Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und
Herren, heute ist der Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkrieges, der am 1. September 1939 durch den
völkerrechtswidrigen Einmarsch deutscher Truppen in
Polen begonnen hat. Wir werden in der nächsten Woche,
wie seit langem vereinbart, in einer eigenen Veranstaltung hier im Plenarsaal des Deutschen Bundestages zusammen mit dem polnischen Staatspräsidenten an diese
Ereignisse und ihre historische und politische Bedeutung
erinnern.
Wir alle würden uns wünschen, dass nach den traumatischen Erfahrungen zweier Weltkriege, die Millionen
Tote zum Ergebnis hatten, aggressive militärische Gewalt für die Durchsetzung politischer Interessen ein für
alle Mal geächtet und aus dem Repertoire der Politik
verschwunden wäre und das Prinzip der territorialen Integrität von Staaten allgemein akzeptiert und respektiert
würde.
({0})
Tatsächlich machen wir die bittere Erfahrung, dass
weltweit weiter Kriege geführt werden, Waffenstillstände
gebrochen werden, Völkerrecht missachtet wird, Menschen verfolgt, terrorisiert und getötet werden - auch in
der Nachbarschaft der Europäischen Union -: in Israel
und in den palästinensischen Gebieten, wo in immer
wieder aufflammenden militärischen Auseinandersetzungen zuletzt über 2 000 Menschen zu Tode gekommen
sind; in der Ukraine, wo nach einer völkerrechtswidrigen
Annexion der Krim Russland durch massive Unterstützung von Separatisten mit eigenen Soldaten und schwerem militärischem Gerät gegen einen souveränen Nachbarstaat buchstäblich zu Felde zieht; in Syrien und im
Nordirak, wo Millionen Menschen aus ihrer angestammten Heimat vertrieben werden und auf der Flucht vor
brutalen Terrormilizen sind.
Wir sind heute zu dieser Sondersitzung des Deutschen
Bundestages zusammengekommen, um gemeinsam darüber zu reden, auch miteinander zu ringen, wie wir unsere Verantwortung, die Verantwortung unseres Landes,
am besten wahrnehmen können; das ist das, wofür Parlamente gewählt und beauftragt sind.
Bevor wir das im Rahmen der vereinbarten Tagesordnung tun, möchte ich Sie bitten, sich als Zeichen der
Trauer um die Opfer und als Zeichen unseres Mitgefühls
für die Verfolgten und Bedrängten in den betroffenen
Regionen von Ihren Plätzen zu erheben.
({1})
- Vielen Dank.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gemäß Artikel 39
Absatz 3 des Grundgesetzes habe ich den Deutschen
Bundestag zu der heutigen Sondersitzung im Einvernehmen mit allen Fraktionen einberufen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin
Humanitäre Hilfe für Flüchtlinge im Irak und
Kampf gegen die Terrororganisation IS
Hierzu liegen ein Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke und ein weiterer Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
vor, über die wir später abstimmen werden.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung zwei Stunden, genau: 125 Minuten, vorgesehen. Ich darf dazu Einvernehmen feststellen. Dann können
wir so verfahren.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel.
({2})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Werte Gäste dieser Debatte! Meine Damen
und Herren! Heute vor 75 Jahren begann der Zweite
Weltkrieg. Am 1. September 1939 überfiel Deutschland
Polen. Der von Deutschland entfesselte Krieg und die
Verbrechen des Nationalsozialismus waren die Ursache
für Millionen von Toten und für unermessliches Leid
vieler Völker. 6 Millionen Juden und viele andere Menschen wurden in Ghettos und Vernichtungslagern oder
nahe ihrer Heimatorte ermordet. Das werden wir Deutschen niemals vergessen. Das ist Deutschlands immerwährende geschichtliche Verantwortung, und zu dieser
Verantwortung bekennen wir uns.
Knapp sechs grausame Kriegsjahre dauerte es, bis den
Alliierten mit vereinten Kräften der Sieg über das nationalsozialistische Deutschland gelang und die unmenschlichen Verbrechen ein Ende fanden. Damals schienen die
Gräben zwischen den Nationen unüberwindbar. Heute
sitzen wir, 28 Mitgliedstaaten, in der Europäischen
Union gemeinsam an einem Tisch. Aus Feinden sind
längst Freunde geworden, und mitten unter ihnen befindet sich unser Land, das einst seinen Nachbarn so viel
Leid gebracht hat. Deshalb haben wir 2007 anlässlich
von 50 Jahren Römischer Verträge gesagt: „Wir Europäer, wir sind zu unserem Glück vereint.“
Weite Teile unserer Politik gestalten wir in enger Abstimmung oder sogar gemeinsam. Wir meistern zusammen schwierige Herausforderungen wie etwa die internationale Finanzkrise und die Schuldenkrise im EuroRaum, und wir vertreten Seite an Seite unsere Werte,
Überzeugungen und Interessen in der Welt. Welches
Glück die europäische Einigung bedeutet, wird uns derzeit täglich vor Augen geführt. Geschichte und Gegenwart mahnen uns, dieses Glück für kommende Generationen zu schützen.
Ich freue mich, dass wir uns am vergangenen Samstag
beim Europäischen Rat mit Donald Tusk auf einen
neuen Präsidenten des Europäischen Rates einigen konnten, von dem ich sicher bin, dass er mit aller Kraft seinen
Beitrag dazu leisten wird, dass Europa die anstehenden
Herausforderungen erfolgreich meistert, seien sie außenpolitischer oder wirtschafts- und finanzpolitischer Natur.
({0})
Als Donald Tusk 2010 mit dem Karlspreis ausgezeichnet wurde, habe ich mit Freude die Laudatio gehalten. Damals habe ich gesagt - ich wiederhole es heute
gerne; ich zitiere -:
Europa braucht auch weiterhin mehr als alles andere leidenschaftliche, überzeugte und überzeugende Europäer, die unser gemeinsames Haus mit
Leben erfüllen, es ausbauen und erhalten. Donald
Tusk ist einer von ihnen.
Dass 25 Jahre nach der friedlichen Revolution in Mittel- und Osteuropa ein Pole an der Spitze des Europäischen Rates stehen wird, ist für mich - und ich glaube,
auch für viele andere - von hoher Symbolkraft.
({1})
Von Danzig, der Heimatstadt von Donald Tusk, ging
mit der Solidarnosc-Bewegung ein, wenn nicht der entscheidende Impuls für das Ende der Teilung Europas
aus. Ohne das Freiheitsstreben der Menschen gerade
auch in Polen, gerade auch von Menschen wie Donald
Tusk wäre die Überwindung der Teilung Europas und
Deutschlands undenkbar gewesen. Deutschland und
Polen sind sich heute so nah wie nie zuvor - als Nachbarn und als Partner in Europa. Daran hat auch Donald
Tusk großen Anteil. Ich habe mit ihm als polnischem
Ministerpräsidenten intensiv, vertrauensvoll und freundschaftlich zusammengearbeitet. Ich freue mich auch auf
die Zusammenarbeit mit ihm als neuem ER-Präsidenten,
genauso wie ich mich auf die Zusammenarbeit mit dem
neuen Präsidenten der Kommission, Jean-Claude Juncker,
und mit der neu benannten Hohen Vertreterin der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik,
Federica Mogherini, freue.
Das Amt des Hohen Vertreters steht für unsere Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik in der Europäischen Union. Gemeinsam mit der NATO-Mitgliedschaft
Deutschlands sind dies die beiden Pfeiler unserer internationalen Bündnispolitik in Fragen der Sicherheit.
Am Donnerstag und Freitag dieser Woche wird in
Wales der diesjährige NATO-Gipfel stattfinden. Gemeinsam mit unseren Bündnispartnern werden wir über
die verschiedenen globalen Konfliktherde sprechen und
uns über unser Vorgehen abstimmen. Neben der Situation im Irak und in Syrien geht es dabei derzeit vor allem
um die Lage in der Ukraine. An der Tagung der NATOUkraine-Kommission wird der ukrainische Präsident
Poroschenko teilnehmen.
Was geschieht in diesen Tagen in der Ukraine? Russland unternimmt den Versuch, bestehende Grenzen unter
Androhung oder sogar unter Einsatz von Gewalt zu verschieben. Die territoriale Integrität eines souveränen
Landes wurde durch die Annexion der Krim in einem
eklatanten Bruch des Völkerrechts verletzt. Dies verletzt
die Grundfeste unserer europäischen Nachkriegsordnung, die territoriale Integrität jedes Landes anzuerkennen. Nur so konnte in Europa ein friedliches Zusammenleben entstehen.
Die jüngsten Berichte über ein Vordringen russischer
Soldaten auf ukrainisches Gebiet unterstreichen die Dramatik der augenblicklichen Situation. Es wird immer
klarer: Es handelte sich von Anfang an nicht um einen
Konflikt innerhalb der Ukraine, sondern um eine Auseinandersetzung zwischen Russland und der Ukraine.
({2})
Wir haben bereits deutlich gemacht, dass wir das russische Verhalten nicht tatenlos hinnehmen. In großer
Übereinstimmung zwischen der Europäischen Union
und den USA haben wir Sanktionsmaßnahmen beschlossen. Ein Bruch des Völkerrechts darf nicht ohne Folgen
bleiben. Wir haben am Samstag angesichts der neuerlichen Eskalation die Kommission gebeten, innerhalb einer Woche weitere substanzielle Sanktionsschritte vorzubereiten.
Dabei leitet die Bundesregierung die Überzeugung,
dass es eine militärische Lösung des Konflikts nicht geben wird. Darüber sind sich auch alle EU-Mitgliedstaaten einig.
({3})
Umso dringlicher sind unsere Bemühungen, eine politische Lösung zu erreichen. Für uns stehen ein schneller
Waffenstillstand und die Sicherung der Grenze im Vordergrund. Dafür werden wir in all unseren Gesprächen
auch weiter werben, der Bundesaußenminister genauso
wie ich.
Durch das russische Verhalten ist die Sorge bei einigen NATO-Partnern gewachsen, dass auch sie akut bedroht sein könnten. Dies gilt zum Beispiel für die baltischen Staaten und genauso für Polen. Ich wiederhole
heute das, was ich auch bei meinem Besuch in Lettland
gesagt habe: Wir stehen zu unseren Bündnisverpflichtungen. Artikel 5 des NATO-Vertrages gilt für alle. - Das
werden auch unsere Beschlüsse in Wales noch einmal
unterstreichen. Wir werden Maßnahmen beschließen,
durch die die Reaktions- und Verteidigungsfähigkeit des
Bündnisses weiter gestärkt werden. Dabei ist es für
Deutschland wichtig, dass wir uns im Einklang mit der
NATO-Russland-Grundakte von 1997 bewegen. Sie ist
geprägt von der Einsicht, dass Sicherheit in Europa nicht
durch Konfrontation, sondern nur durch Kooperation zu
erreichen ist. Dies ist und bleibt unsere Überzeugung.
Wir werden weiter intensiv dafür werben.
({4})
In Wales werden wir auch die Gelegenheit haben,
kurz vor dem Ende der ISAF-Mission eine Bilanz des
Afghanistan-Einsatzes zu ziehen, aber auch nächste
Schritte zur Unterstützung des Landes zu besprechen.
Dazu gehören die Pläne für die Nachfolgemission „Resolute Support“ und die weitere Unterstützung, etwa der
afghanischen Sicherheitskräfte. Hier geht es uns darum,
das bisher Erreichte möglichst nachhaltig zu sichern.
Die innenpolitischen Auseinandersetzungen in Afghanistan um die Nachfolge im Präsidentenamt und das
militärische Vorgehen der immer noch aktiven Taliban
zeigen, dass Afghanistan weiter Unterstützung der internationalen Staatengemeinschaft und damit auch unsere
Unterstützung braucht. Das Ende der ISAF-Mission
- ich habe das in der Vergangenheit wiederholt betont bedeutet nicht das Ende unseres Engagements für Afghanistan und das afghanische Volk. Ich bin zuversichtlich, dass vom Gipfel in Wales erneut ein Signal der gemeinsamen Unterstützung ausgehen wird.
Die neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen
sind von uns und auch unseren Partnern in Zeiten zunehmend knapper Haushalte zu bewältigen. Daher werben
wir nachdrücklich dafür, unsere verteidigungspolitischen
Anstrengungen innerhalb der NATO und auch der EU
besser miteinander zu verknüpfen. Wir wollen daran arbeiten, die notwendigen Kapazitäten gemeinsam zu entwickeln und vorzuhalten. Ich bin zuversichtlich, dass wir
auf dem Gipfel nächste Schritte dazu vereinbaren können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, für die Bundesregierung ist dabei klar: Kein Konflikt der Welt lässt sich
allein militärisch lösen. Aber immer wieder standen wir
in den letzten Jahren vor Entscheidungen, bei denen
auch deutlich wurde: Es gibt Situationen, in denen nur
noch militärische Mittel helfen, um wieder eine politische Option zu haben. Jeder Konflikt hat seinen eigenen
Charakter; jedes Mal ist der Abwägungsprozess schwierig; jedes Mal ringen wir, die Regierung, aber in vielen
Fragen auch die Abgeordneten hier im Parlament, um
den richtigen Weg.
Der Blick zurück bis in die 90er-Jahre des letzten
Jahrhunderts zeigt: Wir haben seitdem zahlreiche weitreichende Entscheidungen gefällt. Es gab kontroverse
Diskussionen, als Deutschland gefragt war, sich am
NATO-Einsatz im ehemaligen Jugoslawien zu beteiligen. Es gab kontroverse Diskussionen, als es darum
ging, nach dem 11. September 2001 Kampftruppen nach
Afghanistan zu entsenden. Es gab kontroverse Diskussionen über die Beteiligung an anderen militärischen
Missionen. Soldatinnen und Soldaten der deutschen
Bundeswehr sind nach wie vor auf dem Balkan, in Afghanistan und auch in Afrika im Einsatz. Ich danke ihnen von Herzen für ihren Dienst, der mit hohen persönlichen Risiken für Leib, Seele und Leben verbunden ist.
({5})
Bei der heute zu debattierenden Entscheidung geht es
nicht um den Einsatz von Soldaten. Aber auch das Liefern von militärischer Ausrüstung an eine Konfliktpartei
ist eine Entscheidung, die sorgsam abzuwägen ist.
In den vergangenen Wochen sind wir Zeugen unfassbarer Gräueltaten einer Terrorgruppe unter dem Namen
„Islamischer Staat“ in Irak und Syrien geworden. Marodierend, plündernd, mordend sind ihre schwerbewaffneten Milizen im Irak vorgerückt bis in die Nähe Bagdads
und zuletzt bis an die Schwelle zur kurdischen Autonomieregion im Norden des Irak. Alles, was nicht ihrem
Weltbild entspricht, räumen sie grausam aus dem Weg.
Besonders dramatisch ist die Bedrohung von religiösen Minderheiten im Irak. Die Milizen stellen Mitglieder
christlicher Kirchen vor die Wahl, entweder zum Islam
zu konvertieren oder ihre Heimat und Existenzgrundlage
aufzugeben, andernfalls drohe ihnen der Tod. Die
Existenz einer gesamten Glaubensgemeinschaft, die der
Jesiden, war zeitweise gefährdet. Die dramatischen Bilder von der Situation auf dem Sindschar-Gebirge haben
wir alle noch vor Augen: die eingekesselte Menge, die
ums Überleben ringenden Männer und Frauen, die verdurstenden Kinder. Am Ende haben kurdische Kräfte
mutig eingegriffen, flankiert von entschlossener Luftunterstützung der Vereinigten Staaten von Amerika. Nur
so konnte einem Großteil der Jesiden die Flucht aus den
Bergen gelingen.
Aber nicht nur die Minderheiten sind bedroht, sondern auch schiitische Muslime und Sunniten, die sich
dem Terror entgegenstellen. Jeder, der sich gegen die
Terrorgruppe ISIS wehrt, muss mit dem Schlimmsten
rechnen. Hier wird eine Religion in furchtbarer Weise
missbraucht, um Mord, Terror und Herrschaftsanspruch
zu legitimieren.
Über 1 Million Menschen sind inzwischen auf der
Flucht vor dem Terror. Hunderttausende haben Schutz
im kurdischen Norden des Irak gefunden, aber auch in
Teilen Syriens und in der Türkei. Die kurdische Autonomieregierung stößt mit der immensen Zahl an Flüchtlingen an ihre Grenzen. Es mangelt an allem. Es fehlen
Unterkünfte, Lebensmittel, medizinische Versorgung. Es
droht eine humanitäre Katastrophe.
Die Terrorgruppe ISIS demonstriert Tag für Tag und
Zug um Zug einen grenzüberschreitenden Herrschaftsanspruch. Mit modernen Waffen und erbeuteten Finanzmitteln agiert ISIS in Syrien und im Irak inzwischen auf
einer Fläche, die größer als halb Deutschland ist, und die
Terrormilizen setzen ihren Vormarsch fort. ISIS schwebt
ein Kalifat vor, das bis zum Mittelmeer reichen soll und
Jerusalem einschließt. Die Terrorgruppe hat sich eigene
finanzielle Einnahmequellen geschaffen. Dies führt entscheidend mit zu ihrer Stärke und macht sie so gefährlich. Die Kämpfer gehen unvorstellbar grausam vor. UNMenschenrechtskommissarin Navi Pillay spricht von
Verbrechen gegen die Menschlichkeit; in den Gebieten,
in denen ISIS agiert, würden ethnische und religiöse
Säuberungen durchgeführt.
Darüber hinaus steht der Irak durch das expandierende Terrorregime von ISIS vor einer Zerreißprobe. Es
droht eine weitere Destabilisierung der ohnehin schon
politisch fragilen Region. Längst spüren auch Libanon,
Jordanien und die Türkei die Auswirkungen des Terrors.
Eine so weitreichende Destabilisierung einer ganzen Region wirkt sich auch auf Deutschland und Europa aus.
Meine Damen und Herren, wenn Terroristen ein Gebiet
unterjochen, um dort ein stabiles Fundament für ihre
Schreckensherrschaft und einen Rückzugsort für sich
und andere Fanatiker zu schaffen, dann wächst auch für
uns die Gefahr; dann sind unsere Sicherheitsinteressen
betroffen.
Zudem schließen sich Dschihadisten aus vielen Ländern - auch aus europäischen Staaten - der Terrorgruppe
an. Mehr als 400 Deutsche sind mittlerweile in die
Region gereist. Schätzungen zufolge liegt die Zahl der
europäischen Kämpfer in den Reihen der ISIS insgesamt
im vierstelligen Bereich. Dies liegt in unserem Verantwortungsbereich. Wir müssen zudem befürchten, dass
diese Kämpfer eines Tages zurückkehren und unsere Sicherheit auch ganz unmittelbar bedrohen. Die Gefahr ist
seit Monaten ein Thema in der öffentlichen Diskussion.
Der ISIS-Terror kann uns deshalb in vielerlei Hinsicht
auf keinen Fall kaltlassen. Seine Expansion muss aufgehalten werden. Darüber sind wir uns in der NATO und in
der Europäischen Union einig.
Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat am
15. August 2014 eine Resolution verabschiedet. Sie
brandmarkt die Terrorgruppe ISIS, verurteilt ihre Gewalttaten auf das Schärfste und sieht Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung vor. In der von Deutschland mit einberufenen Sondersitzung der EU-Außenminister wurde die
Unterstützung durch einzelne Mitgliedstaaten für die
kurdischen Streitkräfte im Kampf gegen die Terrorgruppe ISIS begrüßt.
Für die Bundesregierung ist klar: In erster Linie muss
die Not Hunderttausender Flüchtlinge gelindert werden.
Wir konnten dank der engen Koordination der Ressorts
schnell auf den Hilferuf der kurdischen Regionalregierung reagieren. Bereits mehr als 150 Tonnen Hilfsgüter
wurden von der Bundeswehr nach Arbil in den Norden
Iraks ausgeflogen. Aktuell haben wir insgesamt rund
50 Millionen Euro an humanitärer Hilfe schon aufgewendet und neu zugesagt. Das ist dringend benötigte Soforthilfe.
All dies ist wichtig, und dort, wo Menschen in Not
sind, werden wir helfen - auch durch die zusätzliche
Aufnahme von Flüchtlingen.
({6})
Unsere Politik muss aber in erster Linie darauf abzielen,
dass die Menschen in ihrer Heimat bleiben und dort in
Sicherheit leben können. Es gilt, die Not der Menschen
nicht nur zu lindern, sondern sie auch zu verhindern.
({7})
Gemeinsam mit den Einheiten der irakischen Armee
und den USA versuchen die Peschmerga, das weitere
Vorrücken der Terrorgruppe ISIS abzuwehren. Wir können dankbar dafür sein. Sie setzen sich hohen Risiken
aus, um etwas zu erreichen, das auch in unserem Interesse ist.
