Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie herzlich zu unserer Plenarsitzung.
Bevor wir in die heutige Tagesordnung eintreten,
möchte ich der Kollegin Hilde Mattheis mit allen guten
Wünschen für die nächsten Jahre nachträglich zu ihrem
60. Geburtstag gratulieren.
({0})
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Reaktion der Bundesregierung auf den Rüstungsbericht und die schwierige Situation des
Beschaffungswesens der Bundeswehr
({1})
ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten
Verfahren
({2})
a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über
Maßnahmen im Bauplanungsrecht zur
Erleichterung der Unterbringung von
Flüchtlingen
Drucksache 18/2752
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit ({3})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Sylvia Kotting-Uhl, Oliver Krischer, Kai
Gehring, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kein Atommüll-Export aus dem Reaktor
AVR Jülich in die USA
Drucksache 18/2624
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({4})
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Franziska Brantner, Katja Dörner, Kai
Gehring, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Echte Wahlfreiheit schaffen - Elterngeld
flexibler gestalten
Drucksache 18/2749
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({5})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsauschuss
ZP 3 Weitere abschließende Beratung ohne Aussprache
({6})
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz ({7})
zu dem Streitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvE 5/12 und damit zusammenhängenden Verfahren
Drucksache 18/2773
ZP 4 Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Luise
Amtsberg, Kerstin Andreae, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Aufhebung des Asylbewerberleistungsgesetzes
Drucksache 18/2736
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({8})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Präsident Dr. Norbert Lammert
ZP 5 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({9})
zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe Kekeritz,
Friedrich Ostendorff, Claudia Roth ({10}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Weltagrarbericht jetzt unterzeichnen
Drucksachen 18/979, 18/1788
ZP 6 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({11})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Jan Korte,
Dr. Petra Sitte, Halina Wawzyniak, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Gesetzliche Karenzzeit für ausgeschiedene Regierungsmitglieder einführen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Britta
Haßelmann, Luise Amtsberg, Volker Beck
({12}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Karenzzeit für ausscheidende Regierungsmitglieder
Drucksachen 18/285, 18/292, 18/2762
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Der Tagesordnungspunkt 9 wird abgesetzt. Die Tagesordnungspunkte der Koalitionsfraktionen rücken entsprechend vor. Der Tagesordnungspunkt 16 wird ebenfalls abgesetzt und stattdessen die Beschlussempfehlung
des Innenausschusses auf der Drucksache 18/2762 zu
den Anträgen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/
Die Grünen zur Einführung einer Karenzzeit für ausscheidende Regierungsmitglieder aufgerufen.
Darüber hinaus mache ich Sie noch auf eine nachträgliche Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der am 11. September 2014 ({13}) überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft ({14}) zur Mitberatung überwiesen werden:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes
zur Änderung des Gesetzes zur Errichtung eines Sondervermögens „Energie- und Klimafonds“
Drucksache 18/2443
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsauschuss ({15})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ich frage Sie, ob Sie mit diesen vorgetragenen Veränderungen einverstanden sind. - Das ist offensichtlich der
Fall. Dann können wir so verfahren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute vor einem
Vierteljahrhundert, am 9. Oktober 1989, zogen in Leipzig 70 000 Menschen nach einem Friedensgebet in der
Nikolaikirche über den Innenstadtring - eine machtvolle
Demonstration für Freiheit, Selbstbestimmung und Demokratie gegen die SED-Diktatur. Es war nicht die erste
der großen Massenkundgebungen, die schließlich zum
Mauerfall und zum Ende der DDR führten. Doch an diesem Abend wurde der berühmte Punkt erreicht, von dem
aus es kein Zurück mehr gab. Es war das doppelte Wunder von Leipzig: die disziplinierte Friedfertigkeit und
Gewaltlosigkeit der Demonstranten, aber auch die Einsicht der örtlichen Funktionäre, der unwiderstehlichen
Kraft von Zehntausenden Menschen mit Kerzen in den
Händen, auch entgegen den Anweisungen aus Berlin,
nicht mit Waffengewalt zu begegnen. Dieser 9. Oktober
1989 gehört zu den großen, glücklichen Tagen der jüngeren deutschen Geschichte. Wir sind allen dankbar, die
damals viel riskiert haben, als sie es wagten, für Demokratie, Freiheit und Bürgerrechte auf die Straße zu gehen.
({16})
Unsere Gedanken sind in diesen Tagen bei den Menschen in Hongkong und anderswo auf der Welt, die
25 Jahre nach Leipzig wieder mit großem persönlichen
Mut und Risiko für ihre Rechte, für ihre Freiheit, für
Selbstbestimmung und Demokratie eintreten. Ihnen gelten unser Respekt und unsere Unterstützung.
({17})
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünfundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes ({18})
Drucksache 18/2663
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({19})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsauschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Zwanzigster Bericht nach § 35 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes zur Überprüfung der Bedarfssätze, Freibeträge sowie
Vomhundertsätze und Höchstbeträge nach
§ 21 Absatz 2
Drucksache 18/460
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({20})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsauschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai
Gehring, Ekin Deligöz, Katja Dörner, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Präsident Dr. Norbert Lammert
Sofort besser fördern - BAföG-Reform überarbeiten und vorziehen
Drucksache 18/2745
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({21})
Haushaltsauschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. - Auch dazu
stelle ich Einvernehmen fest.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Bundesministerin Frau Professor Wanka.
({22})
Herr Präsident! Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie
zu Beginn dieser Sitzung an den 9. Oktober 1989 erinnert haben. Das ist für mich der wichtigste Tag, wichtiger als der 9. November. Es ist ein Tag, an dem man sich
immer wieder freut. Ich erinnere mich nicht nur sehr
gerne daran, sondern mir ist es egal, wie wir heute diskutieren. Ich rege mich gar nicht auf - vielleicht -,
({0})
weil ich mich freue, dass wir hier diskutieren können
und demokratische Verhältnisse haben. Wahrscheinlich
kann nur jemand, der jahrelang nicht in einer Demokratie gelebt hat, ermessen, wie wichtig sie ist und wie sehr
man sich - aus Ihrer Sicht vielleicht naiv - darüber
freuen kann.
({1})
Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren, es wurde in Deutschland noch nie so viel Geld für
Bildung und Forschung ausgegeben wie heute. Das geht
so weiter. Für den Bund kann ich sagen, dass wir in den
nächsten Jahren dieser Legislaturperiode eine Steigerung
des Etats des BMBF um noch einmal 25 Prozent haben
werden. Wir alle wissen, wie schwierig diese Steigerung
angesichts der Haushaltssituation des Bundes - ich
nenne die Stichworte „Konsolidierung“ und „schwarze
Null“ - war. Wir haben also nicht viel oder sogar zu viel
Geld. Deshalb haben wir schon im Koalitionsvertrag mit
zusätzlichen 9 Milliarden Euro für Bildung und Forschung eindeutige Prioritäten gesetzt. Diese Investitionen lohnen sich doppelt: Sie lohnen sich für die Lebenschancen jedes Einzelnen, egal ob er Schüler, Lehrer,
Studierender oder Forscher ist, sie lohnen sich aber auch
für die Volkswirtschaft; denn sie sind der Schlüssel für
Wohlstand und Lebensqualität. Das wünschen wir uns
für die nächsten Jahre und Jahrzehnte.
({2})
Ich glaube, dass das 25. Gesetz zur Änderung des
BAföG-Gesetzes, dessen Entwurf wir heute vorlegen,
ein gutes Gesetz ist. Dieses Gesetz gibt es seit über
40 Jahren - über die Historie haben wir schon mehrfach
gesprochen -, und es hat mittlerweile Millionen jungen
Frauen und jungen Männern ein Studium ermöglicht.
Schauen wir uns einmal die Zahlen an: Letztes Jahr erhielten im Jahresdurchschnitt - immer gerechnet auf das
volle Jahr und nicht darauf, dass jemand 14 Tage oder
zwei Monate BAföG bezieht - 620 000 Frauen und
Männer BAföG. Dies ist eine wirkliche Größenordnung.
({3})
Wir können stolz darauf sein, dass wir in Deutschland
ein solches Förderungssystem haben und die Finanzierung eines Studiums nicht einfach den Eltern oder den
betreffenden Studierenden überlassen. Man muss sich
immer über die Tatsache im Klaren sein, dass wir mit
dieser BAföG-Novelle noch einmal Hunderte von Millionen Euro Jahr für Jahr zusätzlich ausgeben. Das bringt
uns in den Bildungsstatistiken der OECD gar nichts. Es
wird nicht als Ausgabe für Bildung gerechnet. Wenn hingegen beispielsweise in Großbritannien die Studienbeiträge erhöht werden, dann erhöht es die Bildungsausgaben in Großbritannien.
({4})
- OECD. Ich sage es an dieser Stelle. Wir sind uns hier
einig.
Das BAföG wird als Sozialausgabe gewertet, geht
aber wesentlich darüber hinaus. Diese Ausbildungsförderung wollen wir nachhaltig sichern. Mir war es von
Anfang an ein ganz wichtiges Anliegen, in dieser Legislaturperiode eine BAföG-Reform zu erreichen, die substanziell und strukturell ist. Mit diesem Gesetz sind ganz
wichtige Weichenstellungen verbunden. An erster Stelle
steht - das ist grundlegend -, dass ab 1. Januar 2015 der
Bund die Kosten für das BAföG zu 100 Prozent trägt.
Das sind rund 1,2 Milliarden Euro. Das ist kein Pappenstiel. Das ist eine wirklich beträchtliche Größenordnung.
({5})
- Zuhören, Herr Gehring. - Damit erhalten die Länder
ab 1. Januar Geld in dieser Größenordnung,
({6})
um es - das steht im Gesetz - für Bildungsausgaben, insbesondere für Hochschulen, auszugeben. Damit haben
wir etwas, was wir die letzten 10, 15 Jahre nicht hatten:
Wir haben eine dauerhafte Lösung. Es werden jetzt dauerhaft Mittel für die entsprechenden Aufgaben zur Verfügung gestellt, mit denen zum Beispiel Stellen für den
wissenschaftlichen Nachwuchs an Hochschulen, für Professoren oder für Schulsozialarbeiter geschaffen werden
können. Die Mittel sind vorhanden und können ab dem
1. Januar unkompliziert abgerufen werden.
({7})
Wir erhöhen vonseiten des Bundes unsere Ausgaben
also nicht erst ab 2016, sondern ab 1. Januar des nächsten Jahres. Das ist unsere Leistung.
({8})
Im Bundeshaushalt ist für die inhaltliche BAföG-Novelle, die 2016 in Kraft tritt, ein Volumen von 500 Millionen Euro jährlich eingestellt. Rechnet man die KfWMittel dazu, dann sind wir bei 825 Millionen Euro. Der
Bund legt also für die Belange der Studierenden Jahr für
Jahr eine Dreiviertelmilliarde drauf. Damit werden wir
unserem Anspruch, für substanzielle und strukturelle
Verbesserungen für die Studierenden zu sorgen, gerecht.
Mir kam es besonders darauf an, dass wir den Kreis
derjenigen, die BAföG erhalten - das wird anhand des
Verdienstes der Eltern berechnet -, erweitern. Seit vielen
Jahren ist die Situation so: Wenn ein Studierender
BAföG bezieht, dann bekommt er darüber hinaus viele
Vergünstigungen, zum Beispiel die Befreiung von den
Rundfunkgebühren usw. Diejenigen, die kein BAföG erhalten, weil ihre Eltern ein bisschen zu viel verdienen,
können solche Vergünstigungen nicht in Anspruch nehmen. Deswegen war es ein ganz wichtiges Element, den
Kreis derjenigen, die BAföG-berechtigt sind, zu erweitern.
Wir haben die Freibetragsgrenze um 7 Prozent erhöht,
das erreicht nicht nur Geringverdiener. 2012 betrug der
durchschnittliche monatliche Bruttoverdienst einer Familie in Deutschland 4 000 Euro. Die BAföG-Novelle
führt dazu, dass die Grenze für die BAföG-Berechtigung
bei 5 390 Euro brutto liegen wird. Gerade den jungen
Menschen aus Familien mit mittlerem Einkommen wird
dadurch in starkem Maße entgegengekommen.
({9})
Der Kreis derer, die BAföG-berechtigt sind, wird um
110 000 erhöht.
({10})
Dabei geht es um junge Menschen, die wirklich ein ganzes Jahr lang BAföG bekommen.
Herr Gehring, ich habe Sie heute früh im Radio gehört. Ich muss sagen: Sie haben da etwas ganz Falsches
erzählt.
({11})
- Ja, es ist nicht vorstellbar, war aber so. - Herr Gehring
sagte heute früh: „60 000 fallen dann raus, das hat mir
sogar das Ministerium bestätigt.“ - Gucken Sie sich mal
unseren Gesetzentwurf an, das steht da nicht drin.
({12})
Sie haben aufgrund der Prozentangaben versucht, zu
rechnen, und Sie haben falsch gerechnet.
({13})
Es gibt eine Drucksache. Jeder kann das nachlesen.
({14})
Wir brauchen uns also nicht gegenseitig etwas zuzurufen.
Wir haben in vielen Bereichen Anpassungen vorgenommen. Die Bedarfssätze für die Studierenden steigen
um 7 Prozent. Wir erhöhen den Wohnzuschlag auf
250 Euro. Das heißt, für diejenigen Studierenden, die die
maximale Förderung erreichen und auswärts wohnen,
erhöht sich der Betrag, den sie erhalten, um 9,7 Prozent,
also um fast 10 Prozent. Das ist eine gute Größenordnung. Gemessen an anderen sozialen Leistungen ist das
wirklich beträchtlich.
Bisher war der Kinderbetreuungszuschlag gestaffelt:
113 Euro für das erste Kind, 85 Euro für das zweite. Nun
wird er einheitlich angehoben. Es spielt keine Rolle
mehr, ob man ein, zwei oder mehr Kinder hat. So lassen
sich Elternschaft und Studium besser miteinander verbinden.
Wir haben die Hinzuverdienstgrenze für die BAföGEmpfänger erhöht. So erhalten die Studierenden die
Möglichkeit, die Änderungen im Sozialversicherungsrecht voll zu nutzen. Wir haben den Vermögensfreibetrag erhöht. Ein Auto wird also beispielsweise in der Regel nicht mehr angerechnet.
Wir haben die Förderungslücke, die sich in der Zeit
zwischen Bachelor und Master ergab, weitgehend geschlossen. Das haben die Studierenden schon lange gewollt; denn die bisherige Regelung hat die Studierenden
hart getroffen. Das war den Studierenden wichtiger als
die Erhöhung von Bedarfssätzen.
({15})
Wir haben auch die Internationalität des BAföG
weiter gestärkt. Das betrifft die Ausweitung der Förderungsberechtigung sowohl auf Auszubildende im europäischen Ausland als auch auf nichtdeutsche Auszubildende.
Ein Punkt ist mir besonders wichtig; diesbezüglich
bin ich dem Innenminister, Herrn de Maizière, sehr verbunden: Ich bin sehr froh - das war unser gemeinsamer
Wunsch -, dass wir uns darauf verständigen könnten,
dass diejenigen, die geduldet bei uns leben oder über einen humanitären Aufenthaltstitel verfügen, nicht, wie
bisher, eine Vierjahresfrist abwarten müssen, ehe sie
BAföG-berechtigt sind, sofern sie in diese Richtung gehen wollen, sondern bereits nach 15 Monaten BAföGberechtigt sein werden.
({16})
Die Abschlagszahlungen werden erhöht. Auch das ist
wichtig; denn manchmal dauert es eine Weile, bis über
die genaue BAföG-Höhe entschieden wird.
Der Gesetzentwurf sieht vor, dass die Länder ab dem
1. August 2016 sicherstellen, dass flächendeckend eine
elektronische Antragstellung möglich ist.
({17})
Es ist doch ein Witz, wenn gerade Studierende, die alles
digital erledigen, ihren BAföG-Antrag nicht elektronisch
stellen können. Dies wird ab 2016 möglich sein, und
auch das ist für die Studenten sehr wichtig.
Uns liegt ein Antrag von Bündnis 90/Die Grünen vor.
In diesem Antrag attestieren Sie uns - ich zitiere -, dass
wir „begrüßenswerte Schritte“ in den „zentralen Aspekten“ des BAföG unternommen haben. Aber
({18})
dann kommt es: mehr Forderungen.
({19})
Natürlich fordern Sie eine stärkere Erhöhung der Fördersätze für alle; darüber brauchen wir gar nicht zu diskutieren. Sie fordern eine Vollfinanzierung, wollen den
Kreis der Berechtigten ausweiten etc.
({20})
Das heißt, wir finden eine, wie ich finde, ein bisschen
lieblose Aneinanderreihung von Forderungen vor. Sie
sagen, was man alles noch hätte zahlen können. Besonders traurig finde ich, dass der Antrag keinerlei Konkretisierung enthält. Wie stellt man sich das vor? Was
wünscht man sich anders?
({21})
Es gibt also keine seriöse Konkretisierung dessen, was
man beabsichtigt. Diese zwei Seiten münden in einen
Prüfauftrag an die Bundesregierung - ich zitiere -: Die
Bundesregierung wird aufgefordert, „Vorschläge zu unterbreiten, wie das BAföG überarbeitet werden“ kann.
Das ist die Quintessenz des Antrags der Grünen. Genau
diese Vorschläge haben wir vorgelegt.
({22})
Opposition kann man unterschiedlich auffassen:
({23})
Man kann versuchen, konstruktiv mitzugestalten, oder
man mäkelt als Opposition und summiert einfach Forderungen und Wünsche. Dass die Grünen Letzteres tun,
finde ich ein bisschen schade. Ich glaube, Sie können es
besser.
({24})
Das ist ein Riesenpaket. Insgesamt geht es um fast
2 Milliarden Euro ab 2016, Übernahme der BAföG-Kosten plus Novelle. Ein Paket in einer solchen Größenordnung gab es überhaupt noch nicht. Dazu wird aber gesagt - das werden wir in den nachfolgenden Reden
hören -: Ja, mit der BAföG-Reform werden die richtigen
Schritte unternommen, aber schlimm ist, dass das nicht
schon 2015 in Kraft tritt, sondern erst 2016. Diese Forderung ist total verständlich. Das fordert jeder Studierende, und das fordern die Eltern der Studierenden; das
ist doch klar. Es gibt etwas Schönes - sehr viel mehr
Geld und Unterstützung für mehr Studierende -, da
wünscht man sich das doch so schnell als möglich, am
besten übermorgen.
({25})
Das können Sie als Grüne aber nicht einfach so sagen.
Das kann sich jeder wünschen; das ist klar. Aber Sie als
Grüne können das nicht so sagen; denn Sie sind mittlerweile in sieben Landesregierungen. Ihr Pech!
({26})
Sie sind Teil dieser Landesregierungen. Die Regierungen dieser Bundesländer haben der BAföG-Novelle jahrelang nicht zugestimmt. Sie haben es abgelehnt, dass
wir das BAföG überarbeiten.
({27})
- Ich war dabei. - Deswegen ist diese Forderung, wenn
die Grünen sie stellen - ich meine nicht aus Sicht der
Studierenden -, eine populistische Forderung.
Meine Damen und Herren, Sie könnten jetzt sagen:
Okay, wir machen das ab 2015. Wir haben diese
825 Millionen Euro ab 2015. Falls die Bundesländer sagen: „Okay, der Bund soll das BAföG erst ab dem 1. Juli
nächsten Jahres zu 100 Prozent übernehmen“, könnte
man das machen. Aber Politik beginnt beim Betrachten
der Wirklichkeit.
({28})
Wir haben uns mit den Länden verständigt. Wir haben
eine Win-win-Situation. Deswegen haben wir in der Koalition gesagt: Wir akzeptieren das so. Das ist gut für die
Bundesländer, und das ist gut für die Studierenden. Wir
starten die Novelle einvernehmlich im Jahr 2016.
Zusammenfassend kann man sagen, dass wir mit der
dauerhaften und vollen Übernahme des BAföG durch
den Bund, glaube ich, in der langen Geschichte des
BAföG ein Zeichen setzen, dass dieses Reformpaket ein
beispielloses Volumen hat, dass wir die Ausbildungsförderung dadurch dezidiert weiter stärken, dass wir verlässlich sind und dass wir viel für Bildungsgerechtigkeit
in der Bundesrepublik Deutschland tun. Ich glaube, der
vorgelegte Gesetzentwurf ist so gestaltet, dass Sie mit
gutem Gewissen zustimmen können.
Danke.
({29})
Das Wort erhält nun die Kollegin Nicole Gohlke für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Tausende
Studierende warten auf eine BAföG-Erhöhung. Tausende warten darauf, endlich BAföG zu beziehen, oder
warten und hoffen, dass sie nicht aus der Förderung herausfallen. Tausende warten darauf, dass sie die Mieten
in den Unistädten besser aufbringen können. Zahllose
Schulen warten darauf, saniert zu werden, Eltern warten
auf Kitaplätze und auf Ganztagsschulen, und Lehrerinnen und Lehrer warten auf kleinere Klassen.
Was macht die Große Koalition? Statt eine schnelle
und unkomplizierte Lösung zu finden, feilt sie an einem
Deal aus BAföG-Novellierung und Neuregelung des Kooperationsverbots und löst am Ende keines der beiden
Probleme. Die Studierenden warten jetzt noch einmal
zwei Jahre, bis die BAföG-Erhöhung endlich wirksam
wird. Kein einziges Problem in keinem einzigen Bildungsbereich ist wirklich und grundsätzlich angepackt
und gelöst worden.
({0})
Was die Bundesregierung hier macht, ist gerade einmal eine kleine Begrenzung des Schadens, den sie selbst
angerichtet hat. Vor acht Jahren haben Sie sich als damalige Große Koalition selbst die Steine in den Weg gelegt,
die Sie jetzt daran hindern, aktiv zu werden. Denn seit
der Föderalismusreform von 2006 darf der Bund bei der
Finanzierung von Bildung nicht mehr mithelfen. Bildung wurde damals in die alleinige Zuständigkeit der
Länder übergeben.
({1})
Nur im Wissenschaftsbereich blieb die Möglichkeit,
zeitlich beschränkt einzelne Projekte zu fördern.
Mit der Föderalismusreform II haben Union und SPD
noch eins draufgesetzt auf den Quatsch mit dem Kooperationsverbot. Allein diese Wortschöpfung hätte übrigens eine Nominierung als Unwort des Jahres verdient
gehabt.
({2})
Mit der Föderalismusreform II haben Sie den Wettbewerb noch weiter verschärft. Sie haben nach einem Jahrzehnt Steuersenkungen für Reiche auch noch die Schuldenbremse eingeführt, die den Ländern jetzt die Luft
zum Atmen raubt. Die Folgen dieser Politik kann jeder
ganz genau betrachten: Bildung wird kaputtgespart,
({3})
an Hochschulen werden Fächer und Institute weggestrichen, Mensaessen wird teurer, Wohnheimmieten werden
erhöht, Gebäude verfallen und die Situation des Lehrpersonals wird immer prekärer.
Jetzt liegt hier ein neues Paket vor, durch das Abhilfe
geschaffen werden soll. Der Bund übernimmt die komplette Finanzierung des BAföG, im Gegenzug sollen die
Länder der Lockerung des Kooperationsverbotes zustimmen, und die frei werdenden Mittel, die dadurch entstehen, dass der Bund das BAföG übernimmt, sollen die
Länder in die Hochschulen stecken. Das hat Frau Wanka
gerade ausgeführt. So weit die Planungen der Großen
Koalition.
Man denkt zuerst, dass jetzt zumindest die richtigen
Stellschrauben angepackt wurden. Aber dann schaut
man sich das ganze Konstrukt genauer an und stellt fest,
dass Schwarz-Rot, wenn es hochkommt, die Stellschrauben vielleicht lockert, aber sicherlich nicht wirklich
dreht. Sie weigern sich, an die grundsätzlichen Probleme
heranzugehen. An die strukturellen Fehlkonstruktionen
und an die chronische Unterfinanzierung gehen Sie nicht
ran.
({4})
Das, was die Koalition hier als Meilenstein zu feiern versucht, ist in Wirklichkeit die Fortsetzung einer kurzatmigen und planlosen Politik, leider mit gravierenden Folgen für Schülerinnen und Schüler, für Eltern und für
Studierende. Das ist das Verheerende an der Situation.
({5})
Kommen wir einmal zu den Details: Die Länder sollen jetzt durch die Übernahme der Kosten für das BAföG
durch den Bund mehr Mittel zur Verfügung haben und
diese in die Hochschulen stecken. Aber die Länder setzen die Gelder doch gar nicht so ein, wie es von Ihnen
geplant wurde.
In fast allen Bundesländern, die Angaben zur Verwendung der Gelder gemacht haben, liegen die Beträge, die
jetzt zusätzlich in die Bildung gehen sollen, niedriger,
als es von der Bundesregierung angekündigt wurde. Offensichtlich wird ein Teil der Gelder schlicht dazu verwandt, um die klammen Länderhaushalte zu sanieren.
Darüber hinaus setzen einige Bundesländer selbst andere
Prioritäten als von der Regierung gewollt: Niedersachsen will jetzt die Gelder lieber in den Kitaausbau und
Schleswig-Holstein lieber in die Schulen stecken.
({6})
Jetzt ist der Aufschrei bei den Hochschulen verständlicherweise groß, denn die finanzielle Not ist angesichts
steigender Studierendenzahlen und jahrelanger Unterfinanzierung groß. Der Präsident des Deutschen Hochschulverbandes, Professor Kempen, nannte die Tatsache,
dass die Gelder nun wohl zu einem großen Teil eben
nicht bei den Hochschulen ankommen werden, schlicht
eine „Schweinerei“.
({7})
Ich kann seine Wut verstehen; denn die Koalition hat Erwartungen geweckt, denen sie jetzt gar nicht gerecht
werden kann.
Es ist doch einfach dilettantisch, wenn die Bundesregierung auf meine Nachfrage, welche Ländervertreter eigentlich an dieser Vereinbarung beteiligt waren, antworten muss, dass bis auf den Ersten Bürgermeister von
Hamburg überhaupt keine Ländervertreter mit am Tisch
saßen, sondern dass diese Vereinbarung einzig durch die
Koalitionsspitzen im Bund verabredet wurde. Das muss
man erst mal hinkriegen: eine Vereinbarung mit den
Ländern zu verkünden, an der die Länder nicht beteiligt
waren, und sich dann aber ganz empört zu zeigen, dass
die Länder einfach Dinge anders entscheiden, als die
Große Koalition sich das ausgedacht hatte.
({8})
Aber mal ganz ehrlich: Was ist das eigentlich für eine
traurige Debatte, die wir hier führen müssen? Es ist eine
Debatte, in der sich Bundespolitiker mit Landespolitikern darüber streiten, was wichtiger ist und wohin das
Geld gehen soll: in die frühkindliche Bildung, in die Kitas oder zu den Studierenden in die Unis, in gute Schulen oder in gute Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft. So ein Gegeneinander-Ausspielen von Bildung
ist unerträglich.
({9})
Wie muss eine solche Diskussion bei den Menschen
ankommen? Da rügt der Bund die Länder, weil Geld in
Schulen investiert wird. Da werde ich als Hochschulpolitikerin in Interviews gefragt, wie schlimm ich es
finde, wenn Kitaplätze statt Studienplätze geschaffen
werden. Was ist das für eine Frage!
({10})
Natürlich will man beides: gute Studienbedingungen an
den Unis und gute Bedingungen in den Kitas und Schulen.
({11})
Ich finde es armselig, wie diese Regierung hier eine
Situation konstruiert hat, in der man sich vor lauter
schlecht gemachter Politik entscheiden muss, ob die Bildung der Dreijährigen oder die der 19-Jährigen Vorrang
hat.
({12})
Und dabei wäre die Lösung denkbar einfach: Wenn wir
dieses absurde Verbot, dass Bund und Länder in der Bildung zusammenarbeiten dürfen, endlich komplett abschaffen würden, hätte sich das Problem erledigt.
({13})
Der Bund muss die Möglichkeit haben, Bildung direkt
zu finanzieren. Dann bräuchte es kein Feilschen um
Prioritäten und um Zuständigkeiten, dann bräuchte es
keine Deals, und Frau Wanka müsste im Übrigen nicht
ständig große Ankündigungen machen, für deren Umsetzung sie dann aber gar nicht zuständig ist - der Bund
hätte schlicht und ergreifend Verantwortung.
({14})
Frau Wanka, ich frage mich auch, ob Sie Ihre oft wiederholte Aussage, wie sehr Sie die Länder finanziell entlasten, eigentlich noch selbst glauben. Jetzt ist Ihnen offenbar übers Wochenende der nächste Einfall
gekommen, und Sie fordern, die Länder müssten sich an
den DFG-Programmpauschalen beteiligen, sonst stünde
gar der Hochschulpakt zur Disposition.
({15})
Aber die BAföG-Gelder werden doch nicht mehr, nur
weil man oft über sie redet.
({16})
Was Sie da machen, ist nichts anderes, als die Substanz
der Hochschulen noch weiter anzugreifen und mit den
Perspektiven der jungen Menschen zu spielen.
Was die Bundesregierung hier mit ihrem „Paket“ auf
den Tisch legt, ist am Ende weder eine zufriedenstellende Lösung für das BAföG - angesichts dessen, dass
Sie die Erhöhung einfach mal um zwei Jahre aussitzen,
scheinen Sie die Lebensrealität der Studierenden nicht so
richtig vor Augen zu haben -,
({17})
noch präsentieren Sie hier eine Lösung für die Finanzierung von Bildung insgesamt. Das hätten aber alle, die
Studierenden genauso wie die Schülerinnen und Schüler
und die Kitakinder, verdient.
Vielen Dank.
({18})
Für die SPD-Fraktion hat nun Thomas Oppermann
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich möchte mich zunächst einmal bei Bundesministerin Wanka und bei den Bildungspolitikern der
Koalitionsfraktionen, allen voran Hubertus Heil und
Ernst Dieter Rossmann, dafür bedanken,
({0})
dass es gelungen ist, diesen Gesetzentwurf so zügig zu
beraten. Wir erhöhen heute das BAföG. Wir stärken die
Bildungsfinanzkraft der Länder, und wir lockern das
Kooperationsverbot. Das ist in der deutschen Bildungspolitik ein großer Schritt nach vorne.
({1})
Wenn Sie sich fragen, warum ich als Fraktionsvorsitzender in der ersten Lesung dieses Gesetzentwurfs hier
reden darf, dann gibt es dafür eine Erklärung: Für uns
Sozialdemokraten hat das BAföG eine ganz besondere
Bedeutung: Das BAföG wurde 1971 von der sozial-liberalen Koalition unter Bundeskanzler Willy Brandt eingeführt. Es ist bis heute eines der besten Instrumente, um
jungen Menschen durch Bildung und Leistung den sozialen Aufstieg in einer modernen Gesellschaft zu ermöglichen.
({2})
Generationen von Studierenden haben vom BAföG
Gebrauch gemacht. Rund 4,5 Millionen junge Menschen
wurden bis heute gefördert. Damit wurde das zentrale
Versprechen der sozialen Marktwirtschaft eingelöst,
nämlich dass alle, unabhängig von ihrer Herkunft, die
gleichen Chancen auf Bildung und Ausbildung haben
müssen und darauf, etwas aus ihrem Leben zu machen.
({3})
In diesem Sinne hat das BAföG lange Zeit unglaublich gut funktioniert. Seit gestern kann ich Ihnen dafür
ein ganz prominentes Beispiel nennen: Nach langer Zeit
hat Deutschland wieder einen Nobelpreis gewonnen.
Der Göttinger Physiker und Max-Planck-Forscher
Stefan Hell wurde mit dem Nobelpreis ausgezeichnet:
({4})
für seine bahnbrechenden Forschungen in der Nano-Biophotonik, in der Lichtmikroskopie.
Stefan Hell ist Mitte der 70er-Jahre als 15-Jähriger
aus dem rumänischen Banat nach Deutschland eingewandert. Er musste sich hier erst einmal neu orientieren.
Er hat als Schüler BAföG bekommen. Daran können Sie
sehen, wie weit es BAföG-Empfänger bringen können.
({5})
Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, Professor Hell
auch von hier die besten Glückwünsche zu übermitteln.
Seine Auszeichnung ist eine große Ehre für den gesamten Wissenschaftsstandort Deutschland.
({6})
Dabei war die Wirkung des BAföG keineswegs auf
das Finanzielle beschränkt; denn es gab beim Hochschulzugang nicht nur finanzielle, sondern es gab immer
auch kulturelle Barrieren. In vielen Arbeiter- und Nichtakademikerfamilien wurde es oft nicht als statthaft angesehen, Abitur zu machen oder sich gar auf ein Studium
einzulassen, nach dem Motto: Da gehören wir nicht hin. Das BAföG dagegen hat eine ganz andere Botschaft vermittelt: Ihr seid hier willkommen. Euch wird geholfen,
wenn ihr Hilfe braucht. - Das hat vielen Eltern die Angst
vor einem Studium ihrer Kinder genommen. Das hat vielen jungen Menschen die Tür für eine Hochschulbildung
geöffnet.
({7})
Ich muss sagen: Kaum etwas anderes hat unsere Gesellschaft so positiv verändert wie diese unglaubliche Bildungsexpansion seit den 70er-Jahren.
({8})
Vor der Einführung des BAföG war das Studium nur
ganz wenigen Auserwählten vorbehalten. Ende der 60erJahre hatten wir etwa 300 000 Studierende, die Akademikerquote lag bei 5 Prozent. Damit wäre Deutschland
heute bei weitem nicht mehr wettbewerbsfähig. Aber mit
der Einführung des BAföG hat sich das schnell geändert:
Die Anzahl der Studierenden hat sich innerhalb von zehn
Jahren verdoppelt. Heute haben wir 2,6 Millionen Studierende, so viel wie noch nie zuvor.
Diese gewaltige Bildungsexpansion hat unser Land
ökonomisch und sozial von Grund auf verändert. Sie hat
gut ausgebildete Fachkräfte und kaufkräftige Mittelschichten und den damit verbundenen Wohlstand hervorgebracht. Damit hat das BAföG unsere Gesellschaft
nicht nur sozial gerechter und durchlässiger gemacht,
sondern es hat auch ganz maßgeblich zur Modernisierung unserer Volkswirtschaft beigetragen. Ohne Bundesausbildungsförderung wäre die Entwicklung unseres
Landes zu einer modernen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft so nicht gelungen. Deshalb, meine Damen und Herren, ist es richtig, dass wir diese Erfolgsgeschichte des BAföG jetzt fortschreiben.
({9})
Frau Wanka hat berichtet, was wir tun. Wir erhöhen
die Freibeträge und Bedarfssätze um 7 Prozent. Mich
freut besonders, dass wir dadurch, durch die Erhöhung
der Freibeträge, zusätzlich 100 000 jungen Menschen
die Förderung durch BAföG erlauben. Das ist eine ganz
gezielte Förderung für Kinder aus den Mittelschichten,
die jetzt stärker gefördert werden. Auch beim Meisterund Schüler-BAföG werden die Bedarfssätze angepasst.
Wer über BAföG redet, sollte nicht unerwähnt lassen,
dass fast 150 000 junge Menschen an Berufsschulen mit
BAföG gefördert werden,
({10})
um sich auf ein Fachabitur, ein Wirtschaftsabitur oder
Sonstiges vorzubereiten und möglicherweise dann eine
Ausbildung oder ein Studium zu ergreifen.
Insgesamt ist das die größte BAföG-Anhebung seit
2008. Indem wir den Kreis der Anspruchsberechtigten
erweitern, erhöhen wir für viele die Bildungschancen.
Das ist auch notwendig, meine Damen und Herren; denn
Bildung, Ausbildung, Studium und Weiterbildung sind
nach wie vor der beste Schutz vor Arbeitslosigkeit. Ein
Blick auf den Arbeitsmarkt belegt das. Die Arbeitslosenquote bei Akademikern liegt bei ungefähr 2,5 Prozent.
Das ist praktisch Vollbeschäftigung. Bei Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mit einer Ausbildung liegt
sie bei 5 Prozent, und bei Ungelernten liegt sie bei 19,
20 Prozent. Letzteres muss uns natürlich Sorgen machen.
Fast 1,5 Millionen der 20- bis 30-Jährigen in Deutschland haben keinen Schulabschluss. Sie werden keine
Ausbildung machen können. Die können wir mit BAföG
nicht erreichen; dafür brauchen wir andere Angebote.
Aber wir können heute schon dafür sorgen, dass in Zukunft alle einen Schulabschluss und eine Berufsausbildung machen. Dafür ist diese BAföG-Reform der
erste Schritt. Denn wir beschränken uns nicht auf eine
BAföG-Erhöhung, sondern wir machen eine Reform mit
einem Doppeleffekt.
Erstens bekommen die aktuell geförderten Studierenden mehr Geld, und wir erweitern den Kreis der Geförderten. Aber zweitens entlasten wir die Länder bei den
BAföG-Kosten jährlich um 1,17 Milliarden Euro. Diese
Entlastung durch den Bund führt dazu, dass die Länder
in dieser Legislaturperiode 3,5 Milliarden Euro mehr für
Bildung zur Verfügung haben: für Kitas, Schulen und
Hochschulen. So ist es verabredet, und wir werden genau darauf achten, dass diese frei werdenden Mittel auch
tatsächlich in die Bildung investiert werden.
({11})
Ich hoffe sehr, dass die Länder jeden Cent dieser frei
werdenden Mittel in die Bildung investieren, die frühkindliche Bildung stärken;
({12})
denn die Qualität von Kitas und Grundschulen hat ganz
großen Einfluss darauf, wie sich Sprache, Intelligenz
und Kreativität bei jungen Menschen entwickeln.
({13})
Viel zu lange haben wir für die frühen Stufen des Bildungssystems, wo am stärksten über die Chancen entschieden wird, das wenigste Geld ausgegeben. Das werden wir jetzt ändern, meine Damen und Herren.
({14})
Mit dieser Reform können wir dafür sorgen, dass
junge Menschen, die heute noch weit von BAföG entfernt sind, durch einen guten Schulabschluss an BAföG
herangeführt werden. Erstmals in Deutschland haben wir
genauso viele Studierende wie junge Menschen im dualen System. Aber das bedeutet nicht, dass die Berufsausbildung in Zukunft weniger wichtig wird, ganz im Gegenteil.
({15})
Die ganze Welt beneidet unsere Wirtschaft um ihre
Facharbeiter, für das, was sie heute können, vor allem
aber dafür, was sie morgen können werden bzw. wie entwicklungsfähig sie sind. Das spüren wir gerade in der
sich durch Vernetzung und Digitalisierung rasch verändernden Produktion, Stichwort: Industrie 4.0. Wir brauchen Ingenieure. Aber wir brauchen auch exzellent ausgebildete Facharbeiter und Techniker; das ist wichtig.
({16})
Deshalb werden wir nicht zulassen, dass die berufliche
Bildung und die akademische Bildung gegeneinander
ausgespielt werden.
({17})
Wir werden dafür sorgen, dass auch der Weg über die berufliche Bildung attraktiv bleibt und nicht zu einer Sackgasse wird. Wir haben die Allianz für Aus- und Weiterbildung. Wir werden noch in dieser Legislaturperiode
das Meister-BAföG deutlich reformieren und verbessern.
({18})
Ich bin dafür, dass wir beide Bildungswege gleich
wertschätzen und fördern, weil wir beide brauchen, um
unsere industriellen Vorteile voll zu nutzen und auszubauen. Lassen Sie uns daran arbeiten!
Vielen Dank.
({19})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Kai Gehring für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Koalition ist selbstzufrieden. Die Studierenden, Schüler
und Eltern können es aber nicht sein. Als Arbeiterkind
sage ich sehr klar: Das BAföG ist Chancengerechtigkeits- und Bildungsaufstiegsgesetz. Deswegen hat es
deutlich mehr verdient als das, was Sie als Koalition
heute vorlegen. Herr Oppermann, es ist enttarnend, dass
Sie vor allem über die letzten 40 Jahre referiert haben
und weniger darüber, was die nun anstehende Novelle
bringt.
({0})
Vier Jahre ohne BAföG-Reform haben die Ausbildungsfinanzierung für Studierende und Schüler schlichtweg geschwächt. In Ihrem Koalitionsvertrag haben Sie
als Koalition das BAföG glatt vergessen. Wie peinlich
war das eigentlich? Nun hat die Regierung doch noch er5228
kannt, dass sie beim BAföG nicht untätig bleiben darf.
Mit dieser Fünfundzwanzigsten BAföG-Novelle widmet
sich die Bundesregierung sicherlich vielen Baustellen.
Sie geht diese aber überaus halbherzig an. Alle Änderungen sollen zudem erst in zwei Jahren, also Ende 2016,
greifen. Beides ist enttäuschend.
({1})
Das bedeutet: Weil Sie als SPD und Union nicht zügig
handeln, werden allein in den nächsten beiden Jahren
60 000 junge Menschen aus dem BAföG-Berechtigtenkreis herausrutschen. Frau Wanka, wir Grüne beherrschen die Grundrechenarten und überstehen damit jeden
Faktencheck.
({2})
Die Zahl von 60 000 Studierenden ist noch tief gestapelt;
denn 2011, 2012, 2013 und 2014 gab es keine BAföGReform,
({3})
es gab aber eine Preisentwicklung, eine Inflation, und
eine Einkommensentwicklung. Das heißt, aus dem
BAföG-Berechtigtenkreis sind noch ein paar Tausend
mehr herausgerutscht. Dass die Generationen, die zwischen 2010 und Ende 2016 nicht von einer BAföG-Reform profitieren konnten, also zwölf Semester studiert
haben, ohne dass sich etwas zu ihren Gunsten verändert
hat, Nullrunden verordnet bekommen haben, verletzt
den Grundsatz der Chancengerechtigkeit. Das ist ein
Rückschlag für Studierende und Eltern. Das können wir
nicht hinnehmen.
({4})
Frau Wanka, Sie verordnen der jungen Generation
zwei weitere BAföG-Nullrunden; das muss heute so klar
ausgesprochen werden. Damit verzögern Sie nicht nur
die überfällige soziale Öffnung der Hochschulen. Vielmehr handeln Sie in Zeiten des Fachkräftemangels ökonomisch kurzsichtig. Ihre BAföG-Novelle bringt zu wenig und kommt viel zu spät. Laut Novelle wird der Bund
in rund drei Monaten, ab dem 1. Januar 2015, für das
BAföG allein zuständig sein. Das heißt, Sie als Bundesregierung können sich ab sofort nicht mehr hinter den
Ländern verstecken, sondern können das BAföG im Alleingang ändern. Es gibt deshalb keinen Grund, Studierenden und Schülern weitere Warteschleifen zu verordnen. Statt eines kleinen Wurfs 2016 brauchen diese
sofort ein höheres und besseres BAföG. Sie müssen klotzen statt kleckern.
({5})
Das BAföG soll zum Leben reichen und Studieren finanzieren. Es soll insbesondere diejenigen zum Studium
ermuntern, deren Eltern wenig verdienen, nicht studiert
oder eine Einwanderungsgeschichte haben. Dafür brauchen wir eine Studienfinanzierung, die deutlich höher,
weniger bürokratisch, Bologna- und familiengerechter
ist.
Auch wenn der Regierungsentwurf dazu einige Schritte
enthält, fragen wir uns schon, warum einige wesentliche
Punkte fehlen. Warum erhöhen Sie den Kinderzuschlag
für BAföG-berechtigte Eltern erst in zwei Jahren? Warum ermöglichen Sie keine Teilzeitförderung? Warum
erhöhen Sie die Förderdauer für Studierende, die Angehörige pflegen, nicht? Und warum sperren Sie sich gegen den Grünen-Vorschlag eines Weiterbildungs-BAföG,
anstatt endlich gezielt in das lebenslange Lernen zu investieren?
({6})
Warum halten Sie auch an diesem ungerechten Prestigeprojekt und letztlich Ladenhüter „Deutschlandstipendium“ fest, anstatt auch diese Mittel endlich ins BAföG
zu investieren und etwas für Bildungsaufstieg zu tun?
All diese Punkte könnten Sie doch jetzt in Ihrer Novelle angehen. Es darf nicht sein, dass die junge Generation nach der teuren Rentenreform noch einmal das
Nachsehen hat. Bei der Rente zügig geklotzt und beim
BAföG langsam gekleckert: Das ist weder chancennoch generationengerecht.
({7})
Ich will Ihnen noch zu drei zentralen Punkten etwas
sagen,
({8})
wo wir als Grüne Alternativen zur Regierung vorgelegt
haben; denn wer das BAföG substanziell verbessern
will, muss erstens den Fördersatz für Studierende und
Schüler deutlich steigern sowie auch die Freibeträge
deutlich höher schrauben, damit das Mittelschichtsloch
im BAföG nicht weiter wächst, sondern endlich wieder
die Zahl der BAföG-Berechtigten.
Ich sage es Ihnen noch einmal: Wenn Sie als Koalition in zwei Jahren die BAföG-Sätze um 7 Prozent erhöhen, ignorieren Sie die Preis- und Einkommensentwicklung; dann surfen Sie unter der Inflation durch. Ihre
Erhöhung klingt gut, hält mit der Inflation aber keinesfalls Schritt.
({9})
Das heißt, 2010 war BAföG mehr wert, als es 2016 wert
sein wird. Deswegen beantragen wir: Bedarfssätze und
Freibeträge müssen um 10 Prozent rauf, und zwar zum
nächstmöglichen Zeitpunkt.
({10})
Zweitens. Wir sehen doch, was in den Universitätsstädten los ist, wie schwierig es ist, als Student Wohnraum zu finden. Wir wollen deshalb auch, dass Wohnkosten angemessen erstattet werden. Für 250 Euro, die
Sie hier als Pauschale ansetzen, gibt es in München,
Köln oder Hamburg wohl kaum eine Studentenbude.
Wir wollen die Mietkostenpauschale staffeln und an die
regionalen Durchschnitte anpassen. Die eigene Wohnung ist ein wichtiger Schritt zur Selbstständigkeit, die
gerade für Studierende aus einkommensarmen Elternhäusern leichter zu finanzieren sein muss. Also, auch das
ist dringend verbesserungsbedürftig.
({11})
Drittens. Mich ärgert es seit vielen Jahren, dass immer wieder viele Jahre bzw. mehrere Studierendengenerationen ins Land gehen, bevor sich beim BAföG etwas
tut. Das ist ungerecht und unbefriedigend. Wir fordern
Sie daher auf, im BAföG Indizes für eine dynamische,
regelmäßige und automatische Erhöhung von Fördersätzen und Freibeträgen einzuführen.
({12})
Die SPD wollte das auch, die CDU offensichtlich nicht.
Beim ALG und bei der Rente geht’s, sogar bei den Diäten geht’s; bei den Studierenden nicht. Sorgen Sie endlich für eine automatische Anpassung. Dann ist nämlich
Schluss mit Regierungswillkür. Das bringt mehr Berechenbarkeit und Verlässlichkeit ins BAföG. Deshalb
sollten Sie diesen Schritt jetzt tun.
({13})
Meine Damen und Herren, wir stehen am Anfang der
parlamentarischen Debatte um die Fünfundzwanzigste
BAföG-Novelle, und ich bin am Ende meiner Rede angelangt.
Sehr gute Beobachtung.
Nutzen wir die neuen Freiheiten, die darin bestehen,
dass der Bund ab 2015 das BAföG allein finanziert.
Union und SPD können und müssen sich hier im Hohen
Hause einen Ruck geben und die soziale Öffnung der
Hochschulen forcieren, statt weiter zu verzögern. Eine
echte BAföG-Reform - die geht besser, und die geht
schneller. Das lesen Sie im Grünenantrag. Ich freue mich
auf die weiteren Beratungen.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Stefan Kaufmann für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Wir reden auch dieser Tage
viel über Bildungsgerechtigkeit und Bildungschancen.
Gerade vorhin hatten wir ein interfraktionelles Gespräch
mit der Initiative „ArbeiterKind.de“, die sich zum Ziel
gesetzt hat, den Anteil der Arbeiterkinder unter den Studierenden zu erhöhen. Für all diese Bemühungen gibt es
ein Instrument, ja ein Zauberwort, um das uns viele Staaten beneiden, meine Damen und Herren: BAföG.
Wir haben es gehört: Über 4,5 Millionen junge Menschen, Studierende, Schüler und Meisterschüler, haben
bisher von diesem Gesetz profitiert - eine wahre Erfolgsgeschichte. Ich bin Ihnen, lieber Herr Oppermann,
dankbar, dass Sie in diesem Zusammenhang explizit auf
die Bedeutung der beruflichen Bildung hingewiesen haben, die uns in dieser Koalition auch sehr wichtig ist.
({0})
Heute freue ich mich jedenfalls, dass wir in erster Lesung über unsere große BAföG-Reform debattieren. Dafür haben wir jahrelang gekämpft. Mit der Finanzierungseinigung von Schäuble und Scholz, nicht etwa von
Schulz und Scholz, wie irritierenderweise in der letzten
Haushaltsdebatte gesagt wurde, können wir einen großen Aufschlag für eine Weiterentwicklung des BAföG
machen. Dass dies nicht früher geschah, lieber Kai
Gehring, ist allein auf die Blockadehaltung der Länder
zurückzuführen. In den Ländern sind die Grünen nun
einmal auch an sehr vielen Regierungen beteiligt.
({1})
- Doch, das stimmt. - Das muss einmal gesagt werden.
Die Ministerin hat es gemacht.
({2})
Für meine Partei kann ich sagen, dass dieser große
Aufschlag praktisch unsere sämtlichen Forderungen enthält, Forderungen, die wir im guten Einvernehmen mit
dem Haus in den letzten Jahren bereits eingebracht und
angeregt hatten. Was wird beschlossen? Damit es nun
auch bei der Opposition wirklich ankommt: Eine kräftige Erhöhung der Bedarfssätze um 7 Prozent, für auswärts wohnende Studierende steigt der Höchstsatz sogar
um fast 10 Prozent. Die Freibeträge steigen um 7 Prozent. Damit erhöhen wir den Kreis der Geförderten
- auch das wurde gesagt - um über 110 000 Studierende
und Schülerinnen und Schüler.
Der Wohnzuschlag wird um 27 Euro auf 250 Euro
angehoben. Die Hinzuverdienstgrenze für Minijobber
wird angehoben. Ein Minijob kann künftig wieder bis
zur vollen Höhe von 450 Euro ohne Anrechnung auf das
BAföG ausgeübt werden. Die Vermögensfreibeträge für
die Studierenden werden auf 7 500 Euro angehoben. Die
Kinderbetreuungszuschläge werden vereinheitlicht und
auf 130 Euro für alle Kinder angehoben. Die Förderungslücke zwischen Bachelor- und Masterstudium - das ist
ganz wichtig - wird geschlossen, zum Beispiel indem
wir den Zeitpunkt der Notenbekanntgabe als Studienabschluss definieren. Zudem wird in Umsetzung der
EuGH-Entscheidung die Förderungsfähigkeit für Ausbildungen im Ausland erhöht, und die Vorabzahlungen
bei einer verzögerten Antragsbearbeitung werden auf
80 Prozent des zustehenden Bedarfs erhöht.
Was für mich ganz besonders wichtig war, sind die
Vereinfachungen - Stichwort: Entbürokratisierung -:
weniger Leistungsnachweise und vor allem die elektronische Antragstellung. Dafür habe ich mich persönlich
besonders eingesetzt; denn es sollte im Jahr 2014 möglich sein, dass Anträge nicht nur in Papierform abgegeben werden können. Wie bei einer Steuererklärung auch
sollte zumindest das Angebot einer Onlinebearbeitung
gemacht werden. Das hat im Übrigen viele Vorteile, sowohl für die Studierenden als auch für die Ämter, beispielsweise durch die sofortige Fehlerkorrektur, wenn etwas falsch ausgefüllt wurde.
({3})
Deshalb werden wir alle Länder mit diesem Gesetz
verpflichten, bis zum 1. August 2016 eine elektronische
Antragstellung zu ermöglichen. Dies ist mehr als überfällig. Aus vielen Gesprächen mit Studierenden und von
Besuchen von BAföG-Ämtern weiß ich, wie wichtig gerade diese nichtmonetären Punkte bei der BAföG-Reform sind, die wir in unserer Novelle anpacken. Denn
was nützen 10 Euro mehr im Monat, wenn ich weg von
zu Hause bin und monatelang auf meine erste Überweisung warten muss oder in der Prüfungsphase auf einmal
der BAföG-Anspruch endet?
Zusammenfassend: Diese große BAföG-Reform von
Union und SPD wird zu massiven Verbesserungen für
die Studierenden und bei der Chancengerechtigkeit in
Deutschland führen. Darüber hinaus - auch das haben
wir gehört - wird mit diesem Gesetz der Bund bereits ab
1. Januar 2015 die BAföG-Kosten zu 100 Prozent übernehmen. In dieser Alleinzuständigkeit des Bundes liegt
eine große Chance. Zum einen wird es zukünftig keine
Zustimmungspflicht der Länder und damit eben auch
keine Blockademöglichkeit mehr geben. Der Bund kann
künftig diese wichtigste Säule der Studierendenförderung in Deutschland in Eigenregie weiterentwickeln.
Diese Entflechtung der Zuständigkeiten ist ein enormer
Gewinn und vorbildhaft für so manches verschränkte
Politikfeld in unserer föderalen Ordnung.
Zum anderen liegt die große Chance in der unglaublich hohen Summe, die damit den Ländern ab Januar
nächsten Jahres für den Bildungsbereich zusteht. Wir haben es gehört: 1,17 Milliarden Euro jährlich und das
dauerhaft.
Jetzt können die Länder, die verfassungsrechtlich für
die Bildung zuständig sind, zeigen, wie viel sie tatsächlich für die Bildung an Schulen und Hochschulen übrig
haben.
({4})
Viele Länder, etwa Bremen, Hessen oder Bayern,
wollen die Mittel ja vereinbarungsgemäß für Schulen
und Hochschulen verwenden - und nicht für Kitas, Herr
Oppermann. Andere Länder dagegen liebäugeln mit Kitaförderung oder mit der Haushaltskonsolidierung. Dabei wäre jetzt der ideale Zeitpunkt, dass die Länder endlich die lange stagnierende Grundfinanzierung der
Hochschulen erhöhen. Jetzt haben sie die Möglichkeit,
dem Lamento der letzten Jahre auch Taten folgen zu lassen.
({5})
Mit den frei werdenden Mitteln könnte theoretisch an
jeder Universität und jeder Fachhochschule in Deutschland der Grundetat auf einen Schlag um 5 Prozent erhöht
werden. Alternativ wäre auch eine Länderbeteiligung
oder eine Zusatzfinanzierung der Länder bei der Programmpauschale wünschenswert. Bisher schlagen sich
die Länder hier aber leider in die Büsche, und das geht
nicht, meine Damen und Herren.
({6})
Mit dem Gesetzentwurf, den wir heute in erster Lesung debattieren, werden also hohe Summen für Bildung
frei, und der Ball kommt in das Spielfeld der Länder.
Jetzt sind sie am Zug und können, ja, müssen massive
Verbesserungen für die Schulen und Universitäten in
Deutschland umsetzen. Ich bin gespannt und hoffnungsvoll, was diesen Punkt angeht.
Jetzt noch ein Wort zum BAföG-Antrag der Grünen,
der uns vorliegt. Es ist ja begrüßenswert, dass auch Sie
sich Gedanken über das BAföG machen, liebe Kollegen.
({7})
Aber Ihre Forderungen zeigen wenig Weitsicht. Sie fordern die Trennung der Gesetzgebungsverfahren zum
Fünfundzwanzigsten BAföG-Änderungsgesetz und zur
Verfassungsänderung bei Artikel 91 b Grundgesetz. Warum? Weil Frau Löhrmann von den Grünen in NRW von
einer Erpressung gesprochen hat. Frau Bauer aus BadenWürttemberg sieht das ganz anders; das wissen Sie sehr
gut. Sie begrüßt unseren Gesetzentwurf ausdrücklich.
Mal hü, mal hott, so sind die Grünen derzeit.
({8})
Von einer konstruktiven Opposition sind sie leider weit
entfernt.
({9})
Und immer wieder ihr gebetsmühlenhafter Ruf - Sie
haben es gesagt, lieber Kollege Gehring - nach Einstellung des Deutschlandstipendiums. Fakt ist: Die Zahl der
Stipendien ist im letzten Jahr um 42 Prozent gestiegen.
Mittlerweile gibt es mehr mit einem Deutschlandstipendium geförderte Studierende als von allen Begabtenförderungswerken zusammen geförderte Studierende. Für
mich sprechen diese Zahlen eine eindeutige Sprache,
nämlich die eines erfolgreichen Programms, lieber Kai
Gehring.
({10})
Abschließend möchte ich noch einmal die Gemeinsamkeit mit dem Koalitionspartner betonen. Wir sind
uns sehr schnell über die Reformen einig geworden und
haben hier wirklich eine substanzielle Reform vorgelegt.
Wir zeigen damit, dass wir als Regierungskoalition handeln und umsetzen, so wie es zu Recht erwartet wird.
Bedanken möchte ich mich zuallerletzt beim Ministerium, insbesondere bei Ihnen, Frau Ministerin Wanka,
bei Herrn Staatssekretär Rachel und auch bei Herrn
Schepers für die sehr gute Zusammenarbeit bei dieser
großen BAföG-Reform. In diesem Sinne, liebe Kolleginnen und Kollegen, freue ich mich auf eine konstruktive
Zusammenarbeit im parlamentarischen Prozess.
Herzlichen Dank.
({11})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Rosemarie Hein für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine lieben Kollegen von der SPD, Sie haben sich vorhin so aufgeregt, als sich meine Kollegin Nicole Gohlke
vor allen Dingen über die Grundgesetzänderung und den
Zusammenhang mit dem BAföG geäußert hat.
({0})
Aber ich bitte Sie: Sie haben doch ein Koppelgeschäft
daraus gemacht, nicht wir.
({1})
Sie haben am 19. September 2014 im Bundesrat erst den
Ländern die Zustimmung zur Grundgesetzänderung abverlangt, und danach kam die BAföG-Entscheidung. Das
kann man im Protokoll nachlesen. Daher müssen Sie
sich jetzt nicht wundern, dass wir dies auch in diesem
Zusammenhang behandeln.
({2})
Ich bin mir im Übrigen überhaupt nicht sicher, ob der
versprochene Nutzen - der soll ja bei einem Koppelgeschäft vorhanden sein - tatsächlich eintritt. Aber darüber
reden wir morgen noch einmal.
({3})
Dass nun der Bund die Kosten für das BAföG vollständig übernimmt, ist, glaube ich, schon ein richtiger
Schritt - endlich; denn das hätte man sicherlich auch
vorher schon machen können.
({4})
Wir fordern immer, dass der Bund eine höhere Beteiligung bei der Bildungsfinanzierung übernimmt; also
können wir das nicht kritisieren. Dadurch entsteht nun
die Möglichkeit, unabhängig von den Ländern eine entsprechende BAföG-Finanzierung durchzusetzen. Aber
diese Verantwortung haben Sie jetzt auch. Dass 7 Prozent BAföG-Erhöhung dazu nicht reichen, das, glaube
ich, liegt auf der Hand, und das können Sie sich eigentlich selber ausrechnen.
({5})
Ja, es gibt einige Dinge, die Sie mit dieser BAföGReform anpacken, einige Lücken, die Sie zu schließen
versuchen, aber es sind bei weitem nicht alle, und ich bin
mir nicht einmal sicher, ob wir schon alle Fallstricke gefunden haben. Zumindest zwei Lücken, die nach wie vor
existieren und die Sie nicht angehen, will ich benennen.
Eine Lücke ist das Schülerinnen- und Schüler-BAföG.
Schülerinnen und Schüler nach der 10. Klasse, die die
Möglichkeit haben, eine gymnasiale Oberstufe zu besuchen, haben, wenn sie noch bei den Eltern wohnen, was
in der Regel der Fall ist, keine BAföG-Berechtigung,
sondern müssen im Prinzip den etwas umständlicheren
Weg über Berufsfachschulen oder Fachoberschulen gehen; dort bekommen sie die Förderung. Ich glaube, dass
dadurch gerade Familien mit einem geringen Familieneinkommen deutlich benachteiligt werden. Diese Fehlentwicklung, die es seit Jahren gibt, hätte hier aufgehoben gehört. Aber das gehen Sie nicht an.
({6})
Zum Zweiten bleibt offen, wie Sie zum Beispiel Berufsgruppen wie die der Erzieherinnen und der Erzieher
anders behandeln wollen. Vielleicht ist es Ihnen ja nicht
bewusst, aber Erzieherinnen/Erzieher müssen, bevor sie
diese Ausbildung aufnehmen, eine zweijährige Berufsausbildung zum Sozialassistenten oder zur Kinderpflegerin absolvieren; das ist in nahezu allen Ländern so.
Das heißt, erst nach zwei Berufsausbildungen erhalten
sie den Berufsabschluss, den sie eigentlich erreichen
wollen. Wenn sie dann noch auf die Idee kommen, studieren zu wollen, haben sie kein BAföG-Anrecht mehr.
Auch diese Lücke schließen Sie nicht.
({7})
Das sind nur zwei von vielen Fehlstellen, die es im
Gesetz nach wie vor geben wird und die wir natürlich
kritisieren - neben der Höhe der Leistung und den fehlenden Anpassungen in wichtigen Bereichen. Das muss
sich ändern.
Wenn wir wollen, dass Bildung ein wichtiges Gut ist,
wenn wir wollen, dass auch Kinder und Jugendliche aus
sozial schwierigeren Verhältnissen diesen Weg gehen
können, dann müssen wir für sie diese Finanzierung gewährleisten. Dieser Ball, liebe Kollegen und Kolleginnen von der Koalition, liegt nun bei Ihnen. Das können
Sie nicht mehr auf die Länder abwälzen. Die Verantwortung haben Sie.
Vielen Dank.
({8})
Nächster Redner ist der Kollege Oliver Kaczmarek
für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im
Grunde macht es Freude, dieser Debatte heute beiwohnen zu können; denn niemand hier im Hause stellt das
BAföG mehr grundsätzlich infrage. Das war nicht immer so. Wir erinnern uns daran: 2005 gab es noch die
Ansage, das BAföG abzuschaffen, sei ein erstrebenswertes Ziel. Was für ein Irrglaube war das? Das hat die SPD
in den Koalitionsverhandlungen damals abräumen können. Es ist gut, dass wir heute feststellen können: Das
BAföG ist ein über die Parteigrenzen und über die gesellschaftlichen Grenzen hinaus anerkanntes Instrument
der Bildungsfinanzierung.
({0})
Dass wir heute die Weichen für einen weiteren Schritt
nach vorne stellen - wir verabschieden das Gesetz ja erst
gegen Ende des Jahres -, ist eine Gemeinschaftsaufgabe,
an der viele hier mitgewirkt haben. Nachdem das BAföG
1998 ziemlich auf den Hund gekommen war - nur noch
13 Prozent aller Studierenden haben überhaupt BAföG
bekommen -, ist es in der rot-grünen Regierungszeit gelungen, die Gefördertenzahl zu verdoppeln. In der Großen Koalition ist es 2008 gelungen, einen großen
Schluck aus der Pulle zu nehmen. Heute wollen wir an
diese Tradition anknüpfen. Es ist ein gemeinsamer Erfolg, dass wir das BAföG in dieser Form weiterentwickeln werden.
({1})
Das wichtigste Argument für uns ist, dass das BAföG
ein Instrument ist, das Zugänge schafft, das Aufstiegschancen schafft; denn die Tür zu den Hochschulen ist für
einige weit weniger geöffnet als für andere. Mehr als
70 Prozent der Kinder, deren Eltern einen Hochschulabschluss haben, studieren. Von denen, deren Eltern keinen
Hochschulabschluss haben, sind es nur etwa 25 Prozent.
Jetzt kann man sagen: „Vor 50 Jahren waren es nur
10 Prozent“, aber es wird ja offensichtlich, dass es hier
immer noch eine große Chancenungleichheit gibt, an der
wir uns bildungspolitisch weiter reiben müssen.
Nur zwei Fünftel der Kinder mit Hochschulreife aus
Nichtakademikerfamilien entscheiden sich überhaupt für
ein Hochschulstudium. Vier Fünftel von denen, deren
Eltern einen Hochschulabschluss haben, entscheiden
sich für ein Studium; da ist das viel selbstverständlicher.
Wer verstehen will, warum das so ist, warum sich Arbeiterkinder - ich nenne sie jetzt einmal so; man kann sie
auch anders nennen; es geht jedenfalls um die, die aus
Familien kommen, die noch nie eine Hochschule von innen gesehen haben - oft trotz guter Schulleistungen gegen ein Studium entscheiden, muss, glaube ich, die Lebensrealität in den Blick nehmen. Die Eltern fragen sich:
Was erwartet eigentlich mein Kind an der Hochschule?
Kann ich es finanziell unterstützen, oder muss es vielleicht abbrechen, wenn meine finanzielle Unterstützung
nicht mehr reicht? Auch die Kinder fragen sich: Was erwartet mich? Können meine Eltern mich unterstützen?
Aus eigener biografischer Erfahrung kann ich sagen: Die
schwierigste Frage, die man sich stellt, ist: Kann ich
meinen Eltern überhaupt zumuten, auf vieles zu verzichten, um meine Hochschulausbildung zu finanzieren?
({2})
Das wird mit dem BAföG aufgegriffen, indem es einen Rechtsanspruch schafft, einen Rechtsanspruch, der
gilt, der Sicherheit gibt, und das erleichtert die Aufnahme eines Studiums. Das ist der besondere Wert des
BAföG.
({3})
Um wen geht es da? Ich habe mir einmal die durchschnittlichen Einkommensgruppen angesehen, weil das
dazu beiträgt, noch einmal klarzumachen, über welche
Leute wir hier reden. Die Tochter eines Bäckers, der
Sohn eines Wachmanns, die Zwillinge der Arzthelferin,
das sind die Berufsgruppen, die beim BAföG mit in die
Höchstförderung kommen. Darüber hinaus Schlosser,
Elektroinstallateure, Physiotherapeuten, Werkzeugmacher, Rechtsanwaltsgehilfen. Das BAföG wirkt heute bis
weit in die Mitte der Gesellschaft hinein, und das Wichtige ist, dass wir heute diesen und anderen betroffenen
Berufsgruppen sagen: Ihr könnt euch weiterhin darauf
verlassen, dass das BAföG eine verlässliche, solide Finanzierung für das Studium eurer Kinder bleibt.
({4})
Deswegen sage ich auch ganz bewusst: Es gibt viele
Instrumente der Studienfinanzierung, die alle ihren Platz
haben, aber keines erreicht so viele begabte junge Menschen und keines sorgt für so viel sozialen Ausgleich wie
das BAföG. Deswegen bleibt es aus unserer Sicht das
wichtigste Instrument der Studienfinanzierung und genießt zu Recht die höchste politische Aufmerksamkeit.
({5})
Mit dieser 25. Novelle entwickeln wir das BAföG
mutig weiter. Ich glaube, daran kann man gar nicht vorbeikommen. Die finanziellen Rahmenbedingungen werden sich substanziell verbessern.
Ich glaube, man muss das noch einmal sagen: 7 Prozent Erhöhung bei den Bedarfssätzen, 7 Prozent Erhöhung bei den Freibeträgen. Das ist schon ein größerer
Schluck aus der Pulle, das ist nicht nichts, wie das hier
von einigen dargestellt wird.
({6})
Denn wir mobilisieren damit 1,2 Milliarden Euro
- 1,2 Milliarden Euro! - jährlich im Bundeshaushalt
schon ab dem nächsten Jahr durch die Übernahme durch
den Bund. Frau Ministerin, ich glaube, dass sich der
Wert der Übernahme durch den Bund auch darin ausdrückt, dass wir uns ebendieses Schauspiel, das wir teilweise in den vergangenen Jahren erlebt haben - wer
macht einen Vorschlag? wer antwortet auf einen Vorschlag? wer ist anscheinend in einer Blockadehaltung? -, einfach schenken können. Die Übernahme
durch den Bund bietet die Chance für die Repolitisierung
des BAföG, und zwar hier im Plenum des Deutschen
Bundestages. So sollten wir es dann auch behandeln.
({7})
Weiter mobilisieren wir 825 Millionen Euro jährlich
für die Erhöhung und für die strukturelle Modernisierung ab dem Jahr 2016. Das sind 2 Milliarden Euro pro
Jahr, die im Bundeshaushalt mobilisiert werden. Wenn
man da von „kleinem Wurf“ spricht, dann - so muss ich
ganz ehrlich sagen - hat man nur einen ganz schmalen
Bezug zur politischen Realität.
({8})
Ich will das mit den angeblich 60 000 Menschen, die
aus der Förderung herausfallen, aufgreifen, weil mich
das natürlich auch geärgert hat.
({9})
Ich will einmal kurz fachlich werden - ich weiß nicht, ob
das zu viel ist -: Es geht darum, dass Sie einfach eine
falsche Bezugszahl gewählt haben. Sie haben die Jahresfallzahlen gewählt. Die Jahresdurchschnittszahl wäre
die, die anzuwenden wäre. Damit ergibt sich eine wesentlich geringere Fallzahl. Das Eigentliche, das Wichtige ist doch: Wenn Sie es erreichen wollen, dass niemand aus der Förderung herausfällt - ich sage einmal,
Lohnerhöhungen, Beförderungen, solche Dinge gibt es
immer; das sind Wechselfälle des Lebens, die können
Sie auch mit einem Gesetz nicht verhindern; aber das
sind ja Miniförderungen, das sind kleine Förderungen,
das sind ja nicht die Höchstfördersätze -,
({10})
dann müssen Sie dafür sorgen, dass sich die Kurve der
Nettoeinkommen nicht mit der Kurve der Freibeträge
schneidet. Aber das, was Sie eigentlich machen und was
ich unredlich finde, ist, dass Sie bis in die Mitte der Studierendenschaft hinein den Eindruck erwecken, bis 2016
fliegen sie aus dem BAföG heraus, vielleicht sogar mit
dem Höchstfördersatz. Das ist mit der Realität und mit
Ihren kruden Berechnungen aber nicht zu belegen.
({11})
Wir wollen das BAföG moderner machen. Das
BAföG soll sich der Lebenswirklichkeit der Studierenden annähern. Studieren geht heute anders als zu meiner
Zeit und zur Zeit vieler anderer, die hier sitzen. Ich
nenne nur das Stichwort „Bologna-Reform“. Das muss
sich im BAföG niederschlagen. Wir verlegen deshalb
unter anderem das formale Ende des Bachelorstudiums
nach hinten, die Zulassung zum Masterstudium nach
vorn. Das sind Schritte, die den Studienalltag an der Brücke zwischen Bachelor- und Masterstudium konkret verbessern werden. Das ermöglicht Studierenden die Konzentration auf den Studienabschluss, ohne eben die
Angst zu haben, dass mittendrin die Förderung abbricht.
Wir ermöglichen nichtdeutschen Auszubildenden, einen BAföG-Antrag früher zu stellen. Ich glaube, wir gehen über das, was uns der EuGH hier aufgetragen hat,
sogar noch ein Stück hinaus, indem wir die Voraufenthaltsdauer auf 15 Monate senken, und wir erhöhen die
Abschlagszahlungen.
({12})
Das sind alles Erfolge, die zeigen: Das BAföG muss sich
am Leben der studierenden Menschen messen lassen.
Natürlich werden wir mit dem BAföG die Lebenswirklichkeit nicht eins zu eins abbilden können - welches Gesetz könnte schon die Lebenswirklichkeit eins zu
eins abbilden? -, aber wir kommen ihr mit dieser Novelle einen deutlichen Schritt näher und modernisieren
das BAföG so, wie es für das Studium auch notwendig
ist.
({13})
Die parlamentarischen Beratungen beginnen; wir
müssen sie sorgfältig führen. Was sagen die Experten zu
unseren Vorschlägen? Worüber müssen wir vielleicht
noch einmal nachdenken? Das ist alles wichtig. Der SPD
ist dabei besonders wichtig: Auch die Betroffenen selbst
müssen zu Wort kommen; das haben wir bei der Auswahl der Experten für die Anhörung entsprechend berücksichtigt. Wir nehmen die Vorlage, die die Bundesregierung uns gegeben hat, auf - sie ist gut -; aber auch bei
diesem Gesetz gilt das Struck’sche Gesetz: Wenn wir etwas verbessern können, dann wollen wir das auch gerne
tun.
Herzlichen Dank.
({14})
Nächste Rednerin für die Fraktion Die Grünen ist die
Kollegin Katja Dörner.
Sehr geehrter Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe
Kollegen! Die Einführung des BAföG war ohne Zweifel
eine großartige Leistung; aber sie ist mittlerweile über
vierzig Jahre her. Wir reden heute darüber, was für die
Zukunft geplant ist,
({0})
und da ist die große Selbstbeweihräucherung, die wir
hier seitens der Koalition erleben, wirklich nicht angemessen. Über was reden wir heute? Wir reden darüber,
dass Studierende weitere zwei Jahre keine BAföG-Erhöhung bekommen werden, wir reden darüber, dass die
Große Koalition den Studierenden weitere zwei Nullrunden verordnet, wir reden darüber, dass es in Deutschland
von 2010 bis 2016 keine BAföG-Erhöhung geben wird.
Ich finde, das ist kein Grund, zu jubeln.
({1})
Fakt ist: Sechs Jahre lang soll das BAföG nicht erhöht
werden. In den vier Jahren seit 2010 hat sich die Kaufkraft der Studierenden deutlich verschlechtert. Der
BAföG-Höchstsatz von 670 Euro monatlich, der seit
dem Jahre 2010 gilt, ist heute faktisch nur noch 626 Euro
wert. Die Lebenshaltungskosten sind gestiegen, vor allem die Mieten und die Nebenkosten. Deshalb haben die
Studierenden keine weiteren zwei Jahre Zeit, auf die
nächste BAföG-Erhöhung zu warten, sie ist längst überfällig, sie muss unmittelbar kommen und darf nicht weiter auf die lange Bank geschoben werden.
({2})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, die Bundesregierung zeigt leider wenig Herz für die jüngere Generation.
Sie ist nicht bereit, für die Jüngeren wirklich Geld in die
Hand zu nehmen und in die Zukunft zu investieren.
({3})
Das sieht man, wenn man die mickrigen 6 Milliarden
Euro, die es insgesamt, über vier Jahre, zusätzlich für
Bildung geben wird, mit den Ausgaben für die Mütterrente und die Rente mit 63 vergleicht. Ich sage hier ganz
klar: Ich gönne jedem und jeder mehr Rente. Wir spielen
niemanden gegeneinander aus. Aber das Verhältnis
stimmt nicht,
({4})
das Verhältnis von 1: 5 in dieser Legislaturperiode zwischen Bildung und Rente. Das ist das, was absolut nicht
geht, und das zeigt, dass die Bundesregierung nur kurzsichtig handelt.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregierung zeigt kein Herz für die jüngere Generation; das
sieht man auch an dieser BAföG-Reform. Die Verbesserungen für die Rentnerinnen und Rentner kamen sofort
- auch unsere Diätenerhöhung war schwuppdiwupp
möglich -; aber die Studierenden sollen bitte schön noch
zwei Jahre warten, weil es sonst mit der Haushaltskonsolidierung nicht klappt. Das finde ich den Studierenden
gegenüber einfach absolut unfair. Wir als Grüne akzeptieren nicht, dass gerade die Studierenden den Kopf hinhalten sollen, damit Herr Schäuble seinen Haushalt konsolidieren kann.
({6})
Deshalb noch einmal ganz klar: Die BAföG-Reform
muss jetzt kommen, und die Erhöhung muss den Anstieg
der Nettoeinkommen vollständig widerspiegeln. Das
heißt, statt einer 7-prozentigen Erhöhung von Freibeträgen und Bedarfssätzen ist eine 10-prozentige Erhöhung
absolut notwendig, damit die Studis trotz der Erhöhung
nicht faktisch weniger in der Tasche haben als 2010.
({7})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, Hubertus Heil hat
in einem Brief an die SPD-Fraktion im Mai über die anstehenden Neuregelungen beim BAföG informiert. In
seinem Brief benennt er auch das Risiko, dass das
BAföG durch die Alleinzuständigkeit des Bundes noch
stärker in die Mühlen wechselnder Regierungskonstellationen gerät. Dass Hubertus Heil in diesem Zusammenhang die halbherzigen Bekenntnisse der Union und die
Luftschlösser der Linken beklagt, nehme ich einmal als
Kompliment für das Konzept, das die Grünen hier vorgelegt haben - dies einmal als kleinen Exkurs.
({8})
Das Risiko wechselnder Regierungskonstellationen der Kollege Kaczmarek hat es eben als Repolitisierung
bezeichnet - besteht tatsächlich.
Frau Kollegin Dörner, darf der Kollege Heil eine
Zwischenfrage stellen?
Selbstverständlich.
({0})
- Nein, ich wollte jetzt nicht über die Mütterrente diskutieren. - Liebe Katja Dörner, weil ich so freundlich zitiert wurde und ein bisschen darauf achten muss, dass es
nicht aus dem Zusammenhang gerissen wird: Man kann
über Konzepte denken, was man will. Ich gebe zu: Die
SPD hätte sich früher auch immer alles wünschen können. Es ist aber auch eine Frage des Machbaren.
Ich will nur auf eins Wert legen. Wir streiten uns,
glaube ich, nicht darüber, dass das Volumen dieser
BAföG-Reform erheblich ist. Das kann man, glaube ich,
nicht bestreiten. Aber über den Zeitpunkt kann man unterschiedlicher Meinung sein.
({0})
Ich habe mich zu Wort gemeldet, weil ich bitte, zur
Kenntnis zu nehmen, dass ich immer der Meinung war,
dass es vernünftig ist, dass auch für die Finanzierung des
BAföG der Bund eine Alleinzuständigkeit erhält, damit
das endlich aus dem Gezerre zwischen Bund und Ländern herauskommt. Das wird zu einer Repolitisierung
führen; das hat der Kollege Kaczmarek vorhin gesagt.
({1})
Dann haben wir - welche Regierung auch immer zukünftig in Deutschland regieren mag - die Verantwortung, aber auch die Pflicht, zu handeln.
Weil der Halbsatz lautete, ich hätte das kritisiert, sage
ich: Das Gegenteil ist in diesem Brief der Fall gewesen.
Ich finde, es ist in Ordnung, dass der Bund das vollständig übernimmt.
({2})
Der Richtigkeit halber: In dem Brief, der mir vorliegt,
fällt der Satz, es ist ein Risiko, aber in der Abwägung ist
es von Ihnen positiv bewertet worden. Ich glaube, das ist
kein Widerspruch dazu, wie ich Sie zitiert habe: Es wird
als ein Risiko, aber in der Abwägung als positiv beschrieben. - Auch ich finde das richtig. Auch wir als
Grüne sehen dieses Risiko.
In diesem Zusammenhang kann ich an das anschließen, was Kai Gehring zur Repolitisierung gesagt hat. Für
uns macht es keinen großen Unterschied, ob das BAföG
im Geschacher zwischen Bund und Ländern zerrieben
wird oder ob es ein großes Geschacher hier im Bundestag gibt. Deshalb machen wir gerade den Vorschlag, das
BAföG an einen Index zu koppeln und anhand klarer
Kriterien automatisch zu erhöhen. Dann kämen wir nämlich auch aus der Rolle heraus, uns hier untereinander
darüber streiten zu müssen, und wir hätten einen klaren
Weg, wie das BAföG automatisch und transparent erhöht
würde.
({0})
Dann könnte sich nämlich auch keine Partei mehr als die
BAföG-Partei profilieren, sondern es ginge wirklich darum, etwas für die Studierenden zu tun. Darum sollte es
uns eigentlich gehen. Eine automatische Erhöhung aufgrund klarer Kriterien wäre aus unserer Sicht also sachgerecht. Das würde das BAföG aus dem politischen Geschacher herausholen. Darum sollte es uns gehen. Das
schlagen wir auch im Gesetzgebungsverfahren vor. Wir
fänden es sehr positiv, wenn das angemessen gewürdigt
und noch in das Gesetzgebungsverfahren aufgenommen
würde.
({1})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, das BAföG ist ein
wichtiger Baustein für mehr Chancengleichheit in unserem Bildungssystem. 80 Prozent der Studierenden, die
BAföG bekommen, sagen, dass sie ohne diese Förderung nicht studiert hätten. Aber natürlich ist die Frage
der sozialen Öffnung der Hochschulen damit noch längst
nicht erledigt. Das ist weiter eine große Aufgabe. Ich
will auch sagen, dass ich sehr froh bin, dass die Grünen
zusammen mit der SPD in drei Bundesländern die Studiengebühren abgeschafft haben. Das ist nämlich auch
wichtig für mehr Chancengleichheit und Aufstiegschancen in unserem Bildungssystem.
({2})
Wir Grüne wollen bessere Chancen, gerade für die
jungen Menschen, denen das Elternhaus - finanziell und
vielleicht auch kulturell - nicht so viel mitgeben kann.
Das ist uns Grünen wirklich eine absolute Herzensangelegenheit. Deshalb sagen wir zu dem Rahmen dieser
BAföG-Reform, die jetzt zur Entscheidung ansteht: Die
Erhöhung kommt deutlich zu spät, und sie fällt zu mickrig aus.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Katrin Albsteiger
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
uns vorliegende Gesetzentwurf zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes kann ohne Wenn und
Aber als historisch bezeichnet werden. Historisch vor allem deshalb, weil wir endlich den Weg aus der zugegebenermaßen unproduktiven Mischzuständigkeit zwischen Bund und Ländern gefunden haben. Es ist
tatsächlich so: Wenn Bund und Länder miteinander verhandeln müssen, dann wird der Ton manchmal ein bisschen heftiger. Auch das gehört zum politischen Prozess.
Liebe Frau Gohlke, wenn Sie das dann als „traurige Debatte“ bezeichnen, dann muss ich sagen, dass es dem
Thema BAföG und der Wichtigkeit, die das BAföG für
Studenten hat, wirklich nicht gerecht wird.
({0})
Der Bund übernimmt jetzt die volle Finanzierungszuständigkeit. Ab jetzt gibt es nicht mehr die SchwarzerPeter-Spiele, dass der eine den anderen blockiert. Jetzt
stehen wir als Bund tatsächlich in der Verantwortung.
Dieser Verantwortung werden wir auch gerecht werden.
({1})
Dieses Verantwortungsbewusstsein - das muss ich an
dieser Stelle schon sagen - erwarten wir nicht nur von
uns allen, sondern auch von den Ländern.
({2})
Aus diesem Grund sollten sich die Länder - sicherlich
nicht alle - an der einen oder anderen Stelle ein Stückchen von uns abschneiden.
({3})
Die Mittel, die aus der Bildung kommen, die 1,2 Milliarden Euro jährlich, die der Bund im Bereich des
BAföG übernimmt, sollten wieder in die Bildung gesteckt werden. So wurde es vereinbart. Gerade für die
Hochschulen ist das ein ganz wichtiger Bereich, weil das
BAföG hauptsächlich den Studenten zugutekommt. Deswegen kann ich es leider nicht verstehen, wenn Niedersachsen damit andere Staatsausgaben finanzieren will.
({4})
Ganz im Gegenteil dazu gibt es auch positive Beispiele, beispielsweise Bayern. Bayern investiert nämlich
die freiwerdenden Mittel aus dem Bereich des BAföG zu
90 Prozent in die Hochschulen und zu 10 Prozent in die
Schulen. Das ist auch in Ordnung. Die Bürger werden
zum Schluss ganz genau hinschauen, wer von uns ver5236
antwortlich mit den Bildungsausgaben umgeht und wer
nicht.
({5})
Das BAföG ist ein Thema, das ganz nah am Menschen ist, und hat - das ist sicherlich unbestritten - eine
unmittelbare Auswirkung auf jeden BAföG-Empfänger,
und das vor allem in einer Phase im Leben, die für einen
jungen Menschen sehr wichtig ist. Das BAföG bewegt,
es wird diskutiert. Dass es wichtig für die Studenten ist,
sieht man auch daran, dass sie rege im Internet und den
sozialen Netzwerken diskutieren. Hier wird vor allem eines klar: Es geht nicht nur darum, die Bedarfssätze und
Freibeträge zu erhöhen. Genau das tun wir mit den jeweils 7 Prozent. Es geht vor allem darum, beim BAföG
eine strukturelle Veränderung herbeizuführen. So gleichen wir das BAföG auch an die veränderte Lebenswirklichkeit eines Studenten an.
In vielen Gesprächen - das wurde heute schon einmal
erwähnt - wurde immer wieder das Thema Antragstellung erwähnt. Viele Studenten verstehen nicht, warum
bei der Steuererklärung eine Onlineantragstellung möglich ist, beim BAföG aber nicht. Wir haben es mit jungen
Menschen zu tun. Auch das wurde heute schon einmal
gesagt. Der Umgang mit dem Computer und dem Internet ist völlig normal. Heutzutage ist es einfacher, sich an
den Computer zu setzen und schnell ein paar Zahlen einzutippen. Es ist auch für die Ämter bei der Bearbeitung
einfacher. Genau deshalb werden wir ab dem 1. September 2016 die Länder dazu verpflichten, die flächendeckende Onlineantragstellung anzubieten.
({6})
Damit erreichen wir zweierlei - ich habe es bereits
angesprochen -: Einerseits helfen wir den Ämtern bei
der Bearbeitung und leisten damit einen wichtigen Beitrag zum Bürokratieabbau und zur Beschleunigung der
Verfahren, andererseits bekommen wir mehr junge Menschen ins BAföG; denn zugegebenermaßen kann eine
Papierflut, die bearbeitet werden muss, abschreckend
wirken.
In den letzten Jahren haben sich Studienkultur und
Studienstruktur verändert, beispielsweise durch den Bologna-Prozess. Wir haben in den vergangenen Jahren betrachten können, wohin die Reise geht. Die Reise geht
dahin, dass man nicht zwangsläufig mehrheitlich aufhört, nach dem Bachelor zu studieren, sondern dass man
hinterher noch den Master draufsetzen möchte. Viele
dieser betroffenen Studenten möchten nicht ewig darauf
warten, dass es weitergeht. Nein, sie versuchen ihre Studienzeit so zu verkürzen, dass es nicht elendig lange
Wartezeiten zwischen Bachelor und Master gibt. Genau
deshalb haben sich die Hochschulen ein Instrument der
vorläufigen Zulassung zum Masterstudium geschaffen.
Um genau dieses Instrument bemühen wir uns bei der
BAföG-Novelle, und zwar deshalb, weil es nicht Wartezeiten oder unerwünschte Unterbrechungen bei den
BAföG-Mitteln geben soll. Die Förderungslücken sollen
geschlossen werden. Deswegen reicht nach der BAföGNovelle die Zulassung für das Masterstudium aus.
Ein weiteres Thema der Debatte waren die steigenden
Mieten. Ja, Studenten, die außerhalb der Heimat, außerhalb des Elternhauses wohnen, haben mit steigenden
Mieten zu tun. Aber auch diese Problematik haben wir
erkannt, übrigens nicht nur aufgrund des BAföG, das sicherlich kein Instrument ist, um die Mietpreise auszugleichen oder zu steuern. Nein, wir haben aber die Mittel
für die Wohnungskostenpauschale überproportional um
11,6 Prozent erhöht.
({7})
So ermöglichen wir es auswärts wohnenden Studenten,
den Durchschnittsmietbeitrag für einen Studentenwohnplatz oder ein Untermietverhältnis zu decken.
({8})
Die deutliche Steigerung der Wohnkostenpauschale haben wir hinbekommen, ohne gleichzeitig Steuererhöhungen zu fordern oder neue Schulden aufzunehmen. Das ist
ein wichtiger Punkt: Haushaltskonsolidierung ist kein
Selbstzweck. Es wäre geradezu absurd, wenn wir einerseits mehr Geld reinbuttern, uns andererseits aber dieses
Geld von den Eltern der Studenten durch Steuererhöhungen zurückholen.
