Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle
herzlich.
Bevor wir in unsere heutige Tagesordnung eintreten,
möchte ich dem Bundesminister der Finanzen,
Dr. Wolfgang Schäuble, herzlich zu seinem 72. Geburtstag gratulieren.
({0})
Aus diesem Anlass hätten ein paar mehr Kollegen da
sein können; aber sie konnten ja nicht damit rechnen,
weil wir es nicht ausdrücklich auf die Tagesordnung geschrieben hatten.
Ich will auch dem Kollegen Wilfried Lorenz, der
ebenfalls seinen 72. Geburtstag begangen hat, im Namen
des Hauses herzlich gratulieren.
({1})
Interfraktionell ist vereinbart worden, die Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Zusatzpunkte zu erweitern:
ZP 1 Vereinbarte Debatte
Deutschlands Beitrag zur Eindämmung der
Ebolaepidemie
({2})
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Katharina
Dröge, Bärbel Höhn, Renate Künast, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Keine Klageprivilegien für Konzerne CETA-Vertragsentwurf ablehnen
Drucksache 18/2620
Überweisung/Beschlussfassung
ZP 3 Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und
Energie ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Katharina Dröge, Katja Keul, Bärbel
Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für fairen Handel ohne Klageprivilegien für
Konzerne
Drucksachen 18/1458, 18/2646
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Franziska Brantner, Katja Dörner, Tabea
Rößner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kinder schützen - Prävention stärken
Drucksache 18/2619
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({4})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
ZP 5 Weitere Überweisungen im vereinfachten
Verfahren
({5})
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias
W. Birkwald, Ulla Jelpke, Halina Wawzyniak,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Wiedereingliederung fördern - Gefangene in
die Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung einbeziehen
Drucksache 18/2606
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({6})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom
Koenigs, Cem Özdemir, Annalena Baerbock,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Verfolgt, vertrieben, vergessen - Völkermord
an den Rohingya verhindern
Drucksache 18/2615
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({0})
Auswärtiger Ausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom
Koenigs, Annalena Baerbock, Marieluise Beck
({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Menschenrechtsförderung stärken - Gesetzliche Grundlage für Deutsches Institut für
Menschenrechte schaffen
Drucksache 18/2618
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
ZP 6 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
DIE LINKE:
Humanitäre Katastrophe an der türkischsyrischen Grenze - Nach dem militärischen
Aufmarsch des IS
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Möhring, Kathrin Vogler, Sabine Zimmermann
({3}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Pille danach jetzt aus der Rezeptpflicht entlassen
Drucksache 18/2630
Überweisung/Beschlussfassung
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Valerie Wilms, Stephan Kühn ({4}),
Sven-Christian Kindler, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung konsequent fortsetzen
Drucksache 18/1341
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur ({5})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Dabei soll von der Frist für den Beginn der Beratun-
gen, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Die Tagesordnungspunkte 9 und 15 werden abgesetzt.
Anstelle des abgesetzten Tagesordnungspunktes 9 soll
der Antrag der Fraktion Die Linke auf der Drucksache
18/2630 mit dem Titel „Pille danach jetzt aus der Re-
zeptpflicht entlassen“ und anstelle des Tagesordnungs-
punktes 15 der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 18/1341 mit dem Titel „Reform der
Wasser- und Schifffahrtsverwaltung konsequent fortset-
zen“ aufgerufen werden. Sind Sie mit diesen Verände-
rungen in der Tagesordnung einverstanden? - Das ist of-
fensichtlich der Fall. Dann können wir so verfahren.
Wir kommen damit zu unseren Tagesordnungspunk-
ten 3 a bis 3 d:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2014/59/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai
2014 zur Festlegung eines Rahmens für die
Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen und zur Änderung
der Richtlinie 82/891/EWG des Rates, der
Richtlinien 2001/24/EG, 2002/47/EG, 2004/25/
EG, 2005/56/EG, 2007/36/EG, 2011/35/EU,
2012/30/EU und 2013/36/EU sowie der Verordnungen ({6}) Nr. 1093/2010 und ({7})
Nr. 648/2012 des Europäischen Parlaments
und des Rates ({8})
Drucksachen 18/2575, 18/2626
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({9})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsauschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Übereinkommen vom 21. Mai 2014 über die
Übertragung von Beiträgen auf den einheitlichen Abwicklungsfonds und über die gemeinsame Nutzung dieser Beiträge
Drucksachen 18/2576, 18/2627
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({10})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsauschuss
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des ESM-Finanzierungsgesetzes
Drucksachen 18/2577, 18/2629
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsauschuss ({11})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Finanzhilfeinstrumente nach Artikel
19 des Vertrags vom 2. Februar 2012 zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus
Drucksachen 18/2580, 18/2628
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsauschuss ({12})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. - Auch dazu
stelle ich Einvernehmen fest. Dann können wir so verfahren.
Präsident Dr. Norbert Lammert
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Bundesfinanzminister.
({13})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit
den vorliegenden vier Gesetzentwürfen schaffen wir
wichtige Bausteine zum Aufbau der europäischen Bankenunion. Mit dieser Bankenunion ziehen wir die Lehre
aus der Finanz- und Bankenkrise; denn die Finanz- und
Bankenkrise hat uns mit ihrer unglaublichen Dynamik ja
gezeigt, dass die Banken heute - jedenfalls alle großen,
die global bzw. grenzüberschreitend tätig sind - mit einer nationalen Aufsicht nicht mehr hinreichend zu beaufsichtigen sind. Wir brauchen eine grenzüberschreitende Bankenaufsicht. Deswegen ist es richtig, dass wir
mit der europäischen Bankenunion eine europäische
Bankenaufsicht für die großen, systemrelevanten Banken schaffen.
Der zweite Grund für diese Bankenunion ist, dass es
notwendig ist, das Risiko auf dem Gebiet des Finanzsektors von der Reduzierung der Staatsverschuldung zu
trennen. Diese Verbindung hat sich ja in den zurückliegenden Jahren der Euro-Krise als ein besonders erschwerendes Element bei der Überwindung der Krise
und der Rückgewinnung des Vertrauens in unsere europäische Währung erwiesen.
Für diese Bankenunion konnten wir bei den gegebenen europäischen Verträgen die Aufsicht nur bei der Europäischen Zentralbank schaffen. Anderenfalls hätten
wir eine neue europäische Institution schaffen müssen.
Dafür braucht man eine Vertragsänderung; dafür braucht
man einstimmige Entscheidungen. Das war nicht möglich. Deswegen ist die Rechtsgrundlage nach dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union
Artikel 127 Absatz 6, wonach durch einstimmigen Beschluss im Zusammenhang mit der Bankenaufsicht Aufgaben auf die EZB übertragen werden können.
Ich erwähne das deswegen, weil es nicht ganz unproblematisch ist, geldpolitische Verantwortung und Bankenaufsicht in ein und derselben Institution anzusiedeln.
Es ist ganz wichtig, dass beim Aufbau der Bankenaufsicht innerhalb oder bei der EZB die Trennung zwischen
beiden Verantwortungsbereichen so strikt wie möglich
durchgeführt wird, um jeden Interessenkonflikt zu vermeiden, ja, um auch den Anschein von möglichen Interessenkonflikten zu vermeiden. Ich füge die Bemerkung
hinzu: Auch vor diesem Hintergrund bin ich über die
derzeit von der EZB begonnene Debatte über den etwaigen Ankauf von Verbriefungsprodukten nicht besonders
glücklich; genau dies könnte diese Diskussion bestärken.
({0})
Ich finde, man sollte das vorsichtig bedenken.
In der europäischen Bankenaufsicht, mit deren Vorbereitung die EZB beschäftigt ist - am 4. November 2014
soll diese Bankenaufsicht ihre Arbeit aufnehmen -, werden etwa 120 europäische Banken und Bankengruppen
- die systemrelevanten; von jedem Mitgliedsland mindestens eine - der europäischen Bankenaufsicht unterstellt. Sie umfassen etwa 85 Prozent der gesamten
Bilanzsumme aller europäischen Finanzinstitute, sodass
der Großteil der europäischen Banken der europäischen
Bankenaufsicht untersteht. Es sind auch rund 20 Banken
und Bankengruppen aus Deutschland dabei.
Die kleineren Institute - das sind in insgesamt gegenwärtig mehrere Tausend; davon stammt ein großer Teil
aus Deutschland - unterliegen weiterhin der nationalen
Aufsicht. Auch das ist wichtig zu betonen. Die grenzüberschreitenden, systemrelevanten Institute werden der
europäischen Bankenaufsicht unterstellt. Wie gesagt, die
kleineren Institute unterstehen weiterhin der nationalen
Aufsicht. Im Übrigen führt die Übertragung der nationalen Aufsichtsaufgaben auf die Europäische Zentralbank
auch zu neuen Berichtspflichten der EZB gegenüber Rat,
Europäischem Parlament und auch nationalen Parlamenten, soweit es die jeweiligen Banken anbetrifft. Auch das
ist wichtig.
Die Europäische Zentralbank führt derzeit die notwendigen Vorbereitungen durch mit der Prüfung der Bilanzen aller zu übernehmenden Banken und mit den entsprechenden Stresstests, die sicherstellen sollen, dass die
Banken, die von der europäischen Bankenaufsicht übernommen werden, genügend Kapital haben. Wir haben
die Antragsfrist für den Soffin bis zum 31. Dezember
kommenden Jahres verlängert, damit wir, wenn deutsche
Banken im Zusammenhang mit dem Stresstest Probleme
haben sollten - derzeit zeichnet sich das nicht ab -, notfalls in der Lage wären, die entsprechenden Mittel, um
handeln zu können, zur Verfügung zu haben.
Das Entscheidende beim BRRD-Umsetzungsgesetz,
also bei der Umsetzung der europäischen Richtlinie, die
die Abwicklung und die Sanierung von Kreditinstituten
in Europa vorsieht - das ist übrigens eine Richtlinie, die
in ganz Europa gilt, weil sie eine Frage des gemeinsamen Binnenmarkts, also des europäischen Rechts ist -,
ist, dass in Zukunft im Sanierungs- oder Abwicklungsfall mindestens 8 Prozent von Eigentümern und Gläubigern getragen werden müssen. Das ist die in der EU-Restrukturierungsrichtlinie vorgesehene Mindestvorschrift
für ein Bail-in, die umgesetzt werden muss. Wir schaffen
auch für den Abwicklungsmechanismus, den sogenannten SRM, in der Euro-Zone eine entsprechende Vorschrift.
Nach diesen 8 Prozent der Bilanzsumme, die zunächst von Eigentümern und Gläubigern, den Anlegern
der Banken, getragen werden müssen, müssen in der
Euro-Zone dann die Banken selber, also die Banken, die
der europäischen Bankenaufsicht unterstellt werden, im
Rahmen eines Bankenfonds Vorsorge treffen, damit im
Falle eines weiteren Finanzierungsbedarfs die Finanzindustrie selbst dafür aufkommen kann und eben nicht
mehr, wie in der Finanzkrise, der Steuerzahler. Der Sinn
des Ganzen ist, dass nicht mehr die Steuerzahler das Risiko tragen, sondern die Banken selber: zunächst die Eigentümer und Anleger und darüber hinaus die Banken
selber.
({1})
Dieser europäische Bankenfonds, dessen Einrichtung
wir ebenfalls in den Gesetzentwurf aufgenommen haben, soll innerhalb von acht Jahren auf eine Summe von
etwa 1 Prozent der gesicherten Einlagen des europäischen Bankensystems - das sind 55 Milliarden Euro aufgefüllt werden. Die Banken müssen dazu entsprechende Beiträge zahlen.
Die Beiträge werden durch nationale Gesetze beschlossen. Das ist deswegen wichtig, weil wir keine
Rechtsgrundlage für eine europäische Bankenabgabe haben. Deswegen müssen nationale Gesetze nach einheitlichem Maßstab erlassen werden. Die Einzelheiten, wie
die Beiträge genau ausgestaltet werden, liegen noch
nicht fest. Aber es ist nach den Vorschlägen der Kommission jetzt schon klar, dass die kleineren Institute weniger bezahlen müssen und dass der Hauptanteil der
Bankenabgabe von den großen, risikorelevanten Instituten - so entspricht es auch dem Sinn der Regelung - getragen werden muss. Das ist der entscheidende Punkt.
Wir haben übrigens auch sichergestellt, dass die Institutssicherung der Bankengruppen, der Sparkassen,
Raiffeisenbanken und der Kreditgenossenschaften als
Institutssicherungen anerkannt werden, so wie wir auch
in der Einlagensicherungsrichtlinie, die wir im nächsten
Jahr beraten und beschließen müssen - sie ist nicht Bestandteil dieses Pakets -, gewährleisten werden, dass die
Einlagensicherung nicht vergemeinschaftet wird. Es
bleibt bei dem Einlagensicherungssystem. Die Einlagensicherungssysteme unserer Banken- und Sparkassengruppen bleiben anerkannt. Sie müssen allerdings noch
leistungsfähiger werden, damit sie im Notfall in der
Lage sind, die Anforderungen zu erfüllen. Diese Bemerkung füge ich im Hinblick auf aktuelle Sorgen hinzu.
Die Bankenabgabe, die in diesen europäischen Fonds
aufgrund nationaler Gesetze einbezahlt wird, wird
schrittweise vergemeinschaftet. Bis die Bankenabgabe
innerhalb von acht Jahren voll einbezahlt ist, haften die
Mitgliedstaaten, die die Gesetze machen und die Gesetze
vollziehen müssen, dafür, dass die Banken die Abgabe
zahlen. Das ist entscheidend. Wir haben auf europäischer Ebene keine Möglichkeit, die Zahlung dieser Abgabe durchzusetzen. Deswegen müssen die nationalen
Gesetzgeber und die nationalen Regierungen in der Verantwortung bleiben, dass diese Regelung nicht nur beschlossen, sondern auch angewendet wird. Das ist in Europa immer ein großes Problem.
({2})
Bis zur vollen Einzahlung der Beiträge haften also die
Mitgliedstaaten.
Erst wenn die Beiträge voll einbezahlt sind, gibt es
auch die Möglichkeit der direkten Bankenrekapitalisierung aus dem europäischen Rettungssystem. Diese direkte Bankenrekapitalisierung aus dem europäischen
Rettungssystem bleibt allerdings nachrangig. Es ist in jedem Fall so: Zunächst müssen die Eigentümer und Gläubiger die 8 Prozent der Bilanzsumme der Bank zahlen.
Danach springt die Finanzindustrie selbst zur Bankensicherung ein, und dann gibt es noch die Möglichkeit
- Voraussetzung dafür ist aber, dass der Mitgliedstaat einen Antrag stellt -, dass mit dem Mitgliedstaat die entsprechenden Bedingungen, die Konditionalität, vereinbart wird. Es gibt keine Mittel aus dem europäischen
Rettungsschirm ohne einen Antrag des Mitgliedstaates
und ohne eine mit dem Mitgliedstaat zu vereinbarende
Konditionalität. Das ist das entscheidende Element, der
Grund, warum der europäische Rettungsschirm so erfolgreich gewesen ist.
Wir haben durchgesetzt, dass das auch bei der direkten Bankenrekapitalisierung gilt, die im Übrigen nur
dann infrage kommt, wenn ein Mitgliedstaat zur indirekten Bankenrekapitalisierung nicht in der Lage ist. Ich
sage ausdrücklich: Die direkte Bankenrekapitalisierung
ist nachrangig. Diese Haftungskaskade haben wir sichergestellt.
Das Entscheidende bei allen europäischen Regulierungen ist: Wir müssen auf all das achten, solange unsere
gemeinsame Währung auf einer Währungsunion beruht,
die eben nicht ihre Entsprechung in einer Finanz- und
Wirtschaftsunion bzw. in einer politischen Union hat. Es
ist das Grundprinzip der Konstruktion der europäischen
Währung, dass die Währung vergemeinschaftet ist und
wir eine gemeinsame Geldpolitik haben, weswegen sich
die Mitgliedstaaten an die Verabredungen für die Finanzund Wirtschaftspolitik halten sollten. Das ist vielfach
Gegenstand aktueller Diskussionen. Würden sich alle an
das, was vereinbart worden ist, halten, hätten wir weniger Probleme in Europa. Auch das muss man gelegentlich sagen.
({3})
Weil dies so ist, müssen wir Fehlanreize in Europa
vermeiden. Deswegen muss klar sein: Es wird niemand
- ich sage das auch im Hinblick auf eine aktuelle Debatte in einem anderen Zusammenhang - eine Chance
haben, ohne die Vereinbarung von Anpassungsprogrammen in den Mitgliedstaaten, die sogenannte Konditionalität, auf Mittel des europäischen Rettungsschirms Zugriff zu bekommen. Die 80 Milliarden Euro, die wir in
den europäischen Rettungsschirm einbezahlt haben, sind
keine Verfügungsmasse für alle möglichen kreativen
Ideen an neuen Finanzierungsinstrumenten, sondern sie
sind eine Vorsorge dafür, dass die europäische Währung
stabil bleibt und das Vertrauen der Finanzmärkte behält.
Das haben wir erfolgreich eingeführt. Der Grund für die
Einführung dieses Rettungssystems war eigentlich, dass
man es hat, ohne es zu brauchen.
({4})
Genau das ist der Sinn eines Sicherungssystems: dass es
nicht immer gebraucht wird. Deswegen stehen diese
80 Milliarden Euro auch nicht für alle möglichen kreativen Gestaltungsideen in Europa zur Verfügung.
({5})
Meine Damen und Herren, damit komme ich zu meiner letzten Bemerkung. Wir haben, obwohl die KonBundesminister Dr. Wolfgang Schäuble
struktion der europäischen Währung kompliziert ist und
viele am Anfang gezweifelt haben, ob sie überhaupt
funktioniert - die Debatte über die Frage „Kann eine
Geldpolitik mit unterschiedlichen Finanz- und Wirtschaftspolitiken klappen?“ haben viele Ökonomen über
Jahrzehnte geführt -, die Vertrauenskrise gut überwunden, weil wir ganz konsequent an dem Grundsatz „Hilfe
und Solidarität gegen Hilfe zur Selbsthilfe“ festgehalten
haben. Es geht immer um Hilfe zur Selbsthilfe.
Die Geschichte der fünf Länder, die Rettungsprogramme bekommen haben, ist eine Erfolgsgeschichte.
Sie alle haben die strukturellen Reformen umgesetzt und
sind auf dem richtigen Weg. Diejenigen, die heute
Probleme haben, können aus dieser Erfolgsgeschichte
lernen. Es führt kein Weg daran vorbei, dass jedes Mitgliedsland seine eigenen Reformen und Strukturanpassungen durchführt. Dann werden wir alle gemeinsam in
Europa Erfolg haben.
Die Bankenunion, die wir mit diesen vier Gesetzen
schaffen, ist ein wichtiger Schritt, um in einer Zeit voller
Ungewissheiten Europa noch ein Stück stabiler und
handlungsfähiger zu machen. Deswegen bitte ich Sie um
sorgfältige Beratung und am Ende um Zustimmung zu
diesen Gesetzentwürfen.
({6})
Für die Fraktion Die Linke erhält nun die Kollegin
Sahra Wagenknecht das Wort.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Wenn man sich vergegenwärtigt, was Mitglieder der
Bundesregierung seit 2008 erzählen und was heute zur
Beratung vorgelegt wurde, dann muss man sich nicht
wundern, dass immer mehr Menschen jeden Glauben an
die Demokratie verloren haben.
({0})
Herr Schäuble, Sie und die Bundesregierung haben
versprochen, dass Steuerzahler nie wieder für waghalsige Geschäfte der Bankster bluten müssen. Sie haben
versprochen, dass auch für Banken irgendwann das gelten soll, was für jeden kleinen Handwerkerbetrieb eine
Selbstverständlichkeit ist: dass man für Risiken, die man
eingeht, selber haften muss. Sie haben hoch und heilig
versprochen, dass es kein Geld aus den Mitteln des europäischen Rettungsschirms ESM direkt für die Banken
geben wird, für den der deutsche Steuerzahler mit immerhin 200 Milliarden Euro geradesteht. Das ist etwa
das 15-Fache dessen, was der Bund jährlich für Bildung
und Forschung ausgibt.
({1})
Herr Schäuble, entweder haben Sie bewusst gelogen,
um die Menschen zu täuschen, oder Sie haben Versprechungen gemacht, die Sie nicht einhalten konnten. Auf
jeden Fall beraten wir heute Gesetzentwürfe, die das
exakte Gegenteil dessen enthalten, was Sie den Menschen versprochen haben.
({2})
Der Steuerzahler soll weiter bluten, und in Zukunft
soll auch noch der europäische Rettungsschirm ESM direkt von den Banken angezapft werden können.
({3})
Denn genau das ist doch der eigentliche Sinn dieser ganzen Bankenunion: dass die Banker künftig auch dann
ihren finanziellen Giftmüll auf den Schultern der Allgemeinheit abladen können, wenn die Kapazitäten des jeweiligen Nationalstaates überfordert wären.
({4})
Das heißt, künftig haftet der Spanier nicht nur für den
Irrsinn der spanischen Banken und der Deutsche nicht
nur für den Irrsinn von Hypo Real Estate, Commerzbank
und Co, sondern alle europäischen Steuerzahler haften
gemeinsam für den Irrsinn der europäischen Finanzmafia. Das ist ein großartiger Fortschritt. Dazu kann man
der Großbankerlobby nur gratulieren. Ganz nebenbei
sollen zusätzlich über den Abwicklungsfonds, den von
Ihnen erwähnten Bankenfonds, Banken mit einem soliden Geschäftsmodell wie unsere Sparkassen und Genossenschaftsbanken Mittel zur Deckung der Verluste der
Unsoliden bereitstellen. Das ist ein Konstrukt, das die
Linke ablehnt. Deswegen werden wir dagegenstimmen.
({5})
Es kommt noch schlimmer: In Zukunft soll der Bundestag noch nicht einmal mehr befasst werden, wenn
deutsches Steuergeld fließt; denn nach Ihrem Gesetz
werden dann nur noch ein paar Mitglieder des Haushaltsausschusses informiert, die auch noch zu strikter
Geheimhaltung verpflichtet sind. Das heißt, hier im Bundestag können Sie weiterhin von schwarzen Nullen und
Schuldenbremsen fabulieren, während über die Bankenhilfen des ESM die Milliarden verbrannt werden, die wir
hier für Infrastruktur, für Gesundheit, für Rente und für
soziale Ausgaben brauchen würden.
({6})
Offenbar ist das die schöne neue Welt der marktkonformen Demokratie, von der Frau Merkel träumt. Die SPD
gibt wie immer ihre Stimme dazu.
({7})
Deswegen: Hören Sie endlich auf, die Öffentlichkeit
für dumm zu verkaufen! Sie reden von Eigentümer- und
Gläubigerbeteiligung. Sie suggerieren, die Banken würden jetzt so richtig hart angefasst. Sie haben es selber erwähnt: Die private Haftung ist faktisch auf 8 Prozent der
Bilanz beschränkt. Ich glaube, viele Familien in Deutschland wären Ihnen ganz dankbar, wenn der Staat sie ähnlich hart anfassen würde. Eine Haftung von 8 Prozent
heißt, dass eine Familie mit 10 000 Euro Schulden ganze
800 Euro selber zurückzahlen müsste, und für den Rest
bürgt der großzügige Staat. Aber der Unterschied ist,
dass in diesem Europa mit so viel Großzügigkeit immer
nur die Banken und nie die Bürgerinnen und Bürger
rechnen können. Das ist absolut inakzeptabel.
({8})
Herr Schäuble, Sie haben auch nicht erwähnt: Es gibt
da noch eine Klausel in den Verträgen, mit der die gesamte Haftungskaskade ausgesetzt werden kann, wenn
nämlich eine „schwere Störung der Volkswirtschaft“
oder eine Notwendigkeit zur „Wahrung der Finanzstabilität“ besteht. Dann gibt es die Möglichkeit, dass Staatsknete sofort fließt, ohne jedwede Vorbedingung. Wer
sich erinnert, dass die deutsche Regierung einst eine
mögliche Pleite der kleinen IKB zum potenziellen Auslöser einer Kernschmelze des Finanzsystems hochfantasiert hat, ahnt, wie groß das Scheunentor für unser aller
Steuergeld ist, das allein durch diese Klausel geöffnet
wird.
Wer glaubt, dass der ehemalige Goldman-Sachs-Boy
und künftige Oberaufseher aller Banken, Herr Draghi,
den Banken jetzt so richtig auf den Zahn fühlen wird, der
muss wirklich mit Naivität geschlagen sein. Es sind doch
gerade Draghis Billiggeldinjektionen, dank derer die
Spekulation heute boomt wie nie zuvor und die Investmentbanker wieder Rekordgewinne machen, während
der Kleinsparer seine Ersparnisse wegen Niedrigzinsen
wegschmelzen sieht.
Ausgerechnet den Markt für Kreditverbriefungen
- einer der Hauptauslöser der letzten Krise - will Draghi
jetzt auch noch mit einem milliardenschweren Kaufprogramm beleben. Man stelle sich einmal vor: Die Lebensmittelüberwachung in Deutschland würde den Restaurants, in deren Küchen die Kakerlaken feiern und das
Gammelfleisch stinkt, den Ankauf aller verdorbenen Lebensmittel anbieten, bevor ihre Kontrolleure das Haus
betreten. Genau das ist es, was der große Oberaufseher
aller Banken Draghi jetzt macht: Er kauft den Banken ihr
Gammelfleisch ab, bevor die Kontrolleure kommen,
sprich: bevor der Stresstest stattfindet, und zwar auf unsere Rechnung. Wenn Sie sagen, dass Sie damit nicht
glücklich sind, dann finde ich das zwar sehr erfreulich,
aber dann frage ich mich, weshalb die Bundesregierung
nicht endlich interveniert, wenn solche Pläne gemacht
werden.
({9})
Die große Finanzkrise mit ihren katastrophalen Folgen für Wohlstand, Arbeitsplätze und Staatsfinanzen hat
vor mittlerweile fast sieben Jahren begonnen. Seit mindestens sieben Jahren weiß man, dass durch laxe Vorschriften und blinde Aufsichtsbehörden gigantische
Spielhöllen hochgezüchtet wurden und hochgezüchtet
werden, deren Geschäfte niemand mehr ernsthaft überwachen und die im Pleitefall auch niemand geordnet abwickeln kann.
Spätestens seitdem weiß man, dass die internationale
Vernetzung dieser Spielhöllen gefährliche Kettenreaktionen auslöst. Man weiß, dass es unverantwortlich ist, die
Ersparnisse der Bürger und die Kreditversorgung der
Wirtschaft solchen Spekulanten zu überlassen. Man
weiß das alles; aber getan wurde nichts dagegen. Es ist
eher noch schlimmer geworden. Die großen Finanzhäuser Europas haben mit der alten Idee von Banken als
Dienern der Realwirtschaft vielleicht noch so viel zu tun
wie das Terrornetzwerk „Islamischer Staat“ mit der Idee
einer friedfertigen Religionsgemeinschaft, nämlich gar
nichts.
({10})
Sie verkaufen uns hier eine Bankenunion als großen
Durchbruch, obwohl diese Union im Kern darin besteht,
dass alles weiterläuft wie bisher, nur dass die Haftung
der Allgemeinheit für diesen Wahnsinn europäisiert
wird. Ich glaube, das ist wirklich unerträglich.
Ja, Finanzstabilität ist ein öffentliches Gut. Ebendeshalb gehört sie nicht in die Hände zockender Investmentbanker.
({11})
Wir brauchen Banken, die dem Gemeinwohl verpflichtet
sind und die Investitionen finanzieren, nicht solche Banken, die Kasino spielen. Dafür brauchen wir endlich eine
Politik,
({12})
die das Kreuz hat, sich mit der Finanzmafia anzulegen,
statt ihr aus der Hand zu fressen.
({13})
Die Gesetzentwürfe, die wir heute beraten, sind leider
ein Beispiel für Letzteres, und deshalb lehnt die Linke
sie ab.
({14})
Das Wort erhält nun der Kollege Carsten Schneider
für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
habe mich, als Sie, Frau Wagenknecht, zum Pult gegangen sind, gefragt, wie jetzt eigentlich die Kritiklinie der
Linkspartei sein wird.
({0})
Ich habe vermutet, dass die Kritiklinie vielleicht die einer aufgeklärten Linken ist, die sagt: „Global agierende
Banken müssen wir auch global reglementieren“, die
vielleicht die Vorschläge, die hier gemacht werden, für
nicht ausreichend auf internationaler Ebene hält. Aber
was ich erleben musste, war purer Populismus und ein
Rückfall in die Politik eines Nationalstaates.
({1})
Carsten Schneider ({2})
Frau Wagenknecht, Sie sind vollkommen fernab der
wissenschaftlichen und ökonomischen Debatte, wenn es
um die Kontrolle der Finanzmärkte und des Bankensektors geht. Wir sind froh, dass die AfD nicht hier im Bundestag sitzt. Aber: Diese Rede hätte auch ein Funktionär
der AfD halten können.
({3})
Warum beraten wir nicht erst seit heute, da wir diese
Gesetzentwürfe im Bundestag haben, die Frage der
Finanzstabilität, der Erpressbarkeit von Staaten, der Rettung von Banken in der Finanzkrise der Jahre 2008/
2009 ff., sondern schon seit vier Jahren immer wieder?
Weil sich gezeigt hat, dass wir im Bereich der Bankenaufsicht nur national organisiert waren, überall.
Wir hatten es aber mit einem globalen Bankensektor
zu tun - gerade bei den großen Banken! Ich rede nicht
von den Volksbanken und Sparkassen, sondern von den
Landesbanken, der Hypo Real Estate, der Deutschen
Bank, der Commerzbank, der Société Générale und von
vielen anderen großen, international tätigen Banken und
Finanzinstituten. Deren Aufsicht konnte eben nicht mehr
wirksam von Deutschland aus oder von Irland aus, wo es
im Übrigen eine sehr schwache Aufsicht gab, ausgeübt
werden.
Insofern ist die Antwort auf einen europäischen Binnenmarkt, in dem Kapitalverkehrsfreiheit herrscht und in
dem umfangreiche Bankgeschäfte stattfinden - was auch
in Ordnung ist - nicht das Zurück zum Nationalstaat,
sondern das Hin zu einer europäischen Institution, die
aus europäischem Blickwinkel nach klaren Grundsätzen
- Stichworte: Haftung, Frage nach der Verantwortung beaufsichtigt und entscheidet. Genau diesen Weg gehen
wir heute ein Stück weiter. Das ist gerade für eine aufgeklärte Linke, wenn Sie es denn sind, der richtige Weg.
({4})
Ich finde es auch fatal, mit der Angst der Menschen
zu spielen. Auch ich habe meine Probleme mit der Möglichkeit der Direktrekapitalisierung von Banken; ich
komme darauf noch zurück. Aber wir haben den richtigen Schritt hin zur gemeinsamen Bankenaufsicht bei der
Europäischen Zentralbank getan, bei allen Problemen,
die der Minister genannt hat. Man muss in diesem Zusammenhang sicher auch über eine Vertragsänderung
nachdenken. Denn die Banken, die europaweit vernetzt
waren und sind, haben bisher in Europa Geschäfte gemacht, die wir in Teilen gar nicht gesehen haben, weil
die Aufsicht zersplittert war. Dass dieser Schritt richtig
ist, steht außer Frage. Ich kenne niemanden mit Sachverstand, der sagt, dass der Schritt zu einer europäischen
Bankenaufsicht falsch ist. Frau Wagenknecht, Sie sind
auf dem Holzweg.
Der zweite Schritt - den zur Aufsicht haben wir schon
gemacht - ist dann, dass man Banken auch zur Rechenschaft ziehen können muss, wenn sie Geschäfte machen,
die zu große Verluste bringen. Wir hatten hier in heißen
Debatten 2008/09 über die Frage der Verstaatlichung der
Hypo Real Estate zu entscheiden. Niemand von denjenigen, die damals zugestimmt haben, hat das mit großer
Freude getan. Aber ein Institut mit 400 Milliarden Euro
Bilanzsumme war ein systemrelevantes Institut. Bei der
IKB konnte man durchaus anderer Auffassung sein;
richtig, aber im Nachhinein ist man immer schlauer. Bei
der Hypo Real Estate jedenfalls war es so.
Wir mussten - wenige Klagen dagegen sind noch anhängig - diese Bank vom Markt nehmen, um sie geordnet abwickeln zu können. Wir waren rechtlich aber gezwungen, auch noch Entschädigungen an die Aktionäre
zu zahlen, weil wir keine gesetzliche Grundlage für die
Abwicklung von Banken hatten. Das war ein Fehler.
({5})
Diesen Fehler bereinigen wir jetzt, indem wir ein Insolvenzrecht für Banken schaffen, indem wir eine klare
Haftungsreihenfolge festlegen, wer bei Verlusten bezahlen muss. Diese Haftungsreihenfolge ist schon genannt,
aber auch bereits durchexerziert worden, letztlich auf
Druck der SPD und des Deutschen Bundestages, nämlich im Fall Zypern. Das ist die Blaupause für das, was
jetzt mit den Gesetzentwürfen, die wir beraten und beschließen werden, umgesetzt werden soll.
Danach gilt: Zuerst haften die Aktionäre. Deren Geld
ist weg, wenn Verluste zu decken sind. Nach ihnen haften die nachrangigen Gläubiger, die den Banken Darlehen gegeben haben und dafür Zinsen bekommen. Anschließend haften die vorrangigen Gläubiger und dann
auch die Einleger ab einer Einlagenhöhe von über
100 000 Euro. Es ist nicht hinnehmbar, dass jemand
Geld, das er angelegt hat, quasi zu 100 Prozent wiederbekommt, aber der Steuerzahler dafür zahlen müsste.
Das geht nicht. Das passiert nicht mehr. Deswegen machen wir einen Strich drunter: 100 000 Euro sind geschützt, mit dem Rest wird auch gehaftet.
Wenn eine Bank dann immer noch Verluste hat, tritt
der Bankenhaftungsfonds ein, der gespeist wird über
eine Bankenabgabe, die wir als Sozialdemokraten schon
2009 gefordert haben. Hätten wir sie damals eingeführt,
dann hätten wir zum Beispiel keine Verluste aus dem
Fall der Hypo Real Estate zu tragen. Glücklicherweise
geht es dabei nicht um die damals befürchteten bis zu
480 Milliarden Euro; in Summe werden wir am Ende
vielleicht über 20 oder 30 Milliarden Euro reden.
Der Bankenhaftungsfonds wird ein gemeinsamer europäischer Fonds. Es ist auch richtig, diesen europäisch
aufzustellen und nicht national. Dafür haben wir Sozialdemokraten gekämpft, weil wir eine Trennung der Risiken aus dem Bankensektor von denen aus dem Staatssektor haben wollen. Wir haben doch gesehen: Nur zu
einem kleinen Teil schlug die Finanzmarktkrise in eine
Staatsfinanzierungskrise um, zu einem großen Teil war
es eine Bankenkrise, die nur dann zu einer Staatsfinanzierungskrise geführt hat, weil die Länder durch die
Bankenrettung überschuldet waren. Irland ist das beste
Beispiel; bei Spanien trifft das nicht ganz zu. Diese
Trennung ist extrem wichtig, um die Staaten künftig vor
Carsten Schneider ({6})
Verlusten aus dem Bankensektor zu schützen, um den
Sozialstaat erhalten zu können. Deswegen machen wir
das so.
({7})
Wir reden jetzt und in den nächsten Tagen viel über
Konjunkturprogramme auf europäischer Ebene. Das
wichtigste Konjunkturprogramm ist die Bereinigung des
Bankensektors von faulen Krediten, das Aufstellen der
Banken mit genügend Eigenkapital, damit sie wieder
kreditvergabefähig werden. Das passiert jetzt.
Im Oktober, parallel zu unseren Beratungen, werden
die Anlagen und Portfolien aller Banken von der EZB
geprüft und verglichen. Dann wird es auch in Deutschland wohl noch Überraschungen geben. Es wird ein
Stresstest durchgeführt und geprüft: Was passiert im Krisenfall? Ist die Bank genügend stark? Wenn sie es nicht
ist, wird entschieden werden müssen, ob sie geschlossen,
restrukturiert oder vielleicht rekapitalisiert wird.
Ich will für Deutschland sagen: Ich kann mir nicht
vorstellen, dass durch diesen Test, der sehr hart sein
muss, damit die EZB bei der Bankenaufsicht Glaubwürdigkeit gewinnt, alle Banken durchkommen. Wir hatten
das schon ein- oder zweimal im Zusammenhang mit
Stresstests der EBA, in deren Folge die Probleme hochkamen. Ich habe Vertrauen in die Europäische Zentralbank, dass sie das hart testen wird.
({8})
Wir werden im Bedarfsfall dann in Deutschland entscheiden müssen, welches Gesetz wir in der Übergangszeit anwenden, das zur Abwicklung bzw. Restrukturierung oder das zur Rekapitalisierung. Ich glaube, dass es
die eine oder andere Bank geben kann, bei der es im
Zweifel besser sein wird, sie abzuwickeln, wenn ein
tragfähiges Geschäftsmodell eben nicht da ist, als sie
künstlich am Leben zu erhalten. Liebe Kolleginnen und
Kollegen, auch das wird uns in den nächsten zwei, drei
Monaten beschäftigen. Das wird ein Quantensprung
werden.
({9})
Dadurch wird mehr Klarheit über die Risiken des Bankensektors, mehr Stabilität im Finanzbereich und - das
ist letztendlich der entscheidende Punkt - ein Schutz des
Staates vor den Verlusten aus dem Bankensektor geschaffen.
Ja, auch ich hätte mir vorstellen können, Frau
Wagenknecht, dass - das Europäische Parlament hat diese
Richtlinie verhandelt - die geschaffenen Möglichkeiten
für Direktrekapitalisierungen, aber auch zu Eingriffen der
Staaten selbst nicht in der Form eröffnet worden wären.
Das ist aber ein europäischer Kompromiss. Ein Berichterstatter im Europäischen Parlament ist auch sehr stark
in diese Richtung gegangen. Daher werden wir das auf
nationaler Ebene einführen bzw. ermöglichen müssen.
Ja, auch ich bin sehr skeptisch, was das Instrument
der direkten Bankenrekapitalisierung betrifft. Aber auch
in diesem Fall waren Ihre Zahlen falsch. Es geht nicht
um 200 Milliarden Euro. Das wird gedeckelt auf maximal 60 Milliarden Euro,
({10})
für die dann alle Länder gemäß dem geltenden ESMSchlüssels haften. Aber über jede Einzelfallentscheidung
wird im Bundestag beraten und entschieden werden.
Und das wird so restriktiv gehandhabt werden, dass dieses Instrument hoffentlich nie angewendet werden wird.
Wegen mir bräuchte man das auch nicht. Es wird aber
wohl so sein - das beraten wir derzeit -, dass die direkte
Bankenrekapitalisierung aus dem ESM wahrscheinlich
nie angewendet wird. Wir werden jedenfalls im Einzelnen darüber zu entscheiden haben.
Zwei Punkte sind mir noch wichtig.
Erstens - das ist ein ganz entscheidender Punkt - ist
es mir wichtig, zu mehr Integration auf europäischer
Ebene, zur Vervollständigung der Währungsunion auch
in Richtung einer Wirtschafts- und Fiskalunion zu kommen. Das, was wir hier machen, reicht nicht aus; es betrifft nur den Finanzmarktsektor.
Der zweite Punkt betrifft die Einnahmeseite. Ich bin
der Auffassung, dass wir mehr einheitliche bzw. gemeinsame Politik auf europäischer Ebene brauchen, damit
das Steuerdumping und die Steuerhinterziehung aufhören.
Hinsichtlich der Bankenabgabe stellt sich allerdings
auch die Frage, wer diese in welcher Höhe und aufgrund
welcher Risiken zahlt. Wir sind dafür, dass die Deutsche
Bank grundsätzlich mehr zahlen muss als die Sparkassen, weil sie ein gefährlicheres Geschäftsmodell hat.
Unbeantwortet bleibt hier in Teilen die Frage des „too
big to fail“ einer zu großen Bank. Dass aber die Bankenabgabe, die gezahlt wird, in Deutschland nicht steuerlich
abzugsfähig ist - das heißt, der Steuerzahler zahlt bei einer Inanspruchnahme letztendlich nicht ein Drittel durch
ein geringeres Körperschaftssteueraufkommen mit -, ist
richtig. In anderen europäischen Ländern wird aber nicht
so verfahren, sondern dort ist die gezahlte Bankenabgabe steuerlich abzugsfähig. Es gibt zum Teil allerdings
auch höhere Bankenabgaben, beispielsweise in Österreich.
Ich finde - das will ich für die SPD-Fraktion klar sagen -, dass es klar sein muss, dass, bevor es weitere Integrationsschritte gibt - auf der Ausgabenseite sind viele
Länder immer schnell dabei -, der Wettbewerb zulasten
der Steuerzahler um die niedrigsten Steuersätze aufhören
muss. Dieser Wettbewerb muss gestoppt werden.
({11})
Deswegen, Herr Bundesfinanzminister, haben Sie dabei
unsere volle Unterstützung, was eine Vereinbarung auf
dem G-20-Gipfel - ich nenne das Stichwort BEPS - betrifft, was die Bankenabgabe betrifft, aber auch, was den
Kampf gegen diejenigen betrifft, die von den Rettungsmaßnahmen enorm profitiert haben, nämlich die Spekulanten und ihre Spekulationsgeschäfte. Wir erwarten bis
Carsten Schneider ({12})
Ende des Jahres klare Schritte in Richtung einer Finanztransaktionsteuer. Wenn dies nicht entscheidend vorangeht, dann müssen wir uns überlegen, diese national einzuführen.
Meine Damen und Herren, dieser Gesetzentwurf
emanzipiert den Staat vom Bankensektor. Geschäfte in
diesem Sektor werden sicherer werden. Diejenigen, die
diese Geschäfte machen, werden weniger Gewinne erzielen und im Zweifel für die Verluste haften. Ich finde,
das tut einer sozialen Marktwirtschaft gut.
Vielen Dank.
({13})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen erhält nun
der Kollege Gerhard Schick das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Bundesfinanzminister hat seine Ausführungen mit dem
Hinweis darauf begonnen, dass eines der Kernprobleme
bei der Euro-Staatsschuldenkrise war, dass die einzelnen
Mitgliedstaaten für die Rettung ihrer Banken zuständig
waren, dass also aus Bankenschulden Staatsschulden
wurden. Da stimme ich mit ihm völlig überein. Das ist
ein zentrales Problem, das die Steuerzahlerinnen und die
Steuerzahler in Europa viele, viele Milliarden gekostet
hat, uns noch bis heute beschäftigt und die Haushalte
auch noch zukünftig belasten wird.
Man muss aber wissen, dass der Zusammenhang zwischen den Bankproblemen und den nationalen Haushalten in der Euro-Zone nicht zwangsläufig so hätte sein
müssen oder gar vom Himmel gefallen ist. Es war 2008
vielmehr eine politische Entscheidung, dass es so sein
sollte. Im Herbst 2008, als die Bankenkrise auf einen ihrer Höhepunkte zusteuerte, hat die niederländische Regierung nämlich einen Vorschlag gemacht und eine europäische Lösung aufgezeigt, wie man ein gemeinsames
Bollwerk gegen die wackeligen Finanzmärkte schaffen
könnte. Damals hat es viel Unterstützung für diesen Vorschlag gegeben, aber eine Regierung hat Nein gesagt:
die deutsche Bundesregierung unter Angela Merkel. Es
ist überliefert - sehr gut dargestellt in dem Buch von
Cerstin Gammelin und Raimund Löw -, dass Nikolas
Sarkozy bei den Verhandlungen Anfang Oktober 2008
sehr enttäuscht über Angela Merkel und ihr Nein war
- ich zitiere -:
Bei der Verabschiedung … an den Stufen des Élysée lässt er seiner Enttäuschung freien Lauf: „Wenn
wir keine europäische Lösung zusammenbringen,
dann wird das ein Debakel sein“, klagt Sarkozy …
„Aber nicht meines, sondern Angelas Debakel …
Und weiter:
Angela Merkel habe im Élysée-Palast schlicht
Johann Wolfgang Goethe zitiert: „Ein jeder kehr’
vor seiner Tür, und rein ist jedes Stadtquartier“.
Das war die Logik 2008. Wir haben in den letzten
Jahren gesehen, wie sauber der Bankensektor in Europa
geworden ist. Bis heute ist er voll von Schmodder, weil
man damals dem genannten Prinzip der deutschen Bundesregierung gefolgt ist. Und dafür müssen Sie auch
Verantwortung übernehmen.
({0})
Es ist ja toll, sich als Kanzlerin immer als große Managerin und Retterin und als Finanzminister als großer
Europäer darzustellen. An dieser Stelle haben Sie zum
Schaden ganz Europas antieuropäisch gehandelt. Und
das belastet uns bis heute.
({1})
Jeder einzelne Staat sah sich nämlich gefangen in der
Logik: Wenn ich meinen Banken kein Steuergeld gebe,
dann fließt das Geld aus meinem Finanzsektor ab, und
dann ist das für meine Wirtschaft ein großes Problem.
Diese Logik hat alle Staaten gezwungen, entsprechend
zu handeln. Wenn man dies anders gemacht hätte, wäre
vieles anders gelaufen.
Nun kann man sagen: Das ist vergossene Milch. Aber
das Problem ist, dass Sie aus dem Fehler von damals
nichts gelernt haben, sondern in den Jahren bis 2012, als
das ganze Desaster, das Nikolas Sarkozy vorhergesagt
hat - Angelas Desaster -, eingetroffen ist, immer noch
gegen die Bankenunion gearbeitet haben und alles getan
haben, dass sie nicht kommt. 2012 sind sie nur durch den
Druck der anderen europäischen Regierungen gezwungen worden, dem zuzustimmen, was Sie heute vorlegen.
Sie haben das nie gewollt.
({2})
Es geht noch weiter: Sie haben nachher in den Verhandlungen alles getan, damit man gemäß dieser falschen Logik weiterarbeitet. Die Bankenunion tritt aufgrund der Verhandlungen der Bundesregierung später in
Kraft, als sie in Kraft treten könnte. Deswegen bleiben
die Steuerzahler noch länger im Risiko, als es nötig
wäre. Auch das ist ein Fehler, der Ihnen anzukreiden ist.
({3})
Und Sie haben dafür gesorgt, dass der Abwicklungsfonds noch viele Jahre, nämlich noch bis 2024, nationale
Abteilungen und nationale Verantwortung hat und damit
erst später ein wirkliches europäisches Konstrukt entsteht.
Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen
lassen: Sie begannen Ihre Rede mit der Fehleranalyse,
indem Sie sagten: Dass die nationalen Haushalte verantwortlich sind für die Banken, ist eines der zentralen Probleme. - In Verhandlungen haben Sie sich jedoch dafür
eingesetzt, dass die nationalen Haushalte noch länger
verantwortlich sind für die Bankenrettung. Das passt
doch überhaupt nicht zusammen.
({4})
Sie bleiben aber auch, leider, bei dem Vorliegenden
an ein paar Stellen in einer zweiten gefährlichen Logik.
Wenn Banken Schwierigkeiten haben, kann man entweder sagen, man rettet sie - im Zweifelsfall mit Steuergeldern -, oder, man wickelt sie ab. Der Grundsatz des jetzt
vorliegenden Gesetzentwurfes ist richtig. Wir wollen in
Zukunft abwickeln. Es gibt allerdings drei Stellen, an denen dieser Grundsatz leider nicht durchgesetzt wird, sondern Sie in der alten, falschen Logik bleiben:
Erstens. Es gibt eine Klausel - darauf ist schon hingewiesen worden -, die regelt, dass man, wenn es eine Gefahr für die Finanzmärkte gibt, doch wieder retten kann.
Genau diese Begründung musste immer wieder für die
Bankenrettungen in Irland, Spanien und Zypern herhalten. Insofern ist es eine sehr gefährliche Lücke.
Zweitens bei der Frage der direkten Bankenkapitalisierung. Es ist ja richtig, dass es irgendwo das gibt, was
Experten einen Backstop nennen, also sozusagen eine
Möglichkeit, im Zweifelsfall noch einzugreifen. Aber da
gibt es jetzt zwei verschiedene Wege: Der eine Weg
wäre, eine Kreditlinie für den Abwicklungsfonds festzulegen, sodass der ESM den Banken Geld ausleihen kann,
das sie später zurückzahlen müssen. Die Verantwortung
bliebe so bei den Banken. Vor allem bliebe man so in der
Logik des Abwicklungsfonds und seiner Expertise, dass
Banken wirklich abgewickelt würden. Oder man kann es
wie Sie über die direkte Bankenkapitalisierung machen.
Dann wird wieder Steuergeld ins Schaufenster gestellt.
Das wollen wir nicht.
({5})
Da sind Sie in der alten, falschen Logik.
Drittens wird der Grundsatz nicht auf nationaler
Ebene umgesetzt. Warum wird jetzt die Bankenrettung
in Deutschland gemäß der alten Logik, dass man Steuergeld ins Schaufenster stellt, noch einmal verlängert? Warum denn? Sie haben doch gerade gesagt, dass es richtig
ist, Banken abzuwickeln. Warum wollen Sie in Deutschland noch einmal die Möglichkeit schaffen, im Zweifelsfall Steuergeld für die Bankenrettung einzusetzen? Wir
Grünen sind überzeugt: Das Prinzip „Wenn eine Bank
ein Problem hat, löst man es mit Steuergeld“ muss endlich der Vergangenheit angehören.
({6})
Es gibt noch eine Reihe von Fragen zur Ausgestaltung: Kann das Europäische Parlament überhaupt kontrollieren, was dieser Fonds macht? Wie ist die Bankenabgabe im Einzelnen ausgestaltet? Das werden wir
diskutieren müssen.
Insgesamt aber ist das Projekt einer europäischen
Bankenunion richtig. Wir Grüne haben das seit langem
gefordert. Wir müssen heute feststellen, dass der Finanzminister das, was er heute vorlegt, nie gewollt hat. Aber
es ist gut, dass er sich nicht durchgesetzt hat.
Danke schön.
({7})
Ich erteile das Wort jetzt dem Kollegen Ralph
Brinkhaus für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben
schon eine drollige Opposition: Die Grünen zitieren
Nicolas Sarkozy als ihren Kronzeugen,
({0})
und die Linken halten eine Rede, die beim Kongress der
europäischen Rechtspopulisten für viel Beifall gesorgt
hätte.
({1})
Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen.
({2})
Frau Wagenknecht, wenn Sie sagen, dass in den letzten fünf Jahren im Bereich der Regulierung nichts passiert ist, dann bedeutet dies, dass man entweder bewusst
die Wahrheit verschweigt oder dass man so redet, weil
man in den vergangenen fünf Jahren verdammt oft gefehlt hat.
({3})
Dementsprechend kann ich Ihnen nur eines sagen: Keine
Regierung hat so viel am Finanzmarkt reguliert wie
diese Regierung und die Regierung davor - über 30
Maßnahmen.
Herr Schick, Sie sagen, Sie hätten es immer schon gewusst. Ich sage Ihnen: Wir waren die Ersten, die ein
Bankenrestrukturierungsgesetz auf den Weg gebracht
haben, und zwar 2010
({4})
Dieses Restrukturierungsgesetz ist die Blaupause für
das, was nun in Europa entwickelt worden ist. Wir haben
damit Maßstäbe gesetzt.
({5})
Meine Damen und Herren, heute ist ein Tag, an dem
wir auf das kernsanierte Haus der europäischen Bankenregulierung das Dach setzen. Denn die Bankenunion ist
das Dach; sie ist fürchterlich wichtig, denn ohne sie
funktioniert das ganze System nicht. Ist das Dach undicht, dann ist auch das Haus nicht gut gebaut. Dementsprechend freue ich mich, dass wir es geschafft haben,
heute die entsprechenden Gesetzentwürfe in den Deutschen Bundestag einzubringen.
Aber die Begeisterung - wir haben es gehört - hält
sich an vielen Stellen in Grenzen, aus ganz unterschiedRalph Brinkhaus
lichen Motiven. Aber dahinter steht etwas, was leider zu
einem Grundaxiom der Politik am rechten und auch am
linken Rand geworden ist. Das ist etwas Neues, das ist
etwas anderes, das ist etwas Internationales, und - das
ist, glaube ich, den Menschen gemein - etwas Neues
sehe ich erst einmal skeptisch. Früher war doch eh alles
besser. Warum können wir nicht die schöne alte Welt
von früher zurückhaben? - Das hören wir in ganz vielen
Politikbereichen. Insbesondere die Rechten sagen: Früher war doch irgendwie alles viel einfacher. Da konnte
man zwischen Gut und Böse unterscheiden. Griechenland und Spanien waren höchstens relevant, wenn das
Urlaubswetter schlecht war. Der Fremde kam aus der
Nachbarschaft. Der Maschinenbauer hat maximal nach
Holland geliefert. Alles war ganz fürchterlich einfach.
Es wird nun suggeriert, dass wir diese einfache Welt
wieder zurückbekommen könnten und dass wir uns auf
den nationalen Bereich zurückziehen könnten. Dabei
wird verkannt, dass sich die Welt in der Zwischenzeit
verändert hat, und zwar verdammt schnell.
Ich glaube nicht, dass es Aufgabe der Politik ist, den
Menschen zu suggerieren, dass alles wieder wie früher
und einfacher werden kann. Die Aufgabe der Politik ist
es vielmehr, sich den Herausforderungen dieser veränderten Welt zu stellen. Genau das haben wir im Bereich
der Finanzmarktregulierung gemacht. Wir haben aus
dem gelernt, was 2008 passiert ist. Wir sind Schritt für
Schritt in die richtige Richtung gegangen. Heute setzen
wir das Dach auf die ganze Geschichte; und das ist aller
Ehren wert. Man muss hinzufügen: All das ist in einer
Geschwindigkeit vollzogen worden, die in der Geschichte der Regulierung weltweit ihresgleichen sucht.
Auch das ist aller Ehren wert, und das sollte man an dieser Stelle auch einmal sagen.
({6})
Dass sich die Welt verändert hat, das kann man am
Beispiel Banken jedermann sehr gut und plastisch klarmachen. Früher war alles sehr einfach. Früher gab es die
kleine Bank vor Ort. Der Sparkassendirektor wohnte in
der Nachbarschaft. Die Kredite wurden an den Handwerker oder Häuslebauer im Ort vergeben. Es gab keine
Derivate, keinen Hochfrequenzhandel, keine international agierenden Börsen. Alles war schön und einfach.
Aber dann ist Folgendes passiert: Die Sparkassen und
Volksbanken haben auf einmal so viel Geld eingesammelt, dass sie es in ihren Städten und auch im Land nicht
mehr unterbringen konnten, und sind dann an die internationalen Kapitalmärkte gegangen. Dann hat der Mittelständler irgendwo in den USA eine Tochtergesellschaft gegründet; das musste bankenmäßig abgedeckt
werden. Dann wurden Produkte in Länder exportiert, die
wir vorher nicht kannten, und es mussten Devisen- und
Währungsrisiken abgedeckt werden. Das war die neue
Welt.
Zur Wahrheit gehört dazu, zu sagen: Einige Leute
sind auf die Idee gekommen, dass man mit Garantien
und Derivaten auch handeln kann, ohne dass man den
Mittelständler und Häuslebauer braucht. Das war die
neue Bankenwelt, die am Ende des Tages entstanden ist.
Dieser neuen Bankenwelt müssen wir uns stellen, hier
müssen wir für Regulierung sorgen. Das haben wir gemacht. Nur zu sagen: „Da gibt es eine ganz einfache Lösung“, oder, um den Wagenknecht’schen Wortbaukasten
zu verwenden: „Das sind Zombies und Zocker! Es gibt
Abgründe“, das ist toll für Volksreden hier im Deutschen
Bundestag, aber das bringt uns kein Stück weiter.
Ich würde mit Ihnen gerne über die Inhalte diskutieren. Sie haben es rudimentär angesprochen: Die 8 Prozent, die die Bail-in-fähigen Gruppen leisten müssen,
sind Ihnen nicht genug. 8 Prozent hätten aber in der alten
Finanzkrise in den meisten Fällen ausgereicht. Das gehört auch zur Wahrheit dazu.
Lassen Sie uns uns doch einmal über die Mechanismen unterhalten, wann wer wie wo einen Sanierungsund Abwicklungsplan erstellen muss. Lassen Sie uns uns
doch einmal über die Mechanismen unterhalten, wer
wann wo wie was entscheidet.
({7})
Lassen Sie uns uns doch einmal über die Mechanismen
unterhalten, wer wann wie wo feststellt, welcher Teil einer Bank systemgefährdend ist und welcher Teil einer
Bank nicht systemgefährdend ist. Darüber müssen wir
uns unterhalten. Genau hier anzusetzen, das wäre seriöse
Oppositionsarbeit. Aber es ist keine seriöse Oppositionsarbeit, wenn man hier Volksreden hält, die im Übrigen
nicht einmal richtig waren.
({8})
Ich will damit nicht sagen, dass das, was hier vor sich
geht, nicht zu kritisieren ist. Die entsprechenden Punkte
sind angesprochen worden, auch vom Finanzminister.
Die EZB ist nicht sakrosankt. Es ist nicht alles richtig,
was sie macht. Da kann man auch durchaus einmal sagen: Das passt uns nicht.
Natürlich muss die EZB im Zuge dieses Aufsichtsprozesses Vertrauen aufbauen. Im Zusammenhang mit
den Stresstests ist das nicht immer gut gelungen; das hat
der eine oder andere Kollege bereits angesprochen. Natürlich müssen wir uns immer wieder fragen - übrigens
viel früher als heute hier im Bundestag -: Sind die getroffenen Regeln wirklich gut? Das haben wir gemacht.
Wir haben gemeinsam mit den Kollegen der SPD intensiv mit unseren europäischen Kollegen gesprochen, damit genau das nicht passiert, was befürchtet wird, nämlich dass die Sparkassen und Volksbanken die Zeche
zahlen. Das ist unsere gemeinsame Initiative gewesen.
Dafür haben wir gesorgt, meine Damen und Herren. Da
werden wir auch weiter dranbleiben.
Wir müssen auch dafür sorgen, dass die Regulierung,
die wir vornehmen, immer besser wird. Es gibt ganz
viele Ansatzpunkte für Kritik. Aber ich will dafür werben, dass wir in der Sache kritisieren und uns auf Details
einlassen. Denn eines haben wir im Zuge der Finanzmarktregulierung gelernt: Es gibt nicht den großen grünen Knopf, auf den man drückt, und dann wird alles gut,
sondern es sind Hunderte von kleinen Maßnahmen nötig. Es handelt sich um Gesetzespakete, die 500 bis
600 Seiten umfassen, die man sich durchlesen muss und
bei denen man an kleinen Schräubchen justieren muss.
({9})
All das vermisse ich bei ganz vielen von der Opposition.
Ich kann Sie wirklich nur bitten: Nutzen Sie diesen
Gesetzgebungsprozess dazu, mit uns darüber zu diskutieren, wie man die vier vorliegenden Gesetzentwürfe
gut bzw. besser machen kann. Nutzen Sie die Zeit aber
auch dazu, zu überlegen, wie wir uns in all die Prozesse
der europäischen Bankenregulierung noch stärker und
früher einbringen können. Richtig ist nämlich auch: Eine
hundertprozentige Sicherheit haben wir nicht. Richtig ist
auch: Wir müssen noch ziemlich viel arbeiten, bis die
Bankenregulierung so ausgestaltet ist, dass wir den Bürgerinnen und Bürgern sagen können, dass sie als Steuerzahler tatsächlich nicht mehr für Banken haften müssen,
dass wir den Bürgerinnen und Bürgern sagen können,
dass Banken ein ganz normaler Teil des Wirtschaftssystems wie die Automobilindustrie, der Handwerker und
viele andere auch sind, dass wir den Bürgerinnen und
Bürgern sagen können: Ja, eine Bank kann in die Insolvenz und in die Abwicklung gehen, ohne dass dadurch
das gesamte Finanzsystem oder ganze Volkswirtschaften
in den Abgrund gerissen werden.
Wir gehen heute einen ganz wichtigen Schritt in diese
Richtung. Ich freue mich auf die gemeinsamen Beratungen in der Sache, und zwar ohne irgendwelche Volksreden. Ich denke, das kriegen wir gut hin.
Danke schön.
({10})
Axel Troost ist der nächste Redner für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
alle erinnern uns noch daran, wie wir vor ein paar Jahren
hier gestanden und ein Bankenrettungspaket nach dem
anderen durchgezogen haben. Sicherlich dienten die
heutigen Lobreden in Bezug auf das, was wir beraten
und verabschieden sollen, auch dazu, noch einmal deutlich zu machen, wie unwürdig das damalige Verfahren
gewesen ist und dass sich nun alle bemühen, dass so etwas nicht mehr zustande kommt. Ich glaube auch, dass
es sich heute keine Regierung und keine Regierungsfraktion mehr leisten kann, noch einmal so vorzugehen, wie
das damals der Fall war.
({0})
Wir haben gesehen, dass eine Bankenkrise in der Tat
nicht allein auf nationaler Ebene zu lösen ist und dass
bei Abwicklungen aufgrund verschiedener Regelungen
in den jeweiligen Ländern natürlich erheblicher Abstimmungsbedarf besteht. Insofern glaube ich, dass ein europäisches Abwicklungssystem vom Prinzip her erst einmal sinnvoll ist. Es muss aber eben auch funktionieren.
Um im Bild vom Kollegen Brinkhaus zu bleiben: Wenn
am Schluss das Dach fehlerhaft ist, dann hat man eben
einen Dachschaden.
({1})
Das könnte das Problem sein, über das wir hier noch reden müssen.
Ich möchte zumindest zwei Punkte aus einer Reihe
von Punkten ansprechen, die für meine Begriffe völlig
ungelöst sind:
Erster Punkt. Einige Banken sind nach wie vor wesentlich zu groß, zu komplex und zu vernetzt. Ich
möchte das am Beispiel der Deutschen Bank aufzeigen.
Die Deutsche Bank hat sich innerhalb des Finanzsystems
mit 250 Milliarden Euro verschuldet. Sie hat ihrerseits
Forderungen gegen andere Banken in einer Größenordnung von 300 Milliarden Euro. Solche Forderungen
kann man nicht vernünftig abwickeln, ohne dass man
Schneeball- bzw. Dominoeffekte auslöst. Wenn man bedenkt, dass wir allein in der Euro-Zone zehn Banken haben, die eine Bilanzsumme von über 1,5 Billionen Euro
aufweisen, dann muss man an diese Banken heran und
schauen, dass man sie auf ein vernünftiges Maß verkleinert. Das muss man dann wirklich auch erzwingen.
({2})
Es handelt sich dabei in der Tat um einen komplizierten
Prozess, bei dem man sich mit der Finanzbranche anlegen muss. Darum kommt man aber nicht herum.
Kollege Brinkhaus, wir beide waren damals in New
York in der Filiale der Deutschen Bank und waren uns
einig: Ein Konstrukt mit der Größenordnung wie die
Deutsche Bank kriegt man weder als kapitalistisches
noch als vergesellschaftetes Unternehmen vernünftig gemanagt. Insofern müssen wir an diese Größenordnungen
heran. Denn man merkt, dass in der Branche die Zockerei schon wieder überall angefangen hat.
({3})
Zweiter Punkt. Die Idee eines europäischen Abwicklungssystems hört sich gut an, wenn es auch alle Standorte erfasst. Von den 40 großen europäischen, grenzüberschreitenden Bankengruppen agieren aber nur
5 Bankengruppen in Staaten der Bankenunion. Im Rahmen unseres Besuches in Großbritannien haben uns Vertreter der Finanzbranche und auch die Abgeordneten
dort gesagt: Gute Idee mit der europäischen Bankenunion. Aber nicht mit uns.
({4})
Zu Deutsch: All die Banken, die in London, dem größten
Börsenplatz, in erheblichem Umfang aktiv sind - das
sind fast alle großen -, sind nicht in vollem Umfang im
Bereich der Bankenunion erfasst. Das heißt: In Krisenfällen wird man vor dem Problem stehen, wie man das
britische Geschäft vom Restgeschäft abgrenzt, um das
Risikogeschäft in den Griff zu bekommen. Insofern
glaube ich, dass es noch erhebliche Schwächen gibt, die
aus dem hektischen Schritt resultieren, die EZB für das
Ganze zuständig zu machen.
Ein letzter Punkt, der für mich ganz zentral ist, ist die
Frage der Bankenabgabe, also des Aufbaus des Bankenrettungsfonds. Diesbezüglich ist noch nichts entschieden, aber es zeichnet sich ab, dass in ganz erheblichem
Umfang auch kleine Banken herangezogen werden, also
kleine Sparkassen und kleine Genossenschaftsbanken.
Diese haben nichts mit diesem Fonds zu tun, weil sie
erstens im Zweifelsfall überhaupt nicht gerettet, sondern
abgewickelt würden, weil sie zweitens eigene Sicherungssysteme haben, die aber einfach nicht zur Kenntnis
genommen werden, und weil sie drittens ein Geschäftsmodell haben, das dafür sorgt, dass sie solche Probleme
gar nicht erst bekommen. Ich spreche in diesem Zusammenhang von den Sparkassen, nicht von den Landesbanken.
({5})
- Das hat doch damit nichts zu tun. Die Landesbanken
sollen doch die Abgabe zahlen. Aber deswegen muss
doch nicht auch die kleine Sparkasse zahlen, die damit
nichts zu tun hat.
({6})
Deswegen müssen auch wir als deutsches Parlament
noch einmal deutlich machen, dass nicht die Falschen
zur Finanzierung von Großzockerbanken herangezogen
werden dürfen, sondern die Kleinen weitestgehend befreit werden müssen. Das ist ein ganz großes Anliegen
der Sparkassen und der Kreditgenossenschaften.
Danke schön.
({7})
Herr Kollege, ich entnehme Ihrem Beitrag vor allen
Dingen die ermutigende Auskunft, dass gemeinsame
Dienstreisen von Ihnen und dem Kollegen Brinkhaus zur
Beförderung gemeinsamer Einsichten erheblich beitragen können.
({0})
Nun hat der Kollege Zöllmer für die SPD-Fraktion
das Wort.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein
kluger Mann hat einmal gesagt: Für jedes komplexe Problem gibt es eine einfache Lösung, und die ist falsch. Liebe Frau Wagenknecht, mit billigem Talkshowpopulismus aus der Phrasendreschmaschine kann man komplexe Probleme nicht lösen.
({0})
Die Probleme, mit denen wir es zu tun haben, sind
wirklich komplex. Ich darf noch einmal daran erinnern:
Von 2008 bis 2012 musste das Finanzsystem in Europa
mit 1,5 Billionen Euro vor dem Kollaps bewahrt werden.
Die Finanzkrise hat eine tiefe Rezession ausgelöst, deren
Folgen in vielen Ländern im Süden bis heute nicht überwunden sind. Die Arbeitslosigkeit ist auf Rekordniveau
gestiegen. Viele Menschen haben dramatische Wohlstandseinbußen erlitten. Von der Finanzkrise ging es
dann nahtlos über in die Staatsschuldenkrise. Das Vertrauen in die Stabilität des Finanzsystems ist bei vielen
Menschen nach wie vor erschüttert. Deswegen ist es so
wichtig, Problemlösungen zu präsentieren.
Die Lehre, die wir aus der Finanzkrise gezogen haben, war: Eine solche Krise darf sich nicht wiederholen,
die Finanzmärkte müssen eingefangen werden, sie brauchen Leitplanken, und nie wieder soll der Steuerzahler
die Zeche für die Gier von Bankern zahlen müssen.
({1})
Die Banken waren, wie man das auf Englisch sagt,
„too big to fail“, also zu groß, um pleitezugehen, weil
damit unkalkulierbare Risiken für das gesamte Finanzsystem verbunden waren und damit Risiken für alle
Menschen.
({2})
Das hat mit Marktwirtschaft nichts zu tun, aber viel mit
zu großer wirtschaftlicher Macht. Diese Banken haben
sich der nationalen Kontrolle entzogen; denn sie agieren
europaweit und weltweit. Wir hatten damals eine nationale Bankenaufsicht. Dies war nicht mehr vernünftig.
Die Bankenaufsicht konnte die Funktion nicht adäquat
erfüllen. Die Krise hat das mit aller Deutlichkeit gezeigt.
Deshalb sollte, deshalb musste eine Bankenunion in
Europa errichtet werden. Das war von Anfang an die
Forderung von uns Sozialdemokraten. Der Kollege
Schick hat eben deutlich gemacht, dass der Weg dahin
etwas holprig war, aber jetzt haben wir sie. Der Bankensektor musste stabilisiert werden, damit die Folgen von
wirtschaftlichem Fehlverhalten beherrschbar bleiben.
Nicht der Steuerzahler, sondern der Eigentümer und der
Gläubiger sollen und müssen zukünftig die finanziellen
Folgen tragen. Das haben wir als Sozialdemokraten von
Anfang an gefordert.
Mit dem vorliegenden Gesetzespaket soll diese Forderung nun schrittweise umgesetzt werden. Eine grundlegende Neugestaltung des Regulierungs- und Aufsichtsrahmens des Finanzsektors soll nun Realität werden. Es
geht dabei um eine gemeinsame Bankenaufsicht sowie
um einen gemeinsamen Rahmen für die Sanierung und
Abwicklung von Kreditinstituten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Bankenunion
ist ein wirklicher Quantensprung der Integration der
Finanzmärkte, ein neues Stück Europa,
({3})
eine wirkliche Integrationsrevolution. Sie war vor zehn
Jahren noch völlig undenkbar.
Die Bankenaufsicht für systemrelevante große Institute soll zukünftig von der EZB übernommen werden.
Der Finanzminister hat eben ausgeführt, dass es nicht
ganz einfach ist, Geldpolitik und gleichzeitig Bankenaufsicht zu betreiben. Wir brauchen eine adäquate Trennung dieser beiden Bereiche, und wir brauchen die Perspektive, dass die Bankenaufsicht in Zukunft wieder aus
der EZB herausgelöst und in eine eigenständige Behörde
überführt wird.
({4})
Die Bankenaufsicht muss so gestaltet werden, dass sie
schlagkräftig ist, dass sie leistungsfähiger ist und über
den notwendigen Biss verfügt. Dazu ist eine enge Kooperation mit den nationalen Aufsehern notwendig.
Dazu brauchen wir klare Schnittstellen sowie klare Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten auf beiden Seiten. Das gilt für die EZB, das gilt in Deutschland für die
BaFin und genauso für die Bundesbank.
Wer Banken sanieren und abwickeln muss und will,
braucht dazu Geld, im Regelfall viel Geld. Wir wollen,
dass dieses Geld zukünftig nicht mehr vom Steuerzahler
aufgebracht wird. Ein zentrales Instrument in diesem
Zusammenhang ist der Bankenhaftungsfonds. Er soll
von Beiträgen der Banken gespeist werden. Der Fonds
soll nach einer Übergangsfrist in acht Jahren mit einem
Volumen von 55 Milliarden Euro zur Verfügung stehen.
Die Ausgestaltung der Beiträge, die die Banken zu leisten haben, wird durch einen delegierten Rechtsakt auf
europäischer Ebene festgelegt. Ohne ein faires System
der Bankenabgabe - das sage ich hier mit aller Deutlichkeit - wird es allerdings keine Zustimmung meiner Fraktion zu dem Gesamtpaket geben. Das ist für uns ein ganz
wichtiger Punkt.
({5})
Banken mit hohem Risiko müssen den Löwenanteil
der Mittel aufbringen. Wer höhere Risiken hat, muss höhere Abgaben zahlen. Das bedeutet auch, dass diese Beiträge - ein Kollege hat vorhin darauf hingewiesen nicht von der Steuer abgesetzt werden dürfen.
({6})
Auch hier muss die Eigenverantwortung der Institute
und darf nicht der Steuerzahler das Maß aller Dinge sein.
Wir haben gehört, dass es eine Haftungskaskade gibt.
Bevor diese Mittel in Anspruch genommen werden,
müssen die Anteilseigner und Gläubiger die Verluste bis
zu einem Gesamtvolumen von 8 Prozent der gesamten
Verbindlichkeiten nebst Eigenmitteln tragen. Mit dieser
Haftungskaskade wird das Ziel einer Entlastung des
Steuerzahlers umgesetzt. In Deutschland wird die
Finanzmarktstabilisierungsanstalt die Sanierung und Abwicklung für eine Übergangszeit durchführen. Danach
wird das Ganze in die BaFin überführt und dort als sogenannte Anstalt in der Anstalt angesiedelt.
Wir werden im Beratungsprozess dieser Gesetzentwürfe über eine ganze Reihe von Fragen zu diskutieren
haben. Dabei geht es um die Frage eines möglicherweise
zwangsweisen Rechtsformwechsels in einer Krisensituation. Das betrifft Sparkassen und Genossenschaftsbanken. Wir werden uns mit diesem Thema intensiv auseinandersetzen und dies prüfen müssen.
Zusammenfassend möchte ich deutlich machen: Mit
diesem Gesetzespaket wird eine neue Ära eines reformierten Finanzsektors begonnen. Er wird sicherer und
stabiler sein. Im Falle einer Krise werden zukünftig der
Eigentümer und der Gläubiger und wird nicht mehr der
Steuerzahler zur Kasse gebeten. Auch Banken können
dann abgewickelt werden. Dieser Bereich wird dann
keine marktwirtschaftsfreie Zone mehr sein, und das ist
auch gut so.
({7})
Der Kollege Sarrazin bekommt als nächster Redner
das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst nachträglich herzlichen Glückwunsch
zum Geburtstag an Bundesminister Schäuble. Ich
glaube, Ihnen auch zur Ausgestaltung der Bankenunion
zu gratulieren, ist vielleicht richtig; Sie sind schon ein
echter Europäer. Aber Ihnen dazu zu gratulieren, dass
Sie den größten Anteil an der am Ende inhaltlich viel
besser gewordenen Ausgestaltung hatten, das wäre zu
viel des Lobes. Sie haben bei diesem wichtigen Thema
lange Zeit zu bremsen versucht und allein darauf gedrungen, dass wir jetzt unter anderem einen Gesetzentwurf
vorliegen haben, um eine völkerrechtliche Vereinbarung
zur Ausgestaltung der Bankenunion, des Abwicklungsfonds und des Abwicklungsmechanismus zu ratifizieren.
Das haben Sie durchgesetzt mit einer Interpretation
des Gemeinschaftsrechts, die exklusiv Sie hatten. Sie haben diesen Weg gewählt, um die Abgeordneten des
Europäischen Parlaments, die in diesem Fall durchgesetzt haben, dass nationale Bankenrettungsinteressen
nicht mehr Vorrang haben können vor europäischen Interessen, auch Gläubiger zu beteiligen, in den Verhandlungen zu negieren. Das ist Ihnen nicht gelungen. Die europäischen Abgeordneten haben Ihnen mehr abverhandelt,
als Sie wollten, und, ganz nebenbei, mehr als die 27 anderen Finanzminister. Von daher gratuliere ich Ihnen,
Herr Minister, zum Geburtstag, und ich gratuliere unseren Kollegen im Europäischen Parlament dazu, dass
heute im Bundestag damit begonnen wird, etwas durchzusetzen, an dem sie einen wichtigen Anteil hatten.
({0})
Das Prinzip ist doch eigentlich ziemlich logisch: Wir
brauchen die Bankenunion auch, um die wirtschaftliche
Erholung in den Ländern, in denen die Krise besonders
schlimm zugeschlagen hat, voranzubringen. Wenn vor
allem kleine und mittelständische Unternehmen nicht
mehr Zugang zu den Finanzmärkten haben, nicht mehr
Kredite verlängern können, dann werden Menschen arbeitslos. In Portugal sind 90 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Betrieben beschäftigt, in
denen weniger als neun Menschen arbeiten. Gerade
diese Betriebe haben jetzt Probleme, an Kapital zu kommen. Das führt dazu, dass Menschen nicht mehr in Arbeit, nicht mehr in Ausbildung kommen. Deswegen ist
die Bankenunion richtig.
Aber eine Lehre aus der Krise muss doch auch sein,
dass wir starke gemeinsame europäische Institutionen
brauchen, die unter Berücksichtigung nationaler Interessen, aber eben auch unter Berücksichtigung des europäischen Interesses entscheiden. Hier musste das Europäische Parlament Ihnen abverhandeln, dass nicht die
Nationalstaaten - vor allem Deutschland und Frankreich etwas verhindern können, was im europäischen Interesse
wäre. Deswegen sind wir mit dem Verhandlungsergebnis
zur Bankenunion ganz zufrieden.
Man muss aber sagen, dass das Verfahren im Hinblick
auf diesen völkerrechtlichen Vertrag genau diesem Interesse in zweierlei Hinsicht massiv schadet:
Erstens. Es ist unserer Meinung nach ein klares
Rechtsprinzip, dass dort, wo eine europäische Kompetenz vorliegt, diese auch genutzt werden muss. Man
kann nicht in einem Bereich, wo ein Mitentscheidungsrecht des Europäischen Parlaments vorliegt, eine völkerrechtliche Vereinbarung schließen - das wäre das allererste Mal -, auf die das Europäische Parlament im
offiziellen Verfahren keinen Einfluss mehr hat. Das ist
ein Präzedenzfall, der, wenn dies Schule macht, zu einer
Erosion der demokratischen Verfasstheit der Europäischen Union beitragen kann. Denn man könnte sich darauf berufen: Einmal ging das, jetzt geht das immer.
({1})
Zweitens. Mit dieser komischen Konstruktion machen Sie die Bankenunion auch nicht rechtssicherer. Zumindest wir sind davon überzeugt, dass die antieuropäischen Kläger aus Linkspartei und AfD und der Kollege
Gauweiler - der in dieser Hinsicht meistens die klügsten
Angriffspunkte findet; inhaltlich hat er jedoch unrecht genau auf diesen Punkt rekurrieren werden. Wir hätten
uns gewünscht, dass Sie den Mut hätten, durch eine ordentliche europäische Lösung und durch Bestätigung der
europäischen Kompetenz - beispielsweise durch eine
Stellungnahme des Deutschen Bundestages, wie wir sie
eingebracht haben - die Zweifel, die vielleicht in Karlsruhe an der Legitimation aus Deutschland vorliegen
könnten, auszuräumen, statt einen Präzedenzfall zu
schaffen, der dafür sorgt, dass das Europäische Parlament in Zukunft umgangen werden kann, wenn man das
möchte.
({2})
Ich möchte eines hinzufügen: Ich persönlich habe
beim Thema „direkte Bankenrekapitalisierung“ oftmals
eine Meinung vertreten, die auch die SPD angegriffen
hat. Ich glaube, dass wir einen Backstop brauchen, und
ich finde, man muss immer wieder offen darüber reden,
ob man ein solches Instrument vielleicht braucht. Deswegen haben wir Grüne auch offene Diskussionen darüber geführt.
Ehrlich gesagt, haben wir mit der Bankenunion eine
Entwicklung, bei der wir uns fragen: Warum integriert
man diesen Backstop jetzt nicht in die Struktur der Bankenunion? Warum sorgt man für eine neue Struktur? Warum gibt man jetzt dem ESM eine solche Kompetenz,
anstatt zu sagen: „Bis das Geld vorhanden ist, organisieren wir den Backstop über eine Kreditlinie im ESM für
den Bankenabwicklungsfonds bzw. den Bankenabwicklungsmechanismus, um so nicht wieder einen Wald von
Regeln zu schaffen, den am Ende keiner mehr versteht,
sondern um das gemeinsame europäische Haus zu vollenden und an dieser Stelle gut genug auszustatten“?
Vielen Dank.
({3})
Die Kollegin Antje Tillmann erhält nun das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Kollege Sarrazin,
Ihren Satz, dass die Bankenunion richtig ist, kann ich sofort unterschreiben.
({0})
Anders als Sie sind wir aber der Meinung, dass es auch
richtig ist, dass Entscheidungen über das Geld des deutschen Steuerzahlers - und darüber reden wir ja zum Beispiel beim Bankenabwicklungsfonds - im deutschen
Parlament getroffen werden. Die Kollegen im Europäischen Parlament sind gut unterwegs; die Zusammenarbeit ist hervorragend. Aber wenn wir über deutsche
Steuergelder sprechen, dann sollten wir in diesem Parlament auch Rechenschaft gegenüber den deutschen
Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern ablegen. Deshalb
glaube ich, dass Sie in diesem Punkt irren.
({1})
Die Bankenunion ist ein Teil eines Sicherheitskonzepts, das wir seit 2008 nach und nach einpflocken.
Finanzmärkte, Finanzakteure und Finanzinstrumente unterliegen längst einer besseren Aufsicht. Neben den klassischen Instrumenten, wie dem Entzug der Bankzulassung oder der Abberufung von Vorständen, haben wir
die Eigenkapitalvorschriften für die Banken verschärft.
Wir haben empfindliche Bußgelder bei fehlerhafter Beratung eingeführt, und wir haben, Herr Kollege Troost,
durch das Trennbankengesetz immerhin sichergestellt,
dass große Banken zwar nicht zwangsverkleinert werden, sie aber ihre riskanten Geschäfte von den weniger
riskanten Geschäften abtrennen müssen; darüber werden
wir in diesem Gesetzgebungsverfahren noch diskutieren.
Natürlich müssen wir auch hier sicherstellen, dass sich
Großbanken im Zusammenhang mit diesem Abwicklungsmechanismus sicherer aufstellen, als sie es bisher
tun.
Zu diesem Sicherheitssystem gehört auch der Fiskalpakt. Ein Land, das selber eine solide Haushaltsführung
hat, kann seine eigenen Banken natürlich sehr viel eher
auf solide Füße stellen. Deshalb haben wir mit der Einführung der Schuldenbremse in Europa einen wesentlichen Schritt dazu beigetragen, dass die Finanzmärkte sicherer werden. Ich glaube, keiner von uns hätte damit
gerechnet, dass eine Einigung so schnell erreicht werden
kann. Wir führen ja parallel die Haushaltsberatungen:
Deutschland ist hier Vorreiter. Wir werden unsere Defizite reduzieren, und wir hoffen, dass die europäischen
Partner Ähnliches tun; denn auch der Fiskalpakt ist ein
Teil der Sicherheit für die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in Europa.
Neben der Haushaltskonsolidierung haben wir als
zweite Sicherheitsschwelle den Europäischen Stabilitätsmechanismus eingeführt. Über den ESM kann jedes
europäische Land, das in eine Krise gerät und aus dieser
Krise nicht alleine herauskommt, Reformmaßnahmen
finanzieren. Das Land muss ein Sanierungsprogramm
vorlegen und kann dann für eine Überganszeit Hilfen bekommen. Dass das kein Kinderspiel ist, zeigt sich daran,
dass sich viele Länder lange geweigert haben, überhaupt
unter den Rettungsschirm zu gehen. Dass dies aber zu einem Erfolg führen kann, zeigen die Länder Irland, Portugal und Spanien, die über diese Hilfen auf einem guten
Weg sind, ihre Haushalte zu konsolidieren.
({2})
Für den Ernstfall vorbereitet zu sein, kann aber nicht
unser primäres Ziel sein. Ziel muss es sein, den Ernstfall
zu verhindern. Deswegen haben wir weitreichende Reformen - höhere Eigenkapitalanforderungen, die Regulierung von Ratingagenturen und bisher außerbörslicher
Termingeschäfte sowie die Stärkung der Finanzaufsicht beschlossen. Wir wollen verhindern, dass Banken nur
auf kurzfristigen Profit aus sind. Deshalb haben wir die
Banker-Boni beschränkt und einen längerfristigen Betrachtungshorizont zugrunde gelegt. Außerdem haben
wir strenge Strafen für solche Bankvorstände eingeführt,
die ihr Institut bewusst in Schieflage bringen.
Neben der Regulierung der Banken haben wir aber
auch die nationalen Aufsichtsbehörden im Blick. Es ist
heute schon darauf hingewiesen worden, dass in der Vergangenheit nationale Aufsichten offensichtlich nicht so
gut aufgestellt waren, dass sie Risiken rechtzeitig erkannt haben, geschweige denn, dass sie sie hätten verhindern können. Am 4. November dieses Jahres, also
übernächsten Monat, beginnt die europäische Bankenaufsicht für die größten europäischen Banken. Auch das
ist ein Weg hin zu gemeinsamer europäischer Sicherheit
auf den Finanzmärkten.
Die Einlagensicherung haben wir europäisiert. Der
Kleinsparer in Europa kann sicher sein, dass er sein Guthaben auch dann wiederbekommt, wenn er es nicht in
Deutschland, sondern bei einer europäischen Bank anlegt, und zwar selbst dann, wenn diese Bank in Schwierigkeiten gerät.
Was geschieht heute? Heute vollenden wir diese Sicherheitsmaßnahmen für die Finanzmärkte mit der Bankenunion. Wir verhindern weitgehend, dass der europäische Steuerzahler künftig ein weiteres Mal für bankrotte
Banken zahlen muss, weil wir nämlich zunächst die Eigentümer haften lassen. Frau Wagenknecht, Ihre Aussage, dass nach 8 Prozent Eigentümerhaftung der deutsche Steuerzahler zahlt, ist schlicht falsch. Sie haben
nämlich die Kreditgeber und den Bankenfonds, der
ebenfalls vor dem Steuerzahler zahlen und haften muss,
völlig aus den Augen verloren.
({3})
Das ist sachlich falsch, das verunsichert die Bürgerinnen
und Bürger, das ist unverantwortlich und stimmt einfach
nicht.
({4})
Ja, im Rahmen der Gesetze, mit deren Beratung wir
heute beginnen, ist auch die direkte Bankenrekapitalisierung ein Thema. Aber in der Vergangenheit hätte bis auf
einen Fall in allen Fällen der Bankenrettung und Bankenabwicklung das heutige Haftungssystem ausgereicht.
Der ESM wäre für eine direkte Bankenrekapitalisierung
überhaupt nicht in Anspruch genommen worden. Es
hätte ausgereicht, Eigentümer, Kreditgeber und den Bankenfonds zahlen zu lassen. Wir hätten den ESM nicht
gebraucht. Trotzdem ist es richtig, dass als letzte Sicherheitsmaßnahme auch der ESM für die direkte Bankenrekapitalisierung zur Verfügung steht, aber natürlich unter den gleichen Voraussetzungen, unter denen der ESM
auch Länder finanzieren kann: mit ganz strengen Sanierungsauflagen und mit ganz strengen, nachvollziehbaren
Sanierungsprogrammen. Wir sind sehr optimistisch, dass
ein solcher Fall überhaupt nicht in Kraft treten wird.
({5})
Wir haben das Gesetzgebungsverfahren ganz bewusst
- Herr Kollege Zöllmer, da sind wir uns einig - so gestaltet, dass wir abwarten können, wie sich die Europäische Kommission zur Bankenabgabe aufstellt. Wir beschließen mit diesen Gesetzentwürfen, die im Deutschen
Bundestag zu verabschieden sind, dass die Bankenabgabe auf jeden Fall größenorientiert und risikoabhängig
sein muss. Damit haben wir einen ersten Pflock eingeschlagen, kleinere, nicht risikoorientierte Banken, zum
Beispiel Genossenschaftsbanken und Sparkassen, nicht
übermäßig zu belasten. Wir werden im weiteren Gesetzgebungsverfahren abwarten, ob die Kommission ihren
Vorschlag im Oktober dieses Jahres konkretisiert. Wir
werden dann reagieren und entscheiden, wie weit wir
diese Maßnahmen im Deutschen Bundestag unterstützen
können. Der Zeitplan sieht das vor, und wir werden in
den weiteren Beratungen hierauf reagieren können.
Axel Troost hat darauf hingewiesen - ich glaube, da
sind wir uns einig -: Wir müssen uns europäisch aufstellen und die europäische Situation im Auge behalten. Deshalb kann es nicht bei jedem Einzelpunkt einen Sonderplan für Deutschland geben. Hier stehen wir alle auf
einer Seite. Kleine Banken, die nicht risikoorientiert
sind, sollen nach Möglichkeit nicht für die Bankenabgabe aufkommen müssen.
({6})
Die Bankenunion ist also auf einem guten Weg. Ich hatte
bei der Opposition nicht den Eindruck, dass es da große
Bedenken gibt.
Dass der Finanzminister keinen Glückwunsch bekommen soll, Herr Sarrazin, ist ihm, glaube ich, egal.
({7})
Gut ist, dass Sie die Bankenunion positiv dargestellt haben. Wir sind damit aber noch nicht am Ende. Wir werden nach der Bankenunion mit dem Einpflocken des
Sicherheitssystems bei Schattenbanken weitermachen
müssen. Was die Versicherungen angeht, werden wir im
Rahmen von Solvency II Maßnahmen einführen, die den
Finanzsektor sicherer machen werden. Jede einzelne dieser Maßnahmen bringt mehr Sicherheit auf den Finanzmärkten und einen größeren Schutz der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. Wir sind auf einem guten Weg,
aber natürlich noch nicht fertig. Wir sollten diesen Weg
weiter beschreiten. Dazu fordere ich Sie herzlich auf.
Danke.
({8})
Nächster Redner ist der Kollege Lothar Binding für
die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch von mir ein paar
Worte zu Sahra Wagenknecht. Sie haben gesagt: Im
ESM wird das Geld verbrannt, das hier für die Infrastruktur gebraucht wird. - Das hat uns natürlich aufmerken lassen; denn der ESM ist ja ein europäisches Konzept. In ihm ist übrigens nicht nur deutsches Geld,
sondern auch das Geld vieler anderer Länder enthalten.
Ihre Formulierung - das Geld, das hier gebraucht wird deutet in einer gewissen Weise auf Deutschland hin und
hat uns, wie gesagt, hellhörig gemacht.
Ich möchte einen komplexen, volkswirtschaftlichen
Zusammenhang anhand eines Beispiels quantifiziert darstellen, und zwar so einfach, dass man ihn gut verstehen
kann ({0})
dies zeigt auch die Schnittstelle zwischen der AfD und der
Linken, die immer mit der Vorstellung kommen, dass wir
der größte Nettozahler sind und unser Geld in Europa verlieren -: 1 Euro fließt nach Europa. Dann kommt er in
Brüssel an und ist weg. Jetzt kann man natürlich an dieser Stelle aufhören, zu denken. Aber wir denken heute
ausnahmsweise einmal weiter.
({1})
Die Spanier bekommen diesen Euro nur, wenn sie einen
zweiten Euro hinzufügen. Mit diesen beiden Euros kaufen die Spanier in Deutschland eine Straßenbaumaschine.
({2})
Beim Kauf dieser Maschine wird der eine Euro für das
Material ausgegeben und der andere Euro für die Löhne.
Die Arbeitnehmer fahren dann mit diesen Löhnen nach
Spanien in Urlaub. Jetzt merkt man plötzlich, wie sich
ein Geldkreislauf schließt.
({3})
Wenn man solche Sätze, wie Sie es getan haben, formuliert, muss man also immer schauen, dass man nicht
einem Irrtum aufsitzt, weil sich, wenn man in einem runden Modell nur weit genug nach rechts oder nach links
geht,
({4})
die Methoden verdächtig nahekommen.
({5})
Man muss sehr aufpassen, wenn man solche Sätze formuliert.
Schauen wir einmal vorsichtig, ob wir uns trotzdem
annähern können, wenn wir eine gewisse Rationalität
walten lassen. Sie wollen ja nicht, dass das Geld verbrannt wird, obwohl Sie noch gar nicht erklärt haben,
was das eigentlich bedeutet: Wer hat das Geld, wenn es
irgendwo verschwindet? Irgendjemand hat es ja.
Wir wollen, dass in der allergrößten Not zunächst einmal die Aktionäre, die auf eine Dividende gehofft haben,
verantwortlich sind. Wären wir uns da einig? Die Aktionäre sollen zahlen. Diese sind ja tendenziell ohnehin die
Bösen. Sie zahlen zuerst. Dann kommen die Gläubiger
- vorrangige und nachrangige -, die auch auf Gewinne
gehofft haben. Auf der Grundlage einer solchen Haftungskaskade ist also klar, wer welche Verantwortung trägt.
Wahrscheinlich wären wir da auch noch einig. Dann kommen die Anleger mit Einlagen über 100 000 Euro. Das
sind die, von denen wir wähnen, dass sie starke Schultern haben und ein solches Risiko eher tragen können als
die, die vielleicht ihren Spargroschen abgegeben haben.
Dann kommt der Bankenhaftungsfonds, bei dem es uns
Lothar Binding ({6})
ganz wichtig war, dass er von den Banken gespeist wird.
Ihr Zwischenruf lautete: Ja, wenn er denn mal voll ist! Das stimmt. Er soll 55 Milliarden Euro umfassen. Das
wird eine Weile dauern. Aber zumindest sind die Banken
verantwortlich dafür, 55 Milliarden Euro einzuzahlen.
55 Milliarden Euro sind ja immerhin mehr als nichts.
Dann kommen die Länder, und irgendwann kommt der
ESM ins Spiel.
Sie sagen: Dort wird unser Geld verbrannt. Das sollen
nicht die Steuerzahler übernehmen. Meine Frage: Was
schlagen Sie vor? Wer soll dieses Risiko tragen? - Sie
gestikulieren; das ist aber die falsche Bewegung. Sie
müssen sich fragen: Wer?
({7})
Wessen Geld will Frau Wagenknecht in dieser größten
Not einsetzen? Sie sagen: Ich weiß nicht, wer es bezahlen soll, aber jedenfalls nicht der Steuerzahler.
Jetzt frage ich einmal ganz ehrlich: Wer, wenn wir
nicht den Steuerzahler meinen, soll das in letzter Konsequenz zahlen? Wer ist denn dann gemeint? Vielleicht der
Sparer, dessen Geld noch im System ist? Vielleicht die
Versicherung, die der Bank ihr Geld zum Anlegen gegeben hat? Die Versicherung bekommt das Geld ja von den
Versicherungsnehmern. Ich rede immerhin von 1 400 Milliarden Euro. Oder vielleicht derjenige, der sein Geld,
das sich jetzt noch im Bankensystem findet, zur Altersvorsorge angelegt hat? Würden die dann bezahlen? Wollen Sie mir den Unterschied zwischen Steuerzahler und
Sparer noch erklären? Das wird eine komplizierte Angelegenheit.
Kollege Binding, darf die Kollegin Wagenknecht Ihnen eine Zwischenfrage stellen?
Ja, darf sie.
({0})
- Nur wenn die richtige Handbewegung gemacht wird;
das ist klar.
Handbewegungen werden hier ja etwas seltsam gedeutet. - Bevor ich die Frage stelle, sage ich noch etwas
zu Ihrem Eingangsstatement. Sie haben gesagt: Das
Geld wird ja nicht verbrannt, sondern damit kaufen
Spanier Maschinen. - Sie sollten wissen: Wenn der ESM
Banken rekapitalisiert, ob in Spanien oder irgendwo
sonst, dann werden damit Altlasten oder Spekulationsverluste abgedeckt, aber kein einziger Kredit für irgendeine Maschine bereitgestellt. Das wollte ich zunächst
einmal festhalten.
({0})
Zweitens. Wenn Sie fragen: „Wer soll es denn bezahlen?“, dann muss ich sagen, dass das eine absurde Frage
ist. Wenn ein kleiner Handwerksbetrieb oder ein Mittelständler pleitegeht, wer zahlt denn dann? Zahlt dann der
Staat? Natürlich zahlt nicht der Staat, sondern es zahlen
die Eigentümer und die Gläubiger, und zwar nicht gedeckelt auf 8 Prozent, sondern mit dem gesamten Volumen, das da ist.
Das Kernproblem ist ja - daran knüpft auch meine
Frage an, ob wir da auf einen gemeinsamen Nenner
kommen -: Solange man den Banken erlaubt, weiter so
zu spekulieren, wie sie es derzeit tun, wird sich nichts
ändern. Ich erinnere daran, dass allein die Deutsche
Bank - wir reden ja nicht nur über spanische Banken,
sondern auch über deutsche - mit einer Bilanzsumme
von etwa 2 000 Milliarden Euro und einem Eigenkapital
von 50 Milliarden Euro Derivate mit einem Nominalvolumen von 55 000 Milliarden Euro in den Büchern hat.
({1})
Diese sind natürlich nicht ausgewiesen, aber man kann
das trotzdem berechnen. Also, mit 50 Milliarden Euro
Eigenkapital wird ein riesiges Rad gedreht, in dem Derivate von 55 000 Milliarden Euro enthalten sind. Banken,
die solche absurden Geschäfte machen, haben natürlich
ein allgemeingefährliches Potenzial. Wenn Sie sagen,
dafür haften dann die Eigentümer und die Gläubiger
nicht, dann sollten Sie sich endlich einmal dafür einsetzen, dass diese Regierung das Trennbankensystem nicht
weiter aufweicht, sondern dass man die Banken verpflichtet, so viel Eigenkapital vorzuhalten, dass sie für
ihre Risiken selber haften können. Da wäre das Geld, da
ist die Verantwortung, da ist die Haftung - das ist normale Marktwirtschaft. Alles andere, was Sie erzählen, ist
Unsinn.
({2})
Es ist immer klug, wenn man nur Vergleichbares miteinander vergleicht. Eine Insolvenz ist natürlich eine Insolvenz. Aber die Insolvenz eines kleinen Handwerkers
und die Insolvenz einer Bank sind eben nicht vergleichbar, weil der Handwerker ja keiner ist, der als Geldsammelstelle, als Dienstleister fungiert, dieses Geld klug
oder dumm anzulegen. Hier handelt es sich um eine völlig andere Struktur. Die sind gar nicht miteinander vergleichbar.
Sie haben gesagt: Der Handwerker trägt das Risiko. Wer trägt denn bei der Bank das Risiko? Der Bankvorstand? - Nein. Der Bankvorstand kann das Risiko doch
gar nicht tragen, wenn er auch noch so viel verdient. Das
Risiko tragen die Einleger, die Sparer, letztlich alle die,
die ihr Geld der Bank geben. Die werden es verlieren.
Deshalb ist es klug, sich darum zu kümmern, dass das in
dieser Weise nicht passiert, dass wir eine geordnete Haftungskaskade haben und dass der Bürger, der Sparer, der
Steuerzahler zuallerletzt kommt. Alle die, die sich von
dieser Bank Gewinne versprochen haben, sollen dann
auch das Risiko tragen. So gehören Haftung und Risiko
zusammen.
Lothar Binding ({0})
Gleichwohl will ich Ihnen konzedieren, dass wir natürlich regulieren müssen. Wir haben in der Regulierung
auch Fehler gemacht. Es ist auch noch nicht alles reguliert. Ich würde sogar sagen, Bankenregulierung ist ein
andauernder Prozess, vielleicht sogar ein Prozess, in
dem man permanent dazulernen muss. Aber dieser Aufgabe müssen wir uns stellen. Deshalb ist es wichtig, zu
sagen, was man will, und nicht nur zu sagen, was man
nicht will. Diesen Schritt haben Sie leider noch nicht gehen können, aber ich denke, wir sind gemeinsam auf einem guten Weg, oder?
({1})
Wenn wir ganz ehrlich sind, glaube ich, müssen wir
sagen, dass vor zwei Jahren keiner von uns gedacht
hätte, dass wir mit unserer Regulierung so weit kommen
würden. Auch diese Regulierung, auch dieser Abwicklungsmechanismus, ist noch nicht perfekt. Das ist völlig
klar. Gerhard Schick hat doch einen ganz guten Vorschlag gemacht, den man sogar hätte verfolgen können.
Aber er hat ihn gemacht, ohne die Franzosen zu fragen,
ohne die Italiener zu fragen, ohne die Spanier zu fragen.
Die sind nicht dieser Meinung, dass wir das machen
können. Wenn man aber in Europa etwas machen will,
ist man leider darauf angewiesen, dass andere mittun.
Das ist im Moment noch nicht so weit, aber wir können
gemeinsam - auch parlamentarisch - die anderen Länder
überzeugen. Dann könnten wir vielleicht eines Tages
diesen Weg gehen.
Vor zehn Jahren hätte ich mir auch nicht vorstellen
können, dass wir so weit gehen müssen. Ich glaube, die
meisten, die hier sitzen, müssen sich eingestehen, wenn
sie ehrlich reflektieren, was vor zehn Jahren war, dass
keiner eine Vorstellung von der Dimension dessen hatte,
was heute passiert und passieren muss.
Wenn wir heute über die Banken reden, reden wir eigentlich über eine Funktion, die letztlich der Realwirtschaft dient. Manfred Zöllmer und Carsten Schneider
haben darauf hingewiesen: Eigentlich geht es darum,
dass die Menschen in Europa wieder Arbeit finden, dass
wir wieder investieren, und zwar nicht nur in Deutschland, sondern eben in ganz Europa. Wenn man mit Amerikanern spricht, dann hört man, dass die eine ganz andere Erwartung an Deutschland haben. Die sagen auch:
Ihr müsst mehr investieren. Ihr mit eurer Schuldenpanik,
das ist ein schwerer Fehler. Es kommt sofort das Wort
„Austerität“. Sie sagen: Das ist die falsche Richtung. Ich meine auch, dass das die falsche Richtung ist. Also,
da müssen wir sicherlich noch sehr viel mehr überlegen.
Gleichwohl: Mit dem, was wir heute machen, um das
Bankensystem zu retten, schaffen wir etwas Wichtiges
für den Erhalt der Dienstleistungsfunktion der Banken,
der Realwirtschaft zu dienen und letztlich auch das Einkommen der Familien zu sichern; denn ohne Arbeit kein
Einkommen, ohne Einkommen keine Binnennachfrage,
ohne Binnennachfrage keine Wirtschaftsdynamik. Vom
Export können wir nur so lange leben, wie diejenigen,
die importieren, unsere Nachbarn, reich genug sind.
Also, wir merken: Es ist immer der gesamte Kreislauf
in den Blick zu nehmen. Deshalb ist es wichtig, dass wir
hier sehr viel mehr machen. Deshalb wollen wir einen
funktionierenden Bankensektor. Wir wollen so weit gehen, dass wir nicht nur eine Aufsicht haben; denn das
Aufsichtsregime allein ist ohne Abwicklungsregime ein
stumpfes Schwert. Über dieses Abwicklungsregime reden wir heute. Da sind wir mit dem jetzt vorgeschlagenen Modell und der Haftungskaskade auf einem sehr guten Weg. Ich bin gespannt, ob wir in zwei Jahren sagen
können: Wir haben ein seriöses Bankensystem und eine
prosperierende Wirtschaft.
Schönen Dank.
({2})
Das Wort erhält nun der Kollege Norbert Barthle für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Ich glaube, diese heutige Debatte
zur europäischen Bankenunion ist eine gute Gelegenheit
- das zeigen die Reden der Vorredner -, um uns noch
einmal zu vergewissern, wo wir in Europa eigentlich stehen; denn gerade die jüngsten Debatten und auch die
Auseinandersetzung zwischen Lothar Binding und Sahra
Wagenknecht zeigen doch, dass es immer noch EuroSkeptiker gibt, die versuchen, mit dieser Euro-Skepsis
am linken oder rechten Rand des Parteienspektrums
Stimmen zu fischen.
({0})
Zu beobachten, ob sich beide irgendwo treffen, ist schon
ein spannendes Momentum.
({1})
Wenn man sich die Situation vor Augen führt, muss
man doch feststellen: Deutschland steht gut da. Auch
Europa steht deutlich besser da, als es noch vor zwei
Jahren von vielen vermutet wurde. Es ist noch nicht so
lange her, da wurde uns von ernst zu nehmenden Ökonomen vorhergesagt, dass es keine zwei oder drei Jahre
mehr dauern würde, bis der Euro weg sei, zerbröselt und
als unsere gemeinsame Währung zu Grabe getragen werden müsse. Wo sind diese klugen Redner heute? Ich bin
froh, sie nicht mehr sehen und hören zu müssen.
Unsere Stabilisierungspolitik hat gewirkt, und sie
wirkt weiter. Die Hilfsprogramme für Spanien, für Irland
und für Portugal laufen ordnungsgemäß aus. Irland zahlt
bereits Kredite zurück; auch das ist ein Argument für unsere Politik. Es wurde immer gesagt, diese Kredite seien
verlorenes Geld. Sie werden bereits zurückgezahlt. Griechenland und Zypern sind zwar noch unter dem Rettungsschirm, aber in beiden Ländern geht es voran.
Kein Mensch redet mehr von einem dritten Hilfsprogramm für Griechenland. Herr Samaras, der diese Woche bei Angela Merkel zu Besuch war, sagt selbst: Auch
in Griechenland will niemand mehr ein drittes Hilfsprogramm. - Frau Wagenknecht, lesen Sie einmal Ihre Reden nach. Dann werden Sie feststellen: Auch Sie haben
an dieser Stelle geirrt. Griechenland begibt bereits zehnjährige Anleihen an den Finanzmärkten, die mit weniger
als 5 Prozent rentieren. Das heißt, das Vertrauen der Kapitalmärkte in den Euro ist Schritt für Schritt zurückgekehrt.
Das ist ein Erfolg unserer Hilfsprogramme, die wir
teilweise wirklich in hohem Tempo, im Schweinsgalopp
durch dieses Parlament gejagt haben. Aber aus dieser
akuten Hilfe ist nach und nach eine neue Stabilitätsarchitektur in Europa entstanden, deren Pfeiler bereits benannt wurden: Der Fiskalvertrag steht. Der Stabilitätsund Wachstumspakt wurde ausdifferenziert und durch
Sixpack und Twopack verbessert. Der ESM steht im
Rahmen von Notprogrammen zur Verfügung. Jetzt regeln wir noch die Bankenunion. Damit haben wir die
notwendigen Pfeiler errichtet, um dieses europäische
Haus wirklich mit neuem Leben zu erfüllen.
Wir haben eine neue Stabilitätsarchitektur geschaffen,
die dabei hilft, dieses Haus, lieber Kollege Ralph
Brinkhaus - ich möchte dieses Bild noch einmal aufgreifen -, mit Leben zu erfüllen. Dafür brauchen wir eine
neue Stabilitätskultur in Europa. Diese neue Stabilitätskultur neben der Regulierung der Finanzmärkte vermisse
ich noch etwas.
Mit dem Reformeifer und dem Reformwillen ist es in
einigen Ländern noch nicht ganz so bestellt, wie man
sich das wünscht. Ich erinnere mich da immer an die Geschichte von dem Möbelpacker, der seinem Freund erzählt, wie furchtbar anstrengend sein Beruf mit der
Möbelschlepperei sei. Als der Freund fragt: „Wie lange
machst du das denn schon?“, ist die Antwort: Morgen
fange ich an. - Mit den Reformen in Europa scheint das
ähnlich zu sein.
({2})
Um noch einmal darauf zurückzukommen: Diese Stabilitätskultur setzt voraus, dass wir nicht kurzfristige
schuldenfinanzierte Impulse setzen, weder aus dem
ESM noch sonst wo her; denn es hat sich herausgestellt,
dass das der falsche Weg ist. Deshalb bin ich sehr froh,
dass der Finanzminister klar und deutlich gesagt hat: Der
ESM steht nicht für kurzfristige Wachstumsprogramme
zur Verfügung.
({3})
Das Geld liegt dort und ist für andere Zwecke vorgesehen, und dort liegt es auch gut und soll dort liegen bleiben.
({4})
Nun reden wir über zwei neue Instrumente innerhalb
der Bankenunion. Das eine ist das Instrument der Bankenrekapitalisierung, das im Instrumentenkasten des
ESM Platz finden soll. Dieses Instrument ist nicht ungefährlich. Darauf haben auch meine Vorredner hingewiesen. Man muss vorsichtig damit umgehen. Es ist gut,
dass es als letzte Option bzw. als Backstop gehandhabt
wird. Denn wäre es nicht vorhanden, dann entstünde tatsächlich die Situation, dass - Lothar Binding hat darauf
hingewiesen - letztendlich der Staat bzw. die Steuerzahler für die Rekapitalisierung einer Bank einstehen müssten. Das ist ein nicht akzeptabler Weg, den wir vermeiden wollen.
Deshalb ist es gut, dass uns dieses Instrument zur Verfügung steht, aber eben nur als letzte Option für den
Rückgriff oder sozusagen als letzter im Einzelfall notwendiger Backstop.
Was das zweite Instrument angeht, das wir einführen,
muss man die Aussage der Frau Wagenknecht korrigieren. Wir werden das Ganze mit einer umfangreichen Parlamentsbeteiligung ausgestalten. Es wird nichts im Hinterzimmer gemauschelt und an der Öffentlichkeit vorbei
gemacht, sondern das wird ganz offen im Deutschen
Bundestag ausgehandelt.
({5})
Denn der vorliegende Gesetzentwurf sieht folgende
Konstruktion vor: Wenn das Instrument der direkten
Bankenrekapitalisierung jemals zum Einsatz kommen
sollte, dann müsste das Plenum des Deutschen Bundestages immer vorher zustimmen, und die dafür notwendigen Informationen, um diese Zustimmung zu erreichen,
liegen dann allen - auch Ihnen - vor. Das ist auch im Gesetzentwurf unstrittig.
Wir müssen allerdings noch im Detail regeln, wie wir
mit streng vertraulichen Daten umgehen. Dafür ist bisher
das Sondergremium vorgesehen. Wir werden Wege,
Möglichkeiten und Lösungen finden, um auch diesen
Weg so auszugestalten, dass er vor den Richtern in
Karlsruhe Bestand haben wird. Davon bin ich überzeugt.
Das wird das Beratungsverfahren zu diesem Gesetz noch
ergeben.
Insofern geschieht nichts hinter verschlossenen Türen, sondern immer in der Verantwortung des Deutschen
Bundestages. Damit ist auch an der Stelle gewährleistet,
dass die in diesem Bereich weit ausgestalteten parlamentarischen Beteiligungsrechte Bestand haben und auch in
der Frage einer direkten Rekapitalisierung von Banken
oder einer Bank aus dem ESM angewandt werden können.
Wenn ich das zusammenfasse, dann haben wir mit all
den Maßnahmen - den vier Pfeilern, die ich beschrieben
habe - etwas erreicht, was die Voraussetzung für neues
Vertrauen in Europa und in unsere Währung und damit
die Voraussetzung für Wachstum, Beschäftigung und
Wohlergehen schafft.
Ich bedanke mich.
({6})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Radwan für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute das
Thema Bankenunion, und die Bankenunion ist der logische letzte Schritt auf einem Weg, der mit der Einführung des Euros und der Kreierung des Binnenmarkts
1999 - damals ist es losgegangen, vor der Finanzmarktkrise - begonnen hat. Jetzt folgt die Bankenunion, bei
der die europäische Aufsicht ein Kernelement ist.
Die europäische Aufsicht der Europäischen Zentralbank startet am 4. November dieses Jahres. Sie bereitet
jetzt mit Stresstests die Daten vor, damit sie bereits am
Anfang effektiv arbeiten kann und genau weiß, wo die
Risiken sind. In einem europäischen Binnenmarkt mit
grenzüberschreitend tätigen Banken und grenzüberschreitendem Handel mit Produkten ist es wichtig, dass
wir dies auch auf europäischer Ebene verfolgen können.
Darum ist dieser Schritt nicht nur überfällig, sondern
auch sehr zu begrüßen.