({8})
Ebenso wie einige unserer EU-Partner hat die Bundesregierung - auf Bitten der kurdischen Regionalregierung und mit Zustimmung der irakischen Zentralregierung - beschlossen, weitergehende, umfassende Hilfe zu
leisten. Wir stimmen uns dazu mit den EU-Mitgliedstaaten, den USA und unseren anderen Partnern in der Welt
engstens ab. Es besteht dringender Bedarf an militärischer Ausrüstung wie Schutzwesten, Helmen und Funkgeräten. Darum kümmern wir uns, und wir sind auch bereit, in begrenztem Umfang und in enger Abstimmung
mit unseren Partnern den Streitkräften der autonomen
Region Irakisch-Kurdistan Waffen und Munition für den
Kampf gegen die ISIS-Terrormiliz bereitzustellen.
Um diese zu liefern, nutzen die zuständen Ressorts innerhalb der Bundesregierung ihren politischen und
rechtlichen Spielraum. Es geht dabei um die Abgabe von
militärischer Ausrüstung, also von Fahrzeugen, Waffen
und Munition, aus vorhandenen Beständen der Bundeswehr. Die Abgabe erfolgt im Einverständnis mit der irakischen Zentralregierung an die Streitkräfte der autonomen Region Irakisch-Kurdistan. Die Einzelheiten dieser
Hilfsleistungen haben wir Ihnen, liebe Kolleginnen und
Kollegen, gesondert übermittelt, und sie wurden im Verteidigungsausschuss und auch im Auswärtigen Ausschuss vorgestellt.
Diese Entscheidung ist weitreichend. Wir haben sehr
sorgsam abgewogen und dabei sämtliche außen- und sicherheitspolitischen Aspekte beleuchtet. Wir standen vor
der Wahl, kein Risiko einzugehen, nicht zu liefern und
letztlich die Ausbreitung des Terrors hinzunehmen oder
diejenigen zu unterstützen, die verzweifelt, aber mutig
mit knappsten Ressourcen gegen den grausamen ISISTerror kämpfen.
Uns sind die Risiken einer solchen Unterstützung bewusst. Wir haben sie natürlich bedacht. Umgekehrt haben wir aber auch gefragt: Was ist mit den akuten Risiken, die von der Terrorgruppe ISIS ausgehen, wenn wir
jetzt keine Waffen und keine Munition liefern? Können
wir wirklich warten und hoffen, dass andere sich dieser
akuten Gefahr stellen? Nein. Dies entspricht nicht unserer Vorstellung von Verantwortung in dieser Situation.
Das immense Leid vieler Menschen schreit zum Himmel, und unsere eigenen Sicherheitsinteressen sind bedroht.
Das, was ist, wiegt in diesem Falle schwerer als das,
was sein könnte. Wir haben jetzt die Chance, mitzuhelfen, eine menschenverachtende Terrorgruppe zu stoppen
und ihre weitere Ausbreitung abzuwenden. Wir haben
jetzt die Chance, das Leben von Menschen zu retten und
weitere Massenmorde im Irak zu verhindern. Wir haben
jetzt die Chance, zu verhindern, dass Terroristen sich einen neuen, sicheren Rückzugsort schaffen und von dort
Hass und Gewalt in die Welt tragen. Diese Chance müssen wir nutzen.
Ich betone noch einmal: Die Lieferung militärischer
Ausrüstung wird mit dem Einverständnis der irakischen
Zentralregierung erfolgen. Uns liegt es fern, zentrifugale
Kräfte im Irak zu unterstützen. Ganz im Gegenteil: Im
Kern geht es darum, das irakische Staatsgefüge vor einem Zerfall zu bewahren. Der entscheidende Schlüssel
dazu liegt in einem politischen Prozess, der alle Bevölkerungsgruppen einbezieht.
Der Irak braucht einen Prozess der Aussöhnung. Die
Marginalisierung großer Teile der Bevölkerung, allen
voran der Sunniten, muss aufhören. Es geht darum, den
enttäuschten sunnitischen Stämmen und anderen Gruppen einschließlich der Kurden einen angemessenen Platz
in ihrem Staats- und Gemeinwesen zu geben. Es geht darum, dem Extremismus schon im Ansatz entgegenzuwirken. Es geht auch darum, verfassungsrechtlich garantierte Rechte, beispielsweise für die autonome kurdische
Regionalregierung, einzuhalten.
Dies sind große Herausforderungen für den designierten irakischen Premierminister al-Abadi. Die Bundesregierung steht bereit, den Irak bei der Bewältigung dieser
Herausforderungen zu unterstützen. Denn es bleibt dabei: Kein Konflikt dieser Welt lässt sich allein militärisch lösen. Wirklich dauerhaft lösen lassen sich Konflikte nur politisch, so wie wir es in Europa erfahren
haben durch den europäischen Integrationsprozess nach
dem Ende des Zweiten Weltkriegs.
Herzlichen Dank.
({9})
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Gregor Gysi für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Präsident, Sie haben zu Beginn an die Bedeutung des heutigen Datums erinnert. Tatsächlich, der 1. September vor
75 Jahren war der Tag, an dem der schlimmste Krieg in
der Geschichte der Menschheit durch Deutschland begonnen wurde, der Zweite Weltkrieg. Deshalb ist dieser
Tag zum Weltfriedenstag geworden. Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Ich finde es mehr als stillos, gerade an einem
solchen Tag über die Lieferung von Waffen für einen
Krieg zu debattieren. Aber nun ist es so.
({0})
Sie, Frau Bundeskanzlerin, haben über den Zweiten
Weltkrieg, der von Hitler-Deutschland ausging, gesprochen. Aber ich finde, Sie haben eine notwendige Konsequenz nicht gezogen: Hätte Deutschland 1945 nicht sagen müssen, dass wir nie wieder an Kriegen verdienen
wollen?
({1})
Wir sind der drittgrößte Waffenexporteur der Welt. Wenn
man der drittgrößte Waffenexporteur der Welt ist, verdient man an jedem Krieg. Genau das steht uns nicht zu.
Wir sollten so schnell wie möglich wenigstens jetzt Waffenexporte verbieten.
({2})
Eine Sache ärgert mich - so wichtig und richtig ich,
abgesehen vom Datum, die Sondersitzung finde -: dass
wir nur debattieren, aber nicht entscheiden dürfen. Die
Bundesregierung hat nämlich schon verbindlich entschieden, und ich finde, dass das bei einer Sondersitzung
nicht geht. Wir sind das höchste Verfassungsorgan, und
wir hätten auch entscheiden müssen. Das ist meines Erachtens das Mindeste.
({3})
Lassen Sie mich noch etwas zum völkerrechtlichen
Weg sagen. Um die terroristische Söldnerarmee, den
„Islamischen Staat“, den wir alle gemeinsam gleich einschätzen, völkerrechtlich wirksam bekämpfen zu können, brauchen wir den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen.
({4})
Es geht nicht an, dass jede Regierung - die US-Regierung, die deutsche Regierung und andere Regierungen für sich entscheidet, was sie dort treibt. Es gibt eine klare
Zuständigkeit. Diese liegt beim Sicherheitsrat, und er hat
auf der Grundlage der Charta der Vereinten Nationen zu
entscheiden. Was wir dann machen, ist eine ganz andere
Frage. Aber die Entscheidung muss von der UNO getroffen werden und nicht von der US-Regierung oder
von anderen einzelnen Regierungen.
({5})
Übrigens war in der Charta der Vereinten Nationen
für solche Fälle eine eigene Truppe vorgesehen, aber sie
ist nie gebildet worden.
({6})
Jetzt hat die Bundesrepublik leider keine weitere Sitzung
des Sicherheitsrates beantragt und auch keinen weiteren
Resolutionsentwurf erarbeitet, sondern sich entschieden,
Waffen zu liefern, was wir für völlig falsch halten. Dazu
komme ich noch.
Aber vielleicht rufen Sie den Sicherheitsrat wegen
des schlechten Verhältnisses zu Russland nicht an. Darf
ich daran erinnern, dass es vielleicht doch und schon
deshalb ein Fehler war, Russland zu isolieren und sich
gegenseitig mit Sanktionen hochzuschaukeln,
({7})
weil man Russland im Sicherheitsrat benötigt? Ich sage
Ihnen: Gespräche sind viel besser als Sanktionen. Sanktionen bringen uns auch in der Frage der Ukraine niemals voran, ganz im Gegenteil.
({8})
Wann stellt die Bundesregierung endlich einmal fest,
dass es der mit einer Kriegslüge begonnene Krieg der
USA und anderer Staaten 2003 gegen den Irak war, der
den Irak zerstört und den „Islamischen Staat“ überhaupt
erst ermöglicht hat? Das ist doch die Grundfeststellung,
die man treffen muss, bevor man über weitere Maßnahmen nachdenkt.
({9})
Es gibt noch etwas, das mich stört - ich sage Ihnen
das ganz offen -: Mich stört die selektive Wahrnehmung
im Zusammenhang mit Opfern. Bei Kriegen oder Bürgerkriegen sind Sie sehr schnell dabei, aber bei anderen
gravierenden Menschenrechtsverletzungen nicht. Ich
nenne Ihnen ein Beispiel: Jährlich sterben auf der Erde
18 Millionen Menschen, darunter viele Kinder, an Hunger oder an den Folgen von Hunger, obwohl wir weltweit eine Landwirtschaft haben, die die Menschheit
zweimal ernähren könnte. Wo sind da eigentlich Ihre Initiativen? Wo ist da eigentlich der Aufschrei? Wenn es
um Waffen geht, sind Sie sehr schnell, aber bei den anderen Themen überhaupt nicht. Es wird höchste Zeit,
dass man für alle Opfer etwas tut. Nur dann ist man
glaubwürdig.
({10})
Wenn der Irak von etwas genug hat, dann sind das
Waffen. Die Peschmerga - ich sage das jetzt schon, damit Sie sich später nicht wundern - überlassen nicht selten kampflos ihre Waffen, also dann auch der Organisation „Islamischer Staat“. Das wird dann auch mit
deutschen Waffen geschehen.
Noch etwas: Waffenexporte in Kriegsgebiete sind
nicht so neu, wie Sie gesagt haben. Die hat es schon gegeben, und zwar wurden an Israel auch dann Waffen geliefert, wenn gerade ein Krieg im Gazastreifen stattfand.
Waffen wurden auch an Saudi-Arabien geliefert, als
Saudi-Arabien in Bahrain einmarschierte, und an die
Türkei, als sie gerade 10 000 Soldaten gegen die PKK
losschickte.
Neu ist aber, dass sie an Kampfverbände gehen, die
nicht der Regierung unterstehen. Das hat es noch nicht
gegeben, und das ist ein solches Novum, dass ich meine,
schon deshalb hätte der Bundestag darüber entscheiden
müssen.
({11})
Übrigens hat es bei den Waffenlieferungen an Israel
auch die Grünen und die SPD nicht gestört, dass es sich
um ein Kriegsgebiet handelte. Ich meine, es ist das Mindeste, dass wir aufhören, Waffen in den Nahen Osten zu
liefern. Ob an Saudi-Arabien, Katar, Algerien oder Israel: Die Waffenlieferungen in den Nahen Osten müssen
beendet werden, und zwar so schnell wie möglich.
({12})
Es gibt aber nicht nur die irakischen Peschmerga, sondern auch Einheiten der PKK und der syrischen PYD,
die ebenfalls der PKK nahesteht. Die Jesiden fühlen sich
- das wird man auch Ihnen gesagt gaben, Herr Kauder durch die Peschmerga nicht wirklich geschützt, und
zwar aus zwei Gründen nicht: Erstens sagen die
Peschmerga, dass die Jesiden zur eigenen Verteidigung
von ihnen keine einzige Waffe bekommen. Zweitens
sind die Peschmerga aus dem Gebirge abgezogen, wohin
die Jesiden geflüchtet waren. Nun kommt es: Wäre nicht
die PKK gewesen und hätte sie geschützt, hätte die terroristische Söldnertruppe des „Islamischen Staats“ sie vernichten können. Das ist die Wahrheit. Damit müssen wir
uns auseinandersetzen.
Nun haben Sie aber festgelegt: Wenn die Peschmerga
Waffen bekommen, dürfen sie nicht an die PKK und die
PYD weitergegeben werden. Abgesehen davon, dass das
überhaupt nicht kontrollierbar ist, ist es auch nicht nachvollziehbar. Denn die durch türkische und syrische Kurden, die der PKK nahestehen, geschaffene Schutzzone
hat das Leben von Christinnen und Christen sowie
Jesiden, aber auch von Schiiten und Sunniten - darauf
haben Sie zu Recht hingewiesen - tatsächlich gerettet.
Das müssen wir einfach zur Kenntnis nehmen, auch
wenn es Ihnen nicht passt.
Deshalb sage ich: Die Einschätzung der PKK als terroristische Organisation und ihr Verbot müssen überprüft
und aufgehoben werden. Stattdessen muss endlich der
„Islamische Staat“ verboten werden. Der Hinweis darauf, dass er hier keine Strukturen habe, ist falsch. Es
gibt über 300 Dschihadisten in Syrien, die aus Deutschland kommen. Bei uns gibt es eine Unterstützerszene.
Also wird es höchste Zeit, den sogenannten „Islamischen Staat“ in Deutschland zu verbieten.
({13})
Nun befürchten Sie, dass die Waffen - auch die deutschen - später für einen Unabhängigkeitskampf der Kurden im Nordirak genutzt werden könnten. Sie sagen
aber, es gehe um heute und nicht um später. Dazu muss
ich Ihnen Folgendes sagen: Natürlich werden die Waffen
dazu genutzt werden. Ich glaube sogar, dass der Antrieb
der nordirakischen Regierung, die die Waffen haben
will, ist, uns indirekt zu binden und zu beteiligen. Aber
Sie haben völlig recht, Herr Steinmeier: Wenn sich der
Nordirak ohne Zustimmung der Zentralregierung und
des Zentralparlaments vom Irak loslöst, ist das völkerrechtswidrig. Das war genauso bei der Krim und dem
Kosovo, wo Sie es allerdings nicht einsehen wollten.
Es gibt aber ein anderes Problem - das ist nachvollziehbar, und ich will es kurz begründen -: Hussein hat
die Kurdinnen und Kurden im Nordirak verfolgt und
Völkermord begangen. Die jetzige Regierung ist nicht in
der Lage, sie wirksam zu schützen. Wo soll da die Bindung entstehen? Hinzu kommt folgende Erfahrung:
Wenn eine nationale Gruppe keinen eigenen Staat hat, ist
sie nicht geschützt. Tausende von Jahren wurden Jüdinnen und Juden diskriminiert und verfolgt. Erst seitdem
es den Staat Israel gibt, haben sie internationalen Schutz.
Wenn ich das sage, betone ich gleichzeitig: Es wird
höchste Zeit, dass der Staat Palästina gegründet wird, damit auch die Palästinenserinnen und Palästinenser endlich entsprechenden Schutz haben.
({14})
Vor diesem Hintergrund verstehe ich, dass die Kurdinnen und Kurden sagen, dass sie sich - ob in der Türkei, im Iran oder wo auch immer - erst wirksam schützen, wenn sie einen eigenen Staat haben. Es gibt eine
Gruppe, für die das nicht gilt und die nie einen eigenen
Staat gründen kann: Das sind die Sinti und Roma. So
werden sie leider auch behandelt.
Wie gesagt, auf die Waffenverwendung haben Sie
keinen Einfluss. Aber es geht noch um etwas anderes:
Woher kommt eigentlich das Geld für den „Islamischen
Staat“? Die Organisation „Islamischer Staat“ verkauft
reichlich Erdöl. Frau Bundeskanzlerin, warum verhindern Sie nicht mit internationalem Druck, dass dieses
Erdöl gekauft wird? Der IS darf kein Geld bekommen.
({15})
Außerdem kommt Geld aus Saudi-Arabien, Katar und
der Türkei. Sie konnten doch die Konten bestimmter
Russen sperren. Warum können Sie dann nicht die Konten der betreffenden Familien aus Saudi-Arabien, Katar
und der Türkei sperren? Es wird höchste Zeit, dass das
geschieht.
({16})
Was machen Sie eigentlich mit der Türkei? Die Türkei hat alle potenziellen Terroristen durchgelassen, und
zwar ohne jede Beeinträchtigung. Die Türkei hat die
Auslieferung deutscher und anderer Hilfsgüter in den
Nordirak behindert. Die Türkei hilft außerdem den
Flüchtlingen nicht. Dabei ist die Türkei unser NATOPartner. Wann üben Sie endlich Druck aus und sagen:
„So geht es nicht; mit der Türkei muss endlich ernsthaft
darüber gesprochen werden“? Dann gibt es noch ein
Embargo der Regierung im Nordirak und der Türkei gegenüber Syrien, sodass an die Flüchtlinge in Syrien und
die PYD nichts geliefert wird, nicht einmal Medikamente. Auch das ist völlig unmenschlich und muss endlich überwunden werden.
({17})
Warum vergessen Sie immer Syrien? Wir reden fast
nur über den Irak. Der IS herrscht genauso in Syrien und
marschiert auch dort voran. Er wird von den Kurdinnen
und Kurden und übrigens auch von den Assad-Truppen
bekämpft. Was denn nun? Ich will Assad weiß Gott nicht
schöner machen, als er ist, aber gar keine Gesprächskontakte mehr zu haben, war vielleicht doch ein Fehler, weil
man eben in bestimmten Situationen wieder miteinander
ins Gespräch kommen muss.
({18})
Nun sage ich Ihnen noch etwas: Sie müssen sich für
Gespräche zwischen allen Bevölkerungsteilen im Irak
einsetzen. Wir müssen endlich überall dafür kämpfen,
säkulare Staaten zu bekommen. Nicht eine Religion darf
das ganze Geschehen dominieren. Das muss endlich
überwunden werden.
({19})
Wir treten selbstverständlich für eine umfassende humanitäre Hilfe ein, natürlich auch für die Aufnahme einer höheren Zahl von Flüchtlingen in ganz Europa, auch
in Deutschland. Aber ich sage Ihnen noch eines: Es gibt
ein krasses Missverhältnis. 70 Millionen Euro sind die
Waffen wert, die Sie liefern wollen, nur 50 Millionen
Euro die Hilfsgüter. - Das sagt eine Menge.
Dann will ich noch an Folgendes erinnern: Wer hat eigentlich Solidarität mit den Kurdinnen und Kurden geübt, als sie im Irak benachteiligt waren, aber auch in der
Türkei und im Iran? Vornehmlich die Grünen und die
Linken, die anderen Parteien so gut wie gar nicht, wenn
ich daran einmal erinnern darf. Wissen Sie, wann Sie
Ihre Solidarität entdeckt haben? Als die Kurden die Erdölstadt Kirkuk eingenommen haben; mehr sage ich dazu
nicht. Wir haben Solidarität unabhängig davon geübt;
auch das muss ich Ihnen hier aufrichtig sagen.
({20})
Als Letztes lassen Sie mich Folgendes sagen: Die
Bundesregierung wirkt in der ganzen Situation hilflos.
Den Kalten Krieg hat der Westen gewonnen. Die Ordnung des Kalten Krieges wurde glücklicherweise überwunden, aber eine neue, friedenschaffende Ordnung ist
nicht entstanden. Weder die USA noch Russland noch
China, geschweige denn die EU, Frankreich und Großbritannien werden ihrer Verantwortung gerecht; aber es
ist ihre Verantwortung, dass endlich wieder eine friedenschaffende Ordnung weltweit entsteht.
Danke schön.
({21})
Thomas Oppermann ist der nächste Redner für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute vor
75 Jahren hat Deutschland durch den Überfall auf Polen
den Zweiten Weltkrieg begonnen und damit die größte
Katastrophe des 20. Jahrhunderts verursacht. Das nationalsozialistische Deutschland hat Demokratie, Freiheit
und Menschlichkeit in Europa ausgelöscht und unendliches Leid über Millionen Menschen gebracht. Wir können heute froh sein, dass uns nach dem Ende des Krieges
die Völkergemeinschaft wieder aufgenommen hat, und
wir sind dankbar, dass wir in einem friedlichen, vereinten Europa leben und die Politik einer Europäischen
Union mitgestalten dürfen, deren grundlegende Ziele
Demokratie, Frieden und Völkerverständigung sind.
Für die Außenpolitik unseres Landes hat das von Anfang an eine fundamentale Konsequenz gehabt: die klare
Absage an jede Form nationalistischer Politik. Nationale
Alleingänge gehören endgültig der Vergangenheit an,
und wir dürfen nie wieder dahin zurückkehren.
({0})
Wir stimmen unsere Politik mit unseren europäischen
Partnern ab und handeln Seite an Seite mit unseren Verbündeten. Dass zu diesen Verbündeten heute neben
Frankreich auch Polen gehört, das ist ein großes Glück
für uns Deutsche. Wenn 75 Jahre nach dem Überfall auf
Polen unsere Nachbarn mit Blick auf die Annexion der
Krim und den von Russland unterstützten Krieg in der
Ostukraine wieder Angst um ihre Sicherheit und Unabhängigkeit haben, dann ist das nicht nur ein Problem für
Polen, sondern auch für Deutschland; denn Deutschland
kann nicht sicher leben, wenn nicht Polen in Sicherheit
und Frieden lebt. Deutsche und polnische Sicherheit sind
für uns untrennbar miteinander verbunden.
