Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen! Nehmen Sie bitte Platz.
({0})
- Kollege Kauder, ich würde gern die Sitzung eröffnen.
Könnten Sie mir bitte Ihre Aufmerksamkeit schenken?
({1})
Die Sitzung ist eröffnet.
Vor Eintritt in die Tagesordnung möchte ich Sie über
einige Sachverhalte unterrichten. Der Ältestenrat hat sich
in seiner gestrigen Sitzung darauf verständigt, wegen des
gesetzlichen Feiertages am Freitag, dem 3. Oktober, die
Frist für die Einreichung der Fragen zur mündlichen Beantwortung in der Sitzungswoche vom 6. Oktober auf
Montag, den 6. Oktober 2014, 10 Uhr, zu verlegen. Sind
Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Interfraktionell ist vereinbart worden, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/2588, der
sich mit einem Internen Abkommen zwischen den im
Rat vereinigten Vertretern der Regierungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union über die Finanzierung
vorgesehener Hilfen im Rahmen des AKP-EU-Partnerschaftsabkommens beschäftigt, dem Haushaltsausschuss zur Mitberatung sowie zur Berichterstattung nach
§ 96 der Geschäftsordnung zu überweisen. Sind Sie auch
damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so
beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung des Elterngeld Plus mit Partnerschaftsbonus und einer flexibleren Elternzeit
im Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz
Drucksachen 18/2583, 18/2625
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
({2})
- Ich nehme zurzeit Rücksicht auf die Kommunikationsbedürfnisse in der Unionsfraktion, würde aber gern die
Aussprache eröffnen.
({3})
- Das ist schön.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundesministerin Manuela Schwesig.
({4})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren Abgeordnete! Wir schlagen heute ein neues
Kapitel in der Familienpolitik auf, einer modernen Familienpolitik, die darauf setzt, Beruf und Familie zu vereinbaren, Schluss damit zu machen, dass es ein gegenseitiges Aufrechnen zwischen Zeit für Familie und Zeit für
den Job gibt, sondern beides zu ermöglichen. Das wünschen sich heute die jungen Paare in Deutschland. Das
wünschen sich die Mütter: wieder in den Job einsteigen
zu können, aber auch Zeit für Familie zu haben. Und das
wünschen sich vor allem die Väter. Jeder zweite Vater
sagt: Ich will neben meiner Berufstätigkeit natürlich
auch Zeit für Familie haben.
({0})
Das Familienleben ist in den letzten Jahren bunter geworden. Es gibt die vielen Paare, ob mit Trauschein oder
ohne, es gibt die vielen Alleinerziehenden, aber auch
Patchworkfamilien, Regenbogenfamilien. All diese Fa5072
milienformen eint, dass dort Menschen leben, die partnerschaftlich Verantwortung übernehmen: füreinander,
für Kinder, aber auch für pflegebedürftige Angehörige.
Deshalb muss moderne Familienpolitik darauf setzen,
diese Familienformen zu unterstützen. Sie darf den Familien nicht vorschreiben, wie sie zu leben haben, sondern muss sagen: Wenn ihr für Kinder oder für pflegebedürftige Angehörige da seid, dann unterstützen wir euch.
({1})
In der Lebenswirklichkeit vieler Familien, gerade bei
jungen Paaren, sieht es so aus, dass sie spüren, dass sie
sich in einer Rushhour befinden. Die Rushhour des Lebens findet oft in der Zeit zwischen 25 und 45 Jahren
statt; das kann variieren. Die jungen Leute müssen und
wollen in dieser Zeit im Beruf durchstarten. Sie brauchen eine Existenzgrundlage für die Familie. Sie brauchen auch berufliche Perspektiven. In der gleichen Lebensphase wünscht man sich aber auch Kinder und fragt
sich: Wie geht es weiter mit dem Vater, der pflegebedürftig wird? Zudem wollen wir, dass sich alle ehrenamtlich
engagieren, zum Beispiel im Sportverein oder im Elternrat. All das kommt in dieser Lebensphase zusammen.
Mein Wunsch und das Ziel der Koalition ist, diese Lebensphase zu entzerren.
({2})
Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist keine
Lüge, sondern ein Anspruch, den die Familien haben.
Die Politik muss alles dafür tun, dass dieser Anspruch
auch realisiert werden kann. Es ist eine gesellschaftliche
Aufgabe. Es ist eine Frage, die Mütter und Väter betrifft.
({3})
Um diese Vereinbarkeit zu schaffen und um die Rushhour des Lebens für junge Familien zu entzerren, brauchen wir eine Zeitpolitik für beide Geschlechter, so wie
es der Deutsche Bundestag im März anlässlich des Internationalen Frauentags gefordert hat.
Meine Idee einer Zeitpolitik für Familien ist, dass
man sich die Zeit für Job und für Familie partnerschaftlich teilen kann. Wir wollen ein Arbeitszeitmodell für
Familien gestalten, das beides ermöglicht: einen guten
Job mit gutem Einkommen und guten Perspektiven zu
machen, aber auch gleichzeitig Zeit für die Familie zu
haben. Deshalb habe ich die Debatte über eine Familienarbeitszeit angestoßen.
Neun von zehn Frauen und Männern zwischen 20 und
39 Jahren finden heute, dass Mütter und Väter sich gemeinsam um das Kind kümmern sollen. 81 Prozent sehen beide Partner für das Familieneinkommen in Verantwortung.
Eine partnerschaftliche Aufteilung in der Familie ist
das, was sich viele Paare wünschen. Die wenigsten realisieren diesen Wunsch aber, weil sie spüren, dass durch
den Druck, unter dem sie in der Arbeitswelt und im Familienleben stehen, beides gleichzeitig nicht so gut gelingt. Die Männer arbeiten 40 Stunden und mehr und
wünschen sich eine gewisse Arbeitszeitreduzierung, um
mehr Zeit für die Familie zu haben. Die Frauen hängen
bei einer Arbeitszeit von durchschnittlich 19 Stunden
und würden eigentlich gern mehr arbeiten, um ihre beruflichen Perspektiven zu verbessern. Das anzugleichen,
ist die Idee einer Arbeitszeit für Familien.
Mir begegnen immer zwei Vorurteile, die zeigen, dass
sich einige mit diesem Thema noch nicht wirklich beschäftigt haben und vielleicht noch nicht in der Lebenswirklichkeit der Familien angekommen sind:
Das erste Vorurteil ist: Wir können das den Familien
doch nicht vorschreiben. - Natürlich nicht. Das will auch
gar keiner. Die Familien wünschen sich aber eine partnerschaftliche Aufteilung.
({4})
Wenn sie es sich wünschen, müssen wir es ermöglichen.
Es geht um ein Angebot und nicht um eine Vorschrift für
Familien.
({5})
Das zweite Vorurteil ist: Wir belasten die Wirtschaft. - Hallo? Das Gegenteil ist der Fall. Wenn mehr
Frauen Zeit für den Job haben und leichter wieder in den
Beruf einsteigen können, dann entspricht das doch dem,
was sich die Wirtschaft wünscht: gutes Fachkräftepotenzial zu haben. Das Potenzial für unsere Wirtschaft liegt
bei den Frauen, wie die Chefin des Internationalen Währungsfonds, Christine Lagarde, zu Recht gesagt hat.
({6})
Das Modell hilft nicht nur den Familien, sondern ist
auch gut für die Arbeitswelt und damit für die Wirtschaft. Denn hier kommen zwei Dinge zusammen, die
gut passen. Wie viele Stunden im Rahmen der Familienarbeitszeit geleistet werden - 30, 32 oder 35 -, muss
nicht vorgeschrieben werden. Wir müssen nur die Möglichkeit dazu schaffen.
Mit dem neuen Elterngeld Plus machen wir heute den
ersten wichtigen Schritt. Das Elterngeld Plus hebt das
bisherige Elterngeld auf die Höhe der Zeit. Es hat drei
Schwerpunkte:
Erstens. Es erleichtert die Kombination von Elterngeld mit Teilzeitarbeit. Eltern, die in der Elternzeit Teilzeit arbeiten, bekommen länger Elterngeld Plus und
haben damit über einen längeren Zeitraum die Möglichkeit, Zeit für die Familie und Zeit für den Job zu haben.
Zweitens. Wenn Mütter und Väter gemeinsam Teilzeit arbeiten, wenn sie es partnerschaftlich tun, dann bekommen sie einen zusätzlichen Bonus, mit dem die Idee
der Partnerschaftlichkeit befördert wird.
({7})
Mit dem Elterngeld Plus und dem Partnerschaftsbonus
setzen wir die Idee der besseren Vereinbarkeit von Beruf
und Familie um.
Drittens. Wir wollen aber auch, dass Familien mehr
Möglichkeiten haben, entsprechend ihrer Familiensituation Auszeiten zu nehmen. Es wird der Realität nicht gerecht, nur auf die ersten drei Jahre zu schauen. Für viele
Eltern stellt sich vielmehr die Frage, ob sie beispielsweise dann mehr Zeit mit dem Kind verbringen können,
wenn es in die Schule kommt. Das ist ein Einschnitt für
die Familien, eine neue, schöne Herausforderung, eine
Zeit, in der man vielleicht noch einmal mehr Zeit für das
Kind braucht. Deshalb ist es gut, dass die Koalition gemeinsam beschlossen hat, zukünftig die Elternzeit flexibler zu gestalten: Eltern können zukünftig bis zu 24 Monate Elternzeit zwischen dem dritten und achten
Geburtstag des Kindes nehmen. Damit berücksichtigen
wir insbesondere die Schulzeit, und das ist wichtig für
die Familien.
({8})
Ich habe es in dieser Woche wieder selbst erlebt: Am
Dienstag habe ich den Sohn vom Sportverein abgeholt.
Hinterher gab es einen Elternabend im Sportverein; da
war mein Mann. Gleichzeitig mussten wir am Abend
zum Elternabend in die Schule. Zum Glück war die Oma
für den Sohn da. Zwischendurch mussten auch noch die
Hausaufgaben gemacht werden. Ich habe Glück; denn
ich habe einen Fraktionsvorsitzenden, der sagt: Klar,
dass du da nicht bei der Fraktionssitzung dabei sein
kannst und zu Hause sein musst.
({9})
Vielen Dank.
Ich weiß aber, dass das für viele Eltern noch nicht
Alltag ist, sondern es wenig Verständnis dafür gibt, wenn
einem Zeiten mit der Familie manchmal wichtiger sind.
Deswegen brauchen wir eine Arbeitswelt, die familienfreundlicher wird. Nicht die Familien müssen immer arbeitsfreundlicher werden, sondern die Arbeitswelt familienfreundlicher. Das ist dann eine Win-win-Situation für
Arbeitswelt und Familie.
({10})
Dazu gehört auch, dass wir die Infrastruktur ausbauen. Diesbezüglich werden wir gleich ein zweites Gesetz miteinander beraten. Wir brauchen mehr Kitaplätze,
gute Ganztagsbetreuungsplätze und auch Ganztagsschulen in unserem Land. Damit aus der Kombination, aus
dem Dreiklang aus Infrastruktur - also gute Kitas und
Ganztagsschulen für Kinder und Familien -, finanzieller
Unterstützung - wie das gute Kindergeld, das Armut bekämpft - und Zeit für Familie, moderne Familienpolitik
wird, die nicht nur darauf setzt, dass die Mütter für die
Kinder da sind, sondern auch darauf setzt, dass Kinder
Mütter und Väter haben und beiden die Zeit für Familie
gegeben wird.
({11})
Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, die
Anhörung hat gezeigt, dass es große Zustimmung zu diesem Gesetz, zum neuen Elterngeld Plus gibt - von den
Familienverbänden, von den Gewerkschaften, auch von
der Wirtschaft. Auch die Länder haben das Elterngeld
Plus im Bundesrat parteiübergreifend begrüßt.
Mir ist wichtig, zu sagen, dass das neue Elterngeld
Plus auch eine Unterstützung für Alleinerziehende ist.
Auch die Alleinerziehenden können zum Beispiel den
Partnerschaftsbonus in Anspruch nehmen. Aus den Ländern gibt es eine Anregung, wie wir die Alleinerziehenden beim Elterngeld Plus noch besser berücksichtigen
können. Ich werbe dafür, diesen Ländervorschlag im
weiteren parlamentarischen Verfahren zu prüfen. Ich
halte ihn für gut.
Insofern freue ich mich auf das parlamentarische Verfahren. Ich bedanke mich bei den Regierungsfraktionen
für die Unterstützung bei der Einbringung des Gesetzentwurfes hier ins Parlament. Ich freue mich jetzt auf die
Beratungen. Elterngeld Plus und - im Anschluss - das
neue Kitagesetz sind wichtige Fortschritte für die Familien im Land, und die wollen wir schnell auf den Weg
bringen.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat der Kollege Jörn Wunderlich für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Schwesig, Sie haben den Gesetzentwurf schön dargestellt, mit den Maßnahmen, die die Vereinbarkeit von
Familie und Beruf verbessern sollen - Maßnahmen, welche die Linke schon seit langem fordert, wie Flexibilisierung der Elternzeit, Abschaffung des doppelten Anspruchsverbrauchs bei Teilzeit während der Elternzeit.
Somit steht meine Fraktion der geplanten Reform grundsätzlich positiv gegenüber. Im Hinblick auf die konkrete
Ausgestaltung besteht aber erheblicher Nachbesserungsbedarf. Dem wird in den Beratungen, auf die auch Sie
sich freuen, hoffentlich entsprechend positiv entsprochen.
Ich will nur einige Punkte aufgreifen. Zum Thema Alleinerziehende. Frau Schwesig, Sie haben ausgeführt,
dass auch diese in den Genuss der Partnermonate kämen.
Sie haben aber wohlweislich die Voraussetzungen dafür
unterschlagen; denn die sind äußerst kritisch zu bewerten. Hier wird an der alten Regelung festgehalten, die an
das alleinige Sorgerecht bzw. das alleinige Aufenthaltsbestimmungsrecht anknüpft.
({0})
Seit 2013 wurde durch die Sorgerechtsreform der Bundesregierung aber ein anderes Leitbild für das Sorgerecht verankert. Der Gedanke der gemeinsamen elter5074
lichen Sorge sollte wieder in den Vordergrund des
Denkens der Menschen geraten. Einerseits will der Gesetzgeber die gemeinsame elterliche Sorge von nicht
oder nicht mehr miteinander verheirateten Paaren etablieren, andererseits schließt er ebendiese beim Bezug
der Partnermonate und des Partnerschaftsbonus aus.
Hier werden Alleinerziehende, die ohnehin schon über
Gebühr gefordert sind, entgegen dem neu verankerten
Leitbild gezwungen, sich von ebendiesem zu verabschieden nach dem Motto „Willst du die gemeinsame
Sorge für dein Kind teilen, musst du dich von den finanziellen Vorteilen in Form von Bonizahlungen oder Partnermonaten verabschieden“.
Eine weitere Benachteiligung für Alleinerziehende
stellt der angegebene Stundenumfang der Teilzeiterwerbstätigkeit dar. 25 bis 30 Wochenstunden Erwerbstätigkeit je Elternteil für ein Elternpaar sind nicht mit
25 bis 30 Wochenstunden Erwerbstätigkeit für einen alleinerziehenden Elternteil zu vergleichen. Das Familienministerium hat in seinem Dossier zur Müttererwerbstätigkeit selbst festgestellt, dass alleinerziehende Mütter
mit Kleinkindern im Schnitt nur sieben Stunden pro Woche arbeiten. Nun wissen wir alle, was Durchschnitt
heißt: Der See war im Durchschnitt 80 Zentimeter tief,
trotzdem ist die Kuh ertrunken. Im Ergebnis bedeutet
das, dass nur einem sehr geringen Teil von Alleinerziehenden - in der Regel sind das Mütter - der Vorteil von
zusätzlichen Monaten Elterngeld zugutekommt.
Die Intention, Frau Schwesig, die dahintersteckt - Sie
haben in einer Fragestunde ausgeführt, dass Sie keine
Minijobs, sondern existenzsichernde Arbeit fördern wollen -, kann ich verstehen. Aber es entspricht nicht den
realen Gegebenheiten. Diese Regelung als Beitrag zu sehen, damit Frauen ihre Wochenarbeitsstunden erhöhen,
kann ich nicht nachvollziehen. Mit dieser Regelung werden weder mehr Arbeitsplätze noch mehr Kitaplätze
geschaffen. Ich hoffe, dass wir auch in diesem Zusammenhang in den Beratungen zu adäquaten Lösungen
kommen, wozu natürlich auch flankierende Maßnahmen
wie der Kitaausbau gehören.
Zum Thema Mehrlingsgeburten. Im vorliegenden Gesetzentwurf steht: Mit der gesetzlichen Präzisierung soll
einem Urteil des Bundessozialgerichtes von 2013 nachgekommen werden, indem festgelegt wird, dass bei
Mehrlingsgeburten nur ein Elterngeldanspruch entsteht.
Somit entsteht künftig ein Elterngeldanspruch pro Geburt und nicht pro Kind. Im Urteil des Bundessozialgerichts - man kann es in der Begründung nachlesen steht jedoch, unter Berücksichtigung aller juristischer
Auslegungsmethoden, klipp und klar, dass bei Mehrlingsgeburten ein Elterngeldanspruch pro Kind entsteht.
Das Bundeselterngeldgesetz fußt auf dem Bundeserziehungsgeldgesetz, hat dieses quasi abgelöst. Im Gesetz
wurde damals expressis verbis festgelegt, dass das Bundeserziehungsgeld für jedes Kind gezahlt wird, wenn
mehrere Kinder in einem Haushalt großgezogen werden.
Demnach ist diese „Geburtenzahlung“ - so will ich sie
einmal nennen - nach Auffassung des Bundessozialgerichts eine nicht zu rechtfertigende Ungleichbehandlung
nach Artikel 3 Grundgesetz.
Zur gesetzlichen Präzisierung. Warum wird dies so
gemacht? Sagen Sie es doch einfach! Das ergibt sich
nämlich aus der Antwort der Bundesregierung auf eine
Schriftliche Frage meiner Fraktion zu den finanziellen
Auswirkungen des Elterngeld Plus. In der Antwort hieß
es, dass Mehrausgaben in Höhe von etwa 96 Millionen
Euro zu erwartet seien, aber durch die neue Regelung in
Bezug auf Mehrlingsgeburten mit Minderausgaben in
Höhe von 100 Millionen Euro zu rechnen sei. Insgesamt
werden die Einsparungen bis 2018 auf 170 Millionen
Euro geschätzt. Hier wird wieder einmal den einen Familien etwas weggenommen, was den anderen zugutekommen soll. Ein Hoch auf die so hochgepriesene
schwarze Null.
Zur Flexibilisierung der Elternzeit. Die Flexibilisierung der Elternzeit mit der Möglichkeit der Inanspruchnahme bis zum vollendeten achten Lebensjahr begrüßen
wir ausdrücklich. Eine solche Flexibilisierung haben wir
schon seit Jahren gefordert. Wir wollten sie eigentlich
nur bis zur Einschulung - wir haben vorgeschlagen: bis
zur Vollendung des siebten Lebensjahres -, jetzt soll die
Möglichkeit sogar bis zur Vollendung des achten Lebensjahres bestehen. Das freut uns, auch wenn wir damals mit unserem Antrag verlacht wurden. Aber die
Linke wirkt eben, auch wenn es manchmal etwas länger
dauert.
({1})
Zum Schluss muss ich noch einen Kritikpunkt aufgreifen, und zwar zum Thema ausländische Staatsangehörige mit humanitären Aufenthaltstiteln. Die Bundesregierung greift in dem Gesetzentwurf leider nicht die
nötigen Änderungen auf, die der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts in seinem Beschluss vom 10. Juli
2012 angemahnt hat. Dieser hat festgestellt, dass eine
Änderung des § 1 Absatz 7 Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetzes vorzunehmen ist, weil der Ausschluss
von ausländischen Staatsangehörigen mit humanitärem
Aufenthaltstitel vom Elterngeld verfassungswidrig ist.
Nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts haben alle Personen mit humanitärem Aufenthaltstitel, die
bereits länger als drei Jahre in Deutschland leben, einen
Anspruch auf Elterngeld, unabhängig von ihrer Integration in den Arbeitsmarkt. Auch hier besteht Änderungsbedarf, um den aktuell bestehenden verfassungswidrigen
Ausschluss vom Bezug von Elterngeld zu beenden.
({2})
Unsere Kritikpunkte - das muss ich sagen - werden
von etlichen Familienverbänden geteilt. Beispielhaft will
ich anführen den Verband Alleinerziehender Mütter und
Väter, die Evangelische Arbeitsgemeinschaft Familie,
den Familienbund der Katholiken, den Verband binationaler Familien und Partnerschaften - und, und, und. Na
ja, sogar das Bundessozial- und das Bundesverfassungsgericht teilen unsere Kritikpunkte. Wir können doch
nicht alle falschliegen.
Liebe Kollegen, Sie sehen schon: Es gibt im Rahmen
der Gesetzesberatungen noch einiges zu tun. Ich setze
meine Hoffnung wieder einmal auf die Beratungen im
Ausschuss und hoffe, dass es nicht wieder Jahre dauert,
bis sich gute Regelungen durchsetzen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort hat die Kollegin Nadine Schön für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wenn man sich mit jungen Familien unterhält,
wird einem immer zurückgemeldet, dass die Einführung
von Elternzeit und Elterngeld eine der wichtigsten politischen Maßnahmen war, die wir in den vergangenen Jahren durchgeführt haben. Wir haben 2007 unter Familienministerin Ursula von der Leyen das Elterngeld und die
Elternzeit eingeführt. Wir haben das Elterngeld in der
letzten Legislaturperiode unter Familienministerin Kristina
Schröder entbürokratisiert, auch für Unternehmer. Wir
haben die Einkommensberechnung einfacher gemacht.
In dieser Koalition gehen wir den nächsten konsequenten Schritt und machen die Elternzeit und das Elterngeld
noch einmal flexibler und individueller. Wir schneiden
es besser auf die Bedürfnisse junger Familien zu. Insgesamt kann man also sagen: Das Elterngeld ist ein wirkliches Erfolgsmodell.
({0})
Es ist ein Erfolgsmodell; denn es ermöglicht vor allem
drei Dinge:
Zum einen bietet es einen wirklichen Schonraum im
ersten Lebensjahr eines Kindes, wenn sich die jungen
Familien möglichst stark auf das Kind konzentrieren
wollen. Im ersten Lebensjahr eines Kindes, wenn sich
das Leben der Eltern stark ändert, was insbesondere
beim ersten Kind der Fall ist, bieten Elterngeld und Elternzeit einen Schonraum. Ein solcher Schonraum - das
muss man wirklich sagen - ist nicht selbstverständlich.
Das wird deutlich, wenn wir uns mit Frankreich oder Israel vergleichen. Dort fangen die Eltern sehr viel früher
wieder an zu arbeiten, schon nach wenigen Monaten. Ein
ganzes Jahr einen Schonraum zu haben, auch mit finanziellen Vergünstigungen, ist wirklich ein Luxus, den junge
Familien in Deutschland haben. Auf diesen Schonraum,
der durch Elterngeld und Elternzeit geschaffen wurde,
können wir stolz sein.
Zweitens. Wir schaffen auch einen finanziellen Ausgleich, der nicht zu unterschätzen ist. Auch das ist etwas,
was international wirklich außergewöhnlich ist. Wir ersetzen etwa zwei Drittel des letzten Nettoeinkommens.
Das ist ein sehr großer Betrag, der es den jungen Familien ermöglicht, Beruf und Familie zu vereinbaren und
sich wirklich Zeit für die Familie zu nehmen, ohne in finanzieller Hinsicht auf allzu viel verzichten zu müssen.
Sie können ihren Lebensstandard halten, das Haus oder
die Wohnung abbezahlen und ihren Lebensunterhalt bestreiten. Deshalb sagen die Familien zur Ausgestaltung
des Elterngeldes - maximal 1 800 Euro bekommt ein
Partner, wenn er aus dem Beruf aussteigt -: Das ist genau das, was wir brauchen; denn das ermöglicht uns die
Vereinbarkeit überhaupt erst.
({1})
Der dritte Punkt ist das Thema Partnerschaftlichkeit.
Das Elterngeld ermöglicht es, Partnerschaftlichkeit zu
leben und neue Modelle der Partnerschaftlichkeit auszuprobieren. Ganz sicher kennt jeder aus seinem Umfeld
die Erzählungen, die Geschichten von jungen Familien,
gerade von jungen Männern, die sagen: Ich hätte mir
vorher nicht vorstellen können, für die Familie, für das
Baby länger aus dem Job auszusteigen. Ich habe es gemacht, weil es die Elternzeit, weil es das Elterngeld gibt.
Das war die wertvollste Erfahrung in meinem Leben. Es
war eine ganz, ganz wichtige Erfahrung, und beim
nächsten Mal bleibe ich länger zu Hause, weil ich sehe,
dass diese Zeit mit dem Kind auch für mich eine ganz
wertvolle Erfahrung ist. Ich sehe, dass es wichtig ist,
auch als Vater Zeit mit dem Baby zu verbringen. - Diese
Modelle der Partnerschaftlichkeit sind neben dem Geld
und neben dem Schonraum der dritte Aspekt.
Dies macht das Elterngeld zum Erfolgsmodell. Wir
als Union sind stolz auf das Elterngeld, stolz auf die Elternzeit. Wir sind der Meinung, dass 5,4 Milliarden Euro
zwar eine ganze Menge Geld für den Bundeshaushalt
sind - wir wissen um die große Verantwortung, die alle
Kollegen aus den anderen Ressorts mit für die Familien
in unserem Land übernehmen -, aber wir wissen, dass es
gut angelegtes Geld ist für die jungen Familien in unserem Land.
({2})
Wir werden auch durch Studien gestützt, die den Erfolg belegen, etwa die Evaluation der ehe- und familienbezogenen Maßnahmen und Leistungen. Hier wurde das
Elterngeld ja nicht auf subjektive Gesichtspunkte hin untersucht, also nicht darauf, was die Familien davon halten, sondern Kriterien wie die Vereinbarkeit von Familie
und Beruf, das Wohlergehen von Kindern, die wirtschaftliche Stabilität und die Erfüllung von Kinderwünschen wurden betrachtet. Hier schneidet das Elterngeld
sehr, sehr gut ab. Auch die Konrad-Adenauer-Stiftung
hat kürzlich eine Studie aufgelegt, die untersucht, wie
das Elterngeld wirkt. Sie bescheinigt dem Elterngeld einen durchschlagenden Erfolg.
Deshalb haben wir im Wahlkampf in unserem Regierungsprogramm versprochen, dass wir das Elterngeld
weiterentwickeln, dass wir mehr Freiräume bei der Gestaltung ermöglichen und dass wir ein Teilelterngeld einführen, das bis zu 28 Monate bezogen werden kann. So
steht es in unserem Regierungsprogramm. Das war unser
Wahlversprechen. Heute, genau ein Jahr nach der Bundestagswahl, können wir sagen: Wir setzen dieses Wahlversprechen um. Unsere erste familienpolitische Maßnahme ist die Umsetzung dieses Wahlversprechens für
mehr Flexibilität und mehr Partnerschaftlichkeit für
junge Familien. Wir beraten heute einen Gesetzentwurf
Nadine Schön ({3})
zur Einführung des Elterngeld Plus. Damit setzen wir eines der wichtigsten Wahlversprechen aus unserem Regierungsprogramm um. Daran sieht man: Die Familien
in unserem Land können sich auf die Union verlassen.
({4})
Paare können selbst entscheiden, ob ein Partner das
ganze Jahr zu Hause bleibt oder ob beide Partner sich
diese Zeit im Sinne der Vereinbarkeit von Familie und
Beruf teilen. Sie können sich entscheiden, ob sie gemeinsam wieder in den Beruf einsteigen oder nacheinander. Sie können entscheiden, ob sie die Partnermonate
gemeinsam nehmen oder nacheinander. Wir schaffen
eine maximale Flexibilität und maximale Möglichkeiten
für junge Familien. Genau das ist der Grundsatz unserer
Familienpolitik, der Familienpolitik der Unionsfraktionen. Wir sagen: Wir wollen den Familien nicht vorschreiben, wie sie zu leben haben, wie sie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu gestalten haben. Das kann
in unserem Land jede Familie für sich selbst entscheiden. Deshalb wollen wir hier eine größtmögliche Bandbreite, größtmögliche Partnerschaftlichkeit und größtmögliche Flexibilität.
({5})
Ich freue mich, dass wir nun in die Beratungen dieses
wichtigen Gesetzentwurfs einsteigen. Das wird einige
Wochen dauern. Ich selbst werde nicht bei allen Beratungen dabei sein; das ist unschwer zu erkennen. Auch
wenn wir für die Familien in unserem Land vieles regeln, vor unserer eigenen Haustür - da muss ich der
Ministerin recht geben - können wir immer noch nicht
so wahnsinnig gut kehren. Unsere Arbeitsstrukturen sind
nicht sehr familienfreundlich, und für Abgeordnete gibt
es auch keine Elternzeit und kein Elterngeld. Die BadenWürttemberger gehen hier mit gutem Beispiel voran.
Vielleicht ist das ein Appell an uns alle, einmal darüber
nachzudenken, vor der eigenen Haustür zu kehren und
zu überlegen, wie Politik familienfreundlicher sein kann.
({6})
Ich wünsche den Kolleginnen und Kollegen bei den
Beratungen mit den Verbänden viel Erfolg. Ich verabschiede mich jetzt in den Mutterschutz, leider ohne anschließend Elternzeit zu haben.
({7})
Die besten Wünsche für Ihre Familie. - Das Wort hat
die Kollegin Katja Dörner für die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen.
Vielen Dank, Frau Präsidentin! - Natürlich auch von
meiner Seite die besten Wünsche und alles Gute für die
Kollegin Nadine Schön. Des einen Leid ist des anderen
Freud: Wir haben es dann gut, wenn Sie schneller zu uns
zurückkommen.
({0})
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Einigen ist vielleicht noch nicht aufgefallen, dass wir heute über einen
alten Bekannten sprechen, nämlich über das Teilelterngeld. Das Teilelterngeld gerecht gestalten: Das war
schon in der letzten Legislaturperiode eigentlich Konsens aller Fraktionen hier im Haus. Ich erinnere mich
noch sehr gut, dass der entsprechende Gesetzentwurf,
den es ja schon gab, wieder in der Schublade verschwunden ist - Stichwort Finanzierungsvorbehalt. Unsere damaligen Anträge, in denen wir forderten, die kleine
Summe lockerzumachen, die dafür notwendig ist, die finanzielle Benachteiligung von Eltern, die während des
Elterngeldbezugs Teilzeit arbeiten, auszugleichen, wurden abgelehnt. Man sieht: Manches braucht einfach ein
bisschen länger.
Das Teilelterngeld kommt jetzt mit einem smarteren
Label. Es heißt jetzt Elterngeld Plus. Das klingt unbestreitbar etwas besser.
({1})
Selbstverständlich finden wir es gut, dass die beschriebene Benachteiligung jetzt zumindest zum Teil aufgehoben wird.
({2})
Meine Kollegin Franziska Brantner wird gleich aber darstellen, dass es hier noch viel mehr und flexiblere Möglichkeiten gäbe.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, zeitgleich mit
dem Gesetzentwurf zum Teilelterngeld, der in der letzten
Legislaturperiode in der Schublade verschwunden ist, ist
dort auch noch ein anderer gelandet, nämlich der zur
Ausweitung des Unterhaltsvorschusses. Die Ausweitung
des Unterhaltsvorschusses wäre nun wirklich ein echter
Beitrag zur Verbesserung der Situation von Alleinerziehenden.
({3})
Genau dieser Gesetzentwurf hat es aber bis dato nicht
wieder aus dieser Schublade herausgeschafft. Ich finde,
es ist eine Aufgabe für uns, dafür zu sorgen, zumal sich
ja die Ministerin - wir haben es gehört - die Unterstützung von Alleinerziehenden auf ihre Fahnen geschrieben
hat.
Es ist auch schon erwähnt worden: Man kann nicht
wirklich bemerken, dass diese Regierung Alleinerziehende unterstützt. Das muss ich auch am vorliegenden
Gesetzentwurf kritisieren. Es ist geplant, AlleinerzieKatja Dörner
hende, die ein gemeinsames Sorgerecht haben, vom Bezug der Partnermonate und vom Partnerschaftsbonus
beim Elterngeld auszuschließen. Es kann ja nun wirklich
nicht sein, dass bei der Ausgestaltung von Elterngeld
und Elterngeld Plus Anreize dafür gesetzt werden, kein
gemeinsames Sorgerecht in Anspruch zu nehmen. Das
kann nicht im Sinne der Kinder sein. Hier besteht ganz
dringender Handlungsbedarf im Gesetzgebungsverfahren.
({4})
Daneben wird das Elterngeld auf das Arbeitslosengeld II angerechnet. Das heißt, für Eltern im ALG-II-Bezug fällt es faktisch weg. Gerade armen Eltern, die auf
die finanzielle Unterstützung besonders angewiesen
sind, wird der vielbeschworene Schonraum nicht gewährt.
({5})
Das hat die Fraktion der Ministerin in der letzten Legislaturperiode übrigens ganz scharf kritisiert. Davon ist
heute nichts mehr zu hören. Ich finde das nicht akzeptabel. Wir akzeptieren nicht, dass mit dem Gesetzentwurf,
den wir heute beraten, zwar eine Ungerechtigkeit beseitigt, aber eine Riesenungerechtigkeit mit Blick auf die
armen Familien in diesem Land nicht angegangen wird.
Hier werden wir nicht mitmachen.
({6})
Wir haben heute einiges über Partnerschaftlichkeit
gehört. Zwei Drittel der Eltern wünschen sich eine partnerschaftliche Aufteilung von Erwerbs- und Familienarbeit. Nur 6 Prozent können das in ihrem Alltag umsetzen. Diese riesige Differenz zwischen Wunsch und
Wirklichkeit muss uns natürlich alarmieren, und sie ist
auch ein Auftrag an uns Familienpolitiker.
Elterngeld Plus und Partnerschaftsbonus sind kleine
Schritte, aber wenn wir ehrlich sind, dann müssen wir
feststellen: Das ist nicht der große Wurf.
Wir wissen doch, wo die großen Killer der Partnerschaftlichkeit stecken. Der unlängst vorgelegte Abschlussbericht zur Evaluation der ehe- und familienbezogenen
Leistungen hat uns das ja schon wieder hinter die Ohren
geschrieben: Es ist unter anderem das Ehegattensplitting, das Alleinverdienerehen privilegiert und damit gegen eine partnerschaftliche Aufteilung von Erwerbs- und
Familienarbeit wirkt.
({7})
Wenn wir tatsächlich wollen, dass Eltern so leben können, wie sie es sich selber wünschen, dann müssen wir
weg vom Ehegattensplitting und alle Familien ganz direkt besser fördern und unabhängig vom Trauschein besser unterstützen.
({8})
- Ja, das sieht sie so.
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich erinnere
mich noch gut an ein Politikmagazin im Fernsehen kurz
vor der Bundestagswahl. Da hat Manuela Schwesig die
Nachteile des Ehegattensplittings ganz klar beschrieben,
und ich habe gedacht: Hui! - Seit der Bundestagswahl
hört man überhaupt nichts mehr. Ich erwarte, ehrlich gesagt, von der Ministerin, dass sie die Evaluation der eheund familienbezogenen Leistungen ernst nimmt und sich
nicht den Rest der Legislaturperiode vor den wirklich
harten Fragen, was die Partnerschaftlichkeit in den Familien angeht, wegduckt.
({9})
Zu diesen harten Fragen gehört auch die Frage nach
dem Recht auf Rückkehr in Vollzeit. Das ist so wichtig,
um insbesondere die Frauen aus der Teilzeitfalle zu holen, aber eben auch, um die Männer zu ermutigen, überhaupt in Teilzeit zu gehen, weil sie wissen, dass sie da
auch wieder herauskommen. Das Recht auf Rückkehr in
Vollzeit ist eines der wichtigsten Instrumente für mehr
Partnerschaftlichkeit. Es findet sich ja sogar im Koalitionsvertrag der Großen Koalition. Es ist aber eines der
wenigen im Koalitionsvertrag beschriebenen Instrumente, die in der konkreten Arbeitsplanung nicht vorkommen. Das können wir nicht akzeptieren.
({10})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, zu den harten Fragen gehört übrigens auch die Frage nach der Entgeltgleichheit. Wenn Frauen fast ein Viertel weniger verdienen als Männer, dann ist doch klar, dann ist es doch
individuell betrachtet rational absolut nachvollziehbar,
warum sich junge Paare schwuppdiwupp in klassischen
Rollenmustern wiederfinden, die sie selbst gar nicht
mehr leben wollen. Es ist unsere Aufgabe, jungen Familien zu ermöglichen, so zu leben, wie sie selbst es sich
vorstellen. Das ist für mich echte Wahlfreiheit. Viele Familien können das heute nicht. Hier besteht ganz dringender Handlungsbedarf. Wir können nicht bis nach der
nächsten Wahl warten. Deshalb betrachten wir den heutigen Gesetzentwurf als einen guten Startschuss. Aber er
darf keinesfalls schon als Zielgerade für diese Legislaturperiode angesehen werden.
Vielen Dank.
({11})
Die Kollegin Dr. Carola Reimann hat für die SPDFraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich bin im Oktober zu einer Tagung eingeladen. Der Titel dieser Tagung lautet: „Wer schneller lebt, ist früher
fertig …“. Dieser Satz beschreibt die Lage von Familien
und Eltern in unserem Land sehr gut. Eltern sind Meister
im Optimieren. Sie wollen beides: Beruf und Familie.
Sie geben dafür alles: Sie engagieren sich voll im Beruf,
bringen immer volle Leistung, sind oft rund um die Uhr
erreichbar und sind nebenbei aufmerksame, liebevolle
und engagierte Eltern, die sich vom ersten Lebensmonat
ihrer Kinder an um beste Förderung und Chancen bemühen.
Und doch bleibt ein Unbehagen, dass Wichtiges zu
kurz kommt: Kinder, denen manchmal doch die Eltern
fehlen, der Partner, den man aus den Augen verliert, man
selbst und die eigene Gesundheit. Vollzeiterwerbstätige
Mütter sind oft früher fertig. Sie sind in einem erschreckenden Ausmaß von Burn-out betroffen. Das spricht
Bände und deutet auf eine fortwährende Überforderung
hin. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, Mütter zurück an den Herd, Schwiegertöchter an die Schnabeltassen, das kann ja wohl nicht die Lösung dieses Dilemmas
sein.
({0})
Gleichstellung ist eine wichtige Errungenschaft. Sie
macht unsere Gesellschaft bunter, gerechter und lebenswerter. In die Zeiten, in denen die Lebensverläufe durch
das Geschlecht vorherbestimmt waren, will ja außer ein
paar ganz Erzkonservativen niemand mehr zurück.
({1})
Die richtige Antwort hat Ministerin Schwesig mit ihren Familienarbeitszeiten gefunden; denn sie löst damit
die Zeitkonflikte aus dem ausschließlich Privaten heraus. Nicht allein jede und jeder Einzelne ist gefragt, immer besser, immer schneller, immer optimierter und organisierter zu werden. Nein, es ist auch Aufgabe von uns
allen, von Politikerinnen und Politikern, gemeinsam mit
den Tarifpartnern die richtigen Rahmenbedingungen zu
schaffen. Im Klartext: auch für kürzere Arbeitszeiten zu
sorgen.
({2})
Heute machen wir mit dem Elterngeld Plus den ersten
Schritt. Es räumt Eltern mehr Spielraum bei der Nutzung
des Elterngeldes ein. Es belohnt eine partnerschaftliche
Aufteilung mit zusätzlichen Elterngeldmonaten; das haben wir hier gehört. Es ermöglicht Eltern, die Elternzeit
besser in ihrem eigenen Sinne und nach ihren eigenen
Bedürfnissen zu nutzen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine Detailregelung
werden wir im parlamentarischen Verfahren noch angehen, und zwar im Interesse derjenigen Gruppe, die wie
keine zweite mit ihrer knappen Zeit jonglieren muss: die
Alleinerziehenden. Das ist hier schon angeklungen. Arbeiten gehen, Haushalt schmeißen, Essen kochen, vorlesen, trösten - für Alleinerziehende sind all das Tätigkeiten, für die sie ganz allein zuständig sind, während all
das in Paarfamilien von zweien geleistet werden kann.
Wir haben deshalb schon bei der Einführung des Elterngeldes dafür gesorgt, dass Alleinerziehende genauso
viele Elterngeldmonate bekommen wie Paare.
Und jetzt? Was vor acht Jahren noch gut geklappt hat,
wird heute durch eine an sich sehr positive Entwicklung,
nämlich dass sich immer mehr alleinerziehende Eltern
für das gemeinsame Sorgerecht entscheiden, immer
schwieriger. Darauf haben uns fast alle Familienverbände
hingewiesen. Auch der Bundesrat verlangt in seiner Stellungnahme vom letzten Freitag eine pragmatische Lösung im Sinne und im Interesse der Alleinerziehenden
mit gemeinsamer Sorge. Diese Anregungen werden wir,
Kollege Wunderlich und Kollegin Dörner, im parlamentarischen Verfahren sehr gerne aufgreifen.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Elterngeld Plus
ist nur die erste von drei zeitpolitischen Reformen, die
sich die Große Koalition vorgenommen hat. Dazu zählt
auch das Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von Familie,
Pflege und Beruf, das Erleichterungen für Beschäftigte
mit pflegebedürftigen Angehörigen bringt; Ministerin
Schwesig wird es in Kürze vorlegen. Im nächsten Jahr
folgt dann der Gesetzentwurf aus dem Ministerium für
Arbeit und Soziales, mit dem wir Eltern nach einer Teilzeitphase garantieren, auf eine Vollzeitstelle zurückzukehren, Kollegin Dörner. Das gehört zur sehr konkreten
Arbeitsplanung des Arbeitsministeriums.
({4})
Mit diesen drei Reformvorhaben machen wir große
und wichtige Schritte zur Vereinbarkeit. Aber wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wollen eigentlich
noch einen weiteren größeren Schritt gehen: Wir wollen,
dass aus dem Elterngeld Plus bald die Familienarbeitszeiten werden. Wir wollen andere Arbeitszeitmuster,
nicht nur für Eltern von Kleinkindern, sondern auch für
die Eltern von älteren Kindern;
({5})
denn die Zeitkonflikte von Familien beschränken sich
nicht auf die Zeit, wenn Kinder klein und niedlich sind.
({6})
Eltern erleben oft, dass mit dem Alter des Kindes die
Probleme der größeren und auch niedlichen Kinder eher
zunehmen.
Familienarbeitszeiten sind der richtige Weg, damit
beide Elternteile ihre beruflichen Wünsche verwirklichen können und eine eigene finanzielle Grundlage haben. Familienarbeitszeiten sind der richtige Weg für die
Familien, damit sie gleichzeitig auch Familie sein können. Familienarbeitszeiten sind der richtige Weg - auch
das ist hier schon gesagt worden - für die Wirtschaft, die
für sie immer kostbarer werdenden Fachkräfte zu halten.
Kluge Wirtschaftsführer wie Eric Schweitzer, Chef des
Deutschen Industrie- und Handelskammertages, haben
das bereits erkannt; denn wenn beide Elternteile im Erwerbsleben bleiben, bedeutet das für die Unternehmen
eine höhere Zahl an Fachkräften, als wenn einer, meistens eine, die Brocken hinwirft.
Ministerin Schwesig hat mit dem Thema Familienarbeitszeiten die zentrale Debatte angestoßen. Heute machen wir den ersten gesetzgeberischen Schritt. Am Ende
muss eine Gesellschaft stehen, die Familien mehr Zeit
lässt, und eine Gesellschaft, in der wir nicht früher fertig
sind, sondern gemeinsam länger zufrieden.
Danke fürs Zuhören.
({7})
Das Wort hat die Kollegin Diana Golze für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Ja, die Lebensrealität der jungen Familien
hat sich in den letzten Jahren verändert. Es ist gut, dass
das Elternzeitgesetz nun der Realität angepasst wird. Ich
sehe in der Tat positive Bewegungen.
Es sind schon einige Punkte angesprochen worden:
Bisher bekommen Eltern bis zu 14 Monaten Elterngeld,
wenn beide Elternteile nach der Geburt des Kindes nacheinander eine berufliche Auszeit für die Betreuung des
Kindes nehmen. Wenn aber ein Elternteil oder sogar
beide weiter in Teilzeit arbeiten, hat sich der Elterngeldanspruch bisher nicht verlängert. Mit der Einführung
von Elterngeld Plus wird diese Lücke geschlossen, und
das ist auch gut so.
Die Eltern haben bisher einen Teil ihres Elterngeldanspruches verloren. Das war eine absurde Situation; denn
das Elterngeld sollte ja dazu dienen, einen früheren Wiedereinstieg in den Beruf sicherzustellen, gleichzeitig
aber auch mehr Zeit für die Kindererziehung zu ermöglichen. Es ist richtig und wichtig, die bisherige Regelung
zu korrigieren.
({0})
Mit der Flexibilisierung der Elternzeit bis zum vollendeten achten Lebensjahr macht das Familienministerium
einen weiteren Schritt in die richtige Richtung. Was
fehlt, ist aber eine passende Flexibilisierung des Elterngeldes. Denn es war bereits 2008 eine Forderung der
Linken - das hat Kollege Wunderlich schon gesagt -, Elterngeld und Elternzeit flexibler miteinander zu kombinieren. Es ist richtig, nicht nur an die Zeit nach der Geburt zu denken, sondern auch an Übergänge, zum
Beispiel die Schuleingangsphase. Diesen Übergang gemeinschaftlich und partnerschaftlich zu gestalten, können sich weiterhin nur Paare mit einem sehr guten Einkommen leisten. Denn das Elterngeld wurde nicht
flexibilisiert.
Wir hatten vorgeschlagen, dass das Elterngeld in Teilabschnitten von mindestens zwei Monaten bis zur Vollendung des siebten Lebensjahres in Anspruch genommen werden kann. Wir wären auch mit dem achten
Lebensjahr einverstanden, wenn man es miteinander
kombiniert und für alle Eltern ermöglicht.
({1})
Wir freuen uns, dass dieser Vorschlag zumindest zum
Teil aufgenommen wurde.
Das heißt, das Elterngeld Plus ist ein Schritt in die
richtige Richtung. Aber solche für Eltern positiven Veränderungen gibt es nicht zum Nulltarif. Wenn man den
Gesetzentwurf liest, reibt man sich aber verwundert die
Augen. Denn kosten soll das Vorhaben nichts. Wie hat
man das geschafft?
Man geht nicht etwa davon aus, dass die neuen Regelungen nicht von den Eltern in Anspruch genommen
werden - das wäre furchtbar -, sondern man hat woanders eine Einsparmöglichkeit gefunden. Das Bundessozialgericht hatte im Sommer 2013 geurteilt, dass der Elterngeldanspruch für jedes Kind besteht. Das hieß bis
dato, dass zum Beispiel Eltern, die Zwillinge bekommen
haben, Elterngeld für beide Kinder beantragen und sich
gemeinsam um diese doppelte Herausforderung kümmern konnten. Das soll nun - in Anführungszeichen klargestellt werden. Das soll zukünftig nicht mehr möglich sein. Der Elterngeldanspruch gilt künftig pro Geburt
statt pro Kind. Man will damit 100 Millionen Euro sparen.
Das heißt, man nimmt den einen Familien das Geld,
um die Teilzeitbeschäftigung für andere Familien zu ermöglichen. Das halten wir für ungerecht. Wollen Sie das
wirklich? Darüber sollten wir im Ausschuss noch einmal
sprechen.
({2})
Eine weitere Ungerechtigkeit - darauf wurde ebenfalls schon hingewiesen - bleibt nach den Vorstellungen
der Bundesregierung erhalten: die volle Anrechnung des
Elterngeldes auf das Arbeitslosengeld II. Diese Familien
waren von Anfang an benachteiligt. Erst hat man ihnen
im Verhältnis zum Erziehungsgeld die Hälfte der Bezugsdauer gekürzt. Dann hat man ihnen die sogenannten
Vätermonate verwehrt. In einer dritten Reform hat man
es dann gänzlich auf das Einkommen angerechnet. Das
ist im Zusammenhang mit dem Sparpaket im Sommer
2010 erfolgt.
Eltern im Hartz-IV-Bezug waren von Anfang an benachteiligt. Die Benachteiligungen haben sich sogar
noch verschärft, und auch mit dem Elterngeld Plus wird
sich daran nichts ändern. Bei armen Eltern kommt das
Elterngeld auch weiterhin nicht an. Das ist kein Konzept
für die Bekämpfung von Familienarmut, Elternarmut
und Kinderarmut. Die Gleichbehandlung der Eltern ist
ebenfalls nicht gegeben. Diese Chance - das ist schon
angesprochen worden - wurde vertan.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, ja, dieses
Elterngeld Plus war ein Wahlversprechen, das Sie gegeben haben. Ich finde es gut, dass Sie es umsetzen. Sie haben aber in Ihrem Regierungsprogramm auch gefordert:
Wir wollen das Basiselterngeld für ALG-II-Empfängerinnen und -Empfänger wieder anrechnungsfrei stellen. - Diese Chance haben Sie mit diesem Gesetzentwurf vertan. Das ist keine Politik im Sinne von armen
Familien.
