andererseits müssen wir auch die wirtschaftliche
Strukturstärke und -schwäche in den Regionen zur
Kenntnis nehmen. Einige wachsen weiter, andere städtische und ländliche Regionen hingegen schrumpfen. Wir
brauchen nach wie vor mehr Industriearbeitsplätze und
speziell in der ostdeutschen Industrie mehr Export.
Der Strukturwandel hat zunächst mit aller Wucht, forciert durch die starke Abwanderung, in den Wendezeiten
die jungen Länder getroffen, war aber auch im Ruhrgebiet bereits im Gange. Mittlerweile trifft dieser Wandel
Regionen im Norden, im Süden, im Osten und im Westen der Republik. Viele können mit diesem Prozess nicht
aus eigener Kraft umgehen. Wir wollen und müssen hier
gezielt unterstützen und helfen. Das ist eine Solidaraufgabe, die weiterhin Bestand hat. Wir wollen und müssen
gemeinsam Wege finden. Das können wir. Das zeigen
die vorliegenden Unterrichtungen der letzten Jahre und
auch dieses Jahres.
Hohes Potenzial sehe ich besonders in der Bildungsund Wissenschaftslandschaft in den neuen Ländern. Als
Rostocker Abgeordneter fallen mir natürlich die Rostocker Universität und die beiden anderen Hochschulen in
Rostock ein. In der Qualität der Forschungsergebnisse
stehen sie den Ergebnissen in anderen Regionen in
nichts nach. Es soll immer noch westdeutsche Studienanfänger geben, die Manschetten vor einem Studium in
den neuen Ländern haben und nur mit Vorbehalten dorthin kommen. Aber da kann ich nur sagen: Schön dumm;
denn die Erfahrungen in der Praxis sind: Die Universitäten und Hochschulen in Rostock, Greifswald, Jena oder
Ilmenau sind nicht nur sehr modern, sondern auch die
Betreuung ist klasse, und die Hörsäle sind nicht heillos
überfüllt.
Die Studienbedingungen sind also sehr gut. Dann sind
auch die Möglichkeiten, seine Freizeit dort zu verbringen, sehr gut, in Rostock etwa die weißen Strände. Man
kann nach dem Seminar mit dem Surfbrett an den Strand
gehen. Das hat durchaus seinen Wert und wird auch gern
genutzt. Man kann auch mit einer Kiste Bier und der
Freundin und dem Kubb-Spiel an den Stadthafen gehen
und studentisches Leben erleben. Das macht eine Stadt
wie Rostock und auch andere Universitätsstädte so besonders.
Wissenschaft, Möglichkeiten und Wohlstand: Diese
Erkenntnis hat auch im Osten besonders getragen. Der
Bund und die Länder tragen dieser Situation im Hochschulpakt 2020 Rechnung, indem sie die Kapazitätserweiterung und -sicherung der Studienplätze im Osten
fördern. Damit entlasten sie zugleich die Hochschulen in
den westdeutschen Ländern. Dafür stellt der Bund in den
nächsten Jahren bis 2015 insgesamt 950 Millionen Euro
bereit. Das ist ein sehr wesentlicher Beitrag zur weiteren
Entwicklung.
({2})
Die Zahl der Studienanfänger ist enorm gestiegen, nämlich um das Dreifache. Das Studium ist weiterhin die
beste Grundlage für eine berufliche und materielle Sicherheit. Wir brauchen in Ost und West jeden jungen
Menschen mit einer guten Ausbildung.
Willy Brandt hat gesagt: „Jetzt wächst zusammen,
was zusammengehört.“ Ich ergänze: Wenn ich als gebürtiger Rheinländer, aus Rostock kommend, im Münchner
Hofbräuhaus bin, ein Hendl bestelle und mich eine sächsische Kellnerin fragt, ob ich es mit Mayo oder ohne haben möchte, dann, so denke ich, ist die Einheit in unseren Köpfen angekommen. Wir sind ein Volk. Wir
verstehen uns.
Wenn wir es jetzt noch schaffen, die Menschen, die
aus anderen Regionen der Welt zu uns gekommen sind
oder noch zu uns kommen, vernünftig zu integrieren,
dann werden wir auch noch in 50 Jahren gemeinsam gut
zusammenleben und auf unsere Erfolgsgeschichte
Deutschland mit Stolz zurückblicken können.
({3})
Mit gutem Willen und in Wahrnehmung der eigenen Verantwortung klappt das. Auch ich habe mich schließlich
gerne „ossimiliert“, ohne dabei meine rheinische Natur
aufzugeben.
Herzlichen Dank.
({4})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Steffi Lemke für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich kann es irgendwie noch gar nicht glauben, dass
es 25 Jahre her ist, dass das inzwischen so verdammt
lange her ist, weil sich die Bilder aus dem Herbst 1989
- ich glaube, das geht allen so, die dabei waren; meine
Kollegin Lazar hat das heute Morgen schon zum Ausdruck gebracht - so tief ins Gedächtnis eingebrannt haben.
Ich bin für diese Debatte anlässlich dieses Jubiläums
sehr dankbar. Ich bin auch Ihnen, Frau Gleicke, sehr
dankbar - ich komme darauf noch zurück -, weil dieses
Jubiläum für unsere Gesellschaft eine riesengroße
Chance ist, über die friedliche Revolution 1989 und vor
allem über das, was danach kam, offen zu reden und anders darüber zu reden, als das bisher der Fall gewesen
ist. Manchmal gab es dafür keine Gelegenheit. Hauptsächlich lag das aber daran, dass manche Dinge einfach
unter den Teppich gekehrt worden sind, über die wir miteinander einmal sprechen sollten.
Ich bin Ihnen - das hatte ich schon gesagt -, Frau
Gleicke, sehr dankbar, dass Sie diesen Bericht zum ersten Mal anders verfasst haben, dass zum ersten Mal in
einem Bericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit tatsächlich der Versuch unternommen
wird, zu erklären, was da vor 25 Jahren und in den
25 Jahren seitdem passiert ist.
({0})
Es ist das erste Mal, dass eine Bundesregierung in einem
Bericht zur Deutschen Einheit versucht - wir debattieren
über dieses Thema hier nicht so oft -, eine Art politische
Zusammenfassung des bisherigen Geschehens zu geben.
Ich glaube, dass es Aufgabe der Politik ist, den Menschen, den Bürgerinnen und Bürgern eine Einordnung
dieser Ereignisse zu ermöglichen, vor allem denjenigen,
die nicht persönlich dabei gewesen sind. Ich glaube, das
wurde in den Vorgängerberichten gar nicht versucht. Der
Mut und der Wille, das zu tun, waren in der Bundesregierung nicht vorhanden. Es ist Ihr persönliches Verdienst, dies jetzt begonnen zu haben. Auf das, was ich
mir für den nächsten Bericht wünsche, komme ich gleich
noch zu sprechen. Wir müssen aber endlich mit den verkrampften Bemühungen aufhören, anhand von Statistiken und Zahlen über verbauten Beton zu erklären, was
da passiert ist. Ich glaube, 25 Jahre danach ist es an der
Zeit, dies zu tun.
({1})
Ich bin Ihnen dankbar - ich weiß gar nicht, ob Ihnen
das bewusst war -, dass Sie diesen Bericht unter den Titel „Wir sind das Volk“ gestellt haben. „Wir sind das
Volk“ war der Ruf von 1989. Dankbar bin ich auch dafür, dass Sie aufgegriffen haben, was ein wesentlicher
Bestandteil der Demonstrationen in der Anfangszeit gewesen ist: „Wir bleiben hier“. Ein essenzieller Bestandteil meiner persönlichen Biografie - ich bin 1989 in Ungarn gewesen, als die Botschaft geöffnet wurde, und bin
danach zurückgefahren - ist, dass wir damals in der Anfangszeit versucht haben, das Land, in dem wir geboren
wurden, zu reformieren und zu verändern. Dass die deutsche Einheit ein Glücksfall für uns alle gewesen ist, steht
lange vor der Klammer, außer bei ein paar Ewiggestrigen. Dass aber eine Bundesregierung in einem Bericht
zur Deutschen Einheit schreibt, dass der Impuls für die
deutsche Einheit gewesen ist, die DDR zu reformieren,
ist für mich wirklich ein Fortschritt in dieser Debatte.
({2})
Wenn man versucht, 25 Jahre später zu erklären, was
1989 passiert ist, dann muss man, da manchmal so lockig und flockig der Eindruck erweckt wird, irgendjemand hat halt demonstriert, betonen: Es sind Zehntausende unter Lebensgefahr auf die Straße gegangen, und
zwar in der Anfangszeit nicht, weil sie die D-Mark wollten, sondern weil sie Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmung wollten. Das war der Impuls 1989.
({3})
Jeder Versuch, das heute 14-, 16- oder 18-Jährigen zu
erklären, muss fehlschlagen, wenn man das nicht auch
mit dem Ruf „Wir bleiben hier“ verbindet.
Ich fand den Schlagabtausch heute Morgen zwar einerseits bedrückend, denke aber, dass die Debatte insgesamt vorankommt. Wenn man nicht begreift, dass auch
SED-Funktionäre, Stasimitglieder und Armeeangehörige
einen Anteil daran hatten, und zwar einen wirklich relevanten Anteil, dass das im Jahr 1989 friedlich abgegangen ist, dann muss jeder Erklärungsversuch für die friedliche Revolution scheitern.
({4})
Auf beiden Seiten der Demonstrationsfelder haben sich
teilweise Freunde gegenübergestanden. Das waren teilweise Familienangehörige. Das waren Freunde, die man
ein paar Tage zuvor am Wochenende getroffen hatte. Wir
waren uns ziemlich sicher, dass es Tausende in diesen
Staatsorganen gab, die niemals auf uns geschossen hätten. Aber ob es genug sind, das wussten wir nicht, als
wir da rausgegangen sind.
Ich frage mich andererseits, Frau Gleicke: Warum erst
jetzt? Warum ist das Anerkennen der ostdeutschen Biografien in einem solchen Bericht zur Deutschen Einheit
erst jetzt möglich? Wie weit könnten wir in unserem gesellschaftlichen Diskurs zum Zusammenwachsen sein,
wenn das früher möglich gewesen wäre?
({5})
Ich will zwei Punkte ansprechen, die im Bericht einfach fehlen; das empfinde ich als äußerst mangelhaft.
Das ist einmal das offene Thematisieren von Dingen, die
schiefgelaufen sind. Das Stichwort „Treuhand“ fiel
heute schon einmal. Das muss man aus meiner Sicht ansprechen. Ansprechen muss man auch den damals gescheiterten Versuch der Bürgerrechtler, eine gemeinsame
Verfassung für diese beiden Staaten zu erreichen, die
sich zusammengeschlossen oder vereinigt hatten bzw.
bei denen der eine an den anderen angeschlossen wurde.
Ich glaube, wir können in diesem Jahr nicht über
25 Jahre friedliche Revolution reden, ohne zu thematisieren, dass wir heute mit Geheimdiensten konfrontiert
sind
Frau Kollegin.
- ich komme zum Ende, Herr Präsident - und mit einem Spähskandal, der inzwischen selbst die Bundeskanzlerin zu Vergleichen mit der Stasi herausgefordert
hat. Auch die damit verbundene Aufgabe müssen wir anpacken und bewältigen, wenn wir das Erbe der friedlichen Revolution nicht verschenken wollen.
Danke.
({0})
Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Daniela
Kolbe das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Ostbeauftragte der Bundesregierung, liebe Iris Gleicke! Ich gratuliere Ihnen ganz herzlich zu dem ersten von Ihnen verantworteten Bericht
zum Stand der Deutschen Einheit. Es ist im 25. Jahr nach
der friedlichen Revolution ein besonderer, und er setzt
mit der Würdigung der Bürgerrechtsbewegung und der
Lebensleistung der Ostdeutschen die richtigen Zeichen.
Ich finde, Frau Lemke hat es gerade sehr eindrücklich
deutlich gemacht.
70 000 Menschen protestierten gestern vor 25 Jahren
in meiner Heimatstadt Leipzig gegen das SED-Regime,
so viele wie bis dahin noch an keinem der vorangegangenen Montage. Insbesondere die Initiatoren taten dies
unter massiven persönlichen Risiken. Viele, wenn nicht
alle sind mit riesengroßer Angst dorthin gegangen. Ich
war damals neun Jahre alt; ich war nicht dabei. Aber ich
bin noch heute beeindruckt und eigentlich sogar erschrocken angesichts dessen, was diese Bürgerrechtler auf
sich und ihre Familien genommen haben, welche Risiken sie persönlich eingegangen sind, nicht wissend, ob
sie erfolgreich sein würden, nicht wissend, was daraus
resultieren würde.
Wir wissen heute, dass sie erfolgreich waren, und der
9. Oktober 1989 ist bis heute der Tag der friedlichen Revolution. Es ist das Wunder jener Tage des Herbstes
1989, dass diese Revolution friedlich begonnen hat und
auch friedlich geendet ist. Dieses Wunder gibt der Revo5376
lution bis heute ihren Namen. Dass der friedliche Verlauf
etwas Besonderes war, zeigt sich für mich ganz stark an
den aktuellen Umstürzen, die wir in der Ukraine und in
anderen Teilen der Welt sehen.
Ursächlich für den Fall der Mauer war das Eintreten
der Demonstrierenden gegen das SED-Regime. Die
Mauer wurde vom Osten her eingedrückt. Diese Leistung der Menschen in Abrede zu stellen, wäre töricht
und auch geschichtsvergessen. Das erste Loch in der
Mauer setzte aber - das hat der frühere Bürgerrechtler
Thomas Krüger ganz treffend formuliert - Willy Brandt
mit seiner Ost- und Friedenspolitik.
({0})
Es ist auch richtig, dass die DDR nicht nur politisch
am Ende war, sondern auch ökonomisch.
({1})
Ich kann selber noch erinnern, wie es in der DDR ausgesehen und gerochen hat. Aus diesem heruntergewirtschafteten Staat ist innerhalb von 25 Jahren eine Region
geworden, die ökonomisch im Mittelfeld Europas spielt.
Die KfW sprach vor kurzem vom neuen Wirtschaftswunder. Ich gebe zu, dass ich diese euphemistische Beschreibung nicht teile, denn dafür sind zu viele Menschen in diesem Prozess gescheitert. Gleichwohl zeigt
es, was durch den Optimismus und die Tatkraft der Ostdeutschen gemeinsam mit der historisch beispiellosen
Solidarität der Westdeutschen zuwege gebracht werden
konnte.
Das alles hat zu einer beachtlichen Aufbauleistung
geführt. Die neuen Länder liegen kaufkraftbereinigt
beim Pro-Kopf-Einkommen ungefähr auf der Höhe
Italiens. Die Investitionsentwicklung ist dynamisch, und
in manchen Bereichen steht der Osten besser da als die
westdeutschen Bundesländer. Ich nenne als Beispiele die
Kinderbetreuungssituation oder auch die Erwerbsbeteiligung von Frauen. Frauen arbeiten in Ostdeutschland
häufiger und mehr Stunden als in Westdeutschland.
Nicht zu vergessen ist, finde ich, dass viele dieser Erfolge aufgrund des Engagements, der Tatkraft und auch
der Flexibilität der Ostdeutschen zustande gekommen
sind. Möglich wurden sie aber nur durch die gesamtdeutsche Solidarität.
({2})
Ich finde es aber realitätsfern, zu glauben, dass der
Prozess abgeschlossen ist. Die Ostländer sind immer
noch schwach, wenn es um die Steuereinnahmen geht.
Wir haben ganz wenige Sitze von großen Unternehmen
in den neuen Bundesländern. Die Steuerkraft der ostdeutschen Bundesländer beträgt gerade einmal 62 Prozent der Steuerkraft der finanzschwachen westdeutschen
Bundesländer.
Wir müssen daher diese strukturschwachen Regionen
auch über 2019 hinaus weiter unterstützen, nicht nach
Himmelsrichtungen, sondern am jeweiligen Bedarf
orientiert. Das dürfen wir auch in den aktuell stattfindenden Verhandlungen zu den Bund-Länder-Finanzbeziehungen nicht vergessen. Wir sollten nicht mit dem Hintern einreißen, was wir und meine Elterngeneration
aufgebaut haben.
Ich werbe dafür, dass ein breiter Konsens aller Bundesländer zustande kommt und wir uns, statt auf Ellenbogenföderalismus und auf Steuer- und Sozialwettlauf
zu setzen, an unserem Verfassungsgebot orientieren,
gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz Deutschland
- unabhängig von der Himmelsrichtung - herzustellen.
({3})
Der Blick in den Bericht verrät, was man auch spürt:
Im Osten geht die Arbeitslosigkeit seit 2005 spürbar zurück. Das ist toll und wichtig. Denn wir alle miteinander
wissen, was Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit
Ende der 90er-Jahre in ganzen Landstrichen angerichtet
haben. Gleichzeitig sehen wir aber auch da noch eine
große Herausforderung. Es gibt immer noch 1 Million
Menschen in Deutschland, die langzeitarbeitslos sind.
Die Langzeitarbeitslosigkeit verfestigt sich und erweist
sich als hartnäckig. Das ist kein ostdeutsches Problem.
Wir sehen die verfestigte Langzeitarbeitslosigkeit auch
in vielen anderen Regionen, insbesondere bei Ungelernten und bei über 55-Jährigen. Viele Programme, die
diese Menschen betreffen, sind in der Vergangenheit gekürzt worden oder laufen aus. Ich bin ganz klar der Meinung: Wir brauchen für diese Langzeitarbeitslosen wieder mehr Vermittlungsmöglichkeiten. Wir brauchen
einen sozialen Arbeitsmarkt nicht nur für Ostdeutschland, sondern überall dort, wo Langzeitarbeitslosigkeit
Thema ist. Die Papiere liegen auf dem Tisch. Ein solches
Programm würde insbesondere der Generation helfen,
die ganz stark von den Transformationen insbesondere
in den neuen Bundesländern betroffen war.
Lassen Sie uns deshalb diese und andere verbleibende
Herausforderungen gemeinsam annehmen. Das wird einen Beitrag zur Vollendung der inneren Einheit leisten.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({4})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Jana Schimke für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Gäste auf den Besuchertribünen! Die Wiedervereinigung
zählt zu den glücklichsten Momenten unserer deutschen
Geschichte. Deshalb haben diese Tage, an denen wir uns
an jene Menschen in der damaligen DDR erinnern, die
für demokratische Grundrechte auf die Straße gingen,
auch nach 25 Jahren nichts an Faszination verloren.
Wir können stolz darauf sein, was wir gemeinsam für
unser Land und insbesondere auch für Ostdeutschland
geschaffen haben. Der Traum der Menschen von DemoJana Schimke
kratie und Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit, einem
selbstbestimmten Leben, zu dem wohlgemerkt auch die
freie Berufswahl oder auch die Schaffung von Eigentum
zählt, hat sich erfüllt. Der Aufbau Ost als gesamtgesellschaftlicher solidarischer Kraftakt hat Erhebliches geleistet. Fährt man heute durch die neuen Bundesländer,
trifft man auf eine moderne Infrastruktur, auf sanierte Innenstädte oder neue Universitäten, die sich sehen lassen
können.
Eine besondere Leistung der deutschen Einheit war
ohne Frage auch die Übertragung der sozialen Sicherungssysteme, von der Rente bis zur Arbeitslosenversicherung. Damit meine ich nicht nur die Übertragung
von Beitragsmodalitäten und von Leistungen. In der
Rentenversicherung werden bis heute in den neuen Bundesländern die Renten mit dem Hochwertungsfaktor aufgewertet. Alles andere hätte nach klassischer Berechnung die Renten im Osten ins Bodenlose fallen lassen.
Da es aber gerade in der Rentenversicherung darum
geht, Lebensleistung anzuerkennen und abzubilden, haben sich die Mütter und Väter der deutschen Einheit zu
diesem solidarischen Kraftakt entschieden. Dafür gilt ihnen unser aller Dank.
({0})
Dennoch - das ist heute bereits mehrfach angeklungen - darf man natürlich nicht dem Glauben unterliegen, die Lebensverhältnisse in Ost und West seien
vollständig angeglichen. Woran liegt das? 40 Jahre Planwirtschaft haben ihre Spuren hinterlassen. Das spüren
wir noch heute. Deshalb bleibt es bis heute eine der
wichtigsten Aufgaben des Aufbaus Ost, hier noch stärker aufzuholen. Der aktuelle Bericht zum Stand der
Deutschen Einheit macht genau dies deutlich. So fehlt es
in den neuen Ländern trotz enormer Investitionen insgesamt noch immer an jener Stärke, die es gerade braucht,
um mitzuhalten. Das zeigt sich beim Bruttoinlandsprodukt, beim Steueraufkommen oder bei den Löhnen und
Gehältern; die Kolleginnen und Kollegen haben dazu bereits viel gesagt. Die Kennzahlen verweisen aber auch
auf eine noch junge, klein- und mittelständische Wirtschaft in den neuen Bundesländern. So sind die meisten
Unternehmen bei uns in Ostdeutschland höchstens
25 Jahre alt. Industrielle Strukturen oder eine krisenerprobte Firmengeschichte von 100 Jahren und mehr gibt
es eher selten.
40 Jahre DDR zeigen sich auch bei der persönlichen
Situation der Menschen in den neuen Bundesländern. So
ist das Vermögen privater Haushalte in Ostdeutschland
heute noch immer halb so hoch wie das in Westdeutschland. Obwohl in beiden Landesteilen der Immobilienbesitz die wichtigste Vermögensform ist - wir selbst bauen
unsere Altersvorsorge darauf auf -, lebt nur ein knappes
Drittel der ostdeutschen Haushalte heute im selbst genutzten Wohneigentum. Gemessen an den Schwierigkeiten vor 1990, Eigentum aufzubauen, überraschen diese
Werte natürlich nicht. Sie zeigen aber auch, dass ein
Vierteljahrhundert manchmal nicht genügt, die Spuren
von 40 Jahren zu überwinden. Unser Handeln sollte deshalb darauf ausgerichtet sein, diese Unterschiede durch
eine kluge Politik weiter abzubauen.
Auch wird es künftig darum gehen, die Stärken der
neuen Länder herauszustellen, positive Beispiele zu benennen und neue Perspektiven zu schaffen; denn es gibt
auch Erfolgsgeschichten. Denken Sie an die Spitzenposition einiger südlicher ostdeutscher Bundesländer bei
der Bildungspolitik. Oder denken Sie an das Bundesland, das in Deutschland die geringste Pro-Kopf-Verschuldung hat. Das ist nämlich Sachsen.
({1})
Die Region um Berlin zählt aber - das möchte ich als
Brandenburger Abgeordnete auch gesagt haben; dazu
gehört auch mein Wahlkreis - zu den dynamischsten in
ganz Deutschland; darauf hat kürzlich sogar die OECD
verwiesen. Ein wahrlicher Standortfaktor sowohl für die
Wirtschaft als auch für die Menschen, die in den neuen
Bundesländern leben, sind aber auch die guten Rahmenbedingungen bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Dabei handelt es sich nicht etwa um einen Nebeneffekt. Die gute Kitastruktur zählt zu den Hauptgründen,
warum sich die Menschen heute entscheiden, entweder
in der Region zu bleiben oder sogar zurückzukehren.
Aus Sicht der Unternehmen macht sich vor allem eines
bemerkbar: Frauen sind in den neuen Ländern öfter und
auch länger erwerbstätig. Das zahlt sich natürlich später
auch bei der Rente aus.
Ich habe jetzt viel über Herausforderungen, Fakten
und Zahlen gesprochen. Es mag sein, dass einigen die
Entwicklung der ostdeutschen Bundesländer und die Angleichung an die Altbundesländer, gerade was die wirtschaftliche Stärke angeht, nicht schnell genug geht. Ich
stehe allerdings nicht hier, um in diesen Tenor einzustimmen. Wir haben in den letzten 25 Jahren vieles gut
gemacht und gut gemeistert. Erinnern Sie sich daran,
welche Herkulesaufgabe die deutsche Einheit für uns
alle war und noch immer ist! Die Wendezeit war eine der
prägendsten Erfahrungen meiner eigenen Kindheit und
Jugend. Diese Zeit hat mich damals zur Politik gebracht.
Ich habe ihr später meine Ausbildung und meinen Beruf
gewidmet. Trotz aller Unsicherheiten und allem Neuen,
was die Zeit mit sich brachte, begleitete meine Familie
und mich immer eines: die überwältigende Freude darüber, endlich frei zu sein in all seinen Entscheidungen,
sowie das tiefe Vertrauen und der Glaube an die eigenen
Fähigkeiten. Damals hieß es: Wer sich anstrengt, der
wird auch belohnt. - Diese Worte sind für mich Sinnbild
dessen, was die friedliche Revolution 1989 auch ermöglichte: Leistungsgerechtigkeit, Meinungsfreiheit und Eigenverantwortung.
Deshalb gibt es auch Dinge, die mich heutzutage
nachdenklich werden lassen. Wenn wir vom Mauerfall
und von der Wiedervereinigung sprechen, haben wir sicherlich immer wieder jene Menschen vor Augen, die
sich in der damaligen DDR unter großen persönlichen
Opfern gegen das SED-Regime aufgelehnt und die
Mauer zum Einsturz gebracht haben. Viele davon haben
ihr Leben aufs Spiel gesetzt und es mitunter auch verloren. Die Menschen in der damaligen DDR haben weder
ihren Leib noch ihr Leben geschont, um einen Systemwechsel herbeizuführen. Sie haben für Demokratie, freie
Meinungsäußerung, politische Mitgestaltung und ein
selbstbestimmtes Leben gekämpft. Erst der Mauerfall
und die deutsche Wiedervereinigung haben das alles
möglich gemacht.
Es ist noch gar nicht so lange her, da fanden in
Deutschland Europa- und Kommunalwahlen statt. Erst
kürzlich brachten wir die Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen hinter uns. Die Wahlbeteiligung - da möchte ich auf den Punkt kommen - war erschreckend gering. Sie lag mitunter bei weniger als
50 Prozent. Bei den Landtagswahlen in meinem Heimatland Brandenburg haben weniger als die Hälfte aller
Wählerinnen und Wähler von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht. Das, wofür die Ostdeutschen 1989 auf
die Straße gegangen sind - die Teilnahme an freien Wahlen, die Möglichkeit, selbst wählen zu gehen und mitzuentscheiden -, wird nun immer weniger wahrgenommen.
Ich frage: Wo ist in unserer Gesellschaft der Wunsch
nach politischer Mitbestimmung geblieben? Uns als Demokraten muss diese Entwicklung beunruhigen; denn
von einer niedrigen Wahlbeteiligung profitieren lediglich die politischen Ränder.
({2})
Deswegen bin ich sehr dafür, dass wir die Entwicklung, welche die ostdeutschen Bundesländer im letzten
Vierteljahrhundert genommen haben, nicht zerreden und
madig machen. Unsere Aufgabe als Politiker wird es
aber künftig immer wieder sein, darzulegen und vor Augen zu führen, dass es keine Selbstverständlichkeit ist,
seine Meinung frei zu äußern, frei wählen zu gehen und
über sein Leben selbst und eigenverantwortlich zu bestimmen. Ein Blick in die übrige Welt, meine Damen
und Herren, genügt dafür.
({3})
Wir sollten die Menschen immer wieder daran erinnern, was Unfreiheit bedeutet und wie wichtig gerade
die Wahlbeteiligung für den Erhalt unserer Freiheit und
Demokratie ist. Das Argument „Mit meiner Stimme
kann ich ja eh nichts bewirken“ zählt nicht. Jeder kann
sich einbringen, ob in einer Partei, einer Bürgerinitiative
oder einem Verein. Es kommt aber darauf an, mitzumachen. Das Mindeste, was man für sein Land tun kann,
ist, wählen zu gehen und damit ein ureigenes Bürgerrecht, aber auch eine Bürgerpflicht wahrzunehmen.
In Gesprächen mit den Menschen in meinem Wahlkreis merke ich sehr oft, dass es ein sehr feines Gespür
für Gerechtigkeit gibt. Damit meine ich nicht Verteilungsgerechtigkeit, Gleichmacherei, sondern Leistungsgerechtigkeit. Es ist ein Vertrauen in ein Gerechtigkeitsempfinden, das nicht sofort an staatliche Umverteilung
denkt, sondern an diejenigen, die sich anstrengen, selber
ihr Schicksal in die Hand nehmen und ihren Beitrag in
unserer Gesellschaft leisten.
Frau Kollegin.
Ich bin sofort fertig. - Es geht darum, meine Damen
und Herren, dass wir diese Leistung wieder mehr honorieren und unsere Politik daran ausrichten.
Deswegen haben der Tag der Deutschen Einheit und
die Erinnerung an die Geschehnisse dieser Tage für mich
bis heute nichts an Faszination, an Begeisterung, aber
auch an Demut verloren.
Vielen Dank.
({0})
Sabine Poschmann ist die nächste Rednerin für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Mein achtjähriger Sohn fragte mich in der
letzten Woche: Mama, was ist eigentlich der Tag der
Deutschen Einheit? An dieser Stelle wird einem bewusst: Unseren Kindern - zumal den jungen - ist der
Gedanke an ein geteiltes Deutschland schon völlig
fremd. In ihren Köpfen hat nie eine Mauer gestanden.
25 Jahre nach der Wiedervereinigung haben wir, haben
Menschen in Deutschland vieles erreicht und die Lebensverhältnisse teilweise angeglichen. Wir dürfen nun
nicht zulassen, dass wir durch einen Streit ums Geld
neue Mauern in unseren Köpfen aufrichten.
({0})
Wir dürfen nicht zulassen, dass Ost- und Westdeutschland in einer sogenannten Gerechtigkeitsdebatte gegeneinander ausgespielt werden. Sie ahnen es: Ich rede über
die Fortentwicklung des Solidarpakts II, der 2019 endet.
Aber es gibt auch Städte und Regionen in Ostdeutschland, denen es schlecht geht. Genauso gibt es solche in
Westdeutschland. Hamburg und München sind trendy,
während die hochverschuldeten Städte im Ruhrgebiet
mit Nothaushalten hantieren und nicht mehr wissen, wie
sie Schulen, Straßen, Schwimmbäder und Bibliotheken
bezahlen sollen. Ihre Infrastruktur zerfällt im wahrsten
Sinne des Wortes.
Dabei hat das Ruhrgebiet viel erreicht. Aus einer von
Kohle und Stahl geprägten Industrieregion ist eine Forschungslandschaft geworden, ein innovativer Wirtschaftsraum, der für junge Hightechfirmen ebenso attraktiv ist
wie für moderne Logistikbetriebe. Noch 1970 waren
60 Prozent aller Beschäftigten im produzierenden Gewerbe tätig und 40 Prozent im Dienstleistungssektor. Das
hat sich komplett gedreht. Ich finde, die Region hat eine
große Leistung vollbracht.
({1})
Leider müssen wir jetzt feststellen, dass der Strukturwandel an Fahrt verloren hat. Die Arbeitslosenquote im
Ruhrgebiet liegt bei 10,7 Prozent, der Bundesdurchschnitt
bei 6,5 Prozent. Viele Städte ächzen unter horrenden SoSabine Poschmann
ziallasten. Meine Heimatstadt Dortmund beispielsweise
kann ihren Verpflichtungen aus den Einheitslasten nur
noch nachkommen, weil sie seit dem Jahr 2000 dafür
Kredite aufnimmt. Wenn der Solidarpakt 2019 ausgelaufen ist, hat Dortmund die Hälfte seiner Zahlungen, rund
370 Millionen Euro, über Kredite finanziert.
In anderen Städten des Ruhrgebietes ist die Lage noch
dramatischer. Oberhausen beispielsweise hat einen Nothaushalt und 2 Milliarden Euro Schulden, mehr als die
gesamte Infrastruktur der Stadt wert ist. Dennoch hat
Oberhausen in den vergangenen 20 Jahren 263 Millionen Euro in den Solidarpakt eingespeist, ebenfalls über
Kredite. Die Arbeitslosenquote in Jena lag im August
bei 7,2 Prozent; das ist fast westdeutscher Schnitt. In
Oberhausen lag sie bei 12 Prozent; das ist ostdeutscher
Schnitt.
Wer soll nun wen fördern? Die Antwort ist: Wir brauchen kein Fördersystem, das zwischen Ostdeutschland
und Westdeutschland unterscheidet. Wir brauchen ein
Fördersystem, das strukturschwachen Städten und Regionen in ganz Deutschland auf die Beine hilft, und das
in gleichem Maße.
({2})
Es geht nicht um die Frage Jena oder Dortmund, Bremen oder Brandenburg, es geht um die Frage, wie wir
die Lebensbedingungen und die Bildungschancen aller
Menschen in Deutschland verbessern, unabhängig davon, wo sie leben.
Herzlichen Dank.
({3})
Nun hat Kai Wegner für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin sehr
dankbar, zum Stand der deutschen Einheit reden zu dürfen, exakt 25 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer.
Als Berliner bin ich in Spandau gewissermaßen im
Schatten dieser Mauer aufgewachsen, dem Symbol der
deutschen Teilung. Niemals werde ich den 9. November
1989 vergessen, jene wunderbare, kalte Novembernacht,
als Hunderttausende Deutsche von Ost nach West brandeten, die Kontrollpunkte an der Berliner Mauer überrannten, sich wildfremde Menschen in die Arme fielen
und eine vorweggenommene Wiedervereinigung gerade
hier in Berlin feierten.
Als damals 17-Jähriger konnte ich zusammen mit
Freunden am Grenzübergang Invalidenstraße erstmals
den Ostteil meiner Heimatstadt Berlin besuchen. Wir
gingen über die Friedrichstraße, sahen Truppen aufmarschieren, wir erblickten Wasserwerfer, Gewehre. Wir
hatten ein ungutes Gefühl, aber die Freude überwog.
Schließlich kamen wir zum Brandenburger Tor und
mussten dort über das Monstrum Mauer klettern, um zurück in den Westteil zu gelangen.
In der Nacht des 9. November war noch völlig ungewiss, wohin die Reise gehen würde. Aber kurz darauf
war klar: Der Geist der Freiheit hat sich durchgesetzt,
und das Rad der Geschichte ließ sich nicht mehr zurückdrehen. So habe ich in der Nacht des 9. November eine
Sternstunde der deutschen Geschichte live miterleben
dürfen. Die Bilder und diese Zeit bewegen mich noch
heute sehr.
Aber, meine Damen und Herren, eine ganze Generation von Deutschen kennt schon aufgrund ihres Lebensalters den real existierenden Sozialismus, das umfassende staatliche Unterdrückungs- und Unrechtssystem
nur aus den Geschichtsbüchern. 25 Jahre nach dem Ende
der SED-Diktatur verblasst auch in der Erlebnisgeneration bei vielen die Erinnerung an den Todesstreifen, an
die Staatssicherheit, an die sozialistische Mangelwirtschaft, an Zwangsarbeit und Zwangsadoptionen.
Umso wichtiger ist deshalb eine authentische Gedenkund Erinnerungskultur. Wir müssen ein Bewusstsein dafür
schaffen, dass Werte wie Freiheit und Demokratie, die uns
so viel bedeuten, eben nicht selbstverständlich sind, und
wir müssen verhindern, dass Ewiggestrige immer wieder
durch abstruse Aufmärsche Geschichte umschreiben
oder Geschichtsklitterung betreiben wollen. Meine Damen und Herren, das dürfen wir nicht durchgehen lassen.
({0})
Deshalb ist es gut, dass der Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2014 an
herausgehobener Stelle die historischen Leistungen der
Bürgerrechtler in der damaligen DDR würdigt, die so
couragiert für Freiheit, für Demokratie und Menschenrechte auf die Straße gegangen sind.
Aber der Weg zur Wiedervereinigung nach dem Fall
der Mauer war alles andere als zwangsläufig. Es bedurfte schon der zupackenden Art, in der Kanzler
Helmut Kohl den wehenden Mantel der Geschichte ergriff und auf die Einheit der beiden deutschen Teilstaaten drängte. Für diese historischen Verdienste um die
Wiedervereinigung, für die zupackende Art, dafür, dass
er dieses klares Ziel im Blick hatte, gebührt Helmut
Kohl, dem Kanzler der Einheit, unser aller Dank.
({1})
Die Angleichung der Lebensverhältnisse erwies sich
als ein komplizierter und langwieriger Prozess. Immerhin ging es um die Harmonisierung zweier Gesellschafts- und Wirtschaftssysteme, die sich mehr als
40 Jahre lang wie Feuer und Wasser gegenüberstanden.
Vor diesem Hintergrund ist Beachtliches erreicht worden: Eine abgeschirmte sozialistische Planwirtschaft
wurde in die bewährte soziale Marktwirtschaft überführt. Die verheerende Umweltverschmutzung wurde
beseitigt. In weiten Teilen der neuen Länder ist moderne
Infrastruktur vorhanden. Die Wohnsituation wurde
durchgreifend verbessert.
Auch die wirtschaftliche Entwicklung, liebe Kolleginnen und Kollegen, kann sich sehen lassen. Die neuen
Länder haben ihre Wirtschaftsleistung seit 1991 verdoppelt. Sie gehören heute schon zum Mittelfeld Europas
und stehen erheblich besser da als alle anderen ehemals
sozialistischen Staaten.
Die Arbeitslosigkeit ist in den neuen Ländern heute
auf dem niedrigsten Stand seit 20 Jahren. Zur Wahrheit
gehört aber auch, dass die Arbeitslosigkeit zwischen Rügen und dem Fichtelberg trotzdem noch immer deutlich
höher ist als in den alten Ländern. Wo es keine Perspektiven auf Arbeit gibt, zieht die Jugend weg, und ganze
Landstriche drohen zu veröden. Deshalb müssen wir die
Wachstumsdynamik, die Innovationskraft und die Internationalisierung der Wirtschaft in den neuen Ländern
weiter stärken. Hier haben wir weitere Herausforderungen zu bewältigen, aber wir können mit Stolz auf das blicken, was wir bis heute erreicht haben, meine Damen
und Herren.
Die Berliner Mauer als Symbol der deutschen Teilung
ist vor 25 Jahren gefallen. An ihre Stelle sind heute das
Reichstagsgebäude und das Brandenburger Tor als Zeichen der deutschen Einheit getreten. Aus Berlin, der
Frontstadt des Kalten Krieges, wurde die Hauptstadt eines geeinten Deutschlands, das mit sich im Reinen ist,
das mit seinen Nachbarn im Frieden lebt, das weltoffen
und tolerant ist. Die über Jahrzehnte geteilte Stadt ist zusammengewachsen. National wie international ist Berlin
heute die anerkannte Hauptstadt Deutschlands.
Als politisches und kulturelles Zentrum ist Berlin zudem die Visitenkarte unseres Landes. Damit hat Berlin
eine dienende Funktion für ganz Deutschland, meine
Damen und Herren. Diese dienende Funktion als politisches und kulturelles Zentrum Deutschlands gilt es weiter zu stärken; denn eine gute Entwicklung Berlins steht
sinnbildlich für eine gute Entwicklung Deutschlands.
Vor über 20 Jahren führte der Deutsche Bundestag die
Hauptstadtdebatte. Damals ging es darum, dass Berlin
wieder Hauptstadt Deutschlands wird. Meine Damen
und Herren, ich wünsche mir eine zweite Hauptstadtdebatte - nicht mehr über das Ob, sondern über das Wie
der Berliner Hauptstadtfunktion. Wie kann Berlin seiner
dienenden Funktion für ganz Deutschland noch besser
gerecht werden? Wie kann die ganze Republik noch stärker von ihrer Hauptstadt profitieren? Was kann Berlin
als Hauptstadt für ganz Deutschland leisten? - Meine
Damen und Herren, ich glaube, es lohnt sich, darüber zu
diskutieren,
({2})
es lohnt sich, darüber zu streiten, offen und über die Parteigrenzen hinweg. Denn ich bin mir ganz sicher: Berlin
ist bereit, noch mehr Verantwortung für unser gesamtes
wiedervereinigtes Land zu übernehmen.
Meine Damen und Herren, nach der wechselvollen
Geschichte des 20. Jahrhunderts sollten wir die Einheit
Deutschlands in Frieden und Freiheit als Geschenk betrachten, über das wir uns nicht nur am 3. Oktober, sondern an jedem Tag des Jahres von Herzen freuen sollten.
Wenn wir heute viel über die Bürgerrechtler des
Herbstes 1989 gesprochen haben, sie gewürdigt haben,
dann, finde ich, sollten wir an diesem Tag die Männer
und Frauen des 17. Juni nicht vergessen.
({3})
Die Männer und Frauen des 17. Juni haben den Anfang
gemacht, die Männer und Frauen des 17. Juni sind aufgestanden mit Mut. Sie wurden niedergeknüppelt, ermordet. Das, was die Männer und Frauen des 17. Juni
begonnen haben, wurde am 9. November 1989 endlich
erreicht und umgesetzt. Deswegen dürfen wir auch diese
Männer und Frauen nicht vergessen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Arnold Vaatz für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Präsident! Ich möchte erst einmal etwas zur Einordnung dieses Ereignisses sagen, das wir in den letzten Tagen gefeiert haben, insbesondere gestern. Wenn Sie in der
Geschichte unseres Landes zurückblättern - Sie können
50 Jahre nehmen, Sie können 100 Jahre nehmen, Sie
können 500 Jahre nehmen - und ein Ereignis suchen, das
eine ähnliche Dimension wie dieses hatte, werden Sie
bei der ganzen Aktion nichts finden.
({0})
Sie werden aus dem ganz einfachen Grund nichts finden,
weil eine Reihe von Parametern bei zweifellos ganz wesentlichen Dingen in unserer Geschichte nicht erfüllt waren, nämlich erstens: Es ist bei einem Befreiungsversuch
kein Tropfen Blut geflossen. - Das ist ganz wesentlich.
Zweitens. Der Befreiungsversuch war anders als beispielsweise in der Revolution 1848 erfolgreich. Er hatte
Erfolg.
Drittens. Die Dimension hat alles bisher Dagewesene
gesprengt. Sie hat nicht nur Europa verändert, sie hat Bedeutung für die ganze Welt gehabt.
Meine Damen und Herren, das ist die Einordnung,
das ist die Dimension, über die wir hier reden.
Herr Bundestagspräsident, es ist richtig gewesen, was
Sie zur Präsenz gestern am Tag in Leipzig gesagt haben.
Es wäre aber wahrscheinlich auch nicht falsch gewesen,
wenn wir den gestrigen Plenartag hätten ausfallen lassen
können und nach Leipzig gefahren wären. Das hätten
wir als Deutscher Bundestag vermutlich überlebt.
({1})
Herr Kollege Vaatz, ich teile sofort Ihre Einschätzung, dass der Bundestag das überlebt hätte. Mir ist aber
ein entsprechender Antrag nicht erinnerlich.
({0})
Das weiß ich. Sie haben dem zweiten Satz, den ich
dazu sagen wollte - das war ein Wort zur Selbstkritik -,
vorgegriffen. Mir ist es auch nicht eingefallen. Also
Schwamm drüber. Es war aber keine Glanzleistung,
meine Damen und Herren. Das müssen wir schon einmal
zugeben.
({0})
Jetzt hat sich bei den Vorrednern so viel ereignet, dass
ich mein Manuskript praktisch wegschmeißen kann.