({1})
Das gilt auch und gerade angesichts des RusslandUkraine-Konfliktes. Niemand hätte sich träumen lassen,
dass 25 Jahre nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation wieder Truppen mitten in Europa gegeneinander
stehen und aufeinander schießen. Russland stellt mit seinen fortgesetzten Souveränitätsverletzungen die internationale Friedensordnung infrage. Das können und dürfen
Europa und die internationale Gemeinschaft nicht akzeptieren. Es ist eine Frage der Glaubwürdigkeit, darauf
eine deutliche Antwort zu geben.
({2})
Aber unsere Reaktion darf nicht so sein, dass wir in
eine Abwärtsspirale geraten und unsererseits selbst zur
weiteren Eskalation beitragen. Ich bin sehr dankbar für
die unermüdliche Arbeit und die immer neuen Gesprächsinitiativen von Angela Merkel und Frank-Walter
Steinmeier. Es ist ihr Verdienst, dass wir in Europa in
dieser Frage bisher zusammengeblieben sind, und es ist
ihr Verdienst, dass wir bisher schlimmere Eskalationen
verhindert haben. Dafür vielen Dank!
({3})
Ich bin auch froh, dass die Bundeskanzlerin eben
noch einmal klargestellt hat: Es gibt keine militärische
Lösung; es gibt keine militärische Option. Deshalb ist
auch eine Lieferung von Waffen in die Ukraine der falsche Weg. Dieser Konflikt kann nicht mit militärischen
Mitteln, sondern nur mit politischen Mitteln gelöst werden.
({4})
Aber die Welt scheint nicht nur in Osteuropa aus den
Fugen geraten zu sein. Im Nahen Osten lösen sich die
politischen Strukturen einer Gesamtregion auf, wie wir
es seit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr erlebt
haben. In Gaza liegt ein ganzer Landstrich in Trümmern,
und ein dauerhafter Friede zwischen Israel und den Palästinensern ist in den letzten Wochen in noch weitere
Ferne gerückt, auch wenn die Vereinbarung der letzten
Woche ein kleiner Hoffnungsschimmer ist.
Libyen versinkt nicht nur in den Kämpfen islamistischer Milizen gegen Regierungstruppen; auch die politischen und staatlichen Strukturen sind völlig zusammengebrochen. In Syrien tobt seit drei Jahren ein blutiger
Bürgerkrieg, bei dem bereits mehr als 170 000 Tote zu
beklagen sind. Mit einem schnellen Vormarsch haben
jetzt die Terrormilizen des „Islamischen Staates“ große
Teile Syriens und des Irak unter ihre Kontrolle gebracht.
Es droht der Zerfall des irakischen Staates. Wenn ISIS
jetzt auch noch Jordanien und den Libanon, wohin sich
Millionen Flüchtlinge aus dem syrischen Bürgerkrieg
gerettet haben, angreift und destabilisiert, dann brennt
eine ganze Region, dann droht eine humanitäre Katastrophe ungekannten Ausmaßes. Ich finde, in einer solchen
Situation nur passiv zuzuschauen und anderen die Verantwortung zu überlassen, das wäre nicht angemessen.
({5})
Das zeigt auch ein Blick in die Geschichte. Ich zitiere:
Wir
- der Deutsche Bundestag bedauern daher auch nachdrücklich die wenig entschiedene Rolle der internationalen Gemeinschaft,
die trotz vielfältiger Informationen über das mörderische Handeln vor Ort nicht ausreichend versucht
hat, diese Gräuel zu beenden.
({6})
Diese Worte, meine Damen und Herren, hat der Deutsche Bundestag, getragen von CDU/CSU, SPD und Grünen, vor fast genau fünf Monaten im Gedenken an einen
grausamen Völkermord in Ruanda geäußert.
({7})
Es ist bitter, dass wir uns eingestehen mussten, dass die
internationale Gemeinschaft beim Völkermord in
Ruanda ihrer Verantwortung nicht ansatzweise gerecht
wurde. Trotz aller Unterschiede muss uns das eine Mahnung sein. Das sollten wir stets vor Augen haben, wenn
wir heute über die richtigen Antworten auf die Situation
im Nordirak debattieren.
({8})
Dort spielt sich seit Wochen ein Drama ab, das in seiner Brutalität und Grausamkeit in jüngster Zeit ohne
Beispiel ist. Die Terrorgruppe ISIS hinterlässt eine Spur
der Verwüstung, kontrolliert bald ein Gebiet so groß wie
die Bundesrepublik Deutschland. Eroberte Dörfer werden zerstört, Hab und Gut geraubt, Fluchtwege bewusst
verstellt. Hunderttausende sind auf der Flucht, zum Teil
unter lebensbedrohlichen Umständen. ISIS vertreibt
ganze Volksgruppen und religiöse Minderheiten. Wer
sich nicht bedingungslos unterwirft, wird exekutiert.
Kinder werden gezwungen, öffentlichen Hinrichtungen
zuzuschauen. Frauen und Mädchen werden von der Terrorgruppe wie eine Kriegsbeute behandelt, misshandelt,
vergewaltigt oder als Sklavinnen verkauft.
Die Vereinten Nationen - darauf wurde schon hingewiesen - stufen diese Gräueltaten als Verbrechen gegen
die Menschlichkeit ein. Angesichts dieser dramatischen
Situation, meine Damen und Herren, müssen wir helfen.
({9})
Im Vordergrund steht dabei für uns ganz klar die humanitäre Hilfe, die massiv ausgeweitet werden muss, damit die Flüchtlinge im Nordirak den kommenden Winter
überstehen können. Bisher sind 50 Millionen Euro für
humanitäre Hilfe vorgesehen. Was die Waffenhilfe angeht, Herr Gysi, werden übrigens in der ersten Tranche
nur Waffen im Wert von 30 Millionen Euro geliefert. Ich
sage hier ganz klar: Wir werden darauf achten, dass die
humanitäre Hilfe für diese Region immer deutlich höher
ist als die Waffenhilfe, die wir auch brauchen.
({10})
Die Bundeswehr und internationale Organisationen
bringen Nahrungsmittel, Medikamente, Impfstoffe,
Zelte, Decken und andere Hilfsgüter zu den Flüchtlingen. Allerdings ist das nur möglich, weil die kurdischen
Peschmerga mit Unterstützung der US-Luftwaffe den
Vormarsch des „Islamischen Staats“ vorerst gestoppt haben. Das war von ganz entscheidender Bedeutung; denn
humanitäre Hilfe setzt ein Mindestmaß an Sicherheit voraus, einen militärisch abgesicherten Bereich. In den von
ISIS beherrschten Bereichen gibt es praktisch keine
Möglichkeit, zu helfen.
Ich habe heute einen Bericht gehört, wonach in diesen
Gebieten noch nie so viele Mitarbeiter von NGOs, von
humanitären Organisationen zu Tode gekommen sind
wie in diesem Jahr, und das sollte allen zu denken geben,
die für humanitäre Hilfe eintreten. Solange wir keine Lösung haben, um die Hilfe auch zu den Menschen zu bringen, werden am Ende diejenigen, die das Risiko auf sich
nehmen, trotzdem zu helfen, die ersten Opfer sein. Das
kann nicht richtig sein, meine Damen und Herren.
({11})
Ich möchte an dieser Stelle meinen Respekt für die
Tapferkeit der Kurden bekunden. Sie haben sich den Terrormilizen mutig entgegengestellt und unschuldige Menschen verteidigt, während die irakische Armee fluchtartig das Feld geräumt und ihre Ausrüstung ISIS
überlassen hat. Wir können froh darüber sein, dass es die
Kurden gibt und sie ihr im letzten Jahrzehnt aufgebautes
Gemeinwesen schützen und verteidigen. Aber ohne internationale Unterstützung, ohne unsere Waffen, um die
uns die Kurden ausdrücklich bitten, drohen sie überrannt
zu werden. Ohne unsere Hilfe wäre ihr Kampf möglicherweise aussichtslos. Deshalb halten wir die Entscheidung der Bundesregierung für richtig, den Kurden auf
Bitten der irakischen Regierung neben militärischer
Schutzausrüstung auch dringend benötigte Waffen zu
liefern, damit sie die weiteren Angriffe der Terrormilizen
abwehren können.
Das, Herr Gysi, ist kein kommerzieller Rüstungsexport, sondern das ist eine Nothilfe zur Rettung von
Menschenleben. Es ist eine Nothilfe, um Hunderttausende von Flüchtlingen zu schützen, und kein kommerzieller Export von Kriegswaffen. Ich glaube, diesen Unterschied müssen Sie deutlich machen.
({12})
Weil die Grünen eben nicht mitgeklatscht haben: Auch
der deutsch-iranische Schriftsteller Navid Kermani, dem
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch Sie von den
Linken, vor wenigen Wochen hier im Hause noch begeistert applaudiert haben, fordert, dass wir uns einmischen. Er veröffentlichte vor kurzem in der Berliner Zeitung einen Artikel mit der Überschrift „Stoppt den
Islamischen Staat!“. Er beschreibt darin ISIS als „PolPot-Version des Islam“ und appelliert an die Weltgemeinschaft - das sind auch wir -, sich nicht damit abzufinden, dass eine Terrorgruppe wie ISIS brutale ethnische und religiöse Säuberungen durchführt. Ich finde,
meine Damen und Herren, Navid Kermani hat recht.
({13})
Handeln wir nicht, besteht die akute Gefahr eines
Völkermordes. Vor allem Christen, Jesiden, aber auch
die Schiiten und die Sunniten im Norden Iraks sind existenziell bedroht. Die Entstehung eines islamistischen
Terrorstaates hat aber nicht nur unübersehbare Folgen
für den gesamten Mittleren und Nahen Osten, sondern
wäre auch für uns und unsere Partner eine ganz unmittelbare Gefahr direkt an den Grenzen unseres NATO-Bündnisses. Niemand zweifelt daran, dass ein solcher Staat
ein dauerhafter Anziehungspunkt und eine Ausbildungsstätte für Terroristen wäre, die Gewalt dann auch nach
Europa tragen. Schon jetzt beteiligen sich mehrere Hundert deutsche Dschihadisten an den Massakern. Wenn sie
zurückkommen, dann drohen Terroranschläge auch in
Deutschland.
Trotz all dieser Argumente ist die Entscheidung über
eine Waffenlieferung an die Kurden keine einfache;
denn wir machen damit eine Ausnahme von dem Grundsatz, keine Waffen in Spannungs- und Kriegsgebiete zu
liefern. Wir haben uns auch diese Entscheidung nicht
leicht gemacht; denn sie ist mit Risiken verbunden.
Diese Waffen haben keinen Rückholschein. Auch wenn
die Bundesregierung alles daransetzen wird, dass unsere
Waffen nicht in falsche Hände geraten, und durch Teillieferungen Vorsorge trägt, dass im Nordirak keine Waffenlager entstehen, keine Waffenvorräte angelegt werden, wissen wir nicht zu 100 Prozent, was am Ende mit
ihnen passieren wird. Wer handelt, muss die Konsequenzen tragen.
Aber Verantwortung tragen nicht nur die, die handeln.
Verantwortung müssen wir auch tragen für unser Nichthandeln. Deshalb muss sich jeder hier im Hause der Abwägung stellen. Für mich persönlich ist dabei die Gefahr
eines fortgesetzten Völkermordes und weiterer Verbrechen gegen die Menschlichkeit eindeutig höher zu bewerten als das Risiko - das durchaus vorhandene Risiko -,
dass unsere Waffen in falsche Hände geraten. Deshalb
bin ich zutiefst davon überzeugt, dass die Bundesregierung die richtige Entscheidung trifft, wenn sie in einer
Ausnahmesituation nicht nur humanitäre Hilfsgüter und
Schutzausrüstung, sondern als Nothilfe auch Waffen
über die irakische Regierung an die Kurden liefert.
({14})
Herr Gysi, Sie haben gesagt: Mit Protestbriefen wird
man ISIS nicht stoppen. - Als ich das gelesen habe, habe
ich gedacht, der Mann hat recht. Heute vertreten Sie eine
andere Position.
({15})
Was Sie da vorhin vorgetragen haben, war für mich so
durcheinander, dass ich feststellen kann: Eine klare Linie
haben Sie in dieser Frage nicht.
({16})
In dieser Situation für einen Kurdenstaat zu plädieren
und gleichzeitig zu sagen, dass die Anwendung der Waffen in anderen Konflikten eine nicht auszuschließende
Gefahr ist,
({17})
das ist - ich will es einmal vorsichtig sagen - mindestens
ein Widerspruch. Bei den vielen Staaten, die nach Ihrer
Auffassung noch gegründet werden müssen, ist mir eines aufgefallen: Als die Kosovaren einen Staat gegründet haben, um sich gegen Übergriffe der Serben zu
schützen, da haben Sie nicht nach einem eigenen Staat
gerufen.
({18})
Wo waren Sie da, Herr Gysi? Es reicht auch nicht aus,
nur mit dem Finger auf andere zu zeigen und ihnen die
Schuld zuzuschieben. Richtig ist: Der Irakkrieg war ein
schwerer Fehler. Ich bin froh, dass wir 2003 mit Gerhard
Schröder einen Bundeskanzler hatten, der Deutschland
aus diesem Krieg herausgehalten hat.
({19})
Aber den Menschen im Irak, die unter dem Terror von
ISIS leiden, ist in keiner Weise geholfen, wenn wir die
Verantwortung nur bei den USA suchen und selbst nichts
tun.
Die Entscheidung für Waffenlieferungen an die Kurden ändert auch nichts an den Politischen Grundsätzen
der Bundesregierung für Rüstungsexporte. Diese Politischen Grundsätze verlangen von uns stets eine Entscheidung im Einzelfall. Dabei tritt der Grundsatz des Verbotes von Waffenexporten in Kriegs- und Krisengebiete
zurück, wenn besondere, überragende außen- und sicherheitspolitische Interessen der Bundesrepublik Deutschland ausnahmsweise für eine Genehmigung sprechen.
Unsere Grundsätze sehen also eine Ausnahme vor. Insofern ist eine Ausnahme eine Ausnahme und kein Tabubruch, meine Damen und Herren.
({20})
Ich finde, dass das fahrlässige und oberflächliche Gerede vom Tabubruch aufhören sollte,
({21})
weil es uns bei dieser Frage nicht hilft, eine verantwortliche Entscheidung gut zu begründen.
({22})
Rüstungsexporte in Krisenregionen aus rein wirtschaftlichem Interesse wird und darf es auch in Zukunft nicht
geben. Auch in Gebiete außerhalb von Krisenregionen
darf es keine Waffenlieferungen geben, wenn diese zur
Repression der eigenen Bevölkerung eingesetzt zu werden drohen. Rüstungsexporte sind eben kein Instrument
der Wirtschaftspolitik. Den restriktiven Kurs dieser Bundesregierung unterstützen wir mit allem Nachdruck,
meine Damen und Herren.
({23})
Die Waffenlieferungen sind zwar notwendig, aber sie
sind für eine friedliche Zukunft des Irak nicht ausreichend. Denn mit Waffengewalt kann man vielleicht
Kriege gewinnen, aber keinen Frieden erreichen; das
geht nur mit politischen Mitteln. Deshalb muss die neue
Regierung der nationalen Einheit, wie sie der designierte
Premierminister al-Abadi anstrebt, Schiiten, Sunniten
und Kurden einbeziehen. Die gemäßigten Sunniten dürfen im Irak nicht länger ausgegrenzt werden. Diese Ausgrenzung war einer der Hauptgründe für die vielen sunnitischen Überläufer. Nur wenn es gelingt, die politische
und religiöse Zersplitterung aufzuheben bzw. zu überwinden, hat der Irak eine Chance auf Stabilisierung.
Zweitens muss dafür gesorgt werden, dass ISIS keinerlei Unterstützung mehr erhält und von der internationalen Gemeinschaft konsequent geächtet wird. Ein erster
Schritt ist der Beschluss des UN-Sicherheitsrates. Aber
hier sind auch die Golfstaaten in besonderer Weise gefordert. Ich finde es im Übrigen unerträglich, dass eine
Terrororganisation wie ISIS auf internationalen Märkten
ungehindert Einnahmen aus Ölverkäufen erzielen kann.
Das muss politisch gestoppt werden.
({24})
Ich fasse zusammen: Als wirtschaftlich starkes Land
in Europa, als ein Land, das dankbar ist für die Verantwortung, die andere Länder jahrzehntelang für uns übernommen haben, können wir nicht einfach wegschauen,
wenn sich im Nahen Osten eine neue Terrorherrschaft
etabliert, die Millionen von Menschen bedroht. Die Entscheidung der Bundesregierung ist nicht im nationalen
Alleingang getroffen, sondern mit unseren Partnern abgestimmt. Sie ist kein Präjudiz für künftige Fälle. Sie ist
keine Kehrtwende in unserer Außen- und Sicherheitspolitik und erst recht kein Tabubruch, sondern sie ist das
Ergebnis einer verantwortungsethisch und sicherheitspolitisch wohlbegründeten Abwägung in einem Ausnahmefall, wie ihn die Welt schon lange nicht mehr gesehen
hat. Deshalb, meine Damen und Herren, finde ich es
richtig, dass wir jetzt Verantwortung übernehmen.
Vielen Dank.
({25})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht nun
der Kollege Anton Hofreiter.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Lage in der Ostukraine spitzt sich gefährlich zu. Es ist
offenkundig, dass Russland die Separatisten nicht nur
militärisch unterstützt, sondern zunehmend selbst militärisch aktiv wird. Gleichzeitig tischt uns Putin unverfroren Lügenmärchen auf. Diese Aggression Russlands darf
nicht folgenlos bleiben.
({0})
Wir brauchen eine einheitliche, eine entschiedene Reaktion der EU. Weitere Sanktionen gegen Russland sind
dringend notwendig. Ich persönlich hätte mir vom EUSondergipfel am letzten Samstag ein klareres Signal in
diese Richtung gewünscht.
({1})
Putin muss wissen, dass er für seine Doppelzüngigkeit
einen Preis zahlt.
({2})
Jedoch ist auch klar: Sanktionen allein werden die
Krise nicht lösen, erst recht nicht Militärmanöver, neu
formierte Eingreiftruppen oder irgendwelches Säbelgerassel. So schwer es einem angesichts der konstanten
Provokationen durch Putin auch fällt: Diese Krise kann
nur durch Verhandlungen und Diplomatie gelöst werden.
Gespräche müssen fortgesetzt, ja weiter intensiviert werden.
({3})
Die Ostukraine ist leider nicht der einzige Krisenherd
dieser Tage. Jeden Tag erreichen uns schreckliche Nachrichten aus dem Irak und aus Syrien. Die Terrormiliz
ISIS begeht unvorstellbare Grausamkeiten. Das kann
niemanden gleichgültig lassen.
Vor circa drei Wochen spitzte sich die Lage noch einmal dramatisch zu. Es drohte die Ermordung von Zehntausenden von Jesiden. Mithilfe der Kurden konnte der
weitere Vormarsch der Terrormiliz gestoppt werden. Es
war richtig und notwendig, dass die USA in dieser Situa4428
tion mit Luftschlägen militärisch gegen den ISIS vorgegangen sind.
({4})
Doch die Situation bleibt dramatisch. Millionen von
Menschen sind auf der Flucht. Sie leben unter katastrophalen Bedingungen: Sie haben keine festen Unterkünfte, und sie sind abgeschnitten von der Wasser- und
Lebensmittelversorgung.
Von dem ISIS geht weiterhin eine immense, eine tödliche Gefahr aus, insbesondere für die Menschen in Syrien und im Irak. Die internationale Gemeinschaft darf
den Irak, darf die Kurden in dieser Situation nicht alleine
lassen.
({5})
Es ist deshalb richtig, dass wir darüber diskutieren, was
Deutschland tun kann. Ja, es ist richtig, dass wir den Einsatz militärischer Gewalt prüfen.
Wir führen diese Debatte an einem historischen Datum. Genau heute vor 75 Jahren begann der Zweite Weltkrieg. Heute ist Weltfriedenstag. Vor 100 Jahren begann
der Erste Weltkrieg. Die Zurückhaltung vieler Menschen
in Deutschland gegenüber militärischen Einsätzen ist
eine der Lehren aus unserer Geschichte. Ich persönlich
weiß nicht, was daran schlecht sein soll.
Angesichts der schrecklichen Situation im Irak verbieten sich manche Tonlagen, in denen die Debatte geführt wird. Frau von der Leyen, ich weiß nicht, was Sie
in den letzten Wochen geritten hat. Es geht doch nicht
um die Frage, wie man ein Tabu brechen kann oder wie
es endlich gelingt, angebliche Scheren in den Köpfen der
Menschen zu beseitigen. Das ist doch eine reine Binnensicht.
({6})
Die Lehren aus der Geschichte sind selten eindeutig.