({9})
Zusammenfassend lässt sich feststellen. Wir handeln
verantwortungsvoll. Wir erhöhen verantwortungsvoll
nicht nur die Fördersätze und die Freibeträge, sondern
wir gleichen das BAföG auch strukturell an die Lebenswirklichkeit der Studentinnen und Studenten an.
Vor kurzem hieß es in der internationalen Presse:
Deutschland ist ein Erfolgsmodell. - Genau das soll es
auch bleiben. Ein wesentlicher Bestandteil dieses Erfolgsmodells ist unser Bildungssystem. Das BAföG wiederum ist ein wesentlicher Teil davon, und so soll es
auch in Zukunft bleiben.
Vielen Dank.
({10})
Die Kollegin De Ridder ist die nächste Rednerin für
die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Gäste auf den Besuchertribünen!
Liebe Studierende! Liebe Eltern! Mit der Reform des
BAföG, mit der der Bund - Sie haben es eben schon geDr. Daniela De Ridder
hört - nun vollständig die Finanzierung übernimmt, investieren wir in eine verheißungsvolle Zukunft, in unser
Bildungssystem; denn alle Mitglieder unserer Gesellschaft müssen an Bildung teilhaben können.
Soziale Gerechtigkeit und Vielfalt, so heißt das Gebot
der Stunde. Das gilt - für alle, die Niedersachsen kritisieren, will ich das als Niedersächsin noch einmal deutlich sagen - von Anfang an. Das bedeutet auch, dass wir
in die frühkindliche Bildung investieren müssen.
({0})
- Bitte, meine Herren und Damen, was soll die Aufregung?
Wenn wir soziale Gerechtigkeit wollen, dann müssen
wir in Bildung investieren. Wenn wir über das BAföG
reden, müssen wir auch darüber reden, dass es von Anfang an die Chance geben muss, diesen Weg überhaupt
zu beschreiten. Deshalb ist die Investition in frühkindliche Bildung ein Muss.
({1})
Unabhängig davon, ob jemand an einer Universität oder
einer Fachhochschule studiert: Nie darf das Portemonnaie der Eltern wie ein Berufsverbot wirken. Dem kommen wir nun mit der BAföG-Reform nach.
({2})
- Meine Redezeit ist knapp.
Lassen Sie mich kurz drei Punkte hervorheben. Erstens. Durch die Verbesserung der Kinderbetreuungszuschläge stärken wir ganz gezielt junge Väter und Mütter,
ein Studium aufzunehmen, es mit Familie zu vereinbaren und vor allem auch erfolgreich abzuschließen. Ich
weiß aus eigener Erfahrung, wie hart es als junge Mutter
sein kann, ein Studium zu organisieren; denn ich habe
selbst mit zwei Kindern studiert.
Wir reden heute viel über die Realität. Wenn wir uns
die Realität anschauen, dann stellt man allerdings fest,
dass im Jahr 2012 gerade einmal knapp 4 Prozent der
Studierenden ein oder mehrere Kinder hatten. Wir müssen den jungen Menschen Mut machen. Das tun wir mit
der vorliegenden BAföG-Novelle. Studium und Familie
sind zwei Seiten einer Medaille und gehören zusammen.
({3})
Zweitens. Durch die Erhöhung der Einkommens- und
Vermögensfreibeträge erhöhen wir die Zahl der Förderberechtigten. Wir erwarten - denn wir in der SPD haben
Lese- und Rechenkompetenz, liebe Kolleginnen und
Kollegen von den Grünen - knapp 100 000 neue Antragsbewilligungen pro Jahr. Das sind zugleich knapp
100 000 junge Menschen, denen wir bessere Startchancen für ihre spätere Berufslaufbahn ermöglichen.
({4})
- Nein, überhaupt nicht. Wir werden das an der Realität
messen können.
({5})
- Gerne.
Ich möchte mir an dieser Stelle eine Anmerkung erlauben. Ich halte nichts davon, akademische gegen berufliche Bildung auszuspielen. Vielmehr brauchen wir
die Gleichwertigkeit unterschiedlicher Bildungswege.
({6})
Mehr als eine verfehlte Debatte brauchen wir deshalb
Öffnung und Durchlässigkeit im Bildungs- und Hochschulsystem. Über das Meister-BAföG wird gleich mein
Kollege Rabanus sprechen. Wer jetzt sagt, wir hätten zu
viele Akademikerinnen und Akademiker, der muss sich
fragen lassen: Für wen sollen die Tore der Hochschulen
wieder geschlossen werden? Nein, Karrierechancen
durch Bildung, das darf kein Privileg für Wohlhabende
sein.
({7})
Die gute Nachricht: Mit der BAföG-Reform wird das
Matthäus-Prinzip ein wenig korrigiert, das Sie alle kennen, das da lautet: Wer hat, dem wird gegeben. „Lehrjahre sind keine Herrenjahre“ - diese halsstarrige Haltung können wir uns in unserem rohstoffarmen Land
nicht leisten. Unser Potenzial sind unsere klugen Köpfe.
Deshalb müssen sich junge Erwachsene frei entfalten
können, vor allem frei von wirtschaftlichen Zwängen
und Abhängigkeiten. Dies sichert am Ende auch den
Studienerfolg; denn wer weniger jobben muss, kann sich
mehr auf das Studium konzentrieren. Studienerfolg
durch die BAföG-Reform, das ist doch unser gemeinsames Ziel, verehrte Kolleginnen und Kollegen.
Drittens. Dieser Punkt liegt mir aufgrund meiner eigenen Erfahrung ganz besonders am Herzen. Insbesondere
Flüchtlinge und aus EU-Staaten Zugewanderte werden
jetzt vermehrt von der Ausbildungsförderung profitieren
können. Das ist mir schon deshalb wichtig, weil ich als
Belgierin für mein Studium in Deutschland seinerzeit
keine Ausbildungsförderung erhalten habe. Mit der Reform werden wir - das heißt „back to reality“ - den Lebensverhältnissen in unserem Land nach der BolognaReform gerechter werden. Das ist nicht nur ein Versprechen. Das ist die Realität, und wir werden den Erfolg
prüfen dürfen. Das ist auch eine Aufforderung an die
Opposition, genau hinzuschauen; davor habe ich keine
Angst. Diese überfällige Änderung ist insbesondere mit
Blick auf die EU-Staaten Ausdruck einer Willkommenskultur in einer globalisierten Hochschulwelt.
Mit der Reform des BAföG machen wir einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung, hin zu mehr sozialer
Gerechtigkeit an Hochschulen. Lehrjahre sind keine
Herrenjahre? Ich hoffe, dass wir einige besorgte Eltern
entlasten können, wenn wir sagen: Lehrjahre sind keine
Hungerjahre! Diesen Eltern sagen wir: Wir haben verstanden, was einst John F. Kennedy sagte: „Es gibt nur
eins, was auf Dauer teurer ist als Bildung, keine Bildung.“
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Die Kollegin Lücking-Michel ist die nächste Rednerin für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute über
eine Reform, die diesen Namen wahrlich verdient. Sie
bringt strukturelle und finanzielle Verbesserungen. Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,
liebe Katja Dörner, wenn Sie immer wieder monieren,
diese BAföG-Erhöhung komme zu spät, die jetzige Studierendengeneration profitiere nicht mehr davon, und
wenn Sie die Reform gegen die schwarze Null im Haushalt ausspielen, dann muss ich sagen: Was kann man im
Sinne der Generationengerechtigkeit mehr tun, als, was
wir jetzt zum ersten Mal nach 1969 tun, einen Haushalt
ohne neue Schulden aufzustellen? Was kann man denn
mehr tun, um langfristig Handlungsfähigkeit zu bewahren,
({0})
auch und gerade für Investitionen in Bildung?
Von den vielen wichtigen Punkten, die heute schon
genannt wurden, möchte ich drei Erfolge, die mit der
BAföG-Reform erreicht werden, besonders benennen
- wir haben es schon gehört; aber es ist mir wichtig, das
noch einmal zu betonen -:
Erstens. Das neue BAföG ist familienfreundlicher:
130 Euro für das erste und für jedes weitere Kind. Das
Signal heißt: Familien sind uns wichtig.
Zweitens. Das neue BAföG ist internationaler. Wir
haben uns diesbezüglich schon im Koalitionsvertrag ambitionierte Ziele gesetzt. Jede zweite deutsche Studierende soll demnächst studienbezogene Auslandserfahrungen sammeln. Die BAföG-Novelle, die wir jetzt
diskutieren, erleichtert dies durch ihre neuen Regelungen; denn jetzt gilt das EuGH-Urteil zur Freizügigkeit.
Jede deutsche Studierende kann, wenn sie ihr Studium
im EU-Ausland beginnt, künftig vom ersten Semester an
BAföG-Förderung in Anspruch nehmen. Das ist doch
ein wichtiger Schritt.
({1})
Aber umgekehrt gilt: Für Studierende mit humanitären Aufenthaltsgründen verkürzt sich die Wartezeit bis
zur BAföG-Berechtigung von vier Jahren auf immerhin
jetzt nur noch 15 Monate. Dass mir das zwar auch noch
zu lang ist, will ich sagen, aber es ist ein entscheidender
Schritt in die richtige Richtung.
({2})
Drittens. Wenn hier immer wieder behauptet wird,
dass diese Regierung - ich zitiere - billigend in Kauf
nehme, dass Arbeiterkinder in ihrem Bildungsaufstieg
blockiert bleiben - Zitat Ende -, dann kann ich nur sagen, dass das mit Blick auf BAföG und die vorgelegte
Reform blanker Unsinn ist.
({3})
Wenn man sich den aktuellen Social Survey des Studentenwerks ansieht, wird noch einmal deutlich: BAföG ist
und bleibt ein wirksames Instrument der Breitenförderung. Je niedriger das Bildungsniveau der Eltern ist,
desto höher ist der Anteil der Studierenden, die durch
BAföG gefördert werden. Die anderen Fakten haben wir
schon gehört: Die Zahl der BAföG-Berechtigten erhöht
sich durch die höheren Freibeträge. Die Hinzuverdienstgrenze wird angehoben, sodass man jetzt leichter bis zur
Höhe eines Minijobs zum BAföG dazuverdienen kann.
({4})
BAföG hilft Bildungsaufsteigern. Es verringert den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und gewähltem Ausbildungsweg. Das sind doch echte Fortschritte.
Wenn ich jetzt an dieser Stelle mit Blick auf die weiteren Diskussionen eine Ergänzung einbringe, dann mache ich dies, weil ich denke, dass diese gute Reform in
einem Punkt noch verbessert werden kann. Der Punkt,
an den ich erinnern will, ist die Bedeutung ehrenamtlichen Engagements. Wir sind uns hoffentlich einig, dass
durch ehrenamtliches Engagement Millionen von Menschen in Deutschland dazu beitragen, dass unsere Gesellschaft menschlicher wird, dass es bei uns solidarischer zugeht, ja, dass ohne Ehrenamt vieles bei uns
überhaupt nicht möglich wäre.
Die junge Generation ist besonders stark ehrenamtlich aktiv. 1999 stellten Studierende zwischen 20 und
24 Jahren mit einer Quote von 45 Prozent noch die
Gruppe mit dem höchsten Engagement unter den jungen
Menschen dar. Nach der Studienreform ist das Engagement um 5 Prozentpunkte gesunken; dies wurde 2009
festgestellt. Wir haben das Problem, dass die Studienstrukturreform, dass das neue Bachelor-Master-System
durch die zeitliche Verdichtung und die erhöhten Anforderungen das Engagement von Studierenden offensichtlich deutlich einschränkt.
Damit bin ich wieder beim BAföG und meinem Ergänzungsvorschlag: Es sollte doch unser Ziel sein, dass
freiwilliges Engagement von Studierenden diesen nicht
zum Nachteil gereicht und es zu keinem Trade-off zwischen Ehrenamt auf der einen Seite und Ausbildung auf
der anderen Seite kommt. Es gibt ein Beispiel: Ehrenamtliches Engagement in den satzungsmäßigen Hochschulgremien wird bei der Höchstdauer der BAföG-Förderung bisher schon berücksichtigt, in der Regel mit
einem Semester zusätzlich. Das gilt aber leider nicht für
Engagement in anderen Bereichen.
Hier ist mein Ziel: Natürlich ist es richtig - ich habe
die mahnenden Worte von Frau Ministerin Wanka im
Ohr -, dass jede Ausweitung des Empfängerkreises beim
BAföG Geld kostet, aber hier wäre das Geld aus meiner
Sicht besonders gut angelegt.
({5})
Es ist richtig: Wenn wir das berücksichtigen wollen,
dann müssen Umfang und Qualität ehrenamtlichen
Engagements natürlich handfest festgehalten werden
können. Aber keine Sorge, dafür gibt es bereits Modelle,
die übertragbar wären.
({6})
- Tatsächlich, Bayern ist ein gutes Beispiel. Dort gibt es
eine Ehrenamtskarte. Auf Initiative von verschiedenen
Vereinen wurde ein Trägerverein gegründet, durch den
jetzt der Umfang von ehrenamtlichem Engagement qualifiziert und zertifiziert festgestellt wird, ja sogar die
Kompetenzen festgehalten werden, die man dabei erworben hat.
({7})
Ein anderes Modell wäre die sogenannte Juleica aus
dem Bereich der kirchlichen Jugendarbeit, die Jugendleiter-Card. Das kann man alles übertragen.
Wenn uns das gelingen würde, dann wäre das ein
wichtiger Schritt in eine richtige Richtung. Ehrenamtliches Engagement könnte dann bei der Festlegung der
BAföG-Förderhöchstdauer angemessen berücksichtigt
werden. Ehrenamt wäre weniger Risiko für die Studierenden, und die BAföG-Regelungen würden zu einem
echten Pluspunkt nicht nur für die engagierten jungen
Menschen, sondern für unsere gesamte Gesellschaft.
Meine Damen und Herren, die jetzt vorgelegte
BAföG-Novelle ist ein wichtiger Schritt in die richtige
Richtung. Ich bin zuversichtlich, dass durch die weiteren
Debatten Verbesserungen in die richtige Richtung erreicht werden können. Wir sollten gemeinsam daran arbeiten.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat nun der Kollege Martin Rabanus für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Wir behandeln heute in erster Lesung die
25. BAföG-Novelle, eine Novelle, die diesen Namen tatsächlich verdient. Das ist gut so, und zwar in mehrerlei
Hinsicht. Es ist gut für die Länder. 100 Prozent Übernahme der BAföG-Kosten durch den Bund bedeuten
eine Entlastung von knapp 1,2 Milliarden Euro, 1,2 Milliarden Euro, die die Länder nun für Bildung in ihren
Haushalten zusätzlich zur Verfügung haben.
({0})
Damit löst die Koalition das Versprechen ein, das wir im
Koalitionsvertrag niedergelegt haben, nämlich dass wir
den Ländern weitere Spielräume verschaffen.
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist aber
vor allen Dingen gut für die Schülerinnen und Schüler
- das will ich an dieser Stelle betonen; viele Schülerinnen und Schüler kommen in den Genuss von BAföGLeistungen -, und es ist auch gut für die Studierenden.
Wir erhöhen die Bedarfssätze. Wir erhöhen die Einkommensfreibeträge. Der Wohnkostenzuschuss ist benannt
worden. Wir erhöhen den Kinderbetreuungszuschuss auf
130 Euro pro Kind - und nicht mehr gestaffelt, sondern
pauschal. Das finde ich ganz wichtig. Wir schließen die
Lücke zwischen Bachelor- und Masterstudium. Wir erreichen 110 000 zusätzliche junge Menschen mit Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz.
Damit hat die Novelle ein Gesamtvolumen von rund
825 Millionen Euro. Das ist in der Tat eine substanzielle
Novelle.
({2})
Nun beginnen die parlamentarischen Beratungen.
Frau Kollegin Lücking-Michel hat bereits einen Aspekt
eingebracht, der sicherlich noch eine Rolle spielen wird.
Auch andere Aspekte werden eine Rolle spielen. Es gilt
das berühmte und berüchtigte Struck’sche Gesetz: Kein
Gesetzentwurf kommt so aus dem Bundestag heraus,
wie er eingebracht worden ist.
({3})
Das ist mal wieder keine Drohung, liebe Frau Ministerin
Wanka, sondern es geht darum, im kommenden parlamentarischen Beratungsverfahren die guten Dinge noch
ein bisschen besser zu machen.
({4})
Damit haben die SPD und die Koalition zwei zentrale
Vorhaben umgesetzt. Das eine zentrale Vorhaben war die
Entlastung der Länder, das zweite zentrale Vorhaben die
Stabilisierung, die strukturelle Stärkung und die Anpas5240
sung des BAföG an die aktuellen Bedürfnisse. Das ist
gut so.
({5})
Natürlich ist der SPD und auch der Koalition bewusst,
dass damit das Thema „Ausbildungs- und Fortbildungsförderung“ für diese Legislaturperiode nicht ad acta gelegt werden kann. Ganz im Gegenteil: Wir werden uns
jetzt sowohl in den einzelnen Fraktionen als auch in der
Koalition insgesamt dem Thema Meister-BAföG intensiver zuwenden. Denn wenn wir für Schülerinnen und
Schüler sowie Studierende jetzt richtigerweise eine Reform des BAföG machen, dann ist es nur folgerichtig,
uns in einem jetzt kommenden zweiten Schritt auch um
die Meisterschüler zu kümmern.
({6})
Dabei sind wir von der Überzeugung geleitet, dass es
eine Gleichwertigkeit der akademischen und der beruflichen Bildung gibt, von der Überzeugung geleitet, dass
sie nicht gegeneinander auszuspielen sind, sondern gemeinsam gedacht werden müssen.
Wenn das so ist, dann müssen wir auch dafür sorgen,
dass wir vergleichbare Förderbedingungen in den Systemen BAföG und AFBG, also Aufstiegsfortbildungsförderung, hinbekommen. Da ist noch eine ganze Menge zu
tun. Gesetzessystematisch werden die Freibeträge und
die Bedarfssätze, insbesondere aus dem BAföG, auch im
Meister-BAföG abgebildet. Aber das ist nur ein Teil dessen, was die Förderlogik im Meister-BAföG ausmacht.
Es gibt den Bereich der Lehrgangs- und Prüfungsgebühren, der im BAföG in der Regel keine Rolle spielt.
Es gibt den Bereich der Prüfungsvorbereitungen, aber
auch den des Meisterstücks, das in der Meisterausbildung gemacht und vorgelegt werden muss. Hier gibt es
nach unserer Überzeugung die Notwendigkeit, bedarfsgerechte Anpassungen vorzunehmen.
({7})
Ich darf mit Erlaubnis des Präsidenten noch einen
Satz sagen, nämlich zum Thema der Zuschuss- und Darlehensbedingungen. Diese sind beim BAföG und beim
Meister-BAföG ganz unterschiedlich. Beim BAföG ist
es so - das wissen wir alle -: 50 Prozent Zuschuss und
50 Prozent Darlehen, zinsfrei. Beim Meister-BAföG ist
es ein geringerer Zuschuss und ein höherer Darlehensanteil, und das verzinslich. Wenn wir es mit der Gleichwertigkeit von beruflicher und akademischer Bildung ernst
meinen, wenn wir es damit ernst meinen, gleiche Förderbedingungen herzustellen, dann müssen wir an dieser
Stelle Veränderungen herbeiführen.
Herzlichen Dank.
({8})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Sven Volmering für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Wenn du kritisiert wirst, dann musst du irgendetwas
richtig machen. Denn man greift nur denjenigen an,
der den Ball hat.
Dieses Zitat von Bruce Lee passt sehr schön zur heutigen
Debatte:
({0})
Die Große Koalition hat den Ball nicht nur gehalten,
sondern mit Ministerin Wanka als Stürmerin Tore geschossen. Die BAföG-Reform wird ein großer Erfolg
werden.
({1})
Wo hat der gerade zitierte Kollege seinen Wahlkreis,
Herr Volmering?
({0})
Bruce Lee - für den, der ihn nicht kennt -: amerikanischer Schauspieler und Kampfkünstler. - Da die Linke
und die Grünen das aber nicht zugeben können, orientieren sie sich in ihrer Kritik lieber am ehemaligen Bundesligaprofi Rolf Rüssmann, der gesagt hat: „Wenn wir
nicht gewinnen, dann treten wir ihnen wenigstens den
Rasen kaputt.“
({0})
Selbst das ist Ihnen in der heutigen Debatte nicht gelungen. Sie haben argumentativ barfuß in den Rasen getreten und sich dabei wehgetan.
Die Linke spricht in ihrer Pressemitteilung vom
20. August 2014 von einem „unwürdigen Schauspiel“,
der Kabinettsbeschluss sei unverantwortlich. Die Grünen sind sich nicht zu schade, in ihren Stellungnahmen
das Wort „Almosen“ in einem Atemzug mit dem Wort
„BAföG“ zu nennen.
({1})
Seriöse Kritik sieht anders aus. Das Deutsche Studentenwerk jedenfalls begrüßt die Reform und spricht von einer „guten Nachricht“.
({2})
Ich kann nicht verstehen, wie man die Erhöhung der
Bedarfssätze um 7 Prozent, die Erhöhung des Wohngeldzuschlags auf 250 Euro, des Förderhöchstsatzes um
9,7 Prozent auf 735 Euro, die Anhebung des Vermögensfreibetrags und des Kinderbetreuungszuschlags als „unwürdiges Schauspiel“ bezeichnen kann. Durch die sieSven Volmering
benprozentige Erhöhung der Einkommensfreibeträge der
Eltern erhalten 110 000 mehr Studierende und Schüler
BAföG.
An dieser Stelle möchte ich auch einmal den Eltern
danken: 87 Prozent der Eltern unterstützen ihre Kinder
während des Studiums monatlich mit durchschnittlich
476 Euro und schränken sich selber ein. Auch das verdient in dieser Debatte einmal Anerkennung.
({3})
Sinnvoll ist auch die Anhebung der Nebenverdienstmöglichkeiten auf 450 Euro. Die Bundesagentur für Arbeit hat im letzten Jahr die „gute Funktion“ der Minijobs
für Studenten und Schüler betont, um Geld zu verdienen.
Wenn man bedenkt, dass zwei Drittel der Studierenden
dies aus unterschiedlichen Gründen tun und der Minijob
dabei eine zentrale Rolle spielt, dann ist die Forderung
der Grünen aus dem Bundestagswahlkampf, die Zahl der
Minijobs einzudämmen, für die junge Generation kontraproduktiv und schädlich.
Mit großer Sorge verfolge ich - das ist angesprochen
worden - die Rolle einiger Bundesländer bei der Verwendung der freiwerdenden BAföG-Mittel in jährlicher
Höhe von 1,2 Milliarden Euro. Als Nordrhein-Westfale
will ich jetzt gar nicht auf die Situation in - sagen wir Niedersachsen eingehen, sondern mich lieber mit meinem eigenen Land beschäftigen.
Meine Landesregierung sagte im Sommer auf Anfrage, dass die freiwerdenden Mittel in Höhe von
279 Millionen Euro im Haushalt eingespeist werden, gab
jedoch nie konkret an, wofür. Vielmehr sprach man davon, dass „angesichts der Konsolidierungsnotwendigkeiten im Landeshaushalt“ NRW die Entlastung eine
Unterstützung im Hinblick auf das Erreichen bildungspolitischer Ziele darstellt. Allein durch die Verwendung
des Begriffs „Konsolidierungsnotwendigkeiten“ ist klar,
dass das Geld dann doch beim nordrhein-westfälischen
Finanzminister landen kann.
({4})
Verschiedene Seiten haben seitdem an die Landesregierung appelliert, im Sinne von Haushaltsklarheit und
-wahrheit mit Nachweis anzugeben, wofür das Geld verwendet wird.
({5})
CDU-Vorschläge liegen lange vor. Ich habe mich beispielsweise dafür eingesetzt, dass 35 Millionen Euro für
die digitale Bildung eingesetzt werden.
({6})
- Ich weiß, dass Sie das alles nicht hören wollen. - Weitere Vorschläge sind zum Beispiel der Ausbau von Masterstudienplätzen,
({7})
die Förderung von Rückkehrerprogramme für wissenschaftlichen Spitzennachwuchs, die Anschubfinanzierung der dringend nötigen medizinischen Fakultät in
Ostwestfalen oder meinetwegen auch die Förderung der
Schulsozialarbeit.
({8})
Auch das ist ein Thema, das meinen Wahlkreis betrifft.
Dann gab es am Dienstag eine große Pressemitteilung
der Landesregierung Nordrhein-Westfalen mit Hinweis
auf die BAföG-Mittel:
Das Land hat das Geld zur Finanzierung neuer
Maßnahmen im Bildungsbereich veranschlagt Großer Trommelwirbel. Wir warten alle, was jetzt
kommt. Und dann:
unter anderem für den Ausbau des offenen Ganztags, weitere Zuweisungen an Kommunen für die
Inklusion und für den Kita-Ausbau.
({9})
Bei allem Respekt: Das sind alles keine neuen Maßnahmen. Alle Ziele sind jetzt schon im nordrhein-westfälischen Haushalt haushaltsrechtlich verankert. Die Hochschulen werden in der Pressemitteilung nicht einmal
erwähnt; stattdessen wird die vereinbarungswidrige Kitaförderung aufgeführt.
({10})
Ein paar globale Minderausgaben kommen in Nordrhein-Westfalen auch immer noch dazu. Dann wird eine
Maßnahme nicht komplett abgerufen, und schon ist das
BAföG-Geld weg. Das ist ein billiger Taschenspielertrick in Nordrhein-Westfalen. Ich fordere die Landesregierung auf, die getroffenen Vereinbarungen auch einzuhalten.
({11})
Es ist doch - damit hat Frau Gohlke sogar recht - ein
Alarmsignal, dass der Präsident des Deutschen Hochschulverbandes, Professor Kempen, mit drastischen
Worten von einer „Schweinerei“ spricht, wenn er an die
BAföG-Mittel-Verwendung durch einige Länder denkt.
Es steht in der Zukunft noch eine Reihe von BundLänder-Verhandlungen an. Es kann nicht sein, dass manche Länder ständig trotz verfassungsrechtlicher Nichtzuständigkeit den Bund auffordern, immer mehr Aufgaben
zu bezahlen, aber gleichzeitig besonders kreativ darin
sind, eigene Hausaufgaben nicht zu erledigen. Das belastet für die Zukunft die angesprochenen Verhandlungen
und schwächt die Länder selbst. Wir beklagen immer
wieder die niedrigen Landtagswahlbeteiligungen.
({12})
Ein Grund dafür ist, dass den Bürgern eine solche Wahl
nicht so wichtig ist wie die Bundestagswahl. Wir brauchen uns dann nicht zu wundern, dass das bei diesem
Verhalten der Länder mit den ständigen selbstschwächenden Rufen nach Abgabe von Verantwortung an Berlin so ist.
Deutschland hat enorm viele gute Erfahrungen mit
dem Föderalismus gemacht. Wir sollten dies nicht durch
taktische Spielchen ruinieren.
({13})
Wir sollten vielmehr sehen, dass wir auch künftig vernünftige Bund-Länder-Beziehungen gestalten. Ich finde,
damit habe ich als letzter Redner eine gute Überleitung
zur morgigen Debatte über die Grundgesetzänderung
und die Aufhebung des Kooperationsverbotes im Hochschulbereich geschaffen.
({14})
Wir sehen uns morgen zur zweiten Halbzeit. Ich bin
zuversichtlich, dass die Große Koalition ihren Vorsprung
noch ausweiten wird.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({15})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 18/2663, 18/460 und 18/2745 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Darf ich bitten, den Schichtwechsel zügig und möglichst geräuschlos vorzunehmen?
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Annalena
Baerbock, Bärbel Höhn, Oliver Krischer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ein Scheitern der nationalen Klimapolitik abwenden und international an Glaubwürdigkeit zurückgewinnen
Drucksache 18/2744
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. - Ich stelle keinen Widerspruch fest. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als Erstem das
Wort dem Kollegen Anton Hofreiter für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der CO2-Gehalt in der Atmosphäre ist im
letzten Jahr so schnell gestiegen wie in den vergangenen
30 Jahren nicht mehr. Die Ozeane sind sogar so sehr versauert wie seit 300 Millionen Jahren nicht mehr. Die
Westantarktis hat in diesem Jahr nach Aussage der Wissenschaft unwiderruflich begonnen, zu schmelzen. Die
drohende Klimakatastrophe zu verhindern oder zumindest zu begrenzen, ist eine gigantische Herausforderung.
Klimaschutz ist aber auch eine ganz konkrete, ja kleinteilige Aufgabe. Man kann das ganz systematisch beschreiben. Es geht darum, unsere Stromproduktion unabhängig von den fossilen Energieträgern, unsere Mobilität
unabhängig vom Öl und unsere Häuser weg vom Aufheizen der Umgebung zu bekommen. Das sind ganz
konkrete Aufgaben.
({0})
Was haben Sie bisher getan? Die Energiewende war
einmal der Motor der deutschen Klimapolitik. Sie haben
diesen Motor auseinandergenommen, und jetzt ruckelt
und stockt es. Dann ist da noch der Kolbenfresser aus
Bayern, Herr Seehofer.
({1})
Er würgt die Energiewende in Bayern komplett ab. Seine
Attacken auf Windkraft und Netzausbau sind absolut unverantwortlich. Damit stellt Herr Seehofer am Ende sogar den Atomausstieg infrage. Die Bundesregierung ist
gefordert, endlich den Geisterfahrer Seehofer zu stoppen.
({2})
Deutschland ist längst nicht mehr Primus beim Klimaschutz oder beim Ausbau der erneuerbaren Energien.
Dänemark will bis zum Jahr 2030 den Strom- und
Wärmebedarf vollständig aus erneuerbaren Energien decken. China will im kommenden Jahr 30 Prozent seines
Energiebedarfs aus erneuerbaren Energien decken. Damit zieht selbst China an Deutschland vorbei. Die künftige rot-grüne Regierung in Schweden will Vattenfalls
Braunkohlepolitik beenden.
({3})
Auf der einen Seite ist das sehr ermutigend. Auf der anderen Seite ist es schon beschämend, dass es der rot-grünen Regierung in Schweden bedarf, damit in DeutschDr. Anton Hofreiter
land Vattenfall aus der Braunkohle aussteigt. Sind wir
nicht in der Lage, unsere eigenen Aufgaben zu erledigen?
({4})
Von den zehn klimaschädlichsten Braunkohlekraftwerken weltweit steht die Hälfte in einem einzigen
Land. Dieses Land ist Deutschland. Wenn wir endlich
nur die Grenzwerte für Quecksilber den US-amerikanischen Standards anpassten, dann müsste Deutschland
alle seine Braunkohlekraftwerke schließen. Das wäre
einmal ein schönes Beispiel. Sie sind doch so große Fans
von TTIP. Passen Sie die deutschen Umweltstandards
denen der USA an! Dann hätten Sie eine vernünftige
Aufgabe.
({5})
Um das 2-Grad-Ziel noch zu schaffen, müssen zwei
Drittel der bekannten fossilen Rohstoffvorräte in der
Erde bleiben. Doch kein einziges Land weltweit fördert
so viel Braunkohle wie Deutschland. Im vergangenen
Jahr 183 Millionen Tonnen! Das ist doch klimapolitischer Wahnsinn!
({6})
Eine der wichtigsten Baustellen für den Klimaschutz
in Deutschland ist die energetische Gebäudesanierung.
Die Sanierungsquote für Gebäude muss dringend erhöht,
am besten verdreifacht werden.
({7})
Das wäre gut fürs Klima, gut fürs Handwerk und gut für
die Investitionen. Auch wenn man an die momentane
Krise denkt, wäre das gut; denn so könnten wir unsere
Abhängigkeit von russischem Erdgas ganz massiv reduzieren.
({8})
Aber in keinem der zentralen Bereiche haben Sie bisher
etwas Substanzielles zustande gebracht.
Sehr geehrte Damen und Herren der Bundesregierung, Sie haben ein süßes Wappentier, dieses „GroKo“.
Leider ist das kein niedliches Reptil, sondern es kommt
daher wie ein überkommenes, träges Fossil mit einem
übergroßen, metertiefen ökologischen Fußabdruck.
({9})
Deutschland wird mit dieser Politik seine selbstgesteckten Klimaschutzziele verfehlen. Im letzten Jahr
sind sogar in Deutschland die CO2-Emissionen wieder
gestiegen. Frau Hendricks, sogar Sie selbst haben das
Problem erkannt. Im Januar haben Sie deshalb ein Sofortprogramm für den Klimaschutz angekündigt. Vor der
Sommerpause wurde dann die lustige Groteske des mittelfristigen Sofortprogramms daraus, und jetzt kommt es
vielleicht im November, vielleicht auch gar nicht. Frau
Hendricks, das ist wirklich das langsamste Sofortprogramm, das ich je erlebt habe.
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn schon national so wenig passiert: Wie schaut es dann mit Ihrem internationalen Engagement aus? Da passiert traurigerweise nicht viel mehr. Als vor zwei Wochen auf
Einladung des UN-Generalsekretärs Ban Ki-moon die
Staats- und Regierungschefs der Welt zusammenkamen,
um neue Impulse für den Klimaschutz zu setzen: Was
machte da die Kanzlerin? Die Kanzlerin machte sich
noch nicht einmal die Mühe, hinzufahren. Stattdessen
war sie beim BDI. Nichts gegen den BDI, aber seien wir
doch einmal ehrlich: Finden Sie nicht selbst, dass es eine
total seltsame Prioritätensetzung ist, eine lokale Lobbyveranstaltung einem internationalen UN-Gipfel vorzuziehen?
({11})
Am nächsten Europäischen Rat wird Frau Merkel
- das vermuten wir sehr - teilnehmen. Aus Brüssel hört
man aber auch nur, dass die europäischen Ziele für Klimaschutz, Energieeffizienz und erneuerbare Energien
weiter geschleift werden sollen - und das, obwohl die
Ziele beim Klimaschutz, zum Ausbau der Erneuerbaren
und zur Energieeffizienz ohnehin schon schwach und
zahnlos sind. Zusammen mit der Personalpolitik der Europäischen Union wird klar: Es besteht die Gefahr, dass
sich die Europäische Union komplett aus der Klima- und
Umweltpolitik zurückzieht. Und was macht die Kanzlerin? Sie macht sich mit ihrem Schweigen de facto zum
Komplizen dieser Wende rückwärts.
({12})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es entsteht gerade
eine neue weltweite Bewegung für den Klimaschutz.
Am 21. September fand die größte Klimademo der Welt
statt. In fünf Kontinenten gingen über 500 000 Menschen auf die Straße, um für den Erhalt ihrer Lebensgrundlagen zu demonstrieren. Sie mahnten entscheidende Weichenstellungen für den Gipfel in Paris im Jahr
2015 an. Leider fallen genau jetzt, wo sich endlich neue
Chancen auftun, Europa und Deutschland als Kämpfer
für den Klimaschutz aus. Das schadet nicht nur dem
Klima, sondern es gefährdet Arbeitsplätze auch hier bei
uns, und es schadet nachhaltiger Wohlstandsentwicklung.
Das erste Jahr, Frau Hendricks, haben Sie leider komplett nutzlos verstreichen lassen. Voraussichtlich drei
Jahre haben Sie noch. Ich erwarte von Ihnen, dass Sie
diese drei Jahre nutzen und endlich in die Gänge kommen.
({13})
Als nächster Redner spricht der Kollege Dr. Georg
Nüßlein.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Herr
Hofreiter spricht von einer gigantischen Herausforderung im Klimaschutz, womit er unumstritten recht hat,
und antwortet dann auf diese gigantische Herausforderung mit einem oppositionellen Gemäkel und Genöle
sondergleichen.
({0})
Er versteigt sich dazu, den bayrischen Ministerpräsidenten als das Haupthindernis beim Klimaschutz zu stilisieren.
({1})
Das kann doch nicht wirklich Ihr Ernst sein, meine Damen und Herren! Ich glaube, wir sollten diese Diskussion schon mit der nötigen Ernsthaftigkeit führen.
National ist es in der Tat so, dass wir zwar sagen
könnten, dass wir die Kioto-Ziele erreichen, aber auf der
anderen Seite ist es unerfreulich, wenn unsere CO2Werte steigen. Dann muss man aber auch nüchtern analysieren, woher das kommt. Das kommt davon, dass wir
aus der Kernenergie aussteigen,
({2})
was richtig ist. Auch das könnte man als große Herausforderung hervorheben. Aber Sie antworten auf diese
Herausforderung mit einer Beschreibung dessen, was
Sie - typisch grün - nicht wollen, nämlich die Kohle,
({3})
ohne auf die Frage zu antworten, wie wir energiepolitisch an der Stelle weiterkommen, wie wir unsere Versorgungssicherheit gewährleisten sollen und wie wir dafür sorgen können, dass wir industriepolitisch diesen
Umschwung tatsächlich überstehen, und wie wir das
Ganze bezahlen sollen. Die Antworten auf all diese Fragen geben Sie nicht.
({4})
Nein, Sie sagen, die Situation sei komplex und schwierig, und weil die Situation so schwierig und komplex ist,
suchen Sie sich noch eine zusätzliche Schwierigkeit,
nämlich die Kohle aus dem Energiemix herauszunehmen.
({5})
Es wäre doch viel besser gewesen, wenn Sie stattdessen der internationalen Dimension Vorrang eingeräumt
hätten. Ich sage Ihnen ganz offen: Klimaschutz wird und
muss international entschieden werden, nicht national.
({6})
Bevor Sie jetzt sagen, das sei ein Feigenblatt, um national nicht handeln zu müssen, möchte ich eines ganz
deutlich unterstreichen.
({7})
- Schreien Sie doch nicht so, sondern hören Sie mir einfach einmal zu. Sie haben doch nachher genügend Redezeit. Dann können Sie darauf antworten.
({8})
- Ausreichend Redezeit, wie ich meine. - Klimaschutz
wird international entschieden. Klimaschutz funktioniert
weltweit nur, wenn das Vorbild Deutschland am Ende
Nachahmer findet.
({9})
Wir werden nur dann Nachahmer finden, wenn wir
auf der einen Seite beim Klimaschutz erfolgreich sind,
aber es uns auf der anderen Seite auch gelingt, Wohlstand und Wachstum in diesem Land zu mehren. Sonst
gibt es keine Nachahmer.
({10})
Ich sage das explizit an die Adresse der Wachstumsskeptiker, der Verzichtseinforderer sowie der Wasserprediger
und Weintrinker in diesem Haus. Es gibt nämlich eine
ganze Menge, die sagen, man müsse gleichzeitig noch
einen Beitrag dazu leisten, dass wir alle ärmer werden
und die Arbeitsplätze verschwinden.
({11})
Klimaschutz, der den Industriestandort Deutschland
gefährdet, kommt für uns nicht infrage.
({12})
- Da geht es nicht nur um die Arbeitsplätze, Frau Höhn,
sondern da geht es insbesondere darum, dass andere uns
auf diesem Weg folgen. Deshalb müssen wir beim internationalen wie beim nationalen Klimaschutz in Zukunft
die Grenzkosten im Blick haben. Was kostet die zusätzliche Reduzierung von 1 Tonne CO2, und gibt es nicht billigere Alternativen für die Reduzierung? Das ist ganz
entscheidend.
Sie haben die Energiepolitik angesprochen. Wir, SPD
und CDU/CSU gemeinsam, haben im Koalitionsvertrag
festgeschrieben:
Die konventionellen Kraftwerke … als Teil des nationalen Energiemixes sind auf absehbare Zeit unverzichtbar.
Wir wollen eben keinem politischen Blütentraum nachhängen, sondern wir sind mit der harten Realität konfrontiert, bei uns hier im Land tatsächlich dafür Sorge zu
tragen, dass zu jeder Sekunde Strom aus der Steckdose
kommt.
({13})
- Nein, das ist kein Argument aus den 70ern. - Wenn
man aus der Kernenergie aussteigt, wenn man die Erneuerbaren ausbaut, und zwar schneller, als Sie sich das jemals erträumt haben - denn die Ziele, die Sie einmal formuliert haben, sind längst weit überschritten -,
({14})
dann muss man sich vergegenwärtigen, dass wir trotzdem die Situation haben, die fluktuierende Einspeisung
regenerativer Energien ausgleichen zu müssen. Dazu
werden wir Gas und in einem gewissen Umfang auch
Kohle brauchen. Das ist die Realität, und mit der müssen
Sie sich letztendlich abfinden.
({15})
Ich will deutlich machen, dass man sich, wenn man
die Grenzkosten im Blick haben will, hinsichtlich der
Mittel und der Frage, was man tut, verständigen muss.
Sie haben klare Ziele: Zwang, Vorgaben, Ordnungspolitik - das ist das, wofür Sie stehen. Wir wollen die Probleme durch marktwirtschaftliche Anreize lösen. Der europäische Emissionshandel hat immerhin den Vorteil,
dass er marktorientiert ist. Nun kann man aus mancherlei
Gründen sagen: Die Zertifikate sind zu billig.
({16})
Es kommt darauf an: Wenn man allein auf das Ziel
schaut, dann entscheidet das Cap, die Mengenbegrenzung. Wenn man allein auf die Einnahmen schaut, dann
kommt man vielleicht zu dem Ergebnis, dass der Emissionshandel dazu nicht geeignet ist. Einnahmen zu erzielen, Töpfe zu füllen, das ist nicht die eigentliche Zielsetzung eines marktwirtschaftlichen, marktorientierten
Emissionshandelssystems.
Man muss auch noch einmal ganz deutlich unterstreichen: Wenn man den Emissionshandel als marktwirtschaftliches System versteht, dann können wir nicht zu
jeder Sekunde in dieses System eingreifen. Wir haben
uns entschlossen, das ein Mal zu tun. Im Koalitionsvertrag ist ganz klar formuliert: Das ist eine Ausnahme. Ich bin sehr kritisch, wenn es darum geht, den Preis der
Zertifikate zu stabilisieren, gegenüber Ideen, den Markt
nicht wirken zu lassen und zu sagen: „Wir schaffen eine
Marktstabilitätsreserve“, als ob es um Währungen ginge,
bei denen die Preisstabilität natürlich einen besonderen
Stellenwert hat. Darum geht es nicht, sondern es geht darum, dem CO2-Ausstoß einen Preis zu geben und am
Schluss dafür Sorge zu tragen, dass diese Thematik über
den Preisdruck an Bedeutung verliert.
Ich finde im Übrigen die in diesem Zusammenhang
von der Automobilindustrie angestoßene Diskussion
über die Frage, ob es Sinn macht, den Verkehr in das
Emissionshandelssystem zu integrieren, sehr spannend.
Darüber muss man diskutieren. Man muss aber auch
konstatieren, dass die Automobilindustrie diese Debatte
anstößt, weil eine solche Integration aus ihrer Sicht das
kleinere Übel sein könnte. Denn das, was zusätzlich aufseiten der Europäischen Union droht, führt möglicherweise dazu, dass speziell die deutschen Automobilbauer
in Schwierigkeiten kommen.
Wir, meine Damen und Herren, produzieren in diesem
Land die Premiumautomobile der Welt. Ich möchte einmal dazusagen: Wir tun das mittlerweile auch sehr stark
umweltorientiert, wir tun das mit einer hohen Effizienz,
und es entstehen Automobile, die im Vergleich zu früher
einen extrem niedrigen Verbrauch haben. Das muss man
auch einmal anerkennen. Wir sollten jetzt aufpassen,
dass gerade das, was aus Brüssel unter dem Deckmantel
der Klimapolitik kommt, am Schluss nicht Industriepolitik ist, der die Überlegung zugrunde liegt: Wie könnte
man das Geschäftsmodell zugunsten des einen oder anderen europäischen Automobilherstellers verändern?
Das ist entscheidend. Deshalb ist mir persönlich Klimaschutz über den Emissionshandel deutlich lieber als alles
andere, was uns da noch einfällt und was am Schluss den
Wettbewerb verändert und die ganze Thematik schwieriger macht.
({17})
Das Gleiche gilt für die angekündigte Energieeffizienzoffensive.
({18})
Auch hier heißt die Überschrift: Anreiz statt Zwang,
Vorrang der Wirtschaftlichkeit. Wir, die Fraktion, für die
ich spreche, haben Vorschläge auf den Tisch gelegt. Ich
gehe davon aus, dass die Regierung sie aufgreifen wird.
Diese Vorschläge reichen von der Vereinfachung bestehender Förderprogramme über die Förderung von KWK,
den Abbau von Hemmnissen für Contracting bis hin zur
Zusammenführung von Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz und EnEV.
({19})
- Sie lesen die Presse nicht, Herr Hofreiter. Das wundert
mich.
({20})
Wir haben insbesondere bei der Thematik Gebäudeeffizienz den Bereich Neubau im Blick; denn wir denken, dass wir auch da noch einmal die Fragen stellen
müssen: Wie kann man den Neubau noch finanzierbar
halten? Was kann man tatsächlich beispielsweise im Be5246
reich der EnEV so gestalten, dass es zu Neubauten
kommt? Wir werden auch bei dem Thema „Smart Meter“ dafür sorgen, dass wir alles nutzen, was sich im
Kontext der Marktorientierung im Energiebereich anbietet, und hier nach vorn kommen.
Aber, meine Damen und Herren, unter dem Strich
wird das Entscheidende sein: Was machen wir mit dem
Gebäudebestand? Da komme ich mir vor wie der alte
Cato mit seinem Ceterum censeo. Wir werden auch noch
einmal darüber reden müssen, wie wir über entsprechende steuerliche Maßnahmen einen Beitrag dazu leisten, dass durch Renovierung tatsächlich Klimaschutz im
Gebäudebereich stattfindet; sonst werden wir das alles
nicht schaffen.
In diesem Sinne vielen herzlichen Dank.
({21})
Als nächste Rednerin spricht die Kollegin Eva
Bulling-Schröter.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Seit Jahrzehnten warnen Bürgerinnen und Bürger, Wissenschaftler, Umweltpolitikerinnen und -politiker vor
den Folgen des Klimawandels, seit Jahrzehnten trifft
sich die Staatenwelt zu Klimakonferenzen, und seit Jahren machen sich nach Megaevents wie dem jüngsten
Ban-Ki-moon-Klimagipfel in New York Enttäuschung
und Frustration breit.
({0})
Die Bilanz für das Klima ist heute weder nachhaltig
noch wirtschaftlich vernünftig. Die Hälfte aller klimaschädlichen Emissionen seit Beginn der Industrialisierung wurde in den letzten 25 Jahren ausgestoßen. Nie
war die CO2-Konzentration in der Atmosphäre so hoch
wie heute - Tendenz steigend.
Auch in Deutschland klafft eine Klimaschutzlücke.
Heute befasst sich der Bundestag erneut mit der Forderung, das offensichtliche Scheitern der Klimapolitik
noch abzuwenden. Die Linke unterstützt natürlich den
Antrag der Grünen; das ist für uns keine Frage.
({1})
Die vielleicht wichtigste Forderung, ein nationales Klimaschutzgesetz mit verbindlichen CO2-Reduktionszielen zu schaffen, ist absolut richtig, liebe Kolleginnen und
Kollegen.
({2})
Erlauben Sie mir an dieser Stelle, Ihr Kurzzeitgedächtnis aufzufrischen. Verbindliche Reduktionsziele hat
die SPD in der letzten Legislatur selbst in einen Antrag
geschrieben. Jetzt frage ich Sie von der SPD: Warum holen Sie den Antrag nicht einfach wieder aus der Programmkiste?
({3})
Oder sitzt da vielleicht der Herr Wirtschaftsminister
Gabriel drauf?
Dieses Zitat will ich Ihnen nicht vorenthalten:
Um die Klimaschutzziele zu erreichen, werden wir
ein verbindliches nationales Klimaschutzgesetz mit
Zwischenschritten … erarbeiten.
Geht doch eigentlich, oder? Das haben Sie Ihren Wählerinnen und Wählern versprochen - vor einem Jahr im
Regierungsprogramm, vor der Bundestagswahl. Heute
sind Sie an der Regierung. Jetzt frage ich Sie: War das
bloß Wahlkampfluft? Also: Tut was!
Der europäische Emissionshandel - wie im Antrag
formuliert, immerhin das zentrale Instrument der EUKlimaschutzpolitik - muss endlich auf die Beine kommen. Aber der Praxistest ist eine Katastrophe, die Lenkungswirkung absolut schwach. Von Anfang an haben
wir gewarnt, es sei blauäugig oder grob fahrlässig, Stahlund Chemiekonzernen, Bankdirektoren und Börsianern
den Klimaschutz zu überlassen.
({4})
Leider haben wir recht behalten; wir haben nicht immer
gerne recht. Jetzt frage ich Sie: Warum sollte ausgerechnet der Markt, der allein dem Gesetz von Wachstum und
Profit folgt, die Erderwärmung aufhalten? Warum? Stattdessen haben zehn Firmen wie ThyssenKrupp und
BASF allein mit überschüssigen Klimazertifikaten bis
2010 über 780 Millionen Euro verdient. Statt CO2 einzusparen, wird der Emissionshandel zum Goldesel für Aktieninhaber.
Verbindliche Reduktionsziele braucht die Wirtschaft;
schließlich sind rund 90 Global Players für zwei Drittel
der weltweiten CO2-Emissionen verantwortlich. 90 Global Players! Wir finden, diese Unternehmen müssen ihrer Verantwortung endlich gerecht werden. Das müssen
wir von ihnen einfordern.
({5})
Natürlich sind auch die Forderungen nach einem Ausstieg aus der Kohleverstromung richtig. Dass diese CO2Schleudern in Form von Kraftwerken großen Schaden
anrichten, nicht nur beim Klima, auch am Menschen, ist
bekannt. Leider fehlt dem Antrag der Grünen ein konkretes Ausstiegsdatum. Es wäre sinnvoll gewesen, ein
solches Datum zu benennen. Wir wollen den Kohleausstieg und Strommengenbegrenzungen für Kohlekraftwerke, damit 2040 Kohleschlote Geschichte sind. Ich
finde, das ist ein guter Plan.
({6})
Die Schweden machen es vor, liebe Kolleginnen und
Kollegen.
Jetzt wird gern mit dem Finger auf die Kohlefans bei
der SPD gezeigt. Das ist auch richtig. Das, was mich ärgert, ist, in der öffentlichen Wahrnehmung kommt die
Union viel zu gut weg.
({7})
Um es hier einmal ganz deutlich zu sagen: Die Bundeskanzlerin ist keine Klimakanzlerin, die Union ist eine
Partei des Klimawandels.
({8})
Sie will mehr Braun- und Steinkohle - sei es aus Russland, der Mongolei, dem Bürgerkriegsland Kolumbien ({9})
oder Teersande aus Kanada. Sie bremst den Ausbau der
Erneuerbaren, sie verteidigt die fossilen Energieriesen.
({10})
Die Union hat das Klimaschutzversprechen der SPD aus
dem Koalitionsvertrag geboxt. Das wart ihr. In Brüssel
sperrt sie sich gegen alles, was der Automobilindustrie
schärfere Abgasnormen beschert.
({11})
Da seids’ ihr immer voran.
Der Kanzlerin hatten wir den alten EU-Energiekommissar Günther Oettinger, einen Klimabremser vor dem
Herrn, zu verdanken. Auch mit dem neuen EU-Kommissar für Energie und Klima, Miguel Cañete, der nicht nur
im spanischen Ölgeschäft mitmischt, sondern auch noch
frauenfeindliche Sprüche klopft, hat das Regierungslager kein Problem. Damit habts’ ihr kein Problem. Im Gegenteil: Der Chef der CDU/CSU-Gruppe in Brüssel,
Herbert Reul, lobt die Wahl des Öllobbyisten als klug.
Endlich seien Energie und Klima in einer Hand.
({12})
Also, die Lobby schlägt da ganz schwer zu. Saludos
Amigos!
({13})
Und in Berlin kürzt die Union - einmal mit der FDP,
jetzt mit der SPD - bei der nationalen und internationalen Klimaschutzfinanzierung. Im Gegenzug entgehen
dem Fiskus durch Steuervergünstigungen für Agrodiesel, kostenfreie CO2-Zertifikate an Unternehmen und Industrierabatte bei der Ökostromumlage Milliarden. 2006
lagen umwelt- und klimaschädliche Subventionen noch
bei 42 Milliarden Euro pro Jahr. Heute sind es 51 Milliarden Euro. Die schwarze Null im Haushalt, auf die das
Finanzministerium so stolz ist, ist ökologisch blanker
Unsinn. Dass die Schuldenbremse nicht zum Brandbeschleuniger des Klimawandels werden darf, das müsste
doch eigentlich jedem einleuchten, meine Damen und
Herren.
Jetzt noch zum Schluss, Herr Nüßlein, als Vertreter
der Kolbenfresserpartei:
({14})
Sie wollen, dass Deutschland Vorbild ist. Es gibt hierfür
Alternativen: Energieeffizienz, Kraft-Wärme-Kopplung. Dazu gab es gestern einen Kongress. Es gibt viele
Dinge. Packen Sie es jetzt endlich einmal an, auch das
mit der Energieeffizienz! Dann wird es auch mit den
Kolben besser.
({15})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, als nächste Rednerin hat Bundesministerin Dr. Barbara Hendricks das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich habe vor zwei Wochen bei den Vereinten Nationen
gesagt, dass es eine friedliche Welt im 21. Jahrhundert
nur geben kann, wenn die Staaten dieser Erde den
Kampf gegen den Klimawandel zügig und entschlossen
aufnehmen, sofern sie es noch nicht getan haben. Wir
nehmen vielen Menschen die Chance auf eine friedliche
Zukunft, wenn wir glauben den Status quo unserer Lebensweise fortführen zu können.
({0})
Ich sage nicht zum ersten Mal in diesem Hause: Die
Wende zu einer Wirtschafts- und Lebensweise, die die
planetarischen Grenzen der Erde respektiert, ist eine der
größten Herausforderungen unserer Zeit.
({1})
Sie ist das Fundament für die Zukunft der uns folgenden
Generationen. Das gilt übrigens nicht nur für das Bundesumweltministerium, sondern für uns alle.
Der Klimagipfel in New York war ja erwartungsgemäß kein Beschlussgipfel, aber er hat einen Push im
Hinblick auf die vor uns liegenden offiziellen Klimakonferenzen in Lima und insbesondere in Paris am Ende des
nächsten Jahres gegeben. Gleichwohl wurde auf dem
Klimagipfel eines erreicht: Es wurde nämlich Staaten
abverlangt bzw. sie wurden dazu auch gezwungen, Versprechen abzugeben; das bezieht sich insbesondere auf
die Vereinigten Staaten von Amerika, aber auch auf die
Volksrepublik China. Deswegen bin ich weiterhin zuversichtlich, dass es uns gelingt, in Paris am Ende des
nächsten Jahres die Ziele festzulegen, die wir brauchen,
damit der Klimawandel tatsächlich nicht weiter fortschreitet und die Erderwärmung auf maximal 2 Grad im
Verhältnis zur vorindustriellen Zeit beschränkt wird. Das
haben wir alle uns vorgenommen, und dieses Ziel ist
wissenschaftlich fundiert; das steht jetzt außer Zweifel.
Es sind vielleicht noch 3 Prozent der Wissenschaftler auf
der Erde, die das anders sehen. Es gibt auch noch eine
oder zwei Regierungen auf der Welt, die den Klimawandel schlankweg negieren. Aber das wird zu überwinden
sein.
Über 400 000 Bürgerinnen und Bürger waren beim
People’s Climate March, und es hat weltweit Hunderte
Veranstaltungen gegeben. Es war in der Tat ein Geist des
Aufbruchs in den Verhandlungen zu spüren. Es gab deutliche Bewegungen in den Positionen Chinas und der Vereinigten Staaten. Das Bekenntnis, dass Paris 2015 ein
Erfolg werden soll, wurde von fast allen Staaten abgegeben, nicht von allen, aber von fast allen Staaten. Es gab
auch Zusagen hinsichtlich der Erstauffüllung des Grünen
Klimafonds. Wie Sie wissen, hat die Bundesregierung
als erste Regierung schon im Sommer das Signal gegeben und gesagt: Wir werden bis zu 750 Millionen Euro
für die Erstauffüllung des Grünen Klimafonds bereitstellen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wird hier zu
Hause manchmal gesagt, wir hätten die Vorreiterrolle
beim Klimaschutz verloren.
({2})
- Ja, das sagen Sie so: „Haben wir auch!“ Ich war beim
People’s Climate March und hatte Gelegenheit, neben
Mary Robinson und Gro Harlem Brundtland zu gehen,
was natürlich, für sich gesehen, schon eine Ehre ist; das
muss man so sagen. Sie hatten Schilder mit ihren Namen
- also „Mary Robinson“ und „Gro Harlem Brundtland“ -,
und darunter war gedruckt: „says #NowNotTomorrow“,
also: jetzt handeln, nicht später.
({3})
Dann konnte auch ich solch ein Schild bekommen, auf
dem ich meinen Namen „Barbara Hendricks“ und darunter „Germany“ eingetragen habe - „says #NowNotTomorrow“ konnten die Menschen darunter lesen. Jetzt haben die Menschen, die beim People’s Climate March
waren, mich nicht gekannt; aber sie haben das Wort
„Germany“ gelesen. Das führte dazu, dass unglaublich
viele Menschen auf mich zukamen und sinngemäß gesagt haben: Hey, you are making a great job. Thank you
for that! - Wir werden also in der Welt als diejenigen
wahrgenommen, die die Vorreiter sind
({4})
und auf die sich die Menschen verlassen. Das betrifft
nicht nur die Menschen, die beim People’s Climate
March unterwegs waren, sondern auch die Vertreter der
Staaten, die unserer Hilfe bedürfen, zum Beispiel die
Small Island States, die unsere Freunde sind und die wissen, dass sie sich auf uns verlassen können. Und sie können sich auch auf uns verlassen.
({5})
Ja, es ist so, liebe Kolleginnen und Kollegen, nach
wie vor schaut die Welt auf Deutschland, wenn es darum
geht, Wohlstand und Wachstum vom Verbrauch fossiler
Ressourcen zu entkoppeln. Wir sind das Vorbild, an dem
viele Staaten ihre Klimaschutzpolitik ausrichten. Bei aller Kritik, die es hierzulande gibt: Ein wenig Stolz auf
den Weg, den wir in den vergangenen 15 Jahren in
Deutschland zurückgelegt haben, halte ich durchaus für
angebracht. Das würde es unseren Bürgerinnen und Bürger erleichtern, zu sagen: Ja, wir sind bereit, zum Beispiel Zusatzkosten beim Strom zu tragen, weil wir damit
einen Push für die Entwicklung der Welt geben. Denn
wenn die Solarenergie endlich marktfähig ist, sodass sie
sich auch in den Ländern der Dritten Welt durchsetzt,
dann ist dies das größte Geschenk, das Deutschland der
Welt machen kann.
({6})
Und dafür sind wir als Vier-Personen-Familie auch bereit, im Jahr 70 Euro mehr für Strom zu zahlen.
Wir können stolz darauf sein.
({7})
Und ich denke, wir sollten endlich auch stolz sein und
den Bürgerinnen und Bürgern anhand solcher Beispiele
klarmachen, dass wir positiv voranschreiten, dass es
nicht ausschließlich um unsere eigene Stromversorgung
geht, sondern auch darum, eine saubere und sichere
Energieversorgung insbesondere für die Menschen in
den ärmeren Ländern der Welt zur Verfügung zu stellen,
was natürlich positive Folgen für die gesamte Welt hätte,
also zum Beispiel auch den Armutsdruck und den
Flüchtlingsdruck, mit dem wir sonst auf jeden Fall zu
rechnen haben, vermindern würde.
({8})
Mittlerweile ist es ja so: Der Anteil der erneuerbaren
Energien ist höher als der aller anderen Energieträger.
Wir sind Schrittmacher bei der Reduktion der Treibhausgase. Mit unserer Nationalen und unserer Internationalen
Klimaschutzinitiative leisten wir einen direkten Beitrag
zum Klimaschutz. Der Wandel zu einer nachhaltigen
Wirtschafts- und Lebensweise ist eben keine Bürde, sondern ein Gewinn. Er macht unser Land zukunftsfähig,
führt zur Modernisierung unserer Wirtschaft und macht
uns unabhängiger von Energieimporten, was natürlich
schon jetzt für den inländischen Konsum von hoher Bedeutung ist und in Zukunft zunehmend sein wird. Gerade
weil wir international das erste große Industrieland sind,
das entschlossen auf erneuerbare Energien setzt, dürfen
wir in unseren Anstrengungen natürlich nicht nachlasBundesministerin Dr. Barbara Hendricks
sen. Deshalb habe ich in New York weitere Maßnahmen
auf nationaler und internationaler Ebene in Aussicht gestellt, zum Beispiel die von mir schon erwähnte Auffüllung des Green Climate Fund.
Wir haben im Übrigen beschlossen, jeden Neubau
von Kohlekraftwerken kritisch zu überprüfen und in der
klima- und entwicklungspolitischen Zusammenarbeit
keine finanziellen Mittel mehr für den Neubau von Kohlekraftwerken zur Verfügung zu stellen. Die Modernisierung laufender Kohlekraftwerke werden wir in diesem
Zusammenhang nur noch eingeschränkt und nach klar
definierten Kriterien finanzieren. Auch dies habe ich in
New York angekündigt.
Wir haben die Ratifizierung der zweiten Verpflichtungsperiode des Kioto-Protokolls als einer der ersten
Staaten in Angriff genommen, und - auch das durfte ich
in New York verkünden - wir werden überflüssige, aus
dem Kioto-Protokoll resultierende Emissionsrechte
löschen. In dem Umfang, in dem wir unsere Minderungsverpflichtungen nach EU-Recht bis zum Jahr 2020
übererfüllen, werden die nicht benötigten Zertifikate
sukzessive gelöscht. Damit verhindern wir, dass zusätzliche Klimaschutzanstrengungen in Deutschland verpuffen, weil diese Zertifikate anderswo auf der Welt oder zu
einem späteren Zeitpunkt zu zusätzlichem Treibhausgasausstoß führen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die logische Konsequenz aus dem weiteren Ausbau der erneuerbaren Energien in unserem Land ist ein schrittweise reduzierter Anteil an der Kohleverstromung. Wir alle kennen unser
Ziel: Wir wollen den Treibhausgasausstoß bis 2050 um
80 bis 95 Prozent reduzieren, und bis 2050 soll der Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung
80 Prozent betragen.
({9})
Es liegt doch auf der Hand, dass dies eine weitgehende
Abkehr von fossilen Energieträgern bedeutet.
Ich habe nicht umsonst unsere Ziele noch einmal definiert: Sie richten sich auf das Jahr 2050. Das ist ein Prozess. Das ist ein Weg dorthin, den wir gemeinsam gehen.
({10})
Insofern ist eine Forderung nach dem Motto „Steigen
wir jetzt aus der Kohle aus!“ einfach unverantwortlich.
Wir werden aber bis 2050 unsere Ziele erreichen.
({11})
Bei einem so komplexen Prozess läuft natürlich nicht
immer alles glatt und nach Plan. Nicht jede Entwicklung
kann vorhergesehen werden. Es ist nicht gut, dass in den
vergangenen zwei Jahren der CO2-Ausstoß in Deutschland wieder gestiegen ist; aber die Bundesregierung hat
die Baustellen erkannt und geht sie entschlossen an.
({12})
Ich gehe im Übrigen davon aus, dass in diesem Jahr der
CO2-Ausstoß wieder sinken wird.
Es besteht kein Zweifel: Genauso wie sich die Bundesregierung mit aller Kraft für ein neues internationales
Klimaschutzabkommen einsetzt, wird sie ihre nationalen
Aufgaben erfüllen. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie arbeitet an einem neuen Strommarktdesign. Das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit arbeitet zusammen
mit dem Bundesministerium für Wirtschaft und Energie
an der Reform des Emissionshandels, auch auf europäischer Ebene. Daneben arbeiten wir an einer Klima- und
Energiestrategie 2030 auf europäischer Ebene; auch der
Treibhausgasausstoß muss natürlich auf europäischer
Ebene gesenkt werden. Sie wissen aber, dass Politik, insbesondere auf europäischer Ebene, nicht durch das Beharren auf Maximalforderungen gelingt, sondern durch
kontinuierliche und ausdauernde Überzeugungsarbeit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, als Bundesumweltministerin werde ich mich mit aller Kraft dafür einsetzen, dass wir unser Ziel, bis 2020 40 Prozent CO2 weniger auszustoßen, auch erreichen. Ich werde deshalb noch
vor dem Klimagipfel in Lima im Dezember ein Aktionsprogramm vorstellen. Es heißt auch nicht mehr Sofortprogramm, sondern Aktionsprogramm
({13})
- das tröstet Sie nicht, aber ganz dumm bin ich auch
nicht - und beinhaltet zusätzliche Klimaschutzmaßnahmen. Die Bundesregierung zieht hier an einem Strang.
Daneben sollten wir den Blick nicht auf den Energiesektor verengen. Energetische Sanierung von Gebäuden,
Verkehr und Landwirtschaft: All dies muss mit in das
Blickfeld genommen werden.
Nach der Vorlage eines Aktionsprogramms werden
wir im Jahr 2016 einen nationalen Klimaschutzplan beschließen, der konkrete Reduktionsschritte und Maßnahmen für die Zeit bis 2050 beinhalten wird. Sie sehen, die
Bundesregierung steht zu den beschlossenen Klimaschutzzielen und arbeitet an konkreten Schritten in Richtung einer weitgehend dekarbonisierten Wirtschafts- und
Lebensweise bis Mitte dieses Jahrhunderts.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten uns alle
darüber bewusst sein, dass die ökologische Wende unseres Landes unsere gemeinsame Aufgabe ist, die wir den
kommenden Generationen schulden und die wir Stück
für Stück angehen müssen. Dabei müssen wir auch die
ökonomischen und sozialen Auswirkungen dieses Prozesses im Blick haben. Pragmatische Schritte zu einem
festbestimmten Ziel sind deshalb immer besser als große
Worte.
Vielen Dank.
({14})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Annalena
Baerbock das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Sehr geehrte Frau Hendricks, bei diesen warmen
Worten wird einem immer ganz kuschelig und warm
ums Herz. Das Problem ist nur, dass das hier keine Märchenstunde ist, sondern dass wir uns im Deutschen Bundestag befinden.
({0})
Das Problem ist auch, dass Sie sagen, wie schön es in
New York war. Im Europaausschuss mussten wir dann
von Ihrer Chefin hören: Ach ja, es war ganz nett, dass
Leonardo DiCaprio dort gesprochen hat. Ein paar Häppchen gab es auch. - Das ist wirklich zynisch. Das Problem ist, dass Ihre geplanten Vorhaben eben nicht bis zur
Chefin vordringen.
({1})
Sie dringen noch nicht einmal zu Ihrem Kollegen im
Wirtschaftsministerium oder zu Ihren Staatssekretären
durch. Seit einem Dreivierteljahr fragen wir die Bundesregierung, Ihre Staatssekretäre, die Minister: Was sind
Ihre Ziele, Ihre Maßnahmen für die europäische Energieund Klimastrategie 2030? Es ist sehr bezeichnend, dass
Sie zwar zehn Minuten über die Ziele bis 2050 sprechen,
dass Sie aber über die Ziele bis 2030, die in zwei
Wochen verhandelt werden, kein einziges Wort verloren
haben.
({2})
Seit einem Dreivierteljahr bekommen wir auf unsere
Fragen immer wieder die Antwort: Im Januar haben wir
einen Brief geschrieben, dass wir ambitionierte Ziele
wollen. - Im Januar - das ist wirklich unglaublich! Der
Höhepunkt dieser Sprachlosigkeit war gestern im Umweltausschuss. Da fragten wir den Staatssekretär, wie die
Bundesregierung politisch - nicht auf Arbeitsebene - zu
den Vorschlägen des informellen Rates hinsichtlich der
2030-Ziele steht. Was sagte der Staatssekretär? Dazu
könne er nichts sagen. Dies ist eine wirklich interessante
Antwort zwei Wochen vor dem wichtigsten Gipfel der
Europäischen Union in diesem Jahr.
({3})
Dann komme ich zur KfW. Sie haben in New York
ganz groß angekündigt, dass Sie aus der KfW-Auslandsfinanzierung aussteigen. Ich weiß nicht, ob Sie das nicht
tief durchdrungen haben oder ob Sie diesen Bluff gerne
mitmachen. Wenn Sie sagen, dass Deutschland aus der
KfW-Finanzierung aussteigt, dann sagen Sie bitte auch,
dass es aus einem Drittel der Kohlefinanzierung im
Ausland aussteigt. Zwei Drittel, nämlich über die IPEX,
sollen so weitergeführt werden wie bisher, bzw. es wird
gesagt, man wisse weiter nichts. Zwei Tage nach New
York antwortete in der Fragestunde des Deutschen
Bundestages eine Staatssekretärin aus dem Wirtschaftsministerium und ein Staatssekretär aus dem Umweltministerium auf die Frage: „Ist IPEX auch mit betroffen?“
folgendermaßen: Keine Ahnung, wir wissen es auch
nicht.
Herr Schwabe.
({4})
Es ist ja nett, dass Sie mir die Arbeit abnehmen wollen. Aber, Frau Baerbock, das entscheide ich. Trotzdem
hat Herr Schwabe jetzt das Wort zu einer Zwischenfrage.
Vielen Dank, Frau Kollegin Baerbock; Sie sind ja
sehr in Fahrt. - Sie haben von der europäischen Situation
gesprochen. Können Sie versuchen, zu beschreiben, wie
sie sich zurzeit darstellt? Wo ist eigentlich Deutschland?
Sie haben über die 2030-Ziele geredet. Wir könnten den
Emissionshandel hinzunehmen. Es gibt Vorschläge für
die 2030-Ziele. Es gibt Vorschläge zur Reform des
Emissionshandels. Wenn Sie sich einmal die 28 Länder
der Europäischen Union ansehen: An welcher Stelle
wäre Ihrer Meinung nach Deutschland: eher bei den progressiven Ländern oder bei den Bremserländern?
Ich würde Deutschland im oberen Mittelfeld einordnen. Ich weiß aber nicht, ob das der eingenommenen
Vorreiterrolle gerecht wird.
Mein Kollege Hofreiter hatte das Beispiel Dänemark
angesprochen, das ganz klar mit folgendem Ziel in die
Verhandlungen hineingeht: Bis 2030 - über dieses Jahr
wird auf dem EU-Gipfel verhandelt, nicht über 2050 wollen wir zu 100 Prozent auf Erneuerbare umstellen.
Ein solcher Vorschlag ist von Deutschland nicht gekommen. Es gibt andere Länder, die deutlich machen: Wenn
die Ziele abgeschwächt werden, dann werden wir diesem ambitionslosen Maßnahmenpaket nicht zustimmen.
Diese Frage haben wir gestern im Umweltausschuss
auch dem Staatssekretär gestellt, wie es eigentlich mit
einem deutschen Veto aussieht, wenn die im Januar
formulierten deutschen Vorschläge keine Berücksichtigung fänden. Darauf gab es keine Antwort, weil man
sich darüber noch keine Gedanken gemacht hat.
Ein letzter Punkt. Wir waren mit dem Europaausschuss gerade in Prag. Natürlich reden wir mit den
Tschechen und auch mit den Polen. Natürlich wissen
wir, dass die nicht begeistert sind, jetzt neue Ziele zu
vereinbaren. Aber die Antwort der deutschen Bundesregierung kann doch nicht sein, sich hinter diesen harten
Nüssen - Polen, Tschechien und anderen Ländern - zu
verstecken. Dies gilt gerade dann, wenn man Vorreiter
sein möchte, wie es Herr Nüßlein eben dargestellt hat.
Vielmehr muss man vorangehen. Man muss zudem deutlich machen: Einstimmigkeit ist gar nicht geboten. Wir
können auch über eine qualifizierte Mehrheit gehen. Das
ist auch so ein Märchen, dass gesagt wird, das muss alles
einstimmig sein.
({0})
Wir erwarten, dass Sie Verantwortung übernehmen.
Das formulieren wir auch ganz klar in unserem Antrag.
Herr Nüßlein, wenn Sie unseren Antrag gelesen hätten,
wüssten Sie, was wir von der Bundesregierung, die
Vorreiter sein möchte, in Bezug auf die europäische
Energie- und Klimastrategie 2030 erwarten.
Wir erwarten jetzt, dass Sie die nächsten zwei Wochen nutzen und über die Ziele für 2030 verhandeln.
Wenn von dem 40-Prozent-Ziel abgewichen werden soll,
dann erwarten wir, dass Sie sagen: Nicht mit Deutschland!
Wir erwarten vor allen Dingen - ich verweise auf das
informelle Ratstreffen -: Wenn das Energieeffizienzziel
und das Erneuerbare-Energien-Ziel aufgeweicht und von
30 Prozent auf 27 Prozent gesenkt werden sollen - so
wie wir das gerade hören -, wenn die Vorgaben national
nicht mehr verbindlich sein sollen, dann hauen Sie auf
den Tisch, so wie Sie das bei den CO2-Grenzwerten für
Autos getan haben! Es ist doch nicht so, als sei Deutschland irgendein kleines Licht in Europa. Meine Güte, das
ist wirklich unglaublich!
({1})
Ich würde gerne auf das Thema KfW zurückkommen,
da das der Punkt sein wird, den Sie in den nächsten
Monaten immer weiter vor sich hertreiben werden. Sie
haben gesagt, Sie diskutieren das noch mit dem
Wirtschaftsminister. Diejenigen, denen Klima- und Umweltpolitik wirklich wichtig ist - der Rest braucht ja
nicht zuhören -, sollten sich überlegen, was Sie mit der
KfW-Auslandsfinanzierung im Bereich Kohle eigentlich
machen wollen. Das Problem ist: Wenn wir zwei Drittel
der Vorhaben über IPEX nicht erfassen, dann werden
klima- und umweltpolitisch grandiose Vorhaben wie der
Bau eines Kohlehafens im Great Barrier Reef weiter mit
deutscher Unterstützung finanziert. Das kann doch nicht
Ihre Antwort auf die größte Herausforderung des Jahrhunderts sein!
({2})
Wenn Sie das Ganze so umsetzen, wie es derzeit
angedacht ist, dann ist die entscheidende Frage, was innerhalb des einen Drittels der internationalen Kohlefinanzierung alles erfasst wird. Sie haben eben ausführlich dargestellt, dass Sie keine Kohlekraftwerke mehr
finanzieren wollen. Dann ist immer noch nicht die Frage
geklärt: Was ist mit der Kohleinfrastruktur? Auf meine
schriftliche Frage antwortete das Ministerium, nein,
Kohleinfrastruktur sei auch nicht mit erfasst, sondern
nur die Kohlekraftwerke. Kohleminen, wie zum Beispiel
in Kolubara in Serbien, seien gar nicht erfasst, weil die
Förderung in dieser Region nur als Maßnahme zum
Schutz der Umwelt diene.
Wenn Sie sich weiter so verhalten, dann sind wir
- das kann ich Ihnen garantieren, Herr Schwabe - beim
Klimaschutz nicht mehr im oberen Drittel, sondern ganz
weit unten. Das wäre wirklich fatal für Deutschland und
für die Welt insgesamt.
Vielen Dank.
({3})
Der Kollege Pronold erhält das Wort zu einer Kurzintervention.
Sehr geehrte Frau Baerbock, ich weiß nicht, in welchem Ausschuss Sie gestern waren. Ich war offensichtlich in einem anderen.
Erste Bemerkung. Sie haben gestern im Ausschuss
behauptet, die Bundesregierung würde sich weigern,
Ihre gestellten Fragen anschließend in der Fragestunde
zu beantworten. Der Punkt war: Sie waren anschließend
in der Fragestunde gar nicht da, um die Antworten entgegenzunehmen.
({0})
Der zweite Punkt ist: Sie haben hier behauptet, ich
hätte keine Antwort auf die Frage gegeben, wie sich die
Bundesregierung verhalten werde für den Fall, dass die
Klimaverhandlungen scheitern. Ich habe Ihnen als Antwort gegeben, dass wir im Ausschuss über ein informelles Vorgespräch berichten und es Ziel der Bundesregierung ist, die Klimaverhandlungen zum Erfolg zu führen,
wir aber nicht öffentlich darüber sinnieren, was passiert,
wenn sie scheitern. Wir sind nämlich ins Gelingen verliebt. Wir wollen hier, im Deutschen Bundestag, keine
Schaufensterpolitik betreiben, sondern wir wollen den
Klimaschutz voranbringen.
({1})
Frau Kollegin Baerbock, Sie haben die Möglichkeit
zur Erwiderung.
Herr Pronold, wir schätzen uns ja sehr. Aber man
muss den Tatsachen schon ins Auge sehen:
Zum einen zur Sitzung gestern im Umweltausschuss:
Mehrere Mitglieder des Umweltausschusses sind hier;
sie können gerne nachher Stellung dazu nehmen, wie
Ihre Antwort war. Meine konkrete Frage war: Wie steht
die Bundesregierung politisch - ich habe unterstrichen:
politisch und nicht auf Arbeitsebene - zu den Formulierungen im derzeitigen Textentwurf hinsichtlich der
2030-Ziele, nach denen das Ganze nicht national, also
„domestic“, geregelt wird, und wie steht sie dazu, dass
„at least“ nicht drinsteht? Und ich habe gefragt, wie sie
gegebenenfalls zur Absenkung des Erneuerbaren-Ziels
auf 27 Prozent steht. Darauf haben Sie nicht geantwortet.
Mehrere Personen waren Zeugen.
Der zweite Punkt ist das Veto. Natürlich können Sie
sagen: Wir wollen kein Veto einlegen. - Das wäre eine
Antwort gewesen. Meine Frage war: Werden Sie das in
den nächsten Wochen machen, ja oder nein?
Die Fragestunde, von der ich gesprochen habe, fand
in der letzten Sitzungswoche statt. Es ging um das
Thema KfW. Sie können sich sicher gut daran erinnern.
Frau Zypries war auch anwesend; wir haben auch Frau
Zypries befragt. Auch in dieser Fragestunde gab es keine
Antwort auf die Frage, wie es mit der KfW-Finanzierung
aussieht.
Zur gestrigen Fragestunde - in diesem Zusammenhang können wir gerne noch eine Runde um die Frage
drehen, wie das mit dem Fragerecht im Deutschen Bundestag aussieht, mit dem Recht, die Bundesregierung zu
befragen -: Wir hatten eine Reihe von Fragen zur 2030Strategie - das ist für uns ein sehr wichtiges Thema und zum informellen Ratstreffen gestellt. Diese Fragen
wurden mit Hinweis auf die Geschäftsordnung abgesetzt; denn heute findet ja eine Debatte darüber statt. Wir
haben dagegen ein Veto eingelegt. Aber die Geschäftsordnung ist so, wie sie ist. Die Bundesregierung möchte
das derzeit ja nicht ändern; wir diskutieren das ja gerade
mit Ihnen. Wäre es anders, hätten wir Gelegenheit gehabt, uns ausführlich darüber auszutauschen. In diesem
Format heute ist das ja leider nicht möglich. Wir haben
gestern fast zehn Fragen zu diesem Thema eingereicht,
die leider alle nicht behandelt wurden.
({0})
Als nächster Redner in der Debatte hat der Kollege
Andreas Jung das Wort.
({0})
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, sich an die
Redezeit zu halten. Ich war bisher sehr großzügig; aber
wir müssen wirklich ein bisschen in der Redezeit bleiben. - Herr Kollege Jung, ich gehe davon aus, Sie werden sie einhalten. Das werden Sie schaffen. Die Kollegen, die danach sprechen, halten sich bitte auch an die
Redezeit.
Frau Präsidentin, ich setze auf Ihre fortgesetzte Großzügigkeit.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! In dieser Debatte
war einiges an Polemik im Spiel.
({1})
Ich kann und will nicht auf alles eingehen; aber, Frau
Bulling-Schröter, eines will ich doch sagen: Es gehört
ein gerüttelt Maß an Fantasie dazu, um umstrittene Äußerungen von designierten EU-Kommissaren mit der
Klimapolitik der Bundesregierung in Zusammenhang zu
bringen.
({2})
Vor allem will ich eines nicht im Raum stehen lassen,
weil ich das für ein gefährliches Spiel halte: Ich meine
die Tatsache, dass Sie hier die Haushaltskonsolidierung
und die Klimapolitik gegeneinander ausspielen und dabei die schwarze Null infrage stellen. Beides gehört zusammen, wenn man das Thema Nachhaltigkeit ernst
nimmt. Bei der Haushaltskonsolidierung geht es darum,
dass wir mit der Schuldenmacherei Schluss machen. Wir
sagen: Wir dürfen künftigen Generationen keine Lasten
aufbürden, und wir dürfen ihren Handlungsspielraum
nicht beschneiden. Wir müssen im Sinne der kommenden Generationen handeln und wirtschaften. Das gehört
genauso zur Nachhaltigkeit wie Klima-, Umwelt- und
Naturschutz. Das ist die Linie der Bundesregierung und
in besonderer Weise die Linie der Union. Deshalb will
ich das nicht so im Raum stehen lassen.
({3})
Ich will an das anknüpfen, was die Bundesumweltministerin dargestellt hat: Deutschland hat in der Klimapolitik international immer eine aktive Rolle gespielt,
und diese Rolle nehmen wir weiter wahr. Wir alle spüren
auf den internationalen Konferenzen, dass man auf uns
setzt, dass man auf unsere Vorreiterrolle setzt. Es gilt in
der Tat, daran anzuknüpfen. Es stehen wichtige Entscheidungen, wichtige Schritte bevor. Da ist zum Beispiel der Europäische Rat im Oktober dieses Jahres. Auf
diesem geht es darum, ehrgeizige Ziele im Rahmen der
Zieltrias zu formulieren, insbesondere ein ambitioniertes
Reduktionsziel zu definieren und dann in die internationale Debatte einzubringen, um zu zeigen: Wir in Europa
gehen auf dem Weg weiter, den wir bisher beschritten
haben, und wir wollen andere mitnehmen.
Das ist die Politik der Bundesregierung, und es ist
speziell auch die Politik der Kanzlerin, die in diesem
Jahr angekündigt hat, dass sich Deutschland mit
750 Millionen Euro am Green Climate Fund, also an
dem Fonds, mit dem Klimaschutz in Entwicklungsländern vorangebracht werden soll, beteiligt. Wir vertrauen
und setzen darauf, dass die Bundesregierung die G-7Präsidentschaft nutzt, um Klimaschutz vor dem wichtigen Gipfel im Jahre 2015 in Paris zum Thema zu machen. Wir erinnern uns: Es war die Bundeskanzlerin, die
im Rahmen der G 7 im Jahr 2007 in Heiligendamm Klimaschutz in den Mittelpunkt des internationalen Interesses und der internationalen Aufmerksamkeit gerückt hat.
Daran wird jetzt angeknüpft. Auf diesem Weg unterstützen wir die Bundesregierung, die Umweltministerin und
unsere Bundeskanzlerin.
({4})
Natürlich hängt unsere Glaubwürdigkeit in diesem
Prozess davon ab, dass unsere CO2-Emissionen sinken
und nicht steigen; das ist völlig unbestritten. Deshalb unAndreas Jung
terstützen wir auch die Aktivitäten für ein Aktionsprogramm Klimaschutz. Wir haben in den letzten Jahren bei
unserem Vorhaben, Treibhausgasemissionen zu reduzieren, viel erreicht. Jetzt müssen wir schauen, dass sich
keine Lücke auftut zwischen unseren Zielen und dem,
was wir erreichen. Daran hängt unser Gewicht auch auf
der internationalen Ebene. Deshalb muss jetzt noch mehr
passieren; es muss noch etwas in die Waagschale.
Ich finde, dass es richtig ist, zu fragen: Woran genau
liegt es eigentlich, dass wir im Moment steigende CO2Emissionen haben? Es liegt eben nicht - diesen Eindruck
wollen die Grünen in ihrem Antrag erwecken - an einem
Abbremsen des Ausbaus der erneuerbaren Energien. Das
Gegenteil ist richtig: In den ersten neun Monaten dieses
Jahres ist es erstmals so, dass erneuerbare Energien die
Braunkohle im deutschen Strommix überholt haben.
Ökostrom ist Herbstmeister. Darüber können wir uns gemeinsam freuen.
({5})
Zweitens ist es richtig, dass Kohlekraftwerke effiziente Gaskraftwerke aus dem Markt drängen, weil die
Zertifikatspreise beim europäischen Emissionshandel
ein sehr niedriges Niveau erreicht haben. Ich finde, wir
sollten unsere gemeinsamen Bemühungen darauf richten, dass es innerhalb der EU mehr Druck für Klimaschutz gibt, dass es dort noch vor 2020 eine ehrgeizige
Reform gibt. Ich freue mich, dass die Bundesregierung
eine zwischen den zuständigen Ministerien, also dem
Ministerium für Wirtschaft und Energie sowie dem Umweltministerium, abgestimmte Position dazu hat und
dass wir in Brüssel darauf drängen und sagen: Da muss
jetzt etwas passieren, sonst werden wir als Europäer und
auch wir als Deutsche unsere Ziele nicht erreichen können. Daher lautet die Einladung: Unterstützen Sie uns
bei diesem Vorhaben und bei all diesen Gesprächen, die
- Sie haben es berichtet - geführt werden.
({6})
Bei dem, was wir jetzt national machen können, ist
mir wichtig, dass wir - Georg Nüßlein hat es angesprochen - Klimaschutz und Wirtschaftswachstum nicht gegeneinander ausspielen, sondern dass wir beides zusammenbringen. Nicholas Stern war diese Woche in Berlin.
Wir hatten auch in der Unionsfraktion die Gelegenheit,
ein Gespräch mit ihm zu führen. Seine Botschaft als
ehemaliger Chefökonom der Weltbank und die seiner
Gruppierung lautet in dem neuen Bericht: Es geht. Wir
können beides zusammenbringen. Klimaschutz und
Wirtschaftswachstum bedingen sich gegenseitig und stehen nicht im Widerspruch.
In diesem Zusammenhang sehen wir einen besonderen Schlüssel bei der Energieeffizienz. Wir haben uns
vorgenommen - Stichwort „Nationaler EnergieeffizienzAktionsplan“ -, mehr Strom einzusparen und mit Strom
effizienter umzugehen. Das ist gut für die Umwelt, und
es ist wirtschaftlich. Deshalb ist es richtig, dass wir da
mehr tun.
Ich bin der Meinung, dass eines wieder auf die Tagesordnung muss: die steuerliche Förderung energetischer
Sanierung, die steuerliche Förderung der Gebäudesanierung. Denn viele von uns glauben, dass dies ein besonders guter Anreiz ist, um hier voranzukommen.
({7})
Herr Hofreiter, ich bitte Sie und Ihre Kolleginnen und
Kollegen der Grünen, hier mitzuhelfen. Dies haben wir
in der letzten Legislaturperiode im Deutschen Bundestag
beschlossen. Es wird jedoch von den Ländern blockiert.
Von daher bitte ich Sie, Ihre grünen Kollegen in den
Ländern, den grünen Ministerpräsidenten von BadenWürttemberg und die grünen Minister in den Ländern
davon zu überzeugen, mitzumachen,
({8})
damit wir hier einen neuen Anlauf unternehmen und
beim Thema Energieeffizienz endlich vorankommen
können. Die Aufgabenverteilung kann doch nicht sein,
dass die einen laute Forderungen erheben und die anderen es bezahlen. Wenn die Energiewende ein Gemeinschaftswerk ist, dann müssen alle mitmachen. Das wäre
richtig und gut.
({9})
Herr Jung, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kühn von den Grünen zu?
Gerne.
Danke, Herr Jung, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. - Meine Zwischenfrage bezieht sich natürlich auf
die steuerliche Förderung. Wir Grünen sind es, die das
Thema der steuerlichen Förderung und der steuerlichen
Absetzbarkeit der Kosten der energetischen Sanierung in
dieser Legislaturperiode erneut in den Deutschen Bundestag eingebracht haben. Die Große Koalition hat jedoch dagegen gestimmt. In Wahrheit ist es doch so, dass
sich diejenigen in der Unionsfraktion, die dafür sind,
nicht gegen Schäuble durchsetzen können und es daher
nicht erneut auf die Tagesordnung setzen können.