Wir müssen dann in der Praxis auf europäischer
Ebene genau hinschauen. Es gibt den Zielkonflikt zwischen Aufsicht und Geldpolitik, den Minister Schäuble
angesprochen hat. Wir müssen im Blick behalten, welche Modelle die Europäische Zentralbank anwendet, und
darauf achten, dass mehr auf Qualität als auf Quantität
geachtet wird. Wir müssen bei den Vorgaben aus den
Thinktanks darauf achten, dass sie nicht zu stark angelsächsisch geprägt sind.
Wir werden im Deutschen Bundestag diesen Prozess
entsprechend kritisch begleiten müssen. Ich hoffe, dass
die Vertreter der BaFin und der Bundesbank dies genauso tun.
Neben der Aufsicht stellt die bereits mehrfach angesprochene Haftungskaskade eine Neuerung dar. Neu ist
ebenfalls der Bail-in. Das heißt, Gläubiger und Eigentümer werden im entsprechenden Fall herangezogen. Wir
richten einen Fonds ein, dessen Gesamtvolumen 1 Prozent der gedeckten Einlagen entspricht und sich schließlich auf 55 Milliarden Euro belaufen soll; das ist zu begrüßen. Aber wir werden darauf achten müssen, wer
diesen Fonds in welcher Form weiterentwickeln kann
und wer dafür die Verantwortung hat.
Im Mittelpunkt unserer Diskussion steht die Bankenabgabe. Die Europäische Kommission wird entsprechende Vorschläge unterbreiten. Ich kann mich nur all
denjenigen Rednern anschließen, die gesagt haben, dass
sie das IGA nur dann ratifizieren, wenn sie genau wissen, um welche Summen es hier geht, und wenn sichergestellt wird, dass insbesondere diejenigen, die an der
Finanzmarktkrise nicht primär schuld sind wie Kleinbanken und Regionalbanken, nicht in Mitleidenschaft
gezogen werden. Diese haben schließlich zusätzliche
Leistungen bei den Aufsichtsvergütungen zu erbringen.
Obwohl sie auf nationaler Ebene beaufsichtigt werden,
müssen sie einen Beitrag zur EZB leisten. Die Lasten für
kleine Banken kumulieren sich also. Hier müssen wir
darauf achten, dass der Rahmen entsprechend der Risiken so gesteckt wird, dass es nicht zu einer Überlastung
kommt. Die nun zur Diskussion stehende Grenze in
Höhe von 300 Millionen Euro halte ich für zu niedrig.
Es ist positiv, dass die Institutssicherung auf europäischer Ebene zumindest vom Grundsatz her akzeptiert
wird. Das war ein harter Kampf; denn es musste zuerst
erklärt werden, was Institutssicherung bedeutet. Ich
danke Ihnen, Herr Minister Schäuble, dass das entsprechend vorangetrieben wird. Wir sollten unsere Kollegen
im Europäischen Parlament, die hier bereits vorstellig
werden, unterstützen, indem wir unser Votum im Hinblick auf das weitere Vorgehen genau abstimmen.
({0})
Bei den nun anstehenden Beratungen werden wir den
Spielraum, den uns Europa gibt, kreativ nutzen. Ich gehöre zu denjenigen, die sich nicht zu sehr anleinen lassen
möchten. Wir werden intensiv über die nationalen Vorgaben betreffend das Trennbankensystem, die Rolle der
BaFin und der Bundesbank sowie die Rechtsformen bei
der Abwicklung der Institute debattieren müssen. Dann
werden wir beobachten, ob sich das alles in der Praxis
bewährt. Den von mir bereits angedeuteten Kampf und
die Diskussion um das Drei-Säulen-Modell erleben wir
nun bei der EZB in puncto Aufsicht. Das werden wir
auch in den nächsten Jahren bei der weiteren Gesetzgebung in Bezug auf die Regulierung erleben; Antje
Tillmann hat in diesem Zusammenhang schon einiges
angesprochen. Mir ist besonders wichtig, dass wir als
Parlament darum kämpfen, unseren parlamentarischen
Einfluss im Zusammenhang mit dem Komitologieverfahren auf Level 2, wo BaFin und Bundesbank unsere
Vertreter sind, zu behalten. Hier ist das Selbstverständnis
des Deutschen Bundestages gefordert.
Der Deutsche Bundestag muss klarmachen, dass es
darum geht, europäisches Recht durchzusetzen. Ich bin
ein wenig verwundert über die Reden der Oppositionsvertreter in diesem Zusammenhang. Frau Wagenknecht,
wir waren gemeinsam fünf Jahre in Brüssel. Wir haben
uns zwar nicht so oft gesehen, obwohl wir im gleichen
Ausschuss waren. Aber Sie kennen zumindest die Mechanismen auf europäischer Ebene.
({1})
Herr Schick, das, was Sie heute an die Adresse von Herrn
Schäuble gesagt haben, kann ich nur so deuten: Entweder
haben Sie Frust über die erfolgreiche Politik der Bundesregierung in Brüssel - dann würde ich das noch verstehen -, oder Sie sind der Meinung - weil Herrn Minister
Schäuble ständig vorgeworfen wird, er sei auf Griechen
und Portugiesen nicht ausreichend eingegangen -, dass es
am besten gewesen wäre, wenn wir die Blaupausen von
Griechenland und Portugal übernommen hätten.
({2})
Aber dann hätten wir die deutsche Position nicht entsprechend zur Geltung gebracht und nicht dafür gesorgt,
dass die deutsche Stabilitätspolitik im Währungsbereich
und bei der Finanzmarktaufsicht europäisiert wird. Das
ist uns nun gelungen, und das werden wir weiterhin umsetzen.
({3})
Nur dann, wenn Europa und die Mitgliedstaaten zu einer entsprechenden Disziplinierung und Stabilitätspolitik kommen - das ist nicht in Ihrem Sinn; Sie wollen auf
europäischer Ebene nicht sparen -, wird es möglich
sein, die Europäische Zentralbank in ihrer Verantwortung für die Zinspolitik und die Aufkäufe von Anleihen
- das ABS-Programm sehen wir sehr kritisch - zu entlasten. Die Politik muss die Verantwortung übernehmen und darf sie nicht bei der EZB abladen. Das ist ein
gutes Werk, um andere Staaten in die Verantwortung zu
nehmen. Herzlichen Dank an die Bundesregierung und
viel Erfolg bei der Umsetzung!
Besten Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 18/2575, 18/2626, 18/2576, 18/2627,
18/2577, 18/2629, 18/2580 und 18/2628 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Hat dagegen irgendjemand Einwände? - Das ist offen-
sichtlich nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b sowie
die Zusatzpunkte 2 und 3 auf:
4 a) Beratung der Antwort der Bundesregierung
auf die Große Anfrage der Abgeordneten
Klaus Ernst, Thomas Nord, Herbert Behrens,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Soziale, ökologische, ökonomische und
politische Effekte des EU-USA-Freihan-
delsabkommens
Drucksachen 18/432, 18/2100
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Klaus Ernst, Thomas Nord, Wolfgang
Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Freihandelsabkommen zwischen der EU
und Kanada CETA zurückweisen
Drucksache 18/2604
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Katharina Dröge, Bärbel Höhn, Renate Künast,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Keine Klageprivilegien für Konzerne CETA-Vertragsentwurf ablehnen
Drucksache 18/2620
ZP 3 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Energie ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Katharina Dröge, Katja Keul, Bärbel
Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für fairen Handel ohne Klageprivilegien für
Konzerne
Drucksachen 18/1458, 18/2646
Die Fraktion Die Linke hat zu der Antwort der Bundesregierung auf ihre Große Anfrage zwei Entschließungsanträge eingebracht, über die wir später namentlich abstimmen werden. Auch über die Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Wirtschaft und Energie wird am Schluss
dieser Debatte namentlich abgestimmt. Diese drei namentlichen Abstimmungen werden unmittelbar aufeinander folgen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist auch
für diese Aussprache eine Gesamtzeit von 96 Minuten
vorgesehen. - Dazu besteht offensichtlich Einvernehmen. Also können wir so verfahren.
Ich erteile dem Kollegen Klaus Ernst für die Fraktion
Die Linke das Wort.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es ist gut, dass wir heute hier noch einmal über
die Handelsabkommen reden können. Es ist ebenfalls
gut, dass in der Öffentlichkeit darüber eine sehr kritische
Diskussion stattfindet. Viele Fragen sind ungeklärt.
Wir haben eine Große Anfrage an die Bundesregierung gerichtet und zum Beispiel gefragt: Warum werden
die Verhandlungen hinter dem Rücken der Menschen
geführt? Was haben die Verhandler eigentlich zu verbergen? Zweitens: Warum soll ein besonderes Konzernklagerecht an den nationalen Gerichtsbarkeiten vorbei eingeführt werden?
({0})
- Was daran so lächerlich ist, kann ich mir nicht vorstellen, Herr Pfeiffer. Die Position, die Sie hier vertreten, ist
die des Bundesverbands der Deutschen Industrie. Insofern kenne ich Ihre Argumente sehr gut.
({1})
Es besteht die Gefahr, dass es zu Absenkungen von
demokratisch beschlossenen Standards vom Arbeitsschutz bis zum Verbraucherschutz kommt. Wir wollten
Klarheit. Die Antwort der Bundesregierung fiel dagegen
eher klein aus, und unsere Befürchtungen sind durch die
Realität bestätigt worden.
({2})
Zwei Beispiele: Wir fragten, was die Bundesregierung unternimmt, um Transparenz herzustellen. Die AntKlaus Ernst
wort war, die Bundesregierung setze sich dafür ein.
Nach wie vor sind aber nicht einmal die Verhandlungsmandate, also die Zielsetzung, was überhaupt verhandelt
wird, der Öffentlichkeit bekannt. Ist das unser Verständnis von Transparenz? Die Regierung verweist auf die
Notwendigkeit eines einstimmigen Ratsbeschlusses,
wenn man das ändern wolle. Wenn unsere Bundesregierung wirklich mehr Transparenz will, wann hat sie dann
einen solchen Beschluss beantragt, und wann wurde er
abgelehnt? Ist es nicht schon unglaublich, dass wir über
das Ganze im Unklaren gelassen werden? Bezogen auf
CETA weiß die Öffentlichkeit nicht einmal, was das
Mandat der Europäischen Union ist.
Zweites Beispiel: Hauptziel der Verhandlungen soll
der Abbau nichttarifärer Handelshemmnisse sein. Auf
die Frage, was denn nichttarifäre Handelshemmnisse eigentlich seien, bekamen wir die Antwort, es gebe keine
Definition. Wenn es gar keine Definition gibt, woher
nimmt die Bundesregierung dann eigentlich ihre Sicherheit, dass Arbeitsschutzvorschriften und Arbeitnehmerschutzrechte keine nichttarifären Handelshemmnisse
sind und diese somit nicht betroffen sind? So geht es in
der Antwort der Bundesregierung von Seite zu Seite.
Aber es gibt etwas anderes, etwas Erhellendes, das
zeigt, worum es wirklich geht. Das ist der Text des Handelsabkommens mit Kanada, CETA, der inzwischen vorliegt, natürlich auch geheim, nicht für die Öffentlichkeit,
inzwischen aber Gott sei Dank im Netz veröffentlicht.
Da kann man nachlesen, was wirklich ausgehandelt worden ist.
Dieses Abkommen CETA ist deshalb so wichtig, weil
es die Blaupause für das Abkommen mit den USA sein
wird. Wer heute die Süddeutsche Zeitung gelesen hat,
weiß, dass De Gucht, also der zuständige EU-Kommissar, das auch explizit so sieht. Er sagt: TTIP beruht letztendlich auf dem Abkommen CETA. - Was ist also in
CETA drin, und was ist nicht drin?
Obwohl uns die Bundesregierung in der Antwort auf
die Große Anfrage und auch sonst versichert, ein besonderer Schutz von Investoren durch besondere private
Schiedsgerichte sei nicht notwendig, sie wolle das nicht,
ist er im CETA-Abkommen drin. Die Süddeutsche Zeitung zitiert aus einem internen Gesprächsprotokoll aus
Brüssel. Danach haben die Vertreter Deutschlands erklärt, dass Deutschland die Kapitel zum Investitionsschutz in der vorliegenden Textfassung nicht für zustimmungsfähig hält.
Meine Damen und Herren, das scheint die EU aber
nicht besonders zu interessieren. Schlagen Sie heute einmal die Süddeutsche Zeitung auf und schauen Sie nach,
was De Gucht da sagt! Er sagt letztendlich, dass ihn
überhaupt nicht interessiert, welche Position wir hier haben. Er erklärt: Wenn wir die Verhandlungen über CETA
wieder neu öffnen, ist das Abkommen tot. - Er lehnt jede
Veränderung an dem Abkommen ab - jede Veränderung!
Im Gegensatz zum Investorenschutz, der enthalten ist,
sind nicht einmal die ILO-Kernarbeitsnormen als Grundlage zur Regelung der Arbeitsbeziehungen aufgenommen. Kanada hat nämlich die ILO-Bestimmungen nicht
vollständig übernommen. Aber es soll ja nicht zum Abbau von Standards im Bereich der Arbeitsregelungen
kommen. - Die Liste ließe sich noch lange fortsetzen.
Übrigens ist nach wie vor auch die Frage offen, ob
wir hier zustimmen müssen, dürfen, können, wenn solche Abkommen abgeschlossen werden. Die Europäische
Union hat hier eine ganz andere Position als die Bundesregierung.
Auch in den Reihen der SPD wird der Widerstand immer größer; das ist schön. Es freut mich natürlich, dass
deshalb ein Parteikonvent der SPD beschlossen hat, dass
diesen Abkommen einige Giftzähne gezogen werden
sollen. Ich halte es für vollkommen richtig, dass man
diese Giftzähne zieht. Dieser Beschluss Ihres Parteikonvents nützt aber nichts, wenn er ein Parteibeschluss
bleibt. Wenn er wirklich Wirksamkeit entfalten soll,
muss das Beschlusslage in diesem Parlament werden.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn das gelingt, dann haben Sie etwas Vernünftiges hingekriegt.
({3})
Meine Damen und Herren, was haben Sie in Ihrem
Beschluss festgelegt? Sie haben festgelegt: kein Investorenschutz und keine privaten Schiedsgerichte in diesen
Abkommen. Sie haben festgelegt: Die ILO-Arbeitsnormen müssen Grundlage sein. Sie haben festgelegt: öffentliche Daseinsvorsorge, parlamentarische Hoheit über
die Regelung von Standards usw.
({4})
Genau diesen Beschluss müssen wir hier fassen, wenn
man das Schlimmste verhindern will. Ich bin gespannt
- das sage ich, weil ich gerade Ihre Zwischenrufe höre -,
ob Sie Ihren Parteibeschluss wirklich ernst nehmen oder
ob das, was Sie auf Ihrem Parteikonvent beschlossen haben, eine Luftnummer war. Wenn Sie das wirklich ernst
meinen, dann beschließen Sie es hier und nicht nur auf
einem Parteikonvent!
({5})
Ihr Beschluss heißt in aller Klarheit, dass das CETAAbkommen in der jetzigen Form abgelehnt werden
muss. Ihre Anforderungen und Ihre Haltelinien sind genau nicht enthalten.
({6})
Wenn De Gucht sagt: „Das ist nicht mehr veränderbar“,
das aber nicht enthalten ist, dann bleibt doch von der Logik her gar nichts anderes übrig,
({7})
als diese Geschichten abzulehnen.
Morgen schon soll auf dem EU-Kanada-Gipfel das
Ende der CETA-Verhandlungen verkündet werden.
CETA hat Präjudizwirkung; ich habe es bereits gesagt.
Glauben Sie wirklich, dass sich die Amerikaner mit weniger abspeisen lassen, als Sie mit Kanada vereinbart haben? Wenn Sie das, was Sie selber der Öffentlichkeit
verkünden in der Frage, was Sie wollen, und auf einem
Parteikonvent beschließen, hier ablehnen, dann machen
Sie sich so vollständig unglaubwürdig; schlimmer kann
man es sich eigentlich gar nicht vorstellen.
({8})
Ich möchte noch eine kurze Bemerkung zu dem Gutachten machen, Sigmar Gabriel, das von Ihrem Hause
veröffentlicht wurde, nämlich zu der Wirksamkeit und
Notwendigkeit dieser Schiedsverfahren. Wir haben das
einmal recherchiert. Es ist schon merkwürdig, dass der
Gutachter, der dieses Gutachten gemacht hat, selbst
Schiedsrichter bei internationalen Schiedsverfahren ist.
Wenn jemand als Gutachter sozusagen vor der Frage
steht: „Führe ich mich selber ad absurdum, oder sage
ich, dass ich notwendig bin?“, dann weiß man doch, was
herauskommt.
({9})
Was das soll, das versteht doch kein Mensch.
Jetzt möchte ich Ihnen noch ein Zitat des Gutachters
mitgeben und von Ihnen wissen, ob Sie das teilen. Der
Gutachter sagt: Bedenken gegen die Investitionsschutzrechte gibt es nicht.
Weiter sagt er: Schiedsgerichte sprechen Recht im
Namen der Parteien und nicht im Namen der Völker und
Bürger. - Das sei der Vorteil.
Weiter sagt er: Schiedsgerichte setzen Recht, indem
sie normative Erwartungen generieren und stabilisieren.
Damit üben sie ebenso wie internationale und nationale
Gerichte öffentliche Gewalt aus.
Meine Damen und Herren, ich möchte, dass öffentliche Gewalt von öffentlichen Gremien ausgeübt wird,
aber nicht privatisiert wird, was offensichtlich Ihr Gutachter will. Lehnen Sie diese Geschichte ab. Dann machen Sie etwas Vernünftiges.
({10})
Danke, Herr Kollege Ernst.
Ich wünsche Ihnen allen und auch den Gästen auf der
Tribüne einen schönen guten Morgen.
Nächster Redner ist Bundesminister Sigmar Gabriel.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zunächst möchte ich klären, was das für ein Gutachter war.
Er ist ein Vertreter des Max-Planck-Instituts, der im Ergebnis dazu kommt, Herr Klaus, dass das Schiedsgerichtsverfahren - ({0})
- Herr Ernst. Sorry. Sonst duze ich dich ja immer, Klaus.
Du darfst mich demnächst mit „Herr Sigmar“ anreden.
({1})
Kollege Ernst, der Gutachter sagt, der Investitionsschutz im europäisch-kanadischen Abkommen CETA sei
so schlecht, dass er den kanadischen Investoren empfehle,
sich lieber auf den deutschen Rechtsweg zu begeben, als
auf das Schiedsgerichtsverfahren zurückzugreifen. Das
sagt jemand, der in solchen Schiedsgerichtsverfahren
vertreten ist und im Übrigen als Wissenschaftler des
Max-Planck-Instituts unumstritten ist. Deswegen bitte
ich Sie, vollständig vorzutragen und nicht nur das, was
der Legende, die Sie stricken wollen, entspricht.
({2})
Meine Damen und Herren, 125 detaillierte Fragen hat
die Fraktion Die Linke gestellt. Diese haben wir nach
bestem Wissen und Gewissen beantwortet. Ich frage
mich allerdings - das will ich gleich am Anfang meiner
Rede an einigen Beispielen aus Ihrer Rede nachweisen -,
ob Sie wirklich ein Interesse an der Sache haben oder ob
das alles nur eine Showveranstaltung ist.
({3})
Herr Kollege Ernst, Sie fragen, an welchem Tag denn
nun die Bundesregierung ihr prinzipielles Problem mit
dem Investor-Staat-Schiedsverfahren deutlich gemacht
habe und wann wir für die Veröffentlichung des Mandats
eingetreten seien. Sie haben gesagt, wir würden von
Transparenz reden, aber gar nicht dafür Sorge tragen.
Ich sage Ihnen das. In der Sitzung des Ausschusses
der Ständigen Vertreter am 15. Mai hat die Bundesrepublik Deutschland die Veröffentlichung des Mandats beantragt. Im Übrigen wäre es albern, es nicht zu veröffentlichen; denn es steht längst im Internet. Warum man
das vorher nicht gemacht hat, hat uns nicht überzeugt.
Wir haben das aber nicht hinbekommen, weil dies eines
einstimmigen Beschlusses bedarf und elf Mitgliedstaaten der Europäischen Union dagegen gestimmt haben.
Tun Sie doch bitte nicht so. Sie versuchen, uns in die
Ecke zu drängen, wir redeten öffentlich anders, als wir
tatsächlich handelten.
({4})
Ich werde nachher nachweisen, warum jeder hier im
Saal guten Gewissens Ihren Antrag ablehnen kann. Bereiten Sie sich schon einmal auf eine schwierige Lage
vor; denn das, was Sie fordern, haben wir längst getan.
Auch das werde ich Ihnen nachher vorlesen.
Meine Damen und Herren, nach meinem Eindruck ist
die Oppositionsfraktion Die Linke an einem transatlantiBundesminister Sigmar Gabriel
schen Freihandelsabkommen ohnehin nicht interessiert.
Dabei ist es vollkommen egal, was wir aushandeln.
({5})
Das Ganze passt Ihnen weder in Bezug auf die Freiheit des Handels, noch passt es Ihnen in Richtung eines
transatlantischen Bündnisses. Es ist ganz egal, was wir
verhandeln. Am Ende werden Sie gegen jedes Abkommen sein; denn Sie wollen weder das eine noch das andere.
Im Grunde heißt Ihre Parole: Schotten dicht. - Das ist
aber keine Parole, die wir für unser Land, für Europa und
für den Welthandel als sinnvoll erachten. Im Gegenteil,
das wäre ein Schritt zurück in Richtung Nationalismus
und Provinzialismus.
({6})
- Anders als bei der Rede des Kollegen Ernst ist es bei
meiner Rede ruhig. Jetzt sind Sie aber ganz aufgeregt
- das verstehe ich -, weil Sie sich scheinbar getroffen
fühlen.
({7})
Sie behaupten doch, Arbeitnehmerinteressen zu vertreten. In unserem Land und in Europa arbeiten Millionen Menschen in der Industrie und im Dienstleistungsbereich, die auf Freihandel angewiesen sind.
({8})
Hunderttausende von Menschen arbeiten in mittelständischen Unternehmen, für die es heute sehr schwer ist,
zum Beispiel auf dem nordamerikanischen Markt Fuß zu
fassen und die dort kaum eine Chance haben.
Sie sind natürlich dagegen, weil sie den Leuten den
Eindruck vermitteln, dass es besser ist, national geschützt zu bleiben. Übrigens: Wer sich noch einmal daran erinnert, wie Ihre Fraktion über Europa hergezogen
ist, hat eine Vorstellung vom nationalstaatlichen Denken,
dem Protektionismus, der bei Ihnen zu Hause ist.
({9})
Sie sind mit dieser Position eine richtige Jobkillerpartei
in Deutschland.
({10})
Herr Gabriel, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder
Bemerkung der Kollegin Binder?
Gerne.
Gut.
Herr Kollege Gabriel, ich bitte Sie, zur Kenntnis zu
nehmen, dass meine Fraktion sehr wohl Kritik an der
Politik der EU äußert, aber keinesfalls gegen Europa
aufgestellt ist.
({0})
Wir verstehen uns als Internationalisten. Wir möchten, dass die Menschen in diesem Europa etwas zu melden haben. Unser Kritikpunkt ist die Politik, die über die
EU geführt wird. Das ist Wirtschaftspolitik. Da hat weder Soziales noch Arbeit bisher Einzug gehalten.
({1})
Würden Sie bitte stehen bleiben? Das gehört sich so,
wenn der Herr Minister antwortet.
Ich versuche, aus Ihren Ausführungen eine Frage zu
destillieren. Aus Ihrer Partei wurde ein Programmentwurf für die Europawahl vorgelegt, in dem Sie sich massiv gegen Europa gestellt haben. Als die Europäische
Union den Friedensnobelpreis bekommen hat, kam aus
Ihrer Partei die Behauptung, die Europäische Union sei
ein Kriegstreiber. Aus Ihrer Partei kamen Vorschläge,
den Euro aufzulösen und ganz Südeuropa damit in die
Katastrophe zu schicken.
({0})
Es liegt auf einer Linie, dass Sie den Menschen etwas
über die Notwendigkeit von Europäisierung und Internationalität vormachen. Hinter dem Vorhang treffen Sie
sich bei dieser Frage mit der AfD. So läuft das bei Ihnen.
({1})
Mit dem stolzen Internationalismus der Arbeiterbewegung hat das jedenfalls nichts zu tun. Dann halten sie
Sonntagsreden: Wir brauchen Regeln für die Globalisierung! - Beim ersten Versuch, mit dem Mutterland der
Globalisierung Regeln zu verhandeln, fordern Sie gleich
den Abbruch der Verhandlungen. Wenn wir dem folgen,
wäre nur meine Bitte: Nie wieder eine Rede über Globalisierungsregeln. Sie haben doch gar nicht den Mut, sich
auf Verhandlungen einzulassen. Sie wollen sie lieber
vorher abbrechen, damit Sie nicht in öffentliche Erklärungsnot kommen. Das ist die Politik, die Sie betreiben.
({2})
Klar ist auch: Nichts ist unterschrieben, nicht einmal
das kanadische Abkommen. Deswegen ist es auch richtig,
dass wir darüber reden. Weil die Verhandlungen offen
sind, haben der DGB und das Wirtschaftsministerium etwas ganz Einfaches getan. Wir haben Anforderungen an
die Freihandelsgespräche zwischen der EU und den
USA definiert. Natürlich sind das auch Anforderungen,
die für CETA gelten müssen. Hier ist es nur deshalb
schwerer - da hatte der Kollege Ernst recht -, weil erstens die Verhandlungen weit fortgeschritten sind und
zweitens bei CETA - anders als bei TTIP - der Investitionsschutz im Mandat ohne Einschränkungen enthalten
ist. Das ist bei TTIP nicht der Fall. Dort ist es optional,
deswegen ist es dort schwieriger.
Trotzdem sage ich Ihnen: Ich bin dagegen, dass Sie
immer Herrn De Gucht zitieren. Der ist auf dem Weg in
die Rente. Der scheidet aus der Kommission aus. Ich
würde das lesen, was der neue Kommissionspräsident zu
diesem Verfahren sagt. Das gibt Ihnen vielleicht ein bisschen Hoffnung. Jean-Claude Juncker sagte am 15. Juli in
seiner Erklärung gegenüber dem Europäischen Parlament: Das Abkommen wird nicht zu jedem Preis
geschlossen. Wir können nicht unsere Standards im Gesundheitsbereich senken. Wir können nicht unsere Standards im Sozialbereich senken. Wir können nicht unsere
Datenschutzstandards senken. Ich möchte nicht, dass der
Datenschutz überhaupt Teil der Verhandlungen wird. Ich
will nicht, dass wir eine parallele Geheimgerichtsbarkeit
schaffen.
({3})
Die Vereinigten Staaten wie Europa sind Rechtsstaaten.
Wir wenden das Recht an. Wir werden die Verhandlungen mit maximaler Transparenz führen. ({4})
Das sagt derjenige, der jetzt ins Amt kommt. Sie zitieren
denjenigen, der aus dem Amt geht. Wir wollen lieber mit
dem reden, der jetzt etwas zu sagen hat, und nicht mit
dem, der in der Tat nichts mehr zu sagen hat. Da sage
ich: Es ist auch gut so, dass er nichts mehr zu sagen hat.
({5})
Ich zitiere noch einmal Jean-Claude Juncker:
Ebenso wenig werde ich akzeptieren, dass die
Rechtsprechung der Gerichte in den EU-Mitgliedstaaten durch Sonderregelungen für Investorenklagen eingeschränkt wird. Rechtsstaatlichkeit und
Gleichheit vor dem Gesetz müssen auch in diesem
Kontext gelten.
Das ist die Verhandlungsposition des neuen Kommissionspräsidenten. Ich finde, es ist die richtige Verhandlungsposition; ihr wollen wir uns anschließen. Insofern
sind die Dinge, die wir mit dem DGB verabredet haben,
für mich in der Tat verbindliche Leitlinien für die Gespräche mit der Kommission.
Gemeinsam haben BMWi und DGB zuerst die Chancen dieses Freihandelsabkommens beschrieben. Das ist
ganz interessant: Sie beziehen sich in Ihrem Antrag am
Ende darauf, wenn Sie sinngemäß sagen, wir sollten mit
den Verhandlungen neu beginnen. Ich sage Ihnen: Erstens finde ich es doch ein bisschen komisch, dass, unmittelbar nachdem wir das mit dem DGB vereinbart haben,
Folgendes veröffentlicht wird - und zwar wird Klaus
Ernst persönlich zitiert -:
Linkspartei enttäuscht vom DGB
Fraktionsvize findet Gewerkschafts-Offenheit für
das TTIP-Abkommen „unverständlich“
({6})
Und dann kommen Sie hierher und sagen zu uns, Sie
fänden es doch wunderbar, was der DGB mit uns verabschiedet hat; wir sollten doch mal dazu stehen.
({7})
Herr Gabriel, erlauben Sie eine Zwischenbemerkung
oder einen Kommentar von Klaus Ernst?
Selbstverständlich.
Sehr geehrter Herr Minister, zum Thema Gewerkschaften will ich noch einmal etwas sagen.
Erstens. Ich weiß, dass es innerhalb der Gewerkschaften eine ganze Reihe unterschiedlicher Positionen gibt;
Sie wissen das auch. Die erste Gewerkschaft, die das
Abkommen sehr stark kritisiert hat, war die IG Metall;
aber darum geht es nicht. Auf der einen Seite gibt es eine
Verabredung zwischen Ihnen und den Gewerkschaften,
die, wie Sie wissen, innerhalb der Gewerkschaften sehr
kontrovers diskutiert wird. Auf der anderen Seite gibt es
jetzt einen Beschluss Ihres Parteikonvents. Das ist ein
bisschen etwas anderes.
({0})
Meine große Befürchtung ist, dass Sie diesen Beschluss
nicht ernst nehmen.
({1})
Würden Sie den Beschluss nämlich wirklich ernst nehmen - auch Sie in der Fraktion -, dann müssten Sie ihn
hier beschließen. Wenn Sie den Beschluss auf dem Parteikonvent fassen, aber es hier lassen, dann bedeutet
dies, dass Sie am letzten Wochenende - das sage ich Ihnen - eine Luftnummer für die Öffentlichkeit abgezogen
haben. Das ist die Wahrheit.
({2})
Was?
Sie können sich darüber aufregen; wir werden ja sehen, wie Sie abstimmen.
({0})
Zweitens: zur Öffentlichkeit. Sigmar Gabriel, ich
habe wirklich Probleme damit, dass Sie behaupten: Wir
machen alles öffentlich. - Als Bundesbürger wissen wir
nicht einmal, um welchen Betrag es bei der Schadensersatzklage von Vattenfall geht, obwohl das Verfahren
bei uns in der Bundesrepublik geführt wird - das wissen
wir nicht!
({1})
Ich sage Ihnen: Wir wissen es deshalb nicht, weil Ihr
Ministerium das für geheimhaltungswürdig hält und die
deutsche Öffentlichkeit nicht informiert. Sie tun so, als
würden Sie alles öffentlich machen; also bitte ich Sie,
Ihr Verhalten zu ändern und die deutsche Öffentlichkeit
ausführlich darüber zu informieren, welche Nachteile sie
durch solche Investorenschutzabkommen zu erwarten
hat; denn es gibt schon welche.
({2})
Erstens. Ich stelle fest: Sie möchten gerne, dass der
Deutsche Bundestag und die SPD-Fraktion einem Papier
zustimmen, das ich mit den deutschen Gewerkschaften
erarbeitet habe und das Sie selber ablehnen und kritisieren.
({0})
- Na ja, Sie sagen, das Papier sei schlecht, und heute machen Sie es zu einer Frage der Glaubwürdigkeit, ob wir
dem zustimmen. Es ist zuerst einmal eine Frage der
Glaubwürdigkeit, ob Sie dem zustimmen. Sie haben es
nämlich bisher abgelehnt.
({1})
Zweitens. Ich weiß nicht, ob Sie Ihren Antrag kennen;
ich lese ihn zur Sicherheit vor.
({2})
Darin steht - Drucksache 18/2611 -:
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
das CETA-Verhandlungsergebnis zurückzuweisen
und darauf hinzuwirken, dass die Verhandlungsmandate der EU-Kommission für TTIP und CETA
im Sinne der Mindestbedingungen geändert werden.
Das ist doch Ihr Antrag, dem wir zustimmen sollen, oder?
Dann sind wir glaubwürdig, oder? Einverstanden? ({3})
- Passen Sie mal auf: Am 12. September 2014 hat die
Bundesregierung über das Bundeswirtschaftsministerium folgende Erklärung zum Entwurf des CETA-Vertrags abgegeben, im Drahtbericht dokumentiert:
Deutschland unterstreicht, dass aus Sicht der Bundesregierung Investitionsschutz in CETA nicht erforderlich
ist. Zwischen entwickelten Rechtssystemen wie Kanada
und EU braucht man keinen völkerrechtlichen Investitionsschutz. Jedenfalls müssen die Bedingungen aus deutscher Sicht an wichtigen Stellen nachgebessert werden.
Das Kapitel Investitionsschutz ist in der vorliegenden
Fassung der EU für Deutschland nicht zustimmungsfähig.
({4})
Sie fordern uns in Ihrem Antrag auf, etwas zurückzuweisen. Aber das haben wir schon getan. Wissen Sie,
warum wir Ihren Antrag ablehnen werden? Wir werden
ihn aus zwei Gründen ablehnen. Erstens, weil er unehrlich ist, da Sie das DGB-Abkommen kritisieren, und
zweitens, weil er erledigt ist, weil wir das, was Sie fordern, längst getan haben.
({5})
So, weiter in der Rede.
Wenn Sie uns wirklich in Schwierigkeiten hätten bringen wollen - ein Tipp für die nächste Sitzung -,
({0})
dann hätten Sie den Mumm haben müssen, den gesamten mit dem DGB vereinbarten Text zur Abstimmung zu
stellen. Aber den Mut hatten Sie nicht, weil darin steht,
dass die Gewerkschaften das Freihandelsabkommen
prinzipiell für eine gute Sache halten. Der Unterschied
ist: Die wissen, dass das Millionen von Jobs sichern
kann, und Sie wissen das nicht.
({1})
Es ist völlig klar, dass wir das Investor-Staat-Schiedsverfahren ablehnen. Bei CETA haben wir das Problem,
dass die Verfahren Teil des Verhandlungsmandats sind.
Trotzdem bemühen wir uns, auch hier Veränderungen
herbeizuführen. Das ist schwieriger als bei TTIP. Aber
ich bin sicher, dass die Debatte längst nicht zu Ende ist.
Im Übrigen empfehle ich tatsächlich, das Mandat
nachzulesen, auch TTIP; denn darin werden Sachverhalte aufgegriffen, die in der öffentlichen Debatte immer infrage gestellt werden. Es steht zum Beispiel darin,
dass das Abkommen auch Mechanismen zur Unterstützung der Förderung menschenwürdiger Arbeit durch die
wirksame interne Umsetzung der Kernarbeitsnormen der
Internationalen Arbeitsorganisation umfassen wird. Warum haben Sie das vorhin eigentlich nicht zitiert?
({2})
- Für TTIP gibt es doch gar keinen Verhandlungstext. Es
ist das Mandat, in dem steht: Ihr müsst die Kernarbeitsnormen durchsetzen.
Man merkt bei Ihnen relativ schnell, worum es geht.
Sie nutzen Ängste - die in Teilen im Übrigen durchaus
berechtigt sind; ich kritisiere überhaupt nicht, dass Fragen gestellt werden - für Ihre ziemlich populistische und
platte Strategie, um Ihren Nationalismus und Ihren Provinzialismus voranzubringen.
({3})
Sie finden in der Antwort der Bundesregierung viele
Beispiele dafür, dass die Bundesregierung und die Europäische Kommission schon jetzt mehr Transparenz
schaffen, unter der neuen Kommissarin hoffentlich noch
mehr. Die EU-Kommission informiert regelmäßig Zivilgesellschaft und Verbände, auch der Deutsche Bundestag wird regelmäßig informiert. Das Bundesministerium
für Wirtschaft und Energie hat im Mai außerdem einen
Beirat für TTIP berufen - das gilt sicher auch für CETA -,
dem Vertreter von Wirtschaft, Gewerkschaften, Sozial-,
Umwelt- und Verbraucherschutzverbänden sowie des
Kulturbereichs angehören. Ich hoffe, dass das in der Europäischen Union Beispiel macht.
Der Investitionsschutz ist schon von der alten Bundesregierung in der Art, wie er jetzt geplant ist, nicht für
erforderlich gehalten worden. Daran hat sich nichts geändert. Übrigens gibt es inzwischen auch in den USA
und Kanada Freihandelsabkommen ohne solche Bestimmungen, zum Beispiel zwischen den USA und Australien, Singapur oder Israel. In jedem Fall muss der Handlungsspielraum des Gesetzgebers gewahrt bleiben.
Darauf werden wir nicht nur bei den Verhandlungen mit
den Vereinigten Staaten achten, sondern jetzt auch in der
Debatte über das kanadische Abkommen, dessen Ausarbeitung leider viel weiter vorangeschritten ist.
Es darf keine doppelten Standards geben. Es darf
nicht sein, dass internationale Investoren vor Schiedsgerichten Rechte und Einflussmöglichkeiten erhalten, die
nationale Unternehmen im eigenen Land nicht haben.
Das macht deutlich, dass auch die Wettbewerbsgleichheit notwendig ist.
Im Verhandlungsmandat für TTIP ist kein Automatismus zur Einrichtung von Investor-Staat-Schiedsverfahren vorgesehen. Deswegen ist es gut, dass die EUKommission die Verhandlungen darüber ausgesetzt hat
und ein Konsultationsverfahren durchführt. Allerdings
haben die Kommission und der Europäische Rat bei
CETA - ich glaube, im Jahr 2011 - das Europäische Parlament ignoriert und Investor-Staat-Schiedsverfahren im
Mandat vorgesehen. Ich bin der Überzeugung: Auch bei
CETA ist diese Form von Investor-Staat-Schiedsverfahren überflüssig. Deswegen habe ich Ihnen eben noch
einmal die Stellungnahme des Bundeswirtschaftsministeriums im handelspolitischen Ausschuss der EU am
12. September 2014 vorgetragen. Darin steht, was Sie
vom Parlament verlangen, nämlich dass die Bundesregierung das Schiedsverfahren zurückweisen soll. Das ist
erfolgt. Ihr Antrag hat sich deshalb erledigt, sehr geehrter Herr Ernst.
Das Kapitel zum Investitionsschutz ist laut Protokoll
- ich zitiere - „in der vorliegenden Textfassung für DEU
nicht zustimmungsfähig“. - Wir haben also klar Stellung
bezogen. Ich bin der Auffassung, dass es im deutschen
Interesse ist, CETA an dieser Stelle zu verändern und
auch zum Erfolg zu bringen.
Wir haben für Europa viel erreicht. Wir haben Zugang
für öffentliche Beschaffung bis hinab zur Ebene der Provinzen erreicht. Produkt- und Herkunftsbezeichnungen
sind gesichert. CETA, meine Damen und Herren, ist ein
gutes Abkommen. Es wäre falsch, es jetzt grundsätzlich
infrage zu stellen oder sich bereits jetzt dagegen zu positionieren. Wir müssen vielmehr versuchen, diesen kritischen Punkt mit der EU und mit Kanada
weiterzuverhandeln. Er ist viel zu unbedeutend - das
sagt der Gutachter aus -, als dass wir deshalb das gesamte Abkommen jetzt schon sozusagen in den Orkus
schicken sollten. Ich glaube, dass das letzte Wort noch
nicht gesprochen ist.
Morgen wird die EU erklären, dass die Verhandlungen abgeschlossen sind. Das kann ich verstehen. Die
Kommission geht aus dem Amt und will noch etwas
abliefern. Das ist aber am 18. Oktober 2013 schon einmal passiert, und danach ist trotzdem kräftig weiterverhandelt worden. Wir werden vermutlich mindestens
acht Monate brauchen, bis die Übersetzungen und die
Voraussetzungen für eine Unterzeichnung überhaupt
vorliegen. Wir sollten dringend alles dafür tun, in dieser
Zeit Mehrheiten für die deutsche Position, auch im Hinblick auf CETA und das Investitionsschutzverfahren, zu
bekommen.
Viel einfacher wäre es, wenn es Staat-zu-StaatSchiedsverfahren gäbe. Somit würde man verhindern,
dass Unternehmen einfach loslaufen und versuchen, ihren Interessen Geltung zu verschaffen. Ich weise aber
auch darauf hin, dass der Gutachter vom Max-PlanckInstitut der Überzeugung ist, dass das jetzige Abkommen für die Investoren eigentlich zu schlechte Bedingungen schafft.
So wichtig und notwendig es ist, die deutschen Positionen zu beschreiben, so wichtig ist es auch, bei dieser
Debatte auf Folgendes hinzuweisen: Wir reden hier über
ein europäisches Projekt. Man muss ein bisschen aufpassen, dass man nicht glaubt, ausländische Investoren
hätten den Eindruck, überall in Europa seien ihre Investitionen so sicher wie in unserem Land. Es gibt ein paar
Mitgliedstaaten, in denen wir Verfahren führen und Hermesbürgschaften für die Zukunft sperren, weil dort der
Investorenschutz nicht gegeben ist. Das heißt: Wenn
man beim Thema Investorenschutz den Blick nur auf
Deutschland richtet, dann ist dieser natürlich verkürzt.
Wir alle wissen: Es gibt Mitgliedstaaten der Europäischen Union, in denen die Unternehmen nicht immer vor
Willkür geschützt sind und es eine politische Einflussnahme gibt, die es ihnen wirklich schwer macht. Deswegen ist der Weg zum Freihandelsabkommen nicht so
einfach, wie das hier einige Kolleginnen und Kollegen in
der Öffentlichkeit immer wieder gerne darstellen; so
macht es auch die Linkspartei anhand ihrer Bemerkungen.
Ich bin der festen Überzeugung, dass wir Freihandel
brauchen. Wir brauchen Freihandel aber nicht um jeden
Preis. Er muss all das respektieren, was Jean-Claude
Juncker in seiner Rede gesagt hat. Ich bin der festen
Überzeugung, dass wir keine Investor-Staat-Schiedsverfahren, wie sie hier vorgeschlagen werden, brauchen. Ich
bin auch der Überzeugung, dass wir reden und verhandeln müssen. Es macht keinen Sinn, die Verhandlungen
jetzt abzubrechen, somit Risiken für gegeben anzunehmen und Chancen auf Arbeitsplätze in Europa zu
zerstören.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Vielen Dank, Sigmar Gabriel. - Der nächste Redner
in der Debatte ist Dr. Toni Hofreiter für Bündnis 90/Die
Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr
Minister Gabriel! Lieber Sigmar!
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man kann vom amerikanischen Chlorhuhn halten, was man will. Das antibiotikaverseuchte Hühnchen aus Europa ist sicher nicht besser. Aber eines hat das Chlorhühnchen erreicht: Es hat es
geschafft, dass der Scheinwerfer auf die Verhandlungen
zu TTIP und CETA gerichtet ist. Wir führen eine schöne,
breite und öffentliche Debatte darüber. Aber man hat den
Eindruck, dass das vielen nicht gefällt. Die EU-Kommission scheut die öffentliche Auseinandersetzung darüber
offensichtlich so sehr, dass sie eine Europäische Bürgerinitiative dazu ablehnt, sie verhindert bzw. ausbremst.
Haben die Befürworter von TTIP und CETA so wenig
überzeugende Argumente? Müssen sie die offene Debatte so sehr scheuen? Im Fall der Schiedsverfahren für
Konzerne stelle ich eindeutig fest: Ja.
({1})
Diese Schiedsverfahren stehen völlig zu Recht in der
Kritik. Hinterzimmergerichte urteilen, ob demokratisch
verfasste Gesetze den Gewinninteressen der Unternehmen entgegenstehen. In der Konsequenz droht, dass Bürgerinnen und Bürger mit ihren Steuergeldern Millionen
und Milliarden als Schadensersatz zahlen müssen.
Das ist keine rein theoretische Sache. Wir kennen solche Fälle bereits. Philip Morris zum Beispiel verklagt
Uruguay wegen Gesundheitsschutzmaßnahmen im
Bereich der Zigarettenindustrie auf Schadensersatz in
Millionenhöhe. Oder Vattenfall: Vattenfall hat Hamburg
und die Bundesrepublik Deutschland verklagt - im Fall
der Klage gegen die Bundesrepublik Deutschlang wegen
des Atomausstiegs. Dabei geht es um Milliardensummen. Und diese Klagemöglichkeit wollen Sie jetzt noch
ausweiten? Herr Gabriel erzählt uns hier - das ist ja
schön -, er wolle sie nicht wirklich ausweiten. Mir fällt
da eine in einem ganz anderen Zusammenhang geäußerte Formulierung ein: Verbale Aufgeschlossenheit bei
weitgehender Verhaltensstarre.
({2})
Ich meine damit: Es ist ja schön, was Sie uns hier alles
erzählen. Entscheidend ist aber nicht, was Sie uns hier
erzählen, sondern die entscheidende Frage ist: Stimmt
die Bundesrepublik Deutschland am Ende einem Abkommen zu, in dem genau diese Klagemöglichkeit enthalten ist? Das ist die entscheidende Frage, und das ist
das, was wir von Ihnen wissen wollen.
({3})
Für Sie, Herr Gabriel, und für die SPD müsste es doch
eigentlich eine klare Sache sein, auf welcher Seite Sie
stehen. Aber eingeklemmt zwischen Frau Merkel und
dem BDI auf der einen Seite und dem Widerstand der
Bürgerinnen und Bürger, der Umweltschutzbewegung,
der Verbraucherschutzbewegung, der Kulturschaffenden
und der mittelständischen Industrie haben Sie sich offensichtlich für so eine Art Eiertanz entschieden. Schauen
wir uns an, was am Wochenende passiert ist: Am
Wochenende konnten wir ein schönes Schauspiel beobachten. Wir konnten wunderschön beobachten, wie
sich die SPD auf ihrem Parteikonvent unter Ausschluss
der Öffentlichkeit, hinter verschlossenen Türen darüber
aufgeregt hat, dass diese Verhandlungen im Rahmen der
Geheimdiplomatie stattfinden, dass es bei diesen Verhandlungen an Transparenz mangelt. Ist Ihnen das nicht
selbst total absurd vorgekommen?
({4})
Am Ende haben Sie sich entschieden - damit sind Sie
ganz zufrieden und glücklich -, gegen diese Investitionsschutzverfahren zu sein. Aber was war 48 Stunden
später, Herr Gabriel? 48 Stunden später haben Sie ein
Gutachten veröffentlicht, nach dem diese Investitionsschutzklauseln gar nicht so schlimm sein sollen. Das
steht in einem von Ihnen bestellten Gutachten. Sie haben
zu dem Gutachter schon einiges gesagt. Wissen Sie,
auch wenn dieser Gutachter Wissenschaftler am MaxPlanck-Institut ist und wir diesem Gutachter als Person
nichts Schlechtes nachsagen wollen, sollten Sie sich einmal Folgendes überlegen: Der Gutachter arbeitet für
diese Schiedsgerichte. Er ist nominiert für diese Schiedsgerichte. Und Sie erwarten von ihm, dass er diese
Schiedsgerichte neutral beurteilt? Das ist doch nicht
wirklich Ihr Ernst?
({5})
Ich habe den Eindruck, dass Sie schlichtweg Ihr Einknicken vorbereiten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU, Sie
haben eine ganz schöne Kampagne mit vielen bunten
Bildern für TTIP gestartet. Rauf und runter loben Sie die
Chancen, die dadurch für den Mittelstand entstehen.
Hören wir uns doch einmal gemeinsam an, was der Mittelstand selbst dazu sagt. Ich meine nicht das, was der
Mittelstand nach Meinung der CDU zu denken hat, sondern das, was der Mittelstand selbst sagt. Eine gute
Quelle ist der Bundesverband der mittelständischen
Wirtschaft. Er hat eine sehr klare Stellungnahme abgegeben - ich darf zitieren -:
Der Investor-Staat-Streitbeilegungsmechanismus …
ist in dem geplanten TTIP-Abkommen zwischen
der Europäischen Union und den USA überflüssig
und strikt abzulehnen. Die geplanten Regelungen
benachteiligen die mittelständische Wirtschaft, hebeln die Rechtsstaatlichkeit aus und gehen so zu
Lasten der Mitgliedsstaaten der EU.
Der Mittelstand fürchtet zu Recht, dass diese Verfahren nur den Großkonzernen nutzen.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
hören Sie doch einfach auf den Mittelstand, anstatt ihm
zu sagen, was er zu denken hat, und lehnen Sie diese
Verfahren doch einfach einmal ab!
({7})
Mich persönlich würde auch interessieren: Was ist eigentlich die Meinung der Bundesregierung? Die Meinungen der einzelnen Teile haben wir inzwischen gehört,
aber es wäre doch schön, bei dieser wichtigen Frage zu
hören, was die gemeinsame Meinung der Bundesregierung ist. Es ist doch vollkommen absurd, wie gespalten
Sie hier auftreten.
Zum Abschluss. Ja, wir wollen ein gutes Abkommen.
Wir wollen ein Abkommen, das den Unternehmen und
den Menschen nutzt. Wir wollen ein Abkommen, das
unnötige Bürokratie und Zölle abbaut. Wir wollen ein
Abkommen, das zu höchsten Standards führt und diese
höchstens Standards zur Regel werden lässt. Dazu sagen
wir Ja. Aber wir sagen klar Nein zu einem Abkommen
voller Privilegien für die Konzerne und Nachteile für die
mittelständische Wirtschaft, voller Risiken für Verbraucher und Umwelt.
Vielen Dank.
({8})
Vielen Dank, Herr Kollege Hofreiter. - Nächster Redner in der Debatte: Dr. Peter Tauber für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es wird
Sie nicht verwundern: CDU und CSU sind für die Freihandelsabkommen mit den USA und mit Kanada. Wir
sind fest davon überzeugt, dass nicht nur die Wirtschaft,
sondern auch die Menschen in unserem Land, die Menschen in Europa und auch die Menschen in den USA und
Kanada von solchen Abkommen profitieren können.
({0})
So gerne ich mit Ihnen, auch mit Ihnen, lieber Herr
Hofreiter, in den kleinteiligen Disput eintrete, tut es not,
dass wir uns noch einmal vergewissern, warum wir über
Freihandelsabkommen reden. Es geht im Kern um die
Frage, ob wir als Europäer gemeinsam mit unseren
transatlantischen Partnern bis weit in das 21. Jahrhundert
hinein weltweit Standards setzen oder ob wir das nicht
tun und anderen überlassen. Das ist die zentrale Frage
dabei, warum wir für oder gegen ein Freihandelsabkommen sind. Sie haben sich entschieden, dagegen zu sein.
Das muss man an dieser Stelle einmal festhalten. Das
bedeutet also: Sie sind bereit, darauf zu verzichten, dass
die Europäer, die Amerikaner und Kanadier gemeinsam
darüber reden, welche Standards wir weltweit setzen
wollen. Das kann man zunächst einmal festhalten, bevor
wir uns den Details nähern.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei,
zunächst einmal beglückwünsche ich Sie zu Ihrem Mut.
Fragen zu stellen, ist ja nicht verkehrt; denn meistens
dient es der Bewusstseinserweiterung und auch der Bildung. Das Ganze wird nur dann schwierig, wenn Sie
Fragen stellen, bei denen man davon ausgehen kann,
dass sie Ihnen weiterhelfen, Sie dann aber komplett die
Antworten, die die Bundesregierung Ihnen gegeben hat,
ignorieren. Das hat man an der Debatte und an Ihrem
Beitrag, lieber Herr Ernst, sehr deutlich gemerkt.
Was haben Sie in der Vergangenheit getan, wenn über
die Freihandelsabkommen geredet wurde? Sie haben jeweils nach Symbolen gesucht, mit denen die Ängste und
auch die kritischen Fragen von Menschen verstärkt worden sind. Sie haben sich an keiner Stelle in der Debatte
darum bemüht, Ängste und Sorgen aufzugreifen und ihnen positiv zu begegnen, indem Sie sagen: Wir versuchen, dies im Sinne der Menschen umzusetzen, Sorgen
aufzugreifen und eine Antwort zu geben. - Das Erste
war das Chlorhühnchen. Nachdem klar war, dass das
Chlorhühnchen mit dem Freihandelsabkommen nicht
kommt, haben Sie sich etwas Neues gesucht. Dann war
es Fracking. Sie sagten, dass Fracking durch die Hintertür mit dem Freihandelsabkommen bei uns eingeführt
wird. Als klar war, dass auch Fracking nicht durch die
Hintertür mit dem Freihandelsabkommen kommt, haben
Sie als Nächstes gesagt: Es wird ja alles so geheim und
intransparent verhandelt; man weiß gar nicht, was wirklich kommt.
({2})
Nachdem jetzt klar ist, dass sehr wohl für alle nachvollziehbar ist, worüber wir da eigentlich reden, rudern Sie
ein bisschen herum.
Am Ende kommen Sie zu einer grundlegenden Haltung. Bei den Linken ist diese noch durch einen tief verwurzelten Antiamerikanismus gespeist. Bei den Grünen,
bei Ihnen, Herr Hofreiter, höre ich jetzt eine leichte Wendung heraus: Grundsätzlich ist man nicht dagegen.
({3})
Herr Kollege, würden Sie eine Rückfrage oder einen
Kommentar von Frau Höhn erlauben?
Jetzt bin ich gerade so schön im Redefluss, Frau Präsidentin.
Also nicht.
({0})
Sie kann ja gerne nachher erwidern. Dann werde ich
ihre Anmerkungen gerne aufgreifen.
({0})
Schauen Sie sich einmal selber an, wie Sie sich dazu äußern.
An die Adresse der Linkspartei gerichtet muss man
sagen: Sie haben klar gesagt, Sie wollen ein Freihandelsabkommen nicht positiv begleiten. Ich kann mich, ehrlich gesagt, an keine politische Debatte in diesem Hohen
Hause erinnern, in der die Linkspartei irgendein Projekt,
das in die Zukunft weist, positiv begleitet hätte; insofern
ist diese Haltung nicht verwunderlich.
({1})
An die Adresse der Grünen: Vielleicht haben Sie gelesen, was Ihr grüner Ministerpräsident, Herr Kretschmann,
heute im Zeit-Interview gesagt hat, an Ihre eigene Adresse
gerichtet.
({2})
Er sagt in dem Interview: Warum geht meine Partei so
defensiv ran, mit so einer Abwehrhaltung? Da muss man
doch offensiv reingehen und das gestalten. - Das sagt Ihr
Ministerpräsident an Ihre Adresse gerichtet. Vielleicht
nehmen Sie sich daran für die Zukunft mal ein Beispiel.
Genau darum geht es bei dem Freihandelsabkommen.
({3})
Warum ist so ein Abkommen per se erst einmal eine
gute Sache? Wir müssen uns natürlich die Inhalte anschauen und dann entscheiden - wobei Sie diese Entscheidung durch Ihre ablehnende Haltung schon vorwegnehmen. Es kommt doch darauf an, dass wir die
richtigen Dinge hineinschreiben. Aber wenn wir uns
dem positiv nähern, dann ist ja die spannende Frage:
„Warum wollen wir dieses Abkommen?“, und es gibt
viele, viele gute Gründe:
Weltweit steht Deutschland auf Platz eins der Länder
mit der dichtesten Vernetzung der Volkswirtschaften.
Das heißt, wir sind ganz besonders darauf angewiesen,
dass Handelshemmnisse abgebaut werden, für unsere
Wirtschaft, und zwar nicht nur, wie Sie suggerieren, für
die großen Konzerne, sondern auch für die kleinen Unternehmen, für den Mittelstand, für viele KMU. Ich will
Ihnen da nachher gerne noch ein Beispiel näherbringen.
Die University of Chicago hat in einer aktuellen Studie errechnet, dass der reale Wohlstand in Deutschland
ohne diese zahlreichen Handelsbeziehungen nur halb so
hoch wäre. Und da stellen Sie ernsthaft die grundsätzlichen Vorteile eines solchen Abkommens infrage? Das ist
in der Tat nur schwer nachvollziehbar.
({4})
Jetzt geht es um die Frage: Was sind denn die auch
von der Bundesregierung an vielen Stellen schon formulierten roten Linien, was ist denn unsere Position in diesen Verhandlungen? Natürlich haben wir klar gesagt,
dass wir bei der Nachhaltigkeit, beim Gesundheits-, Verbraucher- und auch Arbeitnehmerschutz, beim Warenhandel positive Impulse setzen wollen. Natürlich wollen
wir keine Standards preisgeben. Sie suggerieren das immer; aber in der Antwort der Bundesregierung auf die
Große Anfrage der Linken wird deutlich, dass wir die
positiven Impulse eines solchen Abkommens stärken
wollen. Dort heißt es - ich darf zitieren -:
Der Verzicht auf ein solches Freihandelsabkommen
zwischen den beiden größten Wirtschaftsräumen
der Welt - Europa und USA - würde zugleich den
Verzicht auf Einflussnahme für internationale Standards in den globalisierten Wirtschaftsbeziehungen
bedeuten.
Das heißt, es geht nicht nur um die wirtschaftlichen Beziehungen zu den USA, sondern wir greifen weit darüber
hinaus, wenn es darum geht, unseren Standards bei den
genannten Punkten Verbraucherschutz, Umweltschutz
weltweit zur Durchsetzung zu verhelfen.
Dann gibt es eine zweite Legende, die Sie immer wieder bemühen: Nur die großen Konzerne würden von solchen Abkommen profitieren. - Das ist nicht so. Es gibt
dazu eine aktuelle Studie. Sie haben die Zahlen des ifo4914
Instituts erwähnt. Wir haben darauf zurückgegriffen bei
unserer Kampagne für ein Freihandelsabkommen; denn
diese Zahlen zeigen genau das Gegenteil: dass, wenn wir
das Abkommen gut verhandeln, die normalen Bürgerinnen und Bürger die Chance haben, davon zu profitieren.
({5})
Das ist, glaube ich, ein ganz wichtiger Punkt, der in der
Debatte von Ihnen völlig negiert wird.
Sie behaupten ferner, das werde alles geheim verhandelt und keiner wisse, was in dem Abkommen stehe. Ich
frage mich ernsthaft, was Sie für ein Selbstverständnis
als Abgeordnete haben und was für eine Kollegialität Sie
hier zum Ausdruck bringen. Glauben Sie ernsthaft, dass
die Kollegen in unserer Fraktion, dass die Kollegen im
Europäischen Parlament - egal welcher Fraktion sie angehören - so ein Abkommen abnicken, ohne es sich anzuschauen, ohne eigene Vorstellungen einzubringen?
({6})
- Es lässt tief blicken, was Ihr eigenes parlamentarisches
Selbstverständnis angeht, wenn Sie Kolleginnen und
Kollegen so etwas unterstellen. Das ist zutiefst unkollegial und einfach nur billige Polemik für den kurzen Effekt; mehr ist es nicht.
({7})
Was sind die Vorteile, auch für den Mittelstand?
Wenn wir dieses Abkommen gut verhandeln, dann können in Europa mehr als 1 Million zusätzliche Arbeitsplätze entstehen. Sie appellieren doch immer, dass wir
Impulse setzen für die Staaten in Süd-, Ost- und Mitteleuropa. Selbst in Deutschland, das sagen Prognosen,
könnten bei den richtigen Rahmenbedingungen 200 000
zusätzliche Arbeitsplätze entstehen.
({8})
Der deutsche Export in die USA könnte sich um 94 Prozent steigern.
Das alles sind positive Chancen, die nicht von vornherein gegeben sind und die wir ergreifen müssen. Es
kommt auf das Ergebnis an. Wenn wir immer nur darauf
schauen, dass es nicht klappt, dann werden wir die Zukunft nicht gewinnen. Deswegen ist es so enorm wichtig,
dass wir die richtigen Leitplanken einziehen und positiv
in diese Debatte gehen.
Dasselbe gilt in Bezug auf die Steigerung der realen
Löhne. Wenn das Abkommen richtig verhandelt ist,
dann kann jedem Haushalt mit vier Personen am Ende
ein zusätzliches Einkommen von bis zu 545 Euro zur
Verfügung stehen, ohne dass die Standards abgesenkt
werden. Das ist eine gute und wichtige Botschaft.
({9})
Es gibt einen schönen Satz der Präsidentin des Gesamtverbandes der deutschen Textil- und Modeindustrie,
in dem viele kleine und mittelständische Unternehmen
zusammengeschlossen sind. Sie hat gesagt, es wäre ganz
schön, wenn man dieses Thema „mal ohne German
Angst“ diskutieren würde. Genau das müssen wir tun,
und dazu sind Sie leider nicht in der Lage.
({10})
Sie erinnert uns daran, dass die deutsche Textil- und
Modeindustrie einen Jahresumsatz von 28 Milliarden
Euro hat, und sie ist Weltmarktführer bei hochinnovativen technischen Textilien für Medizintechnik, Bautechnik, Luft- und Verkehrstechnik. Aber: Für diese Branche
gibt es Handelsschranken. Die Kosten für Einfuhrabfertigung und Einhaltung aller Vorschriften führen dazu,
dass sich die Produkte um bis zu 20 Prozent verteuern.
Es gibt in diesem Bereich eine Bürokratie, die wir dringend abbauen müssen, weil sie für kleine und mittelständische Unternehmen schlichtweg nicht zu leisten ist.
Wenn Sie einen Männeranorak, wesentlich aus Baumwolle, in die USA exportieren wollen, dann zahlen Sie
dafür einen Zollsatz von 9,4 Prozent.
({11})
Wenn derselbe Anorak hauptsächlich aus Chemiefasern
hergestellt ist, dann liegt der Zollsatz bei 27 Prozent.
Das ist ein gutes und ganz lebensnahes Beispiel, weg
von Ihren Angstszenarien, die Sie aufbauen. Dieses Beispiel zeigt, warum wir ein solches Freihandelsabkommen wollen. Davon profitieren nämlich auch die Bürgerinnen und Bürger und nicht nur die Industrie, und es
gilt, unseren Standards und Werten auch im Wirtschaftsbereich zur Durchsetzung zu verhelfen.
Herr Kollege, denken Sie an Ihre Redezeit.
Ich komme zum letzten Satz. - Es wäre schön, wenn
Sie sich dem nicht weiter verschließen, sondern einen
Beitrag dafür leisten würden,
({0})
dass unser Land dort eine Perspektive bekommt und wir
die transatlantische Partnerschaft auch in diesem Bereich
stärken. Das wollen und das können Sie aus ideologischen Gründen nicht, und das ist sehr bedauerlich.
({1})
Danke, Herr Kollege. - Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Höhn.
Herr Kollege Tauber, Sie haben eben das Fracking im
Zusammenhang mit diesem Abkommen angesprochen.
Ich möchte Sie hier auf Folgendes hinweisen: Auf der
Grundlage der jetzigen Handelsabkommen klagt Lone
Pine gegen Quebec, und zwar deshalb, weil Quebec, genauso wie Nordrhein-Westfalen, ein Moratorium erlassen hat. Quebec hat noch keine Lizenzen für das Fracking an sich vergeben, sondern nur Lizenzen für
Probebohrungen, und jetzt haben sie dieses Moratorium
erlassen. Lone Pine klagt gegen Quebec auf einen Schadensersatz von 250 Millionen Kanadische Dollar.
Genau diese Möglichkeit eröffnet der Text zum
CETA, der uns momentan vorliegt, den Unternehmen.
Nordrhein-Westfalen hat auch ein solches Moratorium,
wie gesagt, erlassen. Welche Passage in den Texten, die
uns jetzt vorliegen, können Sie anführen, woraus hervorgeht, dass eine solche Klage, die jetzt gegen Quebec geführt wird, nicht auch Nordrhein-Westfalen droht? Nach
unseren Informationen ist sehr klar: Schadensersatzklagen wie die gegen Quebec können aufgrund des CETATextes zum Beispiel auch gegen Nordrhein-Westfalen
geführt werden. Nennen Sie mir bitte die Passage, die
das aus Ihrer Sicht nicht zulässt.
({0})
Danke, Frau Kollegin. - Herr Dr. Tauber.
Frau Kollegin, erstens kennen Sie die Haltung der
Koalitionsfraktionen und der Bundesregierung zum Fracking im Rahmen der TTIP-Verhandlungen.
({0})
Zweitens kann man zu dem Verfahren, das Sie jetzt erwähnt haben, abschließend noch gar nichts sagen, weil
es noch nicht entschieden ist.
({1})
- Ich habe hier eine Menge Papier vor mir auf dem Tisch
liegen, aber diese entsprechende Passage leider nicht.
Vielleicht haben Sie das. Dann bringen Sie es mir, und
dann zeige ich es Ihnen ganz entspannt. - Das ändert
doch nichts an der Tatsache, dass Sie negieren, dass geltendes Recht nicht geändert wird - und das gilt auch für
dieses Freihandelsabkommen.
Herzlichen Dank.
({2})
Danke, Herr Kollege Dr. Tauber. - Der Abgeordnete
Gabriel hat sich zu einer Kurzintervention gemeldet.
({0})
Danke, Frau Präsidentin. - Weil ich zur Sachaufklärung beitragen kann, werde ich Frau Kollegin Höhn die
Passage aus dem europäisch-kanadischen Freihandelsabkommen CETA übermitteln, in der steht, dass zur
Wahrung natürlicher Ressourcen Moratorien erlassen
werden können, und in der exakt das, was Sie befürchten, wegen der Erfahrung, die Kanada in Quebec gemacht hat, ausgeschlossen wird. Wegen genau der Erfahrung, die Sie zu Recht geschildert haben, hat Kanada
dem Vorschlag, gerade zur Nutzung natürlicher Ressourcen Schutzvorschriften - für Kanada und auch für
Europa - zu erlassen, zugestimmt. Ich übermittle Ihnen
das gerne.
({0})
Danke, Herr Abgeordneter Gabriel.
({0})
- Melden Sie sich zu einer Kurzintervention?
({1})
- Gut. - Nach § 27 Absatz 2 unserer Geschäftsordnung,
wie Sie sicher wissen, nun eine Kurzintervention von
Frau Dröge.
({2})
- Das Recht hat sie, liebe Kollegen. Das können auch
Sie machen.
({3})
Auch ich habe mich zu einer Kurzintervention gemeldet. Herr Gabriel wollte ja vermeintlich zur Aufklärung
des Sachverhaltes beitragen. Auch ich muss zur Aufklärung des Sachverhaltes beitragen, weil das, was Sie hier
dargestellt haben, nicht ganz korrekt war.
Auch wir haben - zusätzlich zu Ihrem Rechtsgutachten, Herr Gabriel - ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben. Es besagt ganz eindeutig, dass das Investitionsschutzkapitel in CETA die öffentlichen Genehmigungen
nach Artikel 14 Grundgesetz so nicht schützt, dass zum
Beispiel der Entzug von bereits genehmigten FrackingLizenzen, die es ja auch in Deutschland schon gibt,
durch das Investitionsschutzkapitel in CETA so nicht geschützt ist und dass Klagen weiterhin möglich sind.
({0})
Deswegen kann es nicht einfach so stehen bleiben, dass
Sie hier den Eindruck erwecken, die Frage von Frau
Höhn entspricht nicht den Tatsachen. Im Gegenteil:
Unser Gutachten zeigt etwas anderes.
({1})
Wir machen jetzt mit der Debatte weiter.
Der nächste Redner in der Debatte ist Wolfgang
Tiefensee für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir diskutieren einmal mehr über TTIP und
über CETA. Diese Debatte ist gut, weil wir das, was in
der Öffentlichkeit diskutiert wird, sehr ernst nehmen. Ich
will ausdrücklich unterstreichen, dass wir diese öffentliche Debatte brauchen und all denjenigen, die sich kritisch äußern, zurufen: Meldet euch! Wir wollen mit euch
diskutieren.
Was schlecht ist, ist die Grundlage der heutigen
Debatte, nämlich die drei uns vorliegenden Anträge.
Einer ist von der Fraktion Die Linke. Er zeichnet sich
dadurch aus, dass man das, was auf dem Parteikonvent
gesagt wurde, als Steinbruch genommen hat, sich genau
die Passagen herausgesucht hat, die einem passen, sie
zusammengeschrieben und zu einem Antrag formuliert
hat. Das, liebe Fraktion der Linken, ist Kindergarten,
große Gruppe.
({0})
Etwas einfach nur abzuschreiben, keine eigenen Ideen
vorzutragen und vor allen Dingen dann auch noch den
eigentlich entscheidenden Punkt wegzulassen, ist für ein
solches Haus eigentlich nicht akzeptabel. Das sollten Sie
in der Zukunft unterlassen.
({1})
Was meine ich damit? In der öffentlichen Debatte
kommt es zuallererst darauf an, zu berichten, warum wir
ein solches Abkommen überhaupt abschließen wollen,
warum es diese Verhandlungen gibt. Wir müssen
zunächst deutlich machen, dass wir die Handelsräume
zusammenführen, die sogenannten nichttarifären Handelshemmnisse, diese unsäglichen unterschiedlichen
Normen und Standards, abbauen und die Verfahren für
Mittelstand und Großindustrie erleichtern wollen. Wenn
wir das kommuniziert haben, dann sollten wir auch
sagen, wo die roten Linien sind. Genau das tun Sie nicht.
Sie suchen immer wieder Gelegenheiten und Sie suchen
- wie in einem Steinbruch - Textbausteine, um deutlich
zu machen: An dieser Stelle mit uns nicht. - Ich bitte
Sie, irgendwann ausdrücklich zu erklären: Wir wollen
keine Freihandelsabkommen. Wir wollen TTIP nicht.
Wir wollen CETA nicht.
({2})
In diesem Fall würde Ihr Antrag aus einem Satz bestehen. Dann könnte man ihn viel einfacher verstehen und
natürlich viel einfacher ablehnen.
({3})
Das Gleiche gilt im Übrigen aber auch für den Antrag
der Grünen. Ich habe in den Gesprächen, die wir nicht
zuletzt auch im Ausschuss miteinander geführt haben,
gelernt, dass Sie offensichtlich nicht zu der Fraktion gehören, die Freihandelsabkommen grundsätzlich ablehnt.
({4})
- Willkommen im Klub! Das ist gut. - Sie machen das
Gegenteil von dem, was die Linke tut. Aus den roten
Linien, also dem, was wir in den Verhandlungen verhindern wollen, greifen Sie sich nur einen Teil heraus wahrscheinlich den, der ganz besonders populär ist.
Sie sprechen nicht davon, dass wir verhandeln wollen, dass die ILO-Kernarbeitsnormen in einem Kapitel
ihren Widerhall finden müssen. Sie sprechen nicht davon, dass es uns um öffentliche Daseinsvorsorge geht.
Sie sprechen nicht davon, dass wir die Standards nicht
absenken wollen, sondern dass wir die US-Standards
und die europäischen Standards auf das jeweils höchste
Niveau heben wollen. Sie sprechen nicht davon, dass wir
bei Kultur und Medien aufpassen wollen, dass beispielsweise die Buchpreisbindung nicht unter die Räder gerät.
Das alles spielt keine Rolle, weil es in der Diskussion
kein so schlagkräftiges Argument ist. Sie beziehen sich
nur auf einen Teil. Deshalb also meine Bitte: Reden Sie
Klartext. Stehen Sie zu den Verhandlungen. Stehen Sie
dazu, dass wir die Vorteile für den Mittelstand, für die
Industrie, für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
nutzen und dass wir alles Erdenkliche tun wollen, dass
diese Abkommen zum Abschluss kommen. Oder stellen
Sie sich auf die andere Seite, die alles grundsätzlich
ablehnt.
Ich will es hier noch einmal ganz deutlich sagen:
Aber kurz.
Die sozialdemokratische Fraktion wird alles dafür
tun, dass sowohl CETA als auch TTIP keinen Investorenschutz und keine Schiedsgerichtsklausel enthalten,
dass die ILO-Kernarbeitsnormen ihre Verankerung finden, dass die Standards nicht abgesenkt werden, dass der
öffentliche Dienst nicht gefährdet wird, dass es keine
genmanipulierten Nahrungsmittel gibt. Das sind unsere
Ziele. Diese werden wir durchsetzen, und zwar auf unserem Wege.
Vielen Dank.
({0})
Herr Kollege, erlauben Sie kurz vor Schluss noch eine
Zwischenfrage?
Sehr gerne. - Die ist nicht von mir bestellt; aber ich
freue mich über die Verlängerung der Redezeit.
({0})
Das glaube ich, dass die nicht von Ihnen bestellt ist. Bitte schön.
Vielen Dank, Herr Kollege Tiefensee. - Weil Sie gerade sagten, dass die Abkommen gut für den Mittelstand
seien, wollte ich Sie fragen, ob Ihnen bekannt ist, dass
der Bundesverband mittelständische Wirtschaft die Verhandlungen ablehnt.
({0})
Wenn Sie das wissen, wieso behaupten Sie dann hier das
Gegenteil?
({1})
Da fragen Sie jetzt gerade den Richtigen. Gemeinsam
mit Ihrem Kollegen Gysi und anderen - Cem Özdemir
zum Beispiel - habe ich die große Ehre, Mitglied im
politischen Beirat des BVMW zu sein. Ich sitze also als
Berater im Vorstand. Wir haben darüber diskutiert, wie
es um TTIP bestellt ist. Ich bin dem Wirtschaftsminister
sehr dankbar, dass er den BVMW an den Tisch des Beraterkreises geholt hat und dass er sich direkt mit ihm
austauscht. Die Situation stellt sich folgendermaßen dar:
Das Präsidium des BVMW sagt: Wir werden, genauso
wie das die Parteien der Koalition machen, auf eine
ganze Reihe von Dingen achten müssen. - Diese habe
ich vorhin aufgezählt. Wir erhoffen uns Vorteile bei der
Beseitigung nichttarifärer Hemmnisse.
({0})
Weil Sie mich danach fragen, Herr Ernst, darf ich ein
Beispiel nennen.
Herr Kollege, machen Sie es bitte kurz, sonst kriege
ich Ärger.
({0})
Wenn Sie eine Maschine bauen, die Zucker herstellt,
dann müssen Sie berücksichtigen, dass Zucker im letzten
Verfahrensschritt explosiv ist. Aus diesem Grund muss
die Maschine explosionssicher sein. Es gibt dafür einen
deutschen Standard. Der Maschinenbauer, der diese
Maschine baut und nach Amerika exportieren will, baut
sie zuvor noch einmal auseinander - andere Kabel,
andere Schellen, andere Einzelteile -, um sie dann, neu
zusammengebaut, nach Amerika zu liefern, damit die
Maschine dort den Test besteht. Genau das will der Mittelstand nicht. Genau das will der BVMW nicht. Diese
nichttarifären Handelshemmnisse müssen abgebaut
werden, damit Kosten gespart werden, Arbeitsplätze entstehen bzw. Arbeitsplätze erhalten werden. Sie werden
sehen: Wenn wir all diese roten Linien nicht überschreiten und die Vorteile in die Verhandlungen eingebracht
haben, werden am Ende der BVMW und der Mittelstand
genauso wie der DGB zustimmen.
Vielen Dank.
({0})
Danke, Herr Kollege Tiefensee. - Nächster Redner in
der Debatte: Alexander Ulrich für die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir lassen da keinen Zweifel, Herr Tiefensee: Die Linken lehnen CETA ab, und wir wollen, dass die Verhandlungen zu TTIP abgebrochen werden - ohne Wenn und
Aber.
({0})
Wir lassen da keine Zweifel. Wir wollen Ihnen nur die
Chance geben, zu erklären, ob Sie bereit sind, auch parlamentarisch für die roten Linien zu kämpfen, die Sie am
Wochenende beschlossen haben.
({1})
Die heutige Debatte zeigt, dass Sie das nicht wollen.
({2})
Wir haben einen Wirtschaftsminister, der uns heute
erklärt, dass alle diejenigen, die Kritik an diesen Verfahren, an diesen Inhalten äußern, offensichtlich die Jobkiller Deutschlands sind.
({3})
Ich frage Sie, Herr Wirtschaftsminister: Haben Sie schon
einmal bemerkt, dass wir auch ohne diese Verträge sehr
erfolgreich im Export sind?
({4})
Haben Sie denn schon gemerkt, dass Handel heute schon
möglich ist? Sie tun ja gerade so, als wären alle Kritiker
dafür, den Handel zu verbieten. Das ist großer Unsinn,
und es ist eigentlich für einen Wirtschaftsminister nicht
recht, sich hier so zu äußern.
({5})
Herr Gabriel, das, was Sie hier betrieben haben, ist ja
schon ein bisschen Demagogie.
({6})
Sie legen ja großen Wert auf das,
({7})
was Sie scheinbar mit dem DGB beschlossen haben.
({8})
Ich möchte dazu einmal Herrn Wetzel von der IG Metall
zitieren,
({9})
der Folgendes gesagt hat - am gleichen Tag, als Sie das
Papier veröffentlicht haben. Er sagt: Dieses Papier steht
unter einem Vorbehalt. Wortwörtlich:
Die IG Metall erwartet, dass die Bundesregierung
den aktuellen Entwurf zum Handelsabkommen
CETA mit Kanada ablehnt und dies auch auf EUEbene durchsetzt. Das ist die Nagelprobe für die
Glaubwürdigkeit der Vereinbarung.
({10})
Herr Gabriel, morgen ist die Nagelprobe. Morgen
wird in Ottawa etwas verkündet. Und wenn das die
Nagelprobe ist, erwarte ich morgen von Ihnen, dass Sie
öffentlich sagen: Unsere roten Linien sind nicht beachtet
worden. Wir lehnen dieses Verhandlungsergebnis ab.
Hier muss nachverhandelt werden. - Wenn Sie das morgen nicht tun, haben Sie nicht nur den DGB, sondern alle
Gewerkschaften enttäuscht.
({11})
Sie bleiben hier auch die Antworten schuldig. Sie erklären uns, man bräuchte dem Antrag ja nicht zuzustimmen, denn das wäre ja schon umgesetzt. Dann frage ich
Sie in Ihrer Eigenschaft als SPD-Parteivorsitzender:
Wenn das schon alles umgesetzt ist, warum haben Sie
dann am Wochenende so viel Mühe gehabt, das bei Ihren
Leuten überhaupt durchzukriegen?
({12})
Offensichtlich ist ja noch nichts durchgesetzt.
Herr Tiefensee erklärt uns hier: Investorenschutz soll
aus TTIP heraus bzw. ist nicht Bestandteil. Gucken Sie
sich den Vertrag an, da steht drin: „soll“ und „kann“. Natürlich: Jeder weiß doch, dass das, was morgen veröffentlicht wird, die Blaupause für TTIP ist. Oder glauben
Sie ernsthaft, dass die Amerikaner mit der Europäischen
Union eine schlechtere Vereinbarung schließen als die
Kanadier?
({13})
Deshalb erwarten wir morgen eine klare Aussage,
Herr Gabriel. Deshalb - so glaube ich - wird auch die IG
Metall am Wochenende kundtun, dass hier jetzt etwas zu
erwarten ist. Sonst ist das Papier wirklich nichts wert.
Wenn Sie sich hier hinstellen und uns vorwerfen, wir
würden Arbeitsplätze gefährden, muss ich sagen: Dann
finden wir uns in einer richtig großen Runde von
Umweltverbänden, von Verbraucherschützern, kirchlichen Organisationen, mittelständischen Unternehmen
wieder. Auch viele Kommunalpolitiker mit CDU-, CSUund mit SPD-Parteibuch gehören dazu. Das geht bis zu
den Bierbrauern, Herr Kauder. Sie alle haben Angst vor
dem, was hier gemacht wird. Wenn diese ganzen Organisationen quasi Jobs gefährden, ja, dann muss ja etwas
daran sein, dass das wohl nicht so ist, wie Sie sagen.
Oder glauben Sie wirklich, die IG Metall oder mittelständische Unternehmen würden Kritik äußern, weil sie
Jobs vernichten wollen?
Offensichtlich ist die Bundesregierung nicht bereit,
diese große Anzahl von Verbänden, Organisationen ernst
zu nehmen. Sie will sie in eine Ecke stellen. So kann
man zwar Politik betreiben, aber die SPD wird deshalb
nie mehr einen Kanzler stellen.
({14})
Herr Kollege, denken Sie an Ihre Redezeit?
Ja, ich bin auch gleich am Ende. - Nur noch so viel,
weil immer wieder erzählt wird, wie viele Jobs entstünden: Gucken Sie sich einmal an, wie viele Jobs durch das
Abkommen NAFTA „entstanden“ sind. In den USA sind
1,2 Millionen Jobs verloren gegangen, in Mexiko über
1 Million allein in der Landwirtschaft. Es gibt kein
Abkommen in der Welt, das nicht Sozial- und die Umweltstandards gefährdet und nicht Jobs vernichtet hat.
({0})
Sie führen hier eine Debatte ums Goldene Kalb, nur um
die Interessen der Verbraucher und der Arbeitnehmer der
Wirtschaft zu opfern. Sie sind der verlängerte Arm der
Kapitalisten und Großkonzerne.
({1})
Danke, Herr Kollege. - Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Hubertus Heil.
Lieber Kollege, es gibt zwei Gründe, warum ich mich
aufgrund Ihres Redebeitrags zu einer Kurzintervention
bemüßigt sehe. Der erste Punkt ist eine prinzipielle Bitte
- sie betrifft mich selbst und uns alle in diesem Parlament -: Mir ist aufgefallen, dass in den letzten Jahren
wir alle miteinander, die Vertreter aller Parteien - auch
Sie haben das getan -, in der Auseinandersetzung um
Hubertus Heil ({0})
eine Sache in unseren Reden zunächst einmal das Ziel
verfolgen, dem politischen Mitbewerber die Glaubwürdigkeit abzusprechen. Wenn wir das alle miteinander immer wieder tun, dürfen wir uns über den Verlust an
Glaubwürdigkeit von demokratischer Politik nicht wundern. Lassen Sie uns in der Sache ordentlich streiten.
Aber dem anderen jedes Mal den moralischen Anspruch,
das Beste für dieses Land und die Menschen zu wollen,
mit unterschiedlichen Überzeugungen abzusprechen, beschädigt das Ansehen demokratischer Politik. So billig
dürfen Sie hier nicht agieren. Das ist meine herzliche
Bitte.
({1})
Zur Sache selbst - das ist der zweite Punkt - will ich
Ihnen eines sagen. Ich als Sozialdemokrat vertrete hier
aus Überzeugung die Position, dass wir als Exportnation,
deren Arbeitsplätze davon abhängen - das sage ich auch
als IG-Metall-Mitglied, lieber Kollege -, von einem
Freihandel profitieren. Aber wir sagen auch: Freihandel
nicht um jeden Preis. Wir haben klare Kriterien formuliert. Sie haben die Bundesregierung für morgen zum
Handeln aufgefordert. Es wird keine Abstimmung der
Europäischen Kommission geben; vielmehr wird sie nur
eine Erklärung abgeben, dass die Verhandlungen beendet sind. Es ist aber so, dass wir das, was Sie verlangen,
schon getan haben. Die Bundesregierung hat den Investitionsschutz im CETA-Abkommen abgelehnt - der Herr
Minister hat das vorhin deutlich gemacht - und gleichzeitig zu Nachverhandlungen und weiteren Gesprächen
aufgerufen. Dafür brauchen wir in Europa Verbündete.
Das ist nicht leicht, gar keine Frage.
Die Position, die wir vertreten, ist eindeutig. Deshalb
sage ich Ihnen: Die Organisationen, die Sie genannt haben, die die Debatte zu Recht kritisch führen, mit berechtigten, manchmal auch mit unberechtigten Bedenken, für Ihre kleinkarierten parteipolitischen Interessen
in Anspruch zu nehmen, wie Sie es hier tun, ist aus meiner Sicht nicht in Ordnung. In einer Auseinandersetzung
sollten wir in diesem Haus über die Sache reden und uns
nicht ständig die Glaubwürdigkeit absprechen.
Herzlichen Dank.
({2})
Jetzt kann der Kollege Ulrich darauf antworten.
Herr Kollege, ich finde Ihren Wortbeitrag sehr bemerkenswert. Ich glaube aber, Sie haben nicht mich als
Adressaten gemeint, sondern wollten eigentlich Ihren
Wirtschaftsminister zur Ordnung rufen;
({0})
denn wenn heute jemand mit Demagogie vom Thema
abgelenkt hat, und zwar relativ früh, dann war es Herr
Gabriel.
({1})
Wir mussten uns anhören, wir wären, weil wir Kritik geäußert haben, Nationalisten
({2})
und würden in großem Umfang Jobs gefährden. So gehen Sie mit diesem wichtigen Thema um.
({3})
- Frau Wagenknecht hat heute zu diesem Thema nichts
gesagt. Wenn Sie etwas dazu gesagt hätte, hätte sie
wahrscheinlich eine gute Rede gehalten.
Noch einmal: Die Debatte verlassen hat meines Erachtens der Wirtschaftsminister, indem er die Kritik auf
eine andere Schiene gelenkt hat.
({4})
Ich sage es noch einmal: Ihre Argumentation, die Sie gegen uns richten, richtet sich gleichsam gegen alle anderen Organisationen, die Kritik gegenüber CETA und
TTIP äußern;
({5})
denn das, was wir fordern, ist Konsens innerhalb des
großen Bündnisses „TTIP verhindern“. Das heißt, das,
was wir hier vorbringen, ist keine parteipolitische Ideologie, sondern die Auffassung vieler Organisationen, wie
man mit diesem Thema umgehen sollte.
Ich glaube, es wäre besser, Sie würden sich hier hinstellen und sagen: Es ist verkehrt, dass die EU-Kommission eine Europäische Bürgerinitiative gegen TTIP ablehnt. - Sie müssen zulassen, dass sich die Menschen
demokratisch zu Wort melden, und sollten vielleicht dabei sein, wenn am 11. Oktober die Menschen gegen
TTIP und CETA demonstrieren. Dann würden Sie wahrscheinlich etwas erreichen. Sich aber hier zu Wort zu
melden und uns mit unserer Position in die Ecke zu stellen, ist ein bisschen fade. Herr Gabriel, Sie können es
gerne nachlesen; aber Sie haben heute mit der Demagogie begonnen.
({6})
Jetzt gibt es nach § 43 unserer Geschäftsordnung
- Recht auf jederzeitiges Gehör - den Wunsch, hier zu
sprechen. Es heißt dort:
Die Mitglieder der Bundesregierung und des Bundesrates sowie ihre Beauftragten müssen … auf ihr
Verlangen jederzeit gehört werden.
Dieser Wunsch wurde von Minister Sigmar Gabriel geäußert. Deswegen gebe ich ihm nach § 43 unserer Geschäftsordnung das Wort. Seine Redezeit wird von der
der Sozialdemokraten abgezogen. - Herr Gabriel, bitte.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich mache das deshalb, weil ich finde, dass wir gerade wegen
der großen Öffentlichkeit aufpassen müssen, dass keine
Legenden in die Welt gesetzt werden.
Herr Kollege, noch einmal in aller Klarheit: Morgen
entscheidet nur die EU, und zwar die alte Kommission,
darüber, dass, wie sie glaubt, die Verhandlungen beendet
sind. Sie fordern mich in Ihrem Antrag auf - mit Bezug
auf das Papier von SPD und DGB, das ich übrigens
wörtlich mit dem Kollegen Wetzel abgesprochen habe -,
dass ich das Verhandlungsergebnis mit dem Hinweis auf
das Investitionsschutzabkommen und anderes zurückweisen soll.
Ich habe Ihnen vorhin vorgetragen, dass wir am
12. September gegenüber der Europäischen Kommission
exakt das getan haben.
({0})
Das ist im Drahtbericht der Bundesregierung nachzulesen. Wir schicken Ihnen gerne meine Weisung an die
Kollegen, die im Ausschuss der Ständigen Vertreter für
das Bundeswirtschaftsministerium gesprochen haben,
aber auch meine Weisung an den Handelspolitischen
Ausschuss. Dort ist exakt diese Stellungnahme längst
abgegeben. Deswegen werden wir weiterverhandeln.
Gestern hat das österreichische Parlament - ich glaube,
mit einer Zweidrittelmehrheit - aus demselben Grund
beschlossen, dass sie ebenfalls weiterverhandeln wollen.
Hören Sie erstens bitte auf, den Eindruck zu vermitteln, es bedürfe Ihres Antrags! Dieser Antrag ist erledigt
durch Handeln der Bundesregierung.
({1})
Ich kann mir das übrigens deshalb so gut merken, weil es
an meinem Geburtstag passiert ist; es war aber kein Geburtstagsgeschenk. Tun Sie zweitens bitte nicht so, als
gäbe es keinerlei Chance, weiter zu reden! Das tun die
Österreicher, das werden andere tun, und das werden
auch wir machen. Der letzte Satz in der Positionierung
vom 12. September lautet: In der jetzigen Fassung ist das
Abkommen für Deutschland nicht zustimmungsfähig.
Ich hoffe, dass Sie jetzt nie wieder die Behauptung
aufstellen, wir hätten nichts getan. Das Problem ist, dass
Sie erstens viel zu spät kommen und zweitens nicht den
Mut hatten, das gesamte Papier mit dem DGB zum Antrag zu erheben, weil Sie gegen die Inhalte sind. Das haben Sie dankenswerterweise auch gesagt. Wo die Gewerkschaften erklärt haben, sie erhoffen sich Chancen
für Arbeitsplätze, haben Sie gesagt: Ich will die Verhandlungen nicht; ich will sie abbrechen. - Diese Position des Deutschen Gewerkschaftsbundes teilen Sie
nicht, und deswegen ist der Vorwurf an Sie, dass Sie Arbeitsplätze gefährden, berechtigt.
({2})
Ich will nur sagen: Wir haben eine bestimmte Redezeit für heute. Irgendwann ist Mitternacht.
({0})
- Moment, ganz ruhig. Ja, wir haben eine Geschäftsordnung. Die kenne ich auch. Deswegen lasse ich jetzt noch
einmal eine Kurzintervention zu, und zwar auf die nach
§ 43 unserer Geschäftsordnung erfolgte Wortmeldung
von Herrn Gabriel.
Herr Gabriel, es freut uns, dass wir heute offensichtlich einen wunden Punkt getroffen haben.
({0})
Ohne die Anträge insbesondere meiner Fraktion und
auch der Grünen hätte es bis heute im Bundestag noch
keine einzige Debatte über CETA und TTIP gegeben,
weil Sie die gleiche Politik wie die EU-Kommission machen wollten.
({1})
Ich sage es Ihnen jetzt noch einmal: Wenn das alles
schon erledigt wäre, warum tun Sie sich dann stundenlange Debatten auf einem Parteikonvent an?
({2})
Wenn alles schon erledigt gewesen wäre, dann könnten
Sie sagen: Es ist doch schon alles erledigt. Sie wollen
schon wieder die Leute hinter die Fichte führen.
({3})
Noch etwas: Herr Wetzel hat am selben Tag - ich kann
Ihnen die Pressemitteilung der IG Metall zeigen - gesagt:
Das Papier ist den Inhalt nicht wert, wenn die Bundesregierung das Verhandlungsergebnis zu CETA nicht zurückweist. Ich möchte nicht, dass Sie das irgendwo heimlich
machen. Die Öffentlichkeit erwartet morgen von Ihnen,
dass Sie sich an die Presse wenden und sagen: Wir lehnen dieses Verhandlungsergebnis ab. - Dann hätten Sie
einmal etwas getan, das auch bei den Bündnissen zu Gehör kommt. Ein Brief nach Brüssel, von dem niemand
etwas mitbekommt, kann nachher wieder verschwinden.
Sagen Sie einfach als Wirtschaftsminister: „Das akzeptieren wir nicht, was morgen in Ottawa diskutiert wird“!
Sie sind auch heute trotz viermaliger Wortmeldungen
nicht in der Lage, das deutlich zum Ausdruck zu bringen.
({4})
Danke, Herr Kollege Ulrich. - Jetzt kommt die andere
Seite des Hauses wieder dran. Das Wort hat Andreas
Lämmel für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Das ist schon ein Trauerspiel, was sich heute
hier abspielt.
({0})
Nachdem ich die Beiträge vor allem von der Linksfraktion verfolgt habe, muss ich klarstellen: Es geht hier
nicht um ein Beistands- und Freundschaftsabkommen
zwischen sozialistischen Bruderländern, bei dem einer
bestimmt, was zu tun ist, und den anderen ausplündert.
Vielmehr diskutieren wir über Freihandelsabkommen,
die für die Welt sehr wichtig sind.
({1})
Der Minister hat schon deutlich gemacht, wie wichtig
gerade für Deutschland freier Welthandel ist. Natürlich
wäre es uns tausendmal lieber, wenn wir im Rahmen der
Welthandelsorganisation Abkommen schließen könnten, die weltweit gelten und praktisch alle Probleme,
über die wir nun diskutieren, behandeln würden. Leider
ist die Verhandlungsführung innerhalb der Welthandelsorganisation im Moment kaum spürbar. Das letzte Abkommen, das im letzten Jahr auf Bali unter großen Mühen geschlossen wurde, wurde nun durch die indische
Regierung aufgekündigt, sodass nichts daraus wird.
Herr Ernst, Sie haben sich hier aufgeplustert. Ich kann
Ihnen nur raten: Bleiben Sie ruhig! Ihr Blutdruck macht
das sonst nicht lange mit. Als vor zwei Jahren das letzte
Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union
und Südkorea geschlossen wurde, ist das an Ihnen wahrscheinlich völlig vorbeigegangen. Das Thema Welthandel
hat Sie damals überhaupt nicht interessiert. Auf jeden Fall
ist schon zwei Jahre nach Abschluss dieses Freihandelsabkommens sichtbar, welche positiven Effekte es für beide
Seiten hat, sowohl für die südkoreanische Wirtschaft als
auch in überproportionalem Maße für die deutsche Wirtschaft.
Dass nun die zwei wirtschaftsstärksten Räume der
Welt, die Europäische Union und die Vereinigten Staaten, begonnen haben, über ein Freihandelsabkommen zu
verhandeln, ist doch das Beste, was uns passieren kann.
Es mag sein, dass Ihnen das nicht passt. Aber dass Sie
Ihre Versuche, die Sie in den letzten Monaten unternommen haben, um dieses Abkommen zu diskreditieren, nun
als Willen der Bürger darstellen, ist schlimm. Herr
Hofreiter, hier kann ich Sie nicht herauslassen, auch
wenn Sie nun sagen, dass Ihr Hinweis auf das Chlorhühnchen nicht so ernst gemeint gewesen sei.
({2})
Tatsächlich haben Sie das Chlorhühnchen als Beispiel
genutzt, um von Anfang an die Verhandlungen zwischen
den Vereinigten Staaten und Europa zu diskreditieren.
Nun bekommen Sie es mit der Angst zu tun, weil Sie offensichtlich die Geister, die Sie riefen, nicht mehr einfangen können.
({3})
Die Grünen positionieren sich wieder einmal ganz klar
als eine Partei, die sich gegen alles stellt. Das ist nach
wie vor Ihre Position. Ich warte ab, was Ihr heutiges „Ja,
aber“ tatsächlich bedeuten wird.
Mir sei die Frage gestattet, wie es sein kann, dass eine
NGO in Deutschland 700 000 Unterschriften gegen ein
Abkommen sammelt,
({4})
das überhaupt nicht existiert. Sie haben doch die Menschen belogen und ihnen gar nicht den Inhalt von TTIP
erklären können. Was Sie in der Öffentlichkeit verbreitet
haben, ist eine glatte Lüge. Es gibt überhaupt kein Abkommen, über das man heute entscheiden kann. Das
sollten Sie den Menschen deutlich sagen. Dass man über
die Inhalte und die einzelnen Positionen diskutiert, ist
doch selbstverständlich. Letztendlich wird kein Abkommen geschlossen werden, wenn nicht beide Partner klar
dahinterstehen.
Noch eine Anmerkung. Der DGB ist doch keine Nebenregierung. Bei den Verhandlungen über das Freihandelsabkommen spielt der DGB eine genauso wichtige
Rolle wie die Vertretung der deutschen Wirtschaft. Ihre
Darstellung, dass mit Ihrem Antrag gleichzeitig die Meinung des DGB im Deutschen Bundestag zur Abstimmung steht, ist doch völlig absurd, Herr Ernst.
({5})
Nun zu den Schiedsgerichten. Es wird so getan, als ob
Schiedsgerichte das Schlimmste auf der Welt wären.
Schiedsgerichte sind aber keine neue Erfindung. Sie legen beispielsweise Nachbarschaftsstreitigkeiten über
Knallerbsensträucher bei. Auch bei der Welthandelsorganisation und der Weltschifffahrtsorganisation gibt es
Schiedsgerichte und Schiedsverfahren. Es gibt zum Beispiel ein großes Schiedsverfahren zwischen Airbus und
Boeing wegen Subventionen im Bereich der Flugzeugindustrie.
({6})
Bei einem Schiedsgericht ist es doch erstens wichtig,
dass man klar definiert, was denn überhaupt Gegenstand
eines Schiedsverfahrens sein darf, zweitens, wie man die
Schiedsrichter beruft, und drittens, wie öffentlich so ein
Verfahren ist. Deswegen kann man aus meiner Sicht
nicht von vornherein sagen, Schiedsgerichte seien definitiv abzulehnen. Darauf hatte der Minister hingewiesen.
Sie von der linken Seite stellen es so dar, als ob Deutschland Verhandlungsführer wäre. Das stimmt nicht. Da
müssen Sie einmal die europäischen Verträge lesen. Sie
lesen aber nur die Passagen, die Ihnen irgendwie nützlich sein könnten. In den europäischen Verträgen steht
ganz klar, dass die Mitgliedstaaten das Recht der Verhandlungen an die Europäische Kommission abgetreten
haben. Die Bedingungen, über die wir hier diskutieren,
sind natürlich nicht in allen europäischen Ländern
gleich. Rumänien und Bulgarien zum Beispiel sind Länder, bei denen man nicht davon ausgehen kann, dass das
rechtliche System so gestaltet ist wie in Deutschland.
Man muss bei diesen Verhandlungen natürlich schon die
Situation in allen europäischen Ländern im Auge haben.
Die Freihandelsabkommen, die bisher geschlossen
worden sind, sind ganz klar Abkommen zum Vorteil von
kleinen und mittleren Unternehmen. Das Hauptfeindbild
der Linken und der Grünen sind die großen Konzerne,
und es wird behauptet, diese würden den Staat und die
Demokratie aushebeln. Der Hauptadressat von Freihandelsabkommen ist aber der Mittelstand, weil genau der
es sich oftmals nicht leisten kann, zweite Prüfverfahren
durchzuführen oder sich neuen Normen zu unterwerfen.
Das heißt, wir müssen diese Hemmnisse abbauen, damit
sich auch kleine und mittlere Unternehmen frei auf den
Märkten bewegen können. Darum geht es im Wesentlichen.
Ich habe auch noch nie gehört, dass Sie dagegen
wären, dass wir zum Beispiel mit Japan ein weiteres
Freihandelsabkommen aushandeln wollen oder dass wir
mit den Mercosur-Ländern in Gesprächen über ein Freihandelsabkommen sind. Sie sind in Ihrem Antiamerikanismus ausschließlich gegen ein Abkommen mit den
Vereinigten Staaten.
({7})
Eines dürfte sehr wichtig sein: Wenn es gelingt, zwischen Europa und Amerika ein Freihandelsabkommen
zu schließen, das höchste Standards hat - Sie behaupten
immer, in Amerika sei alles schlecht und die Standards
würden den europäischen Standards nicht entsprechen;
das ist natürlich nur die halbe Wahrheit -, glauben Sie,
dass dann in anderen Teilen der Welt Freihandelsabkommen geschlossen werden könnten, die unter diesem
Niveau liegen? Das heißt also, dass wir hier die Trendsetter sind. Genau deswegen ist es auch sehr wichtig,
dass die zwei größten Wirtschaftsräume der Welt
Handlungsfähigkeit beweisen.
Ich kann Ihnen nur sagen, Herr Ernst - Sie wollen
vielleicht in Brandenburg wieder mitregieren; man kann
nur hoffen, dass Ihr Wahlergebnis bei der nächsten Wahl
nicht nur halbiert wird, sondern nur noch ein Zehntel beträgt -:
({8})
Sie spielen immer mit den Ängsten der Leute und versuchen, diese für sich politisch zu nutzen. Dass das nicht
funktioniert, müssten Sie anhand der letzten Wahlergebnisse mitbekommen haben. Ich kann Ihnen nur empfehlen, Ihre Haltung dazu zu überdenken.
Wir als CDU/CSU-Fraktion stehen zu den Verhandlungen über das Freihandelsabkommen. Wir sind dafür,
dass diese Verhandlungen in absehbarer Zeit zum Abschluss kommen.
Vielen Dank.
({9})
Vielen Dank, Herr Kollege Lämmel. - Nächste Rednerin in der Debatte ist Katharina Dröge für Bündnis 90/
Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister Gabriel, ich muss
Ihnen lassen: Sie sind ein guter Redner.
({0})
Die Rede, die Sie hier gehalten haben, war geschickt.
Abgesehen von dem Teil, in dem Sie die Linke beschimpft haben und den ich weder sonderlich gelungen
noch sonderlich angemessen fand,
({1})
kann ich verstehen, dass Sie in dem Dilemma, in dem
Sie gerade stecken, eine solche Rede gehalten haben. Ihr
Problem ist nur: Auch so eine Rede löst Ihr Dilemma
nicht.
({2})
Sie sind Wirtschaftsminister, und Sie wollen die Freihandelsabkommen zum Erfolg führen. Sie hoffen auf
Wachstum und Arbeitsplätze für Deutschland. Ich habe
allerdings erhebliche Zweifel an den Wachstumsprognosen, insbesondere wenn man ernst nimmt, was Sie hier
zum Schutz der Standards sagen. Wenn man die Gutachten liest, dann erkennt man: 90 Prozent der erwarteten
Wachstumseffekte sind auf den Abbau nichttarifärer
Handelshemmnisse zurückzuführen. Schauen Sie sich
einmal ganz genau an, was unter nichttarifären Handelshemmnissen zu verstehen ist! Wenn man gleichzeitig
Standards schützen und Wachstum generieren will, dann
hat man da ein Problem.
({3})
Ich will gerne eine Frage an die Kolleginnen und Kollegen von der CSU richten, weil die CDU anscheinend
eine wundersame Prognosefähigkeit besitzt. Sie verspricht im Internet, durch TTIP würden auf gar keinen
Fall Arbeitsplätze verloren gehen. Ich bin gespannt,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der CSU, wie Sie
das den bayerischen Landwirten erklären werden, wenn
TTIP tatsächlich kommen sollte.
({4})
- Ja, das wird dann auch Ihr Problem sein.
Unabhängig von den Zweifeln, die ich an den Wachstumsprognosen habe, kann ich verstehen, dass ein WirtKatharina Dröge
schaftsminister gegenüber der Industrie das Signal geben
möchte, dass die Vereinheitlichung technischer Standards, beispielsweise bei Autospiegeln und Blinkerfarben, nicht an der deutschen Bundesregierung scheitert.
Das Problem ist nur: Weder TTIP noch CETA beschränkt sich auf solche Sachen, und das wissen Sie
ganz genau.
({5})
Ich nehme Ihnen als SPD-Parteivorsitzendem ab, dass
es Ihnen nicht egal ist, dass die Zivilgesellschaft, die Gewerkschaften, die Umweltverbände, die Kommunen und
auch die mittelständische Wirtschaft erhebliche Bedenken gegen diese Freihandelsabkommen haben. Ich
nehme Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
SPD, auch ab, dass Sie viele Kritikpunkte nachvollziehen können und einige der Kritikpunkte sogar teilen.
Damit kommen wir zu dem Parteikonventsbeschluss,
den Sie am Wochenende gefasst haben. Ich kann sagen:
Darin sind viele richtige Punkte, denen wir auch zustimmen würden. Es ist jetzt Ihre Sache, liebe Kolleginnen
und Kollegen von der SPD, wie Sie mit diesem
Beschluss umgehen und was Sie damit dann hier im Plenum machen; da werde ich Ihnen nicht reinreden.
({6})
Ihnen, Herr Gabriel, habe ich genau zugehört. Sie haben hier vor wenigen Minuten gesagt, dass Sie diese
Punkte zur Maxime Ihres Regierungshandelns machen
werden. Das Problem ist nur: All das, was Sie hier vorgetragen haben und was Sie aufgeschrieben haben, hat
mit der Realität recht wenig zu tun.
({7})
Das hat mit den Protokollen, die wir von den TTIPVerhandlungen zu lesen bekommen, und auch mit dem
CETA-Vertragsentwurf, der uns seit Anfang August
vorliegt, wenig zu tun. Ich erwarte von Ihnen als Wirtschaftsminister schon, dass Sie sich auch mit der Realität
auseinandersetzen.
({8})
Die Realität ist ein CETA-Abkommen, in dem ein
Investitionsschutzkapitel und Klageprivilegien für
Konzerne enthalten sind, die es Großunternehmen ermöglichen, gegen die Bürger und gegen den Umweltschutz zu klagen. Dafür, dass das keine Erfindung von
uns ist, gibt es vielfältige Beispiele auf der ganzen Welt,
die Sie sich sehr genau anschauen sollten, Herr Kauder.
({9})
Die Realität sind außerdem TTIP-Verhandlungen, in
denen uns die Bundesregierung bislang keine einzige
klare Antwort darauf gegeben hat, wie das europäische
Vorsorgeprinzip geschützt werden soll und wie garantiert werden kann, dass die Standards nicht abgesenkt
werden. Ich bekomme von Ihnen Antworten über
Antworten auf Kleine Anfragen, in denen steht: Auf gar
keinen Fall wird die regulatorische Kooperation in TTIP
dazu führen, dass die Standards gesenkt werden. - Nur
auf die eine Frage, wie Sie das machen wollen, welche
Vorstellungen Sie haben, das zu sichern, habe ich noch
keine einzige Antwort von Ihnen bekommen.
({10})
Dann noch zu Ihnen, Herr Tiefensee. Sie haben hier
gesagt, wir Grünen hätten uns im Bundestag zu wenig
positioniert. Dazu hat mein Kollege von den Linken
schon etwas gesagt. Von der SPD und auch von der
CDU/CSU ist in dieser Wahlperiode noch kein einziger
Antrag zu TTIP und CETA in den Deutschen Bundestag
eingebracht worden.
({11})
Von uns ist dazu schon eine ganze Reihe von Anträgen
in den Deutschen Bundestag eingebracht worden,
({12})
und die Anträge haben Sie vor der Europawahl in die
Ausschüsse versenkt.
({13})
Sie haben die Debatte nicht ermöglicht - zu einem Zeitpunkt, als das TTIP-Konsultationsverfahren noch lief
und es notwendig und sinnvoll gewesen wäre, dass der
Deutsche Bundestag Stellung nimmt, so wie es 150 000
Bürgerinnen und Bürger in ganz Europa getan haben.
({14})
Diese Chance hat der Deutsche Bundestag verpasst, weil
Sie die Anträge in die Ausschüsse versenkt haben und
die Frist nun abgelaufen ist.
Jetzt noch ganz kurz Folgendes: Meine Fraktion hat
sich die Entscheidung zu der Positionierung zu TTIP und
CETA nicht leicht gemacht. Es gibt niemanden in meiner Fraktion, der sagt, dass gute Standards und ein fairer
Welthandel nicht etwas sind, was wir Grünen fördern
wollen und woran wir Grünen arbeiten. Wir haben uns
konkret mit dem auseinandergesetzt, was hier vorliegt.
Wir haben Rechtsgutachten in Auftrag gegeben. Wir haben uns sogar noch einmal mit Ihrem Rechtsgutachten
auseinandergesetzt, Herr Gabriel. Heute haben wir ein
zweites Gutachten vorgestellt, in dem erhebliche Zweifel
daran geäußert werden, dass das, was Sie hier versprechen, nämlich dass das Investitionsschutzkapitel in
CETA eine Lappalie sei, gegeben ist. Im Gegenteil: Wir
sehen weiterhin erhebliche Risiken in dem Vorschlag,
den Sie uns hier vorlegen.
({15})
Wir haben uns damit auseinandergesetzt und kommen zu
dem Ergebnis, dass es nicht verantwortbar ist, diese
beiden Freihandelsabkommen in der aktuellen Fassung
mitzutragen. Dies gilt insbesondere für die Ausgestaltung der Investitionsschutzkapitel.
Sie versprechen uns hier viel. Das Einzige aber, was
Sie nicht machen, ist, sich festzulegen. Sie sagen immer
nur, dass Sie Investitionsschutz ablehnen. Wenn es aber
zum Schwur kommt, wenn wir Anträge stellen, dann
stimmen Sie nicht zu. Das wird auch heute leider so sein.
Ich kann nur sagen: Liebe Kolleginnen und Kollegen
von der SPD, wenn Sie das ernst meinen, was Sie am
Wochenende beschlossen haben, nämlich dass ein Investor-Staat-Schiedsgerichtsverfahren in jedem Fall abzulehnen ist, dann stimmen Sie unserem Antrag heute bitte
zu.
Bitte kommen Sie zum Schluss, Frau Kollegin.
Linke und Grüne haben in diesem Bundestag aktuell
leider keine Mehrheit, um das durchsetzen zu können.
({0})
Wenn Sie das ernst meinen, was Sie sagen, dann haben
Sie eine Mehrheit für Ihre Position im Deutschen
Bundestag. Wir würden uns freuen, wenn Sie den Weg
frei machen.
({1})
Danke, Frau Kollegin Dröge. - Nächster Redner in
der Debatte ist Dirk Wiese für die SPD.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Zunächst drei Anmerkungen.
Erstens. Die von der Fraktion Die Linke vorgelegten
Entschließungsanträge sind vor allem eines:
({0})
Gysi-Plag im Deutschen Bundestag, alles abgeschrieben
und geklaut, Copy-and-Paste in Reinform, kein Zeugnis
von einer eigenen sachlichen und kritischen Auseinandersetzung mit dem Thema.
({1})
Zweitens. Den Gegnern aufseiten der Linken geht es
doch nicht um Arbeitnehmerrechte, Sozialstandards und
Verbraucherschutz. Denn wenn es um ein Freihandelsabkommen mit Putins Russland ginge, dann würde sich
Klaus Ernst als Erster eine Schürze umbinden und im
Bundestag Chlorhühnchen brutzeln.
({2})
Sie würden auf eine Vertragsunterzeichnung drängen.
Erlauben Sie eine Rückfrage vom „Chlorhühnchen“
Klaus Ernst?
({0})
Ja, selbstverständlich.
Es freut mich, dass Sie hier noch für Stimmung sorgen. Aber sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass
es hier gar nicht um ein Handelsabkommen mit Russland
geht? Weil das so ist, möchte ich außerdem fragen:
Glauben Sie tatsächlich, dass ich als Oberbayer eine
ganz besondere Affinität zu Russland habe? Das müssten Sie mir schon einmal nachweisen.