Wir führen die Debatte um eine militärische Beteiligung
Deutschlands zur Verhinderung schwerster Menschenrechtsverletzungen nicht zum ersten Mal. Zurückhaltung
heißt nicht, sich militärisch in jedem Fall herauszuhalten. Der Einsatz von militärischer Gewalt ist als letztes
Mittel in manchen Fällen sogar geboten. Das ist eine der
Lehren aus Srebrenica und aus Ruanda.
Es ist wichtig, die konkreten Hintergründe und Umstände jedes Einzelfalls zu betrachten. Die Dynamik und
die Folgen militärischer Interventionen sind meist sehr
viel komplexer und schwieriger, als zu Anfang gehofft.
Das sehen wir am Beispiel Afghanistans oder Libyens.
Die Situation, vor der wir nun im Irak stehen, ist selbst
eine Folge der Invasion der USA im Jahr 2003. Sie haben mit dieser Invasion einen Diktator gestürzt, aber damit haben sie eine ganze Region destabilisiert. Fragen
wie die nach den mittel- und langfristigen Folgen, nach
dem Vorhandensein einer erfolgversprechenden politischen Strategie oder nach realistischen Exitoptionen, leiten sich daraus ab. Man wird diese Fragen nie hundertprozentig sicher beantworten können, aber es gilt, sie
gründlich abzuwägen, und zwar vor der Entscheidung.
({7})
Sie schlagen uns nun vor, Waffen an die Kurden zu
liefern, um der Bedrohung durch ISIS Herr zu werden.
Erstmals in der Geschichte soll Deutschland Waffen direkt in einen kriegerischen Konflikt liefern. Wir reden
von Tausenden Gewehren, Pistolen und Panzerfäusten.
Die meisten von Ihnen tun sich nicht leicht mit dieser
Entscheidung. Manche Ihrer Argumente kann ich nachvollziehen. Manche Ihrer Argumente können viele der
Kolleginnen und Kollegen aus meiner Fraktion durchaus
teilen. Aber wir kommen nach unserer Abwägung mehrheitlich zu einem anderen Ergebnis: Niemand kann kontrollieren, wo diese Waffen am Ende landen oder zu welchem Zweck sie später eingesetzt werden. Die Kurden
werden diese Waffen nicht wieder zurückgeben. Diese
Waffen könnten der Treibstoff für zukünftige massive
innerirakische Konflikte zwischen Irakisch-Kurdistan
und der Zentralregierung werden. Waffen an eine Konfliktpartei zu liefern, hat sich in der Vergangenheit bereits öfters als schwerer Fehler erwiesen. Die Humvees,
mit denen die ISIS-Kämpfer in der Wüste unterwegs
sind, sind ursprünglich aus den USA geliefert worden,
sicher nicht mit der Intention, dass der ISIS damit
kämpft. Die Waffen, die in den letzten Jahren nach Libyen geliefert wurden, sind nun, nach allem, was man
hört, teilweise in der Hand des ISIS. Ein Teil der Waffen
ist an Boko Haram gegangen. Angeblich sind sogar
MILAN-Panzerabwehrraketen dabei, die Frankreich geliefert hat. Diese zukünftigen Risiken überwiegen aus
unserer Sicht gegenüber dem möglichen kurzfristigen
Nutzen, den die Lieferung dieser Waffen bringen kann.
Den Grundsatz, keine Waffen in Krisenregionen zu liefern, sollten wir auch in diesem Fall aufrechterhalten.
Ihre Entscheidung halten wir deshalb für falsch.
({8})
Wir halten Ihren konkreten Vorschlag für falsch, nicht
Ihre Intention. Es braucht eine internationale Strategie
gegen diese Terrorgruppe. Wir brauchen eine internationale Strategie im Sinne der internationalen Schutzverantwortung, im Sinne von Responsibility to Protect.
Diese Strategie fehlt bisher. Das hat selbst der US-Präsident gerade eingeräumt. Nötig ist eine stärkere Einbeziehung der Vereinten Nationen; und dann müssen wir alle
Verantwortung übernehmen.
({9})
Vor allem aber muss Deutschland eine humanitäre Offensive starten: Luftbrücke, Lieferung humanitärer Güter. Das hilft den Menschen vor Ort sofort. Es sterben
jetzt schon Menschen wegen mangelhafter Versorgung.
Es ist gut, dass die Nothilfe jetzt anläuft, aber wir fürchten, dass hier immer noch deutlich zu wenig geschieht.
Humanitäre Hilfe wird von viel zu vielen als selbstverständlich und damit auch als gegeben vorausgesetzt. DaDr. Anton Hofreiter
bei reicht das Geld aus dem World Food Programme,
wie die Hilfsorganisationen berichten, gerade noch bis
Mitte September. Die Mittel für diese Hilfe müssen
schnell aufgestockt werden.
({10})
Frau Merkel, wäre das nicht eine gute Gelegenheit für
die Bundesregierung, zu zeigen, dass sie dem Anspruch,
mehr internationale Verantwortung zu übernehmen, direkt gerecht wird?
({11})
Auch hinsichtlich der Flüchtlingsaufnahme hören wir
sehr unterschiedliche Stimmen aus der Koalition. Herr
Kauder, Sie waren im Irak und sind mit dem Eindruck
wiedergekommen, dass Deutschland mehr Flüchtlinge
aufnehmen muss. Herr de Maizière, Sie glauben, von Ihrem Schreibtisch im Ministerium aus entscheiden zu
können, dass die Flüchtlinge im Irak viel besser aufgehoben sind. Wir erwarten von der Bundesregierung, dass
sie mehr und nicht weniger für die Flüchtlinge unternimmt.
({12})
Es wäre ein Armutszeugnis, wenn wir als reiches, wohlhabendes Land nicht schnell und unbürokratisch mehr
Menschen aus dieser Region aufnehmen könnten.
Auch politisch müssen wir mehr tun - und es kann
mehr getan werden -; denn ohne eine politische Lösung
wird die Region nicht zu stabilisieren sein. Dass der designierte Ministerpräsident des Irak, al-Abadi, einen ausgleichenden Kurs verfolgt, ist zu begrüßen. Nur wenn
die neue irakische Regierung alle Volksgruppen in einem
fairen Ausgleich berücksichtigt, nur wenn es gelingt, die
sunnitischen Stämme aus dem Bündnis mit dem ISIS herauszulösen, gibt es eine Chance für eine Stabilisierung.
Deutschland hat doch einen sehr guten Ruf in der Region. Wir sollten ihn stärker nutzen, als die Bundesregierung dies in der Vergangenheit getan hat.
Saudi-Arabien und Katar unterstützen vielleicht nicht
offiziell den ISIS, aber aus diesen Ländern ist viel Geld
an radikale Kräfte geflossen. Frau Merkel, sie haben Katar und Saudi-Arabien als Stabilitätsanker gelobt und mit
Waffen beliefert. Frau Merkel, wäre es nicht klüger, statt
Waffen an diese Länder zu liefern, Druck auf sie auszuüben, dass die Unterstützung mit Waffen und Geld für
den ISIS, die aus diesen Ländern stattfindet, unterbunden wird?
({13})
Auch höre ich bedauerlich wenig von der Bundesregierung zu dem Problem, dass der ISIS über die türkisch-syrische Grenze hinweg unterstützt wird. Hier
braucht es mehr politischen Druck, damit unser NATOPartner Türkei die Grenze für die Unterstützer des ISIS
endlich schließt. All dies sind dringend notwendige politische Initiativen.
Während wir hier diskutieren, leiden die Menschen
im Irak weiter. Wir sollten deswegen alle Anstrengungen
unternehmen, um ihnen schnell und umfassend zu helfen. Die UNO ist vor Ort; sie braucht unsere Unterstützung. Die Lage der Hundertausenden von Flüchtlingen
im Nordirak verbessern wir mit Lebensmitteln, mit Medikamenten, mit Decken, mit Zelten und mit Wasseraufbereitung. Dieses Engagement ist wichtig. Viele von uns
haben Zweifel, ob dies alleine reicht. Aber so falsch es
ist, abseits zu stehen, so falsch ist es, zu handeln, ohne
die Konsequenzen des eigenen Handelns absehen und
verantworten zu können.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort erhält nun der Kollege Volker Kauder für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Ich bin wieder einmal - es wird nicht überraschen - ganz
anderer Auffassung als Gregor Gysi.
({0})
Gerade an diesem Tag! Wir haben uns diesen Tag für
eine Debatte zunächst nicht ausgesucht, uns dann aber
bewusst entschieden, diese Debatte am 1. September zu
führen. Denn dies ist auch eine Botschaft. Sie lautet - im
Gegensatz zu dem, was Gregor Gysi sagt -: Wir alle
wollen heute miteinander - die Linke einmal ausgeschlossen; ich beziehe die Grünen ein - einen Beitrag
dazu leisten - über das, was konkret gemacht werden
soll, reden wir noch -, dass Frieden entsteht und Krieg
gerade nicht.
({1})
Das ist die Botschaft des heutigen Tages.
Ja, Herr Hofreiter, während wir hier diskutieren, leiden Menschen in Syrien, im Irak und auch anderswo.
Aber sie haben auch auf die Entscheidung gewartet, die
gestern die zuständigen Ministerien getroffen haben, und
sie warten darauf, was wir heute im Deutschen Bundestag sagen. Deswegen bin ich froh, dass von allen Gruppen, die in Syrien und im Irak betroffen sind, heute Vertreter auf unserer Ehrentribüne anwesend sind; wir
haben sie zu dieser Debatte am heutigen Tag eingeladen.
({2})
Jesiden, Assyrer, chaldäische Katholiken, Aleviten und
auch Vertreter unserer Kirchen sind hier heute anwesend. Dies zeigt, dass dieses Thema doch sehr bewegt.
Die Frage, was wir jetzt tun können, um im Irak oder
auch in Syrien zu helfen, ist nicht ganz einfach zu beantworten. Deswegen ist es gut, wenn wir uns intensiver damit befassen.
Herr Gysi, man kann zu unterschiedlichen Einschätzungen hinsichtlich der Ereignisse im Jahr 2003 im Irak
kommen; das will ich gar nicht bestreiten. Aber der ISIS
- damals hat er noch so geheißen - ist nicht im Irak entstanden, sondern in Syrien. Die ganze Welt hat zugeschaut, wie er dort immer stärker geworden ist.
({3})
Ich habe schon damals gesagt, Amerika müsse sich der
Sache annehmen, doch alle haben geschrien: Keine Einmischung! - Der ISIS ist dann zum „Islamischen Staat“
geworden, als er, ermutigt durch die Erfolge in Syrien, in
den Irak eingefallen ist. Das ist die Verbindung. Die
These, weil die Amerikaner den Irak angegriffen haben,
sei der ISIS entstanden, ist grottenfalsch. Der ISIS ist in
Syrien entstanden.
({4})
Jetzt geht es darum, zu helfen. Vollkommen unabhängig davon, wie die Situation entstanden ist, muss den
Menschen, die in konkreter Not sind, geholfen werden.
Eine Diskussion, bei der es um das Wann, Hätte und
Wäre geht, hilft nicht weiter. Hunderttausende Flüchtlinge leben in dramatischen Verhältnissen. Wir, die wir
in Arbil waren und uns dort umgesehen haben - das waren die Kollegen Schockenhoff, Mißfelder und ich -, haben das gesehen. Dort wurde uns gesagt, wir müssten
helfen, damit sich die ohnehin schon bestehende
menschliche Katastrophe nicht noch weiter verschärfe.
Der kurdische Präsident Barsani hat zu mir gesagt, sie
seien 5 Millionen Menschen, jetzt erwarteten sie, dass
bis zu 1,4 Millionen Flüchtlinge bei ihnen leben würden.
Das ist in etwa so, als wenn 20 bis 30 Millionen Flüchtlinge in die Bundesrepublik Deutschland kämen. Er
sagte, das könnten wir ihnen nicht alleine überlassen.
Deswegen bittet er mit Recht darum, dass wir humanitäre Hilfe leisten.
Das hat die Bundesrepublik Deutschland getan; das
muss ich an dieser Stelle einmal sagen. Nicht irgendjemand ist dort hingeflogen, es war nicht ein Transporter
von irgendjemandem, sondern es waren Ursula von der
Leyen und ihr Kollege Steinmeier aus dem Auswärtigen
Amt, die den Transport der Güter dorthin begleitet haben. Herzlichen Dank dafür, dass Sie dies geleistet haben.
({5})
Frau Roth, es ist richtig, dass die Hilfe nicht ausreicht
und dass noch mehr getan werden muss. Aber es wäre
völlig falsch, nun zu fordern, Deutschland solle an dieser
Ecke noch etwas mehr machen, Frankreich an jener usw.
Wir brauchen eine in Europa koordinierte Hilfe. Mir haben die Vertreterin von UNICEF, der Oberbürgermeister
von Arbil, ein Deutschkurde, und andere gesagt, dass sie
erwarten, dass Europa seine Hilfe koordiniert; denn sie
brauchen keine vielen kleineren Hilfspakete, deren Verteilung sie vor Ort dann wieder organisieren müssen.
Worauf kommt es jetzt an? Natürlich geht es zum einen um Lebensmittelpakete. Aber vor allen Dingen müssen jetzt die Voraussetzungen dafür geschaffen werden,
dass die Menschen durch den Winter kommen.
({6})
In Dohuk leben Zehntausende Menschen auf dem blanken Boden, der, wenn es regnet, zu Schlamm wird. Sie
haben nur ein Zeltdach über sich, sonst nichts. In Arbil
leben die Menschen in nicht fertiggestellten Parkhäusern, in nicht fertiggestellten Hochhäusern. Es gibt Tausende von Kindern, die auf dem nackten Betonboden liegen müssen, die dort leben müssen und in vielen Fällen
nicht einmal das Nötigste zum Überleben haben. Sie
brauchen jetzt Hilfe. Diese Hilfe kann vor Ort geleistet
werden. Man hat mir gesagt, man bräuchte für den Winter Container, damit wenigstens die vielen Familien untergebracht werden könnten. Wenn man bedenkt, was
ein solcher Container kostet, dann kommt man auf Gesamtkosten bei diesem Projekt von insgesamt 200 bis
300 Millionen Euro. Da kann ich nur sagen: Wenn dies
die europäische Gemeinschaft nicht hat, dann muss man
wirklich verzweifeln, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Dann müsste man verzweifeln.
({7})
Deshalb bin ich der Bundeskanzlerin und dem Außenminister auch dankbar, dass sie mithelfen, diese Mittel
auf europäischer Ebene zu mobilisieren. Sie sind ja da,
und die Container können vor Ort fertiggestellt werden.
Es bleiben dann acht Wochen.
Warum ist dies so wichtig? Wenn man eineinhalb
oder zwei Tage lang in einer solchen Region ist, kann
man, auch wenn man mit noch so vielen Menschen gesprochen hat, nicht sagen: Ich habe mit den Menschen
gesprochen, und die Menschen haben mir dieses und jenes gesagt. - Wir haben schon mit vielen Menschen gesprochen, und die Botschaft war: „Wir würden gerne
wieder in unsere Heimat zurück“; denn viele haben dort
etwas verloren. Sie hatten einen kleinen Handwerksbetrieb, sie hatten ein kleines Geschäft oder waren als Lehrer tätig, und sie sagen: Wir hatten ein kleines Häuschen
oder eine Wohnung, wir hatten also etwas. Dorthin wollen wir wieder zurück, aber natürlich nur, wenn ihr uns
beschützen könnt. - Im Augenblick ist es wohl kaum zuzusagen, dass die Menschen in ihre Heimat zurück und
dort auch beschützt werden können.
Übrigens - das macht das ganze menschliche Drama
deutlich -: Das bezieht sich teilweise auch auf das Verhältnis zu den Nachbarn. Es wurde erzählt, dass man,
auch wenn man seit Jahrzehnten mit den Nachbarn zusammengelebt hat, eines Morgens nach dem Aufwachen
feststellen musste, dass ein „N“ an der Türe stand. Die
Nachbarn haben sie überfallen und hinausgeworfen und
ihnen alles weggenommen.
Deswegen haben die Menschen Sorge davor, zurückzugehen, und deshalb sagen sie: Wir brauchen eine Stabilisierung vor Ort. - Andere haben mir berichtet, sie
glaubten nicht mehr an eine Perspektive, und deshalb
wollen sie das Land verlassen. Beides gibt es. Deswegen
ist es richtig, mehr Flüchtlinge aufzunehmen.
({8})
Es ist aber ein glatter Irrtum, zu glauben, nur damit,
Flüchtlinge aufzunehmen, sei das Problem gelöst. Wir
müssen vor Ort helfen, um den Menschen dort eine Perspektive zu geben.
Es hat mich sehr angerührt - Sie wissen, dass ich bei
solchen Fragen nicht so leicht sensibel reagiere -, dass
der Präsident zu mir gesagt hat: Herr Kauder, ich habe
mit allen gesprochen und sie gebeten, nicht zu gehen,
sondern zu bleiben. Wir kämpfen miteinander, wir gewinnen miteinander, oder wir sterben miteinander. Aber
wenn ihr jetzt geht, dann ist es, als ob man einem Körper
Arme und Beine abschneidet. - Er hat gesagt: Wenn alle
gehen würden, die jetzt betroffen sind, dann hätte der
„Islamische Staat“ sein Ziel erreicht. Deswegen sagte er:
Helft uns, damit die Menschen eine Perspektive in dieser
Region über den Winter hinaus haben. - Deshalb sage
ich Ja zur Aufnahme von Flüchtlingen, aber wir müssen
auch alles dafür tun, dass diese Region nicht jesidenfrei
und christenfrei wird. Das sind die angestammten Gebiete dieser Menschen.
({9})
Diese Menschen haben dort, wie es formuliert worden
ist, ein Geburtsrecht.
Natürlich muss diese Region gesichert werden. Deswegen sind die Kurden, die das tun müssen, auch darauf
angewiesen, dass sie sich des „Islamischen Staates“ mit
seiner modernen Bewaffnung erwehren können. Selbstverständlich ist es wahr, dass die eingekesselten Jesiden
durch die amerikanische Luftwaffe und die Armee der
PKK einen Korridor zur Flucht bekommen haben. Aber
die Kurden haben mir erzählt, dass sie in den Zeitungen
gelesen haben, sie seien abgehauen und hätten alle im
Stich gelassen, als die IS-Miliz gekommen sei. Die militärische Führung hat mir dazu gesagt: Das war ganz
dramatisch. Wir haben mit unseren Waffen auf die gepanzerten Fahrzeuge des IS geschossen, und nichts ist
passiert. Wir haben weitergemacht. - Als die Soldaten
gemerkt haben, dass sie keine entsprechende Ausrüstung
hatten, um sich zu wehren, sind sie geflohen. Auch sie
wären lieber dort geblieben. Sie sagen: Jetzt helft uns
bitte, damit wir uns in Zukunft wehren können.
Ich will nicht und
ich erwarte nicht, dass Ihre Söhne und Töchter bei uns
im Irak für uns und für unsere Glaubensbrüder kämpfen.
Aber ich erwarte schon, dass Sie mich in die Lage versetzen, mich zu wehren, wenn die IS-Truppen weiter auf
dem Vormarsch sind. - Deshalb sind Waffenlieferungen
notwendig.
Natürlich kann man sagen, Herr Hofreiter: Wir wollen ein UNO-Mandat haben und dieses und jenes. - Nur:
Während wir hier diskutieren und einige ein UNO-Mandat verlangen, finden vor Ort Kämpfe statt. Für diese
Kämpfe brauchen die Menschen das notwendige Material, und zwar jetzt und sofort.
({0})
Deshalb ist die Entscheidung der zuständigen Ministerien völlig richtig. Damit nehmen wir unsere Verantwortung wahr. Ja, es ist auch richtig, den Blick darauf zu
richten, was in Zukunft geschehen soll: Die Kurden sind
durchaus pessimistisch, ob es gelingt, die sunnitischen
Stämme dazu zu bringen, den Weg der Gewalt wieder zu
verlassen; denn dass der IS im Irak so erfolgreich ist, ist
nur möglich, weil er die Unterstützung einer breiten Bevölkerung findet.
Es war doch so: Als die IS-Truppen in die Stadt
Mosul - das ist eine große Stadt - eingefallen sind, hat
sich ein großer Teil der Bevölkerung versammelt, hat ihnen geholfen und sie freudig als Befreier von der schiitisch gefärbten Regierung begrüßt, die für sie nichts gemacht hat. Diese Menschen sagen: Bisher ist kein
Vertreter unserer eigenen Regierung aus Bagdad zu uns
in die Region gekommen und hat mit uns gesprochen
oder sich um uns gekümmert. - Übrigens ist bis zum
heutigen Tage der deutsche Außenminister der einzige
Minister, den die Menschen in Kurdistan gesehen haben.
Bei diesen Punkten muss man natürlich sagen: Da
muss sich in Zukunft etwas ändern. Aber zu glauben,
dass dies alles in kurzer Zeit geschehen kann, ist ein Irrtum. Solange sich der „Islamische Staat“ - jetzt kommt
ein Punkt, von dem ich weiß, dass er nicht einfach ist nach Syrien zurückziehen kann, wenn wir die Bedingungen für ihn im Irak verschlechtern, so lange wird das
Problem nicht zu lösen sein.
({1})
Bei allem, was wir für den Irak tun - das haben wir
doch erlebt -, dürfen wir nicht vergessen: Kaum hatten
die Amerikaner und die Peschmerga-Armee den Druck
erhöht, sind die IS-Truppen nach Syrien ausgewichen
und haben an einem einzigen Tag 700 Männer abgeschlachtet - an einem einzigen Tag. Solange diese Truppen die 1 000 Kilometer lange Grenze, die gar keine
Grenze mehr ist, nach Belieben überqueren können, so
lange wird das Problem nicht gelöst werden. Eine solche
Grenze - über dieses Thema muss man sich einmal
ernsthaft unterhalten - kann nur durch Drohnen kontrolliert werden und durch sonst nichts.
({2})
- Ja, ja. - Wir müssen dafür sorgen, dass diese Terrorgruppe nicht weiter wächst. Sie ist nicht nur eine Gefährdung der Region dort, sondern - das hat die Bundeskanzlerin vorhin gesagt, und das haben auch schon viele
andere angesprochen - auch für unsere Region.
Es ist doch kaum zu fassen, dass Hunderte oder gar
Tausende von jungen Leuten aus ganz Europa sich dieser
Truppe anschließen und morden, schlachten, vergewaltigen und rauben. Das muss auch uns herausfordern, alles
zu tun, dass so etwas in unserem Land nicht geschieht.
Es kann auch nicht so weitergehen, dass radikale Salafis4432
ten in unserem Land für den Heiligen Krieg in Syrien
und im Irak werben. Das darf nicht passieren, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({3})
Ich bin außerordentlich dankbar - es hat zwar lange
gedauert, aber das ist jetzt egal -, dass der Vorsitzende
des Zentralrats der Muslime in Deutschland in diesen
Tagen klare Worte gefunden hat, indem er gesagt hat:
Die islamistische Terrorgruppe ISIS hat mit uns nichts
zu tun, und Unterstützung durch uns findet auch nicht
statt. - Für dieses klare Wort bin ich dankbar.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Plenum des
Deutschen Bundestages zeichnet sich ab, dass man
grundsätzlich der Meinung ist, es muss geholfen werden.
Draußen im Land findet noch die eine oder andere Diskussion statt, ob man dies darf oder nicht. Mich hat ein
Satz von Rupert Neudeck besonders beeindruckt. Er hat
gesagt: „Ich möchte nicht, dass Menschen sterben für die
Reinheit meines Pazifismus.“
Es gibt tatsächlich Phasen und Zeiten, in denen man
sich auf den Weg machen muss, um sich anderen in den
Weg zu stellen. Der „Islamische Staat“ darf in unserer
Welt keinen Erfolg haben, weil er nämlich etwas zerstören will, was, gerade von diesem Tag, dem 1. September,
ausgehend, für uns sehr wichtig ist: eine Welt der Freiheit bzw. der Religions- und Glaubensfreiheit, eine Welt,
in der die Menschen selbst entscheiden können, wie sie
leben wollen, unbedrängt von Terroristen. Deswegen ist
es richtig, dass die Bundesregierung sich so klar positioniert hat und dass wir dieses Anliegen in unserem Antrag
entsprechend unterstützen und an ISIS oder den „Islamischen Staat“ die klare Botschaft senden: Wir lassen euch
nicht gewähren!
Herzlichen Dank.
({5})
Niels Annen ist der nächste Redner für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Navid Kermani, der uns mit seiner Rede in diesem Hause zum Grundgesetz sehr berührt hat, sagte vor
wenigen Tagen über die Lage in Syrien und im Irak - ich
zitiere -:
Da geht jetzt eine Welt unter. … Im Nahen Osten
wird die multikulturelle Vielfalt erlöschen. Und
wenn diese Flamme einmal erloschen ist, wird man
sie nicht mehr beleben können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bilder der vertriebenen Jesiden oder der eingeschlossenen Turkmenen
bestätigen, wie recht er hat. Ich bin deswegen froh, dass
wir heute in diesem Hause diese Debatte führen. Denn
dieser Krieg betrifft auch uns. Er ist längst eine Bedrohung für die Staatlichkeit in der gesamten Region geworden. Die betroffenen Länder drohen unter den
Flüchtlingsströmen und unter dem militärischen Druck
von ISIS zusammenzubrechen. Deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, die jetzt für ISIS kämpfen, sind bei
ihrer Rückkehr eine Bedrohung für unsere Sicherheit.
Aber vor allem ist es eine Katastrophe für die betroffenen Menschen: Über 1 Million Menschen sind auf der
Flucht. Die Gewalt hat Ausmaße angenommen, die aufgrund ihrer barbarischen Abartigkeit schwer in Worte zu
fassen sind.
Ich habe in den letzten Monaten mehrfach Flüchtlingslager besucht, zweimal im Libanon, einmal in Jordanien und zuletzt im Irak. Es sind Bilder, die sich tief
eingeprägt haben. Dem UNHCR sowie den vielen Helferinnen und Helfern gilt meine Hochachtung. Es ist gut,
dass die Bundesregierung die Mittel für die humanitäre
Hilfe auf über 50 Millionen Euro aufgestockt hat. Nur,
Herr Kollege Hofreiter, die Menschen, die dort helfen,
brauchen ein sicheres Umfeld, in dem sie agieren können. Um diese Frage kann man sich doch nicht herumdrücken.
({0})
Von Teheran über Doha, von Ankara bis Riad, der
Schock über den Vormarsch von ISIS sitzt tief. Die
schlechte Nachricht über den atemberaubenden Vormarsch von ISIS eröffnet vielleicht auch die Chance, die
unterschiedlichen Protagonisten, die sich bedroht fühlen,
nun an einen Tisch zu bekommen. Deswegen ist es so
wichtig, dass wir einen politischen Prozess in Gang setzen. Zur Ehrlichkeit gehört, zuzugeben: Dass es überhaupt so weit kommen konnte, ist auch unser Versagen,
das Versagen der internationalen Gemeinschaft; denn
ohne den syrischen Bürgerkrieg hätte die Bewegung „Islamischer Staat“ vermutlich niemals einen solch starken
Zulauf gehabt. Ihn zu stoppen, haben wir bisher nicht
vermocht. Als es einen Krieg innerhalb des Bürgerkriegs
gab und sich islamistische Milizen gegenseitig bekämpft
haben, gab es den einen oder anderen Zyniker im Westen, der gesagt hat: Lasst sie sich doch gegenseitig abschlachten! - Das hat sich als ein gravierender Fehler herausgestellt; denn am Ende hat sich die brutalste und
rücksichtsloseste Strategie, die von ISIS, durchgesetzt.
Heute verfügt ISIS nicht nur über ein Territorium, sondern auch über die Ressourcen eines Staats. Es ist daher
höchste Zeit, alle Protagonisten unter dem Dach der
UNO an einen Tisch zu holen, ohne Vorbehalte und ohne
Rücksicht auf etablierte Politiken, wie sie leider auch die
EU praktiziert, etwa gegenüber der PKK.
Um die Orgie der Gewalt in Syrien und im Irak zu beenden, sollten wir bereit sein, miteinander zu reden. Die
Nachrichten über erste Gespräche zwischen Saudi AraNiels Annen
bien und Katar stellen vielleicht einen Hoffnungsschimmer dar; denn eines ist doch auch richtig: ISIS ist nicht
unbesiegbar. Die geradezu widernatürliche Allianz zwischen islamistischen Terroristen auf der einen Seite und
den ausgegrenzten Sunniten auf der anderen Seite hat
den Vormarsch von ISIS erst ermöglicht. Deshalb setzen
wir auf die neue Regierung al-Abadi und einen funktionsfähigen irakischen Staat. Doch dieser Prozess wird
Zeit brauchen. Das wird nicht von heute auf morgen gehen. Deswegen dürfen wir den Kurden kurzfristige Hilfe
nicht verwehren. Ein Zusammenbruch der irakisch-kurdischen Region hätte unabsehbare humanitäre, aber auch
politische Konsequenzen. Das können und dürfen wir
nicht zulassen.
({1})
Navid Kermani hat uns aufgefordert - Thomas
Oppermann hat ihn bereits zitiert -, den „Islamischen
Staat“ zu stoppen. Allein, dafür bleibt uns nicht viel Zeit;
denn seine Kämpfer haben hochmoderne amerikanische
Waffen aus den Beständen der irakischen Armee erobert.
Wenn wir die kurdische Region und die vielen Hunderttausend Flüchtlinge, die sie beherbergt, schützen wollen,
müssen wir die kurdische Regionalregierung in die Lage
versetzen, sich zu verteidigen, auch mit den dazu notwendigen Waffen. Deshalb unterstütze ich die Initiative
der Bundesregierung und bitte um Zustimmung.
Herzlichen Dank.
({2})
Ulla Jelpke erhält nun das Wort für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrte
Gäste! Seit 25 Jahren kenne ich die Region Kurdistan,
Türkei, Syrien, Irak sehr gut. Ich bin unmittelbar vor Ort
gewesen, als die jesidischen Flüchtlinge von der YPG
- das sind die Volkseinheiten in Syrien -, den Kurden
und der PKK befreit wurden.
Ich habe immer noch die schrecklichen Bilder vor
Augen. Ich habe gesehen, wie Zehntausende jesidische
Flüchtlinge vor den Mörderbanden des IS, des selbsternannten „Islamischen Staats“, geflohen sind. Frauen
haben berichtet, wie ihre Ehemänner massakriert wurden, dass Gliedmaßen abgeschnitten und ihre Söhne hingerichtet wurden. Es gab Hunderte und Tausende von
Kindern, die ihre ganze Familie verloren haben. Es gab
Massaker ohne Ende, Vergewaltigungen und Verschleppungen von Tausenden von Frauen in die Sklaverei. Man
kann in wenigen Worten gar nicht wiedergeben, was wir
dort erlebt haben. Deswegen möchte ich Herrn
Oppermann und Herrn Kauder ganz deutlich sagen: Wir,
die Linke, sind die Allerletzten, die das Recht der Kurden bestreiten würden, sich gegen diese Mörderbanden
zu verteidigen und zur Wehr zu setzen.
({0})
Dennoch möchte ich hier ganz deutlich sagen, dass
Waffenlieferungen in diese Region nicht der richtige
Weg sind. Es gibt dort reichlich Waffen. Ich will dafür
Beispiele bringen. Schon die Waffen, die von den USA
an die irakische Armee geliefert wurden, sind in die
Hände des IS, des Kalifats, gefallen, und der IS kämpft
nicht erst seit Monaten, wie hier suggeriert wird, sondern
seit Jahren. Man muss einfach sehr deutlich sagen, dass
diese Gotteskrieger auch in Deutschland und ganz
Europa immer als die Opposition bezeichnet wurden, als
die Rebellen. Damit hat sich auch Deutschland mitverantwortlich gemacht: Man hat über Jahre zugeschaut,
wie der IS stark wurde.
Ein zweites Beispiel: Die USA rüsten den Irak seit
langer Zeit auf. Erst im Juni sind die Waffen der irakischen Armee in Mosul dem IS praktisch kampflos in die
Hände gefallen. Anfang August - das haben wir gerade
erlebt - haben die Peschmerga die Region Shingal verlassen. Sie haben die Jesiden dort schutzlos dem IS überlassen. Es haben mir viele Flüchtlinge bestätigt, dass es
vor allem YPG und PKK gewesen sind, die den Korridor
für sie freigekämpft haben.
Wer heute Raketen an kurdische Truppen liefert, riskiert sehenden Auges, dass diese Waffen bei den Dschihadisten oder möglicherweise bei dem IS landen. Deswegen frage ich Sie: Können Sie überhaupt diese
Verantwortung übernehmen, können Sie überhaupt die
Waffenströme kontrollieren? Ich glaube nicht. Einen entscheidenden Anteil am Kampf gegen den IS - das habe
ich schon gesagt - haben die Volksarmeeeinheiten aus
Syrien und die PKK und nicht die US-Luftwaffe, wie
hier suggeriert worden ist. Sie hat nicht Zehntausenden
Jesiden das Leben gerettet. Das hat vielmehr der Fluchtkorridor getan, der errichtet worden ist.
Ich will Herrn Oppermann und auch Herrn Kauder
ganz deutlich sagen: Natürlich dürfen wir nicht nur über
den Irak reden, sondern wir müssen auch über Syrien reden. Wer sich das Gebiet auf der Karte anschaut, kann
sehen: Ein Drittel des Irak und ein Drittel Syriens sind in
den Händen des IS. Diese Kämpfe finden schon, wie gesagt, seit langer Zeit statt. Seit zwei Jahren verteidigen
die Kurden die Region Rojava gegen den IS. Diese Kurden sind einem Hungerembargo ausgesetzt, das ganz
restriktiv von der Türkei, aber leider auch von der
Barsani-Regierung durchgesetzt wird. Das heißt, wir haben es hier nicht mit einer einheitlichen Armee der Kurden zu tun, sondern nur mit einer Gruppierung.
Deswegen haben mir viele Kurden gesagt, dass sie
sich wünschen, dass mehr Druck auf Ankara ausgeübt
wird; denn Ankara unterstützt die Dschihadisten und den
IS. Zum Beispiel werden dort lastwagenweise Waffen
über die Grenze geschafft. Es gibt eigene Grenzübergänge, die von dem IS und den Dschihadisten kontrolliert werden. Immer wieder werden Verwundete des IS
in türkischen Krankenhäusern versorgt. Ich kann die
gerne nennen, aber meine Zeit reicht dafür nicht aus. Ich
will hier einfach deutlich machen: Wenn man etwas gegen den IS erreichen will, dann muss man als Erstes dafür sorgen, dass die Zufuhr von Waffen an diese Leute
gestoppt wird. Die muss man kontrollieren.
Dazu gehört auch, den NATO-Partner Türkei unter
Druck zu setzen, mit dieser Unterstützung endlich
Schluss zu machen.
({1})
Selbst die Tagesthemen haben vor einigen Tagen berichtet, wie offen die türkische Grenze für den IS ist. Die türkischen Grenzen müssen für diese Mörderbanden dichtgemacht werden. Ich habe es eben schon gesagt: Wer
den IS angesichts der Paktiererei des NATO-Mitglieds
Türkei mit den Terrorbanden wirklich glaubhaft bekämpfen will, muss erst einmal diese Nachschubwege
dichtmachen. Das bedeutet eben, keine Waffen mehr an
Staaten wie Saudi-Arabien, Katar oder die Türkei zu
schicken. Sie sind wirklich die Hauptunterstützer des IS.
Es ist doch wirklich unglaublich, meine Damen und
Herren, dass ausgerechnet hier in Deutschland der IS
nicht verboten ist, geschweige denn, dass er auf der EUTerrorliste steht, stattdessen aber die PKK, die ganz
offensichtlich Tausenden Menschen das Leben gerettet
hat. Es zeigt sich für mich hier eine enorme Heuchelei
dieser Politik, wenn jetzt plötzlich die Kurden entdeckt
werden und man ihnen Waffen geben will. Man muss
fragen: Warum sollen Waffen ausgerechnet nach Arbil,
an die Peschmerga-Kurden und an Barsani geliefert werden?
Frau Kollegin.
Man muss deutlich sagen: Es geht hier ums Öl, um
die Ölgeschäfte mit der Türkei. Schon jetzt liefert
Barsani gegen den Willen der Regierung in Bagdad Öl
an die Türkei. Ich denke, hier geht es wieder einmal
mehr um Öl und weniger um die Menschenrechte und
um die Menschen, wie es von Ihnen hier vorgegeben
wird.
({0})
Zum Abschluss möchte ich noch einmal deutlich machen: Natürlich unterstützen wir jede humanitäre Hilfe;
überhaupt keine Frage. Wir fordern sogar sehr viel mehr
für den Irak und für Syrien, als hier beschlossen worden
ist. Wir wollen vor allen Dingen, dass das Embargo gegen die Kurden in Syrien aufgehoben wird. Das ist wirklich ein Hungerembargo. Dadurch kommt dort nichts hinein: keine Medikamente, kaum Hilfsgüter. Deswegen
wollen wir, dass dieses Embargo aufgehoben wird.
Frau Kollegin.
Ich bitte Sie auch, ein Flüchtlingsaufnahmeprogramm
- es ist hier schon angesprochen worden, auch von Herrn
Kauder - aufzulegen. Ich halte es für dringend nötig,
dass Flüchtlinge in Deutschland aufgenommen werden.
Danke.
({0})
Gerda Hasselfeldt ist die nächste Rednerin für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nach wie vor erreichen uns täglich beunruhigende Nachrichten, erschreckende Bilder aus den Krisenregionen
der Welt, insbesondere aus dem Irak. Deshalb ist es richtig, dass wir uns in dieser Sitzung ernsthaft mit der Beantwortung der Fragen auseinandersetzen: Was können
wir tun? Welchen Beitrag können wir, kann Deutschland, kann Europa leisten, ja, welchen Beitrag müssen
wir in dieser Situation leisten, um das Leid dieser Menschen zu lindern, um ihnen zu helfen und um weiteres
Leid von ihnen abzuwenden?
Ich möchte den Mitgliedern der Bundesregierung sehr
herzlich danken für die Diskussion, die sie schon in den
vergangenen Wochen geführt haben. Dankbar bin ich
auch für die Diskussion mit den Kolleginnen und Kollegen der zuständigen Ausschüsse. Sie waren immer informiert; die Fraktionen wurden auf dem Laufenden gehalten. Das ist in der Sommerpause nicht selbstverständlich.
Es war gut; es war hervorragend. Ich bedanke mich dafür sehr herzlich.
({0})
Wozu die Terrormiliz ISIS in der Lage ist, das hat sie
gezeigt, nicht nur in der gezielten Jagd auf Jesiden und
Christen, sondern auch mit der Enthauptung des Journalisten Foley und der massenhaften Hinrichtung von Gefangenen. Hunderttausende von Menschen waren und
sind auf der Flucht. Viele von ihnen mussten ihr Leben
lassen durch die Hand der Dschihadisten, teilweise aber
auch aus Mangel an Lebensmitteln und Wasser und zum
Teil einfach aus Erschöpfung. Wir hören aber auch von
Massenvergewaltigungen. Wir hören von Zwangskonvertierung und von Menschenhandel auf Sklavenmärkten. Da können wir nicht einfach zuschauen.
({1})
Aber mehr noch: Es sind nicht nur die Menschen bedroht - ihre Menschenwürde und ihr Leben. Die Terrormiliz ISIS ist eine Bedrohung für die Region insgesamt
und eine Bedrohung für Deutschland und Europa. Der
ISIS denkt totalitär. Er ist totalitär. Er handelt totalitär.
Totalitäre Regime, meine Damen und Herren, machen
nicht halt vor moralischen oder geografischen Grenzen.
Der ISIS will ein länderübergreifendes Kalifat. Er strebt
ohne Rücksicht auf eigene oder fremde Verluste nach
globaler Ausdehnung und bezieht sein unheilvolles
Potenzial aus der gefährlichen Mischung von menschenverachtender Ideologie, erheblichen finanziellen Mitteln
und modernen Waffen. Sie sehen also: Millionen von
Menschen sind bedroht. Bedroht ist aber auch die Stabilität einer ganzen Region. Bedroht ist die Sicherheit in
Deutschland und in Europa.
Wenn ich eines aus unserer eigenen Geschichte und
aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts gelernt habe,
dann ist es dies: Bei Völkermord, bei solchen Gräueltaten, wie wir sie dort jeden Tag sehen müssen, dürfen wir
nicht einfach wegschauen, sondern müssen handeln,
müssen Verantwortung zeigen. Wir müssen diesem Wüten des IS Grenzen setzen und entschieden entgegentreten.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen und
von den Linken, es ist mir schon ein Bedürfnis, auf den
Widerspruch in Ihren Reden hinzuweisen. Es ist einfach
nicht glaubwürdig, wenn Sie auf der einen Seite sagen:
„Wir dürfen die Kurden nicht alleinlassen“, die ungeheuerlichen Gräueltaten, die Barbarei genauso erkennen wie
wir alle in diesem Haus, und auf der anderen Seite sagen: Aber die Verantwortung für eine umfassende Hilfe,
({3})
nicht nur für eine humanitäre Hilfe, sondern für eine
Hilfe, die den IS wirklich stoppt in seinem Tun, verweigern wir; dazu sind wir nicht in der Lage.
({4})
Das ist für mich schwer verständlich und, mit Verlaub,
auch ein Stück inkonsequent.
({5})
Die Bundesregierung hat sich entschieden, den Menschen im Irak zu helfen, ihnen beizustehen, in enger Abstimmung mit der Regierung im Irak die Peschmerga
und ihren Kampf gegen den IS zu unterstützen. Dieser
Kurs ist richtig. Wir dürfen die Menschen in dieser außergewöhnlichen Notlage nicht alleinlassen.