Eines kann ich Ihnen sagen: Sie brauchen Winfried
Kretschmann nicht katholischer zu machen, als er ist.
Winfried Kretschmann und der baden-württembergische
Umweltminister Franz Untersteller setzen sich vehement
für die steuerliche Absetzbarkeit bei der energetischen
Sanierung ein. Das Land Baden-Württemberg ist ein
Vorreiterland. Wir beide kommen aus Baden-Württemberg und wissen, wie groß die Herausforderung in der
Christian Kühn ({0})
Wärmetechnologie ist. Ich erwarte da ganz klar, dass
diese Bundesregierung mehr macht.
Deswegen frage ich Sie: Wie wollen Sie die Forderung, die Sie gerade erhoben haben, hier in den parlamentarischen Betrieb einbringen?
({1})
Bleiben wir doch bei den Fakten. Die Fakten sind,
dass die steuerliche Förderung der energetischen Sanierung nicht an Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble
gescheitert ist. Der hat sie nämlich mit vorgeschlagen;
der hat sie mit unterstützt.
({0})
Wir haben dies hier gemeinsam beschlossen. Wir haben
es nicht nur diskutiert, wir haben dies hier im Deutschen
Bundestag beschlossen. Am Ende ist es daran gescheitert, dass die Länder nicht mitgemacht haben.
({1})
Die Voraussetzung ist doch, dass wir es gemeinsam machen. Jeder muss dazu eine Schippe beitragen, weil es
ein Gemeinschaftswerk ist.
Ich zweifele doch nicht an der katholischen Haltung
von Herrn Kretschmann, aber ich zweifele an dem Abstimmungsverhalten. Und das Abstimmungsverhalten
war so, dass die Länder - leider auch mein Land BadenWürttemberg - dagegen gestimmt haben.
({2})
Wenn Sie uns jetzt hier im Deutschen Bundestag mitteilen, dass Baden-Württemberg seine Haltung geändert hat
und Baden-Württemberg beim nächsten Mal, wenn das
Ganze zur Abstimmung steht, sagt, man sei nicht nur dafür, sondern auch dazu bereit, selber etwas dazu beizutragen, weil es sehr wichtig sei, dann wird es sicherlich
gelingen, dass wir gemeinsam dieses wichtige Vorhaben
umsetzen und bei der Energieeffizienz vorankommen.
({3})
Das ist ein wichtiger Punkt, aber nicht der einzige
Punkt. Das Aktionsprogramm für Energieeffizienz muss
weitere Bestandteile haben. Wir müssen deutlich machen, dass das Gebäudesanierungsprogramm verstetigt
wird, dass es vereinfacht wird, dass es gut möglich ist,
hierfür Zuschüsse zu bekommen.
Ferner müssen wir den Gebäudeenergieausweis noch
einmal unter die Lupe nehmen und der Frage nachgehen,
wie wir ihn noch aussagekräftiger machen. Gemeinsam
mit einer Beratungsoffensive, auch gemeinsam mit regionalen Sanierungsnetzwerken können wir hier etwas
in Gang bringen, was am Ende nicht nur der Umwelt und
dem Klima, sondern auch dem Handwerk und dem Mittelstand nutzt.
Wollen Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten
Paus von den Grünen zulassen?
Das trägt ja nicht zuletzt zur Verlängerung meiner Redezeit bei; deshalb gerne.
Herr Jung, da Sie und ich wissen, dass die steuerliche
Förderung der energetischen Gebäudesanierung nicht an
den Grünen, sondern an der SPD gescheitert ist, und Sie
jetzt mit der SPD eine Große Koalition bilden, frage ich
Sie - Sie haben dieses Thema jetzt aufgeworfen -, ob ich
Sie richtig verstehe, dass Sie hier heute ankündigen, dass
es in dieser Legislaturperiode noch einmal einen Gesetzentwurf von CDU und SPD zur steuerlichen Förderung
der energetischen Sanierung geben wird. Und könnten
Sie mir nach Möglichkeit sogar ein Datum - vielleicht
nächstes Jahr - nennen?
Ich bedanke mich zunächst einmal für Ihr Zutrauen:
Sie glauben ja, dass es mir möglich ist, konkrete Vorhaben der Bundesregierung anzukündigen. Ich bin jedoch
„nur“ ein Abgeordneter einer Regierungsfraktion.
({0})
Zweitens. Wenn Sie sagen, dieses Vorhaben sei nicht
an den Grünen gescheitert, sondern an der SPD, dann
muss ich Ihnen sagen: So genau kenne ich das Innenleben der rot-grünen Landesregierungen nicht, dass ich
nachvollziehen könnte, an wem dieses Vorhaben im Einzelnen gescheitert ist.
({1})
Das war im Übrigen auch gar nicht mein Thema. Ich
hatte vorher gesagt: Es ist an den Ländern gescheitert.
({2})
Deshalb sollten wir dazu kommen, zu fragen, wie wir
gemeinsam weiterkommen.
Ich hatte vorher gesagt: Es geht jetzt gar nicht darum,
ein Datum festzulegen, sondern es geht um den Prozess.
In dem Moment, in dem die Länder sagen: „Wir sind bereit, hier mitzumachen und das Ganze mitzufinanzieren“, werden wir - da bin ich sicher - dieses Vorhaben
gemeinsam beschließen können.
({3})
Wir haben das hier schon beschlossen. Jetzt liegt der
Ball bei den Ländern. Wenn diese zustimmen, können
wir das gemeinsam machen.
({4})
Mein letzter Punkt richtet sich an uns alle: im Bund,
in den Ländern und in den Kommunen. Wenn wir uns erhoffen, dass private Hausbesitzer und gewerbliche Gebäudeeigentümer ihre Gebäude sanieren, dann müssen
wir selber mit gutem Beispiel vorangehen. Die Sanierungsquote bei öffentlichen Gebäuden ist zu gering und
bleibt hinter den Erwartungen und hinter den Zielen zurück. Wir müssen diese Quote mindestens verdoppeln.
Das ist eine besondere Herausforderung für uns alle:
Das, was wir von anderen erwarten, müssen wir auch
selber machen.
({5})
Deshalb muss dieser Punkt in dem Programm enthalten
sein. Dann bin ich sicher, dass wir für Energieeffizienz
etwas erreichen. Dann bin ich sicher, dass wir insgesamt
mit dem Aktionsprogramm Klimaschutz vorankommen.
In diesen Bereich gehört auch - das ist angesprochen
worden - das Thema Verkehr, nachhaltige Mobilität und
Elektromobilität. Nachdem die entsprechenden Modelle
auf dem Markt sind, ist das für uns das Signal: Jetzt geht
es los. Jetzt müssen wir voranschreiten. Wir müssen gerade auch Unternehmen ermuntern und einen Anreiz
dazu geben, ihren Fuhrpark umzurüsten. Es gibt also ein
ganzes Paket, das wir zu diskutieren haben. Es muss etwas passieren.
Vielen Dank für die Zusammenarbeit.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt hat die Kollegin Eva Bulling-Schröter zu einer Kurzintervention das
Wort.
Danke schön, Frau Präsidentin. - Kollege Jung, Sie
haben die Linke kritisiert und gesagt: Die Einsparungen
im Zusammenhang mit der schwarzen Null können nicht
mit klimarelevanten Maßnahmen verrechnet werden. Die Linke ist nicht für maßlose Verschuldung, um das
zunächst einmal klarzustellen.
({0})
Aber wir könnten doch darüber reden, wie das Geld
im Haushalt verwendet wird. Es darf nicht nur mit der
schwarzen Null begründet werden, dass wichtige Maßnahmen im Klimaschutz nicht finanziert werden. Ich
habe gesagt: Umwelt- und klimarelevante Subventionen
machen jetzt ein Volumen von fast 51 Milliarden Euro
aus. Dies ist ein dicker Brocken. Jedoch fließt dieses
Geld nicht an ärmere oder bedürftige Menschen.
Sie haben wieder das Wort „nachhaltig“ benutzt. Wir
beide waren lange Jahre im Nachhaltigkeitsbeirat. Da
sage ich: Nachhaltigkeit hat drei Komponenten: Ökologie, Ökonomie und Soziales. Es darf nicht nur die Ökonomie in den Blick genommen werden, sondern man
muss auch über soziale Dinge nachdenken. Wenn wir
beim Kampf gegen den Klimawandel weiterkommen
wollen, sowohl bei uns in der Bevölkerung als auch international, müssen wir die soziale Dimension stärker in
den Blick nehmen;
({1})
denn es sind gerade die armen Menschen, die vom Klimawandel betroffen sind. Auch bei uns müssen wir die
Menschen, die nicht so viel verdienen, von Maßnahmen
im Sinne des Klimaschutzes überzeugen. Diese Menschen sagen: Ich habe dafür kein Geld, das können die
reichen Menschen machen. Die Reichen bekommen
noch zusätzlich Geld dafür, und wir sollen immer zahlen. - Genau darum geht es uns von der Linken.
({2})
Herr Kollege Jung, Sie haben die Möglichkeit zur Erwiderung.
Frau Kollegin, Sie sagen: Die Linke ist nicht für maßlose Verschuldung. - Sie sind also für eine maßvolle
Verschuldung. Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Wir sind
ganz gegen Verschuldung.
({0})
Ich habe große Sorge hinsichtlich Ihrer Interpretation,
was eine maßvolle Verschuldung sein könnte.
Unser Signal ist: Gerade aus diesen sozialen Gründen
und gerade aufgrund unserer Verantwortung für die
kommenden Generationen wollen wir Schluss machen
mit Neuverschuldung, und vor allem wollen wir sie eben
nicht gegen die anderen Dimensionen der Nachhaltigkeit
ausspielen. Wir wollen nicht soziale, wirtschaftliche und
ökologische Fragen gegeneinander ausspielen; wir wollen sie miteinander lösen. Deshalb habe ich gerade nicht
gesagt, dass wir wegen der Haushaltskonsolidierung
keine Mittel mehr für Klimaschutz haben. Ich habe vielmehr gesagt: Das ist eine Frage der Prioritätensetzung.
Wir müssen jetzt, um die Klimaziele zu erreichen, bestimmte Maßnahmen anschieben. Über die Finanzierung
werden wir sicherlich nicht nur nachdenken, sondern
auch eine Schippe drauflegen müssen. Beides ist richtig,
aber beides geht auch zusammen: Haushaltskonsolidierung und Klimaschutz.
({1})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Heike Hänsel
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Jung, ich muss erst einmal auf Sie eingehen. Hier
wird immer von Schulden gesprochen. Aber Schulden
bedeuten auch Investitionen.
({0})
Es gibt nämlich lebenswichtige, nachhaltige Investitionen in eine intelligente Politik, zum Beispiel die Klimapolitik. Wir erleben es in sehr vielen Bereichen, dass wir
Dinge, die wir heute nicht finanzieren, später um ein
Vielfaches teurer bezahlen müssen. Der Klimaschutz gehört dazu.
Nehmen Sie nur das Geld für Klimaanpassungsmaßnahmen, das wir jetzt weltweit in Milliardenhöhe brauchen. Dieses Geld hätten wir früher viel intelligenter im
Klimaschutz einsetzen können. Insofern ist Ihre Politik
kurzsichtig.
Hinzu kommt: Sie ist auch sozial ungerecht. Das geht
natürlich an die SPD. Dadurch, dass Sie darauf verzichtet haben, in der Steuerpolitik eine Umverteilung vorzunehmen und die Reichen zu besteuern, sodass sie für soziale Aufgaben und für den Klimaschutz herangezogen
werden, fehlt uns jetzt der Spielraum. Das geht zu Ihren
Lasten, und das werfen wir Ihnen auch vor.
({1})
Frau Hendricks, Sie haben vom guten Ruf Deutschlands in der Welt gesprochen. Ich muss sagen: Sie leben
zwar noch von diesem guten Ruf, er wird aber schon
lange nicht mehr mit Leben erfüllt. Wer hat denn maßgeblich zu diesem guten Ruf beigetragen? Das war doch
die Bevölkerung. Die Bevölkerung hat den Atomausstieg erkämpft, und sie hat sich massiv für eine Energiewende in Deutschland eingesetzt. Aber Sie füllen diese
Forderung, die aus der Bevölkerung kommt, schon lange
nicht mehr mit Leben.
Hinzu kommt - ich spreche schließlich als Entwicklungspolitikerin -, dass die Länder des Südens darauf
angewiesen sind, dass Sie Ihrer internationalen Verantwortung nachkommen. Das ist nämlich das Hauptproblem, dass in erster Linie diese Länder von den Auswirkungen des Klimawandels betroffen sind - das wissen
wir alle - und sie viel stärker darauf angewiesen sind,
dass Sie in Klimaschutz investieren und die Klimaziele
verbindlich formulieren und einhalten.
({2})
Aber es geht nicht nur um die Verbindlichkeit der Klimaziele. Wir müssen auch fragen: Was bringen Sie eigentlich jetzt, während wir immer von Klimazielen sprechen, auf den Weg? Zum Beispiel die Handelspolitik
läuft diametral entgegen sämtlicher Klimaschutzziele.
Im Zusammenhang mit CETA - das ist das EU-Freihandelsabkommen mit Kanada; zu dem Abkommen mit
den USA gibt es, wie wir wissen, viele Diskussionen wurde viel versprochen: Ökologische Standards werden
nicht gesenkt. Jetzt wird es aber entgegen anderslautender Versprechungen möglich sein, dass die klimaschädlichen Teersandöle aus Kanada eingeführt werden können,
die 25 Prozent mehr Treibhausgase bei der Förderung erzeugen als das Erdöl.
({3})
Das ist verantwortungslos. Deshalb kann ich es sehr gut
verstehen, dass die Bevölkerung gegen CETA und TTIP
mobilisiert, weil sie genau sieht, dass ökologische Standards gesenkt werden. Das ist die Realität.
Wir haben am kommenden Samstag, dem 11. Oktober, den europaweiten Aktionstag gegen CETA und
TTIP. Ich rufe alle auf: Gehen Sie auf die Straße! Das ist
ein Beitrag zum Klimaschutz.
({4})
Jetzt komme ich zu den G-7-Staaten.
({5})
Die G-7-Staaten wollen einen gemeinsamen Flüssiggasmarkt entwickeln. Dabei geht es vor allem auch um das
Fracking-Gas aus den USA und Kanada und damit um
ganz andere Weichenstellungen. Sie sollten nichts vom
Klimaschutz erzählen, wenn Sie andere Fakten schaffen.
Nun möchte ich zur internationalen Klimafinanzierung kommen. Da könnten Sie internationale Verantwortung zeigen. Wir erleben als Entwicklungspolitiker seit
Jahrzehnten, dass das Erreichen des 0,7-Prozent-Ziels
- hier geht es um die Frage, wie viel pro Jahr für Entwicklung ausgegeben wird - in weiter Ferne liegt. Sie
haben gesagt, dass Sie 2050 Ihre Ziele erreichen werden.
Aber dazu müssten wir erst einmal nächstes Jahr unser
Entwicklungsziel erreichen. Davon sind wir meilenweit
entfernt. Wir erreichen momentan noch nicht einmal
0,4 Prozent. Das kann man nicht anders als als Schande
für eines der reichsten Länder der Erde bezeichnen.
({6})
Nun stellen Sie Geld für den internationalen Klimaschutz ein. Die Kanzlerin hat 750 Millionen Euro angekündigt. Wenn man sich den Haushalt aber genau anschaut, dann stellt man fest, dass nicht einmal
20 Millionen für den Green Climate Fund eingestellt
sind; das geht nicht. Es ist ein Skandal, dass den großen
Ankündigungen keine Taten folgen. Sie basteln an Ihrem
Ruf auf internationaler Ebene. Aber im Haushalt wird
das Geld nicht eingestellt. Vor allem die Verpflichtungsermächtigungen für die nächsten Jahre sind minimal.
Das ist unverantwortlich, weil man so keine langfristige
Planung machen kann.
({7})
Hinzu kommt, dass Sie die Gelder für den Klimaschutz
mit den Entwicklungsgeldern verrechnen. Die Entwicklungsländer brauchen aber zusätzliches Geld für Klimaanpassungsmaßnahmen. Diese Gelder dürfen nicht mit
denen für die Entwicklungszusammenarbeit verrechnet
werden. Sonst sinkt der Entwicklungsetat sogar. Das lehnen wir ab. Das hat nichts mit Klimagerechtigkeit zu tun.
Sie verschieben die Gelder, weil Sie es nicht gewagt haben, die Umverteilungsfrage zu stellen, also die Menschen, die sehr viel Geld haben, stärker an der Finanzierung des Klimaschutzes zu beteiligen. Das ist das große
Problem. Deshalb verschieben Sie hier. Den Preis dafür
zahlen auch die Länder des Südens. Dagegen werden wir
uns wehren.
({8})
Als nächste Rednerin spricht Ute Vogt.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Frau Ministerin, wenn schon die Opposition bescheinigt, dass sich Deutschland bei der Klimapolitik im oberen Mittelfeld befindet, und wenn wir die
übliche Oppositionskritik, die immer geübt werden
muss, unberücksichtigt lassen, dann können wir zu
Recht sagen: Wir sind stolz darauf, dass Sie entschlossene und pragmatische Schritte gehen und merklich vorankommen, und zwar sowohl auf nationaler als auch
auf europäischer Ebene.
({0})
Der aktuelle UN-Bericht, der New Climate Economy
Report, mit dem Titel „Better Growth, Better Climate“
zeigt uns für die nächsten 15 Jahre noch einmal tiefgreifende Strukturveränderungen auf. Die Weltwirtschaft
wird weiterhin rasant wachsen. Eine halbe Milliarde
Menschen wird zusätzlich in die Städte ziehen, um dort
zu leben. Das bedeutet, dass circa 90 Billionen US-Dollar in Städte, Landnutzung, Infrastruktur und Energieversorgung investiert werden müssen. Entscheidend
wird tatsächlich sein - da muss ich den grünen Kollegen
recht geben -, dass diese Investitionen der Zukunft die
richtige Qualität haben. Der Ausbau der erneuerbaren
Energien zum Beispiel darf nicht nur in Deutschland,
sondern muss auch in Europa Ziel sein. Das Gleiche gilt
für die Finanzierung einer besseren Wärmedämmung im
Gebäudebereich. Bund und Länder sind hier gefragt und
sollten noch einmal den Versuch unternehmen, sich zu
einigen. Am Ende entscheiden die Höhe und die Richtung der Investitionen über die Entwicklung des Weltklimasystems. Machen wir so weiter wie bisher, ohne eine
qualitative Wende vorzunehmen, dann wird sich das
Klima am Ende dieses Jahrhunderts um 4 Grad erwärmt
haben.
Frau Kollegin Vogt, lassen Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Baerbock zu?
Ja.
Vielen Dank. - Frau Vogt, da Sie so explizit auf den
UN-Bericht „Better Growth, Better Climate“ und die Investitionen, die in den nächsten Jahrzehnten getätigt
werden, sowie auf das Volumen der Mittel, die dort umgelenkt werden könnten, eingegangen sind: Wie stehen
Sie und Ihre Fraktion zu der Schlussfolgerung dieses Berichts, dass es einen Ausstieg aus der Subventionierung
der fossilen Energieträger geben muss? Setzt sich die
SPD-Fraktion innerhalb der Regierung dafür ein, dass
unter deutscher G-7-Präsidentschaft der Ausstieg aus der
weltweiten Energiesubventionierung im fossilen Bereich
eingeleitet wird und dass sich die G 7 bzw. die G 20 im
Rahmen des neuen Klimaabkommens dazu verpflichten,
bis 2020 aus der Subventionierung der fossilen Energieträger auszusteigen?
Sie haben es vorhin schon zitiert, liebe Kollegin, dass
die Frau Ministerin bereits die ersten Schritte gemacht
und auch angekündigt hat, dass es keine Neufinanzierung von Kohleförderung in diesem Bereich geben wird.
Ich denke, das ist der erste Schritt.
({0})
Wir alle gemeinsam haben den Auftrag, die Förderung
fossiler Energien dramatisch weiter zu reduzieren. Wir
arbeiten im Moment auf vielen Baustellen daran. Das
gilt nicht zuletzt aktuell auch für die Frage, wie wir die
Förderung von fossilem Schiefergas durch Fracking einschränken können. Sie sehen also, dass wir genau auf
dem Weg sind, uns diesen Schlussfolgerungen zu nähern.
({1})
Ich denke, dass es am Ende dieses Jahres ein Programm geben wird, mit dem wir die längst überfälligen
Maßnahmen zur Effizienzsteigerung angehen werden.
Wir alle in diesem Haus sollten uns noch einmal bewusst
werden: Wenn es um Spielräume geht, energetisch etwas
fürs Klima zu tun, dann betrifft das nicht allein die Energiewende bzw. die erneuerbaren Energien, sondern vor
allem die effiziente Nutzung von Energie. Weiter geht es
dabei um die Frage, wie wir Energie - sowohl in der industriellen Produktion als auch im Rahmen der Bauwirtschaft - einsetzen. Deshalb ist es gut, dass Ministerin
Hendricks hier angekündigt hat, dass sich sowohl das
Wirtschaftsministerium als auch das Umweltministerium diesem gemeinsamen Klimaziel eng verbunden
fühlen. Es war in der Vergangenheit nicht immer selbstverständlich, dass das Wirtschaftsministerium hier voll
mitzieht. Das freut uns als Sozialdemokraten natürlich
ganz besonders.
({2})
Kollege Jung, ich stimme mit Ihnen überein: Es wird
darum gehen, dass wir auch im Haushalt des kommenden Jahres die richtigen Prioritäten setzen; denn es ist so,
dass wir insbesondere für Maßnahmen zur Effizienzsteigerung ganz praktisch Geld in die Hand nehmen müssen.
Wir sind gemeinsam stolz auf die „schwarze Null“, wie
Sie es gerne nennen. Trotzdem müssen wir uns aber überlegen, wie wir Gelder generieren - ob durch zusätzliche
Einnahmen oder aus vorhandenen Haushaltsmitteln -, um
beim Thema Effizienz nicht nur Ziele zu beschreiben,
sondern unser selbstgestecktes Ziel auch zu erreichen.
Die Luftverschmutzung in Deutschland verursacht allein dadurch, dass sie existiert, Kosten in Höhe von etwa
5,8 Prozent des Bruttosozialprodukts. Wenn wir bereit
sind, Geld in die Hand zu nehmen, werden wir am Ende
nicht nur unser ehrgeiziges Ziel - 40 Prozent minus bis
2020 - erreichen, sondern wir werden auch Geld sparen;
denn die Kosten, die Umweltverschmutzung heute verursacht, können wir dadurch in Zukunft vermeiden.
({3})
Am Ende wird es nicht nur um unsere abstrakten oder
konkreten Ziele gehen, sondern für viele Menschen auf
dieser Welt geht es bei diesem Thema schlichtweg ums
Überleben. Es gibt weit über 600 Millionen Menschen,
die in Küstengebieten - knapp zehn Meter über dem
Meeresspiegel oder sogar darunter - ihre Wohnung und
ihren Lebensmittelpunkt haben. Diesen Menschen - nicht
nur uns - sind wir jegliche Anstrengung schuldig. Das
muss weltweit gelten, um das Klimaziel, welches wir
uns gesetzt haben, zu erreichen.
Ich freue mich, dass wir in der Zielsetzung - jedenfalls hier im Haus - einer Meinung sind. Ich denke, es
tut diesem Parlament gut, den Streit über die richtigen
Instrumente aufzunehmen, damit wir 2020 sagen können: Ziel erreicht!
({4})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Dr. Anja
Weisgerber das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Zurzeit führen wir fast jede Sitzungswoche eine Debatte zur Klimapolitik. Als Klimapolitikerin
sage ich: Das ist auch gut so; denn sie ist wichtig. Wir
befinden uns momentan in einer entscheidenden Phase;
wir sind nämlich auf dem Weg zum europäischen Gipfel
zu den Klimazielen und zum internationalen Klimagipfel
in Lima und dann auch in Paris.
({0})
In diesem Punkt, denke ich, sind wir uns alle einig.
Nur über den richtigen Weg dorthin gibt es unterschiedliche Vorstellungen. Es ist meiner Meinung nach richtig,
dass wir um diesen Weg ringen und darüber diskutieren und das auch einmal zur Kernzeit.
({1})
Klimapolitik durchzusetzen und dafür Unterstützer zu
finden, die auch ganz konkrete Maßnahmen mittragen,
ist nicht einfach, weil wir heute handeln und investieren
müssen, aber die negativen und auch die positiven Folgen dieser Maßnahmen erst Jahre oder auch Jahrzehnte
später spürbar sind.
Der bereits viel zitierte Bericht der „Globalen Kommission für Wirtschaft und Klima“ unter Mitwirkung des
ehemaligen Chefökonoms der Weltbank Nicholas Stern
hat uns jetzt aktuell vor Augen geführt: Entscheidend ist,
wie stark wir in den nächsten 10 bis 15 Jahren in mehr
Energieeffizienz und den Umbau zu klimaschonenderen
Technologien investieren, und zwar bei uns und in anderen Ländern der Welt. Dabei müssen wir besonders darauf achten, dass die Entwicklungs- und Schwellenländer, die aufstrebend sind und deren Wirtschaft wächst,
ihre Wirtschaft von Beginn an mit klimaschonenden
Technologien aufbauen. Wir müssen sie zum Beispiel
auch durch den Grünen Klimafonds dabei unterstützen.
Die Wissenschaftler sagen auch ganz klar, dass das
Kind noch nicht in den Brunnen gefallen ist, wenn wir
jetzt handeln. Dass so etwas gelingen kann, zeigt das
Beispiel Ozon. Eine solche Zusammenarbeit wie damals
in den 80er-Jahren bei der Eindämmung des FCKW
brauchen wir auch jetzt bei der Reduzierung der Treibhausgase, und das muss weltweit gelingen.
({2})
Wir brauchen den großen Wurf. Wir sagen auch: Wir
werden ganz intensiv für diesen großen Wurf auf internationaler Ebene kämpfen und die Bundesregierung dabei unterstützen. Eines sage ich auch noch einmal ganz
klar: Natürlich müssen wir Deutsche eine Vorbildfunktion und auch eine Vorreiterrolle übernehmen und unsere
eigenen Hausaufgaben machen, was wir im Übrigen mit
dem Klimaaktionsprogramm auch tun. Das wissen Sie
ganz genau. Aber der Klimawandel ist und bleibt eine
weltweite Herausforderung. Es gilt nach wie vor: Alleine in Deutschland können wir das Klima nicht retten.
({3})
Genau da unterscheidet sich unsere Position von der
der Grünen. Sie fordern ein Klimaschutzgesetz in
Deutschland mit ordnungsrechtlichen Maßnahmen auf
nationaler Ebene. Wir bevorzugen, vor allem den europäischen und internationalen Ansatz zum Erfolg zu führen.
({4})
Wir sind gegen Alleingänge in Deutschland wie zum
Beispiel mit dem von Ihnen vorgeschlagenen nationalen
CSU - ({5})
- CO2-Mindestpreis. Wir sind auch gegen die von Ihnen,
Herr Krischer, ständig geforderte CO2-Steuer auf nationaler Ebene.
({6})
Wir dürfen uns nicht auf die nationale Ebene zurückziehen. Das bringt uns nicht weiter im internationalen
Kampf gegen den Klimawandel, sondern das wirft uns
zurück und benachteiligt uns im europäischen Wettbewerb und gefährdet Arbeitsplätze. Genau das können wir
nicht wollen.
({7})
Wir setzen auf ehrgeizige Ziele in Deutschland, Europa
und der Welt und wollen Anreize im Steuersystem und
nicht Ordnungsrecht.
Deshalb gehe ich zunächst auf die Klimapolitik in Europa und der Welt ein. Die Klimapolitik ist eine politische Priorität unserer Bundeskanzlerin, für die sie sich
persönlich und politisch engagiert.
({8})
Da zählen für mich vor allem die Maßnahmen, die die
Bundeskanzlerin und die Bundesregierung ergreifen,
und nicht irgendwelche Reden, getreu dem Motto: Wir
reden nicht nur, sondern wir handeln.
({9})
Zu den Handlungen:
Erstens. Bei der laufenden G-7-Präsidentschaft ist der
internationale Klimaschutz dank Angela Merkel ein
Kernthema. Das kann für den Durchbruch auf internationaler Ebene mitentscheidend sein. Das wurde auch
schon von der einen oder anderen grünen Politikerin so
gesagt.
({10})
Zweitens. Angela Merkel hat 750 Millionen Euro für
den Grünen Klimafonds zugesagt und sich damit an die
Spitze gesetzt. Damit unterstützen wir Entwicklungsund Schwellenländer - ich habe es gerade erwähnt; es ist
sehr wichtig - auch bei dem Aufbau einer CO2-armen
Wirtschaft. Es ist sehr erfreulich, dass auch andere Länder jetzt mitmachen, unter anderem Mexiko, und angekündigt haben, ebenfalls in diesen Fonds einzuzahlen.
Drittens - eine weitere Tat der Kanzlerin und der
Bundesregierung -: Deutschland setzt sich in Brüssel
ganz klar immer wieder für diese ambitionierten und realistischen Klimaziele ein sowie für die bewährte Zieltrias. Da sind wir jetzt wirklich in der entscheidenden
Phase. Wir bewegen uns in diesem Zusammenhang
politisch aber auf einem schmalen Grad. Wenn wir die
Forderungen bezüglich der europäischen Klima- und
Energieziele zu niedrig ansetzen, ist Europa nicht ambitioniert genug, und wir brauchen ein gutes Ergebnis auf
europäischer Ebene, damit wir in Lima und Paris mit
dem entsprechenden Rückenwind verhandeln können.
Das steht ganz außer Zweifel.
({11})
Verlangen wir aber zu viel, dann springen die anderen
EU-Staaten ab, und wir fahren mit leeren Händen nach
Lima. Das kann auch nicht gut sein. Genau in dieser entscheidenden Phase, wo einiges abgewogen werden
muss, wo auch gesprochen werden muss, wo überzeugt
werden muss, wo die anderen EU-Mitgliedstaaten mitgezogen werden müssen - als ehemalige Europaabgeordnete weiß ich, wie schwierig das ist -, befinden wir
uns. Wir müssen die Bundesregierung dabei unterstützen, dürfen ihr nicht ständig Knüppel zwischen die
Beine werfen und sollten nicht pessimistisch sein, wie
das bei den Grünen so üblich ist.
({12})
Im Übrigen muss ich auch sagen: Die Umsetzung des
Vorschlags der Grünen, dem Klima- und Energiepaket
2030 nicht zuzustimmen, sollten die Ziele nicht ambitioniert genug sein, kommt letztendlich einem Genickbruch
gleich. Deutschland gewinnt in Europa nicht an Glaubwürdigkeit, wenn wir letztendlich das ganze Abkommen
boykottieren und wenn keine europäischen Ziele zustande kommen. Das können auch Sie nicht wollen.
({13})
Zentrales Element der europäischen Klimaschutzpolitik ist der Emissionshandel. Er ist das richtige Instrument, da er auf den Markt setzt und CO2 reduziert.
Durch einen europäischen und internationalen Rahmen
schaffen wir gleiche Wettbewerbsbedingungen. So können Klimaschutz und Wirtschaftswachstum Hand in
Hand gehen, wie es auch der Stern-Report darlegt.
Die EU ist der beste Beweis dafür, dass es geht. Obwohl die Treibhausgasemissionen in der EU seit 1990
um 19 Prozent gesunken sind, ist das Bruttoinlandsprodukt im gleichen Zeitraum um 45 Prozent gestiegen. Das
heißt: Steigendes Wirtschaftswachstum und trotzdem
sinkender CO2-Ausstoß, das geht, auch dank des Emissionshandels. Es ist erfreulich, dass auch andere Regionen in der Welt, etwa in China, Mexiko, den USA und
Indien, auf eine Art Emissionshandel setzen und dieses
Instrument voranbringen. Der Emissionshandel ist und
bleibt das Instrument im Kampf gegen den Klimawandel. Deshalb setzen wir uns auch in Brüssel für eine
nachhaltige Reform dieses Emissionshandels ein. Ich
sage an dieser Stelle auch ganz klar: Die von der Europäischen Kommission vorgeschlagene Marktstabilitätsreserve ist meiner Meinung nach ein guter Vorschlag,
den wir allerdings noch im Detail diskutieren müssen.
Aber eines möchte ich auch deutlich sagen: Ein Mindestpreis für CO2-Zertifikate ist meiner Meinung nach
nicht der richtige Schlüssel zu einem funktionierenden
Emissionshandel. Und: Nationale Auflagen zur Einsparung von CO2, wie sie auch von Ihrer Seite des Öfteren
gefordert werden, bringen dem Klimaschutz an dieser
Stelle nichts. Ich sage Ihnen auch, warum: Erreichen wir
unsere Klimaziele durch rein nationale Maßnahmen, benötigen wir dafür in Deutschland weniger CO2-Zertifikate; denn für jede Tonne CO2, die man in Deutschland
zum Beispiel wegen einer Steuer weniger emittiert, wird
ein Zertifikat weniger verbraucht. Die Folge ist dann:
Die Zertifikatspreise sinken weiter, und Investitionen in
klimafreundliche Technologien lohnen sich noch weniger. Die Emissionen werden also nur verlagert: von
Deutschland nach Polen, nach Italien oder nach Frankreich. Dem Klima ist damit unter dem Strich nicht geholfen. Ich denke mal, das können auch Sie an dieser Stelle
nicht wollen.
Dennoch leisten wir mit dem Aktionsprogramm
Klimaschutz jetzt einen wichtigen Beitrag, um auch auf
nationaler Ebene die Lücke zu schließen. Ein wichtiges
Instrument ist die steuerliche Absetzbarkeit der Kosten
von Energieeffizienzmaßnahmen. Da sollten wir alle an
einem Strang ziehen und uns nicht ständig gegenseitig
den Schwarzen Peter zuspielen.
Vielen Dank.
({14})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, als nächster Redner
hat Frank Schwabe das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich glaube schon jetzt: Barbara Hendricks wird positiv in
die Geschichte des deutschen Klimaschutzes eingehen.
({0})
Warum? Weil sie uns ehrlich gemacht hat in der Frage
„Wo stehen wir eigentlich?“! Das war zum Teil eine
Krückerei in den letzten Jahren. Wir haben Ziele vorgegeben, die wir alle teilen - das muss man noch einmal
deutlich machen: wir alle sind für das Ziel der Reduktion
um 40 Prozent bis zum Jahr 2020; da gibt es große
Einigkeit -, aber auf dem Weg dahin war gar nicht klar,
wo wir eigentlich stehen. Jetzt haben wir uns ehrlich gemacht. Dafür hat diese Ministerin gesorgt. Das ist schon
ganz viel wert, weil das nämlich die Grundlage ist, um
darüber zu diskutieren: Was muss jetzt eigentlich getan
werden?
({1})
Das letzte Programm, das wirklich umfassend dargelegt hat, was getan werden muss, war mit dem Namen
Meseberg verbunden, und das war im Jahr 2007. Deswegen habe ich schon in der Debatte Anfang dieses Jahres
darüber geredet, dass wir so etwas wie ein Meseberg II
brauchen. Noch einmal: Bei den Zielen sind wir uns einig, aber in der Frage „Wo sind wir bei der Zielerreichung, und was muss jetzt getan werden, um die Lücke
zu schließen?“ ist jahrelang nichts passiert. Jetzt passiert
etwas, und das ist mit dem Namen Barbara Hendricks
verbunden.
({2})
Ich glaube im Übrigen, dass uns das nicht wieder passieren darf. Deswegen brauchen wir ein Konstrukt, das
wir im nächsten Jahr miteinander diskutieren. Das kann
man dann „Klimaschutzplan mit Gesetzescharakter“,
„Gesetz mit Plancharakter“ oder wie auch immer nennen; wir brauchen etwas für die Selbstvergewisserung.
Es geht gar nicht darum, jedenfalls aus meiner Sicht, bis
ins Detail vorzuschreiben, wer wo wie was tun muss,
aber wir brauchen einen Mechanismus, der uns zeigt, wo
wir bei der Zielerreichung stehen. Sonst werden wir unsere Ziele wieder verfehlen.
({3})
Das, was wir jetzt vor uns haben, ist kein Schnellschuss, Toni Hofreiter, sondern das ist ein Aktionsprogramm Klimaschutz 2020, über das man natürlich ein
bisschen diskutieren muss, auch innerhalb der Bundesregierung. Man muss gucken: Wie kann man die Lücke
zum 40-Prozent-Ziel schließen? Was wichtig ist, ist noch
einmal das Signal dieses Hauses: Wir wollen die Lücke
zum 40-Prozent-Ziel schließen. - Was wir brauchen, ist,
dass alle daran mitwirken. Das ist eine Kärrnerarbeit, die
in den nächsten Monaten geleistet werden muss. Dabei
müssen alle Ministerien und alle, die in den Arbeitsgruppen im Bundestag Verantwortung tragen, sagen, wo
eigentlich Potenziale zu heben sind, damit man am Ende
auf die 40 Prozent kommt. Insofern, glaube ich, braucht
Barbara Hendricks die Unterstützung nicht nur der
Koalition, sondern des gesamten Hauses.
({4})
Zum Thema Europapolitik. Ich finde es ja gut, Frau
Kollegin Baerbock, dass Sie deutlich gemacht haben,
dass wir aus Ihrer Sicht im oberen Mittelfeld sind. Das
ist für eine Oppositionssicht nicht so schlecht. Ich würde
sagen - dies ist eine etwas andere Beschreibung der Geschichte -: Wir in Deutschland waren einmal absolute
Spitze; das kann man, glaube ich, nicht bestreiten. Wir
sind in den letzten Jahren allerdings abgefallen. Wir sind
Bremser gewesen bei der Reform des Emissionshandels.
Wir sind Bremser gewesen auf europäischer Ebene beim
Thema Energieeffizienz, leider auch beim Thema Teersandöle. Auch da haben wir in den letzten Jahren keine
konstruktive Rolle gespielt. Aber das ist aufgelöst worden, und auch das ist verbunden mit dem Namen
Barbara Hendricks, die in enger Kooperation mit Sigmar
Gabriel handelt.
Wir haben die Blockadehaltung bei der Reform des
Emissionshandels aufgelöst. Wir haben nun Kenntnis
darüber, ob wir unser 40-Prozent-Ziel in Deutschland
einhalten können. Im Übrigen haben wir auch in einem
weiteren Bereich eine Lösung hinbekommen: Beim
Thema Fracking hatten wir, wenn ich das so nebenbei
sagen darf, vier Jahre lang nichts an Gesetzesvorschlägen gesehen. Jetzt haben wir Gesetzesvorschläge, und
die SPD ist ganz optimistisch, dass diese in den nächsten
Wochen in den Bundestag eingebracht werden können,
damit wir zu einem Fracking-Verbot in Deutschland
kommen.
({5})
Wir sind beim Thema „Ziele für 2030“ - um das noch
einmal zu betonen - am progressiven Ende der europäischen Debatte. Wir sind bei den Vorschlägen zur Reform
des Emissionshandels ebenfalls am progressiven Ende
der Debatte. Dazu allerdings will ich schon etwas
Kritisches sagen, ein bisschen anders als es Frau
Dr. Weisgerber hier deutlich gemacht hat. Wenn wir das
40-Prozent-Ziel deutschlandweit ernst nehmen - wir
wissen, dass die Hälfte des Anteils an der Reduktion von
CO2 aus den Sektoren kommt, für die der Emissionshandel zuständig ist -, dann müssen wir uns klarmachen,
dass wir unser nationales Ziel gar nicht erreichen
können, wenn der Emissionshandel europäisch nicht
funktioniert. Deswegen ist völlig klar, dass wir alles tun
wollen und Vorschläge unterbreiten wollen, damit der
Emissionshandel funktionsfähig ist, wir kein weiteres
Umswitchen in Richtung Braunkohle sehen und wir Gas
sowie erneuerbare Energien nach vorn bringen.
Ich sage aber auch gleichzeitig denen, die versuchen,
eine solche Reform zu verhindern - da gibt es in
Deutschland welche, die da unterwegs sind und die auch
mit europäischen Partnerländern über Bande spielen -:
Wenn die Reform nicht gelingen sollte, müssen wir
trotzdem eine Antwort darauf finden, wie wir denn eigentlich das 40-Prozent-Ziel erreichen wollen; denn wir
wollen es ja nicht aufgeben. Wenn das dann innerhalb
kürzester Zeit auf europäischer Ebene nicht gelingt,
dann brauchen wir ein Nachdenken darüber - das ist in
meiner Fraktion, in meiner Partei nicht abgestimmt, aber
ich sage das als Diskussionsanreiz -, wie der Kraftwerkspark aussehen soll, damit wir die Ziele anders erreichen
können. Ein Mittel kann das Aufstellen von Energieeffizienzzielen sein, wie es in den USA diskutiert wird. Das
kann aus meiner Sicht aber auch die Einführung von
Preisuntergrenzen sein.
({6})
Ich will zum Schluss durchaus optimistisch noch
einmal einen internationalen Ausblick geben. Herr
Dr. Nüßlein hat in der Debatte gesagt, es kommt am
Ende auf die Grenzkosten für die Kilowattstunde Strom
an. Das Gute ist - das hat Sir Nicholas Stern, der anscheinend in dieser Woche bei vielen zu Besuch war,
noch einmal deutlich gemacht -, dass mittlerweile international gesehen die erneuerbaren Energien bei den
Grenzkosten besser dastehen als viele andere: beispielsweise Atom und fossile Energieträger. Deswegen glaube
ich, dass wir aus ökologischen Gründen, aus volkswirtschaftlichen Gründen, aber auch aus betriebswirtschaftlichen Gründen mittlerweile weltweit eine ganz gute
Entwicklung sehen und wir wirklich einen massiven
Ausbau der erneuerbaren Energien bekommen werden.
Das, glaube ich, kann man am Schluss noch einmal
einvernehmlich sagen: Es gab Gegner in Deutschland,
und es gab Leute, die das vorangetrieben haben
- Hermann Scheer und andere -, aber schließlich war es
Deutschland, das es geschafft hat, die erneuerbaren
Energien so zu fördern, dass wir diesen Wechsel weltweit sehen können. Ich glaube, darauf können wir gemeinsam stolz sein.
Glück auf!
({7})
Als nächster Redner hat der Kollege Oliver
Grundmann das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Bei der Lektüre dieses Antrags der
Grünen hat es mir die letzten Tage fast die Sprache verschlagen;
({0})
glücklicherweise habe ich sie zurückgewonnen.
Wenn man sich die Ausführungen von Ihnen, Herr
Hofreiter, im Parlament auch noch einmal zu Gemüte
führt, könnte man vermuten, dass hier das Ende der Welt
kurz bevorsteht. Trotzdem werde ich mir keine Arche
Noah in den Garten stellen - ich wohne an der Küste. Ich
bin nämlich der festen Überzeugung, dass sich die Große
Koalition den anstehenden Herausforderungen verantwortungsvoll annimmt.
({1})
Ein Viertel des deutschen Stroms wird schon heute
aus erneuerbaren Energien gewonnen. Dabei wird es
nicht bleiben. Denn bis 2025 soll der Anteil der erneuerbaren Energien auf mindestens 40 Prozent steigen, bis
2035 sogar auf mindestens 55 Prozent. Meine sehr geehrten Damen und Herren, das sind ehrgeizige Ziele.
Das hat sich sonst bisher kein anderes Industrieland auf
der Welt vorgenommen.
({2})
Damit geht Deutschland mutig und entschlossen voran.
Darauf können wir stolz sein.
Die Grünen wollen ein Scheitern der nationalen Klimapolitik abwenden und internationale Glaubwürdigkeit
zurückgewinnen. So schreiben sie im Antrag. Ein erster
Schritt, meine sehr geehrten Damen und Herren, wäre
darin zu sehen, diesen Antrag hier zurückzuziehen. Das
will ich Ihnen auch gern begründen. Die Grünen verfolgen einen völlig falschen Ansatz. Sie wollen nicht nur
eine europäische Klimapolitik, sondern sie wollen auch
noch eine nationale Regelung oben aufsatteln. Das ist
ein typisch grüner Irrweg.
({3})
Lassen Sie mich das kurz ausführen.
Für Emissionszertifikate existiert ein gemeinsamer
Markt in Europa. Wenn nun eine nationale Klimapolitik
den Ausstieg aus der Kohle vorschreibt, dann sinkt in
Deutschland die Nachfrage nach entsprechenden Emissionszertifikaten. Logischerweise sinkt dann auch der
Preis, und das europaweit. Das sind die Mechanismen
von Angebot und Nachfrage. Ein bisschen Nachhilfe in
sozialer Marktwirtschaft würde Ihnen von den Grünen
sicherlich nicht schaden.
({4})
Wir von der Union wissen das jedenfalls spätestens seit
Ludwig Erhard.
Noch billigere Emissionszertifikate reduzieren den
Anreiz, in neue Kraftwerkstechnologien zu investieren.
Praktisch bedeutet das, dass alte Kohlekraftwerke in
anderen Ländern Europas mehr Strom noch billiger als
bisher produzieren können. Das wäre ein vollkommen
falsches, ja ein verheerendes Signal. Wir in Deutschland
müssten zusätzlich zu unserem bisherigen Beitrag zur
Energiewende - und das ist schon ein Rucksack, den wir
zu tragen haben - auch noch die Kosten für einen übereilten Ausstieg aus der Kohle tragen. Andere Länder
hätten hingegen einen Kostenvorteil durch alte Kohlekraftwerke. Das wäre vollkommen absurd, denn wir
würden so nichts für das Weltklima tun.
Besonders bedenklich ist, dass nationale Alleingänge
zu einer umweltpolitischen Spaltung in Europa führen.
Je mehr sauberen Strom die einen produzieren, desto
mehr Strom können andere mit veralteten Kraftwerken
generieren. Nationale Alleingänge sind kein Vorteil für
das Klima, weil sich Emissionen dadurch nur in andere
Länder verlagern. Das ist ein typisches Beispiel für politisches Gutmenschentum: meistens teurer und zudem
auch noch wirkungslos, und für sinnvolle Maßnahmen,
die wirklich nützlich sind, fehlt dann das Geld.
({5})
Die Union lehnt eine solche reine Symbolpolitik ab.
({6})
Wir bekennen uns ohne Wenn und Aber zum Klimaschutz - aber mit Sachverstand und Augenmaß, ökonomisch und effizient, ohne den Strompreis dabei durch
blinden Aktionismus in ungeahnte Höhen schnellen zu
lassen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, jetzt möchte
ich auf etwas zu sprechen kommen, was viele praxisferne Ökoträumer gar nicht kennen: die Realität.
({7})
Mein Wahlkreis liegt in der Metropolregion Hamburg,
zwischen Cuxhaven, Bremen und der Hansestadt Hamburg. In den letzten 45 Jahren siedelten sich hier zahlreiche Unternehmen an; es ist eine absolute Boomregion
geworden. Dort befinden sich auch zahlreiche energieintensive Unternehmen. Eines dieser Unternehmen möchte
ich nennen: Dow Chemical, ein Chemiewerk in Niedersachsen mit rund 1 500 Mitarbeitern. Solch ein Unternehmen ist auf eine langfristige, stabile und wettbewerbsfähige Versorgung mit Strom und Wärme angewiesen. Wir
wollen, dass auch Private günstige Strompreise haben.
Aber diese Industrien brauchen einfach günstigen Strom.
Sonst gehen Wirtschaftskraft und Arbeitsplätze unwiederbringlich verloren.
Wir reden hier von wirklich gewaltigen Strommengen: Dieses Unternehmen braucht für den laufenden Betrieb im Jahr 5 Terawattstunden Strom. Das entspricht
1 Prozent des gesamten Stroms, der in Deutschland verbraucht wird. Anders ausgedrückt: Das entspricht dem
Strombedarf von knapp 1 Million Privathaushalten. Das
Werk in Stade ist überhaupt kein Einzelfall. Ich könnte
auch noch BASF in Ludwigshafen, die Salzgitter AG in
Peine, Aurubis in Hamburg und zahlreiche andere Beispiele in Nordrhein-Westfalen, in Bayern, in Hessen, in
Baden-Württemberg und auch in unseren östlichen Bundesländern nennen. Industrien brauchen Strom. Damit
sind wir durch die Krise gekommen. Er ist das Lebenselixier unserer Industrie; deswegen sind wir so gut aufgestellt.
Unsere Unternehmen brauchen aber nicht nur verlässlich verfügbaren und bezahlbaren Strom, sondern auch
Planungssicherheit, und das auf Dauer. Das Chemiewerk
in meinem Wahlkreis hat seine Zukunft selbst in die
Hand genommen: Es hat ein eigenes Konzept für eine
Energieversorgung entwickelt. Das Genehmigungsverfahren läuft, auch das Engineering läuft, und es ist zu
hoffen, dass sich dieses Großkraftwerksprojekt realisieren lässt. Die Lösung sieht das Unternehmen in einem
kombinierten Gas-, Biomasse- und Steinkohlekraftwerk.
Seien Sie nicht erschreckt! Aber das ist deren Ansatz.
({8})
Das Kraftwerk kann einen großen Teil des Wasserstoffs,
der dort bei der Produktion anfällt, in Energie umwandeln; eventuell kann überschüssige Windenergie in
Wasserstoff umgewandelt werden. Das würde dazu führen, dass das Kraftwerk unter den weltweit saubersten
Kohlekraftwerken jenes mit den allerniedrigsten CO2Emissionen wäre.
({9})
Das ist praktizierter Umweltschutz, meine sehr geehrten Damen und Herren von den Grünen. Das sind hochmoderne Technologien, das schützt das Klima, schafft
Arbeitsplätze, sichert Industrien in Deutschland und
wäre zudem auch noch ein echter Exportschlager. Das
wollen wir doch in Deutschland haben. Die Realisierung
wäre ein Meilenstein für die Energieerzeugung. Wir
brauchen solche innovativen Brückentechnologien. Sie
schließen die Zeitfenster bis zu einer kontinuierlichen,
sicheren Versorgung mit regenerativen Energien. Solche
Innovationen und Technologien wollen Sie aber verbieten. Das ist typisch für Sie als Vertreter der Gegenpartei.
({10})
Wer solche Brückentechnologien ablehnt, macht
Deutschland von ausländischer Kernenergie abhängig.
Wer Brückentechnologien ablehnt, verspielt unsere
Chancen auf eine Technologieführerschaft und unsere
Exportchancen. Wir werden das nicht zulassen. Wir werden die gebotenen Maßnahmen für eine erfolgreiche
Energiewende mit Bedacht und mit Augenmaß entschlossen auf den Weg bringen. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab.
({11})
Herr Kollege Grundmann, das war Ihre erste Rede.
Herzlichen Glückwunsch!
({0})
Als nächster Redner spricht Klaus Mindrup.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es ist gut, dass wir heute hier über den Klimaschutz diskutieren. Die Transformation nicht nur unserer
Gesellschaft, sondern aller Gesellschaften weg von klimaschädlichen Gasen hin zu einer kohlendioxidfreien
Welt ist eine Schlüsselaufgabe für die nächsten Jahrzehnte. Diese Aufgabe müssen wir erfolgreich bewältigen. Die Atmosphäre kann nicht mehr länger als Deponie genutzt werden; das ist eine ganz wichtige Botschaft,
die von der heutigen Diskussion ausgehen muss.
Ich gehöre nicht zu denen, die Schreckgespenster an
die Wand malen, aber man muss sich anschauen, was auf
dieser Welt passiert. Man muss die wissenschaftlichen
Erkenntnisse ernst nehmen. Das hat auch ganz konkrete
Folgen für unser Land. Ein Freund von mir baut gerade
ein Haus an der Nordseeküste. Normalerweise würde
man ja den Erdaushub auf eine Deponie bringen. Was
passiert aber mit dem Erdaushub? Er wird genutzt, um
an unserer Nordseeküste die Deiche zu erhöhen.
Wir haben gerade von Frau Hendricks gehört, dass es
viele Inselstaaten gibt, die durch die Erhöhung des Meeresspiegels bedroht sind. Die Menschen dort können darauf nicht so reagieren wie wir. Sie können keine Deiche
bauen. Das heißt, wir müssen anders agieren. Deiche
bauen allein ist keine Lösung.
({0})
Insofern ist es wichtig, dass diese Bundesregierung anders als die Vorgängerregierung weiterhin Vorreiter beim
Klimaschutz sein wird.
Wir waren mit dem Umweltausschuss gerade in den
USA und in Kanada und haben uns intensiv mit diesen
beiden Ländern befasst. Die kanadische Regierung hat in
den vergangenen 15 Jahren ihre Klimaschutzziele immer
dem tatsächlichen Energieverbrauch angepasst, indem
sie sie nämlich immer nach unten korrigiert hat. Das
kann und wird kein Modell für Deutschland sein. Planerfüllung durch Plankorrektur darf und wird es mit uns
nicht geben.
({1})
Wir müssen aber auch die Menschen mitnehmen, und
wir brauchen die notwendige Akzeptanz. Von den Kolleginnen und Kollegen der Grünen wird ja immer das
Thema der Gebäudesanierung benannt. In diesem Zusammenhang muss man einmal darauf hinweisen, dass
es da auch Fehlentwicklungen gibt.
Ich war in meinem Wahlkreis gerade mit Herrn
Dr. Rips vom Deutschen Mieterbund unterwegs. Dort
gibt es ein Haus, das saniert werden soll. Anschließend
sollen die Mieter allein für die energetische Sanierung
im Monat 10 Euro pro Quadratmeter mehr Miete zahlen.
Das sind für eine 60-Quadratmeter-Wohnung also
7 200 Euro im Jahr - bei Energiekosten von 1 000 Euro.
Da läuft doch etwas aus dem Ruder.
({2})
Hintergrund in diesem Fall ist, dass der Vermieter eigentlich seine Mieter loswerden will. Er will das Haus in
Eigentumswohnungen aufteilen und diese Eigentumswohnungen verkaufen. Aber dieses Beispiel massiver
Fehlentwicklung zeigt uns, dass es ja gar keine Kontrolle
gibt, ob kosteneffizient saniert wird. Eine entsprechende
Regelung fehlt einfach im Bürgerlichen Gesetzbuch. Wir
brauchen auch wieder einen Sozialfaktor.
({3})
Wir müssen darüber nachdenken, ob es auch andere
Maßnahmen gibt, als Styropor an die Wände zu packen.
Es gibt die Möglichkeit, richtiges Verhalten zu fördern.
Energiearme Geräte, hydraulischer Abgleich - all das
kostet nicht viel. Andere Beleuchtungsmittel wie die
LED-Technik, dezentrale Kraft-Wärme-Kopplung, wo
keine Fernwärme ist, Solarthermie, Niedrigtemperaturheizungen - all das sind Möglichkeiten, die man angehen muss. Das müssen wir vorantreiben.
Wir müssen zukünftig auch viel stärker in Quartieren
denken. Es kann sinnvoller sein, auf eine erneuerbare
Nahwärme zu setzen, als Häuser intensiv zu dämmen.
Das ist etwas, was man fördern muss. Diesbezüglich
müssen wir an die Gesetze heran, und wir müssen auch
die Förderpolitik ändern.
({4})
Wenn wir hier über steuerliche Förderung reden, was
ja schon mehrfach der Fall war, dann muss man auch an
die Menschen denken, die nichts von einer steuerlichen
Förderung haben. Wenn man eine steuerliche Förderung
vorsieht, muss man sie mit Investitionszuschüssen für
diejenigen begleiten, die diese Investitionen nicht mit ihren Gewinnen verrechnen können.
({5})
Wir müssen aber auch schauen, dass wir die Energiewende nicht nur über die Haushalte und die Mieter refinanzieren. Auch Landwirtschaft, Gewerbe, Verkehr und
Industrie müssen ihren Beitrag leisten.
Jetzt komme ich zur Akzeptanz hinsichtlich des Umgangs mit Kohle und den erneuerbaren Energien. Liebe
Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, wir haben
einen Ausbaukorridor von 5 Gigawatt pro Jahr für die
Erneuerbaren beschlossen.
({6})
Wer da von einem Ausbremsen spricht, hat Wahrnehmungsprobleme.
({7})
Gott sei Dank haben Ihre Kolleginnen und Kollegen in
den Bundesländern diese Wahrnehmungsprobleme nicht.
Wir haben einen Konsens für den Atomausstieg in
Deutschland. Das ist auch gut so. Dafür haben wir einen
klaren Zeitplan. Wir haben auch einen Konsens darüber,
dass wir eine klimafreundliche Energiepolitik wollen.
Aber das müssen wir geordnet angehen. Sie kennen vielleicht alle das Bild von dem Autofahrer, der gleichzeitig
telefoniert, isst, Auto fährt und ein Buch liest.
({8})
Das steht als warnendes Beispiel an vielen Autobahnen.
Was Sie fordern, nämlich alles gleichzeitig zu machen,
wird genauso in die Hose gehen. Wir als Sozialdemokraten möchten nicht, dass die Energiewende gegen den
Baum fährt.
Wenn wir die Energiewende vorantreiben und die Erneuerbaren ausbauen, dann bedeutet das natürlich auch,
dass Kraftwerke vom Markt gehen müssen. Das hat Frau
Hendricks zu Recht gesagt. Ich bin davon überzeugt,
dass wir Regeln brauchen, mit denen wir sicherstellen,
dass nicht die teuren ökologischen Kraftwerke, sondern
die Dreckschleudern vom Markt gehen müssen. Ich bin
fest davon überzeugt, dass wir dafür ein Ordnungsrecht
benötigen. Ich gehöre nicht zu den Anhängern, die sagen, dass wir das alles über den Emissionshandel schaffen können. Wir hätten den Rhein nie sauber bekommen,
wenn wir das nur mithilfe von Emissionszertifikaten für
Abwässer gemacht hätten.
({9})
Wir brauchen eine Kopplung zwischen Ordnungsrecht
und Zertifikaten, so wie wir es im Bereich des Abwassers auch gemacht haben.
({10})
Dort gab es Grenzwerte und die Abwasserabgabe.
Wir brauchen aber auch einen Konsens und positive
Visionen. Die Innovation City in Bottrop ist ein gutes
Beispiel dafür. Sie zeigt, wie wir die Industrialisierung
und die Modernisierung unserer Volkswirtschaft verknüpfen können mit einer Ökologisierung. Die niedrigen
Zinsen, die wir im Augenblick haben, bieten dafür gute
Chancen.
Im Augenblick haben wir noch einen Kostenberg bei
den Erneuerbaren. Eine Photovoltaikanlage, die vor zehn
Jahren in Betrieb gegangen ist, bekommt 45,7 Cent pro
Kilowattstunde EEG-Vergütung. In zehn Jahren wird sie
sie nicht mehr bekommen. Dann ist sie für 2 bis 4 Cent
am Markt. Dann haben wir die Brücke in das Solarzeitalter geschafft; dann ist es kostengünstig. Die neueren Anlagen sind sowieso schon billig.
Ich komme zum Ende. Ich zitiere einen Satz aus dem
Grundsatzprogramm der SPD:
Unser Ziel ist ein solares Energiezeitalter.
Dieses Ziel sollten wir alle gemeinsam haben. Dafür
lohnt es sich zu kämpfen.
Ich danke Ihnen.
({11})
Als letzter Redner hat der Kollege Petzold das Wort.
Herzlichen Dank! - Sehr geehrte Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schon allein die Tatsache, dass
wir heute über einen Antrag sprechen, der vorgestern
Abend eine Drucksachennummer bekommen hat, ist ein
Zeichen dafür, mit welch heißer Nadel der Antrag gestrickt worden ist.
({0})
Wir alle wissen: Die Anhebung des Etappenziels
2020 bei der CO2-Minderung ist und bleibt hochambitioniert. Aber nicht anzuerkennen, dass Deutschland seit
1990 seinen CO2-Ausstoß um über 300 Millionen Tonnen reduziert hat, verhöhnt die Anstrengungen aller bisherigen Bundesregierungen und der Menschen in
Deutschland.
({1})
Welches andere Land hat solch eine mit einer CO2-Minderung verbundene Last auf sich genommen? Ich denke
hier an die Belastung der Menschen durch den Wirtschaftsumbau in den neuen Bundesländern.
({2})
Wenn wir die Bereitschaft der Menschen, Anstrengungen auf sich zu nehmen, nicht anerkennen und immer nur betonen, es sei zu wenig und zu langsam, dann
brauchen wir uns nicht zu wundern, dass uns bald niemand mehr zuhört. Die bislang erreichte Minderung von
etwa 25 Prozent des CO2-Ausstoßes ist kein Pappenstiel.
({3})
Ja, wir haben noch eine gewaltige Wegstrecke vor
uns, wenn wir die noch anstehende Minderung von
15 Prozent, die wir gemeinsam beschlossen haben, bewältigen wollen. Wir konstatieren aber auch gemeinsam,
dass wir in den Jahren zwischen 2010 und 2013 nicht so
vorangekommen sind, wie wir es uns vorgestellt haben.
Allerdings ist das Jahr 2009 mit seinem dramatischen
Wirtschaftseinbruch kein echter Bezugspunkt. Wir haben inzwischen eine Wirtschaftsleistung erreicht, die
wieder deutlich über der des Jahres 2008 liegt.
Daran macht sich fest, dass sich das Wirtschaftswachstum in Deutschland eindeutig vom CO2-Ausstoß
abgekoppelt hat.
({4})
Deutschland ist und bleibt die innovative Werkstatt
der Welt, und es verwundert mich, wenn wir bei jedem
importierten Agrarprodukt den Wasserfußabdruck berechnen, aber bei den Exporten diese Berechnung vergessen. Jedes Produkt hat auch einen CO2-Fußabdruck,
sodass wir mit jedem Produkt, das wir exportieren, sozusagen eine Erhöhung der CO2-Emissionsquote importieren. Kein vernünftiger Mensch würde aber wohl auf die
Idee kommen, die deutschen Exporte zu reduzieren, um
unsere Emissionsquote einzuhalten.
Ich finde es absolut richtig, wenn der Aktionsplan der
Bundesministerin als eine der ersten Maßnahmen die
Identifizierung der technisch-wirtschaftlichen Minderungspotenziale bei der Emissionsminderung vorgibt.
Aktionismus, wie im vorliegenden Antrag, ist Gift für
die Akzeptanz der Anstrengungen für eine CO2-Minderung.
({5})
Selbstverständlich bestehen noch Minderungspotenziale beim CO2-Ausstoß. Wenn ich daran denke, dass in
den letzten Jahren jede Minderung des Stromverbrauchs
im industriell-gewerblichen Sektor durch einen Mehrverbrauch der privaten Haushalte kompensiert wurde,
stelle ich fest: Damit senden wir die falschen Signale
aus. Die Haushalte registrieren ihren Mehrverbrauch viel
zu spät, nämlich erst zum Jahresende, wenn die dicke
Rechnung kommt.
Seit 2003 ist der Wärmebedarf je Quadratmeter
Wohnfläche in der Bundesrepublik um 16 Prozent gesunken. Er ist im Osten Deutschlands deutlich geringer
als im Westen - so der Wärmemonitor Deutschland 2013
des DIW. Danach liegt der Wärmebedarf in Mecklenburg-Vorpommern bei 112,3 Kilowattstunde pro Quadratmeter Wohnfläche und in Bremen bei 150,3 Kilowattstunde pro Quadratmeter. Ei, wer trägt denn da in
Bremen politische Verantwortung? Das muss man sich
fragen, bevor man einen solchen Antrag vorlegt.
({6})
Allerdings scheint der Weg von Baden-Württemberg
mit einem verpflichtenden Einsatz erneuerbarer Energien bei jeder Sanierung falsch zu sein, da dadurch die
Zahl der Heizungssanierungen der Privathaushalte von
70 000 auf 56 000 innerhalb von drei Jahren deutlich zurückgegangen ist und das Energieeinsparpotenzial neuer
Heizungen, das bei 40 Prozent liegt, gar nicht mehr gehoben wird.
Auch die CO2-Minderung lässt sich nur mit den Menschen machen und nicht mit Zwang gegen sie. Dialogund Beteiligungsprozesse, wie vom Bundesministerium
für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit gefordert, sind unabdingbar für zusätzlichen Klimaschutz.
({7})
Im Übrigen ist in diesem Jahr die Stromerzeugung
aus fossilen Energieträgern nach Zahlen des BDEW im
Durchschnitt um über 10 Prozent gefallen, während die
Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien um knapp
10 Prozent gestiegen ist. Gleichzeitig ist der Preis am
CO2-Spotmarkt zwar immer noch nicht in der Größenordnung, wie wir ihn haben wollen, aber immerhin ist er
im Jahresvergleich um 1 Euro je Tonne und damit um
20 Prozent gestiegen.
Das im Antrag behauptete Ausbremsen der erneuerbaren Energien im Stromsektor lässt sich mit einigen
wenigen Zahlen klar widerlegen: Im Juli 2014 lag der
Anteil des aus erneuerbaren Energiequellen erzeugten
Stroms bei 27,7 Prozent der Bruttostromerzeugung, im
Juni bei 28,2 Prozent und im Mai bei 29,9 Prozent.
Dass im November die Sonne weniger scheint und im
August der Wind weniger weht, liegt nicht in der Verantwortung des Bundesministeriums für Umwelt.
({8})
Ich glaube aber nicht, dass die Opposition mit diesem
Antrag so viel Wind erzeugt, dass es für die wenigen Kilowattstunden, die uns für die Erzeugung von 30 Prozent
des Stroms aus erneuerbaren Energien noch fehlen, ausreicht.
Danke schön.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Bevor ich zur Überweisung komme, möchte ich aus
gegebenem Anlass noch einmal auf unsere Geschäftsordnung verweisen. In der Debatte ist gegenüber der
Bundesregierung der Vorwurf laut geworden, dass auf
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
Fragen nicht geantwortet werde. Ich will darauf hinweisen, dass in unserer Geschäftsordnung, die von uns allen
getragen wird, geregelt wird, dass mündliche Fragen zu
einem Tagesordnungspunkt der laufenden Sitzungswoche nicht mündlich beantwortet werden, sondern schriftlich beantwortet werden und von daher auch nicht aufgerufen werden.
({0})
Das ist die Regelung, auf die wir uns alle verständigt haben. Ich gebe Ihnen allen das noch einmal zur Kenntnis
und bitte, sich daran zu erinnern.
({1})
Wir kommen jetzt zur Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/2744 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse. Sind Sie damit einverstanden, dass
die Vorlage an diese Ausschüsse überwiesen wird? - Das
ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sibylle
Pfeiffer, Sabine Weiss ({2}), Katrin Albsteiger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Bärbel
Kofler, Axel Schäfer ({3}), Heinz-Joachim
Barchmann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Gute Arbeit weltweit - Verantwortung für
Produktion und Handel global gerecht werden
Drucksache 18/2739
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({4})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsauschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Kekeritz, Claudia Roth ({5}), Tom Koenigs,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Sozial-ökologischen Rahmen für die Aktivitäten transnationaler Unternehmen schaffen
und durchsetzen
Drucksache 18/2746
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({6})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. - Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Ich rufe als ersten Redner
den Bundesminister Gerd Müller auf und gebe ihm das
Wort.
({7})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gerhart
Hauptmann stellte in seinem Klassiker Die Weber das erbärmliche Leben der schlesischen Leinweber Mitte des
19. Jahrhunderts in Hunger und Not dar: 14 Stunden Arbeit täglich, bis zur Erschöpfung, in der Fabrik am Webstuhl, ein Hungerlohn von 10 Silbergroschen, ein Lohn,
der weder zum Leben noch zum Sterben reicht. Deshalb
musste die ganze Familie - ich sehe junge Leute auf der
Tribüne -, auch Kinder, Frauen und Alte, anpacken,
Überstunden machen und bis zur Erschöpfung arbeiten,
damit ein Überleben möglich war. Diese Zustände der
Ausbeutung führten damals zum Aufstand, zur Revolution. Arbeitervereine wurden gegründet, und später
wurden erste Ansätze der heutigen Sozialversicherung
entwickelt. Sie können all dies beispielsweise im Textilmuseum Augsburg nachvollziehen, wo das dokumentiert
ist.
({0})
Das ist 150 Jahre her. Diese Zustände sind in
Deutschland und in Europa Gott sei Dank Vergangenheit. 150 Jahre danach aber - es ist unglaublich, aber
wahr - werden unsere Kleider leider unter ähnlich schauderhaften Zuständen in Bangladesch, in Pakistan, in
China und in anderen Staaten gefertigt: 15 Cent Stundenlohn für die Näherin in Bangladesch - auch für die
Näherin Ihrer T-Shirts, dort oben auf der Tribüne -,
({1})
Sechstagewoche, kein Urlaub, bei Schwangerschaft
Kündigung, ein Leben und Arbeiten für Hungerlöhne
und ohne sozialen Schutz, wie bei uns im 19. Jahrhundert. So haben wir uns die Globalisierung nicht vorgestellt. Diese Form der internationalen Arbeitsteilung
können wir nicht akzeptieren.
({2})
Sie und ich möchten Kleidung tragen, die mit fairen
Löhnen produziert wurde. Die Jeans, die im deutschen
Handel für 9,90 Euro verkauft wird, wird auf dem Rücken der Näherinnen, die Hungerlöhne erhalten, produziert. Das ist leider Realität.
Das gilt nicht nur für den Textilbereich. Es ist Mittagszeit. Wenn man jetzt am Kochtopf steht
({3})
oder zum Mittagessen geht, sollte man daran denken,
dass am Anfang einer Produktionskette - das gilt auch
für Lebensmittel und Gebrauchsprodukte - immer Menschen stehen. Das sind Familien, Menschen, die von ihrer Arbeit leben müssen.
Gestern haben mich Kinder gefragt, was wir tun und
was wir tun können. Die Tafel Schokolade gibt es bei
uns bereits für 39 Cent. 50 Millionen Menschen auf der
Welt leben vom Anbau von Kakaobohnen, von der Kakaoproduktion. In diesem Bereich herrschen Kinderarbeit und Hungerlöhne von 13 Cent pro Stunde. Die Kinder müssen arbeiten, damit das gemeinsam erarbeitete
Geld zum Überleben der Familie reicht. Es reicht dann
nicht mehr für den Schulbesuch. Uns würde die Schokolade doch auch schmecken, wenn diesen Kindern und
Familien in den Herkunftsländern faire Löhne gezahlt
würden und die Schokolade hier statt 39 Cent 41 Cent
kosten würde.
({4})
Familien in Westafrika könnten dann ihre Kinder zur
Schule schicken, sie impfen lassen und ihnen eine Zukunft bieten.
Ich könnte jetzt mit weiteren Produktgruppen weitermachen, beispielsweise mit Ihren Handys, die für einen
Lohn von 150 bis 200 Euro im Monat produziert werden, damit wir diese Produkte besonders günstig, billig
erwerben können. Ich möchte an dieser Stelle CDU/CSU
und SPD für diesen grundlegend wichtigen Antrag und
diese Debatte danken, aber auch den anderen Fraktionen.
Ich habe die Anträge gelesen und werde auch die neun
Punkte der Grünen sowie die Vorschläge der Linken prüfen und bewerten. Diese Themen müssen in Deutschland, in Europa, bei der G 7, der WTO und bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern auf die Tagesordnung.
({5})
- Ja, Frau Künast, Sie als ehemalige Verbraucherministerin sind auch da.
({6})
„Geiz ist geil“ ist nicht sexy, sondern naiv und ohne Verantwortung.
({7})
Wir brauchen weltweit menschenwürdige Arbeit; denn
weit weg ist sehr nah, nämlich im nächsten Einkaufsmarkt. Wir sehen die Chancen der Globalisierung - das
sage ich an unsere Wirtschaftspolitiker gerichtet -, wir
sehen natürlich, dass Deutschland und Europa davon
profitieren, aber wir sehen auch die Risiken. Wir sagen:
Wir brauchen faire Rahmenbedingungen für einen globalen Markt. Dazu brauchen wir weltweit verbindliche
ökologische und soziale Mindeststandards in den Produktionsketten.
({8})
Verantwortung zeigen wir erst, wenn auch die Näherin in Bangladesch, der Kakaobauer und seine Familie in
Westafrika oder die Baumwollproduzenten in Indien einen Lohn bekommen, von dem sie leben können und
ihre Kinder zur Schule schicken können. Unsere Politik
setzt auf Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit in den globalen Wertschöpfungsketten. Deshalb setzen wir in der
Entwicklungszusammenarbeit bereits jetzt diese Vorgaben in unseren Projekten um, zum Beispiel bei der Förderung von Sozial- und Umweltstandards in Zuliefererfirmen in Asien. Das fängt bei der Ausbildung von
Arbeitsinspektoren für Textilfabriken in Bangladesch an
und reicht bis zum effizienten Wassereinsatz in der
Baumwollproduktion in Afrika.
Ganz besonders interessant ist - schauen Sie sich das
einmal im Internet oder direkt vor Ort an - unser Projekt
„Cotton made in Africa“. Dieses Projekt zeigt, dass umweltgerecht und nachhaltig produziert werden kann und
faire Löhne gezahlt werden können, die den Familien
eine Lebensperspektive bieten, ohne dass die Verbraucher, also Sie, die diese Kleidung „Cotton made in Africa“ kaufen, bei diesen Produkten einen merklichen
Preisaufschlag zahlen müssen.
({9})
400 000 Kleinbauern partizipieren an diesem Projekt,
vom Baumwollfeld bis zum Bügel. Ich möchte mich an
dieser Stelle bedanken. Ich nenne gerne Dr. Otto und die
Aid by Trade Foundation, die dieses Projekt nun seit
Jahrzehnten umsetzen.
({10})
In unserem Ministerium beraten wir Regierungen
beim Aufbau von Krankenversicherungssystemen. Das
19. Jahrhundert ging in eine Revolution über, und die
Ansätze der Bismarck’schen Sozialreformen entstanden, als klar war: So kann Leben und Produzieren in
Deutschland, in Europa nicht erfolgen. Genau da setzen
wir an: Wir helfen bei der Einführung von Arbeits- und
Brandschutzstandards. Wir klären Arbeiterinnen und Arbeiter über ihre Rechte auf. Wir sehen die Vereinigungsfreiheit als wichtiges Ziel. Ich habe vorgestern mit dem
DGB über dieses Thema diskutiert. Die Gewerkschaften
sind hier für uns ein wichtiger Partner.
Ebenso arbeiten wir natürlich erfolgreich mit der Zivilgesellschaft und den Unternehmen zusammen. Ich
möchte ein konkretes Beispiel nennen: das von mir angestrebte Textilbündnis. Es ist wahr: Noch nie haben so
viele Entscheidungsträger aus Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Gewerkschaften an gemeinsamen Standards
für soziale und ökologische Nachhaltigkeit in der Textilbranche gearbeitet. Zum ersten Mal haben wir jetzt
eine Übereinkunft, auf umfassende Ansätze für die Einführung existenzsichernder Löhne hinzuarbeiten. Das ist
ein großer Schritt. Dieser ist dem Engagement von Wirtschaftsvertretern, Zivilgesellschaft und Gewerkschaften
zu verdanken.
({11})
Nächsten Donnerstag wollen wir das Textilbündnis
offiziell gründen. Ich möchte die Gelegenheit nutzen,
noch einmal alle Beteiligten, die noch hin und her
schwanken, die noch darüber nachdenken, was es kostet,
die Rechtsabteilungen, die sich damit beschäftigen und
den Chefs Vorlagen machen, ob mitgemacht werden soll
oder nicht, zu einem gemeinsamen Kraftakt aufzurufen,
jetzt dieses Bündnis zum Erfolg zu führen, voranzugehen und in Deutschland neue Standards zu setzen.
„Nicht abwarten, mitmachen!“ - so lautet jetzt die Devise.
({12})
Die Internationale Arbeitsorganisation ILO ist für uns
ein wichtiger Partner. Vor kurzem habe ich mit Generaldirektor Ryder ein Kooperationsabkommen geschlossen.
Gemeinsam wollen wir in globalen Lieferketten Sozialstandards durchsetzen. Dazu gehören natürlich auch Vereinigungs- und Gewerkschaftsfreiheit sowie existenzsichernde Löhne. Wir brauchen aber auch international
einen Schub. Deutschland allein genügt nicht. Wir können vorangehen, aber die Märkte sind offen. Alle 28 EUStaaten haben die acht ILO-Kernarbeitsnormen ratifiziert. Ich appelliere an alle Mitgliedstaaten der ILO, dies
ebenfalls zu tun. Ganz besonders die USA müssen sich
dazu verpflichten.
({13})
Wie kommen wir weiter? Es stellt sich ja die Frage
- die Gedanken können viele nachvollziehen, theoretisch auch unterstützen -, wie wir konkret werden können. Deshalb sage ich: Die Standards der ILO und international verpflichtende Umweltstandards, die von den
Staaten ratifiziert werden, müssen im Rahmen der WTO
Grundlage für den weltweiten Handel sein. Wir setzen
nicht auf Freihandel, sondern auf fairen Handel. Der Artikel von Sascha Raabe hat mir gut gefallen. Ich habe ihn
gelesen. Freihandel ist nicht unser Leitmotto, Fairhandel
muss es sein, heißt es darin.
({14})
Auch bei den Freihandelsabkommen mit den USA
und Kanada ist dies das Ziel. TTIP und CETA haben
globale Auswirkungen und Vorbildcharakter. Diese Abkommen müssen öffentlich und transparent verhandelt
werden.
({15})
Und wir müssen die Auswirkungen der Abkommen auf
Entwicklungs- und Schwellenländer berücksichtigen. Es
wird und darf keine Abkommen zulasten der Entwicklungsländer geben.
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. Handelsabkommen über den Nordatlantik müssen auf die Entwicklungschancen und die Märkte in Afrika, Asien und
Lateinamerika abgestimmt sein und Rücksicht nehmen.
Daher müssen wir natürlich faire Bedingungen bei den
Wirtschaftspartnerschaftsabkommen der EU mit den
AKP-Staaten, die sogenannten EPAs, vereinbaren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Debatte, diese
Anträge, diese Befassung schaffen Mut. Wir, Sie übernehmen Verantwortung für gute Arbeit, existenzsichernde Löhne, nachhaltige Produktion und fairen Handel.
Vielen Dank.
({16})
Vielen Dank. - Für die Fraktion Die Linke hat jetzt
Niema Movassat das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Gute
Arbeit weltweit - Verantwortung für Produktion und
Handel global gerecht werden“, so heißt der vorliegende
Antrag der Regierungskoalition. Finde ich gut! Das sollten Sie aber auch für Arbeit in Deutschland ernst nehmen.
({0})
Union und SPD stehen hierzulande für schlechte Arbeit, Minijobs, Zeitarbeit, die Aufweichung des Kündigungsschutzes und sinkende Reallöhne, um nur einige
Stichworte zu nennen. Sie sollten gute Arbeit auch in
Deutschland ermöglichen, bevor Sie sich als Vorreiter
der globalen Arbeitnehmerrechte aufspielen.
({1})
Auf internationaler Ebene ist das bekannteste Beispiel
für die miserablen Arbeitsbedingungen die Textilbranche. Der Textilwarenmarkt ist der zweitgrößte Konsumgütermarkt Deutschlands. 2013 lag der Umsatz bei
60 Milliarden Euro.
Die Menschen in Bangladesch, Indien oder Pakistan,
die all diese Klamotten produzieren, arbeiten häufig
unter folgenden Bedingungen: Die Löhne liegen bei um
die 30 bis 50 Euro im Monat. Ein Arbeitstag kann bis zu
16 Stunden haben. Es gibt nur einen freien Tag die
Woche, Urlaub ist nicht vorgesehen. Es gibt keine Arbeitsverträge, keine Krankenversicherung. Wer sich gewerkschaftlich organisiert, fliegt raus. Arbeiter werden
in Fabriken eingeschlossen, in denen es keine Notausgänge gibt und die Fenster vergittert sind. Die Gebäude
sind einsturzgefährdet. Die überall lagernden Stoffballen
und Stoffreste in der Luft führen häufig zu Bränden. All das erinnert mich an Sklaverei. Solche Arbeitsbedingungen können wir nicht akzeptieren. Wir müssen alles
tun, sie zu ändern.
({2})
Arbeit unter solchen Bedingungen kann manchmal
sogar tödlich sein. Beim Einsturz der Textilfabrik Rana
Plaza in Bangladesch starben letztes Jahr 1 127 Menschen. Wir als Mitglieder des Entwicklungsausschusses
waren in Bangladesch. Wir haben mit den Überlebenden
und den Angehörigen der Toten gesprochen. Sie berichteten uns, dass bis heute nicht alle Konzerne in den Entschädigungstopf für die Opfer eingezahlt haben.
({3})
Beim Brand der Firma Ali Enterprises in Pakistan vor
zwei Jahren starben 289 Menschen. Diese Firma hat
zeitweise bis zu 75 Prozent ihrer Produktion im Auftrag
des deutschen Textildiscounters Kik gefertigt. Bis heute
speist Kik die Opfer der Katastrophe mit Almosen ab
und verweigert eine langfristige Entschädigung.
Die größten Profiteure der menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen vor Ort sind die Textilkonzerne. Diese
drücken sich nach Unfällen regelmäßig vor der Verantwortung und lassen die Opfer im Stich. Das ist wirklich
erbärmlich; das muss man so sagen.
({4})
Wenn sich ein Privatunternehmen entscheiden muss, ob
es den eigenen Profit maximiert oder ob es die Menschenrechte der Arbeiter gewährleistet, wird es sich in
99 Prozent der Fälle - das zeigt die Praxis seit Jahren für den Profit entscheiden. Das Prinzip heißt Kapitalismus.
Weil das so ist, lassen sich soziale Standards auf freiwilliger Basis nicht regeln. In Deutschland ist das für
uns selbstverständlich. Hier bei uns haben wir Arbeitsrechte, Arbeitsschutz und Umweltauflagen - natürlich
gesetzlich geregelt. Wenn es aber um die Geschäftstätigkeit deutscher Konzerne im Ausland geht, verlässt sich
die Bundesregierung auf die Versprechen der Unternehmen. Dabei wird völlig ignoriert, dass seit 15 Jahren und
mehr die Privatwirtschaft immer wieder Absichtserklärungen abgegeben hat, aber sich im Wesentlichen nichts
geändert hat. Ich fordere deshalb die Bundesregierung
auf: Geben Sie nicht länger den Interessen der Wirtschaftslobby Vorrang vor den Rechten Millionen arbeitender Menschen weltweit.
({5})
Wir müssen die Farce der freiwilligen Selbstverpflichtungen beenden. Wir brauchen handfeste Gesetze. Wenn eine deutsche Firma in Pakistan unter sklavenartigen Bedingungen produzieren lässt, muss sie
dafür vor einem deutschen Gericht zur Verantwortung
gezogen werden können.
({6})
Wer den Profit einstreicht, muss auch für die Produktionsbedingungen haften.
In Frankreich berät derzeit das Parlament einen
Gesetzentwurf über Sorgfaltspflichten französischer
Firmen bei Geschäftstätigkeiten im Ausland. In diesem
Sinne finde ich es gut, dass die Koalition in ihrem
Antrag zumindest die Prüfung eines Unternehmensstrafrechts ankündigt. In vielen europäischen Ländern gibt es
das schon.
Dass wir eine strafrechtlich wie zivilrechtlich verbindliche Unternehmenshaftung brauchen, hat sich jetzt
gerade wieder deutlich gezeigt: Sie, Herr Müller, wollten
gemeinsam mit der Textilbranche ein Textilsiegel auf
den Weg bringen. Dieses Siegel sollte faire Produktionsbedingungen garantieren, aber jetzt mussten Sie Ihr
Scheitern einräumen. Die Bekleidungsindustrie hat Sie
voll auflaufen lassen.
({7})
Anfang des Jahres haben Sie gesagt, dass es im Falle
eines Scheiterns gesetzliche Regelungen geben solle. Sie
sagten - ich zitiere -:
Wir wollen uns mit der deutschen Textilbranche auf
den Weg machen. Dann können wir in einigen Jahren etwas erreichen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Pfeiffer?
Ja, gerne.
Bitte schön.
Lieber Herr Kollege Movassat, möchten Sie bitte zur
Kenntnis nehmen, dass es nicht heißt „wir wollten“, sondern „wir wollen“ die Einführung eines Textilsiegels,
und dass nächste Woche die Unterschrift erfolgen soll?
Insofern werden wir das erst einmal abwarten. Ich bin
sicher, dass das Vorhaben nicht scheitert, sondern dass
dieses Siegel eingeführt wird.
({0})
Sehr geehrte Kollegin Pfeiffer, der Presse war zu entnehmen, dass das Textilsiegel so in nächster Zeit nicht
kommen wird. Der Minister hat gesagt: Wir wollen uns
auf den Weg machen, damit die Einführung in einigen
Jahren umgesetzt wird. - Darum geht es: Hinsichtlich
der Umsetzung werden wir auf die weitere Zukunft vertröstet. Das ist das, was ich hier kritisiere.
({0})
Das Problem ist: Wenn man sich mit der Textilindustrie auf den Weg machen möchte, dann wird man sich im
Kreis drehen. Die Näherinnen in Bangladesch und Co.
lässt man damit im Stich. Wenn man also gute Arbeit
durchsetzen will, egal ob in Deutschland oder weltweit,
dann wird das nur gegen die Interessen der Privatwirt5270
schaft möglich sein. Das ist der einzige Weg, der zum
Ziel führt.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({1})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Stefan Rebmann,
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Mein Kollege Movassat, aber auch Herr Minister Müller
haben es schon angesprochen: Was verstehen wir unter
guter Arbeit?
Jeder von uns im Plenum, die Menschen, die ihrer Beschäftigung nachgehen, junge Menschen, die sich einen
Ausbildungsplatz suchen oder in der Ausbildung sind:
Jeder von uns wünscht sich gute Arbeit, unter fairen Bedingungen, gut entlohnt. Wir wollen eine Krankenversicherung. Wir wollen eine Arbeitslosenversicherung. Wir
haben eine Rentenversicherung. Wir haben Regeln für
die Gewerbeaufsicht. Wir haben Brandschutz, der bei
uns so gut funktioniert, dass der eine oder andere Flughafen nicht in Betrieb genommen werden kann.
All das ist bei uns für viele Menschen quasi eine
Selbstverständlichkeit. Das ist aber keine Selbstverständlichkeit. Das haben Gewerkschaften und die
Arbeitnehmerbewegung sich über Jahrzehnte hinweg erkämpft und auch immer wieder verteidigt.
({0})
Wir müssen aber sehen - auch das ist in dieser Debatte schon angesprochen worden -, dass das nicht überall so ist. Es wird deutlich, dass wir uns jetzt auf den
Weg machen müssen - das gehen wir mit dem Antrag
an -, gute Arbeit auch weltweit umzusetzen und uns dafür einzusetzen, dass Arbeitnehmerrechte, betriebliche
Rechte, Arbeitssicherheit, Gesundheit und eine soziale
Mindestabsicherung auch weltweit umgesetzt werden.
Ich war über 25 Jahre hauptamtlicher Gewerkschaftssekretär und weiß: Es gibt viele deutsche Unternehmen,
die dieser Verantwortung gerecht werden. Sie werden ihr
auch in ihren internationalen Beziehungen gerecht. Sie
bilden in Entwicklungsländern aus und setzen Standards.
Aber auch das ist in dieser Debatte schon klar geworden:
Es sind leider Gottes nicht alle Unternehmen. Der
Kollege Movassat hat das Beispiel Rana Plaza angesprochen. Wir müssen sehen: Es gibt Unternehmen, auch
deutsche Unternehmen, die sich einen Kehricht darum
scheren, wie die Arbeitsbedingungen sind, wie die
Menschen entlohnt sind und unter welchen Rahmenbedingungen die Menschen dort arbeiten müssen.
Wir waren in Bangladesch. Man muss die Zahlen immer wieder wiederholen: 1 127 Menschen kamen in
Rana Plaza ums Leben. Ich sage dazu: Totschlag mit Ansage. Dort liegen heute noch Leichen. Es gibt immer
noch Unternehmen, auch deutsche Unternehmen, die
sich weigern, in den Ausgleichsfonds einzuzahlen. Ich
finde, an der Stelle ist das Thema Freiwilligkeit beendet.