Ich möchte noch etwas sagen. Ich erlebe in dieser Debatte permanent gegenseitige Diffamierungen, ohne dass
auf den Inhalt eingegangen wird. Da noch mehrere Redner von der Koalition sprechen werden, möchte ich Sie
bitten, auch ein wenig zum Inhalt zu sagen. Ich habe
heute gehört, wir seien Nationalisten. Außerdem habe
ich gehört, wir seien fast so wie die AfD. Dann höre ich
berechtigterweise den Hinweis, man solle doch bitte
schön ein bisschen vorsichtig sein und auf die gegenseitige Glaubwürdigkeit achten. Glauben Sie nicht, dass
es angesichts der langen Redezeit, die den Regierungsfraktionen noch zur Verfügung steht, sodass wir Ihnen
noch zuhören dürfen, auch sinnvoll wäre, ein wenig auf
den Inhalt einzugehen und sich den Unfug mit Russland
zu sparen?
({0})
Sehr geehrter Kollege Ernst, ich nehme das gerne zur
Kenntnis. Ich schaue auf die Uhr und stelle fest, dass ich
gerade einmal 37 Sekunden geredet habe. Insofern
komme ich auf die Inhalte noch zu sprechen. Deshalb
bitte ich Sie an dieser Stelle um ein bisschen Geduld.
Was ich mit diesem Vergleich deutlich machen
möchte - das sage ich hier ganz offen -, ist, dass es
Ihnen nicht um die Details des Abkommens geht.
({0})
Ihnen geht es nicht darum, was später drinstehen wird.
Es geht Ihnen nur darum, mit wem das Abkommen geschlossen wird. Das ist ganz klar.
({1})
An dieser Stelle sind Sie geschlossen und geeint in Ihren
Reihen: Amerika ist schlecht. Mit den Amerikanern
macht man keine gemeinsame Sache. - Zu dieser Aussage stehe ich auch an dieser Stelle.
({2})
Drittens. Selbst wenn wir bei den Abkommen - an
dieser Stelle werde ich polemisch - die sofortige Verstaatlichung von Schlüsselindustrien und die Einführung
des Sozialismus beschließen würden, die Linke würde
nicht zustimmen. Das Gleiche gilt beim Verbraucherschutz. Hierzu nenne ich Ihnen ein Beispiel. Fettige
Pommes aus Europa sind Ihres Erachtens gut - die essen
Sie auch -, fettige Pommes bei McDonald’s lehnen Sie
aber ab. Dies ist nur ein Beispiel.
({3})
Es ist eigentlich sinnlos, auf die Vorwürfe und Verzerrungen der Opposition einzugehen. George Orwell
hat aber einmal zu Recht gesagt:
Freiheit ist das Recht, anderen zu sagen, was sie
nicht hören wollen.
Das will ich als Mitglied des Ausschusses für Ernährung
und Landwirtschaft gerne machen.
In Europa gilt das Vorsorgeprinzip „farm to fork“. In
den USA gilt dieses Prinzip nicht. Meine klare Einschätzung ist, dass wir hier nicht zusammenfinden; denn was
für die Europäer ein amerikanisches Chlorhühnchen ist
- da gebe ich Ihnen recht -, betrachten die Amerikaner
bei uns zu Recht als europäisches Salmonellenhühnchen.
Die finden unseres nicht gut, wir finden ihres nicht gut.
Dann kommen wir nicht zusammen. Dann kommt es
eben hier nicht auf den Teller und dort auch nicht. Ich
persönlich glaube, dass das Wort „Chlorhühnchen“ - gestatten Sie mir an dieser Stelle die Anmerkung - 2014
das Unwort des Jahres wird.
Gerade im Bereich von Lebensmitteln und Landwirtschaft wird der Markt für Chlorhühnchen, genveränderte
Lebensmittel oder hormonbehandeltes Rindfleisch zubleiben. Das führt aber in den Verhandlungen dazu, dass
wir ein Geben und Nehmen haben. Wir müssen
vielleicht darüber nachdenken, den Markt für nicht hormonbehandeltes Rindfleisch zu öffnen oder den USA zu
sagen, dass Käse und Milch aus Europa gar nicht so
schlecht sind; denn sie haben dort ein paar Vorurteile.
Wichtig ist nur, dass es zu keiner Absenkung von
Standards kommt. Lassen Sie uns nicht immer von einer
Absenkung von Standards reden. Lassen Sie uns einmal
darüber reden: Warum setzen wir uns nicht alle gemeinsam dafür ein, unsere hohen europäischen Standards
zum Exportschlager zu machen? Lassen Sie uns diese
Debatte einmal andersherum führen.
({4})
Glauben Sie mir, liebe Kolleginnen und Kollegen der
Linkspartei: Die gesamte SPD diskutiert sehr intensiv
über ein Für und Wider des Abkommens. Viele berechtigte Kritikpunkte finden sich im von Ihnen geklauten
und zudem unvollständig vorgelegten Beschluss des
Parteikonvents. Wir sehen aber auch die Chancen. Wichtig ist mir als Mitglied des Deutschen Bundestages - ich
glaube, hier kann ich für alle Kolleginnen und Kollegen
sprechen -, dass es ein gemischtes Abkommen ist, dass
wir am Ende mitentscheiden. Das ist das Wichtige. Wir
tragen Mitverantwortung. Darauf kommt es mir an.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Vielen Dank, Herr Kollege Wiese. - Nächster Redner
in der Debatte ist Dr. Hans-Peter Friedrich für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Der Verlauf der Debatte zeigt, wie
wichtig es ist, dass wir hier im Deutschen Bundestag
sicher nicht zum letzten Mal über diese wichtige Frage
reden. Bei diesem Abkommen mit den USA handelt es
sich um eine der wichtigsten wirtschaftspolitischen Entscheidungen, wahrscheinlich für die nächsten Jahre.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sollten
uns darüber im klaren sein - das wurde heute schon
mehrfach gesagt -: Unsere Stärke, der Wohlstand unseres Landes beruhen darauf, dass es offene Märkte gibt,
dass es freien Handel gibt. Sie, Kollegen von den Linken, sollten nach 25 Jahren langsam einmal lernen, dass
man Wettbewerbsfähigkeit und Wohlstand nicht schafft,
indem man Mauern um Länder baut, sondern indem man
Märkte öffnet. Das ist der entscheidende Punkt, und deswegen ist es hier so wichtig.
({0})
Wir haben eine Verantwortung, die über Deutschland
hinausgeht. 25, 26 Millionen Arbeitslose in Europa
haben mit einem Freihandelsabkommen jetzt die Chance
auf geschätzt zwischen einer halben und anderthalb
Millionen neue Arbeitsplätze. Ich glaube, diese Chance
dürfen wir uns nicht entgehen lassen.
Wir sind ein Land, das eine Exportquote von 40 Prozent hat. Kollege Tauber hat schon darauf hingewiesen:
Experten haben ausgerechnet, wenn wir keine offenen
Märkte hätten, dann hätten wir in Deutschland nur noch
die Hälfte unseres Wohlstands. Das heißt, jeder hätte
Monat für Monat nur noch die Hälfte des Einkommens
in der Tasche. Ich glaube, das zeigt, welche Bedeutung
offene Märkte und freier Handel haben.
Lassen Sie mich ein Wort zu den Grünen sagen: Ich
verstehe, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen,
dass Sie keine richtigen Themen mehr haben. Die Kernenergie ist Ihnen weggenommen worden. Sie haben
keine Botschaft mehr. Ich bitte Sie, wenn Sie neue Themen suchen, nehmen Sie nicht die falschen. Werden Sie
bitte Ihrer Verantwortung gerecht. Hier geht es um viel
für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, für die
Verbraucherinnen und Verbraucher, für die Menschen in
Deutschland und Europa. Ich bitte Sie um eine differenzierte Diskussion und nicht um eine holzschnittartige,
wie wir sie hier erlebt haben.
({1})
Dr. Hans-Peter Friedrich ({2})
Natürlich - der Bundeswirtschaftsminister hat darauf
hingewiesen - gibt es im Zusammenhang mit diesem
Abkommen auch Herausforderungen. Es ist natürlich ein
Unterschied, ob man ein Freihandelsabkommen mit einem Entwicklungsland macht, wo die Strukturen relativ
einfach, überschaubar sind, oder ob hochentwickelte
Industriegesellschaften zusammen ein Freihandelsabkommen machen, weil dort die Komplexität der
Neben- und Auswirkungen viel größer ist. Deswegen
muss man da sorgfältig herangehen und differenziert
diskutieren. Deswegen ist der Stil und die Art und
Weise, wie diskutiert wird - holzschnittartig, schwarz
und weiß -, der falsche Weg. Wir müssen die Chancen
nutzen und die Risiken minimieren. Das ist auch unsere
Aufgabe als gewählte Parlamentarier in diesem Haus.
({3})
Ich möchte gerne auf den Kern dieses Freihandelsabkommens - eigentlich jedes Freihandelsabkommens eingehen. Es geht zum einen darum, dass keine Zölle
mehr erhoben werden. Zölle führen dazu, dass die
Verbraucher in den Ländern, in die geliefert wird, mehr
zahlen müssen und die Waren nicht in einem fairen
Wettbewerb stehen; das beste Produkt, das in der Regel
aus Deutschland kommt, setzt sich vielleicht nicht durch,
weil es durch Zölle benachteiligt wird. Deswegen ist der
Abbau von Zöllen immer wichtig.
Nun wird eingewendet - sicherlich zu Recht -, die
Zölle in Richtung USA seien gar nicht so hoch. Aber wir
haben an dem Beispiel, das Kollege Tauber vorhin genannt hat, gesehen: In einzelnen Branchen und Bereichen sind die Zölle höchst relevant. Wenn die Zölle in
der Summe 20 bis 27 Prozent betragen, dann sind sie für
eine Branche natürlich ein Nachteil. Deswegen ist der
Abbau von Zöllen wichtig.
Der eigentliche Kern dieses Freihandelsabkommens
besteht aber in etwas anderem, nämlich in der Chance,
dass Europa und Amerika künftig in der Lage sind, bei
neuen Technologien gemeinsam die Normen zu setzen,
die dann weltweit gelten. In der EU und den USA leben
gerade einmal gut 820 Millionen Menschen, aber dort
werden 50 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts
erwirtschaftet. Diese 820 Millionen Menschen haben die
Chance, die Standards für die restliche Welt - für China,
Afrika, Südamerika - zu setzen, die dann dort befolgt
werden müssen. Diese Chance müssen wir wahrnehmen.
Ein Experte hat einmal richtigerweise gesagt: Normen sind die Sprache des Welthandels, und wer die
Normen setzt, in dessen Sprache wird der Welthandel
stattfinden. - Das ist ein ganz entscheidender Punkt.
Wenn wir in Europa jetzt die Chance verpassen, zusammen mit den USA die Normensetzer für neue Technologien der Zukunft zu werden - da geht es gar nicht mal
um die bisher bestehenden Normen der Vergangenheit,
sondern um neue Technologien, die tagein, tagaus erfunden werden und häufig auch wichtig werden -, dann machen wir einen entscheidenden und großen Fehler.
({4})
Ein deutscher Mittelständler hat es einmal so formuliert: Die technischen Normen sind die Reisepässe für
Waren und Güter. - Wir, die Europäer, und die Amerikaner können diejenigen sein, die die Reisepässe ausstellen, und das ist ein Riesenvorteil auch für unsere mittelständischen Unternehmer. Das muss man doch
begreifen, anstatt immer über Konzerne zu schwadronieren; das ist der falsche Weg. Unsere Mittelständler werden von diesem Abkommen und der Normensetzung am
allermeisten profitieren.
({5})
Es geht nicht um die Absenkung von Standards; das
ist sowohl in den USA als auch in Europa immer wieder
von höchster Stelle erklärt worden. Meine Damen und
Herren, weder die europäische noch die amerikanische
Wirtschaft hat es nötig, Standards einzuführen, um damit
Dumping auf anderen Märkten zu betreiben; beide haben
es nicht nötig, und beide brauchen es nicht.
Im Übrigen: Bei Umfragen in den Vereinigten Staaten
sagen die Verbraucher dort, dass die amerikanischen Sicherheits- und Gesundheitsstandards selbstverständlich
viel höher als die europäischen sind. Sie können die Umfrage machen, wo Sie wollen: Jeder glaubt, dass er die
höchsten Standards hat. Wir werden in diesem Abkommen keine Mechanismen akzeptieren, die zur Absenkung von Standards im Umweltbereich, im Sozialbereich, im Gesundheitsbereich - wo auch immer führen. Das ist, glaube ich, Konsens, auch in diesem
Haus. Umgekehrt sage ich aber auch: Wir können nicht
erwarten, dass die Amerikaner akzeptieren werden, dass
das Betriebsverfassungsgesetz morgen auch in den USA
gilt. Ich bitte darum, die Erwartungen, was das angeht,
vielleicht etwas zu senken.
Das Thema Dienstleistungen muss angesprochen
werden; denn Dienstleistungen machen inzwischen ein
Drittel des Handels zwischen Deutschland und den USA
aus. Das ist ein wichtiger Punkt. Vor allem Logistik- und
Unternehmensdienstleistungen sind zentrale Themen.
Bitte hören Sie auf, zu behaupten, die Dienstleistungsfreiheit, die in diesem Abkommen vorgesehen ist, würde
zur Privatisierung der Daseinsvorsorge führen. Solch einen Unfug habe ich überhaupt noch nie gehört.
({6})
Handelsvorschriften führen nicht zu einem Zwang zur
Privatisierung. Wer so etwas behauptet, redet den Leuten
einfach Dinge ein; das hat einen Zweck, der nicht mit
dem zu vereinbaren ist, was wir als Abgeordnete und als
Parlamentarier letzten Endes zu verantworten haben.
Ich will etwas zum Thema Finanzdienstleistungen sagen; das ist ein wichtiger Punkt. Beim Thema Finanzdienstleistungen müssen wir sehr genau hinschauen, um
zu wissen, worum es da geht. Den Rahmen - das hat
Kollege Lämmel vorhin angedeutet - bilden im Grunde
die G 20; auf dieser Ebene wurden sehr viele Regulierungen im Bereich der Bankenaufsicht vorgenommen.
Aber es gibt bisher noch wenig Konsistenz bei der Umsetzung. Wir könnten versuchen, gemeinsame Standards
der Vereinigten Staaten und Europas bei der Regulierung
der Finanzmärkte und der Wertpapier- bzw. Bankenaufsicht zu etablieren. Das kann eine große Chance sein.
Auch hier gilt unser Credo: Wir werden keine AbsenDr. Hans-Peter Friedrich ({7})
kung und keine Lockerung der Regulierung und der
Standards im Bereich Finanzdienstleistungen und Banken zulassen.
({8})
Ein letztes Wort zum Investitionsschutzabkommen.
Denklogisch ist es nicht notwendig, dass ein Freihandelsabkommen ein Investitionsschutzabkommen hat.
Man kann das eine ohne das andere machen; das ist
überhaupt keine Frage. Auf der anderen Seite wissen
Sie, dass Deutschland die Investitionsschutzabkommen
erfunden hat, weil man verhindern wollte, dass deutsches Kapitel irgendwo im Ausland verschwindet und
deutsche Sparer enteignet werden.
Die Bundesrepublik hat bereits über 130 Investitionsschutzabkommen abgeschlossen. In den über 3 000 Abkommen, die es weltweit gibt, sind Unzulänglichkeiten
festzustellen; darauf ist bereits hingewiesen worden. Ein
Problem ist die Intransparenz. Man weiß nicht genau,
wie die Schiedsrichter ausgewählt werden. Das muss
man ändern. Ein weiteres Problem ist, dass Kosten entstehen, die für Mittelständler untragbar sind. Man hat
ausgerechnet: Eine Klage kostet 8 Millionen Dollar.
Eine solche Summe macht jeden Mittelständler platt. Im
Grunde genommen steht er vor einer Rechtsverweigerung.
Herr Kollege, Sie stehen vor dem Ende Ihrer Redezeit.
All diese Dinge müssen berücksichtigt werden. Es besteht die Chance - wenn man das will und wenn man die
Kraft dazu hat -, dass man in einem Investitionsschutzabkommen zwischen Europa und den Vereinigten Staaten all diese offenen Fragen regelt. Aber das wird der
weitere Verlauf der Diskussion mit sich bringen.
Ich bitte Sie nur um eine differenzierte Diskussion.
Hören Sie auf, Schwarz-Weiß-Malerei und holzschnittartige Angstmache zu betreiben. Das entspricht
nicht der Wahrnehmung der Verantwortung von Parlamentariern.
Vielen Dank.
({0})
Vielen Dank, Herr Kollege Friedrich. - Es stehen
noch drei Redner auf meiner Liste, und ich bitte Sie, diesen drei Rednern auch noch zuzuhören. Wir führen eine
sehr lebendige Parlamentsdebatte. Ich stelle fest, dass
immer mehr Zwischengespräche geführt werden. Sie
mögen interessant sein, aber ich bitte Sie: Führen Sie die
Gespräche nicht hier im Saal.
Nächster Redner ist Sascha Raabe für die SPD.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Eigentlich ist es schräg und missverständlich, dass die Debatte die Überschrift „Freihandelsabkommen“ trägt. Es wird so getan, als sei der Handel
zurzeit nicht frei.
({0})
Ich sage: Der Handel ist einerseits im Bereich Arbeitnehmerrechte und Menschenrechte leider zurzeit ein
sehr freier Handel. Andererseits gibt es technische Normen, die den Handel beschränken, zum Beispiel Zölle.
Wir stehen vor einer verrückten Situation: Ein Autoblinker, der die falsche Farbe hat, eine Banane, die nicht
die richtige Krümmung hat, dürfen in die Europäischen
Union nicht eingeführt werden. Aber ein T-Shirt, an dem
Blut klebt, weil Näherinnen und Näher wie Sklaven
ausgebeutet werden, weil Fabriken einstürzen und die
Menschen bei lebendigem Leib verbrennen, darf in die
Europäische Union eingeführt werden.
Uns geht es bei dem Abkommen mit den USA deshalb darum, jetzt die entsprechenden Normen zu setzen.
Herr Kollege Hans-Peter Friedrich, es kann dabei aber
nicht nur um technische Normen gehen, die aus europäischer Sicht weltweit gelten sollen. Wir müssen uns dafür
einsetzen, dass in den Freihandelsabkommen auch Normen in Bezug auf Arbeitnehmerrechte und Menschenrechte verankert werden. Freihandel muss zukünftig
Freiheit für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
bedeuten. Sie sollen frei und gut arbeiten können. Wir
wollen Arbeitsplätze, und zwar gute Arbeitsplätze. Dafür setzen wir uns als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ein.
({1})
Herr Kollege Tauber, Sie haben als Beispiel die Präsidentin des Gesamtverbandes der deutschen Textil- und
Modeindustrie angeführt, die gesagt hat, sie könne nach
Abschluss von TTIP besser in die USA exportieren. Wir
müssen allerdings gerade auch im Hinblick auf die
Textilindustrie bedenken: Die Europäische Union verhandelt derzeit ebenso Freihandelsabkommen mit Indien
und Vietnam. Wenn wir jetzt ein Abkommen schließen,
das fast die Hälfte des weltweiten Bruttosozialprodukts
umfasst, dann ist es umso wichtiger, dass wir messerscharf hineinschreiben, dass entsprechende Standards
gesetzt und die acht ILO-Kernarbeitsnormen sowohl im
Abkommen mit Kanada als auch mit den USA verbindlich verankert werden mit überprüfbaren und wirksamen
Sanktionsmechanismen, wie sie auch für die anderen
Kapitel gelten. Denn nur dann können wir auch den Indern sagen, dass wir das Gleiche von ihnen erwarten.
Denn wir wollen, dass die Globalisierung endlich den
Menschen, den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern,
dient. Dafür werden wir uns in den Gesprächen zum
Freihandelsabkommen einsetzen.
({2})
Ich bin dem Bundeswirtschaftsminister ausdrücklich
dankbar dafür, dass er in dem Papier, das mit dem DGB
erarbeitet wurde, und auch im Beschluss des Parteikonvents, und zwar ganz am Anfang, ausdrücklich betont:
Das Freihandelsabkommen „muss seinen Wert … darin
beweisen, dass es zu Fortschritten beim Schutz von Arbeitnehmerrechten, dem Verbraucherschutz und nachhaltigem Wirtschaften im globalen Maßstab beiträgt. …
Diese normsetzende Kraft des Abkommens kann zum
Hebel einer politischen Gestaltung der wirtschaftlichen
Globalisierung werden.“
Genau darum geht es. So steht es auch an zwei Stellen
im Koalitionsvertrag. Wir werden unseren Wirtschaftsminister dabei unterstützen, dass die Arbeitnehmerrechte
voll eingehalten werden. In dem Sinne brauchen wir keinen zusätzlichen Antrag, in dem gefordert wird, was wir
selbst in den Koalitionsvertrag geschrieben haben und
was die SPD im Konvent beschlossen hat.
Wenn die Kollegen bei der CDU sagen, sie haben
Probleme mit dem Beschluss des Parteikonvents, dann
können sie im Koalitionsvertrag nachlesen, dass wir die
Freihandelsabkommen immer an die verbindliche Verpflichtung gebunden haben, die Kernarbeitsnormen der
Internationalen Arbeitsorganisation einzuhalten und
Menschenrechte sowie soziale und ökologische Standards zu wahren. Dafür werden wir streiten. Wir haben
die große Chance, als Parlamentarier die Globalisierung
im Sinne der Menschen politisch zu gestalten.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank, Sascha Raabe. - Nächster Redner in der
Debatte ist Dr. Matthias Heider für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das ist heute schon eine sehr polarisierende Debatte. Ich
glaube aber, dass es nicht sinnvoll ist, den Wert von Handelsabkommen kleinzureden. Es ist unsere Aufgabe als
Abgeordnete, bei diesen Abkommen Chancen zu ermöglichen. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition,
ich kann heute nicht erkennen, dass Sie dazu beitragen.
Sie wollen Deutschland auf Standby halten. Es kommt
bei diesen Handelsabkommen aber auf mehr an. Dazu
sind Sie aber einfach nicht bereit.
({0})
Herr Kollege Ernst, es braucht zwei, um einen Tango zu
tanzen. Sie wollen ihn gerne allein tanzen. Das wird aber
nicht funktionieren.
({1})
Bisher hat es eine ganze Reihe von guten Argumenten
gegeben, auf deren Basis wir heute diskutiert haben. Wir
haben uns aber noch nicht so genau den kanadischen
Markt angesehen und geschaut, was wir da machen können. Ich glaube, dass die Dimension vielen Bürgerinnen
und Bürgern draußen im Land auch nicht so bewusst ist.
Kanada ist einer der wichtigsten Handelspartner der Europäischen Union. 2013 haben wir Exporte im Umfang
von „nur“ 31 Milliarden Euro nach Kanada geschickt.
Zu den meistgehandelten Gütern aus der EU nach Kanada zählen Maschinen und Ausrüstungen - 22 Prozent -,
Chemikalien - ungefähr genauso viel - und Autos und
Autoteile mit fast 11 Prozent. Danach folgen Transportmaterialien, Petroleum, Getränke und andere Dinge.
Deutschland ist einer der wichtigsten Partner von Kanada. Insgesamt entfielen aber nur 9 Milliarden von diesen 31 Milliarden Euro auf unseren Export. Da geht etwas mehr. Da ist mehr Umsatz und mehr Geschäft für
deutsche Unternehmen drin. Es können Arbeitsplätze
geschaffen werden, weil Zölle abgeschafft und einheitliche Standards erarbeitet werden. Freihandel bringt Vorteile für unsere Unternehmen.
Herr Kollege Hofreiter, jetzt hören Sie gut zu. Das betrifft insbesondere die mittelständischen Unternehmen,
die Sie vorhin angesprochen haben.
({2})
Gerade die Verfahren zur Zulassung von Produkten erschweren den kleinen und mittelständischen Unternehmen den Zugang zum amerikanischen und kanadischen
Markt. Da Sie gefragt haben, will ich Ihnen gern ein paar
Beispiele mit auf den Weg geben:
({3})
In Deutschland müssen zum Beispiel im Maschinenbau Notabschaltknöpfe in Höhe von 1,10 bis 1,30 Metern an Maschinen angebracht werden. In den USA sind
es 90 Zentimeter bis 1,10 Meter. In der EU sind Neutralleiterkabel in der Elektronik standardmäßig blau gefärbt.
In den USA müssen die gleichen Kabel weiß sein. Produkte wie Ventilatoren müssen in der EU zertifiziert
werden und erhalten das CE-Zeichen. Wenn Sie in die
USA exportieren wollen, dann müssen Sie das gleiche
Verfahren nach US-Norm noch einmal durchlaufen. In
einem deutschen Unternehmen braucht es allein 15 Entwickler, um diese amerikanischen Standards abzubilden.
Im chemischen Bereich führt die unterschiedliche Kennzeichnungspraxis dazu, dass viele Produkte für den Verkauf in die USA anders bezeichnet und anders etikettiert
werden müssen. Außerdem müssen Labore in der Chemie und im Medizinbereich von zwei Behörden, sowohl
von der europäischen wie auch von der amerikanischen
Behörde, zertifiziert werden.
Ein weiterer Teil der Abkommen ist, dass viele Herkunftsbezeichnungen, auch im landwirtschaftlichen Bereich, betroffen sind. Ein Beispiel: Deutsche Brauereien
werden in den USA mit einer Reihe von bayerischen
Bieren konfrontiert, die überhaupt nicht aus Bayern
stammen. Das Gleiche gilt für Schwarzwälder Schinken,
für Spreewälder Gurken, für Kölsch und für Dresdner
Stollen. Die Pflicht zur Bezeichnung der geografischen
Herkunft würde den Handel mit diesen Produkten enorm
fördern. Herr Hofreiter, das müssen Sie den mittelständischen Unternehmen in Ihrem Wahlkreis einmal erläutern. Ich habe die ganz herzliche Bitte an Sie, dass Sie
dieses Abkommen unterstützen und nicht pauschal dagegenreden.
({4})
Besonders pikant ist, dass Ihr Kollege Trittin zu diesem
Zeitpunkt ein Buch mit dem Titel „Stillstand made in
Germany - Ein anderes Land ist möglich!“ vorstellt. Ich
glaube, eindrucksvoller kann man seine Meinung nicht
unter Beweis stellen.
({5})
Auch Investitionsschutzkapitel gehören zu den Streitbeilegungsverfahren. Im Freihandel sind sie notwendig.
Sie entlasten nationale, ordentliche Gerichte von langen
und schwierigen Verfahren. Dass solche Verfahren gar
nicht so häufig stattfinden, mögen Sie daran erkennen,
dass es bisher weniger als fünf Verfahren dieser Art gegen Deutschland gegeben hat. Das Gutachten, das der
Bundeswirtschaftsminister vorhin zitiert hat, zeigt, dass
die Rechte, die kanadische Investoren beispielsweise
durch CETA bekommen, kaum über die nationalen
Rechte in Deutschland hinausgehen. Im Hinblick auf
den Bestandsschutz getätigter Investitionen gegen gesetzgeberische Eingriffe bleibt CETA sogar hinter den
nationalen juristischen Möglichkeiten des ordentlichen
Rechts, aber auch des Verfassungsrechts und des
Unionsrechts signifikant zurück. Das ist sicherlich ein
sehr spannender Punkt für viele Bürgerinnen und Bürger.
Ich habe die Bitte: Sagen Sie in aller Klarheit, worum es
dabei geht, anstatt in dieser Diskussion Nebelkerzen zu
werfen.
({6})
Meine Damen und Herren, ich möchte die drei großen
Irrtümer, die hier hochgehalten werden, noch einmal
beim Namen nennen:
Erstens. Ich möchte darauf hinweisen, dass die Investitionsschutzkapitel keine Aufhebung von gesetzgeberischen Maßnahmen oder den Erlass neuer Maßnahmen
bewirken. Auch hierzu heißt es in dem Gutachten - das
steht dort schwarz auf weiß -: Die Aufhebung oder der
Erlass gesetzgeberischer Maßnahmen kann nicht verlangt werden.
Der zweite Irrtum betrifft das angebliche Schaffen einer Paralleljustiz. Das Wort hört sich an, als stamme es
aus einem Science-Fiction-Film mit einer ganzen Reihe
von Parallelwelten. Ich muss Sie enttäuschen: TTIP und
CETA werden keine Parallelwelten aufbauen, auch wenn
das in die Horrorgeschichte, die Sie im Rahmen Ihrer
Kampagne erzählen, gut hineinpassen würde.
Die Schiedsgerichtsverfahren sind mit einer Reihe
von Neuerungen versehen. Das hängt mit der Transparenz zusammen und auch damit, dass die Besetzung dieser Schiedsgerichte nach einem etwas anderen Schlüssel
erfolgt. Im Übrigen werden verschiedene Schiedsgerichtsordnungen zur Wahl gestellt. Ich glaube, dass das
auch mit Blick auf die Entwicklung der Standards der
Schiedsgerichtsbarkeit ein guter Schritt ist. Wir müssen
aber daran mitwirken. Wenn wir uns dem verschließen,
dann werden wir auf den Märkten keine Trends setzen,
dann werden wir auch mit dem Abschluss dieser Abkommen keine Trends setzen.
Dritter Irrtum. Dass wir soziale Standards und Umweltstandards abschaffen oder verhindern würden, ist
von meinen Vorrednern eindrucksvoll widerlegt worden.
Das bedarf keiner weiteren Erläuterung.
Deshalb lehnen wir Ihre Anträge ab. Sie wollen Chancen verhindern. Wir wollen sie ermöglichen. Deshalb
sind diese Abkommen ein guter Weg. Die Zeit, die dort
noch für die Verifizierung, für das Verhandeln gebraucht
wird, wird genutzt werden. Ich glaube, dass wir da auf
einem hervorragenden Weg sind.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Ich möchte noch einmal
sehr ernsthaft darauf hinweisen, dass auch der letzte
Redner dieser Debatte das Recht hat, dass man ihm zuhört. Wer das nicht will, sondern sich unterhält, soll das
bitte draußen tun. Ich meine das sehr ernsthaft. Wenn
dies nicht geschieht, wird jetzt mit seiner Rede nicht angefangen, und wir warten einfach so lange, bis die Kolleginnen und Kollegen, die sich in den Gängen miteinander unterhalten, nach draußen gehen.
({0})
Darf ich das noch einmal sagen? Ich sehe einige bei der
SPD. Bitte hören Sie Ihrem Kollegen zu, oder gehen Sie
raus. Auch er als letzter Redner in dieser Debatte hat das
Recht, dass ihm zugehört wird.
Ich gebe das Wort Peter Beyer.
({1})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Dass intensive Wirtschaftsintegration, wie beim EUBinnenmarkt gesehen, zu Wohlstandsgewinnen führt,
das wissen wir, das wissen Volkswirtschaftler, aber nicht
nur die. Das hat auch kürzlich wieder eine aktuelle
Prognos-Studie belegt. Die Schaffung des EU-Binnenmarktes ist seinerzeit, wenn wir uns erinnern, nicht ganz
ohne Kontroversen und auch nicht ohne Ängste und Sorgen bei den Menschen vonstattengegangen.
Das erinnert an die Situation, wie wir sie heute im
Hinblick auf TTIP und CETA haben. Dank einer weitsichtigen, auf die Zukunft Europas ausgerichteten Politik
wurde die wirtschaftliche Integration Europas damals
gut betrieben, und sie ist gut gelungen. Ziel einer transatlantischen Wirtschaftsintegration ist zwar nicht die
Schaffung eines Binnenmarktes, wie wir ihn in der EU
haben; es geht dabei aber immerhin um nicht weniger als
um die Schaffung des größten Wirtschaftsraums der
Welt und damit um die Steigerung des wirtschaftlichen
Wohlstands der Menschen in unserem Land, in den Vereinigten Staaten und in der EU.
Ich möchte ein bisschen weg von reinen Zahlen, Daten und Fakten; denn CETA und TTIP sind weit mehr als
ein bloßes Zahlengerüst. Es geht über rein ökonomische
Ziele hinaus. Ich möchte den Fokus auf die enorme strategische und auf die geopolitische Bedeutung legen.
TTIP wird nicht nur die bilateralen Wirtschaftsbeziehungen vertiefen, sondern auch die weltweite Vorreiterrolle
Europas und der USA inmitten starker globaler Konkurrenz dauerhaft stärken. Überall auf der Welt gibt es im
Übrigen Bestrebungen, Handelsräume stärker zu integrieren, zusammenzulegen und den Warenaustausch zu
vereinfachen.
TTIP und CETA sichern der EU und damit der Bundesrepublik und den Menschen, die hier leben, eine
wichtige Positionierung in einer multipolaren Weltordnung. Diese Chance auf eine weitreichende Setzung von
Standards in dieser globalisierten Wirtschaftswelt sollten
wir gerade jetzt ergreifen; denn sie bietet sich uns mit einem Partner, der eine gleiche Wertebasis hat wie wir.
Dabei muss es uns ein zentrales Anliegen sein, dass das
Abkommen die hohen europäischen Schutzniveaus mit
dem geltenden europäischen Recht und den nationalen
Gesetzen sichert. Ein Verzicht auf TTIP und ein Verzicht
auf CETA würden einem Verzicht auf die Einflussnahme
beim Setzen internationaler Standards gleichkommen.
Wir würden damit das Spielfeld anderen überlassen, die
nicht unsere Wertebasis haben. Ich halte das gerade als
Parlamentarier für verantwortungslos.
TTIP und CETA kann man auch nicht als isolierte
Projekte behandeln, sondern sie müssen in einem euroatlantischen Kontext gesehen werden. Wir müssen dabei
all das, was derzeit transatlantisch läuft, betrachten. Das
Megaprojekt TTIP wird in einem Umfeld, in einer Zeit
verhandelt, wo es um die transatlantischen Beziehungen
nicht gerade gut bestellt ist. 25 Jahre nach dem Fall der
Berliner Mauer braucht die transatlantische Partnerschaft belebende Impulse und bedarf der Selbstvergewisserung und der Stärkung. Wir müssen uns auf den
Weg begeben, über das transatlantische Verhältnis
grundlegend nachzudenken. Ich bin dankbar, dass diese
Diskussion geführt wird.
Angesichts des verloren gegangenen Vertrauens bietet
TTIP eine wichtige Chance, zur Sacharbeit zurückzukehren und gegenseitiges Vertrauen wieder aufzubauen.
Dabei müssen wir Partner auf Augenhöhe sein, meine
Damen und Herren.
Die gemeinsamen Werte, die ich bereits angesprochen
habe, und die gemeinsamen Interessen mit den Amerikanern bilden dabei ein stabiles und belastbares Fundament. Uns verbinden nicht nur gemeinsame historische
Erfahrungen, sondern auch die gemeinsamen Werte und
Prinzipien wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Freiheit,
Marktwirtschaft und auch der Respekt vor dem Individuum - um das nicht als Letztes zu nennen.
Natürlich dürfen wir nicht die Augen verschließen
vor berechtigter Kritik und auch nicht vor den Ängsten
und Sorgen der Menschen, die uns begegnen. Aber anders als andere halte ich es für schier verantwortungslos,
in die Kerbe der Ängste und Sorgen der Menschen auch
noch hineinzuschlagen. Unsere Aufgabe als verantwortungsvoll handelnde Parlamentarier muss es doch vielmehr sein, sich selbst auf einen Informationsstand zu
bringen, der es erlaubt, Menschen aufzuklären und mit
ihnen nach gemeinsamen Lösungen zu suchen. Deswegen sind wir uns auch alle einig in diesem Haus, dass das
europäische Schutzniveau in den Bereichen Umwelt,
Verbraucherschutz, Arbeitsrecht, Gesundheit und auch
Produktsicherheit nicht nach unten angepasst werden
darf. Wir werden alle keinem Abkommen zustimmen
- weder bei CETA noch bei TTIP -, das diesen hohen
europäischen Schutzstandards nicht Rechnung trägt.
({0})
Freihandelsabkommen sind ein wunderbares Beispiel
dafür, wie Bürokratieabbau - und zwar nicht nur im Kleinen, sondern in wirklich bedeutsamem Maße - gelingen
kann. Wir haben heute in der Debatte schon mehrfach
Beispiele für Doppelzulassungsverfahren, Doppelkontrollen gehört: immer dann, wenn es ähnliche Sicherheitsund Schutzstandards gibt. Diese Bürokratie führt zu einer
Verschwendung von Ressourcen - beim Personaleinsatz,
bei Zeit, bei Geld -, und diese Ressourcen stehen dann
nicht für die wirklich wichtigen Dinge, für Innovation und
technologischen Fortschritt, zur Verfügung. Auch aus diesem Grund ist es für mich ein - wenn ich dieses neue
deutsche Wort benutzen darf - No-Brainer, TTIP und
CETA zuzustimmen.
Kurz noch zu Investitionsschutzklauseln: Es ist ja
auch eine Sorge, dass eine geheime Paralleljustiz entsteht, die gerade Großkonzerne begünstige. Zu diesem
Thema haben wir heute schon viel Richtiges gehört. Es
darf natürlich keine Einschränkung des politischen
Handlungsspielraums von Staaten mit diesen Abkommen einhergehen. In der Tat haben internationale Investor-Staat-Schiedsgerichtsverfahren so, wie wir sie heute
kennen, ihre Schwächen. Viele alte Investitionsschutzabkommen laden regelrecht zum Missbrauch ein. Deswegen muss es unser Ziel sein, dass wir ein reformiertes
Schiedsgerichtsbarkeitssystem in CETA und TTIP hineinverhandeln, integrieren, welches Missbrauch einen
Riegel vorschiebt. Das kann gelingen durch bessere Regeln und Rahmenbedingungen, vor allen Dingen durch
Transparenz des Verfahrens, durch einen Schutzmechanismus gegen ungerechtfertigte Klagen und auch durch
die Schaffung einer Revisionsinstanz.
Meine Damen und Herren, ich versuche, die Zeit einzuhalten. Ich habe noch eine knappe Minute. Deswegen
komme ich zum Schluss. Ich möchte noch einmal, wie
der Kollege Wiese es getan hat, darauf hinweisen, dass
wir es bei CETA und bei TTIP mit gemischten Abkommen zu tun haben. Deswegen müssen wir alle dafür
kämpfen - ich appelliere insbesondere an die Adresse
der Europäischen Kommission, der scheidenden wie der
neuen -, dass die 28 nationalen Parlamente der Europäischen Union zustimmen müssen, dass sie ratifizieren
müssen, dass wir nicht außen vor sind. Das muss uns ein
wichtiges Anliegen sein, meine Damen und Herren. Deswegen appelliere ich an Sie: Seien Sie für TTIP; das ist
etwas Gutes für die Menschen in diesem Lande. Die
Chance, die uns gerade jetzt geboten wird, dies auch tatkräftig, positiv, konstruktiv zu begleiten, sollten wir nutzen. Wir sollten nicht fragen: „Warum gerade jetzt?“,
sondern sagen: Gerade jetzt!
Vielen Dank.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Bevor wir zu den Abstimmungen kommen, möchte
ich darauf hinweisen, dass wir jetzt drei namentliche Ab-
stimmungen nacheinander durchführen werden.
Wir kommen zu den Abstimmungen über die beiden
Entschließungsanträge der Fraktion Die Linke, zu denen
jeweils namentliche Abstimmung verlangt wurde, und
beginnen mit dem Entschließungsantrag auf Drucksache
18/2612.
Zu dieser namentlichen Abstimmung wie auch zu den
beiden folgenden namentlichen Abstimmungen liegt mir
eine große Anzahl an Erklärungen nach § 31 unserer Ge-
schäftsordnung vor. Entsprechend unseren Regeln neh-
men wir diese ins Protokoll auf.1)
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen, ich weiß, dass gestern Abend viele
Schriftführerinnen und Schriftführer mit dem Präsidium
des Deutschen Bundestages über die Organisation der
Arbeit beraten haben. Dabei haben wir uns auch darauf
geeinigt, dass bei Aufruf einer namentlichen Abstim-
mung an jeder Abstimmungsurne ein Schriftführer der
Oppositionsfraktionen und ein Schriftführer der die Ko-
alition tragenden Fraktionen anwesend sind. Das scheint
mir im Moment aber noch nicht der Fall zu sein. Auch
hier vorne fehlen noch Schriftführer. - Sind alle Urnen
besetzt? Das ist der Fall. Ich eröffne die erste namentli-
che Abstimmung. Es geht um den Entschließungsantrag
auf Drucksache 18/2612.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme nicht abgegeben hat? - Ich schließe die Abstim-
mung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer,
mit der Auszählung zu beginnen.
Wir stimmen nun über den Entschließungsantrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/2611 namentlich
ab. Sind alle Schriftführerinnen und Schriftführer an ih-
ren Plätzen? - Das ist der Fall. Ich eröffne die zweite na-
mentliche Abstimmung. Es geht um den Entschließungs-
antrag auf Drucksache 18/2611.
1) Anlagen 2 bis 12
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, welches
bisher nicht an der zweiten namentlichen Abstimmung
teilgenommen hat und dies noch tun will? - Haben alle
Mitglieder des Hauses an der zweiten namentlichen Ab-
stimmung teilgenommen? - Ich schließe die Abstim-
mung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer,
mit der Auszählung zu beginnen.
Wir kommen zum Zusatzpunkt 3: Abstimmung über
die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirt-
schaft und Energie zu dem Antrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen mit dem Titel „Für fairen Handel
ohne Klageprivilegien für Konzerne“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 18/2646, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 18/1458 abzulehnen. Wir stim-
men nun über die Beschlussempfehlung auf Verlangen
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen namentlich ab.
Sind alle Schriftführerinnen und Schriftführer an ihrem
Platz? - Das ist der Fall. Ich eröffne die dritte namentli-
che Abstimmung. Es geht um die Beschlussempfehlung
zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme zur dritten namentlichen Abstimmung nicht ab-
gegeben hat? Ich mache darauf aufmerksam, dass die
Auszählung der Stimmen der ersten und zweiten na-
mentlichen Abstimmung schon begonnen hat. Wir kön-
nen also zu diesen Abstimmungen keine Stimmen mehr
entgegennehmen. Ich möchte jetzt wissen, wer an der
dritten namentlichen Abstimmung noch teilnehmen
will. - Ich schließe die Abstimmung und bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh-
lung zu beginnen.
Die Ergebnisse der namentlichen Abstimmungen
werden Ihnen später bekannt gegeben.2)
Liebe Kollegen, da wir jetzt gleich weitere Abstim-
mungen vorzunehmen haben, bitte ich Sie, uns zu er-
möglichen, die Abstimmungsergebnisse auch festzustel-
len. Dazu gehört, dass jeder, der hier am weiteren
Betrieb teilnehmen möchte, sich bitte einen Sitzplatz
wählt. Es sind nach unserem Überblick genügend Plätze
vorhanden. - Liebe Kollegen, ich gestehe, dass ich mich
im Moment von Ihnen nicht ernst genommen fühle. Wir
werden nicht fortfahren, bevor wir nicht die notwendige
Ordnung im Saal hergestellt haben. Dazu gehört, dass
diejenigen, die an den weiteren Verhandlungen teilneh-
men und die nachfolgenden Abstimmungen mit bestrei-
ten wollen, sich bitte in den Reihen ihrer Fraktion oder
einer Fraktion ihrer Wahl einen Sitzplatz suchen.
Der guten Ordnung halber stelle ich noch einmal fest,
dass Ihnen die Ergebnisse der drei namentlichen Abstim-
mungen, die wir gerade absolviert haben, später bekannt
gegeben werden.
Wir kommen nun zu dem Antrag der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 18/2604 mit dem Titel „Freihan-
delsabkommen zwischen der EU und Kanada CETA zu-
rückweisen“. Die Fraktion Die Linke wünscht Abstim-
mung in der Sache. Die Fraktionen der CDU/CSU und
2) Ergebnis Seite 4933 D, 4936 A, 4938 B
Vizepräsidentin Petra Pau
SPD wünschen Überweisung, und zwar federführend an
den Ausschuss für Wirtschaft und Energie und mitberatend an den Finanzausschuss, an den Ausschuss für
Recht und Verbraucherschutz sowie an den Ausschuss
für die Angelegenheiten der Europäischen Union.
Wir stimmen nach ständiger Übung zuerst über den
Antrag auf Ausschussüberweisung ab. Ich frage deshalb:
Wer stimmt für die beantragte Überweisung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist die
Überweisung mit den Stimmen der Unionsfraktion und
der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen so beschlossen. Damit stimmen wir heute über den Antrag auf
Drucksache 18/2604 nicht in der Sache ab.
Zusatzpunkt 2. Wir kommen zur Abstimmung über
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 18/2620 mit dem Titel „Keine Klageprivilegien für Konzerne - CETA-Vertragsentwurf ablehnen“.
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Abstimmung in der Sache, die Fraktionen der CDU/CSU und
der SPD wünschen Überweisung, und zwar federführend
an den Ausschuss für Wirtschaft und Energie und mitberatend an den Finanzausschuss, an den Ausschuss für
Recht und Verbraucherschutz sowie an den Ausschuss
für die Angelegenheiten der Europäischen Union.
Wir stimmen nach ständiger Übung auch hier zuerst
über den Antrag auf Ausschussüberweisung ab. Ich
frage deshalb: Wer stimmt für die beantragte Überweisung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Dann ist die Überweisung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktionen
Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke so beschlossen.
Wir stimmen damit heute nicht über den Antrag auf
Drucksache 18/2620 in der Sache ab.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 sowie den Zusatzpunkt 4 auf:
5 Erste Beratung des von den Fraktionen der
CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches - Umsetzung europäischer Vorgaben
zum Sexualstrafrecht
Drucksache 18/2601
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss Digitale Agenda
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Franziska Brantner, Katja Dörner, Tabea
Rößner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kinder schützen - Prävention stärken
Drucksache 18/2619
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundesminister der Justiz, Heiko Maas.
({2})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Im Dezember 2012 musste das OLG
Koblenz einen Lehrer, der eine 14-jährige Schülerin verführt hatte, vom Vorwurf des Missbrauchs von Schutzbefohlenen freisprechen. Er hatte sich gezielt an das
Mädchen herangemacht und es über fünf Monate zum
Sex gedrängt. Trotzdem: Der Mann konnte nicht verurteilt werden. Der Grund: Er unterrichtete in der Klasse
des Mädchens nicht regelmäßig, sondern er war nur Vertretungslehrer. Deshalb bestand kein sogenanntes Obhutsverhältnis zu der Neuntklässlerin. Diese Schutzlücke
wollen wir heute mit diesem Gesetz schließen. Niemand
soll seine Vertrauensstellung ungestraft missbrauchen
dürfen, egal ob er Klassenlehrer ist oder nur vertretungsweise unterrichtet. Das wird durch dieses Gesetz jetzt
auch gewährleistet.
({0})
Wir verlängern des Weiteren die Verjährungsfristen
beim sexuellen Missbrauch. Denken Sie an die Vorwürfe, die im Zusammenhang mit der Odenwaldschule
oder auch kirchlichen Organisationen bekannt geworden
sind. Ein Großteil der Taten war und ist bereits verjährt.
Wir wissen heute von den Opfern, dass diese ihr Leid
verdrängen, um überhaupt ein normales Leben führen zu
können.
Opfer brauchen Zeit - oftmals sehr viel Zeit -, um
den Mut zu fassen, sich zu äußern. In Zukunft soll deshalb die Verjährung erst mit dem 30. Lebensjahr des Opfers beginnen. Bei schweren Missbrauchsfällen tritt die
Verjährung erst mit dem 50. Lebensjahr des Opfers ein.
Täter dürfen nicht länger davon profitieren, dass die
grausamen Folgen ihrer Tat, nämlich die Traumatisierung der Opfer, die Täter auch noch vor Strafverfolgung
schützen, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({1})
Wichtig ist bei diesem Gesetzentwurf auch, dass wir
den Katalog der Auslandsstraftaten erweitern. Wenn ein
Deutscher, der in Thailand lebt, dort einen sexuellen
Missbrauch begeht, was leider noch viel zu häufig der
Fall ist, dann kommt es für die Strafbarkeit nach deutschem Recht in einigen Fällen darauf an, ob das Opfer
seine Lebensgrundlage in Deutschland hat oder nicht.
Das Unrecht einer solchen Tat hängt aber ganz sicher
nicht davon ab, ob ein Kind die deutsche Staatsbürgerschaft hat oder nicht. Der Missbrauch eines jeden Kindes
durch einen Deutschen muss bestraft werden. Die bisher
geltende Regelung werden wir jetzt ändern.
({2})
Wir schützen zukünftig insbesondere Kinder davor,
dass von ihnen Nacktbilder, zum Beispiel im Internet,
verbreitet werden. Niemand soll in Zukunft ungestraft
mit den nackten Körpern von Kindern Geschäfte machen
können. Bislang waren nur Bilder strafbar, die Kinder in
unnatürlicher, geschlechtsbetonter Haltung zeigten, die
sogenannten Posingbilder. Diese Strafvorschriften werden seit vielen Jahren von Pädophilennetzwerken gezielt
umgangen. Es gibt mittlerweile ganze Magazine und Internetseiten, die diese Schutzlücke ganz gezielt ausnutzen. Es werden dann Nacktbilder von Kindern verbreitet
und gehandelt, die scheinbar keinen sexuellen Bezug haben. Auch das ist, finde ich, strafwürdig. Mit den nackten Körpern von Kindern sollen nicht mehr ungestraft
Geschäfte gemacht werden. Deshalb werden wir diese
Schutzlücke ebenso schließen.
({3})
Eine weitere Schutzlücke, die wir mit diesem Gesetz
schließen, ist die beim Cybermobbing. Welch schreckliche Konsequenzen so etwas haben kann, zeigt das Beispiel eines jungen Mädchens namens Amanda. Sie war
zwölf Jahre alt, als ein peinliches Foto von ihr entstand,
das sie halbnackt zeigte. Es wurde im Internet verbreitet
und war Anlass für jahrelanges Cybermobbing durch
ihre Mitschüler. Es folgten Schulwechsel, Selbstverletzungen und ein gescheiterter Suizidversuch. Ende 2012,
im Alter von 15 Jahren, gelang es Amanda, sich das Leben zu nehmen. Solche Schicksale dürfen uns nicht
gleichgültig lassen. Mit diesem Gesetz sorgen wir auch
dafür, dass gegen Cybermobbing besser vorgegangen
werden kann. Das ist alles andere als ein Kavaliersdelikt.
({4})
Ich will aber auch ganz klar sagen, dass viele Befürchtungen, die in den letzten Tagen im Hinblick auf
die Vorlagen, die wir heute einbringen, geäußert worden
sind, nicht gerechtfertigt sind:
Erstens. Wir kriminalisieren nichts, was sozial völlig
üblich ist. Auch in Zukunft dürfen Eltern ihre Kinder
nackt beim Planschen im Urlaub am See fotografieren.
Sie erfüllen schon den entsprechenden Tatbestand nicht;
denn sie handeln nicht unbefugt. Ich will in Bezug auf
das eine oder andere, was ich in den letzten Tagen gelesen habe, was zukünftig auf Kindergeburtstagen oder
Kindergartenfesten nicht mehr möglich sein soll, hinzufügen: Bei manchen, die diese Kritik verfasst haben,
habe ich wirklich den Eindruck, dass sie schon lange
nicht mehr auf einem Kindergeburtstag oder in einem
Kindergarten gewesen sind. Die Lebenswirklichkeit ist
eine völlig andere.
({5})
Zweitens. Es muss auch niemand befürchten, dass es
in Zukunft eine Flut von Ermittlungen geben wird.
({6})
Dieser Straftatbestand ist ein Antragsdelikt. Das heißt,
die Staatsanwaltschaft wird in der Regel nicht von sich
aus aktiv werden, sondern nur auf Antrag.
Drittens. Es ist nichts unbefugt - auch das sei in aller
Deutlichkeit gesagt -, was etwa vom Presserecht oder
von der vom Grundgesetz garantierten Pressefreiheit abgedeckt ist. Die Presse kann und darf selbstverständlich
auch in Zukunft von Prominenten unvorteilhafte Bilder
schießen und sie abdrucken. Sie handelt nämlich in solchen Fällen nicht unbefugt, sondern sie nimmt eine
wichtige Gemeinschaftsaufgabe wahr. Ihre Freiheit wird
durch diese Vorschriften in keiner Weise eingeschränkt.
Mit dem Gesetzentwurf ziehen wir auch die Konsequenz aus dem technischen Wandel, der sich in den letzten Jahren ergeben hat. Digitalfotos können heute mit einem Klick weltweit im Internet verbreitet werden.
Manche Handyfotos werden sogar automatisch im Netz
gespeichert. Wenn solche Fotos erst einmal veröffentlicht sind, kriegt man sie aus dem Internet kaum noch
heraus. Sie bleiben über Jahre zugänglich, und dies zulasten von Kindern, Heranwachsenden und auch erwachsenen Personen.
Deshalb meine ich, Kinder haben ein Recht darauf,
dass sie dagegen geschützt werden. Und die technische
Entwicklung macht es notwendig, dass der Schutz unserer Kinder früher einsetzt, als das bisher der Fall gewesen ist. Ja, wir erwarten mehr Sorgfalt und Verantwortungsbewusstsein von allen im Umgang mit Kindern und
ihren Rechten. Ich finde, das ist nicht zu viel verlangt.
Ich danke Ihnen.
({7})
Ich korrigiere: Das war natürlich der Bundesminister
der Justiz und für Verbraucherschutz, damit das vollständig festgehalten wird.
Bevor wir mit der Debatte fortfahren, gebe ich Ihnen
die von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelten Ergebnisse der namentlichen Abstimmungen
bekannt.
Erste namentliche Abstimmung zum Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/2612
zur Beratung der Antwort der Bundesregierung auf die
Große Anfrage der Fraktion Die Linke „Soziale, ökologische, ökonomische und politische Effekte des EUUSA Freihandelsabkommens“: abgegebene Stimmen
586. Mit Ja haben 114 Kolleginnen und Kollegen gestimmt, mit Nein 466, 6 haben sich enthalten. Der Entschließungsantrag ist damit abgelehnt.
Vizepräsidentin Petra Pau
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 585;
davon
ja: 113
nein: 466
enthalten: 6
Ja
DIE LINKE
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Dr. André Hahn
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Sigrid Hupach
Susanna Karawanskij
Kerstin Kassner
Katja Kipping
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Caren Lay
Ralph Lenkert
Stefan Liebich
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Niema Movassat
Dr. Alexander S. Neu
Thomas Nord
Harald Petzold ({0})
Martina Renner
Michael Schlecht
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Dr. Kirsten Tackmann
Azize Tank
Dr. Axel Troost
Kathrin Vogler
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Birgit Wöllert
Jörn Wunderlich
Pia Zimmermann
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Luise Amtsberg
Kerstin Andreae
Annalena Baerbock
Marieluise Beck ({1})
Volker Beck ({2})
Agnieszka Brugger
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Harald Ebner
Kai Gehring
Anja Hajduk
Britta Haßelmann
Bärbel Höhn
Uwe Kekeritz
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Stephan Kühn ({3})
Christian Kühn ({4})
Markus Kurth
Monika Lazar
Steffi Lemke
Dr. Tobias Lindner
Peter Meiwald
Irene Mihalic
Beate Müller-Gemmeke
Özcan Mutlu
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({5})
Corinna Rüffer
Elisabeth Scharfenberg
Ulle Schauws
Dr. Frithjof Schmidt
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Dr. Julia Verlinden
Beate Walter-Rosenheimer
Nein
CDU/CSU
Stephan Albani
Peter Altmaier
Thomas Bareiß
Julia Bartz
Günter Baumann
Maik Beermann
Manfred Behrens ({6})
Veronika Bellmann
Sybille Benning
Dr. André Berghegger
Dr. Christoph Bergner
Ute Bertram
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Heike Brehmer
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexandra Dinges-Dierig
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Hansjörg Durz
Jutta Eckenbach
Hermann Färber
Uwe Feiler
Dr. Thomas Feist
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer ({7})
Axel E. Fischer ({8})
Dr. Maria Flachsbarth
Dr. Astrid Freudenstein
({9})
Michael Frieser
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Cemile Giousouf
Josef Göppel
Reinhard Grindel
Ursula Groden-Kranich
Hermann Gröhe
Klaus-Dieter Gröhler
Michael Grosse-Brömer
Astrid Grotelüschen
Markus Grübel
Manfred Grund
Oliver Grundmann
Monika Grütters
Dr. Herlind Gundelach
Fritz Güntzler
Olav Gutting
Christian Haase
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Matthias Hauer
Mark Hauptmann
Dr. Stefan Heck
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich ({10})
Mark Helfrich
Uda Heller
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Peter Hintze
Christian Hirte
Dr. Heribert Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Dr. Hendrik Hoppenstedt
Bettina Hornhues
Charles M. Huber
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Erich Irlstorfer
Thomas Jarzombek
Sylvia Jörrißen
Andreas Jung
Dr. Franz Josef Jung
Xaver Jung
Bartholomäus Kalb
Steffen Kampeter
Steffen Kanitz
Alois Karl
Anja Karliczek
Bernhard Kaster
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Dr. Georg Kippels
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Markus Koob
Carsten Körber
Hartmut Koschyk
Kordula Kovac
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Roy Kühne
Günter Lach
Uwe Lagosky
Dr. Karl A. Lamers
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Barbara Lanzinger
Paul Lehrieder
Vizepräsidentin Petra Pau
Dr. Katja Leikert
Dr. Philipp Lengsfeld
Dr. Andreas Lenz
Antje Lezius
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Wilfried Lorenz
Dr. Claudia Lücking-Michel
Dr. Jan-Marco Luczak
Karin Maag
Yvonne Magwas
Thomas Mahlberg
Gisela Manderla
Matern von Marschall
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({11})
Reiner Meier
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Jan Metzler
Maria Michalk
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Karsten Möring
Marlene Mortler
Elisabeth Motschmann
Carsten Müller
({12})
Stefan Müller ({13})
Dr. Philipp Murmann
Dr. Andreas Nick
Michaela Noll
Helmut Nowak
Dr. Georg Nüßlein
Wilfried Oellers
Florian Oßner
Henning Otte
Ingrid Pahlmann
Sylvia Pantel
Martin Patzelt
Dr. Martin Pätzold
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Ronald Pofalla
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Alois Rainer
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht
Anita Schäfer ({14})
Karl Schiewerling
Jana Schimke
Norbert Schindler
Heiko Schmelzle
Christian Schmidt ({15})
Gabriele Schmidt ({16})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({17})
Dr. Ole Schröder
Dr. Kristina Schröder
({18})
Bernhard Schulte-Drüggelte
Dr. Klaus-Peter Schulze
Uwe Schummer
Armin Schuster ({19})
Christina Schwarzer
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Tino Sorge
Jens Spahn
Dr. Frank Steffel
Dr. Wolfgang Stefinger
Albert Stegemann
Peter Stein
Erika Steinbach
Johannes Steiniger
Christian Freiherr von Stetten
Rita Stockhofe
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Karin Strenz
Thomas Stritzl
Thomas Strobl ({20})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Sabine Sütterlin-Waack
Antje Tillmann
Astrid Timmermann-Fechter
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Oswin Veith
Thomas Viesehon
Michael Vietz
Volkmar Vogel ({21})
Sven Volmering
Christel Voßbeck-Kayser
Kees de Vries
Marco Wanderwitz
Nina Warken
Kai Wegner
Albert Weiler
Marcus Weinberg ({22})
Peter Weiß ({23})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Marian Wendt
Waldemar Westermayer
Kai Whittaker
Peter Wichtel
Heinz Wiese ({24})
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Oliver Wittke
Barbara Woltmann
Tobias Zech
Heinrich Zertik
Dr. Matthias Zimmer
Gudrun Zollner
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heike Baehrens
Ulrike Bahr
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Katarina Barley
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Dr. Matthias Bartke
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Dirk Becker
Lothar Binding ({25})
Burkhard Blienert
Willi Brase
Dr. Karl-Heinz Brunner
Martin Burkert
Petra Crone
Bernhard Daldrup
Dr. Karamba Diaby
Sabine Dittmar
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Siegmund Ehrmann
Michaela Engelmeier
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Saskia Esken
Karin Evers-Meyer
Dr. Fritz Felgentreu
Elke Ferner
Christian Flisek
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Ulrich Freese
Dagmar Freitag
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Ulrike Gottschalck
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Michael Groß
Uli Grötsch
Wolfgang Gunkel
Bettina Hagedorn
Metin Hakverdi
Ulrich Hampel
Dirk Heidenblut
Hubertus Heil ({26})
Marcus Held
Wolfgang Hellmich
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({27})
Thomas Hitschler
Dr. Eva Högl
Matthias Ilgen
Frank Junge
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Christina Kampmann
Ralf Kapschack
Gabriele Katzmarek
Ulrich Kelber
Marina Kermer
Arno Klare
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe
Birgit Kömpel
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Christine Lambrecht
Christian Lange ({28})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Hiltrud Lotze
Caren Marks
Katja Mast
Dr. Matthias Miersch
Klaus Mindrup
Susanne Mittag
Bettina Müller
Michelle Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Ulli Nissen
Thomas Oppermann
Mahmut Özdemir ({29})
Aydan Özoğuz
Markus Paschke
Christian Petry
Jeannine Pflugradt
Detlev Pilger
Sabine Poschmann
Joachim Poß
Florian Post
Achim Post ({30})
Dr. Wilhelm Priesmeier
Vizepräsidentin Petra Pau
Florian Pronold
Dr. Simone Raatz
Martin Rabanus
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Andreas Rimkus
Sönke Rix
Dennis Rohde
Dr. Martin Rosemann
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({31})
Bernd Rützel
Johann Saathoff
Annette Sawade
Dr. Hans-Joachim
Schabedoth
Axel Schäfer ({32})
Dr. Nina Scheer
Udo Schiefner
Dr. Dorothee Schlegel
Ulla Schmidt ({33})
Matthias Schmidt ({34})
Dagmar Schmidt ({35})
Carsten Schneider ({36})
Ursula Schulte
Swen Schulz ({37})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Stefan Schwartze
Andreas Schwarz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Rainer Spiering
Norbert Spinrath
Svenja Stadler
Martina Stamm-Fibich
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Kerstin Tack
Claudia Tausend
Michael Thews
Franz Thönnes
Carsten Träger
Dirk Vöpel
Gabi Weber
Bernd Westphal
Andrea Wicklein
Waltraud Wolff
({38})
Gülistan Yüksel
Dagmar Ziegler
Stefan Zierke
Dr. Jens Zimmermann
Brigitte Zypries
Enthalten
CDU/CSU
Dr. Peter Gauweiler
SPD
Marco Bülow
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Dieter Janecek
Cem Özdemir
Zweite namentliche Abstimmung zum Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/2611
zur Beratung der Antwort der Bundesregierung auf die
Große Anfrage „Soziale, ökologische, ökonomische und
politische Effekte des EU-USA Freihandelsabkommens“: Daran haben 576 Kolleginnen und Kollegen teilgenommen. Mit Ja haben 110 gestimmt, mit Nein 460,
und 6 haben sich enthalten. Der Entschließungsantrag ist
abgelehnt.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 578;
davon
ja: 112
nein: 460
enthalten: 6
Ja
DIE LINKE
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Dr. André Hahn
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Sigrid Hupach
Susanna Karawanskij
Kerstin Kassner
Katja Kipping
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Caren Lay
Ralph Lenkert
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Niema Movassat
Dr. Alexander S. Neu
Thomas Nord
Harald Petzold ({39})
Martina Renner
Michael Schlecht
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Dr. Kirsten Tackmann
Azize Tank
Dr. Axel Troost
Kathrin Vogler
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Birgit Wöllert
Jörn Wunderlich
Pia Zimmermann
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Luise Amtsberg
Kerstin Andreae
Annalena Baerbock
Marieluise Beck ({40})
Volker Beck ({41})
Agnieszka Brugger
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Harald Ebner
Kai Gehring
Anja Hajduk
Britta Haßelmann
Bärbel Höhn
Uwe Kekeritz
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Stephan Kühn ({42})
Christian Kühn ({43})
Markus Kurth
Monika Lazar
Steffi Lemke
Dr. Tobias Lindner
Peter Meiwald
Irene Mihalic
Beate Müller-Gemmeke
Özcan Mutlu
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({44})
Corinna Rüffer
Elisabeth Scharfenberg
Ulle Schauws
Dr. Frithjof Schmidt
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Dr. Julia Verlinden
Beate Walter-Rosenheimer
Vizepräsidentin Petra Pau
Nein
CDU/CSU
Stephan Albani
Peter Altmaier
Thomas Bareiß
Julia Bartz
Günter Baumann
Maik Beermann
Manfred Behrens ({45})
Veronika Bellmann
Sybille Benning
Dr. André Berghegger
Dr. Christoph Bergner
Ute Bertram
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Heike Brehmer
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexandra Dinges-Dierig
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Hansjörg Durz
Jutta Eckenbach
Hermann Färber
Uwe Feiler
Dr. Thomas Feist
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer ({46})
Axel E. Fischer ({47})
Dr. Maria Flachsbarth
Dr. Astrid Freudenstein
({48})
Michael Frieser
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Cemile Giousouf
Josef Göppel
Reinhard Grindel
Ursula Groden-Kranich
Hermann Gröhe
Klaus-Dieter Gröhler
Michael Grosse-Brömer
Astrid Grotelüschen
Markus Grübel
Manfred Grund
Oliver Grundmann
Monika Grütters
Dr. Herlind Gundelach
Fritz Güntzler
Olav Gutting
Christian Haase
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Matthias Hauer
Mark Hauptmann
Dr. Stefan Heck
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich ({49})
Mark Helfrich
Uda Heller
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Peter Hintze
Christian Hirte
Dr. Heribert Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Dr. Hendrik Hoppenstedt
Bettina Hornhues
Charles M. Huber
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Erich Irlstorfer
Thomas Jarzombek
Sylvia Jörrißen
Andreas Jung
Dr. Franz Josef Jung
Xaver Jung
Bartholomäus Kalb
Steffen Kampeter
Steffen Kanitz
Alois Karl
Anja Karliczek
Bernhard Kaster
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Dr. Georg Kippels
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Markus Koob
Carsten Körber
Hartmut Koschyk
Kordula Kovac
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Roy Kühne
Günter Lach
Uwe Lagosky
Dr. Karl A. Lamers
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Barbara Lanzinger
Paul Lehrieder
Dr. Katja Leikert
Dr. Philipp Lengsfeld
Antje Lezius
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Wilfried Lorenz
Dr. Claudia Lücking-Michel
Dr. Jan-Marco Luczak
Karin Maag
Yvonne Magwas
Thomas Mahlberg
Gisela Manderla
Matern von Marschall
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({50})
Reiner Meier
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Jan Metzler
Maria Michalk
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Karsten Möring
Marlene Mortler
Elisabeth Motschmann
Carsten Müller
({51})
Stefan Müller ({52})
Dr. Philipp Murmann
Dr. Andreas Nick
Michaela Noll
Helmut Nowak
Dr. Georg Nüßlein
Wilfried Oellers
Florian Oßner
Henning Otte
Ingrid Pahlmann
Sylvia Pantel
Martin Patzelt
Dr. Martin Pätzold
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Ronald Pofalla
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Alois Rainer
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht
Anita Schäfer ({53})
Karl Schiewerling
Jana Schimke
Norbert Schindler
Heiko Schmelzle
Christian Schmidt ({54})
Gabriele Schmidt ({55})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({56})
Dr. Ole Schröder
Dr. Kristina Schröder
({57})
Bernhard Schulte-Drüggelte
Dr. Klaus-Peter Schulze
Uwe Schummer
Armin Schuster ({58})
Christina Schwarzer
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Tino Sorge
Jens Spahn
Dr. Frank Steffel
Dr. Wolfgang Stefinger
Albert Stegemann
Peter Stein
Erika Steinbach
Johannes Steiniger
Christian Freiherr von Stetten
Rita Stockhofe
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Karin Strenz
Thomas Stritzl
Thomas Strobl ({59})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Sabine Sütterlin-Waack
Antje Tillmann
Astrid Timmermann-Fechter
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Oswin Veith
Thomas Viesehon
Michael Vietz
Volkmar Vogel ({60})
Sven Volmering
Christel Voßbeck-Kayser
Kees de Vries
Vizepräsidentin Petra Pau
Marco Wanderwitz
Nina Warken
Kai Wegner
Albert Weiler
Marcus Weinberg ({61})
Peter Weiß ({62})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Marian Wendt
Waldemar Westermayer
Kai Whittaker
Peter Wichtel
Heinz Wiese ({63})
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Oliver Wittke
Barbara Woltmann
Tobias Zech
Dr. Matthias Zimmer
Gudrun Zollner
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heike Baehrens
Ulrike Bahr
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Katarina Barley
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Dr. Matthias Bartke
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Dirk Becker
Lothar Binding ({64})
Burkhard Blienert
Willi Brase
Dr. Karl-Heinz Brunner
Martin Burkert
Petra Crone
Bernhard Daldrup
Dr. Karamba Diaby
Sabine Dittmar
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Michaela Engelmeier
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Saskia Esken
Karin Evers-Meyer
Dr. Fritz Felgentreu
Elke Ferner
Christian Flisek
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Ulrich Freese
Dagmar Freitag
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Ulrike Gottschalck
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Michael Groß
Uli Grötsch
Wolfgang Gunkel
Bettina Hagedorn
Metin Hakverdi
Ulrich Hampel
Dirk Heidenblut
Hubertus Heil ({65})
Marcus Held
Wolfgang Hellmich
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({66})
Thomas Hitschler
Dr. Eva Högl
Matthias Ilgen
Frank Junge
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Christina Kampmann
Ralf Kapschack
Gabriele Katzmarek
Ulrich Kelber
Marina Kermer
Arno Klare
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe
Birgit Kömpel
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Christine Lambrecht
Christian Lange ({67})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Hiltrud Lotze
Caren Marks
Katja Mast
Dr. Matthias Miersch
Klaus Mindrup
Susanne Mittag
Bettina Müller
Michelle Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Ulli Nissen
Thomas Oppermann
Mahmut Özdemir ({68})
Aydan Özoğuz
Markus Paschke
Christian Petry
Jeannine Pflugradt
Detlev Pilger
Sabine Poschmann
Joachim Poß
Florian Post
Achim Post ({69})
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Simone Raatz
Martin Rabanus
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Andreas Rimkus
Sönke Rix
Dennis Rohde
Dr. Martin Rosemann
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({70})
Bernd Rützel
Johann Saathoff
Annette Sawade
Axel Schäfer ({71})
Dr. Nina Scheer
Udo Schiefner
Dr. Dorothee Schlegel
Ulla Schmidt ({72})
Matthias Schmidt ({73})
Dagmar Schmidt ({74})
Carsten Schneider ({75})
Ursula Schulte
Swen Schulz ({76})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Stefan Schwartze
Andreas Schwarz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Rainer Spiering
Norbert Spinrath
Svenja Stadler
Martina Stamm-Fibich
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Kerstin Tack
Claudia Tausend
Michael Thews
Franz Thönnes
Carsten Träger
Dirk Vöpel
Gabi Weber
Bernd Westphal
Andrea Wicklein
Waltraud Wolff
({77})
Gülistan Yüksel
Dagmar Ziegler
Stefan Zierke
Dr. Jens Zimmermann
Brigitte Zypries
Enthalten
CDU/CSU
Dr. Peter Gauweiler
SPD
Marco Bülow
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Dieter Janecek
Cem Özdemir
Dritte namentliche Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Energie
zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
„Für fairen Handel ohne Klageprivilegien für Konzerne“: Hieran haben 581 Kolleginnen und Kollegen teilgenommen. Mit Ja haben 460 gestimmt, mit Nein 119,
2 haben sich enthalten. Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen.
Vizepräsidentin Petra Pau
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 583;
davon
ja: 462
nein: 119
enthalten: 2
Ja
CDU/CSU
Stephan Albani
Peter Altmaier
Thomas Bareiß
Julia Bartz
Günter Baumann
Maik Beermann
Manfred Behrens ({78})
Veronika Bellmann
Sybille Benning
Dr. André Berghegger
Dr. Christoph Bergner
Ute Bertram
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Heike Brehmer
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexandra Dinges-Dierig
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Hansjörg Durz
Jutta Eckenbach
Hermann Färber
Uwe Feiler
Dr. Thomas Feist
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer ({79})
Axel E. Fischer ({80})
Dr. Maria Flachsbarth
Dr. Astrid Freudenstein
({81})
Michael Frieser
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Cemile Giousouf
Reinhard Grindel
Ursula Groden-Kranich
Hermann Gröhe
Klaus-Dieter Gröhler
Michael Grosse-Brömer
Astrid Grotelüschen
Markus Grübel
Manfred Grund
Oliver Grundmann
Monika Grütters
Dr. Herlind Gundelach
Fritz Güntzler
Olav Gutting
Christian Haase
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Matthias Hauer
Mark Hauptmann
Dr. Stefan Heck
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich ({82})
Mark Helfrich
Uda Heller
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Peter Hintze
Christian Hirte
Dr. Heribert Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Dr. Hendrik Hoppenstedt
Bettina Hornhues
Charles M. Huber
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Erich Irlstorfer
Thomas Jarzombek
Sylvia Jörrißen
Andreas Jung
Dr. Franz Josef Jung
Xaver Jung
Bartholomäus Kalb
Steffen Kampeter
Steffen Kanitz
Alois Karl
Anja Karliczek
Bernhard Kaster
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Dr. Georg Kippels
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Markus Koob
Carsten Körber
Hartmut Koschyk
Kordula Kovac
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Roy Kühne
Günter Lach
Uwe Lagosky
Dr. Karl A. Lamers
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Barbara Lanzinger
Paul Lehrieder
Dr. Katja Leikert
Dr. Philipp Lengsfeld
Dr. Andreas Lenz
Antje Lezius
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Wilfried Lorenz
Dr. Claudia Lücking-Michel
Dr. Jan-Marco Luczak
Karin Maag
Yvonne Magwas
Thomas Mahlberg
Gisela Manderla
Matern von Marschall
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({83})
Reiner Meier
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Jan Metzler
Maria Michalk
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Karsten Möring
Marlene Mortler
Elisabeth Motschmann
Carsten Müller
({84})
Stefan Müller ({85})
Dr. Philipp Murmann
Dr. Andreas Nick
Michaela Noll
Helmut Nowak
Dr. Georg Nüßlein
Wilfried Oellers
Florian Oßner
Henning Otte
Ingrid Pahlmann
Sylvia Pantel
Martin Patzelt
Dr. Martin Pätzold
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Alois Rainer
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht
Anita Schäfer ({86})
Karl Schiewerling
Jana Schimke
Norbert Schindler
Heiko Schmelzle
Christian Schmidt ({87})
Gabriele Schmidt ({88})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({89})
Dr. Ole Schröder
Dr. Kristina Schröder
({90})
Bernhard Schulte-Drüggelte
Dr. Klaus-Peter Schulze
Uwe Schummer
Armin Schuster ({91})
Christina Schwarzer
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Tino Sorge
Jens Spahn
Dr. Frank Steffel
Dr. Wolfgang Stefinger
Albert Stegemann
Peter Stein
Erika Steinbach
Johannes Steiniger
Christian Freiherr von Stetten
Rita Stockhofe
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Karin Strenz
Thomas Stritzl
Thomas Strobl ({92})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Sabine Sütterlin-Waack
Antje Tillmann
Astrid Timmermann-Fechter
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Vizepräsidentin Petra Pau
Oswin Veith
Thomas Viesehon
Michael Vietz
Volkmar Vogel ({93})
Sven Volmering
Christel Voßbeck-Kayser
Kees de Vries
Marco Wanderwitz
Nina Warken
Kai Wegner
Albert Weiler
Marcus Weinberg ({94})
Peter Weiß ({95})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Marian Wendt
Waldemar Westermayer
Kai Whittaker
Peter Wichtel
Heinz Wiese ({96})
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Oliver Wittke
Barbara Woltmann
Tobias Zech
Heinrich Zertik
Dr. Matthias Zimmer
Gudrun Zollner
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heike Baehrens
Ulrike Bahr
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Katarina Barley
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Dr. Matthias Bartke
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Dirk Becker
Lothar Binding ({97})
Burkhard Blienert
Willi Brase
Dr. Karl-Heinz Brunner
Martin Burkert
Petra Crone
Bernhard Daldrup
Dr. Karamba Diaby
Sabine Dittmar
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Michaela Engelmeier
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Saskia Esken
Karin Evers-Meyer
Dr. Fritz Felgentreu
Elke Ferner
Christian Flisek
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Ulrich Freese
Dagmar Freitag
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Ulrike Gottschalck
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Michael Groß
Uli Grötsch
Wolfgang Gunkel
Bettina Hagedorn
Metin Hakverdi
Ulrich Hampel
Dirk Heidenblut
Hubertus Heil ({98})
Marcus Held
Wolfgang Hellmich
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({99})
Thomas Hitschler
Dr. Eva Högl
Matthias Ilgen
Frank Junge
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Christina Kampmann
Ralf Kapschack
Gabriele Katzmarek
Ulrich Kelber
Marina Kermer
Arno Klare
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe
Birgit Kömpel
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Christine Lambrecht
Christian Lange ({100})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Hiltrud Lotze
Caren Marks
Katja Mast
Dr. Matthias Miersch
Klaus Mindrup
Susanne Mittag
Bettina Müller
Michelle Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Ulli Nissen
Thomas Oppermann
Mahmut Özdemir ({101})
Aydan Özoğuz
Markus Paschke
Christian Petry
Jeannine Pflugradt
Detlev Pilger
Sabine Poschmann
Joachim Poß
Florian Post
Achim Post ({102})
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Simone Raatz
Martin Rabanus
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Andreas Rimkus
Sönke Rix
Dennis Rohde
Dr. Martin Rosemann
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({103})
Bernd Rützel
Johann Saathoff
Annette Sawade
Dr. Hans-Joachim
Schabedoth
Axel Schäfer ({104})
Dr. Nina Scheer
Udo Schiefner
Dr. Dorothee Schlegel
Ulla Schmidt ({105})
Matthias Schmidt ({106})
Dagmar Schmidt ({107})
Carsten Schneider ({108})
Ursula Schulte
Swen Schulz ({109})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Stefan Schwartze
Andreas Schwarz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Rainer Spiering
Norbert Spinrath
Svenja Stadler
Martina Stamm-Fibich
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Kerstin Tack
Michael Thews
Franz Thönnes
Carsten Träger
Dirk Vöpel
Gabi Weber
Bernd Westphal
Andrea Wicklein
Waltraud Wolff
({110})
Gülistan Yüksel
Dagmar Ziegler
Stefan Zierke
Dr. Jens Zimmermann
Brigitte Zypries
Nein
SPD
Marco Bülow
Claudia Tausend
DIE LINKE
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Dr. André Hahn
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Sigrid Hupach
Susanna Karawanskij
Kerstin Kassner
Katja Kipping
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Caren Lay
Ralph Lenkert
Stefan Liebich
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Niema Movassat
Dr. Alexander S. Neu
Thomas Nord
Harald Petzold ({111})
Martina Renner
Michael Schlecht
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Dr. Kirsten Tackmann
Azize Tank
Dr. Axel Troost
Kathrin Vogler
Halina Wawzyniak
Vizepräsidentin Petra Pau
Harald Weinberg
Katrin Werner
Birgit Wöllert
Jörn Wunderlich
Pia Zimmermann
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Luise Amtsberg
Kerstin Andreae
Annalena Baerbock
Marieluise Beck ({112})
Volker Beck ({113})
Agnieszka Brugger
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Harald Ebner
Matthias Gastel
Kai Gehring
Anja Hajduk
Britta Haßelmann
Bärbel Höhn
Dieter Janecek
Uwe Kekeritz
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Stephan Kühn ({114})
Christian Kühn ({115})
Markus Kurth
Monika Lazar
Steffi Lemke
Dr. Tobias Lindner
Peter Meiwald
Irene Mihalic
Beate Müller-Gemmeke
Özcan Mutlu
Cem Özdemir
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({116})
Corinna Rüffer
Elisabeth Scharfenberg
Ulle Schauws
Dr. Frithjof Schmidt
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Dr. Julia Verlinden
Beate Walter-Rosenheimer
Enthalten
CDU/CSU
Dr. Peter Gauweiler
Josef Göppel
Wir kommen nun zurück zur Debatte zum Tagesordnungspunkt 5. Das Wort hat die Kollegin Halina
Wawzyniak für die Fraktion Die Linke.
({117})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen! Debatten zum Sexualstrafrecht zählen zu
den schwierigsten. Sie eignen sich nicht für Polemik und
nicht für Polterei. Deswegen sage ich sehr deutlich: Jede
Straftat in diesem Bereich ist eine Straftat zu viel. Es gibt
keine Rechtfertigung.
({0})
Unser zentraler Ansatzpunkt bei der Bewertung des
Gesetzentwurfs ist Prävention. Ich bin sehr froh, dass
das Ministerium das Projekt „Kein Täter werden“ unterstützt. Wir glauben, es ist notwendig, dass es einen
Rechtsanspruch auf Therapie in den Strafvollzugsgesetzen gibt. Wir glauben, dass es zur Verhinderung von
Rückfalltaten nötig ist, nach Verbüßung einer Freiheitsstrafe umfassende Hilfe und Unterstützung bei der Resozialisierung anzubieten.
({1})
Strafrecht ist immer Ultima Ratio. Deswegen braucht
ein rechtsstaatliches Strafrecht Straftatbestände, die dem
Bestimmtheitsgebot entsprechen. Wir haben uns bei der
Bewertung des Gesetzentwurfes mit den einzelnen Maßnahmen befasst und geschaut, ob sie unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten erforderlich oder hilfreich sind,
um Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung zu
verhindern.
Der Gesetzentwurf will - darauf ist hingewiesen worden - die Verlängerung der Ruhensvorschriften der Verjährung. Wir haben Verständnis für das Anliegen der Opfer, auch noch zu einem recht späten Zeitpunkt eine
Strafbarkeit der Täter zu ermöglichen. Trotzdem muss
ich Ihnen sagen: Mich persönlich überzeugt der Vorschlag nicht. Die Mehrheit in diesem Haus hat im Jahr
2013 mit dem Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs die strafrechtlichen Verjährungsfristen verlängert. Eine Evaluation, was diese Verlängerung gebracht hat, liegt uns nicht vor. Ich glaube,
wir brauchen zuerst eine Evaluierung, bevor wir wieder
Verjährungsfristen verlängern.
({2})
Es ist eine Binsenweisheit, dass es, je länger eine
Straftat zurückliegt, desto schwieriger ist, mit rechtsstaatlichen Mitteln eine solche Straftat nachzuweisen.
Möglicherweise - ich bitte einfach nur, darüber nachzudenken - führt eine Verlängerung der strafrechtlichen
Verjährungsfristen dazu, dass wir die berechtigten Hoffnungen von Opfern sexualisierter Gewalt enttäuschen,
weil aufgrund der langen Zeit Straftaten rechtsstaatlich
nicht mehr nachgewiesen werden können. Wenn wir die
Hoffnungen der Opfer enttäuschen, dann schadet das am
Ende auch dem Rechtsstaat.
({3})
In § 184 b StGB soll der Begriff der Kinderpornografie erweitert werden. Es soll strafbar sein „die Wiedergabe eines ganz oder teilweise unbekleideten Kindes in
unnatürlich geschlechtsbetonter Körperhaltung“. Sie selber weisen in der Gesetzesbegründung auch darauf hin,
dass der BGH sagt, dass das bereits jetzt strafbar ist.
Nach der Begründung sollen auch „unwillkürlich eingenommene geschlechtsbetonte Körperhaltungen, etwa
durch ein schlafendes Kind“, Kinderpornografie sein. Es
soll „lediglich auf die Körperhaltung selbst“ ankommen.
Ich verstehe auch hier das Anliegen hinter diesem
Vorschlag. Aber ich muss Ihnen sagen, dass ich hier erhebliche Schwierigkeiten mit dem Bestimmtheitsgebot
sehe. Wir brauchen in diesem Bereich Rechtssicherheit
und keine Rechtsunsicherheit.
({4})
Nach dem, was in der Begründung steht, weiß niemand,
der ein schlafendes Kind fotografiert, ob er unter diesen
Straftatbestand fällt oder nicht. Ich weiß, dass es um das
Kindeswohl geht; und das Kindeswohl liegt uns am Herzen. Aber ich glaube, dass dies der falsche Weg ist.
({5})
Nach der vorgesehenen Änderung des § 184 d soll
auch der bestraft werden, „wer es unternimmt, einen kinderpornographischen Inhalt mittels Telemedien abzurufen“. Soweit es um den Download geht, sind wir uns alle
einig, dass das strafbar ist und dass das strafbar bleiben
muss.
({6})
Wenn ich aber den Gesetzentwurf richtig gelesen und
auch verstanden habe - das ist ja nicht immer dasselbe -,
({7})
wird mit dieser Formulierung allein der Aufruf und damit auch der unbeabsichtigte Aufruf unter Strafe gestellt.
In der Gesetzesbegründung heißt es, „wobei der Abruf
nicht die Speicherung des Werkes bei dem Abrufenden
voraussetzt“. Unsere europäischen Nachbarn verlangen
für ähnliche Straftatbestände eine bewusste Handlung,
die sich zum Beispiel durch Speichern oder Bezahlen
manifestiert. Die entscheidende Frage an dieser Stelle
lautet, wie denn ein Aufruf, nur ein Aufruf, überhaupt
kontrolliert werden soll. Kann es möglicherweise sein,
dass sich hier Befürworter der anlasslosen Vorratsdatenspeicherung ein Hintertürchen für die kommenden Debatten offen gelassen haben?
({8})
Das allergrößte Problem in Ihrem Gesetzentwurf haben wir aber mit der Änderung des § 201 a StGB. Das
hat nichts mehr mit dem Sexualstrafrecht zu tun. Nach
diesem Vorschlag soll sich künftig strafbar machen,
„wer unbefugt von einer anderen Person eine Bildaufnahme, die geeignet ist, dem Ansehen der abgebildeten
Person erheblich zu schaden, oder unbefugt eine Bildaufnahme einer unbekleideten anderen Person herstellt
oder überträgt“. Nun ist in § 22 Kunsturhebergesetz geregelt, dass Bildnisse nur mit Einwilligung des Abgebildeten verbreitet und öffentlich zur Schau gestellt werden
dürfen. In § 23 sind Ausnahmen geregelt, zum Beispiel
für Personen des öffentlichen Lebens. In § 23 Absatz 2
gibt es wiederum Ausnahmen von der Ausnahme. Die
Verbreitung ist ohne Einwilligung dann nicht erlaubt,
wenn das berechtigte Interesse verletzt wird. Ein Verstoß
gegen das Kunsturhebergesetz ist nach § 33 strafbar.
Ich sehe, ehrlich gesagt, nicht die Regelungslücke, die
Sie hier schließen wollen. Darüber hinaus ist eine Definition von „geeignet ist, dem Ansehen der abgebildeten
Person erheblich zu schaden“, die dem Bestimmtheitsgebot in irgendeiner Weise entspricht, nicht erkennbar. In
der Gesetzesbegründung stellen Sie - das ist die Ursprungsformulierung aus dem Referentenentwurf - auf
bloßstellende Bildaufnahmen ab. Darunter werden solche verstanden, „die die abgebildete Person in peinlichen oder entwürdigenden Situationen oder in einem
solchen Zustand zeigen, und bei denen angenommen
werden kann, dass üblicherweise ein Interesse daran besteht, dass sie nicht hergestellt, übertragen oder Dritten
zugänglich gemacht werden“. Ich sage Ihnen: Anwältinnen und Anwälte, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte,
Richterinnen und Richter freuen sich schon jetzt auf die
Bearbeitung all der Einzelfälle, in denen zu entscheiden
ist, ob die Aufnahme nun eine ist, die geeignet ist, dem
Ansehen der abgebildeten Person erheblichen Schaden
zuzufügen. Das ist einfach nicht fassbar.
({9})
Um dem noch einen draufzusetzen - ich muss sagen:
das ist aus meiner Sicht die Krone der Unvernunft -,
wollen Sie die Herstellung solcher Bilder unter Strafe
stellen. Wenn also jemand findet, dass jemand ein Foto
gemacht hat, welches geeignet ist, dem Ansehen der abgebildeten Person erheblich zu schaden, erstattet er oder
sie Anzeige. Dann wird ermittelt, ob der Tatbestand erfüllt ist, also ob das Foto wirklich geeignet ist, dem Ansehen erheblichen Schaden zuzufügen. Blöd nur, wenn
das Foto schon wieder gelöscht wurde, ohne dass es irgendwo abgespeichert oder gar irgendwohin übertragen
wurde. Was Sie erreichen - das sage ich Ihnen voraus -,
ist eine Erhöhung der in der Kriminalstatistik erfassten
Straftaten. Was Sie erreichen, sind Ermittlungen gegen
Personen, die ein solches Foto machen. Ich sage Ihnen:
Das ist eine Vergeudung von Ressourcen. Diese Mittel
wären viel besser im Bereich der Prävention eingesetzt.
({10})
Die Kritik der Rechtswissenschaft an dieser Stelle ist
verheerend, und zwar zu Recht.
Ich komme zum Schluss. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, sollten mit der zweiten Alternative Bildaufnahmen unbekleideter Kinder erfasst werden. Im Gesetzentwurf steht aber „Personen“. Das ist ungenau. Wir
können Sie nur dringend bitten: Ziehen Sie diesen Gesetzentwurf zurück und überdenken Sie ihn! Er ist für
uns in dieser Art und Weise nicht zustimmungsfähig.
({11})
Das Wort hat für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege
Thomas Strobl.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung
und Gewalt ist für mich eines der wichtigsten Vorhaben
in dieser Legislaturperiode des Deutschen Bundestages.
Thomas Strobl ({0})
Heute gehen wir einen guten Schritt vorwärts, um die
Schwächsten in unserer Gesellschaft besser zu schützen.
({1})
Wir bringen heute zahlreiche Verbesserungen für die
Opfer sexueller Gewalt auf den Weg. Warum ist das so
wichtig? Das ist deswegen so wichtig, weil die, um die
es geht, sich selber nicht wehren können. Deswegen
müssen wir schnell handeln, und deswegen handelt diese
Große Koalition heute.
({2})
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf machen wir
ganz klar: Der Handel mit Nacktbildern von Kindern ist
kriminell. Das ist kein Kavaliersdelikt, das ist keine Ordnungswidrigkeit, das ist keine Bagatelltat, sondern das
ist eine kriminelle Straftat.
({3})
Erstmals ist auch klar, dass weniger eindeutige Nacktbilder - insofern beseitigen wir Auslegungsschwierigkeiten, Frau Kollegin - von Kindern nicht mehr geduldet
sind. Ein Verstecken hinter schwierigen Abgrenzungsfragen darf es in Zukunft nicht mehr geben. Ganz klar
ist: Mit Nacktbildern von Kindern macht man in
Deutschland ab heute keine Geschäfte mehr.
({4})
Der Opferschutz, der Schutz von Kindern, meine Damen und Herren, beruht auf drei Säulen: erstens auf Prävention, zweitens auf einem lückenlosen Strafrecht, drittens auf effektiven Strafverfolgungsmöglichkeiten.
Zur Prävention: Männer mit pädophilen Fantasien
von Taten abzuhalten, hat sich die Initiative „Kein Täter
werden“ zur Aufgabe gemacht. Ich bin sehr froh - ich
glaube, wir alle sind sehr froh -, dass wir in den aktuellen Haushaltsberatungen die Förderung und damit das
Fortbestehen dieser Einrichtung gesichert haben; denn
wirksame Prävention in diesem Bereich ist Kinderschutz.
({5})
Wir schließen mit diesem Gesetz aber auch im Strafrecht empfindliche Schutzlücken. Das Ziel lautet: keine
Geschäfte mit Nacktbildern von Kindern, besserer
Schutz vor Missbrauch. Die vorgelegten Änderungen
sind auch notwendig. Es ist bittertraurig, dass es inzwischen eine ganze Industrie gibt, die ihre Grundlage in
unendlichem Leid der schwächsten Mitglieder der Gesellschaft hat. Deswegen ist es so notwendig und richtig,
dass keine Geschäfte mehr mit Nacktaufnahmen von
Kindern gemacht werden können. Es ist ein unerträglicher Zustand, dass es überhaupt so eine Industrie gibt.
Wir werden auch das Tauschen von solchen Bildern verbieten; denn den Opfern ist es letztlich egal, ob es ein
Entgelt für die Bilder gibt oder ob sie nur getauscht werden.
Bislang gibt es, Frau Kollegin, keine einheitliche
strafrechtliche Praxis bezüglich der Frage, welche
Nacktbilder strafbar sind und welche nicht. Es kann passieren, dass die Staatsanwaltschaft in München ein Verfahren wegen einer Nacktaufnahme einleitet und in
Hamburg die gleiche Nacktaufnahme als unbedenklich
eingestuft wird. Die Zahl solcher Wertungs- und Auslegungsfragen wollen wir minimieren.
Damit das klar wird - darauf hat der Bundesjustizminister ja zu Recht hingewiesen -, sage ich auch noch einmal: Selbstverständlich dürfen Eltern ihre Kinder beim
Kindergeburtstag, ja, auch beim Spielen in der Badewanne und am Strand weiter fotografieren. Allerdings
erlauben wir uns, allen Eltern den Rat zu geben, mit diesen Bildern sorgfältig umzugehen und sie beispielsweise
nicht achtlos in soziale Netzwerke zu stellen, auch wenn
das nicht strafbar ist.
({6})
Unbefugt gemachte Nacktaufnahmen von Kindern
ohne eindeutigen sexuellen Bezug allerdings fallen künftig unter den ausgeweiteten Intimsphärenschutz, und das
ist auch richtig so. Wenn ich vom Präsidenten des Deutschen Anwaltvereins höre, das gehe ihm zu weit, er
wolle lieber in einer freien Gesellschaft leben, dann kann
ich nur sagen: Es gibt keine Freiheit und kein Recht zum
Anschauen von Nacktbildern fremder Kinder.
({7})
Freiheit auf Kosten der Schwächsten, das ist für uns
keine Alternative.
({8})
Wir müssen sehen, meine Damen und Herren, dass
gerade über die sozialen Netzwerke, über das Internet
diese Bilder in jeden Lebensbereich kommen. Rückzugsgebiete gibt es nicht mehr. Was einmal im Netz verbreitet wurde, das bleibt im Zweifel dort stehen. Hier
handeln wir. Es darf nicht sein, dass ein einziges Foto
das Leben eines jungen Menschen ein Leben lang belastet oder es sogar zerstört. Der Bundesjustizminister hat
hier ein schreckliches Beispiel eindrücklich geschildert.
Die dramatische Wirkung einer Straftat über das Internet zeigt sich auch beim Thema Cybermobbing. Das
Thema Mobbing ist nicht neu. Ebenso wenig sind die
Gründe neu, welche zu Mobbing führen. Die Dimension
von Mobbing im Internet und dort speziell in den sozialen Netzwerken ist aber aufgrund der damit verbundenen
Öffentlichkeit noch um ein Vielfaches größer.
Jemand, der über das Internet sexuelle Kontakte zu einem Kind anbahnt, wird künftig ebenfalls einfacher belangt werden können. Es ist richtig und notwendig, dass
wir das Recht entsprechend angleichen.
({9})
Meine Damen und Herren, das Beispiel, das der Bundesjustizminister Maas zu Beginn seiner Ausführungen
Thomas Strobl ({10})
genannt hat, ist bekannt. Es darf doch keinen Unterschied machen, ob der Lehrer, der sich mit einer Schülerin sexuell einlässt, ein Vertretungslehrer oder ein
Klassenlehrer ist. Anderslautende Rechtsprechung hat es
aber immer und immer wieder gegeben. Deswegen stellen wir künftig sicher, dass sexuelle Kontakte zu Schülerinnen und Schülern für alle Lehrer strafrechtliche Konsequenzen haben. Für die Eltern und für die Opfer macht
es nämlich keinen Unterschied, ob das ein Klassenlehrer
oder nur ein Vertretungslehrer ist.
({11})
Wir werden auch den Strafrahmen erweitern. Wer
kinderpornografisches Material hortet, muss künftig mit
einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren rechnen.
Diese Straferhöhung um ein Jahr ist in jedem Fall richtig; denn durch das Internet bieten wir Extremsammlern
eine Plattform, auf der sie problemlos Hunderte, ja Tausende von solchen Bildern speichern und horten können.
Diese Bildermessies müssen entsprechend bestraft werden. Wir dürfen nicht vergessen: Hinter jedem einzelnen
Bild steckt eine verletzte Kinderseele und die Gefahr eines ruinierten Lebens.
Meine Damen und Herren, es ist auch richtig, dass
wir die Verjährungsfristen verlängern. Zahlreiche Opfer
sexueller Gewalt - das ist doch nachvollziehbar - sind
psychisch über Jahre hinweg traumatisiert und können
erst nach vielen Jahren, manche erst nach vielen Jahrzehnten über das Erlebte sprechen, sich jemandem anvertrauen und dies dann auch entsprechend zur Anzeige
bringen. Daher gestalten wir die Verjährung so, dass alle
Opfer sexueller Gewalt künftig die Chance erhalten,
dann, wenn sie dazu in der Lage sind, gegen ihre Peiniger vorzugehen. Deswegen ruht die Verjährung künftig
bis zum 30. Lebensjahr des Opfers und beginnt erst dann
zu laufen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, klar ist, mehr
Gesetze bringen nicht automatisch mehr Gerechtigkeit
und weniger Straftaten und weniger Leid. Ich finde aber,
wir haben heute ein gutes Paket auf den Weg gebracht,
um den Opfern zu helfen - und darauf kommt es an. Die
Einzelheiten werden wir uns im Gesetzgebungsverfahren anschauen. Sofern wir noch nachjustieren können
und müssen, werden wir dies auch tun.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({12})
Das Wort hat die Kollegin Katja Keul für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr
Minister Maas! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr
geehrte Damen und Herren! Bevor ich hier meine Kritik
an diesem Gesetzentwurf darlege, will ich eines vorwegschicken: Es ist eine großartige Veränderung in unserer
Gesellschaft, dass sexueller Missbrauch von Kindern
nicht mehr geleugnet und verharmlost wird. Dass die
Betroffenen heute endlich angehört und ernst genommen
werden nach all den Jahrzehnten des Leids, ist für die
meisten eine echte Befreiung. Und wenn der Staat heute
seine Schutzpflichten gegenüber Kindern erst nehmen
will, dann sollten wir das nicht als bloße Prüderie abtun.
({0})
Wir begrüßen daher als Grüne die Klarstellungen im
Gesetz zu den Fällen des sogenannten Posing und Grooming, dem Anbahnen von sexuellen Kontakten zu Kindern im Internet. Die Verlängerung der Verjährungshemmung auf das 30. Lebensjahr ist zwar unter Juristen nicht
unumstritten, aber auch dabei gehen wir mit; denn das
hat für die Opfer eine ganz zentrale Bedeutung: Zeit zu
heilen und Kraft zu schöpfen ohne den Druck der drohenden Verjährung.
({1})
Ansonsten muss ich Ihnen aber leider sagen: Gut gemeint ist nicht immer gut gemacht. Zunächst als Beispiel
ein Problem aus dem Bereich des eigentlichen Sexualstrafrechts: die Vorschrift zur Jugendpornografie. Es dürfte
unstrittig sein, dass eine 19-Jährige mit einem 17-Jährigen
ein Verhältnis haben darf. Wenn sie aber mit seinem
Einverständnis intime Fotos macht, soll das künftig automatisch strafbar sein, ohne dass diese Fotos jemals
verbreitet oder veröffentlicht werden. Damit stellen Sie
einvernehmlich gemachte Bildaufnahmen von Jugendlichen ebenso unter Strafe wie bei einem Kind, obwohl
Sexualkontakte mit Jugendlichen nicht per se Straftaten
sind. Falls dies ein Versehen gewesen sein sollte, dann
ändern Sie das doch bitte noch. Die Strafbarkeit muss an
dieser Stelle auf das Verbreiten von Aufnahmen beschränkt werden.
({2})
Noch schlimmer ist die neue Vorschrift zum allgemeinen Persönlichkeitsschutz, geregelt in § 201 a StGB. Danach soll jetzt strafbar werden die Herstellung einer
„Bildaufnahme, die geeignet ist, dem Ansehen der abgebildeten Person erheblich zu schaden“. Ich will Ihnen
zur Verdeutlichung einige Fallbeispiele anhand eines
Wochenverlaufs nennen, wie Sie ihn hoffentlich nie erleben müssen.
Montag: Sie spazieren auf der Reeperbahn in Hamburg
und machen einige Fotos von interessanten Fassaden.
Plötzlich kommt, just als Sie den Auslöser betätigen, aus
dem Hauseingang eines einschlägigen Etablissements
ein bundesweit bekannter Politiker. Jetzt die Frage: Wer
hat sich gerade strafbar gemacht? - Genau: Das Bild ist
geeignet, das Ansehen zu schädigen - ob es dazu verwendet wird, darauf kommt es nicht an. Mit der Herstellung selbst ist der Tatbestand erfüllt. Selbst die unverzügliche Löschung des Fotos ändert daran nichts mehr.
Am Montag haben Sie noch Glück: Der Kollege verzichtet auf eine Strafanzeige.
Dienstag. Sie beobachten zufällig, wie ein Fahrer einer dunklen Limousine langsam neben einer GrundschüKatja Keul
lerin im Schritttempo herfährt, das Fenster herunterdreht
und dem verunsicherten Kind ein Gespräch aufdrängt.
Sie haben ein ungutes Gefühl und nutzen Ihr iPhone, um
schnell eine Aufnahme von der Szene zu machen - man
weiß ja nie. Dummerweise hat der Fahrer Sie entdeckt,
dreht nach der nächsten Ecke um und kommt zurück,
während er die Polizei hinzuzieht. Wer hat jetzt ein Problem mit dem Strafrecht? Sie oder er? - Irgendeine Ausrede wird er schon haben, jedenfalls will er sicher nicht
als potenzieller Pädophiler dargestellt werden. Sie meinen vielleicht, die Staatsanwaltschaft würde in einem
solchen Fall wohl nicht ermitteln. In einem Rechtsstaat
ist es allerdings so, dass die Frage von strafrechtlicher
Verfolgung nicht im Ermessen der Behörden liegen darf,
sondern gesetzlich bestimmt sein muss. Wenn ein Tatverdacht besteht, muss die Staatsanwaltschaft ermitteln.
Das nennt man Legalitätsprinzip.
Mittwoch. Es läuft wirklich schlecht. Sie werden von
zwei brutalen Typen zusammengeschlagen, während ein
dritter das Ganze grinsend filmt. Der soll doch jetzt wenigstens auch unter das neue Gesetz fallen, denken Sie.
Sie sind aber weder unbekleidet noch schädigt es Ihren
Ruf, Opfer einer Straftat geworden zu sein. Merkwürdig
finden Sie das nach dem, was Ihnen am Vortag widerfahren ist.
Donnerstag. Ein Kollege erzählt Ihnen, dass er regelmäßig Nacktbilder von Kindern im Internet ankauft, die
aber keinesfalls pornografisch seien. Jetzt denken Sie:
Den kriegen wir! - Weit gefehlt: Der Ausgangsfall für
die ganze öffentliche Diskussion ist nach wie vor nicht
erfasst. Strafbar soll ausschließlich das Verbreiten und
Veröffentlichen sein, nicht aber der Bezug von Bildern.
Wir halten also fest: Das, was Sie erfassen wollten,
erfasst das Gesetz nicht, dafür alle möglichen Konstellationen, die uns jeden Tag passieren können. Es gibt am
Ende einen einzigen weiteren Fall, über den wir ernsthaft reden müssen.
Freitag. Sie fahren mit Ihren Kindern an die Nordsee,
um sich von der anstrengenden Woche zu erholen. Während Ihre Kleinen nackt im Sand spielen, entdecken Sie
plötzlich einen Herrn mit Sonnenbrille, der offensichtlich mit seiner Digitalkamera hantiert. Diese Konstellation ist in der Tat bislang nicht vom Strafrecht erfasst
und könnte eine Strafrechtsänderung rechtfertigen. Dazu
müsste es Ihnen gelingen, einen Entwurf vorzulegen, der
genau diese Konstellation erfasst, ohne uns alle tagtäglich in die Illegalität zu treiben. Ich weiß, dass das keine
leichte Aufgabe ist. Es ist aber der rechtsstaatliche Maßstab, an dem Sie sich messen lassen müssen. Ihr Gesetz
wird diesem Maßstab jedenfalls nicht gerecht.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege
Dr. Johannes Fechner.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir behandeln heute ein Thema, bei
dem es um den Schutz der Schwächsten und der Wehrlosesten in unserer Gesellschaft geht. Der Missbrauch von
Kindern ist für mich eines der schwersten Verbrechen
überhaupt, weil er das ganze Leben der Opfer beeinträchtigt und beeinflusst. Genau deshalb dürfen wir als
Staat, als Gesellschaft, dürfen wir als Politikerinnen und
Politiker in diesem Bereich keine Strafbarkeitslücken
dulden.
({0})
Wir haben uns deshalb in der Großen Koalition vorgenommen, die inakzeptablen Lücken im Sexualstrafrecht zum Schutz der Kinder zu schließen. Auch kommen wir damit einer EU-Richtlinie nach, die uns
auffordert, eine Gesetzgebung zur Bekämpfung von Kindesmissbrauch und sexueller Ausbeutung von Kindern
zu schaffen. Dieser Aufforderung ist der Justizminister
mit dem vorliegenden Gesetzentwurf nachgekommen.
Ich möchte mich ausdrücklich für diese konsequente
Vorlage, für diesen konsequenten Gesetzestext bedanken, weil er viele Verbesserungen zum Schutz der Kinder in Deutschland bringt. Ganz herzlichen Dank.
({1})
Ein paar Punkte möchte ich herausstellen. In der Tat
werden wir das Strafmaß für den Besitz von Kinderpornografie von zwei auf drei Jahre erhöhen. Wir werden
das Erstellen und vor allem das Verbreiten der sogenannten Posingbilder, also von Bildern, die Kinder in unnatürlicher, geschlechtsbetonter Körperhaltung zeigen, als
Kinderpornografie definieren. Ich finde, wir schließen
hier eine sehr bedenkliche Strafbarkeitslücke. Wir haben
hier einen Grauzonenbereich, den wir nicht nur der Definition der Rechtsprechung überlassen sollten, sondern wo
wir eine Rechtsregelung, einen Straftatbestand, schaffen
sollten, wenn wir - das müssen wir - den Handel mit
Bildern von nackten Kinderkörpern verhindern wollen.
Das muss das Ziel sein.
({2})
Wir wollen den Straftatbestand des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen erweitern. Nach unseren
Plänen sollen beispielsweise auch Stiefeltern oder der
neue Lebenspartner eines Elternteils von dem Straftatbestand des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen erfasst werden. Auch damit schließen wir eine
Lücke, die es bisher gab.
Schließlich - das ist noch gar nicht angesprochen
worden, aber es ist ganz wichtig - werden viele Kinder
im Internet von Straftätern mit dem Ziel angesprochen,
sexuelle Handlungen bei den Kindern zu provozieren;
das ist das sogenannte Cybergrooming. Auch das werden wir mit einem eigenen Straftatbestand regeln.
Weil viele Kinder - wie schon von einigen Vorrednern gesagt - erst viele Jahre nach der Tat, als Erwachsene, in der Lage sind, die erlittene Tat überhaupt zu
verarbeiten, darüber zu sprechen und sie zur Strafanzeige zu bringen, ist es richtig und wichtig, dass wir die
Verjährungsfrist erst ab dem 30. Lebensjahr des Opfers
beginnen lassen.
Das alles sind wichtige Verbesserungen zum Schutz
der Kinder. Dass wir hiermit richtigliegen, zeigt ein
Blick auf die Verbandsreaktionen: Wenn selbst die
Gewerkschaft der Polizei, der Bund Deutscher Kriminalbeamter und - das ist für mich besonders wichtig - der
Deutsche Kinderschutzbund diese Gesetzesinitiative
ausdrücklich loben, dann ist das ein klares Zeichen dafür, dass wir hier einen wichtigen Beitrag zum Schutz
von Kindern vor sexuellem Missbrauch leisten.
({3})
Eines ist dabei auch klar: Mit Gesetzesverschärfungen allein ist es nicht getan. Die Strafverfolgungsbehörden müssen natürlich auch personell und technisch in der
Lage sein, die Gesetze umzusetzen. Wir handeln auch in
diesem Bereich. Im 2. Untersuchungsausschuss untersuchen wir, ob das BKA in dieser Hinsicht technisch und
personell ausreichend ausgerüstet ist. Länder wie BadenWürttemberg reagieren auch. Ich freue mich, dass in
Baden-Württemberg im nächsten Haushalt keine einzige
Stelle im Justizbereich wegfällt. Das sind wichtige Maßnahmen.
Ganz besonders wichtig ist uns als SPD-Fraktion, das
Thema Prävention zu fördern. Beispielhaft für gelungene Präventionsprojekte möchte ich das vom Bund
geförderte Projekt „Kein Täter werden“ hier in Berlin an
der Charité oder das Programm „Keine Gewalt- und Sexualstraftat begehen“ in Baden-Württemberg nennen.
Diese gelungenen Projekte zeigen: Gesetze verschärfen
allein reicht nicht; der beste Opferschutz ist die Prävention, weil wir dadurch verhindern, dass diese schlimmen
Straftaten überhaupt erst begangen werden, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({4})
Ich komme zum Schluss. Wir müssen den Kindesmissbrauch in Deutschland bekämpfen. Dazu müssen
wir Präventionsprojekte fördern, die technische und
personelle Ausstattung der Strafverfolgungsbehörden
verbessern und die im Moment bestehenden inakzeptablen Strafbarkeitslücken im deutschen Strafrecht schließen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat der Kollege Alexander Hoffmann für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen! Meine Herren! Sehr
geehrter Herr Minister, ich bin sehr dankbar, dass Sie
heute diesen Gesetzentwurf persönlich in die parlamentarische Beratung eingebracht haben; denn dies zeigt,
wie wichtig uns allen dieses Gesetzgebungsprojekt ist.
Dennoch möchte ich den von Ihnen eingangs geschilderten Fall zum Anlass nehmen, Werbung für eine Reform des § 177 StGB zu machen. Sie hatten vorhin den
Fall geschildert, dass ein Lehrer ein Mädchen zum Sex
gezwungen hat. Sie hätten dann aber auch erklären müssen, warum man den Lehrer nicht nach § 177 StGB belangen kann. Ich möchte hier den einen oder anderen
Satz dazu verlieren, weil mir, mit Verlaub, die Haltung
des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz zum Bedarf einer Reform des § 177 StGB
schlichtweg nicht nachvollziehbar erscheint.
Zunächst einmal die Problemstellung, die uns allen
bekannt ist: Die aktuelle Fassung des § 177 Absatz 1
StGB setzt für eine Strafbarkeit voraus, dass der Täter
die Handlungen entweder mit Gewalt, durch Drohung
mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben oder unter Ausnutzung einer Lage, in der das Opfer der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert ist, durchführt.
Eine Vornahme sexueller Handlungen nur gegen den
Willen des Opfers reicht in Deutschland nicht zur Strafbarkeit aus. Sie wissen auch, dass die Rechtsprechung
gerade Absatz 1 Ziffer 3 sehr restriktiv auslegt und eine
Objektivierung der Zwangslage fordert.