Als Erstes: Herr Bartsch, Sie haben mit großem Pathos eingeklagt, dass es noch keine gleichen Lebensverhältnisse zwischen Ost und West gibt, obwohl das in der
Verfassung festgeschrieben ist.
({1})
Die Festschreibung in der Verfassung allein nutzt nichts,
denn es bedarf dazu gewisser Grundlagen. Wissen Sie,
wir hätten diese gleichen Lebensverhältnisse zwischen
Ost und West schon längst, wenn es keine SED und
keine DDR gegeben hätte.
({2})
Ohne SED und DDR würden sich diese ungleichen Lebensverhältnisse nicht so exakt an der ehemaligen
deutsch-deutschen Grenze festmachen.
Herr Bartsch, wir hätten sie möglicherweise schneller,
wenn Sie die 25 Jahre von damals bis heute nicht dazu
genutzt hätten, alles zu unternehmen, um möglichst viel
von den alten Strukturen der DDR zu konservieren, die
alten Besitzstände fortzuschreiben und uns ausschließlich auf konsumtive Ziele auszurichten. Das ist das Problem.
({3})
Sie haben den Wiederaufbau nach Kräften verhindert.
Sie haben gewünscht, dass sich dieses neue Staatswesen
durch Überforderung so stark wie möglich selber schädigt, damit Sie immer mit Häme und Spott auf die Dinge
eingehen konnten, die noch nicht erreicht waren.
({4})
Das ist Ihre wirkliche Rolle.
({5})
Meine Damen und Herren, ich bin im Übrigen wie
Helmut Kohl auch der Auffassung,
({6})
dass es damals nicht der Freundlichkeit und der Güte der
Sowjetführung zu verdanken war, dass sie uns gewähren
ließ, sondern in erster Linie ihrer Schwäche. Andererseits ist es aber auch so - das hat auch Helmut Kohl am
19. Dezember vor der Frauenkirche in Dresden ganz
deutlich gesagt -: Ohne den unbedingten Willen zur Gewaltlosigkeit und ohne die Tatsache, dass wir damals
Rachegelüste und Ähnliches im Keim erstickt haben
- wir wollten uns ja nicht an jemandem rächen, sondern
aus dieser Situation heraus -, wäre die ganze Sache vermutlich nicht friedlich geblieben. Wenn sie nicht friedlich geblieben wäre, dann wäre, glaube ich, eine deutsche Wiedervereinigung nicht gelungen; das muss ganz
klar sein.
({7})
Jetzt gehe ich einmal kurz auf das ein, was Frau Lazar
und Frau Lemke gesagt haben. Wissen Sie, das Problem
ist folgendes: Sicher haben damals eine Reihe von SEDLeuten eingelenkt und ihre Genossen gemahnt, dass sie
ihre Waffen nicht auspacken sollen;
({8})
aber dafür, dass ein Mensch oder eine Partei nicht mordet oder nicht morden lässt, muss man ihm bzw. ihr nicht
danken, sondern das ist selbstverständlich.
({9})
Und man muss sich meiner Meinung nach vor Menschen
in Acht nehmen, die Dank dafür einfordern, dass sie
nicht gemordet haben.
Herr Kollege Vaatz, darf die Kollegin Lemke dazu
eine Zwischenfrage stellen?
Selbstverständlich.
Herr Vaatz, können Sie zur Kenntnis nehmen, dass
das überhaupt nicht der Gedanke ist, den ich hier geäußert habe, dass es nicht darum geht, irgendjemandem zu
danken, dass er nicht gemordet hat? Ich finde die Unterstellung, die Sie damit aussprechen, absurd. Was ich beschrieben habe, ist, dass wir Politiker 25 Jahre nach der
friedlichen Revolution die Aufgabe haben, den Menschen Einordnungen und Erklärungen anzubieten und
vor allem zur deutschen Einheit beizutragen, indem wir
zur Versöhnung aufrufen.
Ich habe bei mir zu Hause eine Kollegin, die wegen
ihres Mannes entlassen worden ist. Sie hat gerade im
Kommunalparlament darum gebeten, die Stasiüberprüfungen zu beenden. Diese Frau hat unter dem Regime
und dem Unrechtsstaat DDR wirklich schwer gelitten,
aber sie sagte, sie wolle verzeihen. Das kann jeder nur
individuell tun. Das ist etwas, was wir hier im Deutschen
Bundestag nicht tun können. Aber was wir tun können,
ist, die Feierlichkeiten in diesem und im nächsten Jahr
wirklich zur deutschen Einheit zu nutzen und die Debatten, die von beiden Seiten mit schnittfestem Schaum vor
dem Mund geführt werden und die heute Gott sei Dank
nur leise angeklungen sind, nach 25 Jahren zu beenden.
({0})
Da es ja eine Frage war: Frau Lemke, wenn meine
Äußerungen bei Ihnen diese Klarstellung bewirkt haben,
dann waren sie sehr sinnvoll.
({0})
Ein weiterer Punkt, der meines Erachtens ganz wichtig ist: Herr Claus, Sie haben vorhin ebenfalls mit großer
Selbstverständlichkeit erklärt, ob Sie aus der Verantwortung für das, was in der DDR im Namen der SED angerichtet wurde, entlassen würden, würden Sie bestimmen.
Das ist ein Irrtum. Das bestimmen nicht Sie, sondern das
bestimmt die Geschichte, und das bestimmt das deutsche
Volk in Gestalt seiner Wähler.
({1})
- Und die Opfer. Auch das muss ich noch sagen.
Meine Damen und Herren, ich bin, wie gesagt, nicht
der Meinung, dass wir das damals der Freude und der
Güte der Sowjetführung zu verdanken hatten, sondern
eher ihrer Schwäche. Ich glaube auch heute nicht einen
Augenblick daran, dass unser Befreiungsversuch geglückt wäre, wenn in Moskau damals eine Kraft vom
Kaliber der heutigen russischen Führung das Sagen gehabt hätte. Das muss gesagt werden.
({2})
Wenn ich mich an die Jahre 1989 und zuvor erinnere,
dann muss ich sagen: Alle Menschen, die in einer ähnlichen Lage waren wie wir damals, verdienen heute unsere Solidarität und unsere Unterstützung. Insofern
stimme ich Herrn Tiefensee hundertprozentig zu, dass
wir diese Aufgabe haben, und zwar egal, ob die Leute in
Nordkorea, in Kuba oder in der Ukraine leben. Wenn wir
diese Aufgabe nicht annehmen, dann haben wir einen
großen Teil dessen, was wir 1989 erkämpft haben, heute
verspielt. Das darf nicht sein.
({3})
Meine Damen und Herren, ich möchte noch eine Sache nennen, die bei den vielen Erfolgsmeldungen ein
Stück weit untergegangen ist. Es gibt viele Statistiken.
Die sind toll und zeigen den Aufwuchs von damals. Es
gibt eine Kurve, die hat einen ganz besonderen Knick im
Jahre 1990. Das sagt sehr viel. Wissen Sie, welche
Kurve das ist? Das ist die Kurve der durchschnittlichen
Lebenserwartung. Wenn man es hochrechnet, beträgt der
Anstieg der Lebenserwartung bei Männern 45 Prozent.
Die Lebenserwartung von 65-jährigen Männern ist von
ursprünglich 12 Jahren auf 17,5 Jahre, also um 45 Prozent, angestiegen. Auf diese Weise kann man sagen:
Wenn man dies über alle Generationen hochrechnet, so
sind nach der deutschen Wiedervereinigung den Ostdeutschen ungefähr eine Milliarde neue Lebensjahre geschenkt worden. Das ist eine ungeheure Sache.
({4})
Das Ganze geht einher mit einer Stagnation - das können Sie alle überprüfen -, die von 1980 bis 1989 im Osten angehalten hat. In dieser Zeit gab es keine Steigerung
der Lebenserwartung. Ich finde das ganz wichtig, denn
ohne gesteigerte Lebenserwartung sind die anderen großen Segnungen überhaupt nicht genießbar. Wenn man tot
ist, ist einem der Lebensstandard egal.
({5})
Einen Punkt muss ich noch erwähnen. Wir haben einen gewaltigen Aufwuchs - ich glaube, hier ziehen wir
mit der Entwicklung in Westdeutschland sehr stark
gleich - im Bereich der Forschung. Dafür möchte ich
Frau Professor Dr. Wanka ganz herzlich danken. Ich
habe gehört, dass Ihre Mutter heute in Rosenfeld bei
Torgau der Debatte zuschaut. Vielleicht freut sie sich
über das Lob genauso wie Sie.
({6})
Ich finde das ganz toll.
Lieber Kollege Vaatz, da Sie die Redezeit schon überschritten haben, wird es jetzt für Grußadressen an viele
sinnvolle Richtungen nicht mehr reichen.
({0})
Ich will Ihre Toleranzschwelle nicht überstrapazieren,
aber wenigstens sagen, dass wir im Bereich der Forschung einen ganz tollen Ritt hingelegt haben. Ich
nehme an, dass das auch in Zukunft so weitergeht. Unsere Unterstützung als Fraktion haben Sie jedenfalls.
Wenn es so weitergeht, dann machen wir aus unserem
Kapital, das wir im Kopf haben, tatsächlich früher oder
später etwas, was wir in Händen und auf dem Konto haben.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesord-
nungspunkt.
Es fügt sich aufs Schönste, dass sich Frau Ministerin
Wanka beim nächsten Tagesordnungspunkt prompt für
die Grüße bedanken kann.
Vorher sollten wir aber der interfraktionell vereinbar-
ten Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/2665
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse fol-
gen. Darf ich dazu Ihr Einvernehmen feststellen? - Das
ist offenkundig der Fall.
Der Entschließungsantrag auf Drucksache 18/2751
soll an dieselben Ausschüsse überwiesen werden. Sind
Sie auch damit einverstanden? - Es besteht kein Zweifel
über den weiteren Verfahrensgang dieses Textes. Dann
ist das einvernehmlich so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a und 22 b auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({0})
Drucksache 18/2710
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai
Gehring, Katja Dörner, Ekin Deligöz, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kooperationsverbot kippen - Zusammenarbeit von Bund und Ländern für bessere Bildung und Wissenschaft ermöglichen
Drucksache 18/2747
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({2})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsauschuss
Für die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt
sind nach einer interfraktionellen Vereinbarung 96 Minuten vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch,
also können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Bundesministerin Frau Professor Wanka.
({3})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Hochschulbereich gibt es so viele Kooperationen zwischen
Bund und Ländern wie noch nie seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland.
({0})
Das war nur möglich, weil 2006 das Grundgesetz geändert wurde,
({1})
weil 2006 in unser Grundgesetz aufgenommen wurde,
dass auch Kooperationen in Vorhaben der Wissenschaft
und Forschung einschließlich Vorhaben der Lehre möglich sind.
({2})
Nun haben wir heute unter anderem einen Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vorliegen. Sie schreiben in ihrem Antrag:
Im Jahr 2006 hat die letzte Große Koalition das Kooperationsverbot im Grundgesetz verankert. Die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat sich damals
dieser fatalen Weichenstellung widersetzt …
({3})
Falsch! All die großen Pakte, die wir verabschiedet haben, zum Beispiel der Hochschulpakt, wären ohne
Grundgesetzänderung nicht möglich gewesen. Der Qualitätspakt Lehre wäre nicht möglich ohne die Grundgesetzänderung.
({4})
Die Qualitätsoffensive Lehrerbildung wäre nicht möglich ohne die Grundgesetzänderung.
({5})
Weil wir eben über den Bericht zum Stand der Deutschen Einheit gesprochen haben: Der Hochschulpakt
2020 ist eine riesige Solidarleistung der westdeutschen
Bundesländer und der Bundesregierung für die neuen
Bundesländer. Wir, seitens des Bundes, haben seit seinem Inkrafttreten für jeden Studenten Geld gezahlt. In
den alten Bundesländern musste das kofinanziert werden, in den neuen nicht; das war entscheidend, damit die
Kapazitäten dort nicht abgebaut werden.
Man kann noch eine Zahl zum Bericht zum Stand der
Deutschen Einheit hinzufügen. In dem Bericht steht,
dass im letzten Jahr zum ersten Mal weniger junge Menschen aus den neuen Bundesländern zum Studieren abgewandert sind, als aus den alten Bundesländern zugewandert sind. Das wäre ohne den Hochschulpakt nie
passiert. Dafür brauchten wir die Grundgesetzänderung.
Warum man stolz ist, dass man dagegen war, das verstehe ich überhaupt nicht.
({6})
Lassen Sie mich einen weiteren Satz aus dem Antrag
der Grünen zitieren:
In der Wissenschaft soll die Kooperation wieder in
die Entscheidungsbefugnis von Bund und Ländern
gelegt werden …
Die Situation, die wir durch die Grundgesetzänderung
geschaffen haben, gab es in der Bundesrepublik
Deutschland vorher noch nie, ganz eindeutig.
({7})
Ich bin es einfach leid, diese trivialen Tatsachen jedes
Mal zu erläutern. Ich habe es mal auf einer Seite zusammengefasst: Grundgesetz vor 2006, seit 2006, unser Gesetzesvorschlag.
({8})
Diese Seite kann man sich bei mir abholen. Es bedarf
keiner großen Kommentare. Es ist ganz simpel und verständlich.
({9})
Nun ändert man das Grundgesetz nicht alle Tage.
Man überlegt sich gut: Ist diese Änderung notwendig?
Brauchen wir das? An dieser Stelle wird deutlich: Wir
brauchen das, und zwar nicht, um etwas zu reparieren,
sondern um etwas, was gut war, wesentlich besser zu
machen.
Frau Wanka, darf der Kollege Mutlu eine Zwischenfrage stellen?
Ja.
Frau Ministerin, ich habe Ihrer Rede von Anfang an
sehr genau zugehört.
({0})
Sie haben aufgezählt, wie toll das alles war und was Sie
mit der Grundgesetzänderung in Bezug auf das Kooperationsverbot alles erreicht haben.
Ich schließe daran meine Frage an: Wenn die Grundgesetzänderung von 2006, die wir beklagt haben - das
haben Sie richtig zitiert -, richtig war, warum sehen Sie
dann jetzt überhaupt eine weitere Änderung des Grundgesetzes hinsichtlich des Hochschulbereichs vor?
({1})
Ich habe gerade angesetzt, um das zu erklären. Ich
habe gerade gesagt: Wenn man das Grundgesetz jetzt ändert, muss man sich das gut überlegen. Es gibt gute
Gründe, warum wir das Grundgesetz ändern. Es geht
nicht darum, etwas zu korrigieren oder zurückzunehmen,
sondern darum, das, was wir 2006 begonnen haben, fortzuführen. Der Nachteil der 2006 vorgenommenen
Grundgesetzänderung, die Bund und Ländern auch in
der Lehre eine Zusammenarbeit erlaubt - in der Forschung ist das eh möglich -, ist, dass die Erlaubnis zeitlich befristet ist, also diese Zusammenarbeit nur temporär möglich ist und nicht institutionell verankert ist.
Genau das wird jetzt aber festgeschrieben. Es geht also
keineswegs um eine Korrektur, um ein Zurücknehmen,
({0})
um das Reparieren eines Fehlers, sondern es geht um das
Fortführen des Prozesses.
({1})
Warum ist uns das so wichtig? Warum wollen wir unbedingt, dass der Hochschulpakt nicht nur 10 oder
15 Jahre läuft? Warum wollen wir die Zusammenarbeit
institutionell verankern? Weil die Hochschulen das
Herzstück des Wissenschaftssystems sind. Wenn unsere
Nation ihren Wohlstand halten will, dann müssen wir im
Bereich von Forschung und Innovationen gut sein. Überlegungen zu diesem Herzstück des Wissenschaftssystems sollte nicht nur jedes Bundesland für sich anstellen,
sondern wir müssen auch in diesem Bereich langfristige
Strategien entwickeln können, wie sie ja im außeruniversitären Bereich bereits möglich sind.
({2})
Wir müssen überlegen können: Welche besonderen Qualifikationen brauchen wir beispielsweise für das Projekt
Industrie 4.0? Es geht nicht darum, dass der Bund entscheidet, ob etwas in Kiel oder in München angesiedelt
wird, aber man muss über gemeinsame Zielstellungen
nachdenken und Wege finden, um die Ziele zu erreichen.
Dadurch wird auch die Kooperation der Universitäten
und Hochschulen mit den außeruniversitären Einrichtungen, die schon heute möglich ist, sehr viel einfacher.
Wenn diese Kooperationen viel unkomplizierter sind,
schneiden wir auch in allen Rankings besser ab. Dann
haben wir in gewisser Art und Weise vergleichbare, ähnliche Rahmenbedingungen für die außeruniversitären
Einrichtungen und für die Hochschulen.
In dem Gesetzentwurf steht: Einstimmigkeit. Es wird
gesagt, dass das Prinzip der Einstimmigkeit stört, dass
das so nicht sein sollte. In dem Gesetzentwurf geht es
nun nicht darum, das föderale Prinzip, gemäß dem die
Länder zuständig sind, zu streichen. Immer wenn das föderale Prinzip gilt, benötigen wir ja Einstimmigkeit,
auch in der Ministerpräsidentenrunde. Die vorgesehene
Grundgesetzänderung ist eindeutig: Wir wollen nicht,
dass alle Länder bei jeder Kleinigkeit zustimmen müssen, sondern wir wollen, dass sie mitentscheiden, wenn
im Schwerpunkt die Hochschulen betroffen sind. Das
heißt, bei Vereinbarungen zwischen einer Hochschule
und einer außeruniversitären Einrichtung müssen nicht
alle Bundesländer gefragt werden. Wenn es aber um
grundlegende Sachen geht, zum Beispiel um das Professorinnen-Programm, von dem 180 Hochschulen betroffen sind, oder um die Förderung des wissenschaftlichen
Nachwuchses an Hochschulen, dann brauchen wir die
Einstimmigkeit. Diese Einstimmigkeit haben wir 2006
aufgenommen; und sie steht da auch, weil wir das vom
Grundgesetz her mussten.
Ich denke, gleich wird in einigen Redebeiträgen mehr
oder wenig höflich gesagt werden: Das ist ja schön. Der
Wissenschaftsbereich ist der Anfang. Wir wollen diese
Möglichkeiten auch im Bereich Schule,
({3})
zwar nicht auf die Schnelle, aber das ist der nächste
Schritt. - Ich sage an der Stelle immer gerne: Schauen
Sie doch einmal nach Baden-Württemberg. Der Ministerpräsident von Baden-Württemberg sagt - das hat er
mir auch im persönlichen Gespräch immer wieder bestätigt -: Im Bereich der Schule gibt es das auf keinen Fall;
das geht den Bund nichts an.
({4})
Der Ministerpräsident von Hessen sieht das genauso.
Meine Argumentation war immer:
({5})
Es gibt diesbezüglich keine einheitliche Meinung der
Bundesländer,
({6})
und solange es die nicht gibt, braucht man gar nicht darüber zu reden.
({7})
- Herr Gehring, wenn Sie so freundlich wären, mich reden zu lassen.
Es kommt noch besser: Wir haben vor kurzem im
Bundesrat über die BAföG-Novelle, über die wir hier
gestern debattiert haben, und über die Grundgesetzänderung diskutiert. In dieser Diskussion - das ist nachzulesen - haben Annegret Kramp-Karrenbauer aus dem
Saarland, Frau Puttrich aus Hessen, Frau Löhrmann, die
Vizeministerpräsidentin von Nordrhein-Westfalen,
({8})
und Frau Dreyer als Ministerpräsidentin von RheinlandPfalz gesprochen. Keine einzige dieser Frauen hat gesagt: Wir wollen die Grundgesetzänderung auch für den
Schulbereich.
({9})
Es war eindeutig. Sie haben gesagt: Wir wollen, dass wir
auf der Basis dessen, was geht - es geht eine Menge -,
Sozialgesetzbuch und anderes, zusammenarbeiten, um
die großen Probleme der Zukunft zu lösen.
({10})
Wahrscheinlich bin ich da als ehemalige Landesministerin ein bisschen sensibler. Ich verstehe, dass man sich
nicht so gerne etwas vorschreiben lässt und man keine
Beglückungen aus dem Bundestag bekommen will, die
man selbst nicht will und über die man vorab keine Diskussion geführt hat.
({11})
Deswegen fand ich diese Bundesratsdiskussion sehr erstaunlich. Ich hätte den einen oder anderen Zwischenton
erwartet. Dem war aber nicht so.
({12})
Wir brauchen - das ist ganz eindeutig; das sieht der
Bund auch so - bei den großen Herausforderungen, ob
nun Inklusion oder anderes, eine Gemeinsamkeit, wir
brauchen gemeinsam abgestimmtes Handeln, aber nicht
zwingend eine Grundgesetzänderung. Diese ist nicht
notwendig. Wir wollen auch, dass die Kompetenzen in
diesen Bereichen bei den Ländern bleiben.
Wir haben jetzt ein Gesamtpaket. Das Paket enthält
die Grundgesetzänderung, über die wir jetzt diskutieren,
und - darum ging es hier gestern - die BAföG-Novelle
mit der Entlastung um 1,2 Milliarden Euro. Dass beide
zusammenhängen, ist nicht sachfremd, sondern ist das
Ergebnis von Verhandlungen. Im Ergebnis dieser Verhandlungen waren die Länder und der Bund der Meinung, dass es eine gute Situation ist, dass es eine Winwin-Situation ist. Vorgestellt haben wir dies auf einer
Pressekonferenz. Von den Wissenschaftsministern war
zum Beispiel Frau Ahnen dabei und hat das Ergebnis
sehr gelobt. Sie hat sich sehr über die Möglichkeiten gefreut, die man jetzt in den Ländern hat.
Ich bin auch trotz aller Schwierigkeiten, die uns das
macht, der Meinung, dass es richtig ist, dass die Verantwortung dafür, wie man mit den frei werdenden BAföGMitteln umgeht, bei den Ländern liegt und dass man von
Land zu Land verschiedene Entscheidungen treffen
kann. Denn die Situation in den Bundesländern ist unterschiedlich. Manche haben in den letzten Jahren ganz viel
in die Hochschulen investiert und Schwierigkeiten im
Schulbereich, bei anderen ist es umgekehrt. Deswegen
glaube ich - ich erwarte und erhoffe dies -, dass die Mittel entsprechend verantwortungsbewusst eingesetzt werden.
Ich denke, das Gesamtpaket, das wir jetzt haben, ist
gut. Der Bund stellt in der genannten Größenordnung
Mittel für die Studierenden zur Verfügung. Wir haben
eine BAföG-Novelle, bei der es nicht nur um Entlastung
geht, sondern in der auch die gestern besprochenen
Dinge für die Studierenden enthalten sind. Und wir haben diese Grundgesetzänderung. All das wird aus meiner
Sicht weit über diesen Tag und über diese Legislaturperiode hinaus wirken. Gerade mit der Grundgesetzänderung wird vieles möglich gemacht und wird der Föderalismus insgesamt moderner und zukunftsfähiger.
Darüber freue ich mich.
Danke schön.
({13})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Rosemarie
Hein das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Gäste! Die Ministerin hat eine von vielen hier im
Haus sehr lange erwartete Änderung des Grundgesetzes
heute im Bundestag vorgestellt. Frau Ministerin, Ihre
Argumentation verwundert mich schon etwas. Aber auch
ich will erst einmal darauf zurückblicken, warum wir
überhaupt in dieser Situation sind.
Vor acht Jahren, im Jahre 2006, war im Rahmen der
Föderalismusreform beschlossen worden, die Aufgaben
von Bund und Ländern klarer voneinander zu trennen.
Die Länder übernahmen damals auf eigenen Wunsch unter anderem fast gänzlich die Zuständigkeit im Bereich
Bildung. Eine gemeinsame Finanzierung von wichtigen
Aufgaben war nahezu nicht mehr möglich, auch wenn
die Ministerin heute etwas anderes sagt. Ziel dieser Reform war, „komplizierte Mischfinanzierungen“ zurückzudrängen und damit „Blockademöglichkeiten“, so
stand es im entsprechenden Entschließungsantrag, zwischen Bund und Ländern zu vermeiden. Das klingt erst
einmal ganz logisch, aber zumindest im Bereich der Bildung ist das gründlich nach hinten losgegangen. Denn
mit dem Verbot gemeinsamer Finanzierungen wurden
die notwendigen Finanzierungsaufgaben in der Bildung
in vorher nie gekanntem Maße blockiert und eben nicht
erleichtert.
({0})
Es ist also das Gegenteil von dem eingetreten, was beabsichtigt war. Darum wurden zahlreiche Hilfsprogramme erfunden, zum Beispiel die Lernförderung
innerhalb des Bildungs- und Teilhabepaketes, die Berufseinstiegsbegleitung, die Bildungsketten oder auch
die energetische Sanierung, damit man im Schulbau
überhaupt etwas machen konnte.
({1})
Auch die Pakte muss man wahrscheinlich in diese Reihe
stellen. Das nennt man Umwegsfinanzierung. Diese Umwegsfinanzierung macht die Durchschaubarkeit der
Finanzströme und der Zuständigkeiten überhaupt nicht
leichter, sondern eher verworrener.
({2})
Ein Ziel der Föderalismusreform 2006 war auch,
mehr auf Wettbewerb zu setzen. Die Kooperation von
Bund und Ländern in der Bildung wurde weitgehend
aufgekündigt. Dabei darf man nicht nur auf die Hochschulen zielen, sondern man muss eben auch auf den
Rest der Bildungsaufgaben schauen. Liebe Kolleginnen
und Kollegen, man kann ja auf allen möglichen Gebieten
einen Wettbewerb ausrufen, aber doch nicht bei der
Frage eines besseren Bildungszugangs. Wer Bildung
zum Gegenstand von Wettbewerb macht, vergrößert Ungleichheiten und schafft nicht mehr Gerechtigkeit.
({3})
Das kann niemand wollen, dem gleiche Bildungschancen in ganz Deutschland wichtig sind.
Nach der Grundgesetzänderung von 2006 wurden den
Ländern jährlich etwa 1 Milliarde Euro für die übertragenen Aufgaben zur Verfügung gestellt. Wir finden sie
bis heute in unseren Haushalten. Die haben aber nicht
gereicht. Nun reifte seit einigen Jahren, und zwar sehr
langsam, in einigen Ländern die Einsicht, dass man hier
ein Stück zurück müsse. Deshalb liegt jetzt die Forderung nach einer Lockerung des Verbotes vor. Deshalb
haben wir jetzt diese Grundgesetzänderung auf dem
Tisch, aber eben nur für eine bessere Finanzierung im
Hochschulbereich. Das ist nicht viel. Das ist nicht einmal der Spatz in der Hand. Darum können wir das auch
nicht gutheißen.
({4})
Dass sich aber die Länder in dieser Sache nun überhaupt bewegt haben - das war ja nicht so einfach -, liegt
an den klammen Kassen der Länder und Kommunen.
Nachdem der Bund 2009 auch noch eine Schuldenbremse eingeführt hat, ist das noch schlimmer geworden.
Die Aussichten, Bildung aus eigener Kraft finanzieren
zu können, sind immer mehr geschwunden. Da helfen
eben die gegenseitigen Eifersüchteleien zwischen Bayern und Hamburg und Bremen und Mecklenburg-Vorpommern und Berlin nicht weiter.
({5})
Zudem haben die Strategen von Bund und Ländern
offensichtlich sehr unterschätzt - sie haben sich dabei
kräftig verzockt -, wie groß die Aufgabe, die vor uns
steht, eigentlich ist, was beispielsweise die wachsenden
Studierendenzahlen betrifft. Die sind schneller gewachsen, als man das vorhergesehen hatte. Das ist ja erfreuDr. Rosemarie Hein
lich, aber man hat damit nicht gerechnet. Das gilt genauso für viele andere wichtige Herausforderungen, die
es derzeit im Bildungsbereich gibt.
Doch mit der Grundgesetzänderung, die uns heute
vorliegt, werden die notwendigen Aufgaben der Bildungsfinanzierung in den kommenden Jahren nicht zu
stemmen sein, weder inhaltlich noch finanziell. Nun sollen 1,17 Milliarden Euro mit der vollständigen BAföGÜbernahme durch den Bund an die Länder gegeben werden, und zwar jährlich. Doch das Geld ist noch nicht einmal in den Kassen, da ist es schon verbraucht. Nicht nur
die Ministerin und die Kolleginnen und Kollegen der
Koalition haben ganz eigene und durchaus nicht übereinstimmende Vorstellungen davon, wie denn das Geld eingesetzt werden sollte.
({6})
Die einen rechnen damit, dass es nur dem Hochschulbereich zugutekommt, die anderen wollen eine Aufteilung
zwischen Schule und Hochschule. Und die Ministerin
hat eben gesagt, die Länder sollen selbst entscheiden,
wie sie das halten.
({7})
- Ich habe Ihnen doch gestern schon gesagt, dass die
verbundene Debatte von Ihnen ausgerufen wurde. Und
wir machen das jetzt auch so.
({8})
- Mache ich!
So will eben Niedersachsen die frühkindliche Bildung
stärker ausbauen, Thüringen die Grundschullehrkräfte
besser bezahlen, Rheinland-Pfalz in die Inklusion investieren, Sachsen-Anhalt mehr Lehrkräfte einstellen und
den Hochschulen das Geld zurückgeben, das sie sonst
für die Haushaltssanierung erbringen müssten. Das Geld
ist also fest verplant. Und manchmal fließt es eben einfach in die Haushaltssanierung, und sei es über den Umweg der Hochschul- und Personaletats.
Ich kann jedoch jedes Land verstehen, das angesichts
der in Aussicht stehenden Finanzspritze jetzt sagt: Ja,
wir wollen diese Grundgesetzänderung. - Sie brauchen
das Geld nämlich dringend. Und darum waren die kritischen Anmerkungen im Bundesrat auch nur leise, aber
sie waren durchaus hörbar. Und man kann auch diese
nachlesen, wenn man das gerne möchte.
({9})
Wir brauchen nämlich überall besser ausfinanzierte
Hochschulen. Wir brauchen überall sanierte Schulen und
Kitas. Wir brauchen überall Schulsozialarbeit, überall
Inklusion. Wir brauchen überall eine bessere Kinderbetreuung,
({10})
überall mehr und besser ausgebildete Lehrkräfte und
überall eine bessere Weiterbildung usf. Und ich glaube,
Sie haben keine Ahnung, was das kostet.
({11})
Wenn Sie das nämlich alles mit den 1,17 Milliarden Euro bezahlen wollen, dann wird das eine ziemliche
Hungerkur.
({12})
Das betrifft sowohl den riesigen Investitionsstau, den es
gibt, als auch die regelmäßige auskömmliche Finanzierung aller Bildungsbereiche.
Natürlich weiß ich, dass einige Länder Angst um ihre
Zuständigkeiten haben und mauern. Doch die Länder
müssen endlich über den Tellerrand ihrer Landeszuständigkeit hinausschauen
({13})
und Bildung als Gemeinschaftsaufgabe begreifen.
({14})
Das nimmt ihnen doch nicht die Verantwortung. Das
schafft ihnen mehr Spielräume. Ich verstehe überhaupt
nicht, warum ausgerechnet an dieser Stelle, also bei
schulischer Bildung, bei frühkindlicher Bildung, bei
Weiterbildung, die Länder derartig mauern.
({15})
Statt Wettbewerb brauchen wir Best Practice. Davon
können alle profitieren. Darum haben wir in unserem
Antrag, der Ihnen seit Februar dieses Jahres vorliegt, die
Einführung einer solchen Gemeinschaftsaufgabe gefordert. Dabei werden wir bleiben.
Wir werden das vielleicht noch nicht jetzt, auch angesichts der Kürze des parlamentarischen Verfahrens von
nur einem Monat, hinbekommen. Die Debatte, das weiß
ich, hat viel länger gedauert. Es wird vielleicht noch eine
Weile dauern. Das Thema wird aber wiederkommen.
Aber jetzt ist zu befürchten - auch das kann man im Protokoll des Bundesrates nachlesen -, dass sich einige
Länder mit der Miniänderung zufriedengeben und glauben, das Problem sei damit erledigt. Das Problem ist damit nicht erledigt. Wir bekommen das wieder auf den
Tisch. Wir werden die Quittung für unser Handeln bekommen, und dann reden wir wieder über die Gemeinschaftsaufgabe Bildung.
({16})
Als nächster Redner hat der Kollege Hubertus Heil
das Wort.
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ich kann mir nicht helfen, aber es scheint ein
Zufall zu sein, dass in solchen Debatten immer Frau
Bulmahn als Vizepräsidentin amtiert.
({0})
Sie hat in diesen Debatten durchaus schon das Wort ergriffen und hat dieses Haus - sie hat in vielem auch recht
gehabt - vor manchem Irrtum bewahren wollen. Darauf
komme ich später noch zu sprechen.
({1})
Wir reden heute über etwas anderes. Vielleicht reden
wir einmal über die einheitliche Auffassung dieses Parlaments darüber, dass es zumindest richtig ist, neue
Möglichkeiten der Kooperation im Bereich der Wissenschaft und der Hochschulen in diesem Land zu schaffen;
das bestreitet doch niemand ernsthaft.
({2})
Man kann darüber streiten, ob wir mehr Möglichkeiten brauchen - Sie kennen unsere Auffassung dazu, dazu
sage ich gleich etwas -, aber wir sind uns einig, dass das
ein wesentlicher Schritt ist. Jetzt kann man das als kleinen oder großen Spatz klassifizieren, was auch immer,
Frau Hein; es geht hier aber nicht um die Kategorie.
({3})
Vielmehr müssen wir der deutschen Öffentlichkeit klarmachen, warum es gerade in dieser Phase - da hat Frau
Wanka vollkommen recht - notwendig ist, dass wir jenseits der Klimmzüge von Projektitis eine dauerhafte
Form von Zusammenarbeit für die Hochschullandschaft,
das Herzstück des Wissenschaftssystems in unserem
Land, auf den Weg bringen.
Dafür gibt es ein paar Gründe. Wir haben erlebt - das
haben wir in den vergangenen Jahren mit den Hochschulpakten unterstützt -, dass es weiterhin einen großen
Run auf die Hochschulen gibt. Die Zahl der Studierenden ist massiv gestiegen; das war politisch gewollt. Ich
sage - das hat gestern auch mein Fraktionsvorsitzender
erklärt -: Wir wollen nicht, dass die universitäre Ausbildung gegen die berufliche Erstausbildung ausgespielt
wird. Aber diese Welle an Studierenden muss von den
Hochschulen in Deutschland verkraftet werden. Deshalb
ist es wichtig, dass Bund und Länder gemeinsam dauerhaft, nicht nur in Projekten, zusammenwirken können.
Wir brauchen eine Stärkung des Hochschulsystems
und der Wissenschaft, auch in Bezug auf die Forschung.
Wir sind wunderbar aufgestellt, was die außeruniversitäre Forschung in Deutschland betrifft. Aber Bund und
Länder müssen in den nächsten Jahren, um international
mithalten zu können, in der außeruniversitären und eben
in der Hochschulforschung gemeinsam ansetzen können,
ohne sich dabei zu verrenken.
({4})
Ich glaube, dass diese Form von Kooperation, die wir
mit der vorgeschlagenen Grundgesetzänderung ermöglichen, auch im Interesse der Beschäftigten an den Hochschulen ist, nicht nur der Professorinnen und Professoren, sondern auch derjenigen, die im wissenschaftlichen
Mittelbau arbeiten; darauf komme ich noch. Diese Menschen erleben ja oft, dass diese Form von Kurzatmigkeit
und Projektitis dazu führt, dass ihr Arbeitsleben ziemlich
ungeregelt und befristet ist, wenn Sie verstehen, was ich
meine. Wir werden in dieser Legislaturperiode über das
Wissenschaftszeitvertragsgesetz noch einmal zu reden
haben. Wir haben uns vorgenommen, das zu ändern.
({5})
Aber genauso wichtig ist es, dass wir die Möglichkeit
von Kooperationen schaffen, damit Aufstiegsmöglichkeiten und Karrierewege für gut ausgebildete Menschen,
die wir an den Hochschulen dauerhaft halten wollen,
möglich sind. Deshalb ist es ein guter Schritt, dass wir
diese Grundgesetzänderung gemeinsam auf den Weg gebracht haben. Frau Ministerin Wanka, Sie haben vollkommen recht: Mit der Formulierung, die wir gemeinsam für Artikel 91 b Grundgesetz gefunden haben,
schaffen wir erstmals für den Wissenschaftsbereich dauerhafte, verlässliche und institutionelle Fördermöglichkeiten für die Hochschulen. Das ist unbestritten. Das gab
es früher nicht, das ist ein großer Fortschritt.
({6})
Gleichwohl gibt es in der Koalition - das ist doch gar
keine Frage - einen Dissens, den wir aber miteinander
aushalten. Es geht darum - das wissen Sie -, dass wir
uns als Sozialdemokraten durchaus gewünscht hätten,
das Kooperationsverbot im Bereich der Bildung insgesamt aufzubrechen. Das leugnet niemand hier, das leugnet auch niemand im Bundesrat. Das ist die Position
meiner Partei und auch vieler in der Union; das wissen
wir.
Frau Wanka, Sie haben vorhin darauf hingewiesen,
dass im Bundesrat Ministerpräsidentinnen - kluge
Frauen - gesprochen haben, mit denen auch wir sprechen, die persönlich der Meinung sind, dass die Sache
mit dem Kooperationsverbot im Bereich der Bildung
insgesamt abgeschafft gehört. Da kann man sich immer
wechselseitig vorhalten, wer in der eigenen Partei noch
nicht so weit ist; das kennen die Grünen auch; man muss
nur einmal nach Stuttgart gucken.
({7})
Das alles hilft uns nichts.
Hubertus Heil ({8})
Wir müssen jetzt den Schritt gehen, den wir gemeinsam mit einer Mehrheit im Bundestag und Bundesrat gehen können. Es wäre vollkommen falsch, aufgrund dieses Dissenses, weil einige noch nicht so weit sind, die
Wissenschaft in Geiselhaft zu nehmen. Das Gesamtpaket
stimmt.
Frau Hein, die Verknüpfung ist vollkommen in Ordnung, dass wir in dieser Woche zugleich darüber reden,
dass wir die Länder entlasten, um Spielräume zu schaffen, dass wir das BAföG verbessern und dass wir Möglichkeiten für den Hochschulbereich schaffen. Das zeigt
die Handlungsfähigkeit dieser Koalition auf Basis der
Möglichkeiten, die die Mehrheiten in Bundestag und
Bundesrat hergeben. Das ist im Interesse von Bildung
und Forschung in diesem Land. Deshalb ist es ein guter
Schritt.
({9})
Ich sage trotzdem noch einmal: Wir wünschen uns für
die Zukunft mehr, und wir werben auch dafür. Frau
Bulmahn - das darf ich einmal erwähnen - hat damals
im Rahmen der Föderalismusreform auf einiges hingewiesen. Ich bin der Meinung, dass wir zukünftig einen
Irrtum aus der Föderalismusreform für den Bereich der
Bildung korrigieren müssen: Das ist das Kooperationsverbot für den Bildungsbereich und für den Schulbereich. Wir müssen um Mehrheiten werben. Denn da hat
mein früherer Fraktionsvorsitzender und heutiger Außenminister vollkommen recht gehabt. Das Kooperationsverbot im Bereich der Bildung, sagte Frank-Walter
Steinmeier am 16. Mai 2013 in diesem Hohen Haus, ist
({10})
- ich zitiere - „ein in Verfassungsrecht gegossener Irrtum, der beseitigt werden muss.“ Wir bleiben dabei: Es
ist unsere Aufgabe, das miteinander hinzubekommen.
({11})
Lassen Sie es uns trotz des Dissenses, den es in der
Koalition gibt, darüber reden, was im Hochschulbereich
mit der Änderung des Artikel 91 b möglich sein wird.
Damit zeigen wir, dass wir trotz verschiedener Meinungen an der einen oder anderen Stelle doch tun, was möglich ist. Ich möchte hierbei Folgendes ansprechen: Mit
dem Weg der dauerhaften Kooperation von Bund und
Ländern in unserem Wissenschaftssystem, den wir heute
eröffnen, haben wir die Chance, in den nächsten Jahren
Chancengleichheit, Innovation, Wertschöpfung, auch
Beschäftigung zu fördern, und zwar gemeinsam in den
nächsten Jahren.
Das betrifft - ich habe es vorhin angesprochen Perspektiven für den wissenschaftlichen Nachwuchs:
weniger Befristung, mehr Möglichkeiten für Karrierewege, dauerhafte und verlässliche Maßnahmen, um Personalinitiativen auf den Weg zu bringen, um Juniorprofessoren zu unterstützen und um dem Mittelbau
tatsächlich den Stellenwert zu geben, der ihm zukommt.
Das wäre nicht möglich, wenn wir nur die Möglichkeit
für befristete Projekte hätten. Wir haben durch die
Grundfinanzierung die Möglichkeit, Perspektiven für
den wissenschaftlichen Nachwuchs zu schaffen. Die
Möglichkeit besteht, wir öffnen diese Wege. Ich gebe
gleichwohl zu: Wir müssen als Koalition noch daran arbeiten, diese Wege zu gehen.
Das betrifft auch die Fortsetzung der Exzellenzinitiative. Wir können mit den neuen Möglichkeiten Planungssicherheit schaffen, weil wir Ressourcen im Wissenschaftssystem verbessern und von kurzfristigen
Wettbewerben tatsächlich zu dauerhaften Perspektiven
im Sinne von Exzellenz in Breite und Spitze kommen.
Auch das ist etwas, was diese Koalition sich vorgenommen hat.
Schließlich können wir die immer wichtiger werdende Kooperation im Bereich der Forschung zwischen
außeruniversitären und universitären Forschungseinrichtungen einfacher und besser gestalten, als das mit vielen
Klimmzügen in der Vergangenheit der Fall war. Es
spricht viel dafür, dass wir diese Wege gehen und auch
nutzen. Deshalb handelt es sich um eine gute Grundgesetzänderung.
Ich habe den Eindruck, meine Damen und Herren,
dass wir sehr stolz sein können auf das, was unser Wissenschaftssystem heute schon liefert. Wir dürfen nicht
zulassen, dass es kaputtgeredet wird. Nehmen wir einmal die Verleihung des Nobelpreises im Bereich der
Chemie an einen Deutschen, der sowohl für ein MaxPlanck-Institut arbeitet, also im außeruniversitären Bereich unterstützt wird, als auch - natürlich - Hochschulprofessor ist. Das zeigt, dass wir international gar nicht
schlecht aufgestellt sind.
Es gibt dennoch neue Herausforderungen. Das Paradigma in der Wissenschaft dieser Tage und Jahre scheint
Kooperation zu sein: Kooperation zwischen Disziplinen,
Kooperation zwischen Wirtschaft und Wissenschaft in
vielen Bereichen und zwischen Bundesländern. Das
muss dann aber auch in der Politik zwischen Bund und
Ländern gelten. Deshalb ermöglichen wir das.
Was die Zukunft und unseren Wunsch, den ich vorhin
formuliert habe, betrifft, weiter Überzeugungsarbeit für
die Änderung des Grundgesetzes auch im Bereich der
Bildung zu leisten, so gilt etwas, was wir aus der Wissenschaft kennen: Die Zukunft ist offen.