({1})
Da muss die Regierung handeln, und auf diesen Weg begeben wir uns, Kolleginnen und Kollegen.
Um auch das noch einmal zu sagen: Beim 5-EuroT-Shirt machen die Lohnkosten 1 Prozent aus. Man sieht
aber auch Anzüge, die schon in Bangladesch mit Preisen
von 199 oder 299 Euro ausgezeichnet sind. Wer glaubt,
die Näherin oder der Näher würde dafür einen Cent mehr
bekommen: weit gefehlt! Auch dort gilt der Mindestlohn, der jetzt gerade auf 53 Euro im Monat erhöht worden ist. Die Menschen müssen damit über die Runden
kommen. Die Lebenshaltungskosten liegen aber bei
200 Euro im Monat.
Mir ist wichtig, im Plenum noch einmal deutlich zu
machen: Es ist in erster Linie Aufgabe der Entwicklungsländer - der Regierungen, Parlamente und Arbeitgeber vor Ort -, für ordentliche Arbeitsbedingungen zu
sorgen. Das darf aber nicht dazu führen, dass sich
deutsche und europäische Unternehmen aus der Verantwortung stehlen und sagen: Wir machen das alles nur
freiwillig.
({2})
Wir begeben uns mit unserem Antrag auf den richtigen Weg. Das ist der erste Antrag, der in diese Richtung
geht. Wir haben aber noch eine lange Wegstrecke vor
uns, bis wir von guter Arbeit weltweit reden können. Es
gibt sicherlich immer wieder Spezialisten, die es mit
Tricks schaffen, sich nicht an Recht und Gesetz zu halten, die Standards für Arbeitsbedingungen zu unterlaufen und den Mindestlohn nicht zu zahlen. Solche Menschen sagen sehr oft, sie seien die echten Profis im
Business. Ich sage dazu: Die Titanic ist von Profis gebaut worden, die Arche Noah von Laien. Welches Schiff
untergegangen ist, wissen wir. Denjenigen, die meinen,
dass sie sich auf dem Rücken anderer Menschen profilieren können, müssen wir klare Kante zeigen. Wir haben
in unserem Antrag 18 Punkte diesbezüglich festgeschrieben. Lassen Sie uns darüber diskutieren. Gehen wir voran, und schaffen wir eine Welt, in der es überall gute
Arbeit gibt!
Allerletzter Satz, Frau Präsidentin. Wir können von
den Entwicklungsländern nicht erwarten, demokratiefreundlich zu sein, sich zu engagieren und einzubringen sowie soziale Sicherungssysteme aufzubauen,
wenn wir ihnen nicht gleichzeitig die Chance geben, das
alles auch umzusetzen. Ein indisches Sprichwort lautet:
„Du kannst nicht die eine Hälfte des Huhns kochen und
die andere zum Eierlegen auffordern.“ In diesem Sinne
lasst uns an die Arbeit gehen für gute Arbeit weltweit.
({3})
Vielen Dank. - Das war zwar ein langer letzter Satz.
Aber darüber wollen wir heute einmal hinwegsehen.
Nächster Redner für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen ist Uwe Kekeritz, dem ich von dieser Stelle aus
ganz herzlich zu seinem heutigen Geburtstag gratulieren
möchte, genauso wie der Kollegin Dr. Freudenstein, die
hier zu meiner rechten Seite sitzt. Herzlichen Glückwunsch Ihnen beiden!
({0})
Bitte, Herr Kekeritz.
Danke schön. - Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Herr Kollege Rebmann, wir haben den
Antrag der Großen Koalition gelesen. Sie schaffen es, in
Ihrem ganzen Antrag nicht einmal das Wort „Verbindlichkeit“ zu erwähnen. Die Forderung nach guter Arbeit
weltweit ist richtig und wichtig. Selbst bei uns wird das
Thema immer bedeutender. Wenn wir die Situation hier
vor Ort mit der in den Entwicklungsländern vergleichen,
dann wird uns bewusst, dass die Forderung nach guter
Arbeit in den Entwicklungsländern noch sehr viel zentraler ist. Dabei möchte ich die Situation hier in Deutschland nicht beschönigen. Wir sollten uns aber darüber im
Klaren sein, dass unser Wohlstand zum großen Teil auf
der Armut der Menschen in den Entwicklungsländern
basiert. Deswegen ist es aus moralischen und ethischen
Gründen notwendig, dass wir hier aktiv werden, um die
Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen dort zu
verbessern.
({0})
Sicherlich stimmen wir alle darin überein, dass die
Nationalstaaten im Sinne der Eigenverantwortung selbst
die Pflicht haben, ökologische und soziale Sicherheitsstandards in den Ländern zu etablieren. Allerdings wissen wir auch, dass sie momentan überhaupt nicht dazu in
der Lage sind und dass eine entsprechende Erwartung
völlig unrealistisch ist. Deswegen stellt sich die Frage,
was wir hier tun können. Es gibt viele Hebel. Ein ganz
wesentlicher Hebel ist die Unternehmensverantwortung.
Da verwirren mich die Kollegen von der CDU und CSU
schon sehr. Sie scheinen es als ihre Aufgabe anzusehen,
die Politik des Ministers nach Kräften zu unterlaufen.
Herr Minister Müller, Sie haben hier sehr rührselige
Reden gehalten; diese kennen wir seit einem Jahr. Nun
möchten wir allerdings Butter bei die Fische haben. Wir
möchten wissen, wie Sie die Prozesse lenken werden
und wie es auf europäischer Ebene weitergeht.
({1})
Gerade auf europäischer Ebene sehen wir, dass die Bundesrepublik Deutschland die große Bremserin ist. Es gibt
eine riesige Diskrepanz zwischen Ihren Reden hier und
der Situation auf europäischer Ebene. Wir brauchen verbindliche Standards. Diese fordern auch Sie immer wieder, Herr Minister.
Da habe ich einen Satz gefunden, den ich an Radikalität kaum überbieten kann:
Die Politik ist gefordert, verbindliche Regeln und
Standards zu setzen und Unternehmen für alle ihre
Produktionsstandorte und entlang vollständiger
Wertschöpfungsketten zur Verantwortung zu ziehen.
({2})
Das ist toll, Herr Minister! Ist das aber nur eine Worthülse? Wo sind Ihre Aktionen tatsächlich? SPD und
CDU/CSU legen hier einen Antrag vor, der nur so mit
windelweichen Forderungen gespickt ist. Sie fordern
zum Beispiel von der Regierung, „sich weiter für die
Einhaltung und nationale Umsetzung der international
vereinbarten ILO-Konventionen … einzusetzen“.
({3})
- Ja, das ist prima. Aber trauen Sie denn Ihrer Regierung
nicht? Das ist doch, bitte schön, eine Selbstverständlichkeit. Es kann doch nicht sein, dass Sie das in einen Antrag schreiben.
({4})
Ich nenne noch eine andere Forderung, nämlich die, sich
auf europäischer Ebene dafür einzusetzen, dass in Handelsabkommen verbindliche Sozial- und Umweltstandards aufgenommen und die Schutzstandards nicht abgeschwächt werden. Ja, trauen Sie dieser Regierung nicht,
Herr Rebmann? Das kann doch nur der Grund sein, warum so eine Forderung da drinsteht. Ich halte das für
selbstverständlich. Man muss hier doch nicht so einen
fürchterlich windelweichen Antrag einreichen. Damit
kommen wir nicht weiter.
({5})
Wenn ich von der CDU/CSU-Fraktion - aus diesem
Kreis kommt das - höre, dass Sie die Unternehmensverantwortung sehr hoch schätzen, bin ich auf Ihrer Seite.
Aber wenn dann - da kommt der Geist zum Vorschein,
der die Diskussion hier lenkt - noch der Zusatz „Unternehmensverantwortung ist immer freiwillig und kann
nicht reglementiert werden“ kommt, muss ich Ihnen
dazu sagen: Da liegen Sie falsch. Sie verschätzen sich da
in Bezug auf die Bedeutung dieser Regelungen.
({6})
Vor allen Dingen zeigt das doch, dass Sie nichts aus der
Sozialgeschichte gelernt haben. Es ist schon traurig, dass
ich so etwas auch den Sozialdemokraten sagen muss.
Das kann ja nicht sein!
Natürlich sind alle unsere Verhältnisse hier - die sozialen, ökologischen, arbeitsrechtlichen und menschenrechtlichen - geregelt. Ich sage Ihnen: Menschenrechte
sind nicht teilbar. Wenn sie hier gelten, dann müssen sie
auch dort gelten.
({7})
- Lesen Sie Ihren Antrag durch. - Sie können nicht der
Freiwilligkeit unterworfen werden.
({8})
Ich empfehle Ihnen, sich auch einmal kritische Unternehmer anzuhören. Die fordern nämlich schon längst,
dass verbindliche Standards eingeführt werden. Das hat
einen einfachen Grund: Die Unternehmen, die sich an
Standards orientieren, werden durch Unternehmen, die
sich nicht daran orientieren, übervorteilt. Auf Englisch
heißt das „level playing field“. Das müssen wir schaffen:
einen Wettbewerb zu gleichen Bedingungen.
({9})
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. - Ihre
Scheuklappenpolitik kommt daher nicht den Menschen
in den Produktionsländern und auch nicht den deutschen
Unternehmern zugute.
Danke schön.
({10})
Vielen Dank. Das war jetzt - als kleines Geschenk die Minute für den Geburtstag. - Das Wort hat nun der
Kollege Jürgen Klimke, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Zunächst einmal Ihnen, Herr
Minister, herzlichen Dank für die offenen Worte.
({0})
Herzlichen Dank für die ungeschminkte Darstellung der
sozialen Ausbeutung in den Entwicklungsländern.
({1})
Herzlichen Dank für die verantwortungsvollen Lösungsvorschläge. Und auch herzlichen Dank für den sanften
Druck auf die Industrie im Interesse der Menschen in
den Entwicklungsländern.
({2})
Da sind wir auf einem wirklich guten Weg.
({3})
Lassen Sie mich die Problematik anhand eines Zitats
weiter ausführen:
Demokratien müssen die Globalisierung gestalten
und nicht nur auf sie reagieren. Gestalten heißt beispielsweise auch, dafür zu sorgen, dass rechtsstaatliche, soziale und Umweltstandards gefördert werden.
Meine Damen und Herren, diese Worte von Bundespräsident Gauck möchte ich zum Motto meines Beitrags
hier und heute machen. „Globalisierung gestalten“ bedeutet, weltweit nachhaltig zu handeln, sich der Folgen
bewusst zu sein, die unser Handeln für andere hat, und
vor allen Dingen negative Folgen einzudämmen.
Noch vor wenigen Jahren hätte man die Gestaltung
der Globalisierung als eine ausschließliche Aufgabe der
Politik - vor allen Dingen der hochentwickelten Staaten angesehen. Viele sehen das heute noch so. Was passiert
aber, wenn staatliche Institutionen ihrer Aufgabe der
Normensetzung nicht nachkommen oder nicht nachkommen wollen? Auf diese Frage hätte man früher wahrscheinlich mit Schulterzucken geantwortet.
Heute sehen wir die Gestaltung der Globalisierung
zunehmend als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe,
als Aufgabe der Politik, der internationalen Organisationen, der engagierten Nichtregierungsorganisationen, der
Zivilgesellschaft und eben auch der Wirtschaft und der
Verbraucher. Diese Entwicklung der Übernahme von
Verantwortung für unser Handeln ist ein gesellschaftlicher Megatrend, der zugleich auch ein Pfeiler christdemokratischer Politik ist. Wir wollen die Schöpfung bewahren und wollen den Menschen auch in ihren
Heimatländern ein lebenswertes Leben ermöglichen.
({4})
Genau in diese Richtung zielt unser Antrag „Gute Arbeit weltweit - Verantwortung für Produktion und Handel global gerecht werden“. Schwerpunkte sind dabei die
sozialen Bedingungen bei Produktion und Handel, auch
und gerade in den Entwicklungsländern. Für Verbesserungen nehmen wir nicht nur Staaten und Politik, sondern eben auch die Unternehmen in Verantwortung.
Diese Unternehmensverantwortung - CSR heißt das international - ist ein Schlüsselfaktor bei der Gestaltung
der Globalisierung, weil wir damit die Lebensbedingungen vieler Menschen in den Entwicklungsländern verbessern können. Das bedeutet natürlich auch, dass die
Menschen in ihren Heimatländern bleiben,
({5})
weil sie dort gern zur Arbeit gehen und von ihrem Lohn
künftig vernünftig leben können. Nachhaltige Globalisierung wirkt der Migration entgegen. Das ist auch ein
Aspekt, den wir gerade in diesen Zeiten der Flüchtlingsströme nicht vergessen dürfen. Deshalb bin ich kein
Gegner der Globalisierung; denn sie ist nicht nur ökonomisch sinnvoll, sondern sie bietet durchaus auch Chancen für die Entwicklungsländer. Das gilt im Übrigen
auch und gerade für die Textilindustrie.
„Globalisierung gestalten“ bedeutet aber auch, dass
deutsche Unternehmen nicht Profiteure eines Manchester-Kapitalismus übelster Sorte sein dürfen, bei dem Arbeiter eingesperrt werden, ihnen Pausen und Arbeitsschutz verwehrt werden, sie in Schuldknechtschaft
geraten und örtliche Mindestlöhne auch noch unterlaufen werden. Aber auch wenn noch so manches im Argen
liegt, ist es heute schon so, dass viele Unternehmen aus
Deutschland - auch das müssen wir feststellen - und Europa gute CSR-Strategien haben. Sie stellen sicher, dass
Mindeststandards nicht nur im ökologischen, sondern
mehr und mehr auch im sozialen Bereich eingehalten
werden. Das ist im Übrigen auch in der Textilbranche so.
Bisher sind solche CSR-Strategien unverbindlich. Wir
wollen die Verbindlichkeit dieser CSR-Strategien international und national stärken und ihre Wirksamkeit erhöhen. In diese Richtung zielt unser Antrag mit der Vielzahl der Forderungen.
Es ist eine Tatsache, dass wir ohne den informierten
und kritischen Verbraucher Globalisierung nicht gestalten können. Der Verbraucher hat Siegel wie Fairtrade
oder das Biosiegel verstanden und akzeptiert. Im Bereich der sozialen Mindeststandards entlang der gesamten Produktions- und Lieferkette gibt es bisher noch kein
bekanntes und nachvollziehbares Siegel, das dem Verbraucher eine sozialverträgliche Produktion einigermaßen verlässlich signalisiert. Das wollen wir ändern.
Wir haben mit dem „Textil-Bündnis“ ein Modell, das
wir im Übrigen auch auf andere Branchen übertragen
können. Ich denke an die Landwirtschaft, ich denke an
die Elektronikindustrie, an die Tabakproduktion zum
Beispiel oder auch an die Gewinnung von Rohstoffen.
Wichtig ist dabei, dass die gesamte Produktions- und
Lieferkette Beachtung findet.
({6})
Bei der Textilproduktion geht es bei der Baumwollernte los. Die Knopfherstellung oder die Herstellung von
Reißverschlüssen gehören genauso dazu wie auch die
Verwertung gebrauchter Kleidung. Wichtig sind auch die
Transportwege. In vielen Bereichen sind die Sozialstandards bereits heute gut. So habe ich vom Verband Deutscher Reeder erfahren, dass es international verbindliche
Richtlinien gibt, Sozialstandards für Seeleute, sodass der
Seetransport der Kleidung von den Produktionsstandorten zu uns immerhin schon sozial nachhaltig ist.
Die Unternehmen können heute einen Beitrag für die
Verbesserung der Sozialstandards leisten. Auch wir treten dafür ein. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir die Regierungen vor Ort aus ihrer Verantwortung entlassen
dürfen. Ich durfte mir die Situation in Bangladesch ansehen: Korruption, laxe Bauvorschriften, Behinderung von
Gewerkschaftsbildung. Das sind klar Fehler staatlichen
Handelns. Wir müssen die Zahlung unserer Entwicklungsgelder noch stärker an Fortschritte in diesen Bereichen koppeln. Die Konditionierung in diesem Zusammenhang, die wir vor wenigen Jahren eingeführt haben,
ist dabei, genau wie das Menschenrechtskonzept des
BMZ, ein ganz wichtiger Punkt.
Meine Damen und Herren, natürlich dürfen wir nicht
nur Verbesserungen einfordern, sondern wir müssen
auch durch Maßnahmen der Entwicklungszusammenarbeit daran mitwirken. Deswegen begrüße ich außerordentlich, Herr Minister, dass wir zum Beispiel in Bangladesch 10 Millionen Euro für die Etablierung der
Sozial- und Umweltstandards in der Industrie einbringen, dass wir damit die Situation verbessern: Berater
werden ausgebildet, Kurse für Manager werden durchgeführt, und es wird einmal deutlich gesagt, was Gewerkschaften eigentlich sind und welche Aufgaben sie
haben können. Das Handlungsfeld der Entwicklungszusammenarbeit, dem wir künftig auch in anderen Regionen große Aufmerksamkeit schenken, wird hier weiter
ausgedehnt.
Die Formulierung „Gute Arbeit weltweit“ im Titel
unseres Antrags hört sich zunächst vielleicht ein bisschen hochtrabend an, so nach dem Motto: Na ja, wir
wollen mal kurz die Welt retten. - Aber jeder Mensch in
den Entwicklungs- und Schwellenländern, dessen Arbeitssicherheit steigt, dessen Absicherung sich verbessert, dessen Lohn auskömmlicher wird, ist unserer Anstrengung wert. Somit leisten wir hier gemeinsam auch
mit unserem Antrag einen kleinen Beitrag zur sozialen
Globalisierung.
Herzlichen Dank.
({7})
Vielen Dank. - Nächster Redner für die Fraktion Die
Linke ist Dr. Diether Dehm.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Die Willkür des Freihandels mit den armen
Ländern ist auch für TTIP und CETA die Blaupause. Die
Große Koalition schreibt in ihrem Antrag:
Verantwortungsbewusste Unternehmen richten ihre
Ziele freiwillig … nach sozialen … Kriterien aus.
Ich frage die SPD-Minister: In welcher Welt leben Sie
eigentlich?
({0})
Das Godesberger Programm, das mir damals als Sozialdemokrat nicht links genug war, schreibt immerhin:
Mit ihrer durch Kartelle … gesteigerten Macht gewinnen die führenden Männer der Großwirtschaft
einen Einfluss auf Staat und Politik, der mit demokratischen Grundsätzen nicht vereinbar ist.
Auf ebendieser Grundlage hatte die Linke in der letzten Sitzungswoche den Antrag des SPD-Konvents übernommen, der an das Freihandelsabkommen Grundbedingungen formuliert. Dann haben Sie von der SPD gegen
Ihre eigenen Bedingungen gestimmt. Mit Ihren Vorbehalten gegen das TTIP ist es also nicht weit her.
({1})
Es heißt im Konventspapier der SPD - ich zitiere -:
Investitionsschutzvorschriften sollten nicht eingeführt werden.
Ich frage Herrn Gabriel: Garantieren Sie ein Nein der
SPD zu TTIP, wenn dieser kapitalistische Investorenschutz doch drinstehen sollte? Und: Im CETA steht es
doch. Das CETA ist ausverhandelt. Wir warten noch auf
Ihren massiven Protest.
({2})
Dann heißt es im Beschluss des SPD-Konvents:
In keinem Fall dürfen das Recht der Mitbestimmung … oder andere Schutzrechte für Arbeitnehmer als „nicht-tarifäre Handelshemmnisse“ interpretiert werden.
Einmal gesetzt, ein amerikanischer Konzern investiert
hierzulande, und per Mitbestimmung würden die Kollegen vor Ort endlich die riesigen Konzernprofite nicht
ausschütten, sondern für ihr gesundheitliches Wohl oder
echte Gewinnbeteiligung ausgeben wollen. Dann garantieren Sie also, Herr Gabriel, dass es erst gar nicht vor
ein Schiedsgericht kommt bzw. der US-Konzern sich
nicht gegen die Arbeitnehmer durchsetzt. Ich würde
nicht einmal garantieren, dass es diesen Arbeitnehmern
nicht so geht wie denen in Mexiko, die durch den Investorenschutz massenweise aus ihren Betrieben rausgeflogen sind.
({3})
Zu Ihrer im Konventspapier formulierten Ablehnung
eines Regulierungsrats: Haben Sie der EU-Kommission
schon mitgeteilt, dass das mit Ihnen nicht zu machen
wäre? Mir ist das jedenfalls nicht bekannt. Die Zustimmung zu einem Regulierungsrat wäre ebenfalls ein gebrochenes SPD-Versprechen.
({4})
Wir Linken halten es mit dem Godesberger Programm - ich zitiere -: Wer nicht über gleiche Macht verfügt wie ein Großunternehmen, hat nicht gleiche Entfaltungsmöglichkeiten, er ist mehr oder minder unfrei.
Freihandelsabkommen sind aber Unfreiheitsabkommen. Wer den Versprechungen der Großen Koalition
nicht traut, wird am Samstag gegen CETA, gegen die
Geheimnistuerei beim TTIP und gegen den Freihandel
mit den armen Kontinenten, für unsere Sozialstaatlichkeit und die Würde der arbeitenden Menschen demonstrieren. Die EU-Kommission hat die Bürgerinitiative
gegen das TTIP zwar verboten
Kollege Dehm, denken Sie bitte an die Zeit.
- ich komme zum Ende -, aber es gibt sie. Schauen
Sie auf www.umfairteilen.de! Wer mehr Gemeinsamkeit
von Linken, Sozialdemokraten und Grünen will, der
wird sie am Samstag gegen diese Freihandelsabkommen
vieltausendfach auf der Straße finden.
Ich danke schön.
({0})
Für die Fraktion der SPD hat jetzt das Wort Dr. HansJoachim Schabedoth.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Thema „Gute Arbeit weltweit“ könnte auch ein Prädikat für die Arbeit des weltweit anerkannten Außenministers dieser Regierung sein. Wer nach einem Beispiel für schlechte Arbeit sucht, für schlechte Arbeit im
Bundestag,
({0})
der hätte meinem Vorredner aufmerksam zuhören müssen.
({1})
Denn die Ausführungen, die Sie, Herr Dehm, ein weiteres Mal hier zu Gehör bringen, entspringen Ihrer Vorstellung von sozialdemokratischer Politik, Ihrem Zerrbild
von sozialdemokratischer Politik.
({2})
und bitte, lassen Sie uns doch auf eine Auseinandersetzungsebene kommen, wo wir wirklich das miteinander
austauschen, was wir auch meinen, und nicht das, was
wir uns gegenseitig unterstellen!
({3})
Der vorliegende Antrag und unsere Debatte beziehen
sich auf die weltweiten Arbeitsbedingungen. Schon in
unserem Land lässt sich leider nicht sagen, gute Arbeit
und damit die wichtigste Voraussetzung für ein gelingendes Leben sei zur Selbstverständlichkeit geworden. Bei
guter Arbeit geht es in den nationalen wie weltweiten
Bezügen zuallererst um die Würde des Menschen. Sie
wird weltweit hunderttausendfach verletzt, Tag für Tag.
Uns alle hat ja im April 2013 der Einsturz der Textilfabrik in Bangladesch entsetzt. Es waren nicht nur die
Opfer; es war auch das, was man darüber hinaus erkennen konnte: Die Labels namhafter Textilhersteller aus
Europa fanden sich überall am Unfallort verstreut. Die
meisten von uns besitzen Kleidungsstücke dieser Marken. Viele dieser Firmen hatten Verantwortung und
Sorgfaltspflicht entlang ihrer Wertschöpfungskette an
ihre Subunternehmen delegiert. So etwas darf es in Zukunft nicht mehr geben.
({4})
Unsere deutschen Unternehmen sind ein berechtigter
und guter Teil internationaler Wertschöpfungsketten und
Handelsbeziehungen. Wir könnten also gute Arbeit in
doppelter Hinsicht fördern und schlechte Arbeit zurückdrängen, zum einen natürlich als kritische Konsumenten,
zum anderen aber auch - und das ist ein hervorragender
Ansatz, den wir ja mit diesem vorliegenden Antrag aufnehmen - über transnational agierende deutsche Unternehmen, die die sozialen, ökologischen und menschenrechtlichen Verpflichtungen unmissverständlich respektieren.
Während wir hier beraten, nähen ja immer noch in Pakistan und Bangladesch Arbeiterinnen in 16-StundenSchichten T-Shirts zu absurd niedrigen Löhnen, nur damit wir diese T-Shirts für 5 Dollar oder 5 Euro kaufen
können. Und während wir hier beraten, klettern Arbeiter
im indischen Gujarat weiter in Gummilatschen über
Schiffswracks, um unter Lebensgefahr alte Seelenverkäufer aus den Industrieländern zu zerlegen. In Cali in
Kolumbien - und leider nicht nur dort - werden Menschen immer noch mit Gefängnis oder dem Tod bedroht,
wenn sie sich gewerkschaftlich engagieren. - Die Liste
ließe sich leider unendlich fortsetzen.
Millionen von arbeitenden Menschen überall in der
Welt erwarten, dass uns das nicht gleichgültig ist, dass
wir so etwas nicht nur herunterdeklinieren und in Sonntagsreden beklagen.
Es gibt ein international geltendes Normengefüge für
Mindestansprüche an gute Arbeit. Das beginnt bei den
Leitlinien der ILO, und das hört bei OECD- und UNLeitprinzipien noch lange nicht auf.
Wir haben uns auf solche Leitlinien für gute Arbeit im
vorliegenden Antrag detaillierter berufen. Sie dienen als
Messlatte für Selbstverständnis und Selbstverpflichtung
der staatlichen Akteure und für die deutschen Unternehmen in den globalen Produktions- und Handelsbezügen.
Unter guter Arbeit weltweit verstehen wir eine Arbeit,
bei der die Beschäftigten mitreden und mitgestalten können, mit einem gerechten Entgelt, existenzsichernd, mit
sozialer Sicherheit ohne Diskriminierung und natürlich
mit einem nachhaltigen Arbeits- und Gesundheitsschutz.
Dass Arbeit Mühe macht, liebe Kolleginnen und Kollegen, das werden wir wohl nie verhindern können. Aber
wir können eine ganze Menge tun, damit Arbeit in unserem Land und weltweit als gut erlebt wird. Auch die arbeitenden Menschen zum Beispiel in Bangladesch, Kolumbien und auf den Baustellen in Katar haben ein
natürliches Recht darauf.
({5})
Vielen Dank. - Herr Kollege Dr. Schabedoth, das war
Ihre erste Rede hier im Plenum des Deutschen Bundestages. Dazu möchte ich Ihnen ganz herzlich gratulieren.
({0})
Ich mache noch einmal, auch für alle anderen, darauf
aufmerksam, dass dann, wenn das Licht „Präsident“
leuchtet, die Redezeit abgelaufen ist.
({1})
Irgendwann müssen wir uns auch an das halten, was wir
selber vereinbart haben.
({2})
Die nächste Rednerin ist die Kollegin Renate Künast,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Minister, wenn ich ein Beispiel für „links blinken, danach aber rechts fahren“ brauchte, würde ich sagen:
Minister Müller.
({0})
Da stellt er sich hier hin und sagt: So haben wir uns Globalisierung nicht vorgestellt. - Seit 1994, seit Gründung
der WTO, haben Sie Globalisierung genau so zugelassen
und unterstützt. Was reden Sie denn da?
({1})
Wo war denn Ihr Aufschrei? Sie haben unter einem
Kanzler Kohl und unter Ihren Regierungen für diese internationalen Regeln der WTO gesorgt. Man soll sich
dafür nicht schämen müssen, wenn man in die Green
Box soziale Kriterien hineinnimmt.
Sie machen hier ein Ding auf, das heißt: Der eine Teil
passiert immer freiwillig. Ich sage Ihnen: Mit „freiwillig“ waren wir eigentlich durch. Freiwillig haben wir
schon alles. Freiwillig haben wir Frauen in den Vorständen und Aufsichtsräten - nichts passiert! -, freiwillig
werden Umwelt- und Sozialstandards eingehalten - nirgendwo ist was passiert.
({2})
Das ist Ihr einer Teil. Und das wollen Sie uns hier jetzt
als ganz dicke Nummer verkaufen.
Das andere ist die WTO. Sie sagen: So haben wir uns
Globalisierung nicht vorgestellt; WTO, CSR - das muss
irgendwie alles verändert werden.
Das finde ich geschickt. Denn bei der „Freiwilligkeit“
dauert es noch fünf Jahre - da sind Sie lange nicht mehr
Minister -, bis man feststellt: Auch da hat sich nichts getan. - Bei der WTO kann man immer sagen: Wir mühen
uns, aber die anderen haben nicht gewollt. Man brauchte
da Einstimmigkeit, um die Regeln zu verändern. - Eine
wirklich interessante Strategie, die Sie hier fahren, Herr
Müller.
Zwischendurch sprechen Sie noch ein bisschen vom
IOC; auch die sollen Arbeitsrechte einhalten.
({3})
- Ja, das steht auch drin. Das habe ich dort gefunden.
Zu dem, was Sie hier vortragen, kann ich nur sagen:
Der Worte sind genug gewechselt, ich will jetzt Taten sehen.
({4})
Ihr Antrag - sorry! - ist eine Kiste voller weißer
Salbe. Wo steht denn zum Beispiel, wer Produkte in die
EU importieren will, muss sofort, ab 1. November 2014,
„living wages“, existenzsichernde Gehälter, zahlen?
Nein, da sprechen Sie von 2020. Was ist eigentlich in
den nächsten sechs Jahren mit dem Hunger? Bei der Erzeugung von Baumwolle ist das dann 2024. Was ist da eigentlich in den nächsten zehn Jahren mit dem Hunger? Nichts als weiße Salbe.
Dazwischen, zwischen Freiwilligkeit und WTO, in
dieser Erdumlaufbahn, in der das verhandelt wird, ist die
Europäische Union. Da sage ich: Hic Rhodus, hic salta.
Da springen Sie nicht.
Wie wäre es mit einer europäischen Transparenzrichtlinie, nach der jedes Unternehmen für die gesamte Kette
darstellen muss ({5})
von Dhaka in Bangladesch bis hier vor die Haustür -,
wie die sozialen und ökologischen Bedingungen sind,
damit jeder von uns ins Netz gehen und sehen kann
- jede NGO oder ich selber, wenn ich mit einer Gewerkschafterin in Bangladesch kommuniziere -: Stimmt denn
diese Angabe? Sie haben nicht einmal gesagt, dass Sie
sich dafür jetzt einsetzen werden. Aber das wären in der
EU gleiche Bedingungen. Das wäre gut für die Menschen in den Herstellerländern und für die Menschen
und Unternehmen hier.
({6})
Wie wäre es mit klaren Kennzeichnungspflichten?
„Made in …“ muss auch heißen - ich komme zum
Schluss -, es ist dort wirklich hergestellt worden. Wie
wäre es mit einer Kennzeichnungspflicht „GMO-Cotton
enthalten“? Wie wäre es mit einer klaren Regelung der
zivilrechtlichen Haftbarkeit und ordentlich geregelten
Sorgfaltspflichten? Mit der Beschwerdebox, die Sie hier
vorstellen, ist es wie mit einer Dienstaufsichtsbeschwerde: formlos, fristlos, fruchtlos.
({7})
Wir brauchen ein richtiges Klagerecht vor Gerichten in
Europa.
Mein letzter Satz: De Gucht - über den ich sonst nicht
viel Positives zu sagen habe, wegen TTIP
Frau Kollegin Künast, Sie wollten zum Schluss kommen; das haben Sie eben gesagt.
- wirklich mein allerletzter Satz - hat den Außenminister von Bangladesch vorgeladen und klar gesagt:
Ihr verliert eure Präferenzen als „least developed
country“, wenn ihr jetzt nicht die Löhne erhöht und
200 Kontrolleure für die Statik und Sicherheit in den Firmen einstellt. - So macht man Politik und nicht mit Freiwilligkeit oder mit „irgendwo in hundert Jahren bei der
WTO“.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Waldemar
Westermayer für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
Künast, Sie waren auch einmal Ministerin. Da hätten Sie
das alles schon in die Wege leiten können; dann wäre das
heute kein Thema.
({0})
Die unantastbare und unteilbare Menschenwürde ist
das Herz der Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen. 1948 verabschiedet, war sie eine Antwort auf den
Terror und das Leid des Zweiten Weltkriegs. Obwohl der
Großteil der Staatengemeinschaft sich zu diesen Menschenrechten bekennt, ist die Achtung der Menschenwürde an vielen Orten der Welt keine Selbstverständlichkeit.
Wir Christdemokraten verstehen uns als Teil eines
christlich geprägten Europas und machen uns deshalb
für einen nachhaltigen Schutz der Menschenwürde besonders stark.
Im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit ist man
sehr darauf bedacht, die Menschenrechte durch einen
partnerschaftlichen Dialog stets zu thematisieren. Gleichzeitig koppelt die deutsche Entwicklungszusammenarbeit ihre Kooperation an gute Regierungsführung im
Partnerland. Das bedeutet, Deutschland muss selbst
transparent und glaubwürdig mit gutem Beispiel vorangehen.
Die internationalen Wirtschaftsbeziehungen von Unternehmen haben oft keine entwicklungspolitische Komponente. Für die Beziehungen der multinationalen Unternehmen zu ihren Zulieferfirmen in den Partnerländern
des Südens heißt das: Jeder Staat ist allein für seine arbeitende Bevölkerung und für die Einhaltung von Rechten und Pflichten verantwortlich. Er sollte im Sinne einer
nachhaltigen Entwicklung tätig werden. Er sollte seine
Schutzverantwortung gegenüber seinem eigenen Volk
und besonders gegenüber einzelnen Minderheiten wahrnehmen.
Erst dann treten die Unternehmen in Verantwortung.
Hier bestehen und wirken bindende und freiwillige europäische und internationale Grundsätze und Handlungsimpulse auf verschiedenen Ebenen. Natürlich sollte man
deshalb Staaten, die nicht in der OECD sind, für die erwähnten Leitsätze und Sorgfaltspflichten gewinnen. Wir
müssen aber die Hoheit der Partnerstaaten respektieren.
Das heißt hier konkret: Auch verwundbare Länder wie
Bangladesch aus der Gruppe der am wenigsten entWaldemar Westermayer
wickelten Länder sollten der Verantwortung ihrer Bevölkerung gegenüber immer mehr nachkommen.
({1})
Dies sollte allerdings mehr durch Motivation als durch
internationalen Druck geschehen; denn diese Länder sollen entscheidende Akteure eines nachhaltigen Wirtschaftswachstums und eines globalen Entwicklungsprozesses werden.
({2})
Andere haben ein totalitäres entwicklungspolitisches
Verständnis, wir als Christdemokraten haben das nicht.
Wir wollen anderen Staaten keine Maßstäbe für „gutes
Leben“ und „gute Arbeit weltweit“ aufzwingen.
Im Bereich der unternehmerischen gesellschaftlichen
Verantwortungsarbeit gibt es viel Bewegung und schon
viel mehr Bewusstsein. Der Umgang von Unternehmen
mit ihren südlichen Partnerländern hat sich schon verändert. Es wird mehr nach Menschenrechten gefragt. Es
wird vor allem im Bereich der Einhaltung der Umweltund Sozialstandards mehr von den ausländischen Zulieferfirmen erwartet. Bei Gesprächen im Wahlkreis wurde
mir dies von Unternehmen öfters bestätigt. Trotzdem
bleibt noch viel zu tun.
Überregulierung hingegen kann freiwillige und positive Entwicklungen blockieren. Sie kann schwer abschätzbare Folgen für die arbeitende Bevölkerung in den
Partnerländern haben. Was hilft einer Arbeiterin und
ihrer Familie eine schnelle Durchsetzung von rechtlich
einklagbaren und erhöhten Standards, wenn das Unternehmen gezwungen ist, die Arbeiterin und die Hälfte des
Personals aufgrund von gestiegenen Kosten zu kündigen? Das darf uns natürlich nicht davon abhalten, immer
wieder die Einhaltung der Menschenrechte und der erwähnten Sozialstandards einzufordern.
({3})
Die Politik muss den Bewusstseinswandel im Bereich
der gesellschaftlichen und unternehmerischen Verantwortung bestärkend begleiten. Wir haben es im eigenen
Land beim Thema Ernährung erfahren. Das Bewusstsein
für die Herkunft von Lebensmitteln hat sich in vielen
Teilen der Gesellschaft verändert. Lieferketten lassen
sich besser nachverfolgen, auch weil der Verbraucher
vermehrt nachfragt. Ziel sollte es sein, dass die international tätigen Unternehmen ein reges Eigeninteresse
entwickeln, sich selbst und den Verbraucher über die
Herkunft der Produkte vom Rohstoff bis zum Endprodukt zu informieren. Dies ist ohne Zweifel ein langer
Weg. Handeln mit nachhaltigem Eigeninteresse hat jedoch auch eine langfristige Wirkung.
Einen wesentlichen Beitrag im Bewusstseinsprozess
leistet auch die nichtstaatliche Entwicklungszusammenarbeit. In der letzten Zeit habe ich das besonders im
Gespräch mit kirchlichen Entwicklungsorganisationen
erfahren. Sie haben mit ihrem menschenrechtsbasierten
Ansatz in ihren Partnerländern auf lokaler Ebene viel bewirkt.
Lassen Sie mich abschließend sagen: Ich bin als Politiker neu auf der bundespolitischen Ebene und im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit. So habe ich seit
meinem Mandatsantritt im Juli 2014 schon eine Reihe
von Firmenbesuchen gemacht. Für alle Unternehmen ist
die Umsetzung ihrer gesellschaftlichen und unternehmerischen Verantwortung ein Schlüsselthema. Als Entwicklungspolitiker komme ich deshalb schnell ins Gespräch mit den Firmen. Dabei habe ich festgestellt, dass
der Austausch zum Thema „faire Arbeitsbedingungen“
stark an Bedeutung gewinnt. Der Dialog zwischen Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Politik sollte hier noch viel
sichtbarer gemacht werden.
Lassen Sie uns also Schritt für Schritt den Dreiklang
von sozialen, ökologischen und menschenrechtlichen
Standards im Sinne „Guter Arbeit weltweit“ vermitteln
und fördern. Bildung kann hier einen entscheidenden
Beitrag leisten. Konkret geschieht dies zum Beispiel in
Partnerschaften der internationalen Berufsbildungskooperation. Dies ist ein gelebtes Beispiel von nachhaltiger wirtschaftlicher Zusammenarbeit und von gemeinsamen Lernprozessen.
({4})
Es macht international Schule und wird - so höre ich aus
Südamerika - stark nachgefragt. Berufsbildung wird international als persönliche und gesellschaftliche Chance
genutzt. So werden Strukturen und eine solide wirtschaftliche Basis geschaffen. Aber vor allem geschieht
ein Meinungs- und Gedankenaustausch. Das dient der
Zukunftsfähigkeit: staatlich, wirtschaftlich, gesellschaftlich und persönlich. Das Modell der Berufsbildung und
die zahlreicher werdenden Partnerschaften sind zentral
für die Zukunft von guter Arbeit weltweit. Setzen wir
also auf die junge Generation. Investieren wir in den
Dialog für solche Modelle. Sie sind nachhaltig und prägen entscheidend und immer mehr internationale Unternehmens- und Arbeitskulturen.
Zum Schluss fällt mir ein Zitat von Erzbischof
Zollitsch ein, der bei einer Veranstaltung im Ulmer
Stadthaus sagte: „Märkte erzeugen Preise, aber keine
Werte.“ Diese Werte muss die Politik einfordern, zuerst
freiwillig, dann gesetzlich, und wenn dies nicht funktioniert, dann brauchen wir Sanktionen. Hier leistet unser
Minister Gerd Müller sehr gute Arbeit. Packen wir es an!
Herzlichen Dank.
({5})
Vielen Dank, Herr Kollege Westermayer. Das war
Ihre erste Rede heute hier im Deutschen Bundestag, und
das unter erschwerten Bedingungen. Herzlichen Glückwunsch dazu!
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zu diesem Tagesordnungspunkt gibt es jetzt noch zwei Redebeiträge. Ich
bitte alle, die in dieser Zeit ihre Wahlkarten holen, dies
so geräuschlos wie möglich zu tun, und die, die noch
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
dringende Gespräche zu führen haben, dies bitte draußen
auf den Fluren zu tun.
Ich rufe als nächste Rednerin für die SPD-Fraktion
Gabi Weber auf.
({1})
Vielen Dank, Frau Präsidentin! - Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! 1911 forderte die New Yorker
Gewerkschafterin Rose Schneiderman in einer Rede für
viele Arbeitnehmerinnen: Brot und Rosen! - Brot steht
dabei für gerechte Löhne, und Rosen sind ein Sinnbild
für menschenwürdige Arbeits- und Lebensbedingungen.
({0})
Am 7. Oktober, vorgestern, haben wir den Welttag für
menschenwürdige Arbeit begangen. Dass dieser Tag
weltweit gefeiert werden soll, unterstreicht, dass „Gute
Arbeit“ kein Thema ist, welches wir nur im nationalen
Kontext betrachten dürfen. Zusammen mit den Gewerkschaften haben wir Sozialdemokraten dieses Themenfeld
in Deutschland schon seit langem in der öffentlichen
Diskussion präsent gehalten. Die Einführung des gesetzlichen Mindestlohnes ist diesbezüglich ein längst überfälliger Meilenstein.
Wir haben aber nicht nur die nationale, sondern auch
die internationale Situation im Blick. Eine globalisierte
Wirtschaft betrifft nicht nur den Handel und die Finanzströme, sondern hat eben auch - wie ich finde, zuerst eine soziale Dimension. Diese rücken wir mit dem vorliegenden Antrag in den Fokus unserer Bemühungen um
eine weltweit gerechtere Wirtschaftsordnung.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wurde bereits auf
einzelne Aspekte des Antrages eingegangen. Mir liegt
als Gewerkschafterin die verbindliche internationale
Verankerung und Durchsetzung von Arbeitnehmerrechten besonders am Herzen.
({2})
- Doch. Unter Punkt 11 - das kann man genau nachlesen geht es darum, dass in Handelsabkommen verbindliche,
({3})
international anerkannte Sozial- und Umweltstandards
wie die ILO-Kernarbeitsnormen aufgenommen und vorhandene Schutzstandards nicht abgeschwächt werden.
({4})
Weitere Forderungen unseres Antrags sind die Einhaltung und nationale Umsetzung der ILO und anderer international vereinbarter UN-Konventionen in globalen
Produktions- und Lieferketten. Wer lesen kann, ist klar
im Vorteil.
({5})
Wir wollen auch, dass das Streikrecht vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion bei der ILO weiterhin als
Bestandteil der Vereinigungsfreiheit anerkannt wird.
({6})
„Gute Arbeit“ bedeutet aber nicht nur, sich für eine
Verbesserung der sozialen Situation von arbeitenden
Menschen in Entwicklungs- und Schwellenländern
einzusetzen. Es geht bei der weltweiten Durchsetzung
„Guter Arbeit“ eben auch darum, deutsche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu stärken. Einzelne Arbeitgeber setzen bis heute das Druckmittel der Verlagerung
von Arbeitsplätzen in Länder mit geringeren Arbeits-,
Umwelt- und Sozialstandards zur Stärkung ihrer Verhandlungsposition gegenüber der Arbeitnehmerseite ein.
Durch eine weltweite Durchsetzung der geforderten Regeln ließe sich dieses Druckmittel deutlich schwächen.
Das brauchen wir.
({7})
Ein Thema in diesem gesamten Zusammenhang liegt
mir sehr am Herzen, nämlich die Frauen. Sie sind weltweit in besonderem Maße von unwürdigen Arbeitsbedingungen betroffen. Das Unglück in Rana Plaza
wurde schon mehrfach angeführt. Aus der Entwicklungszusammenarbeit wissen wir, dass es gerade die
Frauen sind, die, bei entsprechender Unterstützung,
wesentlich zur Verbesserung der Lebenssituation ihrer
Familien und des sozialen Umfeldes beitragen. Hier bedarf es verstärkter Anstrengungen bei der Bildung von
Frauen, aber eben auch bei der Stärkung ihrer Rolle als
Arbeitnehmerinnen. Auch das ist dort zu finden.
({8})
Global einheitliche Spielregeln helfen aber auch den
sozial und ökologisch verantwortlich handelnden Unternehmen im internationalen Wettbewerb. Diese sind ohne
diese für alle geltenden Regeln oft gegenüber dem Teil
ihrer Konkurrenz benachteiligt, der seine Wettbewerbsfähigkeit auf Kosten von Mensch und Natur zu stärken
sucht.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, ich bin davon überzeugt, dass Wettbewerb durch Qualität und
Innovation unsere Wirtschaft lebendig und stark hält.
Das sollte uns allen wichtig sein.
({9})
Ein Unterbietungswettbewerb bei sozialen und umweltrechtlichen Standards bedeutet hingegen keine Wertschöpfung für alle, sondern nur eine Profitmaximierung
für wenige.
Ich stelle fest: Die Forderung nach Brot und Rosen
bleibt immer noch aktuell. Aus diesem Grund bitte ich
Sie um Zustimmung zu unserem Antrag.
Danke.
({10})
Vielen Dank. - Ich bitte noch einmal darum, die Gespräche draußen zu führen.
Jetzt hat das Wort Dr. Sascha Raabe für die SPDFraktion. Bitte schön.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es ist in der Tat nicht zu erklären bzw. beschämend und schockierend, dass wir in einer Welt leben, in
der Menschen, die in Ländern leben, die eigentlich reich
sein müssten, weil es dort viele Rohstoffe gibt, von diesem Reichtum nicht profitieren. Dieser Rohstoffreichtum ist mehr Fluch als Segen, weil auch bei uns in
Deutschland und in Europa Firmen und Unternehmen
davon profitieren, dass in Kohleminen in Lateinamerika
oder in Goldminen im Kongo Kindersklaven eingesetzt
werden, dass Kindersoldaten sterben, damit wir unsere
iPhones und iPads billig erwerben können, und weil wir
in der Europäischen Union die Situation haben, dass
Blinker, die die falsche Farbe haben, nicht importiert,
aber T-Shirts, Hemden und Jeans, an denen Blut klebt,
zollfrei und hürdenlos importiert werden dürfen. Das
müssen wir ändern. Dazu dient der vorliegende Antrag.
({0})
Herr Minister Müller, ich freue mich, dass Sie in Ihrer
Rede vorhin gesagt haben, dass Sie meinen Artikel in
der Frankfurter Rundschau gelesen haben und unterstützen. Man sieht: Nicht nur hinter der FAZ steckt ein kluger Kopf, sondern hinter allen Frankfurter Zeitungen. Es
freut mich auch, dass Sie sagen, dass für Sie das Thema
„Fairhandels-Abkommen“ ganz wichtig ist und dass Sie
sich eindeutig dazu bekannt haben, dass die Vereinigten
Staaten im Freihandelsabkommen mit der Europäischen
Union alle acht ILO-Kernarbeitsnormen einhalten und
umsetzen müssen, damit wir gegenüber Indien und anderen Ländern glaubwürdig sind und dies auch erreichen
können.
({1})
Zurzeit werden nicht nur mit Kanada und den USA
Freihandelsabkommen verhandelt. Aktuell verhandelt
die Europäische Union auch mit Vietnam über ein Freihandelsabkommen. Der Text soll bereits in der ersten
Hälfte des nächsten Jahres ausverhandelt sein. Da wir
heute in der Debatte zu Recht den besonders problematischen Textilsektor angesprochen haben: Es kann doch
nicht sein, dass in einem solchen Abkommen am Ende
nicht verbindlich vorgeschrieben wird,
({2})
dass die Menschenrechte, dass existenzsichernde Löhne
und gute Arbeitsbedingungen für Näherinnen und Näher
eingehalten werden müssen. Dafür müssen wir gemeinsam sorgen.
({3})
Deswegen sind entsprechende Siegel wichtig. Herr
Minister Müller, ich finde es gut, dass Sie den Begriff
des existenzsichernden Lohnes in diese Debatte hineingebracht haben; das muss der Maßstab sein. Aber freiwillige Zertifizierungen sind immer nur Second Best gegenüber verbindlichen Regelungen. Wir müssen den
Unternehmen klarmachen: Wenn ihr große Gewinne
macht, wenn ihr durch Freihandelsabkommen Zölle in
Millionenhöhe spart, wenn ihr viel mehr Handel treiben
könnt, dann müsst ihr im Gegenzug auch bereit sein, den
Arbeiterinnen und Arbeitern endlich einen fairen Anteil
der Gewinne zu geben.
({4})
Das Gleiche gilt für den Rohstoffsektor. In der Tat
wird in der Europäischen Kommission die Frage diskutiert - die stelle ich auch Ihnen, Frau Bundeskanzlerin -,
ob wir nur in Sonntagsreden von „Guter Arbeit“ reden
oder ob wir die entsprechenden Standards in der Europäischen Union umsetzen.
({5})
Zum Beispiel Konfliktmineralien. Im Kongo werden
zurzeit durch in Minen verdientes Geld Bürgerkriege
und Kindersoldaten finanziert. Der Kongress der USA
- der kapitalistischen USA; das ist keine linksradikale
Forderung - hat mehrheitlich beschlossen, dass Mineralien, die aus solchen Konfliktminen kommen, von
Firmen, die an der US-Börse gelistet sind, in Zukunft
nicht mehr in die USA importiert werden dürfen. Die
Europäische Union sollte sich dem anschließen.
({6})
Die Europäische Kommission hat jetzt in einem Entwurf
leider nur eine freiwillige Regelung beschlossen, obwohl
das Europäische Parlament eine verbindliche Regelung
wollte, wie sie in den USA vereinbart wurde.
Ich fordere Sie, Frau Bundeskanzlerin, die Bundesregierung, und natürlich unseren Entwicklungsminister,
der das unterstützt, auf, in der Europäischen Kommission dafür zu sorgen, dass wir genauso wie die USA verbindlich regeln, dass kein Blutgold, kein Blutcoltan und
kein Blutwolfram mehr nach Europa importiert werden
dürfen, und dass die Menschen, die die Mineralien und
Rohstoffe fördern, fair, gerecht und menschenwürdig leben können und keine Kindersoldaten mehr durch den
Rohstoffverkauf finanziert werden. Darum bitte ich Sie.
Sorgen wir dafür, dass es auf der ganzen Welt verbindlich gerechte Arbeitsbedingungen gibt.
Danke schön.
({7})
Vielen Dank. - Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 18/2739 und 18/2746 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a bis 27 i sowie
die Zusatzpunkte 2 a bis 2 c auf. Es handelt sich um
Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne De-
batte.
Wir kommen zunächst zu den unstrittigen Überwei-
sungen. Tagesordnungspunkte 27 a bis 27 h sowie Zu-
satzpunkte 2 a bis 2 c:
27 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu
dem Dritten Zusatzprotokoll vom 10. November 2010 zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember
Drucksache 18/2655
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu
dem Abkommen vom 13. Februar 2014
zwischen der Bundesrepublik Deutschland
und der Republik Costa Rica zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und
vom Vermögen
Drucksache 18/2659
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu
dem Protokoll vom 24. Juni 2013 zur Änderung des Abkommens vom 4. Oktober
1991 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und dem Königreich Norwegen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und über gegenseitige Amtshilfe auf
dem Gebiet der Steuern vom Einkommen
und vom Vermögen sowie des dazugehörigen Protokolls
Drucksache 18/2660
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({2})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu
dem Protokoll vom 11. März 2014 zur Änderung des Abkommens vom 1. Juni 2006
zwischen der Bundesrepublik Deutschland
und Georgien zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen
Drucksache 18/2661
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({3})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über
die Feststellung des Wirtschaftsplans des
ERP-Sondervermögens für das Jahr 2015
({4})
Drucksache 18/2662
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({5})
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsauschuss
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Dritten Geset-
zes zur Änderung des Agrarstatistikgesetzes
Drucksache 18/2707
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
g) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum
Erlass und zur Änderung von Vorschriften
zur Durchführung unionsrechtlicher Vor-
schriften über Agrarzahlungen und deren
Kontrollen in der Gemeinsamen Agrar-
politik
Drucksache 18/2708
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
h) Beratung des Antrags des Bundesministeriums der Finanzen
Durchführungsbestimmungen zum Instrument der direkten Bankenrekapitalisierung
durch den Europäischen Stabilitätsmechanismus; Einholung eines zustimmenden Beschlusses des Deutschen Bundestages nach
§ 4 Absatz 1 ESM-Finanzierungsgesetz
Drucksache 18/2669
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsauschuss ({6})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
ZP 2 a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über
Maßnahmen im Bauplanungsrecht zur
Erleichterung der Unterbringung von
Flüchtlingen
Drucksache 18/2752
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit ({7})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Sylvia Kotting-Uhl, Oliver Krischer, Kai
Gehring, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kein Atommüll-Export aus dem Reaktor
AVR Jülich in die USA
Drucksache 18/2624
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({8})
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Franziska Brantner, Katja Dörner, Kai
Gehring, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Echte Wahlfreiheit schaffen - Elterngeld
flexibler gestalten
Drucksache 18/2749
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({9})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsauschuss
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe,
das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen nun zu einer Überweisung, bei der die
Federführung strittig ist.
Tagesordnungspunkt 27 i:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Wolfgang Gehrcke, Jan Korte, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Humanitäre Hilfe und Flüchtlingsschutz für
Jesiden, Kurden und andere Schutzbedürftige im Norden des Irak und Syriens
Drucksache 18/2742
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({10})
Innenausschuss ({11})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Federführung strittig
Interfraktionell wird die Überweisung des Antrags
auf Drucksache 18/2742 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Fraktionen der
CDU/CSU und SPD wünschen Federführung beim Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe. Die
Fraktion Die Linke wünscht Federführung beim Innenausschuss.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion Die Linke, das heißt Federführung beim Innenausschuss, abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen
von CDU/CSU und SPD bei Enthaltung der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion
Die Linke abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD, Federführung
beim Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre
Hilfe, abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen der
CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a bis 28 h sowie
Zusatzpunkt 3 auf. Es handelt sich hier um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 28 a:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Zweiten Zusatzprotokoll vom 8. November 2001 zum Europäischen Übereinkommen vom 20. April 1959
über die Rechtshilfe in Strafsachen
Drucksache 18/1773
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz
({12})
Drucksache 18/2648
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung. Der Ausschuss für Recht und
Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/2648, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 18/1773 anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen
von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 b:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur Änderung des VerwaltungsVollstreckungsgesetzes
Drucksache 18/2337
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({13})
Drucksache 18/2640
- Bericht des Haushaltsausschusses ({14})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Drucksache 18/2642
Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/2640, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/2337 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist
damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/
CSU und SPD sowie Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Lesung angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 c:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Umweltstatistikgesetzes
Drucksache 18/2135
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit ({15})
Drucksache 18/2664
Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/2664, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 18/2135 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen des gesamten Hauses angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis in dritter Lesung angenommen.
Tagesordnungspunkte 28 d bis 28 h. Wir kommen zu
den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 28 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16})
Sammelübersicht 91 zu Petitionen
Drucksache 18/2631
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen
des gesamten Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17})
Sammelübersicht 92 zu Petitionen
Drucksache 18/2632
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 92 ist mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion, SPD-Fraktion und Linken
bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18})
Sammelübersicht 93 zu Petitionen
Drucksache 18/2633
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 93 ist mit den Stimmen aller Fraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19})
Sammelübersicht 94 zu Petitionen
Drucksache 18/2634
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 94 ist mit den Stimmen von CDU/CSU-Fraktion, SPD-Fraktion und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20})
Sammelübersicht 95 zu Petitionen
Drucksache 18/2635
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 95 ist mit den Stimmen von CDU/CSU- und SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.
Zusatzpunkt 3:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz ({21})
zu dem Streitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvE 5/12 und damit zusammenhängenden Verfahren
Drucksache 18/2773
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung, eine Stellungnahme abzugeben und den Präsidenten zu bitten, einen
Prozessbevollmächtigten zu bestellen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen von CDU/CSU-Fraktion, SPD-Fraktion und
Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion
Die Linke angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung der Vierten Beschlussempfehlung des
Wahlprüfungsausschusses
zu Einsprüchen gegen die Gültigkeit der
Wahl zum 18. Deutschen Bundestag am
22. September 2013
Drucksache 18/2700
Bevor ich die Beschlussempfehlung des Wahlprüfungsausschusses zur Abstimmung stelle, erteile ich dem
Vorsitzenden des Ausschusses, Herrn Dr. Johann
Wadephul, das Wort zur Berichterstattung. Bitte schön.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir entscheiden heute über die Vierte Beschlussempfehlung des Wahlprüfungsausschusses in dieser Wahlperiode. Sie behandelt die letzten 9 von insgesamt 224 Einsprüchen gegen die Gültigkeit der Bundestagswahl 2013
und gibt Gelegenheit, ein kurzes Zwischenresümee der
Arbeit des Wahlprüfungsausschusses zu ziehen, den
Dank den Berichterstattern und den Mitgliedern des
Ausschusses auszusprechen, die im Übrigen alle sehr gerührt sind, dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, in
so großer Zahl diesem Bericht zuhören und über die Beschlussempfehlung abstimmen.
({0})
In der Sache ist die Beschlussempfehlung auch nicht
ohne Bedeutung. Sollten Sie nämlich unserer Empfehlung nicht folgen wollen, hätte diese Sitzung ein jähes
Ende. Deswegen sollte sich das jeder genau überlegen.
({1})
Der Ausschuss ist froh, dass wir ein Jahr nach der
Bundestagswahl und auch angesichts des Umstandes,
dass wir erst zu Beginn dieses Jahres mit den Verfahren
beginnen konnten, Ihnen jetzt einen abschließenden Bericht vorlegen können.
Keiner der 224 Wahleinsprüche war nach Auffassung
des Ausschusses begründet. Begründet wäre er dann gewesen, wenn ein Wahlfehler benannt worden wäre, der
entweder Einfluss auf die Sitzverteilung hatte oder das
subjektive Wahlrecht der den Einspruch einlegenden
Personen beim Wahlakt verletzte. Den Einsprüchen ließen sich solche Fehler allerdings nicht entnehmen.
Ich halte fest: Der Wahlprüfungsausschuss ist jedem
Wahlfehler sorgfältig nachgegangen, hat das Bundesministerium des Innern, den Bundeswahlleiter, die Landeswahlleitungen und vereinzelt auch Kreiswahlleitungen um Stellungnahme gebeten.
Im Einzelfall hat es leider, wenn auch in sehr wenigen
Fällen, Wahlfehler gegeben. So wurden zum Beispiel in
Düsseldorf zum Teil mehrfach derselben Person Briefwahlunterlagen zugesandt. In Oberhausen erhielten rund
30 Menschen Stimmzettel aus dem Jahre 2009. Das Erfreuliche ist, es fiel auf.
({2})
Auf die Sitzverteilung hatten diese ärgerlichen Fehler
keinen Einfluss, da das gesamte Stimmenaufkommen für
die Erst- und Zweitstimmen sehr hoch war. Der Wahlprüfungsausschuss hat gleichwohl die Erwartung, dass
die betreffenden Wahlbehörden derartige Fehler in Zukunft vermeiden.
Ich möchte Ihnen mitteilen, welche Einspruchsgegenstände ansonsten typisch waren: nicht oder zu spät zugestellte Briefwahlunterlagen, die repräsentative Wahlstatistik, der Identitätsnachweis im Wahllokal, die
Gestaltung des Stimmzettels oder das Schreibmittel in
der Wahlkabine.
Zum Teil hat es auch kaum nachvollziehbare Einsprüche gegeben. Ein Bürger hat behauptet, das Wahlergebnis müsse manipuliert gewesen sein. Er hat nämlich 40
Minuten nach Schließung der Wahllokale die TV-Serie
„Lindenstraße“ geschaut. In dieser Folge war das Wahlergebnis schon adaptiert. Daraus hat er eine Manipulation hergeleitet. Der Wahlprüfungsausschuss hat das natürlich sorgfältig geprüft und ist zu dem Ergebnis
gekommen, dass keine Manipulation vorlag. Ich kann
das Geheimnis lüften: Es sind einfach mehrere Varianten
gedreht worden, und die Verantwortlichen der sendenden TV-Anstalt haben es schlicht und ergreifend geschafft, die richtige Variante zu senden. Damit hatte sich
das Thema geklärt.
({3})
Meine Damen und Herren, ein großer Teil der Einsprüche hat die Fünfprozentklausel betroffen. Sie wissen, welche Parteien knapp oder auch deutlich die Fünfprozenthürde verpasst haben. Wir haben uns ausführlich
damit befasst. Die Ausschussmehrheit ist mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der Auffassung, dass die Fünfprozentklausel verfassungskonform
ist, weil sie die Bildung einer stabilen Mehrheit für die
Wahl einer handlungsfähigen Regierung und deren fortlaufende Unterstützung im deutschen Parlament gewährleistet. Dies ist eine Folge, die die Verfassungsmütter
und -väter aus der Weimarer Zeit gezogen haben. Wir
halten das nach wie vor für rechtlich in Ordnung und
verfassungskonform.
Ein zweiter Punkt, mit dem wir uns in Zukunft befassen sollten, ist das sogenannte Wahlrecht für Betreute;
auch einzelne Wahleinsprüche gegen die Europawahl
2014 befassen sich damit. Die Bundesregierung hat dankenswerterweise eine Studie in Auftrag gegeben, in der
geprüft werden soll, ob wir hier zu Differenzierungen
kommen können; denn nach derzeitiger Rechtslage diese war für uns maßgeblich - sind volljährige Perso5284
nen, für die eine Betreuung in allen Angelegenheiten gerichtlich angeordnet ist, nicht wahlberechtigt.
Letzter Punkt ist ein Blick auf die Europawahl. Sie
wissen, dass das schon medial diskutiert worden ist: die
sogenannte Doppelwahl. Ein früherer Präsident des Bundesverfassungsgerichtes hat in einem großen Nachrichtenmagazin aus dem Norden Deutschlands in Zweifel
gezogen, ob die Europawahl angesichts des Umstandes
verfassungsgemäß gewesen sein kann, dass immerhin
die Möglichkeit bestand, dass 8 Millionen Menschen in
der gesamten Europäischen Union je zwei Stimmen abgegeben haben.
Nach bisherigem Erkenntnisstand des Wahlprüfungsausschusses ist in Deutschland bisher allerdings nur eine
Person bekannt, die vom Herrn Bundesfinanzminister
persönlich belehrt worden ist, dass das wahrscheinlich
ein rechtlicher Fehler gewesen ist. Solange wir nicht
eine große Zahl weiterer Doppelstimmen erkennen, ist
wahrscheinlich nicht zu erwarten, dass dies zu vertieften
Prüfungen des Wahlprüfungsausschusses führen wird.
Ich empfehle Ihnen also guten Gewissens, unseren
Beschlussempfehlungen zu folgen und damit dafür zu
sorgen, dass diese Sitzung ihren Fortgang finden kann.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Vielen Dank. - Wir kommen jetzt zur Abstimmung.
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Wahlprüfungsausschusses? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Damit ist die Beschlussempfehlung mit den
Stimmen aller Fraktionen angenommen.
({0})
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Wahl eines Mitglieds des Parlamentarischen
Kontrollgremiums gemäß Artikel 45 d des
Grundgesetzes
Drucksache 18/2743
Die Fraktion der SPD schlägt auf Drucksache 18/2743
den Kollegen Uli Grötsch vor.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor wir zur Wahl
kommen, bitte ich um Ihre Aufmerksamkeit für einige
Hinweise zum Wahlverfahren. Nach § 2 Absatz 3 des
Gesetzes über die parlamentarische Kontrolle nachrich-
tendienstlicher Tätigkeit des Bundes ist gewählt, wer die
Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages
auf sich vereint, das heißt, wer mindestens 316 Stimmen
erhält.
Die Wahl erfolgt mit Stimmkarte und Wahlausweis.
Die Wahl ist offen. Sie können Ihre Stimmkarte also an
Ihrem Platz ankreuzen. Den Wahlausweis können Sie,
soweit noch nicht geschehen, Ihrem Stimmkartenfach in
der Lobby entnehmen. Bitte beachten Sie, dass der
Wahlausweis Ihren Namen trägt. Die Stimmkarten wur-
den im Saal verteilt. Sollten Sie keine Stimmkarte haben,
besteht jetzt noch die Möglichkeit, diese von den Plenar-
assistenten zu erhalten. Wer noch keine Stimmkarte hat,
den bitte ich um ein Handzeichen.
Gültig sind nur Stimmkarten mit einem Kreuz bei
„ja“, „nein“ oder „enthalte mich“. Ungültig sind demzu-
folge Stimmkarten, bei denen kein Kreuz gemacht oder
mehr als ein Kreuz gemacht wurde oder ein anderer
Name oder sonstige Zusätze vermerkt sind.
Bevor Sie die Stimmkarte in die Wahlurnen werfen,
übergeben Sie bitte den Schriftführerinnen und Schrift-
führern an den Urnen Ihren Wahlausweis. Ich mache da-
rauf aufmerksam, dass die gültige Teilnahme an der
Wahl nur dann sichergestellt ist, wenn Sie Ihren Wahl-
ausweis abgegeben haben. Das ist gleichzeitig ein Nach-
weis, dass Sie teilgenommen haben.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind alle Plätze an
den Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Ich eröffne die
Wahl.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme nicht abgegeben hat? - Ich sehe, das ist nicht der
Fall. Dann schließen wir die Abstimmung.
Ich schließe die Wahl und bitte die Schriftführerinnen
und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das
Ergebnis der Wahl wird Ihnen später bekannt gegeben.1)
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen CDU/
CSU, SPD, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Neunten Gesetzes zur Änderung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes ({1})
Drucksache 18/2737
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({2})
Innenausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich bitte jetzt alle, Platz zu nehmen, die der Debatte
folgen wollen. - Dann rufe ich Dr. Matthias Bartke,
SPD-Fraktion, auf.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Zuschauerinnen und Zuschauer
auf der Tribüne! Wir diskutieren heute über das Wahl-
verfahren für die Richter des Bundesverfassungsge-
richts, des höchsten Gerichts unseres Landes. Ich per-
sönlich erinnere mich noch, dass ich als junger Student
im ersten Semester Jura davon träumte, einmal Richter
an diesem Gericht zu sein. Das Beeindruckende am Bun-
desverfassungsgericht sind nicht nur seine rechtliche
Kompetenz und seine weitreichenden Befugnisse. Nein,
1) Ergebnis Seite 5287 B
das Beeindruckende ist vielmehr seine Aura, eine Aura,
die vor allem begründet wird durch seine Unabhängigkeit. Obwohl das Bundesverfassungsgericht häufig hoch
politische Entscheidungen zu treffen hat, wird es von der
Bevölkerung doch als eine absolut neutrale Instanz
wahrgenommen, die nur der Sache verpflichtet ist. Das
Bundesverfassungsgericht erfreut sich bei den Bürgern
einer Wertschätzung, wie sie allenfalls noch vom Bundespräsidenten erreicht wird. Die Gründe hierfür sind:
Das Gericht hat in der Regel wenig Tendenz, Zeitgeistströmungen nachzugeben. Es fällt seine Entscheidungen
in überzeugender Überparteilichkeit und Sachorientierung. Die Entscheidungsfindung erfolgt unter hoher
Transparenz.
Zu dieser hohen Transparenz und Überparteilichkeit
mag der Wahlmodus, mit dem die Richter bisher gewählt
wurden, nicht recht passen. In unserem Grundgesetz
heißt es in Artikel 94:
Die Mitglieder des Bundesverfassungsgerichtes
werden je zur Hälfte vom Bundestage und vom
Bundesrate gewählt.
Eigentlich eine ziemlich klare Vorschrift, sollte man
meinen. Im Bundesrat werden die Richter auch tatsächlich vom Bundesrat gewählt. Für den Bundestag ist das
Wahlverfahren aber im Bundesverfassungsgerichtsgesetz geregelt. Das besagt in § 6, dass nicht das Plenum
des Bundestages die Richterinnen und Richter wählt,
sondern ein vom Bundestag gewählter Wahlausschuss.
Es handelt sich hier also um eine indirekte Wahl. Diese
Regelung hat seit ihrer Einführung in der Vergangenheit
viel Kritik erfahren. Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, hat einmal dazu ausgeführt:
Die vielerorts als Ämterschacher empfundene Rekrutierung der Richter des Bundesverfassungsgerichts stößt seit jeher auf vehemente Kritik. Die
Konzentration der eigentlichen Entscheidung in der
Hand weniger „Parteifürsten“, die weitgehende
Verengung des potenziellen Kandidatenkreises auf
Parteimitglieder und Sympathisanten sowie die
mangelnde Transparenz und Nichtöffentlichkeit des
Verfahrens lassen sich in der Tat mit der im Grundgesetz angelegten Konzeption des Bundesverfassungsgerichts als professionalisiertem Rechtsprechungsorgan nur schwer in Einklang bringen.
Diese Kritik von Gerichtspräsident Voßkuhle steht pars
pro toto für viele Kritiker. Gerügt wird vor allem die
mangelnde Transparenz, die als Geschacher empfunden
wird. Gewünscht wird ein transparenteres Verfahren, das
dann eine höhere demokratische Legitimation des Gerichts bewirkt.
({0})
Das Bundesverfassungsgericht selbst hat 2012 die indirekte Wahl seiner Mitglieder allerdings als verfassungskonform eingestuft. Die Rechtfertigung hierfür
sieht es in der Abwägung zu dem verfolgten gesetzgeberischen Ziel. Durch die indirekte Wahl sollen das Ansehen des Gerichts und das Vertrauen in seine Unabhängigkeit gefestigt und damit seine Funktionsfähigkeit
gesichert werden. Ohne dem Gericht zu nahe treten zu
wollen: Ich finde, man hat schon einleuchtendere Begründungen gehört. Das gilt insbesondere, weil das Gericht in seinem Urteil zur Euro-Rettung selbst darauf bestanden hat, dass für Entscheidungen von erheblicher
Tragweite ein Plenarvorbehalt gilt, dass diese also vom
Bundestag in öffentlicher Sitzung zu beschließen sind.
Entscheidungen über die Besetzung von Richterstellen
des Bundesverfassungsgerichts dürften ohne Zweifel
Entscheidungen von solch erheblicher Tragweite sein.
Der Bundestagspräsident, Herr Lammert, hat in einem
Artikel in der FAZ zu diesem Urteil den prägnanten Satz
formuliert: „Die schlichte Begründung verblüfft.“ Man
mag hinzufügen: Wohl wahr! Selbst Befürworter der
derzeitigen indirekten Wahl geben zu, dass zumindest
verfassungspolitisch eine Asymmetrie zwischen der hohen Bedeutung der Wahl der Verfassungsrichter und der
Delegation dieser Wahl in einen Ausschuss besteht.
Hinzu kommt, dass der Wortlaut des Artikels 94 eben
doch recht eindeutig ist. Da ist vom Bundestage die
Rede und nicht von einem Ausschuss des Bundestages.
Artikel 63 des Grundgesetzes regelt die Wahl der
Kanzlerin. Auch sie wird vom Bundestage gewählt. Niemand käme ernsthaft auf die Idee, die Kanzlerin durch
einen Wahlausschuss wählen zu lassen.
({1})
Rechtlich ist das vergleichbar. Auch der Wehrbeauftragte des Bundestages und der Präsident des Bundesrechnungshofes werden vom Bundestag in einer Plenarsitzung gewählt. Bei ihnen gibt es noch nicht einmal
einen Verfassungsauftrag mit einem entsprechenden
Plenarvorbehalt. Es sind jeweils nur einfachgesetzliche
Handlungsaufträge.
Das Bundesverfassungsgericht sagt in seinem vorhin
zitierten Beschluss aus 2012 zur Richterwahl aber auch
recht deutlich, dass der Gesetzgeber nicht gehindert ist,
andere Modalitäten für die Wahl der Mitglieder des Gerichts zu finden. Meine Damen und Herren, das mag
man getrost als einen deutlichen Hinweis an den Gesetzgeber werten. Man könnte auch von einem Wink mit
dem Zaunpfahl sprechen.
Diesem Hinweis kommen wir nun nach. Ihnen liegt
ein gemeinsamer Gesetzentwurf aller im Bundestag vertretenen Parteien vor. Es ist ein Antrag auf Änderung
von § 6 Bundesverfassungsgerichtsgesetz, der dem
Wortlaut und vor allem dem Geist des Artikels 94 deutlich gerechter wird als die bisherige Regelung.
Die hohe Unabhängigkeit, die das Bundesverfassungsgericht auszeichnet und die maßgeblich zu seiner
hohen Reputation führt, darf nicht durch ein Zerreden
der Kandidaten für das höchste Richteramt beschädigt
werden. Aus diesem Grunde ist es richtig, dass in dem
Gesetzentwurf die Kompetenz für die Richterauswahl
weiterhin beim Wahlausschuss liegt. Der Ausschuss soll
auswählen und bestimmen, welche Person dem Bundestag für das höchste Richteramt vorgeschlagen wird.
Im Gegensatz zur jetzigen Rechtslage soll es aber
künftig so sein, dass der Wahlausschuss nur ein Vorschlagsrecht erhält. Die Wahl selbst erfolgt dann durch
das Bundestagsplenum - oder eben auch nicht. Denn es
ist eine Zweidrittelmehrheit der anwesenden Abgeordneten, mindestens aber der Mehrheit der Mitglieder des
Bundestages erforderlich. Das, meine Damen und Herren, ist schon eine ganz erhebliche Hürde. Durch diese
Regelung - Zweidrittelmehrheit der Abstimmenden,
mindestens aber die Mehrheit der Mitglieder des Bundestages - soll eine hohe Präsenz der abstimmenden Abgeordneten sichergestellt werden. Die einzelnen Richter
sollen damit eine höchstmögliche parlamentarische Legitimation erfahren.
Die Richterwahl durch das Plenum des Bundestages
stärkt ganz ohne Zweifel das demokratische Rückgrat
des Gerichtes. Von entscheidender Bedeutung ist aber,
dass der Bundestag die zu berufenden Richterinnen und
Richter des Bundesverfassungsgerichtes ohne Aussprache wählt. Grund hierfür ist, dass die Richter nicht in einer öffentlichen Aussprache zerredet werden sollen. Die
offene parlamentarische Debatte über Mängel und Vorzüge der einzelnen Bewerber wäre der sicherste Weg, ihr
Ansehen zu beschädigen. Hierdurch würden sie einer
parteipolitischen Wertung und Zuordnung unterzogen,
die sie gerade nicht haben.
Das Bundesverfassungsgericht zieht seine hohe moralische Autorität maßgeblich aus seiner Politikferne, und
das, meine Damen und Herren, soll auch so bleiben.
Das geradezu gegenteilige Modell haben die USA:
Die Richter des US-Supreme-Court werden vom USPräsidenten nominiert, müssen aber vom Senat bestätigt
werden. Diese Bestätigungsverfahren erfolgen über öffentliche Hearings der jeweiligen Richter, die im absoluten Scheinwerferlicht stattfinden. Man spricht auch
martialisch vom „Richtergrillen“ oder von Entscheidungsschlachten. Dabei spielt Geld übrigens eine nicht
unerhebliche Rolle. Das führt in den USA dazu, dass der
Fachöffentlichkeit bei jedem Richter in aller Regel klar
ist, wo er politisch steht und wie er einzuordnen ist. Das
deutsche System ist aus gutem Grund anders und deutlich konsensualer.
Meine Damen und Herren, mit dem vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes steht eine Regelung zur Abstimmung, die die unbestrittenen Vorzüge einer diskreten,
vorgeschalteten Vorauswahl mit der abschließenden formellen Wahl durch den Bundestag verbindet. Mit ihr ist
gewährleistet, dass weiterhin akzeptable und auf Ausgleich bedachte Persönlichkeiten als Richter für das Bundesverfassungsgericht gefunden und bestellt werden.
Meine Damen und Herren, ich bin der festen Überzeugung: Mit der Verabschiedung dieses Gesetzentwurfes aller Fraktionen werden wir unseren Rechtsstaat
noch etwas besser machen.
Ich danke Ihnen.
Vielen Dank. - Für die Fraktion Die Linke erhält jetzt
Halina Wawzyniak das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen! Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf aller
Fraktionen - das ist schon gesagt worden - soll die Wahl
der Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts vom Richterwahlausschuss und dem Bundesrat
auch auf das Plenum des Bundestages übertragen werden. Das stellt die Legitimation der Richterinnen und
Richter auf eine breitere Grundlage. Dies ist ein Mehr an
Demokratie. Wir finden das gut, und deshalb sind wir
selbstverständlich mit dabei.
({0})
Zumindest in der Theorie wird diese Entscheidung
dazu führen, dass die Entscheidung über Bundesverfassungsgerichtsrichterinnen und -richter nicht mehr einfach einem Richterwahlausschuss überlassen bleibt. Nun
ist es so, dass der eine oder andere - ich nehme mich
persönlich da gar nicht aus - in der Lage ist, sich nach
der Entscheidung von Richterinnen und Richtern ein Urteil zu bilden. Wir glauben, dass es möglich ist, dass man
sich, bevor man Richterinnen und Richter wählt, ein Urteil über dieselben bildet. Deswegen ist das, finden wir,
eine gute Idee.
Wir finden aber - da besteht ein kleiner Dissens zum
Vorredner -, dass es nicht zwingend ist, dass der Wahlausschuss einen Vorschlag unterbreitet. Man kann darüber nachdenken, ob man nicht weitergehen kann und
ob nicht tatsächlich das Plenum insgesamt über Vorschläge, die vorliegen, entscheiden kann. Wir würden
uns wünschen, dass wir in diesen Gesetzentwurf so etwas wie eine Befristung oder Überprüfung dieser Regelung schreiben. Vielleicht kann man irgendwann weitergehen.
({1})
Wir glauben aber auch, dass der Vorschlag, den wir
hier gemeinsam unterbreiten, ein Anlass sein kann, eine
weiter gehende Debatte zu führen. Ich finde, dass man
eine ergebnisoffene Debatte - wenn ich ergebnisoffen
sage, meine ich tatsächlich auch ergebnisoffen - führen
kann, zum Beispiel ob es wirklich sinnvoll ist und hilfreich sein kann, wenn man Laienrichterinnen und Laienrichter in ein Verfassungsgericht schickt. Ich bin noch
nicht entschieden, ich bin unsicher. Ich weiß, dass es das
in einigen Bundesländern gibt. Ich finde, das kann man
einfach einmal evaluieren.
Wir sollten darüber nachdenken, ob es sinnvoll und
angemessen ist - darüber sprechen wir heute Abend
noch -, eine Karenzzeit einzuführen, in der aktive Politikerinnen und Politiker nicht in das Bundesverfassungsgericht wechseln dürfen. Es gab Fälle, in denen unmittelbar nach dem Ausscheiden aus dem politischen Amt in
das Bundesverfassungsgericht gewechselt wurde. Das ist
vielleicht nicht ganz so prima.
Wir finden, dass man darüber nachdenken muss - das
habe ich schon angedeutet -, ob man nicht möglicherweise das Vorschlagsrecht etwas verbreitert. Wenn man
schon dabei bleibt, dass der Richterwahlausschuss dem
Plenum einen Vorschlag unterbreitet, sollte man vielleicht überlegen, ob es auch anderen Institutionen als
Fraktionen, Landesregierungen oder der Bundesregierung möglich sein soll, dem Richterwahlausschuss
Wahlvorschläge zu unterbreiten.
Da wir in dem eigentlichen Punkt einig sind, nämlich
dass wir im Plenum die Bundesverfassungsrichterinnen
und -richter wählen lassen wollen, sollten wir uns vielleicht doch die Zeit nehmen, den einen oder anderen
Punkt, den ich hier angesprochen habe, zu debattieren
und zu überlegen, ob man nicht auch an anderen Stellen
etwas machen muss. Das muss nicht gleich in diesem
Gesetz sein, das kann auch in einem weiteren Gesetz erfolgen. Ich würde mir wünschen, dass wir diese Debatte
führen.
Ich will noch einen letzten Punkt ansprechen. Wir
sollten darüber diskutieren, ob es wirklich überzeugend
ist, dass das Bundesverfassungsgericht mit einstimmigem Beschluss unzulässige und offensichtlich unbegründete Anträge ohne Begründung ablehnen kann. Ich weiß,
diese Begründungspflicht ist mit erheblichem Arbeitsaufwand verbunden, aber ich glaube auch, dass die Bürgerinnen und Bürger einen Anspruch darauf haben, wenigstens ansatzweise zu erfahren, warum mit ihrer
Beschwerde so oder so umgegangen worden ist.
Letztendlich glaube ich, dass wir diese konkrete Regelung relativ unproblematisch und ohne großes Gezänk
über die Bühne bringen. Ich will aber noch ausdrücklich
darum bitten, dass wir die anderen Punkte - vielleicht
haben auch Sie noch Themen - diskutieren und die Debatte nutzen, um über eine weitere Demokratisierung des
Bundesverfassungsgerichts in Ruhe zu sprechen.
Danke schön.
({2})
Vielen Dank. - Ich gebe Ihnen jetzt das Ergebnis der
Wahl eines Mitglieds des Parlamentarischen Kontroll-
gremiums gemäß Artikel 45 d des Grundgesetzes be-
kannt. Abgegebene Stimmen 569. Ungültige Stimmen 1.
Gültige Stimmen 568. Mit Ja haben gestimmt 544, mit
Nein haben gestimmt 6, Enthaltungen 18. Der Abgeord-
nete Uli Grötsch hat damit 544 Stimmen erhalten. Die
erforderliche Mehrheit von mindestens 316 Stimmen
wurde erreicht. - Vielen Dank.1)
({0})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt Dr. Stephan
Harbarth das Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolle-
gen! Meine sehr geehrten Damen und Herren auf der
Zuschauertribüne! Wir beraten heute den Entwurf des
Neunten Gesetzes zur Änderung des Bundesverfas-
sungsgerichtsgesetzes in erster Lesung. Artikel 94 des
Grundgesetzes formuliert:
1) Anlage 2
Die Mitglieder des Bundesverfassungsgerichtes
werden je zur Hälfte vom Bundestage und vom
Bundesrate gewählt.
Der Bundesrat setzt diese Vorgabe der Verfassung seit
vielen Jahren dadurch um, dass dort das Plenum entscheidet. Im Bundestag entscheidet der Wahlausschuss.
Ich möchte vorab zunächst einmal all den Kolleginnen und Kollegen - ich selbst gehöre nicht dazu -, die
dem Wahlausschuss angehören, sehr herzlich danksagen.
Es geht heute nicht darum, ein Misstrauen gegen den
Wahlausschuss zum Ausdruck zu bringen, sondern es
geht darum, eine verfassungspolitische Neujustierung
vorzunehmen. Aber all denen, die in den vergangenen
Jahren dort sehr besonnen, gut und engagiert gewirkt haben, zunächst einmal vielen herzlichen Dank!
({0})
Wir haben die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2012, dass die bisherige Praxis der
Wahl der Verfassungsrichter durch den Wahlausschuss
grundgesetzkonform sei. Unstrittig ist dies unter Staatsrechtlern nicht. Der derzeit amtierende Präsident des
Bundesverfassungsgerichts ist vorhin bereits zitiert worden. Erlauben Sie mir, dass ich eine andere Passage seiner Grundgesetzkommentierung zitiere. Er formuliert
dort:
Von nicht unerheblichen Teilen der Literatur wird
diese Regelung zu Recht für verfassungswidrig gehalten. Da die Verfassung selbst an verschiedenen
Stellen … zwischen dem Bundestag und den Ausschüssen differenziert, kann Art. 94 Abs. 1 S. 2 nur
dahingehend verstanden werden, dass dem Plenum
der Abgeordneten die Wahl der Richter vorbehalten
sein soll. Eine weitergehende Kompetenzdelegation
des Parlaments auf Teile seiner selbst widerspricht
darüber hinaus der Bedeutung dieser Entscheidung
und damit dem Erfordernis „funktionsadäquater demokratischer Legitimation“.
So die Ausführungen des derzeit amtierenden Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts.
Jenseits der verfassungsrechtlichen Frage, ob man die
bisherige Praxis für rechtskonform oder für verfassungswidrig hält, ist es aus meiner Sicht verfassungspolitisch
richtig, künftig die Verfassungsrichter durch das Plenum
des Deutschen Bundestages wählen zu lassen. Das Bundesverfassungsgericht hat immer wieder zutreffend
- auch im Hinblick auf das Neunergremium im Rahmen
der Euro-Rettung - darauf hingewiesen, dass Entscheidungen von erheblicher Tragweite grundsätzlich im
Plenum zu treffen sind. Das ist nicht nur verfassungsrechtlich richtig, das ist auch verfassungspolitisch überzeugend. Wenn ich mir insgesamt anschaue, welche
Wahlakte das Plenum des Deutschen Bundestages vorzunehmen hat - dazu gehören etwa die Wahl des Wehrbeauftragten, die Wahl des Präsidenten des Bundesrechnungshofs und die Wahl des Bundesbeauftragten für den
Datenschutz -, dann muss ich bei allem Respekt vor diesen Ämtern sagen: Die Wahl eines Verfassungsrichters
ist nicht minder wichtig, und deshalb wäre es unstimmig,
die Entscheidung über die Wahl von Verfassungsrichtern
dauerhaft beim Wahlausschuss zu belassen.
Das folgt verfassungspolitisch für mich insbesondere
aus der Kompetenz des Bundesverfassungsgerichts, Gesetze des Deutschen Bundestages als verfassungswidrig
zu verwerfen. Ein Senat des Bundesverfassungsgerichts
bestehend aus acht Richtern kann mit fünf zu drei
Richterstimmen beschließen, dass ein Gesetz, das der
Deutsche Bundestag einstimmig mit dem Votum von
631 Abgeordneten beschlossen hat, verfassungswidrig
ist. Wenn der Deutsche Bundestag ein Gesetz beschließt,
dann beschließt er das ja nicht nur deshalb, weil er es
politisch für zweckmäßig hält, sondern auch deshalb,
weil die Abgeordneten der Überzeugung sind, dass das
entsprechende Gesetz verfassungskonform ist. Deshalb
halte ich es für richtig, wenn fünf Verfassungsrichter in
Karlsruhe die Möglichkeit haben, das Votum von im Extremfall 631 Abgeordneten, die für ein Gesetz gestimmt
haben, zu überspielen, das Gesetz also als grundgesetzwidrig zu verwerfen, dass diese Richter wenigstens unmittelbar vom Deutschen Bundestag gewählt worden
sind, der seinerseits vom deutschen Volk in unmittelbarer und direkter Wahl gewählt wurde.
({1})
Verfassungspolitisch spricht aus unserer Sicht viel dafür, Frau Kollegin Wawzyniak - wir sind in der weiteren
Gesetzesberatung für den Diskurs offen -, dass man die
Wahl der Richter ohne Aussprache vornimmt. Das ist
insbesondere deshalb naheliegend, weil wir die Sorge
haben, dass Kandidaten hier im Plenum zerredet werden.
Wir finden es auch gut - jetzt komme ich auf Ihren
Punkt zurück -, wenn ein Vorschlag des Wahlausschusses gemacht wird und dann über diesen Vorschlag des
Wahlausschusses abgestimmt wird, weil damit die Vorzüge beider Systeme miteinander kombiniert werden
können.
Ich möchte klarmachen, dass es um den Ausgleich
von möglichen verfassungsrechtlichen bzw. verfassungspolitischen Defiziten geht und nicht um einen Kompetenzzuwachs für Karlsruhe. Der Umstand, dass Verfassungsrichter künftig mit Zweidrittelmehrheit direkt vom
Deutschen Bundestag gewählt werden, macht sie selbstverständlich nicht zu Ersatzgesetzgebern, sondern belässt sie in der Position, die sie bisher haben.
Wir bekommen ein Mehr an Transparenz, ein Mehr
an öffentlicher Debatte. Das mag dem einen gefallen,
das mag dem anderen nicht gefallen. Ich finde, die Bereitschaft, auch eine kritische Diskussion über die eigene
Person auszuhalten, sollte nicht nur von denen verlangt
werden, die sich in einem wichtigen öffentlichen Amt
um eine vierjährige oder fünfjährige Amtszeit bewerben,
sondern auch von denen, die sich um eine zwölfjährige
Amtszeit bewerben.
({2})
Wichtig ist, dass die Debatten dann mit Vernunft und mit
Stil geführt werden. Hier werden wir alle gefordert sein.
In diesem Sinne wird diese Gesetzesänderung gerade
für uns eine Verpflichtung sein, in der praktischen Umsetzung von dem neuen Verfahren weise Gebrauch zu
machen.
Vielen herzlichen Dank.
({3})
Nächste Rednerin ist Renate Künast, Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Vorrednerin und liebe Vorredner! Herr Bartke war der
Erste, der den jetzigen Verfassungsgerichtspräsidenten,
zitiert hat, der noch als Herr Professor Voßkuhle in einer
Kommentierung ausgeführt hat, dass es nach dem Wortlaut des Grundgesetzes wohl richtig sei, dass der Bundestag und nicht eine vom Bundestag bestimmte Kommission wählt. Das finde ich auch richtig.
Ich will nur hinzufügen - Herr Harbarth und andere
haben das auch angesprochen -: Es ist eigentlich noch
viel putziger.
({0})
Es ist putzig, dass der Professor Voßkuhle so kommentiert hat, dass aber der Verfassungsrichter Voßkuhle dazu
geurteilt und in einer Entscheidung gesagt hat: Nein, das
jetzige Verfahren ist mit dem Grundgesetz vereinbar. Ein wenig gewunden, einige Pirouetten gedreht, und mir
scheint es auch so zu sein: ein klein wenig sich nicht getraut, in eigener Sache zu sagen: Bundestag, mach es mal
anders!
Insofern ist der heutige Tag, an dem wir alle miteinander, alle Fraktionen, diesen Entwurf für eine Gesetzesänderung einbringen, ein guter Tag. Es ist aber auch ein guter Tag für Herrn Voßkuhle. Von dem geistigen Spagat,
den er in seinem Leben noch aushalten musste, erlösen
wir ihn jetzt. Gut so!
({1})
Es ist gut, meine Damen und Herren, dass wir - ich sagte
es schon - gemeinsam zu dem Ergebnis kommen. Wir
als Grüne haben schon viele Jahre genau eine solche Regelung - Wahl durch das Plenum - gefordert.
Eines ist klar - einige haben es schon angetippt -:
Nicht nur das Grundgesetz fordert uns vom Wortlaut her
auf, als Bundestag zu wählen; die jetzige Regelung bedeutet auch eine Schieflage im Verhältnis zu Wahlen von
anderen Beauftragten, die wir im Plenum durchführen:
den bzw. die Datenschutzbeauftragte, die bzw. den Wehrbeauftragten. Da ist es schon angemessen, auch die
Krone des Rechts, die höchsten Richterinnen und Richter, die Spitze der rechtsprechenden Gewalt in unserer
Gewaltenteilung ebenfalls im Plenum des Deutschen
Bundestags zu wählen; alles andere wäre nicht angemessen.
Lassen Sie mich auch sagen: Ich bin froh darüber,
dass wir dieses Gesetz erst jetzt einbringen und es nicht
vor einem halben oder einem Dreivierteljahr eingebracht
haben, als es noch Auseinandersetzungen gab über Ideen,
die Entscheidungsmöglichkeiten des Verfassungsgerichts
einzuengen. Seinerzeit wäre es das falsche Signal gewesen, hätte es eine falsche Botschaft vermittelt.
Wir sollten froh sein, dass wir eine Gewaltenteilung
haben. Ich erlebe ständig, dass uns Delegationen aus aller Herren und Frauen Länder - die Kolleginnen und
Kollegen aus dem Rechtsausschuss kennen das - immer
fragen: „Wie funktionieren eigentlich bei euch Rechtsstaat und Gewaltenteilung?“, und die immer versuchen
wollen, die Prinzipien, aber auch das Selbstbewusstsein
zu verstehen, das für jede einzelne der drei Gewalten dazugehört.
Insofern ist es richtig, dass wir die Mitglieder des Verfassungsgerichts im Plenum wählen, und es ist auch
richtig, dass manche Idee vom Anfang des Jahres, die
Rechte des Verfassungsgerichts zu beschneiden, nicht
Realität wird.
({2})
Ich habe noch zwei, drei Änderungsideen. Wir als
Grüne haben nicht nur gefordert, dass im Plenum gewählt wird, sondern wir haben noch eine Vielzahl anderer Forderungen.
Eine Forderung will ich als erste nennen, weil ich
glaube, dass es für alle anderen am einfachsten ist, sie
mitzutragen. An einer Stelle ist dieses Gesetz nämlich
noch altertümlich, und zwar da, wo es für das Besetzungsverfahren in der Kommission immer noch d’Hondt
vorsieht. Jetzt weiß ich, dass manche sagen: Ach, sollen
wir das auch noch ändern! - Es ist aber altertümlich,
weil wir uns überall für ein anderes Verfahren entschieden haben. Deshalb bitte ich alle, darüber nachzudenken,
ob wir das im Gesetzgebungsverfahren nicht ändern und
hier auch das Verfahren nach Sainte-Laguë/Schepers hineinnehmen können. Das ändert im Augenblick gar
nichts. Aber es ist besser, es zu dem Zeitpunkt zu ändern,
an dem wir tatsächlich Hand ans Gesetz legen.
Zweiter Punkt ist das Thema Frauenquote. Das Gericht ist mit Frauen besetzt wie schon lange nicht mehr.
Die Geschlechter finden sich durchaus passabel wieder,
obwohl man auch hier noch weitermachen kann. Aber
wenn dieser Bundestag hier demnächst ein Quotengesetz
für die Vorstände und für die Aufsichtsräte und eine Flexiquote für das Management usw. beschließt, fragt man
sich ja, warum dann nicht auch für das Bundesverfassungsgericht eine vielleicht ähnlich hohe Quote für
Frauen und Männer vorgesehen wird, um einfach einer
zukünftig vielleicht auftretenden Fehlentwicklung zu
wehren.
({3})
Mein dritter Punkt ist die Frage der Anhörung, die
Frau Wawzyniak auch schon angesprochen hat. Wir
würden mit Ihnen im Ausschuss gern auch über Anhörungen diskutieren. Ich weiß, dazu gibt es bei uns,
durchaus auch in der Fraktion, noch unterschiedliche
Auffassungen. Lassen Sie uns hier über ein Verfahren
für das Plenum oder für die Kommission diskutieren.
Jetzt ist es so, dass immer außerhalb der Kommission die
Gespräche mit den potenziellen Kandidatinnen und Kandidaten stattfinden.
Ich sage aber persönlich auch dazu: Ich möchte nicht
da enden, wo die in den USA enden. Der Präsident
macht einen Vorschlag, und danach, glaube ich, wird die
Person, die dann bei einer solchen Anhörung abgelehnt
worden ist, nie wieder für ein Amt kandidieren. Also, ich
will nicht diese Schärfe der Auseinandersetzung und
diese Herabwürdigung einzelner Personen. Deswegen
bin ich an der Stelle für Vorschläge offen. Aber Sie wissen, dass wir immer gesagt haben: Es muss mehr Auseinandersetzungen über die Personen geben und sie müssen sich der Debatte stellen.
Ich kann also feststellen, meine Damen und Herren:
Heute ist ein guter Tag, ein guter Tag für das Gericht, weil
es als Spitze der Rechtsprechungsgewalt in Deutschland
angemessener behandelt wird. Es ist ein guter Tag für
den Bundestag und ein guter Tag für mehr Transparenz
durch Wahlen.
({4})
Als nächstem Redner erteile ich Herrn Dr. Stefan
Heck, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gerade zieht das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe
nach dreijähriger Renovierungszeit in sein altes Stammgebäude zurück - für uns eine gute Gelegenheit, auch
das Bundesverfassungsgerichtsgesetz zu renovieren. Es
geht zwar formal nur um einen wenig geänderten Text,
aber unser Vorschlag, künftig dem Plenum des Deutschen Bundestages bei der Richterwahl das letzte Wort
zu lassen, ist ein nicht zu unterschätzender Eingriff in
das bisherige Gefüge des Gerichts.
Nach dem, was wir hier gehört haben, ist es, glaube
ich, gut, dass dieser Prozess - das gilt dann letztlich auch
für eine Entscheidung -, den wir heute anstoßen, auf
breiter Unterstützung fußt und dass wir das auch reichlich abgewogen haben. Denn gerade Änderungen bei der
Richterwahl zum Bundesverfassungsgericht bedürfen einer sorgfältigen Prüfung. Immerhin geht es - um bildlich
im Baubereich zu bleiben - um die Statik des Bundesverfassungsgerichts, das wiederum eine große Bedeutung für die Statik unseres Grundgesetzes hat. In diesem
Grundgesetz - es ist eben schon zitiert worden - heißt es
ganz schlicht:
Die Mitglieder des Bundesverfassungsgerichtes
werden je zur Hälfte vom Bundestage und vom
Bundesrate gewählt.
Das, was in der Verfassung so einfach klingt, stellt
sich in der Verfassungspraxis als gar nicht so einfache
Aufgabe dar. Dementsprechend liest sich der Paragraf
im Bundesverfassungsgerichtsgesetz, der das Verfahren
zur Wahl der Richter konkretisiert, sehr viel komplizierter. Aus dem einen Satz im Grundgesetz sind immerhin
fünf ganze Absätze im entsprechenden Gesetz geworden.
Aber auch in Zukunft wird sich das Wahlverfahren
nicht auf einen einzigen Satz verkürzen lassen. Die Wahl
der Richter am Bundesverfassungsgericht bleibt eine
heikle Angelegenheit. Das ergibt sich schon aus der bereits angesprochenen Machtfülle, die den acht Richtern
jedes Senats auferlegt worden ist. Sie wachen über die
Aufrechterhaltung unserer Verfassungsordnung, und sie
allein sind es, die Gesetze dieses Hohen Hauses am Ende
für nichtig erklären können.
Es ist daher von ganz entscheidender Bedeutung, dass
das Handeln des Bundesverfassungsgerichts mit all seiner rechtlichen, gesellschaftlichen, aber am Ende eben
auch politischen Tragweite von einem soliden Fundament an Legitimität getragen wird. Dazu gehört natürlich auch die Legitimation der Zusammensetzung des
Gerichts und am Ende jedes einzelnen Richters selbst.
Die Richter sollen nicht nach persönlichen Ansichten
richten. Für die Richter des Bundesverfassungsgerichts
gilt wie für die Richter jedes anderen Gerichts in
Deutschland Artikel 20 Grundgesetz: Sie sind an Recht
und Gesetz gebunden. Doch gerade die Juristen unter
uns wissen, dass am Ende jeder zumal verfassungsrechtlichen Fragestellung eine Wertentscheidung getroffen
werden muss, die von der Persönlichkeit des Richters
nicht zu trennen ist. Deshalb ist es richtig, dass wir die
Legitimität der Richter auf eine möglichst breite Basis
stellen.
Ich möchte einen weiteren Gedanken ansprechen: Wir
leisten damit heute auch einen Beitrag zum Schutz parlamentarischer Minderheiten. Ich erwähne das, weil wir
dieses Thema hier erst kürzlich kontrovers diskutiert haben. Das Bundesverfassungsgericht hatte die bisherige
Rechtslage bei der Wahl der Richter 2012 ausdrücklich
für verfassungskonform erklärt. Deswegen denke ich,
wir sollten heute ganz selbstbewusst darauf hinweisen,
dass wir keineswegs Karlsruher Vorgaben umsetzen,
sondern - so sollte es der Normalfall sein - eine eigenständige politische Entscheidung treffen. Wir stärken die
Minderheitenrechte hier in diesem Haus, und zugleich
stärken wir die Legitimation des Bundesverfassungsgerichts. Wir bringen damit zum Ausdruck, liebe Kolleginnen und Kollegen: Politik wird weiterhin hier in Berlin
und nicht in Karlsruhe gemacht.
({0})
Ich möchte daher auch ganz deutlich sagen, was es in
Zukunft nicht geben soll und nicht geben wird: Das sind
öffentliche Kreuzverhöre, wie sie für die Richter des Supreme Court in den Vereinigten Staaten vorgesehen sind.
Wir sind überzeugt: Es kommt auf die fachliche und persönliche Eignung der Richter an und eben gerade nicht
auf die Redegewandtheit und die persönliche Meinung
von Kandidaten zu tagespolitischen Themen und am
Ende auch nicht auf die Fähigkeit, sich in den Medien
möglichst überzeugend darzustellen. Wir alle sollten uns
deshalb davor hüten, die Wahl der Richter des Bundesverfassungsgerichts zum Gegenstand parteipolitischer
Auseinandersetzungen zu machen. Deshalb werden die
Richter auch weiterhin ohne Aussprache gewählt werden; wir nehmen damit eine Verfassungstradition auf,
welche die Würde der höchsten Staatsämter wahrt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in der Summe steht
der Ihnen vorliegende Gesetzentwurf auch unter dem
Motto „Mehr Demokratie wagen“. Mit der Stärkung des
Plenums bei der Richterwahl machen wir deutlich: Demokratische Legitimation ist auch für die Wahl der Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts unverzichtbar; denn Artikel 20 des Grundgesetzes stellt
unmissverständlich klar, dass alle Staatsgewalt vom
Volke ausgeht, darunter eben auch die rechtsprechende
Gewalt.
So richtig es ist, dass das Bundesverfassungsgericht
unser Handeln als Bundestag kontrolliert, ist es keineswegs so, dass die Rechtsprechung quasi als unnahbare,
sich selbst legitimierende Trutzburg des Rechts das
Volkshandeln kontrolliert. Genau das Gegenteil ist der
Fall: Das Volk kontrolliert sich selbst. Die Legitimation
all unserer Verfassungsorgane geht vom Volk aus. Auch
die Richter am Bundesverfassungsgericht kommen deshalb um eine solide demokratische Legitimation nicht
herum.
Deswegen, Frau Künast, bin ich auch skeptisch, ob
wir, nachdem wir auch im Bundestag aus guten Gründen
keine Frauenquote haben, damit nun beim Bundesverfassungsgericht anfangen sollten.
Ich komme zum Schluss. Wer uns als Parlament bisweilen zu bedenken gibt - und das gelegentlich zu
Recht -, was das Demokratieprinzip erfordert, der sollte
auch selbst hinreichend demokratisch legitimiert sein.
Dafür tragen wir heute Sorge. In den letzten Jahren haben wir einiges investiert - um wieder zu dem Bild vom
Anfang zurückzukommen -, um durch Renovierungen
unsere Bausubstanz landauf, landab zukunftsfest zu machen. Das gilt unter anderem für das nunmehr renovierte
Hauptgebäude des Bundesverfassungsgerichts. Unterschätzen wir deshalb nicht die kleine Renovierung des
Bundesverfassungsgerichtsgesetzes, die wir heute anstoßen. Mit diesem Plus an demokratischer Legitimation
machen wir das höchste deutsche Gericht zukunftsfest.
Vielen Dank.
({1})
Als letztem Redner in der Debatte erteile ich das Wort
Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kollegen! Die Wahl der Verfassungsrichter durch das Plenum des Deutschen Bundestages ist
eine nicht völlig unerhebliche Änderung der Verfassungspraxis in diesem Lande. Das Grundgesetz und das
Bundesverfassungsgerichtsgesetz geben dem Bundesverfassungsgericht eine starke Stellung. Es hat damit
nicht nur die Kompetenz, Gesetze zu verwerfen, sondern
die Urteile des Bundesverfassungsgerichts haben unter
bestimmten Umständen auch selbst Gesetzeskraft. Die
starke Akzeptanz des Grundgesetzes und das hohe
Schutzniveau unserer Grundrechte verdanken wir in den
letzten 60 Jahren auch der Arbeit unseres Verfassungsgerichts. Deswegen sei an dieser Stelle auch dem Verfassungsgericht für seine Arbeit im Verfassungsgefüge gedankt.
({0})
Das Verhältnis zwischen dem rechtsetzenden Bundestag und dem rechtsprechenden Verfassungsgericht ist
dennoch sensibel. Die Grenze zwischen gesetzgeberischer Wertentscheidung und verfassungsrechtlicher
Kontrolle ist oftmals fließend. Gleichwohl sollte diese
Grenze im Interesse beider Verfassungsorgane zumindest bestimmbar sein. So wie der Bundestag im Rahmen
der Gesetzgebung den Schutz verfassungsgemäßer
Rechte beachten sollte, hoffen auch wir stets auf ein Bemühen des Verfassungsgerichts, die gesetzgeberischen
Entscheidungsspielräume zu respektieren.
({1})
Eine Wahl der Richter des Verfassungsgerichts durch
das Plenum des Deutschen Bundestages stärkt beide Verfassungsorgane. Es stärkt das Bundesverfassungsgericht,
weil durch die Erfüllung des Wortlautes des Grundgesetzes die Richter eine höhere demokratische Legitimation
haben. Es stärkt aber auch den Deutschen Bundestag,
weil die Mitwirkungsrechte aller Kollegen in einem entscheidenden Punkt nicht nur gewahrt, sondern auch gestärkt werden.
Wir sollten uns im Rahmen der Debatte über diesen
Gesetzesvorschlag auch über die Modalitäten der Entscheidungsfindung unterhalten. Ich glaube, wir sind uns
einig, dass die Würde des Verfassungsorgans Bundesverfassungsgericht und die starke Stellung der Richter, die
gerade unabhängig sein sollen, eine Anhörung oder gar
eine Debatte im Plenum des Deutschen Bundestages unmöglich machen. Gleichwohl meine ich, dass das Informationsrecht des einzelnen Abgeordneten - möglicherweise auch auf vertraulichem Wege - über die zu
bestimmenden Kandidaten eine Rolle einnehmen sollte,
über die wir noch konkret zu sprechen haben. Ich glaube,
dass sich jeder Kollege aus diesem Hohen Hause, der zukünftig Verfassungsrichter wählt, redlicherweise zumindest über die Kandidaten informieren sollte. Das sind
wir der Machtbalance zwischen beiden Verfassungsorganen schuldig. Wie diese Mitwirkungspflicht erfüllt wird,
sollten wir möglicherweise auch im Rahmen der Geschäftsordnung festlegen.
Letzten Endes wird sicherlich die Frage erlaubt sein,
ob diese Änderung verfassungspolitisch in der Verfassungspraxis eine tatsächliche Änderung bringt oder
nicht. Die Beantwortung dieser Frage sei in den Raum
gestellt. In unserer Verfassung kommt auch dem Verfahren und der Pflege von Symbolen ein hoher Wert zu.
Allein der Umstand, dass zukünftig dieses Plenum die
Verfassungsrichter wählt, ist eine Stärkung der demokratischen Teilhabe und eine Aufwertung des Symbols Bundesverfassungsgericht im Machtgefüge zweier Verfassungsorgane. Wer es mit unserer Verfassung ernst meint
und sie weiterhin stärken möchte, kommt um die Pflege
und die Wertschätzung der Verfassungssymbole nicht
umhin.
In diesem Sinne: Lassen Sie uns dieses Verfahren beschließen, auf dass das Verfassungsgericht und der Bundestag gleichermaßen an Rechten gewinnen.
Vielen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/2737 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Ernst, Matthias W. Birkwald, Susanna
Karawanskij, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Die Abgeltungsteuer abschaffen - Kapitalerträge wie Löhne besteuern
Drucksache 18/2014
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Abgeordneten Klaus Ernst, Fraktion
Die Linke.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bis zum
Jahre 2009 galt, dass Kapitalerträge prinzipiell wie Einkünfte aus Arbeit zu besteuern sind. Je nach Höhe des
Einkommens eines Steuerpflichtigen wurden deshalb
Kapitalerträge mit bis zu 42 Prozent besteuert. Mit der
Reichensteuer waren es sogar 45 Prozent. Unter Kohl
waren es übrigens 52 Prozent. 2009 wurde dies geändert.
Die Abgeltungsteuer wurde eingeführt. Kapitalerträge
werden seitdem im Regelfall nur noch mit einem pauschalen Satz von 25 Prozent besteuert. In der Folge heißt
das, dass wir Arbeit höher besteuern als hohe Kapitaleinkommen. Reiche werden damit steuerpolitisch geschont,
Beschäftigte, die ihr Geld mit ehrlicher Arbeit verdienen
müssen, geschröpft. Die Privilegierung von Kapitaleinkünften, meine Damen und Herren, durch die Abgeltungsteuer gehört abgeschafft. Sie ist nicht zeitgemäß.
({0})
Mit welcher Begründung haben Sie das gemacht? Der
Gedanke hinter der Abgeltungsteuer war - um es mit den
Worten des damaligen Finanzministers Peer Steinbrück
zu sagen -:
Besser 25 Prozent von X als 42 Prozent von nix.
Durch einen Billigtarif sollten die Steuersünder bitte
schön zur Ehrlichkeit bewegt werden. Hat das funktioniert?
({1})
Seit Einführung der Abgeltungsteuer sanken die Steuereinnahmen laut Kassenstatistik dauerhaft um etwa
4 Milliarden Euro.
({2})
Offenbar waren die Steuerflüchtigen trotz Billigtarif
nicht bereit, ehrlich zu sein. In Ihrer Antwort auf unsere
Kleine Anfrage führen Sie diesen Einbruch wesentlich
auf die Finanz- und Wirtschaftskrise zurück. Wie kommen Sie denn darauf?
({3})
Selbst in der Krise sind die Vermögen der Reichen und
Superreichen hierzulande deutlich gewachsen. In der
Krise! Eine geringere Einnahme aus der Besteuerung
von Kapitaleinkommen lässt sich mit der Krise wirklich
nicht begründen.
({4})
Die Zahl der Vermögensmillionäre in Dollar hat sich
laut World Wealth Report seit 2008 um 40 Prozent erhöht. Es waren 810 000, inzwischen haben wir 1,1 Millionen Vermögensmillionäre in Deutschland. Dass die
eigentlich mehr und nicht weniger Steuern aufbringen
müssten als vorher, dürfte auch Ihnen nicht so ganz
fremd sein.
35 Milliarden Euro Dividende - eine Rekordsumme haben deutsche Unternehmen 2013 an ihre Aktionäre
ausgeschüttet. Meine Damen und Herren, selbst der Telekom-Chef Timotheus Höttges lässt sich gestern wie
folgt in der Münchner tz zitieren:
Wenn einige wenige riesige Vermögen anhäufen,
die nicht mehr in die Realwirtschaft fließen, führt
diese Ungleichheit zu Ungerechtigkeit … Mein
Eindruck ist, dass die Schere bereits zu weit auseinandergegangen ist.
Diese Debatte haben wir bereits in den Vorständen von
DAX-Unternehmen. Hier hält sie leider noch zu wenig
Einzug, meine Damen und Herren.
Statt steuerpolitisch entgegenzuwirken, verschärfen
Sie dieses Problem durch einen Billigtarif für Kapitalerträge. Das WSI, ein wissenschaftliches Institut, hat gerade eine neue Studie veröffentlicht mit dem Titel
„Reichtum in Deutschland wächst und verfestigt sich“.
In der Presseerklärung des WSI heißt es dazu:
Einen wesentlichen Grund für den wachsenden Einkommensvorsprung insbesondere der sehr Reichen
sehen die Wissenschaftler im höheren Gewicht der
Kapitaleinkommen in ihren Haushalten. Da Menschen mit hohen Einkommen sehr häufig auch größere Vermögen besitzen, profitieren sie in besonderem Maße von Zinsen, Dividenden oder
Mieteinnahmen. Gerade während der 2000er Jahre
haben sich Kapitaleinkommen deutlich stärker entwickelt als Lohneinkommen. Und durch die pauschale Abgeltungssteuer werden sie niedriger besteuert als Arbeitseinkommen.
Meine Damen und Herren, in der Antwort auf unsere
Kleine Anfrage kommen Sie zu dem Ergebnis, dass die
alte Rechtslage, also die Besteuerung von bis zu 45 Prozent, in allen Jahren, die danach gefolgt wären, zu Mindereinnahmen geführt hätte. Bezogen auf die 25 Prozent
Abgeltungsteuer ist das nun wirklich absurd. Ihre Einschätzung beruht auch nicht auf statistisch belegten Zahlen, sondern auf einer Simulationsrechnung, wie Sie
selber schreiben. Ihr Ergebnis steht im krassen Widerspruch zur Kassenstatistik, also den realen Zahlungseingängen, die wir vereinnahmen können.
Zugegebenermaßen gibt es darin Ungenauigkeiten
aufgrund unterschiedlicher Jahrgänge usw. Diese ergeben sich zum Beispiel daraus, dass nicht alle Steuerpflichtigen ihre Steuererklärung und damit ihre Zahlungen zu dem Zeitpunkt leisten, dem sie statistisch
zugeordnet werden sollen. Dennoch: Zwischen Ihrer Mikrosimulation und den realen Kasseneingängen besteht
eine riesige Differenz, die durch diese Ungenauigkeit
nicht erklärbar ist. Ich empfehle dringend, Ihre Mikrosimulation noch einmal zu überarbeiten. Sie hält einer Realitätsüberprüfung nicht stand. Das Deutsche Institut für
Wirtschaftsforschung - nicht gerade für Falschrechnen
im Auftrag der Linksfraktion bekannt - geht von mindestens 4 Milliarden Euro Mindereinnahmen jährlich
durch die Abgeltungsteuer aus.
Im Übrigen: Ihre Begründung von damals, das scheue
Reh Kapital nicht durch zu hohe Besteuerung zu verschrecken, ist inzwischen wirklich haltlos. Es gibt
Steuer-CDs, ein automatisierter Informationsaustausch
zwischen den Staaten ist geplant, und die Zahl der
Selbstanzeigen von Steuerbetrügern liegt auf Rekordniveau. Sie müssen keinen Anreiz zur Ehrlichkeit dadurch schaffen, dass Sie es besonders billig machen. Das
ist nicht mehr notwendig. Selbst wenn die Begründung
von damals falsch war: Heute ist sie noch „falscher“,
durch Zeitablauf überholt.
Ich fordere Sie deshalb auf: Schaffen Sie Steuergerechtigkeit! Schaffen Sie die Abgeltungsteuer ab! Es ist
absolut inakzeptabel, Arbeit höher zu besteuern als arbeitsloses Einkommen.
({5})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Olav Gutting, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
„Groundhog Day“ bei den Linken: Altbekannt fordern
sie wieder einmal die Abschaffung der Abgeltungsteuer.
({0})
Ich sage es gleich vorweg: Wir werden das auch dieses Mal ablehnen, und zwar nicht, weil wir glauben, dass
die Abgeltungsteuer der Weisheit letzter Schluss ist,
nicht weil wir glauben, dass die Abgeltungsteuer etwa
ein Meilenstein wäre im Sinne von Steuergerechtigkeit
und Steuervereinfachung, und auch nicht, weil wir etwa
glauben würden, dass es grundsätzlich richtig ist, Lohneinkünfte und Einkünfte aus Kapital unterschiedlich zu
besteuern. Wir lehnen eine Abschaffung vielmehr ab,
weil heute immer noch das gilt, was 2008, 2009 gegolten
hat und was Peer Steinbrück damals bei der Einführung
richtigerweise gesagt hat - Sie haben ihn vorhin zitiert -,
nämlich 25 Prozent auf X sind allemal besser als
100 Prozent oder 45 Prozent auf nix.
Jetzt ist es natürlich einfach, mit dem Verweis auf
eine Privilegierung von Kapitalerträgen gegenüber den
Arbeitseinkommen eine Neiddebatte zu entfachen. Wir
müssten uns dann aber auch mit den Folgen einer Abschaffung der Abgeltungsteuer beschäftigen. Während
bei der Besteuerung von Kapitalerträgen vor der Abgeltungsteuer, also in der Vergangenheit, der Staat auf die
ordnungsgemäße und vollständige Angabe dieser Einkünfte angewiesen war, haben wir heute die Situation,
dass die auszahlende Stelle, in der Regel eine Bank, das
Geld direkt an das Finanzamt abführt. Bei einer Rückkehr zum alten System, wie Sie fordern, wäre man wieder davon abhängig, dass Kapitalerträge von den Steuerbürgern vollständig angemeldet werden. Wir hätten also
wieder die Situation wie in der Vergangenheit, dass hin
und wieder etwas vergessen wird.
Mit der Einführung der Abgeltungsteuer und - das
darf man nicht vergessen - der damit verbundenen Abschaffung der einjährigen Spekulationsfrist für Wertpapiergewinne - das kam ja zusammen - haben wir ein
Stück Steuergerechtigkeit, zumindest beim Steuervollzug, geschaffen. Das war im Wesentlichen auch der Antrieb für die Einführung der Abgeltungsteuer. Was nützt
es, wenn Sie einen Teil der Steuerpflichtigen mit einem
gerechten Tarif belegen, gleichzeitig aber ein anderer
Teil der Steuerpflichtigen quasi mit null rausspaziert.
Das kann ja wohl nicht im Sinn einer steuerlichen
Gleichbehandlung sein.
Fakt ist: Die Einführung damals war richtig, und die
damals angeführten Gründe gelten bis auf Weiteres - das
will ich hier unterstreichen - heute noch; denn auch zum
jetzigen Zeitpunkt kann die Einbeziehung von Kapitalerträgen im Rahmen der regulären Besteuerung ohne irgendeine Form von Quellensteuer nicht gewährleistet
werden.
({1})
Herr Ernst, Sie haben in der Erläuterung zu Ihrem Antrag darauf abgestellt, dass es einen Wandel gibt, dass
wir zwischenzeitlich mit dem automatischen Informationsaustausch in Steuersachen vorankommen; das ist
richtig. Wir befinden uns international in einem Transformationsprozess. Der automatische Informationsaustausch bedeutet geradezu einen Paradigmenwechsel im
internationalen Kampf gegen Steuerhinterziehung, im
internationalen Kampf um Steuergerechtigkeit.
Wir haben das Ziel, das im Ausland deponierte
Schwarzgeld sichtbar zu machen. Allerdings - und auch
das gehört zur Wahrheit - liegen aktuell die notwendigen
Voraussetzungen für einen einigermaßen flächendeckenden automatischen Informationsaustausch noch nicht
vor. Wir haben in den letzten Jahren fast 50 Doppelbesteuerungsabkommen nach OECD-Muster abgeschlossen. Wir arbeiten dafür - das tun wir gemeinsam -,
dass der automatische Informationsaustausch in Europa
endlich Standard wird, nicht nur in der EU, sondern in
ganz Europa. Aber wir müssen anerkennen, dass die bisher geschlossenen Abkommen noch nicht ausreichen,
um die Einbeziehung der Kapitaleinkünfte bei der nationalen Besteuerung sicherzustellen.
Lassen Sie mich eine kurze Bestandsaufnahme zur
Abgeltungsteuer seit ihrer Einführung machen:
Erstens. Das System der Besteuerung an der Quelle
funktioniert. Die Abgeltungsteuer entlastet Bürger und
Verwaltung von unnötiger Bürokratie. Zum Beispiel
müssen viele Steuerpflichtige heute keine Erklärung zu
ihren Kapitaleinkünften, Anlage KAP, mehr abgeben.
({2})
Zweitens. Die Zahlen des Ministeriums, die uns vorliegen, belegen klar - über Zahlen kann man immer
streiten -, dass die Abgeltungsteuer in allen Jahren seit
2008 zu Mehreinnahmen gegenüber der alten Regelung
geführt hat, und zwar in Höhe von circa 5 Milliarden
Euro.
({3})
Sie haben die Kassenlage angesprochen. Ihre Argumentationslinie ist fehlerhaft. Sie ziehen die falschen
Schlüsse. Es ist richtig, dass es kassenmäßig einen Rückgang beim Steueraufkommen gab. Das liegt aber nicht
an der Abgeltungsteuer,
({4})
das liegt auch nicht an der Wirtschaftskrise, sondern das
liegt daran, dass wir seit Jahren eine Niedrigzinsphase
haben. Es ist völlig logisch, dass ich, wenn ich niedrigere Zinsen bekomme und niedrigere Kapitalerträge
habe, auch eine geringere Kapitalertragsteuer bzw. Abgeltungsteuer zahle.
({5})
Was wäre die Alternative? Dazu haben wir in Ihrem
Antrag nichts gefunden. Die Alternative wäre die
Wiederherstellung der alten Rechtslage. Mit keinem
Wort sagen Sie, wie die Besteuerung von Kapitalerträgen sichergestellt werden soll. Wir würden, wenn wir
uns von der Abgeltungsteuer verabschiedeten, ein Stück
Steuervollzugsgerechtigkeit abgeben. Deswegen ist die
Rückkehr zur alten Rechtslage für uns derzeit nicht darstellbar.
Lassen Sie uns doch lieber gemeinsam an dem mühsamen Projekt der Bekämpfung grenzüberschreitender
Steuerhinterziehung arbeiten. Lassen Sie uns gemeinsam
diese Lücke bei der Steuergerechtigkeit schließen. Die
OECD sieht vor, dass 2017/2018 zum ersten Mal ein automatischer Datenaustausch stattfindet. Wir werden das
in diesem Parlament und vonseiten der Bundesregierung
mit der entsprechenden nationalen Rechtssetzung begleiten. Das heißt, wir sind auf einem guten Weg. In absehbarer Zukunft werden wir mit der wirksamen Umsetzung
des grenzüberschreitenden Informationsaustausches völlig neue Handlungsoptionen haben, um zu einer gerechten Besteuerung von Kapitalerträgen zu kommen.
Bis dahin - das will ich unterstreichen - werden wir
Ihren Antrag ablehnen. Danach können wir gerne gemeinsam über eine entsprechende Lösung sprechen.
({6})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Lisa Paus, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sprechen hier über eine Steuer, die wahrscheinlich höchstens
10 Prozent der Bundesbürger wirklich kennen bzw.
nachvollziehen können. Das ist das Geheimnis ihres Erfolges. Wüssten nämlich 90 Prozent der Menschen in
diesem Land, worum es bei der Abgeltungsteuer eigentlich geht, dann hätten wir eine Welle der Entrüstung.
({0})
Warren Buffett, der bekannte US-Milliardär, einer der
reichsten Menschen in den USA, brachte es 2011 auf den
Punkt: Es ist schlichtweg ungerecht, dass ich als Milliardär weniger Steuern zahle als meine Sekretärin. - Das
haben vielleicht einige in Deutschland mitbekommen, es
aber als typisch Amerika abgetan und gedacht, dass so
etwas nur in den USA möglich ist. Aber Tatsache ist:
Das, was Warren Buffett im Jahr 2011 gesagt hat, ist seit
2009 auch in Deutschland Gesetzeslage und eine Konsequenz der ersten Merkel-GroKo. Die Abgeltungsteuer
gehört deswegen dringend wieder abgeschafft. Das, was
Warren Buffett gesagt hat, ist wahr. Es ist eine himmelschreiende Ungerechtigkeit.
({1})
- Du kannst ja gleich reden, Herr Binding.
({2})
Seit 2009 ist es so, dass Kapitaleinkommen in
Deutschland niedriger besteuert wird als Arbeitseinkommen. Das heißt zum Beispiel auch, dass es, wenn man
den Spitzensteuersatz in Deutschland erhöhen würde,
gar nicht die Reichen in Deutschland treffen würde, weil
Kapitaleinkommen nicht mehr dem Einkommensteuersatz in Deutschland unterliegt. Deswegen sage ich für
uns Grüne ganz klar: Es gibt eine Steuer in Deutschland,
die wir abschaffen wollen und die dringend abgeschafft
gehört, und das ist die Abgeltungsteuer.
({3})
Sie ist ungerecht, und sie ist im Übrigen auch ein bürokratisches Monster. Sprechen Sie einmal mit den Steuerberaterinnen und Steuerberatern in diesem Land. Sie
alle finden sie ganz furchtbar.
({4})
Ein weiterer Grund dafür, dass sie abgeschafft gehört,
ist: Kapitaleinkommen und Arbeitseinkommen müssen
im Rahmen der Einkommensteuer je nach Leistungsfähigkeit gleichmäßig besteuert werden.
Jetzt sagt auch Finanzminister Schäuble: Ehrlich gesagt, auch ich finde, die ist Murks, aber wir können sie
erst 2020 abschaffen - Herr Gutting, so haben auch Sie
argumentiert -, weil es erst dann den automatischen
Informationsaustausch gibt. Bis dahin gelte das
Steinbrück’sche Wort: 25 Prozent von x ist besser als
100 Prozent von nix.
Aber der Spruch von Steinbrück war schon 2009
falsch und ist es heute noch mehr. Er war ausweislich
Ihres eigenen Gesetzes schon 2009 falsch. Der Spruch
besagt, dass man davon ausgeht, dass die Abgeltungsteuer zwar nicht schön ist, man hinterher aber mehr
Geld einnimmt und es mehr Steuerehrlichkeit gibt. Aber
ausweislich Ihres eigenen Gesetzes haben Sie schon
2009 mit Steuermindereinnahmen gerechnet, also mit
weniger Geld und nicht mit mehr Geld. Das hat auch
nichts mit den Zinsen zu tun. Das stand in Ihrem Gesetz.
Dort stand übrigens auch, dass die Abgeltungsteuer
mehr Bürokratie erzeugt und nicht weniger. Auch das
Gegenteil davon haben Sie behauptet.
Die Abgeltungsteuer ist heute tatsächlich noch falscher, weil sich das Entdeckungsrisiko der Steuerhinterziehung wesentlich erhöht hat gegenüber 2009 und im
Übrigen auch gegenüber 1991, als das Bundesverfassungsgericht in einem Nebensatz gesagt hat, dass man
eventuell so etwas wie eine Abgeltungsteuer einführen
könne. Selbst der Focus schreibt inzwischen, dass es das
Bankgeheimnis in Deutschland faktisch nicht mehr gibt,
weil es entsprechende Änderungen gegeben hat.
({5})
Es gibt zwar noch nicht mit allen wichtigen Ländern den
automatischen Informationsaustausch, aber es gibt den
Informationsaustausch auf Anfrage. Es gibt CD-Ankäufe. Auch die Schweiz hat dank unserer Verhinderung
des deutsch-schweizerischen Steuerabkommens ihre
Politik geändert.
Der Informationsaustausch wirft schon heute seine
Schatten voraus bzw. zurück. Sie wie ich wissen, dass
bei der Steuererklärung eine zehnjährige Verjährungsfrist gilt. Das heißt, wenn ich 2020 eine falsche Steuererklärung abgebe, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass ich
auch 2019, 2018, 2017, 2016, 2015, 2014, 2013 und
2012 falsche Angaben gemacht habe. Deswegen ist es
sehr wohl auch heute relevant. Die Betreffenden fangen
jetzt an, darüber nachzudenken. Deswegen kann man
heute die Abgeltungsteuer abschaffen. Ich sage: Man
muss sie sogar abschaffen. Ich bin der Auffassung, dass
man sehr gut begründen kann, warum die Abgeltungsteuer bereits heute verfassungswidrig ist.
({6})
Deshalb sage ich: Denken Sie noch einmal darüber
nach. Herr Steinbrück selber hat ja schon gesagt, dass sie
ein Fehler war. Deswegen bitte ich Sie noch einmal:
Nutzen Sie die Beratungen. Bringen Sie selber Änderungen ein, damit wir die Abgeltungsteuer in dieser Legislaturperiode, möglichst noch im kommenden Jahr, tatsächlich endlich abschaffen. Eine Diskussion darüber hat
es ja schon in der Koalition gegeben. Also, geben Sie
sich einen Ruck, und machen Sie es auch praktisch über
ein neues Gesetz.
({7})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Dr. Carsten Sieling, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte
über die Abgeltungsteuer ist so lang, wie es diese Steuer
gibt. Es ist ja nicht das erste Mal, dass wir hierüber
aufgrund eines Antrages diskutieren. Ich glaube, diese
Debatte wird geführt werden, solange es diese Abgeltungsteuer gibt.
Aber wenn sie hier berechtigt kritisiert wird, dann
muss man auch daran erinnern, dass diese Steuer innerhalb des Steuersystems eigentlich ein Fremdkörper ist,
dass es eine Notoperation war, als sie eingeführt wurde.
Es war eine Notoperation, weil man versuchen wollte
- ob das gelungen ist, ist sehr in der Diskussion -, Kapitalflucht zu begrenzen und durch Anreizsysteme zu
verhindern. Nichtsdestotrotz sagen viele - das gilt
weiterhin -, dass dort Elemente enthalten sind, die nicht
passen. Ich will einmal den Vorsitzenden der Deutschen
Steuer-Gewerkschaft, Herrn Eigenthaler, zitieren - das
ist unbestritten ein Fachmann, der uns häufiger im Finanzausschuss bei diesen Fragen begleitet -, der sagt:
Arbeit darf nicht höher besteuert werden als das
Einkommen derjenigen, die nur auf dem Sofa liegen und ihre Kontoauszüge durchblättern.
Das ist nicht falsch. Das ist völlig richtig.
Wir müssen jedoch sagen, dass wir an dieser Stelle
noch nicht so weit sind. Von daher haben wir wirklich einen Auftrag. Diesen Auftrag sieht auch der Bundesfinanzminister. Ich will das ausdrücklich sagen; denn
diese Koalition muss die entsprechende Sensibilität an
den Tag legen. Ich habe die Ausführungen von Bundesfinanzminister Schäuble in der Haushaltsdebatte am
8. April gerne zur Kenntnis genommen:
Natürlich kann man darüber diskutieren, ob die
Abgeltungswirkung der Kapitalertragsteuer steuerlicher Gerechtigkeit vollständig entspricht; das ist
wahr.
Das ist eine richtige und wichtige Aussage; darauf muss
man aufbauen.
Der Bundesfinanzminister hat ja bereits an unterschiedlichen Stellen darauf hingewiesen, dass das Ganze
nicht so richtig ins System passt. Um zu zeigen, dass das
eine Koalitionsmeinung ist, könnte ich jetzt auch den
Vizekanzler Sigmar Gabriel zitieren, der im Mai deutlich
gemacht hat, dass es natürlich nicht gerecht ist, wenn Arbeit viel stärker besteuert wird als Kapital.
Es gibt also einen breiten Konsens. Nun haben wir
eine neue Lage. Die Notsituation, die 2008 noch bestanden hat und 2009 zu dieser Änderung geführt hat, ist auf
dem Weg, durch den bereits angesprochenen automatischen Informationsabgleich überwunden zu werden. An
dieser Stelle will ich gerne sagen, dass ich froh und
dankbar bin, dass wir jetzt diesen Weg gehen. Das hat
aber auch damit zu tun, dass wir in der letzten Legislaturperiode den fehlerhaften Weg des deutsch-schweizerischen Steuerabkommens nicht gegangen sind, sondern
dass wir eine solche Vereinbarung verhindert haben.
Jetzt ist da Vernunft eingezogen. Ich höre, dass es hierzu
noch in diesem Monat eine größere Konferenz geben
wird, wo dies deutlich wird.
Ich glaube, wir sind auf einem guten Weg. Von daher
sollten wir im Finanzausschuss die Möglichkeit nutzen,
über dieses Thema zu reden. Bevor wir dies tun, will ich
aber einige Dinge klarstellen, die hier durcheinandergeraten sind. Wenn man über Alternativen und darüber
redet, das Ganze in die sogenannte synthetische Einkommensbesteuerung zurückzuholen, dann muss man zwischen Zinseinkünften, Dividenden und Veräußerungsgewinnen unterscheiden. Hier scheint mir das Ganze noch
etwas zu oberflächlich zu sein. Ich weise darauf hin, dass
bei der Besteuerung der Zinserträge - das gilt übrigens
bei allen drei Positionen - die Anrechnung von Werbungskosten nur im Rahmen des Sparerpauschbetrags
möglich ist. Ein Abzug aller Kosten von den Gewinnen
ist also nicht mehr möglich. So gesehen ist in die Abgeltungsteuer eine Systematik eingebaut worden, die Steuervermeidung minimiert. Damit wird man umgehen
müssen.
Der Kollege Ernst hat die Einbrüche bei den Einnahmen, mit denen wir es zu tun haben, angesprochen.
Natürlich sind die Vermögen gewachsen - gar keine
Frage -, aber der Zinssatz ist derart eingebrochen, dass
der Ertrag aus den Vermögen nicht mehr so hoch ist.
Deshalb ist das Volumen der Abgeltungsteuer für Zinserträge zurückgegangen. Das ist ein Fakt. Das ist also ein
Thema, mit dem man sich extra befassen muss, wenn
man sich über die Wirkung noch einmal Gedanken
macht.
Das zweite Thema sind die Dividendeneinkünfte.
Auch hier gilt, dass nicht mehr alle Werbungskosten abzugsfähig sind. Hinzu kommt, dass das Halbeinkünfteverfahren keine Anwendung mehr findet. Man kann also
nicht einfach sagen, dass die Einkünfte aus Dividenden
niedriger besteuert werden. Vielmehr gibt es hier im Vergleich zur zuvor geschilderten Situation eine andere Entwicklung, weshalb wir uns damit auseinandersetzen
müssen, dass man, wenn man zum vorherigen System
zurückkehrt, das Halbeinkünfteverfahren nicht wieder
aktivieren kann.
Auch bei den Veräußerungsgewinnen ist es so - dies
gilt jedenfalls für die zukünftigen; bei denen aus der Vergangenheit sieht es anders aus -, dass die Spekulationsfrist weggefallen und damit eine stärkere Besteuerung
möglich ist. Ich will mit diesen drei Punkten auf Folgendes hinweisen: Dieses Thema ist nicht sehr einfach. Von
daher sollten wir an dieser Stelle die Chance nutzen, das
Thema solide und systematisch anzugehen. Auch ich
wünsche mir, dass wir nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag warten. Wenn der automatisierte Informationsaustausch kommt, dann wollen wir das Thema angehen.
Dann muss man wirklich so weit sein, dass man 2017
- meines Erachtens könnte man das bis 2017 schaffen diese steuerliche Ungleichgewichtung, diese Unwucht
verändern kann. Wenn man das erreichen will, muss man
früh damit anfangen. Deshalb ist es gut, dass wir hier
eine Beratungsmöglichkeit haben.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Philipp Graf von und zu Lerchenfeld, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Hohes Haus! Lieber Kollege Ernst,
ich bin immer wieder begeistert davon, wie Sie vor Tatsachen einfach die Augen verschließen können. Es ist ja
nicht so - der Kollege Sieling hat es gerade sehr deutlich
erklärt -, dass die Vermögen heute noch genauso hoch
verzinst werden, wie das früher der Fall war. Nein, die
Zinsen sind dramatisch gesunken. Infolgedessen ist natürlich auch das Aufkommen aus dieser Steuer zurückgegangen.
Liebe Kollegin Paus, wenn Sie erklären, dass Sie mit
Steuerberatern sprechen, dann sage ich Ihnen: Hier sitzen, soweit ich sehe, vier, mit denen Sie gut sprechen
könnten. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie das täten.
Kommen Sie doch einfach einmal auf uns zu. Dann können wir die Dinge fachlich und in Ruhe sehr gut besprechen.
Ihr Antrag, liebe Kollegen von den Linken,
({0})
ist im Grunde genommen von der Steuersystematik her
durchaus hervorragend. Letztendlich ist die pauschale
Abgeltungsteuer ein Systembruch in unserem wirklich
sehr komplizierten Einkommensteuerrecht. Wenn man
jetzt aber steuersystematisch diskutiert, dann sind vielleicht auch andere Fragen erlaubt: Ist es denn steuersystematisch zweifelsfrei, Kapitaleinkünfte überhaupt zu
besteuern und, wenn ja, in welcher Höhe? Das Kapital,
das die Grundlage dieser Einkünfte darstellt, stammt
letztlich aus Einkünften, die schon einmal versteuert
worden sind. Derjenige, der durch einen entsprechenden
Konsumverzicht Kapital angehäuft oder angesammelt
hat,
({1})
wird durch diese Mehrfachbelastung eventuell steuerlich
schlechter gestellt als derjenige, der sein ganzes Einkommen konsumiert und keine Rücklagen bildet.
Ich fordere jetzt nicht die Abschaffung der Besteuerung von Kapitaleinkünften. Das wäre sicherlich falsch.
({2})
Aber man muss in der Steuersystematik auch solche Fragen angehen. Außerdem glaube ich, dass wir im Moment
auf die Einnahmen aus dieser Steuer gar nicht verzichten
können.
({3})
Ich will auch nicht so weit gehen wie viele ernstzunehmende Wissenschaftler, die genau diese vollständige
Abschaffung der Besteuerung von Kapitaleinkünften
fordern, mit einer Begründung, die durchaus nachvollziehbar ist. Sie argumentieren, dass durch diese Besteuerung die Kapitalkosten insgesamt in die Höhe getrieben
werden; denn wenn die Zinserträge versteuert werden
müssen, dann müssen die Erträge aus einer Kapitalanlage den Sparer nicht nur für den Konsumverzicht entPhilipp Graf Lerchenfeld
schädigen, sondern auch die Bezahlung dieser Steuer ermöglichen, also steigen die Kapitalkosten.
Der Ökonom Manfred Rose hat dazu in seinem Aufsatz „Reform der öffentlichen Finanzen zur Stärkung der
Standortqualität“ ausgeführt, dass das Sparen für die Zukunft gegenüber dem Konsum in der Gegenwart diskriminiert wird. Das gilt heute natürlich umso mehr, weil
die niedrigen Zinsen, die man zurzeit erzielen kann, in
Bezug auf das Anlagekapital der Sparer unter Berücksichtigung der Inflationsrate real zu einem tatsächlichen
Werteverzehr führt.
({4})
Es gibt den Wunsch nach einer Zwischenfrage des
Kollegen Ernst. Mögen Sie diese zulassen?
Mit Freude.
Mit Freude. - Herr Kollege Ernst, bitte schön.
Herr Graf Lerchenfeld, ich habe aufmerksam Ihren
Ausführungen gelauscht. Sie haben gesagt, die Zinsen
seien gesunken. Können Sie mir dann erklären, warum
allenthalben, in jeder Statistik, nachzulesen ist, dass
trotzdem die Geldvermögen insbesondere der ganz besonders reichen Menschen in unserem Lande massiv zugenommen haben? Offensichtlich haben sie sich den
Zinsen, die Sie angesprochen haben, entziehen können.
Sonst wäre das Vermögen schließlich nicht in dieser
Weise gewachsen.
Zweitens. Ihren Ausführungen entnehme ich auch,
dass Sie es prinzipiell für richtig halten, dass Kapital geringer besteuert wird, und es sich nicht um eine Notsituation handelt, in der dies gemacht wurde, sondern dass
es eine prinzipielle Frage ist, ob versteuertes Einkommen noch einmal zu versteuern ist.
Wollen Sie mir zustimmen, dass es dann auch eine
Lösung wäre, Schwarzarbeit, die in diesem Lande wirklich keiner will, dadurch zu verringern, dass man sagt:
Schwarzarbeiter zahlen nur den halben Steuersatz und
den halben Satz ihrer Sozialversicherungsbeiträge. - Das
wäre dann auch ein Anreiz für sie, sich nicht mehr der
Steuerzahlung zu entziehen, sondern sich geradezu freudig an den Fiskus zu wenden und zu sagen: Ich bin
Schwarzarbeiter und möchte jetzt nur den halben Steuersatz zahlen. - Das wäre doch genau dasselbe wie bei denen, die Kapitaleinkünfte haben und sie nicht ordentlich
versteuern.
Wenn wir aber ein Gesetz haben, nach dem Kapitaleinkünfte zu besteuern sind, wäre es dann nicht sinnvoller, noch stärker die Voraussetzungen dafür zu schaffen
- wie es manche Vorredner schon gesagt haben -, dass
wir an die entsprechenden Daten herankommen - was
teilweise inzwischen schon der Fall ist; viele zeigen sich
selber an, weil sie Angst haben, erwischt zu werden -,
um zu einer vernünftigen und gerechten Besteuerung aller zu kommen statt vor allem zur Besteuerung des Arbeitnehmers, der seine Steuer gleich vom Lohn abgezogen bekommt? Er sieht das Geld erst gar nicht, im
Gegensatz zu dem, der seine Kapitaleinkünfte selber
versteuert.
Lieber Kollege Ernst, dass die Vermögen angestiegen
sind, liegt sicherlich nicht daran, dass die Zinsen gesunken sind - das können sogar Sie in jeder Zeitung lesen -,
sondern es liegt teilweise daran, dass andere Einkünfte
erzielt worden sind. Dem müsste man vielleicht statistisch noch einmal nachgehen.
Außerdem denke ich, Sie haben mich nicht ganz verstanden. Ich habe nicht gesagt, dass ich die Kapitalertragsteuer abschaffen will, sondern ich habe nur gesagt:
Ich will die Sache systematisch zu Ende denken. Ich bin
davon überzeugt, dass die Kapitalertragsteuer richtig ist.
Ich bin auch dafür, dass sie gerecht ausgestaltet werden
muss. Wenn wir die Abgeltungsteuer mit einem systematischen Fragezeichen hinterlegen, führt das natürlich
auch dazu, dass man andere Fragen stellen muss.
Was die Schwarzarbeit angeht, fehlt mir ein bisschen
das Verständnis. Denn letztendlich ist das angesparte
Vermögen - das habe ich ausgeführt - schon einmal aus
versteuertem Einkommen bzw. aus Konsumverzicht erzielt worden,
({0})
sodass jetzt bei den Zinsen eine Mehrfachbesteuerung
erfolgt. Schwarzarbeit wird, glaube ich, nicht mehrfach
besteuert.
({1})
- Der Anreiz spielt in diesem Fall keine Rolle, sondern
es geht darum, dass man sich grundsätzlich überlegt, ob
man angespartes Kapital tatsächlich noch einmal und damit mehrfach besteuern soll.
Es gibt noch den Wunsch der Kollegin Paus nach einer Zwischenfrage bzw. Zwischenbemerkung.
Gerne.
Bitte schön, Frau Kollegin.
Ich bin ja froh, wenn die Kollegin uns Steuerberater
jetzt befragt.
Es muss nicht alles öffentlich stattfinden, aber das
können wir jetzt machen.
({0})
Genau. Das ist eigentlich nicht erlaubt, Herr Graf
Lerchenfeld. Sie können aber sichergehen, dass ich mit
zahlreichen Steuerberatern neben meinem eigenen in engem Kontakt stehe. Sie wissen auch, dass ich ein gutes
Verhältnis zu Ihren Kolleginnen und Kollegen in der
Fraktion pflege. Wir haben aber auch genug andere
Dinge zu tun, sodass wir nicht immer völlig überblicken,
was in der Praxis abgeht. Wenn Sie ein bisschen ehrlich
zu sich selber sind, dann würden Sie das auch bestätigen.
Ich habe mich zu Wort gemeldet, weil Sie das neue
Ungerechtigkeitsproblem angesprochen haben, dass die
Ersparnisse sozusagen gegenüber dem Konsum benachteiligt seien. Das stimmt nicht. Wir müssen beides ganz
normal der Einkommensteuer unterwerfen. Dann würde
sich die Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit richten. Das ist das Einzige, was ich möchte: die gerechte
und gleiche Besteuerung von Kapital und Arbeit.
Aber selbst wenn ich Ihren Gedanken verfolge, dass
man das Kapital zusätzlich privilegieren müsste, muss
ich Sie fragen: Ist das das aktuelle Problem in Deutschland? Wenn Sie recht hätten und daraus Verhalten folgen
würde, dann hätten wir zu viel Konsum in Deutschland.
Wenn man sich die Wirtschaftszahlen in Deutschland anschaut, dann stellt man fest, dass das nicht unser Problem ist. Im Gegenteil: Wir haben eine massive Investitionsschwäche. Sie lesen offenbar ebenfalls Zeitung
- darauf haben Sie mehrfach hingewiesen - und haben
sicherlich festgestellt, dass wir Einbrüche zu verzeichnen haben und dass es ganze Sektoren in Deutschland
gibt, die nicht mehr investieren, weil sie die Märkte nicht
sehen, auf denen sie ihre Produkte verkaufen können.
Glauben Sie wirklich, dass das Problem in Deutschland
ein zu hoher Konsum ist?
Das Problem in Deutschland ist sicherlich nicht ein zu
hoher Konsum. Im Gegenteil: Man hat gerade in den
letzten Jahren deutlich gemerkt, dass sehr viele Leute
aufgrund der zurückgehenden Zinsen investiert haben,
zum Beispiel in ihre Häuser. So wurden neue Fenster
eingebaut und die Wärmedämmung verbessert. Das ist
ein ganz vernünftiges ökonomisches Verhalten. Auf
diese Art und Weise hat die Binnenkonjunktur unseren
Wirtschaftsaufschwung von innen her einigermaßen gestützt. Ich habe nur gesagt: Wenn wir systematisch denken, dann müssen wir bis zum Ende denken.
Ich bin nicht der Meinung - das habe ich mehrfach
betont -, dass die Abgeltungsteuer unbedingt beibehalten werden muss. Natürlich müssen Kapitalerträge besteuert werden; das ist gar keine Frage. Aber wir müssen
bedenken: Durch die Abgeltungsteuer ist eine Vielzahl
von Sparern in die Steuerehrlichkeit zurückgeführt worden. Wie viele Leute haben gar nicht gewusst, dass sie
ihre Kapitaleinkünfte tatsächlich versteuern müssen?
Wie viele kleine Sparer haben gedacht, dass sie das nicht
tun müssen? Durch die Abgeltungsteuer ist gerade unter
dem Gesichtspunkt der Steuerhinterziehung mehr Steuerehrlichkeit erreicht worden.
({0})
- Richtig, es gab viele, die gar nicht gewusst haben, dass
sie Steuern zahlen müssen.
({1})
- Uli Hoeneß hat es sicherlich gewusst und hat den falschen Weg gewählt.
({2})
- Er hat keinen Steuerberater genommen, sondern er hat
sich einen ausgeschiedenen Finanzbeamten geholt, der
ihn beraten hat.
({3})
Ich glaube, dass wir auf diese einfache Form der Steuerzahlung schon allein deshalb nicht verzichten können,
weil es - das haben meine Vorredner schon deutlich ausgeführt - kein umfassendes Informationsaustauschsystem gibt, das uns tatsächlich in die Lage versetzt, alle
Kapitaleinkünfte zu erfassen und entsprechend zu besteuern. Die Abgeltungsteuer stellt sicherlich eine Vereinfachung im bürokratischen Bereich dar. Aber wir
müssen uns in den nächsten Jahren mit der Abgeltungssteuer intensiv befassen; denn wenn das Informationsaustauschsystem deutlich verbessert wird - das wird es
ganz bestimmt -, dann wird es uns in die Lage versetzen,
hier eine entsprechende Besteuerung durchzuführen. Die
Bundesregierung bemüht sich seit geraumer Zeit, hierfür
die Voraussetzungen zu schaffen. In Australien wurde
beim Gipfel der Finanzminister der G 20 ein großer
Schritt nach vorne gemacht. Für diese Bemühungen gilt
unser Dank dem Bundesfinanzminister und allen Mitarbeitern seines Hauses.
Wenn die Voraussetzungen tatsächlich geschaffen
sind, müssen wir darüber nachdenken - ich bin dem Kollegen Sieling sehr dankbar, dass er die Kompliziertheit
der Materie deutlich gemacht hat -, wie wir in Zukunft
die Kapitaleinkünfte gerecht besteuern. Ich glaube, dass
wir hier noch einen weiten Weg vor uns haben. Wir werden uns damit in den nächsten Jahren intensiv befassen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({4})
Als letztem Redner in der Aussprache erteile ich das
Wort dem Abgeordneten Lothar Binding, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir über die
Abgeltungsteuer sprechen, meinen wir drei verschiedene
Steuerkategorien: erstens die Steuern auf Zinseinkünfte,
zweitens die Steuern auf Dividenden aus Aktien und
drittens die Steuern auf Veräußerungsgewinne. Jetzt
frage ich einmal die Zuschauer auf der Tribüne, ob sie
eher Aktienpakete oder Sparbücher haben.
({0})
Wenn Sie ein Sparbuch haben und Zinseinkünfte erzielen, dann bedeutet der Vorschlag der Linken, dass Ihre
Steuerlast steigt. Wenn Sie aber Aktienpakete besitzen
und Dividenden bekommen, dann geht es Ihnen künftig
besser. Allen, die dicke Aktienpakete haben und hohe
Dividenden erzielen, geht es künftig besser. Das wollen
die Linken.
Man muss Folgendes auseinanderhalten: Wenn Sie
die Dividendenbesteuerung abschaffen, vergessen Sie
die Vorbelastung im Unternehmen. Dieses Vergessen
rächt sich bei der Gesetzgebung natürlich.
Gleichwohl wollen auch wir über die Abgeltungsteuer nachdenken. Das ist auch vernünftig, denn das
Bankgeheimnis erodiert. Es ist noch nicht abgeschafft.
Sie schreiben:
Die … Aufdeckungen von Steuerhinterziehungen
durch den Ankauf von Steuer-CDs haben eindrücklich den Zerfall des … Bankgeheimnisses aufgezeigt.
Nein! Wenn jemand ein Geheimnis verrät, heißt das
doch nicht, dass der Betroffene dann keine Geheimnisse
mehr hat. Der wird sich darum kümmern, dass er sie
umso besser geheim hält.
({1})
- Nein, Vorsicht! Da muss man schon auf eine gewisse
Systematik achten. Die Reaktionen auf die CDs sind
angstgetriebene Bekenntnisse der Steuerzahler. Daraus
kann man nicht die Erkenntnis ziehen, dass das Bankgeheimnis fallen soll.
Das Bankgeheimnis erodiert. Sie schreiben, dass der
automatische Informationsaustausch geplant ist. Ich
kann aber doch nicht auf etwas, was geplant ist, jetzt
schon gesetzgeberisch reagieren.
({2})
Erst wenn der automatische Informationsaustausch implementiert ist, ist es in erhöhtem Maße klug, über die
Abgeltungsteuer nachzudenken. Dann werden wir das
auch machen.
Es gibt etwas Systematisches. Deshalb gefällt uns der
Antrag in gewisser Weise doch.
({3})
- Tja! - Die Abgeltungsteuer ist eine Schedule. Wir nennen das „Schublade“. Immer wenn es im Steuersystem
verschiedene Schubladen - A, B und C - gibt, sucht sich
jeder Steuerbürger die Schublade aus, bei der er die
meisten Steuern spart. Da legt er den meisten Gewinn
und das höchste Einkommen - alles, was er so hat - hinein. Aber da, wo hoch besteuert wird, hat er plötzlich
keine Einkünfte mehr. Deshalb ist eine Schedulen-Besteuerung immer schlecht. Sie gehört abgeschafft. Was
ist das Gegenteil? Synthetische Steuern! Das bedeutet,
dass alles, was jemand bekommt, einheitlich besteuert
wird. - Wenn es doch nur so einfach wäre! Leider ist es
nicht so einfach. Das wissen Sie in Wahrheit ganz genau.
Deshalb muss man einmal schauen, was damals nach
Einführung der Abgeltungsteuer passiert ist. Das müssten Sie dann entweder rückgängig machen, ergänzen
oder anpassen. Wir haben zum Beispiel die Spekulationsfrist für private Veräußerungsgewinne abgeschafft.
Das heißt, dass jemand, der künftig einen Veräußerungsgewinn erzielt, besteuert wird. Sie sagen jetzt: Die Vermögen sind gestiegen, die Steuern aber nicht. Warum
nicht? Das Vermögen wird nur dann, bezogen auf den
Veräußerungsgewinn, versteuert, wenn es verkauft wird.
Solange es jemand nur in Besitz hat, wird es nicht besteuert.
Deshalb hatten wir eine ganz andere Idee: Vermögensteuer. Darüber reden wir heute aber nicht.
({4})
Insofern ist es klar, dass verschiedene Dinge in den Blick
genommen werden müssen. Zum Beispiel gab es früher
diskontierte Rentenpapiere ohne Zinsertrag. Auch das
wurde im Zuge der Abgeltungsteuer abgeschafft. Mit der
Zinsrichtlinie war es noch komplizierter. Wir hatten ausländische Konstruktionen, die zinsfrei waren. Auch
diese Möglichkeiten - das waren Schlupflöcher - haben
wir abgeschafft. Darüber müsste man ebenfalls nachdenken.
({5})
Zur Abgeltungsteuer, bezogen auf die Spekulationsfrist,
habe ich schon etwas gesagt.
Jetzt sagen Sie in Ihrem Antrag - darauf ist schon
mehrfach Bezug genommen worden -, dass das Aufkommen aus der pauschalen Besteuerung von Dividenden, Zinsen und Veräußerungsgewinnen gesunken sei.
Dies habe mit der Krise aber nichts zu tun. Sie sagen,
dass das Aufkommen 2013 etwa 14 Prozent niedriger als
2008 gewesen sei. Sagen Sie ganz ehrlich: Wollen Sie
die Krise wirklich außen vor lassen?
({6})
Lothar Binding ({7})
- Finden Sie nicht, dass die Zinsen - und deshalb natürlich auch die Steuereinnahmen - exorbitant gesunken
sind?
Nehmen Sie die Staatsanleihen. Sie waren früher mit
über 5 Prozent rentierlich. Heute sind sie es nur noch mit
unter 3 Prozent. Glauben Sie nicht, dass sich dies bei der
Menge an Staatsanleihen, die wir - in der Dimension
von etwa 2 Billionen Euro; diese Summe kann man bei
dieser Betrachtung aber nicht komplett nehmen - ausgegeben haben, auf die Einnahmen auswirkt? Ich finde,
wenn Sie das so halbherzig betrachten, haben Sie mit allem Recht. Denn Sie wissen ja: Eine Implikation ist so
lange ohne Wert, wie über den Wahrheitsgehalt der Prämisse nichts gesagt werden kann. Darüber aber können
Sie nichts sagen, weil sie falsch ist.
({8})
Herr Kollege Binding, Frau Kollegin Paus würde Ihnen gerne noch etwas Redezeit, die eigentlich schon zu
Ende ist, verschaffen. Wollen Sie das zulassen?
Ja.
Herr Binding, Sie haben jetzt ein wenig den Eindruck
erweckt, als ob es doch eigentlich irgendwie Mehreinnahmen gäbe, dass dies aber jetzt wegen der niedrigen
Zinsen so nicht stattgefunden habe. Ich möchte Sie fragen: Können Sie nicht doch das bestätigen, was ich gesagt habe, dass 2009, als das Gesetz verabschiedet
wurde, im Finanzplan dieses Gesetzes stand, dass genau
diese Maßnahme - nämlich die Einführung der Abgeltungsteuer - zu Steuermindereinnahmen in Höhe von
jährlich zwischen 1 und 1,5 Milliarden Euro führen
wird? Genau das stand im Finanztableau. Das war die
Konsequenz daraus, dass sie sich auf inländische Kapitalerträge bezieht. Der Steuersatz wurde gegenüber dem
ursprünglichen gesenkt. Deswegen gab es Mindereinnahmen. Alle Hoffnungen, dass durch Zustrom von außen mehr Einnahmen erzielt würden, wurden nicht bestätigt. Die hat es nicht gegeben.
Noch einmal die Frage: Bestätigen Sie, dass es durch
die Einführung der Abgeltungsteuer Steuermindereinnahmen gab und keine Steuermehreinnahmen?
Wir haben die Finanztableaus, die zu antizipieren versuchen, ob sich eine steuerliche Maßnahme positiv oder
negativ auswirkt. Es ist allerdings so, dass wir das im
Regelfall später nie nachvollziehen können. In diesem
Fall war es eine kluge und vorsichtige Schätzung;
({0})
denn man konnte überhaupt nicht wissen, wie die Banken im Ausland darauf reagieren, ihr Bankgeheimnis an
dieser Stelle zu durchbrechen. Deshalb müssten weitere
Maßnahmen ergriffen werden.
Dass es nicht mehr Einnahmen gegeben hat, ist für
bestimmte Steuerarten richtig.
({1})
Aber wenn Sie ein System ändern, ist es doch klug, bei
Aussagen über die Einnahmeseite vorsichtig zu sein.
Hätte damals im Tableau gestanden, es würden 5 Milliarden Euro mehr eingenommen, dann hätten Sie das
heute auch nicht verifizieren können. Interessant ist, dass
Sie die Auswirkung einer einzelnen steuerlichen Maßnahme nie im Nachhinein im Steuerblock verifizieren
können. Das gab es unter Rot-Grün nicht, das gab es in
der Großen Koalition nicht, das gab es unter SchwarzGelb nicht, und das gibt es auch heute nicht. Deshalb haben Sie recht und unrecht zugleich.
({2})
Das ist eine vernünftige Frage, auf die weder Sie noch
wir noch das Ministerium eine Antwort haben. Die
Frage ist eher etwas demagogisch, nach dem Motto:
Schaut einmal, der Redner weiß es nicht. - Die Antwort
ist: Der Redner weiß es nicht, aber auch keiner sonst hier
im Raum. So viel Ehrlichkeit gehört dazu. Ich denke, damit können wir umgehen.
({3})
Ich will noch eine letzte Frage stellen, weil das in dem
Antrag völlig verloren geht. Was stellen Sie sich eigentlich vor, was geschieht, wenn ein Franzose, um ein Beispiel zu nennen, in Deutschland investiert, er Aktien
kauft und die Dividende nach Frankreich ausgeschüttet
wird? Muss er die in Frankreich versteuern? Was würden
Sie mit der Vorbelastung in Deutschland machen? Würden Sie diesem Franzosen eine Steuerlast von über
60 Prozent zumuten? Das hätte zum Ergebnis, dass er
nichts mehr in Deutschland investiert. Wäre das Ihre
Konsequenz? Es wäre klug, sich noch einmal mit dem
Außensteuerrecht und mit dem internationalen Steuerrecht zu grenzüberschreitenden Geschäften ein bisschen
genauer zu befassen, um solche negativen Wirkungen zu
vermeiden.
Deshalb ist unsere Antwort: Wir glauben, dass wir in
absehbarer Zeit über die Abgeltungsteuer nachdenken
müssen, aber das geht nicht so liederlich, wie Sie es jetzt
gemacht haben.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/2014 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Vizepräsident Peter Hintze
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 sowie den Zusatzpunkt 4 auf:
13 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes und
des Sozialgerichtsgesetzes
Drucksache 18/2592
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsauschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
ZP 4 Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Luise Amtsberg,
Kerstin Andreae, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Asylbewerberleistungsgesetzes
Drucksache 18/2736
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Für die Bundesregierung
hat die Parlamentarische Staatssekretärin Gabriele
Lösekrug-Möller das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf kommen wir endlich dem Auftrag des Bundesverfassungsgerichts, das uns diese Neufassung des
Asylbewerberleistungsgesetzes aufgegeben hat, nach.
„Endlich“ sage ich; denn die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist, wie Sie sicher wissen, schon aus
dem Sommer 2012, genauer gesagt vom 18. Juli.
({0})
Der vorigen Bundesregierung und der sie tragenden
Mehrheit im Bundestag war es nicht gelungen, die geforderten Gesetzesänderungen umzusetzen. Dieser Bundesregierung, dieser Koalition ist es umso wichtiger, dass
nun ohne weiteren Verzug die geforderten Änderungen
am Gesetz geschehen; denn alle Betroffenen und Beteiligten brauchen Rechtsklarheit und Rechtssicherheit.
({1})
Diese zu schaffen, ist Aufgabe des Gesetzgebers - Bundestag und Bundesrat -, und darum bitten wir hier um
konstruktive Beratung und Zustimmung.
Der vorliegende Entwurf der Bundesregierung setzt
die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts eins zu
eins um. Kernelement ist die Neubemessung und
künftige Fortschreibung der Leistungssätze im Asylbewerberleistungsgesetz. Diese Sätze werden deutlich
angehoben. Das hatte auch das Verfassungsgericht so
vorweggenommen, indem es eine entsprechende Übergangsregelung mit sofortiger Wirkung - sie setzte dann
im August 2012 ein - festgelegt hatte. Vor allem aber
wird eine transparente und bedarfsgerechte Fortschreibung der Leistungen sichergestellt, und das durch die
Festlegung auf die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe des Statistischen Bundesamtes als Grundlage für
künftige Anpassungen. Ich finde, das ist ein substanzieller Gewinn.
({2})
Dazu kommen noch andere wichtige Änderungen. Ich
will sie nennen:
Die Wartefrist, bis Leistungen in gleicher Höhe wie
Sozialhilfe erbracht werden, soll nicht mehr 4 Jahre,
sondern künftig 15 Monate betragen. Kinder und Jugendliche sollen von Anfang an einen Anspruch auf
Leistungen für Bildung und Teilhabe erhalten. Minderjährige Kinder sollen außerdem auch nicht mehr für Verstöße ihrer Eltern gegen die aufenthaltsrechtlichen Mitwirkungspflichten mit Leistungsminderung bestraft
werden. - Sehr gute Vorschläge!
({3})
Einen Punkt, der zahlenmäßig vielleicht nicht so stark
ins Gewicht fällt, möchte ich dennoch herausstellen: Opfer von Menschenhandel und Arbeitsausbeutung erhalten ihre Leistungen künftig nicht mehr nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, sondern aus der Sozialhilfe
- wir kennen das als SGB XII - oder aus der Grundsicherung für Arbeitsuchende; wir sagen SGB II.
({4})
Gleiches gilt für hier lebende Menschen, deren Abschiebung aus rechtlichen oder humanitären Gründen schon
länger als eineinhalb Jahre ausgesetzt ist. In einigen weiteren Punkten werden zudem die Rechtsprechung des
Bundessozialgerichts sowie einschlägige Urteile von
Landessozialgerichten aufgenommen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, meine Damen
und Herren, wie Sie wissen, hat es inzwischen im Zuge
eines Kompromisses zwischen Bundesregierung und
Bundesrat eine Einigung auch auf Änderungen am Entwurf für das hier vorliegende Gesetz gegeben. Ich sage
klar: Dieser Entwurf der Bundesregierung hat die vereinbarten Punkte vereinbarungsgemäß nicht aufgenommen. Das betrifft etwa Änderungen bei der Vorrangigkeit
von Sach- und Geldleistungen. Dies ist ebenso ausdrücklich und klar keine Untreue zum gemeinsam gefundenen
Kompromiss - dazu stehen wir. Vielmehr ist es Teil der
Kompromissvereinbarung, dass die festgelegten Änderungen, verbunden in einem Gesetz, diesem Hohen Haus
gesondert vorgelegt werden. Das ist die Vereinbarung.
Daher bitte ich zunächst um Zustimmung für das hier
vorgelegte Gesetz; denn es schafft Rechtssicherheit und
Transparenz für Menschen, die aus Unsicherheit zu uns
kommen. Es setzt die klaren, eindeutigen und berechtigten Forderungen des Bundesverfassungsgerichts um. Es
bedeutet wirklichen Fortschritt und eine längst überfällige Weiterentwicklung des Leistungsrechts für Asylbewerberinnen und Asylbewerber in Deutschland.
Vielen Dank.
({5})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Ulla Jelpke, Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor über
zwei Jahren - in der Tat, Frau Staatssekretärin - hat das
Bundesverfassungsgericht das Asylbewerberleistungsgesetz für grundgesetzwidrig erklärt. 20 Jahre haben Bundesregierungen unterschiedlicher Couleur die Grundrechte von Flüchtlingen missachtet. Ich fände es wirklich
angebracht, dass sich die Verantwortlichen hier einmal
bei den Betroffenen für dieses jahrelange Unrecht entschuldigen.
({0})
Denn der Tenor der Verfassungsgerichtsentscheidung
lautete: Die Würde des Menschen ist nicht relativierbar,
auch nicht aus Gründen der Migrationspolitik.
({1})
Das alte Gesetz hat vorgesehen, Flüchtlingen und Geduldeten vier Jahre lang weit weniger als den üblichen Sozialhilfesatz zu gewähren. Damit wurde ihr Recht auf ein
menschenwürdiges Existenzminimum verletzt - was die
Linke schon immer kritisiert hat. Das Gericht gab dem
Gesetzgeber auf, unverzüglich eine verfassungskonforme Neuregelung vorzulegen. Dies hat nun zwei Jahre
gedauert.
Was Sie hier jetzt vorgelegt haben, ist beschämend.
({2})
Sie hätten die Chance gehabt, auf eine diskriminierende
Sonderbehandlung von Asylsuchenden einfach zu verzichten. Stattdessen setzen Sie weiter darauf, Flüchtlinge
durch Diskriminierung und Demütigung abzuschrecken
und auszugrenzen. Das ist inhuman und unverantwortlich. Da sagt die Linke ganz klar: Menschenrechte müssen in Deutschland auch für Flüchtlinge gelten.
({3})
Meine Damen und Herren, in den letzten Tagen
wurde zu Recht viel über die massiven Übergriffe von
Wachpersonal auf Flüchtlinge gesprochen. Es ist nicht
hinnehmbar, dass Menschen im Grunde genommen
misshandelt werden. Das muss sofort strafrechtliche Folgen für diejenigen haben, die eine solche Misshandlung
ausgeführt haben.
({4})
Ich sage auch: Diese individuellen Übergriffe sind nur
ein Symptom in unserer Gesellschaft. Asylsuchende
wurden über Jahre systematisch von Staats wegen, so
muss man sagen, in ihren Menschenrechten verletzt; ich
erinnere hier nur an die Residenzpflicht, an das Arbeitsverbot und an viele andere Schikanen. Das muss sich
wirklich grundlegend ändern, und das passiert mit dem
vorliegenden Gesetzentwurf nicht.
({5})
Notwendig wären bezahlbare Wohnungen. Notwendig wäre es, endlich die Sammellager abzuschaffen,
({6})
wo Menschen zusammengepfercht sind, wo es nicht
mehr um Menschenwürde geht und Konflikte vorprogrammiert sind. Oftmals sind solche Lager irgendwo in
der Pampa, sodass Flüchtlinge aus den Städten und aus
dem gesellschaftlichen Leben regelrecht verbannt werden. Solche Schikanen müssen endlich aufhören.
({7})
Zu einer grundsätzlichen Änderung gehört auch, auf
das Sachleistungsprinzip zu verzichten.
({8})
Flüchtlinge müssen endlich Bargeld erhalten, damit sie
ihre Lebensmittel und ihre Kleidung selbst einkaufen
können, damit sie sich eine Wohnung mieten können,
damit sie, kurz gesagt, all die Dinge tun können, die erwachsene Menschen selbstbestimmt tun können - wie
jeder andere Mensch auch. Leistungen nach dem Sachleistungsprinzip und das Leben in Sammellagern sind
entwürdigend und entmündigend. Deswegen gehören sie
abgeschafft.
({9})
Meine Damen und Herren, eindeutig verfassungswidrig ist es, dass Sie das Sanktionssystem in diesem Gesetz
beibehalten wollen. Flüchtlinge, die - angeblich - ihre
eigene Abschiebung behindern, sollen bestraft werden,
indem man ihnen sämtliche Leistungen reduziert und indem das wenige Taschengeld auch noch gestrichen wird.
Das ist genau das, was Karlsruhe verboten hat - es hat
gesagt: die willkürliche Beschneidung des menschenwürdigen Existenzminimums darf es nicht geben -, und
ich finde es wirklich perfide, dass so etwas noch im Gesetz steht.
Noch eines: Flüchtlinge müssen endlich den vollen
Zugang zur gesundheitlichen Versorgung haben.
({10})
Wir haben schon oft genug gehört, dass Flüchtlinge an
behandelbaren Krankheiten gestorben sind, weil Heimleitung oder Wachpersonal sich einfach geweigert haben,
einen Krankenwagen zu rufen.
Hier will ich zum Schluss noch einmal ganz deutlich
sagen, um es auf den Punkt zu bringen: Das Asylbewerberleistungsgesetz ist entmündigend und diskriminierend. Es fördert Rassismus in unserer Gesellschaft. Deswegen gehört es abgeschafft.
({11})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Jutta Eckenbach, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch Sie,
meine Damen und Herren, die Sie oben auf der Tribüne
sitzen, darf ich zu dieser Debatte recht herzlich begrüßen.
Ich würde jetzt ungern eine Debatte über das führen,
was wir gerade von den Linken gehört haben. Alles das,
was hier vorgetragen worden ist, ist nicht richtig, ist
nicht stimmig; das ist in Deutschland auch nicht so.
Die Unterbringung dieser Menschen in Deutschland
ist menschenwürdig.
({0})
Wir stehen zu dem Kompromiss, den wir vereinbart haben.
({1})
- Sie dürfen auch gern eine Zwischenfrage stellen, aber
ich würde Sie bitten, mir vielleicht erst einmal ein bisschen zuzuhören.
({2})
Wir sehen in dem, was wir heute einbringen, einen weiteren Baustein in der Asylpolitik dieser Großen Koalition. Mit der Umsetzung der Vereinbarungen des Koalitionsvertrages - das haben wir gerade schon von Frau
Lösekrug-Möller gehört - setzen wir auch die Forderungen des Bundesverfassungsgerichtsurteils vom 18. Juli
2012 um.
Die wesentlichen Punkte sind genannt worden. Ich
will aber noch einmal darauf aufmerksam machen, dass
wir die Herausnahme von Personen vorgesehen haben,
deren Aufenthaltsrecht sich aus § 25 Absatz 4 a und 4 b
des Aufenthaltsgesetzes aus rechtlichen und tatsächlichen Gründen ergibt und deren Abschiebung bereits seit
mindestens 18 Monaten festgesetzt worden ist. Das hat
Frau Lösekrug-Möller ausgeführt.
Aber es ist eine weitere Personengruppe herausgenommen - das finde ich auch ganz wichtig -, nämlich
die Personengruppe, die Opfer von Menschenhandel und
von Schwarzarbeit geworden ist, weil ansonsten in beiden Fällen die strafrechtliche Verfolgung erschwert
wird. Dies ist ein ganz wichtiger Bestandteil,
({3})
gerade wenn es wie bei Opfern von Menschenhandel darum geht, dass wir hier die strafrechtliche Verfolgung
der Täter vornehmen können.
({4})
Die Forderung einer Neuberechnung der Leistungshöhe war Grundlage für die gesetzliche Festschreibung
des Anspruches auf Bildung und Teilhabe gerade für
leistungsberechtigte Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene. Auch dies ist ein wichtiger Bestandteil. Allerdings muss man der Fairness halber sagen, dass dies seit
vielen Jahren auch schon in einzelnen Bundesländern in
Deutschland getan wurde.
({5})
Aber bei denen, die es getan haben, war es der richtige
Weg.
Die Kürzung der Bezugsdauer von Leistungen nach
dem Asylbewerberleistungsgesetz von bislang 48 Monaten auf 15 Monate unter Berücksichtigung des tatsächlichen Aufenthalts im Bundesgebiet ist ein weiterer wichtiger Punkt.
Mit dieser Kürzung wird der Vorläufigkeitscharakter der
Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz deutlich. Zukünftig wird nach der Bezugsdauer von 15 Monaten
eine Überführung in das Leistungssystem von SGB II
oder SGB XII erfolgen, um dann auch weitere Integrationsmaßnahmen durchzuführen.
Über die Forderungen des Bundesverfassungsgerichts
hinausgehend, meine Damen und Herren, wird eine geänderte Anrechnung von Einkommen, eventuellen Rentenzahlungen oder Beihilfen erfolgen. Gleichzeitig soll
den Leistungsberechtigten ein Freibetrag von 200 Euro
gewährt werden.
({6})
Mit diesen Ansparungen soll es für die Betroffenen zukünftig möglich sein, notwendige Anschaffungen selbst
zu tätigen.
({7})
Diese Neuregelung soll Anreize für eine Arbeitsaufnahme, eine Eigenversorgung und damit auch für eine
schnelle Integration schaffen.
({8})
Um allerdings diese Integration zu ermöglichen und
zu forcieren, erachte ich - damit auch die CDU/CSUFraktion - die Beibehaltung des Asylbewerberleistungsgesetzes für durchaus sinnvoll und auch gerechtfertigt.
({9})
Das Asylbewerberleistungsgesetz gewährleistet nämlich
eine bedarfsorientierte Existenzsicherung für die Betroffenen. Die Asylsuchenden haben zumeist von jetzt auf
gleich ihre Heimat verloren und verlassen. Sie treffen in
Deutschland ohne Hab und Gut ein. Für diese Menschen
ist es nach wie vor notwendig, dass sie zunächst ein
Dach über den Kopf bekommen und ihnen Hilfe zuteilwird. Diese Hilfe kann nicht ausschließlich in Geldleistungen erfolgen. Es muss in Erstaufnahmeeinrichtungen
der Vorrang von Sachleistungen, wie wir ihn heute mit
dem Gesetzentwurf vorlegen, gewahrt bleiben,
({10})
dann ergänzt durch den Bargeldbedarf, der da ist.
Für Menschen, die in ein fremdes Land kommen, die
Sprache nicht sprechen und nicht wissen, wo sie was für
den täglichen Bedarf bekommen, brauchen wir das Asylbewerberleistungsgesetz mit seiner individuellen und
bedarfsorientierten Hilfestellung. Sie alle, die Sozialpolitikerinnen und Sozialpolitiker sind, wissen, dass das
Sozialgesetzbuch II und das Sozialgesetzbuch XII mit
ihrer einheitlichen Bedarfsfestsetzung viel zu starr sind,
um den Hilfsbedürftigen in der konkreten Situation helfen zu können. Daher brauchen wir einen gesonderten
Status und damit auch weiterhin das Asylbewerberleistungsgesetz.
({11})
Sie wissen auch, dass diese Grundüberlegungen bereits vor über 20 Jahren angestellt worden sind, nämlich
1992 und 1993, als es wegen des Jugoslawienkrieges zu
einer großen Krise kam, in deren Folge es zum Asylkompromiss kam; denn wir mussten in Deutschland bestimmte Regelungen treffen. Es ist nämlich nicht so,
dass die Situation in den Städten, Kommunen und Ländern damals einfach war. Wir haben vielfach erlebt, dass
an Stammtischen die Parole zu hören war, dass wir es
nicht zulassen dürften, die Menschen aufzunehmen. Ich
will dazu nur eine Zahl nennen: Uns lagen damals, 1993,
323 000 Asylanträge von Zuwanderern und Flüchtlingen
vor, die in Deutschland aufgenommen werden wollten.
Diese Zahl haben wir heute noch nicht erreicht - Gott sei
Dank. Insofern müssen wir heute die Stellschrauben drehen, aber diesen Asylkompromiss im Grundsatz nicht
verlassen; wir müssen weiterhin zu ihm stehen.
({12})
Auch ich will auf die Diskussion eingehen, die heute
immer wieder geführt wird. Lassen Sie mich dabei auf
Zahlen aus meiner Heimatstadt Essen zurückgreifen. Im
Moment hören wir, dass in der Diskussion behauptet
wird, der Bund müsse in dieser Frage höhere Zahlungen
an die Länder leisten, weil die Länder es nicht mehr alleine leisten könnten. An der Stelle verweise ich auf den
Betrag, den das Land Nordrhein-Westfalen für die Unterkünfte der Flüchtlinge, für das, was da ist, bereitstellt.
Allein im Jahr 2013 hatte die Stadt Essen Bruttoausgaben nach dem Asylbewerberleistungsgesetz von über
16 Millionen Euro. Eine Erstattung seitens des Landes
erfolgte nach dem nordrhein-westfälischen Flüchtlingsaufnahmegesetz, und zwar in Höhe von lediglich
2,3 Millionen Euro. Das ist ein prozentualer Anteil der
Landeserstattung an den Bruttoausgaben von circa
14,5 Prozent. Unsere Länder lassen die Flüchtlinge in
den Kommunen alleine. Wer weiß, was sich in Nordrhein-Westfalen abspielt - das wissen Sie alle; es ist
durch die Presse gegangen -, der weiß, dass die Kommunen in Nordrhein-Westfalen das nicht mehr alleine stemmen können.
({13})
Ich kann Ihnen dazu eine lange Liste vorlegen - dazu
fehlt mir jetzt leider die Redezeit; wir können das gerne
nachholen -, der man entnehmen kann, was der Bund
den Ländern in dieser Frage an Erstattungen hat zukommen lassen.
Genau das ist das Problem: Es wird im Moment eine
Debatte geführt, weil die Länder nicht bereit sind, mehr
Gelder zur Verfügung zu stellen. Deswegen führen wir
hier im Bund eine Debatte, die sich nur um die Finanzierung dreht. Dass wir mit den Grünen und den Linken an
der Stelle ideologisch nicht zusammenkommen, ist klar;
({14})
aber ich bitte alle, darauf zu achten, dass es nicht darum
gehen kann, jetzt nur aus finanziellen Gründen einen
Asylkompromiss, der viele Jahre gehalten hat, zu verlassen.
({15})
Ich glaube, dass wir im weiteren Verlauf unseres Gesetzgebungsverfahrens zu einer Einigung kommen sollten,
die nicht nur das umfasst, was wir heute in erster Lesung
unter Federführung des Ausschusses für Arbeit und Soziales verhandeln. Vielmehr sollten wir die gesamte Gesetzgebung, also das, was wir noch bis zum Ende des
Jahres vorstellen wollen, in Gemeinsamkeit hinbekommen. Das hilft nicht nur den Flüchtlingen in DeutschJutta Eckenbach
land, denen wir helfen wollen, sondern trägt auch zur
Stabilisierung und Befriedung der Bevölkerung bei.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({16})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Luise Amtsberg, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man kann
auf das Asylbewerberleistungsgesetz blicken, wie man
mag, man kann es für gut oder für schlecht befinden. Fakt ist aber: Es handelt sich bei diesem Gesetz um eine
für einen bestimmten Personenkreis in der Bundesrepublik ausgelegte Sondergesetzgebung. Deswegen, Frau
Kollegin Eckenbach: Wenn Sie sagen, dass das Asylbewerberleistungsgesetz das Dach über dem Kopf, das
Essen und die Orientierung sichern soll, dann kann ich
nur sagen, dass unsere Sozialgesetzgebung, die genau
dafür ausgelegt ist, nämlich für spezielle Lebenslagen, in
denen sich bestimmte Menschen befinden, eigentlich die
viel bessere Adresse dafür wäre.
({0})
Meine Fraktion ist der Auffassung, dass das Asylbewerberleistungsgesetz schlecht ist, und zwar aus folgendem Grund: Es ist eine in Gesetzesform gegossene
Diskriminierung, die seit über 20 Jahren Schutzsuchende
sozial schlechterstellt, und das oft jahrelang und zum
Teil zeitlich unbefristet. Mit dieser gezielten sozialen
Unterversorgung von Schutzsuchenden unterhalb des
Existenzminimums wurde von Anfang an ganz offen die
Absicht verfolgt, Asyl- und Schutzsuchende von einem
Asylantrag in Deutschland abzuschrecken und sie
schneller zu einer Ausreise aus Deutschland zu bewegen. Die grüne Bundestagsfraktion fordert deswegen seit
langem die ersatzlose Streichung dieses Gesetzes. Deswegen haben wir heute diesen Gesetzentwurf vorgelegt.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, mittlerweile ist
es zwei Jahre her, dass das Bundesverfassungsgericht
das Asylbewerberleistungsgesetz für unzulänglich erklärt und eine Neufassung des Gesetzes gefordert hat. In
der Begründung verdeutlichte das Gericht, dass durch
das Asylbewerberleistungsgesetz die in Artikel 1 des
Grundgesetzes geschützte Menschenwürde relativiert
werde. Verehrte Kolleginnen und Kollegen der Großen
Koalition, das Bundesverfassungsgericht hat in seinem
Urteil mehr als deutlich gesagt, dass die Menschenwürde
„migrationspolitisch nicht zu relativieren“ ist. Damit hat
es auch recht.
({1})
Diese Kernaussage des Bundesverfassungsgerichts
wird aber nach unserer Auffassung mit dem vorliegenden Gesetzentwurf in mehrfacher Hinsicht ignoriert;
denn Ihr Gesetzentwurf bleibt weit hinter dem zurück,
was notwendig wäre, um hier lebenden Asylsuchenden
eine Perspektive zu eröffnen. Peinlich ist ja schon, dass
gegenüber dem Referentenentwurf, der eine maximale
Bezugsdauer von 12 Monaten vorsah, die Bezugsdauer
im Gesetzentwurf auf 15 Monate heraufgesetzt wurde.
Warum eigentlich? Ein humanitäres Anliegen wird in
Ihrem Vorschlag jedenfalls nicht erkennbar - im Gegenteil. Das will ich an einigen Beispielen veranschaulichen.
Auch nach dieser Frist von 15 Monaten - das wurde
hier ganz galant verschwiegen - sollen Menschen nämlich mit abgesenkten Sozialleistungen bestraft werden
können, wenn sie allein deswegen nach Deutschland geflüchtet sind, um die Leistungen des Asylbewerberleistungsgesetzes in Anspruch zu nehmen, oder wenn sie die
Gründe, deretwegen eine Abschiebung nicht vollzogen
werden kann, selbst verschuldet haben. Was bedeutet das
eigentlich, liebe Kolleginnen und Kollegen? Mit Einschränkungen wie diesen, die in den meisten Fällen ja
ausschließlich auf einer Vermutung basieren und im Ermessen des zuständigen Sachbearbeiters liegen, werden
künftig wieder Menschen über diese 15 Monate hinaus
unterhalb des Existenzminimums gehalten. Hinzu
kommt dann auch noch, dass diese Leistungen vermutlich unbefristet gelten können. Wir sehen dies als eklatante Missachtung des Verfassungsgerichtsurteils an;
denn es heißt dort klipp und klar, dass das Existenzminimum in jedem Fall und zu jeder Zeit sichergestellt sein
muss. Das passiert hier aber nicht.
({2})
Die Große Koalition hebt die Regelsätze des Asylbewerberleistungsgesetzes zwar an - was im Übrigen,
Frau Staatssekretärin, nicht der politischen Vernunft,
sondern der Intervention des Verfassungsgerichts geschuldet ist -, gleicht sie aber eben nicht vollständig an
die Sozialhilfesätze an. Dann unterbieten Sie das Urteil
aus Karlsruhe auch noch ein weiteres Mal; denn das Gericht hat sogar festgeschrieben, dass auch ein etwaiger
finanzieller Mehrbedarf geprüft werden soll, der unter
den Bedingungen eines nur vorübergehenden Aufenthaltes anfallen könnte. Das Urteil wird sozusagen zweifach
unterboten.
Schutzsuchende, die dem Asylbewerberleistungsgesetz unterworfen sind - ich finde, das ist der härteste
Punkt -, erhalten nur in Notfällen oder bei akuten
Schmerzzuständen eine vorläufige medizinische Hilfe.
Dabei ist der Schutz von Leben und der körperlichen
Unversehrtheit auch Teil der unveräußerlichen Menschenwürde.
({3})
Gerade Asylsuchende leiden aufgrund ihrer Kriegserfahrungen häufig unter physischen und psychischen
Symptomen, die zwingend behandlungsbedürftig sind.
Die Einschränkung der medizinischen Behandlung auf
sogenannte Notfälle führt häufig erst zu einer Ausbildung massiver lebensbedrohlicher Krankheiten oder
eben einer Chronifizierung. Schwangere können keine
Regeluntersuchungen in Anspruch nehmen, Kinder nicht
die obligatorischen Impfungen erhalten. Durch eine Mitgliedschaft in einer gesetzlichen Krankenversicherung
könnten solche Zustände verhindert werden.
({4})
Genau das soll aber den Asyl- und Schutzsuchenden
weiter vorenthalten werden.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf halten Sie also
im Kern am diskriminierenden Charakter des Asylbewerberleistungsgesetzes fest. Außerdem - hier möchte
ich auf meine Vorrednerin Bezug nehmen - entzieht sich
der Bund jeglicher finanzieller Verantwortung, indem er
nämlich die finanziellen Lasten des Asylbewerberleistungsgesetzes auf die Kommunen abwälzt und diese im
Übrigen auch bei der Unterbringung, für die nämlich die
Länder zuständig sind, alleinelässt.
({5})
- Ja, die Zuständigkeiten sind geregelt. Die kann man
aber auch anders regeln.
({6})
Ein Weg zur finanziellen Entlastung der Länder und
Kommunen ist die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes, da Bezieherinnen und Bezieher dieser
Leistungen dann Anspruch auf Leistungen nach SGB II
und SGB XII hätten. Verehrte Kollegen, eines ist doch
einmal klar - schauen Sie sich Ihren eigenen Gesetzentwurf an -: Es gibt nur ein Existenzminimum. Das heißt,
es müssen für alle Menschen die gleichen Leistungen
gelten.
({7})
Dieses Existenzminimum muss für alle Menschen in
Deutschland gelten, eben auch für Asylsuchende. Dass
die medizinische Versorgung hier nach wie vor ausgenommen ist, ist eine eindeutige Ungleichbehandlung.
Das sollten Sie sich einmal zu Herzen nehmen.
Herzlichen Dank.
({8})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Matthäus Strebl, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Wir beraten heute den Gesetzentwurf zur
Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes und des
Sozialgerichtsgesetzes. Zusätzlich liegt uns ein Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor, der
die Aufhebung des Asylbewerberleistungsgesetzes zum
Gegenstand hat.
({0})
Die weltweiten Krisen, meine sehr verehrten Damen
und Herren, insbesondere in Syrien, Irak oder Afghanistan, haben zweifelsfrei Auswirkungen auf Europa und
auch auf Deutschland. Die Menschen aus den Krisengebieten erhoffen sich aus den verschiedensten Gründen
- zum Beispiel wegen Krieg, wegen politischer oder religiöser Verfolgung oder wegen Armut - ein besseres
und friedliches Leben in Deutschland.
Hierzu einige Zahlen: Blicken wir auf den Monat August dieses Jahres, so wurden die meisten Asylanträge
von Flüchtlingen aus Syrien, Eritrea und aus Serbien gestellt. Fast die Hälfte aller gestellten Erstanträge entfallen auf diese drei Herkunftsstaaten. So wurden im Jahr
2013 in der Europäischen Union insgesamt 435 000
Asylbewerber registriert, wobei in Deutschland mit
127 000 die höchste Anzahl verzeichnet wurde. Vor diesen Zahlen dürfen wir nicht die Augen verschließen;
denn die Frage des Asyls beinhaltet die unterschiedlichsten weiteren Fragen.
({1})
Wir wollen uns heute mit dem Asylbewerberleistungsgesetz, insbesondere mit den finanziellen Aspekten, befassen. Grundsätzlich halte ich es für richtig,
meine sehr verehrten Kollegen der Linken und der Grünen, dass die Situation von Asylbewerbern, besonders in
der ersten Zeit nach ihrer Einreise nach Deutschland,
nicht vergleichbar ist mit der Lebenssituation von Menschen, die Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II und
XII beziehen. Für Asylbewerber sind in der Anfangszeit,
noch dazu in einem fremden Land mit fehlenden Sprachkenntnissen, die Sachleistungen mit einem Anteil von
Bargeldleistungen die richtige Leistungswahl. Hier
handelt es sich um Daseinsvorsorge und nicht, wie von
Ihnen behauptet und uns vorgeworfen wird, um eine
Diskriminierung.
Das Bundesverfassungsgericht hatte 2012 in seiner
Entscheidung zum Asylbewerberleistungsgesetz erklärt,
dass die Höhe der Geldleistungen nach § 3 des Asylbewerberleistungsgesetzes evident unzureichend ist. Der
Verpflichtung durch Karlsruhe kommen wir jetzt durch
diesen Gesetzentwurf nach.
Auf das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums können sich sowohl
deutsche als auch ausländische Staatsangehörige, die
sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, berufen. Da aber die Berechnung seit 1993 nicht mehr geändert wurde, war das Existenzminimum für diese Bezieher nicht mehr gewährleistet. Deshalb sollen in Zukunft
die existenznotwendigen Leistungen auf der Grundlage
der Einkommens- und Verbrauchsstichproben ermittelt
werden.
Ich weise ausdrücklich darauf hin, dass das Bundesverfassungsgericht das Asylbewerberleistungsgesetz im
Ganzen jedoch nicht für verfassungswidrig erklärt hat.
Die Forderung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das
Asylbewerberleistungsgesetz ganz abzuschaffen, weisen wir deshalb zurück. Stattdessen nehmen wir für die
betroffenen Menschen positive Gesetzesänderungen vor.
({2})
Einige möchte ich beispielhaft nennen: Die Zeit, in
der Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz
gezahlt werden - das hat die Kollegin Eckenbach schon
erwähnt -, die sogenannte Wartefrist, wird von 48 Monate auf 15 Monate reduziert. Auch die gesundheitliche
Notfallversorgung von Asylbewerbern wollen wir gewährleisten. Im Falle einer akuten Notfallbehandlung im
Krankenhaus oder bei Zahnärzten
({3})
können Ärzte und Krankenhausträger unter den im Gesetz genannten Voraussetzungen ihren Aufwendungsersatzanspruch gegenüber dem jeweiligen Leistungsträger
geltend machen. Ebenso hat zukünftig das Fehlverhalten
eines Einzelnen ausschließlich Auswirkungen auf ihn
selbst. Die akzessorische Anspruchseinschränkung bei
Familienangehörigen heben wir auf und verhindern somit insbesondere, dass minderjährige Kinder für das
Fehlverhalten ihrer Eltern die Konsequenzen tragen. Die
Große Koalition plant die alters- und bedarfsgerechte
Förderung der Kinder und Jugendlichen unter den Asylbewerbern. Deshalb wird aus der „Kann“-Leistung ein
gesetzlich verankerter Anspruch auf Leistungen für
Bildung und Teilhabe. Minderjährige Asylbewerber obliegen, wie alle anderen Kinder in Deutschland auch, der
Schulpflicht. Die Förderung durch Leistungen für Bildung und Teilhabe hat zur Folge, dass eine Ausgrenzung
von minderjährigen Asylbewerbern vermieden werden
kann. Dadurch erhöhen wir - darauf möchte ich ausdrücklich hinweisen - die Bildungs- und Aufstiegschancen, sowohl im Fall des Verbleibens in Deutschland als
auch im Falle der Rückkehr ins Heimatland.
({4})
Ich bin davon überzeugt, dass wir den Vorgaben des
Bundesverfassungsgerichts Rechnung tragen und gleichzeitig die Situation vieler Asylbewerber in Deutschland
verbessern. Die Forderung der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen, das Asylbewerberleistungsgesetz abzuschaffen,
lehnen wir ab.
Herzlichen Dank.
({5})
Als letzter Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich das Wort der Abgeordneten Kerstin Griese,
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Endlich ändern wir das Asylbewerberleistungsgesetz.
Schon am 18. Juli 2012 hatte das Bundesverfassungsgericht bescheinigt, dass die Höhe der Geldleistungen - ich
zitiere -: „… mit dem Grundrecht auf Gewährleistung
eines menschenwürdigen Existenzminimums … unvereinbar“ ist. Deshalb kann ich mir zu Beginn die Kritik
auch nicht verkneifen, dass es gut gewesen wäre, wenn
die Vorgängerregierung die Gesetzesänderung ein bisschen zügiger angepackt hätte.
({0})
Aber wir tun das jetzt. Diese Koalition ist handlungsfähig. Ich danke dem Bundessozialministerium für die
Vorlage dieses Gesetzentwurfs, den wir nun zügig beraten und beschließen können.
({1})
Was ist uns besonders wichtig bei diesem neuen Gesetz? Wir werden künftig endlich reale Leistungssätze
haben, die anhand der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe festgelegt werden. Asylbewerberinnen und
Asylbewerber bekommen dadurch durchschnittlich
127 Euro mehr im Monat, um ihren Bedarf zu sichern.
Die Sätze waren so lange nicht mehr angehoben worden,
dass die Beträge im Gesetzestext sogar noch in D-Mark
stehen; aber das nur als kleiner Hinweis am Rande.
Wir werden die Wartefrist, bis Leistungen in gleicher
Höhe wie in der Sozialhilfe erbracht werden, von 4 Jahren auf 15 Monate verkürzen. Das ist eine echte Verbesserung für Asylbewerberinnen und Asylbewerber.
({2})
Kinder und Jugendliche werden von Anfang an Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket erhalten.
Das ist wichtig, weil sie möglichst früh zur Schule gehen
sollen. Sie sollen sich integrieren können und alle Chancen haben. Leistungen für minderjährige Kinder werden
nicht mehr gekürzt. Die Erstattung der Kosten für medizinische Nothilfe in Eilfällen wie Krankenhaus- und
Notfallbehandlungen wird sichergestellt.
Ich will ganz besonders auf die Situation von Kindern
und Jugendlichen und auf die Gesundheitsversorgung
- das war auch schon Thema - eingehen. Wir wollen in
einem zweiten Schritt im Zusammenhang der Reform
der EU-Aufnahmerichtlinie die Gesundheitsversorgung
von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern verbessern.
({3})
Das ist dringend nötig. Es gab ein paar tragische Fälle, in
denen Asylbewerberinnen und Asylbewerber zu Tode
gekommen bzw. schwer krank geworden sind, weil sie
nicht angemessen behandelt wurden. Ich will aber deutlich sagen: Das waren Notfälle, die nach § 4 des Asylbewerberleistungsgesetzes schon jetzt medizinisch hätten versorgt werden müssen. Es ist schlimm, dass die
Umsetzung des Gesetzes in diesen Fällen nicht funktioniert hat.
Wir sollten in den weiteren Beratungen darauf achten,
dass gerade Kinder und Jugendliche die medizinische
Versorgung erhalten, die sie brauchen. Ich darf daran erinnern, dass wir uns in der UN-Kinderrechtskonvention
dazu verpflichtet haben. Darüber hinaus wollen wir dafür sorgen, dass die notwendige psychologische Behandlung von traumatisierten Flüchtlingen gewährleistet
wird.
Ein weiterer für uns wichtiger Aspekt ist: Opfer von
Menschenhandel und Ausbeutung sowie in Deutschland
lebende Menschen, deren Abschiebung aus humanitären
Gründen schon länger ausgesetzt ist, werden künftig
Leistungen gemäß SGB II oder SGB XII bekommen.
Das entspricht der Anerkennung der Realität, dass sie
länger bzw. dauerhaft hier bleiben werden. Deshalb ist
das ein richtiger Schritt.
Mit Blick auf die Beratungen möchte ich auch noch
den Punkt ansprechen, dass die Herausnahme einzelner
Gruppen aus dem Asylbewerberleistungsgesetz die
Kommunen sehr deutlich entlastet: um 43 Millionen
Euro jährlich ab 2016, im nächsten Jahr schon um
27 Millionen Euro. Wir sollten im Zuge der Beratungen
prüfen, ob es weitere Möglichkeiten gibt, Gruppen von
Personen aus dem Asylbewerberleistungsgesetz herauszunehmen. Das würde die Kommunen unterstützen. Übrigens, liebe Frau Kollegin, Nordrhein-Westfalen macht
das schon lange. Die Landesregierung entlastet und
stärkt die Kommunen und hilft ihnen, die Aufgaben, die
vor ihnen liegen, zu erfüllen.
({4})
Der Bundesrat hat noch weitere Verbesserungen für
Flüchtlinge beschlossen, die wir in einem nächsten
Schritt hier vorlegen werden: Vorrang von Geld- vor
Sachleistungen, Abschaffung der Residenzpflicht nach
drei Monaten Aufenthalt - das ist eines der sinnvollsten
Vorhaben; wir sollten diese Residenzpflicht endlich abschaffen -, Aussetzung der sogenannten Vorrangprüfung
bei Arbeitsplätzen. Denn es ist wichtig, dass Asylbewerberinnen und Asylbewerber sowie Flüchtlinge hier eine
Arbeit aufnehmen können. Wer schon einmal Asylbewerberheime besucht hat - ich hoffe, dass viele der Kolleginnen und Kollegen das regelmäßig tun -, weiß, wie
psychisch belastend es ist, nicht arbeiten zu dürfen,
nichts zu tun zu haben, quasi zum Rumhängen verdammt zu sein. Ein Job ist der erste Schritt zurück ins
Leben, oft nach dramatischen Monaten, nach Jahren der
Flucht, nach Jahren der Angst und Unsicherheit.
Zum Gesetzentwurf der Grünen, das Asylbewerberleistungsgesetz ganz abzuschaffen, sage ich nur kurz
zwei Dinge:
Erstens. Das klingt ja erst einmal sympathisch, aber
wir sollten ernsthaft darüber nachdenken, ob wir sofort
und in allen Punkten Menschen, die hier Asyl suchen,
mit den Menschen, die länger arbeitslos sind, hinsichtlich der Leistungen gleichstellen sollten.
({5})
Das muss man sich sehr ernsthaft überlegen.
Zweitens. In diesem Gesetzentwurf geht es um finanzielle Fragen, die zwischen Bund und Ländern zu regeln
sind. Das wird noch angesprochen werden, wie in der
Protokollerklärung des Bundesrates festgehalten worden
ist, wenn dazu die Bund-Länder-Finanzgespräche geführt werden. In diesen Gesprächen wird insbesondere
über die Gesundheitskosten und die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge debattiert werden.
Zum Schluss will ich noch ein Wort sagen zu den
schrecklichen Vorfällen in Asylbewerberheimen, von denen wir gehört haben. Wir wollen seitens des Bundestages mit dieser Gesetzesänderung ein ganz klares Signal
aussenden: Uns geht es um die Menschenwürde;
({6})
sie ist unantastbar.
({7})
Wir dulden nicht, dass Menschen, die aus tiefstem Leid
zu uns kommen, gewalttätig, entwürdigend oder herablassend behandelt werden. Ich wäre froh, wenn wir uns
da einig wären.
({8})
Ich will ein Dankeschön an die vielen Ehrenamtlichen
senden, die sich tagtäglich um Flüchtlinge kümmern, die
mit Kindern lesen und schreiben üben, die mit den Familien kochen, die Kleidung und Möbel besorgen, die sie
bei Behördengängen begleiten, die Menschen einladen,
die hierher geflohen sind. Ich erlebe in meinem Wahlkreis eine große Welle der Hilfsbereitschaft, des Engagements, des Verständnisses für die schwierige Situation
der Flüchtlinge.
({9})
Wir sollten mit den gesetzlichen Regelungen, die wir
hier beschließen, dieses Engagement unterstützen. In
diesem Sinne hoffe ich auf gute Beratungen.
Vielen Dank.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Vizepräsident Peter Hintze
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 18/2592 und 18/2736 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das
ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Maria
Klein-Schmeink, Elisabeth Scharfenberg,
Kordula Schulz-Asche, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Das psychiatrische Entgeltsystem überarbeiten und das Versorgungssystem qualitativ
weiterentwickeln
Drucksachen 18/849, 18/1713
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Ute Bertram, CDU/
CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Heute rufen wir wieder das Thema PEPP, also
das pauschalierende Entgeltsystem Psychiatrie und
Psychosomatik auf. Aber das Thema hat sich verändert.
Der Bundestag hat durch das GKV-Finanzstruktur- und
Qualitäts-Weiterentwicklungsgesetz die gestaffelten Einführungsfristen um jeweils zwei Jahre verlängert. Damit
wird PEPP mehr Zeit gegeben, um den hohen Ansprüchen, die wir an das neue Vergütungssystem stellen, besser gerecht werden zu können. Die Koalition ist nicht
mit der Brechstange gekommen. Wir setzen damit bewusst ein Zeichen, um konstruktiver Kritik entgegenzukommen und den optierenden Einrichtungen mehr Zeit
zu geben, auf die Ausgestaltung des PEPP Einfluss zu
nehmen. Allen Beteiligten ist mittlerweile bewusst: Wer
sich PEPP verweigert, nimmt auf das neue Entgeltsystem keinen Einfluss.
Das lernende System PEPP konnte in den letzten Monaten, seit März, respektabel weiterentwickelt werden.
Anfang September hat das Institut für das Entgeltsystem
im Krankenhaus, das InEK, die mittlerweile dritte Version des Entgeltkatalogs für PEPP vorgestellt. Der GKVSpitzenverband, der Verband der Privaten Krankenversicherung und die Deutsche Krankenhausgesellschaft
haben sich Ende des letzten Monats hierauf verständigt.
Für 2015 haben wir nun folgendes Bild: Grundlage
für die Kalkulation 2015 sind die Kalkulationsdaten von
85 Einrichtungen mit über 205 000 vollstationären und
teilstationären Fällen. Das entspricht einer Steigerung
von rund 22 Prozent. Der Umfang der Kalkulationsdaten
hat auch in der Psychosomatik zugenommen.
Die Vergütungssystematik wird grundlegend verändert. Neu ist die Einbeziehung des Entlassungstages in
die Kalkulation und die Abrechnung der Entgelte. Die
Differenzierung innerhalb von PEPP erfolgt nun nicht
mehr durch Vergütungsstufen, sondern durch eine einheitliche Vergütung je Tag in Abhängigkeit von der Anzahl der Berechnungstage. Außerdem werden ergänzende Tagesentgelte als neue Vergütungselemente
eingeführt. Damit kann wechselnder Behandlungsaufwand im Verlauf einer Behandlung berücksichtigt werden. Ich denke, dies alles kann als Zwischenstation
durchaus positiv bewertet werden.
({0})
Ein sensibler Punkt im Zusammenhang mit PEPP ist
die Beendigung der Geltungsdauer der Psychiatrie-Personalverordnung zum 1. Januar 2019. Das ist mir sehr
bewusst. Die Vertragsparteien zum Krankenhausfinanzierungsgesetz haben bislang die Maßstäbe und Grundsätze dieser Personalverordnung bei der Vereinbarung
des Budgets und der Pflegesätze zugrunde zu legen. Nun
tritt diese Psych-PV zu dem Zeitpunkt außer Kraft, zu
dem die Konvergenzphase des PEPP einsetzt. Hier wird
nun befürchtet, dass damit ein Einfallstor zum Personalabbau geschaffen wird.
Nach § 137 Absatz 1 c im SGB V ist dem Gemeinsamen Bundesausschuss die Aufgabe übertragen worden
- ich zitiere - „Empfehlungen für die Ausstattung der
stationären Einrichtungen mit dem für die Behandlung
erforderlichen therapeutischen Personal“ zu beschließen.
Diese Befugnis des G-BA tritt damit an die Stelle der
Psych-PV, die übrigens auch keine Personalsicherung
darstellt, sondern nur der Budgetfestlegung dient. Mit
Interesse haben wir auch den Hinweis des G-BA in der
Sachverständigenanhörung im Gesundheitsausschuss am
7. Mai dieses Jahres aufgenommen, der Nachfolgeregelung der Psych-PV mehr Verbindlichkeit als nur einen
Empfehlungscharakter zukommen zu lassen. Das wollen
wir offen prüfen.
Freilich heißt das noch nicht, dass ansonsten die Kritik an PEPP erloschen wäre. Nach wie vor werden Thesen vertreten, die gerade nicht überzeugen. Gelegentlich
- wer weiß, vielleicht auch noch heute hier im Plenum ist noch zu hören, mit den degressiven Tagessätzen würden Fehlanreize gesetzt, die dazu führen, dass Patienten
aus ökonomischen Motiven heraus zu früh aus dem
Krankenhaus entlassen werden. Die Tagessätze bilden
die durchschnittlichen Behandlungskosten pro Patient
ab. Dass sie hierbei einen degressiven Verlauf haben,
entspricht dem tatsächlichen Verlauf der Kostenentstehung.
Zu einer Unterversorgung wird es dadurch nicht kommen. Eher das Gegenteil ist der Fall: Würden Psych-Einrichtungen Patienten zu früh entlassen, würden sie auf
zusätzliche Erlöse verzichten. Das Szenario, ein Patient
werde zu früh aus dem Krankenhaus entlassen, tritt allenfalls dann ein, wenn die Aufnahmekapazität einer
Einrichtung nicht ausreicht und dem akuteren Fall gegenüber dem weniger akuten Fall Vorrang eingeräumt
werden muss. Ich möchte denjenigen sehen, der dann anders entscheidet. Vor allem aber ist es nicht das Thema
von PEPP, sondern der gesamten psychiatrischen und
psychosomatischen Versorgungssituation einschließlich
der ambulanten Versorgung, die Vorrang gegenüber der
stationären Versorgung hat.
Mit PEPP wird häufig die Forderung verknüpft, dass
eine Verzahnung mit der ambulanten Versorgung sichergestellt werden muss. Keine Frage: Die Schnittstellenproblematik zwischen der stationären und der ambulanten Versorgung kann PEPP ebenso wenig lösen wie das
jetzige Vergütungssystem. Schließlich geht es hier ja nur
um ein Vergütungssystem von Krankenhäusern der Psychiatrie und der Psychosomatik.
Ich finde es merkwürdig; denn nach § 140 a SGB V
können Verträge für eine übergreifende Versorgung zwischen Krankenkassen und den Leistungserbringern
längst geschlossen werden. Diese Vorschrift besteht seit
Dezember 1999, also seit rund 15 Jahren. Seit Juli 2012
wird diese Vorschrift durch § 64 b SGB V flankiert, wonach eine sektorenübergreifende Leistungserbringung
auch Gegenstand von Modellvorhaben sein kann. Unabhängig davon, was immer dazu geführt haben mag, dass
eine solche Leistungserbringung noch nicht über örtliche
und regionale Insellösungen hinaus entwickelt worden
ist, sehe ich hier die Partner im Gesundheitswesen in der
Pflicht. Ihnen kommt die Aufgabe zu, Parameter für eine
integrierte Versorgung zu entwickeln, die möglichst flächendeckend anwendbar sind.
Und es ist nicht sachgerecht, PEPP mit der Frage sektorenübergreifender Leistungserbringung zu befrachten.
Dennoch will ich den Akteuren ein wenig auf die
Sprünge helfen. Ziel soll ja sein, die Durchlässigkeit
zwischen stationärer und ambulanter Versorgung flächendeckend einzuführen. Wegen des Grundsatzes „ambulant vor stationär“ heißt dies, dass ganz überwiegend
eine Überleitung von der stationären Versorgung hin zur
ambulanten Versorgung stattfinden muss. Zwar ist das
auch umgekehrt zu betrachten, aber nicht vorrangig.
Weiterhin muss der Grundsatz berücksichtigt werden,
dass gerade im Bereich der Psychiatrie und der Psychosomatik ein ganz besonderes Vertrauensverhältnis zwischen Patient und Therapeuten bestehen muss. Das
heißt, ein Wechsel in der Person des Therapeuten ist immer heikel und sollte möglichst vermieden werden.
Zu beachten ist ferner, dass der stationäre Sektor mit
angestelltem Personal arbeitet, während der ambulante
Sektor freiberuflich geprägt ist. Was folgt hieraus? Wie
können diese Feststellungen rechtlich und organisatorisch umgesetzt werden? Hierzu rege ich folgenden Vorschlag zur Prüfung an: Stationäre Einrichtungen besetzen den erkannten Personalbedarf im Bereich der
Psychotherapeuten mit eigenem Personal nicht zu
100 Prozent, sondern beispielsweise zu 85 oder 90 Prozent. Der ungedeckte Personalbedarf, der Rest, wird zu
den Honorarkonditionen der freiberuflichen Therapeuten
eingekauft. So könnte eine sektorenübergreifende Versorgung durch Überlappung gelingen. Aus dem somatischen Bereich kennen wir dies bereits unter dem Stichwort „Belegärzte“. Bedenkenträger werden jetzt
einwenden, dass dieser Vorschlag mit multiprofessioneller Hilfe nicht in Einklang zu bringen ist. Denen antworte ich: Das mag ja sein, aber gerade dieser Patientenkreis, der solche multiprofessionelle Hilfe benötigt, ist
nicht derjenige, der ambulant weiterbehandelt werden
kann.
Um aber auf das ursprüngliche Thema zurückzukehren: PEPP kann für eine Einführung der sektorenübergreifenden Versorgung zwar nicht der Problemlöser sein,
er steht ihr aber auch nicht im Wege.
Nach allem bleibt festzustellen: Der heute zur Abstimmung anstehende Antrag verkennt die Chancen, die
PEPP bietet, und es entspricht einfach nicht dem aktuellen Stand des neuen Vergütungssystems. Die Karawane
ist einfach weitergezogen. Da bleibt nur noch Ablehnung.
Vielen Dank.
({1})
Als nächstem Redner erteile ich dem Abgeordneten
Harald Weinberg, Fraktion Die Linke, das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zunächst einmal möchte ich Ihnen für die Anregungen danken, die Sie in Ihrer Rede gemacht haben.
Ich werde gleich an einigen Stellen sicher andere Akzente setzen, aber ich finde es sehr mutig und bemerkenswert, hier Vorschläge zu machen, wie man die Sektoren ein Stück weit durchlässiger machen kann. Das
will ich durchaus anerkennen.
Ferner möchte ich mich bei den Grünen bedanken,
dass wir mit der Beratung dieses Antrags noch einmal
die Gelegenheit haben, über das Entgeltsystem in der
Psychiatrie zu reden. Das ist aus unserer Sicht dringend
notwendig. Wir sehen es eher so, dass das gegebene
PEPP-System ein Überbleibsel aus schwarz-gelber Gesundheitspolitik ist, das der künftige Allianz-Vorstand
Daniel Bahr gegen den Widerstand der Fach- und Patientenverbände vorangetrieben und sozusagen mit einer
Ersatzvornahme durchgesetzt hat. PEPP droht aus unserer Sicht die Versorgung zu verschlechtern und den
Wettbewerb unter den Krankenhäusern auf die Psychiatrien auszuweiten. Das lehnen wir ab.
({0})
Was Krankenhauswettbewerb bedeutet, können wir
heute schon in den nichtpsychiatrischen Krankenhäusern
erleben. Die Einführung der Fallpauschalen vor zehn
Jahren hat dort zu einem Wettbewerb um die meisten
Operationen und die guten Risiken geführt. Ob alle
durchgeführten Operationen wirklich notwendig sind,
darf bezweifelt werden.
PEPP ist nicht völlig identisch mit den Fallpauschalen. Die grundsätzliche Struktur und Ausrichtung sind
jedoch ähnlich. Es gibt auch bei PEPP KalkulationshäuHarald Weinberg
ser, in denen Durchschnittskosten ermittelt werden, die
dann Maßstab, Benchmark für den Wettbewerb der Häuser und psychiatrischen Einrichtungen untereinander
sind. Es werden dann in der Tat ökonomische Gründe
sein, die über die Art entscheiden, wie jemand und wie
lange jemand als psychisch erkrankter Mensch behandelt
wird. Über-, Unter- und Fehlversorgung sind damit aus
unserer Sicht vorprogrammiert.
Dann sorgt PEPP - wir hatten es gerade schon einmal -,
zumindest in der bisherigen Fassung, für ein Ende
moderner Versorgungsformen, bei denen nicht das
Krankenhaus im Mittelpunkt steht, wie zum Beispiel gemeindepsychiatrischer Wohneinrichtungen und anderer
Verzahnungen mit dem ambulanten Bereich; denn durch
solche Einrichtungen verlieren die stationären Einrichtungen - in Anführungszeichen - gute Kunden. Die
Linke ist gegen Markt und Wettbewerb in Krankenhäusern, weil das der Orientierung am Patienten und seinem
individuellen Behandlungsbedarf widerspricht. Das gilt
noch mehr für die psychiatrische Versorgung.
({1})
Der Antrag der Grünen geht aus unserer Sicht insofern in die richtige Richtung, als er das Versorgungsgeschehen und den Versorgungsbedarf in den Mittelpunkt stellt und dann erst fragt: Wie soll das Ganze
sinnvoll finanziert werden? Was ist dafür ein sinnvolles
Finanzierungssystem?
CDU/CSU sehen das Finanzierungssystem PEPP erst
einmal als gegeben, als absolut an - mit der Folge, dass
sich dann das Versorgungsgeschehen daran anpassen
soll. Das ist dann das sogenannte lernende System. Die
Verschiebung der Scharfstellung, also die Verschiebung
der Einführung, hat dann auch nur den Sinn - das haben
wir gerade schon ein bisschen herausgehört -, eine Art
Trainingslager oder Trainingsphase für die Einrichtungen zur besseren Anpassung an das PEPP-System zu
sein. Das lehnen wir allerdings grundsätzlich ab.
({2})
Die SPD war vor der Wahl im letzten Jahr strikt gegen
die Einführung von PEPP. Ich bin gespannt, was die
Koalition aus dieser Gemengelage machen wird. In den
Beratungen in den Ausschüssen haben wir gesehen, dass
die SPD ihre Positionierung verändert hat.
Wir haben aber auch erlebt, dass der Druck von außen, der Druck von den Verbänden, den Gewerkschaften, den Krankenhäusern, den Linken und den Grünen
dazu geführt hat, dass die Optionsphase verlängert worden ist und dass wir ein Moratorium von zwei Jahren haben werden. Wir meinen, dass wir diese zwei Jahre
nutzen müssen, um generell noch einmal darüber nachzudenken, wie wir die psychiatrische Versorgung, und
zwar auch in der Verzahnung der Sektoren und Versorgungsstrukturen, zusammenbringen.
({3})
Wenn ich der SPD etwas raten darf: Auch wenn es
schwerfällt, bleiben Sie bei der Position, dass PEPP ein
Fehler ist und dass es nicht eingeführt werden darf. Lassen Sie sich nicht aus Koalitionsräson zu einer Entscheidung gegen Ihre Überzeugung treiben, die den psychisch
kranken Menschen schaden wird.
Noch ein Wort zu dem Antrag der Grünen. Der
Antrag benennt die Probleme aus unserer Sicht völlig
korrekt. Der Grundansatz, von der Versorgung aus zu
denken, geht in die richtige Richtung. Er ist jedenfalls
besser als alles, was wir bisher von der Koalition vorgelegt bekommen haben. Insofern werden wir ihm zustimmen.
Vielen Dank.
({4})
Der Kollege Dr. Karl Lauterbach hat für die SPDFraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Zunächst einmal muss man den Grünen
dafür danken, dass sie den Antrag eingebracht haben. Es
ist aber klar, dass wir dem Antrag nicht zustimmen können, weil in dem Antrag nur das gefordert wird, was wir
ohnedies tun.
({0})
Wir haben bei der Fraktionsklausur auf dem Petersberg beschlossen, dass wir hart prüfen, ob PEPP der
richtige Weg ist. Wenn PEPP der richtige Weg ist, werden wir es so modifizieren, dass wir wichtige Probleme,
die in dem Antrag der Grünen beschrieben worden sind
und die auch uns bekannt sind, innerhalb des Systems
bearbeiten.
Somit ist der Antrag der Grünen nicht falsch. Er ist
auch hilfreich, weil er noch einmal auf die Probleme hinweist. Aber er ist überflüssig, weil wir im Prinzip zu
dem aufgefordert werden, was wir schon tun. Übrigens
geschieht dies, Herr Weinberg, nicht auf Druck der Grünen, sondern schlicht und ergreifend aus Überzeugung
heraus. Das gilt für die gesamte Große Koalition, auch
für die Union.
({1})
Nur zur Erinnerung: Die Beschlusslage der Fraktion
ist die, dass wir prüfen, ob PEPP grundsätzlich weiterverfolgt wird, und, wenn es weiterverfolgt wird, welche
Veränderungen im System notwendig sind, damit die
Nebenwirkungen, die Sie hier einigermaßen eloquent
beschrieben haben, nicht eintreten. Das ist die Beschlusslage. Nichtsdestotrotz will ich die Gelegenheit ergreifen, noch einmal im Detail auf ein paar Punkte einzugehen. Aus meiner Sicht haben wir in der Struktur der
psychiatrischen Versorgung in Deutschland derzeit ein
paar Grundprobleme, die wir lösen müssen. Ich gehe in
der Kürze der Zeit auf einige wichtige Grundprobleme
ein.
Erstens. PEPP selbst ist ein Vergütungssystem; es ist
keine Strukturreform in der Psychiatrie. Das ist eine
Klarstellung. Die Frage ist, ob wir zuerst die Strukturreform durchführen und dann das Vergütungssystem ändern sollen oder ob man das gleichzeitig machen kann.
Aber es umgekehrt zu machen, wie Kollege Weinberg
unterstellt hat, ist nie angedacht gewesen. Die Einführung von PEPP hat nie bedeutet, dass wir parallel dazu
planen, die Arbeit an notwendigen Strukturreformen in
der Psychiatrie einzustellen. Das hat nie zur Debatte gestanden. Von daher ist das eine Unterstellung.
({2})
Zweitens. Wir haben eine wichtige Problematik im
Bereich der niedergelassenen Psychiatrie. Dort verdrängt
immer mehr die lukrative Richtlinienversorgung die
kurzinterventionelle klassische Psychotherapie oder die
klassische Interventionspsychiatrie. Das ist von großer
Bedeutung. Denn hier wird zum Teil sehr viel Geld bei
geringem Erfolg ausgegeben, und diejenigen, die dringend eine kurzfristige ambulante Versorgung benötigen,
bekommen diese nicht, weil die Plätze fehlen.
In der Tat wandern immer mehr niedergelassene
Hausärzte bzw. Allgemeinärzte und auch Fachärzte in
die Richtlinientherapie ab, und zwar aus ökonomischen
Gründen, weil sich die klassische Versorgung nicht mehr
lohnt. Daran müssen wir arbeiten. Das ist das zweite
Problem.
Das dritte Problem ist: Im Bereich der stationären
Versorgung nimmt die Zahl der psychosomatischen
Häuser und auch die psychosomatische Betreuung zu,
derweil sich die regionale Versorgung in der Psychiatrie
verknappt. Das hat dazu geführt, dass zwar Betten abgebaut worden sind, aber die Kosten um mehr als ein Drittel gestiegen sind und gleichzeitig die Wartezeiten auf
einen dringend notwendigen Platz in der stationären Versorgung in der Regionalversorgung sich immer weiter
ausgedehnt haben - auf über sechs Wochen -, sodass
viele Patienten mit einer erheblichen Verzögerung in die
Versorgung kommen. Das hat zur Folge, dass die Therapie verspätet und in schlechterer Qualität erfolgt.
Innerhalb der psychiatrischen Versorgung haben wir
veraltete Leitlinien. Das betrifft insbesondere die Psychotherapie in der stationären Versorgung, insbesondere
bei der unipolaren Depression, aber nicht nur dort. Dort
wird zu wenig Psychotherapie gemacht. Die Kosten werden nicht erstattet, und die Leitlinienentwicklung, geschweige denn die eigentliche Versorgung in der Psychiatrie erfolgen nicht in dem notwendigen Tempo.
Das nächste Problem ist, dass wir in den Leitlinien
derzeit eine zu geringe Verankerung in der evidenzbasierten Medizin sehen. Die Leitlinien sind zum Teil nach
dem Konsenssystem entwickelt. Sie sind auch weder interdisziplinär noch sektorenübergreifend. Wir brauchen
interdisziplinäre, sektorenübergreifende, evidenzbasierte
Leitlinien. Wir haben jetzt sektorenspezifische, nicht
evidenzbasierte und nicht interdisziplinäre Leitlinien.
Das ist das Problem. Es ist übrigens sehr wichtig, dass es
gelöst wird. Denn nur auf der Grundlage solcher Leitlinien lassen sich die Strukturen entwickeln, die wir entwickeln müssen, wie die Grünen angemahnt haben.
Ich komme zum Schluss. Wir werden Ihnen die derzeit von uns geprüften Vorschläge - wir haben die Fachverbände um Vorschläge gebeten, und wir haben derzeit
auch eigene Alternativvorschläge zu PEPP oder zu einer
Strukturreform mit und ohne PEPP in Vorbereitung - in
Kürze vorstellen können. Aber was die Lösungen angeht
- wir haben vor wenigen Wochen einen entsprechenden
Beschluss gefasst; das war einer der ersten wichtigen
Beschlüsse, zu denen wir fraktionsübergreifend gekommen sind -, werden wir Gegenvorschläge vorlegen.
Bei allem Respekt: Ihr Antrag enthält keinen Gegenvorschlag. Darin werden die bekannten Probleme benannt, aber es gibt keinen konkreten Gegenvorschlag,
der die gerade benannten Probleme lösen würde.
Wir werden das also machen, und wir müssen es machen. Denn Menschen, die psychiatrische Versorgung
brauchen, können sich nicht gegen die falsche Therapie
wehren. Sie sind keine Kunden. Sie sind auf eine zuverlässige, wohlmeinende und gute Versorgung mehr angewiesen als jeder andere.
({3})
Wenn ihre Behandlung schlecht ist, dann hat das besonders gravierende Konsequenzen. Daher ist jede Ökonomisierung dieses Feldes falsch und wird von uns abgelehnt. Daran werden wir uns messen lassen.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Maria Klein-Schmeink für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir Grüne stellen heute unseren
Antrag zur Abstimmung, wohl wissend, dass er, obwohl
er viele gute Argumente enthält - das ließ sich den verschiedenen Wortbeiträgen schon entnehmen -, abgelehnt
wird, wahrscheinlich und ziemlich sicher gegen das
Gewissen und die fachliche Einschätzung der SPDFraktion, zum Glück nicht mit Unterstützung der Linken. Wir sind uns eigentlich einig, dass eine wirkliche
Reform im Bereich der Psychiatrie und der Versorgung
im Bereich der Psychosomatik in Deutschland benötigt
wird.
({0})
Nur Sie von der Union haben sich darauf festgelegt, als
Erstes ein pauschales Entgeltsystem einzuführen. Sie
sind nicht bereit, den langwierigen, rund zehn Jahre dauernden Prozess der Einführung eines rein fiskalischen
Systems mit einer wirklichen Weiterentwicklung der
Versorgung für diejenigen zu verbinden, die psychisch
krank sind und therapeutische Hilfe und soziale Begleitung brauchen. Das ist der eigentliche Punkt, der hier
eine Rolle spielt.
({1})
Karl Lauterbach, es geht nicht darum, zu entscheiden
- ähnlich wie bei Henne und Ei -, ob zuerst eine Strukturreform durchgeführt oder ob zuerst ein neues Entgeltsystem geschaffen werden soll. Natürlich muss beides
Hand in Hand gehen. Die momentane Beschlusslage erlaubt lediglich, das Entgeltsystem auf den Prüfstand zu
stellen. Im Rahmen des FQWG ist von SPD und Union
noch vor der Sommerpause beschlossen worden, dass
die Krankenhäuser, die aufgrund des jetzigen, auch von
der SPD infrage gestellten und kritisierten Entgeltsystems kalkulieren, sogar finanzielle Anreize erhalten. Das
wird dazu führen, dass die Union später sagen wird: Da
schon so viele Krankenhäuser auf dieses Entgeltsystem
umgestiegen sind, können wir das nicht mehr ändern. Genau das werden wir in zwei Jahren wahrscheinlich
erleben. Ich hoffe, dass dem nicht so ist und dass der
Weg der SPD, den sie sich ausgehandelt hat, zumindest
ein anderes, alternatives Entgeltsystem zu überprüfen,
tatsächlich Wirklichkeit wird, sodass wir die Chance haben, über ein anderes, bedarfsgerechtes Entgeltsystem zu
diskutieren.
({2})
Sie haben zwar darauf hingewiesen, dass es auf der
einen Seite um die Finanzierung und auf der anderen
Seite - unbestritten - um die Deckung des Weiterentwicklungsbedarfs geht. Aber Sie bleiben die Antwort
darauf schuldig, wann Sie eine Veränderung der Versorgungsstrukturen angehen wollen, mit welchen Mitteln
Sie das machen wollen und wie Sie dafür sorgen wollen,
dass das künftige und mit so viel Mühe erstellte Entgeltsystem für die stationäre Versorgung geeignet ist, sektorenübergreifende Versorgungsmodelle dauerhaft zu finanzieren. Diese Antwort bleiben Sie uns komplett
schuldig. Das ist ein großer Fehler Ihres Vorgehens.
({3})
Weiterhin fehlt die Sicht auf die Gesamtversorgung.
Wie sieht der Bedarf der jeweiligen Patientengruppen eigentlich aus? Was brauchen sie denn? Was brauchen sie
im der stationären Versorgung vorgelagerten Bereich?
Haben wir tatsächlich ambulante Krisensysteme? Haben
die Betreffenden die Möglichkeit, schnell Zugang zu
psychotherapeutischer Unterstützung zu bekommen?
Halten wir, wenn sich abzeichnet, dass ein Mensch psychisch erkrankt oder in eine Krise gerät, zum Beispiel
eine ausreichende Anzahl an Krisenpensionen im ambulanten Sektor vor? All das haben wir nicht. Sie sehen all
das auch nicht in Ihren Planungen vor. Das ist ein großes
Versäumnis. Das gehört dringend angegangen.
({4})
Das Gleiche muss für die stationäre Versorgung gelten. Auch da müssen wir fragen: Wie bekommen wir es
hin, dass der Übergang von stationärer Versorgung hin in
den Alltag, in die Familie und zurück an den Arbeitsplatz mit dem therapeutischen Personal angegangen
bzw. von ihm begleitet werden kann, das schon in der
Klinik für diese Menschen in der Krise zuständig war?
Auch das ermöglichen Sie auf dieser Basis - so, wie Sie
es jetzt gestrickt haben - nicht. Das gibt es bestenfalls in
Form von Modellvorhaben. Sie sind aber so halbherzig
ausgestaltet, dass man auf ihrer Grundlage keine zukünftige Versorgungsstruktur entwickeln kann.
Genau diese Chance ist verpasst worden. Das ist sehr
schade. Ich hoffe, dass wir hier in zwei Jahren noch einmal neu über ein Entgeltsystem diskutieren können, das
von wirklich tragfähigen Elementen für eine andere Versorgungsstruktur begleitet wird. In diesem Sinne hoffe
ich, dass Sie noch einmal ein bisschen nachdenken. Morgen ist der Tag der seelischen Gesundheit. Das wäre insofern eigentlich ein guter Tag, die gesamte Versorgungsentwicklung weiter voranzubringen.
Danke schön.
({5})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat die Kollegin Emmi
Zeulner das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! In psychiatrischen Einrichtungen in Deutschland werden jährlich 1,1 Millionen Patienten behandelt.
Die Art psychischer Erkrankungen hat sich gewandelt.
Die Zahl der Patienten steigt und wird nach der jetzigen
Prognose noch weiter steigen. Sicherlich kennt jeder von
uns in seinem Bekanntenkreis oder in seiner Familie jemanden, der entweder in der Vergangenheit an einer psychischen Krankheit litt oder heute unter dieser leidet.
Den Betroffenen sowohl im ambulanten wie auch im
stationären Bereich die bestmögliche Versorgung zuteilwerden zu lassen, ist Aufgabe unseres Gesundheitssystems und somit Auftrag an uns Gesundheitspolitiker.
Stationäre und teilstationäre psychiatrische Einrichtungen müssen sich weiterentwickeln. Es gilt, Qualität zu
garantieren und gleichzeitig Transparenz zu schaffen.
Aus diesem Anliegen heraus haben wir 2012 das pauschalierende Entgeltsystem in der Psychiatrie und Psychosomatik - kurz PEPP - eingeführt. Dieses System ist
offen für Verbesserungen und entwickelt sich mit dem
Input der Leistungserbringer stetig weiter. Auch die
Politik darf sich nicht zurücklehnen, sondern muss weiterhin an der stetigen Verbesserung des Systems arbeiten.
Die Einführung von PEPP stieß damals und stößt
auch heute noch auf Widerstände. Zahlreiche Bedenken
wurden von Patientenvertretern, Leistungserbringern
und Verbänden geäußert.
Seien Sie versichert, dass ich das jetzige PEPP weiterhin nicht als der Weisheit letzter Schluss ansehe; aber ich
erkenne auch Fortschritte, die bei der Weiterentwicklung
des Systems gemacht wurden. Denn sowohl die Politik
als auch die Selbstverwaltung haben auf die vielfach geäußerte Kritik an PEPP reagiert. Deshalb sehe ich einige
der Forderungen als erfüllt an.
Als Erstes möchte ich die Forderung nach mehr Zeit
und somit nach einer Verlängerung der Optionsphase
aufgreifen. Auch ich bin der Meinung: Bei einer so tiefgreifenden Neuerung, wie sie das PEPP mit sich bringt,
gilt es, nichts zu überstürzen und die Häuser Schritt für
Schritt mit PEPP vertraut zu machen. Aus diesem
Grunde haben wir - nicht nur die Linken und die Grünen, sondern alle hier im Parlament Anwesenden - beschlossen, die Optionsphase um zwei Jahre zu verlängern und dementsprechend auch die nachfolgenden
Phasen später zu beginnen. Diese verlängerte Frist gibt
den Einrichtungen die Chance, das neue System zu erproben, ohne dass für sie die befürchteten finanziellen
Nachteile entstehen. Um Anreize für eine Beteiligung
am neuen System zu schaffen, kommt den teilnehmenden Häusern in der Optionsphase die doppelte Grundlohnrate zugute. Diesen Anreiz halte ich für eine gute Investition, denn der Erfolg von PEPP hängt entscheidend
von der Beteiligung der Krankenhäuser ab.
({0})
Es sei in aller Klarheit gesagt: Nur wer mitmacht, kann
auch gestalten.
Ein weiterer Kritikpunkt, der bereits von der Selbstverwaltung gelöst wurde, ist die Abschaffung der Degression in der Vergütung. Die Sorge, Patienten könnten
aus ökonomischer Motivation heraus frühzeitig entlassen werden, habe auch ich geteilt. Anders als bei somatischen Erkrankungen ist der Verlauf psychischer Erkrankungen nur schwer vorhersehbar. Nicht bei jedem
Patienten stellt sich am Tag X eine Besserung ein. Drehtüreffekte wären eine mögliche Folge dieser Degression
gewesen. Die Selbstverwaltungspartner sind ihrer Verantwortung nachgekommen und haben diesen Kritikpunkt mit ihrem Beschluss vom April ausgeräumt. Die
rasche Umsetzung durch das InEK im aktuellen Katalog
begrüße ich ausdrücklich. Die Degression wurde, auch
durch die Möglichkeit der Abrechnung des Entlassungstages, weitgehend abgeschafft.
Als dritten Punkt haben wir die individuelle Betreuung Schwerstkranker deutlich verbessert. Wir sind uns
alle einig: Bestimmte Diagnosen verlangen eine besonders intensive Betreuung. Auch dieser Aspekt war zu
wenig in dem alten Entgeltkatalog berücksichtigt. Bei
besonders schweren Verläufen ist eine Eins-zu-eins-Betreuung oder eine Intensivbehandlung des Patienten erforderlich, was mit dem neuen Katalog gewährleistet
wird. So ist es zukünftig Einrichtungen möglich, im Einzelfall bedarfsgerecht ein Zusatzentgelt abzurechnen.
Schließlich hat sich die Selbstverwaltung zum Ziel
gesetzt, den Dokumentationsaufwand zu reduzieren.
PEPP darf nicht zum Bürokratiemonster werden. Nun
müssen wir sicherstellen, dass auch dieser Aspekt zeitnah umgesetzt wird.
Mit dem angestoßenen Entwicklungsprozess haben
wir gezeigt, dass die Aussage, PEPP sei ein lernendes
System, keine leeren Worte sind. Immer noch gibt es
Kritikpunkte. Diesen müssen wir uns selbstverständlich
stellen und die Entwicklung von PEPP auch weiterhin
aufmerksam und kritisch verfolgen. Nur im Dialog mit
den Beteiligten kann es uns gelingen, das Schulkind
PEPP zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen.
Allen Beteiligten steht es zum einen offen, Vorschläge zur Weiterentwicklung von PEPP beim InEK
einzubringen. Ich appelliere, diese Möglichkeit auch
wahrzunehmen. Zum anderen hat das BMG einen strukturierten Dialog angestoßen. Verbände, Selbstverwaltung und Kalkulationshäuser sind aufgerufen, ihre Erfahrungen mit dem neuen Entgeltsystem einzureichen.
Auf Basis dieser Stellungnahmen werden wir das System überprüfen und gegebenenfalls den Empfehlungen
anpassen.
Jedoch sehe ich auch noch Potenzial bei der Ausgestaltung von PEPP. Ich erkenne die Gefahr der Selektion
von Patientengruppen. In der Zeit, die wir durch die verlängerte Optionsphase gewonnen haben, müssen wir unbedingt überprüfen, ob das neue System Anreize zu einer solchen Selektion setzt. Sollten sich diese Bedenken
bestätigen, so gilt es, unbedingt gegenzusteuern. Was sicherlich niemand will, ist ein Wettbewerb unter den
Häusern um die lukrativsten Diagnosen.
({1})
Schließlich wird besonders oft auch die Angst an
mich herangetragen, mit PEPP gehe ein Personalabbau
einher. Eine ausreichende Personalausstattung ist für
eine gute Patientenversorgung unabdingbar. Bereits
heute lässt sich jedoch in manchen Bereichen der Psychiatrie eine Unterversorgung mit Personal beobachten,
wie das Kompetenz-Centrum für Psychiatrie und Psychotherapie - kurz KCPP - feststellte. Besonders in den
sensiblen Bereichen der Kinder- und Jugendpsychiatrie
und der Gerontopsychiatrie müssen wir eine ausreichende Versorgung mit Personal sicherstellen.
Es ist klar: Personalpolitik darf nicht auf dem Rücken
der Patienten ausgetragen werden. Diesen gefährlichen
Zusammenhang hat das KCPP in einer Studie festgestellt. Demnach ist eine Zunahme im Off-Label-Use von
Neuroleptika in der stationären Versorgung von Kindern
und Jugendlichen zu beobachten. Nach Auffassung des
KCPP könnte dieser Off-Label-Use durch ein Mehr an
psychotherapeutischer und damit personalintensiver Behandlung eingedämmt werden.
Auch im Bereich der Gerontopsychiatrie wurde eine
unzureichende aktivierende Pflege festgestellt. Eine ausreichende Versorgung mit Personal müssen wir im Sinne
der Patientengesundheit unbedingt gewährleisten.
({2})
Aus diesem Grund wird der Gemeinsame Bundesausschuss eine Personalrichtlinie erarbeiten, um auch nach
Auslaufen der Psych-PV keine Lücken entstehen zu lassen.
Ich wünsche mir, dass diese Vorgaben nicht nur reinen Empfehlungscharakter haben, sondern mit einer höheren Verbindlichkeit einhergehen; denn die Ärzte, Psychotherapeuten, Pfleger und Heilmittelerbringer stellen
die wichtigste Säule in der Versorgung der Patienten dar,
sowohl im somatischen als auch im psychiatrischen Bereich.
Selbstverständlich muss das langfristige Ziel - und da
sind wir uns alle einig - eine sektorenübergreifende Versorgung sein. Die Schnittstellen zwischen ambulanter
und stationärer Behandlung müssen besser verzahnt werden. Ohne eine leistungsgerechte Vergütung ist jedoch
eine sektorenübergreifende Versorgung nicht möglich.
Es gilt: viel erreicht, noch viel zu tun.
({3})
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Dirk
Heidenblut das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und liebe Zuhörer! Man kann
dem PEPP viel nachsagen, aber eines sicher nicht, nämlich dass es keinen Drive in die Diskussion rund um die
Versorgungsfrage im psychiatrischen Bereich bringen
würde. Das ist eigentlich auch gut so; denn wir brauchen
eine weitere Diskussion über die Frage der Versorgungsstruktur, was ein Teil der Überschrift des Antrags ist.
({0})
Die Frage ist nur - das haben schon einige der Vorrednerinnen und Vorredner gesagt -, ob wir diese Diskussion nun zwingend entlang eines Entgeltsystems als
Dreh- und Angelpunkt führen müssen oder ob wir sie
nicht ganz grundsätzlich zu führen haben.
Dieser Antrag setzt durchaus beim PEPP, also beim
Entgeltsystem, an. Ich will das, was Karl Lauterbach
schon gesagt hat, wiederholen: Natürlich gab und gibt es
Probleme. Natürlich ist es so, dass wir über vernetzte
Strukturen, über die Frage der individuellen Versorgung,
der individuellen Ansprüche nachdenken müssen und
dass wir angemessene Voraussetzungen schaffen müssen. Über 30 Jahre nach der Psychiatrie-Enquete sind
wir an dieser Stelle gefordert, sicherzustellen, dass sich
entsprechende weitere Maßnahmen ermöglichen lassen.
({1})
Was den Antrag angeht, haben wir ja längst reagiert;
denn zumindest Teile des Antrags sind - das werden
nicht einmal Sie von der Hand weisen können - de facto
beschlossen, etwa die Verlängerung der Optionsphase
und damit im Übrigen auch die Verlängerung der PsychPV. Beide Punkte sind in Ihrem Antrag angesprochen,
wenn mich nicht alles täuscht.
Wir haben das Ganze - Karl Lauterbach hat das sehr
deutlich gesagt - mit einem klaren Prüfauftrag versehen,
der eben nicht festschreibt, dass alles so bleiben muss,
wie es ist, sondern der durchaus dafür sorgt, dass wir
auch prüfen, welche Alternativen sich ergeben, welche
Möglichkeiten sich ergeben, um zu schauen, wie das
Versorgungssystem vernünftig ausgestaltet werden kann.
Vor diesem Hintergrund kann man nur sagen: Wir haben
keine Chancen verpasst, wie Sie so schön gesagt haben.
Das mag in der Vergangenheit passiert sein. Für mich
wie vielleicht für einige andere ist es etwas frustrierend,
dass § 64 b SGB V da nicht längst viel mehr Kraft entfaltet hat. Aber wir haben mit der Verlängerung der Optionsphase, mit dem Prüfauftrag und mit der klaren Maßgabe, dass wir uns an den Ergebnissen dieser Prüfung
messen lassen werden, Chancen geschaffen und keine
Chancen verpasst. Das muss man deutlich festhalten.
({2})
Lassen Sie mich noch ein Wort zur Psych-PV sagen.
Natürlich ist es für uns völlig klar, dass Personalbemessung gerade an dieser Stelle, gerade im psychiatrischen
Bereich - da, wo auf Eins-zu-eins-Ebene gearbeitet
wird, wo ein besonderes Verhältnis zwischen demjenigen, der behandelt, demjenigen, der pflegt, demjenigen,
der betreut, und dem psychisch Erkrankten besteht -,
eine zentrale und wichtige Frage ist.
({3})
Aber es ist natürlich nicht damit getan, die Psych-PV
schlicht zu verlängern, sondern wir müssen dafür sorgen,
dass es moderne und vernünftige Strukturen gibt. Um
nur ein Beispiel zu nennen - ich denke, das ist Ihnen allen bekannt -: Die Psych-PV deckt zum Beispiel den Bereich der Psychotherapie im stationären Bereich überhaupt nicht hinlänglich ab. Das heißt, selbst eine
hundertprozentige Erfüllung der Psych-PV würde im
Zweifel an dieser Stelle zwingenden Nachholbedarf geltend machen.
({4})
Wir gehen durchaus davon aus, dass der G-BA, der
im Moment das Heft des Handelns in der Hand hat - die
Kollegin hat es gesagt -, hier Vernünftiges vorlegen
wird. Dazu ist er aufgefordert; da ist er gefordert. Was
die Frage der Verbindlichkeit angeht, da werden wir im
Zweifel allerdings nachschärfen müssen; denn natürlich
muss seine Empfehlung verbindlich und nicht schlicht
sein. Denn nur so wird am Ende auch etwas gemacht.
({5})
Wir müssen aber auch sicherstellen, dass die Verbindlichkeit eingehalten wird. Wir wissen alle: Selbst die
Psych-PV wird bis zum heutigen Tage, was die hundertprozentige Ausschöpfung angeht, nicht wirklich eingehalten.
Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Überhaupt
keine Frage: Wir müssen am Versorgungssystem weiter
arbeiten. Wir müssen das auch im Hinblick auf die Frage
der Gemeindepsychiatrie und andere Aspekte tun. Das
allerdings allein an PEPP aufzuziehen, ist nicht der richtige Weg. Um es deutlich zu sagen: Wenn wir, die SPD,
hier vorangehen, dann tun wir das nicht etwa gegen das
Gewissen, sondern mit dem Wissen, Frau KleinSchmeink, dass wir bereits die richtigen Schritte gegangen sind und dass wir ein System vorlegen werden, das
am Ende allen Beteiligten helfen wird.
Vielen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit zu dem Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Das psychiatrische Entgeltsystem überarbeiten und das Versorgungssystem qualitativ weiterentwickeln“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/1713, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 18/849 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion
gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
und der Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetzes 2014/2015 ({0})
Drucksachen 18/1797, 18/2136
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({1})
Drucksache 18/2639
- Bericht des Haushaltsausschusses ({2})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Drucksache 18/2641
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Wir warten noch einen Moment, bis die notwendigen
Umgruppierungen in den Fraktionen abgeschlossen sind. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Oswin Veith für die CDU/CSU-Fraktion.
({3})
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Dass wir heute einen
Gesetzesvorschlag zur Verbesserung der Beamtenbesoldung debattieren, begrüße ich sehr.
Anfang des Jahres fanden die Tarifverhandlungen für
die Beschäftigten im öffentlichen Dienst statt. Dort einigte man sich nach schwierigen Verhandlungen auf die
Erhöhung der Löhne. Nun steht die Übertragung der dort
erzielten Tarifergebnisse für den öffentlichen Dienst unter anderem auf die Bundesbeamtinnen und Bundesbeamten, Polizistinnen und Polizisten sowie Soldatinnen
und Soldaten an.
Besonders freut es mich, dass die Regierungskoalition
einen Gesetzentwurf vorgelegt hat, der die Zustimmung
aller hier im Haus vertretenen Fraktionen gefunden hat.
Trotz meist kollegialer Harmonie und immer fröhlicher
Sitzungsleitung unseres Vorsitzenden im Innenausschuss
- das darf man hier ja auch einmal sagen - kommt es auch
bei uns im Ausschuss nicht so oft vor, dass wir etwas
einstimmig beschließen. Bei der Besoldung unserer Beamten, Richter, Polizisten und Soldaten sowie den Bezügen der Versorgungsempfänger sind wir uns aber einig,
und das ist auch gut so.
Einig sind wir uns in dem Punkt, dass die getroffenen
Tarifvereinbarungen für die Bediensteten des öffentlichen Dienstes schnell und auch inhaltsgleich unseren beamteten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zugutekommen müssen - und das aus gutem Grund. Aus Artikel 33
Absatz 5 des Grundgesetzes ergibt sich das Alimentationsprinzip als einer der hergebrachten Grundsätze des
Berufsbeamtentums. Es verpflichtet den Dienstherrn,
Beamten während des aktiven Dienstes und im Ruhestand einen angemessenen Lebensunterhalt zu zahlen.
Aus § 14 Bundesbesoldungsgesetz und aus § 70 Bundesversorgungsgesetz ergibt sich für den Gesetzgeber die
Verpflichtung, die Bezüge der Beamten, Soldaten und
Richter des Bundes sowie der Versorgungsempfänger regelmäßig an die allgemeinen wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse anzupassen, und das tun wir heute.
Der hier vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetz 2014/2015, den wir heute in zweiter und
dritter Lesung und damit abschließend beraten, sichert
allen Statusgruppen des öffentlichen Dienstes des Bundes eine gleichgerichtete Bezügeentwicklung zu. Das ist
sowohl ein in die Zukunft gerichtetes Zeichen als auch
ein klares Signal unserer gelebten Verantwortung.
({0})
Mit der zeit- und inhaltsgleichen Umsetzung des Tarifabschlusses zeigen wir, dass wir um den Wert der Arbeit wissen, die unsere Bundesbeamten tagtäglich verrichten. Die Beamtinnen und Beamten leisten einen
elementaren Beitrag zum Gemeinwohl und zum Erfolgskurs unseres Landes, indem sie ein breites Spektrum an
öffentlichen Dienstleistungen abdecken. Ja, sie managen
tagtäglich in unserem Auftrag sehr erfolgreich unser
Land.
Dass dies geschätzt wird, muss auch zum Ausdruck
gebracht werden. Unsere Beamten sorgen nicht nur für
einen reibungslosen Ablauf in der Verwaltung, vollziehen unsere Gesetze, sprechen Recht, verteidigen unser
aller Freiheit nicht nur am Hindukusch, sondern bewahren auch unser Hab und Gut sowie unsere Sicherheit und
Ordnung jeden Tag aufs Neue, und zwar im In- und Ausland. Ohne diesen Einsatz wäre vieles nicht möglich.
({1})
Trotz vieler Reformen, Neuorganisationen, Aufgabenerweiterungen, Stellenkürzungen und Überstunden, die die
Polizei, die Soldaten und die Beamten in den letzten Jahren durchmachen mussten, haben sie unter vollen Segeln
mit oftmals wackeliger Takelage Kurs gehalten, unserem
Land treu und loyal gedient und so uns alle nach vorn
gebracht. Dafür gebühren Dank und Anerkennung.
({2})
Wir alle sollten uns deshalb so gut funktionierender
Behörden und Dienststellen in unserem Land glücklich
schätzen. Das ist ein unschätzbarer Standortvorteil für
Deutschland, was wir im Vergleich mit unseren EUNachbarn und vor allem angesichts bei uns bewältigter
Krisen auch immer wieder merken.
In Zahlen ausgedrückt ist der Gesetzesinhalt - wie
schon in den Jahren zuvor - die lineare Anhebung der
Dienst- und Versorgungsbezüge in zwei Schritten: in einem ersten Schritt, rückwirkend zum 1. März 2014, um
2,8 Prozent und im zweiten Schritt zum 1. März 2015
um 2,2 Prozent. Für die Grundgehälter gilt eine Erhöhung um mindestens 90 Euro.
Bei den Anwärtergrundbeträgen gehen wir ebenfalls
in zwei Schritten vor und erhöhen diese in einem ersten
Schritt um 40 Euro, rückwirkend zum 1. März 2014, und
in einem zweiten Schritt zum 1. März nächsten Jahres
um weitere 20 Euro.
Bereits in der letzten Wahlperiode wurde der Tarifabschluss entsprechend auf die Beamtenbesoldung übertragen. Wir gehen diesen Weg nun weiter und setzen damit
ein klares Signal für die Attraktivität und Zukunftsfähigkeit unseres öffentlichen Dienstes und damit auch unseres Staates.
Mit dem heute zur Debatte stehenden Gesetz kommen
wir unserer Verantwortung nach und erfüllen mit der
Übertragung der Tarifergebnisse - neben einer Anpassung der Besoldung an die wirtschaftlichen Verhältnisse
der Gegenwart - noch eine weitere Funktion: Wir begegnen den Auswirkungen des Demografiewandels, der
dem öffentlichen Dienst in Zukunft erhebliche Probleme
bereiten wird, wenn wir nicht gegensteuern.
Der Wettbewerb um die besten Köpfe in unserem
Land ist längst in vollem Gange, und dieser ist angesichts einer sich stetig verändernden Altersstruktur und
einer zurückgehenden Zahl an Kindern eine der größten
Herausforderungen für unseren öffentlichen Dienst. Es
ist ein offenes Geheimnis, dass eine Abwanderung der
Fachkräfte in die Privatwirtschaft droht. Dies ist kein
fernes Zukunftsszenario, sondern bereits jetzt spürbar.
Das wird mir auch von allen Seiten berichtet.
Der Bund als Dienstherr von rund einer halben Million
Beschäftigten im öffentlichen Dienst auf Bundesebene berücksichtigt bereits jetzt diese Herausforderungen. Der öffentliche Dienst in Deutschland ist in zweifacher Hinsicht vom demografischen Wandel betroffen. Zum einen
sind der immer stärker umkämpfte Arbeitsmarkt und die
Gewinnung geeigneten Nachwuchses für die unterschiedlichsten Aufgaben der Verwaltung zu nennen.
Zum anderen muss der öffentliche Dienst aber auch den
älter werdenden Beschäftigten gerecht werden. Eine demografiegerechte Personalpolitik ist daher für alle Ebenen der Verwaltung von stets wachsender Bedeutung.
Das schließt - trotz aller haushaltspolitisch gebotenen
Sparmaßnahmen - eine aufgabengerechte Personalausstattung bei Verwaltung, Polizei, Justiz und auch Bundeswehr ein.
Mit der kontinuierlichen Übertragung der Tarifergebnisse setzen wir ein richtiges Signal für die Bundesbeamten und auch die zukünftigen Arbeitskräfte. Wir
zeigen, dass die Teilhabe unserer Beamten am wirtschaftlichen Erfolg unseres Landes einen wichtigen Stellenwert hat.
Eine gute Ausbildung und verlässliche Arbeitsbedingungen bei ansprechender Absicherung sind die Stärken
des öffentlichen Dienstes. Nur durch den Ausbau dieser
Stärken können wir mit der Privatwirtschaft in Konkurrenz treten und qualifizierte, motivierte Arbeitnehmer
für den öffentlichen Dienst begeistern und dem Fachkräftemangel entgegentreten.
Schon in der vorangegangenen Wahlperiode haben wir
daher entsprechende Anreize und klare Akzente gesetzt.
Seit 2012 wird die Sonderzahlung - auch als Weihnachtsgeld bekannt - wieder gewährt. Mit dem Fachkräftegewinnungsgesetz haben wir eine Reihe von positiven Maßnahmen auf den Weg gebracht, wie zum
Beispiel den Personalgewinnungszuschlag, die Anerkennung von Erfahrungszeiten, von Wehrdienst- und Freiwilligendienstzeiten, von Kinderbetreuungs- und Pflegezeiten oder die Einführung einer Verpflichtungsprämie
für polizeiliche Auslandsverwendungen. Wir haben den
Eintritt in den Ruhestand flexibler gestaltet, gleiche
Rechte für Lebenspartnerschaften und die Familienpflegezeit im Beamtenrecht umgesetzt. Wir haben die Vergütungen von Professoren verbessert, das Leistungsprinzip
gestärkt und die Portabilität von Versorgungsanwartschaften geschaffen.
Alles das waren in nur vier Jahren beachtliche Verbesserungen für den öffentlichen Dienst insgesamt, die
- an dieser Stelle zu erwähnen - auch noch einmal deutlich das Engagement der Bundesregierung hervorheben.
Auf dieser großartigen Erfolgsbilanz baut die heutige
Übernahme der Tarifergebnisse auf und setzt sie fort.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung senden wir auch ein klares Signal an die Bundesländer. Die inhaltsgleiche Übertragung der Tarifergebnisse
wird auf Länderebene immer noch von Bundesland zu
Bundesland unterschiedlich gehandhabt. Auch die Länder werden den Fachkräftemangel zu spüren bekommen,
wenn sie nicht gleichzeitig handeln. Ich kann nur alle
Landesregierungen von hier aus dazu aufrufen, die
Chance zum Handeln nicht zu verpassen.
({3})
Dem Bund kommt in dieser Hinsicht eine Vorbildfunktion zu, welche wir aus meiner Sicht voll und ganz erfüllen. Das zeigt nicht zuletzt der heute vorliegende Gesetzentwurf.
Die nunmehr im Gesetzentwurf vorgesehenen Verbesserungen bei der Besoldung sind allesamt sehr gute Vorschläge, weshalb ich keine Änderungen am Gesetzentwurf beabsichtige, der unser aller Unterstützung
verdient.
Herzlichen Dank.
({4})
Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Frank
Tempel das Wort.
({0})
Danke schön. - Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr
geehrte Damen und Herren! „Mehr Geld für Beamte“ ist
die häufig vereinfachte Aussage dessen, was wir heute
hier beschließen wollen. Es geht, wie gesagt, um eine
Entgelterhöhung um 3 Prozent, mindestens aber 90 Euro,
rückwirkend zum 1. März dieses Jahres, und eine weitere Erhöhung um 2,4 Prozent zum 1. März 2015.
Wie der Kollege Veith richtig gesagt hat, soll die Besoldungs- und Versorgungsanpassung dazu führen, dass
die Dienst- und Versorgungsbezüge im Bund an die Entwicklung der allgemeinen wirtschaftlichen und finanziellen Lage angepasst werden. Das ist also ein ganz normaler Vorgang. Tarifbeschäftigte haben ihren Tarifstreit,
Beamte haben das nicht. Dementsprechend verlassen
sich Beamtinnen und Beamte natürlich darauf, dass die
zuständigen Parlamente rechtzeitig die entsprechenden
Gesetze erlassen. Für Bundesbeamte sind wir hier zuständig.
Grundlage für die Erhöhung ist der Tarifbeschluss für
die Tarifbeschäftigten des öffentlichen Dienstes des
Bundes vom 1. April dieses Jahres, welcher zeitnah und
inhaltsgleich übernommen werden soll. Bei der Gelegenheit möchte ich alle, die gerade zuhören, auf etwas
hinweisen: Auch dieses Mal ist die Erhöhung um
0,2 Prozent gemindert worden. Diese 0,2 Prozent werden einer Versorgungsrücklage zugeführt. Das heißt, bei
jeder Umsetzung eines Tarifergebnisses leisten Beamte
einen Beitrag zur Finanzierung ihrer Altersversorgung.
Das muss der Fairness halber einmal erwähnt werden;
denn viele wissen das nicht.
Dass das Tarifergebnis ansonsten zeitnah und inhaltsgleich übernommen wird, betrachte ich eigentlich als
Selbstverständlichkeit. Ich begrüße es ausdrücklich, dass
es der Bund und die Bundesregierung auch so sehen; das
hat schon eine gewisse Tradition. In den Ländern gibt es
manchmal etwas mehr Diskussionsbedarf.
Der Deutsche Beamtenbund wertet die zügige Umsetzung des Gesetzes dementsprechend als Zeichen der
Wertschätzung des Dienstherren für seine Beamtinnen
und Beamten und erkennt hier ein wichtiges Signal.
Wenn ich die Ausführungen des Kollegen Veith richtig
verstanden habe, dann sieht er darin auch ein Signal, ein
Signal, sich hier einmal richtig für die Arbeit feiern zu
lassen. Mir sind die Ergebnisse der Arbeit aber, ehrlich
gesagt, etwas zu dünn, um eine Feierstimmung aufkommen zu lassen.
({0})
- Sie konnten jetzt nicht erwarten, dass ich Sie fünf Minuten lobe. So weit wollen wir heute nicht gehen.
({1})
Es ist bekannt, dass sich die Linke immer wieder kritisch mit einigen Aufgabenfeldern der Beamten auseinandersetzt, etwa bei der Bundeswehr, bei der Polizei,
beim Zoll usw., wo es ja Beamte gibt. Das heißt, dass wir
die Bundeswehr nicht unbedingt als Friedensbringer in
Afghanistan sehen. Sie kennen auch unser Streitthema
„Polizei und Bürgerrechte“; da geht es zum Beispiel um
die Vorratsdatenspeicherung, die Kennzeichnungspflicht für Polizeibeamte und die Forderung nach einem
unabhängigen Polizeibeauftragten. Darüber streiten wir
miteinander. Aber bei all diesen Diskussionen ist für die
Linke immer eines klar: Menschen, die ihren Dienst im
Staatsauftrag versehen, haben das Recht und den Anspruch auf ein ordentliches finanzielles Auskommen,
({2})
auf zumutbare Arbeitsbedingungen und auf eine angemessene Ausstattung im Dienst, um ihre Arbeit tatsächlich ausführen zu können.
({3})
Wenn man die Arbeit dieser Menschen wirklich wertschätzen will, dann kann man ihnen nicht immer wieder
neue Aufgaben übertragen, ohne das bisherige Aufgabenfeld einer gründlichen Analyse unterzogen zu haben.
Als ehemaliger Polizeibeamter möchte ich das ein
wenig am Beispiel der Bundespolizei verdeutlichen. In
Pressemeldungen vom 24. August dieses Jahres - das ist
also relativ aktuell - wurde ausgeführt, dass die Bundespolizei nach derzeitigem Stand rechnerisch zahlungsunfähig sei. Das muss man sich einmal genau anhören. Der
Innenausschuss hat sich bis heute nicht damit beschäftigt, genauer gesagt, eine Information der Bundesregierung an den Innenausschuss hat es bis heute zu solch einer Meldung nicht gegeben. Das wurde immer wieder
hinausgeschoben. Ist das Wertschätzung der Beschäftigten?
Bundespolizisten und ihre Personalvertreter berichten
uns immer wieder von unhaltbaren baulichen Zuständen
in den Dienststellen, von defekten Sanitäranlagen, von
verschimmelten Räumen. Allerdings stecken Neubau
und Sanierung sehr häufig im Investitionsstau fest, auf
welcher Autobahn auch immer. Meinen Sie das vielleicht mit Wertschätzung?
Ich habe noch ein Beispiel. Bundesbeamte haben ihren Dienst eigentlich mit dem Laufbahnprinzip begonnen. Jahr für Jahr reden wir aber über einen Beförderungsstau.
({4})
So ist es normal, dass zum Beispiel Bundesbeamte im
mittleren Dienst trotz guter Beurteilung häufig nicht darauf vertrauen können, das Endamt ihrer Laufbahn überhaupt zu erreichen. Beförderungsstau ist nach wie vor
ein aktuelles Thema, auch beim Bund. Reden Sie einfach
einmal mit den Vertretern der Bundespolizeigewerkschaft,
({5})
dann wird man Ihnen das bestätigen.
Meine Damen und Herren, wenn ich Menschen und
ihre Arbeit wertschätzen will, dann würde ich das nicht
gerade dadurch zeigen wollen, dass sie mit immer weniger Ressourcen noch mehr Aufgaben übernehmen. Ich
bleibe auch gleich bei der Bundespolizei, weil Sie diesbezüglich wohl Zweifel haben. Die Lücke, die der Stellenabbau gerissen hat, wird von den Personalvertretern
mittlerweile auf 800 Stellen beziffert. Diese Lücke ist
nicht geschlossen worden, im Gegenteil: Jetzt soll zum
Beispiel die Bundespolizei auch noch die Bewachung
der Bundesbank übernehmen. Allein dafür werden weitere 200 Stellen benötigt. So geht das seit Jahren, und
das ist alles andere als eine Wertschätzung der Arbeit der
Bediensteten. Sie sind bereits lange an der Leistungsgrenze angekommen. Der Gipfel der Peinlichkeit war,
dass zu Beginn dieses Jahres Beamte, die in den Ruhestand gehen wollten, in einem Schreiben überredet werden sollten, noch einige Monate an den Dienst dranzuhängen, um Personalfehlbestände auszugleichen.
Bei all diesen Fragen wird die Linke der Bundesregierung und der Regierungskoalition weiter kräftig auf die
Füße treten, an der Seite der Beschäftigten stehen. Das
ist unsere Variante der Wertschätzung.
({6})
Der Kollege Matthias Schmidt hat für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren auf den Zuschauertribünen! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Nicht geschenkt, sondern verdient, das
war das Motto, das wir hier im Sommer für das Rentenpaket gefunden hatten. Das Rentenpaket ist seit 1. Juli
2014 in Kraft, und es erfreut sich großer Beliebtheit.
Dieses Motto könnte auch als Leitmotiv für das heutige
Gesetz dienen, das Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetz.
Wir werten und würdigen mit dem heutigen Gesetz
die Leistungen des öffentlichen Dienstes in Deutschland.
Der öffentliche Dienst ist organisatorisch zweigeteilt.
Wir haben auf der einen Seite die Beamten und auf der
anderen Seite die Tarifbeschäftigten. Die Tarifbeschäftigten waren früher noch einmal untergliedert in Arbeiter
und Angestellte. Diese Gruppen sind inzwischen zusammengefasst. Wesentlich bei den privatrechtlichen Arbeitsverhältnissen ist, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer die Gehälter selbst aushandeln und in Tarifverträgen
festschreiben können.
Im öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis der Beamten gibt es das nicht. Deswegen braucht es
ein Gesetz, um die Besoldung und die Versorgung festzusetzen. Es ist sehr gute Übung, dass der Bundesinnenminister versucht, das Ergebnis der Tarifverhandlungen
des öffentlichen Dienstes zeit- und inhaltsgleich zu übernehmen und auf die Beamtinnen und Beamten zu übertragen. In der Vergangenheit ist das in einigen Fällen
nicht gelungen, damals jeweils aus guten Gründen. Aber
dieses Mal ist es wieder gelungen, dass die Vorlage dies
vorsieht. Dafür herzlichen Dank!
({0})
Im Ergebnis können also die Bundesbeamtinnen und
-beamten eine Erhöhung ihrer Bezüge um 2,8 Prozent
ab 1. März 2014 erwarten. Diejenigen in den unteren
Einkommensklassen können mindestens 90 Euro pro
Monat mehr erwarten. Im Gesetzentwurf ist ein Beispiel
angeführt: Ein Beamter in der Besoldungsgruppe A 3
bekommt demnach dann 4,5 Prozent mehr. Ich finde, es
ist ein besonders gutes Ergebnis, dass man auch an die
kleinen Leute gedacht hat.
Im kommenden Jahr werden alle Beamtinnen und Beamten ab 1. März nochmals 2,2 Prozent mehr bekommen. Kollege Tempel sprach eben davon, dass sie 3 Prozent bzw. 2,4 Prozent mehr bekommen. Das ist zwar
richtig, aber zur Wahrheit gehört - er hat es selbst auch
gesagt -, dass wir diese Erhöhungsbeträge um 0,2 Prozentpunkte reduziert haben, um die Versorgungsrücklage
zu stärken. Auch dies sollte hier im Haus erwähnt werden.
Die Anwärterbezüge - das sind die Gehälter für die
Nachwuchsbeamten - steigen zum 1. März 2014 um
40 Euro und ein Jahr später um weitere 20 Euro. Auch
dies empfinden wir als gutes Signal in Bezug auf die
Nachwuchsgewinnung, insbesondere vor dem Hintergrund des demografischen Wandels.
({1})
Von diesem Gesetzentwurf, den wir heute beschließen
wollen, werden insgesamt knapp 500 000 aktive Beamte
und gut 600 000 Versorgungsempfänger, landläufig als
Matthias Schmidt ({2})
Pensionäre bezeichnet, profitieren. Dass man von aktiven Beamten spricht, dass man allein schon diese Unterscheidung treffen muss und sie aktive Beamte nennt
- dabei geht es doch nur um diejenigen, die arbeiten -,
insinuiert, es gäbe auch inaktive Beamte. Jeder von uns
kennt auch böse Sprüche über die Beamten. Die sind im
Großen und Ganzen aber nicht gerechtfertigt. Schon
Kurt Tucholsky hat vor vielen Jahren von dem Schicksal
der Deutschen geschrieben, die vor einem Schalter stehen müssen, während das eigentliche Ideal bei der Berufswahl jedoch darin bestanden hätte, hinter diesem
Schalter zu sitzen. Solche oder ähnlich ironische Kommentare gibt es viele. Wir kennen sie alle auch aus der
Praxis. Aber wir wissen: Der Spott war schon damals
falsch, und er ist es heute erst recht; denn ohne unsere
Beamtinnen und Beamten liefe an vielen Stellen in unserer Demokratie sehr wenig. Der öffentliche Dienst ist
eine wesentliche Säule unserer Demokratie.
({3})
Er steht jeden Tag Millionen von Menschen zur Verfügung. In Behörden beraten seine Angehörigen Bürgerinnen und Bürger und bearbeiten wahre Fluten von Akten. In Schulen leisten sie echte Zukunftsarbeit an den
Kleinsten, und in den Gerichten bringen sie das zur Anwendung, was vorher durch den Gesetzgeber, also durch
uns, entschieden wurde. Es sind die Beamtinnen und Beamten, die sich für uns als Polizistinnen und Polizisten in
jeder Stadt und Kommune im Einsatz befinden. Liebe
Kolleginnen und Kollegen, Sie wissen alle, dass dies oft
mit Risiken einhergeht. Viele Fußballspiele und Demonstrationen laufen nicht ohne physische und psychische
Blessuren für die Dienerinnen und Diener des Staates ab.
Außerhalb unserer Grenzen - die Kollegen haben schon
darauf hingewiesen - sind es Soldatinnen und Soldaten,
die in gefährlicher, oft lebensgefährlicher Mission für
uns ihren Einsatz leisten.
Im Alltag gibt es aber noch viel mehr. Auch hier im
Saal werden wir immer wieder von Beamtinnen und Beamten unterstützt. Es geht hinter den Reihen der Bundesregierung los. Dort sitzen die Beamtinnen und Beamte
aus den Ministerien, die die Bundesregierung unterstützen. Um das Rednerpult sitzen viele, die uns unterstützen. Es sind die Saaldiener, die zu uns kommen, wenn
wir eine kleine Hilfe brauchen. Das sind immer wieder
gute Beispiele. Die Beamtinnen und Beamten repräsentieren in vielfacher Weise unseren Staat und leisten überaus viel für unsere Gesellschaft. Das verdient Respekt
und Anerkennung.
({4})
Nun mag manch ein Zuhörer sagen: Die öffentliche
Hand ist ja auch ein guter und attraktiver Arbeitgeber. Das stimmt auch. Noch immer profitiert der öffentliche
Dienst davon, dass die Menschen mit ihm einen planbaren beruflichen Werdegang und eine sichere berufliche
Existenz verbinden, und das auch zu Recht. Allerdings
darf das nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch hier
längst Erscheinungsformen Einzug gehalten haben, die
diese Sicherheit begrenzen. Leiharbeit und Befristungen
gehören zu den prägnanten Varianten, die inzwischen
auch in der Personalpolitik der öffentlichen Verwaltung
Anwendung finden. Wir sind uns hoffentlich in diesem
Hause einig: Der öffentliche Dienst muss mit guter Arbeit seine Attraktivität bewahren. Das gilt besonders vor
dem Hintergrund der demografischen Entwicklung.
Zur Attraktivität zählt auch eine gute Bezahlung. Da
ist es nur folgerichtig, dass die Ergebnisse der Tarifverhandlungen auf die Bundesbeamtinnen und Bundesbeamten zeit- und inhaltsgleich übertragen werden. Lassen
Sie mich ausdrücklich sagen: Es ist nicht geschenkt, sondern verdient.
({5})
Was Beamtinnen und Beamte leisten, habe ich Ihnen
gerade in Auszügen geschildert. Sie haben Anspruch auf
Teilhabe am wirtschaftlichen Erfolg unserer Gesellschaft. Der vorliegende Gesetzentwurf zollt diesem Anspruch Rechnung.
Wenn es auch für die betroffenen Beamtinnen und
Beamten quasi eine Selbstverständlichkeit ist, dass das
Tarifergebnis eins zu eins übertragen wird, so ist es dies
aus Sicht von Bundestag und Bundesregierung eben
nicht. Darum danke ich sehr dem Herrn Bundesinnenminister, dass er in Zusammenarbeit mit dem Finanzminister diese Gesetzesvorlage ermöglicht hat. Wie gesagt: Es ist verdient und nicht geschenkt. Gleichwohl
kostet dieses Gesetz den Bundeshaushalt in den kommenden drei Jahren über 2,5 Milliarden Euro - gut angelegtes Geld, wie ich finde.
Da dieses Gesetz nicht nur die sogenannten aktiven
Beamten, sondern auch die Versorgungsempfänger betrifft, möchte ich die Gelegenheit nutzen, auch ein anderes Thema anzusprechen. Es gibt nämlich längst Diskussionen, auch andere Beschlüsse aus dem eingangs
erwähnten Rentenpaket auf Beamtinnen und Beamte zu
übertragen: die abschlagsfreie Rente nach 45 Beitragsjahren und die Mütterrente.
Herr Staatssekretär, ich kenne die Meinung Ihres
Hauses zu dieser Thematik, und ich respektiere diese
auch sehr. Gleichwohl wird hier zu Recht der Gerechtigkeitsaspekt zwischen Beschäftigten der Privatwirtschaft
und der öffentlichen Hand aufgeworfen. Was wollte man
auch moralisch gegen diese Bewertung sagen? Uns ist
aber bewusst: Eine Entscheidung ist hier nicht so einfach. Es gibt systemische Unterschiede, eine wirkungsgleiche Übertragung ist kompliziert, und viele Aspekte
müssen Berücksichtigung finden.
Ich habe Verständnis für die Argumente des Ministeriums und verstehe das Anliegen, dieses erst einmal intensiv prüfen zu wollen. Dennoch, liebe Kolleginnen
und Kollegen, sollten wir uns in diesem Haus auch dieser Frage widmen, sowohl in den Fraktionen als auch in
der Zusammenarbeit mit der Regierung. Ich freue mich
auf die Diskussion mit Ihnen.
Vielen herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Irene Mihalic für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Natürlich ist die Übernahme des Tarifabschlusses
zu begrüßen. Das haben wir alle in der ersten Lesung
einhellig getan. Es ist völlig richtig, dass die Beamtinnen
und Beamten im öffentlichen Dienst eine wertvolle und
anspruchsvolle Arbeit für die Allgemeinheit leisten, die
selbstverständlich unser aller Wertschätzung verdient.
Aber es stellt sich natürlich die Frage: Reicht das
denn eigentlich aus? Ich meine, dass die Wertschätzung
anspruchsvoller Arbeit nicht nur eine finanzielle Frage
ist. Wenn Sie von der Koalition sich jetzt dafür feiern,
dass die Bezüge um 2,8 Prozent bzw. in einem weiteren
Schritt um 2,2 Prozent steigen, dann zeigt das eigentlich
nur, dass Sie keine Ideen haben, mit den personellen Herausforderungen im öffentlichen Dienst umzugehen.
({0})
Herr Schmidt, mit mehr Geld allein ist es eben nicht
getan. Sie haben vorhin angesprochen, dass der Staat für
viele Menschen vom Prinzip her ein attraktiver Arbeitgeber ist, vor allem ein attraktiver Arbeitgeber für gutes
Personal. Aber ich bin mir sicher, dass das in der Form,
wie Sie das geschildert haben, nicht mehr zutrifft. Denn
wir müssen schlicht anerkennen, dass sich der Staat in
einem ziemlichen Konkurrenzkampf mit der Wirtschaft
um die besten Köpfe befindet,
({1})
und dass der Staat diesen Konkurrenzkampf häufig nicht
für sich entscheiden kann, das bleibt nun einmal nicht
ohne Folgen.
Lassen Sie mich als Beispiel die Missstände bei der
Bundeswehr nennen, über die wir gestern in der Aktuellen Stunde sehr lange diskutiert haben. Dort haben wir
auch erfahren, dass die betreffenden Projekte einen Umfang von 56 Milliarden Euro haben. Der Expertenbericht
des Bundesverteidigungsministeriums macht deutlich,
dass die erheblichen Verzögerungen dieser Projekte um
viele Jahre mit einer deutlichen Kostensteigerung verbunden sind. Im Expertenbericht wird auch ein Grund
dafür genannt, nämlich dass die Juristinnen und Juristen
des Ministeriums, die diese Verträge aushandeln, teilweise nicht mit den hochdotierten Spitzenkolleginnen
und -kollegen der Industrie mithalten können. Mit anderen Worten: Sie laufen Gefahr, bei solchen entscheidenden Vertragsverhandlungen schlicht über den Tisch gezogen zu werden.
({2})
Ich will Ihnen ein weiteres Beispiel aus diesem Bereich nennen: das milliardenschwere Projekt des Schützenpanzers Puma. Die Mitarbeiter im Ministerium sollen
da einen einfachen Mustervertrag aus dem Intranet verwendet haben. Es kann doch nicht sein, dass ein Vertrag,
der vielleicht für die Beschaffung von Büromaterial oder
von anderen Dingen verwendet wird, nun für die Entwicklung von Panzern verwendet wird, wofür Milliarden
an Steuergeldern ausgegeben werden. Liebe Kolleginnen
und Kollegen, ich selbst bin keine Juristin, aber dass es
bei solchen Verträgen ein paar wesentliche Unterschiede
gibt, das leuchtet selbst mir ein.
({3})
Ministerin von der Leyen selbst hat nun vor, sich diesem Missstand zu widmen und Spitzenpersonal offensiv
anzuwerben und besser zu bezahlen. Wenn das tatsächlich gelingt, kann ich der Ministerin nur gratulieren,
denn ich muss sagen: Lieber Geld in kluge Köpfe stecken als in überteuerte Projekte.
({4})
Herr Veit, Sie haben die Koppelung der beamtenrechtlichen Besoldung an die wirtschaftliche Entwicklung angesprochen, also das Alimentationsprinzip. Dabei haben Sie herausgestellt, dass das der Erfüllung der
Fürsorgepflicht gegenüber dem Beschäftigten dient,
letztlich aber auch der Allgemeinheit. Dabei geht es aber
auch um die Aufrechterhaltung einer fachlich leistungsfähigen Verwaltung. Bestens ausgebildete und damit
hochqualifizierte Mitarbeiter dürfen natürlich auch eine
angemessene Bezahlung erwarten. Das ist Ausdruck des
Respekts und der Wertschätzung. Gute Bezahlung ist ja
auch im Leistungsprinzip angelegt.
Es gibt aber ein Problem: dass der Staat auch bei den
Gehältern nicht mit der Privatwirtschaft konkurrieren
kann. Mit ein wenig Innovation und Fantasie könnte
man die Arbeitsbedingungen im öffentlichen Dienst aber
deutlich attraktiver und nachhaltiger gestalten. Ich nenne
als Stichwort - das ist vorhin schon angesprochen worden - die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Damit
meine ich jetzt nicht nur die Betreuung von Kindern,
sondern auch die von pflegebedürftigen Angehörigen.
Wir brauchen auch eine echte Willkommenskultur gegenüber Migrantinnen und Migranten. Reformvorschläge und Konzepte, wie der öffentliche Dienst tatsächlich attraktiver gestaltet werden kann, vermisse ich
aufseiten der Bundesregierung. Im Gegenteil: Es steht zu
befürchten, dass Sie die Besten sogar noch ziehen lassen; denn viele der Absolventinnen und Absolventen,
die im öffentlichen Dienst eine Ausbildung gemacht haben, wechseln in die freie Wirtschaft.
({5})
All diese Dinge, denen es an Attraktivität mangelt,
sind in der Bundesregierung hinreichend bekannt. Es
werden dann schnell Programme und Eckpunktepapiere
erstellt. Bei der Umsetzung in die Praxis scheint es aber
zu hapern. Deswegen mein ganz dringender Appell: Wir
müssen im öffentlichen Dienst vom Programm zum
Prinzip kommen. Ich kann nur hoffen, dass die Verschwendung und die Skandale im Verteidigungsministerium ein warnendes Beispiel dafür sind, dass das Sparen
am Personal uns alle am Ende teuer zu stehen kommt.
Vielen Dank.
({6})
Die Kollegin Andrea Lindholz hat für die CDU/CSUFraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Es geht heute -
Kollegin Lindholz, darf ich Sie kurz unterbrechen?
Ich habe die Uhr angehalten. Das wird nicht auf Ihre Redezeit angerechnet.
Ich bitte diejenigen, die auf der Regierungsbank ihrer
verantwortungsvollen Tätigkeit nachgehen, das so zu
tun, dass die Kolleginnen und Kollegen, die im Plenum
sitzen und den Ausführungen der Rednerin folgen wollen, dies auch können. Mir ist glaubhaft übermittelt worden, dass alle Ihrer Gesprächsinhalte unter Umgehung
jeglichen Datenschutzes gut im Saal zu verstehen sind.
Ich glaube, das ist nicht im Sinne der Sache.
({0})
Ich finde auch, dass wir es den Stenografinnen und Stenografen nicht zumuten sollten, Ihre Gespräche jetzt
auch noch im Protokoll unserer Sitzung zu veröffentlichen.
({1})
Kollegin Lindholz, Sie haben das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Es geht heute um das Bundesbesoldungsund -versorgungsanpassungsgesetz. Wer hier von Wertschätzung unserer Beamtinnen und Beamten spricht, der
sollte meines Erachtens beim Thema bleiben. Um die
Angelegenheiten der Bundeswehr kümmern sich bei uns
die Kollegen aus dem Verteidigungsausschuss.
({0})
Alle vier Fraktionen haben in den Ausschüssen die
Annahme des vorliegenden Gesetzentwurfs empfohlen.
Diese ungewöhnliche Übereinstimmung zwischen allen
Fraktionen hat mich zunächst fast misstrauisch gemacht.
Auch habe ich das in meiner Zeit im Innenausschuss
zum ersten Mal erlebt. Dies ist aber ein Grund zur
Freude, und ein Grund zum Misstrauen besteht heute
nicht.
Denn es ist ganz offensichtlich, dass der öffentliche
Dienst für unseren Staat und die gesamte Gesellschaft
von herausragender Bedeutung ist. Deswegen ist es auch
recht und billig, dass wir die Bediensteten entsprechend
honorieren.
Die Frauen und Männer im öffentlichen Dienst sind
eine tragende Säule unseres sozialen Rechtsstaats. Sie
sorgen sich unter anderem um unsere Sicherheit, die Gerechtigkeit, den fließenden Verkehr, sichere Lebensmittel, den Denkmalschutz, Forschung und Lehre, um eine
gute Gesundheitsversorgung, und nicht zuletzt schützen
sie auch uns Bürgerinnen und Bürger und die Umwelt,
um nur einige Beispiele zu nennen. Fest steht: Ohne den
öffentlichen Dienst ist kein Staat zu machen.
({1})
Der vorliegende Gesetzentwurf macht deutlich, dass
der öffentliche Dienst eine vielfältige, aber in sich geschlossene Einheit ist. Die Ergebnisse des Tarifvertrages
vom 1. April 2014 sollen auch auf Beamtinnen und Beamte, Richterinnen und Richter, Soldaten und Versorgungsempfänger des Bundes übertragen werden. Rückwirkend ab dem 1. März 2014 sollen die Bezüge der
Bundesbediensteten um effektiv 2,8 Prozent steigen und
ab dem 1. März 2015 um weitere 2,2 Prozent. Damit
auch niedrige Einkommen spürbar profitieren, ist eine
Mindeststeigerung von 90 Euro vorgesehen. Mit dem
Abschlag von 0,2 Prozent leisten die Beamten und Beamtinnen ihren Beitrag zur nachhaltigen Rücklage der
Altersvorsorge. Auch dafür ist ausdrücklich zu danken.
Durch den Abschlag wird die Rücklage 2014 und 2015
mit rund 105 Millionen Euro zusätzlich gespeist.
Die Kosten für die Anpassung belaufen sich im Jahr
2014 auf 542 Millionen Euro. Für 2015 sind
1,05 Milliarden Euro und ab dem Haushaltsjahr 2016
rund 1,13 Milliarden Euro angesetzt. Der Bund lässt
sich seine Bediensteten etwas kosten, und das ist absolut
richtig. Dafür stehen auch CDU und CSU. Denn eine
leistungsfähige Verwaltung ist keine Selbstverständlichkeit. Auch der Bund steht zunehmend im Wettbewerb
um qualifiziertes Personal. Der Staat kann nicht mit den
Gehaltsstrukturen der freien Wirtschaft konkurrieren.
Trotzdem muss er als Arbeitgeber insbesondere für
hochqualifizierte Fachkräfte attraktiv bleiben.
Ein anschauliches Beispiel ist das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik, kurz BSI. Das BSI
überwacht und sichert nicht nur die digitale Infrastruktur
des Bundes. Gleichzeitig stellt das BSI auch privaten Internetnutzern Informationen zur Sicherheit im Netz zur
Verfügung. Letztlich trägt das BSI damit ganz konkret
zum Schutz jedes einzelnen Bürgers in der digitalen
Welt bei. Ein Beispiel dafür war die prompte Reaktion
des BSI auf den millionenfachen Passwortdiebstahl vor
einigen Monaten im deutschen Netz. Alle Bürger bekamen eine Möglichkeit, zu überprüfen, ob ihre persönliche E-Mail-Adresse vom Datenklau betroffen ist. Für
die dahinterstehende Technik braucht man hochqualifizierte IT-Spezialisten, die mit ihrem Sachverstand in der
freien Wirtschaft vermutlich ein Vielfaches verdienen
könnten.
Im digitalen Zeitalter konkurrieren nicht nur immer
mehr Unternehmen um die besten IT-Fachkräfte, sondern auch das Bundeskriminalamt benötigt solche Fachleute, um Kriminalität im Netz oder die Verbreitung von
Kinderpornografie effektiv bekämpfen zu können. Wenn
wir zum Beispiel vom Bundesamt für Verfassungsschutz
eine effektive Spionageabwehr erwarten und einen mittlerweile leider erforderlichen 360-Grad-Blick im digitalen Raum einfordern, dann müssen wir das Amt auch in
die Lage versetzen, entsprechendes Personal anzuwerben.
({2})
An dieser Stelle sollte auch die steigende Belastung im
Rahmen der Überwachung der Kriegsheimkehrer aus
Syrien nicht vergessen werden.
Die Anpassung der Bezüge der Bundesbediensteten
an die positive wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland ist ein kleiner Beitrag dazu. Letztlich kann eine solche Anpassung aber nur ein Baustein von vielen sein.
Der Staat muss seinen Bediensteten ein attraktives Gesamtpaket anbieten, bestehend aus einem soliden Einkommen, familienfreundlichen Arbeitszeiten und guten
Aufstiegsmöglichkeiten.
Der Ruf der Beamten ist im Volksmund manchmal
nicht der beste. Wir alle kennen den einen oder anderen
nicht so schönen Spruch. Das aber ist ungerecht. Denn
ein Blick in andere Länder macht deutlich, wie effektiv
die deutsche Verwaltung ist. Das wird oft vergessen.
Der hohe Standard unseres öffentlichen Dienstes ist
nicht zuletzt ein wichtiger Standortvorteil für Deutschland und eine wesentliche Voraussetzung für den wirtschaftlichen Erfolg unseres Landes. Das bestätigen uns
auch Unternehmen, die weltweit tätig sind, immer wieder. Deswegen ist es auch angemessen, alle Mitglieder
des öffentlichen Dienstes am aktuellen wirtschaftlichen
Erfolg Deutschlands teilhaben zu lassen. Der vorliegende Gesetzentwurf ist daher ausdrücklich zu befürworten.
Ich möchte schließen mit den Worten von Otto Fürst
von Bismarck - schon eine Weile her, aber immer noch
aktuell -:
Mit schlechten Gesetzen und guten Beamten läßt
sich immer noch regieren. Bei schlechten Beamten
aber helfen uns die besten Gesetze nichts.
Vielen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Bundesbesoldungs- und Versorgungsanpassungsgesetzes 2014/2015.
Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/2639, den Gesetzentwurf
der Bundesregierung auf den Drucksachen 18/1797 und
18/2136 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen.
- Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 sowie den Zusatzpunkt 5 auf:
14 Beratung des Antrags der Abgeordneten Niema
Movassat, Heike Hänsel, Wolfgang Gehrcke,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Hunger bekämpfen, Recht auf Nahrung stärken
Drucksache 18/1482
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({0})
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
ZP 5 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({1})
zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe Kekeritz,
Friedrich Ostendorff, Claudia Roth ({2}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Weltagrarbericht jetzt unterzeichnen
Drucksachen 18/979, 18/1788
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Niema Movassat für die Fraktion Die Linke.
({3})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibt
kein Menschenrecht, das so häufig verletzt wird, wie das
Recht auf Nahrung. Laut der Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen hungern 842 Millionen
Menschen. Würde man einen realistischen Kalorienbedarf zugrunde legen, so stiege die Zahl auf 1,3 Milliarden Menschen. Der tägliche Hunger, die Tatsache, dass
alle sechs Sekunden ein Kind an Unterernährung stirbt,
ist ein Skandal, der keinen Tag länger so weitergehen
darf.
({0})
Deshalb haben wir als Linke den Antrag „Hunger bekämpfen, Recht auf Nahrung stärken“ eingebracht.
Entwicklungsminister Müller hat erklärt, dass der
Kampf gegen den Hunger für ihn hohe Priorität hat. Gut
so. Das Problem ist aber, dass die Lösungsansätze in die
falsche Richtung gehen. Sie scheitern bereits an der Ursachenanalyse. Denn die Bundesregierung legt die Prio5324
rität auf die Steigerung der Produktion nach dem Motto:
Menschen hungern, weil es zu wenig Nahrung gibt. Also
muss mehr produziert werden. - Dabei wird heute schon
genug Nahrung produziert, um 12 Milliarden Menschen
zu ernähren. Wir brauchen eine gerechte Verteilung der
Lebensmittel. Dann müsste kein Kind auf dieser Welt
mehr an Hunger sterben.
({1})
Auch muss die Bundesregierung endlich den Weltagrarbericht unterzeichnen. Dort stehen viele kluge
Dinge drin, zum Beispiel, dass man Kleinbauern in den
armen Ländern stärken muss. Kleinbauern bilden das
Rückgrat der Landwirtschaft im globalen Süden. Sie
produzieren in Asien und Afrika 80 Prozent der Nahrungsmittel. Sie muss man unterstützen, fördern und
weiterbilden. Stattdessen stärkt die Bundesregierung mit
Initiativen wie der German Food Partnership und der G8
„New Alliance“ vor allem große Agrarunternehmen, die
auf industrielle Landwirtschaft setzen. Das Problem dabei ist, dass sich kein Kleinbauer diese Technologisierung leisten kann. Um die neuen, teuren Düngemittel
und Saatgüter zu kaufen, muss er sich verschulden. So
machen die Agrarunternehmen Bauern abhängig.
Dieses Modell passt auch nicht auf die lokalen Bedürfnisse. In den Entwicklungsländern herrscht teilweise
bis zu 50 Prozent Arbeitslosigkeit. Die Agrarindustrie
aber setzt auf wenig Arbeitskrafteinsatz, hohen Kapitaleinsatz und hohe Produktion pro Bauer. Wir brauchen
Modelle, die Arbeitsplätze schaffen und die die Kleinbauern nicht in ihrer Existenz gefährden.
({2})
Diese Politik der Kooperation mit den Agrarunternehmen füllt die Taschen von Bayer, BASF, Syngenta und
Monsanto, aber keinen Teller in Afrika. Deshalb sagt die
Linke: Stärken Sie die Kleinbauern! Stärken Sie lokale
Strukturen! So bekämpft man Hunger.
({3})
Ins Zentrum der Debatte muss der Begriff der Ernährungssouveränität. Was heißt das? Das heißt, dass die
Länder des Südens in die Lage versetzt werden, eigenständig genug Nahrungsmittel zu produzieren. Sie sollen
nicht abhängig von Nahrungsmittelimporten sein. Die
Kleinbauern sind die Grundlage der Ernährungssouveränität. Ihre Landrechte müssen geschützt werden, beispielsweise vor Landraub; denn immer häufiger kaufen
Konzerne, auch aus Deutschland, Ländereien in Afrika
auf, vertreiben mit Gewalt die Bauern, um im Anschluss
Agrospritpflanzen anzubauen, damit wir unsere E10Quote erfüllen können. Dagegen muss die Bundesregierung vorgehen.
({4})
Um Ernährungssouveränität herzustellen, müssen
Kleinbauern auch vor Billigimporten geschützt werden.
Wir alle kennen das Beispiel von überschüssigen Hähnchenteilen, die von Europa nach Liberia verschifft werden und dort zu Dumpingpreisen verschleudert werden.
Die lokalen Bauern können damit nicht konkurrieren
und verlieren ihre Existenz. Deshalb müssen die Länder
des Südens das Recht haben, ihre Märkte durch Zölle zu
schützen.
({5})
Ganz entscheidend ist auch der Aufbau sozialer Sicherungssysteme. Es gibt gute Beispiele, wie das brasilianische „Null-Hunger“-Programm, bei dem man Hilfe vom
Staat bekommt, wenn es an Geld für Nahrungsmittel
fehlt.
Diese Modelle sollte Deutschland im Rahmen der
Entwicklungszusammenarbeit auch in anderen Ländern
unterstützen. In unserem Antrag finden Sie weitere konkrete Vorschläge. Aber das Wichtigste ist: Unterzeichnen Sie den Weltagrarbericht, und setzen Sie seine Vorschläge um! Das wäre ein echter Beitrag im Kampf
gegen den Hunger.
({6})
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege Peter
Stein.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Eine
Welt ohne Hunger“ ist die aus meiner Sicht wichtigste
Sonderinitiative des Ministeriums für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung für diese Legislatur.
Alleine das zeigt schon, wie unnötig dieser Antrag zu
diesem Zeitpunkt ist.
({0})
Minister Gerd Müller hat regelmäßig und persönlich
diesen Schwerpunkt herausgearbeitet und betont, wie
sehr ihm das eine Herzensangelegenheit ist. Ich darf
auch einen seiner Staatssekretäre zitieren, der den Hunger auf der Welt als die größte Menschenrechtsverletzung bezeichnete. Dem füge ich nichts hinzu. Ich sage
Ihnen: Die CDU/CSU-Fraktion steht geschlossen hinter
dieser fokussierten Ausrichtung auf die Reduzierung des
Hungers und die Mangel- und Unterernährung.
({1})
„Hunger bekämpfen, Recht auf Nahrung stärken“ haben Sie Ihren Antrag genannt. Allein dieser Titel bleibt
weit hinter unseren Zielstellungen, unseren Sonderinitiativen und der Arbeit der vergangenen Jahre zurück.
Wichtig ist dabei, klarzustellen, dass es viele unterschiedliche Ursachen für Hunger gibt: Trockenheit,
Wassermisswirtschaft, fehlende Arbeitskräfte auf dem
Land, Bürgerkriege, Naturkatastrophen,
({2})
mangelnde Infrastruktur, fehlende Ausbildung, schlechtes Saatgut und Düngemittel, fehlendes Kapital, Streit
um Bodenrechte,
({3})
Piratenfischerei und auch ungerechte Vergabe von Fischereirechten, um nur einige Faktoren zu nennen. Aber
auch die teils übermächtige Konkurrenz der Industrieländer und in einzelnen Staaten auch Landgrabbing können eine Ursache sein; das will ich gar nicht verschweigen.
Wegen all dieser verschiedenen Gründe muss es auch
verschiedene Lösungsansätze geben. In Asien und Lateinamerika wurden auf dem Gebiet der Hungerbekämpfung große Fortschritte gemacht. Das ist bereits ein Erfolg der globalen Zusammenarbeit. In vielen Regionen
Afrikas dagegen ist die Versorgung der Bevölkerung
selbst mit den einfachsten Grundnahrungsmitteln immer
noch nicht möglich und gegeben. Wir teilen bis dahin
Ihre Feststellung, dass Hunger weiterhin das größte Gesundheitsrisiko weltweit ist. Ich denke, in der Situationsbeschreibung - darüber haben wir uns im Ausschuss
schon öfter ausgetauscht - und in Ihrem ersten Ansatz
sind wir uns einig.
Leider fallen Sie im weiteren Verlauf Ihres Antrags
wieder in die stereotypen Feindbilder zurück und zeichnen die Welt in Schwarz und Weiß:
({4})
auf der einen Seite das Ideal des ökologischen Kleinbauern, der mit dem Ochsenpflug arbeitet
({5})
und dabei das Saatgut verwendet, das seine Vorfahren
über Jahrhunderte selbst immer wieder vermehrt haben
- was ein Teil des Problems ist -, und auf der anderen
Seite der reiche Westen mit seinen multinationalen Konzernen, deren Ziel nur Profit und in der Zukunft die Abhängigkeit der Bauern ist.
Meine Damen und Herren, es hat nichts, auch wirklich gar nichts mit fehlendem Enthusiasmus und Engagement für entwicklungspolitische Belange zu tun, wenn
man erkennt und akzeptiert, dass die Realität vielschichtiger ist.
({6})
Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit muss immer
auch mit den Rahmenbedingungen umgehen, die vor Ort
geboten sind. Zu helfen und zu verbessern, ist daher
auch eine Aufgabe. Die Entwicklungszusammenarbeit,
die am Ende gezielt hilft und den Menschen vor Ort und
der Regierung ihrer souveränen Staaten wesentliche Entscheidungen weitgehend selbst überlässt, ist eine gute
Zusammenarbeit. Genau das tun wir als CDU/CSUFraktion zusammen mit unseren Kollegen der SPD. Sie
schreiben es selber in Ihrem Antrag: Die Bundesregierung hat den Kampf gegen Hunger zum Schwerpunkt
gemacht.
Im Haushalt 2014 wird über die gesamte Legislaturperiode ein deutlicher Akzent auf diesen Sektor gesetzt.
Dabei wird in der Sonderinitiative „Eine Welt ohne Hunger“ mindestens 1 Milliarde Euro pro Jahr auf diesem
Gebiet eingesetzt. Der Schwerpunkt des Engagements
ist dabei Afrika - eine zweite Sonderinitiative.
Wir sind der Überzeugung, dass wir in der Zusammenarbeit privatwirtschaftliches Engagement in den
Zielländern brauchen, weil wir ohne privates Engagement den weltweiten Kampf gegen Hunger und Mangelernährung nicht gewinnen können.
({7})
Man erhält dadurch einen größeren finanziellen Spielraum; bei der GFP beispielsweise erhöht er sich ungefähr im Verhältnis eins zu sechs. In diesem Kontext stehen wir als Fraktion zu unserem Engagement im
Rahmen der German Food Partnership, aber auch der
Alliance und des World Food Programme der Vereinten
Nationen.
Geld ist nicht der einzige Grund. Es braucht Wissenschaft und Forschung. Es braucht Entwicklung und Bildung. Es braucht Infrastruktur und Material, und es
braucht auch Einkommen, beispielsweise in den Städten,
damit die Menschen dort die Lebensmittel überhaupt bezahlen können. Alle zuletzt genannten Beiträge können
im Wesentlichen nur aus der Wirtschaft geliefert werden.
Deshalb ist die Zusammenarbeit in diesem Bereich unbedingt notwendig.
Weil wir uns Regeln geben, gerade auch über die
GFP, stellen wir mit diesem Ansatz die deutsche Entwicklungszusammenarbeit nicht hinter deutschen Wirtschaftsinteressen zurück, sondern wir binden diese ein.
Wir nehmen das Know-how und die Produkte deutscher
Unternehmen sehr gerne mit, weil sie gut sind.
Darüber hinaus geht es in den Partnerschaften im Wesentlichen um die Vermittlung von Wissen. Die Mitarbeiter der GIZ sind maßgeblich daran beteiligt und erst
in zweiter Reihe Mitarbeiter von Unternehmen. Die
Expertise - das ist ganz klar geregelt - ist zu wenigstens
70 Prozent von Mitarbeitern der GIZ zu liefern. Der Vorwurf, mit diesem Ansatz würden regionale Besonderheiten ignoriert, ist aus meiner Sicht unverständlich, weil
das gesamte Wissen, das die GIZ in den Veranstaltungen
vermittelt, gerade in den lokalen Kontext und in bereits
bestehende Entwicklungsstrategien in den Ländern und
Projekten eingebettet wird.
Die GFP ist zudem noch ein recht junges Programm.
Um auch dort im weiteren Prozess noch voneinander zu
lernen, ist es aus unserer Sicht unverständlich, warum
Sie es stoppen wollen. Sie wollen evaluieren. Wie wollen Sie das tun, wenn Sie es vorher gestoppt haben? Wir
sind gerade ein Jahr dabei, und ich glaube, es ist wichtig,
diesen Weg erst einmal weiterzugehen. Ich bin davon
überzeugt: Wir werden gute Ergebnisse bekommen.
({8})
Es geht, wie gesagt, in weiten Teilen um grundlegendes agrarisches Wissen wie effektiver Wassergebrauch,
sinnvolle Fruchtfolge, nachhaltiger Einsatz von Düngemitteln, die Anpassung an Klimabedingungen usw. Die
Menschen allein nach der Idealvorstellung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft zu versorgen, wird sie nicht auf
die Herausforderungen der Zukunft vorbereiten. Denn
auch in Afrika und Asien ist die Globalisierung angekommen, auch auf dem Land. Selbst die europäischen
Bio-Kleinbetriebe, die sicherlich gute Vorbilder sein
können, weisen jedoch Betriebsstrukturen auf, die sich
mit denen in Afrika niemals vergleichen lassen werden.
Das kann man nicht exportieren. Wir müssen die Landwirtschaft in Afrika mit eigenen Formen in der Entwicklung voranbringen. Dazu brauchen sie - das bieten wir
ihnen an - unsere Hilfe und Unterstützung.
({9})
Agrarmarktspekulationen - das hatten Sie angesprochen - und großflächige Landnahme sind in den letzten
Jahren tatsächlich stark in die öffentliche Kritik geraten.
Das war auch wichtig. Aber gerade das Handeln
Deutschlands in diesen subjektiven Kontext zu stellen,
ist unredlich. Ich zitiere aus Ihrem Antrag:
Dennoch beteiligen sich … auch ausführende Organe der deutschen Entwicklungszusammenarbeit
wie die Deutsche Investitions- und Entwicklungsgesellschaft mbH ({10}) nach wie vor an solchen
Spekulationen und dem massiven Aufkauf von
Land in Entwicklungsländern.
Das schreiben Sie. Liebe Kolleginnen und Kollegen der
Linken, das ist starker Tobak. Ich warne davor, hier Ihre
sehr spezielle Wahrnehmung zum Gegenstand von Bundesanträgen in diesem öffentlichen Raum zu machen.
({11})
Die Rahmenbedingungen sind bei weitem nicht in allen Zielländern die gleichen. Vielerorts herrschen, was
die Landtitel angeht, chaotische Zustände. Damit muss
man arbeiten, wenn man dort weiterhin engagiert sein
möchte. Die Alternative wäre, mit solchen Ländern
überhaupt nicht mehr zusammenzuarbeiten. Das kann
nicht unser Ziel sein. Ich behaupte: Keine internationale
Einrichtung der Entwicklungszusammenarbeit arbeitet
vor diesem Hintergrund so sorgfältig und überprüft wie
die DEG; das wissen Sie.
({12})
Ich möchte auf die von Ihnen angesprochene Infrastruktur zurückkommen. Hier rennen Sie - ich bin Planer von Beruf - offene Türen ein. Wegen der Kürze der
Zeit kann ich darauf in dieser Debatte nicht ausführlicher
eingehen. Wir werden sicherlich noch ausreichend Gelegenheit haben, darüber zu diskutieren.
Wir dürfen keine Lösung von vornherein ausschließen und müssen die notwendigen Entscheidungen den
Menschen und den Regierungen vor Ort überlassen. Wir
als CDU/CSU-Fraktion bemühen uns um ein differenziertes Weltbild in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit. Alternativlose Fundamentalkritik an bestehenden Mechanismen führt nirgendwohin und hilft den
Menschen vor Ort nicht wirklich weiter.
({13})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen wir mit Blick
auf die Sonderinitiative im Kampf gegen den Hunger
nicht locker. Es ist gut, dass dieses Thema immer wieder
oben auf der Agenda steht. Ich gehe davon aus, dass die
Bundesregierung im nächsten Jahr in Paris gerade hierzu
starke Beiträge liefern wird. Die Koalition ist engagiert
bei der Sache. Pro Jahr 1 Milliarde Euro für den Sektor
Ernährung und Hungerbekämpfung sind keine Erdnüsse,
sondern richtig viel Substanz. Das ist so viel wie nie zuvor. Wir nehmen die Herausforderung an. Dank der
Haushälter ist seit gestern Fakt, dass das so kommen
wird. Wir verstehen die nachhaltige Entwicklungszusammenarbeit als das wichtigste globale und außenpolitische Wirkungsfeld für die nächsten Jahrzehnte.
Herzlichen Dank.
({14})
Der Kollege Uwe Kekeritz hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Kollege Movassat hat darauf hingewiesen: Jeder achte
Mensch hungert. Weit über 2 Milliarden Menschen können sich nicht ausgewogen ernähren. Das ist ein Skandal, der allerdings auch mit unserer westlichen, großindustriellen Agrarproduktion zusammenhängt. Das ist
keine Schwarz-Weiß-Malerei, Herr Stein. Das sind einfach Fakten. Dass die CDU/CSU diese Fakten nicht
wahrhaben will, das ist Ihre Politik. Leugnen Sie das ruhig auch in Zukunft! Vielleicht hilft Ihnen das ja.
({0})
Solange wir unsere westliche Agrarindustrie täglich
mit 1 Milliarde Dollar subventionieren
({1})
- hören Sie als Haushälter gut zu! -, hat die Agrarproduktion in den Entwicklungsländern einfach keine
Chance.
({2})
Als Ökonom müssten Sie das wissen, als Techniker oder
Ingenieur sowieso.
Hinzu kommen die sogenannten Freihandelsabkommen, die sogenannten EPAs, die die Tore zu den ärmsten
Ländern für unsere landwirtschaftlichen Produkte öffnen.
({3})
Damit zerstören wir die landwirtschaftliche Produktion
in diesen Ländern, tragen zur Landflucht bei und vergrößern die Slums in den Städten. Sie können das doch
nicht einfach ignorieren, Herr Stein. Das sind 30 Jahre
dokumentierte Erfahrung. Sich hier hinzustellen und zu
sagen, dass es sich hier nur um Schwarz-Weiß-Malerei
handelt, geht an der Realität vorbei.
({4})
Die Folgen der deutschen Hähnchenfleischschwemme kennen Sie hoffentlich auch. Das ist keine
Politik, sondern nackter Zynismus. Dieser wird mit den
EPAs vorangetrieben. Mit dieser Politik untergraben Sie
das Recht der Menschen in den Entwicklungsländern auf
eigene Nahrungsproduktion. Sie untergraben auch das
Recht auf Ernährungssouveränität vieler Länder im Süden. Sie erhöhen vor allen Dingen die Abhängigkeit von
der westlichen Agrarstruktur. Minister Müller setzt die
Bekämpfung des Welthungers auf seine politische
Agenda. Das begrüßen wir natürlich außerordentlich.
Das Ziel ist gut. Aber jetzt ist der Worte genug. Jetzt
muss endlich ein Prozess in Gang gesetzt werden, der
das tatsächlich vorantreibt.
Da Sie schon so guten Kontakt zur GIZ haben, würde
ich Ihnen empfehlen: Nehmen Sie doch einmal mit den
Botschaften in den einzelnen Ländern, wo die grünen
Zentren aufgebaut werden, Kontakt auf und lassen Sie
sich erklären, wie das funktioniert. Eine positive Rückmeldung habe ich noch nicht bekommen.
Ich habe den Minister bereits zweimal aufgefordert,
er möge mich doch mitnehmen, weil ich mir das einmal
vor Ort anschauen möchte. Herr Niebel war da großzügiger. Der hat Leute mitgenommen. Müller weigert sich.
({5})
- Der ist sparsam, jawohl. - Ich möchte, weil Sie auch
German Food Partnership und die G 8 New Alliance angesprochen haben, Folgendes sagen: Sie wollen dort produktneutrale Schulungen durchführen lassen. Das wird
nicht hauptsächlich von der GIZ gemacht, sondern von
den Vertretern der Pharma- bzw. der Großindustrie. Das
konnten Sie auch in einem Monitor-Beitrag sehen.
({6})
- Wenn Bayer und Syngenta nicht der Industrie zurechenbar sind: Was wollen Sie denn dann eigentlich der
Industrie zurechnen?
({7})
- So ist es: Das arbeitet so. Wissen Sie, das ist ein Mechanismus, und wir haben die Aufgabe, hinter die Mechanismen zu schauen und sie zu lenken, aber nicht zu
fördern.
({8})
Bayer feiert aufgrund der Initiative bereits unglaubliche Absatzsteigerungen bei seinen Düngemitteln. Hier
werden Steuergelder zur Subventionierung der deutschen Industrie missbraucht.
Ich möchte jetzt aber noch ganz kurz einen Satz zum
Antrag der Linken sagen. In ihm gibt es sehr viele positive Aspekte, die wir voll unterstützen: Ernährungssouveränität und Förderung von Kleinbauern und Kleinbäuerinnen. Das gilt auch für die kritische Haltung gegenüber
German Food Partnership. Leider gibt es auch ein paar
Knackpunkte darin, zum Beispiel ein allgemeines Verbot
des Imports von Biomasse und der Stopp aller Freihandelsabkommen. Man muss sich doch überlegen, was für
Konsequenzen das zum Beispiel für die einzelnen Länder hätte, wenn wir die Freihandelsabkommen über
Nacht stoppen würden. Das muss man sich einmal vorstellen: Dann kommen wir zum WTO-Regime zurück.
Das will auch die Linke nicht. Deswegen müsst ihr euch
vorher überlegen, mit welcher Konsequenz ihr das fordert.
({9})
Wollt ihr eine Veränderung der Verträge? Dann haben
wir die gleiche Meinung. Ein Stopp aber ist etwas anderes. - Ich bin gleich fertig, Frau Präsidentin.
Das war ein sehr langer Satz. Ich verweise auf die
noch folgenden Beratungen im Ausschuss, wo Sie das
alles austauschen können.
Deswegen können wir eurem Antrag nicht zustimmen. Der Grünen-Antrag beinhaltet genau das, was ich
gefordert habe, nämlich die Unterzeichnung des Weltagrarberichtes.
Ich bedanke mich.
({0})
Der Kollege Dr. Sascha Raabe spricht nun für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Zum einen ist es sicherlich gut, dass wir aufgrund
des Antrags der Linken heute über das Thema Welternährung sprechen können, weil wir in der nächsten
Woche - am 16. Oktober - den Welternährungstag haben. Trotz Fortschritten, die es in dem Bereich weltweit
gegeben hat, wollen und können wir uns nicht damit abfinden, dass immer noch 800 Millionen Menschen hungern und in extremer Armut leben.
Sicherlich sind im Antrag der Linken Punkte enthalten, die wir alle unterschreiben können, dass zum Beispiel Kleinbäuerinnen und Kleinbauern besonderen
Schutz brauchen und dass die Rechte von Frauen gestärkt werden müssen. All diese Forderungen sind für
diejenigen, die schon jahrelang Mitglied im Entwicklungsausschuss sind, selbstverständlich und Bestandteil
unseres Handelns. Das könnten wir alles unterschreiben.
Folgendes - ich will nicht sagen, dass es mich ärgerlich macht - enttäuscht mich schon ein wenig: Wir haben schon des Öfteren hier im Parlament - Herr
Movassat, Sie sind auch schon ein bisschen länger mit
dabei - über ländliche Entwicklung gesprochen. Im
Frühjahr 2013 hat die SPD-Fraktion hier einen sehr großen Antrag zum Thema Ernährungssicherheit mit der
Überschrift „({0})Lebensbedingungen in Entwicklungsländern strukturell verbessern - Ländliche Entwicklung als Schlüssel zur Bekämpfung von Hunger und
Armut“ eingebracht. Darin sind ganz umfassend alle
Themen enthalten, über die man reden muss, wenn man
Hunger und Armut auf dem Land bekämpfen will. Es
reicht eben nicht aus, nur zu sagen: Die Kleinbauern
müssen jetzt besser arbeiten können.
In Ihrem Antrag, der sich mit der ländlichen Entwicklung sowie mit Hunger und Armut beschäftigt, taucht
zum Beispiel nicht ein einziges Mal das Wort „Bildung“
auf. Es ist gerade auf dem Land - da sind Schulen oft
sehr weit entfernt, und es gibt dort häufig schlechte Lehrer - wichtig, Grundschul- und Sekundarbildung anzubieten. Auch auf dem Land geht es darum, zum Beispiel
Handwerksberufe aufzubauen. Es darf eben nicht sein,
dass die Menschen ein Leben lang - über 50 Jahre hinweg - eine kleine Scholle bestellen müssen. - Es ist
schon sehr enttäuschend, dass das fehlt.
Das Gleiche gilt für den Nachernteschutz. 20 Prozent
bis 25 Prozent der Ernten gehen verloren, weil es an Kapazitäten fehlt, die Ernte richtig zu speichern, was dazu
führt, dass sie verfault. Fragen der Infrastruktur werden
überhaupt nicht angesprochen, weder der technischen
Infrastruktur, was Handys und den Zugang zum Internet
angeht, noch der Straßen, Häfen oder anderer Verbindungen. Das muss einfach in einen solchen Antrag hinein.
Was mich besonders ärgert, ist, dass Sie den Fokus
nur auf die Menschenrechtsverletzungen, die von ausländischen Konzernen begangen werden, richten. Wir
hatten heute schon eine ähnliche Debatte. Mich muss
man wirklich nicht katholisch machen. Ich prangere das
immer wieder an, aber es kann nicht sein, dass Sie nicht
ein Wort darüber verlieren, dass es auch darauf ankommt,
dass die Länder selbst eine gute Regierungsführung haben
und dass sie ihre Verpflichtung, das Menschenrecht auf
Nahrung zu garantieren - alle diese Länder haben bei der
UNO unterschrieben, dass sie dieses Menschenrecht
achten -, auch umsetzen.
Ich sage Ihnen: Die Mehrheit der im Augenblick absolut armen und hungernden Menschen lebt immer noch
in Indien und in China. Es ist ein Skandal, dass diese
Länder ihre Menschen noch hungern lassen. Wir haben
deshalb im Koalitionsvertrag geschrieben:
Von den Schwellenländern muss die eigenverantwortliche Verwirklichung der Menschenrechte auf
Nahrung, Gesundheit und Bildung für die eigene
Bevölkerung eingefordert werden.
Das fehlt in Ihrem Antrag. Es gibt positive Beispiele.
Brasilien haben Sie selbst genannt. Auch Länder, die Ihnen sehr nahe stehen, wie zum Beispiel Bolivien, Chile,
Nicaragua, Peru und Venezuela, haben gute Anstrengungen gemacht und kommen voran, weil sie das Menschenrecht auf Nahrung zum Teil in der Verfassung verankert haben.
({1})
Deswegen, glaube ich, muss man in einem solchen
Antrag auch zu solchen Fragen die richtigen Worte finden. Auch die Weiterverarbeitung und die Frage, wie
Produkte exportiert werden können, gehören dazu. Wir
sind nicht ausschließlich für Selbstversorgung, wie es in
Ihrem Antrag steht. Wir stehen an dieser Stelle auch zu
den PPP-Projekten, zumindest zu den guten, die es auch
gibt. Die ermöglichen zum Beispiel Kleinbauern, hygienische oder ökologische Standards einzuhalten, sodass
dann ökologische Bioprodukte aus Entwicklungsländern
zu uns kommen können. Es gibt PPP-Projekte mit Subsistenzbauern, denen das ermöglicht wird. Das ist doch
gut und richtig. Deswegen sollten wir das fortführen.
({2})
Noch ein letzter Satz: Herr Stein, ich kann vieles von
dem, was Sie gesagt haben, unterschreiben. Aber was
das Thema Haushalt angeht, kam das vielleicht etwas
missverständlich herüber. Nächstes Jahr ist das Jahr
2015, in dem wir mit den Entwicklungszielen einen großen Schritt hätten vorankommen sollen, auch bei der Bekämpfung von Hunger und Armut. Wir sollten auch bereits 2015 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens,
die ODA-Quote, für die Entwicklungshilfe ausgeben.
Ich glaube, wir müssen schon bei dem Haushalt, den wir
im November beraten werden, kräftig nachbuttern, damit
wir Hunger und extreme Armut ganz schnell auf der
ganzen Welt bekämpfen oder gar abschaffen können.
Vielen Dank.
({3})
Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Dirk Wiese, ebenfalls von der SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Hätten alle von uns am heutigen Tage einen
Wunsch frei, so wären wir uns mit Sicherheit auf der
Stelle einig, das Leiden von weit über 1 Milliarde Menschen in der Welt an alltäglichem Hunger, Mangelernährung und deren tödlichen Folgen umgehend zu beenden.
In der UN-Menschenrechtscharta ist nämlich das Recht
auf Nahrung in Artikel 25 festgeschrieben. Dieses Recht
auf Nahrung ist allerdings das am meisten und am massivsten verletzte Menschenrecht der heutigen Zeit.
Aus der Tatsache heraus, dass wir in Deutschland keinen Hunger leiden müssen und in einer Wohlstandsgesellschaft leben, haben wir eine Verantwortung, uns für
die Sicherung der Welternährung einzusetzen. Daher hat
die Bundesrepublik Deutschland in den letzten Jahren
unter anderem die Mittel für die FAO von 10 Millionen
Euro auf 15 Millionen Euro aufgestockt und im Koalitionsvertrag beschlossen, dass wir insbesondere die
ländliche Entwicklung weiter fördern wollen.
Wir müssen aber auch unser Verhalten einmal kritisch
hinterfragen. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen: Die
Bilder, die wir mit Blick auf die nächste Hungerkatastrophe im Fernsehen sehen werden, werden uns betroffen
machen, ja, uns schockieren. Spendenaufrufe werden
folgen. Die Kameras werden eine kurze Zeit die Weltöffentlichkeit in ihren Bann ziehen. Dann wird zur nächsten Krise weitergezogen. Doch diese Bilder wiederholen
sich leider im wiederkehrenden Rhythmus.
Aber zurück zu Ihrem Antrag. Wenn wir ihn so beschließen und auf den Weg bringen, können wir uns
dann einfach zurücklehnen und sagen: „Alles wird gut“?
Ich glaube, nicht, und zwar gerade dann nicht, wenn Sie
behaupten, dass das Hungerproblem gelöst werden kann,
indem die Länder dazu angehalten werden, Reformen
ohne Einbeziehung des privaten Sektors durchzuführen.
In seinem Buch Die Zukunft: Sechs Kräfte, die unsere
Welt verändern schreibt Al Gore:
Wir wissen heute schon, dass eine extreme Knappheit von Nahrungsmitteln, fruchtbarem Boden und
Süßwasser in Ländern mit wachsender Bevölkerung
zum völligen Zusammenbruch der gesellschaftlichen
Ordnung und zu einer starken Zunahme der Gewalt
führen kann.
Und weiter:
Viele Experten zeigen sich inzwischen besorgt, dass
mehrere große und bevölkerungsreiche Länder
- unter anderem Indien und China - bei der Produktion von Nahrungsmitteln gegen eine Wand laufen könnten.
Von den Herausforderungen der zunehmenden Verstädterung wird gar nicht erst gesprochen.
Nehmen wir einmal das Beispiel Indien; mein Kollege Sascha Raabe hat schon darauf hingewiesen. Als
stellvertretender Vorsitzender der Deutsch-Indischen
Parlamentariergruppe bin ich, ehrlich gesagt, immer
wieder schockiert und fassungslos, wenn ich die Möglichkeit habe, durchs Land zu fahren, und die alltägliche
umfassende Armut sehe. Ich gebe auch offen zu, dass es
erschreckend ist, wie schnell man sich an den Anblick
von Armut gewöhnen kann. Als ich 2010 vor Ort gearbeitet habe, musste ich das selbst täglich feststellen. Ich
kann Ihnen sagen: Das ist kein schönes Gefühl.
Gerade in Indien zeigt sich aber auch, dass Probleme
der Nahrungsmittelversorgung die Verteilstruktur und
die Einschaltung von teils staatlichen Zwischenhändlern
und einer ausufernden Bürokratie sind. Damit kann gerade in diesem Bereich Public-private-Partnership eine
Hilfe sein.
({0})
Es wurde darauf hingewiesen: Mit Ihrem wirtschaftskritischen Antrag fordern Sie, Verhandlungen über Freihandelsabkommen jeglicher Art zu stoppen sowie den
Ländern vorzuschreiben, ob sie genetisch veränderte
Produkte anbauen dürfen oder nicht. Ich glaube, damit
kommen wir an dieser Stelle nicht voran. Ich finde, gerade die Debatte über Golden Rice zeigt, wie schwierig
es ist, sich das Ganze anzuschauen und zu durchdenken.
Ich mache an dieser Stelle einmal einen Punkt. Ich
bin, ehrlich gesagt, gespannt auf die weiteren Beratungen, auch im Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft, der mitberatend beteiligt ist.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/1482 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir kommen zum Zusatzpunkt 5: Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Weltagrarbericht jetzt
unterzeichnen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/1788, den Antrag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
18/979 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung mautrechtlicher Vorschriften hinsichtlich der Einführung des europäischen elektronischen Mautdienstes
Drucksache 18/2656
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur ({0})
Haushaltsauschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Steffen Bilger für die CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Entwurf eines Gesetzes zur Änderung mautrechtlicher
Vorschriften hinsichtlich der Einführung des europäischen elektronischen Mautdienstes“, vielleicht hat der
eine oder andere gedacht, es könnte jetzt und hier auch
um die Pkw-Maut gehen. Aber nein, darum geht es jetzt
nicht, genauso wenig wie bei der Anhörung des Verkehrsausschusses am Montag zum Thema Lkw-Maut.
Bei der Anhörung zur Lkw-Maut am Montag, an der
auch ein Vertreter der Europäischen Kommission als
Sachverständiger teilgenommen hat, wurde deutlich: Europa bewertet unseren Kurs der Nutzerfinanzierung der
Infrastruktur positiv. Die, die bei der Pkw-Maut auf
Querschüsse aus Europa gehofft hatten, wurden immer
wieder enttäuscht, und das ist auch gut so für Deutschland und für unsere Vorstellungen von der Finanzierung
der Infrastruktur.
Ich will noch einmal verdeutlichen, wie wir uns die
Finanzierung der Infrastruktur in Zukunft vorstellen: Es
geht zusätzlich zu den Haushaltsmitteln aus der LkwMaut, die bisher schon zur Verfügung stehen, zum einen
darum, mehr Geld aus dem Haushalt zur Verfügung zu
stellen, so wie wir das jetzt schon tun; zum anderen geht
es aber auch um mehr Mittel durch die Ausweitung der
Lkw-Maut, mittelfristig um mehr als 2 Milliarden Euro
pro Jahr zusätzlich. Schließlich geht es um 600 Millionen Euro mehr pro Jahr durch die Einführung der PkwMaut.
So, meine Damen und Herren, lösen wir endlich den
Investitionsstau in Deutschland auf. Die Große Koalition
redet nicht nur, sondern endlich wird gehandelt, und
zwar konsequent für die Infrastruktur in Deutschland.
({0})
Heute geht es aber um die europäische Dimension der
Infrastrukturfinanzierung, nämlich um die Einführung
eines europäischen elektronischen Mautdienstes, wobei
es gleichermaßen um Lkw wie um Pkw gehen kann, um
Pkw aber nur insoweit, als es sich um elektronische
Mautsysteme mit Einbau eines Fahrzeuggerätes handelt.
Die deutsche Infrastrukturabgabe für Pkw aus dem Koalitionsvertrag wird von diesem Gesetz also nicht betroffen sein.
({1})
Auch bei der Pkw-Maut könnte man sicherlich lange
darüber diskutieren, ob eine europäische Lösung nicht
sinnvoller wäre als eine rein deutsche. Es ist aber richtig,
dass wir uns mit dieser Diskussion nicht noch jahrelang
aufhalten, sondern handeln. In den kommenden Wochen
werden wir uns intensiv mit dem konkreten Gesetzentwurf zur Pkw-Maut beschäftigen.
({2})
Europa, meine Damen und Herren, lebt unter anderem von seiner Freizügigkeit und dem grenzenlosen Verkehr. Im europäischen Binnenmarkt gilt es, Hindernisse
nicht nur beim grenzenlosen Warenverkehr abzubauen,
sondern auch bei der Lastwagenmobilität. Es kann
schließlich von uns als Transitland Deutschland nicht
wirklich gewollt sein, dass Lkw beim Transport von Gütern durch halb oder ganz Europa für jedes einzelne
Land eine eigene sogenannte On-Board-Unit brauchen.
Es war richtig und wichtig, dass die Europäische Union
schon vor zehn Jahren eine Richtlinie erlassen hat, damit
die elektronischen Mautsysteme in der Gemeinschaft kooperieren können. Die Vorteile eines europäischen elektronischen Mautdienstes liegen auf der Hand: freie Fahrt
durch ganz Europa mit einem Fahrzeuggerät, einem Vertrag, einer Rechnung, Vereinfachung und Vereinheitlichung beim grundsätzlich grenzüberschreitenden Straßengütertransport in Europa, Entbürokratisierung für das
Gewerbe.
Zuerst aber ist ausdrücklich zu loben, dass die Europäische Union es bei ihrer Entscheidung vermieden hat,
ihre Mitgliedstaaten mit einem einheitlichen EU-MautSystem zu beglücken. „Vielfalt in der Einheit“ ist hier
nach wie vor das Gebot der Stunde, schließlich sind
längst nicht alle Lastwagen im grenzüberschreitenden
Verkehr unterwegs, und selbst die, die es sind, brauchen
nicht unbedingt gleich ein System für die ganze EU.
Sprich: Die Teilnahme am europäischen elektronischen
Mautdienst ist freiwillig und kann dazu noch mit einem
Anbieter der eigenen Wahl durchgeführt werden; wirklich eine sinnvolle Lösung.
Die nationalen Mautdienste bleiben erhalten. Sie können auch selbst entscheiden, ob sie teilnehmen oder
nicht. Trotzdem - oder gerade deswegen - wollen wir es
gerne ermöglichen, dass man zukünftig mit einem System in der EU unterwegs sein kann. Durch die Entscheidung der EU sind den Mitgliedstaaten verschiedene Regelungsaufgaben übertragen worden. Dabei ist es den
Mitgliedstaaten überlassen, die notwendigen organisatorischen und rechtlichen Maßnahmen zur Umsetzung der
EU-Entscheidung entsprechend ihren jeweiligen nationalen Rechtsordnungen sowie den organisatorischen und
technischen Rahmenbedingungen ihres Mauterhebungssystems zu ergreifen. Das vorliegende Gesetz dient der
Anpassung des nationalen Rechts an die zwingenden
Vorgaben der EU-Entscheidung. Diese Bedingungen
werden erfüllt.
Meine Damen und Herren, wir brauchen erfolgreiche
europäische elektronische Mautdienste. Der vorliegende
Gesetzentwurf der Bundesregierung bietet dafür eine
gute Grundlage. Deshalb bitte ich um Zustimmung zu
diesem Gesetz.
Vielen Dank.
({3})
Der Kollege Herbert Behrens hat für die Fraktion Die
Linke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
So langsam macht Minister Dobrindt seinem Namen alle
Ehre: als Mautminister oder vielleicht auch als 3MMinister: Minister für Modernität, Mobilität und jetzt
Maut. Das sind auch die Begriffe, mit denen wir hier
ständig umgehen müssen, in dieser Woche allein zweimal. Am Montag gab es bereits eine Anhörung zur LkwMaut, zu den Berechnungsgrundlagen. Heute nun soll es
darum gehen, etwas Licht in den europäischen Mautdschungel zu bringen.
Ein europäischer elektronischer Mautdienst kann sicherlich dazu beitragen, dass es auf den europäischen
Straßen schneller vorangeht, dass der Güterverkehr auf
der Straße, sofern er dort stattfinden muss, flüssig abläuft. Ich finde es jedoch bedauerlich, dass die Kommission nicht in der Lage war, ihre eigenen Weißbücher bis
zum Ende zu lesen. Wenn die EU-Kommission den dort
niedergelegten Themen wirklich nachgegangen wäre,
hätte sie auch fordern müssen, dass es verbindliche Mindestsätze bei der Lkw-Maut und die volle Anlastung aller externen Kosten gibt. Dann könnten wir heute Abend
wirklich eine ganz andere verkehrspolitische Debatte
führen. Das geht jetzt gerade nicht.
In Ihrem Gesetzentwurf sind einige Punkte enthalten,
die ich allerdings mit einem dicken Fragezeichen versehen möchte. Erstens stellt sich mir die Frage, warum Sie
gerade jetzt diesen Gesetzentwurf über einen elektronischen Mautdienst vorlegen. Das - seien wir ehrlich - ist
eigentlich schon längst fällig, ist jetzt eigentlich ein „toter Hund“. Sie hatten nämlich zehn Jahre lang Zeit, die
Richtlinie in deutsches Recht zu überführen. Aber mitten
in den Verhandlungen über die Vertragsverlängerung mit
Toll Collect legen Sie einen Entwurf auf den Tisch, den
wir heute zum ersten Mal debattieren. Aber über das Timing der Vorlage dieses Gesetzentwurfs werden wir im
Ausschuss sicherlich noch reden.
Zweitens bleibt unklar, weshalb Sie 48 Millionen
Euro für die Erweiterung des bestehenden Mauterhebungssystems um Mikrowellentechnik ausgeben wollen.
Der EU-Richtlinie und der darauf aufbauenden Entscheidung der Kommission ist eine solche Pflicht nicht wirklich zu entnehmen. Auf Seite 75 Ihres Gesetzentwurfs
findet sich der unscheinbare Satz, dass ja - Zitat - „nicht
ausgeschlossen werden kann, dass in Deutschland zukünftig auch mikrowellengestützte Mautsysteme eingesetzt werden“, und dass deshalb - Zitat - „diese Vorschrift vorsorglich aufgenommen“ wurde. Vorsorgliche
Aufnahme von Vorschriften und die vorsorgliche Anschaffung von teurer Technik sind doch wirklich zwei
verschiedene Paar Schuhe, denke ich.
({0})
Vorsorge im Verkehrssystem wäre an anderer Stelle
nötig. Ich fände es ja begrüßenswert, wenn allzu oft als
Nadelöhre auf den Wasserwegen bestehende Schleusen,
alte Schleusen, beseitigt werden könnten und wenn wir
dort eine Investition in einer Größenordnung von
50 Millionen Euro vornehmen würden. Ich glaube, in
Kleinmachnow und in Fürstenwalde wäre man über solche vorsorglichen Investitionen froh.
({1})
Es ist jedoch völlig abwegig, dass die Investitionen in
Mikrowellentechnik nur vorsorglich getätigt werden sollen.
({2})
Die Ausstattung des deutschen satellitengestützten Mauterhebungssystems mit dieser Technik entspricht nämlich
in keiner Weise dem Geist des entsprechenden EURechts. Die Erfassungsgeräte in den Lkw sollen den unterschiedlichen Mauterhebungssystemen angepasst werden und eben nicht die teuren Mauterhebungssysteme
den relativ preiswerten On-Bord-Units. Letztes entbehrt
doch wirklich jeder Grundlage.
Die Kommission fordert an keiner Stelle, dass der
Berg zum Propheten kommen muss. Aber genau diesen
Eindruck erwecken Sie mit Ihrem Gesetzentwurf.
Kurzum: Ich teile die Einschätzung des Normenkontrollrates noch nicht so ganz, dass Sie mit diesem Gesetz
nicht über die zugrundeliegende EU-Richtlinie hinausgehen. Über den vorliegenden Entwurf wird daher noch
intensiv zu diskutieren sein, genauso wie über die anderen bald anstehenden Entscheidungen zur Lkw- und
Pkw-Maut sowie zur Verkehrsinfrastrukturfinanzierung.
Vielen Dank.
({3})
Für die SPD-Fraktion erhält nun der Kollege
Sebastian Hartmann das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren Kolleginnen und Kollegen! Die Einführung eines
europäischen einheitlichen Mautdienstes soll tatsächlich
den grenzüberschreitenden Straßengüterverkehr in Europa unbürokratischer und deutlich einfacher machen.
Dieser Mautdienst soll damit auch unserem Binnenmarkt
Rechnung tragen, von dem wir im vereinten Europa in
den vergangenen Jahrzehnten so profitierten, eben gestützt auf die vier bekannten Grundfreiheiten.
Der freie Warenverkehr braucht aber einen einheitlichen Binnenmarkt, der keine nationalstaatlichen Grenzen oder Schlagbäume kennt. Nach dieser Erkenntnis
und ihrer Umsetzung haben wir uns in Europa neben vielen anderen guten Ideen aber auch der Idee der Erhebung
von Nutzerbeiträgen zugewandt, und zwar in Form von
Nutzungsbeiträgen schwerer Lkw zur Finanzierung der
Verkehrsinfrastruktur in Form von nationalen Mauterhebungssystemen, das allerdings mit der unerwünschten
Nebenwirkung, dass wir nun in dem stärker zunehmenden grenzüberschreitenden Verkehr Spediteuren immer
mehr einen Flickenteppich von unterschiedlichen Mauterhebungssystemen und unterschiedlichen Technikstandards zumuten.
Dem wollen wir begegnen. Mit der Einführung eines
einheitlichen europäischen elektronischen Mautdienstes
schaffen wir Interoperabilität, wo bislang technisch und
wirtschaftlich die Wirklichkeit der Mauterhebung in
Europa krass auseinandergeklafft hat.
({0})
Das Ziel des vorliegenden Gesetzentwurfs ist so einfach wie sinnvoll: Wir setzen eine seit vielen Jahren in
Kraft befindliche EU-Richtlinie um, die es ermöglichen
soll, europaweit mit nur einem Vertrag und einem Fahrzeuggerät Maut an einen Anbieter zu entrichten, der nur
eine Rechnung dafür ausstellt - einfach, sinnvoll und
überfällig, wenn ich das anmerken darf; denn die Frist
zur Änderung der hiesigen Mautvorschriften - das war ja
auch Thema der Vorrede - ist bezüglich des Straßengüterverkehrs tatsächlich seit zwei Jahren abgelaufen. Deswegen sollte man die Richtlinie auch umsetzen.
({1})
Das Bundesverkehrsministerium schafft mit diesem
Gesetz zur Änderung der mautrechtlichen Vorschriften
die technischen und organisatorischen Voraussetzungen
für die Anbindung sogenannter EEMD-Anbieter an das
hiesige Mautsystem. Der Aufwand, den ein Unternehmen treiben muss, um - das ist eine zentrale Voraussetzung, um überhaupt mit einer solchen Leistung Geld
verdienen zu können - europaweit auftreten zu können,
ist nicht unerheblich. Vermutlich ist das auch der Grund,
warum sich bislang nur ein einziges Unternehmen für
eine Zulassung als EEMD-Provider hat registrieren lassen.
Der Bund wird aber auch von der Zulassung der
EEMD-Anbieter profitieren. Wir versprechen uns davon
zum Beispiel eine Senkung der Kosten der Mauterhebung. Um die technischen Voraussetzungen für eine
Nutzung des EEMD-Dienstes zu schaffen, ist eine Reihe
von Maßnahmen nötig. Es müssen zunächst technische
Systeme entwickelt und einer Zulassung unterzogen
werden. Tatsächlich ist es so, dass die EU-Richtlinie eine
oder mehrere Techniken vorschreibt, zu denen - ich
glaube, das steht in Artikel 2 - auch die Mikrowellentechnik gehört. Aber wenn wir uns schon auf den Weg
machen, dann sollten wir uns die technischen Möglichkeiten entsprechend dem heutigen Standard zunutze machen und nicht nur eine einzige Technik nehmen, bei der
wir in den nächsten Jahren vielleicht wiederum Änderungen oder Anpassungen vornehmen müssen; denn wir
wollen mit diesen Technologien weiterhin in Europa
führend sein. Erinnern wir uns: Die Bundesrepublik
Deutschland hat sich 2005 als allererstes Land auf den
Weg gemacht und nach vielleicht leichten Anlaufschwierigkeiten ein modernes System satellitengestützter Mauterhebung implementiert.
({2})
Jetzt haben wir eines der modernsten Mautsysteme. In
der Anhörung, die wir am Montag wahrnehmen konnten,
sind wir vonseiten der EU-Kommission dafür gelobt
worden, dass wir - damit sind wir ein Best-Practice-Beispiel in Europa - als erste Nation bei der Wegekostenberechnung die externen Kosten, zum Beispiel entsprechend der Luftschadstoffe, anlasten können. Das wird
demnächst auch beim Lärm der Fall sein.
({3})
Wir erheben die Lkw-Maut bekanntlich, um einen
dauerhaften angemessenen Beitrag der Nutzer unserer
Straßen zur Finanzierung der Infrastruktur sicherzustellen. Insbesondere die 2018 bevorstehende Mauterhebung - nach der Ausweitung des bundesdeutschen Mautgebietes auf weitere 30 000 Kilometer Straße - ist ein
Beispiel für eine sinnvolle Anwendung der standardisierten Erhebungsverfahren, die in der EEMD-Richtlinie
verabredet wurden.
Wenn jetzt mit diesem Gesetz die Änderungen der
mautrechtlichen Rahmenbedingungen vollzogen werden, ist damit die Basis für die Zulassung nicht nur des
einen, bereits genannten Anbieters, der um Registrierung
nachgesucht hat, sondern auch weiterer Betreiber geschaffen. Wenn wir den Markt der EEMD-Provider mit
einer Prise Optimismus betrachten, dann können wir die
Hoffnung schöpfen, dass wir bei der Erhebung der Maut
in Zukunft nicht mehr die Monokultur eines einzigen
Anbieters haben und damit technische und juristische
Schwierigkeiten bestehen, sollte man einmal auf die Idee
kommen, irgendetwas ändern zu wollen an bestehenden
Verträgen oder eben auch an der Technik.
Vergessen wir nicht: Deutschland hat sich 2005 auf den
Weg gemacht und nach leichten Anlaufschwierigkeiten
das modernste System zur Mauterhebung geschaffen. Wir
haben vor einigen Tagen in einer Anhörung vonseiten der
EU-Kommission bestätigt bekommen, dass wir mit der
Anlastung externer Kosten bei der Wegekostenberechnung europaweit führend sind.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem Beschluss
dieses Gesetzes in erster Lesung können wir heute einen
weiteren Schritt gehen, der auch für die deutsche Industrie gute Rahmenbedingungen schaffen wird. Wir sorgen
dafür, dass deutsche Anbieter in Form der EEMD-Provider auch im heimischen Markt mit den guten gesetzlichen Grundlagen und Rahmenbedingungen starten können, um sich am internationalen Wettbewerb der EEMDProvider, der in Europa starten wird, zu beteiligen.
({4})
- Vielen Dank. - Zugleich erreichen wir europaweit
Kostensenkungen und eine Vereinfachung der Mauterhebung. Was wollen wir mehr?
Die EU-Kommission beklagt vielleicht zu Recht, dass
sich die Branche angesichts der großen technologischen
wie organisatorischen Herausforderungen noch nicht auf
den Weg gemacht hat. Die Kritik der Kommission geht
sogar noch weiter mit dem Hinweis auf mangelnde Umsetzungsbemühungen der Mitgliedstaaten. Ich bin mir sicher, dass es zukünftig weder an dem einen noch an dem
anderen mangeln oder gar liegen wird, wenn wir diese
guten gesetzlichen Voraussetzungen, die wir vorgelegt
haben, durch den Beschluss des Gesetzentwurfes endlich
schaffen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({5})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Schönen guten Abend
von meiner Seite aus Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, und Ihnen, liebe Gäste!
Die nächste Rednerin in der Debatte: Dr. Valerie
Wilms für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Gäste! Es ist ja schön, dass sich dieses Ministerium, in Kurzform Verkehrsministerium genannt, jetzt an
so vielen Stellen gleichzeitig um die Maut kümmert.
Herr Kollege Ferlemann, das ist ja wirklich toll!
({0})
Aber eines wundert mich schon sehr: Warum führen
Sie auf der einen Seite eine sinnvolle europäische Maut
für Lkw ein - zugegebenermaßen von der EU verordnet
und erstaunlicherweise schon seit zwei Jahren überfällig und planen auf der anderen Seite genau das Gegenteil
von offenen Grenzen, nämlich den kleinkarierten Wegezoll in Form der CSU-Maut für Pkw?
({1})
Das passt doch nun wirklich nicht zusammen.
({2})
Leider müssen Sie es heute ertragen, Kollege Ferlemann,
und nicht Ihr Minister.
Diese CSU-Maut bringt nichts und führt am Ende nur
zu Mehrausgaben für den Staat. Die Planungen für Ihren
Wegezoll sind der Rückschritt ins kleinststaatliche Mittelalter.
({3})
Damals musste beim Übertreten jedes noch so kleinen
Wegstücks ein Wegezoll an den jeweiligen Grundherrn
entrichtet werden.
({4})
Ich hoffe doch, dass wir inzwischen in einem vereinten
Europa mit offenen Grenzen und freiem Warenverkehr
angekommen sind.
({5})
Oder ist das im Verkehrsministerium vergessen worden?
Für Lkw-Unternehmen ist es Tagesgeschäft, nicht nur
innerhalb Deutschlands, sondern durch ganz Europa zu
fahren. Daher ist es zugegebenermaßen folgerichtig, die
verschiedenen Mautsysteme zu harmonisieren. Das ist
vorteilhaft für die Logistiker.
({6})
Sie können Geld und Zeit sparen. Sie müssen nicht mehr
mit den unterschiedlichen Systemen hantieren. Das darf
aber nicht nur in der Theorie schön aussehen. Beweisen
muss es sich in der Praxis. Daher müssen wir jetzt die
Voraussetzungen für das Funktionieren eines europäischen Mautdienstes schaffen. Bisher gibt es noch keinen
Anbieter, der für den elektronischen Mautdienst ein
wirklich kostendeckendes Angebot liefern kann. So weit
sind wir nämlich noch nicht. Darum muss es jetzt als
Nächstes gehen, nachdem wir endlich die notwendigen
Voraussetzungen geschaffen haben.
Der neue einheitliche Europäische Elektronische
Mautdienst bietet einen echten Mehrwert. Logistiker
haben damit endlich in einem Europa ohne Grenzen
auch keine Mautgrenzen mehr. Alles läuft über die
Europa-Box. So geht Europa wirklich, Herr Kollege
Ferlemann, und nicht mit einer Pickerlsammlung an der
Windschutzscheibe.
({7})
So etwas brauchen wir dann endlich auch bei der
Eisenbahn. Da schaue ich einmal zum Kollegen Burkert.
Aber dort leisten wir uns immer noch einen wirren
Flickenteppich: von Land zu Land verschiedene Signalund Fahrstromsysteme, unterschiedliche Zuglängen,
unterschiedliche Betriebsvorschriften und auch noch
stark abweichende Trassenpreise, die Schienenmaut. So
wrackt sich die Schiene leider im europaweiten Wettbewerb der Logistiker selbst ab. Auch das darf nicht
mehr sein.
({8})
Ein europaweites Zusammenwachsen beim Mautsystem bereitet mir als glühender Verfechterin der vereinigten Staaten von Europa - da möchte ich nämlich wirklich hin - richtig Freude.
Aber etwas Wasser muss ich doch noch in diesen Europawein schütten. Wir dürfen auf dem Altar „Europa“
den Datenschutz nicht opfern. In Deutschland haben wir
mit Toll Collect ein sinnvolles System. Die zur Abrechnung der Maut notwendigen Bewegungsprofile, also die
Daten, wo ich genau gefahren bin, bleiben auf der OnBoard-Unit im Lkw. Die werden nicht an irgendeinen
Zentralrechner weitergeleitet. Da werden keine Bewegungsprofile zentral erfasst. So kann Datenschutz
gewährleistet werden. Das muss auch das europäische
System leisten. Bei dem Mikrowellensystem hätte ich da
so meine Bedenken.
Es darf keine Bewegungsprofile auf einem Zentralrechner der Mautbetreiber geben. Das ist zwar billiger,
aber der Nutzer hat nichts mehr in der Hand; denn da
sind Sie dem Zugriff der Datenkraken von NSA oder
wem auch immer ausgeliefert. Einen gläsernen Fahrer
durch die Hintertür des europäischen Mautsystems
möchte ich nicht schaffen, Herr Kollege Ferlemann.
({9})
Engagieren Sie sich zukünftig deutlich mehr für das
europäische Zusammenwachsen auf Schiene und Straße!
Da gibt es noch genug zu tun. Und beerdigen Sie endlich
die Pläne für einen kleinstaatlichen oder - besser gesagt kleinkarierten Wegezoll à la CSU!
Herzlichen Dank.
({10})
Vielen Dank, Frau Kollegin Wilms. - Nächster Redner in der Debatte: Oliver Wittke für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich wäre enttäuscht gewesen, Frau Kollegin Wilms,
wenn Sie es in einer Debatte über den Europäischen
Elektronischen Mautdienst nicht geschafft hätten, auch
auf offenbar Ihr Lieblingsthema, nämlich die Pkw-Maut,
zu sprechen zu kommen.
({0})
Sie erinnern mich ein ganz klein wenig an unsere
Kinder, bei denen die Aufregung in den nächsten
Wochen immer weiter steigt, wenn es auf Weihnachten
zugeht, und die es überhaupt nicht mehr erwarten können, bis endlich der Heilige Abend vor der Tür steht.
({1})
Ich verspreche Ihnen, Sie werden Ihren Heiligen Abend
in diesem Hohen Hause auch noch erleben.
({2})
Sie werden ein Mautkonzept präsentiert bekommen, das
einfach ist, das praktikabel ist und das vor allem Geld in
die Kassen bringt, damit wir unsere marode Infrastruktur
in Ordnung bringen können.
({3})
Aber nun gerne auch zum Thema. Meine Damen und
Herren, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, es ist häufig
so, dass, wenn wir über Europa und über die Institutionen in Europa reden, Überreglementierung, Bürokratisierung und Detailversessenheit um sich greifen. Vielfach gibt es die Vorwürfe, dass das, was aus Brüssel
kommt, viel zu wenig handelbar ist und uns im täglichen
Lauf der Dinge behindert. Die Umsetzung der Richtlinie
2004/52/EG mit diesem Gesetzentwurf, den wir heute in
erster Lesung beraten, zeigt genau das Gegenteil. Wir
zeigen, dass Europa auch in der Lage ist, bürgerfreundlich, wirtschaftsfreundlich und damit effizient zu
handeln. Es ist gut, dass die Europäische Union diese
Harmonisierung auf den Weg bringt. Sie lässt alle Freiheiten; denn die Nutzung wird nicht vorgeschrieben,
aber sie gibt denjenigen Unternehmen, die dieses neue
System nutzen wollen, die Möglichkeit, dass dies in den
Lkw unbürokratisch, einfach und praktikabel gehandelt
werden kann.
Dabei gibt es noch eine schöne Begleiterscheinung.
Denn Deutschland profitiert in der Tat von diesem neuen
Europäischen Elektronischen Mautdienst in besonderer
Weise, weil zum Beispiel der EEMD bereits bestehende
Mautsysteme integriert und die Mehrfachnutzung der
OBUs den Anbietern eine attraktive Konditionsgestaltung ermöglicht. Dadurch sinken die Kosten für die
Mauterhebung. Dadurch wird das ganze System viel
wirtschaftsfreundlicher.
Daneben schafft der EEMD europaweiten Wettbewerb in der Mauterhebung. So ist der Bund in Zukunft
nicht mehr nur von einem nationalen Betreiber abhängig. Zeitraubende und risikobehaftete Ausschreibungen
werden verzichtbar. Das macht den Bund unabhängiger
und flexibler sowohl bei der Preisgestaltung als auch bei
nachträglichen Änderungen des Systems, zum Beispiel
bei der Ausweitung der Maut auf weitere Straßen und
Fahrzeugklassen, wie es die Koalition in dieser Legislaturperiode ja noch plant.
Schließlich wird nicht zuletzt die Einführung des
EEMD im Hinblick auf die für 2018 geplante Ausweitung der Lkw-Maut auf alle Bundesstraßen in Deutschland die operationalen Risiken der Implementierung verringern. Inbetriebnahme und Betrieb werden einfacher,
die Gefahr von Mautausfällen sinkt weiter erheblich,
weil die Risiken auf mehrere Anbieter verteilt werden.
Sie sehen, meine Damen und Herren - da stimme ich
Ihnen wieder zu, Frau Wilms -, so macht Europa Spaß:
unbürokratisch, unideologisch und praktikabel. Der vorliegende Gesetzentwurf, den wir heute in erster Lesung
beraten, ist eine gute Umsetzung der europäischen Initiative in nationales Recht. Darum bitten wir um Ihre Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf.
Herzlichen Dank.
({4})
Sie sind sicher, dass Sie mit Ihrer Rede schon fertig
sind? Es passiert selten, dass uns über eine Minute geschenkt wird.
({0})
- Ich wollte Sie nur darauf hinweisen.
({1})
Vielen Dank. - Ich schließe die Aussprache in dieser
lebhaften Debatte.
({2})
Vizepräsidentin Claudia Roth
- Ja, dann müssen Sie erst einmal gut mit mir verhandeln.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/2656 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Zusatzpunkt 6 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({3})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Jan Korte,
Dr. Petra Sitte, Halina Wawzyniak, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Gesetzliche Karenzzeit für ausgeschiedene Regierungsmitglieder einführen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Britta
Haßelmann, Luise Amtsberg, Volker Beck
({4}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Karenzzeit für ausscheidende Regierungsmitglieder
Drucksachen 18/285, 18/292, 18/2762
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich bitte Sie, entweder den Saal zu verlassen oder Ihre
Plätze einzunehmen, damit wir mit der Debatte beginnen
können. Ich möchte, dass alle konzentriert sind.
Erster Redner in der Debatte: Helmut Brandt für die
CDU/CSU-Fraktion.
({5})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Werte Zuhörerinnen und Zuhörer! Die Frage
nach einer Regelung für Anschlusstätigkeiten ausgeschiedener Regierungsmitglieder ist nicht neu. Sie
wurde auch hier im Bundestag schon mehrfach ausgiebig erörtert.
Anlässe für eine Diskussion über das Thema Karenzzeit wurden immer gefunden, beispielsweise der jetzt
anstehende Wechsel des Kollegen Ronald Pofalla zur
Deutschen Bahn, der Wechsel des ehemaligen Bundesministers für Wirtschaft und Technologie Werner Müller
zur Ruhrkohle AG oder die Tätigkeit des ehemaligen
Bundeskanzlers Schröder bei Gazprom
({0})
und - um hier die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen nicht
auszusparen - beispielhaft der Wechsel des Staatssekretärs im Landwirtschaftsministerium Matthias Berninger
zu einem Süßwarenkonzern.
Die Liste ließe sich fraktionsübergreifend fortsetzen;
insbesondere nach einem Regierungswechsel aufgrund
eines Wechsels der Mehrheiten ist dies oft eine logische
Folge. Ich sage das alles nur, um klarzustellen, dass
dieses Thema alle betrifft oder betreffen kann. Insofern
gibt es auch keinen Grund, mit dem Finger auf andere zu
zeigen.
({1})
Zuletzt haben wir im Januar dieses Jahres, zu Beginn
der Legislaturperiode, als die Anträge, über die wir heute
debattieren, eingebracht wurden, eine Debatte darüber
geführt. Dass wir heute, zu diesem Zeitpunkt, dazu gezwungen werden, diese Diskussion wieder zu führen, ist
wenig nachvollziehbar,
({2})
weil alle wissen - und Sie auch, Frau Kollegin -, dass
die Bundesregierung aufgrund der Koalitionsvereinbarung dabei ist - Sie konnten das gestern allenthalben der
Presse entnehmen -, eine Regelung zu erarbeiten und einen Lösungsvorschlag vorzulegen.
({3})
- Wissen Sie, wenn das der Fall wäre, dann würde ich
Ihnen sogar zustimmen.
({4})
Aber das ist ein zufälliges Ereignis. Ich habe schon vor
14 Tagen im Innenausschuss gesagt: Lassen Sie uns den
Tagesordnungspunkt später behandeln, der Regierungsentwurf steht unmittelbar bevor.
({5})
Ihr Kollege, Herr Beck, wollte es nicht glauben.
({6})
Nur aus diesem Grund diskutieren wir heute hier.
Natürlich ist auch die Tatsache, dass der frühere
Minister Bahr zur Allianz wechselt, ein Anlass für Sie,
all das noch einmal zu thematisieren. Ich weise aber auf
Folgendes hin: Grundsätzlich besteht, glaube ich, Einigkeit darüber, dass Unternehmen, Verbände und auch
NGOs ihre Wünsche und Forderungen an uns Politiker
herantragen und natürlich auch versuchen, Einfluss auf
unsere Entscheidungen zu nehmen. Das wird von allen
in Anspruch genommen und auch gewünscht. Vor diesem Hintergrund kann es deshalb kaum verwundern,
dass einige meist selbst ernannte Transparenzwächter
feststellen: Da besteht sozusagen ein Anfangsverdacht,
da könnte irgendetwas im Zusammenhang mit der frühe5336
ren Tätigkeit stehen. Dass diese unterschwellige Behauptung immer wieder vorgetragen wird, ist im Grunde
genommen dem Neidkomplex zu verdanken.
({7})
Schlimmstenfalls geraten Politiker dann sogar in den
Verdacht, sie hätten Entscheidungen, die sie während ihrer politischen Tätigkeit getroffen haben oder an denen
sie beteiligt waren, sozusagen im Vorlauf auf ihre spätere Tätigkeit bei einem Arbeitgeber getroffen.
({8})
- Sehen Sie, das ist genau der Stil: „Es soll vorgekommen sein!“ Sie können nicht einen einzigen Beleg für
eine solche Behauptung vorlegen, aber sie wird aus den
eben genannten Gründen dennoch immer wieder hervorgeholt.
({9})
- Etwas Konkretes hätte ich von Ihnen erwartet. Aber
das habe ich noch nicht vorgefunden.
({10})
Nein, meine Damen und Herren, die Wahrheit ist
doch folgende: Die Tatsache, dass bei solchen Gelegenheiten solche Verdächtigungen immer wieder neu geäußert werden, führte dazu - und das zu Recht -, dass wir
im Koalitionsvertrag vereinbart haben, dass wir das regeln wollen, damit das nicht immer wieder auf die Tagesordnung kommt.
({11})
Die Frage ist aber, ob eine starre Karenzzeitregelung
nicht letztlich einem Berufsverbot gleichkommt und ob
eine Karenzzeit, wie beispielsweise von den Grünen vorgeschlagen, drei Jahre betragen kann und soll. Ich halte
eine solch lange Karenzzeit für unverhältnismäßig. Das
würde dazu führen, dass wir keinen Wechsel, auch keinen gewünschten Wechsel mehr von der Wirtschaft in
die Politik und umgekehrt hätten.
({12})
Das wäre im Grunde genommen die Einführung eines
Berufsverbots durch die Hintertür. So lange Pausen kann
sich im Grunde keiner leisten. Ich habe die Frage vorhin
aufgeworfen: Welcher Manager, welche Managerin wäre
zukünftig bereit, in ein ja regelmäßig schlechter dotiertes
öffentliches Amt zu wechseln,
({13})
wenn er oder sie damit das Risiko eingeht, später nicht in
den früheren Beruf zurückkehren zu können? Das ist
doch eine vollkommen klare Sache. Im Endeffekt führt
eine überlange, eine unangemessene Karenzzeit dazu,
dass kluge Köpfe für uns alle, für die Politik insgesamt
verloren gehen.
({14})
Ich meine, wir müssen die Lebenswirklichkeit der
Politiker betrachten: Wir nehmen von NGOs, wir nehmen von Unternehmen, wir nehmen von Verbänden Ratschläge entgegen. Wir nehmen sie zwar nicht immer an,
aber wir brauchen sie doch oft, um am Ende des Prozesses eine sachgerechte und vernünftige Lösung zu finden.
Sollte man darauf zukünftig vollkommen verzichten?
In Einzelfällen kann es natürlich problematisch sein das geben wir gerne zu -, insbesondere wenn der Job,
der ergriffen wird, in unmittelbarem Zusammenhang mit
dem Ressort steht, in dem der Politiker tätig war. In einem solchen Fall besteht die Gefahr einer Interessenkollision. Dass dadurch der Anschein erweckt werden kann,
dieser Politiker habe sich seine Stelle sozusagen erkauft,
liegt auf der Hand. Dass dieser Anschein erweckt wird,
wollen wir künftig vermeiden.
({15})
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auf die
Vorlage der Fraktion Die Linke zu sprechen kommen.
({16})
- Sie sind immer der Meinung, dass das juristisch sauber
ist. Ich kann das allerdings nicht feststellen. - Sie wollen
ja die Dauer der Karenzzeit sogar an die Dauer der Mitgliedschaft in der Bundesregierung knüpfen.
({17})
Dazu sage ich: Wenn eine Interessenkollision besteht,
dann besteht sie unabhängig davon, ob die Mitgliedschaft lang oder weniger lang war. Es macht doch keinen
Sinn, davon irgendetwas abhängig zu machen.
({18})
Meine Damen und Herren, nach meiner festen Überzeugung brauchen wir Fachleute aus der Wirtschaft in
der Politik.
({19})
Wir wollen, dass dieser Wechsel auch in Zukunft möglich ist.
Angesichts der immer wiederkehrenden Diskussionen
sind klare Regelungen allerdings besser, als es einer immer wieder provozierten - das ist heute ja modern skandalisierenden öffentlichen Diskussion zu überlasHelmut Brandt
sen. Weil wir differenziert an diese Regelungen herangehen wollen und wollten, haben wir auch nichts überstürzt. Deshalb finde ich die Zeitplanung vollkommen
angemessen. Der Koalitionsvertrag ist Ende letzten Jahres geschlossen worden. Wir haben jetzt Oktober, und
die Regierung hat angekündigt, einen Gesetzentwurf
vorzulegen.
({20})
- Sie lesen doch auch Zeitung, oder nicht?
({21})
Ich muss doch zumindest erwarten, dass Sie sich darüber
informieren lassen.
({22})
Dann kommen immer noch Fragen auf, die Sie auch
nicht in Ihren Anträgen beantworten. Wer stellt letztlich
objektiv fest, ob eine Interessenkollision tatsächlich vorliegt? Wer entscheidet über die Höhe und Dauer des
Übergangsgeldes, das dann auch zwangsläufig zu zahlen
ist?
({23})
Es ist auch zu überlegen, welche Branchen und Bereiche
überhaupt mit einer Karenzzeit zu versehen sind. Ist zum
Beispiel der Übergang eines Politikers in eine NGO auch
fragwürdig? Sind NGOs und Wohlfahrtsverbände nicht
im Grunde genommen genauso strukturiert und geführt
wie ein Unternehmen?
({24})
All diese Fragen müssen doch vernünftig beantwortet
werden.
Deshalb wollen wir den Gesetzentwurf der Bundesregierung abwarten. Wir wollen ihn kritisch würdigen, darüber diskutieren und dann eine sachgerechte Lösung
finden. Ihre Anträge lehnen wir ab.
({25})
Vielen Dank, Herr Kollege Brandt. - Nächste Rednerin in der Debatte: Halina Wawzyniak für die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Kollege Brandt hat es gerade gesagt: Wir haben
im Januar das erste Mal über Karenzzeitregelungen gesprochen. Kollege Brandt hat offensichtlich nicht mitbekommen, was in der Zeitung stand. Der Vorschlag der
Koalition sieht ja - soweit ich ihn gelesen habe - Karenzzeiten von 12 bis 18 Monaten vor und außerdem,
dass über eine Interessenkollision das Kabinett per Einzelfallbeschluss entscheiden soll. Wie Sie auf die 12 bis
18 Monate kommen, sagen Sie nicht. Ehrlich gesagt, ein
Kabinettsbeschluss ersetzt keine gesetzliche Regelung.
Das ist nichts Halbes und nichts Ganzes.
({0})
Der Vorschlag der Linken liegt auf dem Tisch. Sie
hätten ihn einfach nur in Paragrafen umsetzen müssen.
Sie sind doch schon groß; das bekommen Sie doch hin.
Das müssen wir Ihnen doch jetzt nicht auch noch aufschreiben.
({1})
Das Problem ist, dass durch einen unmittelbaren
Wechsel zwischen einem Ministeramt und einem Job in
der Wirtschaft natürlich der Eindruck - ich benutze bewusst das Wort „Eindruck“ - einer Interessenverquickung entsteht. Es entsteht der Eindruck eines Zusammenhangs zwischen Entscheidungen, die als Minister
getroffen wurden, und dem neuen Job. Es entsteht auch
der Eindruck, dass, nachdem zuvor die Interessen der
Gesamtbevölkerung vertreten werden sollten, jetzt die
Einzelinteressen des Unternehmens im Mittelpunkt stehen. Ich spreche bewusst von Eindruck; denn schon dieser Eindruck schadet der Demokratie.
({2})
Natürlich sind wir alle uns einig, dass Karenzzeitregelungen die Berufsfreiheit einschränken. Das streitet
niemand ab. Deswegen müssen Karenzzeitregelungen
verhältnismäßig sein. Denn unverhältnismäßige Karenzzeitregelungen fördern das Berufspolitikertum, was Sie
ja auch nicht unbedingt wollen.
Herr Brandt hat gerade gesagt, dass die Linke keinen
vernünftigen Vorschlag vorgelegt habe.
({3})
Ich habe dazwischen gerufen, dass der Vorschlag der juristisch sauberste ist. Ich erkläre Ihnen jetzt, warum es
der juristisch sauberste Vorschlag ist. Wir sagen: Die Karenzzeit soll sich an der Dauer des Regierungsamtes und
dem sich daraus ergebenden Anspruch auf Übergangsgeld und der ressortmäßigen Zuständigkeit orientieren.
({4})
Das ist ganz einfach: War jemand sechs Monate Minister, hat er sechs Monate Anspruch auf Übergangsgeld
und muss sechs Monate Karenzzeit einhalten, wenn er in
einen Job wechseln will, der seiner ressortmäßigen Zuständigkeit entspricht. War er es zwölf Monate, gilt dies
für zwölf Monate. Die maximale Regelungszeit sind
nach dem Ministergesetz 24 Monate. Das ist doch nicht
so schwer zu verstehen.
Kommen wir zur ressortmäßigen Zuständigkeit. Auch
das ist relativ einfach. Ein Landwirtschaftsminister zum
Beispiel hat naturgemäß relativ viel mit Bauern, mit Kühen und auch mit Pferden zu tun.
({5})
Ein Landwirtschaftsminister hat aber weniger mit dem
Flugwesen zu tun, es sei denn, eine Kuh landet im Propeller.
({6})
Jetzt ist es so, dass ein Landwirtschaftsminister, wenn er
in das Flugwesen wechselt, das unmittelbar nach dem
Ausscheiden aus dem Ministeramt machen kann. Denn
wir haben ja nichts dagegen, dass sich das Flugwesen
entwickelt.
({7})
- Das würden wir nicht skandalisieren. - Wenn der
Landwirtschaftsminister aber unmittelbar nach dem
Ausscheiden in einen Job wechseln würde, der mit Bauern, Kühen oder Pferden zu tun hat, dann müsste er eine
entsprechende Karenzzeit einhalten. Das ist so einfach,
wie ich es Ihnen erklärt habe.
Der Vorschlag der Linken liegt auf dem Tisch. Setzen
Sie ihn einfach in Paragrafen um und ersparen Sie sich
selbst die Peinlichkeit, dass wir Ihnen auch das noch
vorgeben müssen. Das wäre nämlich zu viel des Guten.
Sie können Ihre Arbeit auch selbst machen. Die Vorlage
haben wir Ihnen geliefert.
Danke.
({8})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Herr Straubinger, vielleicht laden wir mal unsere Berliner Kollegen zu uns
nach Bayern ein. Auf dem Bauernhof gibt es noch mehr
wunderschöne Tiersorten.
({0})
- Das war jetzt eine Einladung, Halina.
Nächster Redner in der Debatte ist Mahmut Özdemir
für die SPD.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Diese erneute Debatte ist mal wieder der unbestreitbare Beweis: Anträge schreiben sich immer
leichter als vernünftig abgewogene Gesetzentwürfe.
({0})
Sie wärmen wieder Ihre alten Anträge auf, weil es Ihnen
am Gestaltungswillen fehlt.
({1})
Statt sich an den Beratungen zu beteiligen - die Anträge
wurden mit Ihrer Zustimmung bzw. zum Teil auch auf
Ihre Bitte hin im Innenausschuss geschoben -,
({2})
setzen Sie das Thema hier ein zweites Mal auf, ohne selber auch nur im Entferntesten einen konstruktiven Beitrag zum Prozess geleistet zu haben,
({3})
geschweige denn, einen eigenen Gesetzentwurf vorzulegen, wenn es Sie so drängt.
({4})
Sie gaukeln der Öffentlichkeit Untätigkeit und Unwilligkeit der Regierungsfraktionen vor. Das ist nicht nur
falsch - ({5})
- Herbert Wehner hat einmal gesagt, Sie sind Geschäftsführerin und nicht Geschwätzführerin.
({6})
Sie gaukeln der Öffentlichkeit Untätigkeit und Unwilligkeit der Regierungsfraktionen vor. Das ist nicht nur
falsch, das ist in höchstem Maße ungebührlich.
({7})
Ich erinnere mich noch genau daran, wie Sie uns des
Verrates an unserem eigenen Wahlprogramm bezichtigt
haben, allein wegen der Tatsache, dass wir die Palette
von Regelungsoptionen öffentlich mit Ihnen diskutieren
wollten.
({8})
Die Einladung zur fachlichen Debatte haben Sie mit lautem Hinweis darauf ausgeschlagen, was alles nicht möglich sei. Das verüble ich Ihnen auch gar nicht. Schließlich ist es eine ziemliche Detailarbeit, an der man nur
Freude hat, wenn man eine Regelung anstrebt, die nicht
alle halbe Jahre für Empörung sorgen soll, sondern für
Entscheidungssicherheit und Rechtssicherheit.
({9})
Die Entscheidungshoheit über den beabsichtigten
Wechsel in die Wirtschaft von Ministern und Parlamentarischen Staatssekretären durch die Bundesregierung als
Mahmut Özdemir ({10})
Kollegialorgan auf Basis eines Parlamentsgesetzes muss
dabei wichtigste Bedingung und Ausgangspunkt für eine
entsprechend effektive Regelung sein.
({11})
Rechtssicherheit wiederum ist notwendig für denjenigen, der sich aus einem Regierungsamt heraus oder nach
einem Regierungsamt für eine Weiterbeschäftigung in
der Wirtschaft interessiert. Diese beiden Begriffe beschreiben die Auflösung des Widerstreits zwischen der
Vertraulichkeit und Integrität von Regierungshandeln,
das durch Interessenkonflikte nicht beschädigt werden
soll, auf der einen Seite und der Rechtfertigung eines vorübergehend eingeschränkten Berufsverbotes für ein Regierungsmitglied im Einzelfall auf der anderen Seite.
Wir wollen kein Berufsverbot nach dem Regierungsamt gemäß eines verzerrten Selbstgerechtigkeitsbildes,
das in den Oppositionsanträgen teilweise gezeichnet
wird, sondern eine Gesetzesänderung, die nachdrücklich
den Sinn und Zweck verfolgt, Regierungskenntnisse
nicht zu einem wirtschaftlichen Gut herabzuwürdigen.
Folglich geht es nicht darum, wie viele Jahre ein wechselndes oder ausscheidendes Regierungsmitglied nicht
arbeiten darf. Diesen Selbstgerechtigkeitswettbewerb
unter Oppositionsfraktionen können wir gerne bei unwichtigeren Themen austragen.
Zugleich brauchen wir eine Regelung, die zuverlässig
und wirksam die Kenntnisse, Erfahrungen und Netzwerke, die im Regierungsamt auf Kosten des Steuerzahlers erworben wurden, schützt. Genauso wenig darf es
aber auch einem Regierungsmitglied vorübergehend
oder gar bis zu 18 Monaten nicht zum Nachteil gereichen, all diese Eigenschaften in den Dienst des Staates
gestellt zu haben. Wir schmälerten damit die Attraktivität von Regierungsämtern, weil wir nur Expertise ziehen,
aber nicht geben würden, auch nicht gönnen würden.
Das mag ein Modell sein, wenn man im Oppositionsstil
jeden Wechsel von Politik in die Wirtschaft aufgrund einer Neiddebatte oder einer reinen Skandalisierung wegen befeuern möchte. Dann gehörte aber auch zur Vollständigkeit, über einen Parlamentarischen Staatssekretär
a. D. Herrn Berninger zu reden. Liebe Grünen-Fraktion,
das wollte ich Ihnen noch mit auf den Weg geben.
({12})
Ich werfe Ihnen das aber auch gar nicht vor; denn Sie
tun im Ansatz, auch wenn Sie weit über das Ziel hinausschießen, geradewegs das Richtige. Sie beleuchten jeden
Einzelfall in seinen Details. Genau das wollen wir mit
unseren Eckpunkten auch. Im Übrigen könnte man aufgrund des Kabinettsprinzips bei Böswilligkeit eine Interessenverflechtung immer dann annehmen, wenn man
eben gerade nicht den Einzelfall bewertet.
({13})
Mit der Einigung auf die nachfolgenden Eckpunkte
tragen wir dem Koalitionsvertrag, aber auch dem SPDWahlprogramm und nicht zuletzt 38 000 Unterschriften,
die LobbyControl e. V. gesammelt hat, Rechnung. Während Sie sich darin gefallen haben, uns Verschleppung
des Prozesses vorzuwerfen, haben wir viele Fachgespräche geführt - ich danke da auch ausdrücklich den Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU -, die zum Gelingen dieser Regelung beitragen werden.
Sobald die Wechselabsicht eines Regierungsmitglieds
in die Wirtschaft vorliegt, wird eine gesetzliche Anzeigepflicht für Mitglieder des Bundeskabinetts und Parlamentarische Staatssekretäre ausgelöst werden. Dies gilt
auch nach dem Ausscheiden aus dem Regierungsamt,
sofern man sich innerhalb der Karenzhöchstzeit von bis
zu 18 Monaten bewegt. Voraussetzung ist, dass ein Interessenkonflikt attestiert werden kann. Hierbei wird ein
Gremium, vergleichbar der Ethikkommission nach EUVorbild, unmittelbar nach der Anzeige durch das betroffene Regierungsmitglied dem Kabinett als Kollegialorgan einen Entscheidungsvorschlag über das Ob und
die Dauer der Karenzzeiten machen.
({14})
Das heißt aber auch, dass es im Ergebnis sein kann, dass
gar keine Karenz angeordnet wird. Aber wenn sie angeordnet wird, soll sie in der Regel 12 Monate betragen
und in besonderen Fällen bis zu 18 Monate umfassen.
({15})
Sobald Sie mehr fordern, greifen Sie intensiver in die
Berufsfreiheit ein und übersehen dabei, dass auch die Intensität des Interessenkonfliktes geeignet sein muss, längere Zwangspausen hinzunehmen.
Bei der Betrachtung dieser Eckpunkte darf das betroffene Regierungsmitglied nicht zum Objekt dieser Maschinerie werden. Auch dieser Akt kann und muss seinerseits gerichtlich überprüfbar bleiben. Gerade deshalb
ist die Frage nach dem individuellen Interessenkonflikt
Dreh- und Angelpunkt für das Ob der Anordnung einer
Karenz. Beginnt der Interessenkonflikt schon alleine mit
der Tatsache, dass ein Regierungsmitglied Regierungsmitglied gewesen ist, oder setzen wir eine konkrete Befassung im Regierungsamt mit einem nahezu gleichen
Verantwortungs- und Interessenbereich in der Wirtschaft
voraus?
({16})
Mit dem bald vorliegenden Gesetzentwurf, der vom
Bundesministerium des Innern erarbeitet wird, werden
wir zwar mediale Skandalisierung kaum unterbinden
können, jedoch werden wir Interessenkonflikte frühzeitig erkennen und mit einer zeitlichen und sachlichen Karenz belegen.
Ein Hinweis ist mir aber noch wichtig: So wie es arbeitsrechtliche Wettbewerbsverbote in der Privatwirt5340
Mahmut Özdemir ({17})
schaft gibt, so ist es auch mit Karenzzeitregelungen für
Regierungsmitglieder.
({18})
- Da bin ich ganz bei Ihnen. Nicht aufregen! - Im Zweifel wird der Anspruch auf Übergangsgeld verlängert. Ich
bin von der Richtigkeit dessen überzeugt, dass der Staat
den Bezug des Übergangsgeldes gegebenenfalls verlängern muss. Aber das Übergangsgeld darf nicht das Argument sein, weshalb eine Karenz angeordnet werden darf.
Das würde Ursache und Wirkung verkehren. Dann
könnte man tatsächlich über Karenzzeiten von drei bis
fünf Jahren reden, würde aber gleichsam in eine Niederlage vor dem Bundesverfassungsgericht rennen.
Zusammengefasst: Diese Eckpunkte sind eine fundierte Basis für eine wirksame Regelung. Wir halten
Wort, wo Sie nur Reden halten. Der Bundestag hat es in
der Hand, durch diese Gesetzesänderung ein Stück mehr
parlamentarische Kontrolle auszuüben und die Ausübung dieser Kontrolle an die Regierung zu delegieren.
Ich bedanke mich recht herzlich für die Aufmerksamkeit, freue mich auf eine sehr emotionale Debatte, die
wir dann hoffentlich in Sachlichkeit überführen werden,
und schließe mit meinem traditionellen Glückauf.
({19})
Werter Herr Kollege Özdemir, Sie haben Herrn
Wehner zitiert; Sie sind aber nicht Herr Wehner. Den Begriff „Geschwätzführerin“ aus Ihrem vornehmen Munde
halte ich in einer lebendigen Kontroverse für wenig angemessen.
({0})
Die nächste Rednerin in der Debatte ist Britta
Haßelmann für Bündnis 90/Die Grünen.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf den Tribünen! Dieser Begriff macht mir nichts aus. Herr
Özdemir, Ihnen täte es ganz gut, sich die Reden von
Herrn Oppermann zu diesem Thema einmal anzusehen.
Ihre Rede bestärkt mich nur darin: Wenn in diesem Parlament eine Fraktion den Schalter umgelegt hat, dann ist
es die SPD-Fraktion. Was hat Ihr Vorsitzender in Sachen
Karenzzeit nicht alles vertreten und an gesetzlichen Regelungen gefordert, als er noch Oppositionsführer war.
Ich dachte, Sie hätten sich heute auf Ihre Rede vorbereitet und diese Reden gelesen. Aber das kann man anscheinend nicht erwarten.
({0})
Jetzt zu den Fakten. Auch da lagen Sie falsch, Herr
Özdemir: Wir wärmen nicht alte Anträge auf, sondern
Grüne und Linke haben von dem in unserer Geschäftsordnung enthaltenen Recht Gebrauch gemacht - Sie
könnten sich als Abgeordneter auch ein bisschen mit der
Geschäftsordnung befassen -, einen Antrag auf die Tagesordnung zu setzen, den Sie seit zehn Monaten verschleppen. Seit zehn Monaten weigert sich die Große
Koalition, über die beiden Anträge von Grünen und Linken zu diskutieren. Nach § 62 der Geschäftsordnung haben wir das Recht, die Befassung heute im Parlament auf
die Tagesordnung zu setzen.
({1})
So ist das. Jetzt lassen Sie die Kirche im Dorf, und bereiten Sie sich lieber vor, wenn Sie hier reden und der Öffentlichkeit etwas erzählen!
Zweiter Fakt. Im Januar haben wir das Thema Karenzzeit diskutiert, weil Pofalla zur Bahn wechseln
wollte. Darüber waren alle ganz empört. Als die Fraktionen von Union und SPD noch eine Selbstverpflichtung
einführen wollten, musste ein Tag später das Kabinett
diese Auffassung revidieren und feststellen: Nein, mit
der Selbstverpflichtung geht es nicht; es geht nur durch
ein Gesetz.
Seit Januar warten wir auf die Vorlage eines Gesetzentwurfs. Unsere Anträge kamen in die Ausschüsse. Im
März folgte der nächste Fall: Niebel, FDP, ging zur Rüstungsindustrie.
({2})
Er war vorher Mitglied im Bundessicherheitsrat.
Dann gab es wieder große Betroffenheit, insbesondere bei der SPD: Wir brauchen eine gesetzliche Karenzzeit. - Danach passierte wieder nichts.
Im Juni haben wir nachgefragt: Wie weit ist der Gesetzentwurf? Keine Antwort. Wir sind in der konzeptionellen Erarbeitung, hieß es.
({3})
Inzwischen wussten wir, dass zwischen der SPD und der
Union über das Thema Krach bestand
({4})
und das Justiz- und das Innenministerium unterschiedlicher Auffassung waren.
Im Juli haben wir, Grüne und Linke, im Innenausschuss eine Debatte erzwungen. Vertagung wegen Beratungsbedarf der beiden großen Fraktionen.
Im September haben wir wieder eine Debatte im Innenausschuss erzwungen. Wieder Beratungsbedarf der
beiden Fraktionen, weil man sich nicht einigen konnte.
({5})
Vorgestern haben die beiden Fraktionen - es war nicht
die Regierung, Herr Brandt - erklärt, dass sie doch die
Absicht haben, einen Gesetzentwurf vorzulegen.
Meine Damen und Herren, verschlafen Sie doch ein
solches Thema nicht!
({6})
Eine gesetzliche Karenzzeit ist überfällig, und zwar aus
mehreren inhaltlichen Gründen: Sie schützt am Ende die
Abgeordneten. Sie schützt Regierungsmitglieder, wenn
es eine klare gesetzliche Regelung gibt. Und sie schützt
die Privatwirtschaft, in die man wechselt. Sie aber stehen
bei diesem Thema auf der Bremse.
Weil es aber so viele Wechsel gibt, die immer wieder
öffentlich thematisiert werden, kommen Sie unter
Druck. Das ist der Punkt. Der öffentliche Druck hat bewirkt, dass man vor zwei Tagen erklärt hat: Wir machen
jetzt bald ein Gesetz. - Die Frage ist nur: Dauert es noch
drei Monate oder fünf Monate, oder müssen wir erst auf
den nächsten spektakulären Wechsel warten?
Ich bin gespannt. Im Europaparlament gibt es bereits
eine gesetzliche Karenzzeit. Für Bundesbeamte gilt sie
längst.
({7})
Wir würden damit bei einem Wechsel aus einem Regierungsamt in eine Berufstätigkeit für alle betroffenen Personen Klarheit schaffen. Das hätten wir dann klar gesetzlich geregelt. Ich glaube, das wäre im Interesse aller.
Vielen Dank.
({8})
Vielen Dank, Frau Kollegin Haßelmann. - Damit
schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Innenausschusses auf Drucksache 18/2762.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/285 mit dem Titel
„Gesetzliche Karenzzeit für ausgeschiedene Regierungsmitglieder einführen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen von
den Linken und Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/292 mit dem Titel „Karenzzeit
für ausscheidende Regierungsmitglieder“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Linken.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zwölften Gesetzes zur Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes
Drucksachen 18/2442, 18/2709
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit ({0})
Drucksache 18/2776
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Parlamentarischen Staatssekretärin Rita Schwarzelühr-Sutter das
Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Die Bundesregierung
hat sich ambitionierte Klimaschutzziele gesetzt. Auch
im Verkehrssektor stellen wir mit der Umstellung der
Biokraftstoffquote auf eine technologieoffen ausgestaltete Treibhausgasquote die Weichen für eine nachhaltige
Energieversorgung und für den Klimaschutz. Wir setzen
für die Märkte die richtigen Anreize, um auch künftig
eine nachhaltige Technologieentwicklung zu gewährleisten. Gleichzeitig setzen wir aber auch die richtigen Rahmenbedingungen, um die Nachhaltigkeit der Biokraftstoffe sicherzustellen. Negative Auswirkungen wie
Flächennutzungskonkurrenzen wollen wir vermeiden.
Hierzu gehören sowohl die Regelungen der Biokraftstoff-Nachhaltigkeitsverordnung als auch die künftigen
Regelungen zu indirekten Landnutzungsänderungen,
über die wir beim Energierat im Juni eine politische Einigung erzielen konnten. Das Bundeskabinett hat den
vorliegenden Gesetzentwurf verabschiedet, um einen
reibungslosen Umstieg auf die neuen Modalitäten zu ermöglichen.
Biokraftstoffe tragen zum Klimaschutz und zur Versorgungssicherheit bei. Der Ausbau muss jedoch mit
Blick auf die Nachhaltigkeit mit Augenmaß erfolgen.
Bereits im Jahr 2009 hat der Deutsche Bundestag die
Grundlagen für die Umstellung auf die Treibhausgasquote geschaffen und den 1. Januar 2015 als Datum für
die Umstellung festgelegt. Nach der Umstellung werden
auch die Treibhausgasemissionen berücksichtigt, die bei
der Herstellung der Biokraftstoffe vom Acker bis zum
Tank entstehen. Dadurch wird für Biokraftstoffe mit einer günstigeren Klimabilanz wie beispielweise Biokraftstoffe aus Abfällen und Reststoffen eine klare Perspektive für die Zeit nach dem Jahr 2015 gegeben, indem sie
ab dann höher auf die Quote angerechnet werden. Die
Quotenhöhe für die ersten beiden Jahre nach der Umstellung in Höhe von 3,5 Prozent orientiert sich an der Höhe
der bislang geltenden energetischen Quote. Die geplanten weiteren Erhöhungen der Quote ab 2017 auf 4 Prozent sowie ab 2020 auf 6 Prozent laufen parallel mit einer Öffnung der Quote zur Anrechnung zusätzlicher
Erfüllungsmöglichkeiten. Entsprechende Vorgaben werden derzeit in Brüssel diskutiert.
Ein wesentlicher Baustein einer nachhaltigen Energieversorgung im Verkehr ist der schrittweise Umstieg
vom Verbrennungsmotor auf die Elektromobilität. Daher
wollen wir künftig auch Strom aus erneuerbaren Energiequellen, der in Elektrofahrzeugen genutzt wird, auf
die Biokraftstoffquote anrechnen. Hinzu kommen Maßnahmen zum Klimaschutz, die bei der Gewinnung von
Öl ansetzen. Hierbei entstehen derzeit noch erhebliche
Emissionen durch Abfackeln von nicht genutztem Gas
an den Ölförderstätten. Nachgewiesene Emissionsminderungen sollen künftig auch zur Anrechnung auf die
Quote zugelassen werden.
Das Ziel von 6 Prozent ab dem Jahr 2020 ist eine verbindliche Vorgabe der EU und stellt aus heutiger Sicht
gleichzeitig eine große Herausforderung für die Quotenverpflichteten dar. Um die Erreichbarkeit des Ziels und
die damit verbundenen Effekte sicherzustellen, haben
wir vereinbart, dass wir nach der Umstellung der Quote
eine Evaluation vornehmen. Das halten wir für besonders wichtig.
({0})
Lassen Sie mich schließen mit dem wichtigen Hinweis, dass die Umstellung der Quote neben der Förderung von Biokraftstoffen mit besonders guter CO2-Bilanz den Weg für weitere Maßnahmen zum Klima- und
Ressourcenschutz im Verkehrssektor freimacht. Gerade
die Anrechnung von Strom aus erneuerbaren Energiequellen hat riesiges Potenzial und eröffnet große Chancen.
Danke schön.
({1})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Nächster Redner in der
Debatte ist Ralph Lenkert für die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geehrte Kolleginnen
und Kollegen! Mit Ihrem Zwölften Gesetz zur Änderung
des Bundes-Immissionsschutzgesetzes versuchen Sie
wieder einmal, den Klimaschutz - hauptsächlich im
Biospritbereich - besser zu regeln. Aber schon 2010 bei
der Einführung des E10-Sprits haben wir Sie gewarnt.
Damals habe ich ausgeführt, dass die Ackerflächen in
der EU nicht reichen werden, um Lebensmittelanbau,
Versorgung der Industrie mit Rohstoffen sowie Energieerzeugung durch Biomasse sicherzustellen. Wir haben
damals gewarnt, dass es Importe geben wird, die dafür
sorgen werden, dass in Entwicklungsländern Reisfelder
und Kartoffelfelder Palmöl- und Zuckerrohrplantagen
weichen. Der Hunger wächst. Wo sind Ihre Konzepte,
und wo ist Ihre Evaluierung, damit das in Zukunft nicht
so weitergeht? Ich finde dazu nichts.
({0})
Nach wie vor träumen Sie von der Union und der
SPD davon, dass Zertifizierung die Urwaldabholzung
verhindert. Wir wissen doch längst, dass heute
Palmölplantagen dort stehen, wo früher Reisfelder waren. Und Reis wächst jetzt dort, wo früher Urwald war.
Ihre Zertifizierung bringt nichts. Sehen Sie das doch ein!
In Ihrem Entwurf sehe ich davon nichts. Auch an dieser
Stelle haben Sie wieder einmal geschlafen.
Was ist jetzt neu in Ihrem Entwurf? Es wurde gerade
angesprochen, dass die Berechnung umgestellt wird. Damit könnte man leben. Weiter haben Sie von den neuen
Treibhausgasminderungszielen gesprochen. Die sind
aber niedriger als vorher. Ich weiß nicht, worin der Fortschritt bestehen soll, wenn man von 7 Prozent bei der
Zielstellung in Bezug auf die Minderung auf 6 Prozent
geht. Das kann ich nicht verstehen.
Außerdem wird noch das Angebot unterbreitet, dass
zukünftig Ökostrom, der für E-Fahrzeuge bestimmt ist,
auf die Minderungsquote angerechnet werden kann.
Wenn das geschieht, ist der Klimaeffekt weg. Sie haben
ihn dann vernichtet. An dieser Stelle haben Sie also gepennt.
({1})
Ganz interessant wird es bei dem letzten Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen. Der hat es echt in sich;
denn es können jetzt an Dritte Quoten delegiert werden.
Die Auswirkung dieser Delegierung ist, dass nur noch
mit Durchschnittswerten für Biosprit gerechnet wird.
Wenn also Bioethanol aus Thüringer Weizen hergestellt
wird, hat er zukünftig, wenn er über Dritthändler geliefert wird, den gleichen Wert wie der Biosprit aus Weizen, der in den USA - unter ganz anderen Bedingungen
und mit einer ganz anderen Bilanz - angebaut wird. Das
haben Sie in Ihren Gesetzentwurf geschrieben. Wo sehen
Sie da einen Fortschritt? Ich kann ihn nicht erkennen.
Sie schädigen den Klimaschutz.
({2})
Dieses Gesetz ist noch nicht einmal verabschiedet, da
plant die EU eine Neuregelung, die dazu führen wird,
dass das um 25 Prozent höher mit CO2-Ausstoß belastete
Öl aus Teersanden in Kanada zukünftig problemlos mit
den Standardwerten in die Quoten eingerechnet werden
kann. Wie funktioniert das? Die EU sagt jetzt, dass die
Herkunft eines Öles Betriebsgeheimnis ist, das nicht
weitergegeben werden darf. Wenn ich nicht weiß, woher
es kommt: Woher soll ich wissen, welcher CO2-Ausstoß
damit verbunden ist?
Warum geschieht dies? Die EU plant das, weil sie
Angst hat, dass Kanada sonst das CETA-Abkommen
nicht unterschreibt. Die EU ist sogar vorausschauend;
denn wenn CETA unterschrieben und ratifiziert ist,
könnten kanadische Ölkonzerne - die haben darin
Übung - die EU wegen Wettbewerbsverzerrung verklagen. Hier wirkt sich das Freihandelsabkommen schädRalph Lenkert
lich für die Umwelt bzw. die Menschen aus, noch bevor
es überhaupt in Kraft gesetzt wurde. Deswegen ist auch
dieses Abkommen abzulehnen.
({3})
Ihr Zwölftes Gesetz zur Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes und Ihr Änderungsantrag schaden dem Klima, zementieren Hunger in der Dritten Welt
und vernichten Urwälder. Die Linke fordert stattdessen
eine absolute Reduzierung des Kohlendioxidausstoßes
im Fahrzeug- bzw. Treibstoffbereich. Das ist relativ einfach. Führen Sie eine Verkehrsverlagerung auf die
Schiene durch, unterstützen Sie den öffentlichen Personenverkehr, und reduzieren Sie die Transportmengen.
Damit helfen Sie dem Klima. Das ist eine sozial-ökologische Politik. Die wäre gut. Folgen Sie diesem Vorschlag.
({4})
Vielen Dank, Herr Kollege Lenkert. - Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Karsten Möring für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn ich mir das so anhöre, was der Kollege Lenkert
hier eben von sich gegeben hat,
({0})
dann kann ich schlichtweg feststellen: Er hat das Gesetz
nicht verstanden.
({1})
Soweit er es verstanden hat, weicht er auf Verschwörungstheorien aus. Das ist natürlich immer das Einfachste.
Was hat denn die Mineralölversorgung mit der THGQuote für die Beimischung von Biokraftstoffen zu tun?
Nichts. Vor allen Dingen: Da Sie sagen, es sei nicht gut,
was wir hier machen, frage ich Sie: Ist das besser, was
wir hatten?
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf fördern wir
Nachhaltigkeit und Ressourceneffizienz im Verkehrssektor. Das bedeutet, Mobilität sicherzustellen, ohne unsere
natürlichen Lebensgrundlagen zu gefährden. Biokraftstoffe sind dabei ein wichtiger Baustein. Indem wir sie
verwenden, verringern wir übrigens auch unsere Abhängigkeit von dem immer knapper werdenden Erdöl.
In diesem Sinne verlangt das Gesetz seit 2007 von
Unternehmen, die Kraftstoffe in Verkehr bringen, die
Beimischung von Biokraftstoffen in einer bestimmten
energetischen Quote. 2009 hat der Bundestag beschlossen, dass wir dieses Abkommen ab kommendem Jahr
auf eine Treibhausgasquote umstellen. Damit soll künftig die erzielte Einsparung von Emissionen, also die bessere Klimabilanz, die entscheidende Größe sein. Das
neue Bundes-Immissionsschutzgesetz setzt dies so um.
({2})
Dem Wunsch des Bundesrats zur Berichtspflicht
kommen wir nach, indem wir sie unbürokratisch und
transparent an die Berichtspflicht der Nachhaltigkeitsverordnung koppeln. Im Übrigen sind diese Daten für jedermann im Internet auf der Seite des Bundesfinanzministeriums einsehbar.
({3})
Wir sind uns sicher, dass die nach langer Diskussion
festgelegten Quoten und deren schrittweise Erhöhung zu
keinen Marktverwerfungen führen werden. Insbesondere
die Überprüfung nach der zweiten Erhöhungsstufe - die
Evaluation, die eben schon angesprochen wurde - erlaubt es uns, gegebenenfalls nachzusteuern, wenn dort
eine Entwicklung eintritt, die wir nicht wollen.
Innerhalb der Treibhausgasquote werden die Biokraftstoffe, die eine günstigere Klimabilanz aufweisen,
höher angerechnet als Biokraftstoffe mit einer ungünstigeren Bilanz. Somit werden Anreize zur Nutzung nachhaltiger und klimaschonender Kraftstoffe der zweiten
Generation gesetzt. Dies trägt wesentlich zum Klimaschutz bei. Biokraftstoffe gelten nämlich nur dann als
nachhaltig hergestellt, wenn sie unter Einbeziehung der
gesamten Herstellungs- und Lieferkette eine bestimmte
Mindestmenge an Treibhausgasen gegenüber fossilen
Brennstoffen einsparen, und außerdem auch dann, wenn
beim Anbau von Pflanzen für die Biokraftstoffherstellung keine Flächen mit hohem Kohlenstoffbestand oder
Flächen mit hohem Naturschutzwert zerstört werden.
({4})
Nur die Biokraftstoffe, die diese Bedingungen erfüllen,
können auf die Treibhausgasquote angerechnet werden.
Das ist das Entscheidende dabei.
Wir teilen im Übrigen mit dem Bundesrat auch die
Auffassung, dass wir wirksame Kontrollen als wichtiges
Element brauchen. Unser Nachhaltigkeitssystem inklusive EU-anerkannter Zertifizierungssysteme ist ausreichend flexibel, um auch bei einer Treibhausgasquote die
Nachhaltigkeitskontrollen der Biokraftstoffe zu sichern.
Substanzielle Änderungen an diesem System wären europarechtlich problematisch. Die bestehenden Sanktionsmöglichkeiten der EU-Kommission zur Nichtanrechnung bei einem Missbrauch der Zertifizierung
wirken abschreckend genug. Dann wird nämlich die
Charge nicht anerkannt, und dann entsteht für denjenigen, der das probiert, ein nicht unerheblicher wirtschaftlicher Schaden. Das macht er einmal und nie wieder.
({5})
Frau Staatssekretärin Schwarzelühr-Sutter hat schon
darauf hingewiesen, dass wir eine technologieoffene Regelung treffen. Wir haben zwar im Moment eine Einschränkung, aber Kraftstoffe wie Wasserstoff, Power to
Gas oder Power to Liquid, die mit Strom aus erneuerbaren Energien produziert werden und bisher nicht auf die
Treibhausgasquote angerechnet werden, können mittelbis langfristig durchaus einen nennenswerten Beitrag
leisten. Die EU-Kommission arbeitet schon an Vorschriften dazu, die wir später einbeziehen können.
({6})
Das Gesetz sieht eine Verordnungsermächtigung vor, mit
der das zeitnah und praktisch geregelt werden kann.
Ich begrüße auch, dass diese Rechtsverordnung eine
flexible Regelung von Ausnahmen vom Ausschluss tierischer Fette und Öle vorsieht, sofern sie, wie es so
schön heißt, dem Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung nicht entgegenstehen. Damit wird die Handhabung praktikabler, ohne dass wir befürchten müssen,
dass jetzt tierische Fette in einem nennenswerten Umfang eingesetzt werden; denn das wollen wir gerade
nicht.
Diese Rechtsverordnung, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben wir aus gutem Grund in unserem Änderungsantrag mit einem Parlamentsvorbehalt versehen:
Innerhalb von vier Wochen kann sich danach der Bundestag mit den von der Bundesregierung beabsichtigten
Regelungen befassen. Das stärkt die umweltpolitische
Verantwortung des Parlaments.
Es war kein einfacher Findungsprozess; aber nach
vielen Gesprächen bin ich sicher, dass wir ein gutes Gesamtpaket geschnürt haben. Vielen Dank an die Kollegin
Ulli Nissen von der SPD für die gute Zusammenarbeit!
({7})
Ich hoffe, dass die Grünen ihre kleinen Vorbehalte, die
sie in den Ausschussberatungen zu einzelnen Punkten
haben erkennen lassen, zurückstellen und im Interesse
des Klimaschutzes diesem Gesetzentwurf vielleicht doch
noch zustimmen.
Ich danke Ihnen.
({8})
Vielen Dank, Herr Kollege Möring. - Darauf kann
jetzt gleich Peter Meiwald von Bündnis 90/Die Grünen
antworten.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Wer kann etwas gegen die Umstellung
der Biokraftstoffquote auf Treibhausgasemissionen haben? Niemand. Aber man muss nicht glauben, dass hierdurch Klimaschutz im Verkehr tatsächlich verwirklicht
wird. Dazu, wie man Klimaschutz im Verkehr umsetzen
kann, sage ich nachher noch etwas.
Durch eine Bemessung anhand der Treibhausgaseffekte sollen zukünftig Anreize zur Dekarbonisierung
fossiler Kraftstoffe und ein echter Beitrag zum Klimaschutz geleistet werden. Das haben wir gerade vom Kollegen Möring noch einmal gut erklärt bekommen. Doch
genau hier springt Ihr heute vorgelegter Gesetzentwurf
leider immer noch zu kurz. Biosprit, insbesondere der
der ersten Generation, wird nämlich trotzdem im Rahmen der Treibhausgasquote mit null bilanziert. Auch bei
dieser Novelle ist es nämlich möglicherweise bewusst
versäumt worden, die sogenannten ILUC-Faktoren, Indirect Land Use Change - Kollege Lenkert hat es gerade
implizit mit eingebracht -, bei der Treibhausgasbilanzierung von Biokraftstoffen zu berücksichtigen. Das ist leider nicht geschehen.
Werden indirekte Effekte, angefangen bei der Landvertreibung bis zum Anbau von Reis auf ehemaligen
Waldflächen, in die Bilanzierung mit einbezogen, leistet
Agrosprit der ersten Generation kaum einen Beitrag zur
Verbesserung der Klimabilanz.
({0})
Nach Berechnungen der Europäischen Kommission aus
2012 - das ist ja noch nicht so lange her - kann Ethanol
aus nachwachsenden Rohstoffen immerhin zu etwa
50 Prozent Treibhausgaseinsparungen führen. Biodiesel
dagegen, egal ob aus Rapsöl oder dem oftmals verteufelten Palmöl, kommt bei der Treibhausgasbilanz insgesamt schlechter weg, als wenn man fossile Rohstoffe
verbrennt. Das beruht auf Zahlen, die die OECD vorgelegt hat.
Diese verheerende Bilanz bei der Beimischung zum
Kraftstoff weiterhin zu akzeptieren, ist ein schwerer Geburtsfehler dieser Novelle.
({1})
Im Änderungsantrag der Koalition verweisen Sie zwar
auf anerkannte Zertifizierungssysteme. Diese beziehen
Sie aber nur auf die Herstellungskette und leider nicht
auf die ILUC-Einberechnung. Ich fordere daher die Bundesregierung dringend auf, das Ganze in kurzer Zeit weiterzuentwickeln und die ILUC-Faktoren in die Treibhausgasbilanzierung der Biokraftstoffe verbindlich
einzubeziehen. Das ist die Grundlage für eine ehrliche
Treibhausgasbilanzierung.
Wie kann also die auch von uns Grünen erwünschte
Treibhausgasminderung im Mobilitätssektor gelingen?
Eine THG-Minderungsquote kann dabei nur ein kleiner
Baustein sein. Es geht erst einmal darum, Nutzungskonkurrenzen zu vermeiden; denn diese führen ja neben der
Verschlechterung der Treibhausgasbilanz auch zu ansteigenden Nahrungsmittelpreisen. Die OECD geht für 2017
von einer Bandbreite von 6 bis 15 Prozent aus. Die Auswirkungen von Landvertreibungen haben wir erst im
Sommer auf einer Ausschussreise nach Kolumbien wieder miterleben müssen. Auch die Gefahren für die Biodiversität sind natürlich nicht zu leugnen: Sumatra-Tiger,
Sumatra-Nashörner und Orang-Utans sind vom Aussterben mittlerweile massiv bedroht.
Also müssen wir uns bei der Nutzung von Biomasse
auf die Kaskadennutzung konzentrieren. Dazu haben wir
hier deutlich zu wenig Anreize. Wir müssen Biomasse
nämlich zunächst stofflich nutzen, bevor wir sie dann in
einem zweiten oder dritten Schritt in die energetische
Nutzung über abfall- und reststoffbasierten Biosprit in
die Mobilitätskette einspeisen. Dazu gibt es in dem vorliegenden Gesetzentwurf leichte Anreize. Deswegen
werden wir ihn auch nicht komplett ablehnen. Aber das,
was geregelt wird, ist deutlich zu wenig.
Frau Schwarzelühr-Sutter - Frau Ministerin Hendricks
ist nicht da -, machen Sie sich doch ehrlich. Sorgen Sie
dafür, dass eine ehrliche Bilanzierung der Treibhausgaseffekte den Biospritproduzentinnen und -produzenten
der zweiten Generation eine reale Marktchance gibt und
dass Umwelt- und Sozialstandards zukünftig eingehalten
werden. Hören wir endlich auf, Essen in Motoren von
Autos zu verbrennen, und steigen endlich in eine Mobilitätswende ein, die ihren Namen auch verdient.
Biosprit wird in diesem Zusammenhang, auch aufgrund der nur begrenzt zur Verfügung stehenden Restund Abfallstoffmengen - das haben wir schon an verschiedenen Stellen gehört -, nur eine kleine Rolle beim
Klimaschutz im Verkehrsbereich spielen können, vielleicht im Flugverkehr, wo flüssige Kraftstoffe nur sehr
schwer zu substituieren sind.
Für den Landverkehr brauchen wir stattdessen endlich ein Tempolimit - das bringt sehr viel mehr für den
Klimaschutz als Biosprit -, einen deutlichen Einstieg in
die Elektromobilität, vernetzte Angebote aus Bahn, Bus,
Fahrrad und Carsharing. Daran können wir gemeinsam
arbeiten. Dann stimmen wir auch gern wieder Gesetzentwürfen zu.
Vielen Dank.
({2})
Vielen Dank, Herr Kollege Meiwald. - Nächste Rednerin in der Debatte: Kollegin Ulli Nissen.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir stellen die Berechnung der Förderung der
Biokraftstoffe auf die Treibhausgasquote um. Das ist
gut, das ist richtig. Damit geben wir einen Anreiz, auf
klimafreundlichere Kraftstoffe umzusteigen. Je weniger
Treibhausgasausstoß, desto besser für die Umwelt!
Wir haben ehrgeizige Ziele, zum Beispiel die Treibhausgasreduzierung um 40 Prozent bis 2020. Dazu können wir auch persönlich beitragen. Wir sollten zum Beispiel vor jeder Autofahrt überlegen, ob diese wirklich
notwendig ist. In meinem Frankfurter Wahlkreis versuche ich, möglichst viele Fahrten mit meinem Elektroroller oder mit meinem kleinen Elektroauto zurückzulegen.
Hier in Berlin bin ich viel zu Fuß oder mit dem Fahrrad
unterwegs.
Aber Verbrauchsreduzierung allein reicht natürlich
nicht aus. Deshalb komme ich wieder zu den Biokraftstoffen, die einen wichtigen Beitrag für das Klima leisten und ein Gegengewicht zu den fossilen Kraftstoffen
sind.
Wenn es um Biokraftstoffe geht, kommt von Kritikern immer das Stichwort „Palmöl“; das wurde auch
heute Abend wieder deutlich. Dies höre ich aber selten,
wenn es um Kosmetika oder Nahrungsmittel geht. In
diese Produkte gehen aber 95 Prozent des weltweiten
Palmölverbrauchs. Ich möchte nicht wissen, wie viele
Produkte Sie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen,
auch Sie, Herr Lenkert und Herr Meiwald, heute schon
verwandt haben, die Palmöl enthalten. Das wäre wirklich spannend.
({0})
Nur 5 Prozent des weltweiten Verbrauchs gehen in die
energetische Nutzung. Für mich ist es wichtig, dass diese
zertifiziert sind und nachhaltig produziert werden - dies
ganz im Gegensatz zu der sonstigen Verwendung.
({1})
Bei Biokraftstoffen geht es vor allem um die zweite
Generation. Das sind Kraftstoffe, die aus Abfall- und
Reststoffen wie Stroh oder Speisefett produziert werden.
Es gibt ein schönes Beispiel aus Wien. Dort verteilt die
Stadt an Privathaushalte für Altspeiseöle Sammelkübel,
den sogenannten WÖLI. Ich bin sicher nicht die Einzige,
die nicht weiß, wohin zum Beispiel mit dem Öl aus einem Glas wunderbar eingelegter sonnengetrockneter Tomaten. In Wien werden jährlich mehr als 320 000 Kilogramm an Altspeiseölen abgegeben. Daraus wird in etwa
die gleiche Menge Biodiesel produziert. Für die gleiche
Menge an Diesel aus Rapsöl wäre eine Fläche von knapp
1 000 Hektar notwendig. Vielleicht ist das Wiener Modell auch eins für Deutschland.
Wenn wir unsere Ziele erreichen wollen, müssen wir
uns in allen Bereichen anstrengen. Dazu gehört es, national seine Hausaufgaben zu machen; aber es gehört auch
dazu, international dabei zu sein. Gerade fand der Klimagipfel in New York statt. Dort waren 125 Staats- und
Regierungschefs. Es war das hochrangigste internationale Treffen zum Klimawandel seit dem Klimagipfel
von Kopenhagen 2009. Frau Merkel war nicht anwesend. Sie zog es vor, beim BDI zum Tag der Deutschen
Industrie die Eröffnungsrede zu halten. Zum Glück waren wir durch unsere Bundesumweltministerin Barbara
Hendricks hervorragend vertreten.
({2})
UN-Generalsekretär Ban sagte zur Eröffnung des UNKlimagipfels:
Völker der Erde: Heute sind wir nicht zusammengekommen, um zu reden, sondern um Geschichte
zu schreiben.
Schade, dass unsere Bundeskanzlerin nicht mitschreiben
konnte!
Zum Schluss, Herr Möring, möchte auch ich mich
ganz herzlich bei Ihnen bedanken. Es war eine tolle
Zusammenarbeit. Ich möchte mich auch beim BMUB,
beim Ministerium, bedanken; wir haben wirklich tolle
Vorlagen bekommen. Also herzlichen Dank!
Bei Ihnen allen bedanke ich mich herzlich für die
Aufmerksamkeit.
({3})
Und ich bedanke mich bei Ihnen, liebe Kollegin
Nissen. - Letzter Redner in dieser Debatte: Artur
Auernhammer für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Vielen Dank. - Geschätzte Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! In diesem Hohen Hause wird sehr viel
über die Energiewende diskutiert. Ein Aspekt bleibt
meist ausgeklammert, und das ist das Thema Mobilität.
Gerade hier sind wir mit der Diskussion über die Minderung der Treibhausgasquote im Bundes-Immissionsschutzgesetz dabei, einen guten und wichtigen Beitrag
dazu zu leisten, im Bereich der Elektromobilität auf die
Nutzung regenerativ erzeugten Stroms umstellen zu können. Das kann nicht nur mit batteriebetriebenen Fahrzeugen geschehen, sondern hier ist der gesamte Bereich regenerativer Energiequellen beim Treibstoff in den Blick
zu nehmen.
Wir haben hier schon oft über die Frage „Teller oder
Tank?“ diskutiert. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bin selber Landwirt. Wenn ich zurzeit meinen
Brotweizen verkaufe, um daraus Lebensmittel herstellen
zu lassen, bekomme ich 12 Euro für den Doppelzentner,
für 100 Kilo Weizen 12 Euro. Warum ist es nicht möglich, hieraus Energie zu gewinnen? Wir könnten hieraus
leistungsfähigen Biosprit erzeugen. Das sollten wir
auch; denn das wäre ein wichtiger Beitrag zum Klimaschutz.
Die Landwirtschaft leistet einen großen Beitrag zum
Klimaschutz. Denken Sie nur daran: Bäume und Pflanzen - also quasi jeder Hektar Wald und jeder Hektar
Ackerbau - wandeln CO2 - wir diskutieren hier sehr oft
über CO2 - in Sauerstoff um. Das kann keine Raffinerie
leisten, das kann kein Industriebetrieb leisten, das kann
nur die Land- und Forstwirtschaft leisten. Das sollen wir
hier auch einmal kundgeben.
Bereits vor der Industrialisierung wurde ein Großteil
der für unsere Mobilität notwendigen Energie aus der
Landwirtschaft bezogen. 20 bis 30 Prozent der gesamten
landwirtschaftlichen Produktion wurde für die sogenannte Zugkraft, für die Zugpferde, verwendet. Das sollten wir uns einmal wieder in Erinnerung rufen, wenn wir
ständig nur fossile Energien verbrauchen.
({0})
- Nein, Frau Kollegin, wir wollen nicht zurück zu den
Pferden. Wir wollen bei den Pferdestärken das einsetzen,
was wir auch mit Pferdestärken produzieren, und das
nicht aus dem Boden entnehmen.
({1})
Weg von fossiler hin zu regenerativer Energie!
Zur Flächenkonkurrenz: Ich habe bereits den Brotweizenpreis angeführt. Hier muss der Landwirtschaft die
Einkommensmöglichkeit eröffnet werden, alternativ etwas anzubauen, was auch energetisch genutzt werden
kann. Derzeit - so muss ich allerdings sagen - ist das
größte Problem, das wir in der Landwirtschaft haben,
nicht die Flächenkonkurrenz in Bezug auf den Biosprit,
sondern das bisherige EEG im Bereich der Biogasanlagen. Ich bin froh, dass wir in diesem Haus bereits eine
Novelle des EEG gemacht haben. Hier sind wir auf einem sehr guten Weg.
Meine Damen und Herren, wir diskutieren auch oft
über Gentechnik, über den Import von Eiweißfuttermitteln. Wenn wir zum Beispiel Raps für die Erzeugung von
Biosprit einsetzen, dann fällt dort ein Nebenprodukt an.
Das ist der sogenannte Rapskuchen. Das ist ein ideales
Futtermittel in der Tierhaltung: aus eigenem Anbau, gentechnikfrei bei uns im Land produziert. Das sollten wir
auch bei dieser Diskussion mit in Erwägung ziehen.
({2})
Außerdem haben wir dadurch, dass wir jetzt die Diskussion über die Minderung der Treibhausgasquote technologieoffen führen, die Möglichkeit, in der Landwirtschaft wieder zu gesunden Fruchtfolgen zu kommen.
Hier ist in den letzten Jahren - ich gebe das offen zu manches aus dem Gleichgewicht gekommen.
({3})
Und wir können verschiedene Produkte zur Energiegewinnung aus regenerativen Quellen einführen.
Gerade die Diskussion über die erste oder zweite Generation der Biotreibstoffe zeigt, dass noch sehr viel Forschung erforderlich ist, damit wir auch die Treibstoffe
der zweiten Generation gut einbauen können. Ich denke,
dass wir noch nicht am Ende der Entwicklung stehen.
Deshalb gilt: Technologieoffen forschen.
({4})
Insgesamt ist dieses Gesetz zur Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes, das die Umstellung auf
Treibhausgasquoten regelt, ein guter Beitrag dazu, die
Wertschöpfung im eigenen Land zu steigern, gerade im
ländlichen Raum - damit das Geld, das aus dem ländlichen Raum kommt, wiederum in den ländlichen Raum
fließt und nicht in irgendwelche rohölexportierenden
Länder. Ich glaube, das ist in unser aller Sinn.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Ich danke Ihnen, Herr Kollege Auernhammer. - Damit schließe ich die Aussprache.
Vizepräsidentin Claudia Roth
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes. Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/2776, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 18/2442 und 18/2709 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, jetzt um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen bei Zustimmung
von CDU/CSU- und SPD-Fraktion, Ablehnung von der
Linken und Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit angenommen bei Zustimmung von
CDU/CSU und SPD, Ablehnung von der Linken und
Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und der Gewerbeordnung
Drucksache 18/2134
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr und digitale Infrastruktur
({0})
Drucksache 18/2775
Ich muss Sie enttäuschen: Sie werden jetzt keine
Rede hören.
({1})
Sie vermissen die Reden von den Kollegen Storjohann
und Schnieder für die CDU/CSU, vom Kollegen Zierke
für die SPD, vom Kollegen Lutze für die Linke und vom
Kollegen Stephan Kühn für Bündnis 90/Die Grünen. Die
Reden - so ist verabredet worden - sollen zu Protokoll
gegeben werden.1) - Ich sehe, dass Sie, trotz erheblicher
Traurigkeit im Raum, damit einverstanden sind.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Verkehr und digitale Infrastruktur empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/2775, den
Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
18/2134 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas-
sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzent-
wurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Zuge-
stimmt haben CDU/CSU- und SPD-Fraktion, enthalten
haben sich Bündnis 90/Die Grünen und die Linke, dage-
gen hat niemand gestimmt.
1) Anlage 3
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die gleichen
Mehrheiten: Bei Zustimmung von CDU/CSU- und SPDFraktion und Enthaltung von der Linken und vom Bündnis 90/Die Grünen ist der Gesetzentwurf damit angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf - da wird
wieder geredet -:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr und digitale
Infrastruktur ({2}) zu dem Antrag der
Abgeordneten Karl Holmeier, Thomas Jarzombek,
Patrick Schnieder, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Martin Dörmann, Kirsten Lühmann, Lars
Klingbeil, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Moderne Netze für ein modernes Land Schnelles Internet für alle
Drucksachen 18/1973, 18/2778
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und rufe als ersten Redner
in der Debatte Karl Holmeier für die CDU/CSU-Fraktion auf.
({3})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Schnelles Breitband für unser Land, das ist die große
und ehrgeizige Aufgabe und das große und ehrgeizige
Ziel unserer Koalition. Unser Antrag „Moderne Netze
für ein modernes Land - Schnelles Internet für alle“ soll
einen wichtigen Beitrag dazu leisten, bis 2018 das gesteckte Ziel von 50 Megabit pro Sekunde flächendeckend in Deutschland erreichen. Das ist ein ehrgeiziges
Ziel.
({0})
Wir sind aber auf einem guten Weg. Politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich ist dies unbedingt notwendig; denn die Digitalisierung und das Internet haben
einen immer größeren Einfluss auf alle Lebensbereiche.
Es geht schließlich um die Sicherung der Teilhabe unserer Bürgerinnen und Bürger am digitalen Zeitalter. Mit
dem schnellen Internet denken wir auch an die Zukunft
unserer Unternehmen, an die Standorte im ländlichen
Raum und an die damit verbundenen Arbeitsplätze.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es hat mich
gefreut, dass unser Antrag bei den Experten aus der
Fachbranche eine sehr positive Resonanz gefunden hat.
Selbst die Opposition hat unseren Antrag bei den Beratungen im Ausschuss gelobt. Dafür herzlichen Dank!
Die umfangreichen Gespräche haben aber auch gezeigt
und bestätigt, dass es keine einfache und allgemeingültige Lösung gibt. Es bedarf vielmehr eines ganzen Maßnahmenpakets und des Zusammenspiels von Bund, Ländern und Kommunen. Unser Ziel von 50 Megabit pro
Sekunde bis 2018 werden wir nur dann erreichen, wenn
wir auf einen sinnvollen Technologiemix setzen. Wir
müssen den Breitbandausbau in Deutschland im Rahmen
verfügbarer Haushaltsmittel konsequent vorantreiben
und eine digitale Spaltung zwischen den Ballungszentren und den ländlichen Räumen vermeiden.
({1})
Dazu setzen wir auf folgende Schwerpunkte: deutliche Kostenreduzierung beim Ausbau der Glasfasernetze
durch eine zügige Umsetzung der europäischen Kostenreduzierungsrichtlinie in einem Breitbandinfrastrukturausbaugesetz, schneller Einsatz hochleistungsfähiger
Mobilfunkfrequenzen im 700-Megahertz-Band, Versteigerung von Funkfrequenzen - Digitale Dividende II -,
effizienter Einsatz von Fördermitteln, wo es keine wirtschaftlich sinnvollen Lösungen für einen Netzausbau
gibt. Außerdem sollten wir bei der laufenden Diskussion
zum Telekommunikationsmarkt auf europäischer Ebene
keine Maßnahmen mittragen, die sich negativ auf den
Breitbandausbau in Deutschland auswirken.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit unserem Antrag sind wir auf einem guten Weg, den Breitbandausbau in Deutschland zu beschleunigen. Er ist ein
guter Baustein und bringt uns dem gesteckten Ziel näher.
Vorrangig gilt es, den Ausbau des Breitbandnetzes
schneller und günstiger voranzubringen. Wir müssen
Synergien vor Ort nutzen und Baumaßnahmen vor Ort
besser koordinieren.
Bestehende Infrastruktur muss genutzt werden; denn
80 Prozent der geschätzten Kosten für diesen Ausbau,
den wir planen und anstreben, sind Erdbaukosten. Es
gibt unzählige Möglichkeiten, bestehende Leitungen wie
Abwasser- oder Stromleitungen, bestehende Leerrohre
und sonstige Verkehrsnetze zu nutzen. Wir wollen einen
Rechtsanspruch schaffen, der eine Mitnutzung vor Ort
ermöglicht.
Wir müssen uns auch für neue Verlegearten öffnen
und den Mut haben, diese Verlegearten umzusetzen.
Pragmatische Lösungen sind gefragt. Wir müssen erreichen, dass bei den Verkehrsprojekten verpflichtend Leerrohre mitverlegt werden und dass die Querung von Bahntrassen innerhalb von bestimmten Fristen möglich ist.
Wir müssen die Erlöse aus der Digitalen Dividende II
verbindlich für den Ausbau des Breitbandnetzes nutzen.
Bund und Länder stehen hierbei in der Pflicht, ihren
Anteil an den Erlösen aus der Digitalen Dividende II
zweckgebunden in den Netzausbau zu investieren.
Wir werden aber auch - das haben wir in den Beratungen diskutiert und bei den Gesprächen mit der Fachbranche ganz klar gehört - zusätzliches Geld benötigen,
mehr Geld, als die Frequenzversteigerung aus der
Digitalen Dividende II einbringt. Wir brauchen weitere
Förderprogramme, die unter Umständen auch mit anderen Förderprogrammen in den Ländern gekoppelt
werden können. Ich verweise auf das neue, vorbildliche
Förderprogramm des Freistaates Bayern.
({2})
Das neue Programm ist angelaufen. Der Freistaat stellt
den Kommunen 1,5 Milliarden Euro zur Verfügung,
Frau Kollegin - pro Gemeinde bis zu 1 Million Euro.
Damit fördern wir den Breitbandausbau in unserer Region in besonderer Weise. So funktioniert eine Stärkung
des ländlichen Raumes.
({3})
Mit unserem heute zu verabschiedenden Antrag „Moderne Netze für ein modernes Land - Schnelles Internet
für alle“ geben wir der Bundesregierung anspruchsvolle
Hausaufgaben mit auf den Weg. Ich bin mir sicher, dass
unser Minister für Verkehr und digitale Infrastruktur in
den kommenden Jahren alle Hebel in Bewegung setzen
wird, unser gemeinsames Ziel - 50 Megabit pro Sekunde
für alle - bis 2018 in Deutschland zu erreichen.
Gemeinsam - Bund, Länder und Kommunen - können wir es schaffen. Ziehen wir alle an einem Strang für
ein modernes Land mit modernen Netzen.
Vielen Dank.
({4})
Danke schön, Herr Kollege Holmeier. - Nächster
Redner in der Debatte ist Herbert Behrens für die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Regierungskoalition hat vor drei Monaten einen Antrag vorgelegt, der ein Signal für den Eintritt in die neue
digitale Welt sein sollte. 50 Megabit pro Sekunde sollen
allen Menschen in der Bundesrepublik zugänglich sein,
nicht nur den privaten Nutzern, sondern auch den Betrieben, die dringend darauf angewiesen sind.
Aber wenn man sich das Ganze ansieht, so stellt man
fest: Das Beamen in das neue Internetzeitalter ist
steckengeblieben. Das ist erschreckend. Irgendwie
schmeckt das Ganze nach kaltem Kaffee. Der umfangreiche Antrag ist im Kern nichts weiter als die Fortsetzung einer Breitbandstrategie, die wir schon seit 2009
kennen. Damals hieß der Minister noch zu Guttenberg.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind steckengeblieben und kommen nicht voran, und zwar aus zwei
Gründen: Zum einen haben wir in den letzten HaushaltsHerbert Behrens
debatten immer wieder erfahren, dass sich die Bundesregierung für die schwarze Null feiert und staatliche Investitionen in die Zukunft des Landes verhindert. Zum
anderen sind die privaten Investoren immer noch nicht
geneigt, Milliarden locker zu machen, um in die digitale
Infrastruktur zu investieren. Aber der Ausbau schneller
Netze wird nicht klappen, wenn nicht investiert wird.
Viel Geld ist nötig: Zwischen 85 und 95 Milliarden Euro
benötigen wir, wenn wir eine flächendeckende Glasfaserversorgung haben wollten. Das schreiben Sie ganz
richtig in Ihrem Antrag.
({1})
Sie machen keinen Vorschlag, wie Sie auch nur annähernd an diese Summe herankommen wollen.
({2})
Was machen Sie stattdessen? Sie rechnen aus, was
noch fehlt, um die von zu Guttenberg hinterlassene
Lücke in der Breitbandversorgung zu schließen, und machen Ihrem Minister einige Vorschläge, wie er vorgehen
könnte. Das ist aus unserer Sicht ein konzeptionsloses
Weiter-so. Mit dieser Politik befördern Sie keinen Aufbruch in das digitale Zeitalter. Sie behindern ihn sogar.
({3})
Statt konsequent auf einen Glasfaserausbau in öffentlicher Verantwortung zu setzen, beschwören Sie den
sogenannten Technologiemix. Das hört sich zumindest
innovativ an. Gemeint ist damit: DSL, Glasfaser, Kabel,
Satellit und Funknetze sollen so zusammengezwirbelt
werden, dass am Ende die Bandbreiten erreicht werden.
Aber auch diese Infrastruktur kostet doch 20 Milliarden
Euro. Das ist nicht billig. Aber im Haushalt 2014
- wahrscheinlich auch im Haushalt 2015, wenn wir uns
als Opposition nicht durchsetzen können - ist nicht zu
erkennen, dass hier auch nur ansatzweise staatliche Zukunftsinvestitionen gemacht werden. Schwarze Null und
Schuldenbremse würgen soziale Politik, aber auch eine
zukunftsweisende Industriepolitik ab.
Nach der Logik der Bundesregierung und der Logik
dieses Antrages bleibt nur eines: Der Markt soll es richten. Der jetzt schon gescheiterte sogenannte wettbewerbspolitische Ansatz wird beibehalten. Aus dem
Haushalt soll 1 Milliarde Euro kommen, wenn die Rundfunkfrequenzen im 700-Megahertz-Bereich versteigert
werden und noch weitere Frequenzbereiche hinzukommen.
Die sogenannte Digitale Dividende II sollte bereits ab
2017 Förderprogramme für den Netzausbau speisen. Inzwischen ist aber klar, dass die Frequenzen vor 2019 gar
nicht frei werden. Die Milliarde könnte auch schnell um
einige Hundert Millionen geringer ausfallen, wenn die
Länder ihre Ansprüche geltend machen. Aber auch die
privaten Investoren, Kapitalfonds und Versicherungen
wollen mit ihren Milliarden nicht so recht an den Zukunftsmarkt heran.
Das Vermögen in Deutschland beläuft sich auf
7,2 Billionen Euro. Dabei besitzen die reichsten 10 Prozent der Deutschen 4,8 Billionen Euro. Wenn wir die
Bundesrepublik sozialer und moderner machen wollen,
dann kommen wir nicht umhin, eine gerechte Steuerpolitik durchzusetzen.
({4})
Wenn die Bundesregierung es jetzt angeht, öffentliche
Infrastruktur für Investoren attraktiv machen zu wollen,
dann ist das genau der entgegengesetzte und falsche
Weg. Privatisierungen, Anlagefonds und Modelle von
windigen Investoren sind die Ursachen der Finanzkrise,
unter deren Folgen wir heute noch leiden. Darum ist es
notwendig, die Finanzmärkte auszutrocknen und das
Vermögen für gute Infrastruktur heranzuziehen. Das sind
die Grundlagen für eine moderne Industrie- und Netzpolitik. Mit der Linken ist das zu machen, aber nicht mit
dem, was Sie in Ihrem Antrag zusammengeschrieben
haben.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank, Herr Kollege Behrens. - Nächster Redner in der Debatte: Martin Dörmann für die SPD.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Behrens, ich bedauere sehr, dass Sie hier
ein Zerrbild unseres Antrags dargestellt haben. Deshalb
möchte ich gerne die Gelegenheit nutzen, zu erzählen,
was wirklich drinsteht;
({0})
denn entgegen Ihren Ausführungen hat sich die Große
Koalition in Bezug auf die digitale Infrastruktur ein besonders ehrgeiziges Ziel gesetzt.
Wir wollen, dass bis Ende 2018 in ganz Deutschland
Hochgeschwindigkeitsbandbreiten von mindestens
50 Megabit pro Sekunde verfügbar sind. Wir sind uns
doch einig, dass angesichts der fortschreitenden Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft schnelles Internet für alle zunehmend eine Voraussetzung sowohl für
ökonomische Entwicklungsmöglichkeiten als auch für
gesellschaftliche Teilhabe ist. Deshalb dürfen wir eine
digitale Spaltung - ich glaube, auch da sind wir uns einig - zwischen gut versorgten Ballungsräumen auf der
einen und abgehängten ländlichen Gebieten auf der anderen Seite nicht zulassen.
Heute können erst 64 Prozent der Haushalte in
Deutschland mit 50 Megabit pro Sekunde versorgt werden. Der Sprung auf 100 Prozent, lieber Kollege
Behrens, innerhalb weniger Jahre ist also ein Quantensprung. Von Ihnen kam kein Konzept, das das besser
unterlegt hätte. Nur wenn alle Beteiligten - investierende Unternehmen, Bund, Länder, aber auch die Kommunen vor Ort - optimal zusammenwirken, können wir
dieses Ziel erreichen.
Wir wollen mit dem Antrag der Koalition einen Rahmen setzen. Wir haben konkrete Maßnahmen beschrieben, um die Umsetzung unseres Ausbauziels tatsächlich
zu erreichen. Im Kern geht es um zwei Dinge, nämlich
um zusätzliche Investitionsanreize und um die Schließung von Wirtschaftlichkeitslücken.
({1})
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder
-bemerkung der Kollegin Wawzyniak?
Ja, sehr gerne. Das habe ich schon gesehen. Deshalb
habe ich einen Punkt gemacht.
Ja, sonst hätte ich Sie unterbrochen.
Das habe ich erwartet.
Gut, wir kennen uns ja auch schon lange. - Frau Kollegin Wawzyniak, bitte.
Herr Kollege Dörmann, nachdem der Kollege von der
Unionsfraktion das Papier der Netzallianz vorgelesen
hat, möchte ich Sie fragen, ob auch Sie gelesen haben,
dass die Netzneutralität für den Breitbandausbau - vorsichtig formuliert - geschliffen werden soll und ob Sie
vor diesem Hintergrund nicht auch der Meinung sind,
dass das löbliche Ziel, das Sie hier vorgegeben haben,
doch in einem anderen Licht erscheint?
Sehr geehrte Frau Kollegin Wawzyniak, wir haben
uns in der Enquete-Kommission „Internet und digitale
Gesellschaft“ sehr ausführlich über das Thema Netzneutralität unterhalten. Sie kennen die Position der SPDBundestagsfraktion, die in weiten Teilen in den Koalitionsvertrag eingeflossen ist.
Wir werden die Netzneutralität gesetzlich sicherstellen. Sie waren, glaube ich, auch dabei - ich bin mir nicht
ganz sicher -, als Frau Zypries als zuständige Staatssekretärin des Wirtschaftsministeriums im Ausschuss
„Digitale Agenda“ sogar angekündigt hat, dass das
Ministerium demnächst einen entsprechenden Gesetzentwurf vorlegen wird. Insofern bin ich sehr zuversichtlich, dass uns das gelingen wird.
Sie haben das Papier der „Netzallianz Digitales
Deutschland“ angesprochen. Ich will den genannten
Aspekt einmal dahingestellt sein lassen, möchte aber darauf hinweisen, dass sich die dort beschriebenen Handlungsfelder in dem Antrag, den wir hier vorliegen haben,
exakt wiederfinden. Das heißt, es gibt in der Fachwelt
großen Konsens darüber, dass das Maßnahmenpaket, das
wir vorschlagen, zielführend ist. Diesen Aspekt sollten
Sie viel stärker würdigen.
({0})
Mit unserem Maßnahmenpaket setzen wir auch in
Zukunft auf Wettbewerb und auf Milliardeninvestitionen
unterschiedlicher Unternehmen. Aber diese stoßen dort
an Grenzen, wo sich Investitionen aufgrund hoher
Kosten nicht rechnen. Zentrales Problem hierbei sind
vor allem die letzten 20 Prozent der Haushalte, die unter
heutigen Bedingungen, weil sie in besonders dünn besiedelten Gebieten angesiedelt sind, eben nicht wirtschaftlich erschlossen werden können. Gerade hier setzt unser
Breitbandkonzept an: Wir wollen regulatorische Rahmenbedingungen verbessern und zusätzliche Synergien
heben, um Kosten zu senken.
Das allein wird aber nicht ausreichen. Wir brauchen
- das ist bereits erwähnt worden - zusätzliche staatliche
Fördergelder, um Wirtschaftlichkeitslücken in bestimmten Regionen schließen zu können. Wenn das Geld geschickt eingesetzt wird, könnten wir mit jeder Milliarde
Euro öffentlichen Geldes, die wir einsetzen, zusätzliche
Investitionen privater Unternehmen in einem Umfang
von etwa 3 Milliarden Euro auslösen. Das wäre gerade
vor dem Hintergrund bestehender konjunktureller Unsicherheiten ein wirklich respektables Konjunkturprogramm. Das sollten wir unterstützen.
({1})
Die Koalition will zudem, dass weitere Frequenzbereiche für den Mobilfunk erschlossen werden. Wir alle
wollen nicht nur eine gute Festnetzversorgung über
Glasfaserkabel, übrigens auch in der Fläche - auch das
ist unser Ziel -, sondern wir brauchen deutschlandweit
auch ein modernes Mobilfunknetz, weil wir alle mit
Smartphones und Tablets unterwegs sind. Sie wissen,
dass das eine Ursache für den steigenden Bandbreitenbedarf ist. Deshalb ist es, so glaube ich, richtig, diese Frequenzen für ein hochmodernes Mobilfunknetz zu nutzen.
({2})
Die beiden zuletzt genannten Aspekte, die Fördermittel und die Nutzung eines zusätzlichen Frequenzspektrums, weisen uns im Zusammenhang mit der Digitalen
Dividende II den Weg, den wir mit den Ländern gehen
können. Es geht um ein Frequenzpaket, das nach Vorstellung der Bundesnetzagentur im nächsten Jahr versteigert werden soll. Dazu gehören im Bereich der Digitalen
Dividende II auch die Frequenzen im 700-MegahertzBand. Wir wissen, dass es darüber Gespräche zwischen
Bund und Ländern gibt. Wir wissen, dass die Länder
gerne zur Hälfte an den Versteigerungserlösen beteiligt
wären.
({3})
Wichtig ist, dass es am Ende einen Konsens gibt, dass
man sich auf eine Teilung einigt und darauf, dass das gesamte Geld für den Breitbandausbau genutzt werden
soll. Das ist wichtig. Deshalb darf man sich an dieser
Stelle nicht in technischen Fragen verheddern, in denen
es darum geht, in welchen Haushalten diese Gelder am
Ende eingestellt werden. Wir müssen zu einer Einigung
kommen; denn nur wenn wir entsprechende Einnahmen
generieren, können wir hinsichtlich des Breitbandausbaus weiterkommen.
({4})
Im Blick auf die Frequenzen führen zwei Aspekte immer zu Diskussionen. Ich will diese Themen gerne aufgreifen. Wahrscheinlich wird gleich die Kollegin Tabea
Rößner auch darauf eingehen und das aus einem anderen
Blickwinkel heraus betrachten.
Zum einen geht es um die Umstellung auf DVB-T2.
Wir wollen - auch das haben wir im Koalitionsvertrag
festgelegt -, dass die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten und die privaten Rundfunkanstalten die Möglichkeit haben, die Umstellung der terrestrischen Verbreitung auf DVB-T2 vorzunehmen. Das ist die bessere
Technik. Sie ist HD-fähig. Auch im Interesse der Zuschauerinnen und Zuschauer wollen wir, dass das sorgfältig gemacht wird; aber es soll auch zügig gemacht
werden, damit die Nutzer möglichst schnell in den Genuss der neuen Technik kommen. Jetzt wird auszuloten
sein, in welchem Zeitraum das möglich ist. Dieses
Thema soll in den Bund-Länder-Gesprächen jetzt angegangen werden. Dort werden wir zu einer Einigung
kommen.
({5})
Zum zweiten Aspekt, der ebenfalls wichtig ist. Bei
der Umstellung von Frequenzen wird es auch darum gehen, dass die Interessen der bisherigen Nutzer dieser
Frequenzen gewahrt werden. Ich denke insbesondere an
die Nutzer drahtloser Produktionsmittel, also zum Beispiel an Kultureinrichtungen und Kirchen, die drahtlose
Mikrofone nutzen und bisher zum Teil in diesen Bereichen gesendet haben. Dazu hat die Bundesnetzagentur
ein neues Konzept vorgelegt. Ein Gutachten hat ergeben,
dass der Frequenzbedarf dieser drahtlosen Produktionsmittel etwa 96 Megahertz beträgt. Die Bundesnetzagentur schlägt eine Erweiterung auf 440 Megahertz vor. Ich
glaube, das ist ein richtiges Signal. Es zeigt, dass wir
dieses Thema sehr ernst nehmen. Wir werden prüfen, ob
das ausreicht. Wir werden auch prüfen, ob Umstellungskosten entstehen, die zu berücksichtigen sind. Ich weiß,
dass das Ministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur an einer Billigkeitsrichtlinie arbeitet. Wir befinden
uns in einem guten Austausch, auch mit den Ländern.
All diese Fragen werden jetzt geklärt.
Deshalb will ich zum Schluss Folgendes sagen, auch
angesichts dessen, was die Opposition hier anzuführen
hat: Ich habe weder in der Debatte heute noch in den
Ausschüssen etwas über wirklich durchgreifend andere
Konzepte gehört. Es wird immer kritisiert: Ihr bekommt
das Geld nicht. - Daran arbeiten wir. Herr Holmeier, wir
haben uns im Ausschuss ausgetauscht. Wir beide werden
noch einmal das eine oder andere Gespräch mit dem Verkehrsminister führen, aber auch mit dem Finanzministerium, damit wir möglichst schnell mehr Geld bekommen. Uns ist vollkommen bewusst, dass die Fördermittel
eine Stellschraube sind.
Wir halten an der schwarzen Null fest. Wir wissen,
dass es einen engen Rahmen gibt. Für unsere Arbeitsgruppe „Verkehr und digitale Infrastruktur“ kann ich
sagen: Zusätzliche Haushaltsmittel, gerade im Bereich
dieses Ministeriums, wollen wir vordringlich für den
Breitbandausbau einsetzen, weil wir glauben, dass ein
schnelles Internet für alle eine ganz herausragende gesellschaftliche Aufgabe ist.
Vielen Dank.
({6})
Vielen Dank, Herr Kollege Dörmann. - Nächste Rednerin in der Debatte: Tabea Rößner für Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Nachdem die Vorgängerregierung gebetsmühlenartig
wiederholt hat, dass wir eine Vollversorgung mit Breitband hätten, kommt die Große Koalition nun endlich zu
der Erkenntnis, dass wir ein Versorgungsproblem haben.
Sie fordern die Regierung zum Handeln auf, und das ist
gut und allerhöchste Zeit.
({0})
Der vorliegende Antrag lässt Bundesminister
Dobrindt aber an der ganz langen Leinen. Diesen Freilauf nutzt Ihr Minister gleich, um die Netzneutralität gegen Investitionen der Unternehmen zu verticken. Aber
mit den angekündigten Qualitätsklassen, lieber Herr
Dörmann, öffnen Sie einem Zweiklasseninternet Tür und
Tor. Und wofür? Für Investitionen, die die Unternehmen
wahrscheinlich sowieso getätigt hätten. Die Zeche zahlt
am Ende der Kunde.
({1})
Es ist schwer, heute abzuschätzen, was wir in zehn
oder 15 Jahren an Bandbreiten brauchen. Sie aber denken nur an die 50 Mbit/s Downloadgeschwindigkeit im
Jahr 2018. Dabei setzen Sie erst einmal auf Funkverbindungen. Das kann aber nur eine Zwischenlösung sein.
Damit Deutschlands Unternehmen gut angebunden sind,
innovative Dienste anbieten und diese auch genutzt werden können, brauchen wir Glasfasernetze. Hier ist der
Antrag viel zu kurzsichtig.
({2})
Der Breitbandausbau kann durch regulatorische Stellschrauben erleichtert werden. Knackpunkt ist und bleibt
die Finanzierung. Laut einer Studie des Wirtschaftsministeriums kostet der Ausbau nach den Zielen der
Bundesregierung mindestens 20 Milliarden Euro. Die
Industrie geht in Vorleistung und will im nächsten Jahr
8 Milliarden Euro investieren. Das ist begrüßenswert.
Aber für 20 Prozent der Haushalte besteht eine Finanzierungslücke. Es fehlt an Fördergeldern. Sie stellen auch
nichts in den Haushalt ein. Sie werden das Geld in dieser
Höhe auch nicht durch die Frequenzversteigerung einnehmen. Wir kennen das vom letzten Mal.
({3})
Von diesen Einnahmen müssen Sie dann erst einmal
Entschädigungen zahlen, nämlich an diejenigen, die
nach der neuen Frequenzzuteilung ihre Mikrofonanlagen
nicht mehr nutzen können. Außerdem müssen Sie die
Einnahmen mit den Ländern teilen. Den Rest müssen Sie
Herrn Schäuble aus den Rippen leiern. So wird das
nichts. Wer A sagt, muss auch B sagen, und wer Zukunftstechnologie sagt, muss auch investieren.
({4})
Einen Aspekt verschweigen Sie komplett: Um die
Frequenzen für Breitband nutzen zu können, muss von
DVB-T auf DVB-T2 gewechselt werden. Der Minister
gibt hier Gas.
({5})
Schon in drei Jahren soll das passiert sein, aber ohne
eine lange Übergangsphase. Derzeit nutzen knapp 4 Millionen Haushalte DVB-T. Diese müssen ihren Receiver
entsorgen und sich einen neuen kaufen. Wir rechnen mit
Kosten von mindestens 300 Millionen Euro für die Verbraucher und einer Menge Elektroschrott. Die Bundesregierung kennt diese Konsequenzen zwar, verschweigt sie
aber in der Öffentlichkeit. Das finde ich skandalös.
({6})
Gleichzeitig riskieren Sie mit der überstürzten Umstellung den terrestrischen Empfang. Denn wer jetzt für
teures Geld einen neuen Receiver kaufen muss, holt sich
vielleicht lieber eine Satellitenschüssel oder bestellt einen Kabelanschluss. Der terrestrische Übertragungsweg
bietet aber einen guten und vor allem günstigen Fernsehempfang, und den riskieren Sie.
({7})
Was die ländlichen Gebiete betrifft, sollen die Unternehmen die Frequenzen der Digitalen Dividende II nutzen, um diese Gegenden anzubinden. Wie gut das klappt,
haben wir ja in der Vergangenheit gesehen, nämlich fast
nicht. Um Breitband auch dorthin zu bringen, wo es
wirtschaftlich nicht rentabel ist, brauchen wir nicht nur
Förderprogramme, sondern eine Verpflichtung, dort
auch tatsächlich auszubauen.
({8})
Wir hätten uns ja eine Universaldienstverpflichtung
gewünscht, um den Menschen auf dem Land auch einen
Anspruch einzuräumen.
({9})
Das hatte auch die SPD gefordert, bis sie an die Regierung kam. Ohne diese Minimalversorgung bleiben ihre
Pläne zum Breitbandausbau aber eben auch nur minimal
gut.
Die Bundesregierung bildet Netzallianzen und
schreibt Kursbücher. Das klingt gewichtig, aber wer hinter die Kulissen schaut, sieht nur schlecht verpackte Ankündigungen. Von Ankündigen aber wurde noch keine
Leitung verlegt.
({10})
Nicht an Versprechen, sondern an Ihren Taten soll man
Sie messen. Das werden wir tun.
Vielen Dank.
({11})
Vielen Dank, liebe Kollegin Rößner. Sie lacht gerne
und oft. - Letzter Redner in dieser Debatte Ingbert
Liebing für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Die Kollegen Karl Holmeier und
Martin Dörmann haben bereits ausführlich begründet,
weshalb wir mit diesem Antrag der Koalitionsfraktionen
beim Breitbandausbau für schnelles Internet Gas geben
wollen. Unser Ziel ist beschrieben mit 50 Megabit pro
Sekunde flächendeckend bis 2018. Dabei liegt uns besonders an der Feststellung, dass dies ein Zwischenziel
ist. Natürlich wird es auch nach 2018 einen weiteren
Ausbau geben müssen,
({0})
um eine digitale Spaltung zwischen den gut und optimal
ausgestatteten Ballungsregionen und den ländlichen Regionen in Deutschland zu verhindern. Das ist unser Ziel,
und dafür wollen wir mit unserem Antrag Gas geben.
({1})
Die Kollegin Rößner hat am Ende ihrer Rede das
Stichwort „Universaldienst“ angesprochen. Das ist ihr
Vorschlag, die Probleme zu lösen. Er liegt inzwischen
lange genug auf dem Tisch, um zu wissen, dass dies aus
europarechtlichen Gründen kein geeignetes Instrument
ist, um die Lücken zu füllen.
({2})
Es geht nur dort, wo ein bestimmter Standard durchschnittlich noch nicht erreicht ist. Aber es ist kein geeigIngbert Liebing
netes Instrument, um darüber hinaus den Ausbau zu forcieren. 50 Megabit pro Sekunde erreichen wir so nicht.
Damit könnten wir vielleicht die letzten weißen Flecken
beseitigen. Das ist notwendig, aber bei weitem nicht ausreichend. Wir wollen tatsächlich den Ausbau in der Fläche forcieren, und das geht eben nicht mit dem Universaldienst.
({3})
Weil schon viel Grundsätzliches gesagt worden ist,
möchte ich nur noch einen Aspekt aus unserem Antrag
aufgreifen. Wir sprechen uns in dem Antrag ausdrücklich dafür aus, möglichst kosteneffizient zu arbeiten,
auch durch Kooperationen von unterschiedlichen Telekommunikationsunternehmen. Angesichts der hohen
Kosten gerade beim Glasfaserausbau wollen wir verhindern, dass teure Doppelstrukturen aufgebaut werden. Ich
greife diesen Punkt auf, weil er in jüngster Zeit aufgrund
einer Vielzahl von Entwicklungen in vielen Kommunen
hochaktuell geworden ist.
Wir haben am Montag im Unterausschuss Kommunales genau darüber gesprochen. Situation ist, dass sich
viele Kommunen auf den Weg in Richtung eines Glasfaserausbaus bis zum Anschluss jedes einzelnen Hauses
gemacht haben. Die Telekom, die sonst in diesen Regionen unterwegs gewesen ist, war zwar beteiligt, hat aber
gesagt: Für uns ist das in diesen ländlichen Regionen
wirtschaftlich nicht darstellbar. Das machen wir nicht.
Daraufhin haben sich in der Region einige neue Initiativen gebildet, oft genug auch mit kommunaler Beteiligung. Diese haben ein Konzept für einen Glasfaserausbau entwickelt, das wirtschaftlich darstellbar ist. Dann
ging es um die Ausschreibung, wer diese Infrastruktur
anschließend bedient, wer der Dienstanbieter ist. Auch
daran hat sich die Telekom entweder nicht beteiligt oder
sie hat gesagt, dass sie das zu den gegebenen Bedingungen nicht macht. Sie war jedenfalls nicht präsent.
Nachdem die Vorbereitungen getroffen wurden, dass
diese regionalen Gesellschaften Glasfaserkabel in jedes
Haus legen können, sagt die Telekom jetzt: Aber an dieser und jener Stelle gehen wir nun doch mit eigenen
Glasfaserkabeln hinein. - Und das geschieht teilweise zu
einem Zeitpunkt, wo die anderen schon ihre Aufträge erteilt haben. Aber die Telekom will es nur dort machen,
wo es sich wirtschaftlich rechnet. Die Fläche hingegen
wird von ihr vernachlässigt.
Das ist aus Sicht der Telekom betriebswirtschaftlich
nachvollziehbar. Da hilft auch kein Telekom-Bashing;
daran will ich mich nicht beteiligen. Ich beschreibe einfach die Situation. Denn durch diese Art Rosinenpickerei wird die Gesamtfinanzierung für Flächenkonzepte
gefährdet. Hier brauchen wir neue Ansätze für einen Interessenausgleich. Das war bis vor kurzem kein Thema,
weil die Telekom konsequent dabei geblieben ist, dort
nicht zu investieren. Jetzt tut sie es in vielen Fällen doch
mit der Folge, dass teure Glasfaserinfrastrukturen in
manchen Regionen doppelt aufgebaut werden. Dies ergibt keinen Sinn; das sagen wir auch ausdrücklich in unserem Antrag. Damit müssen wir uns beschäftigen. Hier
brauchen wir einen neuen Interessenausgleich.
({4})
Unser Antrag weist den Kommunen bei der Planung
eine wichtige Rolle zu. Dies funktioniert insbesondere in
den ländlichen Räumen nur übergreifend: Viele Zweckverbände haben sich gebildet. Hierfür ist es notwendig,
dass wir diese kommunale Form der Zweckverbände
stärken und unterstützen. Dazu haben wir uns im Koalitionsvertrag vorgenommen, die Umsatzsteuerproblematik zu lösen; denn es ergibt keinen Sinn, dass dann, wenn
sich Kommunen zusammenschließen und Beiträge an einen Zweckverband zum Breitbandausbau zahlen, diese
Beiträge anschließend mit 19 Prozent Umsatzsteuer belegt werden. Das müssen wir noch regeln, das haben wir
uns vorgenommen.
Dieser Antrag und das, was wir uns vorgenommen
haben, sind ein klares Signal für einen forcierten Ausbau
des Glasfasernetzes und des technologieoffenen Netzes
- auch im Rahmen von Funklösungen, um die digitale
Spaltung Deutschlands zu verhindern - sowie für ein
schnelles und flächendeckendes Internet in Deutschland.
Dafür bitten wir um Ihre Zustimmung.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank, Herr Kollege Liebing. - Ich schließe die
Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr und digitale Infrastruktur zum Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD mit dem
Titel „Moderne Netze für ein modernes Land - Schnelles Internet für alle“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/2778, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/1973 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit der Zustimmung von
CDU/CSU und SPD bei Ablehnung von der Linken und
Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Es gab keine Enthaltungen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 10. Oktober 2014,
9 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen und auch unseren Gästen oben auf
der Tribüne einen wunderschönen Restabend und gute
Träume. Bis morgen früh.
Die Sitzung ist geschlossen.