Damit komme ich zu einem Fall, wie er schon mehrmals abgeurteilt worden ist: Eine Frau lebt in einer
Gewaltbeziehung. Ihr Mann kommt am Abend sturzbetrunken nach Hause und will den Beischlaf vollziehen.
Sie will das nicht, sagt mehrmals Nein, und trotzdem geschieht das Ganze, während sie weinend unter ihm liegt,
starr vor Schreck ist und sich nicht wehrt. - Denken wir
daran: Opferschutzverbände empfehlen Opfern, sich in
solchen Situationen nicht zu wehren, weil die Lage tatsächlich eskalieren könnte; er könnte sie grün und blau
schlagen. Ein solcher Fall ist in Deutschland bis heute
nicht strafbar, auch wenn der Ehemann morgen in die
Kneipe geht und mit dem Geschehenen prahlt, die Frage
der Beweisbarkeit also überhaupt kein Problem ist.
Hinzu kommt, dass das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen
Frauen und häuslicher Gewalt vom 11. Mai 2011, die sogenannte Istanbul-Konvention, in Artikel 36 Absatz 1
explizit fordert - das haben auch wir vereinbart -, dass
sonstige nicht einverständliche, sexuell bestimmte
Handlungen mit einer anderen Person im Falle vorsätzlichen Verhaltens unter Strafe zu stellen sind.
Mit Verlaub: Vor diesem Hintergrund habe ich es als
kühn empfunden, dass es auf Seite 23 des von Ihrem
Haus vorgelegten Referentenentwurfs in der Fassung
vom 7. April 2014 in Bezug auf § 177 StGB hieß, dass
kein Handlungsbedarf bestehe. Wortwörtlich heißt es:
„Artikel 36 der Istanbul-Konvention wird ebenfalls
durch § 177 StGB umgesetzt“. - Eine krasse Fehleinschätzung. Umso dankbarer bin ich, dass im nun vorliegenden Referentenentwurf ausdrücklich eine eingehende
Prüfung des Reformbedarfs zugesagt wird.
Meine Damen, meine Herren, dass wir uns nicht
falsch verstehen: Ich habe Verständnis dafür, dass es Zeit
braucht, eine tatbestandsmäßige Erfassung schwieriger
Fallkonstellationen zu formulieren, die mit einer erheblichen Beweisschwierigkeit verbunden sind. Aber ich
habe kein Verständnis dafür, dass erst viel Druck auf das
Ministerium aufgebaut werden muss, bis ein Umdenken
stattfindet - und das bei einer Sachlage, die meines Erachtens völlig eindeutig ist.
({0})
Wir alle waren geschockt, als im Zuge der EdathyAffäre - so will ich es einmal nennen - bekannt geworden ist, dass es mittlerweile einen ganzen Markt gibt, der
mit gerade noch legalem Material handelt. Sogenannte
Regisseure drücken osteuropäischen Knaben 5 Euro in
die Hand, damit sie nackt miteinander raufen. Dabei
werden Nahaufnahmen von den Genitalien gemacht.
Mittlerweile gibt es viele Händler und Tauschringe, es
ist fast eine ganze Branche, die Millionenumsätze macht.
Wir alle waren uns einig, dass bereits in dieser Situation
sexueller Missbrauch vorliegt. Wir alle hatten mit diesem Reformprojekt sehr große Hoffnungen verbunden,
und wir haben sie heute noch. Unser Ziel war eine
Normierung der Strafbarkeit, die Schließung von Strafbarkeitslücken und die Trockenlegung des Marktes. Ich
plädiere an dieser Stelle dafür, dass wir uns den Gesetzentwurf im weiteren Verfahren sehr dezidiert vornehmen; denn wir sind von dem uns gesteckten Ziel noch
ein ganzes Stück entfernt.
Ich will Ihnen das zunächst anhand der im vorliegenden Referentenentwurf neu formulierten § 184 b und c
des StGB deutlich machen. Ich hätte mir hier eine weitreichendere Regelung gewünscht. In der Begründung
heißt es, dass es sich nur um eine Klarstellung handelt.
Es soll also nur das in Form gegossen werden, was ohnehin gängige Rechtsprechung des BGH ist, nämlich dass
das Posieren in sexualbetonter Körperhaltung bereits
heute den Tatbestand der Kinder- und Jugendpornografie
erfüllt.
Den Fall, den ich eben geschildert habe, werden Sie
durch die Neuregelung leider nicht fassen. Es wäre
wichtiger gewesen, zumindest den Versuch zu unternehmen, auch Nahaufnahmen von Genitalien zu vorwiegend
sexuellen Zwecken unter Strafe zu stellen - und das,
ohne eine eigene Handlungskomponente des Opfers zu
fordern. Dann würde der geschilderte Fall nämlich erfasst werden.
Genau das fordert auch Artikel 20 Absatz 2 des Übereinkommens des Europarates zum Schutz von Kindern
vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch,
landläufig Lanzarote-Konvention genannt. Der Unrechtsgehalt einer solchen Tat - denken Sie bitte wieder
an den Regisseur, der osteuropäischen Knaben 5 Euro in
die Hand drückt, um sie in entsprechender Situation zu
fotografieren - rechtfertigt es nicht, wenn wir eine solche Tat am Ende lediglich in einen neu formulierten
§ 201 a StGB fassen, sie also als bloße Verletzung des
persönlichen Lebensbereichs aburteilen. Ich fordere daher eine entsprechende Neuformulierung.
Derzeit wird im Bundesrat ein, wie ich finde, sehr guter Ansatz diskutiert. Wir müssen durch eine gesetzliche
Regelung deutlich machen, dass bereits dann ein Sexualdelikt vorliegt, wenn Nahaufnahmen der Genitalien von
Kindern und Jugendlichen aus sexuellen Motiven gefertigt, getauscht oder gewerbsmäßig gehandelt werden.
({1})
Dabei darf es keinen Unterschied machen, ob das Kind
durch eigenes Handeln posiert oder in einem bestimmten
Zustand, sei es raufend, gefesselt, schlafend oder bewusstlos, abgelichtet wird.
Am Ende noch einige Sätze zu § 201 a StGB. Wir
müssten uns einig sein, dass dies nicht ein bloßer Auffangtatbestand für eigentliche Sexualdelikte sein darf.
Dafür ist die Norm am Ende untauglich. Ich will Ihnen
das anhand verschiedener Beispiele zeigen:
Denken Sie an die Eintragung im Bundeszentralregister. Da wird die Norm bezeichnet und die Tatbezeichnung niedergeschrieben. Am Schluss ist nicht ersichtlich, ob die Tat mit Kindern bzw. mit sexueller
Motivation zu tun hatte oder ob es sich einfach nur um
ein unvorteilhaftes Foto eines betrunkenen Nackten am
mallorquinischen Strand handelt. Denken Sie daran: Was
im Bundeszentralregister steht, steht am Schluss auch im
Führungszeugnis. Was im Führungszeugnis steht, brauchen wir für die Beurteilung der Frage, ob so jemand unsere Kinder und Jugendlichen zum Beispiel als Übungsleiter unterrichten darf.
Ich will anmahnen, dass wir, wenn wir die Absicht
haben, § 201 a StGB in diese Richtung zu formulieren,
über Folgeänderungen des § 25 Absatz 1 Nummer 3
Jugendarbeitsschutzgesetz nachdenken müssen. Das Beschäftigungsverbot wäre eine zwingende Konsequenz,
wenn die Tat im Zusammenhang mit Nacktaufnahmen
von Kindern und Jugendlichen steht. Die Straftat nach
§ 201 a StGB ist zudem - das ist vorhin schon angeklungen - nur ein Antragsdelikt und kein Offizialdelikt. Ich
bezweifle, dass das mit dem Unrechtsgehalt einer solchen Tat in Einklang zu bringen ist.
Abschließend muss ich sagen: Der geplante Satz 2 in
§ 201 a Absatz 1 StGB - die zweite Alternative - ist mir
zu weit gefasst; denn er stellt die Aufnahme der Nacktheit situationsunabhängig unter Strafe. Da haben wir
einen Wertungswiderspruch: Im momentanen Wortlaut
stellt die Norm denjenigen, der abends den Sonnenuntergang am FKK-Strand fotografiert und unbedachterweise
zum Beispiel eine unbekannte nackte männliche Person
auf dem Foto hat, mit demjenigen gleich, der als Regisseur osteuropäischen Knaben 5 Euro in die Hand drückt,
um sie nackt vor sich raufen zu lassen und dabei zu fotografieren.
Zum Ende noch eine Bemerkung in Richtung der Linken: Kollegin Wawzyniak, ich war schon erschrocken,
dass Sie bei einem so wichtigen Thema vor allem wieder
Angst vor einer verkappten Vorratsdatenspeicherung
haben. Damit zeigen Sie doch ganz deutlich, welche
Täterschaft Sie - unbewusst, aber faktisch - mit Ihrer
ideologischen Verweigerungshaltung schützen.
Meine Damen und Herren, Sie sehen also: Wir brauchen noch ein bisschen, bis wir eine trennscharfe -
Kollege Hoffmann, die Ankündigung des Endes der
Rede ersetzt nicht den Schlusspunkt. Ich bitte Sie, zum
Ende zu kommen.
({0})
Das ist der Schlusssatz. - Sie sehen also, dass wir
noch lange brauchen, bis wir eine trennscharfe und funktionierende Waffe, ein effektives Instrument gegen Kinderpornografie und für die Schließung der Strafbarkeitslücken geschaffen haben. Ich freue mich auf die weitere
Debatte. Ich freue mich vor allem auf die Anhörungen
und in diesem Sinne auf ein konstruktives Miteinander.
Vielen Dank.
({0})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Dr. Franziska Brantner das Wort.
Liebe Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Erlauben Sie mir eine Vorbemerkung: Uns hat es etwas
überrascht, dass der Kollege Hoffmann § 177 StGB und
Artikel 36 der Istanbul-Konvention angesprochen hat.
Wir Grüne hatten einen Antrag eingebracht mit dem Titel: „Artikel 36 der Istanbul-Konvention umsetzen - Bestehende Strafbarkeitslücken bei sexueller Gewalt und
Vergewaltigung schließen“ und wollten ihn heute auf die
Tagesordnung setzen. Ihre Fraktion hat das ohne Grund
abgelehnt. Wir fanden es sehr erstaunlich, dass dieser
Antrag heute nicht mitbehandelt wurde.
({0})
Gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Hoffmann?
Ja.
Bitte.
Frau Kollegin, danke für den Hinweis. - Ist Ihnen bekannt, dass wir dieses Thema eigentlich schon weit vor
der Sommerpause und damit weit vor Ihnen aufgegriffen
haben? Ihr Antrag hat sich dem Grunde nach erledigt,
({0})
weil das Ministerium schon lange Reformbedarf in Bezug auf § 177 StGB sieht und daran arbeitet. Deswegen
meine Frage, ob Sie das zur Kenntnis genommen und
verstanden haben.
({1})
Sie warten also auf das Ministerium. Der Antrag ist
übrigens vom 2. Juli 2014.
({0})
Es ist nicht so, dass wir Grünen nicht schon länger daran
gearbeitet hätten. Wir haben gedacht, das hier ist ein guter Zeitpunkt, diesen Antrag zu diskutieren.
({1})
Auch Sie haben dieses Thema gerade angesprochen. Sie
selber haben gesagt, da gibt es noch Lücken. Warum
sollten wir als Parlament darüber nicht diskutieren können, während das Ministerium vielleicht noch prüft?
({2})
Nun aber zum Thema Prävention. Wir haben es heute
- das haben einige Kolleginnen und Kollegen schon
gesagt - mit einem sehr schwierigen Thema zu tun: sexuelle Gewaltbilder, Missbrauchsabbildungen - „Nacktbilder“ ist übrigens ein fast verharmlosender Ausdruck;
es sind Missbrauchsabbildungen -, Cybergrooming,
Sexting. Die Opfer leiden ihr Leben lang. Deswegen ist
es gut, dass bestehende Regelungslücken angegangen
und geschlossen werden. Aber das reicht nicht. Wir
brauchen zusätzliche präventive Maßnahmen. Dafür haben wir in unserem Antrag ein umfangreiches Paket vorgelegt. Drei Punkte möchte ich gerne hervorheben:
Erstens. Wir müssen Kinder in ihrem Selbstbewusstsein stärken, Nein zu sagen, Grenzen aufzuzeigen und
ihre Rechte einzufordern. Aber dazu müssen sie diese
erst einmal kennen, zum Beispiel ihr Recht an ihrem
Bild. In der Kinderkommission wurde gestern von Experten die Kampagne „Jedes Mädchen und jeder Junge
hat das Recht am eigenen Bild“ vorgeschlagen. Das ist
eine sehr gute Idee. Ich hoffe, sie wird aufgegriffen.
({3})
Damit sich Kinder über derart Schlimmes überhaupt
beschweren können, müssen sie positive Erfahrungen
damit gemacht haben, sich auch einmal über sehr viel
weniger schlimme Dinge, zum Beispiel über schlechtes
Essen, zu beschweren. Es muss Vertraute geben, an die
sich Kinder wenden können. Das Fehlen eines guten Beschwerdesystems in Deutschland bemängelt der UNKinderrechtsausschuss seit langem. Lassen Sie uns das
Thema endlich angehen und die UN-Kinderrechtskonvention einhalten.
Die Aus- und Fortbildung all jener, die mit Kindern
zu tun haben, muss dazu befähigen, Missbrauch und
Misshandlungen zu erkennen und richtig damit umzugehen. Das gilt für alle Einrichtungen, von der Kita an.
({4})
Der zweite Punkt ist für uns die Stärkung der Medienkompetenz. Wir haben schon von Cybergrooming gehört: Erwachsene nähern sich unter Vortäuschung falscher Identitäten Kindern und Jugendlichen im Internet
und bahnen sexuelle Kontakte an. Die Antwort darauf
lautet immer pauschal, es müsse die Medienkompetenz
gestärkt werden. Aber dies wird in jedem Bundesland
anders definiert. Zum Teil wird es sogar gar nicht definiert und gar nicht vermittelt. Wir brauchen deswegen
ein Netzwerk, eine Koordinierungsstelle, um endlich
einheitliche Standards für die Medienkompetenzförderung zu erarbeiten und diese dann auch zu vermitteln.
({5})
Drittens müssen wir jedem Kind und jedem Jugendlichen, dem sexuelle Gewalt widerfahren ist oder dessen
Bilder missbraucht worden sind, und auch ihrem Umfeld
helfen. Dazu gehört die Arbeit mit Gruppen junger Menschen, unter denen es zu Grenzverletzungen kam. Wir
müssen ihnen helfen, damit umzugehen. Dafür brauchen
wir kompetente Beratungsstellen. Das kostet Geld. Das
sollten uns die Kinder und Jugendlichen in unserer Gesellschaft aber wert sein.
({6})
Wir sind gern bereit, bei diesem Thema fraktionsübergreifend zu arbeiten. Wir freuen uns auf Ihre Unterstützung für unseren Antrag. Am Ende möchte ich Herrn
Tsokos zitieren, der heute in der Zeit wie folgt zitiert
wird: „Was wir brauchen, ist eine Kultur des Handelns.“
Lassen Sie uns gemeinsam handeln.
({7})
Für die SPD-Fraktion spricht die Kollegin Susann
Rüthrich.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Jedes Kind muss ein Recht darauf haben,
ohne Gewalt und ohne Ausbeutung aufzuwachsen. Kinder können ihre eigene Intimsphäre meist schwer selbst
schützen, deswegen müssen wir alle das tun - zum einen
über eindeutige Gesetze, zum anderen über eine Gesellschaft, die wirksame Prävention unterstützt. Beide Bereiche greifen dabei ineinander.
Der hier vorliegende Gesetzentwurf unterstreicht
deutlich, dass wir in unserer Gesellschaft sexuelle Gewalt und Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen
nicht dulden. Die Straftatbestände sind jetzt konkreter
und klarer beschrieben. Das ist gut so, auch für diejenigen, die die Gesetze werden anwenden müssen. Hier
braucht es genügend Personal, damit wir uns darauf verlassen können, dass das Gesetz umgesetzt wird.
Doch das Gesetz ist nur die eine Seite der Medaille.
Was wir in der Gesellschaft zu tun bereit sind, um Kinder zu schützen, das ist die andere Seite. Wir müssen uns
darüber im Klaren sein, dass ein pädophil geprägter
Mensch sich in den allerwenigsten Fällen von einem
noch so guten Gesetz allein abhalten lässt. Leider greifen
Gesetze erst dann, wenn es zu spät ist, nämlich wenn die
Straftat bereits begangen ist. Das ist für das betroffene
Kind zu spät. Damit es erst gar nicht dazu kommt, brauchen wir Prävention.
({0})
Das fängt bei den Kindern selbst an. Jedes Kind darf,
ja soll und muss Nein sagen. Jedes Kind muss mit
Selbstvertrauen die eigenen Bedürfnisse und die eigenen
Grenzen kennen und diese ohne Scheu benennen können. Das fängt für mich bei dem aufgedrängten Kuss der
Tante bei einer Familienfeier an. Wenn das Kind an dieser Stelle Nein sagt, dann haben wir das zu respektieren
({1})
und dürfen das Kind nicht dafür rügen, dass es unhöflich
sei.
Gerade dann, wenn sich ein Kind gefährdet fühlt oder
Opfer wurde, braucht es verlässliche Vertrauenspersonen. Diese müssen nicht nur etwas tun, sondern sie müssen das Richtige tun. Eltern, Erzieherinnen und Erzieher,
Lehrerinnen und Lehrer etc. brauchen fachliche Unterstützung, Begleitung und Leitfäden, alles, was ihnen Sicherheit beim Erkennen und beim Reagieren gibt.
Opferschutz bedeutet auch, aus potenziellen Tätern
und Täterinnen keine tatsächlichen werden zu lassen.
Daher ist es richtig, Projekten wie „Kein Täter werden“
mehr Geld zu geben. Ein Vertreter des Projektes war
gestern bei uns in der Kinderkommission. Er bestätigte:
Die Prävention muss so zeitig wie irgend möglich anfangen. Es ist möglich, Jugendliche bereits in der Pubertät,
während sich die sexuelle Prägung ausbildet, zu begleiten und auch schon dort wirksam präventiv tätig zu werden.
Wer kann noch helfen, das Richtige zu tun? Beispielsweise die Betroffenen selbst. Zum Ende dieses Jahres
wird Herr Rörig, der unabhängige Beauftragte für Fra4950
gen des sexuellen Kindesmissbrauchs, einen Betroffenenbeirat einrichten. Wer wüsste besser als diese Menschen, was ihnen wirklich geholfen hätte und was nur
gut gemeint gewesen wäre? Nehmen wir diese Kompetenzen ernst und handeln entsprechend.
({2})
Als Kinderbeauftragte meiner Fraktion fordere ich die
Einsetzung eines Bundeskinderbeauftragten. Er oder sie
würde darauf achten, dass Kinder durch Gesetze und
durch uns als Gesellschaft geschützt und gefördert werden.
Vielen Dank.
({3})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat die Kollegin Dr. Silke
Launert das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Zuckerbrot
und Peitsche - leider muss ich bei meiner Rede zum Entwurf der Reform des Sexualstrafrechts heute nach dieser
Methode vorgehen. Zunächst freut es mich außerordentlich, dass der Bundesjustizminister den Fall Edathy zum
Anlass genommen hat, dieses Thema schnell auf die
Agenda zu setzen. Er hat sein Ministerium einen Entwurf erarbeiten lassen mit dem Ziel, Gesetzeslücken
bzw. Schutzlücken zu schließen und europäische Vorgaben, die noch nicht ausreichend umgesetzt sind, vollständig umzusetzen. Es ging zügig voran. Es freut mich,
wenn schnell gehandelt wird.
Es gibt wirklich sehr viele positive Aspekte. Der eine
ist, dass Sexualstraftaten gegenüber Personen unter
30 Jahren länger strafrechtlich verfolgt werden können,
weil die Verjährung bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres ruht; wir haben es schon mehrfach angesprochen.
Frau Wawzyniak, ich brauche da keine Evaluation.
Kommen Sie einfach zu mir, und ich erzähle Ihnen von
zig Fällen in der Praxis, die sich freuen, dass die Verjährung jetzt nicht so früh eintritt.
({0})
Das hängt nicht nur mit möglicher Verdrängung zusammen oder damit, dass die Opfer einfach so viel Zeit
brauchen, weil es natürlich einen ganz intimen Bereich
betrifft. Vielmehr führt eine solche Tat gerade bei Kleinkindern - wenn man sich ein bisschen mit Psychologie
beschäftigt, weiß man das - zu einer Art Abkapselung.
Sie können Fragen dazu gar nicht beantworten. Dieses
Trauma wird frühzeitig in Form einer Abkapselung verdrängt. Erst 20 Jahre später, im Erwachsenenalter, taucht
die Erfahrung plötzlich auf - ich kann Ihnen auch dazu
konkrete Beispiele nennen -, oft erst, wenn der Täter
wieder als Trainer im Sportverein tätig ist, wieder mit
kleinen Kindern umgeht. Plötzlich kommen dann diese
alten Geschichten aus dem Nichts hervor.
Wir wollen durch diesen Entwurf Gesetzeslücken
schließen bei Vertretungslehrern, aber auch bei Personen, die mit dem Kind in einem Haushalt leben. Ein
ganz großer Anwendungsfall in der Praxis sind sexuelle
Übergriffe durch den Stiefvater oder die Großeltern.
Auch da haben wir Schutzlücken geschlossen, und ich
freue mich sehr, dass wir da vorangehen.
Ein weiterer Aspekt sind die sogenannten Posingbilder, der eigentliche Anlass der Reform; so habe ich es
zumindest empfunden. Ich gebe zu, da muss ich leider
ein paar Kritikpunkte anbringen. Wir haben bei der
Strafbarkeit wegen Kinder- und Jugendpornografie
- § 184 b und c StGB - den Wortlaut erweitert: Bilder
„einer ganz oder teilweise unbekleideten Person … in
unnatürlich geschlechtsbetonter Körperhaltung“ fallen
jetzt auch darunter. Das ist aber - darauf haben wir frühzeitig hingewiesen - keine phänomenale Erweiterung
gegenüber der bisherigen Rechtsprechung. Sie haben natürlich recht: Das macht wieder Abgrenzungsprobleme,
auch wenn es jetzt das Auffangbecken „Verletzungen
des Persönlichkeitsrechts“ gibt.
Es macht schon einen Unterschied, ob Posingbilder
als Kinderpornografie bestraft werden oder als bloße
Verletzungen des Persönlichkeitsrechts - § 201 a StGB -,
worunter jetzt Nacktbilder von allen Personen, die unbefugt aufgenommen wurden - vor allem natürlich die von
Kindern -, fallen sollen. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Für
mich zählen dazu Nacktbilder von Kindern zu primär sexuellen Zwecken. Das ist mein Hauptanliegen bei dieser
Reform. Das steht übrigens auch in der EU-Richtlinie,
die wir umsetzen müssen. Da steht ganz eindeutig: Kinderpornografie ist auch „jegliche Darstellung der Geschlechtsorgane eines Kindes für primär sexuelle Zwecke“.
Da frage ich mich schon: Wieso können wir das nicht
auch zur Kinderpornografie zählen? Ich bin auch Juristin, ich kenne die Gesetzessystematik, nur, ganz ehrlich:
Wir sind der Gesetzgeber. Wir können die Gesetzessystematik ändern. Wir können die Überschrift „Straftaten
gegen sexuelle Selbstbestimmung und Kinderpornografie“ nennen. Der entsprechende Paragraf beginnt dann:
„Kinderpornografie ist …“, und dann formulieren wir
das so, wie es in der EU-Richtlinie steht. Ich persönlich
muss sagen: Je länger ich mich damit befasse, desto besser finde ich die Formulierung in der EU-Richtlinie. Sie
hätte uns viele Abgrenzungsfragen erspart.
Ich möchte noch kurz den Aspekt ansprechen, warum
es gar nicht so falsch ist, Kinderpornografie bei den Sexualstraftaten einzuordnen. Wenn es uns um die Posingbilder - Nacktbilder von Kindern zu primär sexuellen
Zwecken - geht, dann gibt es natürlich einen Zusammenhang mit den Sexualstraftaten. Mein Mann ist Strafrichter; ich selbst war auch Richterin und Staatsanwältin.
Er kam eines Tages - das war drei Wochen vor dem Fall
Edathy - nach Hause und erzählte mir, dass er an jenem
Tag jemanden wegen Kindesmissbrauch verurteilt habe.
Der Täter war vorbestraft wegen Kinderpornografie.
({1})
Dann sagte mein Mann so schön abstrakt: Offensichtlich
gibt es doch einen Zusammenhang. - Jetzt weiß ich natürlich - wir hatten diesen Punkt in der Sachverständigenanhörung -, dass das nicht immer so ist. In der Sachverständigenanhörung hieß es auch, dazu gebe es keine
Statistiken.
Die Praktiker - zu denen ich mich zähle - haben aber
ein etwas anderes Gefühl: Dies trifft nicht bei jedem Täter zu, definitiv nicht bei jedem, aber bei einigen. Das ist
ja auch nur menschlich. Auch wenn, wie mir die Praktiker bei der AG Recht sagen, nicht 30 Prozent, sondern
„nur“ 5 Prozent „schwach werden“ und ihre Sexualität
ein einziges Mal ausleben wollen, dann sind das schon
5 Prozent zu viel. Es wäre durchaus möglich gewesen
- ob des Sachzusammenhangs oder unter dem Gesichtspunkt einer abstrakten Gefährdung -, Posingbilder dort
mit einzuordnen und die Überschrift neu zu gestalten.
Ich habe die Hoffnung aufgegeben, dass wir das noch
ändern.
Aber ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben,
dass wir einen weiteren Punkt ändern; er betrifft eine der
Konsequenzen der Einordnung der Nacktbilder beim allgemeinen Persönlichkeitsrecht. Herr Hoffmann hat es
angesprochen: Wenn ein Ersttäter nach dem neuen Gesetzentwurf bestraft wird, bekommt er für den Besitz
mehrerer Nacktbilder 50, 60, 70 Tagessätze, gilt aber
nicht als vorbestraft; somit steht nichts im Führungszeugnis. Im erweiterten Führungszeugnis würde es stehen, wenn die Nacktbilder kinderpornografisches Material wären. Das sind sie jetzt ja nicht. Also steht das nicht
darin.
Stellen Sie sich vor, ein Kind von Ihnen ist im Sportverein - ich habe zwei kleine Kinder -, und der Trainer
ist wegen des Besitzes sogenannter Posingbilder von
nackten Kindern vorbestraft, was aber nicht im erweiterten Führungszeugnis steht. Ich denke, hier können wir
noch nachbessern. Es wurde ja schon in vielen Punkten
nachgebessert, sodass ich hier die Hoffnung noch nicht
aufgegeben habe.
Ein weiterer Punkt, den ich noch ansprechen muss, ist
die Strafverschärfung. Ich habe mich sehr gefreut, als ich
gehört habe, dass man den Strafrahmen für den Besitz
und den Erwerb von kinderpornografischem Material
von zwei auf drei Jahre erhöht hat. Kinderpornografische Bilder sind Vergewaltigungsbilder oder harte
Nacktbilder. Bis jetzt betrug hier das Strafmaß maximal
zwei Jahre. Das ist zu wenig. Drei Jahre sind besser, aber
für mich immer noch zu wenig. Die Höchststrafe für einen Diebstahl beträgt fünf Jahre. Für mich stimmt hier
das Verhältnis immer noch nicht.
({2})
Zum Cybergrooming komme ich jetzt leider nicht
mehr, weil meine Zeit abgelaufen ist, aber auch hier können wir noch ein bisschen nachbessern. Herr Minister,
ich habe wirklich mit Freude zur Kenntnis genommen,
dass im Vergleich zum ersten Entwurf an vielen Stellen
nachgebessert wurde. Ich hoffe, wir tun das weiterhin an
den Stellen, an denen wir noch drehen können.
Letztlich haben wir alle ein Ziel: den Schutz unserer
Kinder. Dazu brauchen wir das Gesetz, die Prävention
- wie gesagt -, aber auch die Polizei.
Frau Kollegin Launert.
Ich komme zum Schluss. - Wir benötigen auch eine
gute Ausstattung des BKA; denn ganz ehrlich: Als
Staatsanwältin habe ich oft ein Jahr lang gewartet, bis
kinderpornografisches Material ausgewertet worden
war. Was kann da in der Zwischenzeit alles passiert
sein!?
Vielen Dank.
({0})
Eine kleine Korrektur: Natürlich ist nicht Ihre Zeit abgelaufen, sondern nur die Redezeit.
({0})
Sicherlich können die Dinge, die Sie hier nicht mehr an-
bringen konnten, in der weiteren Antragsbearbeitung
und -beratung hier im Hause noch diskutiert werden.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/2601 und 18/2619 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a bis 25 g sowie
die Zusatzpunkte 5 a bis 5 c auf:
25 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu
dem Vertrag vom 14. April 2014 zwischen
der Bundesrepublik Deutschland und der
Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen -
Körperschaft des öffentlichen Rechts
Drucksache 18/2587
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu
dem Abkommen vom 22. Juni 2010 zur
zweiten Änderung des Partnerschaftsabkommens zwischen den Mitgliedern der
Gruppe der Staaten in Afrika, im Karibischen Raum und im Pazifischen Ozean
einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits ({1})
Drucksache 18/2591
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Vizepräsidentin Petra Pau
Entwicklung ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu
dem Internen Abkommen vom 24. Juni
2013 zwischen den im Rat vereinigten Vertretern der Regierungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union über die
Finanzierung der im mehrjährigen
Finanzrahmen für den Zeitraum 2014 bis
2020 vorgesehenen Hilfe der Europäischen
Union im Rahmen des AKP-EU-Partnerschaftsabkommens und über die Bereitstellung von finanzieller Hilfe für die überseeischen Länder und Gebiete, auf die der
vierte Teil des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union Anwendung findet ({3})
Drucksache 18/2588
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({4})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Sylvia Kotting-Uhl, Jürgen Trittin,
Agnieszka Brugger, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kündigung des bilateralen Atomabkommens mit Brasilien
Drucksache 18/2610
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({5})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit ({6})
Auswärtiger Ausschuss
Federführung strittig
e) Beratung des Berichts des Ausschusses für
Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({7}) gemäß § 56 a der
Geschäftsordnung
Technikfolgenabschätzung ({8})
Herausforderungen einer nachhaltigen
Wasserwirtschaft
Drucksache 18/2085
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({9})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
f) Beratung der Unterrichtung durch die Deutsche Welle
Evaluationsbericht 2013 der Deutschen
Welle
Drucksache 17/14285
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({10})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Ausschuss Digitale Agenda
Haushaltsauschuss
g) Beratung der Unterrichtung durch die Deutsche Welle
Aufgabenplanung der Deutschen Welle
2014 bis 2017
Drucksache 18/2536
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({11})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Ausschuss Digitale Agenda
Haushaltsauschuss
ZP 5 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Matthias W. Birkwald, Ulla Jelpke, Halina
Wawzyniak, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Wiedereingliederung fördern - Gefangene in die Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung einbeziehen
Drucksache 18/2606
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({12})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom
Koenigs, Cem Özdemir, Annalena Baerbock,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Verfolgt, vertrieben, vergessen - Völkermord an den Rohingya verhindern
Drucksache 18/2615
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({13})
Auswärtiger Ausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom
Koenigs, Annalena Baerbock, Marieluise
Beck ({14}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Vizepräsidentin Petra Pau
Menschenrechtsförderung stärken - Gesetzliche Grundlage für Deutsches Institut
für Menschenrechte schaffen
Drucksache 18/2618
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({15})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Wir kommen zunächst zu den unstrittigen Überweisungen:
Tagesordnungspunkte 25 a bis 25 c und 25 e bis 25 g
sowie Zusatzpunkte 5 a bis 5 c. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüssen zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen nun zu einer Überweisung, bei der die
Federführung strittig ist, und zwar Tagesordnungspunkt 25 d: Interfraktionell wird Überweisung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Kündigung des bilateralen Atomabkommens mit Brasilien auf
Drucksache 18/2610 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD wünschen
Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Energie. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Federführung beim Ausschuss für Umwelt, Naturschutz,
Bau und Reaktorsicherheit.
Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, also Federführung beim Ausschuss für Umwelt, Naturschutz,
Bau und Reaktorsicherheit. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion und der
Fraktion Die Linke gegen die Stimmen der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.
Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD, also Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Energie.
Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke gegen die Stimmen
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a bis 26 i auf.
Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen,
zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 26 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Teilauflösung des Sondervermögens
„Aufbauhilfe“ und zur Änderung der Aufbauhilfeverordnung
Drucksache 18/2230
Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsauschusses ({16})
Drucksache 18/2645
Der Haushaltsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/2645, den Gesetzentwurf
der Bundesregierung auf Drucksache 18/2230 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist
damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen,
wobei eine Kollegin der Grünen dies aus den Reihen der
Unionsfraktion bewerkstelligt hat.
({17})
Tagesordnungspunkte 26 b bis 26 i. Wir kommen zu
den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 26 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18})
Sammelübersicht 83 zu Petitionen
Drucksache 18/2508
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 83 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 26 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19})
Sammelübersicht 84 zu Petitionen
Drucksache 18/2509
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Gibt es
Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Sammelübersicht
84 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 26 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20})
Sammelübersicht 85 zu Petitionen
Drucksache 18/2510
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 85 ist bei Enthaltung
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ansonsten auch einstimmig angenommen.
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({0})
Sammelübersicht 86 zu Petitionen
Drucksache 18/2511
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 86 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 26 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({1})
Sammelübersicht 87 zu Petitionen
Drucksache 18/2512
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 87 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die
Linke gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 26 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({2})
Sammelübersicht 88 zu Petitionen
Drucksache 18/2513
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 88 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 26 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({3})
Sammelübersicht 89 zu Petitionen
Drucksache 18/2514
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 89 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der
Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 26 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({4})
Sammelübersicht 90 zu Petitionen
Drucksache 18/2515
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 90 ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der SPD-Fraktion gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE
Humanitäre Katastrophe an der türkischsyrischen Grenze - Nach dem militärischen
Aufmarsch des IS
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Heike Hänsel für die Fraktion Die Linke.
({5})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Situation an der syrisch-türkischen Grenze ist
dramatisch. Deshalb hat meine Fraktion diese Aktuelle
Stunde beantragt. Zehntausende in der Region, vor allem
viele Kurden und Kurdinnen, sind auf der Flucht. Ich
war am Sonntag selbst vor Ort und konnte mit eigenen
Augen sehen, wie das Erdogan-Regime die Grenze zu
Syrien für kurdische Flüchtlinge, Familien und Kinder,
die mit ihrem Hab und Gut am Stacheldrahtzaun saßen,
geschlossen hatte. Sie fliehen vor den Terrorgruppen des
„Islamischen Staates“. Die Dorfbevölkerung auf der türkischen Seite, die helfen wollte, wurde mit Tränengas
beschossen. Die Nahrungsmittel und die Zelte, die sie
mitgebracht hatten, wurden von türkischen Sicherheitskräften zerstört.
Wer vor Ort ist, bekommt ein ganz anderes Bild, als
es hier in den Medien vermittelt wird, auch was die
große Anzahl von Flüchtlingen betrifft, die jetzt angeblich über die Grenze gekommen sind. Ich habe sie nicht
gesehen. Es gibt zweifelsohne sehr viele Flüchtlinge,
aber sie werden eben bei weitem nicht alle über die
Grenze gelassen. Das ist in dieser Notsituation schlichtweg kriminell. Die Türkei muss die Grenzen für diese
Flüchtlinge öffnen.
({0})
Wir brauchen viel mehr humanitäre Hilfe. Die UN
oder der Rote Halbmond waren in dieser Region nicht
vor Ort. Die gesamte Hilfe in der Grenzstadt Suruc wird
ausschließlich von der kurdischen Zivilbevölkerung in
der Türkei geleistet, die zum Teil selbst sehr arm ist.
Was hat eigentlich die Bundesregierung gemacht? Ich
habe von Ihnen zu dieser Situation vor Ort nichts gehört.
Sie haben nicht einmal den türkischen Botschafter einbestellt, um gegen diese Politik zu protestieren. Ich finde
das beschämend.
({1})
Haben Sie ernsthaft versucht, auf die Türkei einzuwirken, damit diese ihre Unterstützungspolitik für den
„Islamischen Staat“ aufgibt und stattdessen die Grenzen
für die kurdischen Flüchtlinge öffnet? Es häufen sich
nämlich Berichte, zum Beispiel auch in der New York
Times, über Rekrutierungen des „Islamischen Staates“ in
der Türkei, von Krankenhausaufenthalten. Uns liegen
zum Beispiel Berichte vor, dass IS-Kämpfer aus Kobani
mittlerweile in Urfa im Krankenhaus behandelt werden,
oder über Ölverkäufe des „Islamischen Staates“ an die
Türkei usw. Dass die türkische Grenze für IS-Kämpfer
offen ist, aber für Flüchtlinge nicht, das ist inakzeptabel.
({2})
Die Bundesregierung betreibt eine Politik des organisierten Wegschauens. Hier könnten Sie internationale
Verantwortung zeigen. Aber Sie übersetzen das ja nur
noch mit Militärinterventionen, Waffenlieferungen und
imperialer Einflussnahme. Sie, Herr Roth, waren in Zypern, um die Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei voranzutreiben. Ich bitte Sie wirklich: Erklären Sie
dies einmal der Öffentlichkeit hier im Land. Sie wollen
ausgerechnet jetzt die Beitrittsverhandlungen mit dem
Erdogan-Regime intensivieren, das diese Mörder des
„Islamischen Staates“ unterstützt hat und offenbar weiterhin unterstützt. Ich frage mich: Sieht so Ihre angeblich
wertegeleitete Außenpolitik aus? Wir brauchen endlich
einen Kurswechsel in der Außenpolitik.
({3})
Wir brauchen eine Außenpolitik, die Verantwortung
ernst nimmt und eben nicht mit den Sponsoren und Unterstützern des „Islamischen Staates“ paktiert. Deshalb
fordern wir auch, dass Rüstungsexporte in die Türkei gestoppt und die dort stationierten Patriot-Raketen und
Bundeswehrsoldaten abgezogen werden. Das wäre ein
deutliches Zeichen.
({4})
Stattdessen kriminalisieren Sie hier in Deutschland
weiterhin ausgerechnet die kurdischen Organisationen,
wie zum Beispiel die PKK, die im Norden Syriens und
im Irak nachweislich die einzigen waren, die die verfolgten Jesiden verteidigten und die sich jetzt in Syrien gegen den „Islamischen Staat“ selbst verteidigen. Die
Linke setzt sich für ein Ende des PKK-Verbots in
Deutschland ein. Das ist überfällig.
({5})
Die USA bombardieren nun völkerrechtswidrig
Syrien im Verbund mit den Golf-Diktaturen, ausgerechnet mit den Staaten, die zu den Brandstiftern im Nahen
Osten gehören. Die Kanzlerin rollt dem blutigen Diktator Katars auch noch den roten Teppich in Berlin aus.
Das ist wirklich nicht mehr zu übertreffen. Wir lehnen
auch diese US-Bombardierungen ab. Sie bedeuten neue
Opfer, neue Fluchtbewegungen. Das ist für uns keine
Lösung.
({6})
Die katastrophale Situation im Nahen Osten mit diesen Millionen von Flüchtlingen, mit all dem Elend, ist
nämlich die Folge der zahlreichen militärischen Interventionen in der Region: allen voran der Irakkrieg, der
die Menschen dort ethnisch und religiös gespalten hat,
und die Politik der Destabilisierung des syrischen Staates, diese massive Einmischung von außen, diese Regime-Change-Politik. Nun werden Sie diese Geister, die
Sie riefen, nicht mehr los. Den Preis zahlen die Menschen in der Region. Wir haben diese Politik von Anfang
an abgelehnt.
({7})
Wir fordern eine außenpolitische Wende, verantwortungsvolle, friedliche Politik, die alle Akteure in der Region einbezieht - auch den Iran, auch Russland -, die die
Zivilbevölkerung im Rahmen einer neuen Syrien-Initiative für eine politische Lösung mit einbezieht, die für
eine umfassende politische Lösung streitet. Dann kommen wir vielleicht dazu, dass Menschen nicht mehr aus
ihren Ländern fliehen müssen.
Danke.
({8})
Der Kollege Dr. Johann Wadephul hat für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich habe mich eigentlich gefreut, als die Linksfraktion das Thema der Flüchtlingssituation an der
Grenze zwischen der Türkei und Syrien und auch an der
Grenze zum Irak für die Aktuelle Stunde benannt hat.
Das nicht deshalb, weil es schön wäre, darüber zu debattieren, sondern deshalb, weil es wichtig ist, über diese
humanitäre Katastrophe zu sprechen und sich Gedanken
zu machen, welchen Beitrag Deutschland dazu leisten
kann, das Leid der Menschen dort zu reduzieren. Das ist,
glaube ich, unseres gedanklichen Einsatzes hier in diesem Haus und letztlich auch des Einsatzes von allen
Menschen, die dort in deutscher Verantwortung tätig
werden können, wert.
Aber dass Sie das jetzt auf solch eine billige Art und
Weise instrumentalisieren, Ihre wohlbekannte Kritik an
der Türkei hier zu wiederholen und auch in einer vereinfachenden Art und Weise zu wiederholen und eine
Wende in der deutschen Außenpolitik zu fordern,
({0})
wobei Sie der deutschen Außenpolitik - das habe ich ja
bisher noch gar nicht gehört - eine imperiale Einflussnahme unterstellen, das stimmt heute noch trauriger als
das Flüchtlingsschicksal. Das ist eine wirklich traurige
Vorstellung.
({1})
Die Flüchtlingssituation ist wirklich beklemmend. Ich
glaube, Deutschland leistet heute sehr viel. Wir haben
darüber bei der Diskussion über Waffenlieferungen miteinander gesprochen. Deutschland braucht sich im europäischen Konzert in keinster Weise zu verstecken. Das
heißt aber trotzdem nicht, dass wir Anlass zum Selbstlob
hätten. Es ist einfach unser Selbstverständnis, dass wir
als eine starke Volkswirtschaft das tun, was wir an Möglichkeiten haben, dort wirtschaftlich zu helfen und insbesondere die humanitäre Katastrophe abzuwenden. Das
wird nicht vollends gelingen. Ich glaube auch nicht, dass
wir am Ende unserer Möglichkeiten sind, meine lieben
Kolleginnen und Kollegen.
({2})
Ich glaube, wir sollten uns dafür einsetzen, die Mittel zu
erhöhen. Bei allem Bekenntnis, zu dem ich stehe und das
ja auch Grundlage unserer Koalitionsarbeit ist, dass wir
keine neuen Schulden machen wollen, müssen wir hier,
glaube ich, neue Schwerpunkte setzen. Wir können nicht
die Augen davor verschließen, dass Menschen in diesem
großen Umfang leiden, sterben, dahinsiechen. Da ist
Deutschland gefordert. Das glaube ich ganz sicher.
({3})
Wir müssen aber dennoch sehen, dass es hier keine
einfachen Rezepte gibt. Ich habe im Auswärtigen Ausschuss von der Linksfraktion gehört, die Waffenlieferungen seien an die „falschen“ Kurden erfolgt.
({4})
Na gut. Darin wäre ja die Aussage enthalten, Waffenlieferungen an sich wären schon einmal richtig.
({5})
Wenn das jetzt Ihre Kehrtwende in der Außenpolitik ist,
dann würde ich auch noch einmal bitten, die dem Hohen
Haus insgesamt zu erläutern, damit wir das Bild auch
stimmig kriegen.
({6})
Aber es gibt doch niemanden im Deutschen Bundestag - darüber haben wir lange diskutiert -, der hier sagen
würde: Das ist die einzige Maßnahme, die hilft, die einzige Maßnahme, bei der wir zu 100 Prozent der Meinung
sind, dass sie in dieser Situation richtig ist.
Vielmehr müssen wir in unserer Hilflosigkeit einräumen, dass es leider keine andere Möglichkeit gibt, um
hier kurzfristig zumindest für eine geringe Entlastung zu
sorgen, und daher bedauerlicherweise ein militärischer
Einsatz notwendig ist. Alle, die diesen Einsatz unterstützen, tun das nicht, um imperiale Einflussnahme auszuüben, sondern sie tun das, um in dieser ganz schwierigen
Situation Menschenleben zu retten.
({7})
Alle, die das vor Ort tun, welcher Religion, welcher Nationalität und welchem Stamm auch immer sie angehören, haben unseren Respekt und unsere Unterstützung
verdient; denn sie helfen, Menschenleben zu retten.
({8})
Eine Aktuelle Stunde mit jeweils fünf Minuten für
den einzelnen Redner ist natürlich nicht geeignet, um die
Thematik wirklich grundlegend zu erklären. Wir sind bei
der Analyse der Probleme mit dieser Organisation, die
sich zu Unrecht, wie selbst alle führenden geistigen Führer des Islam sagen, „Islamischer Staat“ nennt - wir sollten vielleicht aufhören, diese Organisation so zu nennen -,
noch nicht am Ende. Aber wir müssen sicherlich neben
einer militärischen Antwort auch noch viele andere Antworten geben. Darüber werden wir viel diskutieren.
Ich möchte noch einen Aspekt aufwerfen, der sehr aktuell ist und den Sie angesprochen haben. Sie werfen uns
vor, wir hätten für eine Destabilisierung des syrischen
Staates gesorgt.
({9})
Das haben wir nicht. Ich bin auch dagegen, dass man
sich jetzt hinstellt und einfach sagt: Weil sich Assad in
letzter Zeit so verhält, wie er sich verhält, und diese islamistischen Krieger möglicherweise jetzt auch bekämpft,
ist es nur logisch, zu sagen: Der Feind meines Feindes ist
mein Freund. - Das stimmt nicht.
({10})
Assad hat Giftwaffen eingesetzt. Sein Handeln dürfen
wir nie unterstützen und legitimieren.
({11})
Auf der Seite solcher Regimeführer dürfen wir nie stehen. Den Eindruck haben Sie bedauerlicherweise erweckt. Die Diskussion geht aber weiter.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Das Wort hat die Kollegin Claudia Roth für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! 140 000 Menschen in vier Tagen: 140 000
Menschen, die aus Angst vor der Terrorherrschaft des
ISIS aus Syrien in die Türkei geflohen sind!
140 000 Menschen sind mehr als die knapp 130 000
Flüchtlinge, die im gesamten Jahr 2013 in Deutschland
Asyl beantragt haben. Damit erhöht sich die Zahl der
Flüchtlinge, die seit über drei Jahren in der Türkei aufgenommen worden sind, auf etwa 1,5 Millionen: Frauen,
Männer und Kinder. Sie sind in Istanbul, in Ankara, in
Antakya und auch und vor allem in der Stadt Midyat in
der Provinz Mardin zu sehen, wo nicht nur Christen,
sondern auch Jesiden aufgenommen worden sind.
11,5 Millionen, über die Hälfte aller Syrerinnen und
Syrer, sind auf der Flucht vor dem brutalen Krieg Assads
- da gebe ich Ihnen absolut recht -, der jeden Tag weitergeht, und vor dem Terror des ISIS; Millionen von
Flüchtlingen in den Nachbarländern, im Libanon, in Jordanien, in der Türkei, in Irakisch-Kurdistan sowie im
Irak, und zusätzlich 1,8 Millionen Binnenvertriebene:
Christen, Jesiden, Turkmenen, Schiiten und auch Sunniten. Die Realität ist ein Exodus, eine Vertreibung bibliClaudia Roth ({0})
schen Ausmaßes. Die Realität sind über 200 000 Tote,
sind Folter, sind Misshandlungen, sind entgrenzte Gewalt.
Eigentlich fehlen mir die Worte, das Ausmaß der Tragödie zu beschreiben, das António Guterres, der Hohe
Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, und
gestern auch Ban Ki-moon als die größte humanitäre Katastrophe mit den höchsten Flüchtlingszahlen seit dem
Zweiten Weltkrieg dramatisch beschrieben haben. Es
fehlt buchstäblich an allem. Ich konnte mir zuletzt in
Dohuk ein Bild davon machen. Es fehlt an einer breiten
und sehr viel größeren internationalen Unterstützung. Es
braucht eine humanitäre Offensive, um Menschenleben
zu retten und das Überleben vieler Menschen zu sichern,
eine Unterstützung, die aber auf lange Zeit angelegt sein
muss; denn die Flüchtlinge können nicht so schnell in
ihre Heimat zurückkehren.
Es fehlt an Lebensmitteln, an Kleidung und an Gesundheitsversorgung, um Epidemien zu verhindern. Wir
haben gestern im Ausschuss gehört, dass inzwischen im
Irak Polio ausgebrochen ist. Es braucht Traumabehandlung. Es braucht sanitäre Einrichtungen. Es braucht feste
Unterkünfte. Denn nach der brütenden Hitze im Sommer
steht jetzt der bitterkalte Winter vor der Tür.
Wenn ich dazu auffordere, die UN-Organisationen,
denen die Mittel ausgehen, zu unterstützen und auch
Hilfsorganisationen wie die Caritas, die Diakonie, die
Welthungerhilfe und medico international viel stärker zu
unterstützen, dann ist das nicht nur die Einforderung humanitärer Verantwortung für Menschen in allergrößter
Not, sondern das ist auch und vor allem der Versuch, zur
politischen Stabilisierung der Aufnahmeländer, der
Nachbarländer Syriens, beizutragen, deren Infrastruktur
unmittelbar zu kollabieren droht.
Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, selbstverständlich ist es unbedingt notwendig, dass die Grenzen der
Türkei, Libanons, Jordaniens oder des Iraks für Schutzsuchende offenbleiben, damit sie sich vor Krieg, Gewalt
und Verfolgung retten können. Aber ich rate sehr, nicht
mit dem erhobenen Zeigefinger auf diese Länder zu zeigen, bei aller Kritik über die Bilder, die wir auch gesehen haben, und bei aller Kritik an der Syrien-Politik von
Tayyip Erdogan.
Denn wie sieht es mit der Aufnahme von syrischen
und irakischen Flüchtlingen bei uns aus? Wie sieht es
mit der Aufnahme von Flüchtlingen in der Europäischen
Union aus? Deutschland nimmt zwar mehr Menschen
auf als andere EU-Länder, und zwar 20 000 Menschen
seit 2011; dem stehen aber 1,5 Millionen Menschen gegenüber, die die Türkei aufnimmt. Das ist nicht einmal
ein Tropfen auf den heißen Stein. Es muss einen doch
angesichts dieser großen Katastrophe beschämen, dass
die Europäische Union insgesamt ihrer Verantwortung
nicht gerecht wird oder dass Deutschland zum Beispiel
dem EU-Fonds für Syrien nicht beitreten will.
Wir unterstützen Innenminister de Maizière, wenn er
eine europäische Flüchtlingspolitik einfordert. Das heißt
dann aber auch, dass sie endlich menschenrechtskonform werden muss: durch die Abschaffung des DublinSystems, eine Erleichterung der Familienzusammenführung, Visa aus humanitären Gründen für Menschen auf
der Flucht, ein breit angelegtes Resettlement-Programm
und eine sehr viel größere Zahl von Flüchtlingen, die
Deutschland und die Europäische Union aufnehmen
müssen.
({1})
Mich erreichen in diesen Tagen Briefe - sicherlich
bekommen viele von Ihnen ähnliche Briefe - wie der
Brief einer verzweifelten Frau aus Deutschland, die versucht, ihre aus Kobani in die Türkei geflüchtete Cousine
mit ihren drei Kindern nach Deutschland zu holen. In
solchen Fällen können wir zeigen, dass wir unsere
Schutzverantwortung ernst nehmen.
Ich danke Ihnen.
({2})
Das Wort hat der Kollege Niels Annen für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin, vielen Dank. - Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Die erneute, von ISIS ausgelöste
Flüchtlingswelle verschärft in der Tat die humanitäre
Katastrophe in der Region. Ich glaube, es geht uns allen
so: Die Berichte von den Flüchtlingen, die sich in die
Türkei retten konnten, sind erschütternd. Angesichts der
anhaltenden Flüchtlingskatastrophe in der gesamten Region - wir reden in der Tat über Syrien, Libanon, Jordanien und auch über den Iran und den Irak, weil alle diese
Länder auch innerhalb ihrer staatlichen Grenzen noch
einmal Flüchtlinge aufgenommen haben - ist die Lage
dramatisch.
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. Aber ich glaube,
wir alle müssen angesichts dieser Bilder, die täglich über
den Fernsehschirm flimmern, ein bisschen aufpassen,
dass wir nicht abstumpfen gegenüber den Bildern, die
dort auf uns einprasseln. Die Ermordung, Versklavung
und Vertreibung von politischen Gegnern und Angehörigen anderer Glaubensgemeinschaften, die ISIS zu politischen Gegnern erklärt hat, ist ein Teil der perfiden Strategie des sogenannten „Islamischen Staates“.
Wenn wir, so wie es die Bundesregierung tut, den
Flüchtlingen helfen, dann tun wir das aus humanitärer
Verantwortung, aber auch deshalb - ich teile die Meinung der Kollegin Roth -, weil es ein Teil einer politischen Antwort auf den Krieg von ISIS ist.
({0})
Die Kämpfer von ISIS versuchen, ihre Ideologie und
Vorstellungen durch breitflächige Vertreibung durchzusetzen und gleichzeitig mit den von ihnen ausgelösten
Flüchtlingsströmen die Stabilität der gesamten Region
zu erschüttern und dabei ihren eigenen Machtbereich
auszuweiten. Wir stellen dem die entschlossene Bekämpfung von ISIS entgegen und sorgen gleichzeitig für
eine Stärkung der Staatlichkeit; darum geht es letztlich.
Zur Stärkung der Staatlichkeit gehört auch die Stärkung
von UN-Organisationen wie UNHCR, Welternährungsprogramm, UNICEF sowie vielen privaten NGO, die
sich engagieren und einen Teil zur Regierbarkeit dieser
Region beitragen.
Es ist gut, dass wir wieder im Rahmen der Vereinten
Nationen über die Probleme diskutieren. Es gibt nun
eine Resolution gegen sogenannte Foreign Fighters. Es
ist ein Fortschritt, dass der Sicherheitsrat zu einer einstimmigen Empfehlung und einem Beschluss gekommen
ist. Der Gang vor die Vereinten Nationen ist der richtige
Weg. Ich möchte die Bundesregierung ermutigen, sich
noch stärker für die Aufwertung der UNO einzusetzen.
Die SPD unterstützt die Bemühungen der Bundesregierung für eine inklusive Regierung in Bagdad und für eine
breite regionalpolitische Allianz gegen ISIS. Hier haben
wir Fortschritte erzielt.
Frau Kollegin Hänsel, es gibt sicherlich viele Punkte,
die an der Regierung Erdogan zu kritisieren sind. Ich bin
ebenfalls der Meinung, dass in den letzten Monaten und
Jahren zu häufig die Abschnitte der Grenze zu Syrien offen waren, die eigentlich hätten geschlossen sein müssen, und dass ausgerechnet die Abschnitte der Grenze
geschlossen waren, die für humanitäre Hilfe hätten geöffnet sein müssen; das ist richtig. Aber die Art und
Weise, wie Sie hier den plakativen Vorwurf gegen die
türkische Regierung ohne jegliche Unterlegung von Fakten erheben, den „Islamischen Staat“ zu unterstützen,
({1})
macht eine konstruktive Kritik nicht einfach. Ich glaube,
es ist wichtig, dass sich die Bundesregierung in Dialogen
und Zusammenarbeit engagiert. Im Übrigen will ich darauf hinweisen, dass Sie mit Ihrer Vorstellung, man sei
gut beraten, mit einem radikalen Schnitt bei den Beitrittsverhandlungen für eine Änderung der Politik Ankaras zu sorgen, auf dem Holzweg sind.
({2})
Wir haben in den letzten Monaten weitestgehend unbeobachtet von der Öffentlichkeit - ich bin der Bundesregierung dafür dankbar - Fortschritte gemacht, auch bei
den Beitrittsverhandlungen. Wir brauchen die Türkei.
Wenn wir die Türkei als Teil eines regionalen Bündnisses brauchen, dann ist die Politik, die Sie uns empfehlen,
kein Weg in die richtige Richtung. Es ist in den letzten
Jahren doch ein großer Verdienst der Regierung Erdogan
gewesen, Friedensgespräche mit der PKK zu führen. Die
aktuelle Situation zeigt, wie richtig und wichtig dieser
Weg ist. Ich will Ihnen offen sagen, dass ich dafür bin,
dort, wo es notwendig ist, Gespräche mit der PKK und
ihrem syrischen Ableger zu führen. Aber Sie blenden
vollkommen aus, dass diese Organisation Terroranschläge begangen hat, auch hier in Deutschland.
({3})
Es ist ebenfalls eine unverantwortliche Politik, auszublenden, dass es dort, wo der PKK-Ableger in Syrien
eine regionale Machtbasis aufgebaut hat, keine politische Alternative gibt. Reden Sie doch einmal mit den
Kurden, die in Opposition zu PYD stehen.
({4})
Es handelt sich dabei weiterhin um eine straff organisierte, autoritäre Partei. Ich finde es ein wenig irritierend, wie Sie hier mit unterschiedlichem Maß messen.
({5})
Ich glaube, wir sind insgesamt sehr verantwortlich
mit einer ausgesprochen schwierigen Situation umgegangen. Im Mittelpunkt unserer Bemühungen sollte
nicht die kurzfristige Suche nach einer Überschrift in der
nächsten Ausgabe einer Zeitung stehen. Vielmehr sollten
die Bemühungen im Mittelpunkt stehen, die humanitäre
Lage für die Menschen zu verbessern.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({6})
Nächster Redner ist für die CDU/CSU-Fraktion der
Kollege Dr. Bernd Fabritius.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Der Krieg des IS gegen die
zivilisierte Welt führt zu einer humanitären Katastrophe
unvorstellbaren Ausmaßes. Tiefe Betroffenheit und
Empathie mit den Flüchtlingen wurden bereits deutlich
artikuliert. Im Kampf gegen das Elend der Flüchtlinge
müssen wir daher die Wurzel des Übels angehen. Der
marodierende und mordende IS muss zurückgedrängt
werden.
Deutschland übernimmt in dieser schwierigen Situation in vielfältiger Weise Verantwortung. Auch die Lieferung von Waffen an die kurdischen Peschmerga war
richtig. Das ist bestimmt keine imperiale Einflussnahme,
Frau Kollegin Hänsel. Eine derartige Diktion hätte ich
von Ihnen eher bei der russischen Präsenz in der Ukraine
erwartet.
({0})
Die Unterstützung der Weltgemeinschaft bei der
Bekämpfung des IS ist beachtlich. Auch beim NATOPartner Türkei würde ich mir eine entschiedenere Positionierung gegenüber dem IS wünschen. Die Türkei ist
eines der Hauptaufnahmeländer in der Region und hat
für die Aufnahme und Versorgung von Flüchtlingen
große Anerkennung verdient. Die Eindämmung der Terrorgruppe IS erfordert ebenfalls gemeinsame AnstrenDr. Bernd Fabritius
gungen, und gerade die Türkei als direkter Nachbar
spielt eine entscheidende Rolle. Das gestrige Umdenken
des türkischen Präsidenten war überfällig.
Aber auch wir in Deutschland müssen wachsam sein.
Radikalisierung findet auch hier statt. Der Kampf gegen
den IS beginnt in Deutschland. Wir müssen Radikalisierung bereits im Ansatz unterbinden. Dafür sind wir auf
die Unterstützung der muslimischen Gemeinschaft angewiesen. Ich bin sehr dankbar dafür, dass Islamverbände
am vergangenen Freitag deutlich gemacht haben, dass
Terror und Hass nicht geduldet werden dürfen. Hier stehen die Verbände weiter in der Pflicht. Für schlechte
Scherze wie die Schariapolizei in Nordrhein-Westfalen
habe ich bei dem Ernst der Lage überhaupt kein Verständnis.
({1})
Bei der Aufnahme von Flüchtlingen aus der Region
nimmt Deutschland ganz deutlich Verantwortung wahr.
Innerhalb Europas tragen wir - das wurde schon gesagt - den größten Anteil. Die Akzeptanz in der Bevölkerung und die Bereitschaft, zu helfen, sind hoch. Aber
gerade weil die Lage in der Region so dramatisch ist und
wir mit weiteren Flüchtlingsströmen rechnen müssen, ist
es wichtig, diese hohe Akzeptanz nicht zu gefährden.
Ein bedeutender Schritt in diese Richtung war die Bestimmung sicherer Herkunftsländer. Dadurch werden in
Deutschland dringend benötigte Kapazitäten frei, sodass
die wirklich Schutzbedürftigen wie die Flüchtlinge aus
Syrien aufgenommen werden können.
Ich möchte zur Vermeidung der Radikalisierung jedoch noch einen Schritt weitergehen. Es wird oft gefordert, Fremde sollten zwar integriert, aber nicht assimiliert werden. Mit derartigen Aussagen machen wir es uns
zu einfach. Selbstverständlich sollen bei uns lebende
Menschen ihre kulturelle Identität behalten und gerne
ihre Bräuche pflegen. Ich fordere jedoch eine Assimilierung in unsere Wertegemeinschaft, an der wir festhalten
und die wir nicht preisgeben wollen.
Die Bereitschaft, differenziert Verantwortung in
Europa zu übernehmen, ist leider nicht überall zu beobachten. Wir müssen immer wieder feststellen, dass andere EU-Länder ihren Verpflichtungen, zum Beispiel im
Rahmen des Dublin-Verfahrens, nicht angemessen nachkommen. Insbesondere beim Zustrom von Flüchtlingen
über das Mittelmeer kommt es oft zu Unregelmäßigkeiten. Italien verzichtet auf eine Registrierung und lässt an
seinen Küsten angelandete Flüchtlinge ungehindert weiterreisen. Auch Österreich nimmt seine Verantwortung
bei den entsprechenden Kontrollen häufig nicht ernst genug. Sollten geltende EU-Prinzipien auch weiterhin auf
diese Art und Weise verletzt werden, sollten wir dringend über die Möglichkeit vorübergehender Grenzkontrollen auch innerhalb des Schengen-Raums nachdenken.
({2})
Der Schwerpunkt der Flüchtlingshilfe muss in den
Nachbarstaaten Syriens liegen. Dort kommen die meisten Flüchtlinge an. Deutschland hat seit 2012 rund eine
halbe Milliarde Euro für humanitäre Hilfe und zur
Verbesserung der Infrastruktur in den Nachbarstaaten
Syriens bereitgestellt.
({3})
Zudem ist das Technische Hilfswerk vor Ort und sorgt
für sauberes Trinkwasser in den Flüchtlingslagern. Die
Erfahrungen aus diesem Engagement haben deutlich gezeigt: Jeder Euro Hilfe vor Ort erreicht mehr Menschen
als bei einer Aufnahme der Flüchtlinge in Deutschland.
({4})
Es muss letztlich unser oberstes Ziel sein, dass unsere
Hilfe so viele Menschen wie möglich erreicht.
Vorhin sprach ich davon, die Wurzeln des Übels anzugehen. Die beste Lösung der humanitären Katastrophe
an der türkisch-syrischen Grenze ist die Befriedung im
Krisengebiet. Die Eindämmung des IS sowie eine
Lösung des Syrien-Konflikts sind die Voraussetzungen
dafür, dass die zahllosen Flüchtlinge bald wieder in ihr
Heimatland zurückkehren können. Das sollte unser aller
Ziel sein.
Danke.
({5})
Der Kollege Andrej Hunko spricht jetzt für die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Fabritius, Sie sprachen von der Wurzel des Übels,
die angegangen werden muss. Diese Auffassung teilen
wir. Wir diskutieren darüber, wie diese Wurzel angegangen werden muss. Was ich aber nicht akzeptieren kann,
ist, dass die notwendige Flüchtlingshilfe, die wir auch
hier leisten müssen, dem sozusagen gegenübergestellt
wird, das gegeneinander ausgespielt wird. Das ist angesichts der Situation beschämend.
({0})
Gegenwärtig ist die Verteidigungsministerin von der
Leyen in Arbil, um die Waffenübergabe an die kurdischen Peschmerga zu überwachen. Es ist Ihre Politik,
liebe Kollegen von der Bundesregierung, die die Kurden
in gute Kurden und schlechte Kurden einteilt. Die Peschmerga werden mit Waffen beliefert. Gleichzeitig gibt es
keine ernsthafte Stellungnahme Ihrerseits zu der Situation an der türkisch-syrischen Grenze. Ich würde mir
wünschen, dass ein Vertreter der Bundesregierung jetzt
konkret zu dieser türkisch-syrischen Grenze fährt, um
sich die Lage vor Ort anzuschauen.
({1})
Wir sprachen von der Wurzel des Übels. Herr
Fabritius, der IS, der sogenannte IS - ich mag den Begriff auch nicht -, ist eine Erscheinungsform des Übels,
aber nicht die Wurzel. Die Wurzel liegt in jahrzehntelan4960
ger kolonialer und imperialer Politik in dieser Region,
besonders in Kriegen. Und da folgte ein Krieg nach dem
anderen: Irakkrieg 1991, Irakkrieg 2003 mit Hunderttausenden Toten. Einige Truppenverbände des IS rekrutieren sich aus den sogenannten Revolutionsgarden von
Saddam Hussein, die aus diesem Krieg hervorgegangen
sind.
({2})
Die Wurzel des Übels liegt auch in der Politik, die in
den letzten Jahren, leider auch vom Westen, in Syrien
gemacht worden ist.
({3})
Man war richtig besessen davon, Assad zu stürzen, und
hat gar nicht mehr hingeschaut, welche Kräfte in Syrien
unterstützt worden sind, darunter auch dschihadistische
Kräfte.
({4})
Selbst in der Türkei wird das offen diskutiert. Ich will
gar nicht mit dem Finger darauf zeigen; ich zitiere jetzt
einfach einen türkischen Journalisten. Er schreibt:
Das Duo Tayyip Erdogan - Ahmet Davutoglu hat
regelrechte „Geburtshilfe“ bei der Geburt des „Islamischen Staats“ an der gesamten Südgrenze zu unserem Land geleistet …
Ich will einfach nur, dass die Bundesregierung klar sagt:
Diese Unterstützung muss aufhören.
({5})
Wir reden über die Flüchtlinge aus der Region Rojava
in Syrien. Das ist eine Region, die sich in den letzten
drei Jahren weitgehend selbst verwaltet hat, in demokratischer Selbstverwaltung, wo der Versuch unternommen
wird, alle Ethnien und Religionen der Region in einen
demokratischen Prozess einzubeziehen. Es ist ein hochspannender Prozess. Für mich ist es einer der Hoffnungsschimmer in der Region. Ich glaube, dieser Prozess sollte anerkannt und auch international diskutiert
werden; denn er könnte ein Modell sein für ein friedliches Zusammenleben der verschiedenen Ethnien und
Religionen in der Region.
({6})
Auch da würde ich mir wünschen, dass das vonseiten der
Bundesregierung klar benannt wird.
Wir hatten vor wenigen Wochen die Situation am
Berg Schengal, wo Einheiten der syrischen Kurden, der
YPG, zusammen mit der PKK Zehntausenden Jesiden
das Leben gerettet haben. Wir hatten gleichzeitig in
Deutschland die Gesetzeslage, dass die PKK verboten
war, während zu dem Zeitpunkt der sogenannte „Islamische Staat“ noch erlaubt war. Es kam auf Demonstrationen zu der absurden Situation, dass Fahnen des „Islamischen Staats“ erlaubt waren, während die Polizei bei
Fahnen der PKK einschreiten musste. Ich glaube, dass
diese Politik der Kriminalisierung eines Teils der Kurden
aufhören muss. Ich denke, das PKK-Verbot muss überprüft werden. Auch die Listung der PKK auf der EUTerrorliste muss überprüft werden.
({7})
Es gibt sehr konkrete Handlungsempfehlungen der
Kurden in Deutschland, konkret des kurdischen Zentrums für Öffentlichkeitsarbeit, was die Situation an der
Grenze angeht. Ich glaube, diese kann man unterstützen.
Es geht um die vollständige Öffnung des Grenzübergangs Mürsitpinar für die grenzüberschreitende Nothilfe. Es geht um die Unterbindung der Grenzübertritte
für IS-Mitglieder und Dschihadisten, die sich dem IS anschließen wollen. Es geht um die Unterstützung aller
kurdischen Gruppen, nicht nur bestimmter kurdischer
Gruppen. Es geht um die Anerkennung der demokratisch-autonomen Verwaltungen in Rojava. Es geht um
die Ausweitung der humanitären Hilfe. Ich unterstütze
natürlich auch die Forderung, dass wir in dieser akuten
Situation mehr Flüchtlinge aufnehmen müssen.
Einen letzten Punkt will ich noch ansprechen. Meine
Kollegin Heike Hänsel war am Wochenende vor Ort. Ich
bitte Vertreter der anderen Fraktionen und der Bundesregierung, auch zur Grenze zu fahren und sich die Situation vor Ort anzuschauen. Nicht alle Informationen, die
wir hier bekommen, entsprechen den wirklichen Ereignissen vor Ort.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({8})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Gabriela Heinrich
für die Sozialdemokraten.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Rund 9 000
Flüchtlinge haben in den ersten Monaten dieses Jahres
die Grenze überquert. Das Aufnahmeland muss diese
Flüchtlinge versorgen, medizinisch betreuen und menschenwürdig unterbringen. Das ist unzweifelhaft eine
große Herausforderung für das Aufnahmeland. Die
Herausforderung ist so groß, dass gedroht wurde, die
Grenze zu kontrollieren.
Gemeint war die bayerisch-österreichische Grenze,
um die Einreise von weiteren Flüchtlingen zu verhindern. Es war der bayerische Ministerpräsident, der die
Rückkehr zu Grenzkontrollen forderte und angesichts
der Flüchtlingszahlen eine Überforderung Bayerns und
Deutschlands beklagte.
Meine Damen und Herren, es liegt mir völlig fern,
mich mit diesem Vergleich lustig zu machen. Mir ist sehr
wohl bewusst, welche Schwierigkeiten unsere Kommunen angesichts der steigenden Flüchtlingszahlen bewältiGabriela Heinrich
gen müssen. Ich gebe aber zu, dass ich genau daran denken musste, als angesichts der Zahlen, die wir aus Syrien
gehört haben, vor ein paar Tagen die Empörung über die
zeitweilige Schließung der Grenzen in der Türkei hochkochte.
({0})
Meine Damen und Herren, Sie kennen die Zahlen.
Die Kollegin Roth hat sie heute schon benannt.
130 000 Menschen sind innerhalb weniger Tage aus
Syrien in die Türkei geflohen. 1,5 Millionen syrische
Flüchtlinge befinden sich bereits in der Türkei. 3 Millionen Syrer sind in die Nachbarländer geflohen, neben der
Türkei in den Libanon, nach Jordanien, nach Ägypten
und in den Irak. Nur 4 Prozent dieser syrischen Flüchtlinge haben in Europa Asyl beantragt.
Besonders schwierig ist die Situation der syrischen
Frauen. Jede vierte syrische Flüchtlingsfamilie wird von
einer Frau geführt. Nur wenige werden von Verwandten
unterstützt. Sie sind meist völlig auf sich selbst gestellt,
müssen ihre Familien irgendwie durchbringen und haben
häufig keine Chance auf eine existenzsichernde Arbeit.
Ohne einen begleitenden Ehemann werden sie gedemütigt und belästigt. Sexuelle Übergriffe sind an der Tagesordnung. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen hat deswegen zur verstärkten Unterstützung dieser
Frauen aufgerufen.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung
macht mit der geplanten Flüchtlingskonferenz zur Hilfe
der Anrainerstaaten deutlich, dass das Thema Flüchtlinge ganz oben auf der politischen Agenda steht. Die
Probleme der Frauen müssen Teil dieser Konferenz werden.
({1})
Es wurde bereits erwähnt, dass Deutschland aus humanitären Gründen 20 000 syrische Flüchtlinge aufgenommen hat. Das ist ein ganz wichtiger Beitrag. Es ist
auch richtig, wenn wir mehr Solidarität innerhalb der
Europäischen Union einfordern.
Europa ist mehr als nur eine Wirtschaftsgemeinschaft.
Wir müssen uns zuallererst als Wertegemeinschaft begreifen, wenn wir eine gemeinsame Zukunft haben wollen. Dazu gehört das Recht auf Asyl in den Ländern der
Europäischen Union. Aber welche Handlungen leiten
wir von diesem Wert ab? Europa kann nicht von den
Nachbarländern Syriens erwarten, dass sie 3 Millionen
Flüchtlinge angemessen versorgen, jedoch die Aufnahme von Flüchtlingen weitgehend ablehnen.
({2})
Wir können es auch dann nicht erwarten, wenn wir viel
Geld für die humanitäre Hilfe zur Verfügung stellen.
({3})
Nehmen wir uns ein Beispiel an den Kommunen in
Deutschland. Vielerorts bilden sich Unterstützerkreise,
in denen sich Nachbarn und Kirchengemeinden um die
Flüchtlinge kümmern, Ärzte und Krankenschwestern
helfen, die Ankommenden medizinisch zu versorgen,
wie in meiner Heimatstadt Nürnberg. Es gibt durchaus
viele, die verstanden haben, dass über 50 Millionen
Flüchtlinge auf der Welt auch unseren Teil an Solidarität
einfordern, und sie erwarten dies auch von unserer Politik.
({4})
Die Wertegemeinschaft steht vor einer ungeheuren
Herausforderung. Terrorismusbekämpfung und Massenmorde zu stoppen, ist die eine Seite, schnelle humanitäre
Hilfe ist die andere. Seit 2012 hat Deutschland die Krisenregion mit über 600 Millionen Euro unterstützt. Angesichts der aktuellen Flüchtlingsströme - nicht nur in
die Türkei - ist der Bedarf an dieser Hilfe aber nicht weniger, sondern mehr geworden. Deswegen setzt sich die
SPD in den Haushaltsberatungen für eine Aufstockung
der humanitären Hilfe ein.
({5})
Wir haben heute gehört, dass dies in der Koalition Konsens ist.
({6})
Es muss uns gelingen, das Morden und Zerstören in
Syrien und im Irak zu beenden. Die Weltgemeinschaft
wird sich diesmal aber auch beim Wiederaufbau langfristig engagieren müssen, um die Weichen für einen
nachhaltigen Frieden zu stellen. Erinnern wir uns an die
Solidarität, die wir als Deutsche nach dem Zweiten Weltkrieg erfahren haben.
Danke schön.
({7})
Nächster Redner ist der Kollege Omid Nouripour
vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Barbaren von ISIS haben an diesem Wochenende
in 48 Stunden 60 Dörfer erobert. Die Menschen, die in
diesen Dörfern leben, hatten die unglaublichen Gräueltaten, die wir kennen, vor Augen. Allein die Zahl der jesidischen Frauen, die mittlerweile auf Sklavenmärkten
verkauft worden sein sollen, liegt bei 5 000. Selbstverständlich sind die Menschen geflohen. Was blieb ihnen
denn übrig? Die Zahl von 140 000, die über die türkische
Grenze geflohen sind, ist bereits genannt worden.
Ja, es gab den Einsatz von Wasserwerfern und Tränengas durch türkische Sicherheitskräfte. Ja, es gab
Chaos. Ja, einiges, was Ankara macht, ist problematisch
bis hochambivalent. Ja, es ist ein Problem, wenn die
Grenzen zeitweise geschlossen werden. Ja, es ist ein großes Problem, dass es in der Vergangenheit für ISIS4962
Kämpfer tatsächlich freien Grenzverkehr gab. Ja, es ist
ein Problem, wenn die humanitäre Hilfe an der Grenze
steckenbleibt. Ja, wir brauchen klare Worte Richtung
Ankara. Aber trotzdem machen Sie es sich viel zu einfach, verehrte Kollegin Hänsel. Es ist einfach nicht die
Zeit, um darüber zu sprechen, dass wir jetzt nicht mehr
mit der Türkei reden, dass wir die Drähte kappen und
mit der Türkei jetzt nicht mehr über einen Beitritt reden.
Wir brauchen Richtung Türkei jetzt mehr Engagement.
Wir dürfen nicht nur Vorwürfe machen, sondern müssen
deutlich mehr Hilfe anbieten.
({0})
- Aber auch mehr Hilfe anbieten. Natürlich ist die Türkei überfordert. Welches Land wäre es nicht?
({1})
1,5 Millionen Menschen hat die Türkei schon aufgenommen. Ganz ehrlich: Wir haben unsere Geschichte in diesem Land mit der PKK. Man sollte der PKK jederzeit
die Möglichkeit geben, zu zeigen, dass sie sich verändert
hat. Aber die PKK hat am Wochenende erklärt, dass sie
zum Kampf, und zwar zum grenzenlosen Kampf, aufruft. Wenn man die Geschichte der PKK kennt, dann
kann man sich vorstellen, dass diese Erklärung nicht unbedingt großes Vertrauen in Ankara ausgelöst hat. Deshalb muss man hier ein bisschen vorsichtiger agieren mit
den Vorwürfen, die man in alle Richtungen von sich gibt.
({2})
Ich will nicht alles Gesagte zur humanitären Hilfe
hier wiederholen. Ich will auf einen einzigen Punkt hinaus, der schon einmal genannt worden ist. Es gibt vieles, was die Menschen brauchen. Die meisten Menschen
fliehen von der einen zur anderen Minute mit nichts anderem als dem, was sie am Körper tragen. Wir rennen
jetzt auf den Winter zu; in acht Wochen wird in vielen
dieser Gegenden Schnee liegen. Deshalb, liebe Bundesregierung: Reden Sie bitte mit den anderen Regierungen
der EU, schicken Sie feste Unterkünfte - Container,
Container, Container!
({3})
Das ist das Notwendigste, was jetzt gebraucht wird. Bitte
achten Sie darauf.
Sämtliche Katastrophen an der Grenze, über die wir
gerade sprechen, sind wirklich nur ein kleiner Ausschnitt
des Horrors und des Grauens, nicht nur im Nordirak,
sondern auch in ganz Syrien; dort reden wir mittlerweile
von bis zu 200 000 Toten, darunter viele Kinder. Wir reden davon, dass mittlerweile die Hälfte der Bevölkerung
Syriens humanitäre Hilfe braucht. Wir reden über Hunger als Kriegswaffe; sie wird immer wieder von der Regierung Assad eingesetzt, in Yarmouk, in Sabadani, in
Homs - oder dort, wo die Stadt Homs früher einmal war.
Die UN haben es an bestimmten Punkten tatsächlich
geschafft, zu reagieren. Wir wissen, der Sicherheitsrat ist
blockiert, die Lage ist kompliziert; aber die Resolution
2165 ist eindeutig. Es geht darum, dass geholfen wird,
dass humanitäre Hilfe grenz- und frontübergreifend geleistet wird.
In dieser Situation ist es alles andere als nachvollziehbar, dass die Europäische Union EU-Hilfsmittel für dieses Jahr um die Hälfte streicht. Wenn mir dann aus Brüssel erzählt wird, dass Herr Schäuble derjenige sei, der da
den meisten Druck gemacht habe, dann fehlen mir, ehrlich gesagt, die Worte und jedes Verständnis dafür.
Herr Fabritius sagt völlig zu Recht: Jeder Cent, den
wir für die humanitäre Hilfe in den Grenzgebieten aufwenden, ist ein großer Beitrag dazu, dass es den Menschen besser geht. - Dazu kann ich nur sagen: Verflucht
noch mal, schauen Sie doch mal in Ihren eigenen Haushaltsentwurf für 2015! Sie kürzen die Mittel für humanitäre Hilfe um 38 Prozent, und das in einer Zeit, in der die
Katastrophen Tag für Tag größer und mehr werden.
({4})
Das hat mit den vielen schönen und hehren Worten, die
Sie hier sprechen, nichts zu tun.
Kollege Oppermann hat hier in der letzten großen Debatte, die wir hatten, das schöne Versprechen von sich
gegeben, dass die SPD stets darauf achten wird, dass die
Mittel für humanitäre Hilfe im Irak mindestens genauso
hoch sind wie die für militärische Hilfe, die zurzeit
70 Millionen Euro betragen. Gestern haben wir aber im
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe erfahren, dass die Mittel für humanitäre Hilfe nur 25 Millionen Euro betragen.
({5})
Da kann ich die SPD nur dringend auffordern, mit ganz
viel Nachdruck dafür zu sorgen, dass dieses Versprechen
tatsächlich erfüllt wird.
({6})
Alles andere wäre Augenwischerei.
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist die Kollegin
Dagmar Wöhrl, CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident, vielen Dank. - Frau Hänsel, dass ich
Ihnen einmal Danke sagen sollte, hätte ich zwar nicht
gedacht; aber ich bin Ihnen dankbar, dass Sie die heutige
Aktuelle Stunde initiiert haben.
Auf der anderen Seite muss ich sagen: Herr Kollege
Hunko, dass Sie hier versuchen, den IS zu rechtfertigen,
ist für mich unverständlich.
({0})
Es gibt keine Rechtfertigung für diese Terrororganisation, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({1})
Es sind Monster. Sie töten unsere Frauen und Kinder. Sie überziehen das ganze Land wie ein unaufhaltsames Krebsgeschwür.
Das waren die Worte eines Flüchtlings, als er nach endlosen Strapazen endlich auf der anderen Seite der
Grenze zur Türkei angekommen war. Das sind Worte,
die einem im Gedächtnis bleiben, ebenso die dramatischen, schrecklichen Szenen, die wir in den letzten Wochen immer wieder erleben. Der IS brüstet sich mit Massakern, er stellt Videos davon ins Netz - brutalste
Szenen, wie wir sie uns nicht schlimmer vorstellen können. Er hat es geschafft, innerhalb von drei Tagen
60 Dörfer zu überrollen. Alle jungen Männer über zwölf
Jahren wurden getötet. Die Frauen wurden vergewaltigt
und misshandelt; es sollen insgesamt über 5 000 gewesen sein. Die Frauen haben nur eine Chance, wenn sie
bereit sind, sich zu bekehren, wenn sie bereit sind, die
„Richtiggläubigen“ zu ehelichen. Ansonsten werden sie
zu Sklavendiensten missbraucht oder auf dem Markt
verkauft; man spricht von einem Preis von 200 Dollar.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, für diese Menschen, für die Frauen mit ihren Kindern bleibt nur die
Flucht. Wir sprechen heute von 140 000 Flüchtlingen,
die innerhalb von drei Tagen über die syrisch-türkische
Grenze geflohen sind. Wenn es IS schafft, Kobani einzunehmen, was er ja vorhat, dann wird sich die Zahl der
Flüchtlinge auf über 400 000 erhöhen.
Man ist sprachlos. Wenn man das sieht und hört, weiß
man gar nicht, was man noch machen kann. Man ist verzweifelt. Es gibt nicht genügend grausame Worte, um
überhaupt zu beschreiben, was sich dort abspielt.
Wir brauchen Lösungen. Es ist uns unverständlich,
was für eine Anziehungskraft die Dschihadisten haben.
Inzwischen soll es über 15 000 Foreign Fighters geben,
das heißt junge Menschen aus dem Ausland, die in das
Land strömen, um die Dschihadisten und den IS zu unterstützen.
Wir brauchen Lösungen; denn die Hälfte aller Flüchtlinge sind Kinder. Von der Krise in Syrien und seinen
Nachbarländern sind inzwischen 6,6 Millionen Kinder
betroffen, Zehntausende sind bereits gestorben.
Ich bin froh, dass die internationale Gemeinschaft
ihre Verantwortung annimmt. Aber es muss noch mehr
getan werden. Auch wir versuchen, unserer Verantwortung durch humanitäre Hilfe gerecht zu werden. Wir unterstützen UNICEF. Wir gewähren Soforthilfe. Unsere
zuständigen Minister stocken die Mittel für humanitäre
Hilfe auf. Sie wissen, dass es notwendig ist. Herr
Nouripour, ich bin auch froh: Es wird einen Nachtragshaushalt für den Etat des Auswärtigen Amtes geben, damit die Mittel für humanitäre Hilfe aufgestockt werden
können. Die Not zwingt uns dazu.
Diejenigen von uns, die in den letzten Wochen und
Monaten in Flüchtlingslagern gewesen sind - ob im
Libanon, im Irak oder sonst wo -, haben eines festgestellt: Die Flüchtlingscamps sind nicht mehr so wie früher.
({2})
Es sind Städte geworden, inzwischen auch mit Einkaufszentren. Die Menschen stellen sich darauf ein, dass sie
nicht von heute auf morgen wieder in ihre Heimat zurückkehren können. Das bedeutet auch, dass ihnen eine
langfristige Zukunftsperspektive fehlt. Dadurch entsteht
Hoffnungslosigkeit. Kinder wachsen in Gewalt auf. Sie
kennen nichts anderes als dieses Umfeld. Das ist die Gefahr, die wir in diesem Zusammenhang sehen.
Wir müssen ISIS zeigen, dass er verwundbar ist. Wir
müssen das auch den Menschen zeigen, damit sie die
Angst vor diesen Terroristen verlieren. In diesem Zusammenhang bin ich dankbar für die UN-Resolution, die
gestern angenommen worden ist. Endlich sind alle Länder der Vereinten Nationen verpflichtet, ein Gesetz zu
erlassen, das das Reisen zu terroristischen Zwecken unterbindet. Wir hoffen, dass sich dadurch wenigstens die
Zahl der Foreign Fighters verringert.
Wir dürfen nicht naiv sein. Wir wissen: Ohne militärisches Eingreifen kann die Weltgemeinschaft dieser Lage
nicht Herr werden. Deswegen sind wir froh, dass die
USA aktiv geworden sind. Wir sind froh, dass sie von
den Franzosen unterstützt werden. Wir sind froh, dass
sie von arabischen Partnern unterstützt werden. Um die
Not der Menschen zu lindern, müssen wir diese militärischen Maßnahmen durch politische Intervention und humanitäre Hilfe ergänzen, wie wir es bisher schon getan
haben.
Wir schulden der Türkei Dank für die Aufnahme der
Flüchtlinge. Die Zahl ist immens, für uns unvorstellbar:
1,6 Millionen. Das wird nicht das Ende der Fahnenstange sein, das wissen wir. Wir müssen hier unterstützen. Wir sind ebenfalls froh, dass sich Erdogan gestern
in der UN-Vollversammlung zum ersten Mal dazu bekannt hat, die internationale Gemeinschaft im Kampf gegen IS zu unterstützen. Es wurde auch Zeit. Das ist eine
Aussage, auf die wir lange, lange gewartet haben.
({3})
Frau Kollegin Wöhrl, denken Sie an die Redezeit?
Ja, danke schön. - Für uns war es nicht zu verstehen,
dass Rekruten in der Türkei in Moscheen ausgebildet
worden sind und dass Leute durch die Türkei in den Iran
reisen konnten. Aber wir sind dankbar für seine Worte.
Wir sind bereit, mit unseren internationalen Partnern
in Zukunft gemeinsam vorzugehen. Unseren internatio4964
nalen Partnerorganisationen, die vor Ort das Menschenmögliche machen, gilt unser Dank. Wir hoffen, dass die
Kinder dadurch eine Perspektive für die Zukunft haben.
Vielen Dank.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Ute FinckhKrämer für die Sozialdemokraten.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer oben auf der
Tribüne! Heute tagt - schon länger angekündigt - im
Auswärtigen Amt der Koordinierungsausschuss Humanitäre Hilfe. Seit 20 Jahren bringt er mehrmals im Jahr
Vertreter der Bundesregierung und der humanitären
Nichtregierungsorganisationen zusammen. Seine heutigen Themen - unter anderem: Irak, Syrien und die Ebolakrise in Westafrika - sind brandaktuell.
Ursprünglich war geplant, dass heute Mittag eine direkte Begegnung der Mitglieder des Bundestagsausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe mit
diesem Koordinierungsausschuss stattfinden sollte. Leider haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Linken, genau in diese Mittagszeit zwei namentliche
Abstimmungen gelegt. Insofern musste das offizielle
Gespräch abgesetzt werden,
({0})
und ich konnte mich nur kürzer als erhofft darüber informieren, was deutsche Hilfsorganisationen wie die Welthungerhilfe, medico international und der Malteser
Hilfsdienst derzeit im syrisch-türkischen Grenzgebiet
leisten. Ich möchte diesen Organisationen und den weiteren Organisationen, die dort im Augenblick tätig sind,
an dieser Stelle ausdrücklich für ihr professionelles Engagement vor Ort danken.
({1})
Liebe Frau Hänsel, sowohl gestern im Ausschuss für
Menschenrechte und Humanitäre Hilfe als auch heute im
Koordinierungsausschuss hat die Bundesregierung über
die Situation in der Grenzregion berichtet. Auch die
Hilfsorganisationen, die heute vertreten waren, haben
berichtet. Die Berichte entsprachen nicht ganz dem, was
Sie eben vorgetragen haben.
({2})
Die Flüchtlinge kommen diesen Berichten zufolge zwar
in der Tat nicht überall und sofort, aber doch sukzessive
über die Grenze. Die meisten bleiben auch nicht in der
unmittelbaren Grenzregion, sondern fahren in Ortschaften weiter, in denen sie zum Beispiel bei Verwandten unterkommen können.
Außenminister Frank-Walter Steinmeier hat - das hat
Gabriela Heinrich eben schon erwähnt - für den 28. Oktober 2014 nach Berlin zu einer Konferenz eingeladen,
bei der über Hilfen für die Nachbarstaaten Syriens und
des Iraks beraten wird. Das begrüße ich sehr und möchte
dem Außenminister an dieser Stelle ausdrücklich dafür
danken.
({3})
Deutschland muss einen weiteren substanziellen Beitrag leisten, um seiner internationalen Verantwortung für
die Flüchtlinge gerecht zu werden. Das betrifft sowohl
die Haushaltsmittel für humanitäre Hilfe im laufenden
Jahr, die gegebenenfalls im Rahmen eines Nachtragshaushaltes aufgestockt werden müssen, als auch die Mittel für 2015, die im vorliegenden Entwurf in der Tat viel
zu niedrig angesetzt sind und daher im Rahmen der weiteren Haushaltsberatungen massiv aufgestockt werden
müssen, wie es mein Kollege Frank Schwabe bei der Debatte zur ersten Lesung des Bundeshaushaltes 2015 bereits gefordert hat. Die Hilfsorganisationen und ihre lokalen Partner brauchen Planungssicherheit und die
Flüchtlinge die Gewissheit, dass sie so lange Hilfe erhalten, wie sie benötigen.
Neben Geld für die schon länger in der Region tätigen
Hilfsorganisationen und für den UNHCR wird möglicherweise auch qualifizierte technische Hilfe nötig werden, wenn es darum geht, allen Flüchtlingen winterfeste
Unterkünfte zur Verfügung zu stellen. Viele von uns Abgeordneten haben sich am Dienstag beim Technischen
Hilfswerk darüber informiert, was diese Organisation
beim Aufbau von Notunterkünften oder bei der Trinkwasserversorgung leisten kann - übrigens zu über
98 Prozent durch den Einsatz von Freiwilligen, das heißt
von ehrenamtlich Tätigen. Wenn die Türkei konkrete
Hilfe in diesem Bereich bei der Bundesregierung oder
bei der Europäischen Union anfordert, könnte das THW
diese, wie in der Vergangenheit in anderen Ländern,
schnell und effektiv bereitstellen.
Ich möchte im Zusammenhang mit der heutigen Diskussion an die Grundprinzipien der humanitären Hilfe
erinnern: Neutralität, Unabhängigkeit, Unparteilichkeit
und Menschlichkeit. Sie dienen dem Schutz sowohl derjenigen, die Hilfe leisten, als auch derjenigen, denen sie
zuteil wird. Sie verhindern, dass Konflikte durch einseitige Hilfeleistung entstehen oder eskalieren. Humanitäre
Hilfe darf nicht für politische Interessen instrumentalisiert werden.
Besonders wichtig ist die Neutralität der humanitären
Hilfe in bewaffneten Konflikten bzw. in deren unmittelbarer Nachbarschaft. Deutschland hat sich 2003 nicht
am Angriffskrieg der USA gegen den Irak beteiligt und
lehnt jetzt zu Recht die Beteiligung an den Luftangriffen
der USA auf den Irak und Syrien ab. Damit können deutsche Hilfsorganisationen in der Region glaubwürdig als
unparteilich auftreten.
Wir müssen uns über die humanitäre Hilfe hinaus Gedanken machen, wie wir nicht nur mit Mitteln der EntDr. Ute Finckh-Krämer
wicklungszusammenarbeit, sondern auch mit friedensfördernden Maßnahmen einen Beitrag dazu leisten
können, die Lebenssituation der Menschen in der Region
langfristig zu verbessern. Daher wird die heutige Diskussion sicher nicht die letzte zum Thema Türkei, Syrien, Irak gewesen sein.
Danke schön.
({4})
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Jörg Hellmuth.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Als wir vor einigen Monaten die ersten Informationen über ISIS - damals sprach man noch von ISIS erhalten haben, war zu lesen, dass die militärische Basis
insbesondere aus ehemaligen Offizieren der irakischen
Armee besteht. Das hat mich schon seinerzeit mit Sorge
erfüllt. Diese Erkenntnis ist in den letzten Wochen etwas
in den Hintergrund geraten, nicht zuletzt aufgrund der
unglaublichen Gräueltaten. Aber nach wie vor, so denke
ich, bilden gut ausgebildete Offiziere der irakischen Armee die militärische Basis - eine Generation Enttäuschter, die nur darauf sinnen, für ihren ehemaligen Diktator
Rache zu nehmen.
Herr Hunko, Sie haben Analyse und Aufarbeitung angesprochen. Das ist sicherlich notwendig, heute und hier
ist aber nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Ich möchte Ihnen Folgendes sagen: Ich musste vor knapp 40 Jahren in
meiner Lehrzeit unweit von Berlin, 50 Kilometer von
hier, Militär-Lkw zusammenbauen, von denen viele
- das war schon eine ordentliche Größenordnung - in
den Irak gegangen sind. Damals hat die DDR Militärberater, Militär-Lkw und andere Militärtechnik in den
Irak geliefert. Während es hier an allem Möglichen
fehlte, hat das System der DDR das irakische Militär mit
aufgebaut und unterstützt. Meine herzliche Bitte lautet:
Wenn Sie die Geschichte aufarbeiten bzw. analysieren,
dann vergessen Sie diesen Teil der Geschichte bitte
nicht.
({0})
Als wir vor einigen Wochen mit der Bundesministerin
der Verteidigung, Frau von der Leyen, in unserer Arbeitsgruppe die Situation erörtert haben, habe ich diese
Frage gestellt: Wie belastbar sind die Informationen über
diese Gräueltaten, über diese Zustände? Und: Ist das alles nicht noch viel schlimmer? In der Tat scheint es so zu
sein. In den letzten Tagen hat sich die Situation dermaßen zugespitzt, dass einem wirklich die Worte fehlen.
Frau Roth, man hätte es nicht für möglich gehalten, dass
so etwas im 21. Jahrhundert noch möglich ist.
Über die humanitäre Hilfe wurde hier schon viel gesprochen. Das kann man nur ausdrücklich unterstützen.
Ich habe die Befürchtung, dass sich die Situation aufgrund des bevorstehenden Winters zuspitzt und die Materialien nicht ausreichen. Hier ist nicht nur Deutschland
gefordert, sondern die EU und die ganze Welt sind gefragt, alles Erdenkliche zu tun, um die humanitären
Hilfsleistungen in den nächsten Wochen zu verstärken.
Ich möchte auf den UN-Sicherheitsrat eingehen; Herr
Annen, Sie haben das erwähnt. Ich möchte das noch einmal betonen: Es ist ein ermutigendes Signal, dass die
Resolution einstimmig beschlossen wurde. Wenn wir
uns zurückerinnern: Das hat es bei solchen Konflikten so
oft nicht gegeben. Das ist aber nur der erste Schritt.
Unser Außenminister ist, glaube ich, im ZDF gestern
Abend in einem Interview dazu befragt worden. Zwei
Fragen sind mir in Erinnerung geblieben.
Die erste Frage war: Wie wird die Hilfeleistung
Deutschlands eingeschätzt? Ist sie ausreichend? Er hat
im Rückblick auf die Gespräche geantwortet: Das ist
überhaupt nicht das Thema. Die Unterstützung und die
Hilfe finden bei der UN allergrößte Anerkennung. - Ich
denke, das sollte man an dieser Stelle auch einmal erwähnen.
Die zweite Frage war: Wie stellen Sie sich denn die
Umsetzung vor? Die ist doch nicht einfach. Unser Außenminister antwortete darauf: Daran werden wir noch
viele Wochen arbeiten. - Die Umsetzung wird noch ein
Stück Arbeit werden. Es gibt da ja eine Vielzahl von
Problemen. Trotzdem sehe ich diesen einstimmigen Beschluss als außerordentlich ermutigendes Signal.
Zum Schluss. Das Agieren der Türkei werden wir in
den nächsten Tagen und Wochen intensiv beobachten:
am Wochenende erst Grenzöffnung, dann wieder ein
Schließen der Grenzen, einerseits diese ominösen Verhandlungen, was die Freilassung der Geiseln betrifft, andererseits gestern am Rande der UN-Vollversammlung
das Bekenntnis des türkischen Präsidenten, mit in die
Front zur ISIS-Bekämpfung einzusteigen. Wir werden
ihn in den nächsten Tagen und Wochen beim Wort nehmen.
Vielen Dank.
({1})
Abschließender Redner in dieser Aktuellen Stunde ist
der Kollege Thorsten Frei, CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Bilder des Arabischen Frühlings und das, was wir damit
verbunden haben, haben sich in Luft aufgelöst. Die arabische Welt und ihre Ordnung sind in der tiefsten Krise
seit dem 13. Jahrhundert. Das gilt nicht nur für die Länder, auf die wir jetzt hauptsächlich den Fokus legen, für
den Irak und Syrien, sondern das gilt genauso für den Jemen und Libyen.
({0})
Wenn wir uns anschauen, was sich in den vergangenen Tagen an der türkisch-syrischen Grenze ereignet hat
- es ist vielfach beschrieben worden -, dann sehen wir:
Es ist in der Tat entsetzlich und kaum vorstellbar. Wenn
innerhalb von wenigen Stunden 130 000 Menschen an
die türkische Grenze gedrängt werden und in die Türkei
fliehen, dann ist das für uns kaum vorstellbar. Es ist vollkommen klar, dass wir in einer solchen Situation helfen
müssen. Uns muss auch klar sein, dass das in der Tat
nicht das Ende der Fahnenstange ist. Angesichts von
1,8 Millionen Binnenflüchtlingen im Irak und in Syrien
steht uns noch einiges bevor.
Ich möchte zum Schluss der Debatte vier wesentliche
Aspekte benennen, die aus meiner Sicht hier nottun.
Erstens. Natürlich müssen wir Flüchtlinge aufnehmen, selbstverständlich. Es erfüllt mich mit großem Respekt, wenn ich sehe, was beispielsweise in der Türkei,
im Libanon und auch in Jordanien passiert. Die Länder
dort vollbringen ganz enorme Leistungen.
({1})
Aber Fakt ist eben auch, dass außerhalb der Region kein
anderes Land so viel tut, um Flüchtlinge aufzunehmen,
wie Deutschland.
Ich möchte an dieser Stelle eines sagen: Es kann,
glaube ich, nicht das Ziel sein, dass wir so viele Flüchtlinge wie möglich zu uns holen und hier aufnehmen.
({2})
Denn sie möchten ja nicht ihre Heimat verlassen.
({3})
Sie möchten nicht nach Deutschland und Europa. Sie
fliehen aus ihrer Heimat, weil sie vertrieben werden von
Terroristen, die völlig verroht sind, die sie aus ihrer Heimat vertreiben, massakrieren und abschlachten. Dort
müssen wir helfen. Wir müssen hier bei uns helfen, aber
auch unmittelbar vor Ort. Es ist schon gesagt worden:
Der Winter steht vor der Tür. Deshalb muss es schnelle
Hilfe geben. Ich bin dafür dankbar, dass wir die haushaltspolitische Flexibilität haben, entsprechend darauf
zu reagieren.
Lassen Sie mich einen weiteren Aspekt benennen. Es
ist in der Tat so, dass es nicht reicht, nur die Symptome
zu bekämpfen ({4})
man muss auch an die Wurzel des Übels. Deshalb ist es
richtig, die Terrororganisation IS mit allen Kräften zu
bekämpfen.
Zweitens. Wir haben am 1. September hier im Bundestag darum gerungen, ob wir den kurdischen Peschmerga Waffen liefern wollen. Wenig danach hat unser
Außenminister gesagt:
Niemand ist so naiv, zu glauben, dass ein paar Gewehre für die Peschmerga das Problem ISIS aus der
Welt bringen.
Richtig, wir brauchen in der Tat eine international abgestimmte Strategie. Da geht es darum, dass man Geldströme kappt. Da geht es darum, dass man die ethnischen
und religiösen Gruppen in diesen Prozess integriert, dass
man vor Ort die Akteure ertüchtigt, sich selbst zu helfen,
so wie wir es im Nordirak getan haben.
Aber, drittens, meine sehr verehrten Damen und Herren, ich warne auch davor, zum jetzigen Zeitpunkt alles
andere auszuschließen. Ich glaube, es ist notwendig,
dass die Amerikaner mit Luftschlägen versuchen, zu helfen, die Not dort zu bekämpfen, indem man IS unmittelbar angeht.
({5})
Ich halte es für falsch, wenn wir, ohne die Lage abschließend beurteilen zu können, dieses grundsätzlich ausschließen.
({6})
Es ist darüber hinaus fraglich, ob das ausreicht. Vielleicht muss man noch sehr viel mehr tun, wenn man
keinen jahre- oder gar jahrzehntelangen Konflikt an dieser Stelle haben möchte; auch das müssen wir bedenken.
Als letzten, vierten Punkt will ich erwähnen: Es geht
aus meiner Sicht auch darum, die Sicherheit der Menschen bei uns im Land zu gewährleisten, und die ist in
der Tat in Gefahr. Wenn man sieht, dass 400 gewaltbereite Menschen aus Deutschland sich dem IS angeschlossen haben, wenn wir davon ausgehen müssen, dass
mindestens 25 kampferprobte Dschihadisten wieder zurückgekehrt sind nach Deutschland, dann müssen wir,
glaube ich, auch in diesem Bereich den gesetzlichen
Rahmen voll ausschöpfen. Wir müssen Doppelstaatlern,
die sich so weit vom Boden des Grundgesetzes und der
freiheitlich-demokratischen Grundordnung entfernt haben, die Pässe entziehen. Wir müssen alles tun, um deutlich zu machen, dass, wer so etwas tut, letztlich sein
Rückkehrrecht nach Deutschland verwirkt hat, meine
sehr verehrten Damen und Herren.
({7})
Lassen Sie mich zum Abschluss sagen: In der Tat, es
kommt auf eine international abgestimmte Lösung an,
die die Kräfte vor Ort integriert. Dazu gehört - ob uns
das gefällt oder nicht - auch der Iran. Richtig ist auch,
dass die Türkei dabei eine zentrale Rolle spielen muss.
Ich schließe mich insofern den Vorrednern an: Was wir
in den letzten 48 Stunden von Staatspräsident Erdogan
gehört haben, ist ermutigend.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 c auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU und
weiterer Vorschriften
Drucksache 18/2581
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsauschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Zwischenbericht des Staatssekretärsausschusses zu Rechtsfragen und Herausforderungen
bei der Inanspruchnahme der sozialen Sicherungssysteme durch Angehörige der EU-Mitgliedstaaten
Drucksache 18/960
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Abschlussbericht des Staatssekretärsausschusses zu „Rechtsfragen und Herausforderungen
bei der Inanspruchnahme der sozialen Sicherungssysteme durch Angehörige der EU-Mitgliedstaaten“
Drucksache 18/2470
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Damit eröffne ich die Aussprache.
Erster Redner ist Bundesminister Dr. Thomas de
Maizière.
({3})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich bringe hiermit den Gesetzentwurf zur Änderung
des Freizügigkeitsgesetzes/EU und weiterer Vorschriften
ein.
Ich darf daran erinnern, dass wir Anfang des Jahres
- auch angestoßen von der CSU - eine Debatte über die
Frage hatten: Wie gehen wir mit sogenannten Armutsmigranten um, und wie groß ist das Problem? - Es war aber
nicht nur die CSU, die diese Debatte angestoßen hat:
Kommunen und kommunale Spitzenverbände hatten
ihrerseits in dringlichen Appellen auf die Belastungen
hingewiesen, die mit einer steigenden Zuwanderung aus
der EU verbunden sind.
Das Ergebnis unserer Arbeit ist in diesem Gesetzentwurf und in dem Bericht des Staatssekretärsausschusses
niedergelegt. Beides liegt dem Parlament vor. Das Ergebnis lautet: Es gab und gibt in Deutschland kein flächendeckendes Problem damit. Es gibt aber eine Reihe
von Kommunen - insbesondere Großstädte -, die durch
die Folgen eines stetig wachsenden Zuzuges aus wenigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union besonders
betroffen und belastet sind, und darauf reagieren wir mit
den Maßnahmen, die jetzt hier anstehen.
({0})
Die Zuwanderung aus anderen Mitgliedstaaten der
Europäischen Union hat in den letzten Jahren zugenommen. Das birgt für unser Land Chancen und viel Gutes.
Der weit überwiegende Teil dieser Zuwanderer kommt
zu uns, um hier eine Arbeit zu finden, eine Ausbildung
zu beginnen oder ein Studium aufzunehmen. Diese Menschen suchen für sich und ihre Familien bessere Chancen
und tragen zu Wohlstand und Entwicklung in Deutschland bei. Angesichts unserer demografischen Entwicklung sind wir natürlich auf die Zuwanderung derjenigen,
die hier arbeiten können und wollen, angewiesen.
Ich will auch keinen Zweifel daran lassen, dass die
Freizügigkeit in der Europäischen Union nach unserer
Auffassung eine der großen Errungenschaften ist, die
nicht zur Disposition stehen. Sie ist eine der großen Vorzüge Europas für seine Bürger und insbesondere auch
für uns Deutsche.
({1})
Gleichzeitig dürfen wir aber nicht die Augen davor
verschließen, dass vor Ort mit einem wachsenden Zuzug
aus bestimmten EU-Mitgliedstaaten Probleme verbunden sind. Diese Städte und Gemeinden berichten über
eine Verschärfung sozialer Probleme und über eine steigende Belastung ihrer Systeme der kommunalen
Daseinsvorsorge. Das betrifft den Bereich Schule, die
Versorgung mit Wohnraum, die unangemessene und
unberechtigte Inanspruchnahme sozialer Leistungen
oder den Bereich Gesundheitsversorgung. Das müssen
wir adressieren, und darüber dürfen wir ebenfalls nicht
hinwegsehen.
Wenn wir heute eine Bilanz der Arbeit des Staatssekretärsausschusses ziehen, können wir dreierlei festhalten:
Erstens. Der Abschlussbericht hat die Daten- und
Faktenlage sowie die Rechtsfragen bewertet und damit
zu einer Versachlichung der Debatte überall beigetragen.
Ich glaube, das war gut und richtig.
({2})
Zweitens. Wir wollen die betroffenen Kommunen
substanziell entlasten. Der Bericht und der vorliegende
Gesetzentwurf enthalten dazu eine Reihe von Maßnahmen. Ich nenne sie gleich kurz. Diese Entlastungen sollen noch in diesem Jahr und in den Folgejahren wirksam
werden. Deswegen bitte ich auch um eine zügige Beratung dieses Gesetzentwurfs, damit die Kommunen noch
in den Genuss der Fördermaßnahmen kommen können,
die mit diesem Gesetzentwurf verbunden sind.
Drittens. Wir wollen die Freizügigkeit in Europa erhalten und ihre Akzeptanz in der Gesellschaft sichern.
Gerade deshalb ist es wichtig, gegen einen Missbrauch
dieses Rechts wirkungsvoll vorzugehen.
Was heißt das? Die Unterstützung geschieht in Form
einer entsprechenden finanziellen Ausstattung des Städtebauförderprogramms „Soziale Stadt“ und der verschiedenen Programme aus europäischen Fonds. Wir stocken
die Bundesbeteiligung an den Kosten der Unterkunft und
Heizung im Sozialgesetzbuch II auf. Das Geld kann
noch in diesem Jahr - ich erwähnte es - an die Länder
fließen, in denen die besonders betroffenen Städte und
Gemeinden liegen, damit es dann - das unterstreiche ich
noch einmal - an die Kommunen weitergegeben wird,
und zwar so, wie das beabsichtigt ist.
({3})
Durch eine Änderung des SGB V werden künftig bei
Kindern und Jugendlichen aus EU-Staaten ohne geklärten Krankenversicherungsschutz die Impfkosten übernommen.
So weit zu den die Kommunen entlastenden Maßnahmen.
({4})
Zur Unterbindung von Missbrauch im Zusammenhang mit dem Freizügigkeitsrecht sieht der vorliegende
Gesetzentwurf eine Reihe von Maßnahmen aus den Zuständigkeitsbereichen verschiedener Ressorts vor:
Im Freizügigkeitsrecht sollen befristete Wiedereinreisesperren im Falle eines Rechtsmissbrauchs oder
Betrugs ermöglicht werden. Das Aufenthaltsrecht zur
Arbeitssuche soll in Übereinstimmung mit dem europäischen Recht auf sechs Monate befristet werden. Die
Erschleichung von Aufenthaltsbescheinigungen durch
falsche Angaben wird unter Strafe gestellt. Beim Kindergeld sollen Doppelzahlungen und Missbrauch unterbunden werden. Künftig wird die Kindergeldzahlung
von der eindeutigen Identifikation von Antragstellern
und Kindern durch Angabe der steuerlichen Identifikationsnummer abhängig sein. Wir wollen entschieden gegen Scheinselbstständigkeit und Schwarzarbeit vorgehen. Dazu sieht der vorliegende Gesetzentwurf eine
Regelung vor, durch die die Zusammenarbeit mit der Finanzkontrolle Schwarzarbeit intensiviert wird. Über den
Gesetzentwurf hinaus gibt es einige Maßnahmen, die auf
dem Verordnungswege oder durch Verwaltungsvorschriften erlassen werden sollen. So soll im Bereich der
Familienleistungen konkretisiert werden, in welchen
Fällen die Freizügigkeitsberechtigung von Antragstellern konsequent und genau zu prüfen ist. Auch Gewerbeanzeigen werden künftig konsequent auf Anhaltspunkte
für Scheinselbstständigkeit geprüft.
Bevor gleich in der Debatte vorgetragen wird, das alles seien Maßnahmen, die sich gegen Betroffene, die
hierherkommen, richten könnten, will ich Folgendes sagen: Der Missbrauch, der hier betrieben wird, wird nicht
allein durch diejenigen betrieben, die zu uns kommen,
sondern überwiegend durch das kriminelle Handeln derjenigen, die diese Menschen hierherlocken und ausbeuten. Wenn ein Vermieter in einem abbruchreifen Haus
eine große Familie mit Luftmatratzen unterbringt und
dafür 300 oder 400 Euro Miete nimmt, dann ist das
nichts anderes als eine Schweinerei.