({12})
Es ist nicht so, dass alles festgeschrieben ist. Es ist daher
gut - auch das ist eine Erkenntnis der Wissenschaft -,
dass Menschen lernende Wesen sind.
({13})
Sie sind übrigens auch in der Lage, Irrtümer einzugestehen. Ich habe es vorhin gesagt: Wir räumen ein, dass wir
an dem Irrtum von 2006, den Frank-Walter Steinmeier
Hubertus Heil ({14})
im Nachhinein beschrieben hat, mitbeteiligt waren - in
guter Absicht.
({15})
Wir sollten es schaffen, es miteinander hinzubekommen,
das zu ändern. Heute ist nicht der Tag, darüber zu reden,
wann das möglich ist. Die Überzeugungsarbeit dauert
an; ich habe es vorhin beschrieben.
Lassen Sie uns heute im Interesse des Wissenschaftsstandortes Deutschland, der Hochschulen in diesem
Land die Möglichkeiten nutzen. Lassen Sie uns das tun,
was heute möglich ist. Die Studierenden werden es uns
in Zukunft danken; die Menschen, die an Hochschulen
arbeiten, werden es uns danken; dieses Land wird es uns
danken, dass wir die Wissenschaft an den Hochschulen
in diesem Land zukunftsfähig gemacht haben. Dazu ist
die Grundgesetzänderung ein ganz wesentlicher Schritt.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({16})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Katja Dörner
das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Die letzte Große Koalition hat einen
schweren Fehler gemacht. Der eine Teil hat es offensichtlich eingesehen, der andere Teil leider noch nicht.
Das ist sehr schade.
({0})
Das Kooperationsverbot ins Grundgesetz zu schreiben,
war ein schwerer Fehler. Frau Ministerin, 2006 wurde
nicht die Zusammenarbeit ermöglicht, sondern 2006
wurde die Tür dazu weitestgehend zugeschlagen; sie ist
nur einen ganz kleinen Spalt offen gelassen worden.
({1})
Das war ein schwerer Fehler, und diesen schweren Fehler muss man korrigieren, und zwar vollständig.
({2})
Der Vorschlag im Gesetzentwurf, der uns heute vorliegt,
ist leider nur eine halbherzige Korrektur, und deshalb
reicht er uns nicht.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, ich bin wirklich
enttäuscht, dass Union und SPD die riesige Chance, die
sie haben, nicht nutzen. Sie haben eine 80-ProzentMehrheit im Deutschen Bundestag, und sie haben die
Unterstützung der Opposition dafür, das unsinnige Kooperationsverbot vollständig zu kippen.
({3})
So vernünftig es natürlich ist, dass Bund und Länder im
Bereich der Hochschulen zukünftig wieder zusammenarbeiten können, so absurd ist es doch, dass diese Zusammenarbeit im Schulbereich weiter verboten bleiben soll.
Deshalb ganz klar unser Appell an SPD und an Union:
({4})
Korrigieren Sie den Fehler, und zwar ganz!
({5})
Wir alle wollen die besten Bildungsmöglichkeiten für
unsere Kinder. Wir wollen, dass alle Kinder, alle Jugendlichen in diesem Land ihre Potenziale wirklich voll ausschöpfen können. Wir wollen gute Bildungsinstitutionen, von der Kita über die Schule und die Hochschule
bis zur Weiterbildung. Ich bin davon überzeugt: Wir
werden das nur schaffen und können es überhaupt nur
schaffen, wenn alle gemeinsam daran arbeiten und auch
zusammenarbeiten: Bund, Länder und Kommunen. Sie
sind gemeinsam in der Pflicht. Sie müssen aber auch an
einem Strang ziehen können.
({6})
Es geht um die Zukunft unserer Kinder. Deshalb ist
das Festhalten am Kooperationsverbot in der Bildung ein
Fehler. Da habe tatsächlich auch ich ein Zitat von FrankWalter Steinmeier, der das schön ausgedrückt hat.
({7})
Er hat nämlich nicht nur gesagt, dass es Unsinn ist, sondern er hat auch gesagt, dass es Blödsinn ist. Beides ist
richtig, und deshalb sollte das Kooperationsverbot komplett abgeschafft werden.
({8})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wenn eine Bundesregierung und ein Deutscher Bundestag zusagen, sich
für die Schulen engagieren zu wollen, ein Ganztagsschulprogramm auflegen zu wollen,
({9})
sich dafür engagieren zu wollen, dass es mit der Inklusion weitergeht, dass die Inklusion in den Schulen
schneller vorankommt,
({10})
das dann aber nicht geht, weil man sich selber eine
Mauer namens Kooperationsverbot vor die Nase gestellt
hat, dann fasst sich doch eigentlich jeder normale
Mensch an den Kopf und denkt: Das darf doch wohl
nicht wahr sein. - Deshalb sind wir dafür, diesen Zustand zu beenden.
({11})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, es ist schon gesagt worden: Das weiß nicht nur die große Mehrheit hier
im Bundestag - auch wenn die Mehrheit dem am Ende
wahrscheinlich nicht zustimmen wird -, sondern das
wissen auch viele in den Bundesländern. Gerade deshalb
finde ich die schon angesprochene Kopplung zwischen
der BAföG-Novelle und der Grundgesetzänderung, die
wir heute besprechen, extrem ärgerlich und auch unfair.
({12})
Der Bund übernimmt die Kosten für das BAföG nur,
wenn die Länder dieser Grundgesetzänderung zustimmen. Die nordrhein-westfälische Schulministerin hat das
als Erpressung bezeichnet,
({13})
und es ist eine Erpressung. Diese Bezeichnung dafür ist
absolut richtig. Wir erwarten von der Bundesregierung,
dass das Junktim zwischen diesen beiden Gesetzgebungsverfahren aufgehoben wird, damit beide Reformvorhaben einen sinnvollen und sachlichen Beratungsprozess durchlaufen können.
({14})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir beraten heute
über eine Grundgesetzänderung. Es ist schon gesagt
worden: Das machen wir nicht alle Tage, und das ist
auch richtig so. Man sollte nicht am Grundgesetz herumstückeln, sondern man sollte es unmittelbar und direkt
richtig machen. Ich möchte unseren Kollegen Herrn
Rossmann zitieren, der in einem Beitrag in der FR sehr
gut formuliert hat: „Nach zwei Schritten zurück muss
mehr drin sein als ein Schritt nach vorn.“ Ich finde, man
kann das kaum besser sagen.
({15})
Man muss aber auch bereit sein, diese Schritte zu gehen.
Wir sind es, und wir hoffen, dass sich im Gesetzgebungsverfahren auch bei Ihnen noch die Bereitschaft
dazu zeigt.
Vielen Dank.
({16})
Als nächster Redner hat der Kollege Albert
Rupprecht das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Liebe Kollegin Hein, wenn man Ihrer
Rede zuhört und wenn man auch noch glauben würde,
was Sie sagen, dann bekäme man Depressionen. Für Depressionen gibt es aber überhaupt keinen Anlass. Wo stehen wir im Jahr 2014? Noch einmal kurz zum Status
quo: Wir sind nicht nur Fußballweltmeister, sondern
auch Nobelpreisträger.
({0})
Ich sage das in aller Ernsthaftigkeit.
Natürlich ist das in erster Linie eine herausragende
Leistung des Wissenschaftlers Stefan Hell. Aber würde
derselbe Wissenschaftler im Senegal, in Ägypten oder
anderswo arbeiten, wo er nicht die institutionellen Rahmenbedingungen hätte, die er in Deutschland hat, dann
wäre das nicht möglich gewesen. Das gehört zur Wahrheit dazu.
Wo stehen wir? Alle anerkannten Innovationsindizes
sagen: Deutschland steht weltweit auf Platz zwei, drei
oder vier, und das bei 194 Staaten. Ich glaube, darauf
können wir stolz sein, meine Damen und Herren.
({1})
Wir sind für die Wissenschaft wieder hochattraktiv. In
der Max-Planck-Gesellschaft kommen 86 Prozent der
Postdocs aus dem Ausland. 31 Prozent der Max-PlanckDirektoren kommen ebenfalls aus dem Ausland. Stefan
Hell - ich habe ihn eben schon erwähnt - hat einen Ruf
nach Harvard bekommen. Er hat abgelehnt und ist lieber
in Deutschland im Max-Planck-Institut geblieben.
Das alles sind Aussagen, die zeigen, dass der Wissenschaftsstandort Deutschland weltweit vorne liegt und
hochattraktiv ist.
({2})
All das wäre überhaupt nicht möglich gewesen, hätten
wir vonseiten des Bundes in den letzten Jahren nicht
massiv Gas gegeben.
Das alles sagt den Nichtfachleuten wenig. Dahinter
verstecken sich aber Riesenpakete mit Milliardenvolumina in historischen Dimensionen wie das Wissenschaftsfreiheitsgesetz beispielsweise - ein historischer
Schritt für die Wissenschaftsszene -, Humboldt-Professuren, die Hightech-Strategie, der Spitzencluster-Wettbewerb, der Pakt für Forschung und Innovation, die Exzellenzinitiative usw. usw.
All das sind Maßnahmen, die wir vonseiten des Bundes in den letzten Jahren angestoßen haben. Das zeigt
sich auch in den Finanzen, die wir in der Haushaltsdebatte noch einmal ausführlich diskutieren werden. Wir
haben in den zehn Jahren von 2005 bis 2015 im Haushalt
für Forschung und Bildung einen Anstieg um 101 Prozent und damit eine Verdoppelung erzielt.
({3})
Letzte Frage: Wieso brauchen wir eine Verfassungsänderung? Wir brauchen sie aus zwei Gründen. Der Kollege Heil hat es angesprochen. Der erste Punkt ist: Die
Pakete, die ich eben genannt hatte, sind teilweise zeitlich
befristet. Die Verfassung erlaubt uns nur die zeitliche
Befristung. Nach den von uns gemachten Erfahrungen
wollen wir sie in dauerhafte wettbewerbliche Anreizstrukturen überführen. Denn wir wollen Nachhaltigkeit.
Wir wollen nicht, dass die Wissenschaft es sich bequem macht. Wir wollen aber auch weg von der Projekteritis. Wir brauchen vielmehr langfristig nachhaltige
wettbewerbliche Anreizstrukturen. Wir brauchen die
Verfassungsänderung, um genau das, was wir aufgebaut
haben, auch nachhaltig leben zu können.
Es gibt einen zweiten Grund: die Besonderheit des
deutschen Systems. Wir haben universitäre und außeruniversitäre Forschung. Mit Blick auf die SchanghaiRankings sage ich in aller Deutlichkeit: Wir sind bei den
Hochschulen nirgendwo auf absoluten Spitzenplätzen.
Das hängt auch mit der deutschen Besonderheit zusammen. Würden wir die Max-Planck-Gesellschaft mit dazuzählen oder würde beispielsweise die LMU in München gemeinsam mit der Max-Planck-Gesellschaft
bewertet werden, dann hätten sie sehr wohl einen Spitzenplatz. Eine solche Zusammenarbeit ist bis dato außerordentlich schwierig und nur mithilfe hochkomplizierter
Rechtskonstruktionen möglich, weil die Hochschulen
auf Dauer vom Land und die außeruniversitären Hochschuleinrichtungen von Land und Bund finanziert werden.
({4})
Deswegen ist es in der Tat keine Petitesse, sondern ein
Meilenstein für die Wissenschaftsarchitektur in diesem
Land, dass in Zukunft eine solche Zusammenarbeit auf
Dauer möglich sein wird.
({5})
Zum Begriff der Kooperation. Wir wollen Kooperation, und wir leben Kooperation. Wir wollen aber eine
bestimmte Art von Kooperation. Wir wollen, dass gemeinsame Ziele formuliert werden, dass Aufgaben zugewiesen werden und dass Verantwortung übernommen
wird. Jeder soll die Verantwortung für den Bereich übernehmen, den er gut beherrscht. Was wir nicht wollen, ist
Kooperation, bei der jeder für alles zuständig ist, was
dazu führt, dass am Schluss keiner mehr etwas macht.
Das Ergebnis ist dann, dass die Vertreter unserer Parteien bei Herrn Jauch und Frau Illner sitzen und sagen:
Die anderen sind verantwortlich. - Eine solche Kooperation führt dazu, dass die Schuld immer anderen zugeschoben wird. Genau das braucht die Bevölkerung nicht.
({6})
Wenn wir Artikel 91 b unserer Verfassung ändern, definieren wir genau, was wir wollen. Wir wollen nicht,
dass jeder für alles zuständig ist. Der Bund hat Expertise
und Kompetenz, wenn es um die überregionale Bedeutung von Bereichen, um internationale Wettbewerbsfähigkeit und exzellente wissenschaftliche Leistungen
geht. Wenn wir die Expertise und die Kompetenz in der
Krebsforschung an den verschiedenen Standorten
Deutschlands in den Deutschen Zentren der Gesundheitsforschung zusammenführen wollen, dann macht es
Sinn, dass sich der Bund engagiert; denn dadurch ermöglichen wir Exzellenz und weltweite Spitzenleistungen. Es macht aber keinen Sinn, dass der Bund entscheidet, ob die Universität in Freiburg oder die Universität in
Regensburg ausgebaut wird. Das ist nicht unsere Aufgabe, und darf auch nicht unsere Aufgabe werden. Die
Weiterentwicklung der Hochschulen ist Länderaufgabe,
weil das vor Ort, also dezentral, wesentlich besser entschieden werden kann.
({7})
Das Gleiche gilt für die Schulbildung. Schule gelingt,
wenn sie dezentral und subsidiär organisiert wird. Die
Lehrer vor Ort wissen am besten, wie gute Schule funktioniert. Glaubt irgendjemand ernsthaft, dass es eine Verbesserung für das Land darstellt, wenn wir von Berlin
aus steuern, weil nur wir angeblich wissen, wie gute
Schulen funktionieren? Das würde in keiner Weise eine
Verbesserung darstellen.
({8})
Ich nenne ein konkretes Beispiel: Der Antrag der Grünen
beinhaltet den Ausbau der Ganztagsschulbetreuung.
({9})
Die Situation in meinem Bundesland Bayern sieht wie
folgt aus: Es gibt eine klare politische Aussage, dass die
Ganztagsschulbetreuung bedarfsgerecht ausgebaut wird.
({10})
Jede Kommune und jede Schule, die Bedarf hat, wird
finanziert. Es wird in keiner Weise am Geld scheitern.
Aber es ist ein riesiger Unterschied, ob ich in München
oder in meinem Heimatort, einer ländlichen Dorfgemeinde im Oberpfälzer Wald, einen solchen Ausbau vornehme; denn die Strukturen und damit auch der Bedarf
sind vollkommen unterschiedlich. Ich frage seit Monaten: Was ist der Mehrwert, wenn der Bund die Rolle des
Landes übernimmt? Das hat überhaupt keinen Mehrwert.
({11})
Die Länder können den Bedarf wesentlich besser ermitteln. Genau das macht Bayern. Deswegen empfehle ich
dringend, nicht über Kooperationsverbot oder Kooperationsgebot zu schwadronieren, sondern nach konkreten
Lösungen zu suchen.
({12})
Lieber Kollege Gehring, dem Antrag Ihrer Fraktion
fehlt jegliche Glaubwürdigkeit. Wenn Sie in der Regierung wären, hätten Sie null Chancen, Ihren Antrag umzusetzen;
({13})
denn Ihre Basis, Ihre Landesvertreter und insbesondere
Ihr Ministerpräsident aus Baden-Württemberg würden
keinen Zentimeter mit Ihnen mitgehen.
({14})
Abschließend: Es gab noch nie so viel Kooperation.
60 Prozent der in den Haushalt des BMBF eingestellten
Mittel fließen in Kooperationsprojekte. Die Behauptung,
es gebe keine Kooperation, ist daher falsch. Die Zahl der
Kooperationsprojekte ist in den letzten Jahren dramatisch angewachsen.
({15})
Es gibt also Kooperation. Aber sie muss dort stattfinden,
wo sie sachlich begründbar und vernünftig ist, also dort,
wo es um Exzellenz und internationale Wettbewerbsfähigkeit geht. Die Länder haben die Aufgabe, dort, wo es
um Subsidiarität, Dezentralität und die Nähe zum Menschen geht, die Probleme zu lösen. In diesem Sinne werden wir gemeinsam mit der Regierung Artikel 91 b unserer Verfassung ändern. Damit sind wir auf einem guten
Weg.
Danke schön.
({16})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, als nächste Rednerin hat die Kollegin Nicole Gohlke das Wort.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Kolleginnen und
Kollegen! Vor acht Jahren - auch ich hole aus - hatte die
Bundesrepublik Besuch von Vernor Muñoz, dem damaligen UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Bildung. Das Ergebnis seines Abschlussberichtes war eine
Ohrfeige. Er kritisierte scharf die mangelnde Chancengleichheit und die zunehmende Verlagerung von Bildungszuständigkeiten auf die Länderebene; denn dadurch, so Muñoz, verliere der Bund zunehmend die
Möglichkeit, eine einheitliche Bildungspolitik und gleiche Chancen im Bundesgebiet zu gewährleisten. Er
stellte fest, dass Bildungschancen und Bildungswege in
Deutschland stark davon abhängen, wo man geboren ist,
welches Schulsystem vor Ort existiert und wie zahlungskräftig gerade das jeweilige Bundesland ist. Da hätten
bei allen - sogar bei Ihnen von der Union - alle Alarmglocken läuten müssen.
({0})
Stattdessen sind acht Jahre vergangen. Was ist in dieser Zeit passiert? Der Wettbewerbsföderalismus unter
den Ländern wurde weiter verschärft. Als Krönung haben Sie das Kooperationsverbot eingeführt, das Verbot
der Zusammenarbeit von Bund und Ländern in der Bildung, in der Kultur und auch in anderen Bereichen. Das
Fazit dieser Entwicklung ist ausgewiesenermaßen miserabel. Trotzdem weigert sich die Regierung, eine wirkliche Korrektur vorzunehmen. Für die allgemeine Bildung, für die Schulen und Kitas wollen Sie weiterhin
keine Verantwortung übernehmen. Lediglich für die
Hochschulen soll eine Finanzierung durch den Bund ermöglicht werden, aber nur - und jetzt kommen die Einschränkungen - in Fällen überregionaler Bedeutung und
nur dann, wenn alle Bundesländer zustimmen. Ein einziges Bundesland - ich weiß gar nicht, warum ich jetzt auf
Bayern komme ({1})
kann hier alles blockieren!
„Besser als gar nichts“ ist doch jetzt im Kern die Argumentation der SPD.
({2})
Ich glaube, Kolleginnen und Kollegen von der SPD, dass
Sie sich da etwas schönreden; denn der Verdacht, dass es
mit dieser Grundgesetzänderung gerade nicht um die
Stärkung der Grundfinanzierung aller Hochschulen geht,
sondern dass damit eigentlich nur die Lieblingskinder
und Eliteprojekte der Regierung gepampert werden sollen, liegt sehr nahe!
({3})
Herr Rupprecht hat es doch gerade bestätigt. Er hat gerade genau beschrieben, worin er die Kompetenz des
Bundes sieht: im internationalen Wettbewerb und in Exzellenz. Er hat es gesagt!
({4})
Die Exzellenzinitiative läuft 2017 aus, und es ist doch
auffällig, dass genau jetzt die Konservativen auf einmal
ihr Interesse an einer Lockerung des Kooperationsverbotes
nur für den Hochschulbereich entdecken. Dass das, was
die Regierung hier vorlegt, nicht genug ist, sagen Ihnen sogar Akteure und Institutionen, bei denen es mir wirklich
schwerfällt, sie zu zitieren. Auch die Bertelsmann-Stif5394
tung, die Robert-Bosch-Stiftung und die Telekom-Stiftung haben kürzlich das Verantwortungswirrwarr in der
Bildung bemängelt und kommen zu dem Schluss, dass
der Bildungsföderalismus in Deutschland unter systemischen Blockaden leidet und die Lockerung des Kooperationsverbotes für Einzelfälle im Hochschulbereich nicht
ausreichend ist. Genau das ist es: Bei diesem Gesetzentwurf geht es nur um Einzelfälle und eben nicht um die
Breite. Deswegen ist dieser Entwurf auch nicht der Spatz
in der Hand, ein Schritt in die richtige Richtung oder etwas Ähnliches. Vielmehr ist es zu wenig und eine falsche Entscheidung, sich nur um Elite und Exzellenz in
der Hochschule zu kümmern und den Rest außen vor zu
lassen.
({5})
Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, falls es
Ihnen im internen Koalitionsstreit, der Sie derzeit ein
bisschen umtreibt, gerade entfallen sein sollte: Sie regieren gerade. Dann tun Sie das aber auch, und nehmen Sie
Ihre Aufgaben wahr! Zum Beispiel wäre es Ihre Aufgabe, sich um die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im gesamten Bundesgebiet zu kümmern, und
nicht, aus ideologischer Verbohrtheit den Wettbewerb
unter den Bundesländern wichtiger zu nehmen als gute
Bildung von der Kita bis zur Hochschule.
Vielen Dank.
({6})
Als nächster Redner hat der Kollege Ernst Dieter
Rossmann das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Wanka hat eine historische Rückbetrachtung vorgenommen. Ich will sie so aufnehmen: 1949, zu Beginn der
heutigen deutschen Demokratie, gab es nach dem Totalitarismus so etwas wie einen starken - auch separativen Föderalismus. Dann gab es die erste Große Koalition.
Man hatte - auch bedingt durch gesellschaftliche, ökonomische und politische Erfordernisse - bemerkt, dass
der Staat gestärkt werden muss. Es war 1969 eine große
Reformleistung der damaligen Großen Koalition, im
Rahmen einer staatsorientierten Bildungsreform so etwas wie Hochschulbau, Hochschulsonderprogramme,
Bildungsplanung und Bund-Länder-Programme mit nach
vorne zu bringen. Dies war ein Modernisierungs- bzw.
Innovationsschub. Dann hat es einen Rückschlag gegeben, und zwar mit der nächsten Großen Koalition und
der geteilten Föderalismusreform, die durchaus einige
Vorteile hatte, wenn wir an die Sicherheitsarchitektur
denken, aber in Sachen Bildung brüchig wurde.
Einige kennen die Historie, aber ich möchte es noch
einmal erklären, Frau Wanka. Es war gut, dass die SPDBildungspolitiker ihre Fraktion real erpresst haben und
Peter Struck am Ende sagte: Um das Gesamtwerk durchzubringen, müssen wir die Vorhaben der Wissenschaft
im Grundgesetz verankern. Ohne das keine Hochschulpaktprogramme, keine Exzellenzinitiative, keine bessere
Lehrerbildung und keine Initiativen für bessere Lehre an
den Hochschulen. - All das wäre nicht gegangen, wenn
wir dies damals nicht - wir freuen uns, dass Sie erpresserische Sozialdemokraten anerkennen - ermöglicht hätten.
({0})
Wenn wir die Kette vom separativen Föderalismus
über die stärkere Staatlichkeit hin zur Aufgabenteilung
verfolgen, dann sehen wir, dass wir jetzt in eine Phase
treten, in der wir mehr Kooperation brauchen. Das merkt
man an allen Beiträgen. Wir brauchen mehr Kooperation
in Bezug auf das Zusammenwirken der staatlichen Ebenen - Bund und Länder -, aber auch mehr Kooperation
in Bezug auf das Zusammenwirken der Institutionen, die
in einem bestimmten Bereich aktiv sind; hier geht es um
den Hochschulbereich.
Ich will deshalb das aufnehmen, was auch Kollege
Rupprecht angesprochen hat. Verfassungsänderungen
sind nicht auf den Moment bezogen. Das haben wir mit
der nachgeschobenen Verfassungsänderung und dem
Katastrophenartikel 104 b gemacht, als wir das Konjunkturprogramm anders administrieren wollten und das
auch für den Bereich Bildung und Hochschulen nutzbar
machen wollten.
Zu einer Verfassungsänderung muss Weitsicht gehören. Die Weitsicht bezieht sich darauf, dass - anders als
vielleicht noch 1949; die Perspektive ist jetzt 2049 - in
der Wissens- und Bildungsgesellschaft sowie der Ökonomie der Zukunft der Bildungs- und Hochschulbereich
eine ganz zentrale Rolle spielen wird. Was zentral ist,
muss zentral mit anderen verantwortlich gestaltet werden können, und zwar verlässlich und nachhaltig. Deshalb ist es eine gute Entwicklung, dass im Koalitionsvertrag steht, dass der Bund auch in die Grundfinanzierung
einsteigen können soll. Das wird erst durch diese Verfassungsänderung ermöglicht. Es ist auch gut, dass wir uns
auf neue Formen der Wissenschaftsarchitektur einstellen.
Man muss nicht gleich eine Abscheu vor Exzellenzinitiativen zeigen und Abwehrreflexe mobilisieren. Auch
Sie von der Linken haben doch bestimmte Vorstellungen
über Modernisierung, Innovation, Wertschöpfung, Produktivität und die Gestaltung verbesserter Lebensbedingungen. Deshalb sollten Sie diese Initiativen nicht nur
negativ sehen. Wir brauchen eine veränderte Wissenschaftsarchitektur.
Es ist doch absurd, wenn sich in Karlsruhe die außeruniversitäre Forschungseinrichtung und die Universität
förmlich verrenken müssen, um eine Kooperation abschließen zu können. Das ist keine Frage von rechts oder
links, sondern diese Absurdität sehen wir doch alle.
({1})
Es ist absurd, dass wir in Berlin exzellente Forschungseinrichtungen, zum Beispiel die Charité, haben,
die mit anderen Einrichtungen, die ebenfalls brillante
Forschung betreiben, nicht zusammenkommen können.
An dieser Stelle Kooperation ermöglichen zu können, ist
genauso wichtig, wie darüber nachzudenken, wie eine
zukünftige Profilierung und Entwicklung im Hochschulsystem selber aussehen soll.
Es hat einmal jemand ausgerechnet, dass wir in Europa in einigen Jahrzehnten - das ist gar nicht mehr so
lange hin - gerade einmal 5 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen. Wenn wir in Deutschland innerhalb
dieser 5 Prozent ein Profil entwickeln wollen, dann müssen wir ein Zusammenwirken von Wissenschaft und
Forschung und eine Kooperation von Bund und Ländern
gewährleisten. Es darf nicht sein, dass der Bund nur akzidentell oder kurzfristig eingreift.
Das sind Begründungen, die man annehmen kann,
aber nicht annehmen muss; aber diese sollten die Grundlage für Verfassungsänderungen sein, die über den Tag
hinaus reichen, die Perspektiven ermöglichen sollen.
Wir glauben, dass dies eine gute Verfassungsänderung
für den Bereich Hochschule, Wissenschaft und Lehre ist.
({2})
Es ist eine Verfassungsänderung, die Spielräume ermöglicht und Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet, die wir bisher nicht hatten.
Da es an dieser Stelle eine breite Zustimmung auch
von der CDU/CSU gibt, starte ich noch einmal einen
Versuch in einem anderen Bereich. Mir kommt nicht aus
dem Sinn, was mir einmal eine gute Freundin gesagt hat:
Wenn es beim ersten Mal nicht klappt, musst du es halt
zum zweiten Mal versuchen. - Ich versuche es jetzt noch
einmal, Sie auch
({3})
für die Bildung zu motivieren, zumal man weiß, dass es
auch bei Ihnen einige gibt, die durchaus in diese Richtung weiterdenken wollen.
Wo ist eigentlich die Plausibilität, wenn wir als Gesamtstaat in New York die UN-Behindertenrechtskonvention unterzeichnen, zu Hause aber diesen Impuls
nicht aufnehmen können, sondern mit kleinster Münze
darauf achten müssen, wo der Bund im Schlüsselsystem
Schule Inklusion fördern darf?
Ein Nächstes. Wo ist die Plausibilität, wenn wir im
Bildungs- und Teilhabepaket eine große Anstrengung
unternehmen, um Bildungsarmut zu bekämpfen, während alle wissen, dass vieles besser wäre, wenn man
strukturell schulische Institutionen unterstützt hätte, die
viel mehr Wirksamkeit entfalten, wenn man dabei nicht
Umwege hätte gehen müssen?
Auf die Zukunft gerichtet: Da wir wissen, wie sehr in
der Hochschulbildung, aber auch in der Schulbildung die
Digitalisierung zunimmt, ist es dann am Ende plausibel,
dass wir eine Zusammenarbeit von der Verfassung her
förmlich ausschließen, sodass es Open-Educational-Resources-Entwicklungen nur in einzelnen Bundesländern
gibt? Kann es nicht notwendig werden, ganz bewusst in
Bezug auf Schule einen zentralen Bundesimpuls zu setzen, weil damit die Entwicklung schneller käme und effizienter wäre, weil sie damit auch in größerer Homogenität käme, gerade bei diesem neuen Medium? Darüber
werden wir noch diskutieren.
Bisher müssen wir darüber noch unter den Restriktionen einer Verfassungsbeschränkung, eines Kooperationsverbots in der Verfassung diskutieren, müssen an eine
solche Frage mit einem Tabu im Kopf herangehen, statt
sozusagen mit offenem Visier auf die zugehen zu können, die auch an dieser Frage arbeiten und etwas zusammenbringen wollen.
Das ist der Grund, weshalb wir das Kooperationsverbot als unzureichend, als kurzsichtig ansehen und weshalb es im Bundesrat - Frau Wanka, wir haben die Debatte sehr genau nachgelesen - sehr wohl auch andere
Positionen, klare Positionen, aus sozialdemokratisch und
rot-grün regierten Ländern gegeben hat. Ich habe Frau
Löhrmann so verstanden, dass sie sich nicht daran verkämpfen will - „verkämpfen“ hieße: wir machen gar
nichts mit; wir anerkennen nicht einmal das, was jetzt
seitens der Bundesregierung vorgeschlagen wird -, aber
weiter kämpfen will.
({4})
Das macht eine Differenz, die man auch in der politischen Auseinandersetzung souverän respektieren sollte.
Nachdem ich vorhin ein bisschen flapsig zitiert habe,
will ich jetzt mit Goethe enden - ihn hat auch Malu
Dreyer im Bundesrat zitiert -: „Nicht Kunst und Wissenschaft allein, Geduld will bei dem Werke sein.“ Also:
Unterstützung, Beifall hoffentlich für den einen großen
Schritt, nämlich dafür, dass wir für die Hochschulen, für
die Wissenschaft in jedweder Hinsicht kooperationsfähig werden, und Hoffnung auf und Streiten seitens der
Linken, der SPD, der Grünen und all der einsichtigen
Kollegen bei CDU und CSU für den nächsten großen
Schritt!
Danke schön.
({5})
Als nächster Redner hat der Kollege Kai Gehring das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Große Koalition vergibt mit ihrer Vorlage heute die
historische Chance, aus einer Verbotsverfassung eine Ermöglichungsverfassung für bessere Wissenschaft und
Bildung zu machen.
({0})
Die GroKo hat 2006 gegen grünen Widerstand das
Problem „Kooperationsverbot“ in die Verfassung geschrieben. 2014 will sie es nur zur Hälfte lösen. Mehr
Kooperation in der Wissenschaft, das ist gut. Bildung
bleibt leider außen vor, das ist schlecht. Sie machen damit nur halbe Sachen.
({1})
Gute Hochschulen stehen immer auf dem Fundament
guter Kitas und Schulen. Es bleibt schlichtweg nicht
nachvollziehbar, dass wichtige bildungspolitische Impulse und Verbesserungen wie eine neue Bund-LänderGanztagsschulinitiative ausgeschlossen bleiben sollen.
Das wollen wir mit unserem Antrag ändern.
Als Irrweg hat die SPD im Bundestagswahlkampf das
Kooperationsverbot bezeichnet - das stimmt -; heute
verteidigen und kritisieren Sie den Koalitionskompromiss zugleich. Ich sage: Liebe CDU/CSU, als guter Koalitionspartner sollten Sie die SPD erlösen. Geben Sie
als Union im Bund und in den Ländern den Widerstand
gegen mehr Kooperation in der Bildung auf! Sonst ist
das 7-Prozent-Ziel nicht zu schaffen.
({2})
Eine Grundgesetzänderung muss guten Lösungen den
Weg bereiten. Ich sage: Ja, der Vorschlag von Ministerin
Wanka ist für die Wissenschaft besser als der alte Vorschlag von Ministerin Schavan.
({3})
Aber das geplante Einstimmigkeitsprinzip, wonach alle
16 Länder zustimmen müssen, steht einer neuen Kooperationskultur entgegen.
({4})
Statt Blockade und Vetomöglichkeiten in unser Grundgesetz zu schreiben, sollten die Verfahrensregeln der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz überlassen bleiben.
Es wäre falsch, mit dem Einstimmigkeitsprinzip innovative Entscheidungen zu verzögern.
({5})
Hochschulen und Forschungseinrichtungen brauchen
neue, dauerhafte und gemeinschaftliche Wege in der Finanzierung - dazu sind hier schon viele Beispiele genannt worden -, sonst platzen die Universitäten und
Fachhochschulen aus allen Nähten. Denn auch in den
nächsten Jahren und im nächsten Jahrzehnt hält der Studierendenboom an.
Die zeitlich befristeten Wissenschaftspakte - Hochschulpakt, Pakt für Forschung und Innovation, Exzellenzinitiative; auch der Qualitätspakt Lehre - schaffen
eben keine dauerhafte Finanzierungs- und Planungssicherheit, vor allem nicht für das wissenschaftliche Personal, das endlich gute Karrierewege statt Befristungsunwesen braucht. Es bedarf in unserem Land einer
Offensive für wissenschaftlichen Nachwuchs und planbare Wissenschaftskarrieren.
({6})
Leider fehlt der Großen Koalition die gemeinsame
Idee, was sie denn überhaupt mit den neuen Kooperationsmöglichkeiten in der Wissenschaft anfangen will.
Weder für Spitzenforschung mit internationaler Strahlkraft noch für regionale Strukturpolitik, also weder für
Spitze noch für Breite, haben Sie zusätzliches Geld zur
Verfügung. Bildlich gesprochen: Frau Wanka kriegt zum
1. Januar 2015 ein neues Rennrad, aber Herr Schäuble
schließt es im Fahrradkeller ein.
({7})
Von Kooperation, die auf dem Papier steht, hat niemand
etwas, nicht die Studierenden, nicht die Wissenschaftler
und auch nicht die Hochschulen.
({8})
Wir wollen, dass der Bund dauerhaft Forschung und
Lehre an Hochschulen mit unterstützen und verbessern
kann. Daher ist eine Öffnung der Verfassung für Wissenschaft überfällig.
Die Beratung der Verfassungsänderung ist mit dieser
Debatte in die entscheidende Phase getreten. Wir Grünen
im Bundestag reichen der Großen Koalition die Hand.
An uns scheitert ein großer Wurf nicht. Denn zusammen
können wir aus der Verbotsverfassung endlich eine Ermöglichungsverfassung machen, die einer Bildungsrepublik einen klugen Rahmen setzt. Der Artikel 91 b
kann mehr.
Gesellschaftlich herbeigesehnt werden die vollständige Aufhebung des Kooperationsverbots und eine tiefgreifende Modernisierung unseres Bildungsföderalismus
jedenfalls schon lange. Deshalb sollten wir das auch tun.
Unsere Geduld ist am Ende. Wir wollen mehr Fortschritt
für Bildung und Wissenschaft.
({9})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Patricia Lips
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die BAföG-Novelle, die wir gestern debattiert haben,
vor allen Dingen auch hinsichtlich der künftig alleinigen
Zuständigkeit des Bundes, wie auch die Änderung des
Grundgesetzes für eine bessere Zusammenarbeit mit den
Hochschulen sind, auch schon für sich allein genommen,
von großer Bedeutung. Beides zusammengenommen
entwickelt jedoch ganz neue Möglichkeiten für unser nationales Bildungssystem, aber auch - das wurde deutlich
und ist uns mindestens ebenso wichtig - für die internationale Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes.
Lassen Sie mich an dieser Stelle eines ergänzen, weil
es gestern ein bisschen kritisch anklang: Hier werden
zeitgleich zwei Projekte umgesetzt, die vor allem den
jungen Menschen in unserem Land zugutekommen.
Mehr als 50 Prozent eines Geburtenjahrgangs beginnen heute ein Hochschulstudium - Tendenz steigend.
Die Schere zwischen den Förderungen im außeruniversitären Bereich und der Hochschulen geht systematisch
immer weiter auseinander. Wir wissen das.
Bereits seit Jahren steht deshalb zu Recht die Forderung im Raum, genau an dieser Stelle mehr zu tun. Das
geschah ja auch schon. Es wurden bereits mehrfach die
gemeinsamen Projekte wie Exzellenzinitiative, Hochschulpakt, Qualitätspakt Lehre und Professorinnen-Programm erwähnt. Sie haben diesen Aufwuchs zunächst
gezielt, aber halt auch begrenzt, erfolgreich begleiten
können. Dennoch müssen wir die Frage beantworten:
Reicht dieses Engagement unter den bisherigen Möglichkeiten aus, um heute und in Zukunft im europäischen
und internationalen Wettbewerb dauerhaft zu bestehen?
Ich gebe Ihnen ja recht: Eine Grundgesetzänderung
macht man nicht einfach so, so lapidar. Aber die Antwort
auf diese Frage lautet: Nein.
Es bedarf einer Weiterentwicklung. Deshalb streben
wir - dagegen kann ja niemand etwas einwenden - eine
Erweiterung planbarer und verlässlicher Gestaltungsmöglichkeiten für Hochschulen und Forschungseinrichtungen an. Dies gilt auch für junge Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftler. Damit ist eine Verbesserung der
Leistungsfähigkeit und am Ende auch - das wurde heute
noch nicht erwähnt; aber ich sage dies ausdrücklich - ein
tatsächlicher Mehrwert für das Wissenschaftssystem
verbunden. Es ist und kann nicht unser Ziel sein, dass
ein stetiger Einsatz des Bundes an dieser Stelle künftig
zum Ausfall von Anteilen des einen oder anderen Landes führt.
({0})
Die Basis, um zu diesem Mehrwert zu kommen, stellt
die geplante Grundgesetzänderung dar.
Lassen Sie mich noch einmal auf das Stichwort „Kooperationsverbot“ zurückkommen. Man gewinnt ja in
manchen Diskussionen wirklich den Eindruck, dass in
unserem Bildungssystem ein Stoppschild zwischen
Bund und Ländern steht,
({1})
das es aber so nicht gibt. Es wurden bereits einige Beispiele wie die Projekte im Hochschulbereich genannt.
Aber ich möchte doch auch noch die Milliarden erwähnen, die inzwischen seitens des Bundes unabhängig von
Mittelaufstockungen für Betriebskosten, Sondervermögen und vielem anderen mehr in die frühkindliche Bildung, in Kitas und Krippen geflossen sind.
({2})
Das ist ein nicht unerheblicher Anteil.
Ich möchte als Beispiel auch an das gemeinsame Programm „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ zur Verbesserung der Lehramtsausbildung erinnern und nicht zuletzt auch an die finanziellen Freiräume, die durch die
Komplettübernahme des BAföG durch den Bund bei den
Ländern entstehen.
({3})
Mit Interesse haben wir zur Kenntnis genommen, dass je
nach Bundesland ein Großteil des Geldes nicht nur in die
Hochschulen, sondern wiederum auch in Kitas fließt,
aber auch in viele Bereiche der Schulen.
({4})
- Ich möchte jetzt keine Bewertung im Detail vornehmen, Herr Mutlu. Sie haben nachher noch Zeit, darauf zu
antworten. - Aber das kommt doch nicht von ungefähr.
Das ist doch jetzt erst möglich geworden: eine verbesserte Finanzierung des Bildungssystems mit knapp
1,2 Milliarden Euro jährlich, über diese Legislaturperiode hinaus, aber insgesamt in Länderzuständigkeit.
({5})
Ich wollte mit diesen Beispielen nur zeigen: Wir leisten
also bereits einen erheblichen Beitrag über unsere eigentliche Zuständigkeit hinaus.
Bei allen Forderungen nach einem Mehr an Finanzierung: Wir wissen um die Unterschiedlichkeit und Differenziertheit in den Zielsetzungen der Länder. Am Ende
kann es nicht das Ziel sein, dass der eine das Ziel der
Reise bestimmt und der andere vielleicht nur und für immer die Reisekosten übernimmt.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, selbstverständlich ist Bildung auch eine gemeinschaftliche Aufgabe; aber jeder an seiner Stelle. Da wird uns hier und
heute auch kein Kultusminister widersprechen. Im Gegenteil: Wir stehen zur Kulturhoheit der Länder und zur
föderalen Kompetenzzuordnung.
({6})
Dies gilt im Übrigen auch für den heutigen Gesetzentwurf, der die Überregionalität von Projekten betont und
in bestimmten Fällen die Zustimmung aller Länder erfordert; der Kollege Rupprecht hat es ja angesprochen.
Deutschland ist ein großes Land mit teilweise völlig unterschiedlichen Regionen und damit verbundenen Herausforderungen. Dies gilt für viele Bereiche, auch für
den weiten Raum der Bildung, vor allen Dingen aber für
den Bereich der frühkindlichen und schulischen Bildung. Aus gutem Grund liegen deshalb die Zuständigkeiten der Länder gerade dort, wo sie sich besser auskennen, Entscheidungen treffen können und im Übrigen
auch wollen.
Kolleginnen und Kollegen, die BAföG-Novelle und
die vorgelegte Grundgesetzänderung gehören zusammen. Sie bieten die Chance, eine Strahlkraft in alle Bildungsbereiche hinein zu entfalten, nach innen wie nach
außen. Sie bieten darüber hinaus Wissenschaft und Forschung ganz neue und verlässliche Perspektiven. Insofern ist es eine gute Situation für alle Beteiligten: für den
Bund und die Länder, für die Hochschulen und Forschungseinrichtungen und vor allem für junge Menschen, die unser Land mit einer guten Ausbildung nach
vorne bringen.
Vielen Dank.
({7})
Als nächster Redner hat der Kollege René Röspel das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Eine Vorbemerkung außerhalb des Themas sei
mir gestattet. Ich finde es richtig, dass auch ein Abgeordneter die Möglichkeit haben muss, seinen Vaterpflichten
nachzukommen. Deswegen bin ich gerne kurzfristig für
Swen Schulz eingesprungen, der jetzt bei seinem kranken Kind zu Hause ist. Wir wünschen gute Besserung an
dieser Stelle.
({0})
Jetzt aber zum Thema. Ich bin sehr froh über diesen
Gesetzentwurf, weil ich glaube, dass wir damit im Bereich der Hochschulen einen guten und wichtigen Schritt
weiterkommen und weil dieser Gesetzentwurf auch anerkennt, dass die Länder unterschiedliche Voraussetzungen und unterschiedliche Bedingungen haben. In den
Debatten hört man häufig, dass alle Länder gleich seien
und gefälligst die Aufgaben in ihrem Bereich übernehmen sollen. Das hat man nicht nur bei der Debatte über
den Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit
heute gemerkt. Das würde vielleicht klappen, wenn die
Bundesländer alle gleich wären, so als wenn man die Sahara als Wüste in Quadrate aufteilen würde. Dann
könnte man sagen, dass dort die Voraussetzungen alle
gleich sind. Das kann funktionieren.
Es ist im realen Leben aber nicht so. Vielmehr - das
klang auch gerade bei Patricia Lips an - spielt es eine
Rolle, welche Regionen in einem Bundesland sind.
Große Unterschiede bestehen zwischen Großstädten und
ländlichen Regionen. Wenn ich aus meiner Großstadt im
Wahlkreis in Richtung ländliche Region gehe, dann verändert sich viel: die Arbeitslosenquote, die Zahl der Sozialhilfeempfänger und der Alleinerziehenden sinkt. Alles wird anders, in der Regel besser. Deswegen kommt
gerade Großstädten eine besondere Bedeutung zu.
Ich nenne Ihnen ein Beispiel aus meiner Stadt Hagen.
Wir haben zu Beginn des Schuljahres 260 Flüchtlingskinder ganz schnell in Auffangklassen aufnehmen müssen. Es waren Kinder, die häufig gar nicht die deutsche
Sprache beherrschen, manchmal nur teilweise, mitunter
Analphabeten sind. Die Stadt steht vor der Herausforderung, diese Kinder zu integrieren, Schulklassen zu bilden
und Lehrer dafür abzustellen. Das klappt mit dem Land
zusammen. Aber ich finde, dies ist nicht allein die Aufgabe von Land und Kommune, dies zu regeln - das ballt
sich im Ruhrgebiet -, sondern der Bund hat hier auch
eine Aufgabe. Deswegen ist diese klare Trennung nicht
so einfach.
({1})
In den Ländern gibt es nicht nur unterschiedliche Belastungen, sondern auch unterschiedliche Verfahrensweisen. Weil ich gerne nach Bayern in den Urlaub fahre,
vergleiche ich immer NRW und Bayern. NRW unternimmt besondere Anstrengungen, Menschen zum Abitur
zu führen. Die Quote der Studienberechtigten ist fast
doppelt so hoch wie in Bayern. Das liegt nicht an der
Qualität bayerischer Schüler, aber vielleicht an der Besonderheit, dass man in NRW sagt: Wir wollen mehr
Menschen zum Abitur bringen. Das ist eine besondere
Leistung des Landes. Das spiegelt sich auch in der Zahl
der Studierenden pro Einwohner wider. Das habe ich
beim letzten Mal schon gesagt. In NRW liegt sie deutlich
höher als in Bayern oder Sachsen. Das heißt, in NRW
studieren mehr Menschen. Das ist auch gut so. Dann
aber zu sagen: „Seht als Land zu, wie ihr das hinbekommt“, ist zu kurz gedacht und dient nicht der Sache.
({2})
Ich will ein weiteres, sehr eindringliches Beispiel
nennen, das uns gestern Morgen beim Forschungsfrühstück der Helmholtz-Gemeinschaft vorgestellt wurde:
„Das Haus der kleinen Forscher“, eine Stiftung mit Mitteln aus der Helmholtz-Gemeinschaft und privaten Trägern, die mehr Mathematik, Informatik und Naturwissenschaften in die Kindergärten bringen wollen. Der
Geschäftsführer hat einen total engagierten, begeisterten
und begeisternden Vortrag gehalten. Man merkte, dass er
lange Zeit in Ulm bei Manfred Spitzer, einem Neurowissenschaftler, war, der seit Jahren - wissenschaftlich belegt - sagt, wie wichtig es ist, im frühkindlichen Bereich
mit Bildung anzufangen. Der alte Spruch „Was Hänschen nicht gelernt hat, lernt Hans nimmermehr“ gilt eigentlich auch, wenngleich nicht in dieser Rigidität.
Der Geschäftsführer hat gesagt, dass er die Vision hat,
dass er in 30 Jahren auf der Tagung der Nobelpreisträger
sein wird und dort zwei Nobelpreisträger - am besten
Deutsche - nebeneinander sitzen, die sagen: Mensch, du
warst auch im „Haus der kleinen Forscher“ und hast im
Kindergarten dieses Interesse für Naturwissenschaften
entdeckt. - Das ist genau der richtige Weg. Der Weg
zum Nobelpreis fängt im Kindergarten an und nicht erst
in der Hochschule.
({3})
Daher ist die Trennung - der Bund ist nur für Hochschulen zuständig, alles andere müssen Länder und Kommunen übernehmen - zu kurzsichtig.
({4})
Der Bildungsforscher, der gestern dabei war, hat zwei
Punkte der Bildungspolitik der letzten Jahrzehnte herausgehoben und gelobt:
Der erste Punkt war das Ganztagsschulprogramm, das
die rot-grüne Bundesregierung 2003 auf den Weg gebracht hat.
({5})
Ich erinnere mich daran, dass vom rechten Block des
Hauses die Zwischenrufe kamen: Einheitsschule, Verwahranstalt. Es gab große Proteste. Das hat sich alles gelegt.
({6})
In meinem Wahlkreis gibt es 54 Ganztagsgrundschulen.
Alle wissen, wie gut es ist, eine vernünftige Ausstattung
zu haben, Räume, in denen sich Kinder wohlfühlen, in
denen sie auch den Nachmittag verbringen können. Aber
das Problem ist - Edelgard Bulmahn hat das früher angesprochen -, die Pädagogik darf nicht vom Bund bezahlt
werden. Und das verstehen die Menschen überhaupt
nicht. Zu sagen, für Nachmittagsunterricht sind wiederum die Länder zuständig, das geht an der Lebenswirklichkeit der Menschen vorbei.
Zum zweiten Beispiel, das gelobt wurde: Bei der Stiftung „Haus der kleinen Forscher“ geht es darum, früh
anzufangen, in Kindern ein Interesse für bestimmte Themen zu wecken. Das Programm soll nun - glücklicherweise unterstützt durch das BMBF - auf Grundschulen
ausgeweitet werden. Aber sie dürfen nur nachmittags in
die Ganztagsgrundschulen, weil ihre Arbeit durch Bundesmittel finanziert wird. Deshalb dürfen sie ihre Arbeit
nicht mit der der Lehrer koordinieren und schon vormittags tätig werden.
({7})
Das ist so weit an der Lebenswirklichkeit vorbei - das
kann man den Menschen draußen nicht erklären.
({8})
Wir sollten uns davor hüten, Politik zu machen, die an
der Lebenswirklichkeit der Menschen vorbeigeht.
Deswegen muss der nächste Schritt sein, die Möglichkeit zu schaffen, dass der Bund den Ländern in Bildungsfragen Angebote machen und auch Finanzhilfe geben kann.
Vielen Dank.
({9})
Als nächster Redner hat der Kollege Özcan Mutlu das
Wort.
Frau Präsidentin! Gestatten Sie mir vorweg einen
Satz zur Rede von Frau Lips. Liebe Frau Lips, es kann
einfach nicht angehen, dass Sie sich heute hierhin stellen
und sagen: „Schaut doch! Viele Gelder aus der BAföGReform gehen auch in die frühkindliche Bildung.“ Bei
der gestrigen BAföG-Debatte haben etliche Ihrer Kollegen das Land Niedersachsen dafür kritisiert, dass es genau das getan hat. Das ist ein bisschen billig.
({0})
- Ja, ja, natürlich. Lesen Sie das im Protokoll nach.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kollegen! Wie heißt
es doch so schön? Man erntet, was man sät. Natürlich
vorausgesetzt, dass man etwas ernten will.
({1})
Wenn ich mir Ihre Bildungspolitik und die Reden heute
vergegenwärtige, dann habe ich da so meine Zweifel. Sie
säen - um beim Bild des Landwirts zu bleiben - entweder überhaupt nicht oder nur spärlich; und wenn Sie etwas säen, dann lassen Sie die eine Hälfte des Ackers unberührt. - Dieses Bild ist symptomatisch für Ihre
Bildungspolitik, die wider besseres Wissen am Kooperationsverbot in der allgemeinen Bildung festhält.
({2})
Aber damit nicht genug: Zwischenzeitlich ist es so
- wir haben es in mehreren Debatten gehört -, dass Sie
sich gut 13 Jahre nach dem ersten PISA-Schock gegenseitig auf die Schulter klopfen, weil wir inzwischen im
PISA-Vergleich durchschnittliche Werte erreicht haben.
Aber ein Bildungssystem darf sich nicht nur mit Durchschnitt begnügen. Durchschnitt ist für uns nicht genug.
Durchschnitt ist Stagnation, und Stagnation ist kein Erfolg. Deshalb muss das Kooperationsverbot abgeschafft
werden.
({3})
Das hat uns auch die jüngste OECD-Studie „Bildung
auf einen Blick“ eindrücklich gezeigt: geringste Bildungsmobilität, weiterhin bestimmt der Geldbeutel der
Eltern darüber, wie erfolgreich die Bildung ist oder eben
nicht, Bildungsinvestitionen unterhalb des OECDDurchschnitts. Liebe Kollegen, das ist doch keine Erfolgsstory! Das ist kein Grund, sich auf die Schulter zu
klopfen.
Wir Grüne waren und sind nach wie vor für Ganztagsschulen. Ganztagsschulen sind aus unserer Sicht Orte,
die Kreativität und Innovationsfähigkeit befördern, weil
sie an den Potenzialen der Kinder und der Jugendlichen
ansetzen. Gerade weil sie das tun, können sie zu mehr
Chancen-, Teilhabe- und Leistungsgerechtigkeit, also
- das sage ich in Richtung der SPD - zu mehr Bildungsgerechtigkeit beitragen.
({4})
Deshalb bin ich mit Ihnen einer Meinung: Das Ganztagsschulprogramm der rot-grünen Regierung - an dieser
Stelle ein Dank an die Präsidentin, die damals in einer
anderen Funktion war - ist eine Erfolgsstory, unsere gemeinsame Erfolgsstory,
({5})
und die sollten wir auch fortsetzen. Ich appelliere an dieser Stelle an Sie, Herr Kollege Heil. Wenden Sie das
Struck’sche Gesetz an: Kein Gesetz verlässt den Bundestag, wie es hineinkommt. - Stimmen Sie unserem Antrag
zu.
({6})
Weil immer noch am Kooperationsverbot festgehalten
wird, können wir nicht mehr in Ganztagsschulen investieren. Das gilt insbesondere für das Bildungssystem, das
zu einem inklusiven Bildungssystem weiterentwickelt
werden soll. Auch diesbezüglich treten wir auf der
Stelle. Ich kann nur das wiederholen, was ein Kollege
vorhin gesagt hat: Es kann doch nicht sein, dass wir die
UN-Behindertenrechtskonvention ratifizieren - das haben wir vor fünf Jahren hier getan - und in diesem Punkt
aber immer noch auf der Stelle treten. Wir können als
Bund doch nicht sagen: „Das liegt im Zuständigkeitsbereich der Länder; Stichwort ‚Länderhoheit‘“, während
die Länder wiederum sagen: „Barrierefreie Schulen sind
Aufgabe der Kommunen“, und die Kommunen wiederum
sagen: „Wer bestellt, der zahlt.“ - Das Ergebnis ist: Bei
der Inklusion herrscht Stillstand. Das können wir uns
nicht leisten.
({7})
Dieses Problem müssen wir angehen. Auch deshalb gehört dieses Kooperationsverbot abgeschafft.
An dieser Stelle würde ich gerne Frau Sylvia
Löhrmann, die derzeitige KMK-Präsidentin, zitieren,
weil ihr Name und das Land Niedersachsen hier öfter genannt worden sind.
({8})
- NRW. Habe ich nicht NRW gesagt? Entschuldigung,
ich habe mich versprochen.
({9})
- Nordrhein-Westfalen. Liebe Kollegen, ich meinte
Nordrhein-Westfalen. Ruhig Blut! Da ich nur noch ein
paar Sekunden Redezeit habe, bin ich irgendwie unter
Druck.
({10})
- Gut.
Frau Löhrmann hat gesagt: Wir müssen wegkommen
von einem Denken in Zuständigkeiten und hinkommen
zu einem Denken in Verantwortlichkeiten.
({11})
Sie hat recht. Deshalb sage ich: Das, was Sie hier praktizieren, ist organisierte Verantwortungslosigkeit. Das Festhalten an dem Kooperationsverbot ist verantwortungslos. Nutzen Sie die Chance: Nehmen Sie unseren Antrag
an, korrigieren Sie die Fehler aus der FödKom II. Lassen
Sie uns gemeinsam etwas für die Bildung unserer Kinder
und Jugendlichen tun und nicht nur für die universitäre
Bildung. Das ist wichtig.
({12})
Als nächster Redner hat der Kollege Tankred
Schipanski das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das ist heute eine lebhafte Debatte. Wir würden uns natürlich ein bisschen mehr Sachlichkeit wünschen. Herr
Mutlu, das wäre fein. Ich hoffe, Frau Meiritz von Spiegel
Online schaut zu. Sie hat neulich kritisiert, die Debatten
seien nicht mehr lebhaft und die Geschäftsordnung sei so
schwierig. Ich muss sagen: Die Debatte heute ist alles
andere als langweilig. Das macht Spaß. Unsere Ministerin hat in ihrer Rede von einem Gesamtpaket gesprochen. Die Grünen dagegen sprechen von einer Junktimsklausel, von Erpressung.
({0})
Meine Damen und Herren, dies ist ein Festtag für die
Bundesländer. Das ist eine Festtagswoche für die Bundesländer: Gestern gab es eine Milliardenentlastung beim
BAföG, und heute schaffen wir die rechtlichen Grundlagen, damit sich der Bund dauerhaft und nicht nur temporär an den Kosten für die Hochschulen beteiligen kann.
({1})
Das ist wie Ostern und Weihnachten zusammen. Da
kann man überhaupt nicht von Erpressung sprechen.
Das, was Sie hier machen, ist ganz schlechter politischer
Stil.
Wenn ich nach links, auf die Bundesratsbank, blicke,
bin ich aber bitter enttäuscht. Ich möchte unseren Bundesländern bei der zweiten und dritten Lesung eine
zweite Chance geben. Ich möchte aber sagen: Ein Wort
des Dankes ist bei so viel Engagement des Bundes für
unsere Bildungsrepublik Deutschland mehr als angebracht.
({2})
Herr Kollege Schipanski, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Rossmann zu?
Eine Zwischenfrage? - Aber gerne.
Herr Kollege Schipanski, ich möchte es so in eine
Frage kleiden: Haben Sie Verständnis dafür, dass die
Kultusministerkonferenz langfristig zu planen ist, sodass
sie sich mit den manchmal kurzfristig festgelegten Tagesordnungen des Bundestages nicht so leicht vereinbaren lässt? Aktuell findet eine Kultusministerkonferenz
statt, an der CDU-Minister, SPD-Minister und andere
Minister teilnehmen.
({0})
Wir sollten deshalb die Erwartung bzw. den Wunsch ausdrücken, dass, wenn Weihnachten ist, wenn wir diesen
Gesetzentwurf verabschieden, die Bundesratsbank besetzt ist.
Lieber Kollege Rossmann, Sie haben es schon gehört:
Den Landesregierungen gehören nicht nur Kultusminister an. Es gibt auch Bevollmächtigte beim Bund, die regelmäßig an den Sitzungen teilnehmen, wenn wir über
innere Sicherheit und Ähnliches sprechen. Von daher
hätte ich die Anwesenheit von Ländervertretern als angemessen empfunden. Ich habe gesagt: In der zweiten
und dritten Lesung wird es sicherlich die Möglichkeit
geben, das Engagement des Bundes seitens des Bundesrates zu würdigen.
({0})
Das klare Bekenntnis von Politik und Wissenschaft
lautet: Die Hochschulen sind das Herzstück unseres
Wissenschaftssystems. Dieses Herzstück lag bis dato in
der alleinigen Verantwortung der Bundesländer. Diese
nehmen aus gesamtstaatlicher Sicht ihre Verantwortung
nicht vollumfänglich wahr. Daher hilft der Bund seit vielen Jahren mit ganz besonderen Konstruktionen. Die
Pakte, die durch die Grundgesetzänderung von 2006 ermöglicht wurden, sind bereits angesprochen worden.
Aber auch diese Pakte haben ihre rechtlichen Grenzen
erreicht. Wir wollen - das wurde mehrfach angesprochen - die Auseinanderentwicklung von außeruniversitären Forschungseinrichtungen und Hochschulen aufhalten.
Daher liegt heute dieser Gesetzentwurf zur Verfassungsänderung vor. Es ist ein historischer Gesetzentwurf, über
den wir seit 2010 diskutieren, den wir 2011 auf dem
Bundesparteitag der CDU faktisch ein Stückchen vorangebracht haben, den alle Wissenschaftsorganisationen
seit langem gefordert haben und der einen breiten gesellschaftlichen Konsens aufgreift.
Es hat etwas lange gedauert; da hat Herr Gehring
durchaus recht. Man kann aber ohne Goethe sagen: Gut
Ding will Weile haben. Wir haben nun einen Formulierungsvorschlag gefunden, der auch den Bundesrat zufriedenstellt. Erinnern wir uns an die letzte Legislaturperiode: Da haben wir einen Änderungsantrag eingebracht,
der im Bundesrat aufgehalten, blockiert wurde. Wir
brauchen für eine Verfassungsänderung eine Zweidrittelmehrheit bei Bundesrat und Bundestag. Von daher freue
ich mich, dass der Bundesrat jetzt zustimmt.
Das KIT in Karlsruhe wurde angesprochen. Wir haben dort mittlerweile Erfahrungen gesammelt, wie Kooperationen zwischen Unis und außeruniversitären Einrichtungen laufen können. Ich finde sehr spannend, was
die Fraunhofer-Gesellschaft gegenwärtig vorschlägt: regionale Leistungszentren, wo sich um die Universitäten
herum ein Konzept zur Zusammenarbeit entwickelt. Ich
denke, das ist mit Blick auf Artikel 91 b Grundgesetz ein
interessanter Vorschlag. Für uns ist wichtig, dass Hochschulen und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen
auf Augenhöhe verhandeln.
({1})
Dieser Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Grundgesetzes macht es erstmals möglich, dass sich der
Bund institutionell engagiert. Für uns ist klar, dass wir
das Geld nicht mit der Gießkanne verteilen, sondern dass
wir dies - genau so, wie es im Gesetzentwurf steht - an
gewissen Kriterien festmachen. Die überregionale Bedeutung wurde angesprochen. Es geht um Ausstrahlungskraft. Dies muss nicht international sein, sondern
kann auch national sein. Wir wollen - auch das steht in
der Gesetzesbegründung - mit dieser Verfassungsänderung Exzellenz in Breite und in Spitze verbessern.
({2})
- So ist es, Breite und Spitze.
Die vorgeschlagene Verfassungsänderung löst keinesfalls nur die Hälfte des Problems, wie es von den Grünen
formuliert wird.
({3})
Es ist auch nicht nur der kleine Finger einer Hand, sondern wir strecken den Bundesländern die ganze Hand
entgegen,
({4})
um unsere Kooperationskultur zu vertiefen.
({5})
Wir modernisieren den Föderalismus, der in sich selbst
bereits ein Kooperationsgebot enthält. Daher ist die oft
verwendete Vokabel Kooperationsverbot hier falsch.
({6})
Wenn man den Populismus hinsichtlich des Schulbereichs in dieser Debatte hört, muss man sagen, dass jedes
Bundesland bereits jetzt die Möglichkeit hat, einheitliche Schulbücher und einheitliche Lehrpläne einzuführen.
({7})
Jedes Bundesland hat die Möglichkeit, Sozialpädagogen
einzustellen, digitale Bildungsangebote zu etablieren,
Ganztagsschulen und Horte einzuführen sowie Inklusion
zu betreiben. Dafür bedarf es keiner Grundgesetzänderung.
({8})
Leider machen die Bundesländer das nicht; aber das ist
nicht unsere Aufgabe.
Die Länder haben darüber hinaus die Möglichkeit,
sich über ihre Landesgrenzen hinweg zu verständigen,
welche Standards, welche Prüfungen gelten und welche
Bücher in Gesamtdeutschland verwendet werden sollen.
Auch dazu bedarf es keiner Grundgesetzänderung. Ich
verweise auf die Homepage der Kultusministerkonferenz, die ja gerade tagt: Es gibt knapp 150 Vereinbarungen zu gemeinsamen Bildungsstandards, Aufgabenpools,
Zentralprüfungen und der Anerkennung von Abschlüssen. Das sind 150 Vereinbarungen für mehr Vergleichbarkeit und Einheitlichkeit im deutschen Schulwesen.
Ich appelliere, diese Vereinbarungen nunmehr in einen
verbindlichen Staatsvertrag zwischen den Ländern aufzunehmen. Somit hätten wir mehr Transparenz, mehr
Verbindlichkeit, und wir könnten dem Eindruck eines
Wirrwarrs, der hier entsteht, ein ganzes Stück entgegentreten.
({9})
Klar ist: Die Defizite in der Zusammenarbeit der Bundesländer untereinander können nicht mit einer Verfassungsänderung behoben werden. Das muss unser Koalitionspartner anerkennen. Liebe Frau Gohlke, das hat
auch nichts mit Ideologie zu tun.
({10})
Eine Grundgesetzänderung im Bereich der Schule
wird nicht dazu führen, dass es in den Schulen plötzlich
iPads regnet oder Schulen renoviert werden.
({11})
Wir haben eine klare, ausgewogene und funktionale
Aufgabenverteilung in unserem Bundesstaat. Damit verbunden sind föderale Finanzbeziehungen. Wir haben,
lieber Herr Röspel, auch einen Länderfinanzausgleich,
der für genau diese Chancengleichheit in den einzelnen
Bundesländern sorgen soll.
({12})
Die Bundesländer müssen lernen, dass der Bund keine
zu melkende Kuh ist, die ausgleicht, wenn man in den
Landeshaushalten falsche Schwerpunkte setzt.
({13})
Ich komme zum Ende, Frau Präsidentin - aber es gab
ja die Zwischenfrage, ohne dass die Uhr gestoppt
wurde -:
({14})
Dem Bund liegt das Gesamtwohl sehr am Herzen. Daher
freuen wir uns auf diese Beratungen. Wir geben den
Hochschulen mehr Planungssicherheit. Es geht um Innovationskraft, um die Leistungsfähigkeit unseres Bildungssystems. Von daher: Stimmen Sie, liebe Damen und Herren der Opposition, diesem Gesetzentwurf zu.
Vielen Dank.
({15})
Als nächster Redner hat der Kollege Oliver
Kaczmarek das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ob das jetzt die ganze Hand, der kleine Finger, ein Drittel oder wie auch immer ist, ich will es mal so formulieren: Zur Kooperation im gesamten Bildungsbereich ist
das heute der erste wichtige Schritt. Der Süden der Republik - es ist ja nicht nur Herr Kretschmann zu überzeugen, sondern Herr Spaenle auch noch - braucht noch
ein bisschen Zeit auf dem Weg der Erkenntnis. Die räumen wir denen auch ein.
Es ist wichtig, dass wir mit dieser geplanten Grundgesetzänderung auch etwas anfangen. Das ist ja hier bereits
in einigen Beiträgen deutlich geworden.
({0})
Es stehen einige Entscheidungen an. Der Blick in den
Koalitionsvertrag hilft, um zu sehen, was auf der Agenda
steht: Hochschulpakt, Exzellenzinitiative, Pakt für Forschung und Innovation, Qualitätspakt Lehre - das sind
Elemente, die das Wissenschaftssystem strukturell beeinflusst und die internationale Sichtbarkeit Deutschlands als Wissenschaftsstandort nach vorne gebracht haben. Diesen Impuls wollen wir inhaltlich und strategisch
nachhaltig aufgreifen, weiterentwickeln. Das ist die Herausforderung für diese Wahlperiode.
({1})
Darüber hinaus haben wir vereinbart, die Grundfinanzierung der Hochschulen zu verbessern - das steht im
Koalitionsvertrag -, die akademische und berufliche Bildung besser miteinander zu verzahnen sowie planbare
und verlässliche Karrierewege in der Wissenschaft zu
schaffen. Deswegen mein Appell an dieser Stelle: Der
Bund muss seinen Gestaltungsraum, der ihm neu eröffnet wird, umfassend sehen. Exzellenz, damit auch die internationale Sichtbarkeit des Wissenschaftsstandortes,
und die Breitenförderung sind für uns untrennbar miteinander verbunden. Das müssen wir konzeptionell untermauern.
({2})
Meine Damen und Herren, Kooperation bedeutet,
dass mindestens zwei gleichrangige Partner auf Augenhöhe miteinander kooperieren. Deswegen möchte ich
gerne zwei Anmerkungen zum Föderalismus machen.
Die erste ist: Der natürliche Kooperationspartner des
Bundes - das ist doch banal - in der Bildungspolitik, in
der Wissenschaftspolitik sind die Länder. Unser Föderalismusverständnis unterstreicht auch vor diesem Hintergrund in Zukunft die grundsätzliche Zuständigkeit der
Länder für die Wissenschaft.
({3})
Das belegt auch ein Blick in die Zahlen. Die Gesamtausgaben - ich habe es bereits an diesem Platz gesagt,
möchte es aber wiederholen - für die Hochschulen tragen die Länder zu etwa zwei Dritteln, und der Bund
leistet einen wichtigen Beitrag von - gesteigert - etwa
einem Achtel. Wir sollten bei unseren Debatten im Deutschen Bundestag nicht den Eindruck erwecken, als wäre
es genau umgekehrt. Die Länder haben die Grundzuständigkeit, und das wird auch so bleiben. Und die leisten
damit auch eine ganze Menge.
({4})
Eine zweite Anmerkung zum Föderalismus: Die Aufhebung des Kooperationsverbotes bedeutet eben nicht
die Aufhebung des Subsidiaritätsprinzips. Alles das, was
in den Ländern entschieden werden soll und muss, muss
auch dort entschieden werden.
({5})
Und wir haben auch die Aufgabe, das zu respektieren.
Das betrifft beispielsweise auch die Entscheidung der
Niedersächsischen Landesregierung, in die frühkindliche Bildung zu investieren.
({6})
Das ist doch eine Entscheidung - ich lasse jetzt mal beiseite, dass es weltexklusiv ist, wenn einige hier behaupten, vorschulische Bildung habe nichts mit schulischer
Bildung zu tun -, die der Landtag getroffen hat, weil es
offensichtlich einen Bedarf gibt. Und wir - das ist unser
Föderalismusverständnis - haben diese Entscheidung an
der Stelle zu akzeptieren.
Wir sollten nicht den Eindruck erwecken, dass die
Bundesländer mit der BAföG-Entlastung nicht richtig
umgehen können. Gestern ist hier Nordrhein-Westfalen
genannt worden. Ich finde, man muss damit redlich umgehen.
({7})
An der Stelle ein Hinweis: Allein für die Ausfinanzierung des Hochschulpaktes II - dieses Bundesland trägt
allein die Hälfte des Aufwuchses, den die KMK jetzt
noch einmal oben draufgelegt hat, weil dort so viele
Leute studieren - werden zwischen 2015 und 2020
2,4 Milliarden Euro mehr aufgewendet. Die BAföG-Entlastung - ich sage dies nur, weil es ganz wichtig ist; ohne
dem wäre es nämlich gar nicht möglich, in den Hochschulpakt weiter zu investieren, auch was den Hochschulpakt III angeht - wird in dem gleichen Zeitraum
1,7 Milliarden Euro betragen. Das ist also ein wichtiger
Beitrag zur Entlastung der Länder. Aber wir sollten nicht
so tun, als wenn die mit dem Geld nicht umgehen könnten. Sie investieren genau in diesen Zweck, nämlich in
die Verbesserung der Studienbedingungen und der Wissenschaft.
({8})
Deshalb komme ich zu der Schlussfolgerung: Wer
Kooperationen will, der braucht auch eine Kultur der
Kooperation.
({9})
Die drei Hochschulpakte sind ein gutes Beispiel für gelungene Kooperation; andere Beispiele sind hier schon
angesprochen worden. Aber von diesem Platz soll mir
bitte keiner erzählen, dass diejenigen, mit denen wir kooperieren wollen und müssen, zur Kooperation gar nicht
in der Lage oder willens sind. Das entspricht nicht den
Tatsachen. Wir sollten im Interesse des Parlaments eine
andere Tonart einschlagen.
Herr Kaczmarek, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Rupprecht?
Ja, gerne.
Eine Frage zu stellen, nachdem ich heute schon reden
konnte, ist fast schon unfair, aber diese Sache brennt mir
auf den Nägeln.
Sie sprechen von einer Kooperationskultur. Ich glaube,
zur Kooperation gehört Vertrauen. Es ist doch so: Wir haben aus unserem Haushalt 1,17 Milliarden Euro bereitgestellt, um 35 Prozent der von den Ländern zu tragenden BAföG-Kosten zu übernehmen. Wir schultern
diesen Kraftakt. Es gibt eine Vereinbarung zwischen den
Vertretern von Bund und Ländern, dass diese freiwerdenden Mittel Schulen und Hochschulen zugutekommen. Wenige Tage später sagt der Ministerpräsident von
Niedersachsen: Diese Vereinbarung interessiert uns
nicht, wir investieren das Geld da, wo wir wollen. - Ich
möchte ernsthaft die Frage stellen, ob das vertrauensfördernd ist.
({0})
Ich bitte um Verständnis: Zur Kooperation, zur Zusammenarbeit gehört Vertrauen. Vertrauen heißt, Vereinbarungen einzuhalten.
Vertrauen heißt, dass wir darauf vertrauen, dass die
Länder verantwortungsvoll mit dem Geld umgehen.
({0})
Wir werden nur dann dagegen protestieren, wenn wir
Grund zu der Annahme haben, dass das nicht der Fall ist.
Ich sage noch einmal: Die Annahme, dass die vorschulische Bildung nichts mit der schulischen Bildung zu tun
habe, teile ich nicht. Deswegen können wir es einer Landesregierung, die einen offensichtlichen Bedarf aufgreift, nicht vorwerfen - das wäre absurd -, dass sie in
frühkindliche Bildung investiert. Das halte ich für keinen Beitrag zu einer Kooperationskultur.
({1})
Herr Kaczmarek, es gibt den Wunsch nach einer
zweiten Zwischenfrage, und zwar vom Kollegen
Hubertus Heil.
Gern, natürlich.
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. - Es ist ungewöhnlich, sich hier zu Wort zu melden; denn wir beide,
Herr Rupprecht und ich, haben in der Debatte bereits gesprochen. Aber als Niedersachse fühle ich mich doch herausgefordert, etwas dazu zu sagen.
Herr Kaczmarek, könnten Sie dem Kollegen
Rupprecht, unserem geschätzten Koalitionspartner,
({0})
bitten, zur Kenntnis zu nehmen, dass es eine Vereinbarung zwischen Bund und Ländern gibt, die die Verwendung der Mittel schwerpunktmäßig im Bereich Hochschule und Schule sieht? Das macht Niedersachsen im
Übrigen auch.
({1})
Schwerpunkt heißt aber auch: Man kann bei Bedarf
davon abweichen. Da die Vorgängerregierung - das war
eine schwarz-gelbe - zu wenig im Bereich von Kitas gemacht hat, gehört das Geld in den Kitabereich.
Der Bildungsbegriff ist umfassend. Die Verwendung
der Mittel auf diese Weise ist rechtlich möglich. Das ist
keine falsche Verwendung der Mittel, was der Fall wäre,
wenn das Geld beispielsweise in den Ausbau von Parkbuchten gesteckt würde. Das Geld geht in Niedersachsen
eins zu eins in die Bildung: in Schule, Hochschule und
Kita. Könnten Sie den Kollegen einfach bitten, dass er
das zur Kenntnis nimmt?
({2})
Soweit dies in Form einer Frage geschieht, wird den
Anforderungen Rechnung getragen, liebe Kolleginnen
und Kollegen.
Herr Kollege Heil, ich bedanke mich für den Hinweis
und werde Ihre Worte bei geeigneter Gelegenheit in einem Gespräch übermitteln.
({0})
Ich will zum Schluss kommen. Ich glaube, wir sollten
verhindern, dass Kooperationen in Zukunft eine Sache
- mit Verlaub, Frau Ministerin - der Staatssekretäre und
Minister auf der Verwaltungsebene werden. Wir sollten
ein Interesse daran haben, dass das Parlament bei zukünftigen Kooperationen deutlich mehr mitarbeitet. Deswegen brauchen wir inhaltliche Debatten, um diesen
großzügigen Rahmen, den wir geschaffen haben, voll
auszunutzen. Wenn das der Kerngehalt und das Wesen
der Debatten für die Zukunft sind, dann bin ich da sehr
zuversichtlich.
Vielen Dank.
({1})
Als letzte Rednerin in dieser Debatte hat die Kollegin
Dinges-Dierig das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Unter dem Eindruck der gerade geführten Debatte will
ich Ihnen Folgendes sagen: Ich war vorgestern, am Mittwochabend, in Bad Honnef und habe dort an einem Treffen von über 300 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Funktionären unserer Hochschulen, aber auch
außeruniversitärer Forschungseinrichtungen teilgenomAlexandra Dinges-Dierig
men, bei dem es zu einer sehr heftigen Diskussion kam.
Sie war deshalb heftig, weil die Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftler nicht wussten, dass ein Vertreter der
Politik im Raum war. Ich war zwar anwesend, irgendwo
zwischendrin, aber ansonsten waren sie unter sich. Sie
haben dann über die Politik hergezogen und gefordert,
dass die Politik das einmal zur Kenntnis nehmen sollte.
({0})
Auf der einen Seite war es amüsant. Auf der anderen
Seite denke ich: Das, was wir hier heute abgeliefert haben, ging ein Stück in diese Richtung. Ich habe das Gefühl, dass wir uns vielleicht doch ein bisschen zu viel mit
uns selber, der Verteilung von Kompetenzen und Verantwortlichkeiten zwischen Bund und Ländern und nicht so
sehr mit dem Kern, nämlich der Zukunft unserer Gesellschaft und dem Beitrag der Wissenschaft dazu, beschäftigen. An dieser Stelle sollten wir die Emotionen hier im
Saal ein bisschen runterfahren und sagen: Unser Wissenschaftssystem, wie wir es heute haben, übt international
unglaubliche Anziehungskraft aus.
({1})
Auch Stefan Hell, der bekanntermaßen gerade den
Nobelpreis erhalten hat, hat das vor zwei Tagen gesagt.
Die Wissenschaftslandschaft in Deutschland wird international nun ganz anders wahrgenommen. Das ist natürlich ein Verdienst von Bund und Ländern, die einen gewissen Rahmen gesetzt haben. In allererster Linie ist es
aber ein Verdienst der Wissenschaft selber. Deshalb
möchte ich an der Stelle einfach einmal Danke an die
Wissenschaft sagen.
({2})
Wir wissen natürlich auch, dass wir nicht stehen bleiben dürfen. Deshalb diskutieren wir ja auch und fragen
uns: Wie könnte es denn weitergehen? Was haben wir
für Erkenntnisse aus den letzten Jahren und Jahrzehnten
gewonnen? Wir lagen weit zurück. Herr Rossmann, ich
glaube, Sie haben Ihre Ausführungen mit einer Rückbetrachtung auf das Jahr 1969 angefangen.
({3})
- 1949 sogar. Entschuldigung. - Wo wollen wir denn
nun eigentlich hin, und welche Rolle spielt denn jetzt der
Artikel 91 b Grundgesetz in dieser ganzen Ausführung?
({4})
Ich möchte vorab an dieser Stelle betonen: Ich selber
bin überzeugt vom Föderalismus. Föderalismus bedeutet
für mich auch die Achtung der Entscheidungen derjenigen, die Verantwortung tragen. Das sind in dem Fall die
Länder, die hier heute leider nicht vertreten sind; darüber
haben wir aber schon gesprochen. Föderalismus bedeutet aber auch: Wir haben eine Chance, um die besten
Wege zu ringen und dann voneinander zu lernen. Auch
das haben wir immer getan.
Ich weiß, wie schwierig es ist, nach draußen verständlich zu machen, warum es eigentlich sinnvoller ist, dass
mehrere Länder eine Verantwortung haben, als dass der
Bund sagt: Da soll es langgehen. - Das ist sehr schwierig. Wenn man vor Ort mit den Bürgerinnen und Bürgern
spricht - hier greife ich ein Stück weit auf meine Zeit vor
meiner Mitgliedschaft im Bundestag zurück -, muss
man ihnen deutlich machen, dass nicht allein der Wechsel der Schule wegen eines Umzugs von einem Bundesland in ein anderes ein Problem ist, sondern dass jeder
Wechsel einer Schule, auch innerhalb eines Bundeslandes, nicht unerhebliche Probleme mit sich bringt. Das
liegt daran, dass die handelnden Personen vor Ort die
Qualität bestimmen. Die Schulen kennen ihre Kinder vor
Ort, und auch die Universitäten und Fachhochschulen
wissen, mit welchen Studierenden sie es zu tun haben
und mit welchem Lehrpersonal die größten Chancen bestehen, das Beste aus ihnen herauszuholen. Deshalb unterstütze ich die föderale Grundordnung hundertprozentig.
({5})
Frau Dinges-Dierig, lassen Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Gehring zu?
Ja, gerne.
Nachdem wir eben Zeuge öffentlicher Verhandlungen
innerhalb der Koalition über die Interpretation einer
Bund-Länder-Vereinbarung in Bezug auf das Bildungsund Wissenschaftspaket wurden und Sie für die Unionsfraktion gerade ausgeführt haben, dass Sie unseren Föderalismus sinnvoll finden und die Entscheidungen der
Länder achten, möchte ich Sie fragen: Achtet denn die
Unionsfraktion die Handlungsfreiheit der 16 Bundesländer, die auf der Basis der gemeinsamen Vereinbarung
zum 6-plus-3-Milliarden-Paket jetzt 16 individuelle Bildungs- und Wissenschaftspakete schnüren und genau
von dieser Freiheit, die die Vereinbarung lässt, Gebrauch
machen? Es wäre am Ende einer solchen Debatte sicherlich eine spannende und wichtige Klarstellung gegenüber den Ländern, die, wie Sie gerade betont haben, im
Rahmen der Bund-Länder-Vereinbarung Handlungsfreiheit haben und diese jetzt 16-mal ausüben.
Herr Gehring, ich sage hier ganz deutlich, dass ich die
Entscheidungen der Länder respektiere, sofern sie sich
an Vereinbarungen, und zwar Vereinbarungen im Sinne
des ehrbaren Kaufmanns - nicht im Sinne eines Staatsvertrags -, halten.
({0})
Meine Damen und Herren, die grundlegende Verantwortung für die Hochschulen haben die Länder, und das
wird und soll auch so bleiben; das hatte ich eben ausgeführt. Es stellt sich aber jetzt die Frage, in welchen Wissenschaftsbereichen wir durch eine Veränderung des
Artikels 91 b Grundgesetz noch mehr und stärker kooperieren können als bisher. Was bringt uns das für Vorteile?
Ich sage ganz klar: Wenn wir auf die Herausforderungen der Zukunft eine Antwort haben wollen und wenn
wir dabei Generationengerechtigkeit und Nachhaltigkeit
- das Thema hatten wir neulich im Ausschuss - berücksichtigen wollen, das heißt, wenn wir der Gesellschaft
von morgen etwas hinterlassen wollen, worauf sie aufbauen kann, dann brauchen wir einerseits eine verlässliche Grundfinanzierung durch die Länder und andererseits
eine stetige Zusammenarbeit von Bund und Ländern in
ausgewählten Bereichen. Das halte ich für sehr wichtig.
Deshalb appelliere ich ganz deutlich an die Länder, ihrer
Verantwortung gerecht zu werden und nicht - das befürchte ich ein bisschen - zu denken, sie könnten aufgrund
der erweiterten Bund-Länder-Zusammenarbeit vielleicht
an der einen oder anderen Stelle bei der Grundfinanzierung sparen. Das darf nicht passieren. Die Zusammenarbeit bedeutet ein Plus und kein Substitut.
({1})
Ich möchte noch einmal auf die Tagung zurückkommen. Es ging dort schwerpunktmäßig um die Exzellenzinitiative und deren Zukunft. Ich glaube, es ist wichtig,
einmal zu erkennen, was durch die Kooperation eigentlich erreicht worden ist. Deshalb ärgere ich mich immer
über den Begriff „Kooperationsverbot“;
({2})
denn das gab es ja gar nicht.
({3})
Die Kooperation der vergangenen Jahre hat zu einem
Paradigmenwechsel im Wissenschaftsbereich geführt.
Wir haben eine Dynamik im Wissenschaftsbereich, die
uns niemand vorausgesagt hat. Kanada und die USA haben vor 15 Jahren noch nicht einmal mit dem linken
Auge geblinzelt, wenn es um den Wissenschaftsstandort
Deutschland ging. Heute lädt Kanada Deutschland ein,
um uns zu fragen: Wie macht ihr das eigentlich? Was
habt ihr in den letzten zehn Jahren gemacht? Ihr seid
ganz oben. - Kanada wird demnächst sogar unsere Exzellenzinitiative in den wichtigen Linien übernehmen.
({4})
Wir haben in diesem Bereich drei ganz wichtige
Punkte: Wir haben die Nachwuchsförderung - ohne die
besten Köpfe geht es nicht -, wir haben die Kooperation
zwischen den Wissenschaftseinrichtungen, und zwar
sowohl zwischen Hochschulen und außeruniversitären
Einrichtungen als auch zwischen Hochschulen und
Fachhochschulen, und wir haben veränderte Hochschulstrukturen. Genau da können wir jetzt Entwicklungen
verstetigen, und dazu leisten wir mit der Änderung des
Artikels 91 b unseren Beitrag.
Exzellente Forschung schafft auch exzellente Lehre;
das ist ganz wichtig. Exzellente Forschung und exzellente Lehre motivieren junge Menschen, diesen Weg zu
gehen. Deshalb ist es dringend notwendig, dass wir hier
weitermachen. Nur dort haben wir die gut ausgebildeten
Köpfe, die wir morgen brauchen, in Ergänzung zu unserem hervorragenden Berufsbildungssystem.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.
Die Änderung des Artikels 91 b Grundgesetz wird uns
- davon bin ich fest überzeugt - die für die Hochschulen
und damit für die Gesellschaft entscheidenden Zukunftsfragen im gemeinsamen Ringen besser beantworten lassen. Deshalb begrüße ich die neue Formulierung für den
Hochschulbereich sehr. Ich bin auch fest davon überzeugt, dass die deutsche Forschungslandschaft das genauso sieht wie wir.
Vielen Dank.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe diese
wirklich spannende Debatte. Es ist doch sehr schön,
wenn man feststellt, dass Entscheidungen, die manchmal
hoch strittig durchgesetzt werden mussten, anschließend
von vielen für gut gehalten werden.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 18/2710 und 18/2747 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a und b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Caren
Lay, Klaus Ernst, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Gesetzliche Deckelung und Veröffentlichung
der Zinssätze für Dispo- und Überziehungskredite
Drucksache 18/2741
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({0})
Finanzausschuss
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz ({1})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Caren Lay,
Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Begrenzung und Vereinheitlichung der
Zinssätze für Dispo- und Überziehungskredite
- zu dem Antrag der Abgeordneten Nicole
Maisch, Renate Künast, Luise Amtsberg,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Begrenzung von Dispositions- und Überziehungszinsen
Drucksachen 18/807, 18/1342, 18/2777
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
Ich weise noch einmal darauf hin, dass nach einer interfraktionellen Vereinbarung für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen sind, und frage die Kolleginnen und
Kollegen, ob es dazu Widerspruch gibt. - Das ist nicht
der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Die Kolleginnen und Kollegen haben inzwischen ihre
Plätze eingenommen. Dann kann ich die Aussprache eröffnen. Ich erteile als erster Rednerin der Kollegin Caren
Lay das Wort.
({2})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Zum wiederholten Male beschäftigt sich das
Hohe Haus mit einem Antrag der Linken, der zum Gegenstand hat, dass Dispozinsen endlich gedeckelt werden sollen. Ich sage bewusst: zum wiederholten Male.
Die CDU/CSU-Fraktion war in der Ausschusssitzung
diese Woche so freundlich, das nachzurechnen. In der
Tat, der erste linke Antrag zu diesem Thema wurde
schon vor fünf Jahren eingebracht. Das wurde uns nicht
nur vorgerechnet, sondern auch ein Stück weit vorgeworfen. Diesen Vorwurf kann ich aber nicht verstehen.
Denn an dem Problem hat sich nichts geändert. Ich darf
Ihnen versprechen, dass die Linke dort, wo Probleme bestehen, dranbleiben wird und wir das Thema Deckelung
der Dispozinsen immer wieder auf die Tagesordnung
setzen werden.
({0})
Das Problem ist in der Tat seit langem bekannt. Die
Dispozinsen sind viel zu hoch. Wir haben nach wie vor
die Situation, dass sich die Banken ihr Geld zu einem
historisch niedrigen Leitzins bei der Europäischen Zentralbank leihen können. Dort liegt der Leitzins gerade
einmal bei 0,05 Prozent. Aber sie verleihen es weiter zu
einem durchschnittlichen Dispozinssatz von 10,65 Prozent. Dazwischen liegt eine Spanne von über 10 Prozentpunkten, wodurch sich die Banken auf Kosten der Verbraucherinnen und Verbraucher bereichern. Das ist zu
viel. Das ist kein fairer Preis, und das können wir als
Linke nicht akzeptieren.
({1})
In der Analyse bestand zumindest am Ende der letzten Legislaturperiode kurz vor dem Wahlkampf in diesem Hohen Haus Einigkeit. Ich bin sehr gespannt, ob wir
uns wenigstens noch in der Analyse einig sind. Bisher
bestand die Differenz in der Frage, wie wir mit dem Problem umgehen. Insbesondere die CDU/CSU, aber auch
die FDP haben die Position vertreten, noch einmal mit
den Banken zu reden. Die Ministerin hat damals die
Banken zu Kamingesprächen eingeladen und es ansonsten bei freundlichen Appellen belassen. Alle diese
freundlichen Appelle haben nichts genützt. Deswegen
sagen wir: Die Politik muss endlich handeln. Wir brauchen einen gesetzlichen Deckel für die Dispozinsen.
({2})
Unser Vorschlag ist eine Deckelung auf 5 Prozentpunkte über dem Leitzins der Europäischen Zentralbank.
Daran würden die Banken immer noch genug verdienen,
aber bei fairen Preisen für die Verbraucherinnen und
Verbraucher.
Deswegen möchte ich mich gerne im zweiten Teil
meiner Rede mit Ihren Einwänden beschäftigen, die sicherlich gleich kommen werden. Erstens wird mit Hinweis darauf, dass man keine Preisvorschriften machen
kann, infrage gestellt, ob man überhaupt eine gesetzliche
Deckelung einführen kann. Ja, meine Damen und Herren, das kann man. Eine vergleichbare gesetzliche Vorschrift gibt es bereits bei den Verzugszinsen. Daran haben wir uns orientiert. Der Deckel liegt ebenfalls bei
5 Prozentpunkten. Deswegen sagen wir: Was beim Verzugszins gesetzlich möglich ist, das muss auch beim
Dispo möglich sein.
({3})
Zweitens wird gerne auf den Markt verwiesen und gesagt, man solle die Verbraucherinnen und Verbraucher
nicht bevormunden; das könne der Markt regeln, und jeder könne sich doch eine andere Bank suchen. Davon
abgesehen, dass die Höhe des Dispozinses nicht das einzige Kriterium bei der Auswahl der Bank ist - es geht
schließlich auch um ein gutes Filialnetz oder eine wohnortnahe Beratungsmöglichkeit -, empfehle ich Ihnen,
diesen Test in Ihrem eigenen Wahlkreis durchzuführen.
Ich habe das gemacht und mir den Landkreis Bautzen
angesehen. Sie finden keine Filialbank, die einen Dispozins von unter 10 Prozent anbietet. Deswegen ist dieses
Argument eine Illusion. Es läuft ins Leere.
({4})
Das verschärft sich mit Blick darauf, welche Klientel
zum Großteil betroffen ist. Das sind diejenigen Menschen, die keine andere Chance haben, die vielleicht keinen Ratenkredit kriegen oder aus einer ökonomischen
Notlage heraus gezwungen sind, einen Dispokredit aufzunehmen. Wenn jemand schon knietief im Dispo steckt,
ist es illusorisch, zu sagen: Such dir doch eine andere
Bank! - Bei welcher anderen Bank kann man in dieser
Situation ein Konto eröffnen? Diese Argumentation ist
nicht tragfähig.
({5})
Das, was im Koalitionsvertrag steht, und das, was
vonseiten des Ministers angekündigt wurde, nämlich
dass man Transparenz herstellt und dafür sorgen will,
dass die Banken ausweisen, wie hoch die Dispozinsen
sind, kann man durchaus machen. Aber solange keine
niedrigeren Dispozinsen angeboten werden, wird das ins
Leere laufen. Deswegen sagen wir: Transparenz ist gut,
aber eine gesetzliche Regelung ist besser.
({6})
Das dritte und letzte Gegenargument, auf das ich eingehen möchte, lautet, die Banken brauchten die Einnahmen aus den hohen Dispozinsen wegen der hohen Kosten des Verwaltungsaufwands und wegen des hohen
Ausfallrisikos. Der Verwaltungsaufwand der Banken bei
einem Dispokredit kann nicht höher sein als der bei ei5408
nem Ratenkredit. Zum Ausfallrisiko hat das Ministerium
selbst eine Studie in Auftrag gegeben. Das Ergebnis ist:
Das Ausfallrisiko bei Dispokrediten ist mit 0,3 Prozent
lächerlich gering. - Diese Gegenargumentation ist also
nichts anderes als eine Schutzbehauptung. Diese können
wir nicht akzeptieren.
({7})
Wenn Sie sich von der CDU/CSU, wie ich vermute,
heute wieder gegen eine gesetzliche Deckelung des Dispozinses aussprechen, dann sollten Sie den Menschen
reinen Wein einschenken. Die Stiftung Warentest hat berechnet, dass die Banken mit jedem Prozentpunkt, den
sie bei den Dispozinsen ansetzen, 380 Millionen Euro im
Jahr verdienen. Das heißt, wenn der Deutsche Bundestag
einen gesetzlichen Deckel beschließen würde, entginge
den Banken ein Milliardengeschäft. Es ist aber ein Geschäft, das unfair ist und auf Kosten der Verbraucherinnen und Verbraucher geht. Deswegen sagen wir: Schenken Sie den Menschen reinen Wein ein! Wenn Sie das
nicht wollen, dann knicken Sie vor der Bankenlobby ein.
Das machen wir nicht mit.
({8})
In den Bundesländern gibt es Druck. Beispielsweise
im Saarland, im Heimatland des Verbraucherministers
- er ist offenbar nicht anwesend; aber vielleicht kann
man ihm das mit auf den Weg geben -, hat ein entsprechendes Bürgerbegehren der Linken die erste Stufe des
Volksbegehrens erreicht. Das ist ein Erfolg und sollte Ihnen ein Signal sein, endlich tätig zu werden.
({9})
Ich komme zum Schluss. Ein weiteres Argument für
unser Anliegen ist: Die Verbraucherschutzministerkonferenz hat auf Vorschlag des rot-rot regierten Brandenburg eine gesetzliche Deckelung der Dispozinsen gefordert. Ich kann nur sagen: Das ist eine richtige Forderung.
Folgen Sie diesem Beispiel! Setzen Sie diese Forderung
der Verbraucherschutzministerkonferenz um!
Vielen Dank.
({10})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Mechthild Heil
das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! „Und sie bewegen sich doch“ - mit
dieser positiven Nachricht beginnt der Artikel über die
Dispozinssätze in der Oktoberausgabe der Zeitschrift
Finanztest. Gemeint sind die Banken, die dem politischen und dem öffentlichen Druck nachgegeben haben
- das gebe ich zu - und ihre Dispozinssätze gesenkt haben. Seitdem wir über die Höhe der Dispozinssätze sprechen, werden sie von Monat zu Monat gesenkt, und das
ist auch gut so. Das ist genau das, was wir erreichen
wollten. Die Banken haben sich bewegt, und das ganz
ohne staatlichen Eingriff.
({0})
Das belegt auch die aktuelle Studie der Stiftung
Warentest. Rund drei Viertel der über 100 Banken, die
noch im letzten Jahr besonders hohe Zinssätze gefordert
haben, sind günstiger geworden. Ich kann an dieser
Stelle nur sagen: Schade, dass sich Grüne und Linke
nicht darüber freuen können. Aber ich sage auch ganz
deutlich: Wir sind hier noch nicht am Ende der Entwicklung. Liebe Banken, es ist noch viel Luft nach oben.
Nicht jeder in der Branche scheint den Pfiff gehört zu
haben. In Deckung zu gehen, den Kopf einzuziehen mit
der Vorstellung: „Der Sturm wird schon an uns vorüberziehen; die Politik beruhigt sich schon wieder“, das ist
zu kurz gedacht. Das werden wir nicht akzeptieren.
Unsere Erwartungen an die Bankenbranche sind klar:
Gehen Sie mit Ihren Kunden fair um! - Erst wenn die
große Mehrheit der Kunden die Höhe der Dispozinsen
für angemessen hält, sind wir, aber auch Sie von den
Banken, zufrieden und am Ziel. Vorher werden die öffentlichen Debatten und auch die politische Diskussion
- das garantiere ich - nicht enden. Deshalb sei noch einmal ganz klar gesagt: Wir erwarten ein Austarieren der
Interessen der beiden Beteiligten, der Banken und der
Kunden. Aber wir wollen, wenn irgend möglich, keinen
staatlichen Eingriff. Denn die Nachteile, die ein staatlich
verordneter Deckel für die Verbraucher hätte, liegen auf
der Hand:
Der erste Nachteil. Wenn wir staatlich bestimmen,
welche Höhe für einen Dispozinssatz vertretbar ist, werden sich alle Banken an diese Höhe halten. Nehmen wir
an, er liegt, wie Sie gefordert haben, bei 7 Prozent. Warum sollte eine Bank dann noch billigere Zinssätze anbieten? Warum sollte eine Bank, die heute Zinssätze von
4 oder 5 Prozent anbietet - es gibt sogar Banken, die
2 Prozent oder einen Zinssatz von null anbieten -, den
Zinssatz dann nicht auf 7 Prozent erhöhen? Heute bieten
Banken niedrigere Zinsen an, weil sie sich einen Wettbewerbsvorteil erhoffen. Kommt der Deckel, wird jede
Bank sofort sagen: 7 Prozent gilt allgemein als fair, also
halten wir uns daran. Mehr verlangt keiner von uns. Warum sollten wir mehr tun? - Das kann doch nur zulasten
der Verbraucher gehen. Deswegen sind wir dagegen.
({1})
Ich gebe Ihnen einen zweiten Aspekt zu bedenken:
Wenn wir das zulassen, scheren wir wieder alle Banken
über einen Kamm. Wir wissen aber natürlich alle - ich
habe das schon mehrmals gesagt -, dass die Banken
nicht gleich sind. Man kann eine Direktbank nicht mit
einer Filialbank vergleichen. In Bezug auf die Bereitstellung der Infrastruktur ist eine Filialbank natürlich komplett anders aufgestellt als eine Direktbank. Sie hat deshalb auch andere Kosten zu tragen. Ein Dispodeckel
kann dem nicht gerecht werden.
Ich komme zu einem zweiten Nachteil für die Verbraucher, den Sie mit Ihrem Dispodeckel aushecken. Die
Höhe des Zinssatzes spiegelt auch immer das Ausfallrisiko wider. Für manche Kunden würde der von Ihnen
vorgeschlagene Deckel bedeuten, dass sie keinen Dispokredit mehr erhalten. Sie hätten dann in einem Monat, in
dem das Geld vielleicht ganz knapp ist, keine Möglichkeit, in den Dispo zu gehen und ihr Konto zu überziehen.
In der Sachverständigenanhörung zu diesem Thema
- auch Sie waren da anwesend - wurde vonseiten der
Schuldnerberatung zwar auch der Wunsch geäußert, dass
die Banken dem einen oder anderen Schuldner zum Eigenschutz keinen Dispo einräumen mögen. Das ist aber
etwas komplett anderes. So etwas wäre eine Übereinkunft zwischen der Bank und dem Kunden, der sich in
Begleitung eines Schuldnerberaters befindet - also quasi
eine Selbstverpflichtung. Das wäre auch absolut sinnvoll. Dagegen haben wir überhaupt nichts. Was aber für
diesen speziellen Einzelfall sinnvoll ist, taugt noch lange
nicht als Prinzip für die Kunden, welche hier und da einmal einen Dispo beanspruchen wollen. Ein Dispo nur für
Reiche kann doch wohl nicht im Sinne der Opposition
- der Linken und der Grünen - sein!
({2})
Es gibt aber noch einen anderen Aspekt, den die
Schuldnerberater in die Diskussion einbringen. Ein niedriger Dispozinssatz - wie Sie ihn fordern - kann auch
verführerisch sein und die Verschuldung verstärken. Als
Banken angekündigt haben, den höheren Zinssatz abzuschaffen, haben einige Schuldnerberater aufgeheult, damit
werde eine Hürde auf dem Weg zur weiteren Überschuldung abgeschafft. Frau Künast, das ist die Argumentation
der Schuldnerberater, nicht meine. Die Schuldnerberater
befürchten, dass die Schuldner nach dem Motto „Mir
fehlt Geld; dann gehe ich halt zur Bank, wo ich einen
Dispo habe und Geld bekomme“ handeln. Diese Entwicklung wollen wir von der CDU/CSU - ich hoffe, das
gilt auch für die SPD - nicht befeuern.
Ich komme zum dritten Nachteil, den der Deckel
hätte. Der Dispozins ist nur eine von mehreren Preiskomponenten bei einem Girokonto. Wenn wir ihn deckeln - also auch die Kosten für die Verbraucher an dieser Stelle deckeln -, kann das nur zu einer Verlagerung
der Gebühren führen. Die Banken werden sich ihr Geld
irgendwo anders holen. Vielleicht werden dann die Kontoführungsgebühren erhöht. Vielleicht werden sie überhaupt erst eingeführt. Oder sonstige Dienstleistungen
- zum Beispiel Buchungen und TAN-Erstellungen würden kostenpflichtig.
({3})
Auch das ist nicht im Sinne der Verbraucher, und unterm
Strich wäre es für sie auch teurer.
Es könnte natürlich sein, dass Sie von den Linken und
von den Grünen auch diese Kosten deckeln wollen. Was
wäre dann Ihr nächster Schritt? Würden Sie immer weiter auf dem Weg der Regulierung durch den Staat gehen?
„Durch den Staat“ ist eigentlich falsch formuliert; denn
die Linken und die Grünen wissen selbst immer besser,
was für den Einzelnen gut ist nach der Devise „Wenn der
Verbraucher nicht mehr entscheiden kann, ist er am besten in dieser schönen grün-roten Welt geschützt“. In einer Welt ohne Selbstbestimmung will ich nicht leben.
Deshalb sagen wir auch ein ganz klares Nein zu Ihren
Forderungen.
Einmal abgesehen von diesen ideologischen und
manchmal vielleicht auch populistischen Zielen,
({4})
frage ich: Was wollen Sie denn eigentlich mit diesem
Deckel erreichen? Wenn es Ihnen darum geht, dem Verbraucher zu günstigen Konditionen zu verhelfen, ist Ihr
Antrag eigentlich überflüssig.
Es gibt schon Banken, deren Zinssätze unter 5 Prozent liegen. Sie sehen: Der Wettbewerb funktioniert. Sie
haben eben erwähnt, es sei sehr kompliziert, eine Bank
zu wechseln. In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, eine Zeitung, die zu lesen ich nur jedem empfehlen kann, stand ein wunderbarer Artikel einer Journalistin, die versucht hat, die Bank zu wechseln. Ich rate
jedem: Kaufen Sie sich die Zeitung - sie ist letzten
Sonntag erschienen -, lesen Sie den Artikel, und dann
werden Sie sehen, dass dieser Artikel keinen Anspruch
auf Allgemeingültigkeit erheben kann. Es ist ein einzelner Bericht einer einzelnen Journalistin.
Wenn es Ihnen darum geht, die Menschen mit dem
Dispodeckel vor Überschuldung zu schützen, dann setzen Sie komplett an der falschen Stelle an.
({5})
Sie wollen ein Symptom bekämpfen, ignorieren aber die
Ursachen. Der Dispozinssatz ist nicht die Ursache für
Verschuldung. Der Dispokredit ist ein flexibles Produkt,
das nicht dazu gedacht oder geeignet ist, dauerhaft in
Anspruch genommen zu werden.
Deswegen finde ich den Vergleich des Präsidenten
des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes Georg
Fahrenschon sehr treffend. Er sagte: Der Dispokredit ist
vergleichbar mit einem Taxi. Ein Taxi ist kurzfristig abrufbar, der Kunde ist flexibel, und er kann jederzeit aussteigen. Wenn er allerdings zum Beispiel von Berlin
nach München fahren möchte, dann sollte er sich nach
einer anderen Fahrgelegenheit umsehen.
So ist es eben auch beim Dispokredit. Er ist geeignet,
um flexibel Engpässe auszugleichen, aber nicht, um dauerhaft genutzt zu werden. Wenn das aber passiert, macht
es wenig Sinn, am Produkt herumzuschrauben, sondern
man muss stattdessen die Ursachen für die Überschuldung angehen. Deshalb werden wir die Banken verpflichten, Kunden, die erheblich oder dauerhaft ihr
Konto überziehen, über Umschuldungsmöglichkeiten
mit besseren Konditionen zu beraten.
Ich halte es auch für völlig inakzeptabel, wenn Banken ihre Zinssätze nicht transparent machen. Es gibt
heute zwar schon weitreichende Informationsverpflichtungen - die Konditionen müssen veröffentlicht werden -,
aber ich frage mich wirklich: Warum findet man sie bei
manchen Banken nicht im Internet? Ist das kundenfreundlich? Da kann ich nur sagen: Das ist es nicht. Warum muss man bei manchen Banken bis in die letzte
Ecke der Filiale gehen, um den Aushang zu finden, auf
dem die Konditionen stehen? Ist das kundenfreundlich?
Auch da muss ich sagen: Natürlich ist das nicht kundenfreundlich. Warum gelingt es dem einen oder anderen
Journalisten überhaupt nicht, die Zinssätze herauszufinden? Das ist sicherlich nicht in Ordnung. Da muss sich
etwas ändern. Das ist in erster Linie eine Sache der Aufsicht. Wenn sich das nicht ändert, dann müssen wir als
Politiker - das garantiere ich - da herangehen.
({6})
Aber, ehrlich gesagt, so weit muss es nicht kommen.
Deshalb mein Appell an die Banken: Es kann auch anders funktionieren. Die vergangenen Monate haben es
gezeigt. Viele Banken haben ihre Zinssätze für die eingeräumten Überziehungen gesenkt und für die darüber
hinausgehende eingeräumte Überziehung abgeschafft.
Diesem guten Beispiel müssen einfach noch mehr Banken folgen. Aber ein rot-grüner Deckel ist einfach der
falsche Weg. Er ist nicht zum Vorteil der Verbraucher.
Wir lehnen deshalb Ihre Forderungen ab.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank. - Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt Nicole Maisch.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kollegin Heil, Sie haben sich gefragt, warum so
viel in den Banken schiefläuft, warum man bis in die
letzte Ecke der Filialbank gehen muss, um die Konditionen zu erfahren, und warum das nicht alles im Internet
steht. Das kann ich Ihnen sagen: weil die Union seit Jahren bei Fehlverhalten der Banken vorsichtig anmahnt,
dass sich etwas ändern sollte, aber im gleichen Atemzug
so wie Sie verspricht, dass es so schlimm dann doch
nicht kommen wird und den Banken die Regulierungen
erspart bleiben.
({0})]
So verhallen natürlich gut gemeinte Appelle im Nirgendwo. So kann man finanziellen Verbraucherschutz
nicht machen.
In der Anhörung wurde deutlich: Der Markt für
Dispo- und Überziehungszinsen funktioniert nicht gut.
Es gibt keinen funktionierenden Wettbewerb. Die Kollegin Caren Lay hat gesagt, dass sie sich in ihrem Wahlkreis auf die Suche nach einer Filialbank mit günstigen
Dispozinsen gemacht hat. Auch ich habe das getan. Die
findet man nicht. Sie haben zwar gesagt, dass es Angebote von Banken von 4 Prozent gibt - die gibt es sicher -,
aber ich glaube nicht, dass Sie die letzte Rentnerin auf
dem Land in Ihrem oder meinem Wahlkreis dazu bringen werden, ein Onlinekonto bei der Deutschen Skatbank zu eröffnen.
Das heißt, die guten Bedingungen, die niedrigen Zinsen sind nur einer bestimmten Gruppe von Verbraucherinnen und Verbrauchern überhaupt zugänglich. Ein großer Teil der Verbraucherinnen und Verbraucher wird
immer noch abgezockt mit Zinssätzen, die deutlich im
zweistelligen Bereich über dem Leitzins liegen. Wenn
sie in die geduldete Überziehung kommen, dann wird es
noch schlimmer; dann grenzt das teilweise an Wucher.
Hier, muss ich sagen, finde ich es nicht staatsinterventionistisch oder sonst irgendwie schlimm, einen gesetzlichen Deckel zu fordern. Ein solcher Deckel in Abhängigkeit von einem Leitzins wäre die sauberste Lösung
gewesen. Das hat die SPD im Wahlkampf noch so vertreten. Aber wir müssen feststellen: Es gibt derzeit keine
politische Mehrheit für eine solche saubere und vernünftige Lösung. Das finde ich sehr ärgerlich, aber bei manchen Dingen braucht es ein bisschen Zeit, bis die Erkenntnisse auch bei den großen Parteien eingesickert
sind oder aber die Mehrheiten so sind, dass man Verbraucherschutz betreiben kann.
Was hier schon deutlich wird: Unsere beharrliche Kritik und auch die Möglichkeit einer politischen Mehrheit
für mehr Regulierung haben im Markt schon etwas bewegt. Wenige Banken - aber immerhin: einige - haben
sich bewegt und haben die unseligen Strafzinsen bei der
geduldeten Überziehung abgeschafft.
Was besonders erfreulich ist: Auch die Regierung hat
sich bewegt, zumindest laut Bild am Sonntag. Da sagt
der Minister:
Da bislang alle Mahnungen seitens der Bundesregierung nichts geholfen haben, werden wir jetzt ein
Gesetz auf den Weg bringen,
- ein Gesetz! das die Banken verpflichtet, ihre Dispozinssätze auf
ihrer Internetseite zu veröffentlichen.
Hier haben wir einen kleinen Streit zwischen Schwarz
und Rot. Frau Heil sagt: Es muss nicht zu einem Gesetz
kommen. Der Minister sagt: Es wird ein Gesetz geben,
ein Transparenzgesetz für Dispozinsen. - Hier muss man
der SPD mit auf den Weg geben: Die BamS ist nicht mit
dem Gesetzblatt zu verwechseln. Sie sollten nicht anfangen, „herumzuaignern“ und PR statt Politik zu machen,
sondern dieses Transparenzgesetz, das Sie uns versprochen haben, hier im Deutschen Bundestag auch vorlegen.
({1})
Ich fände es schön, wenn die Menschen, die knietief
im Dispo stecken und informiert werden, dann auch darüber informiert würden, was die roten Zahlen auf dem
Kontoauszug denn gerade in Euro und Cent bedeuten.
Darüber hinaus hat Herr Maas versprochen, die Kreditinstitute zu verpflichten, Kunden, die den Dispo dauerhaft nutzen, einen Weg aus der Dispofalle aufzuzeigen.
Es geht also um ein Anrecht auf ein Beratungsgespräch.
Das finde ich gut. Ich finde es grundsätzlich gut, wenn
man zum Beispiel ein Angebot für einen günstigen Ratenkredit bekommt. Allerdings wünsche ich mir, dass die
Verbraucher dann nicht mit einer Hausratversicherung
oder so etwas nach Hause gehen, wenn sie eigentlich nur
einen günstigen Kredit brauchen. Man muss also durchaus die Gefahren sehen, die in einer solchen Beratungspflicht der Bank bestehen.
Das Europäische Parlament hat im April dieses Jahres
eine Richtlinie angenommen, mit der verschiedene verbraucherrelevante Aspekte im Bereich der Kontoführung
geregelt werden. Da sollen Kontogebühren transparenter
werden. Der Kontowechsel, über den wir hier auch
schon gesprochen haben, soll vereinfacht werden. Und
- besonders wichtig -: Jeder Mensch soll ein Konto haben, das Girokonto für jedermann; auch der Minister hat
es in Interviews bereits mehrfach versprochen.
Ich fände es gut, wenn Sie diese Richtlinie jetzt zeitnah umsetzen würden und alle Aspekte, die sie umfasst,
auch hier regeln würden. Sie als SPD haben sich entschieden, es beim finanziellen Verbraucherschutz ein
bisschen kleiner zu machen. Ich finde, zumindest diese
kleinen Dinge, die Sie versprochen haben, sollten Sie
jetzt auch angehen. Ich bin mir ganz sicher: Beim Thema
Dispozins hören und sehen wir uns wieder. Dies war sicher nicht die letzte Debatte darüber.
({2})
Vielen Dank. - Das Wort hat jetzt Dr. Johannes
Fechner, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Die Zahl der überschuldeten Menschen in Deutschland ist leider nach wie
vor viel zu hoch. Nach Auskunft der Schufa sind immer
noch rund 6,5 Millionen Menschen überschuldet. Hinter
dieser hohen Zahl stecken Einzelschicksale, Menschen,
die nicht aus eigener Kraft die Schuldenspirale verlassen
können, in die sie oft unverschuldet geraten sind, und die
ihre Kredite eben nicht mehr aus eigener Kraft bedienen
können.
Es ist nicht so, dass jetzt alle Banken ihre Zinsen gesenkt hätten. Es ist auch nicht so, dass Betroffene aus
diesem Personenkreis von sich aus in der Lage wären, in
jedem Fall der Schuldenspirale zu entrinnen. Gerade
deswegen ist es unsere Pflicht als Politik, diesen Menschen zu helfen, und genau das tun wir, indem wir als
SPD schon im Koalitionsvertrag durchgesetzt haben,
dass wir die Banken zu mehr Transparenz und vor allem
zu deutlich weitergehenden Beratungen verpflichten
wollen.
({0})
Es ist angekündigt - dafür bin ich dem Bundesjustizministerium sehr dankbar -, dass noch in diesem Jahr ein
Gesetzentwurf vorgelegt wird, mit dem wir zwei wesentliche Ursachen der Schuldenspirale beseitigen wollen:
Eine Ursache ist die fehlende Transparenz. In der Anhörung war es hochinteressant, zu hören, dass ein Sachverständiger den prägnanten Begriff des Transparenzversagens verwendet hat. Wir wollen deshalb die Banken
verpflichten, ihre Dispozinsen und die Überziehungszinsen transparenter zu machen. Denn viele Kundinnen und
Kunden schließen die Verträge ab, ohne genau zu wissen, wie hoch die Zinsen sind. Die Schwierigkeiten, das
herauszubekommen, wurden von Vorrednern schon
beschrieben. Deswegen wollen wir die Banken verpflichten, ihre Zinsen im Internet zu veröffentlichen und insofern
für Transparenz zu sorgen, damit sich die Verbraucherinnen und Verbraucher entweder auf den Internetseiten der
Banken oder auf den Seiten der Vergleichsportale informieren können. Das ist eine ganz wichtige Maßnahme,
weil wir dadurch das Transparenzversagen beseitigen
können.
({1})
Zweitens wollen wir den Verbraucherinnen und Verbrauchern helfen, indem wir die Beratungspflichten der
Banken erweitern. Die betroffenen überschuldeten Verbraucher sind ja oft geschäftsunerfahren und kennen sich
mit Kreditverträgen und Zinshöhen nicht genau aus.
Allzu oft haben sie auch zeitgleich soziale Probleme
durch Krankheiten, Arbeitslosigkeit. Genau diese Menschen brauchen die kompetente Beratung, weil sie allein
nicht aus der Schuldenspirale herauskommen. Deswegen
ist es unser Ziel, die Banken gesetzlich zu verpflichten,
Wege aus der Dispofalle aufzuzeigen, indem sie ganz
konkret Alternativangebote, angepasst an die jeweilige
Situation, vorlegen. Das ist der entscheidende Punkt: Die
Banken sind verpflichtet, über günstigere Alternativangebote ganz genau zu informieren, um so dem Kunden
den Weg aus der Dispofalle aufzuzeigen.
({2})
Die Kritik daran, die wir oft gehört haben, dass dies
für die Banken einen hohen zusätzlichen Verwaltungsaufwand bedeuten würde, hat sich aus meiner Sicht in
der Anhörung gerade nicht bestätigt. Einige Banken beraten ja schon sehr umfangreich und machen das, was
wir beabsichtigen, schon heute. Da haben die Vertreter in
der Anhörung ausdrücklich bestätigt, dass dadurch unter
dem Strich keine nennenswerten Mehrkosten entstehen.
Einen Satz möchte ich natürlich auch zur beantragten
gesetzlichen Deckelung der Dispozinsen sagen. Das ist
für die SPD nach wie vor eine sinnvolle und gute Idee.
Dass es in der Praxis funktioniert, zeigen sehr viele Banken, die schon heute auf diese Überziehungszinsen verzichten.
Ich bin deshalb nach wie vor der Meinung, dass unsere Idee, eine Deckelung bei 8 Prozentpunkten über
dem Basiszinssatz gesetzlich festzulegen, richtig ist. Ich
bedauere ausdrücklich - ich will kein Geheimnis daraus
machen -, dass da aufseiten der Union keine Bereitschaft besteht, obwohl auf der Verbraucherministerkonferenz - da waren auch Ihre Parteifreunde - ausdrücklich
gesagt wurde, dass das eine sinnvolle Maßnahme wäre.
Leider sind wir hier in der Großen Koalition nicht zu einer Einigung gekommen.
({3})
Dennoch will ich am Ende meiner Rede festhalten:
Wir werden einige ganz deutliche Verbesserungen für
die Verbraucherinnen und Verbraucher beschließen, wir
werden für mehr Transparenz sorgen, und wir werden
die Banken verpflichten, die Kundinnen und Kunden,
die Verbraucherinnen und Verbraucher besser zu beraten. Also Sie sehen - so viel auch zu den Oppositionsanträgen -: Wir handeln.
({4})
Ihre Handlungsaufforderungen in Ihren Anträgen sind
deshalb aus meiner Sicht schlicht nicht erforderlich.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank. - Für die CDU/CSU spricht jetzt
Dr. Volker Ullrich.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Dispo- und Überziehungszinsen sind auf einem
hohen Niveau. In vielen Fällen sind sie schlichtweg zu
hoch. Wir haben Verständnis für viele Verbraucher, die
diesen Umstand als richtiges Ärgernis und in manchen
Fällen auch als existenzielles Problem betrachten.
Das Wissen um die aktuell niedrigen Zinsen und der
Blick auf den eigenen Kontoauszug vermitteln sicherlich
kein schönes Gefühl. Eine gesetzliche Deckelung der
Dispozinsen ist durchaus eine mögliche Lösung, sie ist
aber bei weitem nicht die wirksamste und die beste. Das
Problem liegt darin, dass wir hier einen Umstand haben,
den die Ökonomen als Informationsasymmetrie bezeichnen oder auch als ein Auseinanderfallen zwischen dem,
was die Banken tun, und dem, was die Verbraucher wissen. Wenn sie ein Konto eröffnen, dann denken sie gar
nicht sofort an die Dispozinsen, sondern erst dann, wenn
der Umstand eintritt, dass sie einen Dispo in Anspruch
nehmen, beschäftigen sie sich mit dieser Frage. Des
Weiteren haben wir den Umstand, dass es ihnen, wenn
sie bei einer Bank gelandet sind, die hohe Dispozinsen
anbietet, nicht einfach gemacht wird, das Konto zu
wechseln. Das fängt mit der 22-stelligen neuen Kontonummer an und endet bei den Daueraufträgen und anderen Unannehmlichkeiten. Vor diesem Hintergrund ist der
tatsächliche und wahre Hebel zu mehr Verbrauchermacht die Möglichkeit, das Konto zu wechseln, seine eigene Bankverbindung in die Hände zu nehmen und dorthin zu tragen, wo es niedrigere Zinsen gibt. Das ist
wahre Verbrauchermacht. Das steckt im Wesentlichen
hinter unseren Überlegungen.
({0})
Wenn die Verbraucher stärker aufgeklärt werden, auf
die Höhe der Dispozinsen zu achten, wenn der Kontowechsel erleichtert wird und wenn auch die Banken gesetzlich verpflichtet sind, auf Alternativen wie Ratenkredite und andere Möglichkeiten der Umschuldung
hinzuweisen, dann ist das wesentlich wirksamer als ein
Zinsdeckel, der die sonstigen Möglichkeiten des Verbrauchers beschneidet und dazu führen wird, dass in
vielen Fällen ein Dispokredit teurer oder nicht mehr gewährt wird. Das ist nicht das, was wir unter verbraucherfreundlicher Politik verstehen.
({1})
Meine Damen und Herren, wir sollten uns aber auch
mit der Frage beschäftigen, weshalb hohe Dispozinsen
zu einem Problem in diesem Land geworden sind.
Zum einen liegt das an der finanziellen Bildung als
Teil des Allgemeinwissens. Ich glaube, hier haben wir in
Deutschland etwas Nachholbedarf, auch an den Schulen,
wo die Sozialisation in Bezug auf finanzielle Beziehungen, Dispokredite oder Ausgabeverhalten dazu führen
könnte, dieses Problem zu minimieren.
Zum anderen müssen wir auch über die Dauerverschuldung mancher Menschen in Deutschland sprechen.
Ja, es ist so, dass viele Menschen in Deutschland in zunehmendem Maße von dem betroffen sind, was man
eine negative Sparquote nennt. Das Einkommen, das sie
beziehen, reicht nicht, um ihr Leben zu bestreiten. Gerade im Hinblick auf diesen Punkt hat die Große Koalition gehandelt. Die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns ist nämlich nichts anderes als ein Instrument,
um die Kaufkraft zu stärken und damit auch wieder mehr
Geld in die Geldbörsen der Menschen zu bringen.
({2})
Das ist ein Erfolg, und das ist viel wirksamer als ein Dispodeckel.
({3})
Meine Damen und Herren, wir sind überzeugt, dass
die von uns vorgeschlagenen Maßnahmen, dass die Stärkung der Einnahmen der Menschen und dass eine höhere
Flexibilität und Transparenz viel wirksamer sind als das
alleinige Einführen eines Dispodeckels. Wir sind für tatsächliche Lösungen und nicht für Scheingefechte.
Herzlichen Dank.
({4})
Vielen Dank. - Für die SPD-Fraktion hat jetzt Dennis
Rohde das Wort.
({0})
Geschätzte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wenn man sich die Entwicklung auf dem
Zinsmarkt in den letzten Jahren einmal genauer anschaut, dann kann man mit Blick auf die Dispozinsen eigentlich nur von einem Marktversagen sprechen. Auf
der einen Seite erleben wir, dass der EZB-Leitzins und
der Euribor stetig unter 1 Prozent verharren. Für das
Guthaben auf seinem Konto bekommt man kaum noch
Zinsen. Die Zinsen bei Verbraucherkrediten, aber auch
bei Immobilienkrediten sind seit langem im Keller. Das
ist die eine Seite. Auf der anderen Seite haben die wenigsten Banken ihre Dispozinsen wirklich spürbar gesenkt. Der Durchschnitt liegt immer noch - das konnte
man jüngst in der Zeitschrift Finanztest nachlesen - bei
10,65 Prozent. Es gibt nicht wenige Banken, die immer
noch Dispozinsen in Höhe von 13 oder 14 Prozent erheben. Wir müssen festhalten: Der Markt reguliert sich
derzeit nicht selbst. Es gibt keinen funktionierenden
Wettbewerb bei den Dispozinsen.
Es stellt sich die Frage, warum das so ist. Da kann ich
jedem nur empfehlen, einmal zu seiner Verbraucherzentrale zu gehen und sich schildern zu lassen, wie sie an
ihre Zahlen kommt, wenn sie Erhebungen macht. Das ist
schon spannend. Sie schildert einem nicht nur, dass man
die Zahlen bei vielen Banken nicht im Internet findet,
sondern auch, dass man bei vielen Banken, selbst wenn
man gezielt telefonisch nachfragt, keine Auskunft bekommt. Man wird aufgefordert, in die Filiale zu kommen. Selbst dort findet man den Aushang nur in der letzten Ecke.
Zusammenfassend kann man sagen: Wir finden einen
vollkommen intransparenten Markt vor. Marktmechanismen können gar nicht greifen, weil es überhaupt keine
funktionierende Vergleichbarkeit gibt. Boshaft ausgedrückt könnte man von einer gezielten Verschleierung
sprechen.
({0})
So weit zur Analyse.
Aber die Frage ist doch: Welche Antwort geben wir
darauf, welche Antwort gibt die Politik darauf? Für uns
ist klar: Es muss mit der Politik des guten Zuredens
Schluss sein, wie sie zuletzt Ilse Aigner bemüht hat.
Warme Worte allein haben nicht geholfen, und sie werden auch in Zukunft nicht helfen. Für uns als Koalition
ist aber auch klar: Eine gesetzliche Deckelung kann und
darf nur Ultima Ratio sein. Sie kann und darf nur die
letzte Lösung sein.
Die erste Frage, die wir uns stellen müssen, lautet: Gibt
es Instrumente, um den Wettbewerb wieder zu fördern
und das Marktversagen zu beseitigen? Der Vorschlag, den
der Bundesjustizminister gemacht hat, ist richtig. Wir
müssen zunächst einmal die Banken zu Transparenz
zwingen. Wir müssen sie zumindest zwingen, ihre Disposätze in das Internet zu stellen, damit man sich nicht
nur selbst gezielt informieren kann, sondern damit zum
Beispiel Vergleichsportale auflisten können, welche Bank
welchen Disposatz nimmt, damit hohe Dispozinsen wieder zu dem werden, was sie eigentlich sein sollten, nämlich nichts anderes als ein Wettbewerbsnachteil, meine
sehr geehrten Damen und Herren.
Für die SPD-Fraktion möchte ich aber auch deutlich
machen: Wenn die Maßnahmen nicht greifen und wenn
wir in ein, zwei Jahren feststellen, dass die Dispozinsen
nicht gesunken sind, dann werden wir wieder eine Diskussion über die gesetzliche Deckelung von Dispozinsen
führen müssen. Für uns ist klar: Es darf keine übermäßige Bereicherung zulasten von überschuldeten Menschen geben. Das gehört sich nicht.
({1})
Machen wir uns nichts vor: Die Debatte, die wir hier
führen, ist auch eine Gerechtigkeitsdebatte. Hohe Zinsen
sind für viele Menschen gefühlt ungerecht. Deshalb ist
die Forderung, hier einzugreifen, nicht nur richtig, sondern auch populär. Ich habe schon, als wir das erste Mal
über die Anträge debattiert haben, gesagt, dass wir auch
den Blick auf die überschuldeten Menschen legen müssen, auf diejenigen, für die Dispozinsen vielleicht ein unangenehmes Symptom, aber längst nicht die Ursache
sind, weil die Ursache bei ihnen wesentlich tiefer sitzt.
Wir müssen Menschen helfen, einen Weg aus der Schuldenfalle zu finden. Deshalb ist das, was Johannes
Fechner vorhin angekündigt hat, genau richtig. Diese
Menschen müssen gezielte Beratungsangebote bekommen. Wir müssen auch die Banken in die Pflicht nehmen. Wenn sie feststellen, dass sich seit langer Zeit jemand im Dispo befindet, dann kann man das nicht
ignorieren. Wir müssen die Banken verpflichten, eine
Beratung anzubieten und eine für die Situation passende
Lösung zu erarbeiten. Das muss auch Verpflichtung der
Banken sein, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({2})
Frau Maisch, ich gebe Ihnen recht, die Debatte ist
nicht beendet, sie fängt gerade erst an. Unsere Gesetzentwürfe werden kommen. Wir sind wirklich guten Mutes, dass wir Regelungen auf den Weg bringen werden,
die die Dispozinsen endlich nach unten korrigieren.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank. - Letzter Redner in dieser Debatte ist
der Kollege Dr. Carsten Sieling, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zum Schluss
der heutigen Debatte möchte ich noch einmal darauf hinweisen, dass wir das Problem der Zinssätze für Dispound Überziehungskredite heute zum x-ten Mal diskutieren. Ich erinnere mich an Debatten in der letzten Legislaturperiode. Das Problem wurde immer wieder herausgearbeitet. Passiert ist gar nichts.
Jetzt - das ist der wichtige Punkt - handeln wir endlich. Wir haben endlich eine Regierung, die das Problem
erkannt hat und seine Lösung in ihr Programm aufgenommen hat. Wir werden für Transparenz sorgen und
das Thema aus den dunklen Ecken der Banken herausholen. Für alle wird deutlich werden, was sie zahlen müssen. Wir lassen denen Hilfe zugutekommen, die sie brauchen. Mit diesen Forderungen sind wir als SPD in die
Regierung gegangen. Bundesminister Heiko Maas wird
sie umsetzen. Das ist eine gute Nachricht zum Wochenende.
({0})
- Sie werden es umsetzen. Dazu möchte ich hier festhalten: Im Koalitionsvertrag steht, dass wir die Banken verpflichten werden. Verpflichten kann man in Deutschland
nur mit einem Gesetz. Deshalb brauchen wir an dieser
Stelle ein richtiges Gesetz und keine schwammigen Regelungen.
({1})
Wir müssen aber auch beobachten, dass der Markt
dort sehr verkrustet ist. Meine Vorredner haben das angesprochen. Wir haben es mit einer Betonwand zu tun,
die seit der Finanzkrise 2008, 2009 aufgebaut wurde. Ich
glaube aber, dass unsere Maßnahmen helfen werden,
dass sich Banken am Markt bewegen werden. Aber wir
könnten auch mit der Situation konfrontiert werden - das
ist eventuell zu befürchten -, dass die Zinssätze starr
bleiben.
Deshalb bin ich sehr dafür, dass die Entwicklung beobachtet wird. Aber ich sage auch klar und deutlich:
Wenn sich zeigt - und damit müssen wir rechnen, so die
Einschätzung der SPD -, dass die Maßnahmen nicht ausreichen, dann müssen wir eben eine gesetzliche Obergrenze einführen.
Ich möchte hier nicht das Argument hören, eine solche Grenze würde dazu führen, dass der Markt nicht
mehr funktioniert. Das Gegenteil ist richtig: Die Akteure
werden sich weiterhin auf dem Markt tummeln, aber zu
vertretbaren Dispozinsen, die deutlich niedriger und
wieder an den Leitzins gekoppelt sind. Sollte das Problem bestehen bleiben, dann werden wir uns von der
SPD verstärkt für eine gesetzliche Beschränkung von
Dispozinsen einsetzen. Das ist der richtige Weg.
({2})
Lassen Sie mich zum Schluss noch darauf hinweisen,
dass wir uns im finanziellen Verbraucherschutz nicht nur
um die Dispozinsen kümmern. Wir werden noch weitere
Maßnahmen ergreifen. Einige weitere Themen sind bereits angesprochen worden. Erstens. Wir beschränken
die Dispozinsen und machen sie transparent. Zweitens.
Wir wollen ein Girokonto für jedermann. Drittens. Wir
sorgen für die Einführung eines Finanzmarktwächters.
All das sind gute Signale. Seit die SPD wieder das
Verbraucherschutzministerium innehat, spielt Verbraucherschutzpolitik in unserem Land wieder eine Rolle.
({3})
Das ist die beste Nachricht zum Wochenende; alles Gute.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank. - Angesichts all der guten Wünsche
kann am Wochenende ja nichts mehr passieren.
({0})
Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird
Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/2741 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen, wobei die Federführung beim Ausschuss für
Recht und Verbraucherschutz liegen soll. Sind Sie damit
einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 23 b. Wir kommen zur Abstim-
mung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für
Recht und Verbraucherschutz auf Drucksache 18/2777.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-
schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion Die Linke auf Drucksache 18/807 mit dem Titel
„Begrenzung und Vereinheitlichung der Zinssätze für
Dispo- und Überziehungskredite“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Fraktionen CDU/CSU und SPD gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 18/1342 mit dem Titel „Begrenzung
von Dispositions- und Überziehungszinsen“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Fraktionen CDU/CSU und SPD gegen die
Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Ent-
haltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a und 24 b auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD
Europa - Vorreiter im Kampf gegen die To-
desstrafe
Drucksache 18/2738
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette
Groth, Inge Höger, Wolfgang Gehrcke, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Todesstrafe weltweit ächten
Drucksache 18/2740
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Frank Schwabe, SPD-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich glaube, es ist klar: Man kann eine solche menschenrechtspolitische Debatte nicht beginnen, ohne Malala
Yousafzai und Kailash Satyarthi zur Verleihung des Friedensnobelpreises zu gratulieren.
({0})
Ich komme zu einem unerquicklicheren Thema, zum
Kampf gegen die Todesstrafe. Ich will mit Erlaubnis der
Präsidentin ein bisschen länger zitieren. Albert Camus
schrieb in seinem wirklich sehr eindringlichen Text Der
Ruf nach dem Henker - ich glaube, bis heute gibt es für
dieses Thema keinen besseren und eindringlicheren
Text; ich empfehle jedem, den Text zu lesen, auch wenn
das nicht ganz leicht ist -:
Kurz vor dem Ersten Weltkrieg wurde ein Mörder
wegen eines ungewöhnlich scheußlichen Verbrechens ({1}) in Algier zum Tode verurteilt. Es handelte sich um einen Landarbeiter, der in
einer Art Blutrausch getötet hatte, dessen Fall jedoch durch den Umstand erschwert wurde, daß er
seine Opfer außerdem bestahl. Der Prozeß erregte
großes Aufsehen. Die Öffentlichkeit war der Meinung, daß für ein solches Ungeheuer selbst die Enthauptung eine zu milde Strafe sei.
Dies war auch, wie mir versichert wurde, die Ansicht meines Vaters, den insbesondere die Ermordung der Kinder empört hatte. Jedenfalls gehört zu
dem wenigen, das ich von ihm weiß, die Tatsache,
daß er zum erstenmal in seinem Leben beschloß, einer Hinrichtung beizuwohnen. Er stand mitten in
der Nacht auf, um sich mit vielen anderen Leuten
zusammen ans andere Ende der Stadt auf den Richtplatz zu begeben. Was er an jenem Morgen sah, erzählte er keinem Menschen. Meine Mutter berichtet
nur, daß er mit verstörtem Gesicht überstürzt nach
Hause kam, sich ohne ein Wort der Erklärung einen
Augenblick auf sein Bett legte und sich plötzlich erbrach. Er hatte eben die Wirklichkeit entdeckt, die
sich hinter den hochtrabenden, bemäntelnden Redensarten verbarg.
Wenn die Vollstreckung des Rechts dem ehrbaren
Bürger, zu dessen Schutz es da ist, nur Übelkeit bereitet, kann schwerlich behauptet werden, sie sei
dazu angetan, ihrer eigentlichen Aufgabe getreu
mehr Frieden und Ordnung in das Gemeinwesen zu
bringen. Es wird im Gegenteil deutlich, daß sie genauso empörend ist wie das Verbrechen und daß
dieser weitere Mord die der Gesellschaft zugefügte
Beleidigung nicht nur nicht wiedergutmacht, sondern durch eine neue Schmach verschärft.
Das ist das, was Albert Camus dazu schreibt. Ich
finde, viel eindrücklicher kann man nicht beschreiben,
worum es bei dem Thema geht.
({2})
Zweifellos - das ist das Positive - ist die Todesstrafe
weltweit auf dem Rückzug. Die Zahl der Länder mit Todesstrafe ist deutlich abnehmend. Knapp 100 haben sie
mittlerweile abgeschafft, weitere 36 praktizieren sie nicht
mehr, und in der Generalversammlung der Vereinten Nationen gibt es eine klare Mehrheit, die sich gegen die
Todesstrafe ausgesprochen hat. Umso bitterer ist, dass
über 90 Prozent der Hinrichtungen durch fünf Länder in
der Welt vollzogen werden: China, Iran, Saudi-Arabien,
Pakistan und leider auch die USA. Ich will es ausdrücklich sagen, auch in Anwesenheit von Ministerpräsident
Li aus China: Wir haben große Achtung vor China, aber
es ist in der Tat eine Schande - anders kann ich das nicht
benennen -, dass China an der Spitze der Zahl der Hinrichtungen weltweit steht. Das werden wir immer wieder
benennen. Ich bin davon überzeugt, dass andere das bei
den Gesprächen in diesen Tagen auch benennen werden.
({3})
Ich habe die positive Entwicklung geschildert. Umso
mehr erzürnt es mich und andere, dass es kürzlich eine
Veränderung der Position auf den Malediven gab. 60 Jahre
lang währte ein Moratorium gegen die Todesstrafe. Dieses wurde mittlerweile aufgegeben. Sogar Kinder und
Jugendliche sind auf den Malediven mittlerweile von der
Todesstrafe bedroht.
Damit das, was ich jetzt noch sage, nicht falsch verstanden wird: Die Todesstrafe ist falsch und ein Verbrechen, egal wie und an wem sie vollzogen wird. Besonders abscheulich ist sie allerdings, wenn Menschen dabei
ermordet werden - wie soll man das anders benennen? -,
die unschuldig sind. Auf Spiegel Online konnte man erst
gestern den Fall von Manuel Velez nachlesen, der zum
Glück nach neun Jahren aus der Todeszelle entlassen
wurde, weil klar geworden ist: Er kann den Mord, der
ihm zur Last gelegt wurde, gar nicht verübt haben. Besonders abscheulich ist die Todesstrafe auch, wenn sie
an psychisch Kranken vollzogen wird. Deswegen ist es
gut, dass genau diese Fälle in diesem Jahr im Mittelpunkt der Kampagne zum Welttag gegen die Todesstrafe
der Menschenrechtsorganisationen stehen.
Zwei Staaten muss ich am Ende meiner Rede besonders - in Anführungsstrichen - würdigen. Der eine ist
der letzte Staat in Europa, der die Todesstrafe vollzieht,
weswegen er nicht Mitglied des Europarates sein kann:
Weißrussland. Auch das ist eine Schande. Es gibt eine
gute Situation in Europa, wir haben an der Stelle weltweit eine Vorbildfunktion, aber diese wird leider von
Weißrussland ein Stück weit unterminiert. Das muss sich
dringend ändern.
Ich will auch noch einmal die USA und auch Japan
nennen. Genau deshalb, weil wir in vielen Fragen gemeinsame Werte haben, auch was die Menschenrechte
betrifft, ist es besonders betrüblich, dass die USA und
auch Japan die Todesstrafe vollziehen. Wie gut wäre es
für die Welt, welchen Vorbildcharakter würde es haben,
wenn die Vereinigten Staaten von Amerika endlich die
Todesstrafe abschaffen würden! Ich denke, das müssen
wir bei unseren Gesprächen immer wieder deutlich machen.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank. - Das Wort hat jetzt Annette Groth,
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Am heutigen Internationalen Tag gegen die Todesstrafe
müsste ein Aufschrei mit der Forderung durch die Welt
gehen: Verbietet endlich diese barbarische Strafe und
ächtet Regierungen und Verantwortliche, die die Verhängung der Todesstrafe zulassen und die Tötung von Menschen anordnen! Wir dürfen nicht mehr schweigen,
wenn wir Regierungsvertreterinnen und Regierungsvertreter treffen, in deren Ländern die Todesstrafe immer
noch nicht abgeschafft ist.
Leider hat die Zahl der Hinrichtungen im Jahre 2013
wieder deutlich zugenommen. Das ist eine Schande.
Schon lange fordert die Linke ein Verbot der Todesstrafe; denn sie ist grausam und in keiner Weise zu rechtfertigen. Ich kann - Frank Schwabe geht es wahrscheinlich genauso - nicht begreifen, dass Staaten wie die USA
noch immer die Todesstrafe anwenden. Ich erwarte von
der Bundesregierung, dass sie sich auch gegenüber den
Vereinigten Staaten deutlicher als bisher zu der brutalen
Ermordung von Verurteilten äußert. Mit 79 Todesurteilen wurden im Jahr 2013 in den USA mehr Todesurteile
verhängt als im Jahr zuvor, 2012. Die in jüngster Zeit
durchgeführten Hinrichtungen mit der Giftspritze in den
USA haben zu weltweiter Empörung geführt. Es ist
barbarisch, Menschen mit der Todesspritze zu quälen
und erst nach langem Leiden qualvoll sterben zu lassen.
Auch wenn 150 von 193 Staaten die Todesstrafe abgeschafft haben, leben noch immer zwei Drittel aller
Menschen in Ländern, die Todesurteile verhängen. In
diesen Staaten werden jedes Jahr mehrere Tausend Menschen zum Tode verurteilt und viele Tausend hingerichtet. Das ist doch eine Schande für uns alle.
({0})
Allein für China geht Amnesty International von
mehreren Tausend Hinrichtungen jährlich aus. In 22 weiteren Ländern, darunter Saudi-Arabien, Kuwait und Indonesien, wurden 2013 fast 800 Menschen hingerichtet.
Von den USA fordern wir, als ersten Schritt ein Moratorium für die Todesstrafe zu erlassen und dann in allen
US-Bundesstaaten die Todesstrafe zu verbieten. Wir
müssen den Verantwortlichen in den USA deutlich zu
verstehen geben, dass eine Regierung, die diese Form
der barbarischen Justiz im eigenen Land anwendet, international nicht glaubwürdig für die Durchsetzung von
Menschenrechten eintreten kann.
({1})
Es ist einfach ein Skandal, dass wir Waffen und Ausrüstungen für Militärs und Polizeieinheiten in Länder
liefern, die noch immer die Todesstrafe verhängen und
durchführen. Die jüngste Entscheidung der Bundesregierung, erneut Waffen nach Saudi-Arabien zu liefern, ist
einfach empörend und darf nicht sein.
({2})
In Saudi-Arabien werden Menschen brutalst hingerichtet. Das Abhacken von Händen oder das Amputieren von
Gliedmaßen sind dort gängige Strafen.
Saudi-Arabien wird auch seit längerem verdächtigt,
am Aufbau der Mörderbanden des sogenannten Islamischen Staates mit Geld und Waffen beteiligt gewesen zu
sein. Saudi-Arabien gehört neben dem Iran und dem Irak
zu den drei Ländern, die fast 80 Prozent aller Hinrichtungen außerhalb Chinas durchführen. Ich fordere von
der Bundesregierung einen sofortigen Waffen- und Ausrüstungsstopp für die saudischen Militärs und Polizeieinheiten. Das ist doch das Mindeste, das man erwarten
kann.
({3})
Die Ermordung von Menschen durch Staaten und Regierungen ohne Gerichtsurteil nimmt zu. Mit den sogenannten gezielten Tötungen hat sich eine neue Form der
Ermordung von Menschen ohne jegliche gerichtliche
Prüfung durchgesetzt. Diese Form der Todesstrafe ohne
Richter durch Spezialkommandos des Militärs oder mit
bewaffneten Drohnen wird auch von engen NATO-Verbündeten Deutschlands praktiziert.
Wir Linke fordern von der Bundesregierung, dass sie
diese völkerrechtswidrigen Exekutionen, denen insbesondere zahlreiche Zivilisten zum Opfer fallen, ächtet
und dies auch gegenüber Staaten wie den USA oder Israel, einem der Hauptdrohnenproduzenten, deutlich zum
Ausdruck bringt.
({4})
Ich fordere die Bundesregierung auf, im Rahmen der
UN die Einführung eines Registers anzuregen, in dem
alle Todesurteile und deren Begründung erfasst werden.
Dieses Register kann Grundlage für eine juristische Aufarbeitung dieser Fälle werden.
Von den deutschen Botschaften fordere ich, dass sie
bei Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe
grundsätzlich protestieren und die Betroffenen in den
Gefängnissen besuchen.
Frau Kollegin, denken Sie an die Redezeit.
Ich bin sofort fertig. - Wir alle, insbesondere Sie, die
Regierungsvertreter, müssen endlich klar sagen, dass wir
alle für ein Verbot der Todesstrafe kämpfen. Wir wollen
eine Welt ohne Todesstrafe und ohne Drohnen!
Danke schön.
({0})
Vielen Dank.- Nächster Redner ist Frank Heinrich,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Verehrte Damen und Herren! Es ist mehrfach
gesagt worden: Heute ist der Internationale Tag gegen
die Todesstrafe. Heute vor einem Jahr - daran mögen
sich die einen oder anderen erinnern - konnten wir diesen Tag im Plenum noch nicht adressieren, angehen „feiern“ kann man ja nicht sagen, sondern höchstens „erinnern“ -. Da steckten CDU, CSU und Sie als SPD noch
in langwierigen Koalitionsverhandlungen. Manche Position war umstritten. Um viele Formulierungen wurde gefeilscht. Aber es gab auch Positionen, die unstrittig und
eindeutig waren. So wurde unter anderem unter der
Überschrift „Schutz und Förderung von Menschenrechten“ der knappe und eindeutige Satz formuliert:
Wir engagieren uns weiterhin konsequent für die
weltweite Abschaffung der Todesstrafe …
In Deutschland wurde die Abschaffung der Todesstrafe 1949 in Artikel 102 des Grundgesetzes festgeschrieben, nicht zuletzt durch die Erfahrung des nationalsozialistischen Unrechtsstaates. Wem stehen nicht die
Beispiele wie die zynischen Todesurteile eines Roland
Freisler gegen Hans und Sophie Scholl und andere Mitglieder der Weißen Rose bis heute abschreckend vor Augen? Ich selber konnte mich letzte Woche mit einer
Chemnitzer Gruppe aus meinem Wahlkreis in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand davon überzeugen.
Durch den Rest des Tages geht man dann nicht beschwingt.
Die Todesstrafe ist eine Menschenrechtsverletzung
ohne Wenn und Aber; darin sind wir uns ja quer durch
das Parlament einig. Jeder Mensch hat ein Recht auf Leben. Kein Mensch kann diese seine Würde unwiderruflich verlieren. Deshalb beginnt der Antrag auch genauso.
Der Ruf nach Rache und Vergeltung ist möglicherweise menschlich nachvollziehbar, gerade in solchen
Fällen, von denen Sie erzählt haben. Doch führt das zu
Spiralen von Gewalt und im Kern zu Entmenschlichung.
So hält der UN-Sonderberichterstatter gegen Folter jede
Form der Todesstrafe für nicht vereinbar mit dem Verbot
der Folter und grausamer, erniedrigender und unmenschlicher Behandlung und Strafe.
Der Verzicht auf die Todesstrafe ist ein hohes zivilisatorisches Gut, ein Grundwert europäischer Identität, eine
Errungenschaft, hinter die wir nicht zurückfallen dürfen.
Die Todesstrafe ist grausam und öffnet dem Missbrauch
Tür und Tor. Justizirrtümer werden durch die Todesstrafe
unwiderruflich.
Nach dem letzten Bericht des UN-Generalsekretärs
vom Juli letzten Jahres zur „Question of the Death
Penalty“ werden unverhältnismäßig oft sozial Schwache
und Angehörige ethnischer, religiöser und sexueller Minderheiten zum Tod verurteilt. Mein Kollege Schwabe hat
es gerade gesagt. Die Pressemitteilung von Amnesty
International geht insbesondere auf diese besonders abscheuliche Form der Todesstrafe bei Menschen, die psychisch krank sind, ein.
Seit Jahren gibt es außerdem kritische Diskussionen
über Hinrichtungsmethoden. Darauf ist bereits Bezug
genommen worden. Besonders barbarisch sind Enthauptungen und Steinigungen. Weltweite Empörung haben
die geschilderten Hinrichtungen mit der Giftspritze ausgelöst, die erst nach langem Leiden zum Tod geführt haben. Aus den genannten Gründen lehnt Deutschland die
Todesstrafe ab und steht damit glücklicherweise in Europa nicht alleine.
Seit 1997 kam die Todesstrafe in Europa nicht mehr
zur Anwendung, außer in dem schon genannten Land
Belarus, das geografisch zu Europa gehört. Bisher liefen
alle Bemühungen von Europarat, von uns, von der EU,
Belarus wenigstens zu einem Hinrichtungsmoratorium
zu bewegen, ins Leere. Dieses Jahr wurden bereits zwei
Gefangene durch Kopfschuss exekutiert, und zwei weiteren droht die Hinrichtung. Trotzdem gilt: Europa hat
einen legitimen moralischen Anspruch, im weltweiten
Kampf gegen die Todesstrafe als Vorreiter aufzutreten.
Ich zitiere von der Website des Auswärtigen Amtes
aus den „Leitlinien der EU zur Todesstrafe“:
Die Leitlinien definieren die Bekämpfung der Todesstrafe als zentrales menschenrechtliches Anliegen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik …
Auch in ihrem Strategischen Rahmen und Aktionsplan
zählt die Europäische Union die Bekämpfung der Todesstrafe und der Folter zu ihren Prioritäten auf dem Gebiet
der Menschenrechte. Das ist ein guter und deutlicher
Trend - der Menschenrechtsbeauftragte Strässer hat das
heute Morgen in einer Pressemitteilung deutlich gemacht - und weltgeschichtlich betrachtet ein bemerkenswerter humanitärer und menschenrechtlicher Fortschritt,
den wir hier nicht vergessen dürfen. Und doch: Der
Kampf gegen die Todesstrafe ist noch lange nicht ausgekämpft.
Wie notwendig auch europäische Anstrengungen
heute noch sind, zeigt ein Blick in aktuelle Statistiken;
ich will die Zahlen nicht wiederholen, einige sind genannt worden. Amnesty International geht davon aus,
dass letztes Jahr in mindestens 22 Staaten die Todesstrafe
Frank Heinrich ({0})
vollstreckt worden ist, 778 Menschen wurden getötet.
Das waren 96 mehr als im Jahr davor. 1925 Menschen
wurden zum Tode verurteilt, und 23 392 Menschen sitzen in Todeszellen und warten auf ihre Strafe. Manche
Länder machen aus diesen Zahlen ein Staatsgeheimnis,
wie zum Beispiel China.
In vier Ländern - diese nenne ich bewusst, um auf sie
hinzuweisen -, Indonesien, Kuwait, Vietnam und Nigeria, wurde nach einem Moratorium die Todesstrafe wieder vollzogen. China behandelt diese Zahlen, wie gesagt,
wie ein Staatsgeheimnis und gibt keine Zahlen bekannt.
Amnesty International schätzt die Zahl der hingerichteten Menschen auf Tausende.
Die Todesstrafe ist häufig ein Mittel staatlicher Gewalt zur Einschüchterung von Dissidenten sowie von
ethnischen und religiösen Minderheiten. In vielen islamischen Staaten wird die Apostasie, die Abkehr vom Islam zu einem anderen Glauben, mit dem Tode bestraft.
Wir haben dieses Jahr - das ging durch die Medien und
war in vielen Ländern ein Thema - den Fall der hochschwangeren Meriam Jahia Ibrahim Ischag im Sudan erlebt. Die Tochter einer Christin und eines Muslims war
zum Tode verurteilt worden, weil sie nicht den Glauben
ihres Vaters annehmen wollte. Es waren internationale
Proteste, die zu ihrer Freilassung führten. Hier mache ich
die Klammer auf: Das kann also einen Unterschied machen. Es braucht nicht nur Politik - diese braucht es sehr
wohl auch -, Regeln und Konventionen, sondern es
braucht auch Sie, die Bürger, die mit aufstehen.
Doch zeigt das Beispiel: Mit der Todesstrafe gehen
weitere Menschenrechtsverletzungen, wie in diesem Fall
die Einschränkung der Religionsfreiheit, einher. Christoph
Strässer als Menschenrechtsbeauftragter hat diese Woche auf die Hinrichtung von fünf Männern hingewiesen,
die im September dieses Jahres eine grausame Tat begangen haben, eine brutale Vergewaltigung mehrerer
Frauen in Paghman in Afghanistan. Diese Männer wurden innerhalb von drei Wochen von mehreren Instanzen
verurteilt und dann erschossen. Ein faires Verfahren hat
in dem System keinen Platz gehabt.
In Spiegel Online war vorgestern von der 26-jährigen
Reyhaneh Jabbari im Iran zu lesen. Sie hat in Notwehr
einen Exagenten umgebracht, der sie vergewaltigen
wollte. Nun wartet sie wegen Mord auf ihre Tötung.
Erschütternd für Europa ist, dass mit den USA und Japan zwei befreundete westliche Nationen, die beim Europarat Beobachterstatus haben, die Todesstrafe praktizieren. Bisher sind alle Appelle zur Abschaffung oder
für ein Moratorium ohne Ergebnis verhallt. Immerhin
sinkt die Zustimmung zur Todesstrafe auch in den Vereinigten Staaten. Letztes Jahr hat Maryland als 18. Bundesstaat die Abschaffung der Todesstrafe beschlossen.
Aber wir sind mit diesem Zwischenstand ganz und gar
nicht zufrieden.
Um den Kampf gegen die Todesstrafe weiter voranzutreiben, formulieren wir im Antrag deshalb eine Reihe
von Forderungen, die sich etwas anders anhören, aber in
die gleiche Richtung gehen wie die von Ihnen in Ihrem
Antrag formulierten. Ich möchte abschließend zumindest einige davon zitieren. Wir fordern die Bundesregierung auf:
Initiativen für die weltweite Abschaffung der Todesstrafe voranzutreiben …, insbesondere bei den
Staaten China, Iran, Irak, Saudi-Arabien, USA, Japan, Somalia, Sudan und Jemen;
…
gezielt jene Staaten, die den UN-Zivilpakt und das
Zweite Fakultativprotokoll zum UN-Zivilpakt noch
nicht ratifiziert haben, zur Ratifizierung ohne Vorbehalt aufzufordern;
…
bilateral und auf europäischer Ebene mit allen diplomatischen Mitteln Belarus von einem Hinrichtungsmoratorium zu überzeugen;
- wir sind einig mit dem, was Amnesty an dieser Stelle
fordert weiterhin - u. a. über das Ministerkomitee des Europarates - auf die USA und Japan einzuwirken;
- Sie merken vielleicht, dass ich das zum dritten Mal
nenne; es tut mir weh, dass wir das immer noch machen
müssen …
bei allen Initiativen gegen die Todesstrafe eng mit
zivilgesellschaftlichen Organisationen zusammenzuarbeiten und diese in ihrer Arbeit zu unterstützen.
Ich möchte meinen Dank denjenigen aussprechen, die
sich in den letzten Jahren in diesem Bereich besonders
engagiert haben. Eine Organisation habe ich genannt; da
sind aber noch andere. Auch von dieser Stelle: Es ist
klasse, was Sie da treiben.
({1})
Die Todesstrafe ist grausam, erniedrigend und menschenrechtswidrig. Sie „verstößt gegen das Recht auf
Leben und verletzt die Würde des Menschen“. Lasst uns
gemeinsam dagegen kämpfen, auch gemeinsam in Europa.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({2})
Vielen Dank. - Für Bündnis 90/Die Grünen spricht
jetzt Omid Nouripour.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Erlauben Sie mir, mit der guten Nachricht von heute anzufangen - das hat auch der Kollege Schwabe völlig zu Recht
gemacht -, und zwar mit der Vergabe des Friedensnobelpreises an Malala Yousafzai und an Kailash Satyarthi.
Ich hatte die Ehre, diese zwei Persönlichkeiten kennenOmid Nouripour
zulernen. Sie setzen sich schon sehr lange für einen
Kernbereich der Menschenrechte ein - wenn ich „lange“
sage, dann muss man anmerken, dass das bei einer
17-Jährigen schon etwas Besonderes ist -, insbesondere
für die Frauen- und Kinderrechte. Das ist eine sehr freudige Nachricht, dass gerade diese beiden heute ausgezeichnet wurden.
({0})
Ich habe in den letzten Jahren immer wieder selbst
eine Person für den Nobelpreis vorschlagen dürfen, und
zwar einen Geistlichen aus dem Iran. Das klingt erst einmal ein wenig befremdlich. Aber Ajatollah Borudscherdi
ist ein Mann, der sich seit Jahren als Quietist ausgezeichnet hat. Er hat immer wieder heftigst für eine klare Trennung von Religion und Politik geworben, gekämpft und
argumentiert. Er hat viele spannende Schriften verfasst,
die man einem iranischen Geistlichen - so zumindest
lautet ja das Klischee - nicht zutraut, beispielsweise zur
Zweistaatenlösung aus theologischer Sicht. Deshalb ist
er zum Tode verurteilt worden. Denn genau diese Art
Theologie, die Staat und Religion auseinanderhalten
will, erscheint für eine islamische Republik natürlich
ganz unerträglich. Der Mann sitzt seit 2007 im Gefängnis. Er ist schwerst gefoltert worden und hat mittlerweile
sein Augenlicht verloren. Seit wenigen Tagen soll er Berichten zufolge in der Todeszelle sitzen.
Iran ist ein besonderes Land im Hinblick auf Hinrichtungen, nicht nur weil es sich quantitativ leider in der
Spitzengruppe befindet, sondern weil es dort sehr häufig
zu öffentlichen Hinrichtungen kommt. Das ist eine besonders perverse Art und Weise, die Würde derjenigen,
die hingerichtet werden, zu zerstören, und das auch noch
vor den Augen von Kindern, die das ihr Leben lang nicht
mehr werden vergessen können. Es ist daher umso wichtiger, dass man nicht nur über das Thema redet, sondern
auch auf die vermeintlich kleinen Details dieser perversen Techniken, die dort angewendet werden, hinweist.
Auf diese Weise kann man Druck machen, damit das
aufhört.
({1})
Die anderen Länder in der sogenannten Spitzengruppe sind bereits genannt worden. Ich kann nur wünschen, dass die Frau Bundeskanzlerin beim heutigen Gespräch mit dem Regierungschef Chinas das Thema
anspricht und die Hinrichtungen dort zur Sprache kommen, gerade weil China eine unglaubliche Zahl an Hinrichtungen vorweist.
Ich glaube, dass wir sehr gut daran tun, heute diese
Diskussion zu führen. Wir müssen sie natürlich auch
weiterhin führen. Ich bin sehr dankbar für die vorliegenden Anträge, die anregen, dass man über einzelne Mechanismen diskutiert. Wir werden dem Antrag der Koalition zustimmen, auch wenn uns das eine oder andere
fehlt. Beispielsweise verzichten Sie in toto auf die Einzelfälle. Das ist eine Frage der Denkschule; das finden
wir so nicht richtig. Aber es ist zumindest nachvollziehbar, warum Sie es tun. Es ist, glaube ich, auch notwendig, darüber zu sprechen, welche große Rolle deutsche
diplomatische Vertretungen spielen können. Wir haben
viele Fälle erlebt, in denen Botschafter ein sehr großes
persönliches Risiko auf sich genommen haben, um auf
einzelne Fälle hinzuweisen, und sie haben damit auch
sehr viel erreicht. Dafür kann man nur herzlichen Dank
sagen.
({2})
Im Antrag der Linken finden wir sehr vieles richtig.
Was aber dazu führt, dass wir uns enthalten werden, ist
die Forderung nach der Aussetzung der Kooperation
- gerade im Sicherheitsbereich - mit den Staaten, die die
Todesstrafe haben und vollziehen. Hier gibt es Länder,
die zwar Demokratien und unsere Wertepartner sind, die
wir aber mit mehr und nicht mit weniger Engagement
davon zu überzeugen versuchen müssen, dass sie von
der Praxis der Todesstrafe abkommen.
Die USA sind genannt worden. Zu dem Gesagten will
ich nichts hinzufügen, außer zur Praxis der Todeszelle.
Wir kennen einzelne Fälle, in denen Menschen nach der
Urteilsverkündung 40 Jahre lang in der Todeszelle gesessen haben. In dieser Zeit - jeden Tag, 40 Jahre lang weiß man nicht, ob man nicht am nächsten Morgen zur
Hinrichtung abgeholt wird. Dabei geht es nicht darum,
dass die Menschen hingerichtet werden, sondern darum,
dass die Todeszelle teilweise systematisch eingesetzt
wird, um die Leute doppelt zu bestrafen. Das ist eines
Rechtsstaates absolut unwürdig.
Ich möchte eine zweite Demokratie nennen, nämlich
Indien. Es gab diese fürchterlichen Fälle von Vergewaltigungen brutalster Art inklusive Todesfolge. In der Folge
ist in Indien für solche Fälle die Todesstrafe gesetzlich
verankert worden. Das stieß, muss ich zugeben, in der
Öffentlichkeit zunächst auf großes Verständnis. Es gab
eine tiefe Sehnsucht nach Gerechtigkeit. Nur, wir haben
in diesen Wochen einige Expertinnen und Frauenrechtlerinnen gesprochen, die sagen, dass das unter anderem
dazu führt, dass gerade in den ländlichen Regionen, in
kleinen Dörfern, in denen man für Anzeigen endlich eine
Bresche geschlagen hatte, die Zahl der Anzeigen zurückgehen wird; denn teilweise sind es Vergewaltigungen innerhalb der Familie. Das sind kleinste soziale Einheiten.
Die Frau, die einen Mann anzeigt, muss nun damit rechnen, dass er hingerichtet wird, was die gesamte soziale
Struktur und das gesamte Gefüge des Dorfes auf Dauer
zerstören würde. Das heißt, dass das, was zunächst als
Gerechtigkeit empfunden wurde, eher dazu führt, dass
bei Vergewaltigungen wieder mehr geschwiegen wird.
Herr Kollege.
Letzter Satz. - Das zeigt, dass die Todesstrafe nichts
mit Gerechtigkeit zu tun hat, sondern ausschließlich mit
der Zerstörung von Menschenwürde. Diese irreversible
Art und Weise von Justiz, die immer auch mit vielen Irr5420
türmern verbunden ist, stößt im Hohen Hause völlig zu
Recht auf unser aller Ablehnung.
({0})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Gabriela
Heinrich, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Rizana Nafeek,
Ramiro Hernandez-Llanas und Rygor Yuzepchuk, diese
Namen stehen stellvertretend für Tausende von Hingerichteten weltweit pro Jahr, von denen Amnesty International berichtet. Rizana Nafeek ist am 9. Januar 2013 in
Saudi-Arabien hingerichtet worden. Ihr wurde vorgeworfen, ein Kind getötet zu haben. Sie hatte unzureichenden anwaltlichen Beistand. Ramiro HernandezLlanas wurde am 9. April 2014 im US-Bundesstaat Texas durch Gift hingerichtet. Er war geistig behindert.
Ihm wurde Mord an seinem Arbeitgeber vorgeworfen.
Rygor Yuzepchuk wurde im April 2014 in Weißrussland
wegen Mordes an einem Mithäftling hingerichtet. Weißrussland ist von Berlin keine 800 Kilometer entfernt.
Meine Damen und Herren, an dieser Stelle wären jetzt
eigentlich Zahlen zu nennen: In wie vielen Ländern der
Erde vergiftet, hängt, erschießt, steinigt der Staat noch
Menschen? Wie viele Hinrichtungen waren es 2013? Ich
verzichte darauf. Jeder Mensch, der heute in einer Todeszelle auf seine Ermordung wartet, ist einer zu viel.
({0})
Ich halte fest: Wir fordern, die Todesstrafe weltweit
zu ächten und abzuschaffen. Die Gründe hierfür sind
einfach: Die Todesstrafe widerspricht dem wichtigsten
Menschenrecht, dem Recht auf Leben, und die Todesstrafe lässt sich bei einem Justizirrtum nicht korrigieren.
Unser Antrag enthält genau diese Botschaft. Er beschreibt den Prozess, wie wir uns diesem Ziel annähern
und gegenüber welchen Ländern wir besonders aktiv
werden müssen. Darüber hinaus ist unser Antrag realistisch. Denn wenn schon in einem Land die Todesstrafe
nicht sofort abgeschafft wird, dann sind zumindest - als
erster Schritt - Mindestnormen in Bezug auf die Todesstrafe einzuhalten. Mindestnormen, das hört sich zynisch
an. Diese Forderung ist aber notwendig, wenn man sich
anschaut, aus welchen Gründen Menschen in den verschiedenen Ländern mit der Todesstrafe bestraft werden:
Das sind Wirtschaftsdelikte, Ehebruch, Gotteslästerung
oder einvernehmlicher, gleichgeschlechtlicher Sex zwischen Erwachsenen. In Ländern wie Iran, Saudi-Arabien
und Sudan steht auf Homosexualität die Todesstrafe.
Meine Damen und Herren, die Abschaffung der Todesstrafe in der Welt zu fordern, ist wichtig. Darüber hinaus haben wir aber durchaus auch in Deutschland
Handlungsbedarf. Zwei Zitate:
Findet diese Dreckschweine und hängt sie auf!
Und:
Todesstrafe für so einen Abschaum! Und alle, die
mitgemacht haben, gleich mit verrecken lassen!
Diese Zitate stammen aus dem Oktober 2014, und diese
Zitate stammen von deutschen Facebook-Nutzern. Sie
finden sofort Kommentare dieser Art, sobald über
schwere Verbrechen berichtet wird.
Natürlich sind solche Kommentare nicht überzubewerten. Geschützt durch die Anonymität des Netzes lässt
so mancher User jede Zurückhaltung fallen. Mich erschrecken der Hass und die Aggression, die in diesen
Kommentaren zum Ausdruck kommen. Die Kampagne
„No Hate Speech“, die vom Europarat unterstützt wird,
hat sich zum Ziel gesetzt, junge Menschen für jede Form
der Hassrede zu sensibilisieren. Solche Kommentare gehören dazu, und sie machen etwas mit unserer Gesellschaft.
Denn auch aktuelle sozialwissenschaftliche Daten
können uns nicht egal sein: Umfragen zeigen, dass
25 Prozent der Deutschen der Meinung sind, der Staat
dürfe die Todesstrafe für Schwerverbrecher einführen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch wenn wir schon
seit längerem keine Diskussion in Deutschland mehr zur
Todesstrafe führen, müssen wir trotzdem immer wieder
deutlich machen, dass die Todesstrafe zivilisatorischen
Rückschritt bedeutet.
({1})
Reyhaneh Jabbari und Iwao Hakamada: Diese Menschen leben noch, veranschaulichen jedoch die Grausamkeiten der Todesstrafenpraxis. Reyhaneh Jabbari
- Sie sagten es schon, Herr Heinrich - sitzt im Iran in
der Todeszelle, weil sie einen Mann getötet hat, aus Notwehr, wie sie sagt, weil er sie vergewaltigen wollte. Iwao
Hakamada veranschaulicht wie kein anderer, dass die
Todesstrafe abgeschafft werden muss. Er saß 45 Jahre in
der Todeszelle in Japan. Vor kurzem hat sich durch einen
DNA-Test herausgestellt, dass er Opfer eines Justizirrtums sein könnte.
Danke schön.
({2})
Vielen Dank. - Das Wort hat jetzt Dr. Stefan Heck,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Unsere bisherigen Ausführungen haben gezeigt,
dass Wissenschaft, Gesetzgebung und Erfahrung
sich vereinigen, um darzutun, dass die Zeit nahe ist,
in welcher die Todesstrafe als Überbleibsel alter
Zeiten aufgehoben wird. Wann diese Zeit eintreten
wird, steht in höherer Hand; sobald aber die Überzeugung siegt, dass die Todesstrafe weder notwendig noch nützlich ist, dass ihre Beibehaltung selbst
Nachteile erzeugt, wird sie verschwinden, eben so
wie die Blätter im Herbste abfallen.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Diese Worte stammen von Carl Joseph Anton
Mittermaier, dem bedeutendsten deutschen Strafrechtler
des 19. Jahrhunderts, Professor in Heidelberg und nicht
zuletzt Mitglied der deutschen Nationalversammlung in
der Paulskirche. Das Zitat stammt aus einer umfassenden Monografie Mittermaiers zur Todesstrafe aus dem
Jahre 1862. Denn das Verbot der Todesstrafe gemäß
§ 139 der Paulskirchenverfassung war wie die vielen anderen fortschrittlichen Ideen dieses Verfassungsdokuments mit seinem politischen Scheitern Theorie geblieben. Mittermaier kämpfte nun aber akademisch gegen
ein Relikt an, dem er schon 1862 keine lange Zukunft
mehr gab. Doch auch im Herbst 2014 ist die Todesstrafe
noch keineswegs verschwunden. Überhaupt irrte
Mittermaier, wenn er davon ausging, dass die Todesstrafe so verschwinden würde, wie die Blätter im Herbst
abfallen. Als Mittermaier dies 1862 schrieb, stand die
schrecklichste Phase dieser furchtbaren Strafe, die tausendfach an Unschuldigen im Dritten Reich vollstreckt
wurde, in unserem Land noch bevor.
Nach dem Erscheinen von Mittermaiers Werk sollten
noch mehr als 100 Jahre vergehen, bis die Todesstrafe
1987 endlich auch in der DDR und damit in ganz
Deutschland abgeschafft sein sollte. Vielen ist heute gar
nicht mehr bewusst, dass das SED-Regime die Todesstrafe noch bis in die jüngste Vergangenheit dazu missbrauchte, Regimegegner und abtrünnige Funktionäre zu
verfolgen. Selbstverständlich gab es für die Delinquenten keinen fairen Prozess. Ein Wink der SED-Oberen
entschied über Leben und Tod im Unrechtsstaat DDR.
Der lange Kampf um die Abschaffung der Todesstrafe
lehrt uns: Auf das Verschwinden der Todesstrafe darf
man nicht warten wie auf das Verschwinden der Blätter
im Herbst. Es ist die Verpflichtung unserer Politik, aktiv
gegen diese grausame Strafe zu kämpfen. Dabei ist es
richtig, dass wir auch 24 Jahre nach der Wiedervereinigung und der verfassungsrechtlichen Ächtung dieser
Strafe in ganz Deutschland dieses Thema nicht vergessen. Heute ist die Abschaffung der Todesstrafe nämlich
nicht bloß eine Abwägung von Für und Wider. Im Gegenteil: Das Grundgesetz hat uns als höchsten Wert unserer Rechtsordnung die Würde des Menschen verdeutlicht. Dies entspricht unserer geschichtlichen Erfahrung.
Zugleich hat sich in Europa die Erkenntnis durchgesetzt,
dass die Anerkennung der Würde des Menschen die
Konsequenz der Gottesebenbildlichkeit jedes Menschen
und Teil des gemeinsamen europäischen, christlich-jüdischen Erbes ist. Deswegen ist es richtig, dass die Forderung nach der Abschaffung der Todesstrafe seit langem
ein wesentlicher Bestandteil der Menschenrechtspolitik
der Bundesrepublik Deutschland ist, wo der besondere
Wert eines Menschen im Mittelpunkt steht.
Es ist gut, dass wir heutzutage - Weißrussland wurde
bereits mehrfach als Beispiel genannt - nicht nur auf das
allmähliche Verschwinden der Todesstrafe in Europa
hinweisen, sondern auch darauf hinwirken, dass Länder
wie Saudi-Arabien, China, der Irak und der Iran, aber
auch gefestigte Demokratien wie die Vereinigten Staaten
von Amerika und Japan die Todesstrafe endlich abschaffen oder zumindest deren Vollstreckung aussetzen. Besonders deutlich müssen wir das dort zum Ausdruck
bringen, wo zur Todesstrafe hinzutritt, dass sozusagen
im Vorlauf zu der Vollstreckung der Strafe die wichtigsten Grundsätze des Rechtsstaates nicht beachtet werden.
Länder wie China, Saudi-Arabien oder der Iran richten
ohne fairen Prozess hin. Es kommt sogar vor, dass Minderjährige hingerichtet werden. Dort wird die Todesstrafe nicht nur für schwerste Verbrechen verhängt, sondern häufig genug auch dazu genutzt, Oppositionelle zu
verfolgen und schließlich umzubringen.
Mich persönlich erschüttert - das wurde schon angesprochen -, wie viele Länder bis heute noch immer Exekutionen zum öffentlichen Spektakel und den Verurteilten damit zum Objekt von Gaffern machen, die sich am
Leid eines wehrlosen Menschen ergötzen. Gleichviel
welch ein Verbrechen ein Mensch begangen haben mag,
öffentliche Enthauptungen auf den Marktplätzen SaudiArabiens, an Kränen aufgeknüpfte Verurteilte im Iran
und in gefüllten Fußballstadien erschossene Delinquenten in China, das sind Bilder staatlicher Verrohung. Uns
muss schmerzlich bewusst werden, welche Gräben sich
zwischen unserer Auffassung von Menschenrechten und
der in Saudi-Arabien, im Iran oder in China auftun.
Wenn wir diese Länder heute kritisieren, dann ist das
kein Zeichen westlicher Arroganz oder Überheblichkeit,
sondern Ausdruck unserer unerschütterlichen Überzeugung. Wir sind der Überzeugung, dass Menschenrechte
unveräußerlich sind. Sie gelten für jeden Menschen und
stehen nicht zur Disposition der Politik.
({0})
Dabei vergessen wir natürlich nicht, unsere Freunde,
mit denen wir viele Grundwerte teilen, daran zu erinnern, welche Konsequenzen unserer Auffassung nach
aus diesen Grundsätzen zu ziehen sind. Es ist deshalb
richtig, dass wir alle auch darauf hingewiesen haben,
dass die Vereinigten Staaten von Amerika ihre Position
zur Todesstrafe überdenken müssen.
Ich weiß, dass eine weltweite Abschaffung der Todesstrafe nur in kleinen Schritten erfolgen kann. Oft genug
geht die Verhängung der Todesstrafe Hand in Hand mit
der Verletzung von zahlreichen anderen Menschenrechten. Deswegen sollten wir, finde ich, hier deutlich sagen:
Eine diskriminierende Anwendung der Todesstrafe gegenüber Minderheiten ist verwerflich und nicht hinnehmbar. Die Verhängung der Todesstrafe gegen zur Tatzeit Minderjährige ist ein schreiendes Unrecht, und die
Hinrichtung von Schwangeren ist schlicht und einfach
ein Verbrechen. Ein fairer Prozess sowie ein rechtskräftiges Urteil sind das Mindeste, was jemandem gewährt
werden muss, dem die Todesstrafe droht.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, nur die Blätter fallen von selbst im Herbst vom Baum. Beim Thema
„Todesstrafe“ müssen wir hingegen dranbleiben und aktiv werden. Mittermaiers Argumente gegen die Todesstrafe sind inzwischen Bestandteil der Verfassungsdogmatik unseres Grundgesetzes und wurden mit dem
Schutz der Würde jedes einzelnen Menschen noch weiter vertieft. Kämpfen wir weiter dafür, dass die Todesstrafe verschwindet! Der Herbst kann für sie eigentlich
nicht früh genug kommen.
Vielen Dank.
({1})
Vielen Dank. - Ich schließe die Aussprache. Wir
kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/2738
mit dem Titel „Europa - Vorreiter im Kampf gegen die
Todesstrafe“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist
mit den Stimmen aller Fraktionen angenommen.
({0})
Tagesordnungspunkt 24b. Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die LINKE auf Drucksache 18/2740
mit dem Titel „Todesstrafe weltweit ächten“. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Der Antrag ist mit den Stimmen von
CDU/CSU und SPD bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:
Vereinbarte Debatte
Weltmädchentag - Bildung und Gesundheit
von Mädchen als Voraussetzung für Entwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Dr. Claudia
Lücking-Michel von der CDU/CSU-Fraktion. Bitte
schön, Frau Kollegin.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! „Menschenrechte sind Frauenrechte!“, „Frauenrechte sind Menschenrechte!“: eine
Selbstverständlichkeit? Mitnichten! Zur Geschichte der
Menschenrechte gehört die Geschichte der Ausgrenzung
von ihnen. Ihre Versprechungen galten die längste Zeit
nur für bestimmte gesellschaftliche Gruppen. Frauen
und Mädchen gehörten meistens nicht dazu. Dabei reden
wir nicht von grauer Vorzeit. Erst 1993 konnten die
Frauenrechte als universelle Menschenrechte in den Abschlussdokumenten der UNO-Menschenrechtskonferenz in Kairo - immerhin auf dem Papier - verankert
werden.
Als ich dann 1995 hochmotiviert als Mitglied der
deutschen Delegation an der 4. UNO-Weltfrauenkonferenz in Peking teilnehmen konnte, war ich von dem
Glauben beseelt: Jetzt haben wir Frauen es bald geschafft. Mitnichten! Die letzten Jahre und die aktuellen
schrecklichen Erfahrungen zeigen uns, dass es nicht immer nur zum Guten vorangeht, sondern sich Entwicklungen in fürchterlicher Weise auch umkehren können. Die
Berichte von Frauenrechtlerinnen aus dem Nordirak, die
wir vor kurzem in der Gruppe der Frauen unserer Fraktion zu Gast hatten, hörten sich an wie Berichte aus einen Horrorfilm: Frauen und Mädchen als Freiwild, systematisch vergewaltigt, als Sklavinnen verkauft und von
den eigenen Familien als angeblich Entehrte verstoßen.
Wir debattieren heute aus Anlass des morgigen dritten
internationalen Weltmädchentages. Dieser weltweite
Aktionstag, für den sich unser Haus 2011 interfraktionell
eingesetzt hat, ist 2014 wichtiger denn je; denn über die
Jahre haben wir lernen müssen: Mädchen werden nach
wie vor vielfältig benachteiligt, diskriminiert, sind Gewalt oft schutzlos ausgeliefert. Der aktuelle Bericht der
Weltbank zeigt dies in erschreckenden Zahlen.
Die Unterdrückung von Mädchen, ihre Ungleichbehandlung und Entrechtung beginnt dabei nicht erst im
Kindesalter, nicht erst mit der Geburt, sondern oft genug
schon im Mutterleib. Ultraschall macht es möglich, unerwünschten weiblichen Nachwuchs schon während der
Schwangerschaft zu töten. Wo kein Ultraschall verfügbar ist, werden unerwünschte Mädchen bis heute noch in
manchen Fällen kurz nach der Geburt einfach getötet.
Ich war in Dörfern in Indien, wo das Ersticken eines
Säuglings mit einer Handvoll Reis nach wie vor gesellschaftlich akzeptiert war. Mütter, die sich weigerten, dabei mitzumachen, bekamen den ganzen Druck ihres
sozialen Umfeldes zu spüren. Dabei waren es oft ökonomische Gründe: Mädchen waren einfach zu teuer; denn
die Mitgift treibt die Familie in den Ruin und ihre Arbeitskraft geht nach der Hochzeit zudem an die Schwiegerfamilie verloren. Eine niederschwellige Geburtenregistrierung, wie sie es leider in vielen Ländern immer
noch nicht gibt, würde schon helfen, um die Neugeborenen besser zu schützen und später auch ihre Rechte zu
schützen.
Bis 2015 sollten eigentlich die acht Millenniumsziele
der Vereinten Nationen, die sogenannten MDGs, erreicht
sein. Hierzu gehören auch Dinge wie Gleichstellung von
Mädchen und Jungen, Grundschulbildung für alle, Senkung der Kindersterblichkeit und die Verbesserung der
Gesundheit von Müttern. Aber - wir wissen es alle - in
vielen Ländern sind wir von diesen Zielen nach wie vor
weit entfernt. Wenn wir jetzt zudem in den Irak, nach
Syrien oder nach Nigeria blicken, dann wissen wir: Wir
sind erst recht zum Handeln gezwungen. Zwar wurde
schon 1995 in Peking gefordert, dass Mädchen weltweit
einen gleichberechtigten Zugang zu Bildung erhalten,
aber davon sind wir ebenso weiterhin weit entfernt.
Nichts ist daher enttarnender als der Name „Boko
Haram“, der übersetzt etwa bedeutet: Westliche Bildung
ist gottlos.
Heute Vormittag - wir haben es wahrscheinlich alle
mitbekommen - wurde bekannt, dass das pakistanische
Mädchen Malala den diesjährigen Friedensnobelpreis erhält.
({0})
Herzlichen Glückwunsch auch von dieser Stelle! Ich
freue mich und wir freuen uns offensichtlich alle über
diese Entscheidung. Sie ist nicht nur eine wichtige SymDr. Claudia Lücking-Michel
bolfigur, sondern man kann fast sagen: Sie ist Märtyrerin
für Bildung geworden.
Schon gestern hatte ich mir ein Zitat von ihr vor der
UN-Jugendgeneralversammlung aufgeschrieben, das ich
jetzt erst recht, nach der Preisverleihung, hier vortragen
möchte. Sie sagt:
Bildung ist weder islamisch noch westlich, Bildung
ist menschlich.
Sie fährt dann fort:
… für Bildung ist Frieden unerlässlich. In vielen
Teilen der Welt, vor allem in Pakistan und Afghanistan, halten Terrorismus, Kriege und Konflikte
Kinder davon ab, zur Schule zu gehen. Wir alle sind
diese Kriege leid. … Lasst uns zu unseren Büchern
und Stiften greifen. Das sind unsere mächtigsten
Waffen. Ein Kind, ein Lehrer, ein Buch und ein Stift
können die Welt verändern. Bildung ist die einzige
Lösung. Bildung geht vor.
Besser kann man es wohl kaum formulieren.
({1})
Wir wissen aus Erfahrung: Mädchen Bildung zu ermöglichen, sie über ihren eigenen Wert und ihre Rechte
aufzuklären, ihnen praktisches Wissen für ein selbstbestimmtes Leben zu vermitteln, verändert ganze Gesellschaften. Frauen mit Schulbildung heiraten in der Regel
später, bekommen weniger Kinder und sind dann besser
in der Lage, für diese zu sorgen. Jedes zusätzliche Schuljahr für ein Mädchen erhöht später bei der jungen Frau
das potenzielle Einkommen um 10 bis 20 Prozent. Das
sind wichtige Schritte, um den Kreislauf der Armut
nachhaltig zu durchbrechen.
Lassen Sie uns also alles tun, damit Mädchen ihr
Recht auf Bildung verwirklichen können. Damit setzen
wir den Hebel an der richtigen Stelle an. Dabei geht es
um formale Schulbildung ebenso wie um sexuelle Aufklärung und Gesundheitsversorgung.
Unser Augenmerk muss dabei verstärkt auf die Gruppen unter den Mädchen gerichtet sein, die noch einmal
in besonderer Weise gefährdet und benachteiligt sind
- man braucht es nicht zu erklären -: Flüchtlingsmädchen - sie erleiden nicht nur vielfach besondere Gewalt,
sondern müssen auch enorme Anpassungsleistungen
vollbringen -, arbeitende Mädchen - sie brauchen Unterstützung, damit ihre Lage überhaupt gesellschaftlich
sichtbar wird -, traumatisierte Mädchen, Mädchenwaisen - sie sind ganz allein auf der Welt -, Opfer von
Zwangsprostitution und Menschenhandel.
Die Stellung der Mädchen reflektiert dabei eins zu
eins die Stellung der Frauen in der Gesellschaft. Darum
trete ich dafür ein, dass wir in der Post-2015-Entwicklungsagenda die Gleichberechtigung von Frauen und
Mädchen sowie die Wahrung von Frauen- und Mädchenrechten als eigenständige Ziele aufnehmen.
({2})
Das muss vor allen Dingen folgende Aspekte beinhalten:
Beendigung der Diskriminierung von Mädchen, Beseitigung von gewaltsamen Praktiken, vor allen Dingen bei
Früh- und Zwangsverheiratung, Beendigung der weiblichen Beschneidung, gleichberechtigte gesellschaftliche
und politische Teilhabe von Mädchen und Frauen, und
das heißt in der Regel: vollständige ökonomische Unabhängigkeit durch gute eigene Arbeitsmöglichkeiten.
Der morgige Weltmädchentag erinnert an unsere Verantwortung, zu handeln. Als Parlamentarier müssen wir
uns mit ganzer Kraft dafür einsetzen, eine gleichberechtigte Entwicklung von Mädchen überall auf der Welt zu
ermöglichen. Wir müssen darauf achten, dass wir bei allen Maßnahmen, die wir uns in der Entwicklungszusammenarbeit vornehmen, die Interessen von Mädchen und
Frauen im Blick behalten. Wir müssen darauf achten,
dass sie vor Ort bei allen Entscheidungen mit einbezogen werden und dass unsere Fachkräfte nicht nur mit den
Männern vor Ort verhandeln. Es geht um Empowerment.
Meine Damen und Herren, ich hoffe, dass bald der
Tag kommt, an dem der Satz „Frauenrechte sind Menschenrechte“ nicht nur auf dem Papier gilt. Noch ist es
bis dahin ein weiter Weg.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Annette Groth,
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Anlässlich des internationalen Mädchentages beklagen
wir einmal die weltweite Benachteiligung, Diskriminierung und Gefährdung von Mädchen in vielen Ländern
der Welt. Ein Mädchen zu gebären, gilt bei vielen immer
noch als Enttäuschung. Mädchen werden zwangsverheiratet, sexuell weit häufiger missbraucht als Jungen und
auch noch bestraft, wenn sie infolge des Missbrauchs
schwanger werden.
Weltweit sind etwa 150 Millionen Frauen Opfer von
Genitalverstümmelung. 2 Millionen Mädchen sind jedes
Jahr davon bedroht. Das ist eigentlich unglaublich, und
ich finde, wir alle sind aufgerufen, aktiv gegen diese brutale Art der Körperverletzung zu kämpfen.
({0})
Ein zunehmendes Problem - meine Vorrednerin hat es
schon angesprochen - ist das Kidnapping von Mädchen
und Frauen, um sie zwecks Zwangsheirat nach China zu
bringen. Wir hatten heute ein Gespräch mit Leuten aus
Kambodscha, die uns genau das erzählten. Kidnapping
von Frauen gibt es nicht nur in Kambodscha; das gibt es
auch in Myanmar, in Laos und in anderen Teilen der
Welt. In China fehlen Millionen von Frauen, weil - Sie
haben es schon gesagt - viele Mädchen abgetrieben wurden. Jetzt besteht dort ein großes Problem, nämlich Frauenmangel, und man holt sich Frauen gewaltsam aus an5424
deren Ländern. Es ist eigentlich ein Non-Thema. Darum
sollten wir uns viel stärker kümmern.
Weltweit besuchen 31 Millionen Mädchen im Grundschulalter keine Schule, 5 Millionen mehr als Jungen.
31 Millionen Mädchen, die im Grundschulalter sind, gehen nicht zur Schule! Zwei Drittel aller Analphabeten
weltweit sind weiblich. Das ist kein Zufall, sondern ein
strukturelles Problem.
Über die Hälfte der Weltbevölkerung sind Mädchen
und Frauen. Weltweit erbringen sie - oder wir - zwischen 60 und 70 Prozent der Arbeitsleistungen. Bezahlt
wird davon aber nur ein Drittel. Es ist ein Skandal, dass
Frauen nur einen Bruchteil des Welteinkommens erhalten und nur etwa 1 Prozent des weltweiten Eigentums
besitzen.
({1})
Dabei werden allein in Afrika circa 80 Prozent der landwirtschaftlichen Erzeugnisse nur von Mädchen und
Frauen produziert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Frauen und Mädchen geht es - das wurde schon gesagt - am schlimmsten in Kriegen und bei anderen Katastrophen. In solchen
Ausnahmesituationen wird deutlich, wie verletzlich
Mädchen sind. Sie kommen bei Naturkatastrophen nicht
nur vierzehnmal häufiger um als Jungen, sondern sie
werden in deren Folge auch viel öfter Opfer von Gewalt
und Zwang.
Jedes Jahr werden weltweit 1,7 Millionen Mädchen
unter 15 Jahren verheiratet; bei Mädchen unter 18 Jahren
sind es immerhin noch 10 Millionen. Das ist eigentlich
ungeheuerlich.
Ich bin am Dienstag von einer Reise an die syrischtürkische Grenze bei Kobane zurückgekommen. Dort
habe ich Flüchtlingslager besucht und war tief beeindruckt von der Hilfsbereitschaft der lokalen Bevölkerung. Sie versorgen die Flüchtlinge praktisch allein,
ohne internationale Hilfe, die aber angesichts des nahenden Winters dringend erforderlich ist.
In einem Lager, das ich besucht habe, waren von den
circa 2 100 Flüchtlingen 85 Prozent Frauen und Kinder.
„Es ist ein Krieg gegen Frauen“, sagten mir türkische
und kurdische Feministinnen, die wie ich eine Solidaritätsreise in diese Region machten. Viele der Frauen sind
schwer traumatisiert und waren auf ihrer Flucht teilweise
massiver Gewalt ausgesetzt. Die IS-Terroristen benutzen
Frauen als Druckmittel, verkaufen sie, vergewaltigen sie
und zwingen sie in Ehen.
Ganze Menschenhändlerringe haben sich auf den
Handel mit syrischen Mädchen „spezialisiert“. Fast die
Hälfte der Opfer ist noch minderjährig. Das Geschäft mit
den Mädchen, die für etwa 600 Euro verkauft werden,
boomt, so zum Beispiel in Ägypten, weil sich viele
Ägypter eine Heirat mit Ägypterinnen aus finanziellen
Gründen nicht leisten können.
In vielen Fällen sind die Käufer dieser syrischen
Mädchen Scheichs aus Saudi-Arabien und anderen Golfstaaten, aber auch Männer aus Frankreich und sogar aus
Deutschland, wie ich in der Türkei erfahren musste. Das
ist doch finsterstes Mittelalter und muss wirklich von
uns allen bekämpft werden.
({2})
Meine Vorrednerin hat es gesagt: Statt immer mehr
Gelder in Rüstung zu stecken, in unproduktive Waffen,
die töten,
({3})
sollten wir viel mehr Geld in Bildung stecken und insbesondere ins Gesundheits- und Bildungssystem. Das bietet Mädchen die einzige Möglichkeit, etwas für sich zu
tun. Das sollten Sie bitte auch in den anstehenden Haushaltsberatungen beherzigen.
Danke schön.
({4})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin für die SPD-Fraktion ist Michaela Engelmeier, der ich auch ganz herzlich
zu Ihrem heutigen Geburtstag gratulieren darf.
({0})
Danke schön. - Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen! Liebe Kollegen! Vorab möchte ich natürlich ein besonderes Mädchen würdigen. Ich bin tief berührt, dass Malala den Friedensnobelpreis erhalten hat.
Ich finde, Malala steht wie keine andere als Symbol
- Sie haben es schon angedeutet, Frau Lücking-Michel dafür, dass sie ihr Leben aufs Spiel gesetzt hat, um ihr
Recht auf Bildung einzufordern.
({0})
Heute möchte ich über die gesellschaftliche Gruppe
sprechen, die von extremer sozialer und ökonomischer
Ungleichheit und Ungerechtigkeit betroffen ist: die Mädchen. Wir haben diesen internationalen Weltmädchentag
eingeführt, um auf die Lage von Mädchen aufmerksam zu
machen, denn sie sind immer noch besonders häufig Opfer von Gewalt, Ausbeutung, Ausgrenzung und Benachteiligungen, und das weltweit. „Because I am a Girl“,
„Die Welt wird Pink“, damit begehen wir morgen den internationalen Weltmädchentag. Mit dem Zeichen Pink
soll ein Zeichen gesetzt werden. Das kräftige Pink der
„Because I am a Girl“-Kampagne hat eine starke Signalkraft. Sie vermittelt Lebensfreude und Mut zur Offensive, genau das, was Mädchen motivieren kann, selbst
für ihre Rechte zu kämpfen.
({1})
Auch wir hier im Deutschen Bundestag wollen uns
einsetzen, die Rechte von Mädchen Wirklichkeit werden
zu lassen. Wir wollen mit parlamentarischen Initiativen
dafür sorgen, dass Mädchen mehr Gleichberechtigung
erfahren, dass 4 Millionen Mädchen mindestens neun
Jahre zur Schule gehen oder eine vergleichbare Bildung
erhalten.
({2})
Probleme, die wir lösen müssen, gibt es genug. Laut
UNICEF werden mehr als 60 Millionen Mädchen vor ihrem 18. Lebensjahr gegen ihren Willen verheiratet. In
Bangladesch werden 66 Prozent aller Mädchen Opfer
von Zwangs- oder Frühverheiratung. Sie werden nicht
nur ihrer Kindheit beraubt, sondern auch ihrer Chancen
auf Bildung und Beruf. Mädchen aus den ärmsten
20 Prozent der Haushalte haben ein dreifach höheres Risiko, als Kind verheiratet zu werden. Schwangerschaften
und Geburten sind die Haupttodesursache von Mädchen
im Alter zwischen 15 und 19 Jahren. Es besteht angesichts dieser Zahlen dringender Handlungsbedarf, auch
zur Unterstützung politischer Reformen.
Auf ein Problem möchte ich besonders aufmerksam
machen. Viele Mädchen werden nach ihrer Geburt nicht
offiziell registriert; aber nur wer registriert ist, hat Mitbestimmungsrechte und Zugang zu Bildung. Ohne Eintrag in ein Geburtenregister erhält man keinen Pass, hat
man keine Bürger- und Wahlrechte, kann man keinen
Besitz erwerben oder erben und wird man häufiger
Opfer von Menschenhandel. Für nicht registrierte Kinder ist zudem der Zugang zu staatlicher Bildung schwierig bis unmöglich. Ich werbe dafür, möglichst niederschwellige Registrierungsangebote zu schaffen.
({3})
Bei der Impfdokumentation die Papiere gleich um die
Registrierung zu erweitern oder etwa mittels einer Registrierung via Handy zu agieren, die zum Beispiel in
Afrika weit verbreitet sind, das wären Möglichkeiten.
Ich werbe hier dafür, unsere Kraft und Energie gemeinsam dafür einzusetzen, die besondere Situation von
Mädchen nicht nur zu beachten, sondern alles dafür zu
tun, um sie zu verbessern.
({4})
Wie unbefriedigend die Situation in Sachen Bildung
ist, verdeutlicht „Plan International Deutschland“. Ich
lege Ihnen den Mädchenbericht von „Plan“ besonders
ans Herz. Laut „Plan International Deutschland“ gehen
weltweit rund 75 Millionen Mädchen nicht zur Schule.
Etwa ein Drittel aller Mädchen ist von der Sekundarbildung, also der Möglichkeit, eine weiterführende Schule
zu besuchen, völlig ausgeschlossen. Wenn wir sicherstellen, dass Mädchen von Geburt an die gleichen Chancen wie Jungen erhalten, dann helfen wir ihnen und ihren Familien dabei, den Kreislauf der Armut zu
durchbrechen, und geben ihnen die Chance, selbstbewusste Frauen, Mütter, Berufstätige und Leitfiguren zu
werden.
({5})
Ein zusätzliches Jahr weiterführender Schulbildung
kann das spätere Einkommen eines Mädchens um durchschnittlich 15 bis 25 Prozent erhöhen. Mit der Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt selbst erwirtschaften zu können, wird sie sich und ihre Kinder aus der Armut
befreien können. Sie wird das, was sie verdient hat, in
ihre Kinder investieren, in deren Gesundheit, Bildung
und Zukunft. Ein gebildetes Mädchen wird mit größerer
Wahrscheinlichkeit später heiraten als eines ohne Bildung, weniger und gesündere Kinder zur Welt bringen.
Mit jedem zusätzlichen Jahr Schulbildung einer jungen
Mutter sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass ihre Kinder
sterben, um 5 bis 10 Prozent.
In Nigeria gehen 10,5 Millionen Kinder im schulpflichtigen Alter nicht zur Schule. Zwei Drittel davon
sind Mädchen. Wir erinnern uns - tun wir das noch? - an
die entführten Schülerinnen, die zu einem Symbol im
Kampf gegen Boko Haram geworden sind. 211 Mädchen
sind verschwunden. Die entführten Mädchen sind ein
Symbol des Terrors und für das ausgesprochene Schulverbot. Ihre Entführung und ihr ungewisses Schicksal
soll eine Drohung an alle Eltern und Mädchen sein, den
Schulbesuch für Mädchen zu vergessen. Momentan ist
die Befreiung der Mädchen völlig aus den Augen des öffentlichen Interesses und der Medien geraten. Wir müssen Sorge dafür tragen, dass das Interesse an der Freiheit
der Mädchen nicht stirbt.
({6})
Mein Appell für den Weltmädchentag lautet: Machen
wir nicht nur darauf aufmerksam, vor welcher Herausforderung Mädchen vor allem in Entwicklungsländern
stehen, sondern handeln wir. Von Gesetzesänderungen
und einem Politikwandel werden 400 Millionen Mädchen und Jungen profitieren. Nutzen wir das kommende
Jahr, wenn die Staatengemeinschaft neue Ziele im Rahmen der Post-2015-Agenda verhandelt. Was dort entschieden wird, wird die Entwicklungszusammenarbeit in
den nächsten 15 Jahren beeinflussen. Was in diesen Zielen nicht verankert wird, das wird vergessen bleiben. Dafür muss nicht nur Gleichberechtigung ein eigenes Ziel
in der Agenda sein, sondern es müssen auch die Rechte
von Mädchen und jungen Frauen in alle anderen Ziele
der neuen UN-Entwicklungsagenda einfließen, wenn wir
sie erreichen wollen. Nur dann ist eine nachhaltige Veränderung machbar.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Frau Präsidentin, wenn Sie erlauben, möchte ich Ihnen gerne den Mädchenbericht und den Sticker „Because I am a Girl“ überreichen. Bitte.
({8})
Vielen Dank. - Eigentlich ist es umgekehrt. Das Geburtstagskind bekommt etwas geschenkt, aber ich nehme
das auch gerne an.
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Nächster Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Uwe Kekeritz, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Eigentlich ist dies heute ein schönes Thema. Wir zelebrieren heute einen Tag, den es vor drei Jahren noch
nicht gegeben hat. Es war eine Initiative der Kanadier,
diesen Mädchentag einzuführen. Wir haben uns im AwZ,
im Ausschuss für Entwicklungspolitik, intensiv damit
auseinandergesetzt und uns zunächst einmal die Frage
gestellt: Noch ein Tag, der gefeiert werden muss und an
dem gedacht werden soll? Wir sind aber ganz schnell zu
der Überzeugung gekommen, dass es durchaus ein sinnvoller Tag ist; denn wir Entwicklungspolitiker wissen
natürlich, dass die Frau letztendlich die Trägerin der Entwicklung in vielen Ländern dieses Globusses ist. Wir
wissen natürlich auch: Wenn die Frau die Trägerin der
Entwicklung ist, müssen wir dazu beitragen, dass die
Frau nicht nur Bildung hat. Es wird immer wieder von
Bildung gesprochen. Das ist richtig. Aber wir müssen
uns darüber im Klaren sein, dass die Bildung unbedingt
dafür sorgen muss, dass das Selbstbestimmungsrecht,
das Selbstbewusstsein, die Persönlichkeitsbildung dominieren müssen. Eine Frau, die nur lesen und schreiben
lernt, muss nicht unbedingt eine Führungspersönlichkeit
sein. Sie muss auch nicht unbedingt Selbstbewusstsein
haben. Wir müssen das Selbstbewusstsein der Frauen
fördern.
Wir haben ein schönes Beispiel - das ist heute schon
mehrfach genannt worden -: Malala. Die damals Elfjährige hat die Initiative ergriffen und einen Internetblog
gestaltet, in dem sie für das Bildungsrecht für Mädchen
eingetreten ist. Sie hat das unter einem Pseudonym gemacht; denn sie wusste sehr wohl, wie gefährlich es in
Pakistan sein kann, mit dem richtigen Namen öffentlich
zu werden. Irgendwann schafften es die Taliban, herauszufinden, wer hinter diesem Pseudonym steckte. Am
9. Oktober 2012 kam es zum Mordanschlag auf Malala.
Zwei Schüsse wurden abgefeuert. Einer traf sie am
Kopf, einer am Hals. Sie schwebte sehr lange in Lebensgefahr. Gott sei Dank wurde sie gerettet. Eine Devise,
die Malala schon immer hatte, hieß - das Zitat wurde
schon genannt -:
Ein Kind, eine Lehrkraft, ein Buch, ein Stift können
die Welt verändern.
Das ist genau der Grund, warum die Taliban sagten:
Diese Frau, dieses Mädchen ist eine Gefahr für uns. Die
Taliban wollen alles, nur keine Veränderung. Deswegen
haben sie auch auf Malala geschossen.
Der Antrag zur Einführung des Mädchentages wurde
von allen Fraktionen mitgetragen. Unsere Aufgabe wird
allerdings sein, diesen Antrag auch mit Leben zu füllen.
Es gibt schon Erfolge. Wir diskutieren im Deutschen
Parlament über den Mädchentag. Ich bitte Sie, dazu beizutragen, dass die Thematik, die hinter dem Mädchentag
steht, auf keinen Fall vergessen wird und dass wir durch
viele unserer Entscheidungen die Gendergerechtigkeit
immer in den Mittelpunkt stellen.
Es gibt inzwischen viele positive Entwicklungen.
Wenn wir uns einmal die MDGs anschauen, die im Jahr
2000 verabschiedet wurden: Dort wurden zum ersten
Mal Forderungen zur Stärkung von Mädchen und Frauen
positiv formuliert. Sie haben Wirkung gezeigt. Allerdings sind wir mit dem Ergebnis absolut nicht zufrieden.
Gerade im Bereich der Bildung müssen wir sagen, dass
in vielen Ländern 80, 90, manchmal 96 Prozent der Kinder eingeschult werden. Wie viele dieser Kinder bis zum
sechsten Jahr in der Schule sind, wird nirgendwo erfasst.
Es wird auch nirgendwo erfasst, welche Qualität diese
Schulbildung hat. Also: Hier muss noch sehr viel mehr
geschehen. Es sollte im Rahmen der Entwicklungspolitik mehr Hilfestellung geleistet werden.
({0})
Wir müssen uns aber auch die globale Entwicklung
stets vor Augen halten. Fragile Staaten sind eine Bedrohung für gesamte Gesellschaften. Aber, wie so oft, gibt
es in den Gesellschaften eine Bevölkerungsgruppe, die
stärker und empfindlicher von der jeweiligen Situation
betroffen ist als andere: Mädchen und Frauen.
Denken Sie nur an die Situation in den Flüchtlingslagern. Ich habe die Ortschaft Dadaab in Kenia besucht.
Die Frage, wie Frauen in den UN-geführten Lagern geschützt werden können, ist dort ein riesiges logistisches
Problem, das bis heute noch nicht zufriedenstellend gelöst worden ist.
Das Thema Menschenhandel wurde angesprochen,
das ist bis zu 95 Prozent Frauen- und Mädchenhandel.
Auch das ist ein Zeichen dafür, dass die Mädchen
schlechtergestellt sind als die Jungen.
Ich möchte noch einen weiteren Punkt ansprechen.
Die MDGs laufen 2015 ab, die SDGs folgen. Wir haben
mit „Plan Deutschland“ darüber gesprochen, ob sie zufrieden sind mit der Ausformulierung der Ziele der internationalen Gemeinschaft in Bezug auf Mädchenförderung und die Gleichstellung der Frau. Es wurde klipp
und klar gesagt: Nein, das, was bisher in den SDGs formuliert worden ist, bleibt hinter den MDGs zurück. Das darf aber nicht sein. Es wird also unsere Aufgabe im
nächsten Jahr sein, die Diskussion über die SDGs fortzuführen und sie mit Leben zu füllen.
Danke schön.
({1})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Martin Patzelt,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Gäste! Ich möchte zunächst meine Freude darüber
zum Ausdruck bringen, dass diese Debatte geführt wird.
Sie ist richtig und wichtig, und meine Vorredner haben
bereits ausgeführt, warum das so ist. Uns obliegt die
Aufgabe - auch wenn wir an diesem Freitagnachmittag
in relativ kleiner Zahl versammelt sind -, die Aufmerksamkeit, zumindest in unserem Land, auf die Problematik zu richten, die vielfach mit Fakten, Zahlen und Daten
beschrieben wurde.
Es kann einen grausen. An die vorhergehende Debatte
über die Todesstrafe schließt sich nun die Debatte über
den Weltmädchentag an. Ich gebe Ihnen recht, Herr
Kekeritz: Es ist ein Anlass zur Freude, dass es Mädchen
gibt.
({0})
Ich bin sehr dankbar, dass ich als Mann hier reden
darf. Ich tue das aus ganzem Herzen, weil wir alle unser
Leben einer Frau verdanken
({1})
und weil ich glaube, dass die Frauen eine gewisse Verantwortung dafür tragen, wie Männer werden.
Die primäre Sozialisation, die wir alle erfahren, wird
von unseren Müttern geleistet. Wenn man das Übel an
der Wurzel packen will - meine Vorredner haben richtige und empfehlenswerte Vorschläge gemacht, die ich
aufgreifen will -, dann muss man meiner Meinung nach
den Fokus auf die Rolle der Mutter richten; denn Frauen
leisten Sozialisationshilfe für ihre Kinder.
Das Thema Bildung ist diskutiert worden. Herr
Kekeritz, ich denke, das ist doch etwas vielschichtiger;
denn wer lesen und schreiben kann, der hat auch die
Möglichkeit, sich zu informieren und über Medien und
Literatur andere Bilder von Welt, von Gesellschaft und
von Selbstverständnis zu entwickeln. Das ist die Voraussetzung dafür, dass eine Frau, die ein Kind zur Welt
bringt und in seinen ersten Lebensjahren begleitet, für
sich selbst ein Gefühl der Würde und des Wertes entwickelt.
Ich will all die Zahlen und Fakten, die genannt worden sind, nicht wiederholen. Der Report von „Plan International“ ist wirklich eine sehr umfängliche und hilfreiche Analyse dessen, was sich im Moment in der Welt
abspielt. Ich kann dem Verein „Plan International“ nur
danken, dass er damals die Initiative ergriffen hat. „Plan
Canada“ hat dafür gesorgt, dass die UN diesen Aktionstag initiiert haben. Wir als Deutsche haben uns ein paar
Jahre später diesem Mahntag angeschlossen.
Mit dem Report hat der Verein „Plan International“
den Ball wieder aufgenommen. Er bleibt kontinuierlich
dran, und dafür wollen wir danken. Das macht einmal
mehr das Zusammenspiel von zivilen Trägern und von
Initiativen aus der Gesellschaft heraus deutlich, die solche Themen im Zusammenwirken mit der Politik immer
wieder ins Bewusstsein rücken. So können wir einen
größtmöglichen Effekt erzielen.
Da hier schon vieles gesagt wurde, was ich nicht wiederholen möchte, will ich den Blick auf die gegenwärtige Situation richten: Jeder Mann, der mordet, der tötet,
der ein schlechtes Bild von Frauen hat, der sich Massenbewegungen anschließt und sich unkontrolliert verhält,
ist - das habe ich schon gesagt - irgendwann einmal erzogen worden. Wir haben in den letzten Tagen von
Minister Müller gehört, was er durch Augenzeugen erfahren hat; er war sichtlich berührt davon. Eine Frau hat
ihm berichtet, wie ein ganzes Dorf von der IS-Truppe
behandelt wurde: 500 Männer mussten beiseitetreten
und wurden vor den Augen der Kinder, ihrer Kinder, erschossen. Die Frauen mit Kindern wurden ausgesondert.
Alle jungen Frauen, alle Mädchen wurden an die Soldaten vergeben, jeweils zwei oder drei, und die übrig gebliebenen wurden in vergitterten Autos davongefahren,
zum Verkauf auf dem Sklavenmarkt weitergeschickt. Das alles passiert gegenwärtig, heute und jetzt. Deswegen ist auch die Frage nach den Waffen nicht so einfach
zu beantworten, Frau Groth. Wir haben alle die Pflicht,
das nach unserem Selbstverständnis und vor dem Hintergrund unseres Grundgesetzes Mögliche zu tun, um solchen entarteten, archaischen, furchtbaren Geschehnissen
entgegenzutreten, notfalls auch mit Gewalt, mit international abgestimmter Gewalt.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch der Blick nach
innen, in unser Land, ist wichtig. Die Medienberichte
aus den Flüchtlingslagern zeigen, dass dort auch kleine
Mädchen leben, dass Kinder und Frauen in Massenlagern unter Männern leben. Personen, die sich fremd waren, müssen vielleicht jahrelang zusammen weiterleben.
Wir haben auch die Aufgabe, in unserem Land, in unserer unmittelbaren Nähe zu schauen, wo es Mädchen und
Frauen gibt, die unter menschenunwürdigen Zuständen
leben; denn auch sie stehen unter dem Schutz unseres
Grundgesetzes. Wir haben alle Anstrengungen darauf zu
richten, dass die Rechte und die Würde von Frauen und
Mädchen auch in unserer unmittelbaren Nähe gewahrt
bleiben. Alle Appelle, die wir in die weite Welt hinaussenden, was wir richtigerweise tun, verpuffen und verlieren ihre Wirkung, wenn wir nicht ganz deutlich und für
alle nachvollziehbar sagen: Dort, wo wir Verantwortung
übernommen haben, handeln wir unter Achtung der
Menschenwürde.
In diesem Zusammenhang möchte ich an meinen Appell erinnern, darüber nachzudenken, Frauen und Kinder
- vornehmlich - in privaten Verhältnissen unterzubringen, um sie so schnell wie möglich aus den Massenunterkünften zu befreien. Das ist nur eine Anregung. Das
kann aber nur, wer dazu in der Lage ist. Das ist aber ein
Baustein in der Palette möglicher Initiativen. Ich bin
froh, dass es jetzt, wo sich die Nachrichten über die Situation in den Flüchtlingslagern verdichten, in Deutschland in vielen Städten und Gemeinden bürgerliche und
kirchliche Initiativen und Hilfen für die Flüchtlinge gibt,
die hoffentlich nur vorübergehend, aber vielleicht auch
dauerhaft bei uns bleiben.
Die Hilfe für bedrängte Mädchen und Frauen in der
Welt ist ein ethisches Gebot. Das ist auch etwas, was wir
für uns tun; denn die furchtbaren Geschehnisse, die wir
alle jetzt zur Kenntnis nehmen müssen, beängstigen uns
zunehmend, die einen mehr, die anderen weniger. Grund
für all diese Geschehnisse ist, dass es in den Entschei5428
dungsetagen Männer gibt und auch Frauen, die mit Gewalt Konflikte lösen wollen, die mit alten, archaischen
Weltbildern agieren, die den Krieg und die Gewalt als
Lösungsmuster bei Konflikten und Ungleichheiten betrachten.
Ich kann nur immer wieder nachdrücklich und aus
tiefster Überzeugung dafür werben, Folgendes zu bedenken: Die Entwicklungshilfe, die wir leisten, alle Gelder,
die wir für Bildungsinitiativen in Ländern ausgeben, in
denen es kein funktionierendes Bildungssystem gibt,
dienen dazu, den Frieden auf der Welt zu mehren und die
Situation von Frauen und Kindern zu verbessern. Wir
müssen mit unseren NGOs Gespräche darüber führen, in
welcher Weise sie in den Ländern Unterstützung leisten,
an welche Bedingungen sie ihre Unterstützung knüpfen
und - auch das wurde schon genannt - wen sie für ihre
Aufgaben in Anspruch nehmen und zu Hilfe rufen.
Wir alle sagen: Bildung kostet Geld. Das ist wahr. In
vielen Ländern mangelt es auch deshalb an Bildung,
weil die Länder das dazu notwendige Geld nicht haben.
Bei den Preisen, die wir für Produkte aus Entwicklungsländern zahlen, schließt sich der Kreis. Wenn wir als einer der reichsten Teile dieser Welt so wenig für Produkte
zahlen, dann kann die Armut, die letzten Endes auch Bildungsarmut bedeutet, nicht beseitigt werden.
({3})
Herr Kollege, Sie denken an die Zeit, ja?
Ja. - Sie sehen also, hier schließt sich der große Kreis.
Wir müssen Verständnis dafür schaffen, dass es nicht dabei bleiben kann, dass wir nur die eine Gruppe im Auge
behalten.
Ich sage Ihnen: Heute Nachmittag feiern wir unser
jährliches Herbstfest. Meine sechs Enkeltöchter werde
ich dort wiedersehen. Ich freue mich darauf. Ich werde
dies auch vor dem Hintergrund der Diskussion, die wir
hier geführt haben, erleben. Ich glaube, wir alle haben
genug zu tun, um hier am Ball zu bleiben.
Danke schön.
({0})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist die Kollegin
Ulla Schulte, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir würdigen heute den 11. Oktober, den Tag, den die Vereinten
Nationen zum Weltmädchentag ausgerufen haben. Das
ist auch gut so. Denn einen solchen Tag können wir dazu
nutzen, um auf die Rechte von Frauen und Mädchen aufmerksam zu machen, und er gibt uns Gelegenheit, zu
verdeutlichen, dass die Forderung auf ein selbstbestimmtes, chancengleiches und erfolgreiches Leben für
Mädchen noch lange nicht überall erfüllt ist. Ja, wir sind
in einigen Ländern sogar noch meilenweit von der rechtlichen Gleichstellung entfernt. Das müssen wir uns und
der gesamten Weltöffentlichkeit immer wieder ins Gedächtnis rufen. Ich bin sicher: Wir verspielen unsere Zukunft, wenn wir in unseren Forderungen nachlassen.
Mädchen müssen gefördert werden. Mädchen brauchen
gleiche Chancen und gleiche Rechte, und das weltweit
und in allen Bereichen.
({0})
Dennoch ist der Weltmädchentag vielleicht am Ende
nur ein Symbol. Reiht sich der Mädchentag nur in die
endlose Kette von Feier- und Gedenktagen ein? Nach
dem Muttertag, dem Frauentag und dem Weltkindertag
auch noch einen Weltmädchentag? Immer wenn ich über
diese speziellen Frauenfeiertage rede, sehe ich verdrehte
Männeraugen. Glauben Sie mir, ich kann die Gedanken
dieser Männer lesen. Viele Männer fragen sich auch
heute noch: Muss das denn sein? Was wollen die Frauen
denn noch? Haben sie noch nicht genug erreicht?
({1})
Ihre alles entscheidende Frage lautet: Wo bleiben eigentlich wir Männer?
Vor kurzem hielt Emma Watson, die Ihnen als Schauspielerin aus den Harry-Potter-Filmen vielleicht bekannt
ist, ihre erste Rede als UN-Sonderbotschafterin für
Frauen- und Mädchenrechte. Sie sagte zu genau diesem
Problemfeld:
Sowohl Männer als auch Frauen sollten sich sensibel fühlen dürfen, sowohl Männer als auch Frauen
sollten sich stark fühlen dürfen. Wir wollen nicht
darüber sprechen, dass Männer in geschlechtstypischen Stereotypen gefangen sind, aber ich kann sehen, dass sie es sind.
Mein Ansatz ist, dass wir einen Weltmädchentag
brauchen, weil Mädchen in vielen Ländern immer noch
aufgrund ihres Geschlechtes diskriminiert werden, weil
sie keinen Zugang zu Bildung haben, weil sie keinen Zugang zum Arbeitsmarkt haben, weil sie anders als ihre
Brüder keinen Zugang zu medizinischer Versorgung haben, weil sie immer wieder Opfer sexualisierter Gewalt
werden und - im schlimmsten Fall - weil sie gar nicht
erst geboren werden. Weibliche Föten werden abgetrieben, und neugeborene Mädchen werden getötet.
Hierzu ein kleines Beispiel. Ich kenne eine junge
Neonatologin, also eine Ärztin, die sich um Frühchen
kümmert. Sie hat mir erzählt, dass sie während ihrer
Hospitanz in einem indischen Krankenhaus einem gesunden kleinen Mädchen auf die Welt geholfen hat. Niemand hat sich über die Geburt dieses kleinen Mädchens
gefreut, selbst die eigene Mutter nicht. Es war halt nur
ein Mädchen, kein Junge, kein Stammhalter. Das Mädchen war, wie gesagt, gesund. Aber am anderen Tag war
es aus unerklärlichen Gründen verstorben.
Hier beginnt Diskriminierung. Ich finde, das ist eine
viel zu harmlose Beschreibung. Selektierung ist wohl passender. Das dürfen wir nicht länger zulassen. Dagegen
müssen wir mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln einschreiten. Ich weiß nur zu gut, dass sich hier kulturelle Traditionen und Menschenrechte gegenüberstehen. Ich will auch kein westliches Sendungsbewusstsein.
Ich möchte nur, dass man jedem Menschen unabhängig
vom Geschlecht das Recht auf ein menschenwürdiges
Leben einräumt, nicht mehr, aber auf keinen Fall weniger.
({2})
Was können wir nun mit Blick auf die Entwicklungsländer tun? Wir müssen den Gordischen Knoten von Armut und begrenztem Zugang zu guten Bildungs- und
Arbeitsmarktchancen durchbrechen. Bildung ist und
bleibt der Schlüssel zur Veränderung. Gelingt es einem
Entwicklungsland, die Alphabetisierung von jungen
Mädchen voranzutreiben, sinken erfahrungsgemäß Geburtenrate und Kindersterblichkeit, und das Pro-KopfEinkommen steigt. Die Ausbildung von Mädchen wirkt
sich positiv auf die gesamte Entwicklung eines Landes
aus.
Die bisher jüngste Friedensnobelpreisträgerin ist heute
schon oft zitiert worden, aber ich tue es noch einmal, weil
das, was sie zum Thema „Bildung in den Entwicklungsländern“ gesagt hat, so einfach und klar ist. Dies sollten
wir verinnerlichen. Malala hat an ihrem 16. Geburtstag
gesagt:
Lasst uns zu den Büchern und Stiften greifen. Das
sind unsere mächtigsten Waffen. Ein Kind, ein Lehrer, ein Buch und ein Stift können die Welt verändern. Bildung ist die einzige Lösung. Bildung geht
vor.
Was soll man dazu noch sagen? Das muss man einfach
umsetzen.
Wir sollten aber nicht nur auf die Entwicklungsländer
schauen. Auch bei uns in Europa, auch bei uns in
Deutschland ist die Umsetzung der tatsächlichen Gleichstellung von Mädchen und jungen Frauen noch nicht
überall Realität. Grundsätzlich haben Mädchen und
junge Frauen in den letzten Jahrzehnten viel erreicht.
Wir können bei ihnen einen Anstieg von guten und sehr
guten Bildungsabschlüssen feststellen. Wir sehen, dass
53 Prozent der Studierenden in der Europäischen Union
weiblich sind, in Deutschland sind es 49,5 Prozent. Darauf können wir stolz sein.
Dennoch: Bei Schulbesuchen und vielen Gesprächen
in den Schulen musste ich feststellen, dass sich die Berufswahl von Mädchen und jungen Frauen heute noch
immer auf einige wenige Berufe verengt, eben auf die
traditionellen Mädchenberufe, die zudem noch geringe
Bezahlung und vor allem einen Mangel an Aufstiegsmöglichkeiten aufweisen. Aus diesem Grund brauchen
wir eine noch gezieltere Berufsorientierung für Mädchen, die nicht auf festgefahrenen Rollenklischees aufbaut, sondern das Interesse an Mathematik, Informatik,
Naturwissenschaften und Technik weckt. Mädchen sollten auch hier ihre Kreativität entwickeln können.
Nach wie vor gibt es bei uns auch benachteiligte
Mädchen. Ihnen werden der Zugang zu Bildung und der
Einstieg in das Berufsleben erschwert. Das trifft in ganz
besonders hohem Maße auf Mädchen und junge Frauen
mit Migrationshintergrund zu. Wir dürfen davor die Augen nicht verschließen, sondern müssen Angebote machen, die diesen Mädchen ein selbstbestimmtes Leben
ermöglichen.
Kollegin Schulte, achten Sie bitte auf die Redezeit.
Das Minus auf der Anzeige weist darauf hin, dass Sie
Ihre Redezeit schon über eine Minute überzogen haben.
Ich komme zum Schluss und sage nur noch, dass ich
finde, dass die Männer mit ihren rollenden Augen dennoch in einem Punkt recht haben: Bei aller Förderung
von jungen Frauen und Mädchen dürfen wir die Förderung der Jungen nicht aus den Augen verlieren. Wir
müssen deren Interesse für Familienarbeit, für Kindererziehung, für Hausarbeit wecken. Nur wenn diese Aufgaben in Zukunft partnerschaftlich verteilt werden, kann
Gleichberechtigung gelingen.
Ich wünsche mir eine Gesellschaft, in der es Mädchen
und Frauen gut geht. Denn dann geht es auch den Männern und Jungen gut. Und das ist doch das, was wir gemeinsam erreichen wollen.
Danke schön für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Das war der letzte Beitrag in der vereinbarten Debatte
zum Weltmädchentag. Ich schließe die Aussprache und
rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Energie ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Kerstin Andreae, Anja Hajduk, Volker
Beck ({1}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Fördermitteltransparenz erhöhen
Drucksachen 18/980, 18/1676
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Andrea Wicklein für die SPD-Fraktion.
({2})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Nach dieser sehr bewegenden und emotionalen Debatte fällt es natürlich etwas schwer, eine Antragsberatung durchzuführen. Aber wir haben jetzt die Aufgabe, über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen zu diskutieren, die Fördermitteltransparenz zu
erhöhen.
Das ist in der Tat ein sehr wichtiges Anliegen, das wir
teilen. Auch wir wollen weitgehende Transparenz bei
der Vergabe von Fördermitteln.
({0})
Es ist richtig und notwendig, die Bürgerinnen und
Bürger, die gesamte Öffentlichkeit darüber zu informieren, was mit den Steuergeldern in Milliardenhöhe passiert. Aber trotzdem kann ich Ihnen, liebe Kolleginnen
und Kollegen von den Grünen, jetzt schon sagen, dass
wir Ihren Antrag leider ablehnen müssen. Ich werde Ihnen auch die Gründe, die dazu führen, im Einzelnen erläutern.
In Ihrem Antrag bleiben wichtige Fragen und Fakten
unerwähnt. Sie erwecken den Eindruck - das verstehe
ich, ehrlich gesagt, nicht -, dass es noch keine Transparenz darüber gibt, wer, was und in welchem Umfang
durch den Bund gefördert wird. Ich finde, mit dem Förderportal des Bundes sind wir auf einem sehr guten Weg.
Jede Bürgerin, jeder Bürger, jedes Unternehmen und
auch Ihre Fraktion hat die Möglichkeit, sich im Internet
bei www.foerderportal.bund.de über die Fördermaßnahmen von fünf Bundesministerien umfassend zu informieren.
({1})
In einer öffentlichen Datenbank sind dort mehr als
110 000 abgeschlossene und laufende Fördervorhaben
abrufbar. Sie können dort täglich recherchieren und erhalten bereits heute Informationen über Namen und Ort
des Zuwendungsempfängers sowie über Fördersumme,
Laufzeit, Thema, Projektträger und darüber hinaus sogar
noch viele andere Informationen mehr. Ich jedenfalls
schaue regelmäßig auf diese Seite und informiere mich
über die Förderprojekte in meinem Wahlkreis. Auch Sie
sollten das bei Gelegenheit vielleicht einmal tun.
Wir haben darüber hinaus die Förderdatenbank, die
dort integriert ist und die einen vollständigen und aktuellen Überblick über die Förderprogramme des Bundes,
der Länder und auch der Europäischen Union gibt. Diese
Förderdatenbank ist sehr benutzerfreundlich. Sie umfasst eine Förderberatung als Erstanlaufstelle für alle
Fragen rund um die Forschungs- und Innovationsförderung als auch das Onlineantragssystem mit den Antragsformularen. Auch die Förderrichtlinien sind dort veröffentlicht. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den
Grünen, all das erwähnen Sie in Ihrem Antrag nicht.
Im Übrigen beziehen Sie sich in Ihrem Antrag auf die
Transparenzinitiative der EU im Zusammenhang mit den
EU-Agrarfonds. Ich gebe Ihnen zwar recht, dass die Veröffentlichung der Förderung an Landwirte durchaus positiv ist. Allerdings stehen diese Informationen nur zwei
Jahre im Netz und dann nicht mehr. Im Gegensatz dazu
das Förderportal des Bundes: Ich habe für meinen Wahlkreis, für Potsdam, nachgeschaut und festgestellt, dass
die Daten von 1 227 Fördermaßnahmen seit 1990 abrufbar sind. Das heißt also: 25 Jahre Transparenz. Was wollen wir mehr? Wo finden Sie das?
Aber es gibt noch einen weiteren Grund für unsere
Ablehnung. Sie schreiben in Ihrem Antrag, dass - ich
zitiere - „eine Abwägung zwischen dem Transparenzinteresse der Öffentlichkeit und dem Schutz personenbezogener Daten der Fördermittelempfängerinnen und
-empfänger erfolgen“ soll. Wer soll das denn bitte bei
Zehntausenden von Förderungen im Einzelfall entscheiden?
({2})
Welcher bürokratische Aufwand ist damit verbunden,
dies rechtssicher zu entscheiden?
({3})
Ist der Nutzen Ihres Vorschlages wirklich so groß, dass
er diesen bürokratischen Aufwand rechtfertigt? Auch darauf geben Sie keine Antwort.
({4})
Auch bei einem weiteren Punkt kann ich Ihnen nicht
folgen - dieser Punkt ist für mich eigentlich der entscheidende -: Unter Ziffer 10 Ihres Antrages fordern
Sie, dass „die Ziele und wesentlichen Resultate“ von
Forschungsprojekten veröffentlicht werden sollen. In Ihrer letzten Rede, Frau Andreae, zu diesem Thema wurden Sie noch konkreter, da sagten Sie:
Es braucht diese gute Datenlage auch für uns Parlamentarier, um besser entscheiden zu können, ob
Förderprogramme fortgeführt, aufgestockt oder lieber beendet werden sollten.
Wären Sie wirklich in der Lage, wissenschaftliche Ergebnisse zu bewerten, die oftmals erst nach vielen Jahren Früchte tragen?
Der aktuelle deutsche Nobelpreisträger Stefan Hell ist
das beste Beispiel dafür, dass sich wissenschaftliche Arbeit oftmals erst nach sehr vielen Jahren auszeichnet. Da
wollen Sie uns sagen, dass wir Parlamentarier über Sinn
und Unsinn von Förderprogrammen anhand der von Ihnen geforderten Daten entscheiden könnten? Ich glaube
das nicht.
Insofern sind aus unserer Sicht die bereits heute im
Förderportal veröffentlichten Daten zu geförderten Projekten ausreichend; eine hohe Transparenz ist gegeben.
Reserven und Verbesserungsmöglichkeiten sehe ich bei
dem Umfang der eingestellten Förderprogramme. Insofern begrüße ich ausdrücklich das Anliegen des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie, zukünftig alle
Förderprogramme und Projekte des Ministeriums mit
einzustellen. Ich denke, das ist noch mal ein ganz wichtiger Schritt in die richtige Richtung.
Ihrem Antrag aber, liebe Kolleginnen und Kollegen
von den Grünen, werden wir heute leider aus den besagten Gründen nicht zustimmen können.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat der Kollege Thomas Lutze für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Jedes Jahr vergibt der Bund sehr viele Fördermittel an
Unternehmen, aber auch an Verbände und Vereine. Und
die Grünen wollen jetzt, dass dies transparenter geschieht. Die Linke wird dem Antrag zustimmen und die
für meine Begriffe sehr bedauerliche Beschlussempfehlung des Ausschusses ablehnen.
({0})
Im Grunde fordern doch die Grünen nichts anderes,
als dass die Europäische Transparenzinitiative aus dem
Jahr 2007 nun auch im eigenen Land umgesetzt wird.
Was ist denn, bitte schön, dagegen einzuwenden? - Es
wurden doch schon auf europäischer Ebene - auch im
Hinblick auf die Punkte, die gerade angesprochen wurden - positive Erfahrungen gemacht. Dass die Bundesregierung und die Regierungskoalition jetzt hier auf die
Bremse treten und „Nein, danke“ zu einer Erweiterung
der Transparenz sagen, finden wir falsch.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist nicht nachvollziehbar, dass die Menschen, die Bürgerinnen und
Bürger, auf EU-Ebene das Recht haben, diese Informationen über Förderungen abzurufen, im eigenen Land
aber nicht. Warum eigentlich? - Die Bundesregierung
sollte nicht hinter die EU zurückfallen und muss diesen
Missstand für meine Begriffe umgehend beheben.
({1})
Die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler, die das alles finanzieren, haben das Recht darauf, zu erfahren, wie ihr
Geld verwendet wird.
Uns ist wichtig, dass den Empfängern der Fördermittel kein zusätzlicher Aufwand entsteht. Die erweiterten
Informations- und Dokumentationspflichten dürfen für
meine Begriffe nicht zulasten der Antragsteller, also derjenigen, die die Fördergelder bekommen, gehen. Oft
sind dies nämlich kleine Unternehmen oder auch ehrenamtlich tätige Vereine und Verbände, die keine eigene
Rechtsabteilung oder keine eigene Abteilung zur Akquise von Fördergeldern haben. Sie wollen mit dem
Geld, das sie bekommen, arbeiten und es nicht fast ausschließlich verwalten. An dieser Stelle sei wirklich angeregt, den Prozess der Antragstellung generell zu vereinfachen und auch zu entbürokratisieren, damit noch mehr
Fördermittel bei kleinen Unternehmen oder bei kleineren
Verbänden ankommen.
Ich bestreite nicht, dass die zunehmende Transparenz
im Ergebnis dazu führt, dass ein zunehmender Aufwand
betrieben werden muss und dies zulasten der Verwaltung
geht. Aber wir können uns nicht hier hinstellen und sagen - so wie es meine Vorrednerin gerade angedeutet hat -:
Wir haben kein Personal, damit haben wir auch keine Finanzmittel, und deswegen können wir das alles nicht
machen. - Wir brauchen eine leistungsfähige Verwaltung und eine angemessene Ausstattung dieser Verwaltung, damit diese Aufgaben übernommen werden können.
({2})
Die Bürgerinnen und Bürger haben schlichtweg ein Anrecht darauf.
Auch wir nehmen es ernst, wenn Unternehmen heute
sagen, dass zusätzliche Transparenz zur Offenlegung
von betrieblichen Geheimnissen führen kann. Insbesondere viele kleine Unternehmen befürchten, dass mit der
Veröffentlichung eines Projekttitels die Forschungs- und
Entwicklungsarbeiten offengelegt werden. Ebenso fürchten sie, dass ihre Finanzkalkulationen der Konkurrenz
bekannt werden. Die im Antrag der Grünen vorgesehene
Regelung besagt, dass in Einzelfällen von einer Einzelveröffentlichung abgesehen werden kann. In der Realität
allerdings besteht zumindest die Gefahr, dass jeder Fördermittelempfänger versuchen wird, sich bei jeder Gelegenheit darauf zu berufen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist ein reales Problem. Dafür brauchen wir eine
Lösung. Man muss darüber entscheiden können - und
das möglichst in allen Einzelfällen -, wie man damit umgeht. Das wird sicherlich nicht ganz einfach. Aber die
Lösung im Umkehrschluss darf nicht heißen: Wir machen weiter mit Intransparenz.
({3})
Denn umgekehrt ist auch klar, dass kein Unternehmen
verpflichtet ist, einen Antrag auf Fördermittel zu stellen.
Dennoch: Der Antrag der Grünen geht in die richtige
Richtung. Alles in allem unterstützen wir den Antrag,
auch wenn wichtige Details noch weiteren Klärungsbedarf nach sich ziehen.
({4})
Denn Transparenz - das ist die Meinung der Linken schafft immer auch Akzeptanz bei der Vergabe öffentlicher Mittel.
Herzlichen Dank.
({5})
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun der Kollege
Mark Hauptmann.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Damen und
Herren! Wir befassen uns mit dem Thema der Fördermitteltransparenz. Zuallererst ist festzuhalten: Das Ansinnen ist im Kern richtig und begrüßenswert. Transparenz ist gerade bei der Verteilung von Fördermitteln
seitens des Bundes nicht nur wünschenswert, sondern
schlichtweg notwendig. Staatliche Maßnahmen müssen
kontinuierlich auf ihren Erfolg überprüft werden, und
die Datenbanken mit den entsprechenden Informationen
müssen dafür öffentlich zugänglich sein. Außerdem
müssen die Beantragung von Fördermitteln und der Zugang zu entsprechenden Formularen für den Antragsteller einfach gestaltet werden.
Kritisch hingegen sehen wir in dem Antrag der Fraktion der Grünen die Vorschläge, wie Sie dieses lobenswerte Ziel erreichen möchten. Sie fordern erstens die
Einführung einer gesetzlichen Regelung, zweitens die
Ausweitung bereits bestehender Datenbanken und drittens die Offenlegung sensibler Daten. Lassen Sie mich
also kurz auf diese einzelnen Punkte eingehen, um Klarheit in der Debatte zu schaffen.
Per Gesetz soll die Fördermitteltransparenz erhöht
werden, da die derzeitige Datenlage intransparent und
durch die Zivilgesellschaft sowie durch uns Parlamentarier kaum zu kontrollieren sei. So steht es im Antrag.
Neue Gesetze sind jedoch nur dann erforderlich, wenn
ihr Erlass wirklich notwendig ist. Das wäre dann gegeben, wenn die aktuelle Datenlage tatsächlich so schlecht
wäre, wie Sie es in Ihrem Antrag darstellen.
Der Antrag spricht von einem berechtigten und wachsenden Interesse der Bürgerinnen und Bürger, über die
Verwendung ihrer Steuergelder in Form von staatlichen
Fördermitteln informiert zu werden. Hier suggerieren
Sie gewissermaßen, dass es heute gar keine oder nur unzureichende Möglichkeiten gibt, sich darüber zu informieren. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, erwecken den Anschein, als ob geradezu willkürlich
und ungeprüft Mittel seitens des Bundes verteilt würden.
Deshalb möchte ich Ihnen noch einmal fünf wesentliche
Informationsmöglichkeiten nennen, die es bereits heute
gibt und die sehr umfassend und transparent sind.
Da ist zum Ersten die Förderdatenbank des Bundes.
Sie gibt einen Überblick über die aktuellen Förderprogramme des Bundes, der Länder und der EU für die gewerbliche Wirtschaft.
Zweitens haben wir den Förderkatalog des Bundes. Er
eröffnet allen interessierten Bürgern die Möglichkeit,
sich online über abgeschlossene Fördervorhaben der beteiligten Bundesministerien - für Bildung und Forschung, für Wirtschaft und Energie, für Umwelt, für Ernährung und Landwirtschaft sowie für Verkehr und
digitale Infrastruktur - zu informieren.
Drittens haben Sie die Möglichkeit, in der Datenbank
des Förderkataloges nachzuforschen und Auskunft über
110 000 abgeschlossene und laufende Förderprojekte zu
erhalten; weitere sollen aufgenommen werden.
Viertens werden die aktuellen Leitlinien der Subventionspolitik jedes Jahr im Subventionsbericht der Bundesregierung dargestellt. Das ist eine weitere Möglichkeit, sich darüber zu unterrichten, ob wir mit diesen
Förderprogrammen tatsächlich Arbeitsplätze schaffen
und Wachstum in unserem Land generieren, was wir ja
als Zielstellung haben.
Schlussendlich schafft fünftens das Informationsfreiheitsgesetz für alle Bürger einen Rechtsanspruch, sich
über einzelne Förderprojekte des Bundes zu erkundigen.
Verständlicherweise - so sehen wir es von der
Unionsfraktion - muss es jedoch bei aller Transparenz
auch Ausnahmen geben; denn gerade bei der Förderung
wirtschaftlicher Vorhaben ist ein angemessener Umgang
mit sensiblen Daten erforderlich. Laut Ihrem Antrag fordern Sie die grundsätzliche Veröffentlichung des genauen Förderprogramms, des Namens der Firma, der
Postleitzahl, der Gemeinde des Unternehmenssitzes sowie die Angabe, wer Empfängerin oder Empfänger der
Fördermittelzahlungen ist. Eine solche Regelung kann in
einzelnen Bereichen sinnvoll sein; das wollen wir nicht
abstreiten. Beispiele dafür, wo es sinnvoll sein kann,
sind Förderprojekte in der Regionalentwicklung, im
Tourismus oder zur Kulturförderung.
Jetzt komme ich zu dem Punkt, den auch mein Vorredner angesprochen hat: Was spricht eigentlich dagegen? Für nicht sinnvoll oder sogar schädlich halten wir
die Veröffentlichung von unternehmensbezogenen Daten. Denn was bedeutet es, hier völlige Transparenz zu
schaffen und alle betriebsbezogenen sensiblen Daten
aufzugreifen und zu veröffentlichen? Unternehmen, insbesondere mittelständische Unternehmen, sind auf die
Entwicklung innovativer Produkte angewiesen. Wir alle
kennen zum Beispiel das ZIM-Projekt und andere Projekte, für die Fördermittel vergeben werden. Nur mit einer hohen Innovationskompetenz können zukunftsrelevante Produktentwicklungen auf den Markt gebracht
werden. In letzter Konsequenz bedeuten Ihre Vorschläge, dass die Unternehmen Daten veröffentlichen
müssen, die in sehr starkem Maße sensible Bereiche betreffen.
In der Luftfahrtbranche, aber auch in anderen Bereichen können wir schon heute sehen, dass die Veröffentlichung sensibler Daten dazu beiträgt, dass sich Konkurrenten einen sehr genauen Blick über andere Unternehmen
verschaffen können, so zum einen, wie viele staatliche
Mittel dieses Unternehmen seitens des Bundes bekommt, und zum anderen, woran andere Unternehmen
forschen. Es gibt in gewisser Weise auch in der Unternehmenskommunikation einen gewissen Schutz des
geistigen Eigentums. Wenn zum Beispiel ein Unternehmen an einer Patentlösung arbeitet, dann hat es ein berechtigtes Interesse daran, sicherzustellen, dass es als
Innovations- und Impulsgeber für eine neue Idee letztendlich diese Idee auch verwirklichen kann. Wenn es
aber vorher bereits alle sensiblen Daten bis in den Bereich der Verteilung einzelner Kosten veröffentlichen
muss,
({0})
dann sehen wir dies politisch als schädlicher an als mehr
Fördermitteltransparenz.
Mein letzter Kritikpunkt greift auf, was bereits die
Kollegin Wicklein angesprochen hat. Wir sehen die Gefahr, dass Sie mit diesen neuen Kriterien hinsichtlich der
Fördermitteltransparenz in Ihrem Antrag einen hohen
zusätzlichen Verwaltungsaufwand kreieren werden. Sie
haben nicht darauf hingewiesen, welche Folgekosten gerade auch im Hinblick auf die Dokumentationspflicht
entstehen werden. Daraus wird unserer Meinung nach
mehr Bürokratie entstehen, und es wird zu einem verstärkten administrativen Ausbau kommen. Dabei wollen
wir als gemeinschaftliches Ziel insgesamt einen Bürokratieabbau, also eine Verschlankung der staatlichen Bürokratiemechanismen. Sie verstecken allerdings den
Transparenzgedanken und schaffen unter dem Deckmantel der Informationsfreiheit ein Bürokratiemonster.
({1})
Transparenz, sehr geehrte Damen und Herren, ist notwendig und erforderlich. Das gestehen wir sehr gerne zu.
Gerade bei der Verteilung von Bundesmitteln muss
Transparenz herrschen. Transparenz ist jedoch kein
Selbstzweck - das ist der feine Unterschied zu Ihnen,
sehr geehrte Kollegen der Grünen -, vor allem dann
nicht, wenn er in letzter Konsequenz mehr Schaden als
Nutzen bringt.
Ihr Antrag übersieht die bereits vorhandenen Informationsmöglichkeiten; ich habe Ihnen fünf sehr umfangreiche Informationsmöglichkeiten genannt. Er verletzt
letztendlich den Datenschutz der Unternehmen im Hinblick auf innovative Forschungen, und er schafft überflüssige Bürokratie, die wir eigentlich verhindern
wollen. Deshalb lehnen wir gemeinsam mit der Koalitionsfraktion Ihren Antrag ab.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({2})
Das Wort hat die Kollegin Kerstin Andreae für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich finde es schön, dass Sie alle die Intention des Antrags,
Transparenz zu schaffen, für richtig halten; das freut mich.
Die Bürgerinnen und Bürger haben ein wachsendes Interesse daran, zu erfahren, was mit ihren Steuergeldern geschieht; und das ist auch richtig so. Schließlich werden
die Fördermittel aus Steuergeldern finanziert.
Nun gehe ich auf Ihre Kritikpunkte ein. Sie erinnern
sich sicherlich noch an die Debatte über die Mittel aus
dem EU-Agrarfonds. Big Player der Agrarwirtschaft wie
Südzucker, große Molkereien und die Queen von England waren Empfänger von Agrarmitteln. Deswegen
wurde damals die EU-Transparenzrichtlinie in Kraft gesetzt. Nun kann man im Internet in einer Datenbank sehen, wer wie viel erhält. Wunderbar! Das hat geklappt,
funktioniert, ist machbar. Das können wir auch.
({0})
Wenn Sie nun sagen, es handele sich hier um Datensammelwut, dann entgegne ich Ihnen: All die Daten sind
bereits vorhanden. Sie haben des Weiteren eingewendet,
dass wir viel Bürokratie aufbauen, und gefragt, wer prüfen würde, ob es im Einzelfall gerechtfertigt ist, zu sagen, dass es nicht funktioniert. Aber ein Unternehmen,
das sich an Förderprojekten beteiligen will, muss doch
einen Antrag stellen. Dann sind die Daten da, und es
wird geprüft, ob das betreffende Unternehmen berechtigt
ist, Fördermittel in Anspruch zu nehmen. Und dann kann
man auf Basis dieser Prüfung im Normalfall sagen: Das
machen wir transparent. - Das geht.
({1})
Richtig ist: Transparenz ist kein Selbstzweck. Deswegen haben wir alles mit dem damaligen Bundesdatenschutzbeauftragten Peter Schaar besprochen. Er hat gesagt:
Ihr müsst eine Bagatellgrenze von 25 000 Euro einführen. Er hat gesagt: Natürlich müsst ihr sorgsam abwägen
zwischen dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit
und dem Schutz der Daten.
Es geht auch nicht um eine kleinteilige Kostenauflistung. Worum geht es dann? Es geht darum, zu erfahren,
wer von welchen Fördertöpfen profitiert, wer Fördermittel bekommt. Es geht nicht um die Maßnahmen selbst.
Sicherlich gibt es dazu diverse Datenbanken. Aber bisher liegt im Dunkeln: Wer profitiert? Wie werden die
Mittel verteilt?
({2})
Hier wollen wir Transparenz schaffen. Das ist der Ansatz, den wir in unserem Antrag gewählt haben.
({3})
Ich nenne Ihnen als Beispiel die Plattform E-Mobility.
Wissen Sie, wer die Profiteure der Millionen aus diesem
Programm sind, das aufgelegt wurde, um die Entwicklung
der Elektromobilität anzuschieben? Die Mittel verteilen
sich auf diverse Ministerien. Das Wirtschaftsministerium
jedenfalls fährt die Mittel von 280 Millionen Euro auf
220 Millionen Euro zurück. Mich interessiert, wen das
eigentlich betrifft. Natürlich habe ich als Abgeordnete
mehr Möglichkeiten; das weiß ich. Ich kann beispielsweise das Ministerium fragen etc.
({4})
Der Unterschied ist allerdings, dass wir Transparenz für
die Bürgerinnen und Bürger schaffen wollen. Nicht nur
wir Abgeordnete, sondern auch die Bürgerinnen und
Bürger sollen Bescheid wissen.
({5})
Es ist richtig, dass Sie im Bundeswirtschaftsministerium jetzt die Förderprogramme stärker evaluieren. Ich
finde die Ansätze, die Sie, Frau Gleicke, im Ausschuss
vorgestellt haben, richtig. Aber dann sollten wir auch
schauen, ob die Förderung beim Mittelstand, bei den Innovativen, den jungen Unternehmen, den Start-ups ankommt. Lassen Sie uns hier doch Transparenz schaffen,
damit wir mehr wissen. Ja, es geht um eine effizientere
Arbeit und eine bessere Haushaltskontrolle. Was geschieht mit den Milliarden in den Fördertöpfen? Sie können nicht ernsthaft dagegen sein, dass hier Transparenz
geschaffen wird. Ihre Argumente sind aus der Luft gegriffen. Weder wollen wir ein Bürokratiemonster schaffen, noch leiden wir unter Datensammelwut. Wir wollen,
dass die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes erfahren,
was mit ihren Steuergeldern im Fördermittelbereich geschieht. Wir als Abgeordnete wollen gleichzeitig, wenn
es im Haushaltsverfahren um die Aufstockung von Fördermitteln geht, besser einschätzen können: Sind die
Mittel richtig eingesetzt, oder haben wir Spielraum, um
die Mittel besser einzusetzen? Das ist das, was wir erreichen wollen.
({6})
Die Forderung nach mehr Transparenz ist in der heutigen Zeit absolut erforderlich. Wir sollten alles daransetzen, hier immer wieder nachzulegen. Es ist in Ordnung, wenn Sie unseren Antrag kritisieren, weil er noch
nicht alle Fragen beantwortet und nicht jedes Detail
klärt. Wir können über alles reden. Was mich nur so erstaunt, ist, dass wir im Ausschuss über diese Kritikpunkte gar nicht gesprochen haben. Wo sind denn Ihre
Initiativen, die die Transparenz, die Sie hier zumindest
in der Prosa loben, einfordern? Wir haben nicht den Eindruck, dass Sie wirklich daran arbeiten, Transparenz bei
den Fördermitteln zu schaffen.
({7})
Ich hätte mich gefreut, wenn wir hier zusammen weiter daran gearbeitet hätten, wenn Sie hier nicht nur kritisiert, sondern Ihrerseits Vorschläge gemacht hätten; denn
das sind wir den Menschen in diesem Land schuldig. Die
sollen erfahren, was mit ihren Steuergeldern passiert.
Außerdem wollen wir unsere Arbeit an der Stelle besser
kontrollieren. Ich würde mich freuen, wenn Sie diesen
Gedanken an anderer Stelle noch einmal aufgreifen würden.
In diesem Sinne noch einen schönen Nachmittag!
({8})
Das Wort hat der Kollege Thomas Jurk für die SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Offensichtlich sind wir uns alle einig. Auch wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten unterstützen grundsätzlich Forderungen nach einer
höheren Transparenz bei der Vergabe von Fördermitteln.
Allerdings - das unterscheidet uns, sehr verehrte Frau
Vorrednerin - sehen wir keinen dringenden und erst
recht keinen gesetzgeberischen Handlungsbedarf; denn
die mit Ihrem Antrag verbundene Forderung nach Veröffentlichung von Informationen über die Vergabe von
Fördermitteln ist in wesentlichen Politikbereichen längst
Realität.
({0})
So veröffentlichen die Ministerien für Wirtschaft und
Energie, für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit, für Ernährung und Landwirtschaft, für Verkehr
und digitale Infrastruktur sowie für Bildung und Forschung mit dem Förderkatalog des Bundes im Internet
Informationen über laufende und abgeschlossene Fördervorhaben.
({1})
Dabei handelt es sich - mit wenigen Ausnahmen - um
alle Fördermaßnahmen in den genannten Ressorts, die
über das Projektinformationssystem „profi“ administriert werden. Um mit Zahlen zu argumentieren: Allein
im Geschäftsbereich des Bundeswirtschaftsministeriums
werden knapp 27 000 Vorhaben - davon rund 4 500 laufende - aufgeführt. Allein diese Zahlen machen doch
deutlich, was bereits verfügbar ist.
Das Bundeswirtschaftsministerium plant zudem, die
Transparenz bei der Fördermittelvergabe dadurch weiter
zu erhöhen, dass mittelfristig weitere Fördermaßnahmen
im Förderkatalog des Bundes veröffentlicht werden.
Außerdem stehen mit der Förderdatenbank des Bundes die von Ihnen geforderten Informationen über die
Förderprogramme für die Öffentlichkeit, aber auch für
interessierte Abgeordnete bereits zur Verfügung.
Ebenso erfolgt die unter Ziffer 4 Ihres Antrags geforderte „Vorabinformation der Fördermittelempfängerinnen und -empfänger über die Veröffentlichung“ in der
Regel schon jetzt. Das geschieht nämlich entweder
durch die Förderrichtlinie an sich oder durch den jeweiligen Zuwendungsbescheid.
Zudem erlaube ich mir an dieser Stelle den dezenten
Hinweis auf das Informationsfreiheitsgesetz, das wohl
jedem Bürger das Recht einräumt, Zugang zu amtlichen
Informationen - auch von Bundesbehörden - zu erlangen.
({2})
Dass der Antrag der Grünen, sehr verehrte Damen
und Herren, im Detail wenig durchdacht ist, zeigt sich
auch an einer anderen Stelle. So soll - ich zitiere - „die
öffentliche Hand“ gesetzlich verpflichtet werden, Informationen über Förderleitlinien und die Empfänger von
Fördermitteln zu veröffentlichen. In der Begründung Ihres Antrages nehmen Sie jedoch nur auf den Bund Bezug. Ihnen ist offensichtlich selbst nicht klar, was Sie
wollen. Soll denn nur der Bund oder sollen auch die
Länder und Gemeinden sowie die Anstalten und Körperschaften des öffentlichen Rechts dazu verpflichtet werden?
Ich vermisse in Ihrem Antrag - die Debattenredner
haben bereits darauf hingewiesen - Finanzierungsvorschläge für die von Ihnen angedachten gesetzlichen Regelungen. Hat sich bei Ihnen eigentlich schon jemand
einmal darüber Gedanken gemacht, wie aufwendig die
von Ihnen geforderte Ausnahmeprüfung bei der Veröffentlichungspflicht in Fällen ist, in denen es - ich zitiere
aus dem Antrag - „durch die Veröffentlichung zu Rückschlüssen auf Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse kommen kann“? - Der Kollege von den Linken hat darauf
hingewiesen, dass man so etwas wie eine Einzelfallprüfung vornehmen könne. Entschuldigung! Der Einzelfall
muss doch aber erst einmal definiert werden. Das heißt,
dass alle Anträge geprüft werden müssen,
({3})
um den Einzelfall herauszufiltern, der dann wieder herausgenommen wird. Schönen Dank auch! Das ist Bürokratie pur.
({4})
- Schönen Dank, dass Sie es verstanden haben!
Oder haben Sie sich schon einmal Gedanken darüber
gemacht, welche Kosten es verursacht, wenn in jedem Einzelfall - ich zitiere erneut aus dem Antrag der Grünen „eine Abwägung zwischen dem Transparenzinteresse der
Öffentlichkeit und dem Schutz personenbezogener Daten
der Fördermittelempfängerinnen und -empfänger erfolgen“ soll, indem - jetzt kommt es - „die Erforderlichkeit
der Veröffentlichung nach Bezugsdauer, Häufigkeit sowie Art und Umfang der Zuwendung geprüft wird“? ({5})
Ich hoffe, Sie konnten Ihrem eigenen Text jetzt noch folgen, Frau Andreae.
({6})
Klar ist jedenfalls, dass Sie, ob Sie es nun wollen oder
nicht, ein unfinanzierbares Bürokratiemonster schaffen.
Das Gegenteil von gut ist bekanntermaßen gut gemeint.
Frau Kollegin Andreae, ich habe interessiert zur Kenntnis genommen, dass Sie in der von Ihnen in der letzten
Debatte zu Protokoll gegebenen Rede darauf hingewiesen haben, dass insbesondere die neuen Regelungen, die
Sie uns per Antrag hier unterjubeln wollen, Ihnen die
Chance zu neuen Möglichkeiten der Haushaltskontrolle
einräumen.
({7})
Da muss ich Sie wirklich fragen, ob Sie sich und Ihrer
Arbeit ein Armutszeugnis ausstellen wollen.
Hinter Ihnen sitzt Frau Kollegin Hajduk. Wir sind gemeinsam Berichterstatter zum Einzelplan 09, Bundesministerium für Wirtschaft und Energie. Frau Kollegin
Hajduk, geben Sie mir recht, dass das Ministerium tatsächlich bemüht ist, auf Ihre Anfragen sehr transparent
und offen zu antworten, dass also für unsere Arbeit als
Abgeordnete noch andere Möglichkeiten bestehen, Informationen zu erlangen und unserem grundgesetzlichen
Auftrag gerecht zu werden, im Interesse der Bürgerinnen
und Bürger nachzuvollziehen, was die Verwaltung gerade treibt oder nicht? - Nun gut, Frau Hajduk widerspricht mir gerade nicht. Also stelle ich fest, dass das im
Hinblick auf das BMWi durchaus der Fall ist.
({8})
Kollege Jurk, sie hat sich aber auch nicht gemeldet,
um Ihre Redezeit zu verlängern. Deshalb muss ich Sie
jetzt darauf aufmerksam machen, dass Sie zum Schluss
kommen müssen.
({0})
Frau Präsidentin, ich hatte genau das jetzt erwartet.
Ich freue mich, dass sie es nicht getan hat, weil sie mich
gerade bestätigt hat.
({0})
Zusammenfassend möchte ich feststellen, dass der
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen überflüssig,
unausgegoren und unfinanzierbar ist. Deshalb werden
wir diesem Antrag nicht zustimmen.
({1})
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun der Kollege
Hansjörg Durz.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Wenn man die Reden in dieser Debatte verfolgt, dann
wird deutlich, dass wirklich alle das gleiche Ziel verfolgen, nämlich dass insbesondere dann, wenn Steuergelder
für Fördermittel eingesetzt werden, größtmögliche Transparenz sichergestellt sein muss, dass die politischen Entscheidungsprozesse transparent gemacht werden müssen
und dass die Verwendung von finanziellen Mitteln für
die Bürgerinnen und Bürger nachvollziehbar sein muss.
Wenn man den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen
liest, könnte man den Eindruck gewinnen, dass es in
Deutschland mit der Transparenz bei Fördermitteln nicht
sehr weit her ist. Dem ist aber nicht so; vielmehr ist genau das Gegenteil der Fall. Wir haben im Rahmen der
Debatte eine ganze Reihe von Möglichkeiten gehört, wie
man sich informieren kann,
({0})
wie nicht nur wir als Abgeordnete uns informieren können - auch über die Verteilung -, sondern wie auch die
Bürgerinnen und Bürger sich genauer informieren können. Ich will die eine Maßnahme noch einmal herausstellen: 110 000 bereits abgeschlossene und noch laufende
Vorhaben der Projektförderung sind im Förderkatalog
des Bundes nachzulesen. Da kann man genau sehen, wer
gefördert wird, wer fördert, was gefördert wird, wie
lange gefördert wird und wie viel gefördert wird. Es gibt
also sehr detaillierte Informationen.
In Ihrem Antrag beschreiben Sie aber auch einen ersten Konflikt im Zusammenhang mit Transparenz. Ich zitiere:
Um einen ausreichenden Schutz der Grundrechte
und der personenbezogenen Daten zu gewährleisten, muss sorgsam zwischen dem Transparenzinteresse der Öffentlichkeit und dem Schutz personenbezogener Daten von Fördermittelempfängerinnen
und -empfängern abgewogen werden.
Sie weisen also darauf hin, dass Transparenz auch
Grenzen hat und dass zwischen Transparenz und dem
Schutz personenbezogener Daten abgewogen werden
muss.
({1})
Ich möchte auf einen zweiten Konflikt hinweisen, ein
zweites Themenfeld, in dem es auch abzuwägen gilt. Sie
orientieren sich in Ihrem Antrag - Sie erwähnen das an
mehreren Stellen - am EU-Agrarfonds. Bei diesen EUAgrarfördermitteln geht es ganz konkret um Direktzahlungen, um sogenannte Betriebsprämien, die unabhängig
von Art und Umfang der landwirtschaftlichen Produktion gewährt werden, die einerseits an ganz konkrete
Auflagen gebunden sind, andererseits aber vor allem einen klaren Maßstab haben, nämlich die Fläche. Hier sind
die Richtlinien klar, hier ist der Maßstab klar, hier kann
auch miteinander verglichen werden.
Aber wie ist der Maßstab zum Beispiel bei der Förderung von Innovationen? Abstrakt gesehen klingt „Herstellung von Transparenz“ immer sehr einleuchtend.
Wenn es aber konkret wird, wird es etwas schwieriger.
Betrachten wir zum Beispiel ganz konkret das Zentrale
Innovationsprogramm Mittelstand, ZIM, das von allen
hier positiv gesehen wird. Das ist ein Programm zur Förderung von Forschung, Entwicklung und Innovation,
insbesondere für kleine und mittelständische Unternehmen. Der größte Teil der Antragsteller beschäftigt 10 bis
49 Mitarbeiter. Die Förderung über ZIM ist sehr heterogen. Es werden sehr viele verschiedene Technologiefelder unterstützt.
Es gibt natürlich klare Förderrichtlinien, nicht aber
den einen Maßstab, mit dem die einzelnen Empfänger
der Förderung verglichen werden können. Es findet eine
regelmäßige Evaluation statt, die den Erfolg und den
sinnvollen Einsatz der Mittel belegt. Der Bericht darüber
wird auch regelmäßig veröffentlicht. Bei der Evaluation,
aber auch bei der Befragung der Unternehmen und der
Projektträger kommt auf die Frage, warum denn ZIM so
erfolgreich ist, stets die Antwort, dass es unbürokratisch
in der Antragstellung, aber auch in der Abwicklung ist.
({2})
Sollte man hier noch mehr Transparenz schaffen wollen, so ist zusätzlicher bürokratischer Aufwand zwingend erforderlich - für die Projektträger, aber eben auch
für die KMU.
({3})
Somit wäre genau ein entscheidender Faktor, ein Erfolgsfaktor von ZIM, nämlich das Unbürokratische, zunichtegemacht.
({4})
Das Pendant zu ZIM auf EU-Ebene ist das Technologieförderprogramm Horizon 2020. Dieses Programm
wird seitens der Unternehmen und der Projektträger wegen der Amtshürden und vor allem wegen des bürokratischen Aufwands kritisiert. Es wird von deutschen Unternehmen sehr wenig in Anspruch genommen, wenn
überhaupt, dann eher von größeren und nicht von KMU,
eben wegen dieses bürokratischen Aufwands.
Das Augenmerk sollte unseres Erachtens viel eher darauf gelegt werden, wie wir es schaffen, mehr Informationen für die Unternehmen bereitzustellen und damit
mehr Licht ins Dickicht der Förderlandschaft von Bund,
Ländern und EU zu bringen. Hier brauchen wir eine
Transparenzoffensive. Wir wollen mehr Informationen
über die Chancen und Möglichkeiten der Programme für
die Unternehmen. Wir wollen, dass sich noch mehr
kleine und mittelständische Unternehmen auf den Weg
machen, um Innovationen anzugehen und umzusetzen.
Das bedeutet zusammenfassend: Transparenz, Fördermitteltransparenz - ja, aber mit Maß und Ziel. Wir sind
der Auffassung, dass die richtige Balance zwischen
Transparenz und bürokratischem Aufwand gegeben sein
muss, und lehnen daher den Antrag der Grünen ab.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und ein schönes Wochenende.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Energie
zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit
dem Titel „Fördermitteltransparenz erhöhen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/1676, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/980 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke
angenommen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 15. Oktober 2014, 13 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen noch
einen erholsamen Nachmittag, wenn das möglich ist.