Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Der Ältestenrat hat sich in seiner gestrigen Sitzung
darauf verständigt, während der Haushaltsberatungen ab
dem 24. Juni keine Befragung der Bundesregierung,
keine Fragestunde und auch keine Aktuellen Stunden
durchzuführen. Als Präsenztage sind die Tage von
Montag, dem 23. Juni, bis Freitag, dem 27. Juni 2014,
festgelegt worden. Sind Sie damit einverstanden? - Das
ist offenkundig der Fall. Dann verfahren wir so.
Auf der Ehrentribüne hat der Präsident der Parlamentarischen Versammlung der Organisation für Sicherheit
und Zusammenarbeit in Europa, OSZE, Herr Ranko
Krivokapić, der auch Präsident des Parlaments von
Montenegro ist, mit seiner Delegation Platz genommen.
({0})
Im Namen aller Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestages begrüße ich Sie, sehr geehrter Kollege Krivokapić, sehr herzlich. Die Bedeutung der OSZE
wird ja gerade in diesen Tagen der Weltöffentlichkeit
wieder stärker bewusst. Der Deutsche Bundestag fordert
alle Konfliktparteien auf, die Beauftragten der OSZE zu
respektieren und für ihren Schutz Sorge zu tragen. Für
Ihren Aufenthalt bei uns und für Ihr weiteres Wirken in
der Parlamentarischen Versammlung der OSZE begleiten Sie unsere besten Wünsche.
({1})
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a und b auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einstufung weiterer Staaten als sichere Herkunftsstaaten und zur Erleichterung des
Arbeitsmarktzugangs für Asylbewerber und
geduldete Ausländer
Drucksache 18/1528
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Jan Korte, Sevim Dağdelen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Schutzbedarf von Roma aus Westbalkanstaaten anerkennen
Drucksache 18/1616
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Für die Bundesregierung
hat das Wort Bundesminister Dr. Thomas de Maizière.
({4})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
Recht auf Asyl hat für uns einen hohen Stellenwert
({0})
und verdeutlicht den Willen Deutschlands, seine historische und humanitäre Verpflichtung zur Aufnahme von
Flüchtlingen zu erfüllen. Wir sollten klug und verantwortungsvoll mit dieser Verpflichtung umgehen. Eine
verantwortungsvolle Asylpolitik muss auch darauf ausgerichtet sein, die große Aufnahmebereitschaft, die unsere Gesellschaft auszeichnet, für die Aufnahme von
wirklich Schutzbedürftigen zu erhalten. Das gilt umso
mehr, wenn wir uns die aktuelle Entwicklung der Flüchtlingszahlen anschauen.
Seit einigen Jahren steigen die Zuzugszahlen in
Deutschland wieder stark an. Innerhalb der Europäischen Union weist unser Land heute mit großem Abstand die meisten Asylbewerber auf. Im Jahr 2013 haben
über 120 000 Menschen in Deutschland Asyl beantragt,
in Italien waren es 28 000, in Frankreich 66 000, in
Großbritannien 30 000 und in den Niederlanden 17 000.
Vor diesem Hintergrund würde ich Sie, Frau Kollegin
Roth, gerne bitten, dass Sie, wenn Sie die Politik der
Bundesregierung kritisieren, nicht davon sprechen, es
ginge hier um Reste des Asylrechts. Wir sind stolz darauf, das Land in Europa zu sein, das die meisten Asylbewerber aufnimmt.
({1})
Die Entwicklung setzt sich in diesem Jahr fort. Von
Januar bis Mai 2014 betrug der Anstieg gegenüber dem
entsprechenden Vorjahreszeitraum erneut mehr als
60 Prozent. Wenn diese Entwicklung so weitergeht, dann
liegen wir am Ende dieses Jahres bei rund 200 000 Asylanträgen. Die Hilfsbereitschaft der deutschen Bevölkerung ist auch angesichts dieser hohen Zahlen ungebrochen groß. Das sehen wir am Beispiel Syrien.