({5})
Wenn jemand mit einem fertig ausgefüllten, in perfektem Deutsch formulierten Gewerbeantrag eine Gewerbeerlaubnis beantragt, dann riecht das nach Scheinselbstständigkeit.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Beck?
Lassen Sie mich diesen Gedanken zu Ende führen;
dann darf gerne eine Zwischenfrage gestellt werden. Wenn Männer auf einem sogenannten Arbeitsstrich stehen und für 1 bis 2 Euro pro Stunde Arbeit annehmen,
dann sind die Menschen, die ihnen Arbeit anbieten,
Schweinehunde. Wenn Frauen, die ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten können, auf den Strich geschickt
werden, dann ist es kriminell, diesen Missbrauch zu dulden. Deswegen ist alles, was wir tun, auch darauf gerichtet, denjenigen, die mit Armutsmigranten Geld verdienen, den Hahn abzudrehen.
({0})
Jetzt hat der Kollege Volker Beck zu einer Zwischenbemerkung das Wort.
Was die Zielvorstellungen angeht, sind wir uns hundertprozentig einig.
Das ist ja mal etwas. Das ist nicht immer so.
Nein, eben. - Ich würde gerne wissen, an welcher
Stelle die Frage beantwortet wurde, von der Sie gerade
gesagt haben, dass Sie sie beantworten wollen: Es geht
um arme Menschen, die im Rahmen der EU-Freizügigkeit zu uns gekommen und zugewandert sind, die in
Wohnungen wohnen, in denen sie ausgebeutet werden,
oder die in Schrottimmobilien leben. Es gibt dazu eine
Regelung, und zwar in Nordrhein-Westfalen; die dortige
Landesregierung will die Kontrolle verstärken. Aber in
diesem Gesetzentwurf habe ich keinen Satz zu dieser
Problematik gelesen.
Herr Abgeordneter Beck, dazu bedarf es auch keiner
neuen gesetzlichen Regelung. Wenn wir sonst über Gesetzesverschärfungen reden, sind Sie immer der Erste,
der sagt: Kümmert euch doch erst einmal um den Verwaltungsvollzug, bevor ihr Gesetze verschärft. - Hier ist
es genauso. Eine solche ausbeuterische Miete ist sittenwidrig und nichtig. Derjenige, der ein solches Objekt
vermietet, macht sich möglicherweise auch strafbar. Jedenfalls sollte man ihm die Hammelbeine langziehen.
Dazu bedarf es keines neuen Bundesgesetzes.
({0})
Auch für den Fall, dass jemand einen anderen zur
Scheinselbstständigkeit verleitet, brauchen wir keine zusätzlichen Gesetze. Ich möchte mit den harten Worten,
die ich hier sage, erreichen, dass wir den Blick nicht nur
auf diejenigen, die sich in Deutschland aufhalten, und
auf die Lasten, die für die Kommunen damit verbunden
sind, richten, sondern auch auf diejenigen, die die Lage
dieser Menschen ausnutzen, in Bulgarien, in Rumänien
und in Deutschland.
({1})
Meine Damen und Herren, der Abschlussbericht, den
wir heute vorlegen, ist natürlich nicht der Endpunkt. Wir
haben noch einige Prüfbitten und Prüfungen vor uns.
Der erste Punkt ist sehr wichtig: Es ist zu prüfen, ob die
Höhe des Kindergeldes in Zukunft an die Lebenshaltungskosten am Wohnort des Kindes angepasst wird.
Das ist eine wichtige Frage, die viele Menschen in
Deutschland beschäftigt, die europarechtlich aber nicht
leicht zu beantworten ist. Wir werden sie weiter intensiv
prüfen.
({2})
Im Zusammenhang mit den Sozialleistungen insgesamt
stehen zwei Urteile des Europäischen Gerichtshofes an.
Wenn diese Urteile vorliegen, werden wir diesen Fall
und ähnliche Fälle zu bewerten haben und dann möglicherweise noch Änderungen vornehmen. Schließlich
wollen wir unsere Arbeit evaluieren. Schon Ende 2014
wollen wir prüfen, ob die Maßnahmen ausreichen oder
ob weitergehende Maßnahmen geboten sind. Das Thema
bleibt sicher auf der Tagesordnung.
Ein wichtiger Schritt ist die Beratung und Verabschiedung des Gesetzes, das ich Ihnen heute vorstelle. Ich
bitte, wie eingangs begründet, um zügige Beratung und
eine möglichst große Zustimmung.
({3})
Vielen Dank, Herr Minister. - Nächste Rednerin ist
die Kollegin Ulla Jelpke für die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Minister, seit über einem Jahr wird insbesondere vonseiten der CDU/CSU immer wieder über den angeblichen
Sozialhilfemissbrauch der Zuwanderer aus Osteuropa
geredet. Auch Sie haben es heute wieder so dargestellt.
Wir erleben seit einem Jahr eine regelrecht hysterische
Kampagne, die durch gar nichts gerechtfertigt ist.
({0})
Mit diesem Gesetzentwurf wird nur weiter Öl ins Feuer
gegossen. Sie schüren Vorurteile gegen Menschen aus
Osteuropa, insbesondere gegen Roma. Indem Sie die
Freizügigkeit eingrenzen, entziehen Sie diesen Menschen das Grundrecht auf europäische Freizügigkeit. Ich
sage ganz klar: Nicht mit der Linken!
({1})
Die Linke hat, wenn das Bundesministerium von der
Union geführt wurde und von dem angeblichen Sozialmissbrauch die Rede war, immer wieder Kleine Anfragen gestellt. Die Bundesregierung musste zugeben, dass
Zahlen dazu überhaupt nicht vorliegen; auch die Bundesagentur für Arbeit hat dies zugegeben. Auch der Bericht der Staatsminister, die sich lange damit befasst haben, hat keinerlei Beweise dafür gebracht. Trotzdem
wird hier die Schlussfolgerung gezogen, dass man ein
solches Gesetz braucht. Die Faktenlage beweist genau
das Gegenteil; das hat der Minister eben immerhin gesagt. Unter den Zuwanderern aus Rumänien hat jeder
Vierte einen akademischen Abschluss. Die Arbeitslosenquote in Deutschland unter Bulgaren und Rumänen ist
niedriger als unter den übrigen EU-Ausländern.
Der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetages
- Herr Minister, jetzt sollten Sie genau zuhören - hat gesagt: Nicht der Missbrauch von Sozialleistungen ist unser Problem. Unsere Hauptsorge ist, dass wir zu wenig
Geld haben, um diese Menschen unterzubringen und zu
integrieren. - Von 267 000 Rumänen, die in Deutschland
leben, sind laut Polizeilicher Kriminalstatistik ganze 91
verdächtig - verdächtig, nicht verurteilt -, Sozialleistungsbetrug begangen zu haben. Man muss sich wirklich
an den Kopf fassen, wenn die CDU/CSU hier durch die
Sprecherin der Landesgruppe der CSU verkünden lässt,
man habe jetzt entscheidende Forderungen gegen den
Sozialbetrug bei der Armutszuwanderung durchgesetzt.
Nein, das haben Sie nicht. Was Sie getan haben, ist, die
Themen Zuwanderung und Freizügigkeit willkürlich mit
den Themen Missbrauch und Armut zu verrühren.
({2})
Genau das hat fatale Folgen. Sie fördern damit Ressentiments in der Gesellschaft, die sich vor allem gegen Sinti
und Roma richten, auch wenn diese nur einen geringen
Teil der Zuwanderer ausmachen. Eine Leipziger Studie
hat uns Mitte des Jahres bestätigt, dass die Feindseligkeit
gegenüber Roma immer weiter ansteigt. Dieses Anwachsen des Antiziganismus ist eine direkte Folge der
von der Union befeuerten Kampagne gegen vermeintliche Betrüger.
({3})
Zuwanderer aus Osteuropa kommen nicht hierher, um
Sozialleistungen zu beziehen. Sie kommen hierher, um
zu arbeiten. Das müssen Sie endlich einsehen. Hören Sie
auf mit Ihrer unfairen Kampagne!
({4})
Arbeitslose EU-Bürger sollen jetzt nach sechs Monaten Aufenthalt ihr Aufenthaltsrecht verlieren, wenn sie
keine Arbeit haben. Ich möchte einmal die Menschen sehen, die das schaffen. In Einzelfällen soll sogar von der
Wiedereinreisesperre Gebrauch gemacht werden. Der
Kindergeldbezug soll schärfer geprüft werden usw. Das
widerspricht absolut dem Gedanken der europäischen
Freizügigkeit. Das lehnen wir auch ganz klar ab.
({5})
Meine Damen und Herren, die Kommunen brauchen
keine neuen Gesetze, sondern vor allen Dingen Unterstützung. Da wird jetzt auch einiges getan. Der Bund
gibt Geld an die Kommunen, insbesondere an die, die
bedürftig sind. Das ist gut und richtig. Wir schließen uns
aber dem Deutschen Städtetag an, der gefordert hat: Wir
brauchen einen Rechtsanspruch auf Integrationskurse
auch für EU-Bürger.
Mein Appell an die Bundesregierung ist: Belassen Sie
es bei der Hilfe für die Kommunen! Versachlichen Sie
die Debatte! Verzichten Sie auf Verschärfungen des Freizügigkeitsrechts! Treten Sie rassistischen Stimmungen
entgegen! Nehmen Sie Antiziganismus endlich als Bedrohung in unserer Gesellschaft wahr, und gehen Sie
entschlossen dagegen vor!
Ich danke Ihnen.
({6})
Für die Sozialdemokraten spricht jetzt der Kollege
Dr. Lars Castellucci.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Uns liegen der Abschlussbericht des Staatssekretärsausschusses zur Zuwanderung und der Regierungsentwurf,
mit dem das EU-Freizügigkeitsgesetz geändert werden
soll, vor. Ich möchte auch drei Punkte ansprechen, Herr
Bundesminister. Zwei Punkte sehen wir ähnlich. Das ist
großkoalitionär doch gar kein schlechter Schnitt.
({0})
Bei dem dritten Punkt ist es ein bisschen anders. Aber
das müssen wir miteinander aushalten.
Erstens. Dieser Staatssekretärsausschuss war eine
sehr sinnvolle Einrichtung.
({1})
Er hat einen guten Bericht vorgelegt und zur Versachlichung der Debatte beigetragen.
Zweitens. In den Großstädten, in denen sich die Probleme häufen, steht die Bundesregierung mit Hilfen an
der Seite dieser Kommunen. Auch das ist eine gute
Nachricht.
({2})
Drittens. Mit diesem Bericht gibt die Bundesregierung im Prinzip Entwarnung. Er enthält nämlich keinerlei Anhaltspunkte, die die Aufregung rechtfertigen würden,
({3})
die zur Einrichtung dieses Staatssekretärsausschusses
geführt haben.
Ich zitiere einmal aus dem Bericht. Erstes Zitat:
Die Bundesregierung steht zur Freizügigkeit und
Deutschland profitiert davon.
({4})
- Applaus. Danke schön.
({5})
Guter Bericht. - Zweites Zitat:
Diese Menschen sind bei uns willkommen.
({6})
Drittes Zitat:
Der größte Anteil der Zugewanderten sind Arbeitnehmer. Sie bestreiten ihren Lebensunterhalt selbst
und tragen damit zugleich zum Wohlstand in unserem Land bei.
({7})
- Das hat auch der Minister gesagt. - Ich würde jetzt am
liebsten zehn Minuten lang diese Sätze wiederholen,
({8})
weil es mich manchmal in diesem Land etwas wahnsinnig macht, dass wir wegen 5 Prozent, die vielleicht nicht
optimal sind, die 95 Prozent, die eigentlich gut sind, aus
den Augen verlieren, und dass damit draußen Stimmung
gemacht wird.
({9})
Also: Wir profitieren von Zuwanderung. Wir heißen die
Menschen willkommen, und gemeinsam bringen wir
dieses Land voran. Wo es Probleme gibt, halten wir die
Augen offen und finden Lösungen. Das ist unser Weg.
Zum Begriff „Versachlichung“. So sachlich, wie wir
heute diskutiert haben, könnten wir die Debatte weiter
führen. Wenn wir sie so sachlich führen würden, brauchten wir keine Staatssekretärsausschüsse, die zur Versachlichung beitragen müssen.
({10})
Denn versachlichen muss man natürlich nur etwas, was
vorher unsachlich war. Dabei ist „unsachlich“ noch eine
freundliche Formulierung für einige der Debattenbeiträge, die uns Anfang des Jahres zu Ohren gekommen
sind.
({11})
Es hat ja nicht einzelner Parteien bedurft, um uns auf
diese Probleme hinzuweisen. Vielmehr haben wir uns
schon im Koalitionsvertrag darauf verständigt, dass wir
den betroffenen Städten und Gemeinden helfen müssen.
Das ist eine richtige Entscheidung gewesen.
Ich will jetzt nicht dieses geflügelte Wort aussprechen; aber ich möchte ein Beispiel nennen: Missbrauch
der EU-Freizügigkeit. Was damit ausweislich des Berichts gemeint ist, ist, dass Menschen zu uns kommen,
dass also Zuwanderung stattfindet. Wenn aber die Menschen zu uns kommen, dann missbrauchen sie nicht die
EU-Freizügigkeit, sondern machen von ihrem Recht auf
Freizügigkeit Gebrauch.
({12})
Das ist so, als würden wir jemandem, der mit 17 oder
18 Jahren die Fahrerlaubnis erhält, vorwerfen, dass er
anschließend mit dem Auto fährt. Probleme bekommt er
freilich, wenn er über eine rote Ampel fährt. Das ist
schon richtig; das ist auch gut so. Aber gerade für einen
Missbrauch oder zumindest für eine Rechtsverletzung
wird mit diesem Bericht kein Datenmaterial vorgelegt.
Ich finde, das muss hier klar gesagt werden;
({13})
denn das ist die Realität in diesem Lande, und von den
realen Gegebenheiten müssen wir ausgehen, sonst können wir keine vernünftige Politik machen. Deswegen
möchte auch ich dazu aufrufen, dass wir miteinander
eine Rhetorik pflegen, die die Dinge klar benennt - das
ist selbstverständlich -, aber gleichzeitig deutlich macht,
dass die Menschen, die hier sind, und die Menschen, die
zu uns kommen, miteinander auskommen müssen.
({14})
Wir werden ohnehin vielfältiger und bunter werden. Das
ist nicht immer einfach.
Als ich hier in Berlin kürzlich in einem großen Wohnblock war, habe ich im Fahrstuhl eine ältere Dame mit
ihrem Rollator getroffen, die mir sagte: Gott sei Dank
sieht man auch einmal wieder ein deutsches Gesicht.
({15})
Im Fahrstuhl hatte ich wenig Zeit für Differenzierungen
und habe mich auch nicht persönlich vorgestellt.
({16})
Ich habe aber auch nicht den blöden Reflex gehabt,
gleich zu denken, dass die Dame ausländerfeindlich ist.
Wir müssen aufpassen, dass wir nicht immer nur in
Schubladen denken.
Ich habe mit Blick auf diese Dame folgende Geschichte vor Augen gehabt: Sie wohnt dort schon Jahrzehnte, und ihr ganzes Umfeld verändert sich. Da sind
Leute weggezogen, mit denen sie lange zusammengewohnt hat. Da sind vielleicht auch Leute verstorben, mit
denen sie befreundet war. Jetzt leben dort andere Menschen. Da geht es plötzlich anders zu. Es gibt andere
Bräuche; es riecht vielleicht auch anders. Es ist in diesem Hause vielleicht auch zu Zeiten laut, zu denen es
vorher nicht laut war. Das alles führt zu Irritationen. Die
Veränderungen müssen wir erst einmal annehmen und
auch gestaltend wirken. Ich frage mich, ob in diesem
Haus über die Hausordnung hinaus einmal jemand darangegangen ist, die Menschen neu miteinander in Beziehung zu setzen, dafür zu werben, dass man sich neue,
gemeinsame Spielregeln gibt. Vielfalt, Recht und Gesetz
und Spielregeln sind keine Gegensätze, sondern gehören
zusammen. Wir müssen also Vielfalt gestalten. Ich bin
der Überzeugung: Wenn wir Vielfalt gut gestalten wollen, dann brauchen wir positive Zukunftsbilder.
Ich probiere das einmal. Also: Deutschland hat
60 Jahre Erfahrung mit Arbeitsmigration. Wir haben
Dinge falsch gemacht. Wir haben aber auch viele Dinge
gut gemacht. In jedem Fall haben wir eine Menge gelernt. Wir wissen jetzt, was gutes Zusammenleben fördert und ausmacht. Wir wissen: Sprache ist der Schlüssel. Wer würde dem in diesem Haus widersprechen?
({17})
Wir wissen: Auf gute Bildung kommt es an. Gute Bildung führt dazu, dass die Menschen ihre Potenziale entwickeln und in die Gemeinschaft einbringen können. Ja,
wir setzen jetzt eine Frist von sechs Monaten. Aber wir
tun in diesen sechs Monaten alles, damit die Menschen
in Arbeit kommen können, damit sie hier ihre Talente
einbringen können; denn jedes Talent wird in einem
Land gebraucht, in dem künftig weniger Menschen leben werden. Wir brauchen diese Menschen, um unseren
Wohlstand zu halten. Wir sehen die Sehnsucht der Menschen, die Sehnsucht nach Aufstieg, nach einer guten
Zukunft für sich selbst und ihre Kinder und vielleicht
auch den Willen, denen, die zurückgeblieben sind, zu
zeigen: Ja, wir haben etwas gewagt. Jetzt wollen wir
auch gewinnen. - Wir machen uns diese Potenziale und
diese Kraft zunutze. Aus diesen individuellen Lebenswegen erwächst ein Nutzen für Deutschland, wenn wir
das so wollen.
Im Bericht heißt es: Wir heißen die Menschen willkommen. Da heißt es nicht: Wir heißen die Menschen,
die willkommen sind, willkommen. Frau Jelpke, das will
ich Ihnen so sagen. Wir heißen die Menschen willkommen. Es finden sich in diesem Bericht keinerlei Hinweise darauf, dass wir Unterscheidungen treffen. Es
kann nämlich keine geteilte Willkommenskultur geben.
Wenn wir die Willkommenskultur teilen, dann schaffen
wir kein Willkommen, sondern stellen das Willkommen
unter Vorbehalt. Damit schaffen wir keine Willkommenskultur, sondern neue Vorbehalte.
Natürlich kann man die Zuwanderung auch nicht einfach laufen lassen. Man muss sie steuern, man muss sie
gestalten. Das tun wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Freizügigkeit. Wir können nicht alle Probleme
der Welt lösen, schon gar nicht hier.
({18})
Deswegen ist mir in der aktuellen Situation, in der so
viele Flüchtlinge zu uns kommen, weil sie vor Folter,
Krieg und Vergewaltigung, vor Terror fliehen müssen,
wichtig, dass wir die Aufnahmebereitschaft in der Bevölkerung erhalten. In meinem eigenen Wahlkreis gibt es
Ortsteile, in denen ein Viertel der dort lebenden Menschen Flüchtlinge sind. Das ist schwierig; aber es ist
auch toll, was ich dort an Hilfsbereitschaft erlebe. Ich
möchte, damit wir das nicht aufs Spiel setzen, dass wir
deutlich machen: Wir brauchen eine gesteuerte und vernünftige Zuwanderung. Wir können die Dinge nicht laufen lassen.
Wir wollen unterschiedliche Wege nach Deutschland
offenhalten, aus humanitären Gründen, für die Sicherung
des Fachkräftebedarfs usw.
({19})
Deswegen können wir es auch mittragen, dass eine Frist
von sechs Monaten eingeführt wird, die für EU-Bürger
gilt, die zur Arbeitssuche einreisen; sie haben in diesen
sechs Monaten Zeit, Arbeit zu finden. Der Europäische
Gerichtshof räumt uns die Möglichkeit einer Befristung
ausdrücklich ein. Weiterhin wird der Einzelfall betrachtet; es gibt keinen Automatismus. Es ist vorgesehen, dass
jemand, der sich ernsthaft um Arbeit bemüht, weiter
hierbleiben kann.
Der Gesetzentwurf enthält auch manches, was sich
Sozialdemokraten alleine vielleicht nicht ausdenken
würden. Aber er enthält auch kluge Vorschläge.
Frau Jelpke, ich schätze Sie,
({20})
und Sie haben ein großes Herz. Das meine ich ernst.
Aber selbst Sie wollen doch kein Kindergeld an Kinder
zahlen, die es gar nicht gibt.
({21})
Deswegen ist es doch klug, wenn wir Vorkehrungen treffen, dass wir Kindergeld wirklich nur an diejenigen zahlen, die auch kindergeldberechtigt sind.
({22})
Es ist auch sinnvoll - der Bundesminister hat darauf
hingewiesen -, dass wir prüfen, ob wir die Lebenshaltungskosten in den Herkunftsländern betrachten, wenn
die Kinder dort leben und nicht hier bei uns. Dass man
Schwarzarbeit und Scheinselbstständigkeit bekämpft, ist
auch im Interesse der Linken. Denn auch Sie wollen gemeinsam mit uns für ordentliche Verhältnisse auf dem
Arbeitsmarkt sorgen. Deswegen sind diese Regelungen
im vorliegenden Gesetzentwurf ebenfalls sinnvoll.
({23})
Meine Damen und Herren, ich möchte mit dem
schließen, was ich eingangs gesagt habe. Wir haben Probleme, die sich auf einige wenige große Kommunen beziehen. Dort müssen die Hilfen jetzt auch schnell ankommen. Aber wir profitieren von Freizügigkeit. Wir
heißen die Menschen hier willkommen, und wir wissen
seit der Vorlage des Berichts des Staatssekretärsausschusses, dass der größte Anteil derjenigen, die zu uns
kommen, den Lebensunterhalt selbst finanzieren kann
und zum Wohlstand in diesem Land beiträgt. Gute Nachrichten!
Vielen Dank.
({24})
Für Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege
Volker Beck.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gute
Rede, Herr Castellucci, vor allen Dingen der erste Teil,
in dem Sie sich nicht zum Gesetzentwurf geäußert haben.
({0})
Die Freizügigkeit in der EU ist eine der wichtigsten
Errungenschaften des europäischen Einigungsprozesses und einer der sichtbarsten Vorzüge Europas
für die Bürgerinnen und Bürger.
So steht es im Gesetzentwurf. Das ist richtig, und so weit
gehen ungefähr die Gemeinsamkeiten zwischen uns und
den Vorstellungen der Koalition. Richtig ist auch: Sie
entlasten die Kommunen mit 25 Millionen Euro im Jahr.
Das ist aber bei weitem nicht ausreichend. Das ist angesichts der Problemlage eher ein Witz.
({1})
Aber dieser Gesetzentwurf - der Minister hat es eingangs erwähnt - hat eine Geschichte. Er ist die Konsequenz der Kampagne der CSU unter dem Motto „Wer betrügt, der fliegt“. Ich meine jetzt nicht Frau Haderthauer;
ich meine die Bulgaren und Rumänen, denen Sie das unterstellt haben. Damit haben Sie eine Kampagne betrieben und eine Welle gemacht, auf der die AfD locker in
drei Landtage surfen konnte. Das gehört zu Ihrer politischen Verantwortung; denn die Fakten geben Ihre Kampagne nicht her.
({2})
Ich habe die Bundesregierung wiederholt gefragt, ob
sie jetzt Zahlen hat, weil sie nicht im Bericht stehen. Die
Bundesregierung hat geantwortet: Für das Jahr 2013
wurden in der Polizeilichen Kriminalstatistik in Sachen
Sozialversicherungsbetrug 10 Bulgaren und 50 Rumänen erfasst - als Tatverdächtige wohlgemerkt, nicht als
Verurteilte bzw. festgestellte Straftäter. In Bezug auf Sozialleistungsbetrug - Kindergeld gehört dazu - waren es
44 Bulgaren und 91 Rumänen, wiederum als Tatverdächtige.
Im Gesetzentwurf finden wir eine Regelung zur Kindergeldzahlung, gegen die ich in der Sache nichts habe.
Sie war übrigens schon einmal Gegenstand einer Frage
der Kolleginnen Franziska Brantner und Lisa Paus, die
sie in der Fragestunde an die Regierung gerichtet haben.
Damals ging es aber nicht um Bulgaren und Rumänen.
Es ging auch nicht um 40 oder 90 Tatverdächtige. Es
ging vielmehr um die Zahl von 2 400 Fällen mit einem
Schaden von 6,5 Millionen Euro durch Kindergeldbetrug. Laut Rechnungshofbericht von 2009 waren die Täter deutsche Beamte. Es geht also nicht um eine Regelung, die die schlimmen Sozialbetrüger aus dem
europäischen Ausland betrifft, sondern um eine Regelung, die Sie machen mussten, weil es bei den Familienkassen keine Ordnung und keinen Datenabgleich gibt.
Es ist richtig, den Doppelbezug zu verhindern. Aber soweit ich weiß, sind unter deutschen Beamten überwiegend keine Rumänen und Bulgaren; das ergibt sich aus
der Natur der Sache. Daher ist es infam, diesen EU-Bürgern die Schuld in die Schuhe zu schieben. Das zeigt die
Verlogenheit der ganzen Debatte.
({3})
Genauso infam und absurd ist das, was Sie im Hinblick auf das EU-Freizügigkeitsrecht vorschlagen. Sie
haben wohlweislich die gegenwärtige Rechtslage als den
Regelungsgehalt Ihres Gesetzentwurfs dargestellt. Da
wäre ich bei Ihnen; denn die geltende Rechtslage ist vernünftig. Wer ernsthaft Arbeit sucht, darf bei uns länger
als sechs Monate bleiben. Das kann die Ausländerbehörde relativ gut beurteilen. Sie muss nur darauf achten,
was der Betreffende macht, um Arbeit zu finden. Wenn
er nichts tut, muss er schon nach heutiger Rechtslage
Deutschland verlassen, weil es ohne ernsthafte Arbeitssuche keinen Grund zum Aufenthalt gibt. Aber Sie verlangen nun von den Ausländerämtern, was nur die
Arbeitsagenturen leisten können. Die Ausländerämter
sollen beurteilen, ob die Betreffenden mit Aussicht auf
Erfolg Arbeit suchen. Wie soll das der Jurist in der
Ausländerbehörde, der Paragrafen, aber nicht den Arbeitsmarkt kennt, überhaupt beurteilen? Diese sinnlose
Regelung wird zu vielen Prozessen und falschen Entscheidungen in der Sache führen.
({4})
Nun zum Erschleichen der Freizügigkeit. Herr de
Maizière, ich weiß, dass Sie ein kluger Mann und ein
sehr guter Jurist sind - ich bin keiner - und sich auskennen. Warum Sie sich das von Herrn Seehofer in den Gesetzentwurf haben diktieren lassen, ist mir schleierhaft.
Sie wollen das Erschleichen der Freizügigkeit mit
Wiedereinreisesperren belegen und so Sozialbetrug bekämpfen. Nun besagt die EU-Freizügigkeitsrichtlinie in
Artikel 35 klipp und klar: Eine Entscheidung, die die
Freizügigkeit von Unionsbürgern beschränkt und nicht
aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und
Gesundheit erlassen wird, darf nicht mit einem Einreiseverbot des Aufnahmemitgliedstaats einhergehen. - Diese
Regel ist klipp und klar. Ihre Regelung ist also von vorne
bis hinten EU-rechtswidrig und verstößt gegen den
Wortlaut europäischen Rechts. Wie Sie wissen, sind öffentliche Ordnung und Sicherheit im europäischen Recht
nicht so zu verstehen wie im deutschen Polizeirecht.
Dazu gibt es eine Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes. Dieser hat in einem Urteil gesagt: Die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung genügt für sich
allein nicht. - Dann genügt das falsche Ausfüllen eines
Sozialhilfeantrags oder eines ALG-II-Antrags erst recht
nicht. Ihre Regelung ist also Makulatur. Der EuGH muss
sie aufheben, wenn Sie nicht zu Verstand kommen. Ich
verstehe nicht, wie Sie nach Ihrer Rede einen solchen
europarechtswidrigen Unsinn mitmachen können. Ihre
Regelung dient nur dazu, die EU-Freizügigkeit in ihrem
Bestand zu diskreditieren. Das sollten wir nicht tun. Im
Volker Beck ({5})
Gegenteil: Wir sollten sie verteidigen gegen die Rattenfänger von der AfD.
({6})
Herr Kollege Beck, auch bei großzügigster Auslegung ist die Redezeit limitiert.
Das ist schade. Aber im Wesentlichen bin ich fertig.
Streichen Sie aus Ihrem Gesetzentwurf den Teil betreffend die EU-Freizügigkeit! Über die Kindergeldregelung - weil sie in einem anderen Zusammenhang richtig
ist - und die Hilfe für die Kommunen können Sie mit
uns jederzeit reden.
({0})
Bevor ich jetzt unserer Kollegin Andrea Lindholz für
die CDU/CSU das Wort erteile, möchte ich ihr herzlich
gratulieren, weil sie heute Geburtstag hat. Herzlichen
Glückwunsch und ein glückliches neues Lebensjahr!
({0})
Bitte, Frau Lindholz.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Zuerst möchte ich dem Staatssekretärsausschuss für den detaillierten Bericht danken. Auf dieser Basis können wir uns einer zentralen Fragestellung
zuwenden: Wie kann die europäische Freizügigkeit mit
den nationalen Sozialleistungssystemen in Einklang
gebracht werden? Der Bericht zeigt uns, dass die Migrationsströme aus den EU-Staaten nach Deutschland
zunehmen. Die steigende Mobilität der Europäer ist
grundsätzlich zu begrüßen und gewollt. Allerdings ist
die wesentliche Ursache dieses Zuwachses die anhaltend
schwierige wirtschaftliche Lage in Teilen Europas.
Die nationalen Sicherungssysteme werden von jedem
Mitgliedstaat selbstständig gestaltet und finanziert.
Deutschland ist durch seine Wirtschaftskraft in der Krise
zum Stabilitätsanker für unzählige Europäer geworden,
und darauf können wir stolz sein.
({0})
Natürlich profitiert Deutschland auch von der unkomplizierten Zuwanderung im Rahmen der europäischen
Freizügigkeit. Der Zuzug von Facharbeitern aus der EU
macht es gerade kleinen und mittleren Unternehmen
leichter, dem Fachkräftemangel zu begegnen. Wir brauchen zweifellos die Zuwanderung aus der EU. Aber die
europäische Freizügigkeit darf auch nicht sakrosankt
sein. Wir dürfen nicht nur ihre Vorteile sehen, sondern
wir müssen auch Probleme und Fehlentwicklungen ansprechen, sachlich diskutieren und die Freizügigkeit bei
Bedarf neu ordnen.
({1})
Der Bericht belegt eindeutig, dass die Freizügigkeit
auch Probleme verursacht. Binnen Jahresfrist ist die
Zahl der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten aus Rumänien und Bulgarien in einigen deutschen Kommunen
um 40 Prozent, 80 Prozent, ja sogar um 147 Prozent gestiegen. Vor allem in den strukturschwachen Regionen
und den Großstädten führt das zu erheblichen Problemen, und das bestätigen uns die betroffenen Kommunen
auch immer wieder.
Es ist daher nur konsequent, dass der Bund noch in
diesem Jahr 35 Millionen Euro bereitstellen wird - und
das sind keine Peanuts -, um die Kommunen bei den
Kosten für Wohnung, Heizung und Gesundheitsvorsorge
zu entlasten.
({2})
- Das mögen für Sie Peanuts sein, für mich sind es keine
Peanuts.
Ebenfalls werden Integrations- und Sprachkurse an
Brennpunkten intensiviert. Der Bund stellt über das Programm „Soziale Stadt“ in den nächsten Jahren 200 Millionen Euro zur Verfügung, die die Kommunen durch eigene, passgenaue Lösungen abfragen können. Die
Bundesregierung nimmt damit ihre Verantwortung gegenüber den deutschen Kommunen und Europa gleichermaßen wahr.
Es wäre aber falsch, zu glauben, dass wir diesen Herausforderungen, die die europäische Binnenmigration
mit sich bringt, alleine mit der Bereitstellung von Steuergeldern begegnen könnten. Die Wahlergebnisse der letzten Monate zeigen, dass auch in Deutschland die öffentliche Zustimmung für ein zusammenwachsendes Europa
keine Selbstverständlichkeit ist. Als Bundespolitiker tragen wir besondere Verantwortung, das Vertrauen unserer
Bevölkerung in die Europäische Union zu stärken.
({3})
Wenn die europäische Freizügigkeit missbraucht
wird, um vom deutschen Sozialleistungssystem zu profitieren - da genügt ein einzelner Fall -, dann leidet gerade dieses Vertrauen. Betrug und Missbrauch dürfen
wir nicht dulden; denn auch das schadet der europäischen Idee.
({4})
- Ich hatte sie nicht, Herr Kollege Beck. Ich bin erst seit
September letzten Jahres im Deutschen Bundestag.
Der vorliegende Gesetzentwurf zur Änderung des
Freizügigkeitsgesetzes setzt ein wichtiges Signal: Die
Bundesregierung benennt Missstände im Rahmen der
europäischen Integration und will sie auch beheben. Der
Gesetzentwurf stellt das Erschleichen von Aufenthaltskarten unter Strafe. Im Betrugsfall können Wiedereinreisesperren von bis zu fünf Jahren verhängt werden. Der
Aufenthalt zur Arbeitssuche wird generell auf sechs Monate befristet. Wer nach einem halben Jahr keine begründete Aussicht auf Arbeit hat, muss ausreisen. An dieser
Stelle möchte ich dem Kollegen Beck zustimmen: Auch
nach meiner Auffassung sollten wir die begründete Aussicht in der Gesetzesbegründung an konkrete und überprüfbare Kriterien knüpfen, um den Gerichten eine einheitliche Rechtsprechung zu ermöglichen. Vorschläge
hierzu habe ich selbst unterbreitet.
Die Behörden werden im Kampf gegen Schwarzarbeit und Scheinselbstständigkeit besser vernetzt. Die Gewerbeämter sollen schon den ersten Verdachtsfall auf
Scheinselbstständigkeit prüfen und ihn direkt der Finanzkontrolle Schwarzarbeit beim Zoll melden. Schließlich werden durch die Steueridentifikationsnummer, die
jetzt angegeben werden muss, Missbrauch und vor allen
Dingen Doppelzahlungen verhindert. Dieses Maßnahmenbündel stärkt das Vertrauen in Europa, und es zeigt
auch, dass die Bundesregierung handelt.
Ich sehe aber nicht nur eine Gefahr für die Zustimmung zu Europa in Problemen oder im Missbrauch. Zum
Beispiel wirft auch der legale Bezug von Kindergeld Gerechtigkeitsfragen auf, die wir nicht einfach ignorieren
sollten. Ich begrüße daher ausdrücklich den im Bericht
enthaltenen Prüfauftrag. EU-Bürger, die in Deutschland
arbeiten, haben einen legalen Anspruch auf Kindergeld,
egal ob ihr Kind in Deutschland oder im europäischen
Ausland lebt. Das ist dem Grunde nach auch richtig. Ist
es aber richtig, dass ein Kind, das zum Beispiel in Polen
lebt, die gleichen 184 Euro Kindergeld erhält wie ein
Kind in Deutschland? Laut Eurostat liegt das Preisniveau für Lebensmittel in Polen um 45 Prozent unter dem
deutschen Niveau.
({5})
Alle Kinder, die in Deutschland leben, werden damit im
Ergebnis schlechtergestellt, unabhängig davon, ob sie
deutsche oder andere Staatsbürger sind.
Daher bin ich der Auffassung, dass wir das Kindergeld an die Lebenshaltungskosten am Wohnort anpassen
sollten.
({6})
Nicht umsonst bzw. aus gutem Grund haben wir eine
solche Abstufung bereits im Unterhaltsrecht und im Einkommensteuerrecht beim Kinderfreibetrag. Das Kindergeld dient ebenso wie der Kinderfreibetrag explizit der
Sicherung des steuerfreien Existenzminimums in
Deutschland.
Die Freizügigkeit ist ein großer Fortschritt. Ich will
sie auch nicht infrage stellen, aber sie muss mit den nationalen Sozialleistungssystemen harmonieren. Ich bin
mir sicher, dass wir hier auf europäischer und nationaler
Ebene Handlungsspielräume haben, die wir nutzen
könnten. Jede Sozialleistung in einem Land hat dort eine
bestimmte nationale Zielvorgabe zu erfüllen. Eine Abstufung des Kindergelds wäre ein Signal für ein gemeinsames Europa, das auch in der Lage ist, offensichtliche
nationale Unterschiede zu berücksichtigen.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank, Frau Kollegin Lindholz. - Damit
schließe ich die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 18/2581, 18/960 und 18/2470 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Weil sich kein Widerspruch erhebt, gehe ich
davon aus, dass Sie mit den Überweisungen einverstanden sind.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Maisch, Friedrich Ostendorff, Steffi Lemke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Tierschutz ernst nehmen - Tierleid verhindern
Drucksache 18/2616
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Nicole Maisch, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Als Christian Schmidt, der Agrarminister, letzte Woche
seine Initiative für mehr Tierwohl vorgestellt hat, war
ich zunächst einmal überrascht, nicht darüber, dass er die
Initiative ergriffen hat - irgendwann in dieser Legislatur
musste ja einmal eine Initiative kommen -, sondern darüber, dass er dieses Werk „Eine Frage der Haltung“ genannt hat. Das ist clever plagiiert. Das ist nämlich ein
grüner Slogan, mit dem wir nicht zuletzt bei der Landtagswahl in Niedersachsen Jahrzehnte schwarzer Agrarpolitik abgelöst haben.
({0})
Aber bei Tierschutz führen wir keine Urheberrechtsdebatten. Da können Sie sich die Etiketten gern nehmen,
wenn denn auch der Inhalt stimmt. Das ist in diesem Fall
leider nicht so. Das ist ein Etikettenschwindel gegenüber
der Bevölkerung in diesem Land.
({1})
Meine Damen und Herren, der Tierschutz braucht
klare Regeln, keine Lippenbekenntnisse, und das sehen
nach einer aktuellen Umfrage von PROVIEH 91 Prozent
der Deutschen so. 91 Prozent der Deutschen möchten
klare Gesetze, bessere Gesetze zum Schutz der Tiere.
Aber diese Bundesregierung und diese Koalition sind offensichtlich nicht dieser Meinung.
Die Tierwohlinitiative des Ministers will ausschließlich freiwillige Verbindlichkeit. Das ist nicht nur semantisch interessant, sondern auch weitgehend wirkungslos.
Sie spielen auf Zeit - und das auf Kosten der Tiere.
({2})
Für echten Tierschutz müssten Sie Haltung zeigen,
müsste der Minister Haltung zeigen, und zwar vor allem
gegenüber der eigenen Fraktion. Wer hat denn bei der
letzten Tierschutznovelle auch noch die kleinste Verbesserung kleingehäckselt? Das waren Abgeordnete der
Union. Das waren die eigenen Staatssekretäre von Ilse
Aigner.
Die Koalition sagt: informelle Gesprächsrunden zum
Tierschutz. Wir sagen: Dieses Parlament, dieser Raum
hier ist der Ort, um über mehr Tierschutz zu debattieren.
({3})
Deshalb haben wir Ihnen einen Antrag vorgelegt, in dem
wir Ihnen das präsentieren wollen, was nicht nur die
Grünen, sondern auch Millionen von Bürgerinnen und
Bürgern in diesem Land von der Politik erwarten. Ermöglicht werden muss nämlich ein würdiges Dasein für
die Tiere in diesem Land. Das bedeutet: Endlich Schluss
machen mit Qualzuchten!
Ich sage Ihnen: Die Leute in diesem Land wollen
keine Puten mehr, die unter dem Gewicht ihres eigenen
Brustfleischs zusammenbrechen. Die Leute wollen keine
Sauen mehr, die so viele Ferkel werfen, dass ein Teil davon auf der Steilkante kaputtgeschlagen werden muss.
Die Leute in diesem Land wollen auch keine Rassehunde, die so dicke Köpfe haben, dass die Welpen nicht
mehr auf natürlichem Wege geworfen werden können,
sondern dass der Tierarzt per Kaiserschnitt nachhelfen
muss. Das ist pervers. Das kann so nicht bleiben. Darüber muss man nicht lange reden, sondern das muss ein
Ende haben.
({4})
Ich sage Ihnen: Die Ställe in diesem Land müssen
sich den Bedürfnissen der Tiere anpassen, nicht die Tiere
müssen den Bedürfnissen der Ställe gemäß zurechtgeschnippelt werden.
Kühe haben Hörner, Hühner haben spitze Schnäbel,
und Schweine haben Ringelschwänze. Eine Tierhaltungsform, der dazu nichts anderes einfällt, als zu amputieren und abzuschneiden, statt für Auslauf, Bewegung
und Beschäftigung der Tiere zu sorgen, hat ihre ethische
Legitimation verspielt.
({5})
Der Minister tippt in seiner Tierwohlinitiative viele
wichtige Themen an. Das muss man ihm lassen. Er hat
die richtigen Überschriften gesetzt. Wenn er aber im Zusammenhang mit dem illegalen Welpenhandel die Tierschutzverbände zum runden Tisch einlädt, dann muss er
auch darauf hören, was die Fachleute sagen. Diese sagen
zum Beispiel, Hunde müssen gekennzeichnet werden.
Das findet Staatssekretär Bleser aber überflüssig. Ich
finde, man braucht sich nicht zusammenzusetzen, um zu
reden, wenn man den Rat der Experten dann doch nicht
hören möchte.
({6})
Wenn man wirklich für mehr Tierwohl sorgen
möchte, dann muss man das vergurkte Tierschutzgesetz
der vergangenen Legislaturperiode angehen. Das sagen
nicht nur die Grünen, sondern das sagt auch die EU-Tierversuchsrichtlinie. Diese schreibt eine faire Abwägung
zwischen Tierschutz- und Forschungsinteressen vor. Das
sind zwei Interessen von Verfassungsrang, die gegeneinander abgewogen werden müssen.
Ich sage Ihnen: Wenn es immer noch so ist, dass für
das Antifaltenmittel Botox jedes Jahr Tausende von
Mäusen totgespritzt werden, dann stimmt doch irgendetwas nicht bei dieser Abwägung. Botox auf der einen
Seite, Mäuse totspritzen auf der anderen Seite. Ist das
wirklich eine faire Abwägung, wenn wir nicht einmal in
der Lage sind, diese Praxis zu beenden? Schließlich gibt
es schon tierversuchsfreie Alternativen.
({7})
Ich finde, dadurch wird sehr deutlich: Sie haben bei
der Tierschutznovelle Dinge verschlafen und schlecht
umgesetzt. Weil im Zusammenhang mit dem Tierschutz
in diesem Land so viel im Argen liegt, brauchen wir
schlagkräftige Strukturen in Deutschland, um die Tiere
zu schützen.
In einigen Bundesländern haben wir gute Erfahrungen mit dem Verbandsklagerecht für Tierschutzorganisationen gemacht. In Hessen und in Baden-Württemberg
hat man gute Erfahrungen mit einem Beauftragten bzw.
mit einer Beauftragten für Tierschutz gemacht. Das
möchten wir auch für die Bundesebene.
({8})
Meine Damen und Herren, Tierschutz ist eine Frage
der Haltung. Damit hat der Minister recht. Wir werden
ihn daran messen, ob er bei dieser Frage auch Rückgrat
beweisen kann und wirklich etwas Substanzielles zum
Schutz der Tiere in diesem Land erreichen wird.
Ich danke Ihnen.
({9})
Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU
der Kollege Dieter Stier.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir beraten
heute über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Tierschutz ernst nehmen - Tierleid
verhindern“.
({0})
Zunächst einmal bin ich den Fraktionsgeschäftsführern sehr dankbar, dass wir heute ein landwirtschaftliches Thema und damit ein Thema, das in großer Breite
den ländlichen Raum in unserem Land tangiert, nicht
fünf Minuten vor Mitternacht, sondern jetzt debattieren
können.
({1})
Ich glaube im Übrigen, Agrarthemen haben es verdient, zur besten Sendezeit im Hohen Haus beraten zu
werden.
({2})
Wie ernst die Union das gesellschaftlich bedeutende
Thema des Tierwohls nimmt und wie viel Aufmerksamkeit sie diesem Thema schenkt, das konnten wir mit der
gerade von Ihnen zitierten Tierwohlinitiative unseres
Bundeslandwirtschaftsministers verdeutlichen,
({3})
die in der vorigen Woche einer breiten Öffentlichkeit
vorgestellt wurde und die Sie gestern persönlich mit ihm
im Agrarausschuss debattieren konnten. Herr Staatssekretär, ich bitte Sie, dem Minister noch einmal einen
herzlichen Dank auszurichten.
({4})
Diese Große Koalition wird dem Tierwohl - das haben wir auch im Koalitionsvertrag vereinbart - künftig
noch mehr Bedeutung beimessen als bisher. Meine Damen und Herren, wir leben in einem Land, das bereits
heute die höchsten Tierschutzstandards der Welt aufzuweisen hat. Gleichwohl gibt es nichts, das man nicht
noch besser machen kann. Sie, liebe Antragsteller, versuchen nun, aufgeschreckt vom positiven Echo auf die
Initiative des Ministers, mit Ihrem eingebrachten Antrag
den erfolgreich eingeschlagenen Weg zu mehr Tierwohl
wieder einmal öffentlich zu beschädigen, anstatt an konstruktiven Lösungen mitzuwirken.
({5})
Liebe Frau Maisch, ich sage es Ihnen gleich zu Beginn: Ihr Kalkül mit dem Bemühen der grünen Angstindustrie wird nicht aufgehen. Eine verantwortungsbewusste Politik, geschätzte Kollegen der Opposition,
erkennt man immer daran, dass man Lösungsmöglichkeiten aufzeigt, die realistisch und auch umsetzbar sind.
({6})
Diesem Ziel fühlen wir uns als Union verpflichtet.
Wie diese Tierschutzvorstellungen in einer Gesellschaft mit modernen landwirtschaftlichen Produktionsmethoden, aber auch Verbraucher- und Tierschutzverbandsinteressen in Einklang zu bringen sind, wird im
Eckpunktepapier von Minister Schmidt umfassend und
in zehn Punkten fundiert festgeschrieben.
({7})
Es ist eine tragfähige, programmatisch dichte Tierschutzkonzeption geworden, die uns über die Legislaturperiode hinaus verpflichtet. Der von uns befürwortete
und mitgetragene Maßnahmenkatalog für mehr Tierwohl
ist ambitioniert, seine Vorhaben sind aber realistisch.
Sehr geehrte Kollegen der Bündnisgrünen, nun zu einigen Forderungen aus Ihrem Antrag im Detail. Wenn
ich einen Blick in diesen Antrag werfe, muss ich mit
Enttäuschung feststellen, dass Sie an den tatsächlichen
Erfordernissen eines zeitgemäßen Tierschutzes wieder
einmal völlig vorbei argumentieren. Ihre willkürliche
Zusammenstellung und Auflistung alter Forderungen
zeigt, dass Sie nicht willens sind, einen verantwortlichen
und gesellschaftlich akzeptierbaren Beitrag zum Tierschutz in Deutschland zu leisten, sondern dass Sie Emotionen schüren wollen. Das ist für mich persönlich enttäuschend.
({8})
Drei Strukturelemente liegen Ihrem Antrag zugrunde:
Unterstellungen, Fehleinschätzungen und überdies noch
fachliche Unkenntnis. Lassen Sie mich hierzu nachfolgend einige Beispiele herausgreifen, die das belegen und
Ihren Irrweg aufzeigen werden.
Zuerst möchte ich auf Ihre Unterstellungen eingehen,
mit denen Sie uns vorwerfen, nichts zu unternehmen, obwohl wir im Tierschutz erwiesenermaßen sehr aktiv
sind. Sie fordern in Ihrem Antrag, man müsse Tieren in
der Landwirtschaft ein würdiges Dasein ermöglichen.
Sie haben meine volle Zustimmung für diese Aussage.
Der Punkt ist, dass dies bereits überwiegend der Fall ist.
Mit der erst in der letzten Legislaturperiode erfolgten
Novellierung des Tierschutzgesetzes wurden weitere
Verbesserungen auf den Weg gebracht.
({9})
- Dazu komme ich gleich noch.
Mit der Novelle des Arzneimittelgesetzes wurde der
Antibiotikaeinsatz bereits wirksam gesenkt. Ich bin auch
überzeugt, dass die Initiative der Branche weitere
Verbesserungen bringen wird. Man kann nicht oft genug
öffentlich feststellen, dass wir bereits über höchste Stan4978
dards, auch im europäischen und internationalen Maßstab, verfügen.
({10})
Selbstverständlich gibt es auch schwarze Schafe.
Die vorhandenen Sanktionsmechanismen unserer Tierschutzgesetzgebung geben jedoch heute schon die Möglichkeit, die Verantwortlichen ohne Ansehen der Person
zur Rechenschaft zu ziehen. Ich glaube, auch der Vollzug in den Bundesländern muss hierzu einen Beitrag
leisten.
Ich habe übrigens Vertrauen in unsere Behörden.
Kontrollen und Sanktionen geschehen aber oft auch
ohne mediale Begleitung und reißerische Berichterstattung, sodass es von den ewigen Kritikern nicht wahrgenommen wird.
({11})
Sie unterstellen weiter, wir würden einer ungeregelten
Intensivtierhaltung freien Lauf lassen. Das ist eines Ihrer
absoluten Lieblingsargumente. Erstens haben Sie uns bis
heute keine Definition geliefert, was Sie unter den von
Ihnen häufig gebrauchten Begriffen verstehen. Zweitens
sage ich Ihnen: Jeder Stallneubau in diesem Land bringt
Verbesserungen für das Tierwohl. Es wäre deshalb hilfreich, diese Maßnahmen vor Ort nicht ständig zu verhindern.
({12})
Wir treten zielbewusst mit zahlreichen Maßnahmen
an, um die Haltungsbedingungen weiter zu verbessern.
Es gilt, sie den Bedürfnissen der Tiere weiter anzupassen.
Die Tierwohlinitiative des Landwirtschaftsministers
sieht dabei auch vor, einige nicht kurative Eingriffe bei
Nutztieren zu beenden. Dabei dürfen nach unserer Auffassung aber keine neuen Tierschutzprobleme entstehen.
Wir setzen hier auf einen konsensstiftenden Dialog der
beteiligten Akteure. Sie wollen ausschließlich mit Verboten und Regulierungsinstrumenten gegen landwirtschaftliche Betriebe zu Felde ziehen. Das unterscheidet
uns.
({13})
Forderungen zu stellen, die kein landwirtschaftlicher
Betrieb in der Praxis umsetzen kann, ohne seine ökonomische Existenz und damit seine landwirtschaftliche
Produktion selbst aufs Spiel zu setzen, sind mit uns nicht
zu machen.
Meine Damen und Herren, wir schauen nicht weg,
sondern stellen uns auch den hochkontroversen Tierschutzthemen. Es ist uns klar, dass zum Beispiel die Tötung männlicher Küken in der jetzigen Form von der
Mehrheit der Gesellschaft keine Akzeptanz mehr erfährt.
({14})
Auch hier handeln wir entschlossen. Ergebnisse der Forschung zur Geschlechtsbestimmung an Hühnereiern
werden bereits Anfang 2015 vorliegen. Dank der Tierwohlinitiative wird das BMEL die Umsetzung eines geeigneten Verfahrens zur Geschlechtsbestimmung am Ei
in der Praxis begleiten und damit eine neue Lösung auf
den Weg bringen. Das ist ein Beispiel, an dem deutlich
wird, dass wir die aus der Gesellschaft an uns herangetragenen Tierschutzvorstellungen sehr ernst nehmen.
({15})
Ich begrüße es, dass es in diesem Zusammenhang einen Kompetenzkreis Tierwohl geben wird: Praktiker,
Wissenschaftler und Vertreter von Tierschutzverbänden
und berufsständischen Organisationen werden die Umsetzung politischer Maßnahmen kenntnisreich begleiten
und sich mit eigenen Vorstellungen einbringen. Darüber
hinaus haben wir, schon bevor die Tierwohlinitiative
vorgestellt wurde, in beträchtlichem Maße neue Forschungsmittel in den Agrarhaushalt eingestellt, um die
finanziellen Voraussetzungen dafür zu schaffen, das
Tierwohl zu stärken. Ihr Vorwurf, wir würden die Augen
verschließen und den Nutztieren in der Landwirtschaft
ein würdiges Dasein verwehren, entbehrt jeder seriösen
Grundlage.
({16})
Zweitens. Im Folgenden möchte ich auf den nächsten
großen Schwachpunkt Ihres Antrages, nämlich Ihre wiederkehrende Neigung zu Fehleinschätzungen, eingehen.
Richten wir hierfür unseren Blick einmal exemplarisch
auf die Tiere, die in deutschen Tierheimen untergebracht
sind. Sie verlangen in Ihrem Antrag, die Situation der
Tierheime zu verbessern.
({17})
Gut, dieser Forderung kann ich vorbehaltlos zustimmen.
Das ist richtig, muss unterstützt werden und ist im Koalitionsvertrag vereinbart; wir haben uns dazu bekannt.
Doch dann wird es abenteuerlich: Sie fordern nämlich,
die „Versorgung von abgegebenen oder entlaufenen
Haustieren auch in Fällen überdurchschnittlicher Belastungen“ der Tierheime zu ermöglichen. Das klingt zunächst harmlos und tierlieb. Doch wissen Sie eigentlich,
was das konkret heißt? Das ist das Gegenteil von Tierschutz. Schlimmer noch: Es ist falsch verstandener Tierschutz. Sie leisten damit einer unverantwortlichen Überfüllung von Tierheimen rücksichtslos Vorschub, und
zwar auf Kosten von Tieren und Gesellschaft. Sie fordern hier praktisch die Überbelegung.
Wohin die fatalen, unsinnigen Forderungen führen,
die Sie hier aufstellen, kann ich Ihnen heute aus meiner
Heimatstadt Weißenfels brandaktuell - in der Mitteldeutschen Zeitung vom Dienstag dieser Woche nachzulesen berichten. Dort leitet eine nach Ihrem Verständnis beDieter Stier
geisterte Tierschützerin ein Tierheim, dem Ende des Jahres die Schließung droht, und zwar weil die Leiterin die
Forderung aus Ihrem Antrag wortwörtlich umgesetzt
hat. Die Mängelliste ist erschreckend: kein Buch über
den Bestand an Katzen, Heim- und Quarantänezimmer
überbelegt, weder Büro noch Behandlungsraum vorhanden, Leiterin ohne Befähigungsnachweis, und die
Katzen fristen ihr Dasein im Dunkeln, bei hygienischen
Problemen und baulichen Mängeln. Die Tierheimleiterin
- so kommuniziert es die Facebook-Community sammle regelrecht Katzen, ohne dass sie auch nur eine
herausrücke. Das, liebe Kollegen, ist nicht das, was wir
wollen.
Drittens. Zuletzt will ich auf den Aspekt der fachlichen Unkenntnis eingehen. Selbstverständlich werde ich
das auch heute am Beispiel Ihrer erneuten Forderung
nach dem Verbot des Schenkelbrandes, einer langjährig
bewährten Methode der Kennzeichnung von Pferden,
tun.
({18})
Hier fühle ich mich nicht nur als Landwirt, sondern auch
als ausgebildeter Pferdewirtschaftsmeister berufen, Ihnen einiges in Erinnerung zu rufen, was Sie offenbar
schon vergessen haben.
({19})
Dass Sie dieses Thema wieder hervorholen, obwohl wir
es bereits in der letzten Legislaturperiode erschöpfend
parlamentarisch beraten und abgeschlossen haben,
({20})
zeigt nur, dass Ihnen offenbar die Themen ausgehen. Es
gab eine Anhörung im Agrarausschuss, die alle wesentlichen Aspekte fachlich beleuchtete.
({21})
Das Parlament hat mit großer Mehrheit und nach klarer,
reiflicher Überlegung und Abwägung der Argumente
entschieden.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, lassen Sie
mich am Ende noch einmal grundsätzlich festhalten: Die
wachsende Bedeutung der Tierschutzbelange in der Gesellschaft verlangt nach der richtigen Antwort, also nach
unserer Tierwohlinitiative. Als Abgeordnete dieses Hauses unterstützen wir den Tierschutz mit ergänzenden
Mitteln. Wir werden das Thema kritisch begleiten, wo es
uns geboten erscheint.
Wir lehnen Ihren Antrag ab, weil wir den Tierschutz
bereits sehr ernst nehmen, weil wir bereits Tierleid verhindern und - ich ergänze Ihre Überschrift - weil wir
uns bereits heute für mehr Tierwohl einsetzen.
Vielen Dank.
({22})
Für die Linke spricht jetzt der Kollege Hubertus
Zdebel.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und
Herren! Es ist sehr zu begrüßen, dass wieder verstärkt
über Tierschutz und Tierwohl geredet und diskutiert wird,
auch hier im Deutschen Bundestag. Gesellschaftlicher
Druck konnte zwar bereits einige Verbesserungen zum
Wohl der Tiere durchsetzen, doch wir sind noch weit von
einem wirksamen Tierschutz entfernt. Die Linke ist der
Meinung, dass Tiere als Wesen zu akzeptieren sind und
nicht wie Sachen behandelt werden dürfen.
({0})
Darüber haben wir in der Vergangenheit immer wieder gestritten. In der vergangenen Legislaturperiode haben wir viele Anträge dazu eingebracht, zum Beispiel
Eindämmung von Megaställen, zum Ausstieg aus der
Qualzucht, zur Einführung eines Verbandsklagerechts
für Tierschutzverbände und vieles mehr. Ich füge hinzu:
Wäre in der vergangenen Legislaturperiode nur einer unserer Vorschläge tatsächlich aufgegriffen worden, wären
wir, was das Tierwohl angeht, jetzt sicherlich ein erhebliches Stück weiter.
({1})
Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass
die Akzeptanz in der Bevölkerung gegenüber der Agrarund Lebensmittelindustrie schwindet.
Eigentlicher Hintergrund für die heutige Diskussion
- das ist deutlich geworden - ist die in der vergangenen
Woche angekündigte sogenannte Tierwohlinitiative des
Landwirtschaftsministers. Wir werden diese Tierwohlinitiative in den Punkten unterstützen, wo den Ankündigungen auch Taten folgen, die zu spürbaren Verbesserungen für das Tierwohl führen. Das ist völlig klar. Wir
werden den Minister aber auch scharf kritisieren und
stellen, wenn es bei der jetzigen Ankündigungspolitik
bleibt.
({2})
Wir finden es erst einmal gut, dass in dem Eckpunktepapier einige Probleme erkannt und angesprochen werden,
aber dennoch gibt es von unserer Seite Kritik; denn die sogenannte Tierwohlinitiative droht zu einem Scheinriesen, vergleichbar mit dem bei Jim Knopf, zu werden: Je
näher man diesem Riesen kommt, desto kleiner wird er.
Das Eckpunktepapier des Ministers setzt auf die Freiwilligkeit der Agrar- und Lebensmittelindustrie. Dass
aber Modelle der freiwilligen Selbstverpflichtung nichts
bringen, zeigen Erfahrungen aus der Vergangenheit. Dafür gibt es zahlreiche Beispiele, egal ob bei der Dispoabzocke der Banken oder bei der Korruption im Gesundheitswesen. Ohne vernünftige gesetzliche Regelung
setzen sich eben nicht jene Betriebe durch, die auf so4980
zial-ökologische Verantwortung setzen. Sie werden
schlicht von denjenigen verdrängt, die ausschließlich
ihre Profite im Blick haben.
({3})
Wir brauchen vernünftige - ich betone: vernünftige gesetzliche Regelungen und wirksame Kontrollen, doch
diese sind in der Tierwohlinitiative nicht zu finden. Die
taz hat dies zu Recht mit „Warme Worte, keine Taten“
kommentiert. In der Tat: Das Abschneiden von Schwänzen bei Schweinen, das Kupieren von Schnäbeln bei Geflügel oder das millionenfache Töten männlicher Küken
werden zwar angesprochen, aber gehandelt wird nicht.
Mit dieser Tierquälerei muss aber sofort Schluss sein.
({4})
Daher ist der vorliegende Antrag der Grünen zu begrüßen, weil er konkrete gesetzliche Maßnahmen in diesem
Bereich vorschlägt.
Interessant ist auch, was in der sogenannten Tierwohlinitiative nicht erwähnt wird, etwa dass in deutschen Tierfabriken millionenfach und ohne Betäubung
Ferkel kastriert werden oder dass Wildtiere in Wanderzirkussen unter nicht artgerechten Bedingungen gehalten
und eingesetzt werden. Diese Liste ließe sich weiter fortsetzen und zeigt: Wir brauchen endlich gesetzliche Schritte
und Verbote statt Absichtserklärungen und Selbstverpflichtungen.
Auch bei der Eindämmung von Tierversuchen
herrscht Zahnlosigkeit. Die jüngst heimlich gefilmte Dokumentation der Folter von Menschenaffen am MaxPlanck-Institut in Tübingen - leider geduldet durch eine
grün-rote Landesregierung - zeigt: Das ist nur die Spitze
des Eisberges, mit der wir es im Moment zu tun haben.
Laut Tierwohlinitiative soll nun die Ersatzmethodenforschung ausgebaut werden, und der Landwirtschaftsminister erklärt, die Zahl der Versuchstiere eindämmen
zu wollen. Konsequent wäre es aber, die Logik umzukehren, nämlich Tierversuche grundsätzlich zu verbieten
und nur noch in Ausnahmefällen zuzulassen.
({5})
Der Landwirtschaftsminister verweist auf die Verantwortung der Verbraucherinnen und Verbraucher. Dieses
Argument wird oft gebracht, wenn die Politik, wie auch
jetzt, nicht oder nicht konsequent handelt. Doch von der
Verantwortung der Verbraucherinnen und Verbraucher
zu reden und zugleich zu sinkenden Löhnen, Hartz IV
und millionenfacher Armut in Deutschland zu schweigen, ist zynisch. Soziale Gerechtigkeit und nachhaltiges
Kaufverhalten müssen zusammen diskutiert werden.
({6})
Zusammengefasst: Die Tierwohlinitiative des Ministers ist eine Mischung aus Absichtserklärungen und wirkungslosen Appellen an die Wirtschaft. Hier müssen Taten folgen. Daran werden wir Sie messen. Ich freue mich
auf weitere spannende Diskussionen im Ausschuss und
darauf, dass wir es tatsächlich schaffen, in dieser Legislaturperiode, an einigen Stellen vielleicht sogar gemeinsam, etwas Vernünftiges auf den Weg zu bringen.
Herzlichen Dank.
({7})
Vielen Dank. - Christina Jantz ist jetzt die nächste
Rednerin für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie
mich gleich zu Beginn - und auch nicht zum ersten Mal
an dieser Stelle - sagen: Wir als SPD nehmen den Tierschutz sehr ernst.
({0})
Unser Ziel ist es, entscheidende Verbesserungen beim
Tierschutz auf den Weg zu bringen.
Als Tierschutzbeauftragte meiner Fraktion freue ich
mich deshalb besonders, dass Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, uns bei dieser
Zielsetzung offensichtlich - das sieht man auch an Ihrem
Antrag - grundsätzlich unterstützen wollen.
({1})
Ich denke, gemeinsam teilen wir die Einschätzung, dass
wir jetzt handeln müssen.
Der Antrag, den Sie vorgelegt haben, enthält viele
gute Ziele. Darüber hinaus fordern Sie allerdings Dinge,
die bereits Gegenstand unserer aktuellen Haushaltsberatungen sind. Lassen Sie mich hier beispielsweise die
Haushaltsmittel für die ZEBET nennen.
({2})
Zudem teile ich Ihre Kritik nicht, dass sich seit dem
Jahr 2002 im Tierschutz praktisch nichts getan habe. Im
Gegenteil: Die Menschen haben ihre Einstellung gegenüber den Tieren geändert. Nicht nur im Konsumverhalten, sondern allgemein hat sich ein Bewusstsein für mehr
Tierschutz entwickelt.
({3})
Wir sehen diese Veränderung an ganz unterschiedlichen
Stellen. Ein gutes Beispiel sind die sich verändernden
Konsumentenwünsche. Jüngste Studien zeigen erneut
sehr deutlich, dass die Verbraucher eine klarere Kennzeichnung von Lebensmitteln wollen. Dazu gehören natürlich die Herkunftsangaben; dazu gehören aber auch
Angaben zu den Lebensbedingungen der Tiere.
Apropos Veränderungen: Wenn ich mir Ihren Antrag
und das Eckpunktepapier von Bundesminister Schmidt
anschaue, denke ich: Wer hätte noch vor wenigen Jahren
gedacht, dass die Grünen und ein Minister der CSU in
Sachen Tierschutz einmal an einem Strang ziehen würden!
({4})
Es gibt anscheinend einen überfraktionellen Konsens für
mehr Tierschutz.
({5})
Meine Damen und Herren, wir als SPD sind uns seit
langem unserer Verantwortung bewusst. Wir wollen eindeutige Regelungen für den Tierschutz. Die SPD hat dafür das Fundament geschaffen. Wir haben dem Thema
Tierschutz im Koalitionsvertrag viel Raum zugestanden.
({6})
Wir werden, wie der Minister angekündigt hat, in einem
ersten Schritt die Haltungsbedingungen sowohl der
Nutz- als auch der Haustiere verbessern. Wir sind verpflichtet, die sich verändernden gesellschaftlichen Ansprüche an eine moderne Tierhaltung aufzugreifen und
- das sage ich auch klar - die erforderlichen gesetzlichen
Anpassungen auf nationaler Ebene vorzunehmen, aber
auch auf europäischer Ebene voranzutreiben.
Auch wenn das Grundgesetz eine art- und verhaltensgerechte Unterbringung und ausreichende Bewegungsfreiheit für Tiere vorsieht, sehen wir, dass Tierschutzstandards in der Landwirtschaft diesem Anspruch oftmals
nicht genügen. Ganz grundsätzlich möchte ich sagen:
Verstöße gegen das Tierschutzgesetz sind keine Kavaliersdelikte.
({7})
Unser Ziel ist es, Systeme zur Haltung landwirtschaftlicher Nutztiere an die arteigenen Bedürfnisse der Tiere
anzupassen. Aber auch - ganz wichtig - die Heimtiere
dürfen wir hierbei nicht aus dem Blick verlieren.
Zu Beginn der Woche haben wir seitens der SPDFraktion uns gemeinsam mit Experten aus Österreich
und der Schweiz sowie Vertretern der Verbände und
verschiedener NGOs genau zu diesem Thema - obligatorische Prüf- und Zulassungsverfahren für artgerechte,
praxisgerechte Haltungssysteme - ausgetauscht. Ein Ergebnis war, dass einheitliche Systeme natürlich Vorteile
für alle Seiten bringen. Sie sind für die Tiere sowie die
Tierhalter von Interesse; aber auch die Hersteller hätten
endlich Investitions- und Rechtssicherheit. Dies ist jedoch nur ein Schritt. Wir brauchen zudem klare Vorgaben für Betäubungseinrichtungen beim Schlachten sowie
schärfere Vorgaben für die Tiertransporte.
Ein weiteres Thema: Wir müssen die Qualzuchten beenden.
({8})
Hier muss das Tierschutzgesetz konkretisiert werden.
Zudem werden wir den Wildtierschutz verbessern. Importe von Wildfängen in der EU möchten wir grundsätzlich verbieten, und gewerbliche Tierbörsen für exotische
Tiere möchten wir untersagen. Diesen Zielen, insbesondere dem Tierschutz, fühlen wir uns verpflichtet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, ich teile Ihre Ansicht, dass zu lange
diskutiert wurde und die Vorgängerregierung in vielen
tierschutzrelevanten Bereichen nicht gehandelt hat. Nun
liegt aber ein Eckpunktepapier des Ministers für mehr
Tierschutz vor. Allerdings müssen Taten folgen.
({9})
Ich lade Sie daher ein, auf einer sachlichen Ebene mit
uns gemeinsam Lösungen zu erarbeiten; denn wir wollen
das Beste für die Tiere erreichen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Artur
Auernhammer, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Wer mit Tieren umgeht, der weiß, dass schnelle und heftige Bewegungen nicht zum Erfolg führen, sondern man
ruhig und sachlich an das Tier herantreten sollte. Das
sollte auch für unsere Debatte über den Tierschutz gelten. Wenn wir zum Erfolg kommen wollen, dann müssen
wir sachlich darüber diskutieren und die besten Lösungen finden.
Die Frage der Haltung von Tieren, die Frage von Tierschutz und Tierwohl, ist aber auch eine Frage der Ethik,
eine Frage des Selbstverständnisses unserer Gesellschaft. Der Kollege von den Linken hat gerade erwähnt,
dass Tiere eigentlich ein Wirtschaftsgut sind und dass
wir Tiere nicht als Wesen bezeichnen. Als Landwirt
muss ich dazu sagen: Für mich sind meine Tiere im Stall
Wesen, mit denen ich gerne umgehe, die mich kennen,
die ich alle beim Namen kenne.
({0})
Deshalb bitte ich, dass wir in der öffentlichen Diskussion die Leistungen unserer Landwirte, unserer Bäuerinnen und Bauern nicht so diskreditieren.
({1})
Seit dem Jahr 2002 ist der Tierschutz als Staatsziel im
Grundgesetz verankert. Dass wir weiter darüber diskutieren müssen und wir hier weiterhin gemeinsam nach
guten Lösungen suchen sollten, ist uns klar. Minister
Schmidt hat eine Tierwohlinitiative vorgelegt, die von
uns in der Regierungskoalition gemeinsam getragen
wird; davon gehe ich aus. Meine sehr verehrten Damen
und Herren von den Grünen, ich wäre dankbar, wenn Sie
mit uns über diese Initiative des Bundesministers diskutieren würden. Ich sehe Ihren Antrag eigentlich als Dis4982
kussionsgrundlage im Zusammenhang mit dieser Initiative.
({2})
Hinsichtlich der Zielvorstellungen gehen unsere Ansichten an der einen oder anderen Stelle allerdings auseinander.
Herr Abgeordneter Auernhammer, gestatten Sie eine
Zwischenfrage der Kollegin Bulling-Schröter von der
Fraktion Die Linke?
Ja, gerne.
Bitte schön.
Danke schön, Kollege Auernhammer. - Ich habe in
der Rede meines Kollegen nicht gehört, dass er die Bauern diskreditiert hat. Auch Sie kennen sicher die Fernsehberichte, in denen gezeigt wird, wie eine Hilfskraft in
einer großen Agrarfabrik durch die Reihen geht, ein,
zwei Ferkel herausnimmt und erschlägt. Das ist nicht,
wie Herr Stier sagt, Meinungsmache. Wenn ich mich
recht erinnere, ging es um das Bundesland, aus dem er
kommt. Ferkel so zu töten, so etwas muss doch definitiv
abgeschafft werden.
({0})
Ich vermisse auch eine Diskussion über die Frage,
wie man dagegen vorgehen kann, dass die Preise von
großen Lebensmittelkonzernen diktiert werden. Die
Bauern - das sagen Sie zu Recht - lieben vielfach ihre
Tiere. Aus wirtschaftlichen Gründen können sie aber gar
nicht anders, als die Tiere so zu behandeln, wie sie es
tun. Mir fehlt eine Debatte darüber, dass Lebensmittel
etwas wert sein müssen, darüber, dass nicht zulasten der
Tiere Profit gemacht werden darf, darüber, dass kein
Tierleid produziert werden darf. Das wollte ich Ihnen eigentlich nur sagen, und ich wollte Sie fragen, ob Sie
diesbezüglich meine Meinung teilen.
Sehr verehrte Frau Kollegin, warten Sie ab, bis ich
mit meiner Rede zu Ende bin, dann werden Sie sicherlich auch davon überzeugt sein, dass wir die eine oder
andere Gemeinsamkeit haben. Große Missstände in großen Tieranlagen kenne ich aus der Zeit, aus der Ihre Partei eigentlich stammt. Das möchte ich hier noch erwähnt
haben.
({0})
Wir wollen also gemeinsam darüber diskutieren, wie
wir den Tierschutz weiter nach vorne bringen. In der
letzten Legislaturperiode wurde hier bereits sehr massiv
über die Ferkelkastration gestritten. Ich selbst habe in
meiner Ausbildungszeit auch Ferkel kastriert. Diese Ferkel waren 15 bis 20 Kilo schwer. Das war weder für das
Ferkel noch für den Lehrling eine angenehme Erfahrung.
Heute werden Ferkel bereits am dritten oder vierten Lebenstag durch einen kurzen chirurgischen Einschnitt
kastriert. Nach der Kastration haben die Ferkel eigentlich nur ein Ziel: Wie komme ich am schnellsten wieder
zur Muttersau, damit ich an die gute Muttermilch herankomme? Das ist jetzt die Situation in den Betrieben.
Diese sollten wir unterstützen, und wir sollten nicht mit
überzogenen Auflagen noch mehr Bürokratie gerade für
die kleinstrukturierten Betriebe schaffen.
Wir sollten uns aber auch bewusst sein, dass Tierställe
keine Streichelzoos sind. Tierställe sind nach wie vor die
wirtschaftliche Grundlage für viele Bäuerinnen und Bauern und für viele Familienbetriebe. Deshalb sollten wir
die Sachlichkeit in der Diskussion wahren. Gerade im
Bereich der Rinderhaltung - da bin ich bei der kleinbäuerlichen Struktur - wurden sehr viele neue Investitionen
in sogenannten Kuhkomfort getätigt, wodurch eine Umstellung von Anbindehaltung auf Laufstallhaltung erfolgt ist. Die Tiere haben mehr Platz. Sie können sich bewegen. Sie fühlen sich wohl. Ich glaube, das ist gut so.
Wenn wir hier mit Forderungen zu schnell vorangehen,
werden wir gerade diese bäuerlichen Familienstrukturen
zerstören und diese Betriebe zum Aufgeben zwingen.
Das ist nicht meine Intention.
({1})
Gerade die Zuchtverbände und die Besamungsorganisationen arbeiten zum Beispiel intensiv daran, die Hornlosigkeit bei der Tierzucht voranzubringen, damit eine
Enthornung von Kälbern nicht mehr notwendig ist. Ich
habe hier bereits gute Erfolge gesehen. Hier sind wir auf
einem sehr guten Weg. Diesen sollten wir weiterhin beschreiten. Das gilt auch für andere Tierhaltungsformen.
Die Zucht nach Hornlosigkeit wird sicherlich einen Beitrag dazu leisten, dass unsere Tiere tiergerechter gehalten werden können.
Ich darf hier auch erwähnen, dass gerade in der
Milchviehhaltung seit den letzten Jahren verstärkt der
Fokus auf die Langlebigkeit, auf die Lebensleistung der
Tiere gelegt wird und nicht auf den schnellen Profit im
ersten Jahr. Ich glaube, hier sind wir in der Landwirtschaft auf einem guten Weg. Auf diesem sollten wir uns
weiter bewegen.
Ich komme zum Thema Tiertransporte. Das ist natürlich ein Lieblingsthema der Grünen. Tiertransportzeiten
sollten möglichst kurz gehalten werden. Ich bin aber
auch ein Freund marktwirtschaftlicher Entscheidungen.
Wenn ich meine Schlachttiere nur für eine bestimmte
Zeit transportieren darf, dann bin ich dazu verdonnert,
meine Tiere zu bestimmten Abnehmern in der Nähe zu
liefern. Würden Ihre Forderungen umgesetzt, könnte ich
mir die Vermarktungsorganisation nicht aussuchen, weil
der Transport dorthin vielleicht eine halbe Stunde zu
lange dauert. Das kann keine tiergerechte Transportlösung sein.
Die gesamte Tierschutzdebatte hat auch einen europäischen und vor allem einen internationalen Ansatz. Es
macht wenig Sinn, wenn wir - es ist bereits erwähnt
worden - in Deutschland die höchsten Tierschutzstandards haben und dann mit noch höheren Standards unsere Tierhaltung herunterfahren, stilllegen, uns aus der
Tierhaltung verabschieden. Das soll nicht unsere Landwirtschaftspolitik sein. Wir wollen mit unseren Tierhaltungsformen in Deutschland Vorbild sein für andere
Staaten, auch für die Kollegen in Holland, die das eine
oder andere vielleicht nicht so freundlich machen, wie es
sein soll.
({2})
- Der Herr Kollege Ebner hat eine Frage, und bevor Sie
fragen, Frau Präsidentin: Ich möchte diese Frage zulassen.
Das entscheide immer noch ich.
({0})
Okay.
Bitte schön: Sie dürfen die Frage zulassen, und ich
entscheide, dass er jetzt reden darf.
Vielen herzlichen Dank, Herr Kollege Auernhammer,
für die Schaffung der Aufmerksamkeit aufseiten des Präsidiums.
Sie haben die bäuerlichen Betriebe angesprochen. Da
sind wir uns vollständig einig. Deshalb möchte ich Sie
jetzt fragen, ob Sie mit mir einer Meinung sind, dass
wir darüber nachdenken sollten, wie wir die Betriebe
bei einer schnelleren Umstellung auf tiergerechte Haltung, für mehr Tierschutz, finanziell unterstützen können - vielleicht fallen uns auch noch andere Arten der
Unterstützung ein; aber Geld ist immer das Erste, was
einem einfällt -, um, Sie haben das angesprochen, diese
Ungleichheit am Start zwischen größeren Betrieben und
den kleinen, bäuerlichen Familienstrukturen besser auszugleichen.
Herr Kollege, da bitte ich Sie, einmal einen Blick auf
die bayerische Agrarpolitik zu werfen. Wir haben hier
sehr umfangreiche Stallfördermaßnahmen. Sicherlich
kann man hier das eine oder andere mehr tun. Aber Investitionen gerade in Milchviehanlagen sind sehr teuer;
da reden wir sehr schnell von einer halben Million Euro.
Wir unterstützen das nach wie vor. Mir wäre es auch lieber, wir könnten hier mehr Geld in die Hand nehmen.
Ich werde mich auch dafür einsetzen, um den Umbau
von der - ich sage es jetzt konkret - Anbindehaltung zur
kuhkomfortgerechten Laufstallhaltung zu ermöglichen.
({0})
Frau Präsidentin, habe ich jetzt noch Zeit?
Für den Schlusssatz haben Sie noch Zeit.
Wenn wir dann allerdings all diese gesellschaftlichen
Anforderungen erfüllen - mehr Tierschutz, mehr Tierwohl -, ist aber das Entscheidende: Honoriert uns das
auch der Verbraucher? - Da habe ich, das sage ich ganz
ehrlich, manchmal meine Zweifel.
Ich glaube aber nicht, dass es nur am Verbraucher
liegt - es liegt auch an den Strukturen in unserem Lebensmitteleinzelhandel.
({0})
Wenn wir heute hören, dass ganze 85 Prozent der Lebensmittel, die in Deutschland gehandelt werden, von
gerade einmal einer Handvoll Lebensmitteleinzelhändler
vermarktet werden, dann erkennen wir: Wir haben hier
eine große Aufgabe. Hier ist die Landwirtschaft gefordert; aber auch wir, die Politik, sind gefordert, uns dagegen aufzustellen und die Vermarktungsstrukturen besser
zu begleiten.
({1})
Vielen Dank. Jetzt ist der Schlusssatz wirklich zu
Ende.
({0})
- Bitte schön. Wir waren jetzt wirklich großzügig.
Nächste Rednerin ist Ute Vogt, SPD-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Kollege Auernhammer hat es schon angesprochen:
Wir haben in Artikel 20 a unseres Grundgesetzes - mit
Ihrer Erlaubnis, Frau Präsidentin, zitiere ich - festgeschrieben:
Der Staat schützt auch in Verantwortung für die
künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung …
Wir haben uns damit als Haus mit einer deutlichen
Mehrheit - mit einer Zweidrittelmehrheit - eindeutig
verpflichtet. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich
denke schon, dass wir dieser Verpflichtung durch die
praktische Gesetzgebung besser nachkommen müssen,
als es bisher passiert ist.
Herr Kollege Stier, ich bin aufgrund Ihres Redebeitrags etwas ernüchtert - so will ich es einmal sagen -,
weil es jetzt nicht darum geht, dass es ein paar schwarze
Schafe gibt, die man irgendwie herausfinden und zur
Ordnung rufen muss; bei diesem Thema geht es vielmehr um eine grundsätzlich andere Einstellung.
({0})
Die Einstellung hat sich bei vielen Menschen - gerade auch bei vielen Verbraucherinnen und Verbrauchern
in Deutschland - schon sehr verändert. Es geht darum,
dass der angesprochene Lebensmitteleinzelhandel und
eben auch die Landwirtschaft sowie die Erzeuger im Zusammenwirken mit uns entsprechend reagieren. Deshalb
finde ich es so bedauerlich, dass Sie so unsinnige und
- ich sage es jetzt wirklich einmal so - quälerische
Dinge wie den Schenkelbrand auch heute wieder verteidigt haben.
({1})
Ich will Ihnen sagen: Wir haben jetzt eine andere Koalition als in der letzten Legislaturperiode.
({2})
Ich möchte nicht mehr erleben, dass es uns so ergeht wie
beim letzten Mal, als Frau Aigner etwas durchaus
Brauchbares vorgelegt hat, wovon am Ende praktisch
nichts mehr übrig geblieben ist.
Wir sind wirklich fest entschlossen, Minister
Christian Schmidt in seinen Überlegungen mit voller
Kraft zu unterstützen. Wir haben das im Koalitionsvertrag gemeinsam vereinbart, und es reicht nicht aus, wenn
Sie sich jetzt darauf zurückziehen, im Grunde nur das zu
tun, was Sie auch in der letzten Legislaturperiode schon
nicht tun wollten. Es muss also schon ein bisschen mehr
sein. Es geht auch darum, dass wir das alles nicht zwei
Jahre lang hinauszögern dürfen. In vielen Bereichen liegen die Erkenntnisse vor und ist die Qual offensichtlich.
Es ist unsere Aufgabe - auch nach dem, was uns das
Grundgesetz vorgibt -, hier zügig zu handeln.
({3})
Es geht uns darum, den Verbraucherinnen und Verbrauchern die Chance zu geben, ihre Entscheidung auf
der Grundlage der besten Information zu treffen. Der
Deutsche Tierschutzbund hat gestern eine Kampagne
mit dem Titel „Hinter billig steckt mehr als Sie denken“
ins Leben gerufen. Mit dieser Kampagne sollen auch die
Verbraucherinnen und Verbraucher darauf aufmerksam
gemacht werden, was es bedeutet, wenn man den Wert
von Tieren, von Mitgeschöpfen, nicht erkennt - übrigens
auch zulasten der Landwirte - und einfach versucht, die
Verbraucherinnen und Verbraucher durch immer mehr
Dumpingpreise zu locken, wodurch noch mehr Elend in
der Tierhaltung hervorgerufen wird.
({4})
Uns geht es darum, dieses Elend nicht nur zu reduzieren, sondern tatsächlich auch zu beenden. Ich denke, hier
geht es um eine Bewusstseinsänderung. Das können wir
nicht nur einzelnen Tierschützern überlassen, die mit
entsprechenden Kampagnen tätig werden,
({5})
sondern wir sind hier aufgefordert, die notwendigen gesetzgeberischen Maßnahmen zu ergreifen.
({6})
Ich glaube, die Bereitschaft in der Gesellschaft ist da. Ich
sehe auch in der Landwirtschaft immer mehr verantwortungsvolle Menschen, die gerne einen anderen Weg mit
uns gehen wollen.
({7})
Deshalb will ich noch einmal sagen: Wir sollten möglichst schnell vorgehen und nicht bei jeder Maßnahme
die vorgesehene Dialogzeit von zwei Jahren ausnutzen.
Wir müssen damit anfangen, das, was notwendig ist,
Stück für Stück umzusetzen. Darauf freuen wir uns, und
ich glaube, wir können hier möglicherweise etwas erreichen, hinter dem wieder, wie damals bei der Aufnahme
des Tierschutzes ins Grundgesetz, das ganze Haus steht.
Das fände ich ideal; denn es geht um eine sehr ethische
Bewertung dieser Themen und nicht nur um Streitereien
zwischen den einzelnen Fraktionen.
In diesem Sinne hoffe ich auf eine konstruktive Zusammenarbeit aller Fraktionen, aber vor allen Dingen
auch auf eine zügige Umsetzung.
({8})
Vielen Dank. - Wir sind damit am Ende dieser Debatte.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/2616 an die in der Tageordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der
CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes
Drucksache 18/2602
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({0})
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Ausschuss Digitale Agenda
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Christian
Flisek, SPD-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte Ihnen heute einen Gesetzentwurf zur
Entfristung einer Regelung im Urheberrechtsgesetz vorstellen. Zusammen mit den Kolleginnen und Kollegen
der Union haben wir uns darauf verständigt, den § 52 a
im Urheberrechtsgesetz in seinem Inhalt unangetastet
und ohne weitere Befristung in den urheberrechtlichen
Normenbestand zu übernehmen. Ich finde, auch mit
solch scheinbar kleinen Gesetzesänderungen kann man
manchmal Weitreichendes bewirken. Dieser Paragraf ist
von großer Relevanz, wenn es um einen angemessenen
und zeitgemäßen Zugang junger Menschen zu Bildung
und Lehrmaterialien geht.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich das an einem Beispiel verdeutlichen. Stellen Sie sich die allgemeine Situation in einer Schule oder an einer Universität
vor: Studenten an einer Universität sollen für ein Seminar ein kurzes Kapitel aus einem Lehrbuch durcharbeiten, oder Schüler sollen im Deutschunterricht ein bestimmtes Gedicht aus einem Sammelband lesen, um es
dann im Unterricht zu behandeln. Wie wird dieses Lehrmaterial heute den Schülerinnen und Schülern zur Verfügung gestellt?
Wie den meisten von uns erging es auch mir so:
Früher hat der Lehrer das kopiert und anschließend
ausgeteilt. Das hat sich geändert. Heute haben interne
Netzwerke mit passwortgeschützten Zugängen für Schülerinnen und Schüler und für Studenten Einzug gehalten.
Sie erleichtern auch das Leben aller Beteiligten. Die
Lehrkraft scannt die entsprechenden Seiten ein und stellt
sie den Schülern und Studenten im Intranet der Schule
oder der Universität zur Verfügung. Die Schüler und
Studenten laden sich das Unterrichtsmaterial einfach herunter. Genau das erlaubt § 52 a des Urheberrechtsgesetzes - jedoch nach geltender Rechtslage nur noch bis zum
Ende dieses Jahres. Deshalb bringen wir heute den vorliegenden Gesetzentwurf in den Bundestag ein. Wir nutzen hiermit die Chancen der Digitalisierung und stellen
die geschilderten, etablierten alltäglichen Arbeitsweisen
in Schulen und Universitäten dauerhaft auf rechtlich stabile Füße.
Und diejenigen, die sich in der Vergangenheit mit Urheberrechtsfragen beschäftigt haben, wissen: Der § 52 a
des Urheberrechtsgesetzes hat eine Geschichte hinter
sich, genauer: eine über zehnjährige Geschichte. Mit befristeter Geltungsdauer ist er im Jahr 2003 erstmals eingeführt worden. Die Befristung wurde dreimal verlängert. Aber die damaligen Koalitionen - auch das muss
man sagen - konnten sich nicht dazu durchringen, diese
Norm endgültig zu entfristen, sehr zu meinem Unverständnis.
Ich möchte anfügen, dass ein Gesetzentwurf meiner
Fraktion bereits in der letzten Legislaturperiode eine solche unbefristete Geltung vorgesehen hat. Dieser Standpunkt fand damals allerdings leider keine Mehrheit. Deshalb bin ich froh, dass wir heute einen wesentlichen
Schritt weiter sind und diesen Paragrafen hoffentlich
ohne größere Aufregung entfristen können. Das ist ein
gutes Zeichen an alle Bildungsträger, Lehrkräfte, Schüler und Studenten in unserem Land.
({0})
Diese Entfristung steht aber auch für das, was meiner
Fraktion in allen urheberrechtlich relevanten Fragen besonders wichtig ist. Es geht darum, die Rechte der kreativen Urheber und auch ihrer Verwerter in einem digitalen
Umfeld zu stärken. Es geht auch darum, die Rechte der
Nutzer auf eine legale Nutzung digitaler Inhalte zu einem angemessenen Ausgleich zu bringen.
In diesem Zieldreieck von Kreativen, Verwertern und
Nutzern solch einen angemessenen Ausgleich herzustellen, erfordert in vielen Detailfragen oft urheberrechtliches Fingerspitzengefühl, sehr viel Arbeit und sehr oft
auch Geduld. Alle, die sich im parlamentarisch-politischen Umfeld mit Urheberrecht beschäftigen, wissen das
und können das sicherlich bestätigen.
Das Urheberrecht belohnt den kreativen Urheber für
seine Kreativität grundsätzlich mit einem Monopol für
sein kreatives Schaffen. Nach den Vorstellungen des Gesetzes entscheidet er selbst allein, ob er sein Werk veröffentlicht, wem er Rechte an diesem Werk einräumt und
zu welchen Bedingungen dies geschieht. Der Alltag und
die Praxis vieler Kreativer in Deutschland sehen dagegen gewiss anders aus. Sie sind froh, wenn sie ihr kreatives Schaffen in ein halbwegs planbares Einkommen
verwandeln können. Bei dieser Sachlage sind neben
Lizenzen vor allen Dingen vergütungspflichtige Schranken ein Mittel dafür, dass der Urheber und seine Verwerter ihre angemessene Vergütung erhalten und dem allgemeinen Interesse an einer Nutzung Rechnung getragen
werden kann. § 52 a des Urheberrechtsgesetzes ist eine
solche Schranke, die sich in der Praxis bewährt hat, und
das sicherlich nicht zuletzt auch aufgrund der Konkretisierungen, die durch den Bundesgerichtshof in Urteilen
vorgenommen worden sind.
Lassen Sie mich aber auch etwas Allgemeines zu den
Schranken sagen. Durch die Digitalisierung ist die Zahl
der Ausgleichsschranken im Urheberrechtsgesetz gestiegen. Es ist sicherlich kein Geheimnis, dass viele dieser
Schranken mittlerweile unverständlich, komplex und
damit auch für den Rechtsalltag wenig praktikabel geworden sind. Wir werden es daher in dieser Legislaturperiode nicht bei der Entfristung des § 52 a belassen.
Der Koalitionsvertrag sieht vor, eine einheitliche Bildungs- und Wissenschaftsschranke für das Urheberrecht
zu regeln. Das bedeutet: Urheberrechtlich geschütztes
Material soll rechtssicher für Bildung und Wissenschaft
genutzt werden können. Zugleich sollen die Rechteinhaber, also die Autoren und die Verlage, hierfür eine faire
Kompensation erhalten.
Wir wollen die Schrankenregelungen im Bereich
Bildung und Wissenschaft praktikabler und für alle Anwender verständlicher gestalten. Wir werden diese neue
einheitliche Schrankenregelung für Bildung und Wissenschaft im Dialog mit allen Beteiligten entwickeln. Das
wird keine leichte Aufgabe sein. Und dass dies alles unter den gegebenen europäischen Rahmenbedingungen zu
erfolgen hat, macht die Angelegenheit sicherlich nicht
einfacher. Für einen solchen Dialogprozess braucht es
Zeit. Und dass ein solcher größerer Entwurf bis Ende
dieses Jahres, also bis Ende 2014, sicherlich nicht zu
leisten ist, liegt auf der Hand. Das ist auch der Grund,
warum wir in einem ersten Schritt § 52 a entfristen: Um
zu verhindern, dass er Ende dieses Jahres ersatzlos außer
Kraft tritt.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, es ist durchaus kein kompliziertes Gesetz,
welches wir hier im Entwurf vorlegen. Eine Regelung,
die sich bewährt hat, soll dadurch entfristet werden, dass
ein Satz gestrichen wird, der da lautet: „§ 52 a ist mit
Ablauf des 31. Dezember 2014 nicht mehr anzuwenden.“ Es ist aber ein wichtiges Gesetz. Die Träger von
Schulen, Hochschulen, also letztlich die Bundesländer,
erhalten mit dieser Entfristung Planungssicherheit, um
entsprechende Infrastrukturen für ihre Institutionen aufzubauen, wo bisher Unsicherheit herrschte.
Der Gesetzentwurf ist ein wichtiger Beitrag für die
weitere Entwicklung hin zu einem bildungs- und wissenschaftsfreundlichen Urheberrecht. Meine Damen und
Herren, ich glaube, manchmal können auch einfache Gesetze wie dieses eine große Wirkung entfalten.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und freue
mich auf die Diskussion.
({1})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Halina
Wawzyniak für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Als vor fünf Jahren meine Zeit als Bundestagsabgeordnete anfing, hofften noch einige Interessierte aus
Bildung und Wissenschaft, dass die damalige schwarzgelbe Bundesregierung endlich den sogenannten Dritten
Korb der Anfang des Jahrtausends angefangenen Urheberrechtsreform anpacken würde. Der Dritte Korb sollte
ausdrücklich den Bedürfnissen von Bildung und Wissenschaft gewidmet sein. Ein großes Ziel dabei war die
sogenannte Bildungs- und Wissenschaftsschranke, also
Bereichsausnahmen im Urheberrecht, die den Informationsfluss zum Wohle von Lernen und Forschung erleichtern. Passiert ist seitdem wenig. Immerhin, seit ungefähr einem Dreivierteljahr, steht im Koalitionsvertrag
- darauf wurde schon verwiesen -:
Wir werden den wichtigen Belangen von Wissenschaft, Forschung und Bildung stärker Rechnung
tragen und eine Bildungs- und Wissenschaftsschranke einführen.
Vorschläge, wie diese umzusetzen wäre, gibt es mehr als
einen. Schon länger bekannt sind beispielsweise die Vorschläge der Allianz der Wissenschaftsorganisationen und
der Kultusministerkonferenz. Anfang des Jahres legte
eine Urheberrechtsexpertin von der Humboldt-Universität, deren Nachname ungefähr einfach wie meiner ist,
weswegen ich ihn hier nicht nennen kann,
({0})
einen Regelungsentwurf vor, dessen Erarbeitung auch
noch vom Bildungs- und Forschungsministerium gefördert wurde. Als Reaktion darauf hat das Aktionsbündnis
„Urheberrecht für Bildung und Wissenschaft“ seinen älteren Vorschlag überarbeitet und aktualisiert.
Kurzum, es gab und gibt eine sehr lange Debatte, es
gibt diverse konkrete Vorschläge, wie in Sachen Urheberrecht, Lernen und Forschen zeitgemäße Lösungen
gefunden werden können, Lösungen, die Sie von der
Koalition auch wollen.
Aber was machen Sie jetzt mit dem Gesetzentwurf? Sie schreiben in den heute zu diskutierenden Gesetzentwurf zur Entfristung von § 52 a Urheberrechtsgesetz
hinein, dass diese Gesetzesänderung notwendig wird,
weil Sie eine - ich zitiere - „intensive rechtspolitische
Diskussion“ über die Bildungs- und Wissenschaftsschranke für erforderlich halten, die Sie dieses Jahr nicht
mehr abgeschlossen bekommen.
({1})
- Das steht darin. Richtig.
Man kann es ja so zusammenfassen: Einerseits wollen
Sie den wichtigen Belangen von Wissenschaft, Forschung, Bildung und Kultur stärker Rechnung tragen.
Andererseits liegen aber genau aus diesen Bereichen
konkrete, ernst zu nehmende Gesetzesvorschläge vor. Es
gibt eine lange Debatte. Auf die gehen Sie aber nicht ein.
Sie nehmen diese Vorschläge nicht auf. Sie hätten ja einen von diesen Vorschlägen aufnehmen können. Und
weil Sie das nicht machen, also weil Sie diese Vorschläge nicht aufnehmen, kommt es jetzt zur Entfristung
des § 52 a, der Regelung zur Zugänglichmachung von
kleinen Teilen von urheberrechtlich geschützten Werken
im Intranet von Hochschulen.
Die Entfristung - das gebe ich Ihnen zu - ist mehr als
der Wegfall dieser kleinen Schranke und auch mehr als
eine neuerliche Befristung. Aber eine wirkliche Verbesserung, ein Ernstnehmen der wichtigen Belange von Bildung und Wissenschaft ist es eben nicht.
({2})
Denn dank des Urteils des BGH vom vergangenen
November ist die Schrankenwirkung bis zur Belanglosigkeit verkleinert. Es wurde eben höchstrichterlich
der Lizenzvorrang festgestellt. Die Hochschulen müssen
also vor der Inanspruchnahme der Schrankenprivilegien
zunächst prüfen, ob es ein Lizenzangebot der Verlage
gibt, und dieses im Zweifelsfall annehmen. Die privatwirtschaftlichen Interessen haben Vorrang vor der Ausnahme im Urheberrecht, die dem Wohle der Lehre dienen soll - eine Ausnahme, die wohlgemerkt immer
vergütungspflichtig gedacht war. Das bedeutet nicht nur
mehr Aufwand und wohl auch mehr Kosten für jede einzelne Uni, nein, die geltende Auslegung des § 52 a trägt
den wichtigen Belangen der Lehre gerade keine Rechnung.
Die Entfristung ist nicht verkehrt, aber es muss mehr
als entfristet werden. Das, was die Koalition hier vorschlägt, ist das Minimum, um eine unbefriedigende Situation nicht noch schlechter werden zu lassen, aber der
Anwendungsbereich muss so ausgeweitet werden, dass
die Hochschulen tatsächlich etwas davon haben. Er muss
Teil einer allgemeinen Wissenschaftsschranke werden,
wie sie die Linke und unzählige Wissenschaftsverbände
immer wieder gefordert haben.
Sie haben ja gesagt, Sie werden eine Diskussion unter
Einbeziehung aller führen.
({3})
Dann freuen wir uns auf die Einladung und werden
selbstverständlich an den Gesprächen teilnehmen.
(Beifall bei der LINKEN - Marianne Schieder
[SPD]: Na, hoffentlich!
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Ansgar Heveling,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mitte dieser Woche hat zumindest kalendarisch der
Herbst begonnen, und zwar am 23. September ziemlich
genau um 4.29 Uhr, als die Sonne exakt senkrecht über
dem Äquator stand.
({0})
Der kalendarische Herbstanfang richtet sich nämlich
nach dem Stand der Sonne. Was hat das nun mit § 52 a
des Urheberrechtsgesetzes zu tun?
({1})
Auch die Gesetzgebung kennt ähnliche Phänomene,
die sogenannte Sunset Legislation, nämlich eine durch
den Gesetzgeber vorgesehene Auslaufklausel für Gesetze. Das bedeutet, dass ein Gesetz nur bis zu einem
festgelegten Datum, also bis zum sinnbildlichen Sonnenuntergang, Gültigkeit besitzt. Der Gesetzgeber kann
diese Frist dann bei Bedarf verlängern. Lässt er die Frist
einfach verstreichen, läuft die Regelung aus. Rechtstechnisch ist das also eine auflösende Bedingung. Formal
geht auch heute bei der ersten Beratung der Änderung
des § 52 a des Urheberrechtsgesetzes genau darum; denn
der Sonnenuntergang dieser Vorschrift würde hier am
31. Dezember eintreten.
Verwehren wollen wir - so haben wir das in der
Koalition entschieden - die Wissenschaftsschranke in
§ 52 a des Urheberrechtsgesetzes allerdings auch nach
dem Fristablauf niemandem. Deshalb haben wir, CDU/
CSU und SPD, gemeinsam entschieden, durch die vorgeschlagene Regelung die mehr als zehn Jahre geltende
Befristung aufzuheben und die Vorschrift des § 52 a Urheberrechtsgesetz endgültig wirksam werden zu lassen.
§ 52 a des Urheberrechtsgesetzes war 2003 in
Deutschland die erste Urheberrechtsvorschrift überhaupt, die der Gesetzgeber als befristete Regelung eingeführt hat. Eine solche Sunset Legislation hatte es bis dahin im deutschen Urheberrecht noch nie gegeben. Dass
das Gesetz befristet wurde, ist dem Umstand geschuldet,
dass die Einführung der Schranke seinerzeit politisch
sehr umstritten war und sich der Gesetzgeber durch die
Befristung selbst zu disziplinieren gedachte, um Erfahrungen aus der Anwendung der Vorschrift zur Grundlage
der Entscheidung über die weitere Befristung oder die
Entfristung zu machen.
Bestritten ist die Vorschrift jedenfalls über viele Jahre
insoweit gewesen, als sie über alle zivilrechtlichen Instanzen hinweg Gegenstand gerichtlicher Auseinandersetzungen gewesen ist. Nunmehr hat die Rechtsprechung
im vergangenen Jahr endgültig entschieden und damit
einige wichtige Hinweise zum Umfang, zur Geltung und
damit zur weiteren Ausgestaltung des § 52 a des Urheberrechtsgesetzes gegeben. In der Summe führen die
Erkenntnisse nun dazu, dass die Regelung endgültig entfristet werden kann, da eine weitreichende Konturierung
durch die Rechtsprechung mittlerweile erfolgt ist.
In zwei Verfahren ging es zum einen um die Definition der Angabe „kleine Teile“ eines Werkes. Diese Angabe hat der Bundesgerichtshof nun klar eingegrenzt:
Eine Universität oder eine andere Forschungseinrichtung
darf ihren Studierenden ein urheberrechtlich geschütztes
Werk in Teilen nur dann elektronisch zugänglich machen, wenn diese Teile nicht mehr als 12 Prozent oder
100 Seiten in der Summe ausmachen.
Zum anderen - das ist, glaube ich, eine wichtigere Erkenntnis - hat der Bundesgerichtshof festgestellt, dass
diese Zugänglichmachung nicht geboten ist, wenn der
Rechteinhaber eine angemessene Lizenz für die Nutzung
angeboten hat. Das heißt, der Bundesgerichtshof geht
ganz klar davon aus, dass vertragliche Regelungen Vorrang vor der Anwendung der Schranke haben. Die
Rechtsprechung räumt also einem angemessenen Lizenzangebot eines Verlages den Vorrang ein.
Es wäre jetzt die Frage gewesen, ob man diese Erkenntnisse des Bundesgerichtshofes auch in das Gesetz
hineinschreibt. Wir haben uns jedoch für eine reine Entfristung entschieden, da durch den Bundesgerichtshof
nun klar konturiert ausgesprochen worden ist, wie man
den § 52 a des Urheberrechtsgesetzes zu verstehen hat.
Wir sollten uns bei allen Veränderungen und bei allem
Veränderungsbedarf im Urheberrecht immer bewusst
machen: Ausgangspunkt, Dreh- und Angelpunkt des
Urheberrechts ist Artikel 14 unseres Grundgesetzes. Artikel 14 garantiert und schützt das Eigentum, sei es materielles oder geistiges Eigentum. Beschränkungen dieses
Eigentumsrechts, also auch die sogenannten Schranken
des Urheberrechts, sind daher immer als Ausnahme zu
verstehen und lassen sich nur durch die Interessen des
Allgemeinwohls begründen. Vor diesem Hintergrund
müssen wir gesetzliche Änderungen im Urheberrecht
immer betrachten, und vor diesem Hintergrund müssen
sich auch diejenigen messen lassen, die eine Schrankenregelung für sich in Anspruch nehmen. In den beiden
vergangenen großen Urheberrechtsreformen hat der Gesetzgeber bereits umfassende Privilegien für den Bereich
Wissenschaft geschaffen. Mit der Sunset Legislation,
also der vorläufigen Befristung, wollte der Gesetzgeber
den Befürchtungen aus dem Bereich der Wissenschaftsverlage vor unzumutbaren Beeinträchtigungen beikommen.
Die Schranken im Bereich Bildung und Wissenschaft
sind schon seit vielen Jahren Gegenstand von Verhandlungen zwischen Forschungs- und Bildungseinrichtungen auf der einen Seite und Wissenschaftlern und Verlagen auf der anderen Seite. Mittlerweile ist zudem auch
ein recht unübersichtlich gewordener Flickenteppich an
Regelungen entstanden, der bei den Beteiligten zu
Rechtsunsicherheit und damit auch bei der Rechtsanwendung durchaus zu Problemen führen kann.
Mit der endgültigen Entfristung von § 52 a Urheberrechtsgesetz werden wir zumindest an dieser Stelle
schon einmal für mehr Klarheit für alle Beteiligten sorgen. Das ist ein erster Schritt. Denn im Koalitionsvertrag
haben wir vereinbart, eine allgemeine Bildungs- und
Wissenschaftsschranke einzuführen, die diesen Flickenteppich an Regelungen beseitigen und zusammenfassen
soll, was zusammengehört. Dabei werden wir uns Zeit
für die Diskussion nehmen; denn das ist nötig. Frau Kollegin Wawzyniak, wir sollten uns auch die Zeit nehmen,
unter anderem, um das Gutachten von Frau Professor de
la Durantaye intensiv zu diskutieren, und dann überlegen, wie wir eine allgemeine Wissenschaftsschranke
ausgestalten können. Dabei sollten wir darauf achten, einen angemessenen Ausgleich zwischen den berechtigten
Interessen der Verlage und denen der Wissenschaft zu
finden, der sich dann auch entsprechend im Gesetz niederschlägt.
Vor allem aber muss mit Blick auf § 52 a Urheberrechtsgesetz gewährleistet sein, dass, wenn eine entsprechende Schranke, wie sie dieser Paragraf darstellt, zur
Anwendung kommt, die dann fälligen Vergütungen auch
tatsächlich gezahlt werden. Hier ist der bisherige
Umgang mit § 52 a des Urheberrechtsgesetzes für die
Beteiligten sicherlich kein leuchtendes Beispiel oder als
Best Practice anzusehen. Denn auch das muss klar sein:
Die Inanspruchnahme einer solchen Schranke ermöglicht zwar den freien Zugang zu Werkteilen, sie ist aber
nicht die Eintrittskarte für einen kostenfreien Zugang.
Vielen Dank.
({2})
Vielen Dank auch. - Nächste Rednerin ist Renate
Künast, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als vor
einigen Tagen der Gesetzentwurf der Koalition zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes auf die Tagesordnung
gesetzt wurde, hat das gleich etwas bei mir im Büro ausgelöst, nämlich einen vermehrten Eingang von Telefonanrufen und Mails mit Anfragen, ob ich herausfinden
könnte, was die Koalition so regeln möchte, und ob dies
der große Reformentwurf sei oder ob irgendwelche bedeutenden Änderungen vorgesehen seien. Dienstagabend konnte ich dann alle diese Fragen beantworten: Es
ist eigentlich nichts - um es einmal ganz ehrlich zu sagen.
({0})
Na ja, der Berg kreißte und gebar eine Maus. Es war aber
eine kleine Maus.
({1})
- Immerhin. Es hätte auch gar nichts dabei herauskommen können, kann ich der Kollegin jetzt noch zurufen.
({2})
Insofern fand ich den großen Gestus der schönen Rede
von Herrn Flisek quasi reziprok proportional zum Inhalt.
Aber Sie, Herr Flisek, haben Ihre Redezeit, ehrlich gesagt, auch damit gefüllt, über das zu reden, was noch
kommen wird.
({3})
Mit dem, was im Gesetzentwurf steht, hätten Sie die sieben Minuten nicht füllen können.
({4})
- Ach so.
Diese Entfristung ist durchaus richtig.
({5})
- Das ist jetzt die höchste Form des Lobes, Herr GrosseBrömer, zu der ich angesichts dieses Sachverhaltes in
der Lage bin.
({6})
Wir haben es jetzt erlebt, dass im Gesetzentwurf viermal
eine andere Frist genannt wurde. Im Gesetzentwurf
stand mit vier unterschiedlichen Daten: Am 31. Dezember des Jahres XY läuft das Ganze aus. Es ist klar, dass
das endlich ein Ende finden musste. Denn es war doch
widersprüchlich: Sie reden immer von der Digitalen
Agenda und davon, dass jetzt alles anders wird, von
Innovationen und sonst was.
({7})
Gleichzeitig krepelt so ein Paragraf von Lebenszeit zu
Lebenszeit, sozusagen von Silvester zu Silvester vor sich
hin. Das ist eine Praxis, die faktisch die digitale Entwicklung und Nutzung des Digitalen massiv behindert
hat.
({8})
Klar ist doch: Wissenschaft und Bildung leben - das
besagt auch das Grundgesetz - vom Austausch von
Informationen und vom Zugang zu Informationen. Sonst
handelt es sich nicht um Wissenschaft und Bildung. Zur
Bildung gehört ja auch, sich einem Sachverhalt zu widmen, ihn zu analysieren und nachzuschauen, ob sich
bereits jemand anderes Gedanken dazu gemacht hat.
Zugang ist also das A und O von Wissenschaft und Bildung.
Wir wissen aber auch - Herr Flisek hat das vorhin
ebenfalls gesagt -, dass der Großteil der Informationen
in Werken eingebunden ist, die urheberrechtlich geschützt sind. Man kann also, weil andere davon leben
wollen und müssen, nicht einfach sagen: Ich nehme und
nutze es. - Insofern ist die Erlaubnis in § 52 a Urheberrechtsgesetz inhaltlich absolut richtig; denn sie wahrt
zum einen die Interessen der Urheber, zum anderen ermöglicht sie auch einen einfachen Weg für Bildung und
Wissenschaft.
Wir wissen ja, wie es funktioniert. Diese Regelung erklärt es unter anderem für zulässig, kleine Teile eines
Werkes, Werke geringen Umfangs sowie einzelne
Beiträge aus Zeitungen oder Zeitschriften zur Veranschaulichung im Unterricht an bestimmten Einrichtungen öffentlich zugänglich zu machen, etwa im passwortgeschützten Intranet. Der Urheber muss also faktisch
nicht freigeben, dass sich alle Welt etwas kostenlos zugänglich macht, mit dem er Geld verdienen will. Zudem
ist der Personenkreis, der Zugang erhält, begrenzt.
Jetzt kommt mein großes Aber: Obwohl uns die große
Urheberrechtsreform noch bevorsteht, hätte ich mir
mehr als nur diesen minimalistischen Gesetzentwurf, der
bloß eine Entfristung vorsieht, gewünscht. Wie wir alle
wissen, gibt es sprachliche Ungenauigkeiten und Unstimmigkeiten durch die Rechtsprechung und deshalb
immer wieder Streit über den Umfang der Wissenschaftsschranke. Der Widerspruch zum Wortlaut des
§ 53 Absatz 3 des Urheberrechts hätte durch eine Neuformulierung aufgelöst werden müssen. Statt „zur Veranschaulichung im Unterricht“ hätte es zum Beispiel „zur
Veranschaulichung für alle Zwecke des Unterrichts“ heißen können.
({9})
Der Unterricht möchte ja auch vorbereitet sein. Es darf
durchaus sein, dass Schülerinnen und Schüler selber etwas analysieren und Selbststudium betreiben, um sich
weiterzuentwickeln. Auch das ist ja Sinn und Zweck von
Bildung. Insofern ist die nun vorgesehene Entfristung
das, was die Medizin einen minimalinvasiven Eingriff
nennt.
({10})
Dieser Eingriff wird allerdings auch nur minimale Änderungen zur Folge haben.
Meine Damen und Herren, ich will Ihnen klar sagen:
Das ist ein kleiner, netter Schritt. Ich weiß, dass es nicht
einfach ist, das Urheberrecht in die digitale Welt des
21. Jahrhunderts zu transportieren. So höre ich mit
Freude, dass Herr Flisek sagt, nun komme die große Diskussion. Ich habe aber auch einen Wunsch: Nach einem
Jahr unter einer 80-Prozent-Koalition wünsche ich mir,
dass diese angekündigte große Diskussion im und um
den Bundestag nach den Methoden des 21. Jahrhunderts
demokratisch und offen verläuft. Ich hoffe, dass es nicht
wieder so wie in der Vergangenheit ist: Die Koalition
kreist um sich selber und führt interne Anhörungen
durch. Wenn sie dann im letzten Augenblick ein Ergebnis erzielt, dann knallt sie es uns hin, und der Rest des
Parlaments muss es in wenigen Tagen durchzocken.
Versuchen Sie also, im Bereich des Urheberrechts
ganz neue Maßstäbe zu setzen! Hier könnte ein Meilenstein gesetzt werden. Das ist aber nur möglich, wenn
eine offene Debatte geführt wird, an der im wahrsten
Sinne des Wortes alle beteiligt werden und bei der alle
mitdiskutierten können. So kann das Eigentumsrecht in
das 21. Jahrhundert transportiert werden. Sie könnten
mich überraschen.
({11})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Marianne
Schieder, SPD-Fraktion.
({0})
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Mit der endgültigen Entfristung des § 52 a im
Urheberrechtsgesetz - auch ich möchte dies ausdrücklich betonen - machen wir uns endlich auf den Weg zu
einem Urheberrecht, das den Herausforderungen und
Notwendigkeiten in Bildung, Wissenschaft und Forschung gerecht wird. Auch ich weiß, liebe Frau Künast,
dass dieser Schritt ein kleiner Schritt ist. Aber es ist ein
Schritt, der in die richtige Richtung geht, nämlich hin zu
einer effektiven und zukunftsorientierten Bildungs- und
Wissenschaftsschranke.
({0})
Lange hat es gedauert - ich gebe zu: uns Sozialdemokraten zu lange -, bis die überfällige Entscheidung zur
Entfristung endlich auf den Weg gebracht wurde. Es ist
immerhin schon elf Jahre her, seit § 52 a in das Urheberrechtsgesetz eingefügt wurde. Dann folgten Befristungen bis zum 31. Dezember 2006, bis Ende 2008, bis
Ende 2012 und schließlich bis zum 31. Dezember 2014.
In der Zwischenzeit gab es drei Evaluierungen und zwei
Entscheidungen des Bundesgerichtshofs. Nicht zu vergessen ist auch ein Gesetzentwurf der SPD-Bundestagsfraktion - damals noch in der Opposition - auf dauerhafte Entfristung. Leider wurde unser Vorschlag damals
ohne überzeugende Argumente abgelehnt.
({1})
Aber, na ja, man kann sagen: Was lange währt, wird endlich gut; wenigstens jetzt schaffen wir Klarheit für alle,
die auf diesen § 52 a angewiesen sind.
Ich danke an dieser Stelle ausdrücklich den Kolleginnen und Kollegen Rechtspolitikerinnen und Rechtspolitikern der Union dafür, dass es jetzt endlich geklappt hat
und es zu dieser Entfristung kommt.
({2})
Ich sage aber gleichzeitig, liebe Kolleginnen und Kollegen: Das reicht bei weitem nicht aus, wenn es uns wirklich darum gehen soll, ein modernes, bildungs- und wissenschaftsfreundliches Urheberrecht zu schaffen. Im
Koalitionsvertrag steht das, was wir wollen:
Wir werden den wichtigen Belangen von Wissenschaft, Forschung und Bildung stärker Rechnung
tragen und eine Bildungs- und Wissenschaftsschranke einführen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir nehmen den
Koalitionsvertrag ernst, und wir wollen umsetzen, was
darin steht.
({3})
- Schauen wir einmal.
Mit dem Anfang dieses Jahres vorgelegten Gutachten
zu dieser Thematik haben wir wirklich eine gute Grundlage für die kommenden Debatten. Ich bin zuversichtlich, dass es uns gelingen wird, die Interessen der Urheberinnen und Urheber zu wahren - das muss natürlich
gewährleistet sein - und dennoch im Interesse der Allgemeinheit die Nutzung von urheberrechtlich geschützten Werken in bestimmtem Umfang für Zwecke von Bildung und Wissenschaft zu ermöglichen.
Selbstverständlich muss über entsprechende kollektive Vergütungsregelungen ein ausreichender Ausgleich
für die Urheber realisiert werden. Das, was wir jetzt haben, nämlich Schrankenregelungen an verschiedenen
Stellen verstreut, unübersichtlich und wenig transparent,
kleinteilig und zum Teil schon technisch überholt, kann
so nicht bleiben.
({4})
Für uns als Sozialdemokraten ist klar: Stillstand im
Urheberrecht blockiert Innovation, blockiert bessere
Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse und blockiert moderne Lehr- und Lernmethoden. Deshalb müssen wir in der Sache endlich vorwärtskommen. Ich freue
mich wirklich auf eine intensive Diskussion. Frau
Künast, Sie können versichert sein: Diese Diskussion
wird eine offene Diskussion sein. Ich bitte Sie aber: Machen auch Sie Vorschläge, und zwar ein bisschen mehr
als dieses kleine Detail, das Sie zum Thema Unterricht
angefügt haben.
({5})
Das war nicht einmal das Schwänzchen von dem Mäuschen, das Sie uns vorwerfen.
({6})
Wenn wir etwas verbessern wollen, müssen wir alle miteinander beherzt einsteigen.
Vielen Dank fürs Zuhören.
({7})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Katrin
Albsteiger, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Politik
macht am meisten Spaß, wenn sie konkret wird. Heute
erleben wir eine Debatte, in der man anschaulich sehen
kann, wie konkrete Verbesserungen tatsächlich einen unmittelbaren Einfluss auf den Alltag der Menschen haben,
und zwar einen positiven Einfluss. Als ehemalige Betroffene kann ich das ganz gut nachempfinden. Ich habe
in Augsburg von 2003 bis 2008 Politikwissenschaft studiert. So lange ist das noch nicht her. Es kann außerdem
nicht schaden, wenn man sich mit dem, was hier im
Hause passiert, vorher ein bisschen systematisch auseinandersetzt.
({0})
Politikwissenschaft ist eine Diskussionswissenschaft.
Bei einer Diskussionswissenschaft - im positiven Sinne
- geht es darum, dass man sich mit einer Vielzahl von
Beiträgen unterschiedlicher Art auseinandersetzt. Diese
kommen in einer schier unendlichen Zahl von Monografien, Handbüchern, Aufsatzsammlungen und Periodika vor. Da ist es ganz wichtig, dass es Semesterapparate
gibt, die diese Vielzahl von Themen, diese unterschiedlichen Auffassungen auch tatsächlich abbilden.
({1})
Noch viel wichtiger ist es bei so vielen Studenten, die
wir in unserem Land haben, dass diese Vielzahl von
Themen auch tatsächlich umfänglich abrufbar ist. Es
gibt schließlich in einem Seminar 20 oder 30 Studenten
oder heutzutage auch 500 oder 1 000 Studenten, die
gleichzeitig auf einen Text oder eine Information zugreifen müssen. Genau deshalb reden wir hier über die Frage
der Praktikabilität, wie der Zugriff auf Werke und wie
die Zusammenstellung wissenschaftlicher Werke erleichtert werden kann. Genau für diese Erleichterung
sorgen wir hier. Wohlgemerkt: nicht kommerziell und
nur für einen bestimmten, abgegrenzten Nutzerkreis. Es
erleichtert den Wissenschaftsbetrieb nämlich ungemein,
dass wir in § 52 Urheberrechtsgesetz die Wissenschaftsschranke eingebaut haben. Das ist eine konkrete Erleichterung für eine ganze Menge Menschen, nämlich zum
Beispiel für über 2,5 Millionen Studenten und ihr Lehrpersonal sowie, wohlgemerkt, natürlich auch für über
700 000 Lehrer und über 11 Millionen Schüler in
Deutschland. Das ist wirklich schön. So schön kann
Politik sein!
Nun zu den Fakten - sie wurden zum Teil eben schon
genannt -: Der Bundesgerichtshof hat sich mittlerweile
zum § 52 a des Urheberrechtsgesetzes geäußert. Seine
Hauptbotschaft ist: Der § 52 a ist im Bildungs- und Wissenschaftsbereich praktikabel anwendbar. - Damit besteht
Rechtssicherheit, insbesondere auch deshalb, weil entscheidende unbestimmte Rechtsbegriffe, die die Norm tatsächlich enthalten hat, weswegen sie befristet gewesen ist,
nun klar definiert sind:
Erstens. Der sogenannte kleine Teil wird jetzt mit eindeutigen Werten definiert: maximal 12 Prozent eines
Werkes und maximal insgesamt 100 Seiten.
Zweitens. Es dürfen auch in Zukunft weiter PDF-Dokumente verwertet werden.
Drittens. Wer unter den - Zitat - „bestimmt abgegrenzten Kreis von Unterrichtsteilnehmern“ fällt, sagt
der BGH ebenfalls klar: Erfasst ist jeder Student, der für
den Studiengang, in dem das entsprechende Werk zur
Anwendung kommen soll, immatrikuliert ist. Ein weiterer Kontrollmechanismus ist nicht notwendig. - Das ist
ein relativ klares Urteil, weshalb keine Änderung notwendig ist.
In einem weiteren Urteil sieht der BGH aber auch
ganz klar den Vorrang von vertraglichen Angeboten,
wenn diese angemessen sind. Ich kann mir vorstellen,
dass die Universitäten hierüber nicht in Begeisterungsstürme ausbrechen, weil die Angemessenheit natürlich
im Einzelfall geprüft werden muss, was zugegebenermaßen manchmal zu einem größeren bürokratischen Aufwand aufseiten der Hochschulen führen kann. Trotzdem
glaube ich, dass wir dieses Urteil als durchaus nachvollziehbar betrachten können. Es bestätigt schließlich die
Politik von CDU und CSU, so wie wir sie bisher betrieben haben. Es geht hier auch um einen Interessenausgleich. Es geht darum, dass wir einerseits dem, was der
Wissenschafts- und Bildungsbetrieb braucht, Rechnung
tragen, andererseits diesen aber nicht gegen die Verlage
ausspielen. Es geht also um praktikable Lösungen und
verantwortungsvolle Politik.
Zusammenfassend: Der BGH hat beiden Seiten der
Praxis konkrete Werte an die Hand gegeben, mit denen
es sich gut arbeiten lässt. Aus diesem Grund schlagen
wir vor, § 52 a Urheberrechtsgesetz zu entfristen. So bekommen wir genügend Zeit und können ohne Zeitdruck
an der Umsetzung einer Vereinbarung unseres Koalitionsvertrags arbeiten, der Ausgestaltung einer allgemeinen Bildungs- und Wissenschaftsschranke.
Vielen herzlichen Dank.
({2})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Tankred
Schipanski, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich hätte
nicht gedacht, dass ich mit Frau Schieder einmal einer
Meinung bin.
({0})
Aber, liebe Frau Schieder, Sie haben ganz recht: Der
Vorschlag der Entfristung des § 52 a Urheberrechtsgesetz ist ein erster Schritt. Es ist ein richtiger Schritt.
Liebe Frau Künast, weitere Schritte werden folgen.
({1})
Sie nehmen aus der Debatte heute mit, was noch alles
folgen wird.
({2})
Wenn Ihr Telefon wieder klingelt, können Sie, so hoffe
ich, berichten, was im Urheberrecht alles geplant ist.
Hätten Sie vorher in den Koalitionsvertrag geschaut, hätten Sie das schon früher erkennen können.
({3})
Mit der Entfristung schaffen wir ein ganzes Stück mehr
Rechtssicherheit für alle betroffenen Akteure, ob Lehrer,
Wissenschaftler, Forscher oder Bibliothekare, aber auch
für Autoren und Verleger. Gleichzeitig schränkt die vor4992
gestellte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die
Praktikabilität des § 52 a für Wissenschaftler und Forscher ein; Ansgar Heveling und Katrin Albsteiger haben
darauf zu Recht hingewiesen.
Daher ist der Gesetzgeber jetzt gefragt, inwieweit er
dieses Richterrecht ausformt oder abändert. Politisch haben wir uns klar entschieden: Ziel ist es, die in § 52 a geregelten Ausnahmen zusammen mit den anderen urheberrechtlichen Regelungen in den Bereichen Unterricht
und Forschung zu einer einheitlichen Bildungs- und
Wissenschaftsschranke im Urheberrecht zusammenzuführen.
({4})
Das haben wir im Koalitionsvertrag klar vereinbart. Die
Bundesregierung - Frau Künast hat darauf hingewiesen - hat das auch ganz klar in der Digitalen Agenda formuliert; darüber freue ich mich.
Wir geben uns mit der Entfristung jetzt Zeit, mit der
gebotenen Sorgfalt über die Ausgestaltung einer allgemeinen Wissenschaftsschranke zu diskutieren. Diese
Zeit brauchen wir auch. Die Kollegen, die schon eine
Weile an diesem Thema dran sind, wissen, dass es gegensätzliche, aber gut begründbare Interessen gibt, die
aufeinanderprallen. Ein fairer Ausgleich lässt sich nicht
in einem Hauruckverfahren erreichen.
Dabei ist es mir wichtig, dass mit der allgemeinen
Wissenschaftsschranke auch die Bibliotheken und Archive angemessen berücksichtigt werden. Auch für den
Bibliotheksbereich macht der Koalitionsvertrag klare
Vorgaben.
Meine Damen und Herren, die Gestaltung einer allgemeinen Wissenschaftsschranke ist keine triviale Aufgabe;
Kollege Flisek hat das dargestellt. Eine europarechtskonforme Ausgestaltung, die sowohl den Interessen der
Rechteinhaber als auch den Interessen der Wissenschaft
gerecht wird, ist nicht einfach zu erreichen.
Daher ist es höchst erfreulich, dass das BMBF aktiv
geworden ist und ein Gutachten in Auftrag gegeben hat,
das meines Erachtens eine sehr gute Diskussionsgrundlage darstellt. Dieses Gutachten - es wurde von Frau
Professorin de la Durantaye verfasst - wurde schon angesprochen. Sie hat innerhalb von eineinhalb Jahren eine
Leitplanke für eine künftige Schrankenregelung entwickelt, insbesondere mit Blick auf die Einordnung in internationales Recht.
Die derzeitige Rechtslage wurde nicht nur von der
technischen Entwicklung überholt. Sie ist auch nicht
sonderlich verständlich formuliert.
({5})
- Frau Wawzyniak, so ist es. - Wir wollen nicht, dass
Forscher und Bibliothekare ein Aufbaustudium im Urheberrecht benötigen, um rechtssicher mit wissenschaftlichen Publikationen umgehen zu können.
({6})
Wir brauchen eine technologieoffene Regelung, die wir
nicht nach jeder technischen Neuentwicklung anpassen
müssen. Wir brauchen eine lesbare und verständliche
Regelung sowie langfristige Rechtssicherheit für alle
Beteiligten.
Frau de la Durantaye schlägt eine schlanke und elegante Formel vor, die meines Erachtens eine sehr geeignete Diskussionsgrundlage ist. Für die Nutzung einer
Schranke möchte sie selbstverständlich auch eine Vergütungspflicht einführen.
An dieser Stelle muss ich dem Kollegen Heveling ein
bisschen Wasser in den Wein gießen. Es wurde gesagt,
nach § 52 a des Urheberrechtsgesetzes fließe aktuell keine
Vergütung. Das muss man fairerweise dahin gehend
richtigstellen, dass die VG Wort die angebotenen Gelder
- auch als Abschlagszahlung - bisher mit dem Hinweis
auf die ungeklärte Rechtslage abgelehnt hat. Mit der
Aussage, dass kein Geld geflossen sei, werden also die
Tatsachen etwas verdreht. Die Verhandlungen über einen
Rahmenvertrag stehen kurz vor dem Abschluss. Danach
wird rückwirkend für die vergangenen Jahre gezahlt
werden.
In den bevorstehenden Verhandlungen zu einer einheitlichen Wissenschaftsschranke gilt es also, die Interessen der Wissenschaft gegen die Interessen der Rechteinhaber abzuwägen. Dabei muss es uns insbesondere
gelingen, der wachsenden Bedeutung der elektronischen
Kommunikation für Wissenschaft und Forschung sowie
für die akademische Lehre Rechnung zu tragen. Nur so
können wir ein modernes, zeitgemäßes und nutzerfreundliches Urheberrecht schaffen.
In diesem Sinne freue ich mich auf die vor uns liegende Arbeit und danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Vielen Dank. - Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/2602 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Cornelia Möhring, Kathrin Vogler, Sabine
Zimmermann ({0}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Pille danach jetzt aus der Rezeptpflicht entlassen
Drucksache 18/2630
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Cornelia
Möhring, Fraktion Die Linke.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Eigentlich sollten wir jetzt über den Antrag mit dem Titel „Den Bundesratsbeschluss zur rezeptfreien ,Pille danach‘ schnell umsetzen“ diskutieren und darüber abstimmen. Eigentlich hätte der Gesundheitsausschuss gestern
eine Beschlussempfehlung dazu beschließen können, damit wir heute zu einer Entscheidung im Plenum kommen. Eigentlich hätte dann eine Mehrheit im Bundestag
die Chance gehabt, Minister Gröhe gemeinsam aufzufordern, seine Blockadehaltung aufzugeben und die Freigabe im Bundesanzeiger zu veröffentlichen.
({0})
Nun hat aber die SPD noch Beratungsbedarf angemeldet und aus diesem Grund keine Beschlussempfehlung
zugelassen, und das, obwohl ihr Kollege Lauterbach in
der ersten Plenarwoche im Februar sehr überzeugend argumentiert hat, warum der Freigabe nichts Vernünftiges
entgegensteht. Der Beratungsbedarf scheint also eher an
ihrem Koalitionsgefängnis zu liegen.
({1})
Damit wir das „eigentlich“ in ein „trotzdem“ ändern,
haben wir zu dem gleichen Thema einen neuen Antrag
eingebracht. Ich hoffe sehr, dass wir Ihren Beratungsbedarf dadurch erheblich abkürzen können. Jetzt heißt der
Antrag „Pille danach jetzt aus der Rezeptpflicht entlassen“. Denn, liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt keinerlei vernünftige Gründe, eine rezeptfreie Abgabe der
Pille danach länger zu verhindern.
({2})
In diesem Zusammenhang muss man Folgendes zur
Kenntnis nehmen:
Erstens. Der Wirkstoff Levonorgestrel ist medizinisch
unbedenklich.
Zweitens. Es geht hier nicht um eine Abtreibungspille
und auch nicht um ein Dauerverhütungsmittel, sondern
um eine Notfallverhütung.
Drittens. Je früher diese Notfallverhütung eingenommen wird, umso besser wirkt sie.
Viertens. Wir wissen, dass es gerade am Wochenende
fast unmöglich ist, eine Arztpraxis zur Beratung aufzusuchen, wodurch erhebliche Verzögerungen entstehen
können.
Fünftens. In immerhin weltweit 79 Ländern gibt es
die Pille danach rezeptfrei, und sie ist gut erprobt.
Sechstens. Von der Weltgesundheitsorganisation bis
zum Sachverständigenausschuss für Verschreibungspflicht sind sich alle einig: Alle gesundheitspolitischen
Argumente sind widerlegt.
Und siebtens. Der Bundesrat hat die politische Entscheidung für die rezeptfreie Abgabe beschlossen, und
das zuletzt im Mai 2014.
Wir haben sowohl im Bundestag als auch in den meisten Bundesländern dafür eine politische Mehrheit - eigentlich. Leider haben es hier im Hause noch nicht alle
begriffen. Ich sage es noch einmal: Frauen sind in der
Lage, die Informationen zur Anwendung zu verstehen.
Die Apotheker und Apothekerinnen haben in ihrem Studium den Schwerpunkt Pharmazie und können beraten.
Leider suchen wir die notwendige und sehr einfache Verkündung im Bundesanzeiger bisher vergeblich. Herr
Minister Gröhe ist nicht anwesend, deshalb muss Frau
Staatssekretärin Fischbach ihm dies weiterleiten: Ich
finde, das ist nicht hinnehmbar.
({3})
Für genauso wenig hinnehmbar halte ich es, dass Sie
in Ihren Antworten auf unsere Kleine Anfrage vom März
Frauen - und Apotheker und Apothekerinnen gleich mit
- für blöd erklären.
({4})
Denn laut Ihrer Aussage haben nur Ärzte aufgrund ihrer
Ausbildung besondere Kenntnisse über die - ich zitiere „geistig-seelischen Eigenschaften des Menschen“. Ich
finde, solche Aussagen passen eher in eine Vorabendserie oder in einen Arztroman, aber bestimmt nicht in die
Politik.
({5})
Frau Staatsekretärin, werte Kollegen und Kolleginnen
der Regierungskoalition, noch einmal zum Mitschreiben: Frauen sind in der Lage, den Bedarf und die Folgen
einer Notfallverhütung - darum geht es - selbstbestimmt
einzuschätzen. Apotheker und Apothekerinnen können
über den Wirkstoff und seine Wirkung kompetent beraten.
Hand aufs Herz: Was, bitte schön, soll der Arzt oder
die Ärztin Außergewöhnliches verkünden, wenn der
Gummi geplatzt ist?
({6})
Soll er oder sie sagen: „Wenn Sie jetzt nicht ungewollt
schwanger werden wollen, müssen Sie ausnahmsweise
mal anders verhüten“? Hallo, das weiß die Frau schon,
seitdem sie die Entscheidung traf, eine Arztpraxis aufzusuchen.
({7})
Ich sage noch einmal: Es gibt keinen vernünftigen
Grund, die Freigabe länger zu verhindern, es sei denn,
Sie haben Lust auf die Bevormundung und Repression
von Frauen.
({8})
Lassen Sie es sein. Zur Unterstützung möchte ich noch
einmal den Kollegen Lauterbach zitieren, der in der Debatte im Februar sehr treffend sagte - Zitat -:
Ich komme zum Fazit: Es scheint hier so zu sein,
dass Frauen in einer Notlage - das ist sicherlich im4994
mer eine Notlage - das Recht auf Hilfe ohne gute
Begründung, also willkürlich, vorenthalten werden
soll. Das ist nicht zeitgemäß.
Da hat er völlig recht.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich
wende mich explizit an Sie: Es war doch schon alles
klar. Aus Ihrer Fraktion kamen sehr deutliche Worte.
Deswegen finde ich jetzt Ihre stillschweigende Zustimmung zur Haltung des Gesundheitsministers und Ihre
neue Verhinderungstaktik unerträglich. Ich wäre Ihnen
wirklich dankbar, wenn Sie diese Mithaftung für ein vorsintflutliches Patriarchat beenden könnten.
({10})
Das ist doch im Kern die Wiederkehr einer Bevölkerungspolitik, in der Selbstbestimmungsrechte von Frauen
zum Spielball ganz anderer Interessen werden. Dabei
könnte mit der Lex Gröhe, der Verweigerung der rezeptfreien Abgabe der Pille danach, sehr schnell Schluss
sein. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn es wirklich
in der Koalition krachen sollte, dann wäre es doch ein
würdiger Anlass, wenn es bei der Frage der Fraueninteressen dazu käme.
({11})
Also, lassen Sie es krachen! Aber vielleicht haben Sie ja
auch die Hoffnung, tatsächlich die Beratungsresistenz zu
durchbrechen.
Wenn es um das Recht der Selbstbestimmung von
Frauen über ihren Körper geht - dazu gehört eine selbstbestimmte Familienplanung -, haben Vorschriften vom
Staat, von einer Institution wie der Kirche oder auch von
anderen Menschen nichts zu suchen. Was eine Frau mit
ihrem Partner oder ihrer Partnerin in einer konfliktreichen Lebenslage entscheidet - es ist eine konfliktreiche
Lebenslage, wenn eine Schwangerschaft beginnt und
diese ungewollt ist -, ist allein ihre Sache.
({12})
Es ist auch allein ihre Sache, an wen sie sich wendet, um
beraten zu werden, ob sie zur Apotheke geht oder eine
Arztpraxis aufsucht.
Lassen Sie mich abschließend festhalten: Dass wir
immer noch über die Rezeptfreiheit der Pille danach diskutieren, ist leider Teil eines spürbaren Rollbacks hinsichtlich sexueller und reproduktiver Rechte von Frauen,
zu denen selbstverständlich auch eine selbstbestimmte
Familienplanung gehört.
Frau Kollegin.
Ich komme zum Ende. - Dieses Rollback, diese
Rückschritte - das wissen Sie alle - kommen mit wachsenden homophoben Einschlägen, mit Machtgehabe gegenüber Frauen, mit Familienbildern aus dem 19. Jahrhundert daher. Ich bitte Sie sehr: Machen Sie da nicht
länger mit! Hier geht es lediglich um den unkomplizierten Zugang zu einer selbstbestimmten Notfallschwangerschaftsverhütung, und das, liebe Kolleginnen und
Kollegen, sollte im 21. Jahrhundert eine Selbstverständlichkeit sein.
Danke.
({0})
Frau Kollegin Möhring, ich habe Ihre Redezeit schon
sehr großzügig ausgelegt und erst spät daran erinnert,
zum Schluss zu kommen. Ich darf daran erinnern, dass
wir alle miteinander die Redezeiten vereinbaren. Wenn
jeder oder jede anderthalb Minuten länger spricht, beginnen die nachfolgenden Debatten zu spät. Wir sind schon
großzügig, aber man darf es nicht übertreiben.
Nächste Rednerin ist jetzt Emmi Zeulner, CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Kollegin Möhring, eigentlich
fühle ich mich in Deutschland selbstbestimmt, und nicht
nur eigentlich, sondern ganz sicher entscheide ich selbst,
was ich mit meinem Partner mache und was nicht.
({0})
Bereits im Februar haben wir die Rezeptfreiheit von
Levonorgestrel, kurz LNG, hier im Plenum des Bundestags diskutiert. Zwischenzeitlich hat eine öffentliche Anhörung dazu stattgefunden, und wir haben in den Arbeitsgruppen und auch im Ausschuss darüber debattiert.
Die Argumente auf beiden Seiten sind dieselben geblieben. Ich erkenne aber an, dass wir uns im Sinne der
Frauengesundheit eine Entscheidung nicht leicht machen
dürfen, und respektiere den weiteren Diskussionsbedarf
im demokratischen Sinne; dieses Anliegen eint uns wohl
alle.
Seien Sie versichert: Ich bin mir bei der ganzen Diskussion bewusst, dass wir sowohl das hohe Gut der Patientensicherheit als auch das Recht auf Selbstbestimmung berücksichtigen müssen. Bei einer Entscheidung
über die Freigabe von LNG muss beides abgewogen
werden.
Die Fraktion Die Linke hat ihre Abwägung diesbezüglich getroffen. Für mich sind die Verbesserungen, die
sich durch die Freigabe von LNG für die Frauen einstellen sollen, jedoch nicht so klar erkennbar. Laut Ihrem
Antrag soll die Freigabe unter anderem einer Stigmatisierung der betroffenen Frauen entgegenwirken. Doch
ich bitte Sie, nochmals genau hinzusehen, was die subjektive Wahrnehmung der Betroffenen angeht. Denn laut
einer aktuellen europäischen Studie fühlen sich 30 ProEmmi Zeulner
zent der Frauen unwohl, stigmatisiert und bevormundet,
wenn sie sich eine Notfallkontrazeption besorgen müssen, und das unabhängig davon, ob in den jeweiligen
Ländern die Rezeptfreiheit von LNG bereits eingeführt
wurde oder nicht. Eine Stigmatisierung von Mädchen
und Frauen, gerade in Notsituationen, möchte nicht nur
ich verhindern, sondern - da bin ich mir sicher - alle in
diesem Saal Anwesenden.
Wenn wir von der subjektiven Wahrnehmung der
Frauen reden, müssen wir in diesem Zusammenhang
auch die als unzureichend empfundene Aufklärung über
die Wirkung der Pille danach in den Fokus nehmen. Immer noch herrscht laut der bereits zitierten Studie aus
dem Jahr 2014 gefährliche Unwissenheit über die Effizienz einer hormonellen Notfallkontrazeption. Dies hob
auch Dr. Julia Bartley, Leiterin der Hormonsprechstunde
an der Charité, in ihrer Stellungnahme zu der öffentlichen Anhörung hervor. Über 80 Prozent der befragten
Frauen wünschen sich demnach eine bessere Aufklärung
über die Pille danach. Davor dürfen wir in Deutschland
nicht die Augen verschließen; denn nur eine aufgeklärte
Frau kann im Notfall zu einer informierten und selbstbestimmten Entscheidung kommen.
({1})
Über das Ziel sind wir uns somit alle einig: Frauen in
Deutschland soll, wenn eine Notfallverhütung notwendig ist, rasche und umfassende Hilfe zuteilwerden. Uneins hingegen sind wir uns über den Weg zu dieser Hilfe
und über die Ausgestaltung der Rahmenbedingungen.
Die bewährten Rahmenbedingungen für die Pille danach dürfen wir durch eine Freigabe nicht etwa schmälern, sondern wir müssen sie weiter erhalten. Dies gilt
auch im Hinblick auf die Entscheidungen auf europäischer Ebene. In diesem Punkt stehe ich voll hinter unserem Gesundheitsminister Hermann Gröhe, der aus
nachvollziehbaren Gründen an der bewährten Linie
Deutschlands in diesem Punkt festhält. Auch wenn die
Entscheidung der EU-Kommission über das Präparat
UPA, die im November vorliegen soll, ihre Schatten vorauswirft, muss es erst recht unser Anliegen sein, den betroffenen Frauen in Deutschland eine fundierte Beratung
zukommen zu lassen.
({2})
Auch die Konsultation des Internets, wie es einigen
Kollegen vorschwebt, ist für mich keine ausreichende
Beratungsgrundlage. Die Kompetenz von Ärzten sollte
nicht durch einen Fragebogen im Internet, wie es schon
heute über die Seite DrEd möglich ist, oder durch einen
bloßen Klick auf den Button „In den Einkaufswagen“ ersetzt werden. Kann Ihrer Meinung nach ein zweiminütiger Videoclip dasselbe leisten wie das Vieraugengespräch in einem geschützten Raum mit einem
approbierten Arzt?
({3})
- Hallo? Ich höre auch zu, wenn Sie sprechen. - Durch
das Geschäftsmodell von DrEd wird nicht nur das ärztliche Berufsrecht, das Fernbehandlungen und Arzneimittelverschreibungen ohne Patientenkontakt verbietet, unterlaufen. Nein, hinzu kommt, dass die Kosten für die
Behandlungen, vor allem für die Folgebehandlungen
aufgrund von Komplikationen oder Fehldiagnosen, die
Solidargemeinschaft in Deutschland tragen muss.
Eine der Stärken unseres deutschen Gesundheitssystems ist es, dass wir den Arzt-Patienten-Kontakt als Voraussetzung für Erstverschreibungen von Arzneimitteln
festgelegt haben.
({4})
Um dieses System nicht zu unterlaufen, werden wir, wie
im Koalitionsvertrag verankert, das Verbot von Onlinekonsultationen rechtlich fixieren. Weiterhin sehe ich es
sehr kritisch, dass bei einer Freigabe den Herstellern der
Weg offen stünde, für ihr Produkt zu werben.
Sowohl die Bundesärztekammer als auch der Deutsche Apothekerverband sprechen sich ausdrücklich gegen Werbung für das Präparat LNG aus. Werbung für die
Pille danach würde ein falsches Signal senden; denn sie
ist kein Ersatz für die weiterhin verschreibungspflichtige
Antibabypille, sondern ein hochdosiertes Notfallmedikament.
({5})
Zusammenfassend möchte ich sagen: Für mich sind
folgende Argumente am treffendsten:
Erstens müssen wir den Frauen eine Beratung in einem geschützten Raum unter vier Augen gewähren;
denn die Empfänger der Pille danach sind eben nicht nur
Frauen, die mitten im Leben stehen, sondern auch Minderjährige oder Frauen, denen Gewalt angetan wurde.
Eine solche Beratung kann nachts am Apothekerfenster
oder durch ein kurzes Onlinevideo meiner Ansicht nach
nicht gewährleistet werden und entspricht auch nicht den
Bedürfnissen der Betroffenen.
({6})
Zweitens besteht für die Frauen nur im Rahmen des
direkten Arztkontaktes die Möglichkeit, im Notfall individuell und fachkundig beraten zu werden. Ich sehe unsere Verantwortung als Gesundheitspolitiker darin, im
Sinne und zum Wohl der Patienten zu entscheiden. Der
Arzt muss die zentrale Beratungsfigur bleiben; denn nur
er kann im Zweifelsfall eine gynäkologische Untersuchung sowie eine Nachsorge vornehmen, die der Gesundheit der Frauen gerecht wird.
({7})
Drittens hinkt der Vergleich mit anderen Ländern, wie
Sie ihn in Ihrem Antrag anstellen. Anhand der Ausgangsbedingungen in Deutschland erkenne ich keine
Notwendigkeit für eine Freigabe. Wir haben bestens
qualifizierte Ärzte und eine hohe Dichte an niedergelas4996
senen Gynäkologen. Auch außerhalb der regulären Öffnungszeiten der Praxen ist durch den Ärztlichen Bereitschaftsdienst, der dem Patienten rund um die Uhr zur
Verfügung steht, eine Betreuung gewährleistet. Auch
dank unseres funktionierenden Gesundheitssystems, das
auch die Rezeptpflicht von LNG umfasst, haben wir eine
beispiellos niedrige Abtreibungsrate, die weiterhin rückläufig ist.
({8})
Viertens. Ich sehe in dem Gang zum Arzt noch immer
keine Einschränkung meiner Selbstbestimmung. Denn
wer fängt die Frau denn auf, wenn sie mit den Nebenwirkungen der Pille danach zu kämpfen hat oder wenn Fragen auftauchen, die das DrEd-Video nicht in zwei Minuten zu beantworten geschafft hat?
Ich komme zu dem Schluss: Das Recht auf Selbstbestimmung und das hohe Gut der Patientensicherheit
({9})
schließen sich nicht aus - sie ergänzen sich.
Vielen Dank.
({10})
Vielen Dank. - Das Wort hat jetzt Kordula SchulzAsche, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Erneut
fordern wir heute, die sogenannte Pille danach endlich
aus der Rezeptpflicht zu entlassen, und erneut erleben
wir heute ein Trauerspiel der CDU/CSU. Sie steht gegen
die Mehrheit dieses Hauses, die Mehrheit des Bundesrates und auch gegen die Vernunft.
({0})
Die Position der Union ist fachlich nicht haltbar, und
ihr fällt nicht einmal auf, dass sie sich instrumentalisieren lässt. Seit Jahren wird das Selbstbestimmungsrecht
von Frauen in Deutschland beschnitten, die befürchten,
nach einem Geschlechtsverkehr ungewollt schwanger zu
werden. CDU und CSU verweigern diesen Frauen, was
in fast allen europäischen Ländern und den USA übliche
Praxis ist: der direkte, rezeptfreie, schnelle Zugang zur
Notfallverhütung mit dem Wirkstoff Levonorgestrel.
Wenn es nach der Vernunft gehen würde, dürfte ihre Verhinderungsstrategie nicht länger greifen. Wir haben es
hier mit einer kruden Mischung aus mindestens drei
Punkten zu tun: Erstens lässt die Union eine Bevormundung von Frauen zu und unterstellt ihnen, sie würden
oder könnten nicht verantwortungsvoll selbst entscheiden. Zweitens lässt sie sich vor den Karren von berufspolitischen Interessen sowie den Absatzinteressen eines
einzelnen Pharmaherstellers spannen.
({1})
Drittens ist die SPD in der Koalitionsdisziplin gefangen:
Sie will zwar, aber sie kann nicht.
Besonders pikant ist, dass die Union durch das Hören
auf einzelne Ärzteverbände den Hersteller des doppelt so
teuren, in seinen Nebenwirkungen weniger bekannten
Wirkstoffs Ulipristalacetat massiv fördert.
({2})
Das verwundert; denn dieses Arzneimittel entstammt
derselben Wirkstoffklasse wie das Produkt Mifepriston,
das für medizinisch induzierte Schwangerschaftsabbrüche zugelassen ist. Eine abtreibende Wirkung kann also
nicht ausgeschlossen werden. Überspitzt formuliert heißt
das: Die Union fördert den Absatz einer Abtreibungsanstelle einer Verhütungspille. Damit hätte ich übrigens
- vermutlich im Gegensatz zu Ihnen - kein grundsätzliches Problem. Ich habe aber ein Problem damit, dass
deutsche Frauenärzte diesen Wirkstoff zum Standard erklären wollen.
({3})
Das, meine Damen und Herren, steht im klaren Widerspruch zur Bewertung des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte, das eine dem Gesundheitsministerium untergeordnete Behörde ist.
Das Geschmäckle wird verstärkt, wenn die treibende
Kraft hinter den Empfehlungen der deutschen Frauenarztverbände, den Wirkstoff Ulipristalacetat als Standard
zu definieren, eindeutig in Interessenkonflikten steht. So
findet man in internationalen Publikationen den Hinweis
darauf, dass diese treibende Kraft der Frauenärzte als
Berater von HRA, dem Hersteller des Wirkstoffs, tätig
ist. Hinzu kommt, dass die Empfehlung der Frauenarztverbände ausschließlich auf die Hotline und die Internetseite dieses Herstellers verweist. Hinweise auf Seiten
von Herstellern der Pille danach mit dem Wirkstoff Levonorgestrel fehlen völlig. Dies ist übrigens vor allem
im Interesse des Herstellers HRA; denn der Absatz seines Produkts beschränkt sich faktisch ausschließlich auf
Deutschland. In anderen Ländern der EU ist er gar nicht
auf dem Markt. Auch das verstärkt das Gefühl, dass hier
unerwünschte Interessenverquickungen vorliegen.
({4})
Wir Grüne setzen uns dafür ein, dass Frauen das Recht
haben, nach einer Verhütungspanne selbstbestimmt eine
nicht gewollte Schwangerschaft zu verhindern, dass das
Medikament so schnell wie möglich zur Verfügung
steht, weil es dann besonders wirksam ist, und dass
Frauen eine informierte Entscheidung treffen können.
Dazu wollen wir die Beratung in den Apotheken stärken
und Entscheidungshilfen im Internet anbieten. Daher
fordern wir, die Rezeptfreiheit für die Pille danach mit
dem Wirkstoff Levonorgestrel in Deutschland endlich
einzuführen.
({5})
Die Unionsabgeordneten und -abgeordnetinnen fordere ich ausdrücklich auf, kritisch zu überprüfen, ob sie
sich von anderen vor den Karren spannen lassen wollen.
Die Hoffnung habe ich noch nicht aufgegeben.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit,
({6})
gerade und besonders Ihnen ganz persönlich. Danke
schön.
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Hilde Mattheis,
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Möhring hat eingangs den Kollegen Lauterbach zitiert. Ich glaube, Sie hätten viele von uns in der SPDBundestagsfraktion zitieren können. Wir müssen uns
hier ja nichts vormachen: Das BfArM fordert die Rezeptfreiheit seit 2003, 2009 hat Spanien die Rezeptfreiheit als eines der letzten europäischen Länder durchgesetzt, und 2010 hat auch die WHO diese Empfehlung
gegeben.
An die Debatte kann man unterschiedlich herangehen.
Man kann auch unterschiedliche Problemlösungsstrategien fahren. Ich bin dafür, dass wir die Beratungszeit, die
wir vereinbart haben, vollumfänglich ausschöpfen, nach
dem Grundsatz: Beraten und Überzeugen.
({0})
Wir wollen überzeugen und deutlich machen, dass es natürlich um das Selbstbestimmungsrecht der Frau und darum geht, Lösungen für Konfliktsituationen, für wirkliche Notsituationen zu finden. Am Wochenende zum
Beispiel kann eine solche Notsituation auftreten - wir
wissen um die Frist, die man einhalten muss, um eine
optimale Wirkung zu erzielen -, wenn die Beratung in
der Notfallstation erfolgt und zufällig kein Gynäkologe
anwesend ist. Wir versuchen auch, dahin gehend zu
überzeugen, dass auch Apotheker Beratungen vollumfänglich durchführen und Beratungssituationen professionell gestalten können.
Ich glaube, dass es wichtig ist, auf die europäische
Ebene zu schauen. Die Rezeptfreiheit des Wirkstoffs
Ulipristal ist eine Möglichkeit; darüber wird im November entschieden. Wir wissen aber alle, wie die Wirklichkeit aussieht: Im Internet kann man mit zwei Klicks und
dem Ausfüllen eines kleinen Beratungsformulars für
25 Euro ein Rezept bekommen. Auch das ist die Wirklichkeit.
Wir als SPD haben unsere Forderung im Koalitionsvertrag nicht verankern können. Unsere Haltung ist eindeutig. Wir wollen natürlich das Beste und das Richtige
erreichen, nämlich die Selbstbestimmung der Frauen sicherstellen und eine optimale Beratungssituation. Wir
wollen auch klarmachen, dass wir alle miteinander hier
nicht über Empfängnisverhütung diskutieren; denn wir
wissen, dass die Pille danach alles andere ist. Wir diskutieren aber auch nicht über Schwangerschaftsabbrüche,
sondern wir diskutieren über die Rezeptfreiheit der Pille
danach. Das ist eine andere Ebene.
({1})
Lassen Sie uns das fachlich und sachgerecht, aber nicht
überdimensioniert angehen. Es geht um die Rezeptfreiheit.
Meine Fraktion hat in der letzten Legislaturperiode
einen Antrag eingebracht, in dem wir die unserer Meinung nach wichtigen Bausteine formuliert haben. Dabei
geht es auch um die Datenerhebung; denn man braucht
eine fundierte Datengrundlage, um die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen. Da geht es aber auch darum, dass
man sich die Beratungssituation genau anschaut, und,
und, und.
Frau Kollegin.
Ich finde, wir sollten dieses Thema hier mit der hinreichenden souveränen Gelassenheit angehen, die diesem Thema entspricht. Denn es geht darum, für Frauen
etwas zu erreichen. Wir wollen das, und wir schaffen das
gemeinsam mit einer nüchternen, ruhigen und sachlichen Beratung und Überzeugungsarbeit.
Ich danke.
Frau Kollegin Mattheis, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Vogler, oder haben Sie gerade Ihre
Rede beendet?
Ich war jetzt gerade fertig.
Sie hatten noch Redezeit. Sie könnten also noch die
Zwischenfrage zulassen.
Ich war gerade fertig.
Danke schön.
({0})
Nächste Rednerin ist Karin Maag, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Linke ist offensichtlich nicht bereit, den Beratungsbedarf, den unsere Kollegen aus der Koalition angemahnt haben, zu akzeptieren. Ich finde das schade. Ich
finde es mit Kollegin Mattheis wenig souverän, solche
Dinge im Schweinsgalopp durch das Parlament zu peitschen.
({0})
Wenn ich Kollegin Möhring oder auch Frau Vogler höre,
dann wünsche ich mir tatsächlich Martina Bunge oder
Kathrin Senger-Schäfer zurück. Da war zumindest ein
verantwortungsvollerer Umgang mit Redezeit im Deutschen Bundestag gewährleistet.
({1})
Wenn wir nun schon darüber reden, will ich gerne unsere Positionen wiederholen. Ja, wir wollen die Rezeptpflicht für die Pille danach beibehalten, vor allem, weil
wir den hohen Beratungsbedarf im geschützten Arzt-Patientinnen-Gespräch sehen. Wenn Sie bei der Anhörung
waren oder das Protokoll der Anhörung gelesen haben,
werden Sie viele Argumente gefunden haben, die diese
Position bestätigen.
Warum wollen wir diese Beratung? Der Einzelsachverständige Dr. Albring hat erneut bestätigt, dass insbesondere über die Wirkung von Levonorgestrel aufgeklärt
werden muss. Im Beratungsgespräch sollte zum Beispiel
vorab geklärt werden, ob überhaupt ein Notfallkontrazeptivum genommen werden muss. Es gibt nämlich eine
Reihe von Zeiten im Zyklus, in denen die Pille danach
gar nicht notwendig ist. In diesen Zeiten muss natürlich
eine Patientin, eine Frau auch nicht das Risiko hoher
Hormongaben und Nebenwirkungen eingehen. Wenn
dann doch ein Notfallkontrazeptivum angezeigt sein
sollte, geht es natürlich um das geeignete Präparat, aber
zum Beispiel auch um die Frage, ob nicht die Kupferspirale, die höchste Sicherheit in der Notfallverhütung bietet - das hat übrigens auch eine Anhörung ergeben -,
empfohlen werden muss.
Beratungskapazität ist vorhanden. Wir haben in
Deutschland - Kollegin Zeulner hat es bereits erwähnt eine flächendeckende ärztliche Versorgung mit Bereitschaftsdienst, mit Notdienst rund um die Uhr.
({2})
In Deutschland gibt es rund 10 000 niedergelassene
Gynäkologen; auf einen dieser Gynäkologen kommen
4 000 Patientinnen. Sie erwähnen gelegentlich Frankreich und England. Da betreuen die Frauenärzte jeweils
doppelt so viele Patientinnen. Das Argument, schnelleren Zugang zu haben, zieht also meines Erachtens nicht.
({3})
- Wir sprachen vorhin über Souveränität, aber ich sehe,
dass ich diese nicht von jedem Mitglied dieses Hohen
Hauses erwarten sollte.
Wir haben in der Anhörung auch gehört, dass bei
13 Prozent der deutschen Mädchen und 19 Prozent der
Mädchen mit Migrationshintergrund - das berichtete
Professorin Brucker - sexueller Kontakt gegen den Willen der Betroffenen stattfindet. Die Chance, dass diese
sich nachts in der Apotheke, womöglich am Nachtschalter, öffnen, ist ungleich geringer als im vertraulichen
Arztgespräch.
({4})
- Wir sollten die Diskussion jetzt auch nicht ideologisch
überfrachten.
Ich, meine Fraktion und vielleicht auch die Kolleginnen von der SPD sehen das sexuelle Selbstbestimmungsrecht der Frauen nicht in Gefahr.
({5})
Mir ganz persönlich geht es vor allem um eine informierte Entscheidung. Mir geht es darum, dass die Gesundheit der betroffenen Frauen so wenig wie möglich
beeinträchtigt wird. Vielleicht sind Sie sogar mit mir der
Ansicht - ich hoffe es bei Ihnen von den Linken nicht
mehr -, dass Männer den Frauen, zum Beispiel im Falle
einer Verhütungspanne, die Entscheidung nicht alleine
überlassen müssen, dürfen, sollen, sondern dass der gemeinsame Weg zum Arzt sinnvoller ist. Diese Gemeinsamkeit wird eher bei einem Arztbesuch gewährleistet,
als wenn Sie die Frau alleine in die Apotheke schicken.
({6})
Bei der Pille danach ist der Weg mit Rezeptpflicht
meines Erachtens der weniger belastende Weg. Es gibt in
der Praxis bei rund 400 000 Verordnungen kaum Schwierigkeiten. In Deutschland ist die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche in den letzten Jahren um 39 Prozent zurückgegangen - auch eine Folge kompetenter Beratung.
In Großbritannien ist die Pille danach seit zwölf Jahren
rezeptfrei erhältlich; die Abbruchraten sind seither um
7,7 Prozent gestiegen, sie sind fünfmal so hoch wie in
Deutschland. In Frankreich ist die Pille danach seit 1999
rezeptfrei erhältlich; die Abbruchraten sind doppelt so
hoch wie in Deutschland. Wir haben uns in der Anhörung mit Herrn Dr. Baumgärtel darüber unterhalten, dass
die Verkaufszahlen in Österreich seit der Abgabe ohne
Rezept um 50 Prozent gestiegen sind; die Zahl der
Schwangerschaftsabbrüche ist dort, so Frau Professor
Dr. Brucker, viermal so hoch wie in Deutschland. Ich
sehe deshalb wenig Grund, von unserem funktionierenden System abzuweichen. Im Gegenteil, aus meiner
Sicht gibt es weiter zahlreiche gute Gründe, dies gerade
nicht zu tun.
Jetzt komme ich zur Wirksamkeit. Zwei Wirkstoffe
sind im Moment in der Diskussion: Levonorgestrel und
Ulipristalacetat. Bei der Diskussion über die Entlassung
von Levonorgestrel aus der Rezeptpflicht reden wir - ich
zitiere jetzt Professor Dr. Wallwiener, auch aus der Anhörung im Juli - vom weniger effektiven Präparat. Warum weniger effektiv? Auch darüber haben wir uns
schon mehrfach unterhalten: Die Wirksamkeit ist abhängig vom Zeitpunkt der Einnahme. Bei Levonorgestrel ist
die Wirksamkeit nach 72 Stunden nicht mehr ausreichend gegeben, bei Ulipristalacetat nach 120 Stunden
nicht mehr. Levonorgestrel verschiebt den Eisprung um
fünf Tage; das funktioniert aber nur - so die Anhörung bis Tag zwei vor dem Eisprung. Ob der Eisprung nun
kurz bevorsteht, kann man, glaube ich, nicht in der Apotheke klären; das sollte per Ultraschall festgestellt werden.
({7})
Die Wirkung von Levonorgestrel verändert sich bei
gleichzeitiger Einnahme von Antiepileptika, Antidepressiva und Antibiotika. Ein Drittel der deutschen Frauen
wiegt über 75 Kilogramm, da wirkt Levonorgestrel gar
nicht; auch dieses Argument wurde schon mehrfach genannt.
({8})
Ich komme zu den Kosten und zum Werbeverbot.
Und bitte zum Schluss.
Versicherte bis zum vollendeten 20. Lebensjahr haben
Anspruch auf empfängnisverhütende Mittel, soweit sie
ärztlich verordnet werden. Ich glaube nicht, dass es den
Zugang zur Pille danach erleichtert, wenn die Jugendlichen dann 18 bis 35 Euro zahlen müssen. Das Publikumswerbeverbot würde fallen; ich möchte aber auch
nicht erleben, dass im Kino, im Fernsehen oder am
Bahnhof für die Pille danach geworben wird.
({0})
Kurzum: Es sprechen weiterhin viele gute Gründe dafür, die Pille danach verschreibungspflichtig zu lassen.
Ich bin aber gemeinsam mit den Kolleginnen aus der
SPD gerne bereit, weiter darüber zu diskutieren.
Herzlichen Dank.
({1})
Vielen Dank. - Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist die Kollegin Mechthild Rawert, SPDFraktion.
({0})
Liebe Frau Möhring, als Erstes möchte ich natürlich
feststellen, dass wir Parlamentarierinnen hier alle keine
Freigängerinnen aus dem Koalitionsgefängnis, sondern
frei gewählte Abgeordnete sind.
({0})
Frauen und Mädchen haben das Recht, selber über ihren Körper und ihr Leben zu bestimmen. Niemand sonst.
({1})
Für dieses Menschenrecht hat sich die SPD immer eingesetzt - in Deutschland und weltweit.
Bevor ich zu dem heute vorliegenden Antrag direkt
komme, möchte ich uns alle an etwas anderes erinnern:
1994 haben 179 Staaten - darunter Deutschland - auf
der UN-Weltbevölkerungskonferenz in Kairo die sexuellen Rechte und die sexuelle Selbstbestimmung der
Frauen zu einem Menschenrecht erklärt. Dieses Frauenrecht umfasst - ich zitiere ihr Recht, frei von Zwang, Diskriminierung und
Gewalt über Angelegenheiten im Zusammenhang
mit ihrer Sexualität, einschließlich der sexuellen
und reproduktiven Gesundheit, bestimmen und frei
und eigenverantwortlich entscheiden zu können.
({2})
Kollegin Rawert, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Vogler?
Ja.
Bitte schön.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Vielen Dank, Frau
Kollegin, dass Sie meine Zwischenbemerkung zulassen.
Ich habe mich gerade ein bisschen über den Satz, den
Sie gesagt haben, gefreut, Sie seien keine Freigängerin
aus dem Koalitionsknast, sondern eine frei gewählte Abgeordnete.
({0})
An diese frei gewählte Abgeordnete und alle ihre Kolleginnen und Kollegen möchte ich gerne meinen Appell
richten, genau diese Tatsache im Blick zu behalten.
({1})
- Ich stelle keine Frage. Lesen Sie bitte die Geschäftsordnung. - Ich möchte Sie ermutigen, auch einmal über
ein anderes Verhalten als dem reflexartigen Ablehnen
unserer Vorlagen nachzudenken, zumal unser Antrag
weitestgehend dem entspricht, was der Bundesrat schon
mit SPD-Stimmen beschlossen hat.
Ich möchte Sie dazu mit den Worten der Abgeordneten Lisa Gnadl aus der Sitzung des Sozial- und Integrationspolitischen Ausschusses des Hessischen Landtags
am 11. September dieses Jahres ermutigen, in der sie gesagt hat - ich zitiere -:
Für meine Begriffe kann man einen schnellen und
diskriminierungsfreien Zugang zur „Pille danach“
nur gewährleisten, wenn sie rezeptfrei ist. In allen
Debatten zu diesem Thema, auch im Bundestag,
habe ich nie irgendwelche medizinischen Gründe
gehört, die gegen eine rezeptfreie „Pille danach“
sprechen.
({2})
Diese SPD-Abgeordnete sagte weiter:
Ich finde es wichtig, dass wir es begrüßen und unterstützen, dass dieses Medikament aus der Verschreibungspflicht herausgenommen wird.
({3})
Ich verstehe nicht, warum Sie
- damit wendet sie sich an Union und Grüne sich um diesen Punkt so herumdrücken und diesen
Antrag der LINKEN nicht unterstützen wollen.
Ich glaube, viele Frauen draußen werden es auch
nicht verstehen, wenn ihr, liebe Mechthild, diesen Antrag der Linken heute nicht unterstützt
({4})
und euch mit uns dafür einsetzt, dass das, was ihr ja
mehrfach dokumentiert habt und auch selber wollt,
Wirklichkeit wird.
({5})
Herzlichen Dank für die Erinnerung, dass mit dieser
Diskussion sowohl der Bundestag als auch der Bundesrat befasst sind.
({0})
Zurück zu Kairo: Dieses Aktionsprogramm von Kairo
wurde vor drei Tagen noch einmal beschlossen.
Wir Abgeordnete lassen eine Bundesregierung ja
nicht unvorbereitet nach New York fahren.
({1})
Deswegen haben wir Abgeordnete von CDU, CSU und
SPD unter anderem in einem Antrag im Vorfeld dieser
Sondertagung gefordert, dass jedem Menschen eine
selbstverantwortliche und freie Entscheidung über Zeitpunkt und Anzahl der eigenen Kinder ermöglicht werden
muss und dass der Zugang zu anerkannten und modernen Methoden und Leistungen der Familienplanung unabhängig von der Zustimmung von Eltern und Ehepartnern sowie vom Familienstand sicherzustellen ist. Wir
haben explizit den freien - ich zitiere Zugang zu einer Bandbreite von sicheren, zuverlässigen, qualitativ hochwertigen und erschwinglichen
Verhütungsmitteln, inklusive Notfallkontrazeptiva,
gefordert.
Und ich fordere für die Frauen in Deutschland das
Gleiche, was wir für die Frauen in anderen Ländern auch
wollen.
({2})
Es kann nicht sein, dass das, was in 79 Staaten - darunter die meisten europäischen Staaten - längst medizinischer und pharmakologischer Alltag ist, uns hier in
Deutschland verwehrt wird.
Noch eines, Frau Zeulner: Aufklärung ja, aber Aufklärung im Vorfeld, Hilfe allerdings beim geplatzten
Gummi, und das zügig und mit Rezeptfreiheit.
({3})
Frau Maag, die Kosten einer Kupferspirale liegen bei
mehreren Hundert Euro. Wir werden weiter über dieses
Thema debattieren. Wir haben Beratungsbedarf, weil wir
selbstverständlich auch den Aspekt der Kosten der einzelnen Verhütungsmittel nicht außer Acht lassen wollen.
Das betrifft auch den Vergleich zwischen der Pille danach auf UPA- und der auf LNG-Basis. Unsere Haltung
ist, dass wir die Frauen nicht mit Mehrkosten belasten
wollen,
({4})
wenn es schon ein Rezept gibt, das millionenfach sicherstellt, dass eine ungewollte Schwangerschaft verhindert
wird.
({5})
Wir werden nach der europarechtlichen Entscheidung
zur Pille auf UPA-Basis ernsthaft über diese Interessenverquickungen reden. Wir werden auch die Unterscheidung zwischen der Pille danach auf LNG-Basis und der
auf UPA-Basis diskutieren. Wir werden somit also auch
über die freien Zugänge und die Rechte der Frauen diskutieren.
Wir wissen: Die Pille danach, auch auf LNG-Basis
- darüber brauchen wir gar kein Wort mehr zu verlieren -,
ist für die Frauen nicht gesundheitsgefährdend, und sie
ist nebenwirkungsarm. Machen wir uns nichts vor - machen wir uns in diesem Fall ehrlich -: Es geht hier weniger um die Pille danach als Medikament. Es geht um
unterschiedliche Wertentscheidungen hinsichtlich der
Selbstbestimmung und der Bevormundung von Frauen.
Vor allen Dingen geht es - erst recht, wenn ich an die
Diskussionen im Rahmen des Bündnisses für sexuelle
Selbstbestimmung vom vergangenen Wochenende denke um den freien Zugang zu Rechten. Dafür stehen wir SoMechthild Rawert
zialdemokraten und Sozialdemokratinnen. Da machen
wir weiter. Wir diskutieren intensiv weiter. Ich freue
mich auf die Diskussion. Wir überzeugen Sie noch.
({6})
Vielen Dank. - Da es eben auf der von mir aus rechten Seite des Saales etwas Unruhe gegeben hat, möchte ich
darauf hinweisen, dass Zwischenfragen oder Zwischenbemerkungen nach § 27 Absatz 2 unserer Geschäftsordnung
dann erlaubt sind, wenn der Redner bzw. die Rednerin
sie zulässt. Ich mache allerdings alle Kollegen, die von
diesem Instrument Gebrauch machen wollen, auch die
Kollegin Vogler, darauf aufmerksam, dass in der Geschäftsordnung steht: Sie müssen kurz und präzise sein. Das sage ich für die Zukunft.
({0})
Wir kommen nun zum Antrag der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 18/2630 mit dem Titel „Pille danach
jetzt aus der Rezeptpflicht entlassen“. Die Fraktion Die
Linke wünscht Abstimmung in der Sache. Die Fraktionen der CDU/CSU und der SPD wünschen Überweisung, und zwar federführend an den Ausschuss für Gesundheit und mitberatend an den Ausschuss für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend.
Wir stimmen nach ständiger Übung zuerst über den
Antrag auf Ausschussüberweisung ab. Ich frage deshalb:
Wer stimmt für die beantragte Überweisung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist die
Überweisung mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD
und gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und
der Fraktion Die Linke so beschlossen. Wir stimmen damit über den Antrag auf Drucksache 18/2630 heute nicht
in der Sache ab.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({1}) zu der Unterrichtung durch den Wehrbeauftragten
Jahresbericht 2013 ({2})
Drucksachen 18/300, 18/1917
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, Hellmut
Königshaus. - Bitte schön.
Hellmut Königshaus, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages:
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren Abgeordneten! Ich glaube, spätestens seit den
Darlegungen der Inspekteure gestern im Verteidigungsausschuss zur Situation in den Teilstreitkräften ist eines
klar: Die Bundeswehr ist in weiten Bereichen in einem
beklagenswerten Zustand. Das gilt insbesondere für die
militärischen Großgeräte, aber auch für die vielfach vernachlässigte bauliche Infrastruktur. Der Inspekteur des
Heeres hat ja vorgetragen, dass wie beispielsweise in
Hammelburg vielfach ein Boxer durch zwei Füchse ersetzt werden muss und dass das natürlich eine Problemlage schafft. Inzwischen ist es ja so, dass selbst die
Ministerin durch zwei Staatssekretäre ersetzt werden
muss. Das scheint also ein typisches Verhalten zu sein.
({3})
Im aktuellen Jahresbericht hatte ich ebenso wie bereits in den Vorjahren dargestellt, dass die Rüstungsplanung die sach- und zeitgerechte Deckung des Einsatzbedarfes nicht gewährleistet. Das BMVg hat daraufhin
zugesichert, die materielle Ausstattung habe mit Blick
auf eine optimierte Einsatzfähigkeit und Auftragserfüllung höchste Priorität. Meine Damen und Herren, das
kann ich aber in der konkreten Situation nicht erkennen.
Die jetzt öffentlich gewordene Techniksituation mit
Technikpannen und Defiziten in der Ausrüstung belegt
die Richtigkeit meiner damaligen Hinweise, die als maßlose Übertreibung zurückgewiesen worden waren. Offenbar wurde eben nicht in ausreichendem Umfang Vorsorge getroffen, um die vorhandenen Gerätschaften zu
unterhalten, wie das BMVg seinerzeit kommentierte.
Im Januar hatte ich mich von dieser Stelle aus mit
dem Wunsch an die Ministerin gewandt, bei unseren Angeboten an die internationale Gemeinschaft mehr Aufmerksamkeit als bisher auf die Begrenztheit unserer Mittel zu lenken. Ich habe darauf hingewiesen, dass bei dem
geradezu routinemäßig gegebenen Angebot von Sanitäts- und Lufttransportkapazitäten nicht berücksichtigt
werde, wie gering unsere Reserven in diesem Bereich
bereits für den Regelbetrieb sind. Ich glaube, nun zeigt
sich jedermann, wie begründet diese Mahnung war.
Schon jetzt hat sich beispielsweise bei den Marinefliegern der durchschnittliche Instandhaltungsaufwand für
eine Flugstunde des großen Hubschraubers Sea King
von 50 auf 120 Stunden erhöht. Dies stellt eine nicht hinnehmbare Überlastung für das verantwortliche Personal
dar; denn die Personalausstattung wurde ja nicht verbessert, sondern im Gegenteil weiter reduziert.
Dieser Aspekt führt mich zu einem weiteren Problem,
das weiterhin ungelöst ist: die hohe und bis an die Grenzen gehende Einsatzbelastung von Personal mit Schlüsselqualifikationen, etwa beim Flugverkehrskontrolldienst
oder bei den Luftumschlags- und Feuerwehrkräften.
Viele Soldatinnen und Soldaten sind seit langer Zeit immer wieder mehr als 250 Tage pro Jahr einsatzbedingt
von zu Hause abwesend. Das gilt auch für die Marine.
Das ist langfristig gesehen unzumutbar. Es ist für die Zukunft unzumutbar nach einem so langen Vorlauf.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Auslandseinsätze der Bundeswehr sind mit der derzeitigen
Ausstattung nicht weiter ausweitbar, schon gar nicht unbegrenzt. Es gibt nur zwei Optionen: Entweder werden
die Aufgaben an die personellen und materiellen Rahmenbedingungen angepasst oder aber die Rahmenbedingungen werden entsprechend angepasst.
Wehrbeauftragter Hellmut Königshaus
Sorgen bereitet auch weiterhin die verfallende bauliche Infrastruktur. Diese wurde an einer Reihe von Standorten über viele Jahre vernachlässigt. Das hat auch etwas
mit der Frage zu tun, wo in Zukunft noch Standortsicherheit gegeben ist. Das ist verständlich, erklärt aber nicht
alles. Rost und Schimmelbefall, Kloakengeruch, defekte
Heizkörper in Sanitärgebäuden - übrigens auch in den
Wintermonaten - sind niemandem zumutbar. Ich bin
froh, dass die dafür zuständigen Stellen in Büchel, wo
ich besonders erschreckende Verhältnisse vorfand,
schnell reagiert haben. Aber das löst ja nicht das grundsätzliche Problem. Wenn die Soldatinnen und Soldaten
sich, so wie die Ministerin das wollte, in ihren Dienststellen zu Hause fühlen sollen - das ist ja unser aller
Ziel -, dann muss noch viel investiert werden.
Dabei wären die zusätzlich erforderlichen Mittel ja
verfügbar. Zuletzt wurden für das Haushaltsjahr 2013
unter anderem wegen der von der Industrie nicht gelieferten Rüstungsgüter hohe Summen an das Bundesministerium der Finanzen zurückgegeben. Das ist im
Übrigen auch für das laufende Haushaltsjahr zu erwarten. Diese Mittel sollten in andere dringende Vorhaben
umgeleitet werden. Hierfür muss das BMVg allerdings
ausführungsreife Planungen vorhalten. Dringlicher Bedarf jedenfalls ist vorhanden.
Nicht erst im Jahresbericht 2013, sondern bereits in
den Berichten der Vorjahre hatte ich Maßnahmen zur Attraktivitätssteigerung, insbesondere nachhaltige Verbesserungen bei der Vereinbarkeit von Dienst und Familie
in der Bundeswehr eingefordert. Insoweit habe ich es als
sehr wohltuend empfunden, dass sich die Bundesministerin, Frau Dr. von der Leyen, der besseren Vereinbarkeit
des Soldatenberufs mit dem Familienleben angenommen
hat.
Dabei sehe ich es auch durchaus als eine Bestätigung
der Arbeit des Wehrbeauftragten und seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, dass sich in der Agenda und dem
Artikelgesetz eine Reihe von Anregungen aus meinen
Jahresberichten wiederfinden.
Allerdings wird bereits bei den ersten von der Ministerin angekündigten kleineren Maßnahmen deutlich, woran so manche Veränderung schon im Ansatz zu scheitern droht. Die Ministerin will beispielsweise in den
Stuben der Soldatinnen und Soldaten Kühlschränke aufstellen lassen. Kaum angekündigt, melden sich bereits
die Veterinäre der Bundeswehr und kündigen an, dass sie
den Gebrauch der Kühlschränke unterbinden werden,
wenn nicht zusätzliches Kontrollpersonal eingestellt
werde, um durch Überprüfung alle 14 Tage sicherzustellen, dass die Kühlschränke von den Soldatinnen und Soldaten sachgerecht genutzt und gereinigt werden. Meine
Damen und Herren, so wird das natürlich nichts.
({4})
Unterstützung verdienen auch die Pläne der Ministerin, die tatsächliche Anzahl der Soldatinnen und Soldaten an die im Personalstrukturmodell vorgesehene Zahl
von 185 000 Vollzeitstellen heranzuführen, die gegenwärtig weit unterschritten ist. Nur so kann im Übrigen
wie vorgesehen die Teilzeitarbeit ausgeweitet werden.
Denn Teilzeitarbeit darf in den einzelnen Arbeitseinheiten nicht länger zu einer Mehrbelastung der übrigen Kameradinnen und Kameraden führen. Dies wurde bisher
insbesondere in Teilen des Sanitätsdienstes immer wieder, und zwar völlig zu Recht, beklagt.
Deshalb ist das in meinen Jahresberichten schon
mehrfach angeregte Vakanzenmanagement für Teilzeitarbeit und sonstige familienbedingte Ausfallzeiten unverzichtbar.
Ich bedauere in diesem Zusammenhang auch, dass die
in der Koalitionsvereinbarung festgelegte Wahlfreiheit
zwischen Umzugskostenvergütung und Trennungsgeld
nun doch nicht in das Artikelgesetz aufgenommen wird.
Ich glaube, hier ist der Gesetzgeber noch einmal selber
gefordert, darüber nachzudenken, ob er diese Zusage in
der Koalitionsvereinbarung nicht einhalten will.
Kritisch betrachte ich ebenso, dass die geplanten Verbesserungen bei der Übertragung von rentenrechtlichen
Anwartschaften der ausscheidenden Zeitsoldaten im Artikelgesetz keinen Niederschlag finden sollen. Die angekündigte Evaluation der Neuausrichtung böte nun die
Gelegenheit, notwendige Verbesserungen vorzunehmen.
Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen, den Abgeordneten des Deutschen Bundestags, ebenso wie der
Bundesministerin, dem Bundesministerium der Verteidigung insgesamt und natürlich der Bundeswehr insgesamt
für die Unterstützung meiner Arbeit und die vertrauensvolle Zusammenarbeit. Ein Dank, ein ganz besonderer
Dank, geht natürlich auch an meine Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter bei uns im Amt.
Ich glaube, wenn Sie einen Blick nach vorn werfen,
dann werden Sie feststellen, dass wir inzwischen bei den
Referatsleitungsstellen einen Frauenanteil von 50 Prozent erreicht haben.
({5})
Ein besonderer Dank gebührt von dieser Stelle aus
aber natürlich den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr und ihren Angehörigen.
({6})
Die Soldatinnen und Soldaten müssen - ich habe das
eben dargestellt - unter oftmals wirklich nicht optimalen
Bedingungen einen aufopferungsvollen und erfolgreichen Dienst für unser Land leisten. Sie tun das mit Engagement. Ich glaube, dafür sind wir alle ihnen zu Dank
verpflichtet, nicht nur der Wehrbeauftragte.
Ihnen danke ich für Ihre Aufmerksamkeit. Herzlichen
Dank.
({7})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Anita Schäfer
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter! Die Ereignisse der
vergangenen Monate haben uns den Wert eines in gemeinsamer Sicherheit verbundenen friedlichen Europas
einmal mehr eindrücklich vor Augen geführt, und zwar
gerade deshalb, weil es an den Rändern Europas derzeit
ganz und gar nicht friedlich zugeht. Die Lage dort ist
durch staatliche Instabilität und vieltausendfaches
menschliches Leid gekennzeichnet.
Da ist der andauernde Bürgerkrieg in Syrien, der mittlerweile auf den Irak übergegriffen hat, was dazu geführt
hat, dass die Terrorgruppe „Islamischer Staat“ ihre
Schreckensherrschaft bis an die Grenzen des NATOPartners Türkei ausgedehnt hat. Verteidigungsministerin
von der Leyen ist zurzeit im Irak, um sich ein Bild von
der Umsetzung des deutschen Engagements zum Schutz
der Kurden, Jesiden und anderen von IS bedrohten Minderheiten im Norden des Landes zu machen.
Da sind weiterhin die Kämpfe zwischen Israelis und
Palästinensern und zwischen verschiedenen Parteien in
Libyen. Und da sind vor allem die russische Annexion
der Krim und die Unterstützung der Separatisten in der
Ostukraine mit militärischen Mitteln. Es ist das erste
Mal seit 1945, dass in Europa unter Androhung oder sogar unter Einsatz von bewaffneter Gewalt staatliche
Grenzen verschoben worden sind.
({0})
Erst vor kurzem haben wir im Parlament des Beginns
des Zweiten Weltkriegs gedacht, mit dem Deutschland
vor 75 Jahren Europa in die Katastrophe gestürzt hat.
Dass der polnische Präsident heute als Vertreter eines
NATO-Partnerstaates im Deutschen Bundestag die Bedeutung der Solidarität für ein sicheres Zusammenleben
unter Nachbarn hervorhebt, zeigt, wie weit wir gekommen sind.
({1})
Es zeigt aber auch, dass wir den Frieden in Europa
nicht als selbstverständlich betrachten können. Es unterstreicht die Bedeutung eines Sicherheitsbündnisses wie
der NATO für die Erhaltung des Friedens, zu der auch
Deutschland mit seinen Streitkräften beitragen muss.
Schon vor der Eskalation der Ukraine-Krise haben
wir aktuelle Diskussionen über die Zukunft der Bundeswehr geführt, die jede auf ihre Weise die Tätigkeit des
Wehrbeauftragten berührt haben. Es ging dabei vornehmlich um die Attraktivität des Dienstes einerseits
und die Ausrüstung der Truppe andererseits. Bei dieser
Gelegenheit möchte ich dem Wehrbeauftragten und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für den Einsatz in
diesen und vielen anderen Fragen hinsichtlich der Belange der Soldatinnen und Soldaten danken.
({2})
Dabei kann es nicht um ein Entweder-oder zwischen
Attraktivität und Ausrüstung gehen. Beides ist wichtig.
Wir als Deutscher Bundestag können unsere Soldatinnen
und Soldaten nicht ohne die bestmögliche Ausrüstung in
die Einsätze schicken, die wir mandatieren. Aber ohne
zeitgemäße attraktive Dienstbedingungen werden wir
unsere Soldatinnen und Soldaten nicht in der Freiwilligenarmee Bundeswehr halten können. Beides wird Geld
kosten.
Lassen Sie mich auf diese eng verbundenen Bereiche
etwas genauer eingehen. Das in diesem Jahr von der
Bundesverteidigungsministerin von der Leyen vorgestellte neue Attraktivitätsprogramm für die Bundeswehr
enthält viele weitere Detailverbesserungen für schwierige
Themen, um die wir uns schon seit längerem kümmern
und bemühen, wie etwa Unterbringung, Kinderbetreuung,
Teilzeit- und Telearbeitsmodelle sowie Kommunikation
im Einsatz.
Ich möchte einmal an einem Beispiel verdeutlichen,
warum ich gerade die Vereinbarkeit von Familie und
Dienst hier an dieser Stelle und anderswo immer wieder
so hervorgehoben habe. In meinem Wahlkreis liegt der
Bundeswehrstandort Zweibrücken mit Teilen der bisherigen Luftlandebrigade 26. Anfang des Jahres entstand
hier das Problem, dass weiterverpflichtungswillige Soldaten in der Region keine freien Dienstposten mehr fanden, auf die sie sich hätten bewerben können. Dabei ging
es zum Teil um einsatzerfahrene, hochengagierte Unteroffiziersdienstgrade. Von diesen Soldaten, die zu den
Besten gehören, die die Bundeswehr zu bieten hat, haben
viele lieber auf eine Weiterverpflichtung verzichtet, als
eine Versetzung aus der Region in Kauf zu nehmen, weil
sie und ihre Familien in ihrem sozialen Umfeld verwurzelt sind. Das kann sich die Bundeswehr heute weniger
denn je leisten.
In diesem Fall ist mittlerweile durch eine Nachjustierung der Standortplanung und viel Flexibilität der Bundeswehr eine Entspannung eingetreten. Bei allen, die an
dieser Lösung mitgewirkt haben, möchte ich mich an
dieser Stelle noch einmal ganz herzlich bedanken.
({3})
Das zeigt, wie viel bei gutem Willen möglich ist. Es
zeigt aber auch, wie schwer die Bindung an Umfeld und
Familie heute bei Karriereentscheidungen wiegt. Vor die
Wahl einer Versetzung mit Umzug der ganzen Familie
oder einer Wochenendbeziehung gestellt, entscheidet
sich so mancher dafür, gleich ganz auszusteigen.
Wenn man sich vor Augen hält, dass ein Karrierepfad
bislang alle zwei bis drei Jahre eine Versetzung erfordern
kann, wird das Ausmaß des Problems klar. Deswegen
empfinde ich den Ansatz des Attraktivitätsprogramms,
die Häufigkeit von Versetzungen überhaupt zu reduzieren, als einen so großen Schritt. Künftig muss man nicht
mehr alle bisherigen Verwendungen durchlaufen, um
Karriere zu machen. Zudem soll am selben Standort die
Beförderung um bis zu drei Besoldungsstufen möglich
werden.
Ab 2015 soll Personal in Führungsverwendungen drei
statt bisher zwei Jahre auf derselben Stelle bleiben; Spezialisten sollen für mindestens fünf Jahre bleiben. Soweit
Versetzungen erforderlich sind, sollen diese ab 2016 nur
Anita Schäfer ({4})
noch an zwei festen Terminen im Jahr stattfinden, nämlich zu Jahresbeginn und in den Sommerferien. Ich
denke, das ist sehr familienfreundlich.
Meine Damen und Herren, damit möchte ich zu dem
zweiten der eingangs genannten Komplexe kommen: der
Ausrüstung. Der Ausrüstungszustand der Bundeswehr
ist nach unseren Bemühungen der letzten Jahre im Wesentlichen gut. Viele große Beschaffungsprojekte, die
sich lange hingezogen haben, stehen mittlerweile in oder
vor der Umsetzung, etwa die für dieses Jahr geplante
Einführung des Transportflugzeugs A400M, das die
treue, aber betagte Transall ablösen wird. Das wird auch
höchste Zeit; denn die Verfügbarkeit der Transall-Flotte
sinkt. Auch der alte Schützenpanzer Marder wird nun
bald durch den Puma abgelöst.
Bei einigen neuen Systemen wie dem gepanzerten
Transportfahrzeug Boxer oder den Hubschraubern Tiger
und NH90 hat sich die Versorgung mit Ersatzteilen und
Ähnlichem noch nicht eingespielt. Trotzdem haben sie
sich bereits im Einsatz bewiesen.
In anderen Bereichen ist die Ablösung alten Geräts
noch dringend erforderlich, wie sich gerade bei den Marinehubschraubern gezeigt hat. Glücklicherweise ist auch
hier die erste Beschaffung neuer Maschinen bereits eingeleitet, auch wenn diese nur einen Teil des Bedarfs abdecken wird. Gerade beim Fluggerät zeigen sich die
Spätfolgen von Sparmaßnahmen bei der Beschaffung
von Ersatzteilen vor einigen Jahren. Das zeigt, dass sich
der Verteidigungshaushalt nicht als Steinbruch für Sparmaßnahmen eignet, weil kurzfristige Kürzungen langfristige Folgen haben werden.
Wichtig ist aber, dass die Bundeswehr die ihr gestellten Aufgaben erfüllen kann. Das ist gegenwärtig der
Fall. Allerdings müssen wir dafür sorgen, dass dies so
bleibt.
In diesem Zusammenhang begrüße ich besonders,
dass im BMVg nunmehr die Entscheidungen zur Neubesetzung der Stellen im Beschaffungsbereich ebenso wie
zur Evaluierung des gesamten Bereichs getroffen wurden. Ich hoffe, dass es hier nun zügig vorangeht.
Angesichts neuer Herausforderungen sollte im Rahmen der Evaluierung auch an der einen oder anderen
Stelle noch einmal über Stückzahlen von Waffensystemen nachgedacht werden. Die Ukraine-Krise hat innerhalb der NATO die Frage der Bündnisverteidigung wieder stärker in den Fokus gerückt. Daher sollten wir
prüfen, ob nicht doch alle mechanisierten Verbände statt
der bislang geplanten Pool-Lösung eine Vollausstattung
mit Kampffahrzeugen erhalten sollten.
Hinzu kommt die Frage, inwieweit wir unsere osteuropäischen Verbündeten beim Aufbau eigener Fähigkeiten unterstützen sollten, auch mit Ausrüstungsabgaben,
die gleichzeitig der Modernisierung unseres eigenen Bestandes dienen können. Deutschland hat auf dem NATOGipfel in Wales bereits eine Initiative angestoßen, bei
der wir unsere Kooperation in einer Reihe von Feldern
mit neuen Partnern langfristig vertiefen werden.
Das sind zudem Schritte in Richtung echter europäischer Streitkräfte.
({5})
Es bedeutet aber nicht, dass wir Investitionen in die gemeinsame Verteidigungsfähigkeit künftig anderen überlassen dürfen. Gerade Deutschland als Nation, die den
Rahmen für solche Vorhaben bildet, muss vielmehr weiterhin einen seiner Größe angemessenen Beitrag hierzu
leisten.
Meine Damen und Herren, abschließend möchte ich
unseren Soldatinnen und Soldaten ganz herzlich danken,
die ihren Dienst im In- und Ausland für unsere Sicherheit leisten. Dabei möchte ich auch ihre Familien einbeziehen, die diesen wichtigen Dienst trotz aller Belastungen mittragen.
Herzlichen Dank.
({6})
Als nächste Rednerin spricht die Kollegin Christine
Buchholz.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Königshaus! Liebe Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter des Wehrbeauftragten! In diesen Tagen wird
vor allem über den schlechten Zustand des Bundeswehrmaterials berichtet und diskutiert. Aber dank des Jahresberichts des Wehrbeauftragten erfahren wir, dass auch
die Fürsorgepflicht der Bundeswehr gegenüber den eigenen Soldatinnen und Soldaten deutliche Defizite aufweist. Wir diskutieren heute über die Reaktion des Verteidigungsministeriums auf den Jahresbericht über das
Jahr 2013. Erinnern wir uns: Das ist der Bericht, der so
viele Beschwerden von Soldatinnen und Soldaten beinhaltet wie noch nie.
Wie fällt die Antwort des Verteidigungsministeriums
zu den Problemen aus, die Herr Königshaus benannt
hat? Die Antwort ist im besten Fall unzureichend, im
schlechtesten Fall zynisch. Hier einige Beispiele:
Beispiel Afghanistan: In Kabul wurden deutsche Soldaten im US-geführten Camp Eggers untergebracht. Die
Sanitäranlagen seien durch Rost und Schwarzschimmelbefall hygienisch nicht hinnehmbar. Die Antwort des
Verteidigungsministeriums: Den Soldaten wurden Reinigungsmittel und Farbe zur Verfügung gestellt.
Beispiel Mali: Die deutschen Soldaten sind in einem
Malariagebiet untergebracht. Doch passende Moskitonetze werden erst mit monatelanger Verspätung angeliefert. Das ist unglaublich.
Ministerin von der Leyen behauptet, die Bundeswehr
zu einem familienfreundlichen Unternehmen machen zu
wollen. Aber ich werde den Eindruck nicht los: Viele
Maßnahmen sind vor allem eines: Fassade. Dort, wo die
Rücksicht auf Familie der Einsatzfähigkeit im Weg steht,
fällt die Fassade. So regte der Wehrbeauftragte erneut
an, die Erziehung von Kindern unter drei Jahren durch
alleinerziehende Soldatinnen und Soldaten als EinsatzChristine Buchholz
hinderungsgrund festzuschreiben. Aber das Ministerium
antwortete, das sei „nicht erforderlich“.
({0})
Doch, meine Damen und Herren, doch, das ist es!
({1})
Wie wenig es dem Ministerium um den Menschen
und wie sehr es ihm um seine Verwendung im Auslandseinsatz geht, zeigt auch der Umgang mit einsatzbedingten psychischen Erkrankungen. Es geht weitgehend um
eines: die Durchhaltefähigkeit vor und während des Einsatzes zu stärken. Auf keinen Fall geht es darum, psychisch kranken Soldaten den Einsatz zu ersparen. So betont das Ministerium in seiner Antwort auf den Bericht,
es werde weiterhin auch psychisch vorbelastete Soldaten
in Auslandseinsätze schicken. Es sei „noch nicht hinreichend erforscht, welche psychischen Vorbelastungen die
individuelle Einsatzverwendungsfähigkeit tatsächlich
einschränken können“. Das grenzt zumindest an Zynismus. Wenn die Soldaten aus dem Einsatz und der Bundeswehr heraus sind, werden sie uninteressant. Wenn
sich Jahre später Traumata einstellen, dann erwartet den
einzelnen Soldaten ein Papierkrieg um die Anerkennung
einer Wehrdienstbeschädigung. Diese ist die Voraussetzung, um die Chance auf eine vernünftige Therapie im
Rahmen der Bundeswehr zu erhalten. Das ist nicht hinnehmbar.
({2})
Immer mehr Auslandseinsätze haben offenkundig zu
einer Überdehnung der Kapazitäten der Bundeswehr in
jeglicher Hinsicht geführt. Das gilt sowohl für das Material, für dessen schlechten Zustand der Steuerzahler zukünftig tiefer in die Tasche greifen muss - die Kollegin
Schäfer hat das vorhin angedeutet -, als auch für die
Menschen, die im Zweifelsfall ihren Kopf hinhalten für
die politischen Entscheidungen, die hier im Bundestag
gefällt werden, nämlich die Soldatinnen und Soldaten.
Ich bin hier ganz bei Herrn Königshaus, auch wenn wir
zu unterschiedlichen Einschätzungen kommen. Es gibt
nur zwei Optionen. Entweder treiben Sie die Auf- und
Umrüstung hin zur Einsatzarmee weiter voran, wie es
auch der Wehrbeauftragte leider immer wieder fordert,
und lassen die Steuerzahler sowie die Soldatinnen und
Soldaten weiter für Ihre Interventionspolitik zahlen, oder
Sie entscheiden sich endlich für einen Kurswechsel. Die
Linke sagt: Beenden Sie die Auslandseinsätze der
Bundeswehr! Bauen Sie endlich die zivile Hilfe massiv
aus, und holen Sie die Soldatinnen und Soldaten nach
Hause - besser heute als morgen!
({3})
Als nächste Rednerin spricht die Kollegin Heidtrud
Henn.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr
Wehrbeauftragter! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ganz besonders grüße ich alle Angehörigen der Bundeswehr. Um Sie geht es nämlich in dieser Debatte. In den
letzten Tagen haben Sie lesen und hören müssen, welche
Probleme Ihr Arbeitgeber hat, dass die Ausstattung
schlecht ist, dass die Ministerin Fehler macht. Überhaupt
ist für einige Journalisten die Bundeswehr ein einziger
Trümmerhaufen.
Beim Lesen der Pressemappe habe ich an die gestrige
Eröffnung der Ausstellung „Operation Heimkehr“ gedacht. Herr Königshaus, Sie haben gestern im PaulLöbe-Haus ein Grußwort dazu gesprochen. Die Berichte
der Männer und Frauen, die im Kosovo, am Hindukusch,
in Mali oder am Horn von Afrika ihren Dienst geleistet
haben, prägen sich ein. Ich habe dieses besondere Buch
gelesen. Ich lege auch Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, ans Herz, es zu lesen. Die Erfahrungen, die unsere
Soldatinnen und Soldaten gemacht haben, gehen unter
die Haut. Es ist nicht irgendein Buch, es ist ein Buch
zum Nachdenken. Ich stellte mir die Frage, als ich es gelesen hatte: Wie gehen wir, unsere Gesellschaft, mit unseren Mitbürgern und Mitbürgerinnen in Uniform um?
Ich wünsche mir eine andere und eine objektivere Berichterstattung über den Zustand unserer Bundeswehr,
mehr Berichte über die Menschen in der Bundeswehr.
Die Missstände bei der Bundeswehr sind uns bekannt.
Erst gestern haben wir im Ausschuss ausführlich darüber
gesprochen. Im Rahmen der Haushaltsberatungen muss
geprüft werden, wo mehr Geld benötigt wird und wo
Geld anders verteilt werden muss. Eine ehrliche Debatte
ist mir dabei lieber als eine wohlfeile Bekundung. Fakt
ist: Nur wer Probleme benennt, wer offen und ehrlich
sagt, wo es klemmt, kann Probleme lösen. Ja, unsere
Bundeswehr braucht Geld, und wir können es eigentlich
gar nicht zulassen, dass jedes Jahr Millionen zurückgegeben werden. Wir brauchen aber auch einen guten Umgang mit dem Geld. Wir können von der Bevölkerung
nicht Unterstützung erwarten, wenn sich der Eindruck
eines Trümmerhaufens in den Köpfen festsetzt.
Damit wir Abgeordnete unsere Aufgabe erledigen
können, legt uns der Wehrbeauftragte des Bundestages
seinen jährlichen Bericht vor. Der Bericht ist ehrlich und
gilt als Mängelbericht. In diesem Bericht geht es um die
materielle Einsatzbereitschaft der Streitkräfte. Ganz wesentlich geht es hier aber auch um die Menschen in und
bei der Bundeswehr. Die Statistik zum Bericht des Wehrbeauftragten zeigt mit 4 842 bearbeiteten Vorgängen für
das Berichtsjahr 2013 eine enorm hohe Quote. Die meisten Probleme bezogen sich auf Menschenführung und
soldatische Ordnung. Mit dem Attraktivitätsprogramm
und dem Gesetz zur Steigerung der Attraktivität des
Dienstes in der Bundeswehr wird sich an dieser Zahl
hoffentlich viel ändern. Es ist an der Zeit.
Lieber Herr Königshaus, wir beraten heute, Monate
später als geplant, Ihren Bericht für das Jahr 2013. Sehr
geehrter Herr Wehrbeauftragter, Sie wissen, was nun
kommt: Danke an Sie und an Ihre Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter dafür,
({0})
dass Sie uns Parlamentarier dabei unterstützen, unsere
Arbeit zu machen; denn ohne Sie könnten wir uns kein
umfassendes Bild über die innere Lage der Bundeswehr
machen. Sie fassen zusammen, was die Soldatinnen und
Soldaten bewegt. Sie zeigen keine Fotos wie die Ausstellung „Operation Heimkehr“, aber Sie bilden ab, was
ist, und treten engagiert für Soldatinnen und Soldaten
ein. Die Zusammenarbeit mit Ihnen schätze ich sehr, und
ich weiß, dass vielen Kolleginnen und Kollegen das
auch so geht.
Ich war in der vergangenen Woche in Mayen. Mein
Ziel war das dort ansässige Zentrum Operative Kommunikation der Bundeswehr. Hier arbeiten mehr als
900 Angehörige der Bundeswehr für die Truppe im Einsatz. Hier sendet das berühmte Radio Andernach, das in
diesem Jahr 40 Jahre alt wird. Auch hier lohnt ein Besuch. Ich war sehr beeindruckt von der Leistungsbereitschaft und - ja, ich möchte sagen - der Hingabe, mit der
Soldatinnen und Soldaten und natürlich auch die zivilen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihren Dienst leisten.
Auch in Mayen geht es darum, Bilder zu zeigen und zu
sagen, was im Auslandseinsatz los ist.
Ich glaube, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen mehr und wir müssen anders über die Bundeswehr
und über unsere sicherheits- und verteidigungspolitischen Gedanken sprechen. Wir können das Thema keiner kleinen Elite überlassen. Wir sprechen oft über Herausforderungen, vor denen wir international stehen, und
wir meinen dabei manchmal tatsächlich Gefahren.
Wir müssen also darüber reden, was die Bundeswehr
leisten kann und was sie leisten soll, am besten ohne Abkürzungen, sodass alle verstehen, worum es geht. Wir
können nicht davon ausgehen, dass uns viele Bürger via
Fernseher oder Internet zu dieser Zeit zuschauen. Natürlich wären wir froh, wenn bei der Beratung zum Bericht
des Wehrbeauftragten mehr Kolleginnen und Kollegen
anwesend wären. Vielen Dank an Sie, die Sie anwesend
sind!
Wir müssen mit unserem politischen Fachthema zu
den Bürgern und nicht umgekehrt.
Die Truppe mit ihren Einsätzen im Ausland hat den
Wehrbeauftragten in seinem Bericht beschäftigt. Man
kann sich nur schwer vorstellen, was es heißt, im Einsatz
zu sein. Ein ganzes Kapitel nehmen die Auslandseinsätze im Bericht des Wehrbeauftragten ein. Die Stellungnahmen des BMVg dazu habe ich zur Kenntnis genommen. Bei meinem Besuch in Masar-i-Scharif und
Trabzon habe ich mir selbst ein kleines Bild von der Situation machen können. An Trabzon denke ich oft. Die
Bundeswehr verschifft hier seit April 2013 Material aus
dem Afghanistan-Einsatz zurück nach Deutschland. Es
ist eine logistische Meisterleistung, die die Soldatinnen
und Soldaten dort vollbringen!
Eine Verbesserung der Betreuungskommunikation im
Einsatz wird es ebenso geben wie Verbesserungen bei
der Einsatz- und Beschädigtenversorgung. Natürlich
muss die persönliche Ausrüstung den Erfordernissen angemessen sein. Wir Sozialdemokraten werden bei den
Haushaltsberatungen sagen, wo wir Handlungsbedarf sehen und wie die Mittel dafür erwirtschaftet werden.
Gerade die derzeit rund 3 470 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr im Einsatz, die gemeinsam mit unseren internationalen Partnern im Ausland ausbilden,
Wege sichern, schützen und auch beschützen, verdienen
unsere besondere Anerkennung. Aber nicht nur das: Die
Soldatinnen und Soldaten im Einsatz verdienen den besonderen Einsatz von uns Bundestagsabgeordneten,
wenn es darum geht, dafür zu sorgen, dass sie ihre Arbeit
gut und vor allem sicher erledigen können.
({1})
Für Sicherheit und Gesundheit im Ausland sorgt der
Sanitätsdienst. Hier geht es manchmal um Leben und
Tod und manchmal um ein Pflaster. Organisatorisch
muss hier einiges passieren, wie die Eingaben an Sie
ganz deutlich zeigen.
Auch wenn das Geld nicht alles ist: Die Stellenzulagen in diesem Bereich sind aus meiner Sicht wichtig und
sollten ausgeweitet werden; denn wer gut behandeln
soll, muss auch gut behandelt werden.
Gerade und ganz besonders im Einsatz wird deutlich,
wie wichtig und wie hervorragend ausgebildet die Männer und Frauen sind. In Gesprächen höre ich immer wieder, dass der Sanitätsdienst im Einsatz tadellos funktioniert. Wenn der Sanitätsbereich als Patient bezeichnet
wird, dann deshalb, weil der Spagat, der zwischen Inlands- und Auslandseinsätzen zu absolvieren ist, nicht
optimal gelingen kann.
Die primäre Aufgabe des Sanitätsdienstes ist die Unterstützung der Soldatinnen und Soldaten im Einsatz.
Aber es muss auch Sorge dafür getragen werden, dass
unsere Soldatinnen und Soldaten zu Hause gut versorgt
werden. Soldatinnen und Soldaten sollten in Bundeswehrkrankenhäusern immer die wichtigsten Patienten
sein. Kranke Soldatinnen und Soldaten im Inland sollten
keine gefühlten Weltreisen zu den regionalen Sanitätseinrichtungen unternehmen müssen, um versorgt werden
zu können.
Meine Damen und Herren, ich möchte unseren Soldatinnen und Soldaten im Einsatz ganz liebe Grüße senden
und ihnen eine gesunde Rückkehr wünschen.
Ich danke Ihnen allen für Ihre Aufmerksamkeit und
wünsche uns allen Gottes Segen.
({2})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Doris Wagner
das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr
Staatssekretär! Verehrter Herr Königshaus! Werte Kolleginnen und Kollegen! Für Ministerin von der Leyen
hätte dies eine richtig schöne Woche werden können.
Gestern der Kabinettsbeschluss und heute ein glänzender
Auftritt im Bundestag; viele Probleme, die der Wehrbericht aufwirft, gelöst. Unsere Soldatinnen und Soldaten
hätten zufrieden sein können.
Stattdessen hat sich aber die Bundesregierung auch
nach Monaten der Beratung nicht auf das Artikelgesetz
verständigt, das wesentlich zur Attraktivität des Dienstes
in der Bundeswehr beitragen könnte. Das lässt nichts
Gutes für die Zukunft erwarten. Ein großer Teil der
Missstände, von denen Herr Königshaus berichtet, sind
auf einen eklatanten Personalmangel zurückzuführen.
Bei den Technikern, der Flugsicherung, im Sanitätsdienst oder bei der Marine, wie wir gehört haben, ist die
Lage längst dramatisch.
Meine Fraktion hat die Attraktivitätsinitiativen der
Ministerin deshalb ausdrücklich begrüßt. Doch nun müssen wir mit ansehen, wie sich die Ministerien im Streit
über die Details des geplanten Artikelgesetzes verheddern. Dabei brauchen wir doch jetzt eine wirkliche Initiative.
Was macht einen Job eigentlich attraktiv? Dies ist natürlich zunächst einmal die Bezahlung. Vielleicht erinnern Sie sich noch an die Berichte vom vergangenen
Jahr. Manche Soldatinnen und Soldaten heuern im Urlaub tatsächlich mittlerweile bei privaten Sicherheitsfirmen an, um ihr Einkommen aufzubessern. Das kann
doch nicht wahr sein.
Deshalb möchte die Ministerin die Stellenzulagen für
Bundeswehrangehörige anheben. Doch der Innenminister ist dagegen. Der öffentliche Dienst könnte ja das
Gleiche fordern. Jetzt wird nur gekleckert. Die Erhöhung
der Stellenzulage soll nur für einige wenige Bundeswehrdienstposten gelten.
Aber, verehrte Kolleginnen und Kollegen, solch eine
Beschränkung ist doch nicht zielführend, wenn wir die
Bundeswehr insgesamt attraktiver machen wollen. Deshalb mein Appell an die Ministerin: Denken Sie doch
bitte noch einmal über eine Erhöhung der Stellenzulage
für alle Bundeswehrangehörigen nach.
({0})
Was macht einen Job noch attraktiv? Dies ist natürlich
auch die soziale Absicherung. Aber leider kleckert die
Regierung auch hier. Künftig werden drei von vier Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr auf Zeit angehören. Zudem werden die Verpflichtungszeiten immer länger.
Eine gute Altersabsicherung dieser Soldatinnen und
Soldaten trägt daher erheblich zur Attraktivität der Bundeswehr bei. Doch jetzt, nach all dem Geschachere um
das Artikelgesetz, fällt die Erhöhung der gesetzlichen
Nachversicherung mehr als mager aus und trägt nicht
dazu bei, den jungen Leuten, die heute zur Bundeswehr
gehen, eine gute Altersversorgung zu bieten.
Meine Damen und Herren, attraktiv ist wirklich etwas
anderes. Ich hätte erwartet, dass die Ministerin einmal
über andere Modelle der Altersabsicherung nachdenkt,
über Versorgungsanwartschaften oder über Möglichkeiten einer betrieblichen Rentenabsicherung. Aber statt
neue Wege zu beschreiten, speisen Sie die Soldatinnen
und Soldaten mit Kleinkleckerles ab.
Das Artikelgesetz wird also in vielen Punkten nicht
der große Wurf, den Frau von der Leyen versprochen
hat. Deshalb hoffe ich wirklich, dass wenigstens die Attraktivitätsagenda beherzt umgesetzt wird.
Sie alle haben es im Wehrbericht gelesen: Ein weiterer großer Teil der Beschwerden aus der Truppe bezieht
sich auf das Führungsverhalten der Vorgesetzten. Mal
werden Untergebene als „Schwuchteln“ oder „Mongos“
bezeichnet, mal wird einem jungen SaZler eine Dienstzeitverkürzung verweigert, wenn er eine Stelle im zivilen Bereich antreten will. Nun soll es ein verpflichtendes
individuelles Coaching für das Spitzenpersonal geben;
denn die Führungs- und Organisationskultur soll verbessert werden. Das Verteidigungsministerium ist derzeit
dabei, diese Coachings zu konzipieren, und steht vor der
Entscheidung, ob die Coachings ausschließlich von externen zivilen Coaches durchgeführt werden sollen oder
ob auch die bundeswehreigenen Coaches vom Zentrum
Innere Führung beteiligt sein sollen. Ich hoffe wirklich
sehr, dass sich die Ministerin entscheidet, auch die Bundeswehrcoaches einzubinden. Denn wer sollte die soldatischen Führungskräfte besser verstehen als ein Soldat
oder eine Soldatin? Deshalb brauchen wir keine klangvollen Beraternamen, sondern Coaches, die die Lage ihres Gegenübers wirklich verstehen.
({1})
Aber eine grundsätzliche Veränderung des Bewusstseins und des Führungsverhaltens in der Breite erreichen
wir nicht, indem wir mal schnell die Spitzenkräfte einen
Tag lang zwangsanalysieren, so wie es jetzt angedacht
ist. Deshalb wünschen wir uns sehr: Lassen Sie es nicht
dabei bewenden, Frau Ministerin. Binden Sie die bundeswehrinternen Coaches in das Spitzencoaching ein.
Aber mehr noch: Stärken Sie die Fähigkeit der Bundeswehr zur Selbstreflexion nachhaltig, indem Sie die Zahl
der Coaches im Zentrum Innere Führung erhöhen. Nur
so werden wir die Probleme der Personalführung dauerhaft in den Griff bekommen.
Meine Damen und Herren, angesichts der militärischen Konflikte in unserer Nachbarschaft ist es vielleicht
verführerisch, die Beschwerden der Soldatinnen und
Soldaten als Kinkerlitzchen abzutun. Davor möchte ich
ausdrücklich warnen. Dinge wie die unattraktive Bezahlung - ich komme zum Schluss -, die unbefriedigende
Altersabsicherung und der rüde Umgang von Vorgesetzten mit Untergebenen sind keine Luxusprobleme.
Lassen Sie die Chance, die sich mit dem Artikelgesetz
und der Attraktivitätsagenda bietet, nicht verstreichen.
Nicht kleckern, sondern klotzen!
Vielen Dank.
({2})
Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Reinhard
Brandl das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter! Lassen Sie
mich am Anfang Ihnen und Ihren Mitarbeitern für Ihre
Arbeit danken. Sie sind für uns im Verteidigungsausschuss ein unverzichtbares Instrument. Sie sind unser
Ohr an der Truppe und geben uns und dem Ministerium
wichtige Hinweise, wo etwas schiefläuft und wo wir gegebenenfalls politisch oder vonseiten des Ministeriums
nachsteuern müssen.
Ein Thema, das Sie in Ihrer Amtszeit immer wieder
aufgegriffen haben - das gefällt nicht jedem; das ist aber
wichtig -, ist die Frage der Ausrüstung. Ausrüstung ist
Teil der Attraktivität. Ausrüstung ist Teil der Verantwortung des Dienstherrn und des Parlamentes. Eine gute
Ausrüstung ist auch eine sicherheitspolitische Notwendigkeit.
({0})
Wir erleben gerade eine unglaubliche Gleichzeitigkeit
von verschiedenen Krisenherden in der Welt. Dies macht
es notwendig, dass die Bundeswehr zum Beispiel im
Irak und bei der Bekämpfung von Ebola plötzlich und
schnell reagiert. Wir haben unsere Bundeswehr schon reduziert; das ist das Konzept „Breite vor Tiefe“. Wir haben aber die Breite vorgehalten. Damit dieses Konzept
funktioniert, ist es unerlässlich, dass die Ausrüstung, die
wir haben, funktioniert und für Einsatzzwecke zur Verfügung steht. Lieber Herr Wehrbeauftragter, ich möchte
Ihnen dafür danken, dass Sie da den Finger in die Wunde
gelegt haben.
Es ist aber auch wichtig für uns im Parlament. Wir beschließen hier jedes Auslandsmandat der Bundeswehr.
Ein Auslandsmandat ist immer auch mit Risiken für Leib
und Leben der Soldaten verbunden. Wenn wir das beschließen, ist von unserer Seite damit die Verpflichtung
verbunden, dass wir den Soldaten die entsprechende
Ausrüstung zur Verfügung stellen, damit diese Risiken
für Leib und Leben minimiert werden.
Meine Damen und Herren, ich will in dem Zusammenhang auf eine Debatte hinweisen, die heute noch
nicht angesprochen worden ist, aber die der Wehrbeauftragte vor der Sommerpause sehr intensiv geführt hat:
die Beschaffung von möglicherweise bewaffnungsfähigen Drohnen. Sie ermöglichen auf der einen Seite bessere Aufklärung, auf der anderen Seite, wenn es nötig
ist, einen zielgenaueren Waffeneinsatz, damit das Risiko
für die eigenen Soldaten und für möglicherweise beteiligte Zivilisten minimiert werden kann.
Wenn wir hier im Parlament mit Mehrheit einen Einsatz beschließen, dann ist es auch ethisch geboten, eine
angemessene Ausrüstung zur Verfügung zu stellen. Wir
haben gerade bei den Drohnen, aber auch bei anderen
Waffensystemen immer wieder diese Debatte geführt:
Verleiten wir die Soldaten zum Schießen oder vielleicht
auch zu unethischem Handeln, wenn wir solche Waffensysteme zur Verfügung stellen? Ich habe mir den Jahresbericht des Wehrbeauftragten unter diesem Gesichtspunkt angesehen. Im Bericht des Wehrbeauftragten steht
viel drin; wir haben 200 000 Soldaten, und da läuft nicht
alles rund. Da gibt es manchmal Verfehlungen, auch im
persönlichen Bereich; Sie haben Verfehlungen im Führungsverhalten angesprochen. Es ist aber bezeichnend,
dass im Bericht des Wehrbeauftragten kein Satz, kein
Wort darüber steht, dass Soldaten bei der Anwendung
von militärischer Gewalt in irgendeiner Form verantwortungslos oder völkerrechtswidrig gehandelt haben.
({1})
Ich kann Ihnen sagen: Die Soldaten sind hervorragende
Botschafter unseres Landes im Ausland. Sie verdienen
das Vertrauen, das wir ihnen hier im Parlament entgegenbringen. Sie verdienen auch die bestmögliche Ausrüstung.
Wir haben in dieser Woche eine wichtige Debatte
zum Thema Einsatzbereitschaft geführt. Da gibt es Themen, bei denen wir nachsteuern müssen. Für jeden einzelnen Bereich gibt es immer Begründungen - die Inspekteure haben viele Begründungen geliefert -, warum
dieses oder jenes nicht funktioniert. Aber in der Summe
ist es für uns natürlich unbefriedigend. Wir wollen eine
gut ausgerüstete Bundeswehr, die jederzeit einsatzbereit
ist. Dafür kämpft der Wehrbeauftragte, dafür kämpfen
wir.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die
Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Verteidigungsausschusses zu dem Jahresbericht 2013 des Wehrbeauftragten; das sind die Drucksachen 18/300 und
18/1917. Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die CDU/
CSU, Bündnis 90/Die Grünen und die SPD. Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Das ist die Linke. Damit
ist diese Beschlussempfehlung mit der Mehrheit der
Stimmen angenommen worden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Thomas
Gambke, Kerstin Andreae, Britta Haßelmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Mit Transparenz Steuervermeidung multinationaler Unternehmen eindämmen - Countryby-Country-Reporting einführen
Drucksache 18/2617
Finanzausschuss ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe als erstem Redner Herrn Dr. Thomas Gambke das Wort.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Sehr verehrte Zuhörer auf den Rängen!
Zur späten Stunde reden wir darüber
({0})
- so spät ist es nicht; das ist richtig -: Unternehmen
sollen dort Steuern zahlen, wo ihre tatsächliche Wertschöpfung stattfindet und öffentliche Güter in Anspruch genommen werden - ein Satz, den wohl jeder
hier unterschreiben wird. Die Praxis sieht anders aus:
Multinationale Unternehmen verschieben heute ihre
Gewinne ganz legal in Niedrigsteuerländer, sie spielen verschiedene Steuerrechtssysteme gegeneinander
aus. Gleichzeitig locken Staaten aktiv mit extremen steuerlichen Sonderangeboten. Meine Damen und Herren,
wir sind uns hoffentlich auch noch hier darüber einig,
dass wir diesen Zustand dringend verändern müssen.
({1})
- Mich freut der Beifall über alle Fraktionen hinweg.
Auch Frau Merkel und Herr Schäuble teilen diese
Auffassung. Sie haben der OECD im Rahmen der G 20
den Auftrag erteilt, aktiv gegen Steuergestaltung vorzugehen. Denn unter dem Strich verlieren Nationalstaaten
Steuereinnahmen. Am Ende sind die kleinen und mittleren Unternehmen die Dummen; denn sie können die
Steuertricks der Großen nicht anwenden. Es gibt wissenschaftliche Evidenz dahin gehend, dass multinationale
Unternehmen 30 Prozent weniger Steuern zahlen als
kleine und mittlere Unternehmen. Da wird der Wettbewerb massiv verzerrt, und deshalb müssen wir das ändern.
({2})
Aber wie können wir das eindämmen? Wir müssen
wissen, welche wirtschaftliche Aktivität, welche Wertschöpfung das einzelne Unternehmen in einem Land hat.
In der letzten Legislatur haben wir mit Ihnen, den Kolleginnen und Kollegen von der SPD, einen entsprechenden Antrag zu länderbezogenen Offenlegungspflichten
hier in den Bundestag eingebracht. Jetzt gehe ich davon
aus, dass Sie Ihre Kollegen von der Union dazu bewegen, mitzumachen.
({3})
Zeigen Sie, dass Sie es ernst meinen mit dem Kampf gegen Steuervermeidung!
({4})
Das Problem ist: Die Konzernberichterstattung ist
derzeit eine Blackbox. Sie sehen nur das zusammengefasste Ergebnis aller weltweiten Konzerngesellschaften,
aber die länderbezogenen Angaben sehen Sie nicht. Sie
können also nicht erkennen, ob der Konzern seine Gewinne in Niedrigsteuerländer schleust und wie er das
macht. Das ist einfach nicht in Ordnung. Das müssen wir
ändern.
({5})
Die OECD hat jetzt einen Vorschlag zu länderbezogenen Offenlegungspflichten gemacht, Country-by-Country-Reporting genannt. Aber ist das wirklich der Durchbruch? Nein! Denn die OECD schlägt vor, dass die
Informationen nur an die jeweiligen Finanzämter weitergeleitet werden, also nicht öffentlich sind. Damit haben
wir gar nichts gewonnen. Im schlimmsten Fall führt das
sogar zu einem noch intensiveren Streit der nationalen
Steuerbehörden, aber nicht zu einer Lösung des Problems. Deshalb fordern wir Transparenz bei allen wichtigen Eckdaten der Konzerne, also Öffentlichkeit.
Es ist ganz simpel: Wir brauchen die öffentliche Kenntnis über die wirtschaftliche Tätigkeit von Unternehmen
im Verhältnis zu ihren Steuerzahlungen, damit die Öffentlichkeit nachvollziehen kann, ob das einzelne Unternehmen seinen Obolus wirklich entrichtet. Wenn ein
Missverhältnis besteht, weil ein Unternehmen in erheblichem Maße wirtschaftlich tätig ist, aber keine Steuern
zahlt oder wirtschaftlich nicht tätig ist, aber hohe Gewinne anfallen, dann müssen wir handeln. Da muss öffentlicher Druck entstehen; denn nur dann werden die
Staaten bereit sein, ihre individuelle nationale Steuergesetzgebung zu verändern. Deshalb brauchen wir die
Transparenz.
({6})
Aber wer blockiert das? Das sind natürlich die Konzerne, die befürchten, möglicherweise durch eine höhere
Steuerquote belastet zu werden. Da müssen Sie sich fragen, Herr Brinkhaus:
({7})
Ist es wirklich richtig, die Frösche zu fragen, wenn Sie
den Teich trockenlegen wollen? Fragen Sie einmal die
Mittelständler! Fragen Sie kleine und mittlere Unternehmen! Sie werden unsere Forderung unterstützen, diese
Steuerpraktiken endlich öffentlich zu machen.
Herr Kollege, Sie müssen jetzt zum Schluss kommen.
Meine Damen und Herren der Regierungsfraktionen,
wir legen Ihnen heute einen sehr konstruktiven Vorschlag zur Eindämmung von Steuergestaltung vor. Die
SPD hat schon einmal zugestimmt. Machen Sie mit!
Lassen Sie uns nicht nur reden, sondern auch handeln!
Unterstützen Sie unseren Vorschlag, öffentliches Country-by-Country-Reporting einzuführen.
Danke schön.
({0})
Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Mathias
Middelberg das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber
Herr Gambke, was die Zielsetzung angeht, wir sind uns
ja einig. Ich denke, wir alle im Haus verfolgen das Ziel,
legale Steuervermeidung und die Verlagerung von Gewinnen in beträchtlichem Ausmaß zu bekämpfen.
Nun kann man einzelne Elemente herausgreifen und
im Detail diskutieren, in diesem Fall das Country-byCountry-Reporting. Wir halten es aber für sinnvoller, ein
wirkliches Gesamtprogramm ins Werk zu setzen. Denn
es ist ja nicht mit einzelnen Maßnahmen - ich will gleich
gerne auf das Country-by-Country-Reporting eingehen getan. Unser Bundesfinanzminister ist - das finde ich
sehr richtig, und das möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich loben - da wirklich beispielhaft in der Welt,
indem er das Programm gegen Base Erosion and Profit
Shifting, also gegen das Abschmelzen der Steuerbasis
und das internationale Verschieben von Gewinnen, ganz
massiv mit gepusht hat.
Am letzten Wochenende war das Finanzministertreffen in Australien. Da ist ein umfassender Katalog,
nämlich das OECD-Projekt BEPS, beraten worden.
Die Finanzminister der OECD sind sich zunächst einmal, jedenfalls im Wesentlichen, wenigstens über sieben
Punkte einig geworden. Es ist ein großer Katalog, ein
umfassendes Programm. Es gibt noch weitere Punkte,
die da beraten werden. Das wird uns auch noch eine Zeit
lang beschäftigen. Aber ich halte es für sinnvoll und
auch für unumgänglich - sonst bekommen wir das Problem der internationalen Gewinnverlagerung gar nicht in
den Griff -, es im Rahmen eines großen, umfassenden
Paketes anzugehen, bei dem wir Transparenz und auch
eine Harmonisierung der Besteuerung anstreben. Das
muss unser Ziel sein.
({0})
Jetzt möchte ich etwas zum Country-by-Country-Reporting sagen. Auch dieser Ansatz ist ja nicht unvernünftig. Sie haben richtigerweise betont: Auch er ist Teil des
BEPS-Kataloges. Da geht es um die Verrechnungspreisdokumentation. Das ist überhaupt kein problematischer
Punkt, sondern ein Punkt, den auch wir für sinnvoll und
zweckmäßig halten. Wir halten es allerdings nicht nur
für ausreichend, sondern vor dem Hintergrund des in
Deutschland immer noch geltenden Steuergeheimnisses
auch für angebracht, dass hier ein sauberes Reporting
gegenüber den Steuerbehörden stattfindet. Da soll dann
sichergestellt werden - das kann auf diese Art und Weise
auch sichergestellt werden -, dass die Steueransprüche
durchgesetzt werden. Das ist der entscheidende Punkt.
Wir halten nichts davon, einen Pranger zu errichten und
einzelne Unternehmen an diesen Pranger zu stellen. Wir
sehen schon an der gegenwärtig stattfindenden Diskussion über große Unternehmen wie Google, Amazon und
Starbucks - diese sind ja vielfach Gegenstand der Diskussion -, dass manche Steuerpraktiken völlig offen und
offensichtlich sind. Gleichwohl lassen sich diese Unternehmen davon nicht beeindrucken. Sie würden sich im
Zweifel auch von einem schlichten Reporting nicht beeindrucken lassen.
Wir müssen zum Kern der Sache kommen: Wir müssen mit den internationalen Partnern auf dem Verhandlungswege eine wirkliche Harmonisierung der Besteuerung erreichen. Das ist ein schwieriger Weg. Aber ich
glaube, Wolfgang Schäuble ist da schon einige Schritte
vorangekommen. Wir haben gute Erwartungen, dass wir
auf diesem Weg weiterkommen werden. Aber wovon ich
nichts halte, ist ein öffentlicher Pranger. Das kann nicht
Sinn der Sache sein.
({1})
Im Übrigen haben Sie den § 267 HGB erwähnt und
sprechen in Ihrem Antrag von ziemlich großen Unternehmen. Wenn Sie sich einmal anschauen, was unter
§ 267 HGB fällt, sehen Sie, dass das durchaus auch die
Breite des gehobenen Mittelstands umfasst. Da sind Sie
bei 38 Millionen Euro Umsatz und 250 Arbeitnehmern.
Gleichzeitig fordern Sie weniger Bürokratie. Das wäre
aber gerade ein Beitrag zu mehr Bürokratie. Zudem sind
das nun wirklich nicht die Patienten - um das einmal untechnisch zu sagen -, die uns beim Thema Steuerverlagerung im großen internationalen Rahmen Probleme machen. Auch das muss man einmal sagen.
Ich halte nichts davon - das ist der letzte Punkt -,
wenn wir in der Frage des Reportings an die gesamte Öffentlichkeit eine Vorreiterrolle einnehmen. Wir geben in
den Verhandlungen, wenn wir auf der anderen Seite auch
nehmen können. Unser Ziel muss es sein, eine wirkliche Harmonisierung zu erreichen, eine gleichmäßige
Besteuerung auf internationaler Ebene. Dann werden
wir die Krankheit der Gewinnverlagerung und der Steuervermeidung heilen können. Das muss das Ziel sein.
Mit BEPS und weiteren Initiativen sind wir auf einem
guten Weg. Ende Oktober findet auf Einladung unseres
Bundesfinanzministers ein großes Treffen der Finanzminister statt, auf dem 40 Staaten ein Abkommen unterzeichnen
werden, nach dem es ab 2017 einen automatischen Informationsaustausch gibt. Das sind grundlegende Schritte.
Herr Kollege, auch Sie müssen jetzt zum Schluss
kommen.
Das sind Schritte in der Breite, mit denen wir wirklich
vorankommen.
Vielen Dank.
({0})
Als nächster Redner hat der Kollege Richard Pitterle
das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wirtschaftsminister Gabriel bezeichnete die Steuervermeidungsstrategien der Konzerne
von A wie Amazon oder Apple bis Z wie Zara - diese
Liste ist längst nicht vollständig - kürzlich als „asozial“.
Dazu kann ich nur sagen: Gut gebrüllt, Löwe! Nicht nur
jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer, auch jeder
Handwerker und jeder Inhaber eines mittelständischen
Betriebs, also alle, die brav ihre Steuern zahlen, bekommen zu Recht einen dicken Hals, wenn sie sehen, wie international tätige Unternehmen jedes, aber auch wirklich
jedes Schlupfloch nutzen, um ihre Steuerzahlungen zu
minimieren.
({0})
Das ist in der Tat ein Skandal.
({1})
Aber eines sollte klar sein: Die bekannten Konzerne
nutzen nur die Schlupflöcher, die ihnen die Politik, insbesondere die Regierung, aber auch wir als Parlament,
gelassen haben. Das Problem ist schon seit vielen Jahren
bekannt. Bislang können die international tätigen Unternehmen ihre Gewinne intern fröhlich von Land zu Land
verschieben. Aus den Konzernbilanzen geht nämlich
nicht genau hervor, welche Umsätze in welchem Land
erzielt werden.
Es ist an der Regierung, endlich zu handeln und diese
Löcher zu stopfen.
({2})
Dazu gehört in erster Linie, mehr Licht in den Dschungel der Rechnungslegung zu bringen. Die Bilanzen eines
international tätigen Konzerns müssen künftig nach Ländern gelistet werden. Diese Listen müssen die Gewinne
und die in den Ländern gezahlten Steuern enthalten. Nur
so können wir uns überhaupt einen Überblick über die
Leistungsfähigkeit, den wichtigsten Anknüpfungspunkt
für eine gerechte Besteuerung, verschaffen.
Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen geht daher in
die richtige Richtung. Die Linke unterstützt das Anliegen des Antrags ausdrücklich. Dort, wo die Wertschöpfung der großen Unternehmen stattfindet, müssen sie
auch Steuern zahlen.
({3})
Mehr Offenlegungspflichten sind zwar ein wichtiger
Schritt, aber eben nur ein Schritt zur Bekämpfung der
Gewinnverschleierung.
Interessant ist das Verhalten der Großen Koalition in
dieser Sache. In der letzten Legislaturperiode hat die
SPD noch gemeinsam mit den Grünen die Einführung
des Country-by-Country-Reportings, also die Offenlegung, gefordert. Nun steht das sogar im Koalitionsvertrag, den die SPD mit der Union geschlossen hat. Ob die
Union hier mitspielen wird, wage ich allerdings zu bezweifeln.
Lieber Herr Kollege Binding von der SPD,
({4})
Sie erklärten damals, die Ideen dieses Antrags zur Verhinderung von Steuervermeidung seien mutig und konsequent.
({5})
Lassen Sie, sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen von
der SPD-Fraktion, diesen Worten doch auch Taten folgen, und setzen Sie diesen Antrag gemeinsam mit Grünen und Linken zur Not auch gegen die Union durch.
({6})
Nun zur Union. Ausgerechnet die CDU/CSU hat bei
dieser Debatte damals im Finanzausschuss - heute ist etwas Ähnliches bei dem Hinweis auf den Pranger angeklungen - den Datenschutz vorgeschoben. Ich bitte Sie,
das ist doch paradox: Dass die alltägliche Kommunikation der Bevölkerung durch ausländische Geheimdienste
überwacht wird, ist aus Sicht der Union nicht weiter tragisch, aber wenn Konzerne ihre Daten offenlegen sollen,
erfolgt der große Aufschrei. Ein Schelm, wer hier an Interessenpolitik denkt.
({7})
Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen von der
Unionsfraktion, kommen Sie mir bitte nicht mit dem
Steuergeheimnis. Das gilt bekanntlich nur im Verhältnis
zwischen den Steuerpflichtigen und der Finanzverwaltung. Im Antrag wird aber nicht verlangt, dass die Finanzverwaltung die Zahlen herausgibt. Die Offenlegungspflicht liegt bei den transnationalen Konzernen.
Das ist durch das öffentliche Interesse an der Steuergerechtigkeit auch allemal gerechtfertigt.
Vielen Dank.
({8})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Cansel
Kiziltepe das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr
Gambke, auch wenn ich in der letzten Legislaturperiode
noch nicht im Bundestag war, kenne ich den Antrag. Ich
hätte mir, ehrlich gesagt, ein bisschen mehr Kreativität
gewünscht, als einfach den Antrag gleichlautend einzubringen und dabei die Fortschritte der letzten Monate zu
verkennen.
({0})
- Doch, habe ich.
({1})
Auf jeden Fall finde ich es wichtig, dass wir heute
über die Steuergestaltung global tätiger Großkonzerne
sprechen;
({2})
denn global tätige Unternehmen dürfen nicht weniger
Steuerbelastungen haben als andere. Wir wollen Gewinnverschiebungsmethoden und den internationalen
Steuersenkungswettlauf stoppen.
({3})
Beim Country-by-Country-Reporting handelt es sich
um einen Aspekt in einem größeren Zusammenhang; das
wurde vorhin schon zum Ausdruck gebracht. Der größere Zusammenhang ist der Aktionsplan gegen Gewinnkürzungen und -verlagerungen, also gegen Base Erosion
and Profit Shifting, kurz BEPS genannt, welcher eine
Reihe von Maßnahmen zur Bekämpfung aggressiver
Steuerplanung und Gewinnverlagerung in Niedrigststeuerländer vorsieht. Diese Gewinnverschiebungsmethoden sind heute völlig legal. Das ist fatal.
({4})
Daher ist dieses Projekt die wichtigste internationale
Steuerreform seit 100 Jahren und ein Beitrag für mehr
Steuergerechtigkeit. Großzügige Steuergeschenke können wir uns wahrlich nicht leisten. Das Country-byCountry-Reporting ist lediglich ein Teil des BEPS-Aktionsplans. Ihre Forderung nach einer Einführung des
Country-by-Country-Reportings allein in Deutschland
schafft vielleicht öffentliche Empörung; aber dieser Alleingang beseitigt nicht das Problem der Niedriglohnbesteuerung im Ausland.
({5})
Im vorliegenden Antrag wird eine Vorreiterrolle
Deutschlands für mehr Transparenz hinsichtlich der
Wertschöpfungsketten multinational tätiger Unternehmen gefordert. Vorreiterrolle klingt gut. Wer ist nicht
gerne Vorreiter?
({6})
- Ja. - Doch was bringt eine Vorreiterrolle Deutschlands,
wenn niemand folgt?
({7})
Als Beispiel: Es gibt aktuell etwa 300 bilaterale Verträge, die nichts bringen. Die Verschiebebahnhöfe existieren weiter. Die Einführung des Country-by-CountryReportings ist zwar eine gute Idee - wir haben sie in der
letzten Legislaturperiode bejaht -; aber der Alleingang
würde zu einer internationalen Asymmetrie führen. Wir
halten es deshalb für nicht sinnvoll und im Rahmen der
aktuellen Verhandlungen sogar für eher schädlich.
({8})
Hier ist die internationale Staatengemeinschaft gefordert. In den vergangenen 15 Monaten haben wir hinsichtlich des Aktionsplans, mit dem Steuerschlupflöcher
für global tätige Großkonzerne geschlossen werden
sollen, erste substanzielle Fortschritte erzielt, auch hinsichtlich des Country-by-Country-Reportings. Am vergangenen Wochenende haben sich die G-20-Staaten verpflichtet, einige Steuerschlupflöcher für multinationale
Konzerne zu schließen. Mittlerweile liegen die Richtlinien hinsichtlich der Verrechnungspreisdokumentation
vor. Diese Richtlinien der OECD sehen unter anderem
eine jährliche Berichterstattung dieser Konzerne vor,
zwar nicht in dem Maße, wie Sie es in Ihrem Antrag fordern; aber das ist aus unserer Sicht in diesem internationalen Zusammenhang nicht unbedingt notwendig, vor
allem nicht in hochentwickelten Industriestaaten. Denn
eine gute solide Finanzverwaltung benötigt keinen zusätzlichen Druck der Öffentlichkeit.
({9})
Der von der OECD vorgesehene Austausch zwischen
den Finanzbehörden wird funktionieren und zielführend
sein.
Wir teilen ja viele der Punkte in Ihrem Antrag - es ist
ja nicht so, dass wir alles verneinen -, insbesondere die
Analyse, die Sie vornehmen, um das Problem der Steuervermeidung internationaler Großkonzerne zu beseitigen. Wir unterstützen auch den Ansatz, dass wir hier
eine internationale Zusammenarbeit brauchen. Die Ergebnisse der letzten Monate sind aber Antworten auf
Ihre Forderungen. Mit einem nationalen VorreitermoCansel Kiziltepe
dell, das Sie fordern, kommen wir in diesem Punkt wirklich nicht weiter.
({10})
Stattdessen ist das gemeinschaftliche Vorgehen der mittlerweile 44 Staaten richtig. Gemeinsam hat man sich auf
den Aktionsplan gegen Steuergestaltung und -vermeidung verständigt, und nur gemeinsam wird man am
Ende auch global erfolgreich sein.
Wenn man über Country-by-Country-Reporting bzw.
auch allgemein über Maßnahmen gegen BEPS redet,
muss man eines betonen: Es geht hier - dieser Punkt ist
mir wirklich besonders wichtig - um Steuergerechtigkeit,
({11})
um Wettbewerbs- und Chancengleichheit für die Unternehmen, die sich dieser Methoden zur Verlagerung von
Gewinnen nicht bedienen können. Durch die Steuervermeidung der internationalen Großkonzerne haben deutsche mittelständische Unternehmen einen gravierenden
Wettbewerbsnachteil, und das wollen wir beseitigen.
({12})
Ich möchte natürlich auch betonen, dass es sich beim
Kampf gegen die internationale Steuergestaltung in erster Linie um den Kampf gegen ein skandalöses Verhalten
von Unternehmen handelt. Dieses Verhalten gegenüber
der Allgemeinheit ist wirklich abstoßend. Die Nutzung
der staatlichen Infrastruktur wird als gegeben vorausgesetzt; an den Kosten will sich aber keiner beteiligen.
Deshalb halten wir die Bekämpfung der Gewinnverschiebungsmethoden und selbstverständlich auch das
Country-by-Country-Reporting für notwendig. Es ist
klar: Wir müssen uns dieser Herausforderung stellen und
dürfen diese Methoden nicht dulden; denn wir sind auf
die Steuereinnahmen dringend angewiesen und wissen,
wie schwierig es ist, mit wenig öffentlichen Mitteln
staatlich aktiv zu sein.
Daher frage ich mich, was mit diesem Antrag erreicht
werden soll. Er ist zwar eindrucksvoll, bringt in der Sache aber nur wenig, und eine Beschleunigung des Verfahrens ist damit auch nicht zu erwarten. Angesichts dessen, was bis jetzt bereits erreicht worden ist, finde ich es
beinahe fahrlässig, einen solchen Antrag zu stellen.
Der Zeitplan ist klar: Er sieht die ersten sieben Maßnahmen inklusive des Country-by-Country-Reportings
bis Ende des Jahres vor. Die Umsetzung der weiteren
acht Maßnahmen soll bis Ende 2015 erreicht werden.
Das Wichtigste ist: Es funktioniert. Bereits Ende des
nächsten Jahres wird man evaluieren und gegebenenfalls
nachsteuern.
Daher bleibe ich bei meinen Fragen: Warum sollen
wir vom internationalen Vorgehen abweichen? Warum
löst man eine einzelne Maßnahme aus insgesamt
15 gleichwertigen heraus und präsentiert sie als Ei des
Kolumbus beim Vorgehen gegen Steuervermeidung und
Steuerplanung?
({13})
Beides erschließt sich mir, ehrlich gesagt, nicht.
({14})
Daher bin ich gespannt auf die Behandlung und Beratung des Antrags im Ausschuss.
Vielen Dank.
({15})
Als letzter Redner in dieser Debatte hat Philipp
Lerchenfeld das Wort.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Hohes Haus! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon mehrfach dargestellt worden, welchen großartigen Verhandlungserfolg
die Finanzminister der G-20-Staaten in Australien erreichen konnten.
({0})
Sieben Punkte wurden verabschiedet, und acht weitere
Punkte, die die OECD ebenfalls vorgeschlagen hat, werden im kommenden Jahr verhandelt werden.
Unter anderem ist in Australien über das von der
OECD vorgeschlagene einheitliche Modell für Steuererklärungen von Unternehmen verhandelt worden. Hierbei
geht es um den Punkt Harmonisierung. Außerdem sollen
die Unternehmen Auskunft über ihre Umsätze, Gewinne,
Beschäftigten und die Steuern, die sie in den unterschiedlichen Ländern zahlen, geben. Diese Erklärungen
sollen aber nicht veröffentlicht, sondern den Steuerbehörden anderer Länder übermittelt werden. Das ist eine
kluge Entscheidung.
Inzwischen hat sich in vielen Ländern weitgehend die
Meinung durchgesetzt - sogar dort, wo Steuerflucht eine
entsprechende Amassierung von Vermögen bringt -,
dass man gegen Steuerflucht etwas unternehmen muss.
Mit einem legalen Trick namens „Double Irish“ können
Großkonzerne aus Amerika wie Google und Microsoft
ihre Gewinne in zweistelliger Milliardenhöhe über Irland in die Karibik verschieben. Wenn sie es klug anstellen, machen sie das Ganze mit dem „Dutch Sandwich“;
das heißt, sie sparen auch noch die Quellensteuer in Irland. Auch die USA haben mittlerweile erkannt, dass ihnen durch entsprechende Steuergesetze Milliardengewinne, in etwa 1 Billion US-Dollar, entgehen. Insgesamt
ist erkennbar, dass aus diesen Gründen die Steuerbehörden der meisten Länder Maßnahmen vorbereiten oder
bereits ergriffen haben, um Steuerflucht zu verhindern.
Sie, liebe Kollegen von den Grünen, fordern in Ihrem
Antrag unter dem Mäntelchen der Transparenz die Of5014
fenlegung der Steuerbelastung internationaler Konzerne
nach einzelnen Ländern. Das widerspricht erstens den
Vorschlägen der OECD und entspricht zweitens in keiner Weise dem in Deutschland Gott sei Dank immer
noch geltenden Steuergeheimnis. Ich frage mich natürlich: Wie soll man das gegen international bereits abgestimmte OECD-Punkte eigentlich durchsetzen? Wenn
Sie sagen, Deutschland solle die Vorreiterrolle übernehmen, glauben Sie dann, dass alle hinterherlaufen? Da haben Sie wohl ein bisschen zu viel von der Wirkung deutscher Steuergesetze in der Welt erwartet.
Ihr Antrag ist ziemlich populistisch. Sie wollen anscheinend nur internationale Konzerne als Buhmänner
an den Pranger stellen. Es geht Ihnen dabei nicht darum,
Steuerflucht, die durch ein 15-Punkte-Programm der
OECD ganz klar verhindert wird, zu verhindern.
({1})
Kollege Gambke, Sie haben vorhin beim Begriff
„Steuergeheimnis“ so komisch geschaut. Ich hoffe, Sie
verstehen, was ich damit meine. Das ist nämlich eine der
wichtigsten Regelungen, die wir in Deutschland haben.
Wir begrüßen auf jeden Fall den Verhandlungserfolg,
den die Finanzminister in Australien erzielt haben. Wir
lehnen Ihren Antrag ab, weil Ihr Vorschlag eines Country-by-Country-Reporting das Steuergeheimnis in fundamentaler Weise verletzt und die Verhandlungen über vernünftige OECD-Vorschläge auf jeden Fall erschweren
würde.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die
Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/2617 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
- Zweite Beratung und Schlussabstimmung
des von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom
31. Oktober 2003 gegen Korruption
Drucksache 18/2138
- Zweite Beratung und Schlussabstimmung
des von der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Übereinkommen der Vereinten
Nationen gegen Korruption
Drucksache 18/478
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz
({0})
Drucksache 18/2643
Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz hat
den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auf Drucksache 18/478 zum Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen Korruption in seine Beschlussempfehlung mit einbezogen. Dieser Gesetzentwurf soll
jetzt ebenfalls beraten werden. - Ich sehe, Sie sind damit
einverstanden. Dann ist das so beschlossen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist auch das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe dem Staatssekretär Christian Lange als erstem Redner das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Bundestag entscheidet heute über die Zustimmung zum Übereinkommen der Vereinten Nationen
vom 31. Oktober 2003 gegen Korruption. Korruption
untergräbt das Vertrauen in die Integrität und Funktionsfähigkeit von Verwaltungen und Regierungen. Sie behindert einen freien und fairen Wettbewerb und verursacht
erhebliche volkswirtschaftliche Schäden. Die Verhinderung und Bekämpfung von Korruption in allen Ausprägungen gehört daher zu den zentralen staatlichen Aufgaben.
Korruption ist freilich kein nationales Phänomen. Sie
macht vor staatlichen Grenzen bekanntlich nicht halt.
Gründe hierfür sind die Öffnung von Grenzen, die enge
Zusammenarbeit vieler Staaten auf dem Weltmarkt und
die Globalisierung der Wirtschaft. Dem internationalen
Phänomen Korruption ist deshalb auch durch ein international abgestimmtes Vorgehen der Staatengemeinschaft entgegenzutreten.
Das Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen
Korruption wurde am 31. Oktober 2003 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet.
Es ist das erste weltweite Regelungswerk zur Bekämpfung der in- und ausländischen Korruption. Es wurde
mittlerweile von 170 Vertragsstaaten ratifiziert und hat
damit bei einer Mitgliederzahl der Vereinten Nationen
von 193 Staaten nahezu universelle Geltung. Deutschland hat das Übereinkommen bereits am 9. Dezember
2003 unterzeichnet und gehört damit zu den Erstunterzeichnern des Übereinkommens.
({0})
In den vergangenen Jahren hat Deutschland erhebliche Anstrengungen im Kampf gegen Korruption unternommen.
({1})
Bestechungsfälle im In- und Ausland können verfolgt
werden und werden verfolgt. Das Bewusstsein für die
Sozialschädlichkeit von Korruption ist heute sehr viel
höher als früher.
In einem Punkt blieb Deutschland allerdings hinter
den Vorgaben des Übereinkommens zurück: bei der Abgeordnetenbestechung. Die Kritik, die dies, wie ich
meine, zu Recht hervorgerufen hat, dürfte uns allen wohl
noch in Erinnerung sein. Ich möchte an dieser Stelle
ganz bewusst keine inhaltlichen Ausführungen zum
Straftatbestand der Abgeordnetenbestechung machen.
Der Bundestag hat entschieden. Der erweiterte Straftatbestand der Abgeordnetenbestechung ist seit dem
1. September dieses Jahres in Kraft. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, den Koalitionsfraktionen für ihre Initiative herzlich zu danken. Dadurch ist es möglich, die
Vorgaben des Übereinkommens zu erfüllen. Das ist
heute der Fall. Heute geht es also darum, den Weg für
die Ratifikation frei zu machen, damit Deutschland dem
Übereinkommen der Vereinten Nationen als einem der
wichtigsten internationalen Instrumente gegen Korruption endlich angehören kann. Genau darum bitte ich Sie
heute Abend.
Herzlichen Dank.
({2})
Als nächster Redner spricht Frank Tempel.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Während meiner Dienstzeit beim Landeskriminalamt Thüringen war ich drei Jahre ausschließlich
mit Korruptionsdelikten beschäftigt, drei Jahre, in denen
ich lernte, dass Deutschland beim Thema Korruption
keinen Grund hat, auf andere Länder zu zeigen, da sich
auch hier noch einiges im Argen befindet. Insofern besteht hier im Haus wohl Einigkeit darüber, dass es eine
absolute Notwendigkeit ist, dass sich auch die Bundesrepublik an einem Übereinkommen beteiligt, bei dem es
um so wichtige Punkte geht wie Vorschriften zur Korruptionsprävention, Vereinbarungen zu Strafvorschriften und Vereinbarungen zum Umgang mit durch Korruption erlangten Vermögenswerten. Bis zu dieser Stelle
können übrigens alle klatschen.
({0})
Dieses Übereinkommen der Vereinten Nationen
wurde, wie gesagt, am 31. Oktober 2003 beschlossen
und von Deutschland im selben Jahr unterzeichnet. Das
war im Jahr 2003, meine Damen und Herren. So viel
zum Thema Erstunterzeichner; denn erst jetzt, 2014,
kommen wir zur Ratifizierung dieses Abkommens. Dass
das so lange gedauert hat - die Gründe dafür hat mein
Vorredner bereits benannt -, lag unter anderem daran,
dass es dem Bundestag nicht gelang, sich auf eine entsprechende Strafvorschrift zur Abgeordnetenbestechung
zu einigen.
Angesichts von rund 8 000 Korruptionsdelikten im
Jahr fällt auf, dass der Anteil der politischen Ebene relativ gering ist. Das heißt aber nicht, dass Abgeordnete die
besseren Menschen sind. Das liegt vielmehr daran, dass
es an entsprechenden Strafvorschriften fehlte.
({1})
Um diese Lücke zu schließen, haben wir vor der Sommerpause gemeinsam unsere Hausaufgabe gemacht.
Doch zumindest die Lehrer hier im Haus werden wissen,
dass es, um eine gute Note zu bekommen, nicht reicht,
die Hausaufgaben einfach nur machen, sondern dass
man sie auch richtig, gut und vor allem vollständig machen muss. Für eine Eins oder eine Zwei reicht das in
diesem Fall noch nicht ganz.
({2})
Ich darf Sie an dieser Stelle noch einmal an meine
Kritik zur sehr engen Fassung der Abgeordnetenbestechung erinnern. Die enge Bindung erlangter Vorteile an
klar nachweisbare Anweisungen und Aufträge macht
diese Strafvorschrift fast unanwendbar. Die Linke hat
diesem Straftatbestand damals im Interesse der Ratifizierung dieses Übereinkommens zugestimmt, aber mit der
klaren Ansage, dass wir natürlich eine Evaluierung der
Anwendbarkeit der Strafvorschrift in der Praxis einfordern werden.
({3})
Wenn zum Beispiel ein Konzern einem Abgeordneten
Geld oder geldwerte Vorteile zukommen lässt und dafür
nur allgemein ein Handeln in seinem Sinne erwartet und
bekommt, ist das nach wie vor nicht strafbar. Es ist aber
definitiv eine korruptive Verhaltensweise. Mehr als eine
Vier minus ist also für die Hausaufgabe „Straftatbestand
der Abgeordnetenbestechung“ nicht zu vergeben. Die
Linke wird dafür kämpfen, dass es einen wirksamen
Straftatbestand auch in diesem Bereich geben wird.
({4})
Wir haben noch weitere Hausaufgaben, und ich sagte
ja, dass man die Hausaufgaben auch vollständig machen
muss. Seit 2009 kritisiert der Europarat mangelnde Vorgaben zur Parteienfinanzierung. Auch das gehört dazu.
Da geht es zum Beispiel um Fragen der Zulässigkeit von
Direktspenden an Abgeordnete oder um die hohen
Grenzwerte bei der Veröffentlichung von Spenden an die
Parteien. Auch das gehört zum Thema Korruptionsprävention, auch wenn Sie das nicht gern hören angesichts
der Spenden, die Sie bekommen.
({5})
- Ja, wenn Sie es finden. Ich würde auch gern etwas abhaben wollen.
({6})
- Ja, ich habe einen Kreisverband, der immer bei plus/
minus null liegt. Wir würden uns alle freuen, wenn die5016
ses Geld dann auch vernünftigen Zwecken zugutekäme.
Bloß, bisher ist es ja nicht zu finden.
Einen Vorschlag von Transparency International sollten wir auch noch diskutieren, nämlich den Vorschlag,
eine Wertgrenze von 150 Euro bei Einladungen und Geschenken an Abgeordnete vorzuschreiben. Im Europarat
ist das übrigens eine gängige Lösung. Diese Idee ist deshalb eine Diskussion wert, weil eine derartige Grenze
das Problem der korruptiven Einflussnahme lösen
könnte; denn wie gesagt: Der bisherige Straftatbestand
der Abgeordnetenbestechung verhindert das nicht.
Die Ratifizierung der UN-Konvention gegen Korruption ist also kein Anlass zum Schulterklopfen, sondern
sollte uns Motivation sein, den Kampf gegen Korruption
gerade im politischen Bereich wirklich ernsthaft zu führen. Scheinparagrafen gehören nicht dazu. Da die Lampe
vor mir blinkt, sage ich nur noch: Man darf eben nicht
sagen, man habe Hausaufgaben gemacht, sondern man
muss sagen: Ich muss die Hausaufgaben besser machen,
ich muss sie vollständig machen.
Danke.
({7})
Als nächster Redner hat Ansgar Heveling das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich glaube, wir haben unsere Hausaufgaben gemacht.
Wir haben unsere Hausaufgaben gut gemacht
({0})
und können heute mit der Zustimmung zu dem Entwurf
eines Gesetzes zum Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen Korruption einen langen Prozess, auch einen langen Diskussionsprozess abschließen. Er findet
damit sein formales Ende.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht die Zustimmung des Bundestages zur Ratifizierung des Übereinkommens der Vereinten Nationen vom 31. Oktober
2003 vor, das im Dezember 2005 in Kraft getreten ist.
Die Konvention ist der erste weltweit völkerrechtlich
verbindliche Vertrag zur Bekämpfung der in- und ausländischen Korruption. Ich glaube, wir sind uns hier alle
einig, dass die Konvention viele sinnvolle Regelungen,
beispielsweise zur Prävention und zur strafrechtlichen
Verfolgung der Korruption und zur internationalen strafrechtlichen Zusammenarbeit, enthält.
Deutschland hat die Konvention bereits am 9. Dezember 2003 unterzeichnet, die Ratifikation im Folgenden aber nicht eingeleitet, weil bei strafrechtlichen
Vorschriften Anpassungsbedarf bestanden hat. Der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister der
Justiz und für Verbraucherschutz hat darauf eben schon
hingewiesen. Der Bundestag hat über die ganzen Jahre
auch in den unterschiedlichsten Mehrheitskonstellationen darum gerungen, eine Lösung zu finden.
({1})
Die Diskussion hat viel Zeit in Anspruch genommen.
Jetzt sind wir aber weitergekommen.
Das Übereinkommen ist zwischenzeitlich von
170 Staaten ratifiziert worden. Deutschland wird nun
bald auch dazugehören. Es sind dann nur noch wenige
Länder übrig - wie Saudi-Arabien, Sudan, Nordkorea
und Syrien -, die diese Konvention nicht gezeichnet haben. Es war ja auch immer Gegenstand der Diskussionen, dass gesagt wurde: Mit diesen Staaten wollen wir
uns nicht gemeinmachen.
Jetzt ratifizieren wir das Übereinkommen und treten
damit in den Kreis der Staaten ein, die das Abkommen
umgesetzt haben. Das ist, für sich genommen, natürlich
noch kein Garant dafür, dass gegen korruptive Verhaltensweisen vorgegangen wird; denn zu den Staaten, die
die Konvention gezeichnet und umgesetzt haben, gehören zum Beispiel Libyen, Venezuela und Paraguay,
sicherlich keine Musterbeispiele, was das Thema Korruptionsbekämpfung angeht. Bislang scheiterte die Ratifizierung der UN-Konvention in Deutschland daran,
dass es Änderungen im materiellen Strafrecht bedurfte,
insbesondere die Erweiterung des Straftatbestandes der
Abgeordnetenbestechung, gegen die lange erhebliche
Bedenken bestanden und um die sich eine lange Diskussion entsponnen hat.
Für Deutschland ist die Bekämpfung der Korruption
aber ein wichtiges Anliegen. Deutschland verfügt schon
seit vielen Jahren über ein hohes strafrechtliches Schutzniveau bezüglich der Korruption. Wir hatten auch schon
mit § 108 e StGB in alter Fassung einen Straftatbestand,
der als Verbot des Stimmenkaufs oder -verkaufs die Abgeordnetenbestechung im Ansatz geregelt hat.
({2})
Wir haben viele weitere Regelungen gegen korruptive
Verhaltensweisen in den §§ 331 ff. des Strafgesetzbuches.
Darüber hinaus haben wir aber vor allem eine funktionierende, aktive und öffentliche Zivilgesellschaft. Das
ist das viel Entscheidendere. Das Entscheidende ist, dass
wir ein gesellschaftliches Klima der Transparenz haben,
das dafür sorgt, dass korruptive Verhaltensweisen tatsächlich ans Licht kommen. Damit wird Korruption in
all ihren Formen am besten der Boden entzogen.
({3})
Da breche ich gerne eine Lanze für unsere funktionierende Zivilgesellschaft. Presse und Öffentlichkeit nehmen ihre Wächterfunktion wahr, wahrscheinlich besser,
als es das Strafrecht je könnte.
Gleich zu Beginn dieser Legislaturperiode hat der
Bundestag ein Gesetz zur Verschärfung der Regelungen
gegen die Abgeordnetenbestechung, das am 1. SeptemAnsgar Heveling
ber 2014 in Kraft getreten ist, verabschiedet. Damit sind
die erforderlichen Anpassungen bei der Abgeordnetenbestechung vorgenommen worden und die Voraussetzungen geschaffen worden, die jetzt eine Ratifizierung
ermöglichen. Mithin haben wir den Weg beschritten, zunächst die erforderlichen materiell-rechtlichen strafrechtlichen Anpassungen vorzunehmen und so die materiellen Voraussetzungen für die Ratifizierung geschaffen,
statt durch eine Ratifizierung im Vorhinein unnötig
Druck für eine zeitlich befristete Umsetzungspflicht zu
begründen. Mit anderen Worten: Nachdem wir die materiellen Voraussetzungen geschaffen haben, schaffen wir
nun mit diesem Gesetz die formellen Voraussetzungen,
die UN-Konvention zu ratifizieren. Ich bitte daher um
Ihre Zustimmung.
({4})
Als nächster Redner spricht Hans-Christian Ströbele.
Guten Abend, Frau Präsidentin! Guten Abend, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich bin aus dem Untersuchungsausschuss schnell herübergelaufen, um hier einige Bedenken zu äußern.
({0})
Ich fange erst einmal mit einem Lob an, wie ich das
bei diesem Thema jedes Mal mache. Vor elf Jahren gab
es unter Rot-Grün eine sehr mutige Justizministerin. Sie
hat seinerzeit im Dezember 2003 - darauf haben einige
schon hingewiesen - gegen den Willen der Mehrheit der
damaligen Koalition und gegen den Willen der Mehrheit
der Opposition diese Konvention unterschrieben, weil
sie gesagt hat: In dieser Konvention steht so viel Richtiges - das stellt uns vor große Herausforderungen -, dass
man sie unterschreiben muss. - Allerdings ist danach
nichts geschehen. Wir sind in der Reihe der Staaten, die
ratifiziert haben, immer weiter nach hinten gerutscht.
Heute sind wir auf Platz 170 in der Weltgemeinschaft
- darauf ist schon hingewiesen worden -; das ist kein
medaillenverdächtiger Platz. Das lag daran - das muss
man hier klar sagen -, dass sich die verschiedenen Koalitionen - Rot-Grün hat damals noch daran gearbeitet,
ist aber nicht ganz fertig geworden - nicht darauf einigen
konnten, ein Gesetz gegen Abgeordnetenbestechung, das
diesen Namen wirklich verdient hätte, zu verabschieden.
Dieses Gesetz ist jetzt verabschiedet. Zur Note würde
ich sagen: gerade noch ausreichend. Wir haben auch zugestimmt, damit überhaupt irgendetwas kommt. Aber
eine Note wie befriedigend oder gut würde ich dem nicht
geben.
({1})
Aber was überwiegend vergessen worden ist - von Ihnen ist ein Punkt angesprochen worden -: In dieser Konvention ist noch vieles andere Richtige und Wichtige
enthalten. Das ist noch viel Arbeit für Sie, für uns, für
den ganzen Deutschen Bundestag. Von den Unterzeichnern dieser Konvention wird zum Beispiel gefordert,
dass Sie sich Gedanken machen und in einigen Bereichen gesetzgeberisch tätig werden, die Sie bisher überhaupt nicht angehen wollten. Das ist erstens das Korruptionsregister. In jeder Legislaturperiode haben wir das
Thema eingebracht. Unter Rot-Grün haben wir damals
sogar schon ein Gesetz verabschiedet, das dann aber
nicht mehr zur Anwendung gekommen ist.
Ein Korruptionsregister für Deutschland ist dringend
erforderlich. Denn jeder Beamte - vor allem jeder und
jede Stelle im öffentlichen Bereich, die Aufträge vergeben - muss doch wissen, ob ein Unternehmen, das sich
um einen Auftrag bewirbt, schon einmal mit Korruption
aufgefallen ist. Sonst kann man doch keine vernünftige
Entscheidung treffen. Das wollen Sie aber bisher nicht,
obwohl die Konvention auch vorsieht, dass man sich darum kümmert.
Ein zweiter Punkt ist: In dieser Konvention wird gefordert, dass die Transparenz der Parteienfinanzierung
vervollständigt werden muss. Auch da können wir noch
sehr viel leisten. Wir diskutieren das Thema immer wieder im Deutschen Bundestag, sind aber mit dem, was wir
alles erreichen müssen, noch lange nicht am Ende der
Fahnenstange.
({2})
Der dritte Punkt - das ist auch ein interessanter Punkt,
Herr Kollege Lange; das trifft nämlich die Regierung ist, dass für Regierungsmitglieder Karenzzeiten eingeführt werden sollen. Man soll gesetzgeberisch tätig werden und mit Karenzzeiten regeln, wann man nach Ausscheiden aus dem Amt in der Industrie oder sonst
irgendwo einen Job annehmen kann. Auch dafür wünsche ich Ihnen viel Glück und viel Mut. Sie haben unsere
Unterstützung, wenn etwas zustande kommt. Das ist
dringend erforderlich und muss sofort gemacht werden.
({3})
Jetzt komme ich abschließend zu meinem Lieblingsthema - auch das ist Gegenstand der Konvention -:
die Whistleblower. In der Konvention ist nämlich vorgesehen, dass gesetzliche Regelungen dafür getroffen werden, dass man, ob im öffentlichen Dienst, in einer Firma
oder bei einem anderen Arbeitgeber, straflos und ohne
Nachteile Missstände, Verbrechen oder mögliche Gesundheitsgefährdungen von großen Teilen der Bevölkerung anzeigen kann, ohne dass man seinen Job verliert
oder bestraft wird.
({4})
Damit bin ich jetzt wieder bei dem Thema, um das es
auch im Untersuchungsausschuss geht, in den ich gleich
wieder zurücklaufe. Natürlich muss auch in Deutschland
eine Regelung für Whistleblower her, die etwa Geheimnisse verraten, wenn diese mit Tätigkeiten verbunden
sind, die strafbare Handlungen sind, die in Grundrechte
von Millionen von Menschen eingreifen.
({5})
Das muss man straflos und möglicherweise mit dem Nobelpreis oder dem Alternativen Nobelpreis belobigt tun
dürfen und sollen. Diesen Menschen müssen wir Mut
machen.
Ich komme gerade aus den Vereinigten Staaten.
Herr Kollege Ströbele, ungeachtet der Bedeutung des
Themas muss ich Sie bitten, zum Schluss zu kommen.
Das steht in der Konvention, was wir alles noch umsetzen müssen, Frau Präsidentin.
({0})
- Genau. Wir haben auch eine Geschäftsordnung.
In den USA gibt es eine Whistleblower-Regelung.
Wir sollten uns im Deutschen Bundestag an die Arbeit
machen, dass wir möglichst bald auch in Deutschland so
etwas haben.
({0})
Als nächste Rednerin spricht Christina Jantz.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine in vielerlei Hinsicht historische Debatte strebt heute Abend tatsächlich ihrem Ende entgegen. Knapp elf Jahre, nachdem
die Bundesrepublik Deutschland das Übereinkommen
der Vereinten Nationen gegen Korruption unterzeichnet
hat - nachdem Sie die grüne Justizministerin erwähnt
haben
({0})
- Entschuldigung, eine rote -, muss ich auch unseren roten Bundeskanzler, Gerhard Schröder, erwähnen, unter
dem das 2003 erfolgt ist -, können wir es nun ratifizieren.
Wie wichtig die Bekämpfung von Korruption ist, hat
bereits der Staatssekretär Christian Lange ausgeführt,
und diese Meinung teile ich voll und ganz. Es ist für
mich selbstverständlich, dass Deutschland bei der Korruptionsbekämpfung international eine Vorreiterrolle
einnehmen sollte.
({1})
Deutschland gehörte schließlich - das wurde schon ausgeführt - zu den Erstunterzeichnern. Ein Großteil der
deutschen Gesetzgebung genügte bereits damals den
Vorgaben des Übereinkommens. Doch die Ratifizierung
ließ sehr lange auf sich warten; denn jahrelang sträubte
sich Schwarz-Gelb, den Bereich der Abgeordnetenbestechung als Grundlage für eine abschließende Verabschiedung des Vertragsgesetzes anzufassen. Während dieser
Zeit hagelte es Kritik aus den unterschiedlichsten Bereichen. Unter Federführung des damaligen Präsidenten der
Internationalen Handelskammer beschwerten sich fast
40 Vorsitzende großer, namhafter deutscher Konzerne.
Die fehlende Ratifizierung schade dem Ansehen der
deutschen Wirtschaft - so lautete ihre Aussage - im
Ausland.
Deutschland befindet sich in Gesellschaft von Staaten
wie dem Sudan, Nordkorea und Syrien. Bereits 170 Staaten haben das Übereinkommen ratifiziert. Deutschland
stand und steht, wie gesagt, in der internationalen Kritik.
EU-weit ist unser Land, seit Tschechien das Übereinkommen Ende 2012 als letzter EU-Mitgliedstaat umgesetzt hat, Schlusslicht im Hinblick auf die Ratifizierung.
Es besteht also dringender Handlungsbedarf. Erfreulicherweise haben die Kolleginnen und Kollegen der
CDU/CSU mit der SPD nun einen Koalitionspartner an
ihrer Seite, mit dem es endlich möglich war, die Erweiterung des Straftatbestands der Abgeordnetenbestechung
umzusetzen.
({2})
Dank uns ist nun der Weg frei. Am 1. September trat
das Strafrechtsänderungsgesetz zur Abgeordnetenbestechung in Kraft. Das vorliegende Vertragsgesetz kann
nun verabschiedet werden. Da dieses allerdings zustimmungsbedürftig ist, begrüße ich ausdrücklich, dass es
bereits am 10. Oktober dem Bundesrat vorgelegt werden
soll und zeitnah dem Bundespräsidenten zugeleitet werden kann.
Die Zustimmung zu dem Gesetzentwurf ist bedeutsam und liegt in unser aller Interesse. Durch die Ratifizierung schaffen wir es, die Wirtschaft bei der Korruptionsprävention zu unterstützen und gemeinsam mit
anderen Staaten noch entschiedener gegen Missstände
vorzugehen. Wir schließen ein Kapitel, das viel zu lange
offen war.
Vielen Dank.
({3})
Als letzter Redner in dieser Debatte hat der Kollege
Dr. Volker Ullrich das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die heutige Debatte über das Korruptionsabkommen der Vereinten Nationen eignet sich nicht zur
Heldenverehrung und zur Geschichtsstunde. Es sei darauf hingewiesen, dass Rot-Grün zwischen 2003 und
2005 eineinhalb Jahre Zeit gehabt hätte, mit eigener
Mehrheit die entsprechende Konvention in allen Punkten
umzusetzen. Ja, es ist nicht unbedingt rühmlich für dieses Haus, dass wir insgesamt elf Jahre gebraucht haben.
({0})
Allerdings hat dieser 18. Deutsche Bundestag unter Federführung der Unionsfraktion gleich als allererstes
Gesetzesvorhaben die Regelung betreffend die Abgeordnetenbestechung angepackt und damit das Ratifizierungsabkommen ermöglicht. Dementsprechend gilt der
Dank den Kolleginnen und Kollegen, die dieses Vorhaben unter CDU/CSU-Führung zum Abschluss gebracht
haben.
({1})
Es sei aber auch angesprochen, dass es bei der Korruptionsbekämpfung nicht allein auf die Ratifizierung
dieses Abkommens ankommt. Es gibt Staaten, die dieses
Abkommen bereits wenige Monate oder Jahre danach
unterzeichnet haben - diese Staaten nenne ich jetzt
nicht - und bei denen sich seit vielen Jahren nichts bewegt hat. In Deutschland dagegen hat der Bund gemeinsam mit den Ländern über viele Jahre hinweg für eine
größere Sensibilisierung gegenüber Korruption im öffentlichen Bereich gesorgt. Es gibt entsprechende Schwerpunktstaatsanwaltschaften, und das Bundeskriminalamt
geht gezielt gegen Korruption vor. Deswegen muss
Deutschland als Land, das beim Korruptionsindex glücklicherweise immer zu den Top-10- oder Top-20-Staaten
gehört, sich nicht vorhalten lassen, nicht genügend gegen Korruption zu tun.
({2})
Gleichwohl bleibt natürlich einiges auch in Zukunft
anzuschieben.
({3})
Das ist gar keine Frage. Das wollen und werden wir gemeinsam in dieser Großen Koalition tun. Ich spreche das
Gesetz gegen Korruption und Bestechlichkeit im Gesundheitswesen an, welches die Koalition noch in diesem Herbst auf den Weg bringen wird und welches wir
2015 verabschieden werden, um damit in diesem großen
Bereich der Kliniken, der Krankenhäuser und der
Pharmaunternehmen die möglichen Ansatzpunkte für
korruptives Verhalten zu begrenzen und Korruption einzudämmen. Das, meine ich, ist ein weiterer wichtiger
Schritt zur Bekämpfung der Korruption in diesem Land.
({4})
Herr Kollege Ströbele, seien Sie versichert: Wir werden auch weitere Fragen, die sich stellen, sehr sorgsam
und mit der notwendigen gesetzgeberischen Ernsthaftigkeit verfolgen und weitere Maßnahmen umsetzen.
({5})
Aber wichtig ist auch, dass es nicht allein - das hat
der Kollege Ansgar Heveling sehr zutreffend ausgeführt - auf die staatlichen Stellen ankommt. Die Bekämpfung der Korruption ist vielmehr eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die von jedem Einzelnen umsichtiges
Handeln und auch Mut verlangt. In diesem Zusammenhang sei ein italienischer Kämpfer gegen Korruption zitiert, Leoluca Orlando, der Bürgermeister von Palermo,
der einmal gesagt hat: Die Chance für den Kampf gegen
Korruption ist Zivilcourage und das Einstehen jedes Einzelnen. - So wollen wir gemeinsam auf der einen Seite
weiteres gesetzgeberisches Handeln voranbringen und
auf der anderen Seite an die Bürgerinnen und Bürger in
diesem Land appellieren, es nicht zuzulassen, dass eine
Hand die andere wäscht und dass man sich, weil man
sich kennt, über die Grenzen des Rechts hinaus hilft. In
diesem Sinne ist die Verabschiedung dieses Gesetzes
heute ein Schritt, aber wir werden weitere Schritte beim
Kampf gegen die Korruption folgen lassen.
Vielen Dank.
({6})
Vielen Dank. - Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit kommen wir zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes
zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom
31. Oktober 2003 gegen Korruption. Die damals zuständige Ministerin Brigitte Zypries ist auch dabei und wird
sicherlich mit großer Genugtuung diesen Beschluss
heute mittragen, so wie alle anderen Kolleginnen und
Kollegen, die das in dieser Debatte ausdrücklich unterstrichen haben.
({0})
Ich glaube, es ist eine gute Entscheidung, die wir jetzt
hier treffen.
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung. Der Ausschuss für Recht und
Verbraucherschutz empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/2643, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/
2138 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz
zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Es enthält sich niemand. Damit
ist dieser Gesetzentwurf einstimmig angenommen worden. Das ist sehr erfreulich.
({1})
Ich komme zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz zu dem Entwurf eines Gesetzes der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen zum Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen Korruption auf Drucksache
18/478. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/2643, den
Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen für
erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind wieder alle Fraktionen. Gibt es
jemanden, der dagegen stimmt? - Das ist nicht der Fall.
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
Damit ist auch diese Beschlussempfehlung einstimmig
angenommen worden. Es war niemand mehr da, der sich
hätte enthalten können - nur um das klarzustellen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Leidig, Herbert Behrens, Caren Lay, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Rückzug der Deutschen Bahn AG bei Nachtund Autoreisezügen stoppen - Nachhaltige
Reisekultur in Europa fördern
Drucksache 18/2494
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur ({2})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Sobald die Kolleginnen und Kollegen ihre Plätze eingenommen haben, beginnen wir mit der Aussprache. Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
Kollegin Sabine Leidig das Wort.
({3})
Die Uhrzeit passt zum Thema, werte Kolleginnen und
Kollegen, Frau Präsidentin! Die Bahn schränkt von Dezember an ihr Angebot ein. Die Autoreisezüge sollen
verschwinden und viele Nachtzüge auch. Zum Glück
regt sich öffentlicher Widerstand dagegen. Es geht um
rund 1 000 Beschäftigte, die ihren Arbeitsplatz verlieren
werden. Es geht um mehr: um die Zukunft der europäischen Reisekultur. Die müsste klimafreundlich werden.
Wir Linken bestehen darauf, dass das Parlament sich
nicht aus der Verantwortung stehlen kann. Das Grundgesetz gilt. Dort steht, dass der Bund als alleiniger Eigentümer der Deutschen Bahn AG nicht nur für die Schieneninfrastruktur verantwortlich ist, sondern auch dafür, dass
es darauf ein Fernverkehrsangebot gibt, das den allgemeinen Verkehrsbedürfnissen entspricht.
Nachtzüge gibt es in Deutschland seit 162 Jahren, Autozüge seit fast 60 Jahren. Beide sind feste Bestandteile
dieses Angebots, und die Nachfrage zeigt deutlich, dass
viele Familien, Geschäftsreisende, Leute mit Flugangst
oder Handicaps und Umweltbewusste diesen Bedarf haben. Deshalb sind wir alle gefordert, den geplanten
Kahlschlag zu verhindern.
({0})
Die Linke beantragt, dass die Kürzungen bei Autoreise- und Nachtzügen zurückgenommen werden. Wir
fordern ein mindestens zweijähriges Moratorium, damit
in dieser Zeit sinnvolle Alternativen geprüft werden können. Wir verlangen eine Studie, die untersucht, wie man
ein gutes europäisches Zug- und Nachtzugnetz auf die
Beine stellen kann. Dabei setzen wir auf Kooperation
statt Konkurrenz zwischen den Bahnunternehmen.
Ich bin überzeugt: Mit vernünftiger Planung und besseren Reisekonzepten könnten noch viel mehr Fahrgäste
für die Schiene gewonnen werden.
({1})
Es gibt tolle Ideen. Es gibt übrigens auch ungeheuer viel
Kompetenz bei den Beschäftigten und auch bei engagierten Bahnexperten. Das Rad müsste nicht neu erfunden werden. Zum Beispiel könnte man die komfortablen
Talgo-Doppelstockzüge aufmöbeln, die derzeit auf dem
Abstellgleis in Hamm vergammeln. Kleine pfiffige Einzelkabinen kann man mit Klappelementen umbauen und
flexibel nutzen. Man könnte auch Schlafwagen für
Nachtfahrten anhängen usw. Ideen gibt es viele.
Gestern haben die Beschäftigten, Kundinnen und
Kunden sowie Bürgerbahninitiativen hier in Berlin eine
Kundgebung veranstaltet. 7 000 Protestpostkarten sind
am BahnTower übergeben worden.
Ein Passant dort meinte: Ich frage mich, weshalb es in
Zeiten von Länderbahnen, Kaltem Krieg usw. möglich
war, Nachtzüge durch ganz Europa zu schicken, und im
vereinten Europa des 21. Jahrhunderts soll das nicht
mehr möglich sein.
In einer Onlinepetition heißt es:
Insbesondere die Streichung der Verbindung Berlin-Paris ist ein verheerendes Signal im Hinblick
auf das Zusammenwachsen Europas und die Mobilität seiner Bürger. Diese Zugverbindung ist seit
Jahren viel genutzt und die Streichung durch nichts
zu rechtfertigen! Die einzige direkte Zugverbindung zwischen beiden Hauptstädten muss als umweltfreundlichstes Verkehrsmittel erhalten bleiben!
Richtig!
({2})
Ich will am Schluss eine sehr konkrete Utopie benennen und um Ihre Unterstützung werben. Bei der Fußballeuropameisterschaft 2000 in Belgien und den Niederlanden und auch bei der WM 2006 in Deutschland sind die
Nachtzüge der Deutschen Bahn von Fußballfans aus vielen Ländern intensiv genutzt worden, weil die durch das
Reisen in der Nacht einen Tag gewinnen wollten. Nun ist
die Fußball-WM 2020 an 13 verschiedene Städte Europas in 13 verschiedenen Ländern vergeben worden,
({3})
und die Fans werden vom Achtelfinale in Bilbao zum
Viertelfinale nach Baku und von dort weiter nach London reisen usw.; Kopenhagen, Glasgow, Budapest sind
in der Liste. Wir wollen, dass nicht nur die Fluggesellschaften in jenen Sommerwochen gute Geschäfte
machen, sondern dass vor allem die europäischen Bahnunternehmen und auch die Deutsche Bahn zu den GeSabine Leidig
winnern zählen, weil grenzüberschreitende Tages- und
Nachtverbindungen angeboten werden, die viel besser
sind als heute. Wir Linke jedenfalls werden uns dafür
einsetzen, und zwar europaweit.
Danke.
({4})
Als nächste Rednerin spricht Daniela Ludwig.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn man den Antrag der Linken liest, möchte man
meinen, es bahnt sich eine sehr große Katastrophe im
Verkehrsbereich an, weil die Bahn die Nacht- und Autoreisezüge entweder streicht oder das Angebot zumindest
deutlich einschränkt.
Man muss einfach einmal zur Kenntnis nehmen, dass
sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten das Mobilitätsverhalten jedes Einzelnen sehr deutlich verändert
hat. Wir leben nun einmal in einem Zeitalter, in dem man
in Europa sehr schnell mit dem Flugzeug von A nach B
reisen kann.
({0})
Die meisten Menschen suchen sich halt den bequemsten
und schnellsten Weg aus, aber nicht den Weg, der Ihnen
vielleicht am besten gefällt. Das möchte ich diesen Leuten auch nicht untersagen.
({1})
Außerdem bestimmt auch bei der Frage, ob es weiterhin
Nacht- und Autoreisezüge gibt, die Nachfrage das Angebot.
({2})
Ich weiß aber auch, dass Ihnen solche Mechanismen
fremd sind.
({3})
Es ist aber nun einmal nicht von der Hand zu weisen,
dass die Nachtreiseverkehre in den vergangenen Jahren
30 Prozent der Nachfrage eingebüßt haben. Ähnliches
gilt auch für die Autoreisezüge. Für beide Verkehre gilt:
Sie sind saisonal stark unterschiedlich ausgeprägt. Das
heißt, in den Sommermonaten kommt es zu einer massiven Auslastung.
({4})
- Sie wollen das nicht lesen. Sie wollen das auch nicht
lernen. Das macht nichts. Ich rede trotzdem weiter.
({5})
Beide Verkehre sind im Sommer stark, im restlichen
Jahr aber fast gar nicht ausgelastet. Die Bahn muss sich
wie jeder andere in der freien Wirtschaft und im freien
Wettbewerb stehende Betrieb auch nach der Wirtschaftlichkeit und nach der Nachfrage richten.
({6})
Wenn dies aber nicht so gegeben ist, wie es sich der eine
oder andere wünscht, muss sich die Bahn überlegen, ob
sie ein Segment einstellt oder es gegebenenfalls umbaut.
Die Bahn stellt das Segment der Autoreisezüge nicht ein,
sondern baut es um. Künftig wird es das Angebot „Auto
plus Zug“ geben. Das läuft derzeit in einer Testphase.
Bis Ende des Jahres werden wir diesbezüglich deutlich
schlauer sein, ob es funktioniert und ob die Leute es
auch annehmen oder ob man nur aus einer gewissen Vergangenheitsverliebtheit an einem Segment festhält, weil
- wie Sie es so schön schreiben - es den Auto- und den
Nachtreisezug seit 162 Jahren gibt, das nicht mehr wirtschaftlich ist und das die Leute auch nicht mehr nachfragen. Ich meine, das sollte der Deutschen Bahn schon erlaubt sein.
Sie haben die Fußballeuropameisterschaft angesprochen. Das sind aber auch nur vier Wochen. Dafür sollten
Segmente aufrechterhalten werden, die nicht funktionieren?
Das erschließt sich mir schlicht und ergreifend nicht.
Deshalb muss die Bahn die Freiheit haben, die wir ihr
auch zubilligen, sodass sie auf Angebote verzichtet, die
nicht mehr nachgefragt werden. Das scheint mir in diesem Fall so zu sein.
({7})
- Ich nicht. Ich bitte Sie aber, die Testphase bis Ende des
Jahres zu nutzen. Fahren Sie fleißig „Auto plus Zug“,
damit es wenigstens das noch weiterhin gibt. Ich gehe
davon aus, dass Sie sich rege daran beteiligen.
Vielen Dank.
({8})
Als nächster Redner spricht Matthias Gastel.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Guten Abend, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wie jeden Abend so auch
heute wird Berlin in den nächsten Stunden durch sechs
Nachtzugverbindungen angefahren. Doch wie lange
noch? Wie lange noch werden die deutschen Großstädte
mit Nachtzügen miteinander verbunden? Wie lange noch
werden die europäischen Metropolen mit Nachtzügen
miteinander verbunden? Das wissen wir derzeit noch
nicht. Wir wissen aber, dass es sich lohnt, für die Nachtzüge zu kämpfen.
({0})
Eine Ausdünnung oder gar Einstellung der Nachtzugverbindungen wäre schlecht für die Fahrgäste, schlecht
für die DB, schlecht für das System Schiene und
schlecht für den Klimaschutz.
({1})
Warum lohnt es sich, im Interesse der Fahrgäste für
den Erhalt der Nachtzüge zu kämpfen? Der Nachtzug ist
praktisch und beliebt. Reisen während des Schlafens, die
Hotelübernachtung sparen, zu günstiger Morgenstunde
am Reiseziel ankommen und mehr vom Tag haben. Geschäftsleute wie Familien nutzen dieses Angebot rege.
Die meisten CNL-Verbindungen verfügen über rollstuhlgerechte Liegeabteile. Meistens ist auch die Fahrradmitnahme möglich.
Liebe Frau Kollegin Ludwig, die Beliebtheit zeigt
sich in der Auslastung. Wenn man genau hinschaut und
einmal versucht, ein Ticket zu ergattern, wird man feststellen: Der Nachtzug ist meistens schon Wochen im Voraus ausgebucht. Seit ich im Bundestag bin, also seit Oktober letzten Jahres, bin ich 15-mal mit dem Nachtzug
gefahren. Ich wäre mindestens doppelt so oft gefahren,
hätte ich noch eine Kabine gefunden, die frei ist. Wochen im Voraus sind diese Kabinen ausgebucht, weil dieser Zug eine starke Nachfrage hat. Es gibt also einen Angebotsengpass und keinen Nachfrageengpass. Das ist
doch das Entscheidende.
({2})
Warum lohnt es sich, sich im Interesse der DB und
des gesamten Systems Schiene für den Nachtzug einzusetzen? Befragungen der Deutschen Bahn, und zwar sehr
aktuelle, haben bestätigt: Die Kundenzufriedenheit mit
diesem Angebot ist hoch. Mindestens die Hälfte der
Kunden würde bei einer Streichung der Nachtzüge nicht
auf andere Züge umsteigen, sondern beispielsweise auf
das Flugzeug. Das können wir alle gemeinsam nicht
wollen. Ohne Nachtzüge würde die DB Fahrgäste verlieren. Darüber hinaus wäre das Schienennetz über den Tag
betrachtet ungleicher ausgelastet, als es derzeit der Fall
ist. Warum lohnt es sich, im Interesse des Klimaschutzes
für den Nachtzug zu kämpfen? Ganz einfach deshalb,
weil die Bahn das effizienteste Verkehrsmittel ist und damit einen wichtigen Beitrag zum Klimaschutz leistet.
({3})
Leider aber wirkt die DB in Sachen Nachtzug lustlos,
fantasielos und konzeptlos. Wir fordern von der DB eine
Bestandsgarantie der Nachtzugangebote für zwei Jahre.
Die DB soll diese Zeit nutzen, zukunftsfähige fahrgastgerechte Konzepte zu entwickeln und umzusetzen.
Wir fordern von der Bundesregierung, dass sie als Eigentümer der DB Einfluss nimmt auf das, was ich gerade
gesagt habe, dass nämlich keine weiteren Nachtzugangebote gestrichen werden und dass die Konzeption, die
dringend notwendig ist, geschaffen wird.
({4})
Die Bundesregierung muss darüber hinaus dafür sorgen,
dass endlich Wettbewerbsgerechtigkeit geschaffen wird.
Ich erinnere hier an die EEG-Umlage, die von der Großen Koalition verändert wurde. Die Belastung für das
System Schiene ist glatt verdoppelt worden. Das muss
rückgängig gemacht werden. Das belastet die Schiene so
wie kein anderes Verkehrsmittel. Es benachteiligt das
Verkehrsmittel Schiene im Gegensatz zum Flugzeug
oder zu anderen Verkehrsmitteln völlig zu Unrecht und
ist ein großer Nachteil im Wettbewerb.
({5})
Darüber hinaus ist es so, dass alle Verkehrsträger und
nicht allein die Schienenbahnen in den Emissionshandel
einbezogen werden müssen. Bahn und Flugzeug sollen
auch bei der Mehrwertsteuer im grenzüberschreitenden
Verkehr gleichbehandelt werden.
Deswegen unser Appell an die DB und die Bundesregierung: Machen Sie den Nachtzug nicht kaputt! Unterstützen und entwickeln Sie zukunftsfähige Konzepte!
Die Fahrgäste wollen das. Das Klima braucht es.
({6})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Kirsten
Lühmann das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Sehr verehrte Gäste! Haben Sie schon einmal mit
fünf Personen und zwei Hunden eine Nacht in einem
Abteil eines Autoreisezuges verbracht?
({0})
Wir haben das mehrere Jahre lang sehr erfolgreich
und sehr gerne gemacht. Wir haben nette Bekanntschaften geschlossen. Unsere Kinder haben das Ganze als
Abenteuer verstanden. Ich sage Ihnen: Auch damals war
dieses Angebot schon sehr teuer. Wir haben das kompensiert, indem wir am Urlaubsort gespart haben, indem wir
auf einem Campingplatz untergekommen sind. Das haben viele Menschen so gemacht. Aber wir müssen zur
Kenntnis nehmen, dass ein Umdenken stattgefunden hat,
auch bei der Mobilität. Die Menschen wollen bei der
Reise sparen, um mehr Geld für den Komfort am Urlaubsort zu haben. Die Bahn konnte lange Zeit die sinkenden Reisendenzahlen kompensieren, weil sie das rollende Material zur Verfügung hat. Aber jetzt sind sie
aufgrund gesetzlicher Normen gezwungen, aus Sicherheitsgründen neue Autotransportwagen zu kaufen. Beides zusammen - sinkende Nutzendenzahlen und nötiger
Invest; das kann man nicht wegdiskutieren - ist wirtschaftlich einfach nicht zu bewältigen. Das wissen wir
auch: Kostendeckende Preise will und kann kaum einer
zahlen. Sosehr ich die Menschen, die hier in Berlin für
den Erhalt der Autoreisezüge demonstriert haben, auch
aufgrund meiner Erfahrungen persönlich verstehe, kann
ich die Entscheidung der Deutschen Bahn nachvollziehen.
Glücklicherweise sieht das bei den Nachtzügen anders aus. Das Ziel der Bahn war einmal, alle Fahrten ab
sechs Stunden Fahrtzeit in die Nacht zu verlegen. Daher
gab es 2002 auch 20 Nachtzugverbindungen europaweit - also genauso, wie es im Antrag gefordert wird.
Aber schon 2011 führte die Konkurrenz von Hochgeschwindigkeitszügen und Billigfliegern zu deutlichen
Verlusten in dieser Sparte. Aus der Zeitung konnte ich
entnehmen, dass zurzeit jährlich 48 Millionen Euro Einnahmen 60 Millionen Euro Kosten gegenüberstehen.
Diese Verluste, liebe Kollegen und Kolleginnen, haben
sich in den letzten drei Jahren verdoppelt; die Fahrgastzahlen gingen um etwa ein Drittel zurück.
Jetzt will die Bahn drei besonders defizitäre Routen
aufgeben. Dazu gehört leider auch die traditionelle
Route Berlin-Paris. Ich selber habe diese Route oft genutzt, als sie noch über Brüssel führte. Aber schon damals konnte ich immer ohne Buchung einen Platz finden, und wenn ich einen Platz in einem Zweier- oder
Dreierabteil reserviert hatte, lag ich dort immer allein.
Hinzu kam, dass die Kosten in den letzten Jahren deutlich gestiegen sind, unter anderem durch extreme Trassenpreiserhöhungen in Belgien und Frankreich. Die
Bahn hat jetzt zugesagt, die verbleibenden Verbindungen
in den nächsten zwei Jahren auf neue Füße zu stellen,
und zwar auch ohne ein Moratorium, wie es im Antrag
gefordert wird.
Der vorliegende Antrag suggeriert jedoch auch, dass
das Grundgesetz von uns fordert, diese Zugarten aufgrund von Allgemeinwohl- und Verkehrsbedürfnissen zu
erhalten. Wie bei vielen einfachen Lösungen lohnt es
sich auch hier, einmal genauer hinzuschauen. Ich möchte
jetzt keine philosophische Debatte über die Definition des Allgemeinwohls beginnen; kluge Köpfe von
Aristoteles bis Habermas haben das zur Genüge getan.
Vielleicht können wir uns darauf verständigen, dass diverse Rechtsexperten festlegen: Das Allgemeinwohl ist
ein unbestimmter Rechtsbegriff. Also ist es nicht so eindeutig, wie uns dieser Antrag glauben machen will.
Eindeutiger ist jedoch der Begriff des Verkehrsbedürfnisses. Zwar ist auch er nicht direkt definiert, aber es
gibt diverse Gerichtsurteile, in denen festgestellt wird,
dass zu einem Verkehrsbedürfnis auch die Möglichkeit
gehört, dieses wirtschaftlich zu befriedigen. Zur Wirtschaftlichkeit haben wir heute Abend schon einiges gehört. Also kommen wir mit dem Grundgesetz hier nicht
weiter.
Aber die Frage, die wir uns heute Abend stellen, geht
über das Grundgesetz hinaus. Diese Frage lautet: Wollen
und können wir Autoreisezüge und Nachtzugverbindungen, und zwar auch die defizitären, mit Steuermitteln
subventionieren? Ich will hier gar nicht beleuchten, ob
die EU das beihilferechtlich befürworten würde oder
nicht. Mir geht es um etwas ganz anderes; mir geht es
um unser Ziel. Unser Ziel muss sein, den Bahnverkehr
insgesamt auf sichere Füße zu stellen.
({1})
Dazu benötigen wir erstens ein leistungsfähiges
Schienennetz. Dieses wollen wir mit der neuen Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung zuverlässiger machen. Dazu werden wir noch mehr Steuergelder investieren. Wir brauchen zweitens - das wurde heute Abend
auch schon gesagt - in diesem guten Netz Wettbewerbsmöglichkeiten, um Güter- und Personenfernverkehre
leistungsfähiger und effizienter zu machen. Drittens
müssen wir den Nahverkehr an die erhöhten Pendlerströme insbesondere in den Ballungsräumen anpassen,
ohne dabei die Erschließung der ländlichen Räume mit
den geringer werdenden Bevölkerungen aus den Augen
zu verlieren. Auch hierfür werden wir mehr Steuergelder
benötigen. Die Verhandlungen mit den Ländern dazu
laufen gerade.
Diesen Weg, liebe Kollegen und Kolleginnen, müssen
wir weitergehen. Das ist es, was die Millionen Pendler
und Pendlerinnen von uns erwarten. Darüber hinaus auf
die Deutsche Bahn einzuwirken und sie bei ihren Bemühungen, ein zukunftsfähiges Konzept für die Nachtzugverbindungen zu erstellen, zu begleiten und sie gegebenenfalls an ihr Versprechen zu erinnern, dass sie alles tun
will, um diese sinnvollen europäischen Verbindungen zu
erhalten und sie nicht einzustellen, sind wir den Menschen schuldig, die bewusst den Nachtzug dem Billigflieger vorziehen. Dieser Verpflichtung werden wir nachkommen, auch ohne Ihren Antrag.
Herzlichen Dank.
({2})
Abschließender Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Michael Donth, CDU/CSU.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
„Orientexpress“, „Calais-Mediterranée-Express“, „Die
Brück’ am Tay“, beim Lesen Ihres Antrags könnte sich
beinahe eine abenteuerromantische Stimmung in diesem
Haus entfalten. Man könnte anfangen, zu träumen von geheimnisvollen Gestalten im Schummerlicht des Orientexpresses, der mit gleichmäßigem Rattern der Schiene
durch ferne Steppen zieht. Man könnte versuchen, die
Träume festzuhalten und sie zu diesem Zweck in Gesetze zu gießen. Dafür sind wir aber nicht hier.
({0})
Wir sind hier, um nach bestem Wissen und Gewissen
die Entscheidungen zu treffen, die dem Wohl dieses Landes dienen. Unter diesen Voraussetzungen müssen wir
die Realität, die tatsächlichen Gegebenheiten zur Kenntnis nehmen. Wir können nicht auf Basis unserer Wünsche oder Träume handeln. Vor diesem Hintergrund sollten wir eigentlich auch Anträge stellen.
({1})
Tatsache ist, dass das Geschäft im Bereich der Autoreisezüge und der Nachtzüge bereits seit Jahren defizitär
ist.
({2})
In den vergangenen zehn Jahren - das haben wir auch
schon gehört - sind die Fahrgastzahlen bei gleichbleibendem Angebot zurückgegangen. Da die Nachfrage
nach Autoreise- und Nachtzügen bei einem Preis, der zu
verlangen wäre, um kostendeckend zu arbeiten, zurückgeht - und sie dürfte noch weiter zurückgehen -, ist doch
klar, dass es weniger Bedarf an solchen Zügen gibt.
Artikel 87 e des Grundgesetzes, der auch schon angesprochen wurde, verpflichtet den Bund insbesondere,
den Verkehrsbedürfnissen Rechnung zu tragen. Das ist
durch das angepasste Verkehrsangebot der Bahn gewährleistet. Es gibt keinen Grund, in die Streckenentscheidung der DB AG einzugreifen. Überdies ist es dem Bund
als Eigentümer nach dem Aktiengesetz grundsätzlich
auch nicht erlaubt, in unternehmerische Entscheidungen
unmittelbar und im Detail Einfluss zu nehmen.
({3})
Mit dem Reduzieren der Nachtzugstrecken eine Spaltung Europas heraufzubeschwören, wie Sie es in Ihrem
Antrag tun, ist sogar noch abenteuerlicher als die Fahrt
im Orientexpress. Das Gegenteil ist doch der Fall: Die
sinkende Nachfrage nach Nachtzügen ist doch gerade
eine Folge des Zusammenwachsens Europas.
Die Mobilität der Europäer nimmt zu. Günstige Flugangebote und neue Hochgeschwindigkeitsstrecken,
Fernbusse und Mitfahrzentralen machen es möglich, in
Europa innerhalb weniger Stunden und preisgünstig von
A nach B zu kommen. Die Anzahl der Hotels hat zugenommen. Das Buchen über das Internet ist leichter geworden. Es ist verständlich, dass die Mehrzahl der Reisenden lieber auf die heute bestehenden Möglichkeiten
zurückgreift als auf lange Nachtzugreisen.
({4})
Die ehemalige Nachtzugstrecke Frankfurt-Paris beispielsweise kann heute mit dem ICE in nur dreidreiviertel Stunden bewältigt werden.
Die gegenwärtige Entwicklung entspricht dem
Grundgedanken und dem Ziel der europäischen Einigung, da durch sie der Binnenmarkt im Verkehrssektor
belebt wird. Auf dem Markt bestimmt die Nachfrage das
Angebot. Ein Rückgang bei der Nachfrage führt zu einem Rückgang beim Angebot. Das nennt man übrigens
Marktwirtschaft; ohne jemanden belehren zu wollen.
({5})
Es kann nicht unser Ziel sein, für ein paar Nostalgiker
- wir sprechen lediglich über 0,5 Promille der Bahnreisenden - ein defizitäres Angebot mit zweistelligen Millionensummen auf Kosten der anderen Reisenden zu subventionieren.
({6})
Indem man Verbindungen durch Zuschüsse am Leben
erhält, kann man vielleicht ihren Tod verhindern; man
kann auf diese Weise aber keine Genesung von Eisenbahnunternehmen einleiten.
({7})
Um gesund zu sein, muss ein Unternehmen seine
Kräfte sammeln und nicht zerstreuen. Daher ist es richtig, dass die Deutsche Bahn AG als Wirtschaftsunternehmen ihre Angebote regelmäßig überprüft, die Marktentwicklung beobachtet und dann mit neuen Produkten
reagiert, die die unrentablen Produkte ablösen.
({8})
Schließlich kann auch nur ein gesundes Unternehmen
langfristig Arbeitsplätze und Angebote sichern.
Die meisten europäischen Nachbarbahnen haben im
Übrigen Gleiches getan. Ich räume ein: nicht alle. Sie
führen im Antrag ausdrücklich die russischen Staatsbahnen als Gegenbeispiel an. Deren Marktwirtschaftlichkeit
und Konkurrenzsituation kann ich leider nicht beurteilen.
Die Behauptung im Antrag, dass die hochqualifizierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der DB ERS
mit einer Betriebsschließung arbeitslos werden, ist
falsch. Sie sind alle in die DB-Beschäftigungssicherung
integriert und bekommen eine Weiterbeschäftigung innerhalb des Konzerns angeboten, wenngleich - das
räume ich ein - unter Umständen nicht in derselben
Stadt und in einem anderen Betriebsteil. Dies ist eine
Versorgung, von der Angestellte in vielen anderen Wirtschaftsunternehmen manchmal nur träumen können.
Meine Damen und Herren von den Linken, es gibt
manche, die der Meinung sind, ihre Fraktion sei eine
Schlafwagengesellschaft.
({9})
Mit diesem Antrag haben Sie das bewiesen.
Vielen Dank.
({10})
Damit schließe ich die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/2494 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Da ich keinen Widerspruch höre, gehe ich davon aus, dass Sie alle damit
einverstanden sind. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Vizepräsident Johannes Singhammer
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz ({0}) zu dem
Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung ({1}) Nr. 861/2007 des
Europäischen Parlaments und des Rates vom
11. Juli 2007 zur Einführung eines europäischen Verfahrens für geringfügige Forderungen und der Verordnung ({2}) Nr. 1896/2006
des Europäischen Parlaments und des Rates
vom 12. Dezember 2006 zur Einführung eines
Europäischen Mahnverfahrens
KOM({3}) 794 endg.; Ratsdok. 16749/13
Drucksachen 18/419 Nr. A.48, 18/2647
Wie mir mitgeteilt worden ist, sollen die Reden zu
Protokoll gegeben werden. - Ich sehe, dass Sie damit
einverstanden sind.
Wir beraten heute über den Änderungsvorschlag
der Europäischen Kommission zur Verordnung über
das europäische Verfahren für geringfügige Forderungen in Zivil- und Handelssachen, die sogenannte
Small-Claims-Verordnung.
Diese Verordnung gibt es bereits seit 2009, und mit
ihrer Hilfe sollen grenzüberschreitende Forderungen
bis zu 2 000 Euro für Verbraucherinnen und Verbraucher sowie für kleine und mittlere Unternehmen besser
durchgesetzt werden können. Dabei kann zum Beispiel
lediglich mittels eines Formblattes Klage erhoben
werden, eine mündliche Verhandlung oder die Vertretung durch einen Rechtsanwalt ist nicht vorgesehen,
und es gelten sehr kurze Fristen.
Im Grundsatz ist der Ansatz aus Brüssel, das Verfahren bei Rechtsstreitigkeiten mit einem geringen
Streitwert zu vereinfachen, zu begrüßen, weil hierdurch die Möglichkeit zur Durchsetzung von Rechten
und Forderungen für die Betroffenen gestärkt wird.
Gerade innerhalb der heute geltenden Freizügigkeit
auf dem europäischen Binnenmarkt müssen wir ein besonderes Interesse daran haben, dass unsere exportorientierten Unternehmen einen effektiveren Rechtsschutz erhalten. Die Vorschläge der Europäischen
Kommission gehen jedoch weit über das hinaus, was
aus unserer Sicht die Effektivität und Vereinfachung
des Verfahrens ausmacht.
Zunächst einmal ist festzustellen, dass das SmallClaims-Verfahren auch mehrere Jahre nach Anwendungsbeginn nur äußerst spärlich genutzt wird. Um
dies zu ändern, soll nun der Anwendungsbereich der
Verordnung massiv ausgeweitet werden. Bei der Begründung des Änderungsvorschlags geht die Kommission davon aus, dass die Ursache im fehlenden Bekanntheitsgrad sowie in Mängeln der Ausgestaltung
der Verordnung liege.
Bevor ich auf einzelne Vorschläge der Kommission
eingehe, lassen Sie mich zunächst anmerken, dass in
der gesamten Europäischen Union hier offensichtlich
ein Informationsdefizit besteht. Es muss daher in erster Linie dafür Sorge getragen werden, dass das Verfahren insbesondere bei den handelnden Personen wie
Rechtsanwälten und Richtern bekannter gemacht wird.
Und zwar europaweit! Erst dann kann eine sorgfältige
und zuverlässige Evaluierung des Verfahrens erfolgen.
Der gesetzgeberische Handlungsbedarf kann erst
dann abgesteckt werden, wenn wir genau wissen, wo
die Probleme liegen.
Die Kommission möchte nun unter anderem die
Streitwertgrenze von 2 000 Euro auf 10 000 Euro anheben und die Begriffsbestimmung für grenzüberschreitende Rechtssachen deutlich erweitern. Dieser
Vorschlag stößt jedoch auf erhebliche Bedenken. Er
lässt nicht nur die Schutzbedürftigkeit der Prozessparteien außer Acht, sondern eröffnet zusätzlich eine
Bandbreite an Missbrauchsmöglichkeiten. Die auf das
Fünffache angehobene Streitwertgrenze ist für Bürger
sowie die meisten Unternehmen keine Bagatelle mehr
- die Geringfügigkeitsgrenze in der ZPO liegt bekanntermaßen bei 600 Euro -, und die dahinter stehenden
Rechtsstreitigkeiten sind in der Regel auch keine einfachen Verfahren. Knapp zwei Drittel aller Verfahren vor
deutschen Amtsgerichten haben einen Streitwert unter
2 000 Euro und fallen damit schon jetzt unter diese
Verordnung. Bei der geplanten Erhöhung könnten fast
alle deutschen Zivilprozesse im Anwendungsbereich
der Verordnung liegen. Dieser Ansatz geht aus deutscher Sicht zu weit und ist daher abzulehnen.
Ebenso fragwürdig ist, dass der Änderungsvorschlag auch keine Vertretung durch einen Rechtsanwalt
vorsieht. Durch die Erhöhung der Streitwertgrenze
würden auch die Verfahren, die in die Zuständigkeit
der Landgerichte fallen und damit dem Anwaltszwang
unterliegen, davon betroffen sein. Das Anwaltserfordernis halten wir jedoch für ausgesprochen wichtig.
Gerade in Prozessen mit höheren Streitwerten ist vor
dem Hintergrund einer effizienten Prozessführung und
Gerichtsorganisation die Beteiligung von Rechtsanwälten mehr als zielführend. Durch den Wegfall des
Anwaltserfordernisses wird weder die Attraktivität
dieses Verfahrens erhöht, noch ist den Verbraucherinnen und Verbrauchern in Deutschland mit solch einer
Einführung einer europäischen ZPO durch die Hintertür geholfen.
Des Weiteren hat Brüssel den Begriff „grenzüberschreitende Rechtssachen“ noch weiter gefasst als bisher. Auch hier melden wir starke Bedenken an. Bislang
lag eine „grenzüberschreitende Rechtssache“ im
Sinne der Verordnung nur vor, wenn eine der Parteien
seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat als dem des angerufenen
Gerichts hatte. Nach dem Vorschlag der Kommission
wäre die Verordnung zukünftig auch auf rein innerstaatliche Sachverhalte anwendbar, wenn sich zum
Beispiel lediglich der Ort einer eventuellen Vollstre5026
ckung in einem anderen Mitgliedstaat befindet. Damit
würden rein nationale Fälle in den Regelungsbereich
der Verordnung fallen. Die EU hat hierfür keine Regelungskompetenz.
Durch die Vielzahl der zu berücksichtigenden Parameter bei der Frage, ob die Verordnung anzuwenden
ist, wird das Gericht in vielen Fällen erst einmal damit
beschäftigt sein, erhebliche Aufklärungsarbeit zu betreiben. Dies widerspricht dem Sinn dieser Verordnung, die eine Vereinfachung des Gerichtsverfahrens
anstrebt. Missbrauch und Umgehung wären hier zudem Tür und Tor geöffnet. Das geht eindeutig zu weit
und kann von uns so nicht akzeptiert werden.
Das Gleiche gilt für den Kostenansatz. Mit dem Vorschlag der Kommission, die Gerichtsgebühren auf maximal 10 Prozent des Streitwerts zu deckeln und die
Mindestgebühr auf 35 Euro zu beschränken, wäre das
Verfahren in vielen Fällen deutlich günstiger als nationale Verfahren, obwohl es durch die grenzüberschreitenden Besonderheiten mehr Kosten verursachen
dürfte. Hier ist eine Berücksichtigung aller den
Rechtsstreit betreffenden Kosten angebracht. Die alleinige Beschränkung der Kostenfrage auf die Gerichtsgebühren lehnen wir daher ab.
Ein letzter kritischer Punkt ist die Konkretisierung
der Beratungs- und Informationspflichten durch das
Gericht. Hier ist zwingend darauf zu achten, dass die
Neuregelungen mit den Grundsätzen des deutschen
Rechtsdienstleistungsgesetzes und der Neutralitätspflicht vereinbar sind. Gerade bei der Frage nach der
Zuständigkeit des Gerichtes und bei der praktischen
Hilfestellung beim Ausfüllen der notwendigen Formblätter dürfen die Neuregelungen nicht dazu führen,
dass die Klage durch derartige Beratungen und Ausfüllhilfen erst schlüssig gemacht wird.
Aufgrund dieser zahlreichen Probleme freue ich
mich, dass wir eine fraktionsübergreifende Beschlussempfehlung erreicht haben. Dies zeigt, dass unsere
Positionen einen breiten Konsens im Parlament genießen.
In den letzten zehn Jahren hat sich die Zahl der
Menschen, die online einkaufen, mehr als verdoppelt.
Heute kaufen bereits 45 Prozent der europäischen Verbraucher über das Internet ein. Auch grenzüberschreitende Einkäufe erfreuen sich immer größerer Beliebtheit. Allerdings besteht hier noch großes Potenzial sowohl für Verbraucher als auch für die Wirtschaft.
Denn durch die Wirtschaftskrise ist der grenzüberschreitende Handel in den Jahren 2008 und 2009 deutlich zurückgegangen, erholt sich aber bereits wieder.
Ein erleichterter Zugang zu grenzüberschreitenden
und Onlineangeboten kann diesen Trend verstärken.
Denn dann haben Verbraucherinnen und Verbraucher
mehr Auswahlmöglichkeiten, um das beste Angebot zu
finden. Aber auch Unternehmen, insbesondere dem
Mittelstand, eröffnet der grenzüberschreitende digitale
Binnenmarkt neue Möglichkeiten.
Die Europäische Union fördert den Ausbau des digitalen Binnenmarktes seit Jahren, beispielsweise
durch die Verbraucherrechterichtlinie. Diese habe ich
als Abgeordnete des Europäischen Parlaments aktiv
mitgestaltet. Durch die Richtlinie haben wir die Rechte
der europäischen Verbraucherinnen und Verbraucher
im grenzüberschreitenden Handel - besonders auch im
Onlinehandel - gestärkt und europaweit einen einheitlichen Rahmen entwickelt.
Genauso wichtig wie die Stärkung der Verbrauchersicherheit und -information ist eine Stärkung des
Rechtsschutzes für die Verbraucher - und natürlich
auch für die Wirtschaft. Wo Menschen über Grenzen
hinweg miteinander zu tun haben, muss es Regelungen
geben, die den grenzüberschreitenden Besonderheiten
Rechnung tragen. Das unterstützt die Menschen darin,
von den Möglichkeiten, die Europa ihnen eröffnet,
auch tatsächlich Gebrauch zu machen.
Aus diesem Grund hat die EU das Europäische Verfahren für geringfügige Forderungen, die sogenannte
Small-Claims-Verordnung, und das Europäische
Mahnverfahren eingeführt. Die Small-Claims-Verordnung soll seit 2009 helfen, grenzüberschreitende geringfügige Forderungen leichter geltend zu machen.
Das hat einige Vorteile: Man kann die Forderungen
schriftlich und im Heimatland stellen, man hat keine
Anwaltskosten, und man muss nicht vor Gericht gehen.
Obwohl das Verfahren sehr einfach, zeit- und kostensparend ist, ist es nur wenigen Verbrauchern bekannt.
Lediglich 12 Prozent der EU-Bürger haben überhaupt
schon einmal etwas vom Europäischen Bagatellverfahren gehört. Nur 1 Prozent hat das Verfahren genutzt. Auch Kollegen aus der Anwaltschaft bestätigen
das: Nur sehr wenige sind mit dem Verfahren schon
einmal in Berührung gekommen.
Um dies zu ändern, will die EU-Kommission nun
den Anwendungsbereich durch den vorliegenden
Änderungsvorschlag deutlich ausweiten. Es ist im
Grundsatz zu begrüßen, dass die Kommission Rechtsstreitigkeiten mit geringem Streitwert in grenzüberschreitenden Fällen weiter vereinfachen möchte. So
können die Attraktivität des Verfahrens erhöht und damit die Rechte von Verbraucherinnen und Verbrauchern gestärkt werden. Zudem kann sich das auch positiv auf unsere Exportwirtschaft auswirken.
Allerdings ist zweifelhaft, ob die Änderungsvorschläge der Kommission in dem Maße angemessen und
erforderlich sind. Dies gilt insbesondere für die Erhöhung des Schwellenwertes von 2 000 auf 10 000 Euro
und die Ausweitung der Definition für „grenzüberschreitende Rechtssachen“. Bei Streitwerten über
2 000 Euro handelt es sich nach deutschem Verständnis schon nicht mehr um geringfügige Forderungen.
Zum Vergleich: Die in der deutschen Zivilprozessordnung festgelegte Bagatellgrenze liegt bei 600 Euro.
Eine Erhöhung der Streitwertgrenze würde damit die
Zu Protokoll gegebene Reden
Mehrheit der Zivilprozesse in Deutschland treffen.
Während das nationale Recht bei Verfahren von in der
Regel über 5 000 Euro einen Anwaltszwang vorsieht,
besteht gemäß der Small-Claims-Verordnung keine
Pflicht zur anwaltlichen Vertretung. Eine Umsetzung
würde daher zu einer Senkung der Verfahrensstandards
führen. Die geplante Streitwertgrenze von 10 000 Euro
ist daher deutlich zu weitgehend und abzulehnen.
Auch die Ausweitung der Definition für „grenzüberschreitende Rechtssachen“ geht zu weit. Die massive
Erweiterung - nach der ein grenzüberschreitender Bezug ausreichen würde - hätte eine Verlagerung von
rein nationalen Fällen in den Anwendungsbereich der
Verordnung zur Folge. Für Deutschland würde das bedeuten, dass sich die Zahl der Verfahren im Jahr 2012
von 500 auf circa 60 000 Fälle erhöhen würde. Eine
Anhebung der Bagatellgrenze - in Verbindung mit der
geplanten Ausweitung der Definition für „grenzüberschreitende Rechtssachen“ - birgt die Gefahr, die
Intensität des deutschen Rechtsschutzes zu senken. Daher ist es fraglich, ob der Vorschlag der EU-Kommission die Attraktivität des Verfahrens steigert und damit
den deutschen Verbraucherinnen und Verbrauchern
hilft.
Es freut mich daher, dass wir eine fraktionsübergreifende Beschlussempfehlung erreicht haben, in der
wir die Probleme hervorheben. Selbst für die Kommission ist der Bekanntheitsgrad die Ursache für die geringe Bedeutung in der Praxis. Es sollte doch zunächst
an dieser Stelle angesetzt werden, anstatt den Anwendungsbereich der Verordnung so deutlich auszuweiten.
Allein die Steigerung der Bekanntheit würde sicherlich
die Attraktivität des Verfahrens steigern. Hier könnte
ich mir gezielte Information und Aufklärung der Verbraucherinnen und Verbraucher, Unternehmen, aber
auch der Rechtsanwender vorstellen.
Seit dem 1. Januar 2009 können innerhalb der EU
grenzüberschreitende Streitigkeiten bei einem Streitwert von bis zu 2 000 Euro durch ein spezielles Gerichtsverfahren geltend gemacht werden, das in allen
Mitgliedstaaten bis auf Dänemark gilt. Dieses Verfahren für geringfügige Forderungen - oder im Englischen Small Claims Procedure genannt - erleichtert
den Unionsbürgerinnen und -bürgern bei grenzüberschreitenden Sachverhalten den Zugang zur Justiz.
Rechtsstreitigkeiten in Zivil- und Handelssachen
können kostengünstiger und vor allem schneller beigelegt werden. Die Prozessparteien können mittels dieses
Verfahrens innerhalb von nur wenigen Monaten zu einem Titel gelangen. Denn bei dem Small-Claims-Verfahren handelt sich im Wesentlichen um ein schriftliches Verfahren mit kurzen Fristen, bei dem außerdem
Standardformulare verwendet werden. Die Prozessparteien und Zeugen können sich lange Wege in andere
Mitgliedstaaten und Anreisekosten ersparen, wenn
keine mündliche Verhandlung durchgeführt wird. Das
ist bei geringfügigen Forderungen durchaus effizient
und sinnvoll.
Die deutschen Bürgerinnen und Bürger können in
Fällen mit grenzüberschreitendem Bezug wählen, ob
sie vor einem deutschen Gericht klagen wollen oder ob
sie in diesen Fällen das Small-Claims-Verfahren nutzen. Bisher ist das Verfahren in Deutschland und in
den anderen Mitgliedstaaten wenig bekannt, wird
kaum genutzt.
Das hat die Kommission zu dem Vorschlag veranlasst, den Anwendungsbereich für das Small-ClaimsVerfahren zu erweitern, um es zu etablieren und den
Bekanntheitsgrad zu steigern. Das wird von mir
grundsätzlich begrüßt.
Trotzdem gibt es einige Punkte, an denen der Verordnungsvorschlag meiner Ansicht nach noch verbessert werden kann. Deshalb haben wir eine Stellungnahme erarbeitet, die heute hier zur Abstimmung steht.
Ausdrücklich bedanke ich mich bei den beteiligten
Kolleginnen und Kollegen für die gute und konstruktive Zusammenarbeit.
Ich erläutere nun im Folgenden kurz einige wesentliche Kritikpunkte an dem Verordnungsvorschlag:
Erstens. Die Erhöhung der Streitwertgrenze auf
10 000 Euro, die der Verordnungsvorschlag vorsieht,
ist abzulehnen. Bei Streitwerten von mehr als
2 000 Euro kann nach meiner Ansicht nicht mehr von
geringfügigen Forderungen gesprochen werden. Die
Erhöhung ist allein schon deswegen zu weitgehend,
weil der Vorschlag auf das nach unserem Recht geltende und sinnvolle Anwaltserfordernis verzichtet.
Denn in Deutschland finden Zivilprozesse bei einem
Streitwert ab 5 000 Euro vor dem Landgericht statt.
Laut § 78 Absatz 1 ZPO müssen sich die Parteien dann
von einem Rechtsanwalt vertreten lassen. Es hat sich
in der Vergangenheit gezeigt, dass sowohl die Parteien
als auch die Gerichte vom Sachverstand der Rechtsanwälte profitieren und das Risiko zum Beispiel der
Fristversäumung etc. geringer ist. Eine Erhöhung der
Streitwertgrenze auf 10 000 Euro würde dieser Systematik zuwiderlaufen.
Aber auch im Bereich zwischen 2 000 und
5 000 Euro wäre eine Vielzahl der Zivilprozesse vor
den Amtsgerichten in Deutschland von der Absenkung
der Verfahrensstandards betroffen. In unserer erweiterten Stellungnahme haben wir uns deshalb klar dafür
ausgesprochen, dass das Small-Claims-Verfahren nur
bis zu einer Streitwertgrenze von 2 000 Euro Anwendung finden soll.
Zweitens. Erheblichen Bedenken unterliegt unserer
Ansicht nach auch die geplante Erweiterung der Definition für „grenzüberschreitende Rechtssachen“.
Sachverhalte, bei denen beide Parteien aus einem Mitgliedstaat stammen und bei denen ein grenzüberschreitender Bezug dem Charakter des Vertragsverhältnisses nicht entspricht, dürfen nicht dem
Anwendungsbereich des Small-Claims-Verfahrens unZu Protokoll gegebene Reden
terfallen, um mitgliedstaatliche Verfahrensstandards
zu erhalten.
Drittens. Auch die im Verordnungsvorschlag vorgesehene Deckelung der Gerichtsgebühren auf maximal
10 Prozent des Streitwertes und die Beschränkung der
Mindestgebühr auf 35 Euro widersprechen dem deutschen Gerichtskostensystem und wären mit erheblichen Kosten für die Bundesländer verbunden.
Viertens. Neben der eben von mir dargestellten berechtigten Kritik begrüßen wir aber ausdrücklich den
Ansatz, elektronische Fernkommunikation in Zivilprozessen verstärkt zu nutzen. Die Übertragung von Video- und Telekommunikationskonferenzen im Gerichtsverfahren ist auch ein gutes Beispiel dafür, dass
den Parteien die unter Umständen kosten- und zeitintensive Anreise erspart werden kann. Auf der anderen
Seite sieht der Verordnungsvorschlag weiterhin die
Möglichkeit vor, dass eine mündliche Verhandlung
durchgeführt wird, wenn das Gericht sie für sachdienlich erachtet oder die Parteien dies beantragen. Das
trägt dem Grundsatz der Mündlichkeit im Zivilprozess
Rechnung und ist ausdrücklich positiv zu werten.
Lassen Sie mich zum Schluss noch einmal ausdrücklich sagen, dass die Harmonisierung der Zivilverfahren innerhalb der Europäischen Union ein erstrebenswertes Anliegen ist.
Es ist aber wichtig, dass die zuvor genannten berechtigten Kritikpunkte Gehör finden, ich bitte Sie daher heute um Zustimmung zu unserer Stellungnahme.
Viele kleine und mittlere Unternehmen in der EU
kennen das folgende Problem: Man erfüllt einen Auftrag für ein größeres Unternehmen aus einem anderen
EU-Staat, und dieses lässt sich danach ewig Zeit, die
Rechnung zu bezahlen. Das Schlimme ist: Das kleine
Handwerksunternehmen oder der kleine Zulieferbetrieb kann dadurch schnell in eine finanzielle Schieflage geraten. Möglichkeiten zur Zwischenfinanzierung
gibt es für diese nämlich kaum, und auch Aufträge in
der Größenordnung von nur ein paar Tausend Euro
können hier von existenzieller Bedeutung sein. Im
schlimmsten Fall kann sogar die Pleite drohen.
Ein anderes Beispiel: Verbraucherinnen und Verbraucher bestellen sich immer mehr Waren online aus
allen Ecken der EU und bekommen diese per Post. Die
bezahlte Ware wird dann aus irgendeinem Grund retourniert, und der gezahlte Kaufpreis muss von der
Verkäuferseite zurückerstattet werden. In manchen
Fällen passiert das aber leider nicht, und die Verbraucherinnen und Verbraucher gucken in die Röhre.
Sowohl das kleine Handwerksunternehmen als auch
die Verbraucherinnen und Verbraucher aus diesen
Beispielen könnten nun versuchen, ihren Anspruch
gerichtlich durchzusetzen. Aber das ist zumeist aufwendig und langwierig, gerade wenn es um grenzüberschreitende Streitigkeiten geht. Insbesondere Verbraucherinnen und Verbraucher werden es sich zweioder dreimal überlegen, ob sie diese Strapazen wirklich wegen ein paar Hundert Euro auf sich nehmen
wollen.
Die vorgeschlagene Verordnung könnte für genau
solche Fälle zumindest ein Stück weit Abhilfe schaffen.
Gläubigerinnen und Gläubiger sollen im Europäischen Mahnverfahren künftig einfacher an ihr Geld
gelangen. Zu diesem Zweck soll das Verfahren bei Forderungen bis 10 000 Euro, statt wie bisher bis 2 000 Euro
anwendbar sein. Das kommt insbesondere kleinen und
mittleren Unternehmen entgegen.
Darüber hinaus sollen Telefon- und Videokonferenzen das persönliche Erscheinen bei mündlichen Verhandlungen überflüssig machen, was wiederum Reisekosten spart.
Zudem soll das Europäische Mahnverfahren künftig
bei deutlich mehr Streitigkeiten anwendbar sein, auch
zwischen inländischen Streitparteien, solange ein bestimmter Auslandsbezug besteht, zum Beispiel bei der
Vermietung eines Ferienhauses im Ausland.
Soweit die vorgeschlagene Verordnung hierdurch
dem kleinen Handwerksunternehmen oder den geprellten Verbraucherinnen und Verbrauchern hilft, an ihr
Geld zu kommen, begrüße ich das ausdrücklich.
Allerdings gibt es auch hier zwei Seiten der Medaille. Was für die Gläubigerinnen und Gläubiger gut
ist, ist für die Schuldnerinnen und Schuldner naturgemäß eher schlecht. Das Mahnverfahren nach dem
deutschen Zivilrecht ist mehrstufig ausgestaltet und
bietet der Schuldnerseite daher mehr Reaktionsmöglichkeiten und somit mehr Schutz. Insbesondere wenn
auf Schuldnerseite Verbraucherinnen und Verbraucher
stehen, kann die im Europäischen Mahnverfahren
quasi automatisch folgende Vollstreckbarkeit der Forderung unangemessen sein. Hier müsste noch nachgebessert werden.
Und bei dieser Gelegenheit noch einmal etwas ganz
Grundsätzliches, meine Damen und Herren von der
Bundesregierung: Das hehre Ziel, die Mühlen der Justiz schneller und reibungsloser laufen zu lassen, erreicht man nicht nur durch Verfahrensvereinfachungen, die zudem irgendwann an die Grenzen der
Rechtsstaatlichkeit stoßen können. Der grundgesetzlich garantierte Zugang der Bürgerinnen und Bürger
zu den Gerichten darf nämlich keinesfalls missachtet
werden. Viel wichtiger ist daher eine endlich ausreichende finanzielle und personelle Ausstattung der Gerichte und Justizbehörden. Und hier, sehr geehrter
Herr Maas, liegt leider noch ein ganzes Stück Arbeit
vor Ihnen und den Landesregierungen.
Die EU-Kommission will dem Small-Claims-Verfahren zu mehr Ruhm verhelfen und dafür den Anwendungsbereich neu festlegen. Das Ansinnen, geringfügige Forderungen aus grenzüberschreitenden Streitigkeiten
Zu Protokoll gegebene Reden
leichter verfolgen zu können, ist ja grundsätzlich nicht
schlecht. Es sollte kein Problem sein, vor ein Gericht
in einem anderen EU-Mitgliedstaat zu ziehen, um
seine Forderung geltend zu machen. Verbindliche
Standards, gemeinsame Verfahrensregelungen und
kostenreduzierende Videokonferenzen können hier
sinnvolle Maßnahmen sein, um Hemmschwellen zu
senken.
Vor diesem Hintergrund enthält die Verordnung Verfahrenserleichterungen für Streitigkeiten mit einem
Streitwert von bis zu 2 000 Euro. Allerdings hat sich
herausgestellt, dass die Verordnung in der Praxis
kaum angewendet wurde.
Die schlichte Ausweitung des Anwendungsbereichs
der Verordnung ins Uferlose, wie sie die Kommission
jetzt vorschlägt, ist aber keine gangbare Lösung. Ich
bin froh, dass darüber hier im Haus Einigkeit besteht!
Zum einen hat die Kommission offensichtlich merkwürdige Vorstellungen über „geringfügige Forderungen“. So soll der Grenzstreitwert von 2 000 auf
10 000 Euro heraufgesetzt werden. Das werden die
meisten der Bürgerinnen und Bürger nicht als geringwertig ansehen, und einem Großteil der kleinen und
mittleren Unternehmen dürfte es genauso gehen.
Bei Streitwerten von über 5 000 Euro gehen Verfahren in Deutschland bisher üblicherweise schon in erster Instanz vor das Landgericht, und anwaltliche Vertretung ist zwingend vorgeschrieben. Ab 10 000 Euro
kann schnell mal die Existenz auf dem Spiel stehen.
Wenn die Pläne der Kommission Realität würden,
dann könnten zudem auch rein innerstaatliche Sachverhalte nach der Small-Claims-Verordnung behandelt
werden. Künftig muss nämlich nicht mehr einer der
Vertragspartner seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen
Aufenthalt im EU-Ausland haben, sondern es soll reichen, wenn zum Beispiel der Ort der Vertragserfüllung
im EU-Ausland liegt, wie beispielsweise bei Pauschalreisen; und das selbst dann, wenn sie beim heimischen
Reiseanbieter um die Ecke buchen, der seinen Geschäftssitz im Inland hat.
Sofern das Unternehmen dann gegenüber dem Verbraucher aus Kostengründen das Small-Claims-Verfahren wählt, führt das nicht nur zu einer verringerten
gerichtlichen Prüfung. Auch eine mündliche Verhandlung findet nur noch auf Antrag statt, wenn das Gericht sie für sachdienlich hält.
Anwaltliche Vertretung soll nicht mehr erforderlich
sein. Und dass in einem Bereich, in dem die Verbraucher typischerweise größeren Konzernen gegenüberstehen ({0}) und gemeinhin als besonders schutzbedürftig angesehen werden.
Das wahre Problem der bisherigen Regelung ist
doch ein ganz anderes: Die Verordnung leidet schlichtweg an ihrer Unbekanntheit. Da geht es ihr vielleicht
ähnlich wie einigen EU-Kommissaren - die das mit
dieser Verordnung aber wahrscheinlich auch nicht
werden ändern können.
Vermutlich wäre eine Werbekampagne eher geeignet, die Verfahrenszahlen zu erhöhen, als eine Ausweitung des Anwendungsbereichs.
Die Vorstellungen der Kommission sind allerdings
ohnehin utopisch: so sollen die Anzahl der Verfahren
von 500 auf 60 000 steigen, was quasi 5 Prozent aller
Prozesse im Jahr unter einem Streitwert von
10 000 Euro in Deutschland wären!
Mit unserer interfraktionellen Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung haben wir deutlich gemacht: Zivilprozesse dürfen nicht ausschließlich durch
die Brille der Wirtschaftlichkeit gesehen werden. Geringerer Arbeitsaufwand ist nur dann erfreulich, wenn
die Rechtsprechungsqualität nicht darunter leidet.
Mündliche Verhandlungen und anwaltliche Vertretung
schützen sowohl den Verbraucher als auch den Rechtsuchenden und dürfen deshalb nicht zur Ausnahme
werden.
Wir hoffen also darauf, dass die Bundesregierung
unsere Stellungnahme nicht nur berücksichtigt, sondern die genannten Punkte auch gegenüber der EUKommission durchsetzt.
Dann kommen wir zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz auf Drucksache 18/2647. Der Ausschuss
empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes
anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Damit ist diese Beschlussempfehlung bei Enthaltung der
Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Valerie
Wilms, Stephan Kühn ({0}), Sven-Christian
Kindler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung konsequent fortsetzen
Drucksache 18/1341
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne hiermit die Aussprache und erteile das
Wort der Kollegin Dr. Valerie Wilms, Bündnis 90/Die
Grünen.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Bei
meinen vielen Besuchen in den Wasser- und Schifffahrtsämtern und bei Personalversammlungen erlebe ich
immer wieder, wie sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nach einer echten Reform sehnen, eben nach einer,
die diesen Namen auch verdient. Die Mitarbeiter vor Ort
- denken wir bitte daran, dass es unsere Mitarbeiter sind,
nämlich Mitarbeiter des Bundes - sollen die Verantwortung für die Anlagen übernehmen.
Die Übernahme der notwendigen Verantwortung für
den Ressourceneinsatz, also für das Geld, wird ihnen
aber nicht zugetraut. Jeder Kleinkram muss bereits ab
50 000 Euro über den langen Verwaltungsweg beantragt
werden. So wird Frust geschaffen, aber keine Motivation
für unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
({0})
Diese sind es aber, die sich täglich für funktionierende
Wasserstraßen einsetzen.
Wortakrobatik statt echter Reformbereitschaft haben
wir in den letzten 20 Jahren schon oft genug gehört. Jetzt
muss gehandelt werden. Es darf nicht länger gewartet
werden.
({1})
Selbst der frühere Verkehrsminister Ramsauer hat irgendwann eingesehen, dass er ohne eine Reform in seinem eigenen Haus nicht auskommt. So weit, so gut.
Oder sollte ich besser sagen: „so schlecht“?
Heute koaliert die Union mit der SPD, und da sieht
manches schon wieder ganz anders aus. Die Union
wollte mal ein bisschen, und die SPD wollte noch nie so
richtig. Was dabei herauskommt, konnte man in einer
Pressemitteilung des BMVI vom 29. August 2014 lesen.
Ich zitiere eine Aussage von Minister Dobrindt:
Das enorme Reformprojekt der Neuausrichtung der
Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes …
steht kurz vor dem Abschluss …
Das ist schlichtweg falsch. Das Reformprojekt steht
nicht kurz vor dem Abschluss. Es muss jetzt endlich einmal ernsthaft umgesetzt werden. Das ist der richtige
Weg.
({2})
Die Aussage hat mich insofern schon sehr verwundert,
Herr Kollege Ferlemann. Die Äußerung nährt bei mir
den Eindruck, das Ministerium möchte sich schnell einen schlanken Fuß machen. Es ist anscheinend froh,
wenn die Reform so schnell und geräuschlos wie möglich abgeschlossen wird, egal mit welchem Ergebnis. Sie
dürfen sich jetzt nicht zurücklehnen und so tun, als ob alles schon erledigt sei. Das wäre fatal. Was wir brauchen,
ist eine echte Reform: weg von der Verwaltung der Wasserstraßen, hin zu einem wirklichen Dienstleister für die
Schifffahrt.
Durch die Reform wird das System Wasserstraße verbessert. Dafür müssen aber folgende Punkte umgesetzt
werden:
Erstens. Es braucht eine Budgetverantwortung direkt
in den Ämtern vor Ort.
Zweitens. Es braucht dringend eine vollständige Kosten- und Leistungsrechnung für ein wirksames Controlling. Das ist eine Selbstverständlichkeit in jedem Wirtschaftsunternehmen; aber in der WSV ist es nicht zu
finden.
Drittens. Es braucht dringend eine Anlagenbuchhaltung für unsere Wasserstraßen. Damit erhält das Parlament einen besseren Überblick über das Anlagevermögen, das in den Wasserstraßen steckt. Vor allen Dingen
erfahren wir, wann wir in den Ersatz investieren müssen.
Das macht jeder ehrbare Kaufmann, und zwar nicht ohne
Grund.
Die Reform wird also noch ein paar Jährchen in Anspruch nehmen. Insofern brauchen Sie noch mehr Reformeifer und vor allem Durchhaltevermögen. Liebe
Kolleginnen und Kollegen von der SPD, zeigen Sie endlich Reformwillen. Die Mitarbeiter vor Ort werden es Ihnen danken,
({3})
und auch die Schifffahrtsbranche. Seien Sie endlich einmal für die Wirtschaft da, wie es Ihr Vorsitzender aktuell
predigt.
({4})
Meine Botschaft an das Verkehrsministerium, das hier
sogar zu zweit vertreten ist, und an die Koalition der Reformbremser lautet: Die Reform steht nicht vor dem Abschluss. Im Gegenteil: Jetzt muss es losgehen.
Herzlichen Dank.
({5})
Für die Bundesregierung spricht jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Enak Ferlemann.
({0})
Sehr geschätzter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Selten habe ich einen Antrag der Grünen
gelesen, der so gut war. Frau Wilms, da haben Sie sich
wirklich Mühe gegeben.
({0})
Hinsichtlich dessen, was Sie dort beschrieben haben,
sind wir uns sehr einig, auch hinsichtlich dessen, was Sie
hier gesagt haben, mit zwei Ausnahmen:
({1})
Sie haben gesagt, wir seien noch gar nicht gestartet.
Wenn man Ihren Antrag liest, ist man erstaunt; denn Sie
beziehen sich auf den 5. Bericht. Sollte der Fraktion der
Grünen entgangen sein, dass es schon längst einen 6. Bericht gibt? Das wäre schade.
({2})
Frau Wilms, Sie haben gesagt, die Reform habe noch
nicht begonnen. Sie läuft doch schon längst, und sie wird
auch fortgesetzt. Natürlich, bei einem so großen Reformvorhaben wie der Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung, von der circa 14 000 Personen betroffen
sind, geht das nicht von heute auf morgen. Das ist ein
langsamer und langwieriger Prozess, weil Sie die Menschen mitnehmen müssen und weil Sie Verwaltungsstrukturen nicht abrupt zerschlagen können. Das wollen
wir auch nicht. Sie müssen mit den Menschen gemeinsam arbeiten. Die Menschen müssen ja auch Vertrauen
haben.
Ich stelle fest, dass wir eine hervorragend aufgestellte
Wasser- und Schifffahrtsverwaltung haben. Die Kolleginnen und Kollegen leisten eine hervorragende Arbeit.
Gleichwohl - recht haben Sie -: Wir brauchen eine Anlagenbuchhaltung, und wir brauchen moderne kaufmännische Steuerungselemente und Steuerungssysteme. Das
sieht die Reform auch so vor.
Wir werden das sukzessive umsetzen, so wie wir es
gesagt haben. Wir nehmen eine Entscheidungsebene heraus, die Wasser- und Schifffahrtsdirektion, konzentrieren uns in der Führung auf die Generaldirektion Wasserund Schifffahrt, ziehen dort auch Kompetenzen aus dem
Ministerium in die Mittelbehörde mit einer hohen Entscheidungskompetenz, aber natürlich auch mit Entscheidungsverantwortung, und wir schaffen 18 Reviere, in denen dann Amtsleiter die regionale Verantwortung
wahrnehmen, ausgestattet mit einer hohen Entscheidungskompetenz.
Ich glaube, dass diese Struktur, die mit dem 6. Bericht
vorgeschlagen wird, ein sehr positives Echo gefunden
hat, sowohl bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
als auch bei den Ländern als auch bei der Wirtschaft.
Deswegen glaube ich, dass wir diese Reform in diesem
Herbst gemeinsam so auf das Gleis bringen, dass wir das
als Ministerium letztlich umsetzen können. Das wird ab
1. Januar 2015 scharfgestellt, und dann beginnt sukzessive die Umwandlung.
Dazu gehört auch die Einführung der Kosten- und
Leistungsrechnung; denn auch die brauchen wir - da
gebe ich Ihnen recht -, um kaufmännisch richtig steuern
zu können. Das lässt sich aber nicht von heute auf morgen bewerkstelligen, wie Sie aus eigener Erfahrung und
Ihren vielen Besuchen bei den vielen Ämtern ja wissen.
Insofern stelle ich fest: Die Grünen sind etwas hinter
dem Mond bei dem Ansatz, wie weit wir schon sind. Ich
freue mich aber, dass Sie uns so unterstützen. Denn bisher hat Sie ausgezeichnet, dass Sie uns bei diesem Reformprozess aktiv unterstützt haben und wir gemeinsam
in die richtige Richtung marschiert sind. Ich glaube, wir
bekommen es hin.
Ziel muss es sein, eine effiziente, hochleistungsfähige
und starke Wasser- und Schifffahrtsverwaltung zu haben,
die eine sehr hohe Kompetenz hat und, statt Aufträge zu
vergeben, vieles auch selber erledigen kann. Manchmal
ist es effizienter, etwas selber zu machen. Nicht alles
auszuschreiben, ist immer der richtige Weg. Man muss
einen guten Mittelweg finden.
Ich glaube, der Reformansatz, den wir gewählt haben,
ist dafür richtig. Ich freue mich sehr, dass das auf die Zustimmung der Grünen stößt. Unterstützen Sie uns weiter.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({3})
Nächster Redner ist für die Fraktion Die Linke der
Kollege Herbert Behrens.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die
Kolleginnen und Kollegen der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung machen sich seit vielen Jahren große Sorgen
um ihre Zukunft. Junge Auszubildende werden nicht
übernommen. Ausscheidende Kolleginnen und Kollegen
werden nicht ersetzt. Die Belegschaft schrumpft seit Jahren. Zur gleichen Zeit beklagen die Verbände der Wirtschaft den Zerfall der Bundeswasserstraßen. Die Sperrung der Schifffahrt am Nord-Ostsee-Kanal kam uns
teuer zu stehen, weil die maroden Schleusen ihren Geist
aufgaben. Das ist nur eines von vielen Beispielen.
Doch die CDU/CSU-geführte Regierung der vergangenen Legislaturperiode, die zusammen mit der inzwischen ebenfalls vergangenen FDP regiert hat, war vom
Geist der Privatisierung geprägt; man könnte es auch
„umnebelt“ nennen. Statt darauf zu schauen, was die Binnen- und Küstenschifffahrt zu einem modernen, ökologisch orientierten Verkehrssystem beitragen kann, nahm
sich die Regierung die WSV als Apparat vor.
Aber die ganze Geschichte ist schon älter. Zitat: Seit
1995 befasst sich das Bundesverkehrsministerium mit
der Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des
Bundes. - Das schreibt der Bundesrechnungshof in seinem Bericht von 2010. Ich zitiere weiter: Mit der Reform soll es auf die haushaltsgesetzliche Einsparquote
bei den Dienstposten reagieren. - Genau darum geht es:
Personalabbau als Maßstab von Reformen, das ist seit
20 Jahren die Erfahrung der Beschäftigten bei der WSV.
Der Begriff „Reform“ wird mit „Personalabbau“ übersetzt. Das akzeptieren wir nicht.
({0})
Außenämter zusammenlegen, Schleusen automatisieren, Bündelung von Dienstleistungen mit dem Ziel der
Personaleinsparung, das waren übrigens die gemeinsamen politischen Ziele der Regierungen seit jener Zeit,
und zwar in den unterschiedlichsten Zusammensetzungen. Doch die Kolleginnen und Kollegen vor Ort haben
gezeigt und zeigen noch heute, wie wichtig ihre Arbeit
ist. Sie fahren bei Wind und Wetter raus, um die Schleu5032
sen gangbar zu halten. Sie sind Tag und Nacht unterwegs, wenn zu viel oder auch zu wenig Wasser da ist,
um die Schifffahrt gangbar zu halten. Schnell und kompetent reagieren sie, wenn es auf dem Wasser zu einem
Malheur kommt, und sie beweisen mit ihrer täglichen
Arbeit auch, dass sie Dinge erhalten. Dadurch kommt es
nur selten zu Malheurs. Die Zahl der Zwischenfälle lässt
sich wirklich an wenigen Fingern abzählen, und das
selbst bei Anlagen, die Jahrzehnte, manche sogar ein
ganzes Jahrhundert alt sind.
Die Linke hat in den Jahren der letzten schwarz-gelben
Koalition die Belegschaft der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung bei ihrem Kampf um den Erhalt einer funktionsfähigen Ausführungsverwaltung unterstützt. Heute,
nachdem der ziellose Umbau der WSV halbwegs gestoppt werden konnte, beraten wir den Antrag „Reform
der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung konsequent fortsetzen“. Das haben die Kolleginnen und Kollegen der
WSV nicht verdient. Sie brauchen keine WSV-Reform II, nachdem die WSV-Reform I gescheitert ist.
({1})
Wir unterstützen die Aussagen im Antrag der Grünen
sehr wohl, in dem es heißt, dass neue Aufgaben, etwa im
Natur- und Artenschutz, zu bewältigen sind und dass die
Unterhaltung der Flüsse nach ökologischen Kriterien an
Bedeutung gewinnt. Das alles ist richtig. Aber es hilft
uns hier nicht weiter, an einem Umbau der WSV festzuhalten, der eben nicht an den neuen ökologischen Aufgaben der WSV orientiert ist. Wir können doch nicht fortsetzen wollen, was von vornherein ausschließlich auf
Personalabbau ausgerichtet war und die Zerschlagung
der WSV und die Privatisierung von Aufgaben zum Ziel
hatte.
Die Linke unterstützt stattdessen die WSV-Belegschaft in ihrem Engagement für eine zukunftsfähige
Bundesbehörde. Ihre Arbeit wird sich verändern. Wer
weiß das besser als die Betroffenen selber! Sie sind doch
heute schon dabei, im Netzwerk zu arbeiten, und sie bilden selbstständig arbeitende Inspektionstrupps, die Störungen des Schiffsverkehrs erst gar nicht aufkommen
lassen. Das tun sie mit guten Ingenieuren und guten
Handwerkern, wie wir zum Beispiel in Aurich haben sehen können.
({2})
Es bleibt dabei: Eine Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes muss die Behörde so modernisieren, dass sie ihre Arbeit erledigen kann. Dafür
braucht sie qualifiziertes Personal, eine gute technische
Ausstattung und einen klaren Auftrag. Dafür tragen wir
die Verantwortung. Mit einem Antrag, der die Unsicherheit der Belegschaft verstärkt, kommen wir dieser Verantwortung nicht nach.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Gustav Herzog für
die Sozialdemokraten.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
will uns freundlich einstimmen: Vielen Dank den Grünen für diesen Antrag! Er ist zwar etwas überholt - er
wurde im Mai gestellt -, aber er gibt eine gute Gelegenheit, hier im Plenum nicht nur über ein verkehrspolitisches Thema, sondern auch über ein Thema zu reden, bei
dem die Große Koalition schon nach kurzer Zeit eine
positive Bilanz ziehen kann.
({0})
Ich kann Ihnen ankündigen: Wir werden als Koalitionsfraktionen einen gemeinsamen Antrag einbringen,
in dem wir insbesondere den 6. Bericht zur Reform der
WSV aufgreifen. Lieber Kollege Hans-Werner Kammer,
ich glaube, das wird nicht nur ein aktuellerer Antrag,
sondern auch ein besserer Antrag als der von den Grünen.
({1})
Liebe Kollegin Wilms, im Text Ihres Antrags ist ein
kleiner Fehler. Nicht im Juni 2012 wurde die Reform angestoßen; vielmehr begann das Elend im Oktober 2010,
in jenem berühmten Herbst der Entscheidungen, als die
FDP ihren großen Koalitionspartner dazu gebracht hat,
im Haushaltsausschuss einen sehr verhängnisvollen Beschluss zu fassen - lieber Kollege Behrens, in der ersten
Abstimmung geschah das zusammen mit den Linken ({2})
und das Ministerium aufzufordern, eine Reform durchzuführen, die zu all dem geführt hat, was wir vier Jahre
lang erlebt haben, nämlich zu einem echten Schlingerkurs.
Wenn ich an die Berichte 1 bis 5 denke, dann fällt mir
auf, wie häufig wir über unterschiedliche Zahlen von
Ämtern geredet haben und wie häufig die Funktion der
Ämter verändert worden ist. Außerdem denke ich dann
an diesen wirklich unsäglichen Personalabbau von
12 000 auf unter 10 000. Dahinter steckte die Ideologie
der FDP, möglichst viel zu vergeben und möglichst wenig selbst zu tun; das sei ganz gut. Die FDP wollte keine
Durchführungsverwaltung mehr, sondern eine Gewährleistungsverwaltung.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es hagelte damals
Kritik. Ich rufe heute gerne in Erinnerung, dass auch
sehr viel Kritik aus der Wirtschaft kam. Frau Kollegin
Wilms, diejenigen aus der Wirtschaft, mit denen ich gesprochen habe - das waren nicht nur Vertreter der Verbände, sondern auch Menschen, die im Hafen und auf
dem Schiff ihrer Arbeit nachgegangen sind -, haben die
WSV nie als eine Verwaltung, sondern immer als eine
Organisation verstanden, die ihnen bei all ihren Problemen geholfen hat. Das war ein echter Erfolg. Die Leute
haben gute Arbeit geleistet.
({4})
Die Beschäftigten waren aber so verunsichert, dass es
zu einem Streik gekommen ist, der die Branche empfindlich getroffen hat. Ich bin froh, Herr Staatssekretär,
dass es eine klare Erklärung der drei beteiligten Ministerien gegeben hat, dass die weitere Reform wirklich sozialverträglich umgesetzt wird.
Aber auch die Länder haben heftig kritisiert. Ministerpräsidenten der Union haben Briefe geschrieben und
das klare Signal gegeben, dass man mit dieser Reform
scheitern wird. Auch deswegen wurde ein Gesetzentwurf der alten Koalition zurückgezogen.
Dann kamen die Bundestagswahl, die Koalitionsverhandlungen, ein Koalitionsvertrag - und es gab eine andere Situation. Wir haben klar festgelegt: Wir wollen bei
den weiteren Reformschritten die Kompetenz der
Beschäftigten mit einbinden, und wir wollen eine regionale Verankerung vornehmen. In beidem hat die Koalition - hier gilt mein ganz persönlicher Dank Minister
Dobrindt - Wort gehalten.
({5})
Was vier Jahre nicht geklappt hat, haben wir in vier
Monaten hinbekommen.
({6})
Es gibt eine klare Linie. Jetzt werden sich der Rechnungsprüfungsausschuss und der Haushaltsausschuss
damit beschäftigen. Mein besonderer Dank geht an unsere Kollegen Bettina Hagedorn und Eckhardt Rehberg,
die als Haushälter ein erstes Signal gesendet haben; denn
schon jetzt können wir im Bereich der WSV mehr Personal einstellen. Dieses Signal ist wichtig, weil wir als Arbeitgeber in Anbetracht der Konkurrenz bestehen müssen. Wir brauchen kompetente Leute, die engagiert ihre
Arbeit machen. Eine Verwaltung jedoch, die zum Ziel
hat, Personal abzubauen, ist niemals ein attraktiver Arbeitgeber.
Von daher ist es gut, dass wir vier Botschaften aussenden: Es wird keinen Personalabbau mehr geben. Wir geben
die unsägliche Idee der Trennung von Bau und Verkehr auf.
Es wird in den Ämtern weiterhin einen Ansprechpartner
geben: für die Länder, für die Kommunen, für die Wirtschaft. Alle Standorte werden erhalten bleiben.
Insgesamt wird die WSV infolge dieser Konzentration effizienter arbeiten. Es wird 18 Ämter geben, die
kompetent, leistungsstark, zuverlässig und in der Region
verwurzelt ihre Arbeit tun. Dabei werden nicht alle Ämter alles machen. Es wird, abhängig von den unterschiedlichen Aufgaben in der Region, unterschiedliche Schwerpunkte geben. Sicherlich wird es auch Synergieeffekte
geben, indem bestimmte Ämter Arbeiten für die gesamte
WSV erledigen.
In einem weiteren Schritt werden wir uns den Außenbezirken, Revieren und Verkehrszentralen zuwenden,
dies aber erst dann, wenn dieser Teil der Reform aus
dem 6. Bericht umgesetzt worden ist. Frau Kollegin
Wilms, dann wird es auch eine Kosten-Leistungs-Rechnung geben.
({7})
Dann wird es auch einen klaren Vergabekatalog geben.
Ich bin Minister Dobrindt sehr dankbar, dass er erklärt hat: Wir wollen darauf achten, dass unsere Organisation, die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes, ihre eigene Kompetenz behält und nicht von
Monopolen abhängig wird, die es in dem Markt, in dem
wir unsere Ausschreibungen machen, gibt.
({8})
Es gibt einen weiteren Punkt, in dem sich der 6. Bericht sehr wohlwollend von den ersten fünf Berichten
unterscheidet: Wir wenden uns dem Personal zu. Wir sagen: Wir wollen mehr für Aus-, Fort- und Weiterbildung
tun. Wir haben bei der Übernahme von Auszubildenden
schon deutliche Verbesserungen erzielt. Von daher wiederhole ich, was ich zu Beginn gesagt habe: Wir sind
jetzt auf einem klaren Kurs.
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, natürlich bleiben noch ein paar Fragen offen: Wie wird die Kompetenz vom Ministerium auf die Generaldirektion und auf
die Ämter abgeschichtet? Herr Staatssekretär, wo bleibt
der Infrastrukturbericht? Wir sind nicht die Einzigen, die
sagen: Wir wollen nicht warten, bis der Bundesverkehrswegeplan kommt, sondern wir hätten gern vorher klare
Auskunft. - Wir werden uns intensiv mit dem Konzept
zum Wassertourismus beschäftigen; je früher es da ist,
desto besser für alle Beteiligten.
({9})
Wir werden uns dem Spannungsfeld von Kategorisierungen und Priorisierungen im Bundesverkehrswegeplan
zuwenden; die alten Kategorien können nicht die neuen
sein.
({10})
Ich denke, dieses Parlament sollte damit nicht bis April
2015 warten, bis das Rechtsbereinigungsgesetz vorliegt.
Ich freue mich, liebe Kolleginnen und Kollegen, auf
die Debatte im Ausschuss. Wir sehen uns dann zum gleichen Thema hier im Plenum wieder.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({11})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Hans-Werner Kammer, CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Bündnis 90/Die Grünen haben ja auch schon in der letzten Legislatur intensiv und forsch für eine Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung geworben. Mit dem vorliegenden
Antrag soll die Bundesregierung aufgefordert werden,
die Reform konsequent umzusetzen. Liebe Frau
Dr. Wilms, genau das tut die Koalition gemeinsam mit
der Bundesregierung. Der Bundesverkehrsminister hat
mit dem 6. Bericht zum Stand der Reform den Kurs klar
vorgegeben.
({0})
Auch wenn über Details sicherlich noch zu reden ist,
liegt das Konzept, mit dem die WSV zukunftsfest wird,
auf dem Tisch. Den von Ihnen befürchteten Reformstau
hat es nicht gegeben. Ich habe bei Ihren Beiträgen, Frau
Dr. Wilms und Herr Behrens, den Eindruck gehabt, dass
Sie diesen 6. Bericht bisher nicht gelesen haben. Uns ist
es in den letzten Wochen vielmehr gelungen, auch die
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an Bord zu holen. Das
war ein klarer Auftrag des Koalitionsvertrages, dem das
Ministerium in vollem Umfang Rechnung getragen hat.
Insofern kann ich Sie, liebe Kollegen von den Grünen,
beruhigen: Die Reform geht weiter.
({1})
Aber bei der konkreten Umsetzung, liebe Frau
Dr. Wilms, der Reform hören die Gemeinsamkeiten zwischen Koalition und Grünenfraktion auf. Ihr Antrag ist
abzulehnen. Sie haben leider zu Ihrem Antrag im
Grunde kaum gesprochen. Ich möchte Ihnen deshalb sagen: Sie wollen eine andere WSV als wir und übrigens
auch eine andere als die WSV-Beschäftigten und die
Wirtschaft.
({2})
Das Thema Verkehrsinfrastruktur spielt bei Ihnen nur
noch eine zweite Geige. Stattdessen lese ich in Ihrem
Antrag nur von Renaturierung, ökologischer Wiederherstellung und dem Ausgleich zwischen Schifffahrt und
Ökologie.
Umweltschutz liegt uns allen am Herzen, aber die
WSV ist zuerst eine Verkehrsverwaltung. Die Effizienzsteigerungen und Einsparungen der Reform wollen Sie
für Umweltmaßnahmen aufwenden. Das steht so in Ihrem Antrag. Der bedenkliche Zustand vieler Bundeswasserstraßen ist Ihnen sicherlich bekannt. Sie wollen doch
nicht im Ernst den Nord-Ostsee-Kanal im Namen des
Umweltschutzes verkommen lassen.
({3})
Ich finde es übrigens bemerkenswert, dass ich ausgerechnet Sie daran erinnern muss, dass das Schiff immer
noch das umweltfreundlichste Verkehrsmittel ist. Gerade
für Massengüter und Schwerlastverkehr bietet das Schiff
noch viel Potenzial, das wir nutzen können, um andere
Verkehrsträger zu entlasten.
({4})
Wer aber wie Sie den Verkehr von Straße und Schiene
auf das Wasser holen will, darf die Bundeswasserstraßen
nicht zum Naturschutzgebiet machen.
({5})
Konsequent gehen Sie den Irrweg Ihres letzten Bundestagswahlprogramms weiter.
({6})
Dort stand die Förderung der Binnenschifffahrt unter
dem Vorbehalt, dass sich die Schiffe dem Fluss anpassen
müssen.
({7})
- Sie brauchen nicht den Kopf zu schütteln; das stand da
tatsächlich drin. - 2005 hat Ihr damaliger Umweltminister Jürgen Trittin ein solches Schiff mit öffentlichen Mitteln gefördert.
({8})
Die „RMS Kiel“ war jedoch ein Fehlschlag. Das hat sogar der Bundesrechnungshof bestätigt.
({9})
Sie leben in einer Traumwelt, wenn Sie an eine Zukunft der Schifffahrt glauben, ohne dass bestehende
Schifffahrtswege ausgebaut werden. Wahrscheinlich sehen Sie die Zukunft der Handelsschifffahrt so wie die
Zukunft des Wassertourismus, nämlich muskelbetrieben.
({10})
Das geht aber an der Realität vorbei und ist mit uns nicht
zu machen.
({11})
Das Verkehrsministerium hat in enger Abstimmung
mit den Beschäftigten den richtigen Kurs eingeschlagen.
Die Organisationsstruktur wird deutlich gestrafft. Die
bestehenden Personalprobleme werden offensiv angegangen. So ist gewährleistet, dass die WSV in Zukunft
noch besser als bisher die Bundeswasserstraßen betreuen
kann, ohne zentrale Aufgaben an Dritte vergeben zu
müssen. Zu den Aufgaben der WSV wird es aber auch
weiterhin gehören, Wasserwege gegebenenfalls auszubauen. Nur so kann das große Potenzial des Verkehrsmittels Schiff genutzt werden, um die in Zukunft massiv
zunehmenden Verkehrsströme zu schultern.
Für die Koalition ist klar: Die WSV wird eine moderne Infrastrukturverwaltung und keine Naturschutzbehörde. Der Kollege Herzog hat ja bereits angekündigt,
dass es einen entsprechenden Antrag der Koalition dazu
geben wird. Diesem können Sie dann mit Begeisterung
zustimmen.
Herzlichen Dank.
({12})
Damit schließe ich die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/1341 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das
der Fall und die Überweisung somit beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erleichterung der Umsetzung der Grundbuchamtsreform in Baden-Württemberg
Drucksache 18/70
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz
({0})
Drucksache 18/2644
Nach meiner Information sollen die Reden zu Protokoll gegeben werden. - Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Damit sind Sie einverstanden.
Wir beraten heute in zweiter und dritter Lesung den
Entwurf eines Gesetzes zur Erleichterung der Umsetzung der Grundbuchamtsreform in Baden-Württemberg. In Deutschland wird das Grundbuch zentral von
den Amtsgerichten geführt. Baden-Württemberg
weicht historisch bedingt hiervon ab. Das Grundbuch
wird dort überwiegend von den Kommunen geführt.
Die Notare oder Rechtspfleger werden von den
Ratschreibern unterstützt. Ratschreiber mit der Befähigung zum höheren oder gehobenen Verwaltungsoder Justizdienst sind befugt, grundbuchrechtliche Erklärungen zu entwerfen und Erklärungen zu beurkunden. In der Praxis werden Grundbucheintragungen
derzeit von den Ratschreibern bis zur Eintragungsreife
vorbereitet, die Eintragung selbst nimmt aber in der
Regel ein Amtsnotar vor.
Neben den kommunalen Grundbuchämtern gibt es
auch staatliche Grundbuchämter. Sie sind mit Rechtspflegern als Grundbuchbeamten und Beschlussfertigern besetzt. Beschlussfertiger sind Beamte des mittleren Dienstes und bereiten Grundbuchanträge für den
Rechtspfleger unterschriftsreif vor.
Baden-Württemberg hat über den Bundesrat den
vorliegenden Gesetzentwurf eingebracht. Die 654
kommunalen und staatlichen Grundbuchämter sollen
aufgelöst und die Grundbuchaufgaben bis spätestens
Ende 2017 dreizehn zentralen Amtsgerichten zugewiesen werden.
Eine amtsangemessene Weiterbeschäftigung der
Ratschreiber und der Beschlussfertiger wäre nach derzeitiger Rechtslage nicht möglich. Auf ihre Mitarbeit
will das Land Baden-Württemberg aber auch in Zukunft nicht verzichten, einerseits wegen des grundbuchrechtlichen Fachwissens und ihrer praktischen
Erfahrung, andererseits, weil nach der Reform zusätzlicher Personalbedarf bei den Amtsgerichten entstehen wird.
Das Rechtspflegergesetz soll deshalb um einen § 35
a ergänzt werden. Nach dem Gesetzentwurf dürfen
Ratschreiber mit der Befähigung zum gehobenen Verwaltungs- oder Justizdienst, die das Amt mindestens
drei Jahre ausgeübt haben, die Aufgaben eines Rechtspflegers in Grundbuchsachen wahrnehmen. Die fachliche Qualifikation soll durch Fortbildungen sichergestellt werden.
Der Gesetzentwurf sieht weiterhin vor, dass Beschlussfertiger, die seit mindestens fünf Jahren im Justizdienst beschäftigt sind, ebenfalls die Aufgaben eines
Rechtspflegers in Grundbuchsachen wahrnehmen dürfen. Voraussetzung soll eine fachbezogene Fortbildung
von drei Monaten an einer Fachhochschule sein.
Der Gesetzentwurf sorgte bei den Rechtspflegern
für Unmut. Hier steht man dem sogenannten „Bereichsrechtspfleger“ kritisch gegenüber. Das Vorhaben des Landes Baden-Württemberg stellt aus Sicht
des Bundes Deutscher Rechtspfleger einen statusrechtlichen Angriff auf die Berufsgruppe der Rechtspfleger
dar und sei wirtschaftlich und in der Sache nicht sinnvoll.
Die Kritik des Verbandes ist verständlich. Der
Rechtspfleger als Beamter der Laufbahn des gehobenen Dienstes ist ein selbstständiges Organ der Rechtspflege. Seine ihm übertragenen, ehemals richterlichen
Geschäfte nimmt er eigenverantwortlich und in sachlicher Unabhängigkeit wahr. Aufgrund dieser dem Richteramt ähnlichen Stellung wird er auch als die zweite
Säule der dritten Gewalt bezeichnet.
Wer die hohe Hürde des Bewerbungsverfahrens als
Rechtspfleger genommen hat, wird im Rahmen eines
dreijährigen Vorbereitungsdienstes als Anwärter mit
einem anspruchsvollen Studium an einer Fachhochschule in Theorie und Praxis auf die spätere Tätigkeit
umfassend vorbereitet. Der angehende Rechtspfleger
soll befähigt werden, vollkommen selbstständig Lebenssachverhalte zu erfassen, Rechtsfragen zu erkennen und zu lösen und sachgerechte Entscheidungen zu
treffen. Die fachtheoretische Ausbildung ist entsprechend umfangreich und umfasst unter anderem das
Bürgerliche Recht, einschließlich Familienrecht, Erbrecht, Immobiliarsachenrecht, das Zivilprozess- und
Zwangsvollstreckungsrecht, das Handelsrecht einschließlich Registerrecht sowie das Gesellschafts5036
recht, das Grundbuchrecht, das Betreuungsrecht, die
Freiwillige Gerichtsbarkeit, das Zwangsversteigerungsrecht, das Insolvenzrecht und das Kostenrecht.
Zweifelsohne handelt es sich bei dem Grundbuchwesen um einen besonders sensiblen Bereich. Hier
geht es um die Prüfung komplizierter Rechtsfragen,
insbesondere um die rechtliche Beurteilung von
Grundstückskaufverträgen, die Eintragung neuer
Eigentümer in das Grundbuch, die Prüfung und
Eintragung von Grundstücksbelastungen wie Grundschulden, Hypotheken, Wege- und Wohnrechten. Umfassende Kenntnisse des materiellen Rechts sind unumgänglich. Wegen des bestehenden öffentlichen
Glaubens des Grundbuches nach § 892 BGB und der
damit verbundenen positiven und negativen Publizitätswirkung müssen Eintragungen unbedingt materiellrechtlich korrekt sein und dürfen nur von qualifizierten Grundbuchbeamten vorgenommen werden.
Eine Sachverständigenanhörung im Rahmen eines
erweiterten Berichterstattergesprächs brachte zur
Frage des Umfangs der erforderlichen Zusatzausbildung der Beschlussfertiger kein eindeutiges Ergebnis.
Während die einen Sachverständigen überhaupt
keinen Weiterbildungsbedarf sehen bzw. die vorgeschlagene Ausbildungsdauer von drei Monaten für
ausreichend halten, fordern andere entweder eine Vollausbildung der Beschlussfertiger in Form der dreijährigen Rechtspflegerausbildung oder weiterhin nur den
Einsatz im Bereich der grundbuchrechtlichen Vor- und
Nachbereitung.
Sachverständige der Fachhochschulen kamen zu
dem Schluss, dass eine Aufgabenübertragung auf die
Beschlussfertiger dem Grunde nach möglich sei, die
vorgesehene Mindestausbildungsdauer allerdings zu
knapp bemessen sei. Die Auffassungen zur angemessenen Ausbildungsdauer schwankten zwischen sechs und
zwölf Monaten.
Einerseits galt es, die hohe Qualität im Grundbuchwesen sicherzustellen, andererseits wollten wir dem
Land Baden-Württemberg grundsätzlich ermöglichen,
das Personal auch weiterhin amtsangemessen einzusetzen. Der gefundene Kompromiss der Koalitionsfraktionen führte in der Abwägung aller Umstände und
der Ergebnisse der Sachverständigenanhörung zu einer Anhebung der Ausbildungsdauer von drei Monaten
auf 8 Monate.
An die Adresse der Rechtspfleger gerichtet, ist eines
zu betonen: Bei der gesetzlichen Regelung handelt es
sich um eine absolute Ausnahme. Es ist nicht beabsichtigt, den sogenannten Bereichsrechtspfleger als Regelfall einzuführen. Wir wissen, welch hochqualifizierte
und gute Arbeit die Rechtspfleger in Deutschland leisten. Hieran soll sich auch in Zukunft nichts ändern.
Mit dem Änderungsantrag finden zugleich auch
zwei weitere Artikel im Rahmen eines Omnibusverfahrens Eingang in den Gesetzentwurf. Mit ihnen sollen
zwei Übergangsvorschriften verlängert werden.
Der erste sieht eine Änderung in § 26 Nummer 8
Satz 1 EGZPO vor. Nach dieser Vorschrift ist die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision gemäß § 544 ZPO bis zum 31. Dezember 2014 nur bei einer Beschwer von mindestens 20 000 Euro zulässig.
Diese Übergangsfrist soll mit dem Gesetzentwurf um
zwei Jahre verlängert werden.
Die zweite Änderung betrifft § 62 Absatz 2 WEG.
Hiernach ist die Beschwerde gegen die Nichtzulassung
der Revision ausgeschlossen, wenn die anzufechtende
Entscheidung vor dem 31. Dezember 2014 verkündet
wurde. Nach dem Gesetzentwurf soll die Frist um ein
Jahr verlängert werden.
Mit der Verlängerung der Fristen will die Bundesregierung dem immensen Arbeitsaufkommen und der Arbeitsüberlastung des Bundesgerichtshofs Rechnung
tragen. Aber in der Begründung zum Gesetzentwurf
vom 1. April 2011 ({0})
führte die Bundesregierung aus, dass die Nichtzulassungsbeschwerde erforderlich sei, um einer Zersplitterung der Zivilrechtspflege entgegenzuwirken. Die Berufungsgerichte hatten nämlich von der Möglichkeit
des § 522 Absatz 2 ZPO, eine Berufung durch einstimmigen Beschluss zurückzuweisen, völlig unterschiedlich Gebrauch gemacht. Um dieser Zersplitterung der
Rechtspflege entgegenzuwirken, ist der Bundesjustizminister in der Pflicht, einen zielführenden Vorschlag
zu machen. Es muss ausgeschlossen werden, dass die
Übergangsfristen demnächst nochmals verlängert
werden müssen.
Es wurde Kritik daran geübt, dass die vorgenannten
Regelungsvorschläge erst im Rahmen eines Omnibusverfahrens nach der ersten Lesung des Gesetzes aufgenommen wurden. Die Kritik greift hier aber nicht. Es
handelt sich nicht um komplizierte Fragestellungen
oder komplexe Sachverhalte. Die Entscheidung, ob
Übergangsvorschriften verlängert werden, ist ohne einen intensiven Prüfungsumfang möglich. Lassen Sie
uns deshalb heute das Gesetz in seinem kompletten
Umfang beschließen.
Mit diesem Gesetz tragen wir dazu bei, dass die
Grundbuchanfragen und Grundbuchänderungsanträge der Bürgerinnen und Bürger in Baden-Württemberg künftig wieder zügiger und professionell bearbeitet werden können. Viele von Ihnen werden bereits
erfahren haben, dass das Grundbuchwesen in BadenWürttemberg grundlegend umstrukturiert wird. Die
Grundbuchämter, die bisher überwiegend von den
Kommunen geführt wurden, werden bis 2018 in
13 zentrale Grundbuchämter eingegliedert.
Bei dieser Aufgabenverlagerung von der Kommune
auf das Land ist es absehbar, dass in den zentralen
Grundbuchämtern ein erheblicher Personalbedarf an
Rechtspflegern in Grundbuchsachen entstehen wird,
ein Personalbedarf, der allein durch die verstärkte
Ausbildung von Rechtspflegern in Baden-Württemberg
Zu Protokoll gegebene Reden
derzeit nicht gedeckt werden kann. Diesem Umstand
trägt der Gesetzentwurf Rechnung.
Der Gesetzentwurf sieht nämlich vor, dass diejenigen, die bisher in den kommunalen Grundbuchämtern
selbstständig und kompetent gearbeitet haben, an
Fortbildungsmaßnahmen teilnehmen und anschließend die Möglichkeit erhalten, als sogenannte Rechtspfleger in Grundbuchsachen bei den neuen Grundbuchämtern zu arbeiten.
Bei den im Gesetzentwurf vorgesehenen Personengruppen, den sogenannten Ratsschreibern und den Beschlussfertigern, handelt es sich um besonders qualifizierte Beamte des gehobenen bzw. des mittleren
Dienstes. Diese Beamten verfügen über langjährige
Erfahrungen im Grundbuchbereich. Ihr Fachwissen
soll durch entsprechend geeignete Weiterbildungsmaßnahmen ergänzt und ausgebaut werden.
Bei den Beamten des mittleren Dienstes sieht der
Gesetzentwurf explizit vor, dass eine Qualifizierung an
Fachhochschulen für Rechtspflege erfolgen soll, um
sicherzustellen, dass die Beamten die Rechtsfragen im
Grundbuchwesen in Zukunft kompetent und eigenverantwortlich bearbeiten können. Die geplanten Lehrveranstaltungen sind speziell darauf ausgerichtet, vertiefte Kenntnisse in allen relevanten Rechtsbereichen
zu erwerben, die für die zukünftige Tätigkeit in den
Grundbuchämtern notwendig sind.
Damit die Qualität des Grundbuchwesens nicht gefährdet wird, sieht der Gesetzentwurf ausdrücklich vor,
dass die Beamten acht Monate Zeit haben, sich intensiv mit den unterschiedlichen relevanten Rechtsgebieten zu beschäftigen. Von einem Crashkurs kann bei einer Ausbildungszeit von acht Monaten damit keine
Rede sein. Ich bin überzeugt, dass die Fortbildungsmaßnahmen mehr als geeignet sind, um die Beamten
auf ihre künftige Tätigkeit als Rechtspfleger in Grundbuchsachen umfassend vorzubereiten und um gleichzeitig die hohe Qualität des baden-württembergischen
Grundbuchwesens für die Bürgerinnen und Bürger zu
erhalten.
Wie Sie sehen, ist der Gesetzentwurf somit für beide
Seiten vorteilhaft: Die Beamten erhalten die Möglichkeit, ihr praktisch erworbenes Fachwissen bei den zentralen Grundbuchämtern einzubringen, und die
Grundbuchämter können den erheblichen Mehrbedarf
an Personal mit erfahrenen Beamten vorübergehend
ausgleichen. Letzteres ist auch deswegen so wichtig,
weil bereits jetzt die Grundbuchämter mit der Bearbeitung der Anfragen überlastet sind. Aus meiner Heimat
in Emmendingen wird mir zum Beispiel berichtet, dass
sich ein erheblicher Rückstau der Anfragen beim
Grundbuchamt ergeben habe.
Auch deswegen hoffe ich, dass viele Personen, die
zurzeit in den kommunalen Grundbuchämtern tätig
sind, die Möglichkeit der Fortbildung zum Rechtspfleger in Grundbuchsachen wahrnehmen werden.
Was ist uns eine qualifizierte Justiz wert? Der Landesregierung von Baden-Württemberg und der Bundesregierung offenbar nicht viel. Denn dort sollen die
Ratsschreiber und Beschlussfertiger aus den Gemeinden in die Amtsgerichte versetzt werden und dort die
hochqualifizierten Aufgaben von Rechtspflegern im
Grundbuchamt übernehmen. Das soll im Rahmen der
anstehenden Grundbuchreform im „Ländle“ geschehen.
Im Grundbuch werden bekanntlich die Eigentümerinnen und Eigentümer von Grundstücken, Häusern
und Wohnungen eingetragen. Wer ein Haus oder eine
Wohnung kauft, wird im Grundbuch eingetragen. Wenn
jemand bei seiner Bank auf sein Haus einen Kredit
aufnimmt, wird die Bank im Grundbuch als Gläubigerin eingetragen und kann beispielsweise die Immobilie
versteigern lassen, wenn der Kredit nicht mehr zurückgezahlt wird, ohne lange irgendwelche Beweise vorzulegen. Wir haben es hier also nicht mit irgendwelchen
Listen zu tun, die ein Gericht führt. Es ist ein amtliches
öffentliches Verzeichnis; Eintragungen im Grundbuch
genießen allerhöchstes Vertrauen. Der Inhalt des
Grundbuchs gilt immer als richtig, auch dann, wenn er
mal nicht richtig ist ({0}).
Gerade deshalb sind korrekte Entscheidungen ganz
wichtig. Und diese Entscheidungen treffen der Rechtspfleger, die Rechtspflegerin. Ratsschreiber und Beschlussfertiger haben bisher nur die Eintragungen
vorgenommen - also ausführende Tätigkeiten. Die
„Qualitätssicherung“ machen die Rechtspflegerinnen
und Rechtspfleger. Ratsschreiber und Beschlussfertiger als „Bereichsrechtspfleger“ und ihre Gleichstellung mit den Rechtspflegern geht an den Anforderungen der Rechtspraxis völlig vorbei.
Die Qualifikation und das ausgewogene Urteil eines juristisch ausreichend Ausgebildeten - sei es als
Justizangestellter, sei es als Rechtspfleger, sei es als
Richter - ist für mich ein hoher Wert, egal ob das im
Grundbuchamt ist, im Nachlassgericht, im Handelsregister, im Vereinsregister. Daher führt nach meiner
Meinung auch kein Weg an einer umfassenden Nachqualifizierung der bisherigen Ratsschreiber und Beschlussfertiger vorbei, damit die hohe Qualifikation
der Justiz erhalten bleibt und wir nicht Verhältnisse
wie in vielen anderen europäischen Staaten bekommen.
Doch diese Nachqualifizierung soll es nicht geben;
es sind lediglich einige Fortbildungen geplant, die
aber in keinster Weise an die gestellten Anforderungen
für Rechtspfleger herankommen.
Und für wie viele Leute wird dieses Gesetz eigentlich gemacht? Es geht hier nach Angaben des badenwürttembergischen Justizministers um weniger als
30 Personen. Dafür wäre auch eine andere Lösung
möglich. So wird aber ein Bundesgesetz geschaffen, es
werden Debatten geführt usw.
Zu Protokoll gegebene Reden
Mit diesem Gesetzentwurf wird ein weiterer Beitrag
zur Aushöhlung der Justiz geleistet. Außerdem wird ein
Einfallstor für andere Justizbereiche geöffnet, genauso
vorzugehen. Wir brauchen aber nicht immer mehr Spezialisten, die nur noch einen ganz engen Bereich
durchblicken und lediglich mehr oder weniger gut für
ihr spezielles Arbeitsgebiet angelernt sind, aber keinen
Überblick mehr besitzen. Wohin das führt, kennen wir
zur Genüge aus der Industrie oder dem Einzelhandel.
Wir lehnen deshalb Ihren Gesetzentwurf ab.
Und zum Abschluss des parlamentarischen Wegs
dieses Gesetzentwurfs verwöhnt uns die Bundesregierung noch mit zwei Änderungen, die völlig andere Gesetze betreffen, aber mit diesem Gesetzentwurf durch
die Hintertür durchgedrückt werden sollen - vielleicht
mit der Hoffnung, dass es kaum jemand merkt. Diese
Unsitte der Bundesregierung über ein sogenanntes
Omnibusgesetz ganz andere Bereiche zu regulieren
und dem Ausschuss ein nicht zustehendes Initiativrecht
für Gesetzgebung einzuräumen, hat die Linke früher
als verfassungswidrig abgelehnt und lehnt es auch
diesmal ab.
Denn was haben die geplanten Änderungen in der
Zivilprozessordnung und im Wohnungseigentumsgesetz mit der Grundrechtsreform in Baden-Württemberg zu tun? Gar nichts. Zudem enthalten die Änderungen eine Rechtsmittelverkürzung, die wir ebenfalls
ablehnen. Ihre Vorgehensweise schafft nur ein Durcheinander in den Gesetzen. Arbeiten Sie nicht so chaotisch, und achten Sie endlich die Vorgaben der Verfassung.
Grund und Boden gehören zu den Gütern, die nicht
vermehrt werden können und aufgrund ihrer Knappheit zu den wertvollsten Gütern überhaupt zählen.
Dem Eigentum an einem Grundstück kommt daher
eine besondere Bedeutung zu - und natürlich auch den
Grundbuchämtern. Denn in den Grundbüchern
werden die Rechtsverhältnisse eines Grundstücks zuverlässig und verbindlich festgehalten. Jeden Tag
wechseln Grundstücke ihre Eigentümerinnen und Eigentümer. Erst mit der Eintragung ins Grundbuch aber
geht ein Grundstück in das Eigentum über. Deshalb ist
es wichtig, dass wir moderne, zuverlässige und effiziente Grundbuchämter haben.
Abweichend von den anderen Bundesländern
werden die Grundbuchämter in Baden-Württemberg
überwiegend bei den Kommunen geführt. BadenWürttemberg hat sich nun dazu entschlossen, die
Grundbuchverwaltung zu modernisieren. Infolge der
Grundbuchamtsreform wird nun die Grundbuchführung den 13 zentralen Amtsgerichten zugewiesen und
soll ausschließlich von Rechtspflegerinnen und
Rechtspflegern vorgenommen werden. So wird die
Struktur des Grundbuchrechts derjenigen im übrigen
Bundesgebiet angeglichen. Wir begrüßen diese Vereinheitlichung der Grundbuchamtsführung in Deutschland.
Heute ist ein guter Tag für die Grundbuchämter in
Baden-Württemberg; denn mit der Grundbuchamtsreform sichert Baden-Württemberg die hohe Qualität
des Grundbuchwesens. Hierfür ist es auch wichtig, den
Sachverstand der Menschen, die bisher in den kommunalen Grundbuchämtern arbeiten, nicht zu verlieren.
In den badischen Grundbuchämtern arbeiten Beamtinnen und Beamte im mittleren Dienst, sogenannte
Beschlussfertiger. Diese sollen nach einer Weiterbildung - der Gesetzentwurf in der Ausschussfassung
sieht dafür acht Monate vor - als Beamtinnen und
Beamte im Landesdienst die Aufgaben von Rechtspflegerinnen und Rechtspflegern im Grundbuchamt
wahrnehmen. Es ist richtig, dass das Land BadenWürttemberg den bisherigen Beschlussfertigern eine
weitere Perspektive in den Grundbuchämtern gibt und
dadurch weiterhin auf diesen Sachverstand zurückgreifen kann.
Die Debatten, die wir hier im Bundestag geführt haben, drehten sich weitestgehend um die Frage der
Länge der Ausbildungsdauer. Die Landesregierung
hatte hierfür ursprünglich drei Monate vorgesehen.
Diese Ausbildungsdauer möchte der Bundestag nun
auf mindestens acht Monate erweitern. Dadurch
können in den Lehrgang auch praktische Elemente der
Tätigkeit berücksichtigt werden. Wir unterstützen es,
dass den Beschlussfertigern so Einblick in die praktische Tätigkeit von Rechtspflegerinnen und Rechtspflegern im Grundbuchamt gegeben werden kann.
Gerne hätten wir daher diesem Gesetzentwurf heute
zugestimmt. Wieder einmal aber nutzt die Große
Koalition das sogenannte Omnibusverfahren, um an
einen Gesetzentwurf sachfremde Themen anzuhängen.
Dies ist ein ungeheuerlicher Vorgang, da das Grundbuchwesen in Baden-Württemberg, die Zivilprozessordnung und das Wohneigentumsgesetz nichts miteinander zu tun haben. Dieses Verfahren finden wir
hochproblematisch. Die Große Koalition beeinträchtigt hierdurch die Transparenz des Gesetzgebungsprozesses erheblich. Nach dem EEG-Chaos ist es jetzt
schon das zweite Mal in diesem Jahr, dass Union und
SPD im Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
dieses Verfahren anwenden. Sie wollen mit ihrem
Änderungsantrag erreichen, dass die bisher bis zum
31. Dezember 2014 befristete Regelung in § 26 Nummer 8 EGZPO, wonach die Nichtzulässigkeitsbeschwerde beim Bundesgerichtshof gegen eine
Revision nur zulässig ist, wenn die Beschwerde 20 000
Euro übersteigt um zwei Jahre verlängert wird. Wir
halten diese Regelung für falsch. Der Zugang zur Justiz sollte nicht unnötig erschwert werden. Deshalb lehnen wir auch die vorgeschlagene Verlängerung um
zwei weitere Jahre ab. Aus demselben Grund lehnen
wir auch die Verlängerung der Geltung des § 62 Absatz 2 WEG um ein weiteres Jahr ab.
Aufgrund der nicht hinnehmbaren Verquickung von
Zivilprozessordnung und Wohneigentumsgesetz mit
Zu Protokoll gegebene Reden
Christian Kühn ({0})
dem Gesetz zur Erleichterung der Grundbuchamtsreform in Baden-Württemberg werden wir dieses Gesetz
heute ablehnen. Die Abgeordneten der Großen Koalition haben die Chance verspielt, eine breite Mehrheit
für die Grundbuchamtsreform im Plenum zu ermöglichen.
Ihnen liegt heute der Entwurf eines Gesetzes zur Erleichterung der Umsetzung der Grundbuchamtsreform
in Baden-Württemberg vor. In Baden-Württemberg
werden mit der Grundbuchamtsreform landesrechtliche Besonderheiten beseitigt und die gerichtlichen
Strukturen im Grundbuchbereich denen im übrigen
Bundesgebiet angeglichen. Die Grundbuchführung
wird demnach bis zum 1. Januar 2018 schrittweise auf
die Grundbuchabteilungen von landesweit 13 Amtsgerichten übertragen. Mit der Auflösung der 654 bisherigen dezentralen Grundbuchämter entfallen auch die
spezifischen Aufgaben der Ratsschreiber und Beschlussfertiger. Sie bereiteten bisher Grundbuchsachen bis
zur Entscheidungsreife vor. Ratsschreiber beurkunden
zudem selbstständig in bestimmten Konstellationen
Verträge, Bewilligungen und Auflassungen. Mit dem
Gesetzentwurf wird die Weiternutzung des grundbuchrechtlichen Fachwissens der Ratschreiber und Beschlussfertiger gewährleistet.
Den Ratsschreibern und Beschlussfertigern wird die
Möglichkeit eröffnet, Aufgaben eines Rechtspflegers in
Grundbuchsachen wahrzunehmen - jedoch, um die
hohe fachliche Qualität der Tätigkeit des Rechtspflegers in Grundbuchsachen zu sichern, nur unter bestimmten Voraussetzungen.
Die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses
sieht hierbei die Erhöhung der im ursprünglichen Gesetzentwurf vorgesehenen Dauer der Fortbildung für
Beschlussfertiger von drei auf acht Monate vor. Dies
dient der weiteren Qualitätssicherung der anspruchsvollen Sachbearbeitung im Grundbuchbereich.
Ich bin mir sicher: Die bisherigen Ratsschreiber
und Beschlussfertiger werden, unterstützt durch diese
Maßnahmen, ihrer neuen Verantwortung gerecht werden und die ihnen neu zuwachsende Tätigkeit kompetent erledigen.
Darüber hinaus sind in der Beschlussempfehlung
zwei Maßnahmen enthalten, mit denen auf eine akute
Belastungssituation beim Bundesgerichtshof reagiert
werden soll.
Mit der ersten Maßnahme wollen wir die geltende
Streitwertgrenze in Höhe von 20 000 Euro für Nichtzulassungsbeschwerden in Zivilverfahren zum Bundesgerichtshof um weitere zwei Jahre bis Ende 2016 verlängern. Die Wertgrenze für Nichtzulassungsbeschwerden
hat sich grundsätzlich bewährt. Ohne sie wäre es
schon längst zu einer nicht mehr tragbaren Belastung
des Bundesgerichtshofs gekommen. Sie muss deshalb
auch über das Jahr 2014 hinaus fortgelten. In den letzten drei Jahren ist die Zahl der beim Bundesgerichtshof eingelegten Nichtzulassungsbeschwerden erheblich gestiegen. Grund dafür ist die Änderung des § 522
der Zivilprozessordnung im November 2011. Seitdem
sind nicht nur die Urteile, sondern auch die Zurückweisungsbeschlüsse der Berufungsgerichte mit der
Nichtzulassungsbeschwerde anfechtbar. Das soll auch
so bleiben, führt aber zu einer schwierigen Belastungssituation bei den Zivilsenaten des Bundesgerichtshofs.
Deshalb muss die Höhe der Wertgrenze weiter überprüft werden, sodass eine Verlängerung der Geltung
um zwei Jahre sinnvoll erscheint. Wir werden dann sehen, ob sich die Eingangszahlen auf ein konstantes
Maß eingependelt haben.
Wir nehmen aber die aktuelle Belastung des Bundesgerichtshofs sehr ernst und suchen - zusammen mit
dem BGH - nach Lösungen. Das gestaltet sich nicht
einfach und benötigt Zeit.
Die geschilderte Belastungssituation beim Bundesgerichtshof ist auch der Anlass für eine weitere Änderung des Gesetzentwurfs: Wir wollen die Frist, bis zu
deren Ablauf die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in Wohnungseigentumssachen ausgeschlossen ist, um ein Jahr bis zum 31. Dezember
2015 verlängern. Die Eingangsentwicklung in Wohnungseigentumssachen bei den Berufungsgerichten
steigt seit der WEG-Reform im Jahr 2007 stetig. Für
die Zulassung der Nichtzulassungsbeschwerde soll abgewartet werden, auf welchem Niveau sich die Zahlen
stabilisieren. Auf einer soliden Datenbasis soll dann
entschieden werden, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen auch für diese Streitigkeiten die
Nichtzulassungsbeschwerde zum Bundesgerichtshof
eröffnet werden kann. Ich bitte Sie daher um Ihre Zustimmung.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Recht und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/2644, den Gesetzentwurf des Bundesrats auf Drucksache 18/70 in der
Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist
damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die
Grünen und Die Linke angenommen.
Wir kommen jetzt zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Niemand enthält sich. Damit ist
dieser Gesetzentwurf in dritter Lesung mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Linken
und von Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Vizepräsident Johannes Singhammer
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes
zur Änderung des Bundesfernstraßenmautgesetzes
Drucksache 18/2444
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur ({0})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Haushaltsauschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Weil ich
keinen Widerspruch höre, ist das damit auch so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort für
die Bundesregierung der Parlamentarischen Staatssekretärin Katherina Reiche.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Seit 2005 wird auf deutschen Autobahnen und seit
2012 zusätzlich auf bestimmten vier- und mehrstreifigen
Bundesstraßen eine Maut für Lkw ab 12 Tonnen zulässigem Gesamtgewicht erhoben. Das geschieht ohne Eingriff in den Verkehrsfluss und weitgehend vollautomatisch durch die intelligente Kombination aus Satelliten,
Navigation und Mobilfunk.
Die Lkw-Maut leistet einen wichtigen Beitrag zum
Ausbau und zum Erhalt unserer Verkehrsinfrastruktur.
Gemäß dem Bundesfernstraßenmautgesetz werden die
Einnahmen dem Verkehrshaushalt zugeführt. Sie werden
in vollem Umfang zweckgebunden für die Verbesserung
der Verkehrsinfrastruktur verwendet.
Die EU-Mitgliedstaaten müssen bei der Erhebung der
Maut die Vorgaben der Eurovignetten-Richtlinie beachten. Danach müssen sich die gewogenen durchschnittlichen Infrastrukturgebühren an den Baukosten und an
den Kosten für Betrieb, Instandhaltung und Ausbau des
betreffenden Verkehrsweges orientieren. Die jeweils geltenden Mautsätze werden durch wissenschaftlich fundierte Wegekostengutachten ermittelt. Bislang gab es
zwei, und zwar 2002 und 2007. Das neue Wegekostengutachten haben wir im März 2014 vorgestellt. Es deckt
den Zeitraum von 2013 bis 2017 ab.
Nun liegt der Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung des Bundesfernstraßenmautgesetzes vor. Die
geltenden Mautsätze müssen an die Ergebnisse des Wegekostengutachtens 2013 angepasst werden. Daraus ergeben sich nun zukünftig geringere Mautsätze. Warum?
Die gegenüber der Erstellung des vorherigen Wegekostengutachtens deutlich gesunkenen Zinskosten sind hier
die wesentliche Ursache. Das ist ein Vorteil für den
Bund, und dieser Vorteil muss an die Nutzer weitergegeben werden.
Das Wegekostengutachten 2013 dient auch als Grundlage für eine günstigere Mautkategorie für die besonders
schadstoffarmen Lkw der Euro-VI-Klasse. Zudem enthält es auch Berechnungen zu den externen Kosten aus
Luftverschmutzung und Lärmbelastung, die seit einer
Änderung der Eurovignetten-Richtlinie aus dem Jahr
2011 zusätzlich angelastet werden können. Zunächst
sollen nur die Kosten für die Luftverschmutzung angelastet werden. Die Anlastung aus der Lärmbelastung
wird später kommen, weil die Grundlagendaten hierzu
ganz neu erhoben werden müssen.
Durch die neuen Mautsätze ergeben sich im Zeitraum
2015 bis 2017 Mindereinnahmen gegenüber dem ursprünglichen Finanzplan 2014 bis 2018 von insgesamt
460 Millionen Euro. Diese Einnahmelücke muss geschlossen werden, um die notwendige Finanzierung der
Verkehrsinfrastruktur auch in Zukunft sicherzustellen.
Was ist hier geplant? Hierzu soll zum 1. Juli 2015 die
Mautpflicht auf weitere circa 1 100 Kilometer vierstreifige Bundesstraßen ausgeweitet werden. Auch soll die
Mautpflichtgrenze von 12 Tonnen auf 7,5 Tonnen zulässiges Gesamtgewicht abgesenkt werden. Diese Maßnahmen sind, wie Sie wissen, noch nicht Gegenstand des
vorliegenden Gesetzentwurfs. Sie werden später in einem separaten Gesetz umgesetzt.
Eine der großen Aufgaben in dieser Legislaturperiode
wird es sein, eine leistungsfähige Infrastruktur in unserem Land sicherzustellen. Wir wollen und müssen dafür
sorgen, dass der Finanzierungskreislauf Straße auch in
Zukunft funktioniert. Deshalb bitte ich Sie um Zustimmung.
({0})
Der Kollege Herbert Behrens spricht jetzt für die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Womit
lange nicht zu rechnen war, wird nun unversehens doch
wahr: Ein Jahr nach der letzten Bundestagswahl legt der
Bundesverkehrsminister einen Gesetzentwurf zur Maut
vor. Dass es sich dabei aber nicht um das Lieblingsprojekt der CSU, nämlich die Ausländermaut handelt, lasse
ich einfach einmal beiseite. Angesichts des Stillstandes
im Hause des Bundesverkehrsministers ist es schon erstaunlich, dass hier etwas passiert.
({0})
Dieser Stillstand lässt sich nur noch dadurch überdecken, dass es ein Dauerfeuer in Sachen Pkw-Maut gibt,
mit dem versucht wird, den Stillstand zu kaschieren.
Aber genug der Vorrede.
Ich will jetzt nicht in den Kanon der Kritiker einstimmen, die die starke Abhängigkeit der Wegekosten, über
die wir hier reden, vom Zinsniveau anprangern. Ich will
Ihnen auch nicht vorhalten, dass die EU-Wegekostenrichtlinie die Berücksichtigung einer Kapitalverzinsung
nicht zwingend vorschreibt; das können die Kolleginnen
und Kollegen der Grünen sicherlich besser. Eine solche
Herangehensweise wäre zum einen unpolitisch; denn sie
ließe die Gründe für das niedrige Zinsniveau bzw. die
verzweifelt lockere Geldpolitik der EZB völlig außer
Acht. Zum anderen sollte man sich insbesondere aus der
ökologischen Perspektive nicht allzu unkritisch auf die
Wegekostenrichtlinie beziehen; denn diese ist bei näherer Betrachtung eigentlich eine Wegekostenbegrenzungsrichtlinie.
Was ich dem Verkehrsminister und auch seinem
Amtsvorgänger und Parteifreund oder, besser gesagt,
seinem Parteikollegen Peter Ramsauer ankreide, ist, dass
beide nichts unternommen haben, um die Lkw-Maut zu
einem echten verkehrs- und umweltpolitischen Instrument zu machen. Seit Jahren liegen Vorschläge auf dem
Tisch, wie man die externen Kosten des Straßenverkehrs
in den Wegekosten abbilden kann. Passiert ist jedoch
wenig.
Die neuen Mautsätze enthalten eine emissionsbezogene Umweltkomponente, aber wenn wir ehrlich sind,
müssen wir feststellen, dass der damit verbundene finanzielle Anreiz nicht groß genug ist, um mehr Verkehr von
der Straße auf die Schiene zu verlagern. Genau das ist
das erklärte Ziel der EU und auch der Bundesregierung,
zumindest wenn man die Sonntagsreden hört und die
Hochglanzbroschüren liest.
Noch schlechter ist es um die Lärmkosten bestellt.
Hier ist in den letzten Jahren rein gar nichts passiert, obwohl klar ist, dass der Straßenverkehrslärm eines der
größten Gesundheitsrisiken ist. Das haben wir schon an
anderer Stelle diskutiert.
Es ist schon eine Farce, dass die Bundesregierung im
Gesetzentwurf behauptet, dass - ich zitiere - „die technischen Voraussetzungen für eine Anlastung der Lärmbelastungskosten nur mit einem größeren zeitlichen
Vorlauf geschaffen werden können“. Das ist keine Frage
der Technik. Sie differenzieren doch selber, welcher
Fahrzeugklasse beispielsweise welcher Anteil an den
Kosten für Lärmschutzwände zuzuschreiben ist. Warum
ziehen Sie das nicht heran, um eine Anlastung der Lärmbelastungskosten auf den Weg zu bringen?
({1})
Sie tun das deshalb nicht, weil dann klar werden würde,
wie teuer uns der Straßengüterverkehr wirklich zu stehen
kommt.
Beim Thema Lkw-Maut hat die Bundesregierung in
den letzten Jahren völlig versagt. Heute wird in den Medien gemeldet: Der Vertrag mit Toll Collect wird verlängert. Das ist nichts anderes als eine Kapitulation vor den
Gesellschaftern von Toll Collect, die es in den letzten
Jahren gut verstanden haben, durch das Verschleppen
des Schiedsverfahrens dem Bund jeglichen Handlungsspielraum zu nehmen. Es sollte hier allen klar sein, dass
Toll Collect den Bund mit Milliardensummen aus dem
Schiedsverfahren erpresst hat. Beim Ziehen der Call-Option hätte man sie abschreiben müssen. Mit einem solchen Vertragspartner würde ich keine Geschäfte machen.
({2})
Aber in Zeiten von PPP-Knebelverträgen wie dem mit
Toll Collect kann man sich das wohl nicht mehr anders
aussuchen.
Dass die Bundesregierung durch die Vertragsverlängerung das selbstgesteckte Ziel der Ausweitung der
Maut auf alle Bundesstraßen aufgibt, zeigt deutlich, wer
in Sachen Lkw-Maut die Hosen anhat. Der Bund ist es
jedenfalls nicht.
Der Verkehrsminister wäre gut beraten, jetzt sofort
die Call-Option zu ziehen und ein Lkw-Mautsystem
nach Schweizer Vorbild zu installieren. Okay, das lässt
das EU-Recht heute noch nicht zu.
({3})
Aber das nimmt man an anderer Stelle ja auch nicht ganz
so ernst. Das Schweizer Modell würde jedenfalls zumindest deutlich mehr Mittel für die maroden Verkehrswege
bringen. Ihre Hochglanzbroschüren wären dann nicht
mehr nur heiße Luft, und vor allem könnte der Verkehrsminister endlich die Ausländermaut begraben; sie würde
ihn nicht mehr um den Schlaf bringen
({4})
und vielleicht auch nicht um den Ministersessel.
({5})
Für die Sozialdemokraten spricht jetzt der Kollege
Sebastian Hartmann.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Wir begrüßen die Vorlage des Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Bundesfernstraßenmautgesetzes, und wir begrüßen insbesondere, dass der Entwurf es uns ermöglicht, den schon seit
einiger Zeit gesetzten europäischen Rahmen weiter als
bisher auszuschöpfen.
Wesentlicher Inhalt des Gesetzentwurfs ist zweifelsohne, dass es zu einer Absenkung der Mautsätze für Lkw
aufgrund des neuen Wegekostengutachtens für die Jahre
2013 bis 2017 kommt. Das ist aber noch nicht alles.
Kompensiert werden die daraus entstehenden Einnahmeausfälle teilweise durch die erstmalige Anrechnung der
Kosten aus der Luftverschmutzung, die infolge der europarechtlichen Änderungen möglich wurde. Denn ein wesentlicher Teil der Systematik der Mauterhebung beruht
bekanntlich auf der genauen Abbildung des langsamen
Verschleißes von Infrastruktur durch Benutzung, also einem Verursachungsprinzip: Wer fährt, verschleißt Straßen und Wege. Ebenso bekannt ist, dass der Lkw dies
viel stärker tut als der Pkw.
Doch jenseits dieser Feststellung zählen tatsächlich
auch ökologische Argumente. Es ist nicht zu bestreiten,
dass vom motorisierten Verkehr auf den Straßen eine erhebliche Belastung nicht nur der Straßen selbst, sondern
auch der Umwelt ausgeht. Dazu gehören die Abgase und
Feinstaube. Dazu gehört ebenfalls - wie bei Schiene und
Luftverkehr - der Lärm, der den Anwohnern in der unmittelbaren Umgebung unserer Straßen teilweise schwer
zu schaffen macht. Das bestreitet niemand.
Der notwendigen Anlastung von Immissionen aus
Schadstoffen kommt in diesem Fall zu Hilfe, dass nach
der EU-Richtlinie - die muss man im Zweifel genau lesen - nur zwischen den innerörtlichen Straßen und den
Fernstraßen entsprechend differenziert wird, aber ansonsten eine schlichte Berechnung der Gesamtmenge anhand der eingebrachten Schadstoffe ausreicht, um sie
den Wegekosten anzulasten. Eben das steht da drin.
Die Richtlinie setzt aber in der Tat eine Obergrenze
für die anlastbaren Kosten. Wir bemängeln auch, dass
laut Gutachten - das ist da genau nachzulesen - die tatsächlichen Kosten nur zu 13 Prozent anzulasten sind.
Wir glauben, dass wir an der Stelle die europäische
Richtlinie noch weiterentwickeln müssen, damit wir
zukünftig die tatsächlichen Kosten einfließen lassen
können.
({0})
Dieser Wert springt nun tatsächlich auf das Dreifache,
weil eine weitere Schadstoffklasse einbezogen werden
kann. Das ist gewollt und auch notwendig, damit zukünftig immer weniger Fahrzeuge unsere Umwelt durch
entsprechende Luftschadstoffe belasten. Das ist das politische Ziel, das wir verfolgen. Aber wir sagen auch in aller Klarheit - damit gehe ich auf die Kritikpunkte ein -,
dass wir den Rechtsrahmen erweitern müssen. Wir wollen diesen Rechtsrahmen ausnutzen und ihn erweitern,
wenn es um die Luftbelastung geht.
Was ist heute schon möglich? Die Einbeziehung von
Kosten aus Lärmbelastung! Im Wegekostengutachten
steht allerdings ebenso deutlich drin - das weiß man,
wenn man es gelesen hat -, dass wir mit den bisher erhobenen Daten die Belastungen durch Lärm eben nicht abbilden können, was wir zukünftig aber tun wollen. Daher
kann das im vorliegenden Gesetzentwurf noch nicht abgebildet werden. Unsere Forderung ist - der Minister
kennt sie ja -, den gegebenen europäischen Rahmen zukünftig dauerhaft auszuschöpfen, auch was den Lärm
angeht. Aber dazu müssen im neuen Wegekostengutachten genauere Daten erhoben werden: Auf einem Raster
von 100 mal 100 Metern ist genau nachzuprüfen, welcher Lärm an welcher Stelle entsteht. Dann geht das, was
Sie, liebe Kollegen von der Linken, wollen, tatsächlich
und nicht nur theoretisch bzw. in einer Rede hier am
Pult. Das wird zukünftig also der Fall sein. Das garantiere ich Ihnen.
({1})
Die Anlastung der Wegekosten, die tatsächlich entstehen, wird nicht nur mehr Einnahmen garantieren, sondern
auch dafür sorgen, dass die Umwelt stärker geschützt wird
und auch die Anwohnerinnen und Anwohner vor mehr
Lärm stärker geschützt werden. Mehr wollen wir an dieser Stelle auch nicht erreichen.
Da wir schon bei den Ausblicken sind: Natürlich
muss man auf der europäischen Ebene über einen Punkt
genau nachdenken. Wenn wir tatsächliche Wegekosten
abbilden und dauerhafte Einnahmen für die Finanzierung unserer Infrastruktur erzielen wollen, sollten wir
uns Gedanken darüber machen, ob wir das von einem
Zinsniveau abhängig machen müssen. Wir wollen eine
verkehrsmengenabhängige Einnahme mit der Maut erzielen. Aber wir erleben auch, dass diese zum Teil wegen der Anrechnung der Zinskosten auf die Baukosten
bzw. das Anlagevermögen auch anderen Steuerungseffekten unterliegt. Zu entsprechenden Verzerrungen
wird es sowohl in Niedrigzinsphasen als auch in Hochzinsphasen kommen. Deswegen würden wir es begrüßen, dass man das europäische Rechtsregime an dieser
Stelle weiterentwickelt, damit dauerhaft ein kalkulierbarer Beitrag zur Finanzierung der deutschen Infrastruktur
geleistet wird, ohne das Speditionsgewerbe überzubelasten.
({2})
Bleiben wir beim Ausblick. In der Weiterentwicklung
der Maut werden wir darauf zu achten haben, dass alle
Kostenfaktoren nach dem Verursacherprinzip angelastet
werden können. Den Hinweis auf die entsprechende
europäische Rahmenrichtlinie habe ich bereits gegeben.
Aber ebenso wird entscheidend sein, zukünftig die
Einbeziehung der Lkw zwischen 7,5 und 12 Tonnen zu
ermöglichen und auch die Ausweitung auf 1 100 Kilometer zusätzliche Bundesstraßen - wie im Koalitionsvertrag vereinbart - tatsächlich zu erreichen.
({3})
Diese Aussage, die man auch dem Koalitionsvertrag unschwer entnehmen kann, möchte ich, da sie angesprochen wurde, nicht so einfach im Raum stehen lassen.
Uns ist die rechtlich sehr diffizile Situation angesichts
der vertraglichen Beziehungen zu Toll Collect und des
bevorstehenden Auslaufens des Vertrages sehr bewusst.
Den Betreibervertrag jedoch einfach zu verlängern,
schafft nicht zwangsläufig die gewünschte Klarheit, sondern möglicherweise auch neue Verunsicherung.
({4})
Denn wir riskieren damit möglicherweise, dass durch
Klagen abgewiesener Wettbewerber die Erzielung der
dringend benötigten zusätzlichen Einnahmen aus der erweiterten Mauterhebung verzögert wird.
({5})
Das bestreitet doch niemand. Wir haben im Koalitionsvertrag die Ausdehnung auf alle Bundesstraßen vereinbart. Das sollte nicht dadurch gefährdet werden, dass wir
unnötigerweise zumindest kurzfristig auf das Ziehen der
Call-Option verzichten. Wir wollen doch die InfrastrukSebastian Hartmann
tur dauerhaft durch einen angemessenen Nutzerbeitrag
finanzieren.
Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren, für die
Aufmerksamkeit.
({6})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Valerie Wilms,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich
freue mich tatsächlich, heute hier in diesem Plenarsaal
über ein neues Mautgesetzt sprechen zu können. Ganz
sicher kann man sich da ja nicht immer sein. Die Koalition sitzt Debatten in letzter Zeit auch gerne aus.
Erst gestern haben die Damen und Herren der Koalition dafür gesorgt, dass der Verkehrsausschuss mundtot
gemacht wurde. Mit ihrer Mehrheit haben sie eine Debatte mit Fachleuten über die unsägliche CSU-Maut, das
Dobrindt’sche Pickerl,
({0})
verhindert, obwohl sie die Anhörung vorher selbst mitbeschlossen haben.
({1})
Die Koalition weiß, warum: Die CSU-Maut wird einer
fachlichen Prüfung nicht standhalten.
({2})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, nun zur LkwMaut. Sie soll durch den eingebrachten Gesetzentwurf
gesenkt werden. Das ist eine völlig verkehrte Welt. Seit
Jahren beschäftigen sich Kommissionen mit fehlenden
Mitteln zum Erhalt der Verkehrswege. Die Infrastruktur
als Basis unseres Wohlstands bröckelt weg. Lkw sind für
98 Prozent der Straßenschäden verantwortlich. Sie verschleißen die Verkehrswege etwa 60 000-mal stärker als
Pkw. Man muss sich auf der Zunge zergehen lassen, was
dieser Verkehrsminister anrichtet.
({3})
Während Straßen und Brücken wegbröckeln, sollen die
Hauptverursacher weniger zahlen. Das ist völlig absurde
Politik.
({4})
Sie machen die Probleme größer, statt sie zu lösen. Der
Verkehrsminister macht es sich einfach, wenn er mit
dem Finger auf Europa zeigt. Der Sinn der europäischen
Richtlinie ist Kostenwahrheit. Nutzer von Verkehrswegen sollen für die Schäden zahlen, die sie verursachen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie Ihr Auto
verleihen und es anschließend mit einer Beule zurückbekommen, dann holen Sie sich doch die Kosten für die
Schadensbeseitigung sicherlich vom Verursacher. Das ist
ganz simpel und für jeden nachvollziehbar. Aber leider
halten wir uns nicht daran, wenn es um öffentliches Eigentum geht. Als Eigentümer stellt die öffentliche Hand
ein Verkehrsnetz zur Verfügung, und sie bezahlt auch
noch dafür, wenn es kaputtgefahren wurde. Das kann
nicht funktionieren, hier muss sich etwas ändern, und
zwar dringend.
({5})
Der Straßenverkehr verursacht durch Unfälle, Lärm,
Luftverschmutzung und Klimawandel Schäden von etwa
88 Milliarden Euro pro Jahr. Diese Kosten werden zum
größten Teil - auch Kollege Hartmann ist schon darauf
eingegangen - nicht von den Verursachern, sondern von
der gesamten Gesellschaft getragen. Das können wir
nicht weiter so hinnehmen.
({6})
Leider geht die Koalition mit dem vorliegenden Gesetz genau den entgegengesetzten Weg. Es verursacht
höhere Kosten für die Allgemeinheit, und es schadet der
Umwelt und dem Klimaschutz, weil der klimaschädlichste Verkehrsträger billiger wird.
({7})
Dabei gibt es auch einen anderen Weg. Die EU-Richtlinie erlaubt ausdrücklich, einen Teil der externen Kosten bei der Mauthöhe zu berücksichtigen. Das ist seit
2011, seit der letzten Wahlperiode, möglich. Aber auch
drei Jahre danach fehlen im Verkehrsministerium noch
immer die technischen Voraussetzungen zur Einbeziehung der Lärmkosten. Man muss es sagen, wie es ist:
Das Ministerium unter CSU-Führung macht einfach seinen Job nicht.
({8})
Es hat erstens bei der Berücksichtigung der Lärmkosten
innerhalb der Lkw-Maut gepennt, und es hat zweitens
bei der Verlängerung des Vertrages mit dem Mauteintreiber Toll Collect gepennt. Im Ergebnis heißt das: Die
Lkw-Maut muss sinken und kann auf absehbare Zeit
nicht auf alle Bundesstraßen ausgeweitet werden. Es ist
eine katastrophale Politik, die Sie hier zeigen.
({9})
Insgesamt gehen uns damit jährlich über 2 Milliarden
Euro verloren. Das ist die Verantwortung der CSUMinister Ramsauer und jetzt Dobrindt. Stattdessen reden
Sie seit Jahren von einer Pkw-Maut für Ausländer, die
nicht funktionieren wird und kein Geld einbringt. Sie
schaffen neue Probleme, statt bestehende zu lösen. Das
ist leider die bittere Wahrheit.
Danke.
({10})
Abschließender Redner in dieser Debatte ist der Kollege Karl Holmeier, CDU/CSU.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Frau Wilms, ich weiß nicht, ob das eine Märchenstunde
war. Ich will Ihnen aber sagen: Wir hatten einen guten
Verkehrsminister Ramsauer,
({0})
haben einen guten Verkehrsminister Dobrindt,
({1})
und wir machen eine gute Verkehrspolitik.
({2})
Wenn man sich die Misere anschaut und fragt, warum
wir zu wenig Geld haben, dann muss man zehn Jahre zurückgehen. Als die Maut eingeführt wurde, hat man die
Haushaltsmittel reduziert. Das war die Ursache, und daran knabbern wir noch.
({3})
- Wir nicht!
Im März dieses Jahres wurde das neue Wegekostengutachten zur Berechnung der Lkw-Mautsätze vorgelegt.
Aufgrund gesunkener Zinskosten müssen die LkwMautsätze im Vergleich zum Vorgängergutachten aus
dem Jahr 2007 reduziert werden. Wir werden das umsetzen. An dieser Reduzierung führt kein Weg vorbei.
Nach den vorliegenden Berechnungen werden durch
die Reduzierung der Mautsätze und nach der aktuellen
Gesetzeslage bis zum Jahr 2017 etwa 2 Milliarden Euro
fehlen. Wir haben diese 2 Milliarden Euro natürlich eingeplant. Wir werden das, was wir als Koalition im Bereich der Verkehrsinfrastruktur versprochen haben, auch
umsetzen.
Blicken wir zurück: Im Jahr 2003 waren es noch
4,65 Milliarden Euro Investitionsmittel für den Bereich
Straße. Im Jahr 2017 werden es 6,06 Milliarden Euro
sein. Frau Wilms, das ist eine gewaltige Steigerung.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir stehen
zu den Ansprüchen, die wir selbst an unsere hervorragende Verkehrspolitik haben.
({4})
Es freut mich sehr - ich danke dem Finanzministerium -,
dass nach Bekanntwerden der Mindereinnahmen bei der
Lkw-Maut der Bundesfinanzminister sofort zugesagt
hat: Diese Lücke werden wir aus dem Haushalt schließen. - Das ist eine ressortübergreifende hervorragende
Infrastrukturpolitik.
({5})
Das neue Wegekostengutachten wird uns verkehrspolitisch nicht ausbremsen. Der Koalitionsvertrag ist
gut, und wir werden ihn einhalten.
({6})
Wir halten ohne Wenn und Aber an den zugesagten
5 Milliarden Euro mehr für Investitionen in die öffentliche Verkehrsinfrastruktur in dieser Wahlperiode fest. Ich
wiederhole: 5 Milliarden Euro zusätzlich für vier Jahre.
({7})
Man könnte sich natürlich mehr wünschen, aber diese
5 Milliarden Euro sind ein riesiger Erfolg, ein Erfolg im
Hinblick auf die Investitionen.
Ein Erfolg ist auch der Haushalt 2015, der nach 1969
- denken Sie zurück! - erstmals ein Haushalt ohne neue
Schulden ist. Wer war das damals? Ein Mann von der
CSU: Franz Josef Strauß.
({8})
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf nehmen wir die
Ergebnisse des Wegekostengutachtens auf. Wir entwickeln die Lkw-Maut zukunftsfest und vor allem ökologisch weiter. Bislang haben wir in Deutschland bei der
Berechnung der Lkw-Maut lediglich die allgemeinen Infrastrukturkosten angelastet. Wir reformieren die LkwMaut im Einklang mit dem europäischen Recht. Nach
dem Gesetzentwurf werden wir dem Schwerlastverkehr
die durch ihn verursachte Luftverschmutzung anlasten.
Neben einer ökologischen Lenkungswirkung, nämlich
hin zu verbrauchsärmeren Lkw, hat die Anlastung der
Luftverschmutzung auch Mehreinnahmen zur Folge. So
können wir die Mindereinnahmen bei der Lkw-Maut
teilweise ausgleichen.
Auch das wurde bereits angesprochen: Wir haben in
der Finanzplanung 460 Millionen Euro zusätzliche Einnahmen vorgesehen. Bis zum Jahr 2017 wird sich das
auf insgesamt 1,08 Milliarden Euro erhöhen.
Wir stärken den Umweltfaktor beim Lkw-Verkehr, indem wir eine eigene günstige Mautklasse für besonders
umweltfreundliche Fahrzeuge einführen - das ist Umweltpolitik -, und zwar für die Euro-6-Klasse.
({9})
So schaffen wir Anreize für unsere Speditionen, in einen
modernen verbrauchsarmen Fuhrpark zu investieren.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf kommt die
Bundesregierung auch den Forderungen des TransportKarl Holmeier
gewerbes und der Handwerkerschaft im ländlichen Bereich nach. Das aktuelle Wegekostengutachten sah für
Bundesstraßen höhere Mautsätze vor als für Autobahnen. Das, meine sehr verehrten Damen und Herren, haben wir im Gesetzentwurf nicht übernommen. Die Mautsätze auf Autobahnen und Bundesstraßen werden somit
die gleiche Höhe haben. Gerade das ist für den ländlichen Raum von großer Bedeutung.
Weitere Termine stehen an. Wir beabsichtigen, ab
dem 1. Juli 2015 die Mautpflicht auf weitere 1 000 Kilometer autobahnähnliche Bundesstraßen auszuweiten. So
können bis 2017 Mehreinnahmen von rund 500 Millionen Euro erzielt werden.
Schließlich planen wir, die Grenze, ab der die LkwMaut zu zahlen ist, zum 1. Oktober 2015 von 12 Tonnen
auf 7,5 Tonnen zu senken. Die erwarteten Mehreinnahmen belaufen sich bis 2017 auf circa 200 Millionen
Euro.
Zum 1. Juli 2018 wird, wie es im Koalitionsvertrag
steht, die Mautpflicht für Lkw auf alle Bundesstraßen in
Deutschland ausgeweitet.
Ich stelle fest - Frau Wilms, passen Sie auf -: Unser
Verkehrsminister und die Große Koalition haben die
nachhaltige Entwicklung einer ökologischen Lkw-Maut
fest im Griff und auch im Blick. Wir werden die LkwMaut in Deutschland zukunftssicher weiterentwickeln.
Deshalb bitte ich um Ihre Zustimmung.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, verehrte
Frau Wilms, auch die Pkw-Vignette ist auf einem guten
Weg.
Vielen Dank.
({10})
Damit schließe ich die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/2444 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Weil
ich keine anderen Vorschläge dazu feststellen kann, gehe
ich davon aus, dass Sie alle einverstanden sind. Somit ist
die Überweisung beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes
zur Änderung des Mikrozensusgesetzes 2005
und des Bevölkerungsstatistikgesetzes
Drucksache 18/2141
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Nach meiner Information sollen die Reden dazu zu
Protokoll gegeben werden. - Dagegen erhebt sich kein
Widerspruch. Dann sind Sie damit einverstanden.
Franz Josef Strauß war bekannt für seinen scharfzüngigen Humor. Selbst die Statistiker waren vor seinen Sticheleien nicht sicher. So soll Strauß gespottet
haben: Wenn man den Kopf in der Sauna hat und die
Füße im Kühlschrank, sprechen Statistiker von einer
angenehmen mittleren Temperatur. - Dieses Zitat
zeugt nicht nur von dem berüchtigten Humor des
Herrn Strauß, sondern auch von dem etwas ambivalenten Verhältnis, das die Politik gegenüber der Statistik pflegt.
Einerseits wird die Statistik gerne belächelt. Nur
wenige interessieren sich dafür, wie unsere Statistiken
entstehen. Andererseits berufen gerade wir Politiker
uns ständig auf alle möglichen Statistiken. Statistische
Erkenntnisse helfen uns dabei, Probleme zu erkennen,
sie beeinflussen unseren Blick auf die Realität und untermauern unsere Argumente. Statistik spielt also eine
entscheidende und häufig unterschätzte Rolle im politischen Diskurs.
Angesichts des Einflusses, den gerade auch der
Mikrozensus auf die Politik hat, ist es zweifellos geboten, sich die Hintergründe dieser Statistik genauer
anzusehen. Seit 1957 liefert uns der Mikrozensus
Informationen über die Bevölkerungsstruktur, zur
wirtschaftlichen und sozialen Lage der Menschen, zu
Familie und Lebenspartnerschaft, Arbeitsmarkt und
Erwerbstätigkeit, Beruf und Ausbildung. Im Gegensatz
zum großen Zensus wird der Mikrozensus jedes Jahr
erhoben. Ein Prozent der Gesamtbevölkerung, also
rund 830 000 Personen in 370 000 Haushalten, werden dafür befragt.
Wer durch das Zufallsverfahren ausgewählt wurde,
ist gesetzlich zur Teilnahme über mehrere Jahre hinweg verpflichtet. Der Fragebogen des Mikrozensus
2014, der zugleich der Stichprobenerhebung über
Arbeitskräfte in Europa dient, umfasst immerhin
186 Fragen. Die Befragten müssen also in erheblichem Maße Zeit opfern. Das muss man berücksichtigen.
Mit der vorliegenden Gesetzesänderung werden
nun auch mehrmalige Befragungen einer Person innerhalb eines Jahres eingeführt. Diese sogenannten
unterjährigen Befragungen können einen nicht unerheblichen zeitlichen Mehraufwand für die Teilnehmer
bedeuten. Hintergrund dieser Neuerung sind anstehende Änderungen einer entsprechenden EU-Verordnung.
Ich begrüße es sehr, dass - parallel zum zeitlichen
Mehraufwand infolge der unterjährigen Befragungen darauf geachtet wird, die Gesamtbelastung für die
Teilnehmer zu reduzieren. Dazu soll vor allem der verstärkte Einsatz elektronischer Befragungselemente,
sprich Internet oder Telefon, dienen. Zudem sollen die
Befragten durch eine umfassende Reform der gesamten Haushaltserhebung entlastet werden. Wir müssen
nur darauf achten, dass die Entlastungen bei den Teilnehmern effektiv ankommen.
Zweifellos lohnt sich die Mühe aber. Der Mikrozensus wurde sukzessive verfeinert. Die Weiterentwicklung des Mikrozensus ist in gewisser Hinsicht ein Spiegelbild der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung in
Deutschland. Zum Beispiel unterschied der Mikrozensus bis 2005 lediglich zwischen Deutschen und Ausländern. Die Tatsache, dass inzwischen 20 Prozent der
deutschen Bevölkerung einen Migrationshintergrund
haben, fiel bis dato unter den Tisch. Gerade solche
Zahlen sind aber entscheidend, wenn über die Frage
diskutiert wird, ob Deutschland ein Einwanderungsland ist oder nicht. Manch einer in Deutschland stellt
diese Tatsache ja immer noch infrage.
Dank des modernen Mikrozensus können wir solche
Diskussionen beenden und uns den wirklich relevanten
Fragen zuwenden. Zum Beispiel: Wie wird Deutschland attraktiv für die dringend benötigten gut ausgebildeten Migranten? Wie stellen wir deren Integration
sicher und erhalten die Akzeptanz für Migration in
Deutschland? - Auch zu diesen Fragen liefert uns der
Mikrozensus immer wieder wichtige Anhaltspunkte.
Die Weiterentwicklung des Mikrozensus mit dem
vorliegenden Gesetzentwurf ist daher zu begrüßen.
Wir leben bekanntermaßen in einer Wissensgesellschaft. In einer solchen Gesellschaft stellen Wissen und
Informationen zunehmend die Basis von politischen
Entscheidungen sowie des sozialen und ökonomischen
Zusammenlebens dar. Vor allem die Aufbereitung und
Organisation von Informationen in Statistiken haben
dabei eine große Bedeutung erlangt.
Kaum ein Lebensbereich kommt heute noch ohne
Statistiken aus. Dies fängt schon beim Lieblingssport
der Deutschen an: dem Fußball. Ohne Ballbesitzstatistik, Gelaufene-Kilometer-Statistik, Passstatistik oder
die sogenannten Heatmaps scheint heute kein Fußballkommentator mehr seine Berichterstattung absolvieren zu können. In den Profiklubs werden solche Statistiken längst zur konsequenten Weiterentwicklung ihres
Spielvortrags genutzt.
Jedes Wirtschaftsunternehmen muss sich stark auf
statistische Werte stützen: Wie viele Produkte haben
wir in einem bestimmten Zeitraum abgesetzt? Wohin
setzen wir welchen Anteil unserer Produkte ab? Wie
stark ist die Resonanz auf unsere Werbestrategie? Wie
entwickeln sich die Kosten? Ohne diese Statistiken
lässt sich ein moderner wirtschaftlicher Betrieb nicht
mehr steuern. Die Unternehmen hätten keine belastbare Grundlage für ihre Geschäftsstrategie oder ihre
Investitionsentscheidungen.
Für die Politik spielen Statistiken ebenfalls eine
große Rolle. Nur mit der statistischen Erfassung von
Informationen können wirtschaftliche oder gesellschaftliche Trends überhaupt identifiziert werden.
Wenn bestimmte Entwicklungen negative Folgen nach
sich ziehen, kann die Politik entsprechende Gegenmaßnahmen einleiten. Positive Entwicklungen können
verstärkt werden.
Ein Beispiel, das jedem sofort in den Sinn kommen
dürfte, ist der demografische Wandel. Nur durch die
statistische Erfassung der Geburten und der Lebenserwartung sind wir in der Lage, die problematische
Entwicklung schon jetzt zu identifizieren und gegenzulenken.
Unverzichtbar ist jedoch die Qualität der Statistiken; denn ansonsten würden Entscheidungen auf völlig falscher Grundlage getroffen. Welche konkreten
Auswirkungen dies haben kann, haben wir erst kürzlich bei den Ergebnissen der Volkszählung betrachten
können. In allen Bundesländern wichen die tatsächlichen Bevölkerungszahlen derart ab, dass der Länderfinanzausgleich völlig neu berechnet werden musste.
Um die Qualität der staatlichen Statistiken geht es
auch in unserem heutigen Gesetzentwurf, der aus zwei
Teilen besteht. Einerseits soll in das Mikrozensusgesetz, welches die Erhebung von Daten über unsere
Gesellschaft regelt, wie etwa die Bevölkerungsstruktur,
die wirtschaftliche und soziale Lage der Bevölkerung
oder die Erwerbstätigkeit, eine Experimentierklausel
eingeführt werden. Hintergrund dieser Klausel ist die
Änderung einer EU-Verordnung, die Stichprobenerhebungen über Arbeitskräfte regelt. Zur Vorbereitung auf
die Veränderungen soll bereits jetzt eine gewisse Zahl
an Erhebungen unter den veränderten Erhebungsbedingungen stattfinden. Dadurch können etwaige
Probleme in der Datenerhebung schon während der
Experimentierphase erkannt und behoben werden.
Der zweite Teil ist eine Änderung des Bevölkerungsstatistikgesetzes, welches die Ermittlung der Zahl und
der Zusammensetzung der Bevölkerung regelt. Hier
hat sich gezeigt, dass weitere Hilfsmerkmale die Qualität der Statistik verbessern können, insbesondere im
Hinblick auf die Bestimmung der Einwohnerzahl und
deren Fortschreibung. Dabei entsteht keine weiter gehende Belastung der Bürger, da die Daten bereits in
verschiedenen Verwaltungsdatensätzen existieren. Sie
müssen lediglich dem Statistischen Bundesamt anonymisiert zur Verfügung gestellt werden.
Ich sehe den Gesetzentwurf sehr positiv. Aus meiner
Sicht ist hier ein guter Gesetzentwurf gelungen, der
unmittelbare Verbesserungen für unsere staatlichen
Statistiken mit sich bringt. Nur wenn unsere statistischen Grundlagen stimmen, kann die Politik Maßnahmen zum Wohle der Gesellschaft ergreifen. Mit diesen
Gesetzesänderungen gehen wir einen weiteren Schritt
in die richtige Richtung.
Wir behandeln heute in erster Lesung einen Gesetzentwurf zur Änderung des Mikrozensusgesetzes und
des Bevölkerungsstatistikgesetzes. Statistische Erhebungen sind die Grundlage für viele Lebensbereiche,
die uns umgeben. Für den Kindergarten um die Ecke,
für Schulen, Krankenhäuser oder sogar die Taktzeiten
Zu Protokoll gegebene Reden
Matthias Schmidt ({0})
der Bahn. Sie sind die Basis für sämtliche Planungen
der Länder und Kommunen sowie auch für die Wirtschaft. Das gesamte Gemeinwesen fußt auf dieser Zahlengrundlage. Lassen Sie mich Ihnen das über folgendes Szenario näherbringen:
Stellen Sie sich einmal vor, wir würden auf Erhebungen, wie den Mikrozensus oder vergleichbare Statistiken verzichten. Wie Sie alle wissen, werden dafür bei
der Bevölkerung Daten erhoben, so zur Bevölkerungsstruktur, zur Familie und Lebenspartnerschaft, zu Beruf und Ausbildung, zu Erwerbsbeteiligung und Beschäftigung, um nur einige der Daten zu nennen.
Greifen wir uns die Daten zur Familie einmal heraus.
Ohne die Daten zu der Anzahl der Familien in
Deutschland, der Anzahl und dem Alter der Kinder,
der Zahl der Frauen und Männer, die ihre Kinder alleine erziehen, stünden wir familienpolitisch im Nebel.
Wir wüssten dann nicht, wie hoch der Bedarf an
Horten, Kitas, Grundschulen, Kinderärzten oder
Spielplätzen ist. Wir müssten in den Kommunen „pi
mal Daumen“ Einrichtungen schaffen, um die Familien zu versorgen. Ganze Stadtteile wären in Zeiten
knapper Kassen tendenziell unterversorgt, und das mit
dramatischen Folgen. Frauen könnten keiner Erwerbstätigkeit nachgehen, da sie keine Betreuung für
ihre Kinder fänden. Die Kinder würden in ihrer Wohnnähe keine Spiel- oder Abenteurerplätze finden, und
was wäre bei einer Erkrankung der Kleinen? Die Wege
zu Kinderärzten oder Krankenhäusern wären möglicherweise mit langen Wegstrecken verbunden, weil die
Kommunen nicht zielgenau planen konnten. Auch
könnten viele Kinder von der vorschulischen Bildung
in den Kitas nicht profitieren und hätten damit
schlechtere Ausgangschancen. Werfen wir auch einen
Blick auf alleinerziehende Frauen. Wir wüssten gar
nicht, wie viele von ihnen einer besonderen Förderung
bedürfen, und könnten unsere Arbeitsmarktpolitik
nicht daran orientieren und entsprechend gestalten.
Auch die Finanzausstattung der Länder wäre ein
Lotteriespiel mit Konsequenzen. Ohne eine Einwohnerzahl könnten weder Länder noch Kommunen vernünftig planen. Nun stellen Sie sich einmal vor, was
das für Berlin bedeuten würde: Straßen würden nicht
gebaut, weil man den Finanzierungsaufwand scheuen
müsste, Wohnungen wohlmöglich gar abgerissen, weil
die demografische Entwicklung nicht abgeschätzt werden könnte. Die Anzahl an Pflegeeinrichtungen würde
einem Zufallsprodukt entsprechen.
Auch privatwirtschaftliche Investitionen kämen zum
Erliegen. Unternehmen würden kein Kapital darauf
verwenden, in eine unkalkulierbare geschäftliche Zukunft zu investieren. Neue Standorte, Expansionen
oder die Entwicklung neuer Geschäftsbereiche stünden infrage. Und davon wäre dann auch der Arbeitsmarkt betroffen. Welches Unternehmen würde schon
ausbilden oder einstellen, wenn die Entwicklung auf
der Grundlage von statistischen Daten nicht planbar
wäre? Das wiederum hätte verheerende Konsequenzen
für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung unserer Gesellschaft.
In einem Bereich würde auch uns Abgeordnete das
unmittelbar betreffen. Auf Basis der Bevölkerungsanzahl werden die Wahlkreise zugeschnitten. Wer von
uns würde schon wollen, dass das ein Zufallsprodukt
würde? Auch die wichtigen Aussagen der Wahlstatistik
gingen verloren, und diese ist gesamtgesellschaftlich
von erheblicher Bedeutung. Wie ist es um unsere Demokratie bestellt? Ohne Wahlstatistik muss diese
Frage offen bleiben. Die Szenarien ließen sich noch
lange fortsetzen - alle mit einem beängstigenden Ergebnis: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft würden
ihre Entscheidungsgrundlage verlieren. Der Wert von
statistischen Erhebungen ist beträchtlich - da sind wir
uns sicher einig.
Nun ist die Statistik tatsächlich auch in keiner Weise
gefährdet - im Gegenteil. Mit den Ihnen vorliegenden
Änderungen im Mikrozensusgesetz und im Bevölkerungstatistikgesetz werden wir sie vielmehr qualifizieren. Anlass ist die gemeinsam mit dem Mikrozensus
durchzuführende EU-Stichprobenerhebung für Arbeitskräfte. Eine geplante Veränderung in der EUVerordnung macht es erforderlich, dass auch die nationalen Gesetze verändert werden. So ist in dem Gesetzentwurf vorgesehen, das Mikrozensusgesetz um eine
Experimentierklausel zu ergänzen. Damit können neue
Erhebungsverfahren erprobt werden, um die Qualität
der Statistik zu verbessern. Eine damit verbundene
Zielrichtung ist, befragte Bürgerinnen und Bürger zu
entlasten, indem Erhebungen zusammengefasst werden. In der Bevölkerungsstatistik können durch die Gesetzesänderung weitere Merkmale erhoben werden.
Diese Änderung ist notwendig, weil mit dem Inkrafttreten des Bevölkerungsstatistikgesetzes am 1. Januar
2014 einige „handwerkliche Mängel“ offenbar wurden. Wir korrigieren diese nun und ermöglichen dadurch die Fortschreibung der Statistik. Es sind kleine
Änderungen mit viel Gewicht, die uns wie vielen anderen Stellen die Arbeit erleichtern. Wir werden diese
Änderungen in den Ausschüssen erörtern.
Lassen Sie mich am Ende noch einmal auf die Menschen kommen, die tagtäglich an den Statistiken arbeiten und diese fortentwickeln. Sie leisten mir ihrer
Arbeit einen überaus wichtigen gesellschaftlichen Beitrag. Ihnen möchte ich an dieser Stelle ganz herzlich
für den engagierten Einsatz danken, von dem wir alle
profitieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, vielen Dank. Ich
freue mich auf die Beratung mit Ihnen!
Mit dem hier heute zur Debatte stehenden Entwurf
eines Gesetzes zur Änderung des Mikrozensusgesetzes
2005 und des Bevölkerungsstatistikgesetzes soll einer
bevorstehenden Novellierung der EU-Verordnung
({0}) Nr. 577/98 des Rates vom 9. März 1998 entsprochen werden. Durch die bereits 1968 erfolgte
Zu Protokoll gegebene Reden
Kopplung des Mikrozensus mit der EU-Arbeitskräfteerhebung erscheint eine entsprechende Anpassung folgerichtig. Die beabsichtigten Änderungen sind zwar
übersichtlich, haben aber durchaus relevante Auswirkungen.
Worum geht es im Detail? Beim Mikrozensus werden vier Jahre lang jährlich circa 830 000 Bürgerinnen und Bürger zu Auskünften auf detaillierte persönliche Fragen verpflichtet, deren Beantwortung nach
Angaben des Statistischen Bundesamtes je nach Fall
rund eine halbe Stunde dauern soll. Zudem werden jeweils 200 000 Bürgerinnen und Bürger zu Auskünften
auf weitere Fragen verpflichtet, deren Beantwortung
zusätzliche 15 Minuten in Anspruch nimmt. Wenn man
sich der Beantwortung der Fragen verweigert, wird
man mit Zwangsgeldern von bis zu 5 000 Euro bzw. gegebenenfalls Beugehaft bestraft. Seit dem 15. März
1998 schreibt die EU-Verordnung zur Durchführung
einer Stichprobenerhebung über Arbeitskräfte in der
Gemeinschaft ein sogenanntes unterjähriges Erhebungskonzept vor. Das heißt nichts anderes, als dass
die Betroffenen nicht einmal, sondern mehrmals jährlich befragt werden sollen. Das bis heute gültige
Mikrozensusgesetz lässt bislang aber eine unterjährige
Erhebung nicht zu. Übergangsweise konnte Deutschland bei seinem davon abweichenden Erhebungskonzept bleiben. Damit soll nun aber Schluss sein. Zudem sollen die Erhebungen vermehrt elektronisch
durchgeführt werden, zum Beispiel per Telefon oder
Internet - ein aus Datenschutzsicht nicht unproblematisches Unterfangen. Dazu später mehr.
Meine Fraktion hatte das Mikrozensusgesetz 2005
abgelehnt, weil aus unserer Sicht und nach Auffassung
vieler Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler, seine
Notwendigkeit nicht konkret nachgewiesen, der Umfang der Datenabfrage ausufernd und teilweise unverständlich bis diskriminierend gewesen ist. An dieser
grundsätzlichen Kritik halten wir fest. Doch selbst
wenn man die Auffassung vertritt, dass der Mikrozensus zur Erfüllung legitimer Zwecke nötig und unverzichtbar ist, dann erfordert die Verhältnismäßigkeit
eben, dass es dann tatsächlich bei den Maßnahmen
bleibt, die der jeweilige legitime Zweck, beispielsweise
die Organisation des Länderfinanzausgleichs, erfordert. Für die Organisation des Länderfinanzausgleichs
muss ich aber nicht wissen, welcher Religion der jeweilige Bürger anhängt oder wer noch alles bei ihm in der
Wohnung lebt.
Mir ist im Übrigen auch kein einziger politischer
Bereich bekannt, in dem es in letzter Zeit wegen fehlender „Daten“ zu problematischen Entscheidungen kam.
Es ist zum Beispiel seit vielen Jahren hinreichend bekannt, dass es hierzulande viel zu wenig Kinderbetreuung gibt. Konkret fehlt es eben nicht an Daten, sondern
am politischen Willen, dieses Problem zu lösen. Thilo
Weichert, der Landesbeauftragte für den Datenschutz
in Schleswig-Holstein, hat das sehr richtig folgendermaßen ausgedrückt: „Politische Fehlplanungen
basieren nicht auf fehlenden Daten, sondern auf der
falschen Bewertung vorhandener Daten“.
Aus unserer Sicht steht eine Zwangserhebung - und
darum geht es ja beim Mikrozensus - auch im Widerspruch zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Hier muss man sich doch die Frage stellen, ob
der Staat und die Statistiker heutzutage nicht endlich
auf die Mittel Auskunftszwang, Zwangsgelder und
Drohbriefe verzichten können, wenn sie Informationen
für bestimmte Projekte brauchen. Ich zumindest empfinde die gedankliche Unfähigkeit, Bürgerinnen und
Bürger zur freiwilligen Mitwirkung und Datenabgabe
bewegen zu wollen, tatsächlich als rückständig und
nicht innovativ. Dass die „Datenqualität“ bei einer
Mikrozensuserhebung auf Freiwilligkeit nicht aufrechterhalten werden könnte, halte ich zudem für
Zweckpropaganda auf Basis unbewiesener Gerüchte.
Wenn Sie jetzt im Mikrozensusgesetz eine sogenannte
„Experimentierklausel“ einfügen wollen, dann zeigen
Sie doch auch mal etwas Mut und experimentieren Sie
endlich mit einem ersten Freiwilligkeits-Praxistest.
Worum geht es heute noch? Das noch frische Bevölkerungsstatistikgesetz soll nach Ihrem Willen gleich
mit aufgebohrt werden. Im Gesetzentwurf heißt es
diesbezüglich: „Das Bevölkerungsstatistikgesetz ist
am 1. Januar 2014 in Kraft getreten. Bei der Vorbereitung seiner Umsetzung hat sich herausgestellt, dass
weitere Hilfsmerkmale erforderlich sind, um die Qualität der Statistik insbesondere im Hinblick auf die Einwohnerzahl und deren Fortschreibung zu sichern und
zu verbessern.“
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich weiß zwar
nicht, wie es Ihnen geht, wenn Sie so etwas lesen oder
hören, aber bei mir führt das zu Zweierlei: Erstens
lässt es kein allzu großes Vertrauen in die Verfasser
wachsen, die derart schwerwiegende Probleme nicht
vorher erkannt haben. Zweitens ist das genau das, was
immer befürchtet wird: Zunächst wird ein Fuß in die
Tür gestellt, alle beteuern Datensparsamkeit, und nur
wenig später erweitert man dann die Datenerhebungen oder Verwendungszwecke über den ursprünglichen Zweck hinaus.
§ 13 a ({1}) Punkt 2 erlaubt die „vorübergehende“
Zusammenführung von personenbezogenen Daten der
Befragten ({2}) mit deren weiteren Befragungsergebnissen ({3}). Zwar steht
dem die „Einwilligung der Betroffenen“ zuvor, aber
dass die Aufhebung der Anonymisierung statistischer
Daten im IT-System angelegt wird, besorgt mich und
lässt mich grundsätzlich an der Sicherheit der Anonymisierung der Personendaten zweifeln. Rein sachlich
gibt es ja gar keine Anonymisierung, sondern lediglich
eine Pseudonymisierung. Dies ist aus meiner Sicht im
Jahr eins nach Snowden alles andere als ausreichend.
An dieser Stelle möchte ich Sie mal fragen, wer von
Ihnen schon einmal eine mehrjährige andauernde
Mikrozensus-Befragung hinter sich gebracht hat. Das
würde mich wirklich interessieren. Vor allem aber
Zu Protokoll gegebene Reden
würde mich interessieren, ob diejenigen, die hier keinerlei Problem mit all dem erkennen lassen, auch freiwillig den 64 Seiten langen Fragebogen des derzeitigen Mikrozensus und seine 164 Fragen zu zahlreichen
detaillierten persönlichen Angaben ausfüllen und
diese Daten den IT-Systemen des Statistischen Bundesamtes übergeben würden. Ich glaube, bei dem aktuellen Erhebungsdesign dürften das nicht allzu viele von
Ihnen ehrlichen Herzens behaupten.
Der Mikrozensus ist für viele von den Befragungen
Betroffenen schon heute eine große Belastung. Die geplante mehrmalige Befragung der Leute pro Jahr
macht das noch viel schlimmer und erhöht den Druck
auf die Menschen. Dann von „kein zusätzlicher Erfüllungsaufwand für Bürgerinnen und Bürger“ zu sprechen, trifft es ja wohl nicht so ganz. Es sei denn, dass
die mehrmalige Befragung pro Jahr den gesamten
Befragungsprozess zeitlich reduzieren würde, wenn
also zum Beispiel gleich viel Befragungen in zwei statt
in vier oder fünf Jahren stattfinden. Ob das allerdings
beabsichtigt ist, wird aus Ihrem Gesetzentwurf überhaupt nicht deutlich. So muss man wahrscheinlich viel
eher davon ausgehen, dass die Befragungen stattdessen im Umfang erheblich ausgeweitet werden.
Die Möglichkeit einer Ausweitung der elektronischen Befragungen zum Beispiel durch Telefoninterviews halte ich aus Datenschutzgründen ebenfalls für
schlecht. Wer kann garantieren, dass durch diese
Praktiken nicht das Missbrauchsrisiko erheblich
steigt? Wer kann ernsthaft davon ausgehen, dass die
elektronisch erhobenen Daten angesichts immer neuer
Erkenntnisse über Überwachungs- und Ausspähpraktiken staatlicher und privater Stellen sicher sind?
Zu guter Letzt kommen wir zu den von Ihnen prognostizierten Kosten. Nach Kostenkalkulationen des
Statistischen Bundesamtes sowie der statistischen
Ämter der Länder sollen durch die beabsichtigten Änderungen des Mikrozensusgesetzes 2005 und des Bevölkerungsstatistikgesetzes bei Bund und Ländern einmalig Kosten in Höhe von insgesamt 872 601 Euro
entstehen. Beim Bevölkerungsstatistikgesetz entstehen
zusätzlich bei den Ländern jährliche Mehrkosten in
Höhe von mindestens 64 000 Euro. Außerdem heißt es
im Gesetzentwurf zu Mehrkosten beim BevStatG: „Für
die nach Landesrecht zuständigen Stellen, die durch
dieses Gesetz zu Datenlieferungen verpflichtet werden,
entstehen für die Anpassung von vorhandenen Softwarelösungen gegebenenfalls einmalige Kosten, die
angesichts der unterschiedlichen Gestaltung der
jeweiligen Fachverfahren nicht beziffert werden
können.“ Das ist ja nun nicht gerade sehr informativ.
Besitzen Sie denn nicht wenigstens eine Schätzung, mit
welchen Kosten die zuständigen Stellen zu rechnen
haben? Ohne wenigstens das annähernd absehen zu
können, kann man doch so eine Änderung nicht seriös
beschließen.
Zusammengefasst: Dieser Gesetzentwurf reiht sich
in die voranschreitende Katalogisierung des Bürgers
ein. Er setzt auf die Herrschaft der Zahl statt auf
Qualitätspolitik. Meine Fraktion plädiert hingegen für
das Prinzip der Freiwilligkeit bei Volkszählungen
jeder Art und für den konkreten Nachweis der Erforderlichkeit von Zahlen für nachvollziehbare Zwecke.
Ich würde mich freuen, wenn auch Sie sich zu einer
Umkehr für mehr Freiheit, Datenschutz und Datensparsamkeit durchringen könnten.
Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes werden
insgesamt rund 830 000 Personen in etwa 370 000 privaten Haushalten und Gemeinschaftsunterkünften stellvertretend für die gesamte Bevölkerung zu ihren Lebensbedingungen befragt.
Was so lapidar unter dem Stichwort Befragung
läuft, entpuppt sich für die davon Betroffenen oft als
ein mittlerer Alptraum: Endlose Fragebögen mit sehr
fein granulierten Fragen zu nahezu allen Lebensbereichen, das Ganze bußgeldbewehrt. Die Datenschutzbehörden und auch die Abgeordneten des Deutschen
Bundestages wissen davon ein Lied zu singen: Keinesfalls kann von einer allgemeinen Akzeptanz dieses Verfahrens in der Bevölkerung gesprochen werden, eine
anhaltend hohe Zahl von Eingaben und Zuschriften
der betroffenen Bürgerinnen und Bürger belegt dies.
Richtig ist: Die offiziellen Statistiken unserer Behörden sorgen für eine informierte Politik. Sie stellen
deshalb ein wichtiges Merkmal rationaler und informierter Entscheidungsprozesse in Regierung wie im
Parlament dar. Wir erwarten aber, dass diese Verfahren grundrechtsschonend und im Hinblick auf die erfassten Merkmale realitätsgerecht erfolgen.
Verfassungsrechtlich wie datenschutzrechtlich bleibt
es dabei: Wir haben es mit durchaus grundrechtsintensiven Eingriffen zu tun, da die Befragung über eine
Auskunftspflicht erzwungen wird und der Umfang der
Erhebungen zu sehr weitgehenden Profilen der betroffenen Bürgerinnen und Bürger führt.
Die Rechtfertigungsanforderungen sind deshalb
hochzuhalten: Die strenge Zweckbindung des Statistikgeheimnisses schützt vor unbefugten Weitergaben und
Zugriffen, die Datensätze verbleiben in ihrer primären
Nutzbarkeit als primär anonymisierte Informationsquelle. Zusätzlich muss jedoch sichergestellt sein, dass
der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beim laufenden
Umbau des Verfahrens, wie wir es nun seit Jahren
schon erleben, gleichbleibend ernsthaft angewandt
wird.
Der vorliegende Entwurf enthält einmal mehr
- diesmal EU-bedingt - den Ausbau der zu erhebenden
Merkmale, und bei den sogenannten unterjährigen Befragungen sattelt er zusätzlich auf: Die Betroffenen
sind nicht nur einmal jährlich, sondern mehrfach im
Jahr zu Angaben bezüglich ihrer Arbeitsverhältnisse
verpflichtet. Die gesetzlich vorgesehene Experimentierklausel soll sicherstellen, dass die StatistikbehörZu Protokoll gegebene Reden
den nicht unvorbereitet in die demnächst verpflichtend
zu realisierenden Erhebungsanforderungen gehen, das
erscheint nachvollziehbar.
Vor diesem Hintergrund begrüßen wir die Ankündigung der Bundesregierung, diese Befragungen so weit
wie möglich reduzieren und auch insgesamt weitere
Entlastungen der Betroffenen bewirken zu wollen. Wir
erwarten von den Statistikbehörden, dass sie das ihnen
Mögliche tun, um sicherzustellen, dass das Verfahren
des Mikrozensus nicht uferlos weiter aufgeblasen wird,
weil dies am Ende womöglich wieder in eine grundsätzliche Auseinandersetzung zumindest über den obligatorischen Charakter dieses Verfahrens münden
könnte.
Lassen Sie mich noch zu einem Sonderpunkt kommen, der zu unserer Linie der weiteren sachgerechten
Durchführung von Mikrozensen steht. Wenn schon Mikrozensus, dann ohne selektive Brille:
In der Antwort auf die Kleine Anfrage meiner Fraktion zum Thema „Regenbogenfamilien in Deutschland“ gab die Bundesregierung zu, dass sie nichts von
der Lebensrealität von Regenbogenfamilien weiß. Ihre
einzigen Erkenntnisse basieren auf Erhebungen von
2006 und können daher nicht ernsthaft als aktuell und
ausreichend bewertet werden.
Mit der vorliegenden Novelle bekommt der Bundestag nun die Chance, die immer wachsende Zahl von
Regenbogenfamilien endlich auch in der Bevölkerungsstatistik zu berücksichtigen.
Bei Begründungen von Lebenspartnerschaften soll
deshalb auch die Zahl der gemeinsamen Kinder der
Lebenspartnerinnen bzw. Lebenspartner übermittelt
werden. Dies kann relevant sein, wenn Kinder vor der
Begründung einer eingetragenen Lebenspartnerschaft
im Ausland angenommen wurden.
Auch bei Kindergeburten soll nicht nur die Angabe
übermittelt werden, ob die Eltern des Kindes miteinander verheiratet sind, sondern auch, ob einer bzw. beide
der Eltern in einer bzw. zwei Lebenspartnerschaften
leben.
Und schließlich sollen Gerichte nicht nur bei gerichtlichen Entscheidungen über Ehesachen den statistischen Ämtern der Länder unter anderem die Zahl
der lebenden gemeinschaftlichen minderjährigen Kinder übermitteln. Auch bei Aufhebungen von Lebenspartnerschaften soll das entsprechend geschehen.
Nur so werden wir der familiären Realität gerecht
und können zukünftig auch Familien, bei denen Kinder
bei zwei gleichgeschlechtlichen Partnern leben, auf einer fundierten Basis in die Familienpolitik einbeziehen.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/2141 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Weil es
dazu keine anderweitigen Vorschläge gibt, ist die Überweisung damit beschlossen.
Damit sind wir am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich danke Ihnen allen recht herzlich für die
konzentrierte Beratung in den vergangenen Stunden und
wünsche Ihnen einen weiterhin angenehmen Abend und
später eine gute Nacht.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Freitag, den 26. September 2014, 9 Uhr, ein
und schließe damit die Sitzung.