({3})
Besonders diese beiden Ungerechtigkeiten geben mir
zu denken. Ich bin deshalb auf die Diskussion im Ausschuss und auf die Stellungnahmen der Sozialverbände
in der Anhörung gespannt und hoffe, dass wir noch zu
Änderungen kommen werden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Der Kollege Marcus Weinberg hat für die CDU/CSUFraktion das Wort.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Herr Wunderlich hat vorhin nach der Intention des Gesetzentwurfs gesucht. Es ist relativ einfach: Endlich sind wir politisch so weit, dass wir nicht
mehr fragen: Arbeitsmarkt oder Familie? Wir sind nämlich so weit, dass wir Erwerbstätigkeit und Familienzeit
zusammenbringen wollen, weil das im Sinne der Familien und übrigens auch der Arbeitgeber ist. Denn ist der
Arbeitnehmer zufrieden und hat er ein geregeltes Familienleben, dann ist es auch gut für die Arbeitgeber und
die Wirtschaft.
({0})
Das ist auch unser Leitgedanke bei den heutigen Fragestellungen. Wir haben heute sozusagen einen Happy
Friday bzw. Family Friday: Wir werden zwei große Gesetzesvorhaben verabschieden. Zuerst geht es um das
Thema Elternzeit und Partnerschaftlichkeit, und in der
zweiten Halbzeit geht es um den weiteren Ausbau der
Kitabetreuung. Das sind zwei zentrale Maßnahmen dieser Großen Koalition in den nächsten Jahren. Damit werden wir den Wünschen der Eltern gerecht. Unser Leitmotiv ist, Eltern zu unterstützen.
Wir gehen nun nicht, wie Frau Reimann sagte, den
ersten Schritt, sondern den zweiten bzw. sogar den dritten Schritt. Wir haben bereits in der ersten Großen Koalition vor vielen Jahren nicht nur den Krippenausbau,
sondern auch die Einführung des Elterngeldes beschlossen. Die Weichen, die wir damals gelegt haben, werden
wir jetzt stellen, und zwar unter Berücksichtigung der
gesellschaftlichen Veränderungen. Ein Jahr nach der
Bundestagswahl gehen wir nun den entscheidenden
Schritt.
Frau Dörner, Sie haben die Gelegenheit genutzt, um
noch einmal für sich persönlich und vielleicht auch für
Ihre Fraktion darzulegen, wie Sie gewisse Sachverhalte
sehen. Ich habe mit Interesse zur Kenntnis genommen,
dass Sie weiterhin das Ehegattensplitting komplett abschaffen wollen. Das müssten Sie in Ihrer Fraktion einmal klären. - Frau Brantner, Sie nicken, aber Sie sind
diejenige, die sich in den letzten Tagen ein bisschen geöffnet hat. In der Welt vom 19. September haben Sie die
Frage gestellt:
Warum versuchen wir ständig, die Familien durch
neue Maßnahmen und mehr Geld arbeitsmarktfähig
zu machen, statt endlich zu fragen: Wie wollen wir
im 21. Jahrhundert arbeiten, um auf die Bedürfnisse
der Familien im 21. Jahrhundert einzugehen?
Ich wünsche mir, dass Sie diese Fragestellung zum Leitmotiv Ihrer grünen Politik machen und endlich auf die
Agenda setzen, anstatt ideologisch bedingt darüber
nachzudenken, wie sich das Ehegattensplitting und andere Maßnahmen, die durchaus eine hohe Akzeptanz haben, abschaffen lassen.
({1})
Die Familienleitbilder haben sich verändert. Das nehmen nicht nur andere, sondern auch wir wahr. Vor diesem Hintergrund stellt sich uns als Union die Frage, ob
wir Familienleitbilder vorgeben sollen. Dazu sagen wir
Nein. Für uns stehen drei Sachverhalte im Vordergrund.
Erstens. Wir wollen die Eigenverantwortung und die
Selbstbestimmtheit der Familien als Kernstücke unserer
Familienpolitik stärken.
Zweitens. Wir machen zwar Angebote, wollen aber
keine rundum betreute Familie. Vielmehr wollen wir eigenverantwortliche Elternschaft und eigenständig handelnde Familien unterstützen.
Drittens. Wir setzen als Leitmotiv Vertrauen in die Eltern und die Elternarbeit. Bei der Stärkung der Eigenverantwortlichkeit der Eltern werden wir die veränderten
Lebenswirklichkeiten berücksichtigen. Über 80 Prozent
einer befragten Gruppe von bis zu 39-Jährigen hat gesagt: Die Familienleitbilder haben sich verändert. Es gibt
nicht nur die traditionelle Familie, sondern auch Alleinerziehende - auch diese müssen wir in den Fokus unserer Beratungen rücken - und andere Formen des Zusammenlebens.
Vor diesem Hintergrund müssen staatliche Leistungsangebote darauf überprüft werden, ob sie sich mit Veränderungsprozessen noch in Übereinstimmung befinden;
das werden wir tun. Die oft kritisch gesehenen familienpolitischen Leistungen wie der Kitaausbau sind zentral
für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, genauso
wie das nun vorgesehene Elterngeld Plus, das sicherlich
genauso positive Auswirkungen haben wird wie das Elterngeld. Wir sind stolz darauf, dass wir das alles auf den
Weg gebracht haben.
({2})
Marcus Weinberg ({3})
Welche Wünsche haben Eltern? 91 Prozent der Befragten sind der Meinung, dass sich beide Eltern um die
Betreuung der Kinder kümmern sollten. Nadine Schön
hat bereits unsere besondere Situation angesprochen. Ich
gehöre zu den rund 60 Prozent der Väter, die mehr Zeit
mit den Kindern verbringen wollen. Solche Wünsche
müssen wir in der Politik berücksichtigen. Das Elterngeld Plus schafft die Möglichkeit, solche Wünsche zu erfüllen.
({4})
81 Prozent teilen die Ansicht, dass beide Eltern gleichermaßen für das Familieneinkommen verantwortlich sind.
Das sind die Leitmotive für das Elterngeld Plus. Momentan sieht die Situation aber noch anders aus. Väter
arbeiten durchschnittlich 42 Stunden, während Mütter
17 Stunden in der Woche arbeiten. 60 Prozent der Eltern
mit Kindern unter drei Jahre wünschen sich ein Modell,
das eine stärkere Partnerschaftlichkeit ermöglicht.
({5})
Aber nur 14 Prozent gelingt es, diese Partnerschaftlichkeit auch zu leben. Hier gibt es noch einiges zu tun.
Die zentralen Punkte des Elterngeldes sind: Die Kombination aus Teilzeiterwerbstätigkeit und Elterngeldbezug muss attraktiver gemacht werden. Das ist auch im
Sinne der Arbeitgeber. Wenn junge, gut ausgebildete
Frauen vor 40 Jahren Mütter wurden, haben sie als Fachkräfte meistens den Arbeitsmarkt verlassen und sind erst
nach sechs oder zehn Jahren zurückgekehrt. Mit dem Elterngeld Plus schaffen wir Angebote, die es Frauen ermöglichen, als Teilzeitkräfte früher in den Beruf zurückzukehren. Das führt dazu, dass die Arbeitgeber früher
wieder auf diese Fachkräfte zurückgreifen können.
Weiterhin honorieren wir die partnerschaftliche Aufteilung. Wenn Väter etwas mehr Zeit mit der Familie
verbringen wollen - etwas mehr Zeit für die Kinder bedeutet etwas weniger arbeiten -, dann heißt das für Mütter, dass sie etwas mehr arbeiten. Wir wollen im Sinne
einer Angleichung die partnerschaftliche Aufteilung von
Betreuungs- und Erwerbsaufgaben stärken. Das ist mit
dem Partnerschaftsbonus verbunden. Das sind dann - in
Anführungszeichen - nur vier Monate, aber damit soll
ein Signal gesetzt werden. Es ist den Eltern überlassen,
die Aufteilung eigenverantwortlich zu organisieren. Insgesamt steht dahinter der Gedanke, dass wir den Eltern
bzw. der Familie mehr Zeit geben. Das ist nicht nur für
die Eltern gut, sondern das ist besonders für die Kinder
gut.
({6})
Dabei ist ein zentraler Punkt das Elterngeld. Wir sagen: Kombiniert doch - in Anführungszeichen - das alte
Elterngeld, also das Basiselterngeld, mit dem Elterngeld Plus. - Die Familien sollen entscheiden, wie sie das
machen. Dazu gehört auch die Absprache mit dem Arbeitgeber zum beiderseitigen Nutzen.
Frau Brantner, ich habe schon wieder ein Zitat von Ihnen gefunden. Das passt gut, da Sie nach mir reden. Ich
finde richtig, dass Sie seinerzeit in der Welt auch gesagt
haben:
Der Staat muss größere Zeitsouveränität und Freiräume vom ökonomischen Zeitdruck ermöglichen,
er darf das aber nicht vorschreiben.
Das ist genau richtig.
({7})
Wir schreiben nichts vor. Wir sagen: Entscheidet
ihr! - Wir eröffnen die Angebote, aber die Familien müssen entscheiden, welche Möglichkeiten sie in Anspruch
nehmen. Unsere Grundintention ist, Herr Wunderlich, Familienpolitik zu entideologisieren und zur Anerkennung
der Handlungsfreiheit der Familie zu kommen. Wir wollen weg von Formulierungen wie „Rabenmutter“ oder
„Herdprämie“. Das wollen die Familien nicht mehr hören. Das ist überholt.
({8})
In dem Zusammenhang gibt es für uns einen wichtigen Punkt: die Belastung für die Wirtschaft. Er wird immer wieder angesprochen. Wir Familienpolitiker müssen
immer schauen, dass unsere Maßnahmen den Erfordernissen der Wirtschaft nicht widersprechen. Unser Grundansatz ist: Wenn der Arbeitgeber Teilzeitarbeit ermöglicht, dann müssen wir anerkennen, dass das eine
schwierige Situation für den Arbeitgeber ist. Deswegen
ist die Absprache bzw. die Rückkopplung mit der Wirtschaft zentral; denn der Wohlstand, den wir haben, ist einer gut funktionierenden Wirtschaft zu verdanken. Ihn
sollten wir nicht aufs Spiel setzen.
({9})
Deswegen sind die Regelungen zur Elternzeit richtig,
nämlich dass 24 der insgesamt 36 Monate bis zum vollendeten achten Lebensjahr des Kindes übertragen werden können. Richtig ist aber auch, dass wir die Zustimmungsfrist des Arbeitgebers auf 13 Wochen verlängern.
Wir müssen also immer überprüfen, ob die Wirtschaft,
insbesondere der Mittelstand, die Regelungen mittragen
kann; denn die Wirtschaft ist ein Fundament unseres
Wohlstandes.
({10})
Daraus leitet sich aber auch die Erkenntnis ab, dass
Reden und Handeln zwei verschiedene Dinge sind. Es ist
ja so: Wer schneller lebt, ist früher fertig, wer schneller
redet, hat mehr zu sagen.
({11})
Gerade für die Arbeitgeber muss deutlich werden: Es
reicht nicht, nur vom Erfolgsfaktor Familie zu reden und
in Fensterreden zu beteuern, man wolle mehr für die Familie tun. Auch die Arbeitgeber und ihre Verbände sind
bei der Veränderung der Familienpolitik mit im Boot.
Man könnte sagen, das Elterngeld Plus ist eine weitere
Belastung, aber letztendlich ist es im Sinne der Arbeitge5082
Marcus Weinberg ({12})
ber. Wir werden diesen Diskurs auch mit den Arbeitgebern führen müssen. Nichts ist besser für einen Arbeitgeber als ein glücklicher Arbeitnehmer, der weiß, dass sein
Familienleben gut organisiert ist.
({13})
Angesprochen haben wir schon die Nachbesserungen,
die wir jetzt im parlamentarischen Verfahren anstreben.
Die sind richtig, und die werden wir jetzt umsetzen. Ich
nenne als Stichwort die Alleinerziehenden. Es gibt noch
einen weiteren Punkt. Die Union befürwortet das Ehrenamt, insbesondere das kommunale Ehrenamt. Wir werden uns bemühen, eine Regelung zu schaffen, damit das
Elterngeld gut mit dem Ehrenamt kombiniert werden
kann. Näheres werden die parlamentarischen Beratungen ergeben.
Insgesamt bleibt es heute beim Happy Friday. Es ist
ein schöner Familienfreitag zu bester Stunde heute Morgen. Der erste Teil ging um das Elterngeld Plus, und
gleich reden wir noch über den Kitaausbau. Familien in
Deutschland können sich freuen.
Herzlichen Dank.
({14})
Die Kollegin Dr. Franziska Brantner hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Liebe Präsidentin! Liebe Frau Schwesig! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Weinberg, danke
fürs Zitieren! Ich sage gleich noch etwas zur echten
Wahlfreiheit beim Elterngeld. Zum Ehegattensplitting:
Ich bin da sehr klar: Das muss weg. Über das Wie diskutieren wir. Dazu haben Sie auch schon einen Vorschlag
gemacht. Von daher sind Sie in der Diskussion schon mit
dabei.
({0})
- Habe ich „Elterngeld“ gesagt? Ich meinte „Ehegattensplitting“; sorry.
({1})
- Das ist die Debatte über das Wie: Wie ändern wir es?
Wir sagen: Es muss weg und durch etwas anderes ersetzt
werden. Sie sagen: Familiensplitting. - Die Debatte ist
offen.
({2})
- Genau, zu den Familien: Deutschlands Familien, das
sind: Alleinverdienende, Doppelverdiener, Minijobarbeitende, Teilzeitarbeitende, Schichtarbeitende, Pendler,
getrennt, verheiratet, verpartnert oder einfach nur zusammen, ein Kind, zwei Kinder, drei Kinder oder mehr die Vielfalt ihrer Wünsche und Bedürfnisse ist unser
Auftrag hier.
({3})
Liebe Frau Schwesig, Ihr Modell ist unfair, weil Alleinerziehende die 25 bis 30 Stunden kaum schaffen
können. Auch für jene Mütter, die mit jemandem zusammenleben, aber die gar nicht auf 25 Stunden hochgehen
können, weil sie sich schon mit zwei Minijobs herumschlagen und ein dritter gar nicht möglich ist, greift das
Modell nicht. Das Modell ist auch unfair, weil es egal ist,
ob eine Mutter oder ein Vater auf eine Halbtagstätigkeit
reduziert oder nur eine Stunde pro Tag weniger arbeitet die Dauer der Zahlung des Elterngeldes wird immer nur
verdoppelt, maximal auf 28 Monate. Das ist für jene, die
ihre Arbeitszeit zum Beispiel nur um ein Viertel reduzieren, nicht ganz fair. Das Modell ist auch unfair - das haben wir heute schon vielfach gehört - für all jene, die im
ALG-II-Bezug sind.
Wir als Grüne wollen deshalb von anderen europäischen Ländern lernen. Mittlerweile ist bekannt, dass
Schweden die Vereinbarkeit besser hinbekommt als
Deutschland und dass sich dort Väter auch mehr an der
Familienarbeit beteiligen. Warum ist das so?
Nehmen wir das schwedische Elterngeld: In Schweden können Eltern das Elterngeld anteilig und dafür für
einen längeren Zeitraum in Anspruch nehmen. Ein Beispiel: Eine Mutter, die ihre Arbeitszeit zu einem Viertel
reduziert, bekommt viermal so lange Elterngeld. Ihr
Partner, der zu einem Achtel weniger arbeitet und sie unterstützt, kann achtmal so lange Elterngeld beziehen.
Das macht es für beide Elternteile leichter, gleichzeitig
auszusteigen und sich das Elterngeld länger zu teilen.
Deswegen schlagen wir vor, dieses schwedische Modell des Elterngelds zu übernehmen und dafür, auch wie
in Schweden, die Elternzeit bis zum 14. Lebensjahr des
Kindes auszuweiten.
({4})
Stellen Sie sich einmal vor, auch in Deutschland würde
die Vielfalt der Familien und der Lebensphasen wirklich
so anerkannt werden! Eine alleinerziehende Mutter
könnte für die ersten acht Monate nach der Geburt des
Kindes ganz aussteigen, dann für vier weitere Monate zu
einem Viertel wieder einsteigen. Dann blieben ihr immer
noch weitere sechs Monate für einen Halbtagsjob. Oder
sie sparte sich die Zeit auf, für die Einschulung des Kindes zum Beispiel oder für noch später.
So könnten Eltern den Bezug von Elterngeld, mit
Partnermonaten inklusive, auf maximal 112 Monate strecken. Stellen Sie sich vor, dabei könnten sie das Elterngeld wirklich bis zum 14. Lebensjahr des Kindes nutzen
- wie es eben der vielfältigen Realität entspricht! -,
wenn das Kind in die Pubertät kommt, wenn es auf eine
weiterführende Schule wechselt oder wenn es einfach
einmal mehr Zuwendung braucht, wenn mehr Zeit für
das Kind notwendig ist.
Unser Modell macht drei Dinge:
Erstens. Es macht einen schrittweisen Wiedereinstieg
in den Beruf einfacher.
Zweitens. Es erlaubt auch in späteren Phasen des Lebens eines Kindes, Arbeitszeit zu reduzieren und dafür
noch ein Zeitguthaben zu haben.
Drittens. Es macht es Vätern leichter, sich zu beteiligen. Eine halbe Stelle schreckt viele Väter ab. Mit einer
geringeren Reduzierung, dafür aber für länger, werden
mehr Väter erreicht, und die Beteiligung am Elterngeld
balanciert sich zunehmend aus. Wenn man sich die Statistik in Schweden anschaut, sieht man - das ist ganz interessant -, dass Väter nach dem dritten Lebensjahr des
Kindes - bei Frau Schwesig in Deutschland gibt es dann
schon kein Elterngeld mehr - genauso viel Elterngeld in
Anspruch nehmen wie Mütter. Über das schwedische Elterngeldmodell kommt es zu einer wirklich partnerschaftlichen Aufteilung.
({5})
Natürlich brauchen wir dazu auch eine familienfreundlichere Arbeitswelt und -kultur. Es sind eben nicht
die Familien, die sich dem Arbeitsmarkt anpassen müssen, sondern andersherum. In Deutschland haben wir
einen wirklich schlechten Mix. Wir haben die Präsenzkultur, kombiniert mit der weitverbreiteten Dauererreichbarkeit. Präsenzkultur und Dauererreichbarkeit führen zum Burn-out, wie wir es vorhin schon gehört haben.
Auch in diesem Fall sollten wir uns unsere europäischen
Nachbarn anschauen. In Holland und in Frankreich beispielsweise werden Zeitchartas vorgegeben. Arbeitgeber
verhandeln mit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
über das „Von wann“, „Bis wann“, „Wo“ und „Mit welcher Verfügbarkeit“, damit nicht alle um 9 Uhr anfangen
müssen und zuvor eine Stunde lang gemeinsam im Stau
stehen, sondern die Zeiten flexibler nutzen können.
({6})
Darum geht es uns bei unserem Modell des flexiblen
Elterngeldes: Wir wollen, dass sich Eltern frei aussuchen
können, wie viel, wann und wie sie arbeiten. Dafür
braucht es eine verlässliche Kindertagesbetreuung, insbesondere für Alleinerziehende, eine familienfreundliche Kultur in den Unternehmen und Instrumente, die
Flexibilität und Vielfalt zulassen. Dafür steht unser Modell des flexiblen Elterngeldes.
Liebe Große Koalition, schaffen Sie doch die echte
Wahlfreiheit! Wir wären dafür.
Ich danke Ihnen.
({7})
Als nächster Rednerin erteile ich der Abgeordneten
Dr. Silke Launert, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Eine unserer größten Aufgaben in den nächsten zehn
Jahren wird es sein, unser Hauptproblem zu lösen, nämlich das Problem des demografischen Wandels.
Wieso ist es so, dass in Frankreich eine Mutter im
Durchschnitt mehr als zwei Kinder bekommt, in
Deutschland eine Mutter aber weniger als 1,4 Kinder?
Ohne die Lösung dieses Problems werden wir nicht vorankommen.
Ein Land, eine Gesellschaft braucht drei Dinge: inneren und äußeren Frieden - dafür kämpfen wir an vielen
Fronten in Europa und in der ganzen Welt -, eine funktionierende Wirtschaft - sonst hat niemand Geld, und
niemand kann in dem Wohlstand leben, den wir jetzt haben - und Menschen, Kinder. Inzwischen sind das aufgrund unserer globalisierten Welt gut ausgebildete Kinder. Also müssen wir an dieser Stelle ansetzen.
Dabei müssen wir alle ins Boot holen - das wurde
mehrfach angesprochen -, insbesondere auch die Wirtschaft. Es kann nicht sein, dass das dritte Ziel vernachlässigt wird, weil uns das zweite immer wichtiger ist.
Wir haben jetzt einen Gesetzentwurf - ich begrüße es
sehr, dass er eingebracht wurde -, der zugegebenermaßen nur ein kleiner Schritt ist und der zugegebenermaßen
mittelbar auch wieder Geld kostet, vor allem dann, wenn
man ihn noch etwas besser machen würde. Das würde
den Haushalt sprengen. Aber es ist ein Signal, und ein
Signal kann Einfluss haben.
Der Unterschied zu Frankreich ist nicht nur die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, wie sie faktisch gelebt wird, sondern der Unterschied besteht auch
in der Werteeinstellung. Es ist nach wie vor in einigen
Gebieten unseres Landes so, dass sich eine Frau rechtfertigen muss, wenn sie nach der Geburt des Kindes wieder anfängt, voll zu arbeiten. Meine Kinder waren drei
und vier Jahre alt, als ich in den Bundestag gegangen
bin. Ich musste bei jedem Interview erklären, wie ich das
denn mit den Kindern mache. Das ist wirklich so gewesen. Ich glaube nicht, dass man diese Frage einem Mann
stellen würde.
({0})
Deshalb kann man mit kleinen Gesetzen, auch wenn
sie nur ein Signal sind, die Einstellung der Menschen im
Land ändern, und deshalb sind sie wichtig.
Wir haben drei Aspekte: die Einführung des Elterngeld Plus, die Einführung des Partnerschaftsbonus und
die Flexibilisierung der Elternzeit.
Zunächst zur Flexibilisierung der Elternzeit. Das
wurde bereits gesagt. Die Möglichkeit, bis zu 24 Monate
zu übertragen bis zum achten Geburtstag des Kindes, begrüße ich sehr, gerade weil es noch einfacher ist, wenn
man auf eine Kita, einen Kindergarten zurückgreifen
kann, zwei Drittel zu arbeiten.
Die richtige Herausforderung stellt sich aber erst
dann, wenn das Kind eingeschult wird, wenn das Kind
um 11 Uhr oder halb zwölf nach Hause kommt. Da haben wir noch Baustellen, an denen wir arbeiten müssen.
Ich sage Ihnen: Das sind die Probleme, die ich habe und
die meine Freundinnen haben. Deshalb ist die Übertragung so wichtig.
Leider, leider trennen sich immer mehr Eltern. Das
geht an den Kindern nicht spurlos vorüber, sondern sie
leiden. Genau in dieser Phase braucht das Kind Zeit und
Aufmerksamkeit. Es muss das Gefühl haben, dass jemand da ist, und nicht das Gefühl, dass die Mama jetzt
von halbtags auf ganztags aufstockt und keine Zeit mehr
für ihr Kind hat. Umso wichtiger ist es, hier Flexibilität
zu haben.
Zu dem anderen Aspekt, dem Elterngeld Plus. Man
muss sehen: Natürlich fördern wir ganz gezielt die Erwerbstätigkeit von Frauen in einem sehr frühen Stadium.
Wir fördern, dass eine Frau früh wieder arbeiten geht,
also nach der Geburt eines Kindes nicht ein Jahr zu
Hause bleibt, sondern teilschichtig arbeitet, sodass sie
die Anzahl ihrer Elternmonate verdoppeln kann.
Natürlich stimmt der Vorwurf: Ist das nicht eine gewisse Vorgabe? Fördert man damit nicht ein bestimmtes
Lebensmodell? Theoretisch, in den Köpfen, stimmt das,
rechnerisch nicht: Vorher war es nämlich so, dass die
Frauen, die frühzeitig wieder angefangen haben, zu arbeiten, weniger Geld bekommen haben. Insofern stellen
wir finanziell eher eine Gleichberechtigung her.
({1})
Die gezielte Förderung eines bestimmten Familienmodells betreiben wir zugegebenermaßen beim Partnerschaftsbonus. Dies ist ein Lockmittel, das bewirken soll,
dass beide Eltern gemeinsam zurückstecken zugunsten
der Kinder. Auch wenn die Dauer von vier Monaten, in
denen beide Eltern Elternzeit nehmen und gleichzeitig
Teilzeit arbeiten, vielleicht zu wenig ist, um unser Ziel
wirklich dauerhaft zu erreichen, ist es ein entscheidendes
Signal: zum einen für die Väter - es gibt ihnen sehr viel,
wenn sie auch einmal mehr Zeit zu Hause verbringen -,
aber auch für die Mütter, nämlich dass jeder seinen Beitrag leistet und dass niemand allein für alles verantwortlich ist. Sie haben mir, Frau Dr. Reimann, aus dem Herzen gesprochen.
({2})
Wenn 60 Prozent der Eltern wünschen, dass man das
partnerschaftlich regelt, aber faktisch nur 14 Prozent das
leben, dann muss man irgendwie Druck machen. Das,
was wir vorhaben, ist zumindest ein Anfang, auch wenn
es, wie ich zugebe, allein natürlich nicht ausreichend
sein wird.
Hier betreiben wir die gezielte Förderung eines Lebensmodells, nämlich dass beide Partner zurückstecken
und beide Partner sich beteiligen. Man kann mich jetzt
fragen: Wieso verachtest du unser konservatives Familienmodell? Wieso wollt ihr das nicht haben? - Das
stimmt doch nicht. Wir verachten es nicht. Es ist auch
nicht so, dass wir es nicht haben wollen. Wir fördern es
mit einem viel höheren Betrag: mit dem Ehegattensplitting. Wir tun das, weil wir beides haben wollen.
Sosehr ich es unterstütze, wenn Frauen früh wieder
arbeiten, sosehr muss ich es ablehnen, wenn man immer
wieder darüber herzieht. Man muss auch sagen: Gerade
in den Familien, wo einer beruflich mehr zurücksteckt
als der andere und zu Hause bleibt, werden oft mehr
Kinder geboren. Ganz ehrlich: Drei Kinder haben, Karriere machen und auch noch ehrenamtlich engagiert sein,
das führt definitiv in den Burn-out.
({3})
Im Wesentlichen sind wir uns alle einig: Lassen Sie
uns diesen kleinen ersten Schritt angehen. Wir sollten
uns nicht zerstreiten. Nachdem hier von der Vielfalt geredet worden ist, sage ich auch: Akzeptieren Sie, die Opposition, bitte auch die Vielfalt der Lebensmodelle anderer Menschen.
({4})
Es gibt wirklich Frauen, die gerne jahrelang zu Hause
sind - ja, es gibt sie - und denen das wirklich wichtig ist.
Vielen Dank.
({5})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Dr. Fritz Felgentreu, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kollegin Launert, vielen Dank für diese Rede, eine
Rede, die ich gerade aus den Reihen der CSU nicht unbedingt erwartet habe. Ich habe Ihnen gerne zugehört.
Zur Einführung des Elterngeldes, Frau Schön, vor
mittlerweile fast acht Jahren habe ich persönlich ein etwas gespaltenes Verhältnis. Als es damals beschlossen
wurde, war gerade meine jüngste Tochter unterwegs. Als
diese Leistung zum ersten Mal ausgezahlt wurde, war sie
drei Wochen alt. Da haben meine Frau und ich uns ein
bisschen wie zwei Dackel vor der Fleischerei gefühlt:
„Wir müssen leider draußen bleiben!“
Völlig unabhängig von solchen persönlichen Nickeligkeiten war mir schon damals klar, dass das Elterngeld
ein Riesenfortschritt ist. Das Elterngeld hat schon damals deutlich gemacht: Diese Republik geht konsequent
Schritte, um Familie und Beruf miteinander vereinbar zu
machen.
({0})
Damals, vor acht Jahren, ging es noch ein bisschen
mehr um das Thema Armutsrisiko. Man hat vorgerechnet, was Kinder kosten. Die Überlegung war damals natürlich auch, jungen Familien zu ermöglichen, dass sie
ihren Lebensstandard halten und trotzdem Zeit haben,
sich um ein kleines Kind zu kümmern. Es war auch gut
und richtig so, diesen Ansatz zu wählen.
Aber beim Elterngeld Plus geht es jetzt um etwas anderes. Es geht hier um die Möglichkeit, ein erfülltes Familienleben mit einem erfüllten Berufsleben in Einklang
zu bringen, und zwar partnerschaftlich und gleichberechtigt für beide Elternteile. Denn wir wissen doch,
dass viele junge Paare deswegen zögern, eine Familie zu
gründen, weil beide Partner gerade dabei sind, sich beruflich eine Existenz und eine Karriere aufzubauen. Sie
haben die Sorge, dass die Elternschaft sie auf diesem
Wege aus der Bahn werfen könnte. Das ist ja auch leicht
nachvollziehbar. Wer mit Erfolg eine anspruchsvolle
Ausbildung absolviert hat, der will die erworbenen Fähigkeiten danach auch anwenden. Wir dürfen eine hohe
Motivation und den Ehrgeiz, beruflich etwas aufzubauen, nicht mit Egoismus verwechseln. Das ist es nicht.
({1})
Ich finde, es ist die Aufgabe von Politik, diese Motivation zu erhalten, sie zu fördern und den Weg freizumachen, damit Leistungsbereitschaft am Ende auch mit Erfolg belohnt wird. Wenn wir also feststellen, dass junge
Leute das Gefühl haben, sich zwischen Familie und Beruf entscheiden zu müssen, dann ist es unsere Aufgabe,
dafür zu sorgen, dass genau diese Entscheidungssituation sich in Luft auflöst.
({2})
Es darf nicht sein, dass ein Ja zur Familie mit einem
Nein zur Karriere erkauft werden muss.
({3})
Darum geht es.
Ich bin sehr für eine Familienpolitik der drei großen
Ks: Kinder, Kino und Karriere. Wenn wir das unter einen
Hut kriegen, haben wir einen Riesenfortschritt gemacht.
({4})
Natürlich ist das immer noch ein Frauenthema, auch
wenn sich immer mehr Männer - darauf ist heute schon
hingewiesen worden - die Zeit für die Familie wünschen. Aber wir müssen uns einfach einmal die Zahlen
anschauen. Dazu gibt es eine schöne Auswertung: 2012
bezogen 30 Prozent der Väter Elterngeld, aber 96 Prozent der Mütter. 78 Prozent der Väter, die Elterngeld bezogen, bezogen es für zwei Monate, während 88 Prozent
der Mütter es für zwölf Monate bezogen. Das bedeutet:
In der Praxis entschieden sich die Männer mit großer
Mehrheit für den Beruf und die Frauen mit großer Mehrheit für die Familienarbeit. Das kritisieren wir auch gar
nicht. Aber wir leiten unser ergänzendes Modell zur Unterstützung von Familien daraus ab. Mit dem Elterngeld
Plus tun wir jetzt etwas für die Paare, die sich beides,
Beruf und Familienzeit, partnerschaftlich teilen wollen.
Meine Damen und Herren, in der SPD-Fraktion sind
wir überzeugt: Dieses Modell hat Zukunft. Es ist ein
Schritt auf dem richtigen gesellschaftlichen Weg. Das
Elterngeld Plus macht Frauen ökonomisch unabhängiger, weil es ihnen die Berufstätigkeit erleichtert. Es fördert die Gleichstellung von Mann und Frau, weil es für
Frauen und Männer die gleichen Anreize enthält, in Teilzeit zu arbeiten. Frau Launert, Sie hatten eben von einem
„Lockmittel“ gesprochen; Anreiz klingt ein bisschen zurückhaltender. Aber Sie haben natürlich recht.
Auf diese Weise verbindet das Elterngeld Plus den
Vorteil des herkömmlichen Elterngeldes mit einer Antwort auf den Fachkräftemangel in vielen Branchen. Eltern finden Zeit, sich um ihre kleinen Kinder zu kümmern. Das Einkommen der Familien bleibt dennoch
einigermaßen stabil, und die Arbeitskraft der Eltern steht
der Wirtschaft und dem öffentlichen Dienst trotzdem
weiter zur Verfügung.
Das Elterngeld Plus ist ein wichtiger Beitrag des Staates auf dem Weg zu einer Gesellschaft, in der Familie
und Beruf besser miteinander vereinbart werden können.
Wir wissen aber auch, dass es damit nicht getan ist. Deswegen ist heute oft vom ersten Schritt die Rede gewesen.
Der eigentliche Durchbruch auf dem Weg zur Familienarbeitszeit kann erst gelingen, wenn auch die Arbeitswelt sich mit einer vollkommenen Selbstverständlichkeit
darauf eingestellt hat. Bewähren kann sich das Elterngeld Plus ebenso wie der flexible Anspruch auf Elternzeit nur in der praktischen Umsetzung. Deshalb müssen
wir seine Einführung auch damit verbinden - das war
eine Forderung vom Kollegen Weinberg -, den Dialog
mit der Wirtschaft zu führen. Wir brauchen Bündnisse
für Arbeit und Familie, überall in Deutschland, gerade
auch auf der Ebene der Länder und Kommunen. Dabei
- das sage ich ausdrücklich als Sozialdemokrat - muss
die Politik ein offenes Ohr für die Sorgen kleinerer und
mittlerer Betriebe haben,
({5})
die noch nicht wissen, wie sie die Teilzeit von Beschäftigten sinnvoll und wirtschaftlich in ihre Arbeitsabläufe
integrieren können. Da müssen Lösungen her. Das heißt,
wir geben den Anspruch nicht auf, aber es müssen Lösungen her, um den Interessen der Betriebe gerecht zu
werden.
Wir müssen die Ergebnisse der Gesamtevaluation familienpolitischer Leistungen, die uns ja vorliegen, ernst
nehmen und unsere familienpolitischen Zielvorstellungen daran messen.
({6})
Rosinenpickerei geht da nicht. Wir können uns nicht nur
die Dinge heraussuchen, die wir gemacht haben und die
gelobt werden; wir müssen uns eben auch die Dinge anschauen, die kritisiert werden, und Schlussfolgerungen
aus der Kritik ziehen.
Eine Schlussfolgerung ist: Kinder und Familie fördern wir am besten und am gerechtesten mit hervorragenden Kitas und Schulen.
({7})
Diese Erkenntnis hat sich in der Wirtschaft schneller
durchgesetzt als in der Politik, daher ja auch die berechtigte Kritik des Deutschen Industrie- und Handelskammertages am Betreuungsgeld. Aber die ganz dicken
Bretter - damit meine ich die Fehlsteuerungen beim
Ehegattensplitting, in der beitragsfreien Mitversicherung
und in der Ausgestaltung bei Minijobs - werden wir
nicht alle auf einmal aufbohren können. Wir müssen uns
aber damit auseinandersetzen.
({8})
Beim Elterngeld Plus können wir allerdings schon
jetzt darüber reden, wie wir die finanzielle Unterstützung
mit einem Betreuungsangebot verbinden. Was spricht zum
Beispiel dagegen, einmal darüber nachzudenken, dass
wir den Bezug von Elterngeld Plus mit einem Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz kombinieren? Das wäre
eine Maßnahme, die wir mit den Ergebnissen der Evaluation ganz hervorragend begründen könnten.
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns also nicht
auf der Stelle treten, sondern lassen Sie uns die Einführung des Elterngeldes Plus als Startsignal begreifen, das
uns auf dem Weg zur Familienarbeitszeit in eine lebhafte
Debatte und zu mutigen Entscheidung führt. Die Familien in Deutschland werden es uns danken.
({9})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Bettina Hornhues, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Unser Rollenbild der
Familie befindet sich im Wandel. Diese Erkenntnis ist
nicht neu, sollte uns aber bei der Gesetzesberatung immer begleiten. Familienpolitische Maßnahmen und Modelle, die uns noch vor fünf oder zehn Jahren als innovativ und fortschrittlich erschienen, entsprechen heute
nicht zwangsläufig mehr den Wünschen und Lebensplanungen der jungen Eltern. Unsere Aufgabe ist es also,
die notwendigen politischen Rahmenbedingungen zu
schaffen, die nah an der Realität sind.
Was ist unsere Ausgangslage? Die traditionelle Rollenverteilung innerhalb der Familie verliert immer mehr
an Bedeutung. Junge Eltern streben heute nach einer
partnerschaftlichen Aufteilung von Familien- und Erwerbsarbeit. Auf der einen Seite haben wir die jungen
Väter. Für sie ist es heute selbstverständlich, dass Frauen
arbeiten und ihr eigenes Geld verdienen, und zugleich
möchten sie ihre Partnerin auf ihrem beruflichen Weg
unterstützen. Tatsächlich möchten sich diese Väter heute
auch stärker in die Familie einbringen und mehr Zeit mit
ihren Kindern zusammen sein. Laut einer aktuellen Studie hat aber jeder zweite Vater das Gefühl, zu wenig Zeit
für seine Kinder zu haben.
Auf der anderen Seite haben wir die jungen Mütter.
Treten wir hier in die Diskussion um die Vereinbarkeit
von Familie und Beruf ein, zeigt sich bei vielen jungen
Müttern eine Unzufriedenheit mit den vorhandenen Familien- und Arbeitszeitmodellen, nämlich zwischen dem
gewünschten Modell der Arbeitszeit von circa 30 Stunden pro Woche und dem flexiblen Aufteilen von Hausarbeit und Kinderbetreuung mit dem Partner und dem Familienmodell, das tatsächlich gelebt wird. Hier klafft
eine große Lücke, und diese Lücke gilt es zu schließen,
liebe Kolleginnen und Kollegen.
({0})
Tatsächlich ist Familienarbeit in Deutschland zwischen den Eltern immer noch höchst ungleich verteilt.
Weit verbreitet ist nach wie vor das Modell des Vollzeit
erwerbstätigen Vaters und der hinzuverdienenden Mutter. Geht also der Vater Vollzeit arbeiten, bleibt für ihn
wenig Zeit mit der Familie und für viele Aufgaben, die
die Mutter ohne die Unterstützung des Partners zu stemmen hat. Dieses Bild aus der Praxis zeigt, wie sehr der
Wunsch nach der partnerschaftlichen Aufteilung der
Aufgaben in Familie und Beruf mit der Realität kollidiert. So wünschen sich 60 Prozent der Eltern eine partnerschaftliche Teilung der Aufgaben, aber nur in jeder
siebten Familie gelingt dieses auch.
Mit der Einführung des Elterngeldes Plus mit dem
Partnerschaftsbonus wird dem Elternwunsch nach mehr
Partnerschaftlichkeit auch durch das Setzen eines politischen Rahmens Rechnung getragen.
({1})
Politische Rahmenbedingungen sind das eine, aber
wir müssen auch die Arbeitgeber von den kleinen Betrieben bis hin zu den großen Unternehmen einschließlich
des öffentlichen Dienstes mit ins Boot holen. Meiner
persönlichen Überzeugung nach steht und fällt mit diesen Beteiligten das ganze Bemühen, den gesetzten Rahmen mit Inhalt und damit mit Leben zu füllen. Stichworte wie der demografische Wandel oder der drohende
Fachkräftemangel sind für die Arbeitgeber nicht neu,
aber starke Argumente für eine bessere Vereinbarkeit
und ein Angebot an flexibleren Arbeitszeitmodellen, um
auch das weibliche, immer besser werdende und hochqualifizierte Arbeitskräftepotenzial voll auszuschöpfen.
({2})
Dies bringt nicht nur Vorteile für unsere Volkswirtschaft
mit sich, sondern - noch wichtiger - stärkt das Selbstwertgefühl der Frauen.
Mütter kehren nach der Geburt eines Kindes überwiegend nach 19 Monaten in das Arbeitsleben zurück, einige noch später. Aber über die Hälfte von ihnen würde
gerne früher wieder arbeiten. Diesen Wunsch wollen wir
politisch besser unterstützen. Das bietet nicht nur Entscheidungsfreiheit und volle Flexibilität für die Familie,
sondern auch Gewinne für die Wirtschaft. Diese Vorteile
für die Wirtschaft und Arbeitgeber müssen wir weiter
herausstellen und für erfolgreiche Wiedereinstiegsstrategien werben.
({3})
Arbeitgeber profitieren von motivierten Arbeitskräften, ihrem Wissen und geringeren Einarbeitungskosten.
Die Beschäftigten wiederum profitieren davon, dass ihBettina Hornhues
nen die Chance auf Karriere und Teilhabe an allgemeinen Einkommensentwicklungen nicht verwehrt bleibt.
Betriebliche Unterstützungsmaßnahmen für den Wiedereinstieg sind daher ebenso wichtig wie die politischen
Rahmenbedingungen.
Viele Unternehmen zeigen bereits jetzt, dass dies
funktionieren kann. Erst kürzlich habe ich in einem benachbarten Wahlkreis zusammen mit Kollegen ein Unternehmen besucht, welches in nur fünf Monaten einen
Betriebskindergarten für die Mitarbeiter eingerichtet hat
und somit flexible Arbeitszeitmodelle unterstützt. Nur
fünf Monate von der Idee bis zur Inbetriebnahme! Ich
war beeindruckt von diesem Engagement und dem Zusammenspiel von Wirtschaft und Kommune.
Wenden wir uns nun wieder den Vätern zu. Durch das
neue Elterngeld Plus soll den Vätern noch mehr Zeit mit
ihren Kindern ermöglicht werden, wenn denn die Unternehmen mitspielen. Es gibt Unternehmen, die mit vorbildlichem Beispiel vorangehen und beispielsweise Familienzeiten als Karrierepunkt anrechnen oder mit
Maßnahmen wie familienfreundlichen Zeiten für Besprechungen oder dem Arbeiten von zu Hause aus den
Mitarbeitern entgegenkommen.
Leider müssen in vielen Unternehmen die Männer
noch regelrecht darum kämpfen, ihr Recht auf Elternzeit
umsetzen zu können. Ich meine daher: Arbeitnehmer
dürfen keine Bittsteller bei ihren Arbeitgebern sein,
wenn sie ihre Elternzeit aktiv nutzen wollen. Ich sehe es
demzufolge als unsere Aufgabe an, in den zahlreichen
Gesprächen, die wir als Abgeordnete mit den Unternehmen im Wahlkreis führen, für mehr Verständnis zu werben, damit wir den jungen Vätern und Müttern mehr Zeit
mit ihren Familien ermöglichen können, ohne dass sie
Nachteile im Arbeitsleben in Kauf nehmen müssen. Das
ist nicht nur eine politische oder wirtschaftliche, sondern
eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Wenn ich für eine verbesserte Vereinbarkeit von Familie und Beruf werbe, dann habe ich zudem einen ganz
besonderen Arbeitgeber im Sinn: die Bundeswehr, von
der wir als Parlament immer öfter immer neue und weitere Aufgaben abfordern. Mir ist natürlich bewusst, dass
manche familienpolitischen Maßnahmen, eben auch das
neue Elterngeld Plus, nicht alle Berufsgruppen in gleichem Umfang profitieren lassen. Nicht nur als Berichterstatterin der Vereinbarkeit von Familie und Dienst in der
Bundeswehr, sondern auch aus eigener Erfahrung weiß
ich, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf Soldatenfamilien vor besondere Herausforderungen stellt.
Nehmen wir als Beispiel einmal die Eltern, die während des Elterngeldbezuges Teilzeit arbeiten wollen. Das
neue Elterngeld Plus schafft hierfür Regelungen. Allerdings wird es für viele Soldatinnen und Soldaten nicht
immer möglich sein, von diesen Neuerungen zu profitieren, da es in ihrer aktuellen Verwendung während einer
Übung oder im Auslandseinsatz gar nicht möglich ist,
Arbeitszeit zu reduzieren oder flexibel nach persönlichen Wünschen anzupassen.
Nach wie vor gibt es bislang nur wenige Möglichkeiten, bei der Bundeswehr seinen Dienst in Teilzeit zu leisten. Hier brauchen wir nicht nur kreative Ideen, sondern
- wie auch in den Unternehmen - ein stärkeres Umdenken bei den militärischen und zivilen Führungskräften
der Bundeswehr, damit dies noch mehr Soldatinnen und
Soldaten ermöglicht werden kann. Ich begrüße daher
den Vorstoß von Frau von der Leyen, mehr Möglichkeiten für Teilzeitarbeit bei der Bundeswehr schaffen zu
wollen, um auch Soldatinnen und Soldaten von familienpolitischen Maßnahmen voll profitieren zu lassen.
Ich möchte festhalten: Das Elterngeld ist zu einem Erfolgsmodell geworden. Ich gehe davon aus und bin fest
davon überzeugt, dass das Elterngeld Plus es auch wird.
In einer Sache sind wir uns wohl parteiübergreifend alle
einig: Zeit mit unseren Kindern ist wertvoll und kommt
nicht zurück.
Vielen Dank.
({4})
Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich dem
Abgeordneten Eckhard Pols, CDU/CSU-Fraktion, das
Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine lieben Damen und Herren! Auch ich,
lieber Marcus, möchte mit einem Zitat aus der Presse beginnen. Anfang der Woche veröffentlichte unsere Lüneburger Landeszeitung einen Beitrag zum Elterngeld Plus
mit dem Titel: „Wohnt der Papa im Büro?“ Dass die Kinder diese Frage stellen, fürchtet wohl jeder Familienvater. Es geht dabei um eine Fragestellung, die aktueller
nicht sein könnte, um den Spagat von Vätern zwischen
Beruf und Familie. Auch Väter - das haben wir heute
schon gehört - möchten Zeit mit ihren Kindern verbringen und sich an der Erziehung ihrer Kinder beteiligen.
Sie wollen eben nicht nur die Rolle des Familienernährers einnehmen.
Unbestritten ist, dass die herkömmliche Rollenverteilung, bei der sich die Frau um das Kind kümmert und der
Mann den Lebensunterhalt sichert, der Realität vieler
Familien nicht mehr gerecht wird. Einerseits wollen
viele Mütter nach der Geburt ihres Kindes zeitnah in den
Job zurückkehren. Das liegt vor allem angesichts des spürbaren Fachkräftemangels auch im Interesse der Wirtschaft.
Andererseits wollen die Väter mehr Zeit zu Hause verbringen.
Die größte Befürchtung vieler Väter ist immer noch,
dass es zu einem Karriereknick kommt, wenn sie länger
als zwei Monate aus dem Beruf aussteigen. Das soll und
wird sich mit dem neuen Elterngeld Plus ändern. Wir
schaffen Anreize dafür, dass sich mehr Väter für eine Elternzeit entscheiden, und zwar, ohne dafür im Hinblick
auf ein weiteres berufliches Vorankommen bestraft zu
werden.
({0})
Unter dem Motto „Mehr Zeit für Familie, mehr Zeit
für Kinder, mehr Flexibilität“ hat die Familienministerin
das bisherige Elterngeld nun zu einem Elterngeld Plus
weiterentwickelt. Nach der jetzigen Elterngeldregelung
ist es unattraktiv, während der Elternzeit zu arbeiten, da
das Teilzeiteinkommen vom Elterngeld abgezogen wird
und jeder in Teilzeit gearbeitete Monat voll auf die Bezugsdauer des Elterngeldes angerechnet wird. Das neue
Elterngeld Plus macht Teilzeitarbeit attraktiver. Dies eröffnet neue Spielräume für Eltern, die Aufgabenteilung
in Familie und Beruf partnerschaftlich zu organisieren.
Berufliche Auszeiten können begrenzt werden, Mütter
schneller ins Berufsleben zurückkehren, und der Erwerbsanteil der Frauen wird weiter steigen. Zur genauen
Ausgestaltung haben wir hier heute schon vieles gehört.
Deswegen möchte ich nicht näher darauf eingehen.
Nun hat eine Medaille bekanntlich zwei Seiten. Ich
freue mich, dass die Kollegen Weinberg und Felgentreu
hier wenigstens am Rande kurz die Aspekte der Wirtschaft erwähnt haben. Dass es den Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern und ihren Familien, sprich: ihren
Kindern, in unserem Land besser gehen soll, ist wichtig
und richtig. Aber Familien gibt es auch auf der anderen
Seite, auf der Unternehmerseite. Bitte wundern Sie sich
jetzt nicht, wenn ich als Mittelständler einiges kritisch
anmerke, und zwar aus der Sicht eines selbstständigen
Handwerksmeisters, der selbst eine Familie mit fünf
Kindern hat.
Unsere Wirtschaft besteht nicht nur aus den Großbetrieben, die immer gerne zitiert und als Beispiele herangezogen werden, wie Bosch, Siemens oder VW. Der
überwiegende Teil unserer Unternehmen in Deutschland,
circa 90 Prozent, sind kleine und mittlere Unternehmen.
Ich spreche hier also über viele Betriebe, insbesondere
im Handwerk, über 580 000 Betriebe mit gut 5 Millionen Beschäftigten. In der Praxis dürfte es schwierig werden, für die Beschäftigten qualifiziertes Ersatzpersonal
für kurze Zeiträume zu bekommen. Das sage ich Ihnen
als Praktiker, der das jeden Tag erlebt. Eine Einarbeitung
von Ersatzkräften ist oft nicht machbar, erstens aus fachlichen Gründen, zweitens, weil entsprechende Kräfte gar
nicht auf dem Arbeitsmarkt vorhanden sind. Das kann
bedeuten, dass in der Zeit die übrigen Arbeitnehmer des
Betriebes und natürlich auch der Meister bzw. die Meisterin, gegebenenfalls sogar die Familienangehörigen die
Zusatzarbeit mit erledigen müssen. Hier können Betriebe schnell an ihre Belastungsgrenze stoßen.