Deutschlands Unterstützung für Syrien beläuft sich seit
2012 auf rund 520 Millionen Euro. Insgesamt sind 2011
nahezu 40 000 syrische Staatsbürger nach Deutschland
eingereist, rechnet man die Zahlen aus den Aufnahmeprogrammen, die wir gemacht haben, und der Asylbewerber zusammen. Auch hier sind wir mit Abstand das
Land, das außerhalb des Krisengebietes am meisten
Flüchtlinge aus Syrien aufnimmt.
({2})
Seit drei Jahren werden bundesweit keine Menschen
mehr nach Syrien abgeschoben. Auch dafür haben die
Menschen in unserem Land großes Verständnis.
({3})
Dagegen gibt es ein wachsendes Unverständnis für
die Armutsmigration aus Westbalkanstaaten im Asylverfahren. In der Tat, seit Aufhebung der Visumspflicht nicht etwa wegen einer veränderten Lage in den entsprechenden Staaten - für Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina ist in Deutschland ein sprunghafter
Anstieg der Antragszahlen festzustellen.
Im Jahr 2009, also im letzten Jahr vor der Aufhebung
der Visumspflicht, kamen etwa 1 000 Asylbewerber aus
diesen Herkunftsstaaten. Im Jahr 2013 waren es bereits
32 000. Das war ein Viertel aller 2013 in Deutschland
gestellten Asylanträge.
Serbien, meine Damen und Herren, ist im Jahr 2014
das zweitstärkste Herkunftsland aller Staaten, aus denen
Asylbewerber kommen. Die Zahl der anerkannten
Schutzbedürftigen unter den Angehörigen dieser Staaten
liegt jedoch bei unter 1 Prozent.
Der vorliegende Gesetzentwurf, den ich hier heute
einbringe, sieht deshalb vor, Mazedonien, Serbien sowie
Bosnien-Herzegowina als sichere Herkunftsstaaten nach
dem Asylverfahrensgesetz einzustufen.
({4})
Für sichere Herkunftsstaaten wird kraft Gesetzes vermutet, dass aufgrund der Rechtslage, der Rechtsanwendung
und der allgemeinen politischen Verhältnisse dort keine
politische Verfolgung droht.
({5})
Dadurch sollen aussichtslose Asylanträge schneller bearbeitet und der Aufenthalt in Deutschland schneller beendet werden können.
Die gesetzliche Vermutung der Verfolgungsfreiheit ist
jedoch widerlegbar. Jeder Asylbewerber hat auch danach
weiterhin die Chance, darzulegen, dass er abweichend
von der allgemeinen Lage im Herkunftsland in seinem
konkreten Fall mit Verfolgung rechnen muss.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregierung hat sich die Einstufung von Serbien, Mazedonien
und Bosnien-Herzegowina als sichere Herkunftsstaaten
nicht leicht gemacht. Wir haben uns anhand der Rechtslage, der Rechtsanwendung und der allgemeinen politischen Verhältnisse ein Gesamturteil über die Verhältnisse in diesen drei Staaten gebildet.
In der Begründung des Gesetzentwurfs werden die
Erwägungen für jedes dieser drei Länder ausführlich
dargelegt. Für alle drei Länder jedoch gilt: Nach der Berichterstattung des Auswärtigen Amtes, einschließlich
der entsprechenden Asyllageberichte, sowie unter Berücksichtigung der Erkenntnisse lokaler Menschenrechtsgruppen, vor Ort vertretener Nichtregierungsorganisationen und auch internationaler Organisationen wie
zum Beispiel des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen oder des Internationalen Roten Kreuzes,
nach all diesen Bewertungen können Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina wirklich als sichere Herkunftsstaaten angesehen werden.
({6})
Serbien, mit dem die EU den Status eines EU-Beitrittskandidaten verabredet hat, bittet selbst um die Aufnahme in die Liste als sicheres Herkunftsland.