Dabei steht im Vordergrund in der Tat die Hilfe für
die Menschen, die humanitäre Hilfe, die zivile Hilfe. Es
wurde bereits angesprochen: Deutschland gibt für diesen
gesamten Bereich mittlerweile schon 50 Millionen Euro.
Damit werden regionale UNHCR-Projekte und -Programme unterstützt. Die Arbeit des Roten Kreuzes, die
Arbeit des Technischen Hilfswerks, die Arbeit der kirchlichen Organisationen und vieler anderer Organisationen
wird genauso unterstützt wie die Feldküchen des Welternährungsprogramms.
Es ist richtig, dass die Europäische Union auch in dieser Richtung aktiv ist, und zwar mit 17 Millionen Euro.
Es ist aber genauso richtig, dass hier noch eine ganze
Menge zu tun ist, insbesondere vor dem Hintergrund,
dass sich in wenigen Wochen die klimatischen Verhältnisse dort ändern, wir einen Winter vor uns haben und
die Menschen Medikamente, Decken, Zelte, medizinische Hilfsgüter und vieles andere benötigen. Das wird
zwar heute schon dorthin geliefert; es reicht aber noch
nicht. Ich bin deshalb sehr dankbar dafür, dass gestern
Abend auch entschieden wurde, diese Hilfen kontinuierlich weiterzuentwickeln, für Nachhaltigkeit zu sorgen
und dieses ganz fest im Blick zu behalten. Dafür bin ich
sehr dankbar.
({6})
Meine Damen und Herren, ich möchte bei der Gelegenheit auch den Helferinnen und Helfern der Organisationen vor Ort danken, die dort unter Einsatz ihres Lebens arbeiten und die unter schwierigsten Bedingungen
den Menschen - den Kurden, Christen und Jesiden - zur
Seite stehen, sie unterstützen und ihnen auch mit den
Hilfsgütern behilflich sind. Ihnen gebühren unser großer
Dank und unsere Anerkennung für diese Tätigkeit.
({7})
Es wurde vorhin von einigen Rednern erwähnt - ich
möchte es ausdrücklich unterstreichen -: Es geht darum,
die Menschen zu retten. Es geht aber auch darum, deren
Lebensraum zu retten. Wir müssen alles daransetzen,
dass die Menschen dort gar nicht erst zu Flüchtlingen
werden. Das wollen sie auch nicht. Volker Kauder hat
das auch aufgrund seiner Erfahrungen in den letzten Tagen sehr eindringlich geschildert. Die Menschen wollen
nicht als Flüchtlinge in Deutschland sein, sondern als
freie Menschen selbstbestimmt in der angestammten
Heimat leben. Das ist das Interesse der Menschen dort
im Irak, und das ist nur allzu verständlich. Dafür müssen
wir Sorge tragen. Wir dürfen uns nicht zurücklehnen und
zu einer vermeintlich einfacheren Lösung kommen,
nämlich sie nur bei uns aufzunehmen. Das gehört auch
dazu. Aber es nicht das Einzige und hat nicht Priorität.
Die Menschen wollen in ihrem Lebensraum bleiben. Wir
müssen dafür sorgen, dass sie dies auch können.
({8})
Neben der rein zivilen Hilfe wurde auch schon vieles
in Richtung Verbesserung der Ausrüstungssituation getan. Ich bin der Verteidigungsministerin sehr dankbar für
die Arbeiten im Vorfeld in Bezug auf Schutzwesten,
Helme, Funkgeräte, Nachtsichtgeräte und Ähnliches.
Das wurde in den letzten Tagen vorbereitet; denn auch
das gehört dazu. Aber humanitäre Hilfe und Ausrüstungshilfe können nur dann nachhaltig sein, wenn die
entsetzliche Barbarei des ISIS eingegrenzt und beendet
werden kann. So wichtig die humanitäre Seite der Hilfe
ist, sie würde verpuffen, wenn wir nicht helfen, den IS
grundsätzlich zu stoppen. Ich bin dankbar dafür, dass
auch die Kirchen bei uns im Land diese Meinung vertreten.
({9})
Die Entscheidung, die die beteiligten Minister der
Bundesregierung gestern getroffen haben, war richtig.
Denn was helfen die Decken, Medikamente und Zelte
den Menschen, wenn sie in den Decken und Zelten ihre
Menschenwürde oder gar ihr Leben verlieren? Das müs4436
sen wir mit bedenken. Deshalb reicht die rein humanitäre Hilfe in dieser ausgesprochenen Notsituation eben
nicht aus.
({10})
Natürlich kann man sich fragen: Brauchen wir mehr
Zeit? Brauchen wir eine internationale Strategie, wie es
vorhin angesprochen wurde? - Wenn wir noch ein bisschen mehr Zeit verstreichen lassen, dann brauchen wir
uns wahrscheinlich gar nicht mehr darüber zu unterhalten, was noch notwendig ist, weil dann viele von denen,
die es zu retten gilt, gar nicht mehr da sind.
({11})
Deshalb haben wir hier eine große Verantwortung, eine
Aufgabe, bei der es sich wirklich lohnt, miteinander kontrovers zu diskutieren, sich auch die Meinung anderer
anzuhören, was wir heute tun, aber sich dann eben auch
der Verantwortung zu stellen und zu helfen.
Die Vorgaben dessen, was gestern entschieden wurde,
sind so eng gefasst, wie es in dieser Notlage nur möglich
ist: Erstens. Wir tun nichts alleine; wir tun alles in enger
Abstimmung mit den anderen Staaten. Zweitens. Es
geschieht auf die ausdrückliche Bitte der irakischen
Zentralregierung hin und in enger Abstimmung mit ihr.
Drittens. Für die Verteilung wird eine internationale Koordinierungsstelle eingerichtet. Viertens. Wir tun dies
nach bestem Wissen und Gewissen; die Unterstützung
geht an die irakische Zentralregierung und ist für die
Peschmerga-Kurden - und nur für sie - bestimmt.
Wir sind nicht blauäugig und wissen sehr wohl um die
Risiken; aber es geht in dieser Situation um das Abwägen zwischen dem, was man zu verantworten hat, und
dem, was möglich ist.
Ich danke Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, und den beteiligten Bundesministern sehr herzlich für die besonnene und gründliche Art und Weise der Vorbereitung
dieser Entscheidungen. Ich denke, dass die auf den Weg
gebrachten Entscheidungen zweierlei bedeuten: Sie sind
ein starkes Zeichen der Hilfe für die Menschen und der
Solidarität mit den Menschen im Irak. Gleichzeitig sind
sie ein klares Signal gegen Völkermord und Terror. Deshalb unterstützen wir diese Entscheidung der Bundesregierung.
({12})
Das Wort erhält nun der Kollege Omid Nouripour für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist eine unglaublich schwierige Entscheidung, und wir
wissen, dass die meisten in diesem Hohen Hause, die
sich mit der Frage beschäftigen, sehr mit sich ringen, wie
man die Barbaren des ISIS aufhalten kann. Wir sind uns
weitgehend einig - viele sind sich einig, ich gehöre dazu -,
dass das nur mit militärischen Mitteln geht. Aber zwei
Argumentationsstränge, die ich bisher gehört habe, kann
ich leider so nicht stehen lassen.
Erstens. Ich bin heute auf den Tag genau seit acht Jahren im Deutschen Bundestag, und ich habe in acht Jahren nicht ein einziges Mal einen solchen Antrag gesehen,
wie Sie ihn heute vorlegen.
({0})
Wir diskutieren seit Wochen laut und heftig die Frage
der Waffenlieferungen, und dann bringen Sie einen Antrag ein, in dem nicht einmal das Wort vorkommt. Wenn
Sie das machen wollen, dann reicht es nicht, wenn Sie
sich hier hinstellen und offensiv dafür werben - Herr
Kauder hat es getan, ein paar andere haben es getan; ich
bin für die Art und Weise, nicht für die Argumente, sehr
dankbar -, sondern dann müssen Sie es heute auch beschließen lassen. Das machen Sie aber nicht, weil Sie die
Debatte fürchten. Das wird der Ernsthaftigkeit des Themas nicht gerecht.
({1})
Zweitens. Es wird hier eine binäre Logik vertreten:
entweder 0 oder 1. Herr Steinmeier hat immer wieder
gesagt: Es geht bei den Waffenlieferungen um Handeln
oder Nichthandeln. - Herr Oppermann hat heute gesagt:
Man muss etwas tun. - Es gibt aber nicht nur Waffenlieferungen oder Nichtstun.
({2})
Ich habe heute Staatsbürger jesidischen Glaubens,
Unternehmer aus Köln, getroffen. Sie haben in der großen Angst um ihre Glaubensbrüder und -schwestern in
den Bergen von Sindschar in ihrer Nachbarschaft in
Köln um Spenden gebeten und von ihren deutschen
Nachbarinnen und Nachbarn - dafür sind sie zutiefst
dankbar - tonnenweise humanitäre Güter bekommen.
100 Lkw voller Klamotten, Decken und Pharmazie stehen seit drei Wochen an der Grenze zwischen der Türkei
und Syrien, am Grenzübergang in Ibrahim Khalil, und
die Türkei lässt diese humanitären Güter nicht durch. Es
ist nicht Nichtstun, mit einem NATO-Partner einmal ein
offenes und lautes Wort zu sprechen, dass diese Art von
Grenzmanagement, bei der ISIS freien Verkehr über die
Grenze hat, aber humanitäre Güter nicht durchkommen,
nicht akzeptabel ist.
({3})
Es ist nicht Nichtstun, wenn man mit der Regierung in
Bagdad über die Notwendigkeit einer inklusiven Regierungsführung spricht; denn die Sunniten fühlen sich diskriminiert. Sie bemängeln seit dreieinhalb Jahren zu
Recht, dass sie keinen Anteil am immensen Reichtum
des Landes haben. Viele der Städte im Norden des Landes sind beim Vormarsch des ISIS nach Mosul gefallen,
weil die Sunniten die Seiten gewechselt haben. Sie sagen: Wir wollen ein Mindestmaß an Schutz. Wir wurden
unter al-Maliki beschossen, als wir zum Beispiel in Ramadi friedlich demonstriert haben. - Man muss diesen
Menschen entsprechende Signale geben. Die Situation
klar und deutlich anzusprechen, das ist nicht Nichtstun.
Nur so kann man langfristig etwas gegen ISIS tun.
({4})
Das Zeitargument, Herr Kauder, das Sie angeführt haben, ist sehr vage. ISIS ist nicht aus dem Nichts gekommen. ISIS hat vor über einem Jahr die gesamte riesige
Westprovinz Anbar erobert. In diesem Zusammenhang
ging es um die Situation der Sunniten. Man wusste nicht
genau, wie man sie schützen soll. Ich war Ende Mai deswegen in Bagdad. Die zentrale Frage aller Irakis war:
Wo seid ihr Deutschen? Wo ist euer politisches Engagement? Wann redet ihr endlich einmal mit al-Maliki, der
Gott sei Dank inzwischen nicht mehr Ministerpräsident
ist, damit er etwas tut?
({5})
Sie haben die Finanziers angesprochen. Es ist nicht
Nichtstun, die Finanziers darauf hinzuweisen, dass durch
ISIS billiges Öl von den Ölfeldern von Ragga und anderswo zum Beispiel an Assad verkauft wird. Ich habe
am 2. Juni von der Bundesregierung die Information erhalten, man wisse nichts davon, dass ISIS Ölfelder habe;
ich habe die Antwort hier. Es ist nicht Nichtstun, wenn
man genauer hinschaut. Dann braucht man auch nicht
plötzlich in Aktionismus zu verfallen, wie das derzeit
der Fall ist.
({6})
Es ist auch nicht Nichtstun, nach einem regionalen
Ansatz zu suchen, die Nachbarstaaten an einen Tisch zu
bringen und wirklich Druck zu machen, damit die ewige
Feindschaft zwischen Saudi-Arabien und Iran bei dem
Thema ISIS - da sind sich doch alle einig - endlich aufhört.
Frau Hasselfeldt, das, was Sie gesagt haben, kann ich
wirklich nicht so stehenlassen. Lesen Sie unseren Entschließungsantrag. Dort steht eindeutig drin: Wir wollen,
dass sich Deutschland an die UN wendet, dort die Responsibility to Protect, die Schutzverantwortung, festgestellt wird und sich Deutschland dann gegebenenfalls an
der Umsetzung beteiligt. Wenn das für Sie Nichtstun ist,
dann verstehe ich, warum Sie in der von mir angesprochenen binären Sicht der Welt verhaftet sind.
({7})
Eine letzte Frage habe ich noch. Ich weiß noch immer
nicht, wer diese Waffen aus Deutschland bekommen
soll. Zunächst hieß es: die Kurden. Gestern hieß es, eine
konkrete Peschmerga-Brigade würde sie bekommen. Die
Peschmerga haben in Sindschar meines Wissens nicht
gekämpft, aber es kann ja Sinn machen. Wie gesagt: Ich
verstehe die Argumente der anderen Seite. Heute haben
wir im Ausschuss noch einmal nachgefragt: Sind das
PUK-Peschmerga oder PDK-Peschmerga? Ich habe bisher keine Antwort erhalten.
Frau Hasselfeldt, Sie haben sich im Übrigen nicht
ganz an die Wahrheit gehalten, als Sie gesagt haben, es
gehe darum, ISIS zu vertreiben. Es geht nicht darum,
dass die Peschmerga Mosul erobern. Die Kurden sagen
- ich verstehe ihre Sicht völlig -, sie wollten Kurdistan
verteidigen. Es geht nicht darum, ISIS in ganz Nordirak
zu bekämpfen. Deshalb kann man nicht sagen: Es geht
um Waffenlieferungen oder um gar nichts.
Ich bin sehr froh, dass auch Syrien genannt worden
ist. Das ist ein wahnsinnig wichtiges Thema, über das
wir in den nächsten Wochen intensiver diskutieren müssen, als wir es bisher getan haben.
({8})
Anfang des Jahres wurde ein riesengroßer Aufschlag
gemacht. Es hieß, es gehe um mehr Verantwortung der
deutschen Außenpolitik, Deutschland sei zu groß, um an
der Seitenlinie zu stehen. Wenn das so ist, dann gilt es
aufgrund dieser Verantwortung, jetzt genau hinzuschauen und nicht erst dann zu reagieren, wenn es
brennt. Man muss bereit sein, die öffentliche Diskussion
anders zu führen, als Sie es bisher getan haben.
({9})
Ich erteile nun das Wort dem Kollegen Philipp
Mißfelder für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst einmal möchte ich, Herr Kollege Nouripour,
klarstellen, dass es in den vergangenen Jahren die
Unionsfraktion war, die das Thema Irak immer wieder
auf die Tagesordnung des Auswärtigen Ausschusses gesetzt hat. Ich meine, da waren Sie dabei. Ich möchte
auch betonen, dass ich den Kollegen van Aken von der
Linksfraktion dort als aktiveren Kollegen erlebt habe als
Sie. Deshalb ist die von Ihnen eben getroffene Pauschalisierung, wir würden erst dann unserer Verantwortung
gerecht werden, wenn es brennt, absolut unzutreffend.
({0})
Ich verweise auch darauf, dass in einer Zeit, als
viele Politiker aus diesem Hause in ihren Reden noch
an al-Maliki festgehalten und seine falsche Politik in
schönen Farben gemalt haben, unsere Bundeskanzlerin
als eine von wenigen Staats- und Regierungschefs bereit
war, den Präsidenten der autonomen Region Kurdistan,
Massud Barsani, zu empfangen. Das war im vergangenen Jahr. Premierminister Netschirwan Barsani hat sie
ebenfalls empfangen. Vor diesem Hintergrund möchte
ich deutlich sagen, dass die Hilfe, dass die Unterstützung, die die autonome Region Kurdistan seit Jahren aus
Deutschland erhält, keine Eintagsfliege ist, sondern Ausdruck eines langfristigen Engagements. Das dokumentieren wir sowohl durch den Antrag heute als auch durch
die Entscheidung, die gestern gefallen ist, als auch durch
das, was Gerd Müller und sein Haus an langfristiger Unterstützung zugesagt haben, nämlich durch die Ausweitung des humanitären Beitrags. Diesen Dreiklang halte
ich für sehr wichtig und für zentral.
({1})
Was ist in Kurdistan, was ist im Nordirak passiert?
Noch vor einigen Wochen waren sich die Kurden sehr sicher, dass sie in der Lage wären, jederzeit mit ihren
Peschmerga-Einheiten den IS bzw. Daish zurückschlagen zu können. Diese Sicherheit hat sich als trügerisch
erwiesen. Dafür gibt es verschiedene Gründe, auf die
hier schon mehrere Redner eingegangen sind. Zu den
Gründen gehört sicherlich, dass die Motivation dieser
Bande ganz anders ist als die Motivation einer normalen
Armee. Im Grunde steht man einer Armee von Selbstmordattentätern gegenüber. Das hat sicherlich dazu geführt, dass ein taktisches Ausweichen der Peschmerga
notwendig wurde, was sie politisch einen relativ hohen
Preis gekostet hat. Natürlich kam gerade bei den Jesiden
die Frage auf, warum die Peschmerga zurückgewichen
sind. Meine Erklärung dafür lautet: Dieses taktische
Ausweichen war notwendig, weil selbst die gut vorbereiteten Kämpfer der Kurden nicht damit gerechnet haben,
dass ISIS so gut ausgestattet ist.
Das ist der zweite Punkt. ISIS ist so gut ausgestattet
wie kaum eine andere Terrorgruppierung. Das liegt daran, dass sie Geld erobert haben, ihnen aber auch aus anderen Ecken des Nahen Ostens Geld zugeleitet wurde.
Darüber kann man jetzt lange spekulieren. Wenn mir jemand aus diesem Hause genau sagen kann, wer wann wo
ISIS unterstützt hat, bin ich natürlich sofort bereit, die
härtesten Maßnahmen, die der UNO-Sicherheitsrat vor
zwei Wochen beschlossen hat, anzuwenden. Aber die
konkreten Beweise liegen eben noch nicht vor. Deshalb
bitte ich Sie: Hören Sie auf, im Nebel herumzustochern
und zu sagen, man wüsste genau, wer was wann getan
hat. Das ist in diesem Zusammenhang nämlich nicht so
einfach, wie Sie das darstellen. Seien Sie versichert: Die
Bundesregierung und die ihr unterstehenden Behörden
beobachten das ganz genau. Sobald Beweise vorliegen,
wird natürlich der Beschluss des UNO-Sicherheitsrates
angewandt werden.
Eines ist klar - das ist aus meiner Sicht das größte
Problem -: Die Motivation dieser häufig sehr hoffnungslosen jungen Männer, die sich dieser Truppe angeschlossen haben, ist mit Sicherheit die größte Gefahr, die von
ISIS ausgeht. Diese jungen Männer haben nichts zu verlieren, und sie haben sich dieser Gruppierung in einer
Zeit angeschlossen, in der sie auf dem Vormarsch ist. Sie
schlagen mit viel größerer Brutalität zu als die anderen
Terrorgruppen zuvor. Das wird uns sicherlich längerfristig beschäftigen. Ich glaube daher, dass die Lösung nicht
mit Waffengewalt allein erreicht werden kann, sondern
ein größerer politischer Ansatz notwendig ist. Gerade
deshalb haben Spitzenvertreter unserer Fraktion immer
wieder das Gespräch mit den Kurden gesucht. Volker
Kauder und Andreas Schockenhoff haben von den Gesprächen berichtet.
Der Kollege Ströbele würde gerne eine Zwischenfrage stellen. Darf er das?
Sehr gerne.
Bitte schön.
Herr Kollege Mißfelder, Sie haben darauf hingewiesen, dass die Peschmerga Probleme hatten, die ISISTruppen abzuwehren, und sich deshalb zurückgezogen
haben. Haben Sie auch zur Kenntnis genommen, dass
diejenigen, die tatsächlich Flüchtlinge gerettet haben,
überwiegend PKK-Kämpfer waren, die sich auch in der
Gegend dort aufhalten? Und was sagen Sie dazu, dass es
von den Eingeweihten - auch von denjenigen, die aus
Deutschland in den Irak reisen - mit großem Lob versehen wird - übrigens auch von mir -, dass sich die PKKKämpfer dort durchgesetzt und viele Flüchtlinge gerettet
haben, aber gleichzeitig die reine Mitgliedschaft in der
PKK in Deutschland dazu führt - solche Urteile werden
hier ständig gefällt -, dass man mehrere Jahre ins Gefängnis kommt? Halten Sie es nicht für etwas sehr schizophren oder pervers, die PKK auf der einen Seite, weil
sie dort Positives bewirkt hat, zu loben und sie auf der
anderen Seite hier strafrechtlich zu verfolgen?
Nein, ich halte das nicht für pervers - so haben Sie es
bezeichnet -, sondern für eine Realität, wie sie allzu häufig typisch für den Nahen Osten ist. Das, was Sie Positives über die PKK, genauer gesagt über den syrischen
Teil einer der PKK sehr nahestehenden Organisation gesagt haben, ist ja richtig. Natürlich hat die PKK an der
einen oder anderen Stelle konstruktiv gewirkt. Sie hat
sich allerdings noch lange nicht von ihrem eigentlichen
Ziel losgesagt, auch gegen den Widerstand der Türkei
ein Großkurdistan errichten zu wollen.
Diese Diskussion über die Frage eines möglicherweise unabhängigen Kurdenstaates wird bei uns immer
vermischt. Aus der deutschen Perspektive wird allzu
häufig so getan, als ob das, was die autonome Regierung
in Arbil sagt, genau das Gleiche wäre wie das, was die
PKK proklamiert. Das ist nicht so. Deshalb war auch der
Appell an Ankara vorhin nicht falsch. Es ist doch eine
große politische Leistung gewesen, dass sich die Regierung in Arbil mit Ankara ausgesöhnt hat. Das hat die
PKK nicht, Herr Ströbele. Solange das nicht der Fall ist
und solange die PKK weiterhin eine Terrorgefahr für ein
NATO-Land darstellt - sie hat auch versucht, diese Konflikte in Deutschland auszutragen; das ist ja hinlänglich
bekannt -, bin ich der Meinung, dass die Einstufung der
PKK nach wie vor gerechtfertigt ist, egal ob sie in den
letzten Wochen Gutes oder Schlechtes getan hat.
({0})
Ich wollte auf den Punkt hinweisen, den Andreas
Schockenhoff und Volker Kauder herausgearbeitet haben. Natürlich stellt sich in einer solchen schwierigen
Abwägungssituation die Frage: Trifft man eine Entscheidung, bei der man sich zu 100 Prozent sicher ist, das
Richtige getan zu haben? Das wird man immer erst im
Rückblick beurteilen können. Aber in der Abwägungsentscheidung ist es so, dass wir gerade auf den Schutz
der Minderheiten achten müssen. Das beziehe ich nicht
nur auf assyrische Christen und auf Christen, die seit
langer Zeit dort leben, sondern explizit auf die Jesiden,
die knapp einem Völkermord entgangen sind, wobei dieser ja gerade schon angefangen hatte. Ich beziehe das
auch auf all diejenigen, die sich nicht Daish anschließen,
und auch auf die Sunniten, die in den Nordirak geflohen
sind.
Der Garant für die Sicherheit dieser Menschen ist aktuell die autonome Regierung in Kurdistan und sind natürlich die Stämme, die dort die Verantwortung tragen,
egal ob es die PUK repräsentiert durch Talabani ist oder
Barsani mit der KDP. Das sind die Partner, die sich in
der Vergangenheit als sehr zuverlässige Partner herausgestellt haben. Deshalb ist es in der Abwägungsentscheidung richtig - das beantwortet zum Teil auch die Fragen
von Herrn Nouripour -, gerade denjenigen die Waffen
zur Verfügung zu stellen, die sich als verlässlicher Partner herausgestellt haben. Diesen Weg halte ich für gangbar und für vertretbar.
Eine Gewissheit zu 100 Prozent hat man natürlich nie.
Deshalb hat man sich ja auch regierungsintern mit der
Entscheidung schwergetan. Deshalb haben wir auch einige Zeit für diese schwierige Abwägungsdiskussion gebraucht - wir haben sie ja nicht über Nacht geführt -,
und wir haben einen Versuch unternommen, sie politisch
einzubetten.
Dazu möchte ich zum Abschluss auch noch etwas sagen. Ich glaube, dass die Ein-Irak-Politik keine Monstranz sein darf, die wir vor uns hertragen. Eine wirkliche Ein-Irak-Politik muss bedeuten, dass auch die
Schiiten, die die Macht in Bagdad haben, bereit sind, den
Wohlstand des Landes mit allen anderen Volksgruppen
zu teilen. Dazu waren sie in diesem Jahr nicht bereit.
Dies hat deutlich zu einer Verschärfung der Situation geführt. Nicht ohne Grund haben sich so viele Sunniten,
die hoffnungslos in ihren Armutsghettos lebten, der
Daish angeschlossen und sind der Überzeugung, mit dieser Terrororganisation eine bessere Zukunft zu haben, als
sich weiter von Maliki und seinen Leuten unterdrücken
zu lassen. Vor dem Hintergrund ist es richtig, an die neue
irakische Regierung zu appellieren. Sie muss in deutliche Vorleistung treten und das erfüllen, was die Verfassung vorschreibt: den Wohlstand teilen. Wenn wir die
Ein-Irak-Politik unterstützen sollen - das erwartet man
von uns -, dann muss sich Bagdad mehr bewegen. Das
hat Bagdad in der Vergangenheit nicht getan. Die Verantwortlichen dort müssen endlich beginnen, sich zu
bewegen; denn sonst wird die Konsequenz sein, dass
dieses Land zerfällt. Das wollen wir nicht, weil wir glauben, dass die Situation danach noch schwieriger sein
wird, als sie es heute ist. Aber Bagdad hat das zum Teil
selbst in der Hand.
Ich möchte zuallerletzt auf noch etwas hinweisen.
Hier ist ja auch über die Möglichkeiten eines politischen
Dialogs gesprochen worden. Ich bin relativ skeptisch,
was eine mögliche Versöhnung angeht. Volker Kauder
hat es gesagt: Gerade die besitzenden Christen sind ihres
Wohlstandes beraubt worden. Sie sind teilweise von ihren Nachbarn in schlimmster Art und Weise verraten
worden. Ich kann mir nur sehr, sehr schwer vorstellen,
dass es in diesen zwölf Dörfern um Mosul herum, um
die es vor allem geht, zu einer einfachen Versöhnung
kommt. Ich glaube, das ist eine sehr große politische Herausforderung, die uns noch lange Zeit beschäftigen
wird; der Wohlstandsaspekt gehört definitiv dazu. Wirtschaftliche Aspekte wie auch die strukturelle Verbesserung der humanitären Situation, die ebenfalls definitiv
dazugehört, werden uns über die Lieferung von Waffen
hinaus in der Irak-Politik über diesen Tag hinaus noch
weitaus stärker beschäftigen als bislang.
Ohne die Amerikaner, ohne deren entscheidendes
Eingreifen in den vergangenen Wochen und ohne das beherzte Zugreifen der Peschmerga in der zweiten Phase
der Auseinandersetzung mit ISIS wäre Kurdistan allerdings schon längst überrannt worden. Ich möchte deshalb auch daran erinnern, was für eine schwierige Geburt es war, bis unsere heutige Entscheidung geboren
wurde. Ohne die Amerikaner und ohne den Mut der Kurden selbst hätten wir nicht die Zeit gehabt, diese lange
Diskussion in Deutschland überhaupt zu führen.
Herzlichen Dank.
({1})
Frank Schwabe erhält nun das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Es
ist heute bereits mehrfach deutlich gemacht worden,
dass es durchaus ein Dilemma ist, in dem wir alle uns
befinden. Es ist aber auch deutlich geworden, dass keine
Haltung zur Frage der Waffenlieferungen am Ende auch
eine Antwort ist. Ich glaube, dass gerade mit Blick auf
die Menschenrechte Gewalt dann legitim und notwendig
ist - Waffenlieferungen sind ja so etwas wie Beihilfe zur
Gewalt -, wenn schlimmste humanitäre Katastrophen so,
wenn schon nicht verhindert, dann zumindest eingehegt
werden können. Wann das der Fall ist, ist wirklich
schwer zu sagen; das ist ein schmaler Grat. All die entsprechenden Risiken sind heute diskutiert worden.
In der Abwägung komme ich trotzdem zu dem Ergebnis, dass im Fall des Nordirak Waffenlieferungen richtig
und nachvollziehbar sind. Ich kann zugleich die Argumente, die hier seitens der Grünen und teilweise auch
der Linkspartei gebracht worden sind, durchaus nachvollziehen, wenn nämlich gesagt wird, dass es eine Gesamtstrategie geben müsse, dass die Türkei einbezogen
werden müsse, oder wenn gefragt wird, warum IS ei4440
gentlich Öl verkaufen kann und wie es um die Unterstützung der Golfstaaten und anderer bestellt ist. Ich habe
trotzdem keine Antwort auf die Frage bekommen, ob
man nicht in einer ganz konkreten Notsituation, nämlich
dann, wenn Menschen unter schlimmsten Bedingungen
dahingemetzelt werden, zumindest den Angreifern in
den Arm fallen und den Opfern die Gelegenheit dazu geben sollte, sich zu verteidigen. Vor diesem Hintergrund
ist es richtig, dass wir heute beschließen, solche Waffenlieferungen zu tätigen. Ich finde es auch richtig, dass der
Deutsche Bundestag das hier so diskutiert.
Es ist jetzt viel über den Nordirak gesprochen worden. Ich will versuchen, den Blick ein bisschen zu erweitern. Wir sind wirklich in einer Welt, die in Unordnung
ist.
({0})
Wir sind in einer Welt, die in Unordnung ist, und es ist
auch nicht einfach, die nötige Ordnung entsprechend - ({1})
Herr Kollege Schwabe, bitte unterbrechen Sie einen
Augenblick Ihre Rede, damit die Situation auf der Besuchertribüne geklärt werden kann.
Für alle, die an den Debatten des Bundestages als Zuschauer teilnehmen wollen, gilt die Regel, dass es von
den Tribünen weder Zurufe geben darf noch Spruchbänder entrollt noch Flugblätter verteilt werden dürfen.
Die Situation ist offenkundig geklärt. Sie können weitersprechen. Bitte schön, Herr Schwabe.
Die Welt ist in der Tat in Unordnung. Die besten Militärs und die umfangreichsten Waffenlieferungen werden
die nötige Ordnung nicht wiederherstellen können. Wir
sind alle ziemlich fassungslos angesichts dessen, was international passiert. Es ist eben nicht nur der Konflikt im
Nordirak, es sind auch die Konflikte in Syrien, im
Südsudan, in der Zentralafrikanischen Republik, in Mali,
in der Ukraine, vergessene Konflikte wie in Kolumbien
und anderswo, die uns beschäftigen. Ich will nur zwei
Zahlen nennen, die deutlich machen, was international
zurzeit los ist.
Die erste Zahl: Weltweit gibt es laut den Vereinten
Nationen über 50 Millionen Flüchtlinge. Das ist die
höchste Zahl seit dem Zweiten Weltkrieg.
Die zweite Zahl: Die Vereinten Nationen schätzen,
dass wir aufwachsend einen Bedarf bei der humanitären
Hilfe in Höhe von 17 Milliarden US-Dollar haben, und
zwar allein nur im Jahr 2014. Das ist eine Verdreifachung gegenüber der Zahl aus dem Jahr 2006.
Das macht, wie ich finde, deutlich, was die Prioritäten
in der Debatte über die aktuelle Frage hinaus in den
nächsten Monaten und Jahren eigentlich sein müssen.
Das ist zum einen die Frage, wie wir im Bereich der
humanitären Hilfe einen Aufwuchs hinbekommen.
Deutschland tut eine ganze Menge, auch im aktuellen
Fall. Das wird aber nicht reichen. Es bedarf, wenn wir
eine Verdreifachung der Mittel im internationalen Kontext brauchen, eben auch einer Erhöhung in Deutschland. Ich bin froh darüber, dass hier in der Debatte klar
geworden ist, dass auch, wenn wir Waffen liefern, der
finanzielle Umfang der humanitären Hilfe am Ende
deutlich über dem dieser Waffenlieferungen liegen muss,
und ich bin dankbar, dass der Fraktionsvorsitzende der
SPD das so auch noch einmal klargestellt hat.
({0})
Zum anderen werden wir auch - ich bin dankbar dafür, dass die Kanzlerin das deutlich gemacht hat - über
die Aufnahme von Flüchtlingen reden müssen. Dabei ist
vollkommen klar: Wir wollen, dass Jesiden, Christen
und andere eine Zukunft im Nordirak und in der ganzen
Region haben. Es kann aber nicht sein, dass am Ende die
Flüchtlingsprobleme in Jordanien, in der Türkei und anderswo gelöst werden müssen.
Ich war vor einigen Tagen in der Türkei. Die Situation
dort ist wirklich dramatisch. Man kann die Türkei an
vielen Stellen kritisieren, und man kann, wie ich finde,
die Türkei zunehmend auch hinsichtlich der Flüchtlingsaufnahme kritisieren, weil Erdogan den Eindruck vermittelt hat, dass er das schon alleine hinbekomme. Das
bekommt er aber nicht alleine hin. Dort sind mittlerweile
mehr als 1 Million Flüchtlinge, und selbst im Straßenbild von Istanbul ist das sichtbar. Frauen liegen dort mit
ihren Babys auf der Straße. Ich glaube, dafür muss es
eine Lösung geben, und das kann nur eine europäische
Lösung sein.
({1})
Ich weiß, es ist schwierig, das in unseren Wahlkreisen
zu diskutieren. Die Belastungen in vielen Kommunen
sind hoch. Trotzdem muss man den Menschen die Wahrheit sagen: Wenn wir über die Krise im Nordirak reden,
dann reden wir auch darüber, dass wir zumindest vorübergehend mehr Flüchtlinge bei uns in Deutschland
aufnehmen müssen.
({2})
Zwei kurze Bemerkungen zum Schluss.
Erstens. Ich glaube, es ist wichtig, dass in der Debatte
heute noch einmal klargestellt worden ist, dass es sich
um einen singulären Fall und um keinen Paradigmenwechsel oder anderes handelt. Ich denke, eine solche
Unterstellung beschwert die Debatte hier im Haus und in
der Öffentlichkeit nur unnötig.
Zweitens. Diese singulären Waffenlieferungen relativieren nicht die Entscheidung von Bundesminister und
Vizekanzler Sigmar Gabriel zum Thema Rüstungsexporte; vielmehr ist das Gegenteil der Fall; das sind
zwei Seiten einer Medaille: Wir wollen ethisch begründet in einem ganz bestimmten Fall Waffen liefern. In anderen Fällen wollen wir aus wirtschaftlichen Gründen
keine Waffen in Spannungsgebiete liefern. Ich glaube,
das ist die richtige Entscheidung.
Wenn man in Deutschland entscheidet, Rüstungsexporte zu begrenzen, die humanitäre Hilfe zu stärken
und in einem ganz bestimmten begründeten Fall Waffen
zu liefern, dann ist das der richtige Weg, den dieses Haus
hier auch gehen sollte.
Vielen Dank.
({3})
Henning Otte hat nun das Wort für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Welt ist in Unruhe. Wir alle sind aufgefordert, alles daranzusetzen, Krisen dort schnell und wirksam einzudämmen, wo sie entstehen.
Die Lage im Nordirak ist mehr als besorgniserregend.
Eine terroristische IS-Miliz will einen Staat errichten,
eine Miliz, die eine Expansion durch Töten in barbarischer Weise betreibt. Der kurdischen Bevölkerung soll
das Heimatrecht entzogen werden. Jesiden und Christen
werden hingerichtet. Hier darf Deutschland nicht wegsehen. Das ist ein Gebot der Menschlichkeit, das ist Ausdruck von Verantwortung, hier geht es um den Schutz
der Religionsfreiheit, und das ist auch eine Schutzmaßnahme der westlichen Welt und Deutschlands vor der
Etablierung islamistischer Terrorstrukturen.
Wir dürfen uns als Deutschland nicht abwenden. Die
Linke will den Menschen im Nordirak eine Ausrüstungshilfe verweigern. Das ist skrupellos - nur, um die eigene
Ideologie aufrechtzuerhalten.
({0})
Immer wenn es um reale Politik geht, ist die Linke am
Ende. Herr Gysi - er ist wegen eines Termins leider
schon gegangen - sagt erst, wir brauchen Waffen für die
Kurden, dann wird er von seiner eigenen Partei zurückgepfiffen wegen der Ideologie. Das erinnert mich an
seine Zeit als Wirtschaftssenator, als er auch einen Realitätsschock erlitten hat.
({1})
Ich kann nur sagen: So kann man keinen Staat machen,
und deswegen dürfen Sie keine Regierungsverantwortung übernehmen.
({2})
Meine Damen und Herren, ich habe Berichte von jesidischen Teilen der Bevölkerung direkt aus meiner Heimatstadt Bergen und aus Celle erhalten. Das, was berichtet wurde, ist mehr als besorgniserregend; das ist
erschreckend. Das Recht darf dem Unrecht nicht weichen. Daher darf Deutschland mit seinem Verständnis
von Menschenwürde und Rechtsstaatlichkeit und auch
vor dem historischen Hintergrund - unsere Bundeskanzlerin hat das dargestellt - solch ein Unrecht nicht dulden.
Deutschland hilft: auf Bitten der irakischen Regierung mittels einer Anfrage an die Vereinten Nationen
- nach Abfrage der kurdischen Ausrüstungsdefizite durch Erstellung einer Liste verfügbaren Materials durch
das Verteidigungsministerium, in Abstimmung mit unseren europäischen Partnern. Wir helfen also, Ausrüstungsdefizite der kurdischen Peschmerga teilweise auszugleichen. Ziel ist die Verbesserung des Schutzes
kurdischer Kämpfer: durch Verbesserung der Bewegungsfreiheit, der Kommunikationsfreiheit und der
Durchsetzungsfähigkeit. Von daher ist Deutschland bereit, Helme, Nachtsichtgeräte, Fahrzeuge, Schutzwesten,
aber auch Waffen und Munition zu liefern.
Ich sage auch: Gut, dass Deutschland ein so breites
Fähigkeitspotenzial hat. Dadurch können wir politisch
die Maßnahmen auswählen, die wir für richtig halten
und die wir zur Verfügung stellen wollen.
Die Lieferung der Ausrüstungshilfe vollzieht sich dabei klar nach den üblichen Regeln des Außenwirtschaftsgesetzes. Ich danke unserem Bundeswirtschaftsminister
Sigmar Gabriel für die unkomplizierte Sicherstellung
dieser Waffenlieferungen. Ein Verzögern nach der jetzigen Entscheidung der zuständigen Ressorts würde in der
Völkergemeinschaft kein Verständnis finden. Hilfe in einer solchen Situation duldet keinen Aufschub.
Vor allem halte ich es für wichtig, eine Endverbleibszusicherung durch die kurdische Peschmerga zu erhalten.
Ich danke deshalb unserer Bundesverteidigungsministerin
auch dafür, dass sie die Lieferung der Ausrüstungshilfe
in Tranchen zur Verfügung stellt, um eine Beobachtung
der Handhabung sicherzustellen und um zu verhindern,
dass Material geliefert wird, das nicht benötigt wird also ein Handeln immer in Anbetracht der Lage und der
aktuellen Situation vor Ort. Das ist die pragmatische,
verantwortungsvolle Politik der Großen Koalition. Daher unterstützen wir diese Ressortentscheidung.
({3})
Heute geht es um ein Gesamtpaket zur Eindämmung
der katastrophalen Situation im Nordirak. In einem Dreiklang aus humanitärer Hilfe in Form von Nahrung und
Medikamenten, aus finanzieller Unterstützung der
Flüchtlinge und auch durch Ausrüstungshilfen; denn
letztendlich geht es darum, den kurdischen Flüchtlingen
nicht nur Nahrung zu übermitteln, sondern sie auch vor
der Ermordung zu schützen.
Es ist richtig und notwendig, diesen weitgehenden
Schritt der Lieferung von Waffen zu gehen, um die Ursache zu bekämpfen und die Kurden selbst in die Lage zu
versetzen, sich zu verteidigen und sich zu erwehren. Dafür bedarf es einer Waffengleichheit gegenüber der bestens ausgestatteten IS-Miliz. Dies ist kein Grundsatzwechsel. Es ist vielmehr die Bereitstellung von Mitteln
zur Hilfe zur Notwehr unter Beibehaltung der Subsidiarität. Es wird also dort Hilfe zur Verfügung gestellt, wo
sie gebraucht wird.
Im Norden Iraks werden wir einen Verband ausstatten, der sich dann selbst verteidigen kann. Wer dies ablehnt, der duldet den Völkermord vor Ort.
({4})
Jede Lage hat ein eigenes Gesicht. Daher ist dies
heute keine Grundsatzentscheidung oder gar ein Wechsel der deutschen Politik. Vielmehr bedarf es immer wieder einer Einzelfallbetrachtung.
({5})
Vor allem bedarf es weiterhin eines vernetzten Ansatzes
durch die Bereitstellung von Hilfsgütern - 150 Tonnen -,
durch die Bereitstellung von finanziellen Mitteln
- 50 Millionen Euro - und durch diplomatische Anstrengungen - das gilt insbesondere für das Land Irak -, aber
eben auch, wenn es sein muss, durch die Bereitstellung
von Ausrüstungsmitteln.
Oft wird gefragt, ob nun auch die Ukraine mit Ausrüstungshilfe ausgestattet werden soll. Dies hat unsere
Bundeskanzlerin in einer klaren Argumentationslinie abgelehnt. Auch ich sage hier: Jede Lage hat ihr eigenes
Gesicht. Jede Sicherheitsbedrohung muss einzeln bewertet und abgewogen werden. In der Ukraine müssen wir
deeskalieren. Wir müssen Sanktionen weiter verschärfen, und wir dürfen den Gesprächsfaden nicht abreißen
lassen. Aber ich sage auch: Viel mehr noch müssen wir
unsere osteuropäischen NATO-Mitglieder in die Lage
versetzen und ausstatten, dass sie selbst einen so hohen
Schutzdeich aufbauen können, dass niemand es wagt,
ihn zu durchbrechen. Ansonsten greift Artikel 5 des
NATO-Vertrages; das muss Russland ganz deutlich wissen.
({6})
Meine Damen und Herren, ohne Sicherheit gibt es
keine Freiheit. Sicherheit ist aber nicht zum Nulltarif zu
haben. Daher bitte ich alle Kolleginnen und Kollegen
des Hohen Hauses, auch zu beachten, dass die Bundeswehr diese Hilfsflüge ermöglicht und bereit ist, diese
Mittel aus eigenen Beständen zur Verfügung zu stellen,
und dass diese auch wieder aufgefüllt werden müssen.
Ich sage auch: Gut, dass wir einen Staat haben, der eine
Armee hat.
Ich fasse zusammen: Humanitäre Hilfe, finanzielle
Hilfe, Ausrüstungshilfe - alle drei Maßnahmen sind notwendig und richtig - als ein Gebot der Menschlichkeit,
als ein Gebot der Verantwortung. Daher unterstützen wir
die Entscheidung der Ressorts zur Bereitstellung von
Ausrüstungshilfe.
Herzlichen Dank.
({7})
Rainer Arnold ist der nächste Redner für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
gibt zwei gewichtige Gründe, warum auch die Bundesrepublik Deutschland den Menschen im Irak beistehen
sollte und, wie ich meine, auch beistehen muss.
Der eine ist in der Tat die auch von Deutschland forcierte Idee, dass die Staatengemeinschaft und die Vereinten Nationen die Verpflichtung zum Schutz eines jeden
Staates haben. Es ist doch sichtbar: Der irakische Staat
schützt seine Bürger nicht, und die Staatengemeinschaft
will und kann aus unterschiedlichen Gründen zurzeit
auch nicht an die Stelle des irakischen Staates treten.
Also machen wir das, was wir im Übrigen auch in Afghanistan, Mali und Somalia durch Ausbildung machen:
Wir helfen örtlichen Sicherheitskräften, dass sie mit den
Problemen in ihrem Land umgehen können. Darum geht
es, und das ist unsere Verpflichtung und unser Beitrag
zum Schutz.
Auch der zweite Grund ist ganz eindeutig - das ist
nicht kompliziert -: Wir haben ein elementares sicherheitspolitisches Interesse daran, dass diese Region, die
jetzt schon viel zu stark brennt, am Ende nicht noch lichterloh brennt, weil das unmittelbare Auswirkungen auf
die Stabilität und die Sicherheit auch bei uns in Deutschland hätte.
Wir werden angesichts dieser von uns eingenommenen Haltung nun häufig gefragt, warum jetzt dort geholfen werden soll und warum wir bei dem Leid in vielen
anderen Staaten nicht ähnlich Verantwortung übernehmen. Das ist jetzt aber ein ganz besonderer Fall. Es ist
deshalb ein besonderer Fall, weil die Milizen dort mit einer derartigen Brutalität vorgehen,
({0})
die - darin liegt auch eine Chance - gleichsam ein
Weckruf für die Staatengemeinschaft und auch für uns
darstellte. Ich glaube, wir brauchen eine Debatte darüber, ob die Staatengemeinschaft und wir nicht an der
einen oder anderen Stelle zu lange zuwarten, bis der
Weckruf endlich deutlich genug ist. Darüber müssen wir
als eine Lehre aus den vergangenen Jahren sicherlich
auch einmal reden.
Aber wenn man jetzt daraus die Konsequenz zieht
und fragt, welche Ideologie dahintersteckt, die mit so
brutaler Macht vorgeht, dann wird deutlich, dass es kein
regional begrenzter Konflikt ist. Vielmehr hat der IS den
Anspruch, global zu agieren, die heiligen Stätten von
Saudi-Arabien bis möglicherweise Jerusalem unter seine
Kontrolle zu bekommen und gegen alle zu kämpfen, die
sich seiner Ideologie nicht erwehren. Deshalb haben wir
ein hohes sicherheitspolitisches Interesse.
Herr Kollege Arnold, es gab den Wunsch, eine Zwischenfrage zu stellen. Ob Sie dem freundlicherweise zustimmen? - Das scheint so zu sein.
Das machen wir gerne bei der Frau Kollegin.
Bitte schön.
Vielen Dank, Herr Kollege Arnold. - Sie haben gerade gesagt, es sei gar nichts Neues, wenn wir Waffen an
die Kurden lieferten, und haben unter anderem Mali als
Vergleich hinzugezogen und gesagt, dass wir dort ja
auch Ausbildungshilfe leisten. Das verstehe ich aber
nicht ganz. Es ist ja schließlich so, dass wir dort auf Anfrage der malischen Regierung staatliche Streitkräfte
ausbilden, und dann auch noch auf Grundlage eines UNMandats.
Wenn ich es richtig verstehe - das steht so ja sogar
auch in Ihrem Entschließungsantrag -, dann ist Waffenlieferung an nichtstaatliche Akteure ausgeschlossen.
Aber wer sind denn die Peschmerga, denen wir die Waffen liefern? Das ist doch nicht die irakische Armee. Das
sind doch auch nichtstaatliche Kräfte.
Ein UN-Mandat haben wir auch nicht, und mir ist
auch bislang noch keine Anfrage der irakischen Zentralregierung bekannt, obwohl eine solche mehrfach angedeutet wurde. Das kann ich auch aus deren Sicht verstehen. Denn sie haben sogar Waffen von den Amerikanern
bekommen, die für die Kurden bestimmt sind, geben sie
aber nicht frei. Wer will denn den Kurden erzählen, dass
sie diese Waffen dann wieder abgeben sollen, wenn es
um die Auseinandersetzung mit dem irakischen Zentralstaat geht?
({0})
Den Widerspruch müssen Sie mir erklären.
({1})
Die Regierung des irakischen Staats, die wir in der
Vergangenheit zu Recht nicht besonders gut fanden - wir
setzen und drängen darauf, dass dieses Land zukünftig
besser regiert wird -, hat die Staatengemeinschaft und
damit auch uns aufgefordert, hier unterstützend tätig zu
sein. Das ist das Erste.
Das Zweite ist - Sie wissen das genauso gut wie wir -:
Der Ukraine-Konflikt vereinfacht die Handlungsoptionen im UNO-Sicherheitsrat nicht unbedingt, vorsichtig
gesagt. Dieser Wirklichkeit müssen wir uns stellen.
Das Dritte ist: Es ist ein großer Irrtum, zu glauben, die
Teilautonomie der Kurden im Nordirak sei illegal. Sie ist
Teil des irakischen Staats und somit legalisiert. Die
Peschmerga ist ein Teil der Sicherheitsarchitektur in diesem irakischen Staat.
Das alles ist nicht so, wie wir uns das idealtypisch
wünschen. Aber wir sind nicht in einer Situation, in der
wir uns die Lage idealtypisch malen können. Vielmehr
müssen wir mit der jetzigen Situation so umgehen, wie
sie ist. Wir dürfen die Menschen nicht im Stich lassen
mit den Argumenten „Ihr werdet schlecht regiert“ oder
„Die Amerikaner stehen besonders in Verantwortung“.
Das ist keine Antwort gegenüber den Kindern, die vertrieben und deren Eltern ermordet werden. Deshalb engagieren wir uns so, wie wir es tun.
({0})
Wir alle wissen doch, dass kein Land alleine mit der
großen Herausforderung des fundamentalen islamistischen Terrorismus umgehen kann. Deshalb sind wir sehr
froh, dass der Außenminister und die Bundesregierung
versuchen, die europäischen Partner, die Vereinigten
Staaten und andere insgesamt in Gleichklang zu bringen,
sodass gut abgestimmt dort vorgegangen werden kann.
Das ist auch aus folgendem Grund wichtig: Nur wenn
Deutschland ein verlässlicher Partner ist, werden wir
Deutschen an der einen oder anderen Stelle auch einmal
sagen können, dass wir es anders sehen. Auf die Debatten, die gerade in der NATO geführt werden, kann
Deutschland nur mäßigend einwirken, wenn alle zugleich wissen: Die Deutschen sind im Zweifelsfall auch
verlässlich. - Dies gehört zusammen. Deshalb sollten
wir nicht wie die Linke glauben, dass Deutschland mehr
Gewicht und Einfluss hätte und besser regulierend wirken könnte, wenn es sich von internationalen Prozessen
abkoppelte. Dann hätten wir nichts mehr zu sagen, und
niemand würde mehr auf uns hören.
({1})
In den letzten Tagen konnte man aufgrund der Debatte den Eindruck gewinnen, dass es ausschließlich um
die Lieferung von Waffen geht. Nein, es geht um einen
Dreiklang.
Die erste Säule dabei ist die humanitäre Hilfe. Was
die beteiligten Ressorts in kurzer Zeit auf den Weg gebracht haben, verdient unseren Respekt. Und was die
Soldaten auch operativ vor Ort und bei den Lieferungen
leisten, verdient unseren Dank.
Der zweite Ton im Dreiklang sind die politischen Prozesse. Natürlich muss der Irak anders regiert werden.
Die arabische Welt muss erkennen, dass sich dieser Terrorismus am Ende auch gegen sie richtet. Wir brauchen
eine breite Allianz gegen den Terror. Aber, Kollege
Nouripour, ich habe manchmal den Eindruck, dass Sie
nicht wahrgenommen haben, wen der deutsche Außenminister in den letzten Wochen alles empfangen hat.
({2})
Er hat mit seinen Besuchern vermutlich nicht nur Tee getrunken. Sie haben offensichtlich auch nicht wahrgenommen, wohin er überall geflogen ist.
({3})
Er ist nicht als Tourist geflogen, sondern hat versucht,
die Dinge in Bewegung zu halten. Deshalb ist die zweite,
politische Säule so wichtig.
Die dritte Säule ist die militärische Ausstattungshilfe
zum Schutz und zum Durchsetzen. Natürlich können
Peschmerga-Kämpfer mit Handfeuerwaffen an einer
Panzerstellung der Terroristen nicht vorbeikommen.
Deshalb brauchen sie entsprechendes Gerät. Jeder, der
hier in diesem Haus akzeptiert, dass man sich diesem
fundamentalen, brutalen Terror auch mit Waffengewalt
entgegenstellen muss, sollte darüber nachdenken, ob es
die ethisch verantwortbarere Haltung ist, zu sagen: Man
muss zwar gegen diese Terroristen kämpfen, aber das
sollen andere für uns tun, und andere sollen auch die
Ausstattung übernehmen. Damit ist man nicht auf der
moralisch sauberen Seite.
({4})
Man ist auf der sauberen Seite, wenn man das tut, was
verantwortbar und möglich ist.
Lieber Herr Kollege Arnold!
Ich komme zum Ende.
In der Politik gibt es immer Alternativen, ganz eindeutig. Niemand will - auch wir nicht - der UN und der
Staatengemeinschaft empfehlen, Soldaten dorthin zu
schicken. Die Alternative, andere liefern zu lassen, ist
nicht besonders moralisch. Wegschauen - das wäre die
letzte Alternative - will wahrscheinlich in diesem Haus
niemand; das unterstelle ich auch den Linken nicht.
({0})
Aber wir müssen so langsam auch erkennen:
({1})
Selbst wer ein kaltes Herz hat, kann nicht mehr wegschauen. Diese Krise und dieser Konflikt haben Europa
und Deutschland in unterschiedlichen Facetten längst erreicht.
({2})
Wenn wir die Krise jetzt nicht stoppen, werden die Debatten, die wir in diesem Hause in den nächsten Jahren
führen müssen, nicht einfacher, sondern schwieriger, und
die Entscheidungen werden ernster, als sie im Augenblick ohnehin schon sind.
Recht herzlichen Dank.
({3})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Sibylle Pfeiffer für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Was kann eigentlich eine Entwicklungspolitikerin zu
dieser Debatte beitragen?
({0})
- Stimmt.
({1})
- Genau so ist es.
Wir haben ganz viel über Waffenlieferungen gesprochen. Alle Redner haben sich auf die Waffenlieferungen
eingeschossen. Ich glaube, dass es zum jetzigen Zeitpunkt richtig ist, so zu entscheiden, wie entschieden
worden ist.
Wir haben auch sehr eindrucksvolle Reden - lieber
Volker Kauder, vor allen Dingen deine - über das Elend,
das dort herrscht, die humanitäre Katastrophe vor Ort
gehört. Bei der Gelegenheit müssen wir, glaube ich, in
zwei Richtungen Dank aussprechen: zunächst gegenüber
dem Entwicklungshilfeminister, der ganz schnell Soforthilfe zur Verfügung gestellt hat, aber wir müssen dann
vor allen Dingen denen danken, die diese Soforthilfe vor
Ort umsetzen, die mit den Nichtregierungsorganisationen in unserem Auftrag hervorragende Arbeit leisten.
Die gilt es zu unterstützen, und denen gilt vor allen Dingen auch unser Dank.
({2})
Entwicklungspolitiker müssen vor allen Dingen eines
tun: Sie müssen die Debatte über die Zukunft anstoßen.
Wie geht es im Irak eigentlich weiter? Was passiert,
wenn es uns hoffentlich gelingt, die militärische Macht
von ISIS zu brechen und deren Schreckensherrschaft zu
beenden?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein kleines Déjà-vu
habe ich hier schon: 1994 Ruanda. Selbst wenn der Vergleich ein kleines bisschen hinken mag, ist mir dieser
schreckliche Genozid sehr wohl noch präsent. Ich spreche von den zwei Gruppierungen der Hutu und der Tutsi,
die sich unversöhnlich gegenüberstanden. Aber ich
glaube, wir haben aus Ruanda gelernt, oder wir sollten
zumindest daraus lernen, nämlich zwei Dinge:
Erstens, dass man einem Genozid nicht tatenlos zusehen darf und dass wir notfalls auch bereit sein müssen,
unsere Zurückhaltung in Bezug auf militärische Lieferungen zu überdenken und es damit eventuell anders zu
halten. Das tun wir heute, und das ist gut und richtig so.
Zweitens, glaube ich, ist es richtig, nach Ruanda zu
schauen; denn es gibt uns Hoffnung, nach Ruanda zu
schauen. Nach dem Völkermord hat sich nämlich dieses
Land trotz aller Zweifel stabil, sicher und wirtschaftlich
erfolgreich entwickelt. Dort leben Hutu und Tutsi sehr
wohl friedlich und in fröhlicher Eintracht zusammen.
Genau das ist es, was ich mir für den Irak wünsche.
Trotz aller Konfliktlinien hat das Land nämlich allerbeste Voraussetzungen genau dafür. Es ist reich an
Bodenschätzen, es ist kulturell reich, und es kann auf bestehende Strukturen zurückgreifen. Das Potenzial ist gewaltig. Selbst wenn der Irak kein klassisches Entwicklungsland ist, mit dem wir zusammenarbeiten, auch kein
Partnerland, so können wir zumindest humanitäre Hilfe
und Ähnliches zur Verfügung stellen. Die Frage ist nur,
wie eine solche Hilfestellung aussieht, wie der Masterplan für eine stabile und friedliche Zukunft für den Irak
aussehen kann. Es ist nicht einfach, darauf eine Antwort
zu geben.
Der Irak hat ja in den letzten Jahren innere und äußere
Konflikte austragen müssen. Schiiten und Sunniten haben um die Macht gerungen. Alle ausländischen Mächte,
die Einfluss nehmen wollten, sind grandios gescheitert.
Zugleich konnten die extremistischen Gruppen einen zu
großen Einfluss gewinnen. Alle Akteure wissen jetzt,
dass etwas getan werden muss. Das ist natürlich noch
kein politisches Kapital im engeren Sinne, aber es ist
eine Aussage. Daraus entsteht unter Umständen in Kürze
eine Chance, und diese Chance müssen wir nutzen, obwohl es wahrscheinlich nicht einfach wird.
Die Voraussetzung dafür ist allerdings die Bereitschaft aller Akteure. Wenn ich sage „aller Akteure“,
dann schließe ich ausdrücklich den Iran, Saudi-Arabien
und Katar mit ein. Den notwendigen Rahmen kann eigentlich nur eine einzige Organisation bieten: Das sind
die Vereinten Nationen. Die Vereinten Nationen verfügen über die nötige Akzeptanz und haben die Möglichkeiten, schwierige Prozesse in Gang zu setzen.
Das führt mich zwangsläufig zu der Frage, wie das
Ergebnis eines solchen Prozesses aussehen könnte. Wir
brauchen eine Gesamtstrategie für den Irak. Aber auch
dabei sind noch viele Fragen offen. Aus entwicklungspolitischer Sicht stellt sich natürlich als Erstes die Frage
nach Governance.
In diesem Zusammenhang fallen mir zwei Herausforderungen ein: zum einen die Begrenzung des Einflusses
der Religionen auf Staat und Politik und zum anderen
die Herstellung der politischen Machtbalance. In der
Vergangenheit galt oft das Recht des Stärkeren, und damit verbunden war die Ausgrenzung einiger ethnischer
oder religiöser Gruppierungen. Der Konflikt zwischen
Schiiten und Sunniten ist immanent. Macht zu teilen, das
ist die Herausforderung der Zukunft.
Als Entwicklungspolitikerin weiß ich, dass es schwierig ist, von außen gefestigte Strukturen im positiven
Sinne zu verändern oder auch nur darauf einzuwirken.
Das gilt erst recht, wenn jemand, der aus dem Westen
kommt, in einem muslimischen Land Entwicklungspolitik zu machen versucht. Ich denke in diesem Zusammenhang zum Beispiel an Themen wie „Rolle der Frau“ oder
„Trennung von Staat und Religion“. Schnell unterliegt
man nämlich dem Verdacht, man wolle sich offensiv in
innere Angelegenheiten einmischen - jawohl, das will
man sicherlich auch -; aber hier geht es darum, dass wir
auch die Kultur und die Traditionen in unsere zukunftsorientierte Arbeit, in unsere Friedens- und Sicherheitspolitik mit einbeziehen. Wir haben dafür natürlich
unsere Instrumente - ich verweise gerne auf unsere politischen Stiftungen -, wenn es um Arbeit, Bildung und
Ausbildung geht. All diese Instrumente können wir sehr
wohl benutzen, ohne dass uns das Instrument der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit zur Verfügung steht.
Die letzten Wochen und Monate haben gezeigt, was
passiert, wenn man ein Land wie den Irak nach einem
militärischen Eingreifen sich selber überlässt. Das darf
nicht sein; das kann nicht sein. Ich hoffe, wir machen
aufgrund dieser Erfahrungen gemeinsam einen Lernprozess im Hinblick auf die Zukunft Afghanistans durch.
Wir dürfen das, was im Irak geschieht, nie wieder zulassen. Darüber hinaus hoffe ich, dass wir die kleine
Chance mit den Instrumenten, die wir haben, nutzen.
Mehr dürfen wir derzeit nicht hoffen, weil die Schwierigkeiten viel zu groß sind, wie ich Ihnen eben beschrieben habe. Ich glaube, dass wir auf dem Gebiet der Stabilisierung und der Befriedung des Irak erfolgreich sein
können. Das ist die Aufgabe der Entwicklungspolitik.
Wir wollen sie gerne erfüllen.
Vielen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen nun zu den Abstimmungen über die
Entschließungsanträge. Hierzu liegen mir zahlreiche
persönliche Erklärungen zur Abstimmung nach § 31 un-
serer Geschäftsordnung vor, die wir dem Protokoll bei-
fügen.1)
Wir stimmen zuerst über den Entschließungsantrag
der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf der
Drucksache 18/2459 ab. Wer stimmt für diesen Ent-
schließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer ent-
hält sich der Stimme? - Damit ist dieser Entschließungs-
antrag mit den Stimmen der beiden Antragsteller bei
wenigen Gegenstimmen aus den Reihen der SPD-Frak-
tion und bei wenigen Enthaltungen aus der Fraktion der
1) Anlagen 2 bis 5
Präsident Dr. Norbert Lammert
Grünen gegen die Stimmen der Fraktionen Die Linke
und Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Wir stimmen jetzt über den Entschließungsantrag der
Fraktion Die Linke auf der Drucksache 18/2457 ab. Wer
stimmt diesem Entschließungsantrag zu? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist dieser Entschließungsantrag abgelehnt.
Wir stimmen jetzt über den Entschließungsantrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/2458
ab. Wer stimmt diesem Entschließungsantrag zu? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist dieser
Entschließungsantrag abgelehnt.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Wir sehen uns spätestens in der nächsten Woche wieder.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Dienstag, den 9. September 2014, 10 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.