Wichtig bleibt, dass der Rechtsanspruch auf Teilzeit,
wie vorgesehen, erst ab einer Schwelle von 15 Arbeitnehmern gilt. Ich meine aber, die Schwelle sollte besser
bei 20 Arbeitnehmern liegen und es sollten keine betrieblichen Gründe entgegenstehen dürfen. Auch sollten
auf freiwilliger Basis mehr auf die individuelle Situation
abgestimmte, passgenaue Teilzeitmodelle zwischen Eltern
und Unternehmen vereinbart werden. Aus diesem Grunde
ist die vorgesehene Aufteilung der Elternzeit - hoffentlich wird sich das noch ändern - auf drei Zeitabschnitte
statt bisher auf zwei Zeitabschnitte, und das ohne Zustimmung des Arbeitgebers, noch einmal zu überdenken,
auch wenn die Ankündigungsfrist von 7 auf 13 Wochen
erhöht wird.
Der vorgesehene Ausbau der Flexibilisierung, der den
Wünschen junger Familien entspricht und positiv zu sehen ist, bedeutet gerade für die kleinen Betriebe im
Handwerk einen tiefgreifenden Eingriff in die Personalplanungshoheit; denn gerade das Handwerk muss flexibel auf oft stark schwankende Auftragslagen reagieren.
Im Handwerk ist familienfreundliche Personalpolitik
schon heute selbstverständlich. Nicht umsonst hat der
ZDH, der Zentralverband des Deutschen Handwerks, im
Februar 2011 gemeinsam mit anderen Wirtschaftsverbänden und der Bundesregierung die Charta für familienbewusste Arbeitszeiten mitunterzeichnet. Fast alle
Handwerksbetriebe, 86 Prozent, bieten ihren Mitarbeitern
zumindest ein familienfreundliches Arbeitszeitmodell an.
In unserem Betrieb ist das übrigens auch so. Untersuchungen belegen darüber hinaus, dass jüngere Betriebsinhaber den Eltern in ihrer Belegschaft signifikant häufiger Unterstützungsleistungen zukommen lassen.
Bei den vielen Maßnahmen zur Realisierung des Ziels
„Mehr Zeit für Familie, mehr Zeit für Kinder, größere
Flexibilität“ sind insbesondere kleine und mittlere Betriebe - und das nicht nur im Handwerk; das kann auch
in der Landwirtschaft sein, liebe Kollegin Pahlmann,
aber auch im kaufmännischen Bereich - auf Unterstützung und Förderung angewiesen.
({1})
Für das Handwerk kann ich sagen: Wir sind eigentlich
viel weiter, als viele in der Politik denken. Wir müssen
nicht alles gesetzlich regeln. Lassen wir den Mittelstand
arbeiten! Wir wissen, was wir an unseren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern haben; denn sie sind unser
größtes Kapital.
Alles in allem haben wir als Koalition mit dem Elterngeld Plus einen guten und richtigen Weg eingeschlagen, der partnerschaftliche Betreuung des Kindes und
gleichzeitige Erwerbstätigkeit miteinander verbindet.
Unter moderner Familienpolitik verstehen wir, sich den
veränderten gesellschaftlichen Bedingungen anzupassen. Wie wichtig uns dieses Anliegen ist, spiegelt sich
auch im aktuellen Bundeshaushalt für 2015 wider. Der
weitaus größte Anteil im Etat des Familienministeriums,
nämlich 5,4 Milliarden Euro, entfällt allein auf das Elterngeld. Aber wir wissen schon heute, Frau Ministerin,
dass das im Etat 2016 nicht ausreichen wird. Wir werden
über diese 5,4 Milliarden Euro hinausgehen müssen.
Herr Präsident, gestatten Sie mir zum Schluss noch
ein persönliches Wort. Ich habe zu Beginn davon gesprochen, dass ich fünf Kinder habe. Ich muss mit meiner
Frau besprechen, ob noch ein sechstes folgen soll.
({2})
Meine Frau hat die geschäftsführende Position in unserem Betrieb eingenommen. Wir könnten ausprobieren,
wie sich das Elterngeld Plus auf die Selbstständigkeit
auswirkt, wenn meine Frau in Elternzeit geht und ich die
Partnermonate nehme. Ich bin gespannt, Herr Präsident,
was die Bundestagsverwaltung dazu sagt.
Vielen Dank.
({3})
Das war ein origineller Moment in der Parlamentsgeschichte. Noch nie hat ein Kollege seine Familienplanung vor dem Plenum erörtert.
({0})
Die Verwaltung wird die von Ihnen gestellte Frage prü-
fen.
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/2583 sowie die Unterrichtung
durch die Bundesregierung auf Drucksache 18/2625 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das
ist nicht der Fall. Es gibt auch keinen Widerspruch.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur weiteren Entlastung von Ländern und Kommunen
ab 2015 und zum quantitativen und qualitativen Ausbau der Kindertagesbetreuung
Drucksache 18/2586
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsauschuss ({1})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Diana
Golze, Matthias W. Birkwald, Nicole Gohlke,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Ausbau und Qualität in der Kinderbetreuung
vorantreiben
Drucksache 18/2605
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({2})
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsauschuss
Nach interfraktioneller Vereinbarung sind für die
Aussprache 96 Minuten vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile für die Bundesregierung das Wort dem Bundesminister Dr. Wolfgang
Schäuble.
({3})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, dass der
Bund im Vorgriff auf künftige Maßnahmen in den Jahren
2015 bis 2017 die Kommunen jeweils um 1 Milliarde
Euro entlastet. Diese Zusage lösen wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ein. Wir entlasten die Kommunen, indem wir den Anteil der Gemeinden an der Umsatzsteuer und die Beteiligung des Bundes an den Kosten
der Unterkunft und Heizung in den Jahren 2015 bis 2017
um jeweils 500 Millionen Euro erhöhen. Wir haben damit einen ausgewogenen Verteilungsmechanismus gewählt, der dafür sorgt, dass die Entlastung auch tatsächlich bei den Kommunen ankommt. Von der Übernahme
der Kosten der Unterkunft profitieren besonders die
Kommunen, die hohe Sozialausgaben haben.
Zusätzlich unterstützen wir in dieser Legislaturperiode Länder und Kommunen bei der Finanzierung von
Kinderkrippen, Kindertagesstätten, Schulen und Hochschulen mit insgesamt 6 Milliarden Euro zusätzlich. Einen wichtigen Teil dieser Unterstützung haben wir mit
der Novellierung des BAföG bereits beschlossen. Dabei
geht es insbesondere um die vollständige Übernahme
des Finanzierungsanteils der Länder durch den Bund.
Allein das entlastet die Länder bis 2017 um 3,5 Milliarden Euro.
({0})
Wir haben uns im Mai mit den Ländern darauf verständigt, das Sondervermögen „Kinderbetreuungsausbau“ in den Jahren 2016 bis 2018 um weitere 550 Millionen Euro aufzustocken. Damit wird die Unterstützung
für Länder und Gemeinden beim Ausbau der Kinderbetreuung für unter Dreijährige, die sich bis Ende 2014 auf
5,4 Milliarden Euro beläuft, weiter erhöht. Bis 2018
stellt der Bund für Investitionen in den Ausbau der Kinderbetreuung 3,28 Milliarden Euro zur Verfügung. Ich
nenne die Zahlen im Detail, weil es ganz wichtig ist,
dass man sie überall einmal zur Kenntnis nimmt.
({1})
Darüber hinaus erhöht der Bund noch einmal seine
Beteiligung an den Betriebskosten der Kinderbetreuung - neben den Investitionskosten. Der jährliche Betriebskostenzuschuss in Höhe von 845 Millionen Euro
wird in den Jahren 2017 und 2018 noch einmal um jeweils 100 Millionen Euro gesteigert. Hierfür wird der
Länderanteil an der Umsatzsteuer entsprechend angehoben. Damit unterstützt der Bund die Länder beim
Ausbau der Kinderbetreuung nachhaltig. So können
weitere 30 000 Kinderbetreuungsplätze geschaffen werden, die zu den bereits zugesagten 780 000 Kinderbetreuungsplätzen hinzukommen. Das ist ein wichtiger Beitrag zur Lösung dieser für unser Land gesellschaftlich wie
auch volkswirtschaftlich bedeutenden Aufgabe.
({2})
Das trägt zu einer bedarfsgerechten und qualitativ guten Kinderbetreuung und -förderung bei. Länder und
Kommunen sollten die bereitgestellten Mittel entsprechend einsetzen und damit ihren Beitrag leisten. Im Übrigen ist ausdrücklich zugesagt - daran will ich erin5090
nern -, dass die Mittel, die durch die Übernahme des
BAföG-Finanzierungsanteils der Länder durch den Bund
auf Länderseite frei werden, von den Ländern vor allem
für Hochschulen zur Verfügung gestellt werden. Das
muss man immer wieder in Erinnerung rufen.
({3})
Länder und Kommunen verfügen dank der Unterstützung durch den Bund über die Möglichkeit, neue
Kinderbetreuungsplätze zu schaffen, hochwertige Ausstattungsinvestitionen vorzunehmen und für eine verbesserte Betreuung, etwa auch hinsichtlich der Sprachförderung, zu sorgen. Die Regeln zur Verwendung dieser
Mittel für Investitionen - nicht nur in Bauten, sondern
auch in Ausstattungen - haben sich bewährt. Deswegen
werden sie auch in diesem Gesetzentwurf beibehalten.
Das zeigt wieder: Die Bundesregierung ist für Länder
und Kommunen ein verlässlicher Partner. Länder und
Kommunen werden durch dieses Gesetz bis 2018 um
3,75 Milliarden Euro entlastet. Bereits in der letzten Legislaturperiode hat der Bund die Länder und Kommunen
massiv unterstützt, vor allem durch die vollständige
Übernahme der Kosten der Grundsicherung im Alter und
bei Erwerbsminderung.
({4})
Allein durch diese Maßnahme werden die Länder und
Kommunen im Zeitraum 2012 bis 2017 um rund 25 Milliarden Euro entlastet.
All dies stärkt die Handlungsfähigkeit von Ländern
und Kommunen. Wir erwarten, dass sie ihre gestärkte
Investitionskraft nutzen. Im vergangenen Jahr hat das
übrigens gewirkt: Die Kommunen haben ihre Investitionen um 8,4 Prozent erhöht. Wir gehen davon aus, dass
die Kommunen aufgrund dieser Maßnahme ihre Investitionen weiter steigern. Es ist wichtig, dass alle staatlichen Ebenen, nicht nur der Bund, sondern auch Länder
und Kommunen, sich in der Pflicht sehen, entsprechend
ihrer jeweiligen Aufgaben verstärkt zukunftsorientierte
öffentliche Investitionen in Deutschland zu tätigen. Wir
werden auch in diesen Tagen, Wochen und Monaten in
den laufenden komplizierten Gesprächen mit den Ländern über die Grundfragen der Bund-Länder-Finanzbeziehungen für die Zeit nach dem Auslaufen des Solidarpakts II Ende 2019 immer wieder stark dafür eintreten;
denn die eigentliche gesamtwirtschaftliche Herausforderung ist, dass wir mehr Investitionen erzielen. Darüber
haben wir ausführlich gesprochen.
({5})
Ich will auch darauf aufmerksam machen, dass unsere
Politik, Länder und Kommunen zu unterstützen, Früchte
trägt. Die kommunale Ebene weist in den letzten zwei
Jahren in ihrer Gesamtheit - natürlich sind Durchschnittszahlen im Einzelfall immer nur begrenzt hilfreich - Überschüsse auf. Die Länder verfügten im letzten Jahr über Einnahmen, die rund 20 Milliarden Euro
höher waren als die des Bundes. Die Länder haben insgesamt fast ausgeglichene Haushalte erzielt. Im Vergleich zu den Finanzkennzahlen von Ländern und Kommunen zeigen die Finanzkennzahlen des Bundes eine
starke Schieflage zu seinen Lasten. Der Bund wird erst
im nächsten Jahr, wenn alles gut geht, einen ausgeglichenen Haushalt erreichen können. Ich kann - das
möchte ich freundlich, aber klar sagen - übrigens nicht
erkennen, dass das etwas mit Fetischismus zu tun hat.
Die Verpflichtung dazu steht im Grundgesetz. Ich kann
nicht erkennen, warum die grundgesetzlichen Regelungen als Fetischismus bezeichnet werden sollten.
Unser Schuldenstand und unsere Zinslast sind im Verhältnis zum Haushaltsvolumen wie auch zu den Steuereinnahmen doppelt so hoch wie die der Länder. Auch
das muss man in diesen Verhandlungen und bei den öffentlichen Erklärungen immer wieder sagen. Der Bund
muss handlungsfähig bleiben. Auch er braucht eine angemessene Finanzausstattung.
Ich finde auch, dass wir alle aufmerksam zur Kenntnis nehmen sollten, was die Bundesbank in ihrem aktuellen Monatsbericht vorgeschlagen hat. Sie hat dafür plädiert, den Ländern mehr Eigenverantwortung zu geben,
indem die Länder durch Steuerzu- und -abschläge eine
begrenzte Steuerautonomie, etwa bei der Einkommenund Körperschaftsteuer, bekommen könnten. Ich weiß,
dass es Argumente dafür und dagegen gibt; aber ich
glaube, die Bundesbank hat zu Recht darauf hingewiesen, dass natürlich mehr Eigenverantwortung auch mehr
Anreize für stärkere Wirtschaftlichkeit der Staatstätigkeit insgesamt liefert. Man sollte das nicht von vornherein aus der Diskussion und aus den Überlegungen ausschließen.
({6})
Ich würde mit Blick auf die Rolle der Länder für die
Kommunen gerne ergänzen, dass es natürlich nicht ausreicht, wenn sich nur der Bund gegenüber den Kommunen als verlässlicher Partner verhält.
({7})
Denn trotz der großen Unterstützung, die der Bund den
Ländern und Kommunen gewährt und die ja von den
kommunalen Spitzenverbänden durchaus anerkannt
wird, und trotz der erfreulichen Gesamtsituation aller
Kommunen insgesamt ist natürlich in vielen einzelnen
Städten und Gemeinden die finanzielle Lage weiterhin
schwierig. Aber nach dem Grundgesetz ist der Ausgleich
zwischen den Gemeinden ausschließlich Aufgabe der
Länder. Der Bund hat keine Möglichkeit, direkt auf die
kommunale Ebene Einfluss zu nehmen. Wir können es
nur über die Länder machen.
({8})
Die starken Unterschiede in der finanziellen Lage der
Kommunen zeigen sich vor allem in der Nutzung des Instruments der Kassenkredite. Wenn man da ein bisschen
genauer hinschaut, kann man sehr präzise erkennen, dass
es sich nicht um ein flächendeckendes Problem handelt,
sondern um ein Problem, das nur in einzelnen Ländern
besteht und regional konzentriert ist. Die betroffenen
Länder haben das Problem erkannt. Die Mehrzahl hat inBundesminister Dr. Wolfgang Schäuble
zwischen kommunale Entschuldungs- und Konsolidierungsprogramme begonnen. Die ersten Erfolge stellen
sich ein. Damit kommen die Länder ihrer verfassungsmäßigen Verantwortung für eine angemessene Finanzausstattung aller Kommunen nach. Das ist wichtig; denn
die Kommunen sind ja die Basis einer freiheitlichen, stabilen und lebendigen Demokratie. Nach unserer föderalen Ordnung ist und bleibt sinnvoll: Die kommunalen
Angelegenheiten sollten in erster Linie vor Ort entschieden werden.
({9})
Aber dazu brauchen wir eine dauerhafte Lösung für
einzelne hochverschuldete Kommunen. Die kommunalen Entschuldungs- und Konsolidierungsprogramme
müssen Schuldenabbau und Haushaltsausgleich umfassen. Wir brauchen auch eine strengere Überwachung der
mit den Programmen verbundenen Konsolidierungsauflagen. Da ist die Kommunalaufsicht gefordert. Sie sollte
nicht erst dann eingreifen, wenn die finanzielle Schieflage der Kommune bereits eingetreten ist, sondern frühzeitig, wenn sie sich abzuzeichnen beginnt.
Ein lebendiger Föderalismus lebt durch seine Kommunen. Wenn wir in Deutschland starke Kommunen haben wollen, brauchen sie eigene Gestaltungsmöglichkeiten bei ihren Einnahmen und Ausgaben. Sie sollten über
die Wahrnehmung ihrer kommunalen Aufgaben möglichst weitgehend selbst entscheiden können, ohne dass
von oben alles vorgegeben und geregelt wird. Für die
finanziellen Auswirkungen ihrer Entscheidungen müssen sie aber natürlich auch Verantwortung übernehmen;
denn sonst gibt es Fehlanreize. Deswegen sollten Aufgaben, die regionale Bezüge haben, nach unserer Auffassung stärker vor Ort entschieden und finanziert werden.
Umgekehrt soll auf Bundesebene in erster Linie das entschieden und finanziert werden, was man zentral regeln
muss.
Die geltende Ordnung unserer Bund-Länder-Finanzbeziehungen folgt diesem Prinzip leider nicht immer.
Aufgaben- und Finanzierungsverantwortung wurden und
werden im föderalen Streit häufig vermischt und vermengt. Für den Bürger ist das kaum noch überschaubar,
und für eine sparsame Mittelverwendung ist das eine
nicht optimale Ordnung.
({10})
Deswegen wollen wir klarere Verantwortlichkeiten im
Bundesstaat. Dass wir selber mit gutem Beispiel vorangehen wollen, haben wir mit dem Gesetzentwurf zur
Übernahme des BAföG durch den Bund gezeigt. Das ist
ein deutlicher Schritt auf die Länder zu. Ich erhoffe mir
von den anstehenden Bund-Länder-Verhandlungen, dass
sich die Länderseite nun auch im Sinne gesamtstaatlicher Verantwortung bewegt.
({11})
Wir brauchen in Deutschland eine bessere, zweckmäßigere und effizientere Zuordnung von Aufgaben im föderalen Staatswesen, auch und gerade zur Stärkung der
kommunalen Ebene. Nur wenn wir die kommunale Eigenverantwortung stärken, werden die Kommunen als
bedeutende Ebene unseres Gemeinwesens für Bürgerinnen und Bürger wie für Unternehmen und Investoren
auch in Zukunft attraktiv, lebendig und lebenswert bleiben.
Die Verbindung solider Finanzen und kluger Investitionen ist Zukunftsvorsorge im besten Sinn. Die Kommunen leisten wichtige Beiträge zur dauerhaften Sicherung von Wachstum und Beschäftigung und damit
Wohlstand in unserem Land. Der Bund ist und bleibt den
Kommunen ein verlässlicher Partner. Wir haben das in
den letzten Jahren bewiesen, und das soll auch in Zukunft so sein. Dieser Gesetzentwurf dient diesem Ziel.
({12})
Als nächster Rednerin erteile ich der Abgeordneten
Diana Golze, Fraktion Die Linke, das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrter Herr Schäuble! Sehr geehrte
Frau Ministerin Schwesig! Der Gesetzentwurf, der uns
heute vorliegt, trägt den wunderbaren Titel „Gesetz zur
weiteren Entlastung von Ländern und Kommunen ab
2015 und zum quantitativen und qualitativen Ausbau der
Kindertagesbetreuung“. Ja, zum quantitativen Ausbau
trägt Ihr Gesetzentwurf sicherlich bei; denn Sie regeln
detailliert die Aufteilung der neuen 550 Millionen Euro
für die Aufstockung des Sondervermögens. Das ist sicherlich notwendige Verwaltungstechnokratie. Steht in
dem Gesetzentwurf aber auch etwas zur Qualität?
Lassen Sie uns doch einmal gemeinsam überlegen,
was wir unter Qualität in Kitas verstehen. Sie haben dafür doch bestimmt auch Vorschläge? - Wenn die Kollegen der Union nicht gerade miteinander reden würden,
würde ihnen vielleicht etwas einfallen. - Mir fällt zu diesem Thema zum Beispiel der Betreuungsschlüssel ein.
({0})
- Genau. - Die Ausbildung der Erzieherinnen und Erzieher hat sicherlich auch etwas mit Qualität zu tun, und
vielleicht sogar deren Entlohnung.
({1})
Wie wäre es mit Freistellungszeiten für das Leitungspersonal, Zeit für Vor- und Nachbereitung und Qualifizierungsmaßnahmen? Das alles hat etwas mit Qualität zu
tun, würde ich sagen.
({2})
Schauen wir nun aber einmal gemeinsam in den Gesetzentwurf.
({3})
Wenn ich so viel Redezeit hätte wie die Rednerinnen und
Redner der Koalition, könnten wir jetzt eine Lesepause
einlegen; ich habe aber nur sechs Minuten.
({4})
Deshalb nehme ich das an dieser Stelle einmal vorweg
und zitiere aus Artikel 4 Kapitel 3 § 12, „Zweck der
Finanzhilfen“. Da steht: Förderfähig „sind Neubau-, Ausbau-, Umbau-, Sanierungs-, Renovierungs- und Ausstattungsinvestitionen“. Weiter steht dort:
Gefördert werden Investitionen, die der Schaffung
oder Ausstattung zusätzlicher Betreuungsplätze
dienen …
Von Qualität steht in diesem Gesetzentwurf nichts. Er
wird seinem eigenen Anspruch nicht gerecht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, viele Ihrer Vorbehalte gegenüber der frühkindlichen Betreuung
bzw. Erziehung in Kitas, die Sie in den letzten Jahren
hier vorgetragen haben, haben doch etwas mit der ganz
konkreten Situation in Kitas zu tun, damit, wie Kita im
Moment funktioniert. Vor diesem Hintergrund frage ich
mich aber: Warum verweigern Sie sich dann der Diskussion über gute Kitas, über gute Qualität? Ich weiß, dass
das in den Koalitionsverhandlungen eine Rolle gespielt
hat. Es war eine Forderung der SPD, ein Kitaqualitätsgesetz zu schaffen. Es kommt nicht, weil Sie Widerstand
geleistet haben. Das, liebe Damen und Herren von der
Union, kann ich nicht verstehen. Warum verweigern Sie
sich einer Diskussion, die außerhalb dieser Mauern
schon seit langem geführt wird?
({5})
Viele Verbände sitzen seit über einem Jahr zusammen
und machen sich konkret Gedanken, wie eine qualitativ
bessere Ausgestaltung aussehen könnte. Dafür hat sich
ein breites Bündnis gefunden. Die Arbeiterwohlfahrt ist
dabei, die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft
und auch der Verband Katholischer Tageseinrichtungen
für Kinder; sie alle sind sich einig. Viele Expertinnen
und Experten sind angehört worden. Sie versuchen gemeinsam, Handlungsempfehlungen zu geben, und ich
bin sehr gespannt auf die Ergebnisse dieser Debatte. Ich
kann Ihnen nur empfehlen, diese Ergebnisse dann auch
aufzugreifen und ernst zu nehmen.
({6})
Der Handlungsbedarf in Bezug auf ein Kitaqualitätsgesetz ist groß. Genau deshalb fordern wir in dem Antrag, den wir heute vorgelegt haben, eine Sachverständigenkommission. Die Erfahrungen aus der Praxis, das
Know-how der Wissenschaft und die Expertise der Akteure vor Ort müssen zusammengeführt werden. Es muss
ein gemeinsamer Handlungsvorschlag entwickelt werden. Wir sollten uns nicht mit Kleinigkeiten beschäftigen
und am Ende vielleicht noch ein paar zusätzliche Kitaplätze schaffen. Das dürfen wir zwar nicht vergessen;
aber wir brauchen den großen Wurf. Was meine ich damit? Gesetzlich verbriefte Mindeststandards.
({7})
Diese liegen nach wie vor nicht vor. Wir brauchen aber
grundlegende Kriterien für die Qualität in Kitas. Deren
Formulierung steht natürlich zunächst einmal demjenigen an, der den Rechtsanspruch auf Kitabetreuung in das
SGB VIII geschrieben hat, und das ist der Bund. Wir
brauchen aber nicht nur einen Rechtsanspruch auf einen
Platz, sondern auch einen Rechtsanspruch auf die Ausgestaltung dieses Platzes, auf die Qualität dessen, was
wir da mit viel Geld ins Leben gerufen haben.
({8})
Ich frage Sie: Wie soll in strukturschwachen Regionen ein erhöhter Anteil an den Umsatzsteuereinnahmen
so viel Geld einbringen, dass es neben all den anderen
Verpflichtungen für mehr Plätze und mehr Qualität
reicht? Wie soll eine Kommune wie zum Beispiel die,
aus der ich komme - ich weiß genau, wovon ich rede;
ich bin auch Stadtverordnete -, die sich von einem Haushaltssicherungskonzept zum nächsten hangelt, zusätzliche Erzieherinnen einstellen, wenn sie gezwungen ist,
jeden Cent, der übrig bleibt, in die Tilgung der Schulden
zu stecken? Wir brauchen Pflichtaufgaben, auch bei der
Qualität. Solange Investitionen in die Qualität der Kindertagesbetreuung keine Pflichtaufgabe sind, so lange
wird sich im Leben von Eltern und Kindern leider nichts
verbessern.
({9})
Der Finanzbedarf, der dafür notwendig ist, wird unterschiedlich hoch beziffert. Professor Dr. Stefan Sell hat
in einem Beitrag mit dem Titel „Die Finanzierung der
Kindertagesbetreuung vom Kopf auf die Füße stellen“
von 9 Milliarden Euro gesprochen, wenn wir die Vorgaben der OECD erfüllen wollen. Ob das durch Umbuchungen und durch die Entlastung, von der der Bundesfinanzminister hier gesprochen hat, zu schaffen ist, weiß
ich nicht. Ich fürchte, dass die Freiräume, die dadurch
bei Ländern und Kommunen entstehen, am Ende nicht
ausreichen. Ich sage deshalb: Auch wir als Bund haben
hier zusätzliche Möglichkeiten. Lassen Sie uns doch
zum Beispiel die 1 Milliarde Euro, die gerade der Union
so locker in der Tasche sitzt, um den Eltern ein Taschengeld dafür zu zahlen, dass sie ihre Kinder nicht in die
Kitas bringen, für eine umfassende und durchdachte
Qualitätsoffensive für Kitas einsetzen, statt sie beim Betreuungsgeld zu verschwenden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Als nächster Rednerin erteile ich für die Bundesregierung Bundesministerin Manuela Schwesig das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren Abgeordnete! Es ist heute ein guter Tag für
die Familien in Deutschland; denn die Große Koalition
bringt zwei Gesetze auf den Weg, die die Vereinbarkeit
von Beruf und Familie erheblich verbessern werden. Wir
haben in der ersten Halbzeit, Herr Weinberg, schon über
das Elterngeld Plus gesprochen, eine finanziell starke
Maßnahme, um Eltern Zeit für die Familie zu geben,
aber auch Anreize, berufstätig zu sein.
Mit dem neuen Kitagesetz arbeiten wir weiter an der
besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie; denn Eltern in Deutschland brauchen Ganztagskitas, um berufstätig zu sein. Aber wir machen auch mit den besseren
Bildungschancen für Kinder weiter; denn gute Kitas in
Deutschland sind nicht nur für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie der Eltern gut, sondern vor allem auch
gut für Kinder und ihre Bildungschancen.
({0})
Das ist also ein doppelter Gewinn für Kinder und ihre
Familien. Ich möchte noch einmal daran erinnern: Kommunen, Länder und Bund setzen seit den letzten Jahren
erhebliche Mittel ein, um Kitaplätze zur Verfügung zu
stellen. Der Bund stellt bis Ende 2014 insgesamt
5,4 Milliarden Euro für Investitionsvorhaben bereit. Ab
2015 beteiligt sich der Bund dauerhaft mit jährlich
845 Millionen Euro an den Betriebskosten; Herr
Schäuble hat es angesprochen. Der Bund hat sich noch
nie so stark an den laufenden Kosten der Kitas beteiligt
und damit natürlich auch an den Personalkosten und an
Qualität in Kitas.
({1})
Wir haben Erfolge: etwa 10 Prozent mehr Kinder unter drei Jahren in Kindertagesbetreuung als noch vor einem Jahr, mehr als doppelt so viele wie 2006. Aber die
Bedarfe, vor allem nach Ganztagskitas, steigen; denn es
ist weder der Mutter noch dem Vater geholfen, wenn die
Kita nur von 8 bis 13 Uhr geöffnet ist. Wir brauchen
Ganztagsbetreuung. Deshalb ist es gut, dass das neue Kitagesetz genau diese Qualitätsaspekte berücksichtigt.
Liebe Frau Golze, Qualität ist nicht nur der Betreuungsschlüssel. Wir wurschteln hier auch nicht rum. Nein, wir
klotzen. Wir schaffen neue Plätze. Das Wichtigste für
Eltern ist es, erst einmal einen Platz zu haben.
({2})
Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Ich bin sehr für
eine Qualitätsdebatte. Ich freue mich, dass Sie und auch
die Grünen dieses Thema immer auf die Tagesordnung
setzen. Deshalb verlasse ich mich auch darauf, dass die
Länder, in denen Sie regieren, mich in dieser Debatte unterstützen. Wir werden es sehen.
({3})
Aber ich warne auch: Die Qualitätsdebatte darf nicht
dazu führen, dass wir das Angebot an Kitas in unserem
Land schlechtreden. Die Erzieherinnen und Erzieher
leisten viel. Sie leisten sehr viel. Sie leisten mindestens
genauso wertvolle Arbeit wie die Professoren an den
Unis, aber sie sind weit von deren Bezahlung entfernt.
({4})
Ich habe noch keinen Elternbrief bekommen, in dem
die schlechte Qualität einer Kita beklagt wurde. Ich bekomme aber viele Briefe wegen fehlender Plätze. Deshalb ist dieses neue Gesetz richtig: Wir brauchen für jedes Kind und jede Familie in Deutschland, die das
möchte, einen guten Kitaplatz.
({5})
Wir setzen auf Qualität. Wir legen erstmalig in einem
Gesetz Anforderungen fest und fördern Ausstattungsinvestitionen, zum Beispiel für ein gesundes Mittagessen
in der Kita. Was ist ein gesundes Essen in Kitas denn anderes als Qualität?
({6})
Wir setzen auch auf Sprachförderung. Wir stellen in
dieser Legislatur etwa eine halbe Milliarde Euro für gezielte Sprachförderung zur Verfügung, insbesondere für
Brennpunktkitas. Das ist ein konkretes Beispiel für die
Bekämpfung von Kinderarmut; denn Kinder brauchen
gute Bildungschancen, unabhängig vom Geldbeutel der
Eltern.
({7})
Wir entlasten die Länder durch die Übernahme der
BAföG-Mittel. Ich habe mich wirklich dafür starkgemacht, dass die eingesparten Mittel in den Bildungsbereich fließen können, und zwar in den Bereich der frühkindlichen Bildung, der Schule und der Hochschule.
Bildung beginnt in der Kita.
Ich freue mich sehr, dass es Länder wie Niedersachsen gibt, die mit gutem Beispiel vorangehen. Niedersachsen hat diese zusätzlichen Mittel in mehr Qualität in
Form eines besseren Betreuungsschlüssels in Krippen
investiert. Sie haben jetzt die Gelegenheit, in dem Bundesland, in dem Sie mitregieren - liebe Grünen, auch Sie
werden gleich zu diesem Thema sprechen -, entsprechend zu handeln: Gehen Sie mit gutem Beispiel voran.
({8})
- In Niedersachsen funktioniert das. Aber Sie regieren ja
zum Glück auch in vielen anderen Ländern mit. Ich bin
sehr gespannt, ob Ihre Länder beim Qualitätsgesetz dabei sind.
({9})
Mir geht es aber darum, dass Schluss damit sein
muss, den Schwarzen Peter hin und her zu schieben. Das
bringt die Eltern und ihre Kinder nicht weiter.
Mir ist es wichtig, durch eine neue Kultur des Dialogs
mit Kommunen und Ländern mehr Kitas und mehr Qualität in der Kitabetreuung zu bekommen. Deshalb gibt es
im November eine Bund-Länder-Konferenz zum Thema
Qualität früher Bildung, auf der wir uns zum ersten Mal
in Gesprächen zwischen Bund und Ländern mit diesem
Thema beschäftigen werden. Diese Konferenz ist der
Auftakt. In weiteren Runden sollen dann die Verbände
und Initiativen einbezogen werden, sodass es einer zusätzlichen Kommission nicht bedarf. Denn Länder und
Bund haben sich längst auf den Weg gemacht. Wir haben
diesen Weg längst beschlossen.
Sehr geehrte Damen und Herren, insbesondere weil
ich heute die Ehre habe, auch vor den Haushältern zu
sprechen, möchte ich noch einmal dafür werben: Nicht
erst in der Schule, sondern in der Kita werden die Weichen für den Bildungserfolg unserer Kinder gestellt.
Nicht erst an der Uni, sondern schon in der Kita werden
die Weichen für Chancengleichheit gestellt.
Internationale Studien bescheinigen uns immer wieder, wie groß der Aufholbedarf in Deutschland ist. Deshalb ist es gut, dass wir so viel Geld in den Kitabereich
investieren. Aber es ist noch nicht genug, und das wissen
wir alle. Wir müssen jetzt das Geld sinnvoll einsetzen.
Dabei sind auch alle Beteiligten vor Ort gefragt. Denn
gute Kinderbetreuung ist auch Armutsbekämpfung.
Herr Schäuble und ich haben die Gesamtevaluation
vorgelegt, und wir lernen daraus. Wir sehen: Das Elterngeld ist wichtig. Wir sehen aber auch: Die Kitabetreuung
ist wichtig. Öffentlich geförderte Kinderbetreuung führt
dazu, dass wir das Armutsrisiko von Familien um 7 Prozentpunkte mindern können. Ganztagskitas und Ganztagsschulen führen dazu, dass mehr Frauen erwerbstätig
sind, was dann wieder zu mehr Steuereinnahmen führt.
Deswegen werbe ich für eine innovative und moderne
Haushalts- und Finanzpolitik, die für mich heißt: Das ist
nicht einfach eine Ausgabe - schon gar keine konsumtive -; es ist vielmehr eine Investition in die Zukunft, die
zu Erträgen führt. Das müssen wir auch bei den Haushaltsberatungen berücksichtigen.
({10})
Gute Kinderbetreuung ist wichtig für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, aber vor allem für die Bildung von Kindern. Alle Kinder haben ein Recht auf ein
gutes Aufwachsen. Das schaffen wir nicht mit einer
Maßnahme, aber mit einem Bündel von Maßnahmen.
Wir haben heute zwei gute Vorhaben auf den Weg gebracht. Dafür möchte ich mich insbesondere bei den Regierungsfraktionen für die Unterstützung bedanken.
Ich freue mich auf die Beratungen. Aber am Wichtigsten ist, dass jetzt die Euros schnell vor Ort ankommen, damit es mit dem guten Ausbau der Kitabetreuung
weitergehen kann.
({11})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Sven-Christian Kindler, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Schäuble, Sie haben sich hier wieder für
den Haushalt 2015 gelobt, aber Sie wissen genau, dass
Ihre Bilanz massiv geschönt ist. Sie nehmen zwar keine
Schulden mehr bei der Bank auf, aber Sie wollen weiterhin Schulden aufnehmen: bei den Krankenkassen, bei
der Rentenversicherung und bei der Infrastruktur.
Wenn wir heute über die Kommunen und die Kitas reden, dann kann ich nur feststellen: Sie nehmen auch
Schulden bei den Investitionen in unseren Kommunen
auf. Sie nehmen auch Schulden bei Kindern und Jugendlichen auf. Dieser Haushalt enthält eine große versteckte
Verschuldung.
({0})
Wenn wir heute über kommunale Finanzen und die
Länderfinanzen reden, Herr Schäuble, dann dürfen wir
auch nicht vergessen, dass die Kassen der Länder in den
letzten Jahren durch Steuersenkungen massiv geschröpft
wurden: erst durch die Große Koalition und dann durch
Schwarz-Gelb. Auch damals waren Sie Finanzminister,
Herr Schäuble. Ihr Wachstumsbeschleunigungsgesetz,
das eher ein Klientelbeschleunigungsgesetz ist, hat dazu
geführt, dass nach wie vor die Länder jedes Jahr 2,3 Milliarden Euro Einnahmeverluste haben. Die Kommunen
kostet es 1,5 Milliarden Euro. Das dauert leider bis heute
an. Das heißt, Schwarz-Gelb wirkt leider weiter. Ihre
Steuersenkungspolitik, Herr Schäuble, ist für Länder und
Kommunen immer noch sehr teuer.
({1})
Ich will noch kurz auf die Bund-Länder-Finanzbeziehungen und den Vorschlag zu den regionalen Steuersätzen eingehen, der aus dem BMF an die Presse durchgestochen wurde. Wir haben in Europa einen aggressiven
Steuerwettbewerb. Wir brauchen jetzt nicht noch zwischen den Bundesländern einen aggressiven Steuerwettbewerb. Wir brauchen einen guten Steuervollzug, eine
gerechte Steuerpolitik und eine gute Ausstattung von
Ländern und Kommunen. Das ist die richtige Antwort.
Wir brauchen keine regionalen Steuersätze.
({2})
Zu der Entlastung der Kommunen um 1 Milliarde
Euro jährlich ab 2015 will ich drei Punkte ansprechen.
Erstens. Das ist weniger als das, was die Steuersenkungen durch Schwarz-Gelb die Kommunen gekostet hat.
Zweitens. Diese Entlastung kommt nicht wie im Koalitionsvertrag versprochen 2014, sondern erst 2015. Das
ist der erste Bruch des Koalitionsvertrags. Drittens. Die
Entlastung der Kommunen im Umfang von 5 Milliarden
Euro jährlich bei der Eingliederungshilfe kommt nicht in
dieser Legislaturperiode, sondern wird auf 2018 verschoben. Das ist der zweite Bruch des Koalitionsvertrags.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Großen Koalition, Sie wissen selber, dass die Kommunen darüber
sehr enttäuscht sind. Der Präsident des Deutschen Städtetags, Herr Maly von der SPD, hat das genauso kritisiert
wie der Oberbürgermeister von Neuburg an der Donau,
Herr Gmehling von der CSU. Der Oberbürgermeister
von Gelsenkirchen, Frank Baranowski von der SPD, hat
gesagt: Ich bin fassungslos. Gemessen am Koalitionsvertrag ist das Wortbruch. - Ich finde, er hat völlig recht.
Das ist eine herbe Enttäuschung für die Kommunen. Das
ist Wortbruch.
({3})
Die Kommunen klagen nicht ohne Grund. Sie haben
zum Teil hohe Sozialkosten. Diese Kosten werden in den
nächsten Jahren weiter steigen, und zwar durchschnittlich um 2 Milliarden Euro, so der Städte- und Gemeindebund. Das ist deutlich mehr als die 1 Milliarde Euro, die
in Ihrem Haushalt als Entlastung der Kommunen vorgesehen ist. Wir müssen aber jetzt den Kommunen, die
hohe Sozialkosten haben, helfen. Dabei hilft es nichts,
dass die Entlastung der Kommunen hälftig durch eine
Erhöhung des Gemeindeanteils an den Einnahmen aus
der Umsatzsteuer erfolgt. Das bringt den armen Kommunen gar nichts. Wir Grüne sagen klar: Wir wollen die
Kommunen nicht nur um jährlich eine volle Milliarde
Euro bei den Kosten der Unterkunft und Heizung entlasten - wir werden versuchen, das in den Haushaltsberatungen zu ändern -, sondern auch zusätzlich 1 Milliarde
als Hilfe für strukturschwache Kommunen. Des Weiteren wollen wir die Kommunen bereits in dieser Legislaturperiode um jährlich 5 Milliarden Euro bei der Eingliederungshilfe entlasten und nicht erst ab 2018. Das
benötigen unsere Kommunen dringend.
({4})
Die Kommunen, die hohe Sozialkosten haben und
strukturschwach sind, stecken in einem Teufelskreis;
denn aufgrund der hohen Sozialkosten können sie nicht
investieren und keine Schulden abbauen. Die KfW hat
berechnet, dass sich der kommunale Investitionsstau in
diesem Jahr auf satte 118 Milliarden Euro beläuft. Die
Folgen sind kaputte Straßen, kaputte Brücken und kaputte Schienen. In den Schulen fällt der Putz von der Decke.
({5})
Es gibt viel zu wenige Kitaplätze, insbesondere gute Kitaplätze. Das sind Kosten und Schulden von morgen und
übermorgen. Dagegen macht die Große Koalition leider
fast nichts. Wir haben nicht nur im Bund, sondern auch
in den Kommunen eine große versteckte Verschuldung
zu beklagen. Das ist auch ein Problem dieses Haushalts.
({6})
Ihr Haushalt und Ihre Politik sind nicht alternativlos.
Man könnte wirklich etwas verändern und beispielsweise Investitionen und Hilfen für Kommunen solide gegenfinanzieren, indem man die umweltschädlichen Subventionen abbaut. Hier sind Milliarden zu holen. Man
könnte auch eine gerechte Steuerpolitik betreiben. Als
Beispiel nenne ich hier die Abgeltungsteuer. Wir wollen,
dass Kapitaleinkommen endlich wieder progressiv besteuert werden wie Arbeitseinkommen. Das ist gerechte
Steuerpolitik und hilft dem Haushalt und unseren Kommunen. Deswegen sagen wir ganz klar: Wir wollen höhere Steuereinnahmen aus Kapitaleinkommen erzielen.
Die Abgeltungsteuer muss abgeschafft werden.
({7})
Eine weitere Möglichkeit stellen Ausgabenkürzungen
im Haushalt dar. Frau Schwesig und Herr Schäuble, Sie
könnten die Ausgaben für das Betreuungsgeld kürzen.
Von 2015 bis 2017 wollen Sie 3 Milliarden Euro für das
Betreuungsgeld ausgeben. Schauen wir uns einmal an,
wie viel Sie für den Kitabereich eingestellt haben. Bisher
gab es pro Jahr 1 Milliarde Euro für die Kommunen.
Nun planen Sie, Frau Schwesig, 650 Millionen Euro in
vier Jahren, also in einer Legislaturperiode. Das ist weniger als unter Schwarz-Gelb. Dabei wollten Sie 2 Milliarden Euro erzielen. Aber Sie konnten sich leider nicht gegen den Finanzminister durchsetzen. Für die kleinen
Kinder haben Sie nichts in diesen Haushalt eingestellt.
Das ist ein Armutszeugnis für die SPD und insbesondere
für die Bundesfamilienministerin.
({8})
Trauen Sie sich doch endlich, etwas in der Haushaltspolitik zu verändern, zum Beispiel bei den Subventionen, dem Betreuungsgeld oder der Abgeltungsteuer. Hier
liegen Milliarden brach, die Sie holen können, um unseren Kommunen zu helfen sowie um in Bildung und den
Kitaausbau zu investieren. Sie müssen aber mutig sein,
wenn Sie wirklich etwas verändern wollen. Wir jedenfalls werden Ihnen konkrete Änderungsvorschläge in
den Haushaltsberatungen vorlegen. Ich hoffe, Sie folgen
uns dann auch.
Vielen Dank.
({9})
Als Nächstem erteile ich das Wort dem Abgeordneten
Eckhardt Rehberg, CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege
Kindler, nennen Sie mir eine Krankenkasse, die verschuldet ist. Ich kenne keine. Die Krankenkassen
schwimmen im Geld. Sie haben Überschüsse ohne Ende.
Das ist das Ergebnis grundsolider Politik der letzten
Jahre und der positiven wirtschaftlichen Entwicklung.
Schauen Sie sich die Rentenversicherung an. Wir debat5096
tieren nicht über die Erhöhung von Beitragssätzen, sondern wir debattieren darüber, ob wir sie senken müssen,
weil wir eine Reserve von fast zwei Monaten haben. Ihre
Beschreibung der Lage hat mit der Realität nichts zu tun.
({0})
Wenn man von innovativer und kompetenter Haushaltspolitik redet, dann sollte man sich anschauen, wie
wir im nächsten Jahr zur schwarz-roten Null kommen
werden. Wir haben im Jahr 2010 mit einer Sollverschuldung von 86 Milliarden Euro begonnen. In diesem Jahr
ist die Istverschuldung auf 44 Milliarden Euro gesunken.
Wir haben schon in der zurückliegenden Zeit die Kommunen massiv entlastet. Ich nenne als Beispiele die Kosten der Unterkunft und die Grundsicherung im Alter.
Kollege Kindler, wir haben ganz nebenbei zum Beispiel
das Kindergeld erhöht. Das waren Kosten in Höhe von
10 Milliarden Euro. Wenn Sie Steuermindereinnahmen
beklagen, so sage ich: Das ist gut angelegtes Geld für
unsere Familien und unsere Kinder.
({1})
Wir werden im nächsten Jahr bei der schwarz-roten
Null landen. Es werden oft Märchen erzählt, und es wird
so getan, als ob nur der Bund Steuermehreinnahmen
hätte. Ja, wir haben von 2005 bis 2014, in der Regierungszeit von Angela Merkel, 78 Milliarden Euro Steuermehreinnahmen gehabt. Länder und Gemeinden haben
aber in dieser Zeit Steuermehreinnahmen in Höhe von
100 Milliarden Euro gehabt. Tun wir doch nicht so, als
ob die Steuern nur beim Bund landen würden. Der überwiegende Teil der Gemeinschaftssteuern landet bei Ländern und Gemeinden.
({2})
Wenn Sie in der 17. und 18. Wahlperiode eine kommunale Entlastung von insgesamt 90 Milliarden Euro
stemmen und gleichzeitig die Null haben wollen, dann,
liebe Frau Kollegin Schwesig, nenne ich das insgesamt
innovative und kompetente Haushaltspolitik. Das Wichtigste für mich ist, dass wir in den nächsten Jahren die
Null halten. Wir können viel über Hochschulen, Kitas
und darüber, wie Geld verteilt wird, debattieren. Das
Wichtigste ist, dass ich meinen Enkelkindern keine Neuverschuldung in Deutschland hinterlasse.
({3})
Vielmehr soll jede Generation ihre Verantwortung tragen, auch für die Finanz- und Haushaltspolitik.
({4})
Der Bund hat sich Mehrausgaben in Höhe von
30 Milliarden Euro für die Jahre bis 2018 vorgenommen.
Die Steigerung beträgt in den Jahren 2016, 2017 und
2018 jeweils 10 Milliarden Euro. Zur Wahrheit gehört
auch, dass die Hälfte dieses Aufwuchses an Länder und
Kommunen geht. Wir wollen die Kommunen um 1 Milliarde Euro entlasten. Damit beginnen wir heute. Ich
halte die Verteilung übrigens für gerecht. Die eine Hälfte
kommt aus den Umsatzsteuerpunkten, die andere Hälfte
aus den KdU. Das eine kommt bei den Stärkeren an, das
andere bei den Schwächeren. Ich halte das für eine in die
Zukunft gerichtete, gute Verteilung für die Kommunen
in der Bundesrepublik Deutschland.
({5})
6 Milliarden Euro sollen an die Länder gehen. Da
stellt sich für mich eine ganz spannende Frage. Kommt
das Geld wirklich an? Das betrifft dieses Entlastungsgesetz. Nachdem in der ersten Formulierung von Trägern
der Eingliederungshilfe gesprochen wurde, mussten
dann ganz konkret die Kommunen genannt werden. Ich
möchte mich ganz ausdrücklich bei unseren Kommunalpolitikern und an deren Spitze bei Ingbert Liebing bedanken, dass sie hier reingegrätscht sind. Die ersten Länder haben nämlich schon den Finger gehoben und auf
das Geld Anspruch erhoben. Wir haben in dem Koalitionsvertrag festgeschrieben, dass die 1 Milliarde Euro
und auch die zukünftigen 5 Milliarden Euro - das ist
eine Vorfestlegung - für die Entlastung der Kommunen
verwendet werden und für nichts anderes.
({6})
Eine Rednerin, die nach mir spricht und Mitglied des
Haushaltsausschusses ist, eine Kollegin von der SPD,
hat einmal von klebrigen Fingern der Länder gesprochen. Ich will das nicht tun.
({7})
Aber gucken wir uns wirklich einmal die Realitäten
an:
Stichwort „Entflechtungsgesetz“. Mit den Mitteln
konnten die Länder und Kommunen eigentlich nicht
rechnen. Die Absprache war eine andere. Die Absprache
war: degressiv bis 2019. Ergebnis: Zustimmung Fiskalvertrag; die 2,6 Milliarden Euro bleiben stehen. - Gucken Sie sich heute einmal an, wie viele Länder die
Zweckbindung bei sich normiert haben! Ich fange jetzt
nicht an, die Länder zu benennen, weil das an dieser
Stelle vielleicht zu weit führt. Es gibt Länder, die überhaupt keine Zweckbindung festgeschrieben haben. Ich
kenne Länder, wo beim ÖPNV und beim kommunalen
Straßenbau gerade einmal die Hälfte der Mittel für diesen Zweck ankommt.
Deswegen geht mein Appell an die Kolleginnen und
Kollegen von allen Fraktionen, ob in der Regierung oder
in der Opposition in diesem Land: Wir sollten alle gemeinsam als Bundestagsabgeordnete wirklich dafür sorgen, dass das Geld entsprechend der Zweckbindung und
auch auf der Ebene ankommt, die wir politisch vorgesehen haben. Es kann nicht sein, dass Entflechtungsmittel
zur Sanierung der Länderhaushalte verwendet werden.
({8})
Nehmen wir das Thema BaföG: BAföG wird an Studierende und Schüler ausgereicht, und deswegen gehören die Mittel nach meiner Auffassung auch an Schulen
und Hochschulen. Jetzt kann man sich beim Thema
„frühkindliche Bildung“ streiten; aber wenn man die
Mittel nur nimmt, damit die Eltern keine Kitabeiträge
zahlen müssen, dann sehe ich keine Qualitätsverbesserung in der frühkindlichen Bildung, sondern dann ist das
aus meiner Sicht eine Zweckentfremdung. Wenn man
die Mittel für Qualitätsverbesserung in der frühkindlichen Bildung verwenden würde,
({9})
dann wäre ich noch damit einverstanden; aber wenn sie
nur eingesetzt werden, damit Eltern keine Beiträge mehr
zahlen müssen, sehe ich eine Zweckentfremdung.
({10})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, eine der effizientesten Kommunalentlastungen war die bei der
Grundsicherung im Alter. Es war eine gute Entscheidung, auch deswegen - ich kann das zumindest für die
neuen Bundesländer sagen -, weil es keinen signifikanten Anstieg bei der Grundsicherung im Alter gegeben
hat. Die neuen Bundesländer hatten vor acht Jahren eine
Quote von 1,16 Prozent; die neuen Bundesländer, ohne
Berlin, haben heute eine Quote von 1,28 Prozent - kein
signifikanter Anstieg. Über die verschiedenen Stufen
- 40 Prozent, 75 Prozent und heute 100 Prozent - ist
eine echte Entlastung für die Kommunen erreicht worden.
Die Uni Rostock sagt in einer Studie, in Auftrag gegeben vom Landtag Mecklenburg-Vorpommern, dass bis
zum Jahr 2020 zumindest für dieses Bundesland nicht
mit einem signifikanten Anstieg der Altersarmut, sprich:
der Ausgaben für die Grundsicherung im Alter, zu rechnen ist. Wissenschaftler können irren; ich zitiere das hier
nur. Wenn das so sein sollte, ist das bei den Kommunen
gut angelegtes Geld, meine sehr verehrten Damen und
Herren.
Wenn ich im Gesamtkontext betrachte, was wir getan
haben und was wir tun wollen, dann möchte ich an einen
Punkt anknüpfen, den Minister Schäuble schon genannt
hat. Zur Ehrlichkeit gehört, dass es in der Gesamtheit
den Kommunen und Ländern deutlich besser geht als
dem Bund. Liebe Kolleginnen und Kollegen, manche
debattieren hier nur die Einnahmeseite. Wenn Sie sich
einmal angucken, welche Länder einen Ausgabenzuwachs haben, dann stellen Sie fest: Das sind die Länder,
wo Haushalte für nicht verfassungsgemäß erklärt worden sind, und das sind die Länder, die am meisten herumtrompeten, dass man die Steuern erhöhen müsse, damit die Ausgaben auch geleistet werden können. Andere
Länder, die sich anstrengen - ich lasse einmal beiseite,
welche das sind -, fragen sich natürlich mittlerweile,
auch mit Blick auf die Gespräche über die Bund-LänderFinanzbeziehungen: Haben sich unsere Anstrengungen
gelohnt, oder machen wir bei dem ganzen Thema
Miese?
({11})
Ich kann diesen Ländern nur eines sagen: Die Anstrengungen haben sich gelohnt, weil sie gegenüber denen,
die ihre Ausgaben hochfahren und sich immer wieder
verschulden, in einer besseren Position sind. Das Gebot
der Stunde kann nicht sein, bei steigenden Steuereinnahmen solche Ausgabenzuwächse in den Länderhaushalten
zu haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, was wir insgesamt
brauchen, das ist aus meiner Sicht eine Verantwortungsgemeinschaft, eine Verantwortungsgemeinschaft von
Bund, Ländern und Kommunen. Das heißt für mich:
Erstens. Das Geld muss an der Stelle ankommen, die
politisch vereinbart worden ist. Das gilt sowohl für den
Verwendungszweck als auch für die Ebene.
Zweitens. Die Länder müssen ihre Zusagen einhalten.
Denken wir einmal an das Thema des Krippenausbaus.
Ja, wir haben seit 2008 viele Krippenplätze neu geschaffen und werden das auch weiter tun. Halten aber Länder
und Kommunen wirklich die politische Zusage - ein
Drittel der Bund, ein Drittel die Länder und ein Drittel
die Kommen - ein? Wenn wir einmal ganz scharf in
jeden Landeshaushalt schauen, dann stellen wir fest,
dass dem oftmals mitnichten so ist.
Drittens. Aus meiner Sicht darf es zu keiner Sanierung der Länderhaushalte durch Zweckentfremdung
kommen. Ich halte es für unverantwortlich, was einige
Länder machen. Ich rufe dringend zur Revision einiger
kommunaler Finanzausgleichsgesetze der Länder auf, in
denen explizit steht: Wenn der Bund zusätzliche Zuweisungen an die Kommunen vornimmt, dann fließen die
Mittel über den Vorwegabzug zurück in den Landeshaushalt. Ich halte das für politisch-moralisch nicht vertretbar.
({12})
Es gibt solche Länder. Bei einer Tasse Kaffee nenne ich
Ihnen diese auch. - Die Mittel müssen also letztendlich
im kommunalen Haushalt ankommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben in der
vergangenen Legislaturperiode mit einem massiven
Schuldenabbau begonnen.
({13})
Nehmen wir einmal die 90 Milliarden Euro, die in der
vergangenen Legislaturperiode den Kommunen zugewiesen worden sind.
Lassen Sie mich zum Schluss noch eine Anmerkung
machen und darauf hinweisen, dass die Hälfte des Ausgabenzuwachses nicht als Durchlaufposten im Bundeshaushalt enthalten ist. Wir müssen eine Debatte darüber
führen, ob der Bund Maßnahmen finanziert, für die er eigentlich nicht zuständig ist. Diese Debatte muss deswe5098
gen zwingend geführt werden, weil auch der Bund Aufgaben zu erfüllen hat. Ja, Kollege Kindler, mir
persönlich wäre es lieber - das sage ich ganz offen -,
das, was wir als Durchlaufposten an die Länder geben, in
die Verkehrsinfrastruktur zu stecken. Das ist originäre
Bundesaufgabe.
Herr Minister Schäuble, deswegen haben Sie die
Unionsfraktion an Ihrer Seite bei all den Themen, die in
den nächsten Wochen und Monaten anstehen. Ich
glaube, wir im Bund befinden uns in einer sehr guten
Position auf dem Weg hin zu einer schwarz-roten Null.
Herzlichen Dank.
({14})
Als nächster Rednerin erteile ich der Abgeordneten
Susanna Karawanskij, Fraktion Die Linke, das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Liebe Gäste! 550 Millionen Euro mehr
stellt der Bund in den nächsten zwei Jahren über das
Sondervermögen Kinderbetreuungsausbau zur Verfügung. Dass die Bereitstellung der Mittel für den Kinderbetreuungsausbau durch den Bund problematisch ist und
dass wir vor allem auch über die Qualität reden müssen,
darauf hat meine Kollegin Diana Golze bereits hingewiesen.
Sie sind stolz darauf und klopfen sich nun auf die
Schulter. Ich sage Ihnen: Für die klammen Kommunen
ist das zu wenig. Das reicht hinten und vorne nicht. Die
meisten ihrer Probleme werden damit nicht gelöst. Die
grundsätzliche chronische Unterfinanzierung der kommunalen Familie lässt sich durch diese Placebogesetzgebung leider nicht beheben.
({0})
Daneben soll der Bund ab 2015 die Kommunen jährlich um 1 Milliarde Euro entlasten. Dafür erhalten sie
jährlich 500 Millionen Euro mehr an Erstattungen bei
den Kosten für Unterkunft und Heizung im Bereich der
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Außerdem steigt
der Anteil der Städte und Gemeinden am Umsatzsteueraufkommen. Dies macht ebenfalls 500 Millionen Euro
jährlich aus.
Ich sage Ihnen jetzt, worin meine Kritik besteht.
({1})
Im Koalitionsvertrag steht, Herr Kauder, dass die Kommunen ab 2014 um 1 Milliarde Euro jährlich entlastet
werden sollen.
({2})
Nicht nur die Spitzenverbände haben diesen Wortlaut so
verstanden, sondern auch Ihre Kollegen, wie es in der
Sitzung des Unterausschusses Kommunales deutlich
wurde. Wir stellen fest, dass „sofort“ bei Ihnen „ein Jahr
später“ heißt.
({3})
Das heißt, weder fließt 1 Milliarde Euro sofort, noch ist
das eine ausreichende Hilfe. Das ist so wie Hustensaft
bei einer Lungenentzündung.
({4})
Die Entlastung der Kommunen ist Ihrerseits gar nicht
garantiert. Es sind schließlich die Länder, die oftmals in
der Pflicht stehen, den Kommunen Gelder für die Erledigung ihrer ureigenen Aufgaben zukommen zu lassen.
Deshalb müssen Sie, meine Damen und Herren, sicherstellen, dass die Entlastung auch tatsächlich bei den
Kommunen ankommt.
Sie wollen einen Beitrag zur Reduzierung der Kosten
für die Eingliederungshilfe leisten. Das kann an dieser
Stelle aber auch kontraproduktiv bzw. mit Bezug auf die
Träger der Eingliederungshilfe ja sogar gefährlich sein,
wenn Länder die entsprechenden Gelder an die Kommunen nicht weiterleiten.
({5})
Denn weil einige dafür nicht zuständig sind, gibt es da
auch kein Geld. Ich sage Ihnen: Da muss nachgebessert
werden. Im Gesetz muss die Zweckbindung dieser Gelder verankert werden, damit die Kommunen tatsächlich
entlastet werden; sonst wird deren Handlungsfähigkeit
gerade nicht verbessert, und wir hätten es wiederum nur
mit einer Placebogesetzgebung zu tun.
({6})
Grundsätzlich begrüßen wir es selbstverständlich,
wenn Kommunen tatsächlich um 1 Milliarde Euro pro
Jahr entlastet werden. Die Erhöhung der Erstattung der
Kosten für Unterkunft und Heizung um 500 Millionen
Euro ist zwar nur eine kleine Entlastung, aber ein richtiges und wichtiges Schrittchen. Dennoch fordern wir als
Linke die vollständige Entlastung der Kommunen von
diesen Kosten.
Außerdem wird - ich hatte es bereits erwähnt - der
Gemeindeanteil an der Umsatzsteuer um 500 Millionen
Euro erhöht. Aber auch diese Mittel werden nicht helfen,
die chronische Unterfinanzierung der Kommunen zu beseitigen. Diese Erhöhung ist lächerlich; sie ist kein
Grund zum Jubeln. Wir brauchen da einen größeren
Schritt. Diese Maßnahme ist meines Erachtens wiederum nur ein Placebo.
Die jüngst veröffentlichte „Kommunenstudie 2014“
von Ernst & Young hat gezeigt, dass die Schere zwischen armen und reichen Kommunen immer weiter auseinandergeht. Die Kassenkredite explodieren, und der
Investitionsstau ist enorm. Würde ich beschreiben wollen, welche Kommunen in Nordsachsen, woher ich
komme, einen Investitionsstau haben, wüsste ich gar
nicht, wo ich mit dem Aufzählen anfangen sollte: Das
fängt beim Breitbandausbau an, geht über die Sanierung
der Schulen, der Infrastruktur bis hin zur Sanierung von
Krankenhäusern usw. usf. Den Menschen dort droht
auch ein tiefer Griff in ihre Taschen, beispielsweise
durch die Erhöhung von Gebühren oder auch durch die
Schaffung von neuen Gebühren.
Hier geht es nicht um das Sahnehäubchen und auch
nicht um den Nachtisch; hier geht es tatsächlich um den
Hauptgang: Es geht um die Daseinsvorsorge, die sichergestellt werden muss. Ich bleibe dabei: Die Kommunen,
aber auch die Länder sind strukturell unterfinanziert. Daran werden leider auch die 500 Millionen Euro, die auf
11 000 Gemeinden, Gemeindeverbände und Kreise in
Deutschland verteilt werden müssen, nichts ändern.
Die Finanzausstattung von Kommunen und Ländern
muss deutlich verbessert werden. Dafür brauchen wir
zum einen eine grundlegende Gemeindefinanzreform,
die unseren Kommunen tatsächlich stabilere Einnahmen
verschafft. Wir haben dazu einen Antrag vorgelegt, in
dem die Weiterentwicklung der Gewerbesteuer zu einer
Gemeindewirtschaftsteuer gefordert wird. Weiterhin fordern wir für die kommunale Familie die Einführung einer kommunalen Investitionspauschale, und zwar als Sofortmaßnahme und nicht erst irgendwann einmal. Das
hat meine Fraktion auch in die aktuellen Haushaltsverhandlungen eingebracht. Zum anderen brauchen wir einen neuen solidarischen und aufgabengerechten Länderfinanzausgleich, welcher vor allen Dingen die Länder,
aber auch die Kommunen finanziell stärkt. Es muss für
tatsächlich gleichwertige Lebensverhältnisse in allen
Ländern und Regionen gesorgt werden. Auch hier haben
wir ein Konzept zur Diskussion vorgelegt.
Meine Damen und Herren, hören Sie auf mit der
Placebogesetzgebung; sie hilft nicht weiter. Wenn Sie
Steuererhöhungen ausschließen, das Scharfstellen der
Schuldenbremse im Jahr 2020 durchsetzen wollen und
immer nur auf die „schwarze Null“ schielen, dann bedeutet das klipp und klar, dass Sie den Ländern und
Kommunen eine Rosskur aufbürden. Am Ende müssen
das die Menschen in den Städten und Dörfern ausbaden.
Dazu sage ich Ihnen ganz klar: Dem werden wir uns entgegenstellen. Das machen wir nicht mit.
({7})
Vielen Dank.
({8})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Bettina Hagedorn, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Es war jetzt nicht wirklich eine Überraschung, dass Sie,
die Linke, dabei nicht mitmachen. Es ist allerdings jetzt
die Frage zu stellen: Was machen Sie eigentlich überhaupt mit?
Ich denke, es ist wichtig, noch einmal zu sagen: Wir
reden hier weder über Sahnehäubchen noch über Placebos; wir reden hier über richtig viel Geld. Dies ist ein guter Tag für die Kommunen. Es ist ein guter Tag für die
Familien, für die Kinder und für die frühkindliche Bildung.
({0})
Wir, die Große Koalition, brauchen von Ihnen keine
Nachhilfe, wenn es darum geht, zu betonen, welch wichtige Rolle die Kommunen in unserem Land spielen.
Wenn Sie sich vielleicht einmal mit etwas mehr als einem Halbsatz in unserem Koalitionsvertrag beschäftigen
würden - ich empfehle Ihnen, Seite 97 zu lesen; ich will
das nicht vortragen, um meine Redezeit zu schonen -,
würden Sie wie jeder, der den Koalitionsvertrag gelesen
hat, sehen, dass wir in der Tat gemeinsam die kommunale Entlastung in den Mittelpunkt stellen. Das ist kein
Selbstzweck. Es geht jetzt auch nicht darum, eine neue
Balance zwischen Bund, Ländern und Kommunen herzustellen. Mein Kollege Eckhardt Rehberg hat zu Recht
darauf hingewiesen. Manchmal bildet ja auch Lesen.
Und die Zahlen zu den Steuereinnahmen von Bund, Ländern und Kommunen, die Herr Rehberg hier vorgetragen
hat, sind natürlich richtig.
Wir haben das nun in der Großen Koalition gemeinsam beschlossen, weil wir wissen, dass die wichtigste
Ressource in unserem Land, in die wir investieren müssen, die Köpfe unserer Kinder, der jungen Menschen
sind. Indem wir das ermöglichen, leisten wir einen wichtigen Beitrag zur Zukunftsfähigkeit unseres Landes. Bildung findet nämlich nach unserem Verständnis eben
nicht nur an Universitäten und in Schulen statt, sondern
Bildung fängt schon in der Krippe und der Kita an.
({1})
- Ja, da können Sie alle gleich gerne klatschen.
Darum, weil wir eben die Kommunen in die Lage versetzen wollen, deutlich mehr Geld in die Hand zu nehmen, setzen wir bei der kommunalen Entlastung ein solches Schwergewicht. Es geht nicht nur um zusätzliche
Krippen- und Kitaplätze; diese sind natürlich auch wichtig; wir stimmen überein, dass das erst einmal der wichtigste Schritt ist, gerade auch aus der Sicht der Eltern.
Aber selbstverständlich steht es den Ländern frei, mit
der finanziellen Besserstellung, die wir nicht nur verabredet, sondern teilweise auch schon umgesetzt haben,
auf ihrer Ebene an den Qualitätsstandards zu schrauben.
Da haben sie meine volle Unterstützung; aber das fällt in
die Verantwortung der Länder. Ich hoffe auch, dass sie
da noch mehr tun.
({2})
Wir können also die heutige Debatte unter die Überschrift stellen: Versprochen - Gehalten.
Manuela Schwesig, unsere Familienministerin, hat
hier schon zu Recht sehr umfangreich und richtig ausgeführt, warum zusätzliche Plätze im Bereich Krippe und
Kita dringend nötig sind und wir diesem Bereich ein so
großes Gewicht beimessen. Aber ich denke, es ist auch
wichtig, einmal darauf zu verweisen, was dieses Parlament in den letzten zehn Jahren gemacht hat.
Das Ganze begann 2004 unter der rot-grünen Regierung. Da haben wir mit einer Entlastung der Kommunen
um 2,5 Milliarden Euro den ersten Schritt getan. Damals
hatten wir in Deutschland übrigens noch einen Krippenbestand von 60 000 Plätzen. Die meisten davon waren
übrigens in den ostdeutschen Ländern. Im Westen war
die Quote so niedrig, dass man sie nicht einmal mit der
Lupe finden konnte. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist zehn Jahre her.
Inzwischen sind es knapp 800 000 Plätze. Jetzt werden
30 000 weitere hinzukommen. Ich muss einmal sagen: Das
ist ein Kraftakt gewesen. Denn vergessen wir doch eines
nicht: Wir haben in den letzten Jahrzehnten in Deutschland, verglichen mit dem europäischen Ausland - zum
Beispiel mit den skandinavischen Ländern, aber auch
mit Frankreich -, einfach eine völlig andere Weichenstellung gehabt - leider. Aber besser, man lernt spät als
nie. Wir Abgeordnete, und zwar über Fraktionsgrenzen
hinweg, haben nicht nur gelernt, sondern wir haben das
Gelernte auch konsequent umgesetzt. Denn diesem ersten
Gesetz von 2004 mit der ersten Aufstockung auf round
about, wenn ich mich recht erinnere, 300 000 Plätze
folgte in der letzten Großen Koalition das nächste Gesetz. Dazu haben wir 4 Milliarden Euro in die Hand genommen. 2,15 Milliarden Euro haben wir wiederum in
Gebäude investiert, um mehr Plätze zur Verfügung stellen zu können. 1,85 Milliarden Euro haben wir schon damals verlässlich über Umsatzsteuerpunkte an die Länder
umverteilt, damit diese es an die Kommunen weiterleiten können. Das war als wichtiger Beitrag zu den Betriebskosten geplant. Denn jeder von uns weiß, dass eine
Krippe einen ambitionierteren Betreuungsschlüssel
braucht als eine Kita; die Kleinsten brauchen einfach
mehr Betreuung. Auf diese Weise haben wir als Bund
sehr wohl unseren Beitrag geleistet.
({3})
Dieser Weg ist auch in 2013 und 2014 kontinuierlich
weiterverfolgt worden, in der letzten Legislaturperiode
auch gemeinsam mit dem Bundesrat. Ich gebe zu: Wir
Sozialdemokraten haben uns im Bundesrat diesbezüglich sehr engagiert und haben die Umsetzung auch erreicht. Damals wurden die nächsten 30 000 Plätze beschlossen, und zwar wieder mit einer umfangreichen
Ausstattung des investiven Bereichs; 560 Millionen Euro
waren es, glaube ich.
Zusätzlich hat der Bund an die Länder aber immer auch
einen verlässlichen Beitrag zu den Betriebskosten geleistet. Das heißt, Schritt für Schritt haben wir uns in zehn
Jahren von 60 000 Krippenplätzen auf fast 800 000 hochgearbeitet. Jetzt machen wir den nächsten Schritt.
({4})
Und egal was Sie sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen
von den Linken und den Grünen: Das ist ein Beitrag, auf
den wir stolz sein können. Es geht hier vor allen Dingen
um Kontinuität.
({5})
Wir wollen heute sowohl den Kommunen als auch den
Familien mit Kindern das Signal geben, dass sie sich auf
diese Regierung verlassen können
({6})
und wir den Weg weiter so fortsetzen werden, wie wir
ihn begonnen haben.
({7})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wenn ich gleich,
wie meine Kollegen Eckhardt Rehberg und Sven
Kindler, der Debatte nicht weiter folgen kann, dann ist
das kein Ausdruck von Unhöflichkeit, sondern wir drei
sind bei Herrn Dobrindt zum Berichterstattergespräch
Verkehr.
({8})
Insofern müssen Sie gleich auf uns verzichten.
Am Ende der Debatte sei mir aber noch gestattet, an
etwas zu erinnern. Es ist schon auf andere wichtige Beiträge hingewiesen worden, wie wir die Kommunen entlasten. Die Grundsicherung ist hier zu Recht genannt
worden: 2014 gibt es gegenüber 2013 eine zusätzliche
Entlastung von 1,6 Milliarden Euro. Der Bundesbeitrag
zur Grundsicherung lag im letzten Jahr noch bei 75 Prozent und liegt jetzt bei 100 Prozent. Ich will also, weil
das früher mein Haushalt war, daran erinnern, dass der
Bund 2011 - das ist nicht wirklich lange her - noch
16 Prozent Anteil an der Grundsicherung getragen hat.
Das waren damals übrigens round about 500 Millionen Euro. Wir sind jetzt bei ungefähr 5,5 Milliarden
Euro. Das sollte man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen: Die kommunale Entlastung beträgt pro Jahr
durch die Übernahme der Kosten für die Grundsicherung
5 Milliarden Euro, aufwachsend übrigens, weil die Kosten steigen. Das ist wirklich ein bemerkenswerter Beitrag. Der Wunsch dieses ganzen Hauses war natürlich
immer, dass dieses Geld, das bei den Kommunen und
den Ländern zusätzlich verbleibt, auch tatsächlich für
mehr Bildung für die junge Generation in die Hand genommen wird.
Wir werden auch mit Herrn Dobrindt unseren Beitrag
dazu leisten, durch Investitionen in die soziale Stadt, in
den Städtebau
({9})
und in die Infrastruktur die Kommunen zu entlasten.
Hier können Sie sich auf uns verlassen.
In diesem Sinne noch weiterhin eine gute Debatte und
vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Dr. Franziska Brantner, Bündnis 90/Die Grünen.
Vielen Dank, Herr Präsident! - Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Der Gesetzentwurf, der vor uns liegt,
erwähnt im Titel auch den qualitativen Ausbau. Was erwarten wir also von dem Gesetzentwurf, wenn wir von
Qualität in der Kita sprechen? Und was erwarten vor allem die Eltern und die Kinder?
Eine Mutter wird vielleicht zuerst erwarten, dass Erzieherinnen und Erzieher mehr Zeit für ihr Kind haben.
Warum das wichtig ist, brauche ich hier wohl nicht zu
erwähnen. Ein Qualitätsfaktor, auf den wir uns einigen
können, ist die Zeit mit dem Kind. Herr Rehberg - ich
glaube, er ist schon auf dem Weg zu Herrn Dobrindt hat vorhin gesagt, wir sollten uns einmal die Realität anschauen. Gerne, schauen wir uns doch einmal den Alltag
in einer Kita an. Da ist die Realität so, dass sich Erzieherinnen und Erzieher gleichzeitig um eine laufende Nase,
um ein gestoßenes Knie kümmern, sich ein gemaltes
Bild anschauen, Windeln wechseln. Daneben sitzt vielleicht noch ein stilles Kind, das aber auch Aufmerksamkeit braucht. Wie kann ein Erzieher oder eine Erzieherin,
der bzw. die eine Gruppe von sechs oder sieben Kinder
betreut, dann auf die Bedürfnisse aller eingehen?
Es ist unsere Aufgabe, dass Kinder, egal wo sie leben,
egal in welcher Kommune, egal ob die Kommune reich
oder arm ist, eine gute Förderung und Betreuung erfahren.
({0})
Deswegen brauchen wir einen bundesweiten Qualitätsanspruch, der festlegt, wie viele Erzieherinnen und Erzieher eine Gruppe betreuen. Diesen Anspruch wollen
wir im Kinder- und Jugendhilfegesetz verankern. Nur so
kann das Geld auch wirklich in den Einrichtungen zur
Verbesserung der Qualität ankommen.
Frau Schwesig, Sie haben vorhin gesagt, wir würden
mit unserer Forderung nach Qualität implizit sagen: Die
Erzieherinnen und Erzieher leisten keine gute Arbeit.
Das ist keine feine Art. Keiner von uns, weder Frau
Golze noch ich noch irgendjemand, der hier sagt, wir
brauchen Qualität in unseren Einrichtungen, leugnet,
welch unglaublich tolle Arbeit die Erzieherinnen und Erzieher vor Ort leisten.
({1})
Es ist unglaublich, was sie vollbringen. Aber wir sagen
eben auch, dass sie am Rande des Machbaren, des Möglichen sind. Sie brauchen Unterstützung. Hier müssten
sie auf den Bund zählen können. Sie können es leider
nicht.
({2})
Davon ist im Gesetzentwurf leider nichts zu finden.
Man könnte denken: Vielleicht wird ja die Kita bei
mir um die Ecke umgerüstet. Endlich wird sie barrierefrei und ein Ganztagsbetrieb. - Das wäre durchaus ein
Qualitätsmerkmal. Aber wieder Fehlanzeige! Barrierefreiheit und Ganztagsbetrieb gibt es bei Ihnen nur bei
neuen Kitas und Kitaplätzen; dort wird das bereits standardmäßig gemacht. Es wird heute in Deutschland keine
Kita mehr gebaut, für die kein Ganztagsbetrieb und
keine Barrierefreiheit vorgesehen sind. Das ist Etikettenschwindel, was Sie uns da vorgelegt haben. Mit Qualität
hat das nichts zu tun.
({3})
Wenn es schon nicht mehr Erzieherinnen und Erzieher oder eine Umrüstung auf Ganztagsbetreuung und
Barrierefreiheit gibt, dann könnte man denken, Sie verknüpften den Ausbau wenigstens mit einem Qualitätsmanagement. Das wäre schließlich das Minimum.
Frau Schwesig, Sie haben uns neulich im Familienausschuss den Auftrag gegeben, unsere Ministerin Irene
Alt einmal zu fragen, was sie für die Kitaqualität tut. Das
habe ich natürlich gerne getan. Ich gebe Ihnen auch
gerne das Konzept aus Rheinland-Pfalz mit auf den Weg.
Es sieht ein sehr modernes Qualitätsmanagement vor. Es
ist ein Konzept mit Leitlinien und definiert, was Bildung
eigentlich bedeutet: zum Beispiel Partizipation von Kindern oder in die Kita integrierte Elternarbeit. Diese Leitlinien werden in die Schulungen aufgenommen, sind
dann Schwerpunkte in den Kitas und werden gemeinsam
evaluiert.
Auch hier wieder das Gleiche: In Ihrem Gesetz sieht
man keinen Zusammenhang zwischen Geld und Qualitätsmanagement. Das wäre eine Möglichkeit gewesen.
Aber auch hier wieder Fehlanzeige!
({4})
Warum gibt es das alles nicht? Weil Qualität eben
Geld kostet, Frau Ministerin. Es gab schon in der letzten
Sitzungswoche eine Debatte dazu. Ich bin sehr froh, dass
Sie nicht mehr von 1 Milliarde Euro gesprochen haben,
sondern selber endlich einsehen, dass es eben 550 Millionen Euro im Sondervermögen und 100 Millionen
Euro, die noch dazu kommen, sind. Das reicht aber nicht
für vier Jahre.
Frau Hagedorn, Sie haben eben gesagt, es gebe hier
Kontinuität. Aber die gibt es nicht. Es gab in den letzten
Jahren wesentlich mehr Geld für den Kitaausbau als
jetzt. Sie würgen das ab. Es gab 1 Milliarde Euro pro
Jahr. Jetzt sind es 650 Millionen Euro für vier Jahre. Wo
ist denn da die Kontinuität? Wo gehen denn da der Ausbau weiter und die Qualität nach oben? Das ist ein Abwürgen und keine Kontinuität.
({5})
Es ist insbesondere bitter, dass mit der SPD dafür anscheinend weniger rausgeholt wurde als mit der FDP.
Qualität darf keine Kür sein. Es ist Pflicht. Es ist eine
Verpflichtung gegenüber unseren Kindern. Wir sind uns
sicher: Deutschland kann mehr. Die Realität erfordert es.
Legen Sie die Kontinuität an den Tag, die Sie sonst gern
immer einfordern. Unsere Kinder verdienen es.
Ich danke Ihnen.
({6})
Als nächstem Redner erteile ich dem Abgeordneten
Philipp Graf von und zu Lerchenfeld, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Hohes Haus! Ich habe in der letzten
halben Stunde irgendwie das Gefühl gehabt, ich bin im
falschen Parlament.
({0})
Wenn ich mir Diskussionen über Qualitätssicherung anhöre, dann erinnere ich mich daran, dass das eigentlich
Aufgabe der Landtage ist. Bei uns ist es Aufgabe des
Bayerischen Landtags.
Liebe Frau Golze, liebe Frau Brantner, Qualität in der
Bildung ist Ländersache.
({1})
Da sollten wir uns im Bund möglichst zurückhalten
und uns nicht irgendwelche Dinge anmaßen, die originäre Aufgabe der Länder sind.
({2})
- Auch der Kommunen, selbstverständlich. - Wir sollten
die Aufgaben nicht vermischen und uns da heraushalten.
({3})
Uns gehen nur Dinge auf Bundesebene und nicht Länder- oder Kommunalangelegenheiten etwas an.
Dass wir mit diesem Gesetz den Kommunen und den
Ländern unter die Arme greifen, ist hervorragend. Ich
finde es sehr gut, dass wir auch jetzt hier für eine Entlastung der Kommunen sorgen, wie das auch in der vergangenen Legislaturperiode schon intensiv gemacht wurde.
Die Entlastung der Kommunen bei der Grundsicherung
im Alter und bei der Erwerbsminderung beläuft sich auf
25 Milliarden Euro. Sie wird, dadurch dass sie auf
100 Prozent angehoben wird, zu einer zusätzlichen Entlastung von 1,6 Milliarden Euro führen.
Die finanzielle Entlastung der Kommunen ist auch
weiterhin eine wichtige Aufgabe des Bundes. Das sieht
man an den Plänen, die wir im Koalitionsvertrag festgeschrieben haben. Wir wollen die Kommunen dieses Mal
um 1 Milliarde Euro und in Zukunft um 5 Milliarden
Euro entlasten.
Ich denke - das haben einige Redner vor mir auch
schon gesagt -, es ist ganz besonders wichtig, dass wir
auf eine hohe Trennschärfe achten, damit die Gelder
wirklich dort ankommen, wo wir sie politisch haben
wollen. Es kann nicht sein, dass die Finanzminister bei
den Geldern, die wir letztendlich den Kommunen zukommen lassen wollen, „klebrige Finger“ haben; ich
finde den Ausdruck von der Kollegin der SPD wunderbar. Es geht hier um die Entlastung der Kommunen, auch
aus dem Grund, dass dort Investitionen stattfinden, die
gerade diejenigen voranbringen - Mittelstand, Handwerker -, die es wirklich nötig haben und eine stabile Basis
unserer Wirtschaft sind. Es geht darum, die Handlungsfähigkeit der Kommunen zu stärken und einen Beitrag
zur Entlastung der Kommunen zu leisten. Es geht nicht
darum, Länderhaushalte zu entlasten. Ich freue mich
deshalb, dass der Verteilungsschlüssel dazu führt, dass
sowohl die starken wie auch die schwachen Kommunen
entsprechend Berücksichtigung finden.
Ich glaube aber, wir müssen uns im Rahmen der gesamten Diskussion auch darüber Gedanken machen, wie
unsere Aufgaben und unsere Verantwortlichkeiten wieder klarer zugeordnet werden können. Es ist wichtig,
dass wir wissen, welche Ebene eigentlich für welche
Dinge verantwortlich ist und welche Ebene wir politisch
verantwortlich machen können. Die Finanzierung der
Aufgaben, die die einzelnen Ebenen haben, muss dabei
natürlich gesichert sein. Ich denke, dass es dementsprechend unsere Aufgabe ist, dies in den kommenden Monaten bei den Verhandlungen über die Bund-LänderFinanzbeziehungen neu zu regeln.
Wir unterstützen die Kommunen sehr; aber auf Dauer
ist es wichtig, dass die Aufgaben und auch deren Finanzierung wieder den rechtlichen Gegebenheiten angepasst
werden. Es darf, wie ich vorhin schon gesagt habe, nicht
sein, dass der Bund dauernd originäre Aufgaben der
Länder oder der Kommunen finanziert und damit eine
weitere Vermischung von Finanzierung und Verantwortlichkeit geschaffen wird - insbesondere auch deshalb,
liebe Kolleginnen und Kollegen, weil dem Bund letztlich eine Kontrolle der Mittel verwehrt ist: Wir können
nicht kontrollieren, ob die Mittel wirklich den Kommunen zugutekommen oder ob sie irgendwo zwischendrin
hängenbleiben. Das ist uns leider durch Gerichtsurteile
und durch unsere Verfassung untersagt.
Es ist deshalb in meinen Augen von besonderer Bedeutung, dass bei der Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen die im Grundgesetz verankerte Zuständigkeit der Länder für ihre Kommunen gewährleistet
bleibt. Jede Ebene muss in eigener Verantwortung ihre
Aufgaben umfassend und verlässlich erledigen können,
und dafür braucht es eine sachgerechte Finanzierung.
({4})
Wie gesagt: Wir brauchen klare Verantwortlichkeiten.
Die Vermischung von Aufgaben und Finanzierung führt
ganz deutlich zu einer Unklarheit bei der Verantwortung.
Wir brauchen eine klare Aufgabentrennung zwischen
Bund, Ländern und Gemeinden. Wie ich vorhin gesagt
habe, braucht jede Ebene ausreichende Finanzmittel, um
ihre originären Aufgaben zu verwirklichen. Wenn man
das in der Konsequenz beherzigt, dann ist es sicherlich
auch ein Gedanke, von den Ländern zu erhebende Zuschläge auf die Steuern einzuführen, damit diejenigen,
die in der politischen Verantwortung stehen und ihre
Haushalte nicht in Ordnung bringen, ihren Bürgern entsprechend deutlich machen müssen: „Wir brauchen
mehr Geld von euch“, bzw.: „Andere Länder können
sich das vielleicht erlauben“.
({5})
Gerade unter dem Gesichtspunkt der Begrenzung der
Schulden durch die Schuldenbremse, die wir ab 2020
einführen, ist es ein Riesenproblem, dass die Länder
keine eigenen Möglichkeiten haben, ihre Steuereinnahmen zu erhöhen. Deswegen ist dies durchaus ein Gedanke, mit dem wir uns anfreunden können, wenn wir
darüber nachdenken, wie wir die Einnahmen der Länder
steigern können, ohne dass wir den Bund damit weiter
belasten.
Vielen Dank.
({6})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Bernhard Daldrup, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Lerchenfeld, auch wenn Sie versuchen, sich an dieser Stelle sozusagen in besonderer Weise als Steuertreiber und Steuererhöher zu profilieren, muss ich Ihnen sagen: Das wird nicht funktionieren. Wir wollen diese
Varianten mit regionalen Steuersätzen nicht, weil sie in
Wirklichkeit zu Steuerdumping führen müssen.
({0})
Packen Sie den Vorschlag einfach wieder ein, und vergessen Sie ihn erst einmal. Wir können aber auch gerne
später noch einmal darüber reden. Jetzt möchte ich ganz
gerne zum vorliegenden Gesetzentwurf Stellung nehmen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, im Konzert von
Haushaltssolidität, Entlastung der Kommunen und Stärkung ihrer Investitionskraft ist der vorliegende Gesetzentwurf ein wichtiger Baustein zur Umsetzung des Koalitionsvertrages. In Richtung der Kollegen von den
Grünen und der Linken sage ich: Es ist nicht der erste, es
ist nicht der einzige, und es wird auch nicht der letzte
sein.
({1})
Frau Karawanskij, Herr Kindler, natürlich gibt es gegen diesen Gesetzentwurf - wie das bei Gesetzentwürfen
meistens der Fall ist - einen zentralen Einwand, der in
einem Satz zusammengefasst lautet: Mehr Geld wäre
besser.
({2})
Naja, der Erkenntniswert dieses Satzes ist ebenso groß
wie der der Feststellung, dass es morgens hell wird. Das
stimmt irgendwie immer, hilft uns aber nicht weiter.
Herr Minister Schäuble und Frau Ministerin Schwesig
haben den Umfang der finanziellen Entlastungen in den
vergangenen Jahren und den des jetzt vorgesehenen Gesamtpakets hinreichend dargestellt. Der Maßstab unseres
politischen Handelns orientiert sich an dieser Stelle an
Johannes Rau, der gesagt hat: „Sagen, was man tut, und
tun, was man sagt“. Mit der Bereitstellung von 1 Milliarde Euro jährlich in den Jahren 2015 bis 2017 für die
Kommunen bis zur späteren jährlichen Entlastung in
Höhe von 5 Milliarden Euro im Kontext eines neuen
Bundesteilhabegesetzes tut die Koalition das, was sie im
Koalitionsvertrag vereinbart hat. Das ist, glaube ich, in
Ordnung. Sie müssen sich noch ein bisschen gedulden,
bis das alles umgesetzt wird, aber das ist unser Maßstab.
({3})
Glaubwürdigkeit ist in diesem Fall die Kategorie der
politischen Kultur, die wir hiermit nachweisen und für
uns in Anspruch nehmen. Ich sage das vor dem Hintergrund, dass manche behaupten, wir würden den Koalitionsvertrag brechen oder wir würden - was haben Sie
gesagt? - Placebos verteilen. Frau Karawanskij, lassen
Sie mich es mit den Worten Herbert Wehners sagen: „Es
gibt keine faktenersetzende Kraft der Phraseologie“.
({4})
Das sind keine Placebos. 3 Milliarden Euro sind eine
ganze Menge Geld.
Selbstverständlich weiß ich, dass durch die zur Verfügung gestellten Mittel, weder die für die Kommunen
vorgesehenen noch die für das Sondervermögen „Kinderbetreuungsaufbau“, allein nicht alle Probleme der
Kommunen gelöst werden können. Aber die Mittel stellen einen weiteren konkreten Schritt dar hin zur Entlastung der Kommunen und zur Schaffung zusätzlicher Kitaplätze.
Wir werden die Mittel zur Unterstützung der Kommunen bis zum Ende der Legislaturperiode weiter deutlich
erhöhen. Aber wir brauchen Zeit, um das Bundesteilhabegesetz gesetzgeberisch entsprechend zu gestalten und
um Klarheit über die künftige Gestaltung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen zu bekommen. Die Entlastung
der Kommunen bleibt aber eine prioritäre Aufgabe dieser Koalition.
({5})
Zu den Bausteinen - das betrifft das Jahr 2014 - gehört übrigens auch die Übernahme der Grundsicherung
im Alter. Mit der letzten Rate - das ist eben schon ein
paar Mal erwähnt worden - in Höhe von etwa 1,6 Milliarden Euro in 2014 - das ist übrigens mehr, als Sie für
das Jahr 2014 reklamierten - übernimmt der Bund allein
eine Entlastung, die in diesem Bereich bis zum Ende der
Legislaturperiode in der Summe rund 25 Milliarden
Euro ausmacht. Das ist alles andere als eine Kleinigkeit.
Ich will daran erinnern, dass das das Ergebnis des Vermittlungsausschusses im Zuge des Bildungs- und Teilhabepaketes war, für das sich die SPD im Bund und in den
Ländern massiv eingesetzt hat.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, für wen ist die finanzielle Entlastung, die dieses Gesetz leisten soll, eigentlich gedacht? Herr Lerchenfeld, Sie haben darauf
hingewiesen - ich bin völlig Ihrer Meinung -: Sie ist für
die Städte und Gemeinden, nicht für Landesregierungen.
Es ist keine Unterstützung, die Kürzungen an anderer
Stelle erlauben soll, nicht im Saarland, nicht in SachsenAnhalt oder bei Umlageverbänden. Es kommt ja schon
einmal vor - Herr Brinkhaus weiß das genauso gut wie
ich; ich weise darauf hin, weil wir beide aus NordrheinWestfalen kommen -, dass Leistungen des Bundes für
die Kommunen zum Anlass genommen werden, um am
kommunalen Finanzausgleich zu drehen, etwa indem
Landesregierungen den Kommunen die Beteiligung an
der Grunderwerbsteuer komplett streichen, dass sie zur
Konsolidierung des Landeshaushaltes zusätzlich herangezogen oder bei der Abrechnung der Einheitslasten
übervorteilt werden.
({7})
Wir kennen das aus Nordrhein-Westfalen, Herr
Brinkhaus. Das haben wir alles gemeinsam erlebt zu der
Zeit, als Jürgen Rüttgers Ministerpräsident war.
({8})
Aber mit dieser kommunalfeindlichen Politik in Nordrhein-Westfalen haben wir nach der Wahl von Hannelore
Kraft Schluss gemacht.
({9})
Heute beklagen sich Spitzenverbände und verschiedene andere Organisationen eher darüber, dass die Sanierung der Landesfinanzen auf dem Rücken der Kommunen erfolgt, beispielsweise in Hessen. Dort gibt es
einige, die da eine Aufgabe hätten.
({10})
Wir erwarten von allen Ländern, dass die Mittel den
Kommunen ungeschmälert zugutekommen, und zwar jeweils zur Hälfte durch eine Erhöhung der Bundesbeteiligung an den Kosten der Unterkunft und zur anderen
Hälfte durch eine verbesserte Umsatzsteuerbeteiligung.
Dieser Maßstab sichert unseres Erachtens die gerechte
Verteilung der jährlich zur Verfügung stehenden Milliarde. Das hilft den Kommunen mit einer höheren Arbeitslosenquote mehr als eine reine Erhöhung der Umsatzsteuerbeteiligung.
Die meisten wissen, dass der bundesweite finanzielle
Überschuss aller Kommunen trügerisch ist - dieser Aspekt wurde eben von den Grünen, aber auch vom Finanzminister angesprochen -, weil er der immer noch zu
geringen Investitionstätigkeit der Kommunen geschuldet
ist und weil er die sich öffnende Schere zwischen armen
und reichen bzw. wohlhabenden Kommunen sowie steigende Kassenkredite und Sozialausgaben verschleiert.
Ich erspare Ihnen an dieser Stelle die Auflistung der im
negativen Sinn beeindruckenden Zahlen. Dieser Entwicklung wollen und werden wir auch mit diesem Gesetz entgegenwirken. Mit diesem Gesetz wird ein Teil
der Entlastung der Länder und Kommunen durch das
6-Milliarden-Euro-Paket realisiert, das die Länder vom
Bund erhalten, um Kinderkrippen, Kitas, Schulen und
Hochschulen zu finanzieren.
Neben der Aufstockung des Sondervermögens ermöglichen es die in den Jahren 2017 und 2018 jährlich
zusätzlich zur Verfügung stehenden 100 Millionen Euro
- sie ergeben sich aus einer höheren Umsatzsteuerbeteiligung - den Ländern, ihre Kommunen von den Betriebskosten zu entlasten und damit bessere Bedingungen für
mehr Erzieherinnen und Erzieher zu schaffen. Ich
glaube, Herr Rehberg, es ist falsch, Qualitätsverbesserung und Beitragsfreiheit in diesem Kontext gegeneinander auszuspielen. Die Ministerin hat zu Recht darauf
hingewiesen, dass es sich um Zukunftsinvestitionen handelt. Das ist, wie ich glaube, gut und richtig.
({11})
Mit dem Gesetzentwurf ist die Schaffung zusätzlicher
Kitaplätze übrigens keineswegs abgeschlossen.
Sollten die veranschlagten Mittel für die Kinderbetreuung für den Aufwuchs nicht ausreichen, werden
sie entsprechend dem erkennbaren Bedarf aufgestockt.
So heißt es auf Seite 63 des Koalitionsvertrages. Das ist
für uns der Beurteilungsmaßstab.
Herr Abgeordneter, denken Sie bitte an die Redezeit.
Ich komme zum Schluss.
Ich glaube, dass dieses ganze Projekt, dass dieser Gesetzentwurf ein wesentlicher Beitrag zur Stärkung kommunaler Demokratie ist. Das ist wichtig; denn wir müssen Wahlenthaltung und Wählerprotest gewissermaßen
als Seismografen verstehen, die die Handlungsnotwendigkeit in einem Sektor wie diesem begründen.
Ich hätte gerne noch ein bisschen mehr Redezeit, aber
das geht nicht; das weiß ich wohl.
Sie haben schon eine Minute zusätzlich.
Ich muss deswegen an dieser Stelle schließen. Ich
darf aber noch sagen, dass wir diesem Gesetzentwurf im
weiteren Verfahren unsere Unterstützung geben werden.
Herzlichen Dank.
({0})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Marcus
Weinberg, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Hinsichtlich der
richtigen und guten Politik für Familien beginnt nun die
zweite Halbzeit. Herr Daldrup hat von der Erkenntnis
gesprochen, dass es jeden Morgen hell wird. Ich glaube,
man kann sagen: Für Familien wird es heute besonders
hell, weil wir heute über zwei große Gesetzentwürfe beraten. Es geht um Partnerschaftlichkeit und mehr Zeit für
Familien - Elterngeld -; aber auch die Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist wichtig, wofür der
Ausbau der Infrastruktur entscheidend ist.
Heute Morgen wurden drei prägende Zahlen genannt:
zweimal 5,4 und einmal die große Null. Für eine gute,
langfristige und nachhaltige Familienpolitik ist zentral
- das hat Eckardt Rehberg schon gesagt -, dass Schluss
gemacht wird mit neuen Schulden. Bei den Dingen, die
wir jetzt auf den Weg bringen, und bei den großen Summen, die wir ausgeben, ist dies der Überbau. Dieses Ziel
leitet uns und trägt uns maßgeblich.
Wir haben in der vorangegangenen Debatte über
5,4 Milliarden Euro für das Elterngeld gesprochen.
Diese Summe steigt. Diese Ausgabe ist richtig, aber das
ist auch sehr viel Geld. Wir diskutieren jetzt über den
Krippenausbau. Hier geht es um Investitionen in Höhe
von 5,4 Milliarden Euro in den letzten Jahren.
In einer solchen Debatte muss man auch nach der
Verantwortung in einem föderativen System fragen und
überlegen, welche Teile dieses Systems für welche Bereiche Verantwortung haben. Richtig ist, dass der Bund
den Ausbau der Kindertagesbetreuung als nationale Aufgabe angesehen hat und gesagt hat: Wir erachten den
Ausbau der Kindertagesbetreuung nicht nur hinsichtlich
der Vereinbarkeit von Familie und Beruf als zentral, sondern auch im Zusammenhang mit Integration, also im
Zusammenhang mit der Vermittlung von Sprachkenntnissen, Bildung und weiteren Dingen. Es war eine richtige Entscheidung, sich auf dem sogenannten Krippengipfel für den Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz ab
dem 1. August 2013 auszusprechen. Es war eine immens
wichtige Botschaft, das fest zu verankern. Das war richtig und wichtig.
Aber die Erwartungshaltung im föderativen System
ist, dass diejenigen, die davon profitieren, auch die Frage
zu beantworten haben, was sie leisten. Ich bin ein wenig
irritiert, wenn ich manche Wahlkämpfe in bestimmten
Bundesländern beobachte; die Landesvertreter sind heute
Morgen nur in begrenzter Zahl anwesend. Wir tun aus
purer Überzeugung viel für die Länder und Kommunen.
Es ist ein Problem, wenn man dann sieht, dass in einigen
Ländern bei Wahlkämpfen viele Dinge versprochen werden, die andere - in dem Fall der Bund - mit zu tragen
haben, zum Beispiel die Abschaffung der Studiengebühren oder die Abschaffung der Elternbeiträge. In Niedersachsen wurde im Wahlkampf die dritte Betreuungskraft
im Krippenbereich versprochen. Das kann man versprechen, wenn man es finanzieren kann. Aber bei der Frage
nach dem Verwendungszweck der Bundesmittel kann es
dann Probleme geben. Werden die Mittel, die wir zur
Verfügung stellen, zum Beispiel für das BAföG oder die
anteilige Übernahme der Betriebskosten, richtig bereitgestellt?
Auch die Frage der Qualität spielt dann eine Rolle,
nicht nur in der Verantwortung der Länder, aber insbesondere in der Verantwortung der Länder. Wenn das
Bundesland mit dem schlechtesten Betreuungsschlüssel
- in diesem Fall darf ich den Namen nennen, es handelt
sich um Hamburg; dort gibt es einen Betreuungsschlüssel von 1 zu 4,7, wenn man es genau rechnet, sogar von
1 zu 7 - entscheidet, dass die Elterngebühren abgeschafft werden, ist das eine politische Entscheidung, die
man tragen kann oder nicht. Wenn man aber gleichzeitig
den schlechtesten Betreuungsschlüssel hat und nichts in
die Qualität investiert, dann, glaube ich, ist das durchaus
ein Problem, das angesprochen werden muss.
({0})
Nicht nur in Bezug auf Hamburg, sondern auch in
Bezug auf das südlich davon liegende Bundesland Niedersachen muss man fragen, ob die BAföG-Mittel tatsächlich bei den Studierenden ankommen. Als Verwendungszweck für diese Mittel wurde angegeben, dass sie
der Entlastung im Bereich BAföG dienen. Doch weder
in Hamburg noch in Niedersachen kommen die Mittel
an. Wenn dann ein Wahlversprechen wie die dritte Betreuungskraft in Krippen - sie ist wichtig; das ist gut über eine Entlastung in einem anderen Bereich finanziert
werden soll, dann ist das mit dem Verwendungszweck
nicht vereinbar und dann muss man ansprechen, dass das
so nicht in Ordnung ist.
({1})
Diese kleine Bemerkung in Richtung der Länder sollten Sie mir gestatten, weil wir als Bund die Situation
dort beobachten. Wir unterstützen die Länder aus Überzeugung. Zum Beispiel im Bildungsbereich geben wir
jährlich über 2 Milliarden Euro für originäre Aufgaben
der Länder aus.
({2})
Dies ist uns wichtig. Aber hier und da sollte man überlegen und schauen, was die Länder mit den zur Verfügung
gestellten Mitteln machen. Das ist richtig und wichtig.
Ich komme zur Frage der Qualität. Die Forderung
nach mehr Qualität ist auch im vorliegenden Antrag formuliert worden. Ich glaube, dass wir uns alle einig sind,
dass eine Qualitätssteigerung im Krippenbereich ele5106
Marcus Weinberg ({3})
mentar ist, nicht nur - das hat auch die Ministerin gesagt - bei der Frage des Betreuungsschlüssels, sondern
auch bei der Frage der Angebote: Was können wir noch
leisten? Die Frage ist auch: Muss dies über ein Gesetz
des Bundes geregelt werden? Wissen nicht die Verantwortlichen sowohl auf Bundesseite als auch auf Länderseite, dass es hier eine hohe Verantwortung gibt? Ich
glaube, wir sollten den Weg gehen, der jetzt angestrebt
wird, nämlich auf der Konferenz im November festzulegen, wo wir Standards setzen, wohin wir in diesem Bereich wollen und was wir bereit sind zu erfüllen.
Ich weiß und wir wissen: Der Bund kann Gesetze verabschieden, aber er muss deren Umsetzung auch finanziell leisten. Da stellt sich die Frage, inwieweit wir das
auch vor dem Hintergrund unserer originären Aufgaben
weiter leisten können. Das föderative System lebt auch
von der Akzeptanz, dass jeder seine Aufgaben erledigt.
Deswegen war es uns wichtig, in diesem Bereich darauf zu achten, dass wir den veränderten Wünschen der
Eltern gerecht werden wollen. Wir haben gerade bei der
Debatte zum Elterngeld viele Zahlen gehört, durch die
deutlich wurde, was Eltern von der Politik erwarten. Ich
will nur drei Zahlen im Hinblick auf die Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf und den Krippenausbau nennen: Für 81 Prozent der Befragten ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf weiterhin die zentrale
Frage, die immer mehr durch die Frage der Vereinbarkeit
von Pflege und Familie ergänzt wird. 34 Prozent der
Mütter würden tatsächlich gerne länger arbeiten, wenn
sie eine entsprechende Betreuungsmöglichkeit hätten.
Die Mütter kehren heute nach durchschnittlich 19 Monaten zu ihrem Arbeitgeber zurück. Aber viele Mütter würden gerne früher in Teilzeit zurückkehren. Ich glaube,
vor dem Hintergrund dieser Zahlen ist der Ausbau der
Kindertagesbetreuung eine zentrale Aufgabe.
Wenn ich das so sagen darf: Herr Kindler - er beschäftigt sich jetzt zu Recht mit anderen Dingen -, wir
reden ja nicht nur über die 5,4 Milliarden Euro für den
Ausbau der Angebote im Krippenbereich. Wir stellen
auch Mittel in Höhe von 400 Millionen Euro für das Programm „Frühe Chancen“ bereit. Das ist eine sehr wichtige und gute Maßnahme für Spracherwerb und Integration. Ich könnte aus dem Etat des BMBF die Stiftung
„Haus der kleinen Forscher“ nennen. Dort geben wir viel
Geld aus, um die Bildungsimplikationen zu steigern. Ich
nenne das Aktionsprogramm Kindertagespflege, ich nenne
das KfW-Förderprogramm für den Ausbau von Kitas und
die Arbeitsgruppe zur Fachkräftegewinnung für die Kindertagesbetreuung, Weiterbildungsmaßnahmen für pädagogische Kräfte und, und, und. Der Bund tut also deutlich mehr, als Herr Kindler beschrieben hat. Ich glaube,
darauf könnten wir häufiger hinweisen, weil das gute
und wichtige Dinge sind.
Wir stocken die Mittel für das Sondervermögen „Kinderbetreuungsausbau“ jetzt um 550 Millionen Euro auf.
Ich glaube, es ist wichtig, dass wir die Mittel in drei
Tranchen - 230 Millionen Euro, 220 Millionen Euro und
100 Millionen Euro - einsetzen, sodass auf jeden Fall
gewährleistet ist, dass es dort, wo ausgebaut werden soll,
keine Phase gibt, in der dieser Ausbau möglicherweise
stottert. Es wurde bereits angesprochen, aber ich sage
es noch einmal: Nachdem wir bei sehr wenigen Plätzen
gestartet sind, kommen zu den bisher zugesagten
780 000 Plätzen jetzt noch einmal 30 000 Plätze hinzu.
Zu den Betriebskosten. Ich glaube, das ist ein zentraler Punkt. Der Anteil des Bundes wird in wenigen Jahren
bei 945 Millionen Euro liegen. Das sind also fast 1 Milliarde Euro für eine originäre Aufgabe der Länder. Wir
sind uns, wie gesagt, darin einig, diese Ausgabe vorzunehmen. Allerdings erwarten wir hier natürlich auch,
dass dies zu einer Steigerung der Qualität führen wird.
Die Verstetigung der Mittel für den Bereich „Schwerpunkt-Kita Sprache & Integration“ in Höhe von
126 Millionen Euro ist auch richtig, weil dadurch deutlich wird, dass wir den Ausbau der Kindertagesbetreuung als eine Maßnahme zwischen Sozialpolitik, Integrationspolitik, Familienpolitik und Arbeitsmarktpolitik
bewerten.
Ich will in Bezug auf die Ergebnisse, die wir in den
letzten Jahren erzielt haben, nur ein paar Zahlen nennen:
Der Ausbau der Kinderbetreuung trägt zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf bei. Über 100 000 Mütter mit
Kindern zwischen einem Jahr und drei Jahren wären
ohne diese Betreuungsmöglichkeit nicht erwerbstätig.
Der Ausbau der Kinderbetreuung verringert das Armutsrisiko aller Familien mit Kindern bis zu zwölf Jahren um
rund 7 Prozentpunkte.
Die Erwartungshaltung junger Mütter und junger Väter - auch das wissen wir aus den Umfragen - in Bezug
auf die Zielsetzung und die Qualität lautet: Sozialisation,
Integration in eine soziale Gruppe, Kreativität, Sprachentwicklung und Bildungsimplikationen. Deshalb werden wir uns auch über die Qualität unterhalten. Wir werden eine Qualitätssteigerung allerdings nicht wieder in
einem Gesetz vorschreiben, sondern wir erwarten nach
Diskussionen mit den Ländern, dass hier freiwillig neue
Wege gegangen werden, um der kommunalen Verantwortung gerecht zu werden.
Insgesamt kann man sagen, dass wir mit diesem Maßnahmenkatalog und diesem Ausbautempo im Ergebnis
das erreichen, was seit mittlerweile acht Jahren, seit der
ersten Großen Koalition, angestrebt wird: dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf in die nächste Epoche
geht. Ich denke, aufgrund der heute vorliegenden Gesetzentwürfe - dem Elterngeld Plus auf der einen Seite
und dem Ausbau der Kindertagesbetreuung auf der anderen Seite - ist heute ein Happy Friday bzw. ein Family
Friday. Das ist der richtige Weg. Deswegen glaube ich,
dass das heute Morgen eine gute Debatte für alle Familienpolitiker war.
Herzlichen Dank.
({4})
Vielen Dank. - Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist die Kollegin Uli Gottschalck, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Städte und Gemeinden sind die Kraftwerke unseres sozialen Miteinanders. Kinderbetreuung, Nahversorgung, gute Mobilität, das soziale Netz: Alles muss
vor Ort organisiert und auch finanziert werden. Deutschland braucht deshalb starke Kommunen, in denen die
Menschen gerne leben und sich wohlfühlen. In den Städten und Gemeinden merken die Menschen am ehesten,
ob die Daseinsvorsorge funktioniert oder eben nicht.
In letzter Zeit stottern die Kraftwerke, die Städte und
Gemeinden, leider öfters, weil sie erheblich unter den
ständig steigenden Sozialkosten leiden. Sie kämpfen mit
der demografischen Entwicklung, und sie kämpfen seit
Jahren darum, wirklich handlungsfähig zu bleiben. Deshalb bin ich sehr froh und dankbar, dass sich die Fraktionen der Regierungskoalition im Koalitionsvertrag darauf
verständigt haben, der Entlastung der Kommunen eine
absolute Priorität einzuräumen.
({0})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Gäste,
man vergisst das schnell, aber wir setzen das sukzessive,
scheibchenweise um. Ich nenne Ihnen hier einmal ein
paar Beispiele: In diesem Jahr - das haben wir schon gehört - übernimmt der Bund 100 Prozent der Kosten für
die Grundsicherung im Alter. Wir haben dafür gesorgt,
dass die Gewerbesteuer weiterhin die Haupteinnahme
der Kommunen ist. Wir haben die Mittel für die Städtebauförderung auf 700 Millionen Euro ordentlich erhöht
({1})
und hier insbesondere das Programm „Die soziale Stadt“
aufgepeppt. Es gibt wieder Bundesmittel für den altersgerechten Umbau von Wohnungen. Wir haben den Mindestlohn durchgesetzt, durch den viele Kommunen im
Hinblick auf die Sozialausgaben entlastet werden. Wir
werden die Kosten für das BAföG jetzt vollständig und
dauerhaft übernehmen. Und der heutige Gesetzentwurf
sieht vor, dass es noch mehr Geld für die Kinderbetreuung gibt.
Ich denke, ich muss jetzt gar nicht weiter ausholen.
Unsere Ministerin Manuela Schwesig hat ja wirklich toll
dargestellt, wie wir uns das vorstellen, und vor allen
Dingen, wie sie das als Familienministerin managt. Ich
möchte sie an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich loben. Jeder, der unseren guten Finanzminister kennt,
weiß, wie schwierig es ist, Herrn Schäuble auch nur eine
müde Mark aus dem Kreuz zu leiern.
({2})
Deshalb noch einmal: Glückwunsch zum Elterngeld
Plus! Glückwunsch, dass wir das heute auf den Weg
bringen können!
Meine sehr geehrten Damen und Herren, mit dem
vorliegenden Gesetzentwurf werden die Kommunen
nochmals um 1 Milliarde Euro entlastet. Ich denke, das
ist wirklich keine Kleinigkeit. Ich mache es Ihnen einmal am Beispiel meines Landkreises deutlich. Für meinen Landkreis bedeutet das für 2015 eine Entlastung um
immerhin 800 000 Euro, und 2016 kommt ja zeitversetzt
im Rahmen der Neuregelung bei der Umsatzsteuer auch
noch etwas zurück, wenn die Länder - ich oute mich
jetzt, was die Länderminister angeht, als die Haushälterin, die das mit den klebrigen Fingern gesagt hat - ordentlich mitmachen.
Weil Herr Kindler und Frau Brantner wieder so getan
haben, als würden wir überhaupt nichts für die Kommunen tun, darf ich an dieser Stelle einmal zwei Beispiele
aus meinem Heimatland Hessen anführen. In Hessen regieren die Grünen seit geraumer Zeit mit. Jedes Jahr
werden im Rahmen des kommunalen Finanzausgleichs
360 Millionen Euro entnommen. Es gibt keine auskömmliche Finanzierung für die Unterbringung von
Flüchtlingen und Asylbewerbern.
({3})
Das Land Hessen hat allein bei uns, dem Landkreis Kassel, Schulden in Höhe von 9 Millionen Euro angehäuft,
weil es nicht für eine auskömmliche Finanzierung aufkommt.
Insofern klaffen Theorie und Praxis auseinander. Es
geht nicht, dass man hier auf Bundesebene laut Kritik
äußert und sich auf Landesebene, wo man gestalten
könnte, dezent zurückhält. Auf Ihre Kontinuität verzichten wir da lieber.
({4})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich komme
zum Schluss. Ich denke, heute liegt ein wirklich guter
Gesetzentwurf vor, der die Kommunen erneut entlastet
und der im Hinblick auf unsere Kinder erneut für mehr
Chancengerechtigkeit sorgt. Deshalb ein herzliches Dankeschön an alle, die daran beteiligt waren! Wir werden
weiter kontinuierlich für die genannten Ziele kämpfen.
Danke schön.
({5})
Vielen Dank. - Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/2586 und 18/2605 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Nicole Maisch, Renate Künast, Luise Amtsberg,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes über die Einführung von
Gruppenverfahren
Drucksache 18/1464
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Renate
Künast, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen, die Sommerpause ist noch
nicht allzu lange vorbei. Erinnern Sie sich doch zum
Beispiel einmal daran, ob Sie eine Bahn- oder Flugreise
unternommen und dabei enorme Verspätungen erlebt haben. Sie haben sich dann vielleicht gefragt: Wie ist das
denn mit der Entschädigung? Äußere ich mich? Frage
ich einmal nach? Oder soll ich vielleicht sogar klagen?
Mag sein, dass die Deutsche Bahn diesbezüglich nicht so
schlecht ist wie ihr Ruf, sondern schon selbstverständlicher und geduldig Vordrucke verteilt. Ich glaube, dass
das bei manchen Fluggesellschaften viel schwieriger ist,
weil diese sich zieren und versuchen, das Ganze erst einmal zeitlich zu strecken.
Oder stellen Sie sich eine andere Situation vor: Sie
haben den Stromanbieter gewechselt. Der neue Stromanbieter hat Ihnen angeboten, Ihnen nach zwölf Monaten
einen Wechselbonus auszuzahlen. Nach exakt zwölf
Monaten wechseln Sie schon wieder, weil ein anderer
Anbieter einen niedrigeren Tarif hat. Der bisherige
Stromanbieter zahlt daraufhin die Prämie nicht. Klagen
Sie?
Oder: Sie haben eine Lebensversicherung abgeschlossen und aus persönlichen Gründen vorzeitig gekündigt.
Von Ihrem eingezahlten Geld bekommen Sie kaum etwas zurück, weil irgendwo im Vertrag in den Tiefen des
Kleingedruckten versteckt ist, dass man erst Verwaltungs- und Bearbeitungsgebühren zahlen muss und diese
von dem eingezahlten Geld abgezogen werden. Die
Frage ist wieder: Klagen Sie?
All diese Fälle - man könnte noch mehr nennen - haben eines gemeinsam, nämlich folgendes Ungleichgewicht: Sie haben auf der einen Seite den einzelnen,
wirtschaftlich schwächeren Verbraucher oder die Verbraucherin und auf der anderen Seite mächtige Firmen
und Unternehmen mit ganzen Rechtsabteilungen und
Horden von Anwälten. Der Verbraucher, die Verbraucherin steht allein mit dem Schaden da. Sie müssen sich
jetzt entscheiden: Klage ich?
Aus Verbrauchersicht ist es so: Je kleiner der Schaden, desto größer die Scheu. Wer möchte schon wegen
2,95 Euro klagen, viel Zeit verlieren und Ärger riskieren? Das gilt aber reziprok proportional für die Unternehmen. Während für den Verbraucher gilt: „Je kleiner
der Schaden, desto größer die Scheu“, sagen die Unternehmen: Je kleiner der Schaden, desto besser die
Aussicht, dass 10 000 Betroffene eben nicht klagen.
10 000-mal 2,95 Euro ist ein schöner Gewinn. Kleinvieh
macht auch Mist, wäre eine andere Variante, um diesen
Zustand aus der Sicht der Unternehmen zu beschreiben.
- Die Ansprüche werden nicht geltend gemacht; das ist
das, was wir sehen.
Deshalb haben wir uns die Mühe gemacht, für dieses
Problem eine Lösung vorzulegen. Wir stellen fest, dass
so etwas in den unterschiedlichsten Varianten immer
wieder vorkommt: beispielsweise bei einer angemessenen Entschädigung für einen verspäteten Flug oder bei
den schon genannten 2,95 Euro, zum Beispiel beim ECommerce oder bei Apps und Ähnlichem.
Wir meinen, dass wir an dieser Stelle - ich formuliere
das einmal so unter uns Juristen - das Skalpell in die
Hand nehmen und an das Herzstück des deutschen Zivilrechts herangehen müssen, an die Zivilprozessordnung.
Das ist ja angeblich die Krone des Rechts. Wie man darauf kam, weiß ich auch nicht. Aber darin stehen die
wichtigen Dinge. Wir müssen Waffengleichheit herstellen. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass es hier keine
Schieflage gibt, deshalb die OP an der Zivilprozessordnung.
Was wir brauchen, sind Formen kollektiver Rechtsdurchsetzung, so nennt man das. Das deutsche Recht
kennt das bisher schon. Beim Unterlassungsklagegesetz
überlegt die Bundesregierung zum Beispiel gerade völlig
zu Recht - das wird schon lange von einigen, auch von
uns gefordert -, eine Verbandsklagemöglichkeit bei Datenschutzverletzungen zu ermöglichen. Wenn eine Information über Sie ohne Ihre Erlaubnis weitergegeben
wird, dann überlegen Sie: Mache ich da etwas, oder lasse
ich es, obwohl ich unzufrieden bin? - Es ist also richtig,
dass es da Verbandsklagemöglichkeiten geben soll. Warum? Weil nur so Interessenvertretungen des Vertragsschwächeren gewährleistet werden.
({0})
Bei diesem Fall und den anderen, die ich gerade aufgezählt habe, ist es so - das will ich klar sagen -: Es betrifft eine Vielzahl von Personen. Das ist quasi ein Massenereignis. Es handelt sich um gleichgelagerte Verträge,
gleiche Lebenssachverhalte. Alle Betroffenen erfahren
eine mehr oder weniger geringe Schädigung. Da brauchen wir jetzt eine prozessuale Lösung.
({1})
Wir haben einen Gesetzentwurf, der das Zivilrecht
betrifft, vorgelegt. Ausnahmen stellen das Familienrecht
und die freiwillige Gerichtsbarkeit dar; dort muss nach
anderen Regeln vorgegangen werden. Wir sagen: Es
muss eine Klagemöglichkeit geben, bei der dann allerdings Teilnehmer des Verfahrens nur wird, wer in diesen
Gruppenverfahren gegenüber dem Gericht erklärt: Ich
will an diesem Verfahren teilnehmen. - Wir sagen: Die
Anwalts- und Gerichtsgebühren kann man dann auf vier
Gebühren reduzieren, damit nicht 20- oder 30-mal die
Gebühr erhoben wird, ohne dass dafür etwas getan wird.
Für diejenigen, die klagen und an dem Gruppenverfahren teilnehmen, heißt das aber: Die Höhe des Prozessrisikos ist relativ begrenzt.
({2})
Wir wollen an dieser Stelle aber auch ein praktikables
Verfahren. Das heißt: Diejenigen, die am Gruppenverfahren teilnehmen - das können bis zu 20 Personen
sein -, sind dann vor dem Zivilgericht nicht alle zu Prozesshandlungen ermächtigt, sondern der oder die Gruppenklägerin nimmt treuhänderisch die Rechte der anderen wahr, damit das Verfahren praktikabel ist. Wir sagen:
Eine solche Gruppenklage kann auf Leistung, also Schadenersatz bzw. Entschädigung für Verspätung, abzielen;
sie kann sich aber auch als Feststellungsklage gegen
rechtswidrige AGB richten.
Wir wollen aber kein Gruppenverfahren im Sinne einer Sammelklage nach US-amerikanischem Vorbild.
Dort ist es so, dass ein Anwalt klagt, der zunächst alle
angeblich Betroffenen sozusagen im Hinterkopf hat und
dann später aus dem, was er erstritten hat, erst einmal
10 bis 20 Prozent als Anwaltsgebühr und Kostenerstattung für sich abzieht. Das wollen wir nicht. Wir wollen
vielmehr ein Opt-in-Verfahren. Das heißt, das Verfahren
gilt nur für Personen, die ausdrücklich gesagt haben: Ich
will mit meinem Fall an diesem Verfahren teilnehmen.
Ich glaube, dass wir damit eines schaffen, nämlich
dass die kleinen Fälle, bei denen die Verbraucher kein
Recht bekommen, endlich mit in die Steuerungsfunktion
des Rechts aufgenommen werden. Denn das Recht hat
auch eine Aufgabe: am Ende sozusagen subkutan faire
Marktbedingungen zu ermöglichen und zu gewährleisten, dass man nicht über den Tisch gezogen wird.
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. Die Europäische Kommission hat uns im Juni 2013 aufgefordert,
kollektive Rechtsschutzverfahren einzuführen. Auf eine
Kleine Anfrage hat die Bundesregierung neulich geantwortet: Sie prüft, ob zur Verbesserung des kollektiven
Rechtsschutzes gesetzgeberische Schritte nötig sind.
Aber nicht mehr alles vorlesen, Frau Kollegin Künast.
Meine Damen und Herren, ich erlaube mir an dieser
Stelle einen kostenlosen Rechtsrat: Wenn Sie nichts tun,
verstoßen wir gegen die Empfehlung der Kommission.
Ich bitte Sie deshalb, unseren Vorschlag zur Einführung
von Gruppenverfahren aufmerksam zu lesen und ihm
dann auch zuzustimmen.
({0})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Sebastian
Steineke, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Den Gesetzentwurf, den Frau Künast für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen zur Einführung von Sammelklagen - man muss deutlich sagen: es sind Sammelklagen,
um die es heute geht, keine Gruppenverfahren - eingebracht hat, haben Sie uns schon im letzten Jahr vorgestellt, und zwar kurz vor der Bundestagswahl. Kollege
Luczak hat damals völlig zu Recht festgestellt: Das war
reines Wahlkampfgeplänkel.
({0})
- Reines Wahlkampfgeplänkel. So haben Sie es gemacht. - Sie konnten aber weder die Fachverbände noch
die zuständigen Bundestagsgremien beteiligen. Auch die
erneute Einbringung ändert aber nichts daran, dass der
Gesetzentwurf in die völlig falsche Richtung geht, Frau
Kollegin.
Bemerkenswert ist übrigens auch, dass Ihre Fraktion
- Sie haben eben darauf hingewiesen - am 19. Mai eine
Kleine Anfrage zu diesem Thema an die Bundesregierung gerichtet hat, in der Sie sich nach dem Stand der
Überlegungen und weiteren Arbeitsschritten der Bundesregierung erkundigt haben. Was aber machen Sie
zwei Tage später? Ohne die Antwort abzuwarten, reichen Sie einen eigenen Gesetzentwurf mit 26 Paragrafen
ein. Das ist reiner Aktionismus und macht keinen Sinn.
({1})
- Genau so ist es, Frau Künast. Sie können ja nächstes
Mal die Antwort abwarten.
Sie haben davon gesprochen, dass die Zivilprozessordnung eher nicht die Krone Rechts sei, oder wie auch
immer Sie es formuliert haben. In der Vorbemerkung
zum Gesetzentwurf betonen Sie aber völlig zu Recht,
dass wir eine wunderbare ZPO haben. Sie hat sich seit
130 Jahren als zuverlässige, sachgerechte Prozessordnung bewährt. Wir haben sie auch immer wieder den
Notwendigkeiten angepasst.
Sie wollen mit der Einführung der Sammelklage einen komplett neuen Abschnitt einfügen, der aus Ihrer
Sicht notwendig ist. Aus unserer Sicht ist er das definitiv
nicht.
Auch der jüngste Gedanke über die Einführung eines
kollektiven Rechtsschutzes - Sie haben darauf hingewiesen - geht einzig und allein auf eine Empfehlung der
Europäischen Kommission zurück. Wie schon bei der
geplanten Änderung der Small-Claims-Verordnung konnten wir feststellen, dass nicht immer alles gut und richtig
ist, was aus Brüssel kommt.
({2})
In diesem Fall handelte es sich lediglich um einen Appell statt um eine gesetzlich umzusetzende Vorgabe.
Wir haben in unserem Rechtssystem bereits jetzt ausreichend effiziente und kostengünstige Instrumente zur
Durchsetzung von individuellen Rechten. Dazu gehören
neben den gängigen Individualklagewegen, die jedem
bekannt sein dürften, im Übrigen auch mehrere ähnlich
gelagerte Möglichkeiten im kollektiven Rechtsschutz.
Schon in jüngster Zeit sind Sammelklagen gegen Banken, Energieversorger oder Versicherungen erfolgreich
und basierend auf den heute bestehenden kollektiven
Rechtsschutzmöglichkeiten geführt worden. Wenn Sie
die Antwort der Bundesregierung abgewartet hätten,
wüssten Sie das.
Verbände können schon jetzt nach dem Unterlassungsklagegesetz oder dem Gesetz gegen den unlauteren
Wettbewerb Sammelklagen erheben. Zudem sind bereits
heute die Streitgenossenschaft in der ZPO, die Prozessverbindung, die Möglichkeit der Musterklage nach dem
Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz im Rahmen eines effizienten und vereinfachten Gerichtsverfahrens
möglich und auch vor dem Hintergrund eines kollektiven Rechtsschutzes absolut ausreichend.
({3})
Die in Ihrem Gesetzentwurf vorgesehene fast umfassende Einführung von Sammelklagen stößt aber auch in
vielerlei anderer Hinsicht auf Bedenken. Wir haben in
unserer Verfassung das in Artikel 103 fest verankerte
und uneingeschränkte Grundrecht auf rechtliches Gehör.
Das betrifft jedes einzelne Individuum, das seine Rechte
geltend machen will. Diesem Grundsatz wird die Sammelklage in keiner Weise gerecht. Der Teilnehmer
schließt sich der Gruppe an, die durch einen Gruppenführer vor Gericht vertreten wird. Den Gruppenführer
kann man nach Ihrem Gesetzentwurf höchstens ablösen
bzw. auswechseln. Das verhindert jedoch nicht, dass der
Einzelne vor Gericht nicht mehr angehört wird. Auch
wenn es sich um eine Bündelung von gleichgelagerten
Fällen handelt, kann nicht ausgeschlossen werden, dass
der Einzelne zu dem Sachverhalt etwas beizutragen hat.
Je größer die Gruppe, desto geringer der Einfluss des
Einzelnen.
({4})
Ein weiterer Punkt ist die hohe Missbrauchsanfälligkeit von Sammelklagen. Ich will durchaus einräumen,
dass Sie versucht haben, die diesbezüglichen Gefahren
einzudämmen. Gelungen ist es Ihnen in Ihrem Gesetzentwurf nicht. Ich bin der festen Überzeugung, dass
dem Instrument der Sammelklage die Gefahr des Missbrauchs geradezu immanent ist.
({5})
Viele Rechtsanwälte verfolgen in ihrer Arbeit - das ist
auch richtig so - ein eigenes wirtschaftliches Interesse.
Mit jedem Rechtsstreit soll und muss Geld verdient werden. Ein redlich arbeitender Anwalt hat darüber hinaus
die Verpflichtung, seinem Mandanten zu helfen und das
Bestmögliche für ihn herauszuholen. Bei einer Sammelklage mit möglichst vielen Teilnehmern kann auch nach
Ihrem Gesetzentwurf ein Anwalt deutlich mehr verdienen, als wenn er nur eine Einzelperson aus dieser
Gruppe vertritt. In der Begründung zur Kostenfrage führen Sie explizit auf:
Damit erweist sich das Gruppenverfahren aus Sicht
der Klägeranwältin oder des Klägeranwalts vor allem für solche Fälle als attraktiv, in denen eine
große Anzahl von Betroffenen als Mandanten entweder bereits vorhanden ist oder zumindest in Betracht kommt.
Wenn Sie das so formulieren, dann ist das doch förmlich
Anstiftung zum Rechtsstreit, nicht mehr und nicht weniger. Das kann nicht in unserem Interesse liegen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Künast?
Gerne.
Bitte.
Könnten Sie mir mit Blick auf die anwaltliche Gebührenordnung erklären, was günstiger ist: 20 Mandanten
mit einer kleinen Summe zu vertreten, bei denen die Anzahl der Anwaltsgebühren auf vier begrenzt ist, oder
20 Mandanten einzeln zu vertreten und jeweils ein, zwei
Gebühren zu erheben? Sie machen gerade eine Milchmädchenrechnung auf, glaube ich.
({0})
- Richtig, Milchjungenrechnung. Danke, Caren Lay.
Sie tun so, als würden wir mit unserer Formulierung
zum Rechtsstreit animieren. Tatsächlich ist es doch viel
schlimmer, wenn 20, 30 oder 100 Menschen einzeln vertreten werden müssen. Als Anwalt braucht man sich
dann in die Sache nicht immer wieder materiell einzuarbeiten, kann aber jedes Mal eine Gebühr einschließlich
Mehrwertsteuer, die man natürlich abführt, erheben.
Frau Kollegin, es ist ganz einfach. Sie animieren,
möglichst viele Menschen in Sammelklagen einzubeziehen; denn nur dann kann ein Anwalt mit einer Sammelklage Geld verdienen. Das ist aber falsch. Das ist ein Anreiz zum Rechtsstreit, nicht mehr und nicht weniger.
Insgesamt sehen wir in diesem Punkt die große Gefahr, dass die Sammelklage rechtsmissbräuchlich beworben wird und dass sich ein Rechtsdienstleistungsmarkt
entwickelt wie in den USA. Das ist kein Geheimnis: Wer
sich in den USA auskennt, dem ist die große Anzahl an
Sammelklagen sowie Anwälten und Großkanzleien, die
sich eine goldene Nase verdienen, bekannt. Sie werden
mit Ihrem Gesetz insbesondere den deutschen Großkanzleien einen großen Gefallen tun. Das ist aber nicht
unser Ansatz. Wir wollen nicht - das habe ich eben ausgeführt -, dass die Betroffenen in einen Rechtsstreit
hineingeredet werden. Vielmehr wollen wir den möglichst besten Rechtsschutz für jedermann. Das sollte der
Anspruch für alle hier im Saal sein.
Ein weiterer Punkt ist evident wichtig. Nicht selten ist
in der Geschäftsbeziehung zwischen Anwalt und Mandanten das persönliche Verhältnis prägend für die Zusammenarbeit. Ein Anwalt muss jeden Mandanten bestmöglich vertreten. Das verlangen bei uns bereits die
Standesregeln. Bei großen Sammelklagen ist das nicht
mehr möglich. Der einzelne Mandant ist bloß noch eine
Nummer.
Die Sammelklagepraxis in den USA hat uns allerdings noch mehr Schwachstellen aufgezeigt. Dort ist es
üblich, dass neben dem Klageverfahren ein exorbitanter,
zusätzlicher medialer Druck auf die Beklagten aufgebaut
wird, der dazu führt, dass die Beklagten förmlich genötigt werden, sich noch vor einer Urteilsverkündung mit
der Gruppe zu vergleichen. In den USA geht man davon
aus, dass weit mehr als 90 Prozent der Sammelklagen in
einem Vergleich enden, noch bevor ein Urteil durch das
Gericht gefällt werden kann. Auch hier wäre das mehr
als wahrscheinlich.
({0})
- Frau Künast, der öffentliche Druck ist das entscheidende Problem.
Oftmals handelt es sich bei dem Streitgegenstand von
Sammelklagen - da sind wir uns sicherlich einig - um
für viele Betroffene essenzielle Rechtsfragen, die ein
großes Medienecho nach sich ziehen. Wir brauchen die
freie und kritische Berichterstattung; dennoch darf dieser
öffentliche Druck nie dazu führen, Einfluss auf die freie
Rechtsprechung in unserem Land zu nehmen. Gerade für
unsere Unternehmen, die im Regelfall die Betroffenen
von Sammelklagen sein werden, würde ein Auswuchs an
solchen Sammelklagen eine erhebliche unangemessene
Belastung darstellen.
Für die Wahrung des öffentlichen Interesses im Einzelfall haben sowohl Aufsichtsbehörden als auch Verbraucherschutzverbände bereits jetzt die Möglichkeit,
vorbeugenden Rechtsschutz für die Betroffenen in Anspruch zu nehmen. Amerikanische Verhältnisse wollen
wir jedenfalls hier in Deutschland nicht.
({1})
Wenn Sie die Verbraucherschutzverbände zitieren,
dann möchte ich auf den Deutschen Richterbund hinweisen - die Richter hätten als Praktiker mit diesem Gesetz
umzugehen -, der empfiehlt, von einer solchen Regelung
Abstand zu nehmen. Es ist deswegen mehr als sinnvoll,
dass wir alle gemeinsam das Ergebnis der angekündigten
Prüfung der Bundesregierung abwarten - Sie konnten es
nicht abwarten; wir können es -, ob über die bereits bestehenden Möglichkeiten für Muster- und Sammelklagen hinaus gesetzgeberische Schritte weiter notwendig
sind, und dass wir keine Schnellschüsse verabschieden.
Aus den vorgenannten Gründen können wir diesem Gesetzentwurf leider nicht zustimmen.
Danke schön.
({2})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Caren Lay, Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Kollege Steineke, ich muss mich schon
wundern. Sie kritisieren die Opposition dafür, dass sie
Dinge, die im Wahlkampf eine Rolle gespielt haben,
jetzt hier in einem seriösen Verfahren debattieren will.
Genau so muss es doch sein, ich bitte Sie.
({0})
Jedenfalls ist das allemal besser als das Modell der
GroKo, wonach die Dinge, die im Wahlkampf versprochen wurden, hinterher einfach unter den Tisch fallen.
Genauso sollte es nämlich nicht sein.
({1})
Kommen wir zum vorliegenden Gesetzentwurf. Sie
haben es vielleicht vernommen: Im Mai dieses Jahres
gab es ein erfreuliches Urteil. Der Bundesgerichtshof hat
entschieden, dass die Bearbeitungsgebühren der Banken
für Kreditverträge unzulässig waren. Da haben sich sicherlich Tausende von Bankkundinnen und Bankkunden
gefreut und wollten ihre Ansprüche bei der Bank geltend
machen. Leider haben viele Banken abgewiegelt und
versucht, die geprellten Kunden mit Scheinargumenten
zu vertrösten und das unrechtmäßig eingezogene Geld
selber zu behalten.
Nach der gegenwärtigen Rechtslage kann es nur so
sein, dass jeder einzelne betroffene Bankkunde die jeweilige Bank verklagt. Das ist eine hohe Hürde. Für den
manchmal geringen Streitwert werden viele Bankkunden
nicht einen Anwalt bestellen und ein Verfahren einleiten.
Die Banken aber haben ein riesiges Geschäft damit gemacht. Schätzungsweise 13 Milliarden Euro haben sie
daran verdient.
Das Beispiel zeigt: Individuelle Klagemöglichkeiten
alleine stoßen schnell an ihre Grenzen. Gelackmeiert
sind am Ende die Verbraucher, Gewinner sind Banken,
Unternehmen und Konzerne.
({2})
Deswegen sagen wir als Linke auch ganz klar: Wir
brauchen endlich ein Verfahren, das dafür sorgt, dass
Verbraucherinnen und Verbraucher zu ihrem Recht kommen - und im Übrigen auch zu ihrem Geld.
({3})
Recht haben, ist das eine; Recht durchsetzen, ist das
andere. Hier haben wir in Deutschland einen erheblichen
Nachholbedarf. Die jetzigen individuellen Klagemög5112
lichkeiten sind in Anbetracht von komplexen Märkten
einfach nicht mehr zeitgemäß. Es wird auch die Tatsache
außer Acht gelassen, dass die Unternehmen gut ausgestattete Rechtsabteilungen haben, die dem einzelnen
Bürger, der vielleicht kein Jurastudium absolviert hat,
natürlich haushoch überlegen sind. Deswegen unterstützen wir als Linke diesen Gesetzentwurf und die Idee einer Gruppenklage.
({4})
Das hätte vor allen Dingen den Effekt, dass die Verbraucherrechte deutlich gestärkt würden. Noch besser
wäre es, die Hemmschwelle der Unternehmen, auf Kosten ihrer Kundinnen und Kunden ein krummes Geschäft
zu machen, deutlich hochzusetzen. Gruppenverfahren
dienen also der Prävention.
Jetzt werden einige sagen, es gebe schon Möglichkeiten der Rechtsdurchsetzung, es gebe schon eine Art von
Gruppenverfahren, zum Beispiel die subjektive Klagehäufung. Nehmen wir zum Beispiel die Verbraucherzentrale Sachsen. Diese hat im Interesse von Gaskundinnen
und Gaskunden geklagt. Es ging um überhöhte Preise
und unfaire Vertragsklauseln. Nach sechs Jahren und einem langwierigen Prozess haben sie tatsächlich gewonnen; das stimmt. Aber es war kräftezehrend, es war ein
wahnsinniger bürokratischer Aufwand, und von den vormals 400 klagenden Verbraucherinnen und Verbrauchern
haben gerade einmal 22 durchgehalten; die anderen haben nach der ersten Instanz aufgegeben. Die Verbraucherzentralen - so gut sind sie finanziell und personell
nicht ausgestattet - sagen selber: Bei der jetzigen
Rechtslage können wir nicht mehr als 100 Verfahren
bündeln und händeln.
Deswegen, meine Damen und Herren, brauchen wir
eine richtige Gruppenklage, sodass eine Person klagt
oder wenige Personen bzw. die Verbraucherzentralen
selbst klagen und alle anderen Betroffenen sich entscheiden können, mit einem kalkulierbaren Kostenrisiko und
mit geringem Aufwand der Klage beizutreten.
({5})
Das Beste ist: Anschließend würde das Urteil gegenüber
jedem Betroffenen gleichermaßen gelten und nicht nur
für diejenigen, die in dem Verfahren durchgehalten haben.
({6})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen von der CDU?
Aber selbstverständlich.
Bitte schön.
Frau Präsidentin, ich bin der Kollege von der CDU/
CSU. - Ich möchte Sie, Frau Kollegin Lay, etwas fragen.
Sie sagen: Mit der Gruppenklage würde es für die Verbraucher wesentlich einfacher, zu klagen und am Rechtsstreit teilzunehmen.
Ja.
Bislang ist es so, dass bei Klagesummen von bis zu
5 000 Euro kein Anwaltszwang besteht und im Zweifelsfall jeder die Klage oder den Mahnbescheid selbst auf
den Weg bringen kann. Nach dem Gesetzentwurf braucht
man zwingend einen Rechtsanwalt. Wie erklären Sie
sich den Anwaltszwang vor dem Hintergrund des Ziels
der Erleichterung der Klagebefugnis?
({0})
Da kann ich mich dem Zwischenruf der Kollegin
Künast anschließen. Ich glaube nicht, dass das hier die
entscheidende Frage ist. Wir müssen die Sachlage aus
der Perspektive der betroffenen Verbraucherinnen und
Verbraucher betrachten.
({0})
In der jetzigen Situation - ich nehme einmal dieses Beispiel - müssen sich Tausende von Kundinnen und Kunden allein durchsetzen und gegen einen großen Konzern,
gegen ein Unternehmen klagen. Nach dem, was vorgeschlagen ist - ich bin Ihrer Auffassung, dass wir da im
Detail gern noch nachbessern können -, würde es den
Verbraucherinnen und Verbrauchern, also denjenigen,
die vielleicht nicht die ganze Zeit das BGB vor Augen
haben und die kein Jurastudium haben, wesentlich erleichtert, ihre Ansprüche durchzusetzen. Deswegen,
meine Damen und Herren, ist diese Initiative dringend
notwendig. Wir als Linke unterstützen sie.
({1})
Das ist natürlich nicht das Einzige, was wir brauchen.
Wir brauchen Nachbesserungen in anderen Punkten. Ich
nenne das Verbandsklagerecht für Verbraucherzentralen. Wir brauchen deutlich bessere Möglichkeiten für die
Verbraucherinnen und Verbraucher, unrechtmäßige Gewinne abzuschöpfen. In der jetzigen Form ist das ein Papiertiger.
Es gibt noch einen Punkt, über den wir ebenfalls diskutieren müssen, und das ist die Frage: Was machen wir
mit Bagatell- und Streuschäden? Nach meiner Einschätzung ist das in dem von den Grünen vorgeschlagenen
Opt-in-Verfahren so nicht lösbar.
({2})
Beim Kaffeekartell beispielsweise ist es so: Die Unternehmen machen mit Preisabsprachen letztendlich Gewinne in Höhe von 860 Millionen Euro. Der einzelne
Verbraucher kann seine Ansprüche nicht durchsetzen.
Hierfür brauchen wir eine Lösung. Eine verbesserte Gewinnabschöpfung oder eine Sonderregelung bei Bagatell- und Streuschäden wäre unser Vorschlag.
({3})
In der jetzigen Form ist das ein Papiertiger; ich sagte es
bereits. Es ist übrigens eine Studie des Ministeriums selber, die zu diesem Ergebnis gekommen ist.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.
Wie sagt man so schön? „Allein machen sie dich ein“;
gemeinsam können wir uns besser zur Wehr setzen! Deswegen sagen wir als Linke: Zehn europäische Länder haben es vorgemacht. Es wird höchste Zeit, dass
auch in Deutschland das Gruppenklagerecht eingeführt
wird und die Rechte von Verbraucherinnen und Verbrauchern gestärkt werden.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Dirk Wiese, SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Dem vorliegenden Gesetzentwurf der Fraktion
der Grünen ist insoweit zuzustimmen, als Verbraucher,
die in großer Zahl zum Beispiel unlauteren Geschäftspraktiken, unzulässigen allgemeinen Geschäftsbedingungen oder kartellbedingt überhöhten Preisen zum Opfer
gefallen sind, in der Lage sein müssen, ihre Rechte vor
Gericht wirksam durchzusetzen. Das steht für uns Sozialdemokraten außer Frage.
Klar ist dabei auch, dass die Möglichkeit, eine angemessene Kompensation für erlittene Schäden zu erstreiten, verfahrensmäßig so ausgestaltet sein muss, dass
keine abschreckenden wirtschaftlichen oder bürokratischen Hürden bestehen.
Ob wir hierzu den vorliegenden Gesetzentwurf der
Grünen brauchen, wage ich momentan jedoch zu bezweifeln. Denn hier bleibt aus meiner Sicht zunächst
einmal festzustellen, dass die ZPO bereits grundlegende
Instrumente bietet, die eine gebündelte Behandlung
gleichgelagerter - gegebenenfalls auch geringer - Ansprüche ermöglichen, nämlich die subjektive und objektive Klagehäufung.
Auf dieser Grundlage wurden gerade in der jüngeren
Vergangenheit erfolgreiche Sammelklagen unter anderem gegen Banken, Energieversorger und Versicherungsunternehmen - teilweise unter Einbeziehung von
Prozessfinanzierern - geführt. So besteht insbesondere
die Möglichkeit, Forderungen unbürokratisch an eine
qualifizierte Einrichtung abzutreten, die diese sammelt
und im Wege der objektiven Klagehäufung durch eine
einzige Klage vor Gericht geltend macht.
Bei der Einziehungsabtretung benötigt der Verbraucher im Übrigen keinen Rechtsanwalt. Das ist im Gegensatz zu dem von Ihnen vorgeschlagenen Gruppenverfahren ein entscheidender Vorteil. Für den Verbraucher
besteht folglich ein erheblich geringeres Kostenrisiko,
was die Einziehungsabtretung aus meiner Sicht wesentlich verbraucherfreundlicher macht. Darüber hinaus ist
das hier vorliegende System des Gruppenverfahrens aus
meiner Sicht erheblich komplizierter.
Anmerken möchte ich außerdem, dass über die objektive und subjektive Klagehäufung hinaus bereits Kollektivklagemöglichkeiten für Verbände nach dem Unterlassungsklagengesetz und nach dem Gesetz gegen den
unlauteren Wettbewerb bestehen, die in der Praxis ebenfalls - so ist mein Kenntnisstand - mit Erfolg genutzt
werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich zweifele auf den
ersten Blick auch daran, dass der vorliegende Gesetzentwurf überhaupt sein Kernziel erreichen kann, nämlich
eine große Bündelungswirkung zu erzielen. Durch die
Freiwilligkeit der Teilnahme und des Verbleibs im von
den Grünen vorgeschlagenen Gruppenverfahren sowie
durch die Möglichkeit, andere Rechtsschutzmöglichkeiten zu nutzen, wird die beabsichtigte Bündelungswirkung in der Praxis aus meiner Sicht sogar sehr gering
sein, zumal bei größeren anonymen Gruppen von Geschädigten die Betroffenen oft unterschiedlichste Wege
gehen werden und die Gefahr sich widersprechender
Entscheidungen unterschiedlicher Gerichte trotz paralleler Lebenssachverhalte somit bestehen bleibt.
Die Vorteile des heute schon bestehenden Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes, das insbesondere eine
wirksame Bündelung und Vermeidung sich widersprechender Entscheidungen bei gleichgelagerten kapitalmarktrechtlichen Streitigkeiten gewährleistet, werden
durch dessen Aufhebung aus meiner Sicht zunichtegemacht.
Ferner möchte ich darauf hinweisen, dass aus meiner
Sicht gerade solch komplexe Verfahrensstrukturen, wie
sie im uns vorliegenden Gesetzentwurf zu finden sind,
zusätzliches Streitpotenzial ermöglichen, das prozesstaktisch mit dem Ziel der Verzögerung bzw. der Zermürbung ausgeschöpft werden wird. Im vorliegenden
Gesetzentwurf kann also von einer Vereinfachung gegenüber bestehenden und von mir aufgezeigten Instrumenten keine Rede sein.
({0})
Ich hoffe, dass es mir gelungen ist, bei den Zuhörern
auf der Tribüne das Vorurteil zu widerlegen, dass Jura
trocken ist.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie merken, ich
stehe dem Gesetzentwurf der Grünen skeptisch gegenüber. Gleichwohl freue ich mich - Frau Künast, Sie können an dieser Stelle auch einmal zuhören -, dass uns die
Ausschussberatung die Gelegenheit gibt, dass wir uns
noch einmal mit der Materie der Klagehäufung bzw.
-bündelung befassen. Dort können wir gemeinsam diskutieren, ob bewährte Instrumente der ZPO alternativ
punktuell so fortentwickelt werden können, dass sie dem
Verbraucher nutzen und beispielsweise die individuelle
Rechtsdurchsetzung auch bei Streuschäden erleichtern.
Für denkbar halte ich beispielsweise die Schaffung eines
wirksamen Gewinnabschöpfungsanspruchs im Bereich
des Unterlassungsklagengesetzes, die Schaffung von
strengeren Voraussetzungen für die Prozesstrennung
oder die Einführung eines allgemeinen Klageregisters
für den kollektiven Rechtsschutz in Verbindung mit einer Verjährungshemmung bei Anmeldung sowie die Regelung einer Musterfeststellungsklage.
Ich freue mich jedenfalls auf die Ausschussberatung.
Wie gesagt, ich stehe dem Gesetzentwurf jedoch skeptisch gegenüber.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist der Kollege
Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Zunächst einmal ist zu sagen: Die Idee der Verbesserung von Verbraucherrechten ist an und für sich
richtig. Der Gesetzentwurf macht sich eine Empfehlung
der Europäischen Kommission zu eigen. Aber es gilt
auch zu formulieren: Grundlegende Reformen der Zivilprozessordnung sind Operationen am offenen Herzen
unserer Rechtsordnung mit Auswirkungen auf das Funktionieren unseres Rechtssystems. Sie sollten nur dann
vorgenommen werden, wenn dadurch eine erhebliche
Verbesserung eintreten kann.
({0})
Mit diesem Gesetzentwurf tritt sie nicht ein.
({1})
Dieser Gesetzentwurf wirft viele Fragen auf. Er beantwortet fast keine. Ja, ich will sagen: Er ist zwar gut
gemeint, aber nicht konsequent in der Umsetzung; er ist
handwerklich schlecht.
({2})
Sie wollen dem Problem des mangelnden Zugangs
zum Recht bei - auch kleineren - massenhaft auftretenden Individualschäden bei Verbrauchern und dem daraus
folgenden Defizit bei der Durchsetzung des Rechts entgegentreten. Dazu wollen Sie einen Paradigmenwechsel
im Bereich der Zivilprozessordnung vornehmen. Sie
wollten weit springen und sind schon nach kurzer Strecke gelandet.
Zum einen haben wir schon jetzt taugliche Instrumente kollektiver Rechtsdurchsetzung. Zum anderen
gilt: Gerade bei kleineren Schäden im Bereich der Versorgung, der Telekommunikation, aber auch bei Reisen
im Nahverkehr ist der beste Prozess der, den man nicht
führt. Deswegen ist hier viel stärker die Frage einer verbraucherrechtlichen Prävention in den Mittelpunkt zu
stellen. Das ist besser, als über komplizierte Gruppenverfahren die Verbraucher auf den Rechtsweg zu verweisen, den sie nicht brauchten, wenn man das Recht, das
wir schon jetzt haben, konsequent anwenden würde.
({3})
Jetzt darf ich Ihnen ehrlich sagen: Diesen Gesetzentwurf könnte man nicht guten Gewissens verabschieden,
wenn man es mit dem Verbraucherschutz wirklich ernst
meinte. Das Ganze beginnt mit der in Artikel 1 § 606
Ihres Gesetzentwurfs verankerten Zulässigkeit, wo nicht
geregelt ist, wie groß eine Gruppe zu sein hat, welche
Verfahren infrage kommen und um welche tatsächlichen
Ansprüche es sich handelt. Was dort steht, ist viel zu
vage und unbestimmt, um auf die ZPO überhaupt Einfluss gewinnen zu können.
Ein weiterer sehr verbraucherschädlicher Bereich ist
die in Artikel 1 § 608 - Örtliche Zuständigkeit - Ihres
Gesetzentwurfs geregelte Gerichtszuständigkeit. Sie
schreiben, dass das Gruppenverfahren bei dem Gericht
anhängig gemacht werden muss, bei dem der Beklagte
seinen Gerichtsstand hat. Das heißt nichts anderes, als
dass der Verbraucher aus Garmisch, aus Augsburg oder
aus Stuttgart beispielsweise in Berlin, in Hamburg oder
in Düsseldorf klagen muss. Diese Regelung ist völlig anders als die, die wir jetzt haben, wonach für den Verbraucher der Gerichtsstand seines Wohnsitzes gilt. Sie verschlechtern so die Rechte der Verbraucher.
({4})
Völlig absurd ist Artikel 1 § 614 - Bekanntmachung
im Klageregister; Verordnungsermächtigung - Ihres Gesetzentwurfs. Wenn man auf Grundlage Ihres Gesetzentwurfs eine Gruppenklage führen würde, dann müsste
diese Klage umständlich in ein Register eingetragen
werden. Dieses Register müsste öffentlich gemacht werden. Ich frage mich, wo da der Datenschutz bliebe. Aber
nicht nur die öffentliche Eintragung ist in Zweifel zu ziehen, sondern auch, dass das Verfahren nach der Eintragung erst einmal aussetzen würde; denn das Gericht
müsste mindestens drei Monate abwarten, um festzustellen, ob sich andere Bürgerinnen und Bürger an dem Verfahren beteiligen wollten. Ich persönlich meine: Rechtsschutz muss schnell und effektiv sein.
({5})
Durch monatelanges Wartenlassen schicken Sie den Verbraucher in die Warteschlange. Das ist doch nicht verbraucherfreundlich.
({6})
Der Verbraucher muss zur Not selbst die Möglichkeit
haben, zu klagen, ohne die Hemmschwelle in Form einer
Anwaltskanzlei vor sich zu haben. In Artikel 1 § 615 Ihres Gesetzentwurfs ist ein Anwaltszwang vorgesehen.
Für den Verbraucher fällt somit die Erstberatungsgebühr
an. Bei Klageerhebung kommt eine Verfahrensgebühr
von 1,3 hinzu. Würde Ihr Gesetzentwurf verabschiedet,
bedeutete dies für die Verbraucherinnen und Verbraucher, dass Klagen teurer und die Rechtsdurchsetzung
wesentlich schwieriger würde.
({7})
Wer jetzt glaubt, das sei schon alles an handwerklichen Mängeln, der muss sich einmal Artikel 1 § 619 Absatz 2 dieses Gesetzentwurfs ansehen. Dort schreiben
Sie allen Ernstes - ich zitiere -:
Die Stellung als Gruppenkläger begründet kein
Schuldverhältnis gegenüber den Teilnehmern des
Gruppenverfahrens.
Wissen Sie, was das in der Konsequenz bedeutet? Es bedeutet, dass derjenige, der die Klage führt, machen kann,
was er will, und wenn er schlecht verhandelt, ist man gebunden und man hat keine Chance, da herauszukommen.
Wollen Sie das? Wollen Sie die persönliche Verantwortung des Anwalts aufheben?
({8})
Ich meine, nein. Ich meine, es gibt durch das anwaltschaftliche Berufsrecht eine Verantwortung des Anwalts
gegenüber dem Verbraucher.
({9})
- Liebe Frau Kollegin Künast, wir sind keine Neinsagerpartei, sondern wir wollen die Bürger dieses Landes vor
schlechten Gesetzen bewahren.
({10})
Wenn wir dieses Gesetz beschließen würden, würden wir
die 130 Jahre alte und ehrwürdige ZPO beschädigen.
Das wollen wir weder den Rechtsanwendern noch den
Verbrauchern zumuten.
Auch die Kostenfrage ist in Artikel 1 § 629 Ihres Gesetzentwurfs völlig unzureichend geklärt. Zur Frage einer ordentlichen Rechtsdurchsetzung gehört aus meiner
Sicht auch der Rechtsweg. Sie verweisen diesbezüglich
in Artikel 1 § 630 nur auf die allgemeinen Vorschriften.
Das heißt letztendlich: erst Gruppenklage, und dann
weiß niemand, wie es weitergeht.
Es handelt sich also im Ergebnis um einen völlig unbrauchbaren Gesetzentwurf, der es eigentlich nicht würdig ist, diskutiert zu werden. Nichtsdestotrotz werden
wir weiter daran arbeiten, die Rechte der Verbraucher zu
stärken,
({11})
und auch darauf dringen, dass in den Ländern - da trägt
Rot-Grün eine starke Verantwortung - durch die Besetzung von Richterstellen und die daraus resultierende
Verkürzung der Verfahrensdauer die Rechtsdurchsetzung
erleichtert wird.
({12})
Das ist, meine ich, ein viel wesentlicherer Punkt, den
man angehen sollte.
Herzlichen Dank.
({13})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Dr. Karl-Heinz
Brunner, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Nachdem wir heute schon
medizinisch in das Thema eingestiegen sind - Sie, lieber
Kollege Ullrich, haben von der Operation am offenen
Herzen gesprochen und Sie, Frau Künast, haben den Begriff „subkutan“ verwendet -,
({0})
will ich jetzt nicht intravenös an alle herantreten, sondern versuchen, mehr die Lebensrealität in den Mittelpunkt zu rücken.
Ich sage vorweg: Der Ansatz des Gesetzentwurfs von
Bündnis 90/Die Grünen ist ja recht gut. Auf die Umsetzung trifft allerdings der Satz zu: Gut gemeint, aber nicht
gut gemacht. - Ich sage das deshalb, weil die Verbraucherinnen und Verbraucher in diesem Land sich in zwei
Gemengelagen bewegen. Auf der einen Seite geht es um
diejenigen, die wegen eines schlechten Produkts, wegen
eines verpassten Flugs, der sie in ihr geliebtes Urlaubsland hätte bringen sollen, oder wegen vermeintlicher
Kleinigkeiten ihr Recht suchen. Für diese Menschen ist
es vielleicht das erste Mal in ihrem Leben, dass sie mit
einem Gericht zu tun haben. Sie schämen sich möglicherweise, den Gerichtsweg zu beschreiten. Da müssen
wir ansetzen und etwas unternehmen, um diese Hürde zu
überwinden. Da wollen wir die Scheu abbauen.
Auf der anderen Seite wollen wir etwas verhindern,
was wir aus amerikanischen Fernsehserien zur Genüge
kennen. Nehmen wir zum Beispiel einen Fall, den auch
der eine oder andere von Ihnen möglicherweise schon
erlebt hat: Man macht eine gute Flasche Rotwein, einen
Bordeaux zum Beispiel, auf und hat durch das Berühren
des Korkens zwei Tage einen roten Daumen. In diesem
Fall soll ein Verbraucher, der feststellt, dass auf der Flasche der Hinweis fehlt, dass man durch das Berühren des
Korkens kurzzeitig rote Finger bekommen kann, nicht,
wie wir es aus amerikanischen Fernsehserien kennen, einen Schadenersatzprozess über mehrere Millionen Euro
anzetteln können.
({1})
Dies wollen wir nicht.
({2})
Ich glaube, verehrte Kolleginnen und Kollegen, die
Einführung des Gruppenverfahrens in die ZPO ist nichts
anderes als die Fortentwicklung von Sammelklagen. In
Bezug auf Gruppenklagen haben wir im Verbandsklagerecht und im Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz
recht gute Regelungen, die weiterentwickelt und vor allen Dingen den Verbraucherinnen und Verbrauchern nähergebracht werden müssen.
({3})
Herr Kollege Brunner, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Katja Keul?
Gerne.
Bitte schön.
Vielen Dank, Herr Brunner, dass Sie die Frage zulassen. - Sie haben gerade das Beispiel erwähnt, dass in
Amerika wegen einer Lappalie Millionenbeträge geltend
gemacht werden. Würden Sie mir nicht auch recht geben, dass das weniger mit den Verfahrensrechten der
ZPO zu tun hat als mit dem Unterschied im materiellen
Zivilrecht, weil es in den USA so etwas wie eine Strafschadensersatzklage gibt, die es in unserem Zivilrecht
gar nicht gibt? Deswegen entstehen diese Summen, die
bei uns undenkbar wären. Das hat mit dem Verfahren einer Gruppenklage eigentlich gar nichts zu tun.
({0})
Selbstverständlich, liebe Kollegin Keul, hat das mit
unserem Zivilrecht nichts zu tun. Aber das Gruppenklageverfahren ist im Wesentlichen aus dem angelsächsischen Recht entwickelt. Deshalb habe ich auch den Bezug hergestellt.
({0})
Meine Kolleginnen und Kollegen, unsere Aufgabe ist,
den Bürgerinnen und Bürgern, den Rechtsuchenden - da
hat der Kollege Ullrich recht gehabt -, zum einen durch
die Ausstattung der Gerichte und zum anderen durch die
Ausgestaltung der Gesetze die Möglichkeit zu geben,
ihre Rechtsansprüche in der bestehenden Rechtsordnung
einzuklagen und die Scheu davor zu nehmen. Ich glaube
auch, dass dies mit der derzeitigen Regelung über die
Beratungshilfe, über die Prozesskostenhilfe, über das
Verbandsklagerecht und über die gut organisierten Verbraucherverbände hinlänglich möglich ist.
Ich mache keinen Hehl daraus, dass an verschiedenen
Stellen sicherlich nachzujustieren ist und freue mich deshalb auf die Beratungen in den Ausschüssen, um den guten Ansatz zur Integration des Gruppenverfahrens in die
ZPO zu einem guten Ergebnis zu führen. Ich denke, es
ist für uns alle wichtig, dass wir jetzt zuerst einmal das
Prüfverfahren der Bundesregierung und etwaige Lösungsvorschläge abwarten.
Ich bedanke mich herzlich für die Aufmerksamkeit
und wünsche Ihnen, soweit Sie noch hierbleiben, einen
schönen Nachmittag und ansonsten ein schönes Wochenende.
({1})
Vielen Dank. - Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 18/1464 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu
anderweitige Vorschläge? - Ich sehe, das ist nicht der
Fall. Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht zum Anerkennungsgesetz
Drucksache 18/1000
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Bundesregierung hat der Parlamentarische Staatssekretär Stefan
Müller.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vor zwei Jahren ist das Gesetz zur Verbesserung der
Feststellung und Anerkennung im Ausland erworbener
Berufsqualifikationen, also kurz Anerkennungsgesetz, in
Kraft getreten. Wir haben mit diesem Gesetz erstmals
eine gute rechtliche Grundlage geschaffen, um im Ausland erworbene Abschlüsse in Deutschland einfacher anzuerkennen und Menschen mit ausländischen Abschlüssen besser in den Arbeitsmarkt integrieren zu können.
Eines kann man nach diesen zwei Jahren ohne Zweifel sagen: Es hat in Deutschland ein Umdenken gegeben.
({0})
Wir erkennen schon, dass viele Menschen mit mehr Respekt und Wertschätzung auf die Qualifikationen und Lebensleistungen Zugewanderter sehen. Das ist ein wichtiger Fortschritt.
Ein weiterer Fortschritt ist, dass sich zahlreiche Akteure auch mit beteiligen. Sie unterstützen die Anerkennung ausländischer Abschlüsse und wirken daran aktiv
mit, um neue Strukturen zu schaffen und Know-how aufzubauen. Insofern bedanke ich mich bei allen Organisationen und Institutionen, die in diesen zwei Jahren dazu
beigetragen haben, dieses Know-how zu erwerben und
neue Strukturen zu schaffen. Nur so war und ist eine erfolgreiche Umsetzung unseres Anerkennungsgesetzes
möglich, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({1})
Die Bundesregierung hat seinerzeit im Gesetzgebungsverfahren ein kontinuierliches Monitoring bereits
vor der gesetzlichen Evaluation zugesagt. Der im April
dieses Jahres vorgelegte erste Bericht zum Anerkennungsgesetz enthält nunmehr die ersten Ergebnisse dieses Monitorings, das im Auftrag des BMBF vom Bundesinstitut für Berufsbildung durchgeführt wird.
Der Bericht geht aber weiter. Er zeigt also nicht nur
auf, was in diesen zwei Jahren geschehen ist, sondern
zieht auch eine erste Bilanz. Vor allem aber blickt er
nach vorne und benennt künftige Herausforderungen;
ich komme später noch darauf zu sprechen. Die Zahlen
belegen jedenfalls, dass sich das Anerkennungsgesetz
von Anfang an als ein Instrument der Fachkräftesicherung etabliert hat.
Das Statistische Bundesamt hat im Oktober 2013 erstmalig eine Statistik vorgelegt, wonach im Zeitraum von
April bis Dezember 2012 bundesweit rund 11 000 Verfahren gemeldet wurden. Von diesen 11 000 Verfahren
- das kann man in der Rückbetrachtung, glaube ich, als
Erfolg bezeichnen - waren zum Jahresende 2012 bereits
drei Viertel entschieden. Der überwiegende Teil davon
- 82 Prozent - wurde mit einer vollen Anerkennung beendet.
({2})
In den Länderstatistiken zeichnet sich bereits ab, dass
sich diese positive Entwicklung in 2013 fortgesetzt hat.
Leider liegen die amtlichen Zahlen für das Jahr 2013 erst
im Oktober oder November dieses Jahres vor und werden erst dann veröffentlicht werden. Der nächste Monitoring-Bericht wird dann sicherlich eine entsprechende
Aussage dazu treffen. Wir haben vor, Ihnen diesen im
Mai oder Juni 2015 vorzulegen.
Eines zeigt sich jedenfalls: Beratung und Information
sind auch für ein erfolgreiches Anerkennungsverfahren
der Schlüssel. Wir sind froh, dass es ein steigendes Interesse an den Angeboten, die der Bund etabliert hat, gegeben hat. Ich möchte drei Beispiele nennen: erstens das
Internetportal „Anerkennung in Deutschland“, das bereits im August die Marke von 100 000 Besuchern monatlich überschritten hat und auf dem sich mittlerweile
über 1,5 Millionen Menschen informiert haben, zweitens
die Telefonhotline beim Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge, das individuelle Fragen zur beruflichen Anerkennung beantwortet, und drittens das Beratungsnetzwerk „IQ“ - Integration durch Qualifizierung -, das
ebenfalls eine ganze Reihe von Informationen zu Verfahren der beruflichen Anerkennung geben kann.
Eine wichtige Rolle für den Erfolg des Anerkennungsgesetzes spielt sicherlich ein effizienter und einheitlicher Verfahrensvollzug. Hier haben insbesondere
die Kammern entsprechende Strukturen geschaffen. Ich
möchte in diesem Zusammenhang die IHK FOSA, die
zentrale Plattform der Industrie- und Handelskammer,
und die Leitkammern im Handwerk, die sowohl beraten
als auch selber Verfahren durchführen, nennen.
Wir haben in den letzten zwei Jahren immer wieder
- das nehme ich sehr ernst - den Hinweis bekommen,
dass die Verfahren zu aufwendig, zu lang und zu bürokratisch sind und dass zu viele detaillierte Informationen
zu ausländischen Bildungsgängen vorgelegt werden
müssen. Ich sage es noch einmal: Wir nehmen das sehr
ernst. Dort, wo es möglich ist, sollten wir das Anerkennungsverfahren unkomplizierter und unbürokratischer
machen. Gleichwohl muss man sich natürlich schon vor
Augen führen, was Ziel dieses Anerkennungsverfahrens
ist. Ziel des Anerkennungsverfahrens ist, dass am Ende
die Gleichwertigkeit mit einem deutschen Berufsabschluss attestiert werden kann.
Wir haben in Deutschland - darauf sind wir zu Recht
stolz - hohe Qualitätsstandards. Diese wollen wir beibehalten. Deswegen garantiert natürlich nur eine umfassende und sorgfältige Prüfung auf der Grundlage von
verlässlichen Informationen eine entsprechende Gleichwertigkeit. Erst dann kann es zu einer erfolgreichen Anerkennung kommen. Würde man hier Abstriche machen,
würde das dem Sinn und Zweck dieses Verfahrens zuwiderlaufen, was sicher nicht im Interesse der Antragsteller
sein kann.
Ich vermute, die Frau Präsidentin wird mir keine
großzügige Redezeiterweiterung einräumen, weswegen
ich mich beim Ausblick auf wenige Stichworte beschränken möchte.
({3})
- Es sei denn, Sie würden eine Zwischenfrage zu den
Ausblicken stellen, Herr Mutlu. Aber ich befürchte, den
Gefallen werden Sie mir nicht tun.
({4})
Das geht nicht mehr, da Ihre offizielle Redezeit beendet ist.
Gut. - Ich beschränke mich auf wenige Stichworte:
Wir werden eine ganze Reihe von Maßnahmen und
Handlungsschwerpunkten zum Beispiel zu Ausgleichsmaßnahmen auf den Weg bringen.
Ich will hier die Information der Betriebe ansprechen.
Der Bericht zeigt, dass es hier noch Handlungsbedarf
gibt, dass wir auch die Personalabteilungen und die Personalentwickler in den Unternehmen für das Thema Anerkennung sensibilisieren müssen. Wir haben Handlungsbedarf im Bereich der Rechtsetzung, weil wir die
novellierte EU-Berufsanerkennungsrichtlinie bis 2016 in
nationales Recht umsetzen müssen. - Das waren nur
zwei Beispiele, die zeigen, wo wir sicherlich noch weiterarbeiten können.
Die OECD bescheinigt uns, dass Deutschland heute
zu den Ländern mit den geringsten Hürden für die Zuwanderung hochqualifizierter Fachkräfte und Arbeitskräfte gehört - eine Botschaft, die noch viel stärker gehört werden muss. Wir werden - da gehört eine schnelle
und einfache Anerkennung sicherlich mit dazu - auch in
Zukunft mit dem Anerkennungsgesetz und den entsprechenden Verfahren dafür sorgen können, dass unser
Land für qualifizierte Zuwanderer noch attraktiver wird.
Daran wollen wir gemeinsam arbeiten.
({0})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Dr. Rosi Hein,
Fraktion Die Linke.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir reden heute über den ersten Bericht der Bundesregierung zu dem im April 2012 beschlossenen Anerkennungsgesetz. Die umfassende
Beschreibung kann ich mir sparen; das hat der Staatssekretär eben getan.
Menschen mit im Ausland erworbenen Abschlüssen
haben nach diesem Gesetz einen Rechtsanspruch auf ein
Verfahren zur Überprüfung der Gleichwertigkeit ihrer
Abschlüsse. Es wird auch ein Zeitrahmen festgeschrieben. Sie haben allerdings keinen Rechtsanspruch auf
Anerkennung; ich bitte, diesen Unterschied mit zu bedenken. Wenn man denn die Anerkennung bekommt,
könnte man damit in Deutschland auch eine der Qualifikation entsprechende Beschäftigung aufnehmen. Ich
lasse einmal beiseite, dass das Anerkennungsgesetz
schon in § 1 des Gesetzestextes mit dem Mangel am Arbeitsmarkt begründet wird und nicht mit dem Respekt
vor den Fähigkeiten zugewanderter Menschen und ihren
Lebensperspektiven hier in diesem Land.
In der Regel nach drei Monaten, bei Ärzten nach vier
Monaten, soll es eine Entscheidung geben; eine angemessene Verlängerung soll nur in komplizierten Fällen
möglich sein. Was ist denn aber mit der ukrainischen
Ärztin, die sich an uns gewandt hat und seit über einem
Jahr auf eine Entscheidung wartet? Was ist am Medizinstudium in der Ukraine so schwer vergleichbar, dass
neun Monate Verlängerung angemessen sind?
({0})
Und warum kommt es nicht zur Anerkennung ihres Abschlusses, mit der sie endlich in Deutschland in ihrem
Beruf arbeiten könnte? Neun Monate nach Antragstellung befand die zuständige Stelle, dass es Defizite gebe
und Arbeitszeugnisse aus dem Heimatland nachgereicht
werden müssen - nach neun Monaten! Sie lagen zu diesem Zeitpunkt aber schon einige Monate vor. Da muss
man sich doch - Verzeihung! - veralbert vorkommen.
({1})
Bis zum Ende des Jahres 2012 wurden rund 11 000
Anträge - wir haben die Zahlen eben gehört - zur Prüfung der Anerkennung gestellt und rund 7 500 positiv
beschieden, vor allem in Gesundheits- und Pflegeberufen. Das klingt sicherlich erst einmal nach einer sehr guten Statistik; aber die Bundesregierung rechnet selbst mit
300 000 möglichen Anträgen. Da wäre es schon sehr
schön gewesen, diese Debatte vielleicht einen oder zwei
Monate später zu führen, wenn wir die Zahlen, die im
November veröffentlicht werden sollen, schon haben.
({2})
Denn wenn wir erst nächstes Jahr im April wieder über
diese Zahlen diskutieren, dann reden wir über alte Zahlen und können überhaupt nichts über die Fortschritte sagen. Wenn es sofort 300 000 Anträge gegeben hätte,
dann hätte ich verstanden, wenn die Behörden ein wenig
ins Schwimmen gekommen wären; aber so ist die Zahl
von 7 500 beschiedenen Anträgen für mich doch ein
bisschen ernüchternd.
({3})
Seit Ende Juni dieses Jahres haben nun auch alle Bundesländer eigene Landesgesetze verabschiedet, um landesrechtlich geregelte Berufe anerkennen zu können,
wie zum Beispiel die Berufe der Lehrerin oder des Lehrers bzw. der Erzieherin oder des Erziehers. Die Umsetzung in den jeweiligen Ländern läuft jedoch höchst unterschiedlich. Eine einheitliche Anerkennungspraxis in
Deutschland ist kaum zu erkennen, möglicherweise auch
gar nicht zu erwarten, wenn man die unterschiedlichen
Qualifikationswege und Anforderungen in den einzelnen
Bundesländern bedenkt. Der Bundesregierung ist das offensichtlich bekannt; denn der Staatssekretär hat sich
eben recht kritisch geäußert. Auch im Bericht ist angemerkt, dass der Stand bei der Vereinheitlichung des Vollzugs unbefriedigend sei.
({4})
Bis alle Menschen ihre im Ausland erworbenen Abschlüsse - wenn sie es wollen - hier in Deutschland anerkannt bekommen haben - wenn es denn möglich ist -,
ist es noch ein weiter Weg. Es ist auch eine Frage der
Kosten. Die Kosten für das Anerkennungsverfahren variieren zwischen den Bundesländern und den unterschiedlichen Berufsarten teilweise erheblich.
Im Kammerbereich zum Beispiel bewegen sich die
Gebühren für eine Anerkennung zwischen 100 und
600 Euro; das ist im vorliegenden Bericht auch aufgeführt. Dieser Unterschied ist aber doch nicht durch einen
unterschiedlichen Aufwand zu erklären. Darüber hinaus
steht zu befürchten, dass die Kosten für eine individuelle
Gleichwertigkeitsprüfung sowie für die Analyse von
Qualifikationen noch weitaus höher liegen. Das ist kein
Anreizsystem. Das schreckt vielmehr ab.
Wenn, wie die frühere Bundesministerin, Frau Schavan,
sagte, die Anerkennung der Abschlüsse „eine Frage der
Gerechtigkeit und des Respekts vor der Qualifikation
von Menschen“ sei, dann muss am Gesetz und an der
Anerkennungspraxis noch heftig gearbeitet werden.
({5})
Wir brauchen nicht nur ein Recht auf ein Verfahren,
sondern auch ein Recht auf Anerkennung. Wir brauchen
bezahlbare und vergleichbare Gebühren für die Anerkennung ebenso wie für die notwendigen Nachqualifizierungen.
Der DGB hat heute eine Pressemeldung herausgegeben, in der er eine gebührenfreie Anerkennung und
Nachqualifizierung fordert. Mit Blick auf § 1 des Anerkennungsgesetzes stelle ich fest: Das ist angemessen;
denn es geht um den deutschen Arbeitsmarkt und weniger um die Interessen der Betroffenen. Kosten- bzw. Gebührenfreiheit ist also angemessen.
Vielen Dank.
({6})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Dr. Karamba
Diaby für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Seit zwei Jahren haben wir ein Anerkennungsgesetz auf
Bundesebene, seit Sommer dieses Jahres nun endlich
auch auf der Ebene der Bundesländer. Ich freue mich,
dass wir heute eine erste Zwischenbilanz in Bezug auf
das Anerkennungsgesetz ziehen.
Vor gut zwei Jahren trat erstmals der allgemeine und
umfassende Rechtsanspruch auf ein Anerkennungsverfahren in Kraft. Der ausländische Berufsabschluss wird
mit dem deutschen Referenzberuf verglichen und auf
Gleichwertigkeit geprüft. Das Ergebnis kann die vollwertige, die teilweise oder gar keine Anerkennung des
ausländischen Abschlusses sein.
Vielfalt schafft Werte - das ist mein persönliches politisches Leitbild. In diesem Sinne ist das Anerkennungsgesetz ein wichtiges Signal an die Eingewanderten in
Deutschland und an die deutsche Wirtschaft.
({0})
Das Anerkennungsgesetz ist ein wichtiger Beitrag zur
Fachkräftesicherung für unseren Wirtschaftsstandort;
denn wir brauchen die Talente und beruflichen Kompetenzen der schätzungsweise mehr als 300 000 Personen
mit ausländischen Abschlüssen, die es hierzulande gibt
- die Zahl wurde mehrfach erwähnt -, ohne sie geht es
nicht.
Ohne die formale Anerkennung ihrer Abschlüsse
werden Ärztinnen weiterhin als Putzfrauen und Ingenieure als Taxifahrer arbeiten. Sie arbeiten somit unter
ihrer Qualifikation. Dieser Zustand ist weder für die Eingewanderten noch für unsere Gesellschaft und Wirtschaft hinnehmbar.
Schon seit Jahren schlägt die deutsche Wirtschaft
Alarm. „Fachkräfte verzweifelt gesucht“, „Deutschlands
Mittelstand gehen die Fachkräfte aus“ - so lauteten die
Schlagzeilen der letzten Jahre. Von einem flächendeckenden Fachkräftemangel kann zwar keine Rede sein,
aber für einzelne Berufe trifft er zu.
({1})
Das Gesetz entfaltet erste erfreuliche Wirkungen in
den Gesundheitsberufen.
({2})
Ärztinnen und Ärzte, Gesundheits- und Krankenpfleger
sowie Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten führen die Liste der Antragsteller bei den häufigsten Referenzberufen mit mehr als 70 Prozent an. Am häufigsten
kommen die Antragstellerinnen und Antragsteller aus
Rumänien, der Russischen Föderation und Polen.
Mit dem Anerkennungsgesetz haben wir begonnen,
brachliegende Potenziale zu aktivieren. Das ist gut so.
({3})
Gut ist auch die hohe Quote der vollen Anerkennungen.
Im Koalitionsvertrag haben wir uns darauf geeinigt,
nachzubessern, wo es notwendig ist. Ich sehe vor allem
drei zentrale Herausforderungen:
Erstens. Der Bericht deutet darauf hin, dass nur ein
Bruchteil der geschätzt mehr als 300 000 Personen mit
ausländischen Abschlüssen einen Antrag gestellt haben.
Ich wünsche mir, dass noch mehr Menschen einen Aner5120
kennungsantrag stellen, damit sie endlich ihrem erlernten Beruf nachgehen können.
({4})
Wir brauchen Informationskampagnen, damit sich die
Möglichkeit zur Anerkennung noch mehr herumspricht.
Hier müssen wir die Wirtschaft stärker sensibilisieren
und in die Pflicht nehmen.
({5})
Sie sollen die Möglichkeit zur Anerkennung ausländischer Berufsqualifikationen noch stärker für ihre Personalentwicklung nutzen.
Damit komme ich zum zweiten Punkt: Anpassungsqualifizierung. Das wurde von meinen Vorrednern schon
angesprochen. Jeder zehnte Antragsteller in den reglementierten Berufen und jeder dritte in den nichtreglementierten Berufen braucht eine Anpassungsqualifizierung, um eine vollwertige Anerkennung zu erlangen. Ich
freue mich sehr, dass die Bundesarbeitsministerin
Andrea Nahles beabsichtigt, ein Qualifizierungsprogramm mit Mitteln aus der neuen ESF-Förderperiode zu
bestreiten. Schließlich haben wir im Koalitionsvertrag
miteinander vereinbart, dass wir Eingewanderte, die
Qualifizierungsmaßnahmen absolvieren müssen, finanziell unterstützen wollen.
Drittens. Lassen Sie uns in den weiteren Beratungen
genau hinschauen - ich hoffe, die Opposition macht
mit -, um bestehende bürokratische Fallstricke zu beseitigen.
({6})
Ich denke am heutigen Tag des Flüchtlings beispielsweise an Geflüchtete, die keinerlei Nachweise erbringen
können. Asylsuchende und Geduldete bringen - das wissen wir - Talente, Know-how und oftmals eine hervorragende Ausbildung mit.
({7})
Lassen Sie uns also die Gerechtigkeitslücke schließen.
Lassen Sie uns für diese Fälle praktikable Lösungen entwickeln und erproben.
Ich komme zum Ende. Ich danke den vielen kompetenten und engagierten Beschäftigten des Netzwerks „Integration durch Qualifizierung“. Sie leisten hervorragende Beratungsarbeit, um die Arbeitsmarktintegration
von Menschen mit Migrationshintergrund zu verbessern.
Lassen Sie uns die Beratungsstrukturen stärken. Hier
können auch Migrantenorganisationen eine sehr große
Rolle spielen; das haben sie in der Vergangenheit gezeigt.
Abschließend möchte ich bemerken: Wir sind auf einem guten Weg. Erst kürzlich haben wir die Abschaffung der Optionspflicht und Maßnahmen zur Verbesserung der Lebenssituation von Asylsuchenden und
Geduldeten beschlossen.
({8})
Das Anerkennungsgesetz reiht sich hier ein: Es ist integrationspolitisch wichtig, es drückt Wertschätzung und
Anerkennung der Lebensleistung von Eingewanderten
aus. „Vielfalt schafft Werte“ bedeutet arbeitsmarktpolitisch: Die Tür steht dir offen, du bist willkommen, du
wirst gebraucht, und du kannst dich mit all deinen Fähigkeiten hier entfalten. - Lassen Sie uns gemeinsam dieses
Versprechen einlösen.
({9})
Vielen Dank. Das war eine punktgenaue Landung. Nächster Redner ist Özcan Mutlu, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Deutschland braucht Fachkräfte! Viele Unternehmen, Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen sind
schon jetzt auf ausländische Fachkräfte angewiesen.
Mit diesen Worten beginnt der Bericht der Bundesregierung zum Anerkennungsgesetz. So wahr dieser Satz
auch ist, ist es doch nur eine Binsenwahrheit; denn das
dürfte allen in diesem Hause bekannt sein, spätestens
seit 2012. Ende 2008 hat sich der Bund mit den Ländern
auf dem Bildungsgipfel auf eine Verbesserung der
Rechtslage zur Anerkennung im Ausland erworbener
Abschlüsse und Berufsqualifikationen verständigt. 2012
ist dieses Gesetz dann endlich in Kraft getreten. Seither
ist viel Wasser die Spree heruntergeflossen.
Ich schaue mir den vorliegenden 169-seitigen Bericht
an und frage: Was ist in der Sache überhaupt erfolgt?
Wenn man sich diesen Bericht genau anschaut - an dieser Stelle schütte ich Ihnen eine gehörige Portion Spreewasser in Ihren Wein -, so sieht man lauter Allgemeinplätze, Zuständigkeitsgerangel und viele offene Fragen,
meines Erachtens zu viele offene Fragen.
({0})
Wie schon gesagt worden ist: Wir sind eine Wirtschaftsnation und stehen für Innovation und wirtschaftliche Dynamik. Wir wissen seit Jahren, dass in unserem
Land ein Fachkräftemangel herrscht, und das nicht nur
in technischen Berufen oder im Pflegebereich, sondern
inzwischen in vielen, vielen Branchen. Das Anerkennungsgesetz und die damit einhergehende Reform war
daher nicht nur ein notwendiger, sondern auch ein absolut überfälliger Schritt. Die Regeln und die Verfahren zur
Anerkennung von ausländischen Abschlüssen waren
nämlich auch nach 60 Jahren Zuwanderung absolut unterentwickelt. Ich sage: Allein schon aus wirtschaftspolitischer Sicht können wir es uns nicht leisten, dass hochqualifizierte Zuwanderinnen und Zuwanderer nur als
Hilfskräfte angestellt werden, weil ihre Abschlüsse nicht
anerkannt werden.
({1})
Wir können es uns auch nicht leisten, dass die Anerkennungsverfahren immer noch so ewig lange dauern.
Man wird das Gefühl nicht los, Sie wollten hier ein Bürokratiemonster erschaffen. Ehrlich gesagt verstehe ich
Sie auch gar nicht. Normalerweise sind Sie, wenn es um
die Interessen der Wirtschaft geht, immer schnell bei der
Sache, aber hier leider nicht. Ich sage: Die Anerkennung
ausländischer Berufsqualifikationen ist auch für die Teilhabemöglichkeiten von Zuwanderinnen und Zuwanderern in unserer Gesellschaft von zentraler Bedeutung.
Viele Menschen, die aus den unterschiedlichsten
Gründen in unser Land gekommen sind, hatten in ihrer
ursprünglichen Heimat oft eine Ausbildung, einen Abschluss und sehr viel Berufserfahrung. Wir müssen diese
Berufsausbildungen und Abschlüsse zum Wohl unserer
Gesellschaft und auch zum Wohl unserer Wirtschaft
schnell und zügig anerkennen.
({2})
Das ist auch eine gewaltige Chance für die Integration.
Leider muss ich sagen, dass die Anerkennung ausländischer Abschlüsse trotz anders lautender Lippenbekenntnisse, die wir auch heute wieder hören konnten, nur sehr
schleppend vorankommt.
({3})
In diesem Bericht werden zahlreiche Mängel aufgezählt, die dringend behoben werden müssen.
({4})
Da ist die Rede - wir können gerne gemeinsam daran arbeiten ({5})
von etlichen Regelungslücken, die zu Unsicherheiten bei
den Antragsstellerinnen und Antragsstellern führen. Da
ist die Rede von einem erheblichen Entwicklungsbedarf
für einen möglichst bundeseinheitlichen Vollzug der
Verfahren. Da geht es um die uneinheitliche Regelung
der Kosten. Flüchtlinge tauchen in Ihrem Bericht nur
flüchtig auf, um präzise zu sein: nur mit dem Hinweis,
dass sie mit „erheblichen Hürden“ konfrontiert werden,
und das nach zwei Jahren. Ich frage Sie: Warum arbeiten
Sie denn nicht daran, diese Hürden abzubauen?
({6})
Diese Flüchtlinge sind oftmals hochqualifiziert und wären auch ein Gewinn für unsere Gesellschaft.
Ein anderes wichtiges Thema ist die Nachqualifizierung. Hier haben Sie große Lücken hinterlassen, die die
Länder nun selber schließen sollen. Da lassen Sie die
Länder gerne allein.
Am meisten ärgert mich an diesem Bericht die Tatsache, dass Sie einzig und allein Absichtserklärungen verkünden oder immer wieder andere zum Handeln auffordern. Es fehlt Regierungshandeln! Da verlangen wir
mehr von Ihnen.
({7})
Wie und wann Sie selber tätig werden wollen, wie Sie
gemeinsam mit den Bundesländern bestehende und bekannte Probleme lösen wollen, erfahren wir auch nicht
nach Lektüre der 169 Seiten. Die Verfahren zur Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse sind - ich zitiere jetzt wieder aus Ihrem Bericht - zu lang und zwischen den Bundesländern zu uneinheitlich.
Ich sage: Nach zwei Jahren sollte so etwas nicht mehr
in dem Bericht stehen. Setzen Sie sich mit den Bundesländern an einen Tisch und lösen Sie zügig die Probleme, statt nur darüber zu reden. Wir brauchen flächendeckende und funktionierende Strukturen statt eines
unsäglichen Zuständigkeitsgerangels. Wir brauchen Vereinheitlichung, Vereinfachung und Beschleunigung. Machen Sie Tempo! Wir helfen Ihnen gerne dabei.
({8})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Cemile
Giousouf, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! In den Zeiten des sogenannten Wirtschaftswunders vor über 50 Jahren wurden mit Ländern wie Italien, Griechenland und der Türkei Anwerbeabkommen
abgeschlossen. Mehrere Millionen Menschen wurden
für Industriearbeitsplätze benötigt. Sie kamen hierher
und arbeiteten gemeinsam am Standort Deutschland auf
Baustellen, in Fabriken oder im Bergbau.
Heute stehen wir wieder vor der Herausforderung,
dass wir Zuwanderung brauchen. Uns fehlen Ingenieure,
Facharbeiter, aber auch Ärzte, Pflegekräfte und Lehrer.
In meinem Wahlkreis Hagen und im südlichen EnnepeRuhr-Kreis fehlten den mittelständischen Unternehmen
letztes Jahr 24 000 Fachkräfte. Ohne die Unterstützung
aus dem Ausland können wir diese Herausforderung
nicht stemmen. Deshalb ist es sehr gut, dass sich
Deutschland in den letzten Jahren immer mehr zu einem
modernen Einwanderungsland entwickelt hat.
({0})
Deutschland ist für immer mehr Menschen - darunter
gut ausgebildete Fachkräfte - eine attraktive Wahlheimat. Unser Bundesinnenminister Thomas de Maizière
hat gestern im Rahmen der Diskussion über die Freizügigkeit in Europa nochmals deutlich gemacht, dass auch
die Mehrheit der Menschen, die aus den osteuropäischen
Ländern zu uns kommen, gut ausgebildet ist. Gleichzeitig fahren aber auch in Deutschland noch viele Ingenieure und Ärzte Taxi.
Damit wir all diese Potenziale nutzen können, wurde
das Anerkennungsgesetz auf den Weg gebracht. Es ist in
Europa übrigens einzigartig. Mit diesem Gesetz hat jeder
Antragsteller einen Anspruch auf Prüfung der im Ausland erworbenen Qualifikation. Dieser Anspruch gilt
ebenso für Drittstaaten und für Drittstaatenabschlüsse.
Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass auch immer
mehr Flüchtlinge zu uns kommen, ist das eine wichtige
Weichenstellung. Deshalb freut es mich umso mehr, dass
diese neue Kultur der Anerkennung auf eine erfolgreiche
Regierungsinitiative der Union zurückgeht.
Lieber Herr Kollege Mutlu, wenn das alles, was wir
machen, so schlecht ist: Warum gab es dann kein Anerkennungsgesetz unter Rot-Grün? Damals gab es noch
nicht einmal ein Gesetz, über das wir heute hätten streiten können. Nein, das ist eine Initiative einer CDUMinisterin gewesen, und sie wird von einer CDU-Ministerin umgesetzt.
({1})
Die Bilanz fällt überzeugend aus:
Im April dieses Jahres wurde der Bericht zum Anerkennungsgesetz veröffentlicht. Daraus geht hervor, dass
über 82 Prozent der Berufsabschlüsse als gleichwertig
anerkannt wurden, und von den IQ-Beratungsstellen
wissen wir, dass das Interesse weiter zunimmt. Allein in
diesem Jahr haben über 14 000 Personen ein Beratungsgespräch geführt. Die Strukturen und Angebote werden
immer bekannter, und das ist ein Erfolg.
Oftmals hören wir die Klage über die hohen bürokratischen Hürden. Dazu möchte ich auch klar sagen: Es
geht um die Gleichwertigkeit mit deutschen Berufsabschlüssen. Die Qualität deutscher Berufsabschlüsse ist
weltweit anerkannt, und der wirtschaftliche Erfolg
Deutschlands hängt in einem nicht geringen Maße davon
ab. Mit anderen Worten: Diese Qualitätsstandards müssen beibehalten werden, auch dann, wenn wir die EUBerufsanerkennungsrichtlinie in nationales Recht umgesetzt haben werden, was bis 2016 geschehen muss. Wir
müssen den Spagat schaffen, Menschen schnell in den
Arbeitsmarkt zu integrieren, ohne die Qualität deutscher
Berufsabschlüsse zu verwässern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es handelt sich um
ein noch junges Gesetz, das trotz seines frühen Erfolgs
fortentwickelt werden muss; hier gebe ich den Kollegen
recht. Folgende Punkte möchte ich dabei hervorheben:
Erstens. Wir müssen sicherstellen, dass wir entsprechende Qualifizierungsmaßnahmen für alle Berufe anbieten können, um eine volle Anerkennung zu erreichen.
Die größte Herausforderung ist hier natürlich die Finanzierung. Deshalb finde ich es gut, dass das BMAS
- kofinanziert mit ESF-Mitteln - entsprechende Berufsqualifizierungen, für die der Bund zuständig ist, flächendeckend ermöglichen wird.
({2})
Zweitens. Ich halte es für unabdingbar, dass für die
Gesundheitsberufe eine zentrale Anlaufstelle auf Bundesebene geschaffen wird - idealerweise angesiedelt bei
der Zentralstelle für ausländisches Bildungswesen bei
der KMK in Bonn.
Drittens. Die Länder müssen einheitliche Verordnungen festlegen. Es kann nicht sein, dass für die Anerkennung unterschiedliche Standards und Hürden festgelegt
werden. Einige Länder schließen Berufe sogar aus der
Anerkennung aus, wie das NRW mit dem Lehrerberuf
macht. Wir wollen keinen Anerkennungstourismus zwischen den verschiedenen Ländern. Das ist nicht im Sinne
dieses Gesetzes.
({3})
Der vierte Punkt betrifft den Beruf des Lehrers insgesamt. Jetzt müssen der Deutsche Philologenverband und
die GEW etwas tapfer sein; denn ich will folgende Frage
stellen: Müssen der Mathematiklehrer aus Warschau
oder die Physiklehrerin aus Bratislava, die beide hervorragend Deutsch sprechen und ihr fachliches Handwerk
aus dem Effeff beherrschen, wirklich noch ein zweites
Fach studieren, um in einer staatlichen Schule in
Deutschland unterrichten zu dürfen?
({4})
Wir sprechen hier immerhin von händeringend gesuchten Lehrkräften in Mangelfächern. Andere Länder kennen den Lehrer mit zwei Fächern nicht. Sollten wir für
solche Fälle nicht eine Brücke bauen? Es wäre gut, wenn
die Bundesländer sich hier trauen würden, auch einmal
neue Wege zu gehen.
({5})
Bislang ist dies nur in einem einzigen Bundesland,
nämlich in Hamburg, möglich. Hamburg hat bereits im
Oktober 2010 - noch unter Schwarz-Grün, lieber Herr
Mutlu - eine Zentrale Anlaufstelle Anerkennung mit
ESF-Mitteln eingerichtet. Qualifizierungsmaßnahmen
werden durch Stipendien der Stadt Hamburg gefördert.
Das könnte als Blaupause für andere Bundesländer dienen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum
Schluss. Es ist ein Gesetz mit einem großartigen Leitgedanken. Wenn selbst die gegenüber dem deutschen Bildungssystem notorisch griesgrämigen Bildungsexperten
der OECD zu dem Schluss kommen, dass Deutschland
für Hochqualifizierte alle Türen offen hält,
({6})
dann ist das für uns alle ebenso ein Grund zur Freude
wie das europaweite Pauken von Deutschvokabeln.
Herzlichen Dank.
({7})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Dr. Ernst Dieter
Rossmann, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich erinnere mich noch an Debatten hier im Bundestag,
bei denen allein die Darstellung, dass es in Deutschland
rund 400 000 bis 500 000 akademisch gebildete zugewanderte Menschen gibt, deren Abschluss nicht anerkannt wird, große Augen bei allen Kollegen hervorgerufen hat.
({0})
Dankenswerterweise war es die Universität Oldenburg,
die solche Studien durchgeführt hat. Wir können jetzt
natürlich daran erinnern, wie Olaf Scholz damals gegen
den Widerstand des Kollegen Schäuble gekämpft hat
und andere ihrerseits wieder gegen Widerstände anderer.
Wichtig ist doch aber, dass es jetzt eine große Übereinstimmung gibt, auch hinsichtlich der operativen Teilbereiche, die angegangen werden müssen.
Sie haben in einem sehr selbstkritischen Bericht vieles gelesen, was Staatssekretär Müller und andere auch
schon angesprochen haben. Wir werden hoffentlich in
zwei Jahren einen anderen, einen besseren Bericht erhalten, weil es bis dahin eine bessere Koordinierung zwischen den Ländern und zwischen den Beratungsstellen
sowie vereinfachte Verfahren und hoffentlich auch ein
- hier knüpfe ich an Olaf Scholz an - voll ausgebildetes
Qualifizierungssystem geben wird. Es war ja immer unser Wunsch, der Wunsch der SPD, dass es nicht nur das
Recht auf Beratung und das Recht auf Anerkennung
gibt, sondern auch das Recht auf Nachqualifizierung.
Auf dem Weg dorthin ist das, was Frau Nahles jetzt im
Namen der Großen Koalition vorbereiten kann, ein guter
und wichtiger Schritt. Wenn das Ganze dann nicht nur in
ein freiwilliges Programm, sondern in eine Rechtsleistung münden würde, dann hätten wir tatsächlich ein sehr
modernes Anerkennungsrecht.
Dazu gehört auch - ich nehme das auf, was Frau Hein
und Herr Mutlu gesagt haben -, dass uns die Spanne bei
den Anerkennungsgebühren, die, wie es im Bericht
steht, von 100 über 600 bis zu 1 500 Euro reicht, doch
selber ins Grübeln bringen muss.
({1})
Diese Menschen kommen hierher. Sie haben nicht viel
Geld, aber Sie haben eine gute Qualifikation. Sie sind
durchschnittlich zwischen 25 und 35 Jahre alt. Sie haben
auch noch Familie. Sie wollen sich hier einbringen und
sollen dafür am Ende in einem bürokratischen Verfahren
viel Geld aufbringen. Wir müssen uns selber einmal in
deren Situation hineindenken und fragen, ob diese Hürde
eigentlich so bleiben muss oder ob man dort nicht etwas
ändern kann.
({2})
Es muss ja nicht unbedingt kostenlos sein, aber zwischen
600 und 200 Euro liegt ein Unterschied, auch bezogen
darauf, ob man sich einbringt oder nicht.
Ich will gerne einen weiteren Gedanken von Ihnen
aufnehmen, Herr Mutlu. Ja, das Verfahren soll schnell
sein, es soll zügig sein, es soll einfach sein. Es muss aber
auch verlässlich und leistungsbezogen sauber sein.
({3})
Gerade auf dem Arbeitsmarkt, bei den Handwerkern,
den Mittelständlern und anderswo hat sich an der Tendenz, die aus dem Bericht herauszulesen ist, dass man
eben doch - in Anführungsstrichen - der deutschen Qualifikation mehr traut als der nachgereichten eingedeutschten Qualifikation, nichts verändert. Wenn es dort
Zweifel gibt, wenn sich festsetzen sollte: „Das ist ein
bisschen geluscht“, dann nützt es diesen Menschen ja
nichts. Es muss ja im Gegenteil gerade bei denen, die
diese Kräfte aufnehmen sollen, auch eine Bereitschaft
geben und ein hundertprozentiges Vertrauen auf Gleichwertigkeit bestehen. Dafür wollte ich noch einmal werben. Ich glaube, so haben Sie es auch verstanden. Ich
wollte das unterstreichen und noch einmal ausdrücklich
sagen: Das liegt jetzt bei uns als Parlamentariern. Wie
halten Sie es? Gehen Sie in die mittelständischen Betriebe? Fragen Sie nach, ob die dort auch Hilfskräfte mit
einer hohen Qualifikation haben, bei denen es an der Ermunterung durch den Chef gefehlt hat, der sagt: „Mach
das doch, wir brauchen dich“? Fragen wir das so? Ich
glaube, wir können als Abgeordnete in dieser Richtung
viel mehr zur Bewusstseinsbildung beitragen, auch in
Bezug auf die Chancen, die das Anerkennungsgesetz
hat.
Ich kann mir vorstellen, dass es auch Veranstaltungen
zur Anerkennung der Qualifikation geben kann, bei der,
ähnlich wie bei der Veranstaltung, in der neuen deutschen Staatsbürgern die deutschen Pässe verliehen werden, das Engagement von Menschen gewürdigt wird, die
sich nachqualifiziert haben. Das ist Anerkennungskultur,
das ist Willkommenskultur.
Mir bleibt noch etwas Wichtiges zu sagen. Wir müssen darauf achten, dass keine soziale Spaltung, keine
Qualifikationsspaltung entsteht. Der Bericht zeigt, dass
denjenigen mit einem höheren Qualifikationsniveau das
Anerkennungsverfahren leichter fällt und sie es meist
auch erfolgreich abschließen. Aber bei denjenigen mit
einem nicht so hohen Qualifikationsniveau besteht gegenüber dem Anerkennungsverfahren große Distanz.
Gerade bei diesen Menschen müssen wir für das Verfahren werben.
Das ist vielleicht ein besonderer Schwerpunkt, den
man setzen kann. Die Differenz zwischen der akademi5124
schen und der beruflichen Bildung, obwohl wir beide als
gleichwertig ansehen, bildet sich auch hier ab: Diejenigen, die mit einem akademischen Abschluss hierher
kommen, haben es leichter als diejenigen, die mit einem
Berufsabschluss zu uns kommen. Das kann es doch nicht
sein. Wenn wir die Gleichwertigkeit zwischen akademischer und beruflicher Bildung wollen, dann muss diese
auch im Zugang zum Anerkennungsverfahren und den
Chancen gelten, daraus etwas für sich zu machen.
Danke schön.
({4})
Vielen Dank. - Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist die Kollegin Katrin Albsteiger für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich freue
mich, dass ich als letzte Rednerin in dieser Debatte meinen Redebeitrag leisten darf. Noch mehr freut es mich,
dass ich zum Anerkennungsgesetz rede, das auf Initiative der CDU/CSU entwickelt,
({0})
eingebracht, beschlossen und im Jahr 2012 in Kraft getreten ist.
({1})
Es handelt sich dabei um ein völlig neues Instrument
zur Bekämpfung des Fachkräftemangels in Deutschland.
Wenn wir das so sagen und wenn auch in dem Bericht
diese Begriffe auftauchen, dann heißt das nicht, dass wir
keinen Respekt vor der Qualifikation der Fachkräfte aus
dem Ausland hätten, ganz im Gegenteil.
({2})
Aber es darf doch hier durchaus einmal erwähnt werden,
dass wir erkannt haben, dass da Handlungsbedarf besteht. Das Anerkennungsgesetz ist ein wesentlicher Baustein zur Bekämpfung des Fachkräftemangels.
({3})
Das Anerkennungsgesetz ist ein sehr dynamisches
Gesetz.
({4})
Genau deswegen sind wir schließlich hier: Wir diskutieren einen Bericht. Das ist der erste Bericht zu diesem
jungen, neuen, frischen Gesetz. Es ist doch gerade das
Schöne an diesem Gesetz, dass wir darin ein Monitoring
festgelegt haben. 2011 ist bei den Verhandlungen mit
dem Bundesrat die Idee eingebracht worden, die Auswirkungen dieses Gesetzes im Rahmen eines Monitorings zu untersuchen. Uns geht es nicht nur darum, Gesetze zu machen, sondern auch darum, sie auf ihrem
Weg konstruktiv zu begleiten.
({5})
- Und weiterzuentwickeln, Herr Mutlu. Selbstverständlich auch das. - Dieses Monitoring bedeutet, einerseits
die positiven Ergebnisse der Umsetzung zu benennen
und andererseits die kritischen Punkte aufzugreifen und
Verbesserungen aufzuzeigen. Genau das ist heute in der
Debatte schon in ausreichender Art und Weise passiert.
Danke, Herr Staatssekretär Müller, für Ihren Bericht.
Die Bilanz ist: Die Ergebnisse dieses Gesetzes sind nach
Meinung der Opposition hochdramatisch. Tatsächlich ist
das nicht der Fall. Das Gesetz ist eine Erfolgsgeschichte.
Zwischen April und Dezember 2012 lagen uns schon
11 000 Anträge vor. Das ist schon etwas, aber da ist auch
noch Luft nach oben, keine Frage.
({6})
Ich bin sicher, dass dann, wenn wir den nächsten Bericht
diskutieren werden, auch dokumentiert werden wird,
dass sich die Zahl der Anträge erhöht haben wird.
Das Schöne dabei ist, dass es nicht nur darum geht,
die Zahl der Anträge zu erhöhen, sondern es geht auch
darum, dass möglichst viele Anträge anerkannt werden.
Mit einer Quote von über 80 Prozent sind wir da auf einem hervorragenden Weg.
({7})
Während noch vor anderthalb Jahren erst fünf Bundesländer ein Anerkennungsgesetz hatten, verfügt heute fast
jedes Bundesland über ein solches Gesetz.
({8})
Auch das ist eine gute Nachricht. Genau darum ging es
uns schließlich in den vergangenen Monaten.
Ich möchte einen besonderen Punkt herausgreifen,
nämlich die Gesundheitsberufe. Ja, da gibt es Handlungsbedarf. Das ist auch ein extrem wichtiger Bereich.
({9})
Es ist richtig, dass die bereits beschlossene, länderübergreifende zentrale Gutachtenstelle aufgrund des besonders hohen Aufkommens in diesem Bereich ihre Arbeit
aufnimmt. Zur Verbesserung der Situation wird diese
Stelle zu einheitlichen Standards und einer besseren Koordinierung beitragen.
Gerade uns als Union ist die Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen zwischen Stadt und Land sehr wichtig.
In Bayern beispielsweise haben wir das im letzten Jahr
nach einem Volksentscheid sogar in unsere Verfassung
hineingeschrieben. Das ist schon eine gute Sache. Aber
es reicht sicherlich nicht aus, die Verfassung zu ändern,
ohne dafür zu sorgen, dass die Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen auch tatsächlich erreicht wird. In diesem Zusammenhang ist die medizinische Versorgung gerade im ländlichen Raum ein wesentlicher Punkt. Dazu
tragen auch die ausländischen Fachkräfte bei. Insofern
leisten wir mit dem Gesetzentwurf einen wichtigen Beitrag.
So viel zum Thema aus deutscher Sicht, aber - das sei
als letzter Punkt in dieser Debatte benannt - auch die europäische Sicht ist sehr wichtig. Das Anerkennungsgesetz leistet nämlich auch im europäischen Rahmen einen
wichtigen Beitrag. Wir sind uns, glaube ich, darin einig,
dass wir nicht nur für die Bekämpfung des Fachkräftemangels im eigenen Land zu sorgen haben, sondern auch
- das ist unsere Pflicht, aber auch unsere Überzeugung für die Verwirklichung eines gemeinsamen europäischen
Arbeitsmarktes.
Gerade die Zahlen zur Jugendarbeitslosigkeit machen
deutlich, dass es in Europa eine Generation gibt, die wir
in dieser Hinsicht möglicherweise verlieren. Auch an der
Stelle ist es wichtig, nicht immer nur von einem möglichen Braindrain zu reden, sondern auch die Chance zu
sehen, die damit verbunden ist. Wenn ausländische Arbeitskräfte aus Griechenland, Spanien oder Frankreich
auch in Deutschland Arbeit finden, dann ist das ein guter
Beitrag. Das Anerkennungsgesetz leistet ebenfalls seinen Teil.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen einen schönen Nachmittag.
({10})
Vielen Dank. - Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/1000 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung zur Bildung für
eine nachhaltige Entwicklung
- 17. Legislaturperiode Drucksache 17/14325
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({0})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Für die Bundesregierung
hat der Parlamentarische Staatssekretär Stefan Müller
das Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bildung für nachhaltige Entwicklung ist ohne Zweifel zu
einer breiten Bewegung geworden, die alle Bildungsbereiche vom Kindergarten über die Schule bis zum Ausbildungsbetrieb oder zur Hochschule erfasst. Es ist eine
Bewegung, die alle Akteure dieser Felder sowie die
Nichtregierungsorganisationen und die Wissenschaft erreicht hat.
Der nunmehr vorliegende vierte Bericht zeigt den
breiten Ansatz des Bundes zur Förderung der Bildung
für nachhaltige Entwicklung. Es wird deutlich, dass die
BNE ein eigenständiges Thema innerhalb der Bundesregierung ist, das aber auch gewissermaßen interdisziplinär von den Ressorts aufgegriffen wurde. Der Bericht
macht klar, wie vielfältig die Aufgabenfelder in diesem
Themenbereich sind und wie hoch die Verbreitung in
den verschiedenen Gruppen der Gesellschaft mittlerweile ist.
Die Dekade geht nunmehr zu Ende. Das heißt, wir
blicken auf zehn Jahre BNE in Deutschland zurück. Im
Dezember endet die UN-Dekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“.
Man kann sicherlich mit Fug und Recht sagen, dass
die BNE seit 2005 einen starken Entwicklungsschub erfahren hat. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat als federführendes Ressort innerhalb der
Bundesregierung diese Entwicklung mit gut 9 Millionen
Euro gefördert.
Unser verlässlicher Partner in dieser Zeit war die
Deutsche UNESCO-Kommission, die der Deutsche
Bundestag mit der Umsetzung und Koordinierung der
Dekadeaktivitäten beauftragt hat. Gewissermaßen von
null auf hundert wurden Arbeits- und Steuerungsstrukturen geschaffen, thematische Schwerpunkte gesetzt und
gezielt einzelne Bereiche und Themen in den Fokus genommen. Ich will deswegen die heutige Debatte zum
Anlass nehmen, den Mitgliedern des eingerichteten Nationalkomitees und des einmal jährlich tagenden runden
Tisches für ihr Engagement und ihre Arbeit in den vergangenen Jahren besonders zu danken.
({0})
Die UN-Dekade hat die BNE in Stadt und Land bekannt gemacht. Es gibt eine Reihe von im ganzen Land
verbreiteten Initiativen, die als UN-Dekadeprojekt ausgezeichnet wurden, damit eine höhere Sichtbarkeit erreicht haben und eine verdiente Anerkennung für ihr
bemerkenswert hohes - in den allermeisten Fällen ehrenamtliches - Engagement erfahren haben. Es sind beeindruckende Zahlen, die wir zur Kenntnis nehmen dürfen.
Über 1 900 Projekte können sich mit der UN-Dekadefahne schmücken, von dem kleinen Projekt „H2klar-O!“
der Jugendfarm Erlangen bis hin zu dem von der Universität Kiel organisierten Bundesumweltwettbewerb. Darüber hinaus wurden 49 offizielle Dekademaßnahmen
ausgezeichnet, die als Leuchttürme wirken und zugleich
BNE-Initiativen regional vernetzen. Dabei wurde deutlich, dass mittlerweile Nachhaltigkeit von vielen Unternehmen als Imagefaktor gesehen wird. Wir können sehr
froh darüber sein, dass diese UN-Dekade dazu geführt
hat, dass dieses Thema auch in der Wirtschaft weit oben
auf der Agenda steht.
Einen besonderen Erfolg stellen ohne Zweifel die
21 prämierten Dekadekommunen dar. Es haben sich
kleine und große Kommunen beteiligt. Beispielgebend
sind hier die 6 700-Einwohner-Gemeinde Markt Eggolsheim, aber auch die Metropole Hamburg, die den Nachhaltigkeitsgedanken als kommunales Leitthema aufgegriffen haben.
({1})
- Bitte.
Nach zehn Jahren sollten wir nicht nur Bilanz ziehen,
sondern auch sagen, wie es weitergehen soll. In Zukunft
wird die Nachhaltigkeit eine ähnlich große Rolle spielen
wie in den letzten zehn Jahren. Natürlich spielt, Nachhaltigkeit hier auch eine große Rolle und hat auch in den
letzten zehn Jahren eine große Rolle gespielt. Wir wollen
Strukturen fördern, die nachhaltige Wirkung entfalten.
Dazu hat das BMBF auf Begleitforschung und lokale
Netzwerke gesetzt. Wir haben die Begleitforschung bei
vier Verbundvorhaben an zehn Hochschulen gefördert,
um den Prozess der Dekadeumsetzung wissenschaftlich
begleiten zu lassen. Um vom Projekt zur Struktur zu
kommen und die einzelnen Aktivitäten dauerhaft zu etablieren, gab es einen Wettbewerb zur Förderung von lokalen Bildungs- und Kompetenznetzwerken.
Bemerkenswert ist, dass das Engagement und die Arbeit, die wir hier in Deutschland im Bereich der Bildung
für nachhaltige Entwicklung geleistet haben, international hohe Anerkennung erfährt. Das ist auch daran zu erkennen, dass Frau Bundesministerin Johanna Wanka von
der UNESCO-Generaldirektorin eingeladen wurde, die
deutschen Initiativen auf der Weltkonferenz zum internationalen Abschluss der UN-Dekade in Japan im November 2014 zu präsentieren.
Wir haben uns im Koalitionsvertrag eindeutig zur Bildung für nachhaltige Entwicklung bekannt. Wir wollen
uns den Herausforderungen bei der Erfüllung dieser Lebens- und Gemeinschaftsaufgabe weiterhin stellen. Aber
mit dem Ende der UN-Dekade liegt nun eine Zäsur vor,
die die Neuordnung der Förderung der Bildung für nachhaltige Entwicklung in Deutschland einläutet. Wir werden nunmehr im Rahmen des Weltaktionsprogramms
weitere Aktivitäten vorbereiten. Um dieses Programm
auf nationaler Ebene umsetzen zu können, ist das BMBF
gerade dabei, im Rahmen eines Konsultationsverfahrens
die wesentlichen Akteure einzubeziehen. Zwei Anhörungen mit Expertinnen und Experten haben bereits
stattgefunden. Die Herausforderung besteht ohne Zweifel darin - das ist vielleicht auch eine Schwäche -, dass
es einen großen Reichtum an Fragestellungen, Aufgabenfeldern, Themen und einzelnen Akteuren gibt. Das
muss auch eine Rolle bei der Vorbereitung der Umsetzung des Weltaktionsprogramms spielen.
Ähnliches gilt für den Bericht. Wir denken darüber
nach, dem nächsten Bericht eine neue Struktur zu geben.
Wir könnten uns vorstellen, dass wir im Rahmen des
Weltaktionsprogramms die Aktivitäten der verschiedenen Ressorts noch enger - auch inhaltlich - zusammenführen und darstellen. Eine Überlegung ist - ohne dass
ich heute mehr dazu sagen kann -, dass wir in Anlehnung an den Bundesbildungsbericht die BNE-Aktivitäten entlang der Bildungskette darstellen.
({2})
Ohne Zweifel wird die Bundesregierung das Thema
Bildung für nachhaltige Entwicklung weiter vorantreiben. Das erkennen Sie schon im Koalitionsvertrag. Dort
bekennen wir uns dazu, dass Bildung für nachhaltige
Entwicklung in allen Bildungsbereichen stärker verankert werden soll.
({3})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Dr. Rosemarie
Hein, Fraktion Die Linke.
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ende dieses Jahres geht sie also zu Ende,
die UN-Dekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“,
und in jeder Legislatur legte die Bundesregierung einen
Bericht vor, wie das Thema nachhaltige Entwicklung in
den unterschiedlichen Bildungsbereichen untersetzt
wird. Über fast 80 Seiten werden darin Projekte und Initiativen aller Bundesministerien und der Länder aufgezählt, und man könnte ob der Fülle schier beeindruckt
sein. Die Bundesregierung scheint nach dem Motto zu
arbeiten: Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen. Ich wage aber zu behaupten, dass die Fülle allein
noch kein Ausweis für Qualität und schon gar nicht für
Nachhaltigkeit ist.
({0})
Darum verstehe ich die Grundkritik des Bündnisses
für Zukunftsbildung. Das ist ein Zusammenschluss von
Umweltakteuren, Gewerkschaften und international agierenden Verbänden. Sie alle haben sicherlich den Brief
bekommen. Das Bündnis kritisiert die Begrenztheit der
Projekte. Bildung für nachhaltige Entwicklung werde in
Deutschland noch immer einzelnen Personen und Institutionen überlassen, schreibt es in seinem Brief.
Es reicht eben nicht, alle Ministerien und Beauftragten der Bundesregierung über ihre Initiativen berichten
zu lassen, wobei alles aufgezählt wird, was irgendwie
unter der - ich zitiere den Staatssekretär - Fahne der
UN-Dekade versammelt werden kann. Dazu gehören der
Ausbau der frühkindlichen Bildung - das sicherlich und die Häuser der kleinen Forscher ebenso wie das Bildungs- und Teilhabepaket - dies halte ich übrigens überhaupt nicht für nachhaltig -, aber es wird kein Wort über
die Defizite und Problemsichten verloren. Das fehlt mir
in diesem Bericht.
Übrigens fehlt erstaunlicherweise auch das Programm
„Kultur macht stark“. Da hat das Bildungsministerium
den nachhaltigen Ansatz wohl gar nicht erkannt. Ich
finde, das ist nachhaltig. Ich finde außerdem, dass sich
einige Bereiche, auch in den Ländern, zu einseitig auf
ökologische, umweltpolitische und globale Fragen konzentrieren; dabei geht es bei der Bildung für eine nachhaltige Entwicklung auch um Gerechtigkeitsfragen, um
soziale Gerechtigkeit und Generationengerechtigkeit.
Nachhaltig sein heißt nämlich, dass etwas für lange
Zeit hält oder bleibt. So beschreibt es Wikipedia. Nachhaltig ist im deutschen Bildungssystem aber vor allem
die Ungerechtigkeit beim Zugang zu Bildung, und das
hat nachhaltige Folgen für Berufsperspektiven und persönliches Wohlergehen. Das hat uns der jüngste OECDBericht zum wiederholten Male unter die Nase gerieben.
Das ist nichts Neues. Darum sind Fragen des Bildungszugangs und des Bildungserfolgs Nachhaltigkeitsfragen.
Ich verstehe nicht, warum immer noch über 100 000 Schülerinnen und Schüler mit Hauptschulabschluss jedes Jahr
im Übergangssystem geparkt werden, wenn wir landauf,
landab über einen Fachkräftemangel klagen.
Das Bundesministerium der Verteidigung hatte es im
Übrigen wirklich schwer, etwas zum Bericht beizusteuern. In den 45 mageren Zeilen kommt das Wort „Umweltschutz“ genau achtmal vor. Das sollte man loben.
Entschuldigung, aber ich kann an dieser Stelle nur sarkastisch sein. In meinem Bundesland baut die Bundeswehr gerade in der einzigartigen Colbitz-Letzlinger
Heide eine Geisterstadt mit U-Bahn für die Ausbildung
zu Kriegseinsätzen. Das hat doch nichts mit Umweltschutz zu tun. Wenn dann noch in den Schulen für den
Dienst in der Bundeswehr geworben wird, ist das keine
Bildung für eine nachhaltige Entwicklung. Diese Kritik
muss an dieser Stelle sein.
Doch es werden in dem Bericht auch sehr viele interessante Initiativen genannt, die verstetigt werden sollten. Aber wie das geschehen soll, darüber liest man
nichts. Auch aus der Rede des Staatssekretärs haben wir
nichts erfahren können. Vielleicht hofft die Bundesregierung auf Erleuchtung auf der Abschlusskonferenz in der
kommenden Woche in Bonn, oder Frau Ministerin bringt
Ideen aus Japan mit. Auch das könnte sein. Vielleicht
nehmen Sie auch die nachdenklichen Töne aus einigen
Ländern auf, wie die vom Kultusministerium aus Sachsen-Anhalt, das das „inflationäre Nebeneinander von
Themen“ - das war ein Zitat - kritisierte.
Vielleicht lesen Sie auch noch einmal nach, was der
Beauftragte der Bundesregierung für Menschen mit Behinderungen geschrieben hat, nämlich dass der - Zitat „Erwerb von eigenverantwortlichen und nachhaltigen
Handlungsoptionen … nicht in einem separierenden und
ausgrenzenden Bildungs-, Ausbildungs- und Arbeitssystem gelingen“ wird.
Und vielleicht verbinden Sie das auch mit der im Bericht zu lesenden Einsicht, dass Nachhaltigkeit schon bei
der Planung von Schulgebäuden, bei der Rhythmisierung des Schulalltags und bei der Bereitstellung eines
gesunden Schulfrühstücks und Schulmittagessens beginnt und ebenso notwendig ist wie soziales Lernen, demokratische Beteiligung und Bildungsthemen wie Energiewende, nachhaltige Lebensweise, Mobilität und
biologische Vielfalt.
Da haben wir ein gewaltiges Arbeitspensum, und die
Bundesregierung kann sich da nicht herausreden mit
dem Verweis auf Länderzuständigkeiten und auch nicht
mit dem Hinweis darauf, dass man die Finanzierung des
BAföG jetzt komplett übernimmt.
Danke schön.
({1})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Saskia Esken,
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren!
Planst du für ein Jahr, so säe Korn, planst du für ein
Jahrzehnt, so pflanze Bäume, planst du für ein Leben, so bilde Menschen.
So machte schon im 4. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung der chinesische Philosoph Kuan Chung Tzu deutlich: Bildung und Nachhaltigkeit gehören untrennbar zusammen.
Ich will das an einem Beispiel verdeutlichen. Müllvermeidung, Mülltrennung, Recycling von Wertstoffen vor 20 Jahren waren diese Begriffe eng abgegrenzten,
wohlinformierten Kreisen vorbehalten. Heute sind die
Deutschen Weltmeister im Mülltrennen. Wir recyceln,
was das Zeug hält, und die Wissenschaft beginnt, die
Tage zu zählen, bis es lukrativ sein wird, alte Deponien
auszuräumen und das Material dem Recycling zuzuführen.
Wie ist dieses Kunststück gelungen, liebe Kolleginnen und Kollegen? Sicher gibt es hier den einen oder die
andere, der oder die sich diese Entwicklung gerne als Erfolg der eigenen Gesetzgebung auf die Fahnen schreiben
würde, und das ist ja auch nicht ganz von der Hand zu
weisen. Die Umweltgesetzgebung und ihre Regelungen
zum Umgang mit Abfall, die uns heute selbstverständlich erscheinen, waren zur Zeit ihrer Entstehung und
Durchsetzung nicht unumstritten. Es war eine rot-grüne
Koalition, die diese Gesetzgebung vorangetrieben hat.
Damit hat sie nicht nur zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen, sondern am Ende auch zur wirtschaftlichen Stärke unseres Landes beigetragen.
({0})
Zur Wahrheit gehört aber auch: Der Gesetzgebung gelingt es kaum, innerhalb von 20 Jahren, also in so kurzer
Zeit, Gewohnheiten zu verändern und einen Wandel der
Haltung in den Köpfen der Menschen zu verankern. Dieses Kunststück haben Bildungseinrichtungen vollbracht.
Sie haben die Entstehung, Vermeidung und Trennung
von Müll thematisiert. Die Kinder lernten verschiedene
Müllsorten kennen und trennen und wurden sich so der
Konsequenzen des eigenen Verhaltens bewusst.
Also: Schulkinder haben im täglichen Handeln gelernt, was ökologische und gesellschaftliche Verantwortung bedeuten - und das mit viel Erfolg. Was haben die
Kinder dann gemacht mit ihrem neuen Wissen? Sie haben es nach Hause getragen zu ihren Eltern, zu ihren
Großeltern, und damit hat eine einzige Schülergeneration eine ganze Gesellschaft weitergebildet.
({1})
Sehr geehrte Damen und Herren, diese kleine Anekdote zeigt: Bildung ist Nachhaltigkeit. Die Nachhaltigkeitsstrategie einer Regierung kann ökologische, ökonomische, soziale und kulturelle Nachhaltigkeit zur
obersten Maxime des Regierungshandelns machen, Gesetze und Verordnungen hervorbringen und Beiräte einrichten; um diese Haltung auch in der Gesellschaft zu
verankern, ist Bildung notwendig.
Als Sozialdemokratin ist mir in diesem Vierklang die
soziale Nachhaltigkeit ein besonderes Anliegen. Das
Augenmerk wird hier auf die zukunftsfähige, zwischen
Generationen, Kulturen und Geschlechtern ausgeglichene gerechte Entwicklung einer Gesellschaft gerichtet.
Für eine nachhaltig sozial stabile Gesellschaft müssen
wir Chancengleichheit für alle Menschen und insbesondere für Kinder und Jugendliche anstreben, die Integration von Menschen jedweder Herkunft und Kultur fördern, auch von all denen, die heute noch draußen stehen,
und für gleiche Rechte für Frauen und Männer sorgen.
({2})
In Deutschland ist es deshalb an der Zeit, die sehr guten
Ansätze, die heute schon in vielen Bildungseinrichtungen für die Verankerung der Nachhaltigkeit in der Gesellschaft sorgen, zu verstärken und zu verstetigen.
Wie das aussehen könnte, zeigt sich derzeit in BadenWürttemberg bei der Entwicklung eines neuen Bildungsplans. „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ wird eines
der fünf Leitprinzipien darstellen, also über alle Fächer
hinweg Basis der Erziehung und Bildung sein. Vergleichbare Schritte wurden auch in anderen Bundesländern vollzogen, sodass wir sagen können: Ein Anfang ist
gemacht.
Sehr geehrte Damen und Herren, auch wenn die zu
Ende gehende UN-Dekade eine globale Verantwortung
für die Bildung für nachhaltige Entwicklung nahelegt,
haben wir in den Industriestaaten doch eine ganz besondere Rolle zu spielen. Viele Jahrzehnte haben wir den
Wohlstand unserer Hemisphäre aufgebaut, ohne Rücksicht auf den Ressourcenverbrauch, auf die Umwelt oder
auf die sozialen und kulturellen Lebensbedingungen der
Menschen in aller Welt.
Auch heute noch verbraucht Deutschland ein Vielfaches der Ressourcen, die uns, global betrachtet, zustehen
würden. Wir selbst spüren die Folgen dieses Raubbaus
kaum, doch die Menschen in den Entwicklungsländern
leiden darunter. Hier fehlt das saubere Trinkwasser. Hier
fehlt das Getreide, das wir für die Fleischerzeugung verbrauchen. Und hier fehlt das Geld, um sich gegen die
Veränderung des Klimas zu schützen. Seien wir ehrlich:
Diese Welt würde nicht mehr lange existieren, wenn sich
alle nach der Art der Industrieländer entwickeln würden.
({3})
Als Bildungspolitikerin möchte ich es nicht versäumen, darauf zu verweisen, dass zu einer nachhaltigen
Entwicklung auch eine nachhaltige Bildung selbst, also
eine Nachhaltigkeit der Bildung, gehört. Dabei geht es
immer weniger um die Vermittlung eines Wissenskanons. Angesichts einer Wissensgesellschaft im Wandel ist es notwendig, dass junge Menschen zukunftsfähige Kompetenzen entwickeln können und dazu befähigt
und motiviert werden, ein Leben lang weiter zu lernen.
Das sogenannte Bulimie-Lernen, also die Aneignung
von Stoff ausschließlich für eine Prüfung, muss endlich
der Vergangenheit angehören; denn das ist das Gegenteil
von Nachhaltigkeit.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine sehr verehrten Damen und Herren, mit der Bildung für nachhaltige
Entwicklung nehmen wir uns vor - um das Zitat vom
Anfang meiner Rede nochmals aufzugreifen -, für die
Dauer eines ganzen Lebens zu planen und darüber hinaus. Wer Verantwortung für die Zukunft übernehmen
will, muss Nachhaltigkeit zur obersten Maxime machen.
Bildung für Nachhaltigkeit ist der Weg dorthin.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist die Kollegin
Beate Walter-Rosenheimer, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben die Erde von unseren Kindern nur geborgt.
So alt dieses indianische Sprichwort auch sein mag
und so häufig es schon zitiert worden ist, so ist es doch
immer noch ein wahres Wort, das sehr knapp zusammenfasst, um was es bei Nachhaltigkeit und nachhaltiger Bildung geht: Wir alle haben die Verantwortung gegenüber
unseren Kindern, diese Erde für sie lebenswert zu erhalten.
Leider hat sich die Regierung reichlich Zeit gelassen,
den Bericht zur Bildung für nachhaltige Entwicklung
vorzulegen. Wenn wir die Haushaltswochen abziehen,
dann sind schon zehn Sitzungswochen vergangen. Ich
hoffe nicht, dass das etwas mit dem Stellenwert zu tun
hat, den dieses Thema für Sie hat.
({0})
Bildung für nachhaltige Entwicklung - kurz: BNE -,
das heißt lernen, unsere Zukunft so zu gestalten, dass unsere Kinder und unsere Enkel auch nach uns noch gute
Lebensbedingungen haben.
({1})
Bildung für nachhaltige Entwicklung, so die
UNESCO, vermittelt Kindern, Jugendlichen, aber auch
Erwachsenen nachhaltiges Denken und Handeln. Sie
versetzt Menschen in die Lage, Entscheidungen für die
Zukunft zu treffen und dabei abschätzen zu können, wie
sich das eigene Handeln auf künftige Generationen oder
das Leben in anderen Regionen dieser Erde auswirkt.
Die UN-Dekade für BNE läuft in ein paar Wochen
aus. Wir haben das schon gehört. Viele Lehrkräfte,
Ehrenamtliche, Nichtregierungsorganisationen, Unternehmen und Stiftungen haben einen ganz entscheidenden Beitrag dazu geleistet, dass Nachhaltigkeit mehr und
mehr in den Schulen, außerschulischen Lernorten und
Kommunen thematisiert wird. Das verdient unseren
Respekt und unsere Anerkennung.
({2})
Es ist ein starkes Zeichen, dass BNE seit dem ersten
Anstoß durch die rot-grüne Bundesregierung im Jahr
2004 ganz unabhängig von politischen Machtverhältnissen immer gemeinsames Ziel war. Das hat sicherlich
Seltenheitswert und zeigt, dass BNE ein Kernziel für uns
alle ist.
Herr Müller, Sie sprachen vorhin davon, dass das
Konzept sehr breit aufgestellt sei. Aber: Der Bericht sowie zahlreiche andere Analysen, Studien und Empfehlungen zeigen uns vor allem auch eines: Eine systematische Verankerung des Bildungskonzepts steht nach wie
vor aus. Das wollen wir ändern.
({3})
Auch die UNESCO-Zukunftsstrategie „BNE 2015+“
konstatiert - ich zitiere -: Das eigentliche Ziel der von
den Vereinten Nationen ausgerufenen Dekade wurde oft
nur punktuell und eher modellhaft erreicht.
Der Begriff selbst ist nach wie vor - das wissen Sie
auch - hauptsächlich der Fachöffentlichkeit bekannt.
Dabei ist es doch ein Bildungskonzept, das für uns alle
von entscheidender Tragweite ist.
Eines sollte uns allen klar sein: Nachhaltigkeit ist nur
mit Bildung zu haben. Das haben Sie schon gesagt.
({4})
Gerade die, die BNE als Multiplikatoren vorantreiben
könnten, also die Erzieherinnen, die Lehrerinnen - die
Lehrer und Erzieher natürlich auch -, konnten in unseren
Augen nicht genügend erreicht werden. Ja, auch davon
haben Sie, Herr Müller, gesprochen: Es gab ein starkes,
ein bewundernswertes zivilgesellschaftliches, ehrenamtliches Engagement, und davor ziehen wir den Hut. Aber
dennoch, denke ich, können wir den Auftrag nicht allein
den Ehrenamtlichen überlassen, dürfen wir uns nicht allein auf sie verlassen; hier ist auch die Politik stärker gefragt.
({5})
Damit BNE wirklich gestärkt wird, braucht es verbindliche Strukturen für mehr Planungssicherheit und
natürlich ausreichende Finanzmittel, um diese Strukturen zu schaffen. Für meine Fraktion ist klar: Das Kooperationsverbot stand der Bundesunterstützung für diese
Strukturen, für die flächendeckende strukturelle Umsetzung im Weg.
Von Bundesland zu Bundesland unterscheidet es sich
sehr stark, wie sehr Bildungseinrichtungen den Fokus
auf Nachhaltigkeit richten. Wir stehen also immer noch
vor großen Herausforderungen. Im November 2014
- wir haben es schon gehört - soll mit dem Weltaktionsprogramm der UNESCO ein neuer Anstoß für Bildung
für nachhaltige Entwicklung gegeben werden. Wir Grünen hoffen, dass die Bundesregierung aus den Problemen in der Umsetzung des Bildungskonzepts ihre Lehren zieht und das Weltaktionsprogramm in Deutschland
besser unterstützt.
An dieser Stelle will ich Sie an die Zusagen aus 2013
erinnern und hoffe umso mehr, dass sie auch für die aktuelle Bundesregierung gelten. 2013 versprach Bundesministerin Wanka, dass weiterhin Geld und Ideen in diesen Bereich fließen werden. Gerade jetzt, vor dem
Hintergrund der Haushaltsberatungen, darf ich vielleicht
daran erinnern, dass damals in einer Regierungsbefragung ein Aufwuchs an Mitteln für BNE in Aussicht gestellt wurde.
Ich freue mich darauf, gemeinsam mit Ihnen die Verankerung von Bildung für nachhaltige Entwicklung in
Deutschland weiter voranzutreiben. Denn, wie die Deutsche UNESCO-Kommission es beschreibt, BNE lehrt
Menschen, vor allem Kinder und Jugendliche: Mein
Handeln hat Konsequenzen - nicht nur für mich und
mein Umfeld, sondern auch für andere. Ich kann etwas
tun, um die Welt ein Stück zu verbessern.
Gemäß dem aktuellen Jahresthema der UN-Dekade in
Deutschland sage ich: Lassen Sie uns Brücken in die Zukunft bauen und uns weiter gemeinsam für einen lebenswerten Planeten für nachkommende Generationen einsetzen. Denn wir brauchen Kompetenzen in diesem
Land. Dies sind vorausschauendes Denken, interdiszipli5130
näres Wissen, autonomes Handeln und Partizipation an
gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen.
Vielen Dank.
({6})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Dr. Claudia
Lücking-Michel das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Freitagnachmittag, vorletzter Tagesordnungspunkt, und ein Blick auf die Uhr zeigt:
Wir haben schon lange nicht mehr fünf vor, sondern weit
nach zwölf. Jetzt reden wir über das Thema Nachhaltigkeit, und es ist wichtiger als je zuvor.
Das galt schon 1992 bei der UNO-Konferenz. Zum
Glück können wir sagen: Seitdem ist viel passiert; aber
- darin sind wir uns heute Nachmittag offensichtlich einig - viel bleibt auch noch zu tun. Entscheidend auf dem
langen Weg war die Erkenntnis, dass es um Bildung für
nachhaltige Entwicklung gehen muss, dass man an dieser Stelle den Hebel ansetzen muss.
Wenn die UN-Dekade für nachhaltige Bildung
nächste Woche mit einer Konferenz in Bonn zu Ende
geht oder wenn wir hier heute Nachmittag schon den
vierten Bericht zur Bildung für nachhaltige Entwicklung
diskutieren, dann zeigt sich, dass aus dem ursprünglichen Gedanken, dass umwelt- und entwicklungspolitische Bildung zusammengehören, mittlerweile ein umfassendes Konzept geworden ist, ein Konzept, das alle
Ressorts, alle Fächer betrifft: Biologie, Chemie, Geografie, Politik. Es betrifft alle formalen und informellen Bildungsorte. Was eigentlich nicht?
Von der Idee, ausgediente Telefonzellen als Bücherbox wiederzuverwerten, über Mitarbeiterfortbildung für
die Stadtverwaltung einer „fairen Stadt“ bis hin zu den
Hochschulen für nachhaltige Entwicklung: Alles ist Bildung für nachhaltige Entwicklung; alles findet sich in
diesem Bericht und gehört zum Konzept.
Eine Herausforderung will ich benennen. So typisch
es für Querschnittsthemen ist, dass sie überall durchdekliniert werden müssen, so liegt auch im Erfolg die Gefahr. Denn wenn alles für BNE wichtig ist, dann müssen
wir aufpassen, dass bald nicht alles auch irgendwie
gleich unwichtig ist. Wenn wir sagen: „Bildung für nachhaltige Entwicklung wird jetzt zum Qualitätskriterium
für gute Bildung überhaupt“, dann ist das richtig. Doch
passen wir auf, dass sich das Thema nicht auflöst - und
zwar nicht unbedingt in Wohlgefallen.
Deswegen drei Anmerkungen zum Bericht an dieser
Stelle von meiner Seite:
Erstens. Wenn wir in Zukunft mehr erreichen wollen,
dann dürfen wir uns nicht im Abstrakten der Konzepte
verlieren, sondern müssen aufpassen, dass wir nah bei
den Menschen bleiben.
({0})
Wesentlich ist doch die innere Grundhaltung, mit der jeweils geforscht wird, Inhalte entwickelt werden und unterrichtet wird. Ein „Nach mir die Sintflut“ darf es nicht
geben. Vielmehr müssen wir die Botschaft durchbuchstabieren, dass jede und jeder Einzelne von uns Verantwortung hat für die Zukunft unserer Welt und die Menschen.
({1})
Es geht um Aufklärung, um Bewusstsein und vor allem
um Haltung und Motivation zum Handeln.
Zweitens. Um diese Grundhaltung wirklich bei den
Menschen zu verankern, müssen wir voneinander wissen. Internet, Facebook und Wikipedia ersetzen doch
nicht direkte Begegnungen, gemeinsame Erfahrungen
und Reflexion.
({2})
Programme wie ENSA für den Schüleraustausch, Service-Lernen mit „weltwärts“, Exposure- und DialogProgramme oder der Senior Experten Service sind deshalb so wichtig und müssen unbedingt ausgebaut werden.
Drittens. Ich appelliere dringend, die erfolgreichen internationalen Projekte, die im Bericht genannt werden,
zum Beispiel bei der GIZ, weiterzuführen. Im neuen
Weltaktionsprogramm zu Bildung für nachhaltige Entwicklung sollten wir gerade bei der internationalen Zusammenarbeit unseren Schwerpunkt setzen.
({3})
Bildung für nachhaltige Entwicklung - das müssen wir
noch viel stärker im Dialog mit unseren Partnern im Süden verankern. Unsere Partnerländer erwarten da auch
einen konsequenten Beitrag Deutschlands.
Dafür zum Schluss ein sehr konkretes und hoffentlich
anschauliches Beispiel: Cita Mabalylan ist eine philippinische Bäuerin, die ich auf ihrer kleinen Farm auf Mindanao besuchen durfte. Auf dem Weg zu ihr waren wir
kilometerlang durch riesige Ananasplantagen gefahren,
die direkt bis an ihre Erdnussfelder reichten. Doch sie
selbst wusste gar nicht, was sich da draußen abspielte:
wie sich die Landschaft verändert hat, was Del Monte alles auf die Felder spritzt und welche Gefahren für ihre
eigene Landwirtschaft da lauern. Die Autofahrt vom
Flughafen, die für uns das letzte Stück einer Anreise um
die halbe Welt gewesen war, war für unsere Gastgeberin
länger als alles, was sie bisher in ihrem Leben zurückgelegt hatte. Kaanib, eine Partnerorganisation von Misereor, entwickelte daraufhin für die Bauern ein Konzept
für nachhaltige Entwicklung. Der Unterricht begann mit
einer Fahrt über Land.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.
Der Bericht der Bundesregierung zeigt viele überzeuDr. Claudia Lücking-Michel
gende Erfolge. Aber das Ende der Dekade darf nicht das
Ende unserer Anstrengungen sein. Bildung für nachhaltige Entwicklung ist wichtiger als je zuvor. Dabei müssen wir in Zukunft verstärkt auf internationale Partnerschaften und Perspektiven setzen. Das ist wichtiger als je
zuvor.
Vielen Dank.
({4})
Als nächster Redner spricht Oliver Kaczmarek.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte vier Anmerkungen zu Impulsen politischer, insbesondere bildungspolitischer Art machen, die ich der Dekade „Bildung für
nachhaltige Entwicklung“ entnehmen kann.
Erste Anmerkung. Vorbildliche Bildungsinitiativen
- Herr Staatssekretär Müller hat schon darauf hingewiesen - sind als Dekade-Projekte und Dekade-Maßnahmen
ausgezeichnet worden, und es sind Dekade-Kommunen
ausgezeichnet worden. Sie alle, im Übrigen auch die, die
nicht ausgezeichnet wurden, spiegeln den Reichtum des
bürgerschaftlichen Engagements in dem Themenfeld der
Bildung für nachhaltige Entwicklung wider. Sie haben
dazu beigetragen, dass das Anliegen der nachhaltigen
Entwicklung nicht in der Theorie verbleibt - ich erinnere
hier insbesondere an die Naturschutzverbände -, sondern konkret im Alltag erfahrbar wird. Deswegen stelle
ich an den Anfang den Dank für das ehrenamtliche Engagement in diesem Bereich.
({0})
Zweite Anmerkung. Bildung für nachhaltige Entwicklung soll Orientierung in globalen Krisen geben.
Globale Krisen, Klimawandel und andere Dinge, verunsichern die Menschen, weil deren Ursachen nicht in ihrem Alltagsraum zu finden sind. Im lokalen Maßstab
und im lokalen Bezugsraum kann deshalb auch Handlungsspielraum aufgezeigt werden. Insofern soll Bildung
für nachhaltige Entwicklung auch Orientierung liefern,
soll Erklärungen liefern, soll zu Kritikfähigkeit anregen,
soll zu konstruktivem Denken und zu Alternativen anregen. Deshalb: Bildung für nachhaltige Entwicklung trägt
so zur allgemeinen Persönlichkeitsentwicklung und zur
kritischen Urteilsfähigkeit bei. Ich bin froh, dass diese
herausragenden Ziele unserer Bildungspolitik in diesem
Fall konsequent erreicht werden.
({1})
Dritte Anmerkung. Der Abschluss der Dekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ liefert Erkenntnisse
und Herausforderungen, die wir bildungspolitisch nutzen können, und zwar im globalen wie auch im nationalen Maßstab. Was den globalen Maßstab angeht, möchte
ich darauf hinweisen, dass die Zielsetzungen auf dem
Agenda-21-Prozess beruhen. Dort ist im Kapitel 36 die
Notwendigkeit einer Neuausrichtung der Bildung für
eine nachhaltige Entwicklung niedergelegt. Hier werden
ganz konkrete Ziele aufgeführt, von denen ich zwei benennen will.
Dort ist als Ziel beschrieben, dass wir sicherstellen
wollen, dass weltweit mindestens 80 Prozent der Jungen
und mindestens 80 Prozent der Mädchen im Primarschulalter an Grunderziehung teilhaben. Ebenfalls ist
dort festgelegt, dass die Quote der Analphabeten weltweit um 50 Prozent gegenüber 1990 gesenkt werden
muss. Das zeigt, dass es hier um ganz elementare Rechte
geht. Nach unserem Bildungsverständnis ist das Recht
auf Lesen und Schreiben, das Recht auf einen ungehinderten Schulbesuch für Jungen und Mädchen für
Deutschland und die deutsche Politik zentral und universal. Deshalb: Niemand darf vom Besuch der Schule ausgeschlossen werden. Auch das lehrt uns diese Dekade.
Das bleibt eine herausragende Aufgabe für Deutschland
im globalen Maßstab.
({2})
Was den nationalen Maßstab angeht, so gibt es hier
einige Dinge, die wir aus der Durchführung der Projekte
ableiten können. Zwei möchte ich benennen. Die Herausforderung ist: Ja, der Analphabetismus, vor allem
der funktionale Analphabetismus, ist auch ein deutsches
Phänomen. Wir wissen: Es gibt 7,5 Millionen Betroffene
im erwerbsfähigen Alter. Und deswegen ist das, was wir
im Koalitionsvertrag niedergeschrieben haben, nämlich
eine nationale Alphabetisierungsdekade zu beginnen, die
richtige Antwort und ein gutes Zeichen. Wir sollten uns
auch in den anstehenden Haushaltsberatungen bemühen,
das auszugestalten und endlich damit anzufangen.
({3})
Die zweite Herausforderung im nationalen Maßstab.
Gerade die Umsetzung zeigt - im Bericht der Bundesregierung sind einige interessante Hinweise enthalten -,
dass wir in den Bildungseinrichtungen Zeit brauchen,
um Themen abseits des standardisierten Kanons, wie er
sich in Curricula, Kernlernplänen usw. niederschlägt,
einbeziehen zu können. Der Bericht der Bundesregierung hält das auch fest und sagt vollkommen richtig:
Deshalb sind Ganztagsschulen ganz besonders wichtig
und ganz besonders geeignet. - Ich freue mich, dass der
Bericht der Bundesregierung zu Recht die Bedeutung
des Investitionsprogramms „Zukunft, Bildung und Betreuung“ aus dem Jahr 2003 hervorhebt, mit dem über
8 000 Ganztagsschulen in Deutschland geschaffen wurden.
({4})
- Ja. - Ganztagsschulen sind ein prägnantes Beispiel dafür, wie Schulen Raum für mehr Lernen und mehr Leben
und damit auch für mehr Bildung schaffen. Deswegen
müssen wir auf dem Weg weitermachen: quantitativer
Ausbau, qualitativer Ausbau. Der Bund hat mit der Unterstützung der Begleitforschung die Möglichkeit, einen
substanziellen Beitrag zu leisten, damit wir mehr über
Ganztagsschulen wissen. Das sollten wir angehen.
({5})
Letzte Anmerkung. Man kann viel lernen aus der Dekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ für die Gestaltung von Bildungsprozessen - das ist die Zielsetzung -,
aber auch für Politikentwicklung. Beteiligungsorientierung - viele Akteure sind einbezogen worden, vor allem
die ehrenamtlichen -, globale Probleme in Netzwerken
lokaler Art aufgreifen, Umsetzung in langen Zeiträumen
- nicht kurzatmig -, Dekadenorientierung, Interdisziplinarität: All das sind Dinge, die wir aus der Umsetzung
dieser Dekade lernen können. Wenn wir das tatsächlich
tun und es lernen, haben wir nicht nur etwas über nachhaltige Bildung, sondern auch etwas über nachhaltige
Politik gelernt.
Vielen Dank.
({6})
Als letzter Redner in dieser Debatte hat der Kollege
Matern von Marschall das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich freue mich, dass ich als Mitglied im Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung diese
Debatte heute abschließen darf.
Ich möchte, vielleicht durchaus im Einklang mit den
Kolleginnen und Kollegen anderer Fraktionen, sagen:
Wir sind auf einem guten Weg. Es gibt eine Fülle von
Einzelinitiativen. Aber wir sind tatsächlich noch weit davon entfernt, nachhaltige Bildung - bis hinunter in die
Länder und Kommunen - systematisch zu etablieren.
Das wird eine Aufgabe für die Zukunft sein.
({0})
Darüber hinaus - das sage ich als Europapolitiker brauchen wir nicht nur in Deutschland eine Nachhaltigkeitsstrategie, zu der auch Bildung zählt. Wir brauchen
sie insbesondere auf europäischer Ebene. Wir müssen in
Europa eine gemeinsame Strategie zur Nachhaltigkeit
überhaupt erst einmal entwickeln. Daran werden wir im
Parlamentarischen Beirat für Nachhaltigkeit arbeiten,
und zwar schon in Kürze.
({1})
Die Einzelinitiativen vor Ort, die sehr viel mit unmittelbarer Erfahrung zu tun haben, ohne die so etwas gar
nicht funktionieren kann, sind unglaublich wichtig.
Wenn ich die jungen Menschen, wie wir sie hier heute
als Zuhörer haben, sehe, dann stelle ich mir eine Schulklasse vor, die eine Streuobstwiese pflegt und später dort
Äpfel ernten kann. Wenn man so etwas macht, weiß
man, dass man Ressourcen schont, dass man Natur
schont und dass man aber auch ein Wirtschaftsgut erzeugt hat. Das sind viele Einzelbeispiele für das, was
Nachhaltigkeit ist.
Auf der Tribüne sehe ich auch viele Leute, die schöne
T-Shirts tragen. Viele Menschen müssen heute aber erst
einmal lernen, zu verstehen: Wo kommt das T-Shirt
überhaupt her? Unter welchen Bedingungen ist es produziert worden? Was hat die Näherin bekommen? Was hat
der Handel bekommen? Was bekommt eigentlich der,
der das Label draufdruckt? Das sind ganz wichtige Fragen. Diese Fragen müssen in der Bildung zur nachhaltigen Entwicklung gestellt und beantwortet werden. Denn
nur dadurch lernt der Einzelne, persönlich Verantwortung zu übernehmen. Das ist von wesentlicher Bedeutung.
({2})
Ich möchte auch sagen, dass der Begriff der Nachhaltigkeit ein Konzept beschreibt, das vielleicht nicht überall das Gleiche ist. Darüber müssen wir sprechen, insbesondere auch mit Blick auf Europa. Ob „durabilité“ und
„Nachhaltigkeit“ tatsächlich dasselbe Konzept beschreiben, wird erst herauszufinden sein. Ich könnte mir vorstellen und wünsche mir, dass „Nachhaltigkeit“, vielleicht ähnlich wie „Kindergarten“, ein Lehnwort in
anderen europäischen Sprachen wird. Darüber würde ich
mich sehr freuen.
Ich komme aus Freiburg. Dort planen wir einen oberrheinischen Hochschulverbund mit dem Elsass in Frankreich und der Schweiz. Das ist ein europäisches Projekt.
Herr Staatssekretär, ich meine, dass Forschung über das
Thema Nachhaltigkeit von größter Bedeutung ist. Vielleicht könnte ein Leistungszentrum für die Forschung
über Nachhaltigkeit bei uns in Freiburg aufgebaut werden.
Ich komme auf die europäische Ebene zurück. Der
Parlamentarische Beirat wird in Kürze nach Brüssel reisen. Wir werden den Kommissionspräsidenten JeanClaude Juncker daran erinnern, dass er im vergangenen
Jahr, als Kofi Annan von Bertelsmann den Preis für
Nachhaltigkeit erhielt, bei seiner Laudatio Folgendes gesagt hat - ich zitiere es jetzt -:
Die schönste … Definition von Nachhaltigkeit …
bringt uns nicht weiter, wenn wir Nachhaltigkeit
nicht auch politisch, wirtschaftlich, gesellschaftlich
und … persönlich umsetzen. … Europa muss bei
diesem Prozess voranschreiten.
({3})
In dieser Aussage wollen wir Herrn Juncker bestätigen. Wir wollen ihn aber auch herausfordern. Das wird
die Aufgabe sein, die sich der Parlamentarische Beirat
für Nachhaltigkeit in diesem Bereich gestellt hat. Das ist
ganz wichtig, weil wir in Europa, auch und gerade in
Zeiten von Krieg und Terror, das Prinzip der Nachhaltigkeit, welches auch ein Prinzip von Kooperation und
Friedlichkeit ist, besonders ernstnehmen müssen und es
nicht hinter all die anderen aktuellen, wichtigen und dramatischen Aufgaben hintanstellen dürfen. Denn nur
dann haben wir die Möglichkeit, unseren Kindern und
Enkelkindern eine Welt zu hinterlassen, in der auch sie
die Chance auf ein gelingendes Leben haben.
Danke.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung auf Drucksa-
che 17/14325 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstan-
den? - Das ist der Fall. Damit ist die Überweisung so be-
schlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a bis 24 c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike
Hänsel, Niema Movassat, Wolfgang Gehrcke,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE sowie der Abgeordneten Uwe Kekeritz,
Claudia Roth ({0}), Dr. Frithjof Schmidt,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Wirtschaftspartnerschaftsabkommen stop-
pen - Für neue Verhandlungen ohne Druck
und Fristen
Drucksache 18/2603
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({1})
zu dem Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel,
Niema Movassat, Wolfgang Gehrcke, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Nachhaltige Entwicklungsziele der Vereinten
Nationen - Soziale Ungleichheit weltweit über-
winden
Drucksachen 18/1328, 18/1916
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({2})
zu dem Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel,
Niema Movassat, Wolfgang Gehrcke, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Verhandlungen über die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen - Neustart ohne Drohungen und Fristen
Drucksachen 18/1615, 18/2073
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Das ist dann so beschlossen.
Damit eröffne ich die Aussprache und erteile als erster Rednerin Heike Hänsel das Wort.
({3})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir besprechen heute als letzten Tagesordnungspunkt
dieser Woche die großen Zukunftsfragen der Welt und
damit eigentlich die wichtigsten Fragen - leider ganz am
Ende der Sitzungswoche. Es geht um globale Ziele, die
sich die Weltgemeinschaft ab 2015 gemeinsam stecken
will, die sogenannten nachhaltigen Entwicklungsziele,
auf Englisch: Sustainable Development Goals, allgemein abgekürzt als SDGs. Das sage ich für die Gäste,
weil ich mir sicher bin, dass viele noch nicht davon gehört haben.
Ein erster Entwurf dieser Ziele wurde im Rahmen der
UN-Generalversammlung vorgestellt, die zurzeit tagt. Es
geht um 17 nachhaltige Entwicklungsziele. Ganz oben
steht natürlich das Ziel, die Armut zu überwinden. Wir
müssen die weltweiten Ressourcen schonen, den Klimaschutz vorantreiben und die weltweite Ungleichheit bekämpfen. Es geht um Zielvorgaben, die für die Länder
des Südens, aber genauso für die Industrieländer gelten
sollen.
Wir haben dazu einen Antrag eingebracht, noch vor
der Sommerpause, also schon vor einigen Monaten, weil
wir über dieses Thema hier im Parlament diskutieren
wollten. Die erste Frage, die wir uns stellen müssen, ist
die Frage der Partizipation, der Beteiligung. Alle waren
sich einig - es gab viele Verlautbarungen der Regierungen -: Ja, wir wollen eine ganz breite Beteiligung, weil
es um die Entwicklung unserer Gesellschaften geht. Ich muss sagen: Wir haben jetzt zwar Ziele vorgelegt bekommen, es kommt auch zu einer Beteiligung; aber
wenn ich hier fragen würde, wer schon einmal von den
Entwicklungszielen gehört hat, dann würde ich vermutlich erfahren, dass es die wenigsten sind. Das ist ein großer Kritikpunkt. Wenn wir über so wichtige Fragen diskutieren, braucht es viel breitere Diskussionsprozesse
und eine ernsthafte Beteiligung der Zivilgesellschaft.
({0})
Wir haben vorgeschlagen, mit dem Thema in die
Schulen, in die Universitäten und in die Kommunen zu
gehen. All das wäre wichtig, um einen breiten Diskussionsprozess anzustoßen; denn alle Menschen sind davon betroffen. Es geht um ihren Lebensstil, darum, was
sie konsumieren. All das sind wichtige Fragen; wir diskutieren sie mit Schulklassen. Aber es ist doch wichtig,
die Beteiligung auch institutionell zu verankern. Ich
hätte mir von der Bundesregierung gewünscht, dass sie
einen viel breiteren Prozess anstößt, dass sie die Diskussion nicht auf der Ebene der NGOs, der Nichtregierungsorganisationen, belässt - NGOs sind wichtig, aber es
sind spezielle Gruppen -, sondern das Thema mehr in
die Öffentlichkeit trägt. Ich denke, da muss man mehr
machen.
({1})
Uns geht es, wenn ich mir die Ziele anschaue, vor allem um die Frage der sozialen Ungleichheit; das ist die
größte Herausforderung. Wir kennen zum Teil die Zahlen; ich will eine nennen: Die 85 reichsten Personen
weltweit besitzen ungefähr so viel wie die Hälfte der
Weltbevölkerung. Ich denke, diese Zahl spricht für sich.
Deshalb ist unsere große Forderung: Wir müssen den
Kampf gegen die soziale Ungleichheit weltweit und
auch in unserer eigenen Gesellschaft an die erste Stelle
setzen.
({2})
Es gibt einen weiteren Punkt, der mich wundert. Die
vorherigen Ziele, die 2015 auslaufenden Millenniumsentwicklungsziele, befassten sich auch mit dem Thema
Frieden. Dies wird in den neuen Zielen kaum thematisiert. Wir sehen doch weltweit die Kriege und Krisen;
wir wissen ja gar nicht mehr, auf welche Kriegsregion
wir zuerst schauen sollen. Deshalb hatten wir von Anfang an gefordert: Die Friedenspolitik muss in die Entwicklungsziele aufgenommen werden. Frieden und Entwicklung sind zwei Seiten einer Medaille.
({3})
Ganz konkret haben wir gesagt: Es muss um Rüstungsexport, aber auch um Abrüstung gehen. Weltweit werden
1,2 Billionen Euro für Rüstung ausgegeben. Diese können wir doch in Ausgaben für Entwicklung umwidmen.
Das ist doch die zentrale Herausforderung. Wir brauchen
das Geld für Entwicklung.
({4})
Wir haben noch einen zweiten Antrag eingebracht,
den wir gemeinsam mit den Grünen verfasst haben, was
ich sehr begrüße. Wir haben ihn vorgelegt, weil nächste
Woche, am 1. Oktober, eine Deadline der Europäischen
Union endet. Es geht um Handelsfragen, die eine zentrale Rolle spielen, wenn es um die Bekämpfung sozialer
Ungleichheiten geht.
Viele Menschen engagieren sich momentan sehr dafür, dass das TTIP, das Freihandelsabkommen mit den
USA, nicht zustande kommt. Es gibt aber auch andere
Wirtschaftsabkommen mit den Ländern des Südens, vor
allem mit den afrikanischen Ländern. Die afrikanischen
Länder haben sich zwölf Jahre gegen das Ansinnen der
Europäischen Union gewehrt, Wirtschaftspartnerschaftsabkommen abzuschließen, da dies für sie große Veränderungen zur Folge hätte: die Öffnung und Liberalisierung
ihrer Märkte, gleicher Zugang von EU und afrikanischen
Ländern. All das bedroht massiv die Existenz von Kleinbauern und viele Arbeitsplätze. Deswegen haben wir
von Anfang an gesagt: Wir wollen diese Form der Wirtschaftspartnerschaftsabkommen nicht. Wir wollen neue
Mandate, durch die die selbstbestimmte Entwicklung in
den Ländern gestärkt wird.
({5})
In der nächsten Woche, am 1. Oktober, läuft die
Deadline der EU ab. Die EU hat den verschiedenen afrikanischen Ländergruppen gesagt: Wer bis dahin nicht
unterzeichnet hat, für den fällt der zollfreie Zugang zu
den Märkten weg. Das betrifft einige Länder, die sich in
den letzten Jahren viel aufgebaut haben; konkret ist Kenia zu nennen. Sie gelten in der EU als Mitteleinkommensländer. Falls sie die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen nicht unterschreiben, fällt ab dem 1. Oktober
der zollfreie Zugang zu den Märkten weg. Das ist reine
EU-Erpressungspolitik, und die lehnen wir ab.
({6})
Wir fordern, dass der freie Zugang zu den Märkten über
den 1. Oktober hinaus aufrechterhalten wird.
Zum Schluss möchte ich noch erwähnen, dass es in
Kenia um 500 000 Arbeitsplätze im Blumensektor geht,
die konkret betroffen wären, wenn Zölle auf den Export
von Blumen erhoben würden. In erster Linie würde das
viele Fairtrade-Blumen betreffen. Diese Strukturen wurden unter anderem durch deutsche Entwicklungsgelder
aufgebaut. Wir können als Entwicklungspolitiker doch
nicht unterstützen, dass die EU diese Länder erpresst
und dass Projekte, die mit deutschen bzw. EU-Entwicklungsgeldern aufgebaut wurden, in ihrer Existenz bedroht werden. Ich bitte die Bundesregierung: Setzen Sie
sich dafür ein, dass der zollfreie Zugang für all diese
Produkte aus Kenia über den 1. Oktober hinaus erhalten
bleibt.
Danke.
({7})
Als nächster Redner spricht Tobias Zech.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Konstruktive Kritik ist gut. Sie bewirkt nämlich, dass man
sich mit einer Problemstellung intensiv befasst, Vor- und
Nachteile untersucht und Lösungsansätze findet. Im Prozess, der sich mit den Millenniumentwicklungszielen befasst, wird genau das gemacht.
Blicken wir zurück: Bei dem Treffen im Jahr 2000
konnten sich hochrangige Vertreter von 189 Ländern auf
acht internationale Entwicklungsziele einigen. Das ist
ein erster Erfolg, wenn man überlegt, wie divers die
Staatenwelt ist. Die Einfachheit, die Praktikabilität und
die Fokussierung des Katalogs machte es den Staats- und
Regierungschefs möglich, sich mit den entsprechenden
Themen auseinanderzusetzen. Heute, kurz vor Ablauf
der Frist, können wir einige Erfolge verzeichnen: Der
Anteil der in absoluter Armut lebenden Menschen an der
Weltbevölkerung hat sich halbiert. Nur noch 14,9 Prozent statt 23,2 Prozent der Menschen sind unterernährt.
Wir konnten den Anteil der Müttersterblichkeit radikal
senken. Immer mehr Kinder haben die Möglichkeit, eine
ordentliche Grundschulausbildung zu erhalten. - Trotz
dieser beachtlichen Erfolge bestehen weiterhin zahlreiTobias Zech
che Herausforderungen. Die MDGs werden bis 2015
nicht erfüllt sein.
Wir bzw. die Staatengemeinschaft haben konstruktive
Kritik geübt. Das neue internationale Rahmenwerk soll
drei maßgebliche Neuausrichtungen beinhalten: Erstens.
Es soll eine universelle Gültigkeit beinhalten, das heißt,
dass sich nicht nur der Süden, sondern auch der Norden
anpassen muss. Zweitens. Globale Partnerschaften bedeuten auch, als gleichberechtigte Partner aufzutreten; es
ist eine Partnerschaft auf Augenhöhe. Drittens. Da wir in
einer Welt leben, ist die Entscheidung, die Beschlüsse
des Rio+20-Gipfels in den Post-MDG-Prozess zu integrieren, wegweisend. Das ist notwendig, um sich den Herausforderungen stellen zu können. Ich begrüße, dass die
Themen soziale Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit, ökonomische Entwicklung, gute Regierungsführung
sowie Friedens- und Sicherheitsfragen aufgenommen
wurden; denn das sind wichtige Rahmenbedingungen.
({0})
Mit dem im Februar veröffentlichten Eckpunktepapier unterstreicht die Bundesregierung ihr Engagement
und setzt vier Schwerpunkte. Auch der Mitte Juli veröffentlichte Entwurf der international besetzten offenen Arbeitsgruppe, in der Staatsministerin Professor Dr. Maria
Böhmer Deutschland vertritt, schließt sich dieser Richtung an.
Noch einmal: Der Post-MDG-Prozess ist ein erfolgreicher Prozess. Er beleuchtet kritisch den bestehenden
Zielkatalog und plädiert für einen Paradigmenwechsel.
In der Verknüpfung der beiden Prozesse liegt eine große
Chance: Nachhaltige Entwicklung kann wirksamer als
bisher vorangetrieben und umgesetzt werden.
Von konstruktiver Kritik kann man bei dem Antrag
der Linken leider nicht komplett sprechen, Frau Hänsel.
Ich sehe in manchen Punkten eher ein bloßes Querschießen. Man merkt die Zerrissenheit in Ihrer Fraktion beim
Thema Entwicklungspolitik. Eine konkludente Linie
kann ich nicht erkennen.
({1})
Ich will Ihnen das an ein paar Beispielen klarmachen:
Sie fordern zum einen die Aufgabe des unilateralen
Good-Governance-Konzeptes. An einem Punkt haben
Sie ja recht: Das Ideal wäre die Rechtfertigung durch das
eigene Volk. Wir erleben aber immer öfter Staaten - let’s
face reality -, in denen Korruption eben nicht nur in Teilen der Regierung bzw. der Administration eine Rolle
spielt, sondern in denen sich Regierung und Administration quasi nur durch Korruption am Leben halten.
Schauen Sie einmal in die Ukraine.
({2})
Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Ukraine hat
sich in den letzten 15 Jahren entwickelt. Unser Ziel eines
Good Governance ist für die Menschen vor Ort eine notwendige Voraussetzung, um Rechtsstaatlichkeit zu
schaffen. Mit Rechtsstaatlichkeit wird Sicherheit geschaffen; diesbezüglich widersprechen Sie sich in Ihrem
Antrag. Mit Rechtsstaatlichkeit wird für den Schutz von
Minderheiten gesorgt, auch für den Schutz von Frauenrechten, den Sie fordern. Somit ist Good Governance für
uns nicht nur etwas, was auf den Prüfstand zu stellen ist.
Good Governance ist für uns viel mehr. Ich halte Good
Governance für einen ganz wichtigen Punkt in unserer
Entwicklungsarbeit. Es geht um Fördern und Fordern,
wie in Afghanistan; das BMZ und Minister Müller machen es uns vor. Ich denke, diesbezüglich sind wir auf
dem richtigen Weg. Das sollten wir auf jeden Fall nicht
aufgeben.
Sie fordern zum anderen die Entmilitarisierung der
internationalen Politik und der Entwicklungspolitik.
({3})
Schauen wir uns die Weltlage an: Boko Haram in Afrika
und ISIS. Angesichts dessen ist es schon sehr zynisch,
hier an einem Freitagnachmittag zu sagen: Passt mal auf,
wir liefern euch Hygieneartikel, Medikamente und etwas
zu essen. Dann seid ihr, wenn die ISIS kommt, wenigstens satt und gesund, bevor sie euch erschießen. - Das ist
zynisch. Das ist keine Entwicklungspolitik.
({4})
- Herr Kekeritz, bitte?
({5})
- Welche Informationen?
({6})
- Das ist von mir. Herr Kekeritz, das Zitat ist von mir.
({7})
- Nein, ich kritisiere die Entmilitarisierung der Entwicklungspolitik.
({8})
Das wird nicht funktionieren. Herr Kekeritz, Sie müssen
erst Sicherheit haben. Ohne Sicherheit können Sie keine
Entwicklungspolitik machen.
({9})
Deswegen ist die Forderung nach einer kompletten Entmilitarisierung nicht realistisch. Das wird nicht funktio5136
nieren. Sie müssen natürlich auch militärisch Sicherheit
herstellen können. Sie müssen die Menschen schützen
können. Danach können Sie Entwicklungspolitik betreiben. Das wollte ich sagen. Ich denke, diesbezüglich sollten wir letztlich einer Meinung sein.
Ich möchte noch einen Punkt ansprechen, die Abschaffung von Warentermingeschäften. Auch hierzu gibt
es unterschiedliche Meinungen. Ich denke, dass wir uns
hinsichtlich der Warentermingeschäfte in einem Punkt
einig sind: Wir müssen sie regulieren und überwachen.
({10})
Wir haben aber auch festgestellt, dass Warentermingeschäfte eine Absicherung sind. Das wird deutlich, wenn
Sie sich jetzt die Situation infolge der Ebolakatastrophe
in Afrika anschauen. Das gilt aber auch für Naturkatastrophen und schlechte Ernten. Warentermingeschäfte
sind eine Absicherung nicht nur für die Anbauer, sondern auch für die Weiterverarbeiter, für alle, die an der
Wertschöpfung beteiligt sind, und für die Konsumenten.
Zum letzten Punkt: Öffentlichkeit und die Kommunikation des Postagendaprozesses. Wir haben die von
Minister Müller angestoßene „Zukunftscharta EINEWELT - Unsere Verantwortung“. Das ist, glaube ich, ein
sehr gutes Kommunikationstool. Das Projekt verankert
bei jedem Einzelnen das Bewusstsein, dass man für die
Zukunft der Welt mitverantwortlich ist. Angefangen als
Vision haben zahlreiche Menschen die Aufforderung angenommen, und wir haben auch schon mehrere Kommunikationsprozesse gestartet und Dialoge begonnen. Das
BMZ spricht sich mit diesem Projekt für starke Multiakteurspartnerschaften zwischen Regierungen, Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Privatwirtschaft aus, oder wie
auf einer der eingeschickten sogenannten Zukunftspostkarten steht: Jeder ist Entwicklungshelfer.
Natürlich kann es immer mehr sein. Daher lautet
meine Aufforderung an alle, jetzt die erste schriftliche
Zusammenfassung des bisherigen Dialogs zur Zukunftscharta zu kommentieren. Auf einer der sogenannten Zukunftspostkarten, die an das BMZ im Rahmen des Projekts
Zukunftscharta gesendet wurden, zitiert der Absender
den Autor Stefan Zweig:
Viele kleine Leute an vielen kleinen Orten, die viele
kleine Schritte tun, können das Gesicht der Welt
verändern.
Das zeigt besonders schön: Die Debatte ist in der Öffentlichkeit angekommen, und - das ist noch wichtiger - das
Bewusstsein, selbst etwas zu tun, selbst etwas zu den
SDGs beizutragen, besteht bereits in zahlreichen Köpfen.
Partnerschaften zwischen zivilgesellschaftlichen Akteuren und das Engagement Einzelner können Veränderungen schaffen. Aber auch hier, im Post-2015-Prozess,
gilt: In erster Linie ist es Aufgabe der Staaten bzw. der
Staatengemeinschaft, menschenwürdige Lebensbedingungen zu schaffen und globale öffentliche Güter zu
schützen. Mit dem nächsten Rahmenwerk muss die Staatengemeinschaft dazu verpflichtet werden, sich der drei
großen Herausforderungen Klimaschutz, Welternährung
und Frieden anzunehmen. Das ist eine Chance, eine
Chance, die wir nicht verspielen sollten.
Herzlichen Dank.
({11})
Als nächster Redner spricht Uwe Kekeritz.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Herr Zech, Franz Josef Strauß konnte das definitiv besser. In der Rhetorik hat er ganz oft eines gemacht: Er hat
sich selbst ganz dumme Argumente zusammengebastelt,
dann hat er sie dem politischen Gegner zugeordnet, und
dann war die Widerlegung dieses Arguments einfach
souverän.
({0})
Wir erinnern uns an die Argumentation von 1980, Franz
Josef Strauß gegen Helmut Schmidt: Wer glaubt, dass
der Strom aus der Steckdose kommt, der soll SPD und
FDP wählen. Wer glaubt, dass die Russen uns besser beschützen als die Amerikaner, der soll SPD und FDP
wählen.
({1})
Das war 1980. Über solch eine Rhetorik sollten wir in
diesem Hause hinwegkommen.
({2})
Frau Hänsel hat schon sehr viel zum Thema SDG gesagt. Wir haben hier ein ganz gravierendes Problem. Die
Industrienationen haben nicht kapiert, dass die SDGs
selbstverständlich auch für sie selbst gelten, also auch
für Deutschland. Wenn sich die ökonomisch starken
Nationen nicht endlich wesentlich engagierter für eine
nachhaltige, sozial gerechte und friedenspolitisch ausgleichende Entwicklung einsetzen, werden wir weiter
dazu beitragen, Armut in der Welt zu verbreiten, Länder
zu destabilisieren, das Klima zu schädigen und Kriege
zu fördern. Darum lautet meine Frage an die gesamte
Regierung, aber insbesondere an das Entwicklungsministerium: Wann fängt das Entwicklungsministerium
endlich an, die Öffentlichkeit über diesen Prozess zu informieren? Wir brauchen eine breite Beteiligung; sonst
wird das nichts. Mein Eindruck ist, dass Sie das Thema
am liebsten totschweigen würden. Irgendwann ist das
Jahr 2015 vorbei, und dann schläft alles ein.
Wir müssen hier in Europa, in Deutschland unsere
Verhältnisse ändern, um die Lage der Menschen in den
Entwicklungsländern zu verbessern. Wir leben hier nicht
auf einer Insel. Es geht ums Ganze: Es geht um den Globus, und es geht darum, global zu denken. Sie glauben es
nicht: Es geht auch darum, endlich konsequent national
zu handeln.
({3})
Wir brauchen eine andere Landwirtschafts- und Klimapolitik, eine ehrliche Menschenrechts- und Friedenspolitik sowie neue globale Finanzstrukturen. Wir brauchen
natürlich auch eine bewusste und fortschrittliche Energiepolitik, deren Ziel nicht sein darf, die Entwicklung
der erneuerbaren Energien zu bremsen. Darauf sind Sie
spezialisiert. Wir brauchen aber auch eine ganz andere
Handelspolitik; denn unsere Handelspolitik behindert
schon seit vielen Jahren die Entwicklung von Entwicklungsländern. Das gilt in einem ganz besonderen Maße
natürlich auch für die EPAs, die Abkommen zwischen
Europa und den afrikanischen Ländern.
Früher ist Europa noch davon ausgegangen, dass man
den afrikanischen Ländern einen begünstigten Zugang
zum europäischen Markt gewähren muss. Man sagte damals: Das hilft ihnen bei ihrer Entwicklung. Diese Überzeugung hat Europa verloren. Man sagt jetzt: Diese Privilegien sollen nur noch die allerärmsten Länder haben.
Die bereits entwickelten Länder - auch die nur ein bisschen entwickelten Länder - sollen sie nicht mehr haben.
Für die EU bleibt alles beim Alten; für die Entwicklungsländer in Afrika soll sich allerdings vieles ändern.
({4})
Sie sollen vor allen Dingen auf Import- und Exportsteuern verzichten. Der Markt soll liberalisiert und weitgehend privatisiert werden, und er soll sich für unsere Industrieprodukte völlig öffnen. Die afrikanischen Länder
haben sich zu Recht, wie Frau Hänsel ausgeführt hat,
zwölf Jahre lang dagegen gewehrt. Stärke hat auch diesen Widerstand gebrochen. Die Position der EU war:
Entweder ihr unterschreibt, oder ihr verliert eure Privilegien auf dem europäischen Markt. - Das ist nichts anderes als knallharte Erpressung.
({5})
Die Länder sind nun einmal von den Exporten finanziell
abhängig. Die Blumen in Kenia wurden genannt; es geht
aber natürlich auch um Bananen und andere Sachen. Die
Europäische Union hat mit ihrer Politik einen enormen
politischen Druck aufgebaut, und schließlich haben die
Länder kapituliert.
Letztlich kommt der Vertrag auch einem Deindustrialisierungsprogramm gleich. In einigen afrikanischen
Ländern gibt es so etwas wie eine positive kleine Industrialisierung. Ab jetzt müssen sich die Produkte, die in
Afrika produziert werden, mit den europäischen Produkten messen. Sie stehen in Konkurrenz zueinander, und
ich kann Ihnen sagen, wie das Spiel ausgehen wird: Die
afrikanischen Produkte haben keine Chance gegen die
europäischen. Es muss jedem von uns klar sein: Ein kleiner Betrieb, der sich dort entwickelt, enthält immer auch
einen Keim für eine positive Entwicklung. Dieser Vertrag greift diesen Keim ganz enorm an.
Unter diesem Aspekt wird natürlich deutlich, warum
die Entwicklungspolitik in der Öffentlichkeit so negativ
gesehen wird. Herr Silberhorn, vielleicht sagen Sie das
auch Ihrem Minister: Die Öffentlichkeit ist immer mehr
der Ansicht, dass die Entwicklungspolitik nur eine Alibifunktion übernimmt.
({6})
- Das ist doch nicht wahr.
({7})
Das weiß zum Beispiel auch die EU, die einen Ausgleich
für den Verlust der Exportsteuer leistet: 5 Milliarden
Euro sollen innerhalb von fünf Jahren gezahlt werden.
Das ist nichts anderes als eine Subventionierung der Importindustrie hier in Europa. Der deutsche Steuerzahler
- auch der europäische - wird quasi zum Subventionierer der Importeure von afrikanischen Rohstoffen.
({8})
Das ist nicht haltbar.
({9})
Lieber Herr Kollege, da Sie auf das Warnlicht nicht
reagieren, muss ich Sie ermahnen, zum Schluss zu kommen.
({0})
Ich bin gleich am Schluss. - Wir stellen uns deswegen
ganz konkret gegen die EPAs und fordern von der EU,
dass diese Verhandlungen gestoppt werden. Das ist der
Auftrag an die deutsche Regierung, sich dafür einzusetzen.
Vielen Dank.
({0})
Als nächste Rednerin spricht Dr. Bärbel Kofler.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute zwei Themen von großer Bedeutung; das ist schon angesprochen worden. Ich möchte
mich den Worten der ersten Rednerin anschließen: Beide
Themen wären es wert, ausführlicher debattiert zu wer5138
den und dafür mehr Raum in diesem Haus und vielleicht
auch eine andere Zeit zu finden.
({0})
Ich möchte mich vorrangig auf das Thema Sustainable Development Goals, auf die Nachhaltigkeitsziele,
konzentrieren. Der Kollege Sascha Raabe wird später
noch zu den EPAs, den Wirtschaftspartnerschaftsabkommen, Stellung nehmen.
Es ist angesprochen worden - das finde ich an dieser
Stelle besonders wichtig -, dass es bei den Nachhaltigkeitszielen um universelle Ziele geht. Ich glaube, das
müssen wir alle uns klarmachen, in der Politik, aber auch
in der Gesellschaft. Anders als bei den Entwicklungszielen geht es nicht darum, was sich alles in den Entwicklungsländern verändern muss, sondern darum, wie wir
unser Verhalten ändern müssen, um weltweit armutsbekämpfend, armutsreduzierend und entwicklungsfördernd
zu sein. Das ist ein ganz entscheidender Punkt. Darum,
glaube ich, müssen wir ringen.
Vorgestern wurde von der UN-Generalversammlung
ein erster Entwurf vorgelegt, der 17 Hauptziele und
169 Unterziele enthält. Auf einige dieser, wie ich finde,
sehr spannenden Ziele möchte ich noch eingehen. Ich
glaube aber, dass es jetzt unsere politische Aufgabe ist,
diese Ziele zu bewerten und herauszufinden, was wir als
Deutscher Bundestag, als Parlamentarier voranbringen
wollen. Welche Ziele wollen wir in dem politischen Prozess, der sich in einem Jahr anschließt, als unsere wichtigsten Ziele zur Veränderung der Weltgemeinschaft ansehen?
({1})
Dafür brauchen wir auch weltweit Verbündete. Darüber
entscheidet ja nicht allein der Bundestag, darüber entscheiden nicht allein wir in Deutschland, sondern darüber entscheiden wir gemeinsam mit den anderen Europäern; denn Europa spricht auf Ebene der UN mit einer
Stimme. Wir brauchen also die anderen europäischen
Partner. Wir brauchen aber auch Verbündete aus den
Ländern des Südens; denn die Ziele, die mir persönlich,
meiner Fraktion oder uns gemeinsam wichtig sind, sind
keineswegs auf der ganzen Welt als besonders wichtige
Ziele anerkannt.
({2})
Dafür müssen wir kämpfen. Darum muss es gehen.
Ich möchte ein Ziel aus dem Entwurf herausgreifen,
das Ziel 8 „Nachhaltiges Wachstum, Vollbeschäftigung
und menschenwürdige Arbeit“. Dabei geht es darum,
was wir verändern, darum, dass wir überlegen, was wir
dazu beitragen wollen. Das ist durchaus auch eine Frage,
die den Handel betrifft. Dazu passt das Thema EPAs, das
Sascha Raabe noch ansprechen wird. Es geht darum, wie
wir Lieferketten gestalten, wie wir verbindliche Regeln
aufstellen, wie Arbeitsbedingungen bei uns gestaltet
sind. Aber es geht natürlich auch darum, dass andere
Länder zu einem Arbeitsrecht kommen, das Menschenrechtsverletzungen gar nicht erst ermöglicht. Es sind
weltweite Prozesse, mit denen wir zur Stärkung der Arbeitsrechte der Menschen beitragen müssen.
({3})
Weil ich sehr wohl glaube, dass Entwicklungspolitik
dazu einen Beitrag leisten kann und soll, werden wir als
Koalitionsfraktionen in der nächsten Sitzungswoche einen Antrag zum Thema „Gute Arbeit weltweit“ vorlegen. Ich glaube, es ist ein guter Antrag, der einen ersten
Aufschlag zu diesem wichtigen Thema darstellt.
({4})
Wir werden uns im Rahmen der SDGs auch mit der
Unterschiedlichkeit der Nationen beschäftigen müssen;
das ist wichtig, um alle Länder ins Boot zu holen. Das
Ziel 10 schlägt vor, sich mit dem Thema „Ungleichheit
zwischen den Ländern“ auseinanderzusetzen. Das hat
auch viel mit Fragen der Sicherheit und des Friedens zu
tun. Auf der einen Seite geht es darum, wie man bei fragilen Staaten überhaupt Staatlichkeit aufbauen, zivile
Prozesse fördern, Verwaltungen aufbauen und zu einem
Mindestmaß an Sicherheit beitragen kann, zum Beispiel
im Sinne von Polizeiaufbau, aber auch im Sinne von
Korruptionsbekämpfung, wenn es um die Frage der Gehälter von Sicherheitskräften geht. Auf der anderen Seite
müssen wir unser Verhalten anschauen und uns fragen:
Wofür sind wir denn verantwortlich? Das Stichwort
„Klima“ ist an der Stelle sicher ein ganz entscheidender
Punkt. Welche gewachsene historische Verantwortung
haben wir für die Länder des Südens? Diese können für
viele Veränderungen schlicht nichts. Dafür sind wir verantwortlich.
({5})
Besonders wichtig bei diesem Ziel, die Ungleichheit
zwischen den Ländern zu verringern, finde ich einen Unterpunkt, den wir uns einmal genau anschauen müssen.
Da geht es um die Regulierung der Finanzmärkte, ein
ganz spannendes Thema. Wie bekommt man Zugang zu
vernünftigem Kapital, um Investitionen voranzubringen?
Wie verhindert man das, was wir in den letzten Jahren
mit einer Krise nach der anderen erlebt haben? Das hat
sich ja besonders auf die Entwicklungsländer ausgewirkt. Machen wir uns nichts vor! Für diese Länder ist
die Möglichkeit, sich zu refinanzieren, massiv zurückgegangen. Das sind doch ganz entscheidende Punkte, die
hier zu diskutieren sind. Dafür müssen wir in der Weltgemeinschaft um Verbündete werben. Darum geht es,
glaube ich, in dem Prozess im nächsten Jahr, in dem wir
einiges voranbringen wollen.
Im November wird der sogenannte Synthesebericht
der UN erscheinen, in dem die Zielvorgaben, die ich gerade angesprochen habe, mit den Finanzfragen - dazu
hat sich auch eine Expertengruppe gebildet - in einem
Bericht zusammengeführt werden. Auf der Basis dieses
Berichts werden wir gemeinsam einen Antrag formulieren, der einen Beitrag dazu leisten soll, klare politische
Vorgaben zu machen, was die deutsche Regierung unserer Ansicht nach in diesem Prozess tun soll.
Ich möchte noch etwas sagen. Ich erkenne in dem Antrag der Linken viele überlegenswerte und spannende
Forderungen. Aber es geht um den SDG-Prozess und
- mit Verlaub - nicht um ein Ich-wünsch-mir-was-Konzert. Auch ich kann mir viele Dinge vorstellen, die Sie
angesprochen haben und die richtig und gut sind. Aber
in diesen ohnehin schon schwierigen Prozess auch noch
die Forderung nach einer Reform der UN und anderer
Institutionen zu integrieren, überfrachtet diesen Prozess;
es tut mir wirklich leid, das so zu sagen.
({6})
Ich sehe, ich muss zum Ende meiner Rede kommen. Es fehlt bei diesem Prozess einiges. Es geht um Umsetzungspläne. Es geht um Überprüfungsmechanismen. Es
geht auch um die Finanzierungsfrage. Es geht um den
Beitrag der Gebernationen, aber auch um die Fragen
„Kapitalflucht verhindern“ und „Steueroasen austrocknen“, um die Frage „Aufbau eines funktionierenden
Steuersystems“, damit die Länder des Südens eine
Chance haben, sich nicht nur über Zölle zu finanzieren,
sondern über reale Steuereinnahmen. Damit schließt sich
der Kreis zum Thema EPAs, das ich durchaus kritisch
sehe und bei dem ich viele kritische Punkte in dem vorgelegten Antrag nachvollziehen kann.
Eine Bemerkung ganz zum Schluss. Ich wünsche mir
wirklich, dass wir speziell im Fall Kenia - das ist das
einzige Land, dessen Waren ab dem 1. Oktober 2014 von
Zöllen betroffen sein werden - zu einer konstruktiven
Lösung kommen würden. Dass wir den fairen Handel
von Blumen mit Zöllen blockieren, ist einfach nicht hinnehmbar.
Danke.
({7})
Als nächster Redner spricht Frank Heinrich.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Am Anfang
ein Dank an die Opposition für die Anträge, in diesem
Fall für das zweite Thema, das wir hier diskutieren. Ein
Dank für das erste Thema ist hier schon ausgesprochen
worden.
Es wird hier viel von Abkürzungen die Rede sein: von
den SDGs und den MDGs. Sie, das Publikum, müssen
sich wundern, was wir hier alles behandeln. Vorher ging
es um die Millennium Development Goals, jetzt aber
geht es um die EPAs und die WPAs, das eine ist der
deutsche, das andere der englische Begriff für Wirtschaftspartnerschaftsabkommen.
Die Vertreter der Opposition haben hier ihre Sorge
zum Ausdruck gebracht. Diese Sorge teilen wir. Das haben wir auch in dem Antrag, der sich auf den EuropaAfrika-Gipfel bezog, sehr deutlich gemacht. Aber es
geht, wie mein Kollege Zech vorhin gesagt hat, um eine
konstruktive Auseinandersetzung. Hin und wieder ging
Ihr Antrag - ich weiß nicht, wer ihn alles gelesen hat über Konstruktives hinaus.
({0})
Wenn in dem Antrag nicht nur in der Überschrift von
Drohungen und Fristen die Rede ist - ich verstehe Ihr
Anliegen -, sondern auch im Text selber laufend „es
droht“, „es ist zu befürchten“ und „große Gefahr“ zu lesen ist, dann fällt es mir schwer, Ihnen zu glauben.
Es geht uns genauso wie Ihnen - diese Zusammenarbeit soll schließlich eine Zukunft haben - darum, Inhalte
zu teilen, zum Beispiel nachhaltige Entwicklung, die Beteiligung von Zivilgesellschaften, gerechte Handelsregeln, die Exportdumping verhindern und gleichzeitig
Produkten aus Entwicklungsländern faire Absatzchancen gewähren, industrielle Wertschöpfung - man muss
ehrlich sein: das muss am Schluss möglich sein, da wie
hier -, regionale Integration - all das haben Sie in dem
Antrag beziffert -, einen Überwachungsmechanismus zu
den Auswirkungen dieser WPAs und - da bin ich Menschenrechtler, nicht nur in diesem Ausschuss - eine kontinuierliche Beobachtung der Einhaltung der Menschenrechte, die davon betroffen sind. Da haben wir garantiert
noch eine Menge Arbeit vor uns. Ich denke, da sind wir
uns einig.
Das ist, wie gerade genannt, auch in anderen Anträgen in diesem Umfeld und in dem Antrag, den Frau
Kofler angekündigt hat, zu lesen. Diese Punkte stehen
als solches nicht zur Debatte, aber diese Werte sind uns
genauso wichtig wie Ihnen. Sie befürchten aber, dass sie
abhandenkommen könnten. Für diese Werte setzt sich
zum Beispiel auch die Bundesregierung ein. Vorgestern
war in einem Drahtbericht der AKP-Ratsarbeitsgruppe
- das ist wieder eine Abkürzung; es geht dabei um Staaten in Afrika, der Karibik und dem Pazifik - einmal
mehr nachzulesen: Die Auseinandersetzung um diese
Partnerschaftsabkommen ist eine Auseinandersetzung
um die wirtschaftspolitische Ordnung weltweit.
Was wollen wir denn? Möglicherweise stehen heute
noch mehr Fragen als Antworten im Raum. Wollen wir
partnerschaftliche Zusammenarbeit oder Bevormundung, die Sie immer relativ schnell dahinter vermuten?
Wollen wir freien Handel in einem rechtssicheren Kontext oder Protektionismus, wie es ihn früher gab? Müssen wir die Kleinen, wie es oft heißt, vor den Großen
schützen?
Im Antrag von Linken und Grünen heißt es - ich zitiere -:
Die EU war … zu einigen Zugeständnissen hinsichtlich der Importzölle und Exportsteuern bereit
…
Sehr gut.
Gleichwohl steht zu befürchten,
- da kommt wieder einmal dieses Wort im Antrag vor 5140
Frank Heinrich ({1})
dass die EPAs in vielen Bereichen zu massiven Verschlechterungen für Kleinproduzenten im Agrarund Industriebereich führen, die nun nicht mehr
durch Importbeschränkungen vor der übermächtigen Konkurrenz durch europäische Agrarunternehmen geschützt werden können.
Die betroffenen Middle-Income Countries haben es in
den letzten Jahren geschafft, dort hinzukommen, wo sie
jetzt sind. Ihnen jetzt zu unterstellen, dass das alles verloren geht, und sie wieder ein Stück zu entmündigen, nur
weil wir sie auf einmal ernster nehmen als vorher - denn
darum geht es -, halte ich für falsch.
({2})
Herr Kollege Heinrich, lassen Sie eine Zwischenfrage
von Frau Hänsel zu?
Im Moment nicht, vielleicht später. Ich möchte noch
diesen Gedanken zu Ende führen. - Das sind nämlich die
gleichen Ängste, die Sie vorhin ganz moderat angekündigt haben, wie zum Beispiel TTIP gegenüber, häufig
aus der Feder von Kritikern des sogenannten Neoliberalismus und der Globalisierung im Allgemeinen.
({0})
Ich glaube, dass Entwicklungszusammenarbeit im
21. Jahrhundert nicht mehr nur von Feindbildern bestimmt sein darf und dass es schon gar kein Gefälle bei
den Partnern untereinander geben darf.
({1})
Eine gleichberechtige Partnerschaft auf Augenhöhe ist
nämlich das, was die Globalisierungskritiker im selben
Atemzug fordern, und zwar, finde ich, zu Recht.
Auch die meisten AKP-Staaten beanspruchen mehr
und mehr Ownership für sich. Ich war gestern bei der
Botschafterin eines dieser Middle-Income-Länder. Sie
sagte mir sehr deutlich: Wir sind sehr stolz auf das, was
wir jetzt sind und wo wir jetzt sind, auch wenn wir uns
nun Sorgen machen. Damit meinte sie aber nicht den
Vertrag, sondern sie fürchtet, dass das bisher Erreichte
ohne Entwicklungszusammenarbeit nicht erhalten und
fortgeführt werden kann. Es ging ihr aber nicht darum,
etwas einzufordern.
Die Leitfragen müssten sein: Wie wird Handel fair?
Was nützt beiden Partnern? Wie können wir verbindlich
international anerkannte Mindeststandards so durchsetzen, dass sie auch befolgt werden? Mein Kollege hat es
angesprochen - da wurde die Debatte ein bisschen lebhafter -: Das gilt auch dort, wo Korruption mehr als nur
ein bisschen im Raum steht. Wie kann die Rolle des Privatsektors zugunsten nachhaltiger Entwicklung stärker
werden? Wie wird Rechtssicherheit für nichtstaatliche
Akteure hergestellt? Entsprechende Mängel in einigen
dieser Länder bemitleiden wir Menschenrechtler oft.
Schließlich geht es aber auch um die Frage: Wie kommen Verhandlungen in absehbarer Zeit zu einem Ende,
insbesondere wenn Player wie China schnell und zu für
die Partner langfristig nicht gerade positiven Bedingungen Verträge aushandeln und diese Länder dann unter
den negativen Bedingungen tatsächlich mehr leiden, als
Sie es in Ihrem Antrag befürchten?
({2})
Entgegen der Darstellung in den Anträgen gibt es
auch einige positive Entwicklungen im Zusammenhang
mit solchen WPAs. Das wird in Ihren Anträgen nicht
dargestellt; ich finde, auch das gehört zu einer objektiven Darstellung. Dazu gehört zum Beispiel das Abkommen mit der Karibik, das bereits im fünften Jahr Anwendung findet. Eine Studie zu den Auswirkungen ist für
diese Tage angekündigt. Vielleicht gibt sie uns Antworten auf einige der Fragen, die ich gerade genannt habe
und die darüber hinaus noch im Raum stehen.
Es ist wichtig, die Implementierung dieser Abkommen eng zu begleiten - darin sind wir ganz nah bei Ihnen - und genau zu beobachten. Das will ich, und das
wollen wir als Koalition. Gleichwohl bewerten wir die
Chancen und Potenziale, die von den WPAs ausgehen,
deutlich anders, als Sie es mit Ihren Drohungen hinsichtlich der Risiken tun.
Daher liegt uns eine Ablehnung Ihres Antrags nahe.
Darüber wundern Sie sich wahrscheinlich nicht, auch
wenn wir sehr wohl - das möchte ich abschließend sagen - an vielen Stellen Verbesserungsbedarf sehen,
gerne konstruktiv diskutieren und die konstruktive Auseinandersetzung auch brauchen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({3})
Bevor ich dem Kollegen Sascha Raabe das Wort
gebe, erhält die Kollegin Hänsel die Gelegenheit zu einer Kurzintervention.
({0})
Danke, Frau Präsidentin. - Ich weiß, dass wir alle
schnell nach Hause wollen. Deshalb fasse ich mich ganz
kurz. Aber eine Sache kann ich nicht auf sich beruhen
lassen, lieber Kollege Heinrich. Sie haben gesagt, es sei
unsere Befürchtung, dass die heimischen Produkte in
vielen Ländern mit den Importen aus der Europäischen
Union nicht konkurrieren könnten. Erstens gibt es schon
zahlreiche Erfahrungen in vielen westafrikanischen
Staaten, die mit Produkten aus der Europäischen Union
wie Hähnchenfleisch und Tomaten überschwemmt werden und sich mit einem Kleinbauernproblem konfrontiert sehen.
Zweitens gibt es viele Briefe und Appelle gerade aus
den westafrikanischen Staaten. Die dortigen WirtschaftsHeike Hänsel
verbände, Kirchen und Gewerkschaften schreiben uns
Abgeordneten und an die Europäische Union und bitten
darum, nicht so eine breite Liberalisierung zuzulassen.
Diese Staaten, die sich gerade aus der Armut herausgekämpft und eigene Strukturen aufgebaut haben - vor allem geprägt durch Kleinunternehmen -, sollen nun in
Konkurrenz zur übermächtigen Europäischen Union treten. Damit verhält es sich so, als ob Sie einen Porsche
und ein Fahrrad nebeneinander stellen und sagen: Nun
machen wir ein 100-Meter-Wettrennen. - Das sind keine
gerechten Bedingungen. Haben Sie denn gar keinen
Brief aus diesen Ländern gelesen und die Appelle aus
den dortigen Zivilgesellschaften, dass wir so keinen
Wettbewerb organisieren können, nicht wahrgenommen?
Herr Kollege Heinrich.
Ich will die Antwort ganz kurz halten. Ich werde
meine Rede nicht noch einmal halten, obwohl Sie, Frau
Hänsel, zum großen Teil das wiederholt haben, was Sie
vorhin in Ihrer Rede gesagt haben.
Wir bewerten die Briefe, die wir bekommen, im Hinblick auf die Chancen, und zwar nicht nur im Hinblick
auf die Chancen, die wir Europäer haben. Unsere Gewichtung liegt vielleicht bei etwa 60 zu 40. Ja, wir nehmen diese Briefe und Appelle wahr. Trotzdem kommen
wir nach Abwägung von Risiken und Chancen zu einem
anderen Ergebnis. Möglicherweise müssen wir je nach
Land - ich nenne als Beispiel Kenia - unterschiedlich reagieren. Wir sehen jedenfalls in der Ablehnung Ihres
Antrages eine ganz andere Bewertung.
({0})
Jetzt hat der Kollege Sascha Raabe das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Es ist gut, dass wir in der heutigen Debatte über beide Aspekte diskutieren. Natürlich haben
die SDGs sehr viel mit einem gerechten Handel zu tun.
Es wird nur möglich sein, eines der übergeordneten
Ziele der SDGs bis 2030 zu erreichen, nämlich Hunger
und extreme Armut zu beseitigen, wenn die derzeit vorherrschenden Handelsbedingungen verändert werden,
wenn die Industriestaaten nicht mehr mit Agrarexportdumping die Märkte in den Entwicklungsländern stören
und - darauf hat Frau Kofler hingewiesen - wenn die
Aktivitäten von mit Geldern der Entwicklungszusammenarbeit aufgebauten guten und fairen Handelsunternehmen beispielsweise im Blumenbereich nicht konterkariert werden. Wir müssen uns um eine gerechte
Gestaltung der Globalisierung bemühen.
Manche werden sich erinnern, dass die ersten EPAs
vor über zehn Jahren diskutiert wurden. Sicherlich ist es
diskussionswürdig, ob der Zeitplan - auch unter juristischen Aspekten - mit der WTO so aufgestellt werden
musste. Auf jeden Fall war der erste Grundgedanke nicht
so schlecht, mit den Wirtschaftspartnerschaftsabkommen den Süd-Süd-Handel zu befördern. Ich glaube, dagegen hat niemand etwas. Die afrikanischen Staaten
müssen untereinander Zölle und Handelsschranken abbauen, um eigene große Wirtschaftsmärkte zu schaffen,
sich nachhaltig zu entwickeln und für Wertschöpfung
vor Ort zu sorgen. Wahr ist aber auch: Leider wurden
viele Verhandlungen der Europäischen Union über Handelsabkommen von oben herab und intransparent geführt. Gerade die Parlamentarier der Partnerländer hatten
oft keine Informationen. Aus diesen Gründen wollten
viele Länder diese Abkommen bisher nicht abschließen.
An dieser Stelle teilen wir als SPD-Fraktion die Kritik,
die in dem Antrag der Linken und Grünen enthalten ist.
Wir wollen nicht mit Eile etwas übers Knie brechen,
sondern lieber nachverhandeln. Wir können uns Zeit lassen und die Kritikpunkte ausräumen. Da sind wir ganz
auf Ihrer Seite.
Allerdings fehlt uns etwas in Ihrem Antrag. Sie richten den Blick bei diesen Handelsabkommen und auch
bei den Auswirkungen auf die Menschenrechte, wie Sie
in dem Antrag schreiben, nur darauf - es ist auch in Ordnung, diese eine Seite zu beleuchten -, welche negativen
Auswirkungen es hat, wenn Güter aus der Europäischen
Union auf diese Märkte kommen. Wir müssen in Handelsabkommen aber auch immer berücksichtigen, was in
diesen Ländern selbst passiert. Da nenne ich zum Beispiel die Menschenrechte und die ILO-Kernarbeitsnormen, das Gleiche, was wir bei CETA und TTIP diskutieren und zu Recht einfordern.
Es ist auch ein Teil der Wahrheit, dass ostafrikanische
Staaten wie zum Beispiel Kenia sich weigern, eine Klausel zu Menschenrechten und Good Governance in diese
Verträge aufzunehmen. Deswegen sage ich: Der eine
Teil Ihres Antrags ist gut. Ich würde gerne zu einer gemeinsamen Position kommen und auch das andere hineinschreiben; denn die Frage der Kernarbeitsnormen ist
eine, die in jedes dieser Abkommen gehört.
({0})
Es freut mich, dass wir hier eine Übereinstimmung
haben; denn die Europäische Union muss umdenken.
Als diese Verhandlungen anfingen, waren die Lissaboner
Verträge noch anders. Da hatten weder das EU-Parlament noch die Nationalstaaten ein echtes Mitspracherecht. Ich sage Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen
- ich bin froh, dass viele hier sind, die nicht dem Entwicklungshilfeausschuss angehören -: Diese Abkommen sind eigentlich meistens gemischte Abkommen.
Das heißt, wir werden über eine Zustimmung zu den Abkommen, über die wir heute reden, am Ende im Deutschen Bundestag noch einmal reden müssen.
Deswegen bin ich der Meinung, wir sollten bereits
jetzt der EU sagen: Wir wollen bei den Nachverhandlungen zu diesen Abkommen mitreden. Wir können nicht
sagen, dass wir uns in die Abkommen mit Kanada und
den USA mit Macht einmischen, was ich richtig finde,
aber, wenn es um die Abkommen mit Afrika geht, die
EU es alleine machen lassen - und dann noch eher
schlecht als recht. Deswegen, liebe Kolleginnen und
Kollegen, lassen Sie uns gemeinsam gerechte Abkommen mit Afrika schaffen.
Danke schön.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit sind wir am
Schluss der Debatte und kommen zu den Abstimmungen.
Zunächst kommen wir zur Abstimmung über den
Antrag der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 18/2603 mit dem Titel „Wirtschaftspartnerschaftsabkommen stoppen - Für neue Verhandlungen ohne Druck und Fristen“. Wer stimmt für
diesen Antrag? - Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen.
Wer stimmt dagegen? - Die Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? - Enthaltungen sehe ich keine. Damit ist der
Antrag mit den Stimmen der Koalition abgelehnt worden.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag der Fraktion
Die Linke mit dem Titel „Nachhaltige Entwicklungsziele der Vereinten Nationen - Soziale Ungleichheit
weltweit überwinden“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/1916, den
Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/1328
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen und Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? - Das ist die
Fraktion Die Linke. Enthaltungen? - Enthaltungen sehe
ich nicht. Damit ist die Beschlussempfehlung mit den
Stimmen der Koalition und des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen worden.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag der Fraktion
Die Linke mit dem Titel „Verhandlungen über Wirtschaftspartnerschaftsabkommen - Neustart ohne Drohungen und Fristen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/2073, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/1615 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? - Die
Linke. Wer enthält sich? - Bündnis 90/Die Grünen. Damit ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen der
Koalition angenommen worden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende, hoffentlich mit etwas Erholung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestags auf Mittwoch, den 8. Oktober 2014, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.