({7})
Wir teilen die Einstufung der drei Länder als sichere
Herkunftsländer mit vielen unserer europäischen Nachbarn. Frau Roth, Frankreich, Belgien, Luxemburg, Österreich, die Schweiz und Großbritannien stufen Serbien,
Mazedonien und Bosnien-Herzegowina bereits heute als
sichere Herkunftsstaaten ein. Das ist ja nun keine Liste
von Schurkenstaaten.
({8})
Alle diese Staaten stimmen demnach ganz grundsätzlich überein mit der in unserem Gesetzentwurf vorgenommenen Einschätzung der Lage in Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina.
Auch wenn wir diese Staaten als sichere Herkunftsländer im Sinne des Asylrechts einstufen, so verschließen wir nicht die Augen vor den bestehenden Defiziten,
die es gerade im Hinblick auf den Umgang mit Minderheiten auch in diesen Ländern gibt.
({9})
Die Bundesregierung setzt sich deshalb kontinuierlich
und intensiv dafür ein, die Lebenssituation der Menschen vor Ort zu verbessern. Im Rahmen der bilateralen
staatlichen Entwicklungszusammenarbeit werden die
nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung und die verbesserte Ausbildung insbesondere junger Menschen gefördert. Auf regionaler Ebene werden Regierungen und zivilgesellschaftliche Organisationen im Westbalkan dabei
unterstützt, die soziale Situation benachteiligter Gesellschaftsgruppen zu verbessern. Die Integration der Minderheiten wird im Rahmen der Regierungsgespräche regelmäßig thematisiert. Das gilt umso mehr für die
Beitrittsverhandlungen zur Europäischen Union mit Serbien, die im Januar dieses Jahres begonnen haben. Es ist
von einem Staat, der Mitglied der Europäischen Union
werden will, nicht zu viel verlangt, dass er seine eigenen
Minderheiten vernünftig behandelt.
({10})
Meine Damen und Herren, Sie wissen, dass es auch
Debatten gibt, zwei andere Staaten, darunter Albanien,
in die Liste sicherer Herkunftsstaaten aufzunehmen; darüber wird in aller Ruhe zu sprechen sein. Dort ist die
Lage teilweise vergleichbar, teilweise nicht ganz vergleichbar. Wir sollten das im weiteren Gesetzgebungsverfahren in Ruhe miteinander besprechen.
Der heute von mir vorgelegte Gesetzentwurf enthält
zudem eine Regelung, mit der wir die Situation der
Asylbewerber in unserem Land künftig spürbar verbessern möchten. Die Wartefrist, nach der Asylbewerbern
und Ausländern, die eine Duldung besitzen, die Ausübung einer Beschäftigung grundsätzlich erlaubt werden
kann, möchten wir auf drei Monate verkürzen.
({11})
Durch die Verkürzung dieser Wartefrist sollen die Menschen früher die Möglichkeit erhalten, durch Aufnahme
einer Beschäftigung ihren Lebensunterhalt zu bestreiten,
und zwar selbst. Auch da gibt es so etwas wie eine Vorrangprüfung. Aber man kann nicht einerseits sagen, die
Asylbewerber sollen dem deutschen Steuer- und Beitragszahler nicht auf der Tasche liegen, aber andererseits, wenn es die Arbeitsmarktlage erlaubt und wenn die
Betroffenen arbeiten können und wollen, sagen: Ihr dürft
nicht arbeiten. - Deswegen ist es richtig, diese Frist zu
verkürzen.
({12})
Ich will die Situation in der Vergangenheit jetzt aber
nicht kritisieren; diese Regelungen haben wir ja schließlich auch beschlossen. Eingeführt wurde diese Frist allerdings vor dem Hintergrund einer ganz anderen Arbeitslosenzahl; auch das darf man nicht vergessen. Die
Lage in Deutschland ist da unterschiedlich. In Gegenden
mit einer sehr niedrigen Arbeitslosenzahl war der Druck,
diese Frist zu verkürzen, höher als in anderen Gegenden.
Wie auch immer, es ist jedenfalls richtig, dass wir jetzt
so vorgehen. Es ist auch richtig, die Dreimonatsfrist in
den Blick zu nehmen. Denn nach dem Asylrecht befinden sich die Asylbewerber in aller Regel drei Monate in
Erstaufnahmelagern.
({13})
Wir wollen durch verschiedene Bemühungen erreichen,
dass die Asylverfahren im Durchschnitt nach drei Monaten abgeschlossen sind, sodass nach diesen drei Monaten
im Grunde klar ist, wer bleibt und wer nicht bleibt. Warum sollen diejenigen, die bleiben dürfen, nachdem das
Verfahren abgeschlossen ist, nicht arbeiten dürfen, Beiträge und Steuern zahlen und sich hier integrieren? Das
haben wir jetzt vor.
({14})
Meine Damen und Herren, ich bitte Sie um ein konstruktives und verantwortungsvolles Mitwirken an diesem
Gesetzgebungsverfahren, das, wie wir alle wissen, mit
der Entscheidung im Deutschen Bundestag noch keinen
Abschluss gefunden hat; das müssen wir alle miteinander bedenken. Ich bitte Sie, in der Tonlage der Debatte
einerseits dem Anspruch und der humanitären Verpflichtung, die wir mit dem Asylrecht in Deutschland gerne
übernommen haben, und andererseits mit dem, was viele
Menschen im Hinblick auf Asylbewerber aus bestimmten Ländern bewegt, behutsam und so umzugehen, dass
wir zusammenbleiben und uns nicht von manchen, die
genau darauf spekulieren, auseinanderdividieren lassen.
Vielen Dank.
({15})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Ulla Jelpke, Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung legt heute einen Gesetzentwurf vor, mit
dem Bosnien-Herzegowina, Mazedonien und Serbien zu
sicheren Herkunftsstaaten erklärt werden sollen. Das bedeutet, dass die Asylanträge aller Asylsuchenden aus
diesen Staaten in Zukunft im Schnellverfahren abgelehnt
werden,
({0})
weil sie pauschal als unbegründet gelten, und dass sie innerhalb einer Woche das Land verlassen müssen.
({1})
Faktisch werden auch jetzt schon Asylanträge von
Antragstellern aus dem Westbalkan im Eiltempo abgefertigt und nur oberflächlich geprüft. Trotzdem erhielten
2013 immerhin 60 Asylsuchende aus diesen Ländern einen humanitären Aufenthaltstitel durch das Bundesamt
für Migration und Flüchtlinge, und weitere 82 erkämpften sich dieses Recht vor den Verwaltungsgerichten.
Die Linke fordert ganz klar: Es muss weiterhin faire
Asylverfahren für Menschen aus den Staaten im Westbalkan geben.
({2})
Ich will hier ganz deutlich sagen: Länder, in denen
schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen begangen
werden, dürfen nicht als sichere Herkunftsstaaten eingestuft werden.
({3})
Aus all diesen Staaten kommen vor allem Roma als
Asylsuchende nach Deutschland. 90 Prozent der Asylsuchenden aus Serbien sind Roma. Aus Mazedonien sind
es 80 Prozent und aus Bosnien-Herzegowina 65 Prozent.
Es ist bekannt, dass diese Minderheiten dort am Rande
der Gesellschaft leben und Opfer von rassistischen Übergriffen und Kampagnen sind. Gerade weil wir als Deutsche Roma gegenüber eine historische Verantwortung
haben, meinen wir, dass diese Länder nicht einfach als
sichere Herkunftsstaaten eingestuft werden können.
({4})
Über eine halbe Million Sinti und Roma sind während
des Faschismus in ganz Europa umgekommen. Dieser
Gesetzentwurf tut gerade so, als hätte es diesen Teil der
Geschichte, diesen Antiziganismus, nie gegeben. Ich appelliere an Sie: Handeln Sie, und seien Sie hier nicht geschichtsvergessen!
({5})
In diesen Tagen gibt es erschreckende Meldungen aus
Serbien und Bosnien-Herzegowina. Dort wurden durch
eine Überschwemmungskatastrophe Häuser und ganze
Siedlungen zerstört. Zehntausende Menschen sind obdachlos, und es besteht Seuchengefahr. Die Behörden
versuchen, zu helfen, wo sie können; das ist keine Frage.
Diese Hilfe kommt aber längst nicht bei allen an.
Insbesondere Roma sind von den Fluten betroffen;
denn ihre Siedlungen befinden sich direkt an den Flussufern. Erst in dieser Woche hat der Ombudsmann für
Bürgerrechte, Saša Janković, in Bosnien-Herzegowina
beklagt, dass dort einer Gruppe von 30 Roma der Zugang zu Aufnahmezentren einfach verweigert wurde,
weil sie Roma waren. Sie wurden stattdessen in einen
Bunker verfrachtet, der durch Rattengift verseucht war ohne Toiletten, ohne sauberes Wasser und ohne Anschluss an das Abwassersystem. Ihnen wurde die Unterstützung, die andere Bürgerinnen und Bürger dort selbstverständlich erhalten haben, nicht zuteil - und das einzig
und allein, weil sie Roma sind. Das ist die schreckliche
Realität, die auch Sie von der Koalition einfach einmal
zur Kenntnis nehmen müssen.
({6})
Das ist eine von vielen Geschichten alltäglicher Diskriminierung, die Roma in den Staaten des ehemaligen
Jugoslawien erdulden und erleiden müssen. Ich will
noch weitere Beispiele aus Serbien nennen:
45 000 Roma, Flüchtlinge aus dem Kosovo, leben
dort ohne Personaldokumente und damit völlig rechtlos.
Sie haben keinen Zugang zu medizinischer Versorgung
und zu Sozialleistungen. Man muss hier ganz deutlich
sagen: Insgesamt gibt es dort 400 informelle Roma-Siedlungen. Ein Drittel davon hat keine Wasserversorgung,
70 Prozent der Haushalte sind nicht an das Abwassersystem angeschlossen, und häufig gibt es auch keinen
Strom. Ich glaube, ich muss hier nicht sagen, was das
dort bedeutet - insbesondere für Kinder und für Frauen.
Laut UNICEF ist die Kindersterblichkeit bei Roma in
Serbien viermal so hoch wie im Durchschnitt.
All diese Beispiele zeigen eindrucksvoll, wie schmal
der Grat zwischen Diskriminierung und lebensbedrohender Ausgrenzung ist.
({7})
Wir reden nicht einfach über Armut. Wir reden über
massive Verletzungen der sozialen Menschenrechte.
Nach den Asylrichtlinien der EU muss auch eine Mehrfachdiskriminierung zur Anerkennung als Flüchtling
führen.
Herr Innenminister, ich sage es gerne noch einmal:
Wenn diese Menschen in irgendeiner Weise von schwerwiegenden Verletzungen eines grundlegenden Menschenrechtes betroffen sind, muss auch das zum Schutz
in unserem Land führen, nicht nur die enge Sicht auf die
politische Verfolgung.
({8})
Übrigens - auch das hat der Innenminister hier nicht erwähnt - hat auch der UNHCR in seiner Stellungnahme
zu dem heute vorliegenden Gesetzentwurf klar gefordert, dass das europäische Recht angewendet bzw. endlich in die Praxis umgesetzt werden soll.
In der Begründung des Gesetzentwurfs findet sich zu
all diesen Menschenrechtsverletzungen kein einziges
Wort. Die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl hat zu Recht
von einer „Bagatellisierung“ der Menschenrechtslage in
den Westbalkanstaaten gesprochen. In dem vorliegenden
Gesetzentwurf werden die zahlreichen Berichte von
Menschenrechtsgruppen, Institutionen und dem Europarat sowie der US-Menschenrechtsbericht - das soll
schon etwas heißen - ignoriert. Diese Ignoranz der Bundesregierung ist meines Erachtens wirklich unerträglich.
({9})
Diese ganze Debatte vergiftet zusehends das gesellschaftliche Klima in der Bundesrepublik. Am Mittwoch
wurden zum Beispiel neue Zahlen einer Studie der Universität Leipzig zum Rassismus in der Mitte dieser Gesellschaft bekannt. Demnach haben 55,4 Prozent der Befragten ein Problem damit, wenn sich Roma und Sinti in
ihrer Gegend aufhalten. 47,1 Prozent finden, Roma und
Sinti sollten aus den Innenstädten verbannt werden.
55,9 Prozent unterstellen ihnen eine höhere Neigung zu
Kriminalität. - All diese Werte sind im Vergleich zur
Umfrage von 2011 deutlich gestiegen.
Der grassierende Antiziganismus ist auch das Ergebnis dieser unsäglichen Asylmissbrauchsdebatten, die wir
seit mindestens zwei Jahren in dieser Gesellschaft fühUlla Jelpke
ren, besonders auf der rechten Seite dieses Hauses. Das
ist unerträglich.
({10})
Frau Kollegin.
Ja, Herr Präsident, ich komme zum Schluss.
Das müssten Sie schon längst gekommen sein.
Man befeuert damit jedenfalls den Antiziganismus in
dieser Gesellschaft.
Ich sage zum Schluss noch einmal: Ziehen Sie diesen
Gesetzentwurf zurück! Beenden Sie die Asylschnellverfahren, und erkennen Sie den Schutzbedarf von Roma
aus den Westbalkanstaaten an! Seien Sie mit dieser
Gruppe solidarisch. Ich denke, sie hat es historisch verdient.
Ich danke Ihnen.
({0})
Als nächstem Redner erteile ich dem Abgeordneten
Rüdiger Veit, SPD-Fraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um
mit einem Bekenntnis zu beginnen: Ich habe an diesem
Pult und vor Ihnen selten mit so gemischten Gefühlen
gestanden.
Ich beginne mit dem, was aus meiner Sicht uneingeschränkt positiv ist und was wir mit unserem jetzigen
Koalitionspartner erreicht haben. Es ist nach dem Vorlauf, auf den ich noch zu sprechen komme, in der Tat fast
sensationell zu nennen: Die Dauer des Arbeitsverbotes
für Asylbewerber und Geduldete wurde gekürzt.
({0})
Diese Frist beträgt im Augenblick noch 12 bzw. 9 Monate. Wenn der vorliegende Entwurf Gesetz wird, wird
die Dauer des Arbeitsverbotes in Zukunft auf 3 Monate
verkürzt. Die Betreffenden sind damit in der Lage, sich
und ihre Familien selbst zu versorgen.
Wenn uns das gelingt, dann gelingt uns zugleich auch
die Durchbrechung eines Teufelskreises in anderer Hinsicht; denn bei vielen, die hier zwar nicht als Flüchtlinge
oder Asylberechtigte anerkannt werden, die aber nicht
abgeschoben werden oder ausreisen können, ist es heute
noch immer - so möchte man sagen - wie beim
Hauptmann von Köpenick: Wenn du keinen Aufenthaltstitel hast, bekommst du keine Arbeit. Wenn du keine Arbeit hast, bekommst du keinen Aufenthaltstitel. - Auch
diesen Teufelskreis werden wir durchbrechen, wenn die
betroffene Personengruppe nach drei Monaten den Arbeitsmarktzugang haben wird.
Ich bin schon lange in der Politik und erinnere mich
daran, dass sogar Otto Schily und Günter Beckstein
- das war wirklich so; das ist kein Missverständnis oder
Hörfehler - in einer gemeinsamen Initiative vor vielen
Jahren gefordert haben, dass das unselige Arbeitsverbot
für Geduldete und Asylbewerber auf sechs Monate verkürzt werden muss. Das hat sich damals nicht durchgesetzt. Heute ist es endlich so weit. Es hat lange genug gedauert. Meine Kollegin Daniela Kolbe wird noch im
Einzelnen darauf eingehen.
Ich komme jetzt zu dem Teil, der mir zugegebenermaßen wenig Freude macht. Ich darf vorausschicken - ich
bitte um Nachsicht für diese persönliche Bemerkung -:
Ich gehörte innerhalb der hessischen SPD zu denjenigen,
die den Asylkompromiss von 1993, zu dem auch das
Prinzip und Konzept der sicheren Herkunftsstaaten gehörte und gehört, nachhaltig bekämpft haben. Deswegen
können Sie mir gerne glauben, dass es mir in den Koalitionsverhandlungen wirklich schwergefallen ist, der
Union zuzugestehen, dass wir die drei Westbalkanstaaten in die Liste der sicheren Herkunftsländer aufnehmen.
({1})
Aber neben diesen grundsätzlichen Überlegungen
und Vorbehalten, die ich auch heute noch gegenüber diesem System habe - das will ich nicht verhehlen; wir sind
innerhalb der SPD durchaus unterschiedlicher Meinung,
aber meine Position jedenfalls hat sich im Grundsatz
nicht verändert -,
({2})
muss man klarstellend Folgendes sagen: Zunächst einmal ist es nicht so, liebe Ulla Jelpke, dass damit alle, die
aus diesen Ländern zu uns kommen, rechtlos gestellt
werden. Es gibt nach § 36 des Asylverfahrensgesetzes
ein vereinfachtes, beschleunigtes Verfahren, auf das
auch der Herr Minister bereits hingewiesen hat.
Es gibt im Übrigen sogar Praktiker aus den Bundesländern, die bestreiten, dass eine Einstufung als sichere
Herkunftsländer wirklich zu einer nachhaltigen Arbeitsentlastung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge führt. Wir allerdings hoffen das und gehen davon
aus.
Es wird aber mit dieser Systematik der sicheren Herkunftsländer eine für jeden Einzelnen widerlegbare Regelvermutung begründet, er sei nicht verfolgt. Er kann
also beim BAMF das Gegenteil geltend machen. Er kann
dagegen auch Rechtsschutz in Anspruch nehmen, wenn
auch in kürzester Frist. Das ist richtig.
({3})
Er kann auch nach § 80 Absatz 5 der Verwaltungsgerichtsordnung einstweiligen Rechtsschutz beantragen
({4})
und darf dann, solange darüber nicht entschieden worden ist - auch hierbei gibt es eine kurze Frist -, nicht abgeschoben werden.
({5})
Angesichts der Tatsache, dass wir es bei den drei
Westbalkanstaaten mit Schutzquoten zu tun haben, die in
den vergangenen Jahren unter 0,5 Prozent gelegen haben, habe ich durchaus Zutrauen in das Bundesamt für
Migration und Flüchtlinge, in die Qualität, Sorgfalt und
Sensibilität der dortigen Bearbeiter und Entscheider
({6})
- ich komme gleich dazu -, dass es gelingt, nach wie vor
die Schutzbedürftigen zu erfassen und sie auch mit Bleiberechten auszustatten.
Es ist nicht richtig, liebe Kollegin Amtsberg, dass wir
dann ohne Weiteres von 10-Minuten-Anhörungen auszugehen haben. Ich sagte schon: Es gibt sogar Praktiker
aus den Bundesländern, die meinen, das beschleunigte
administrative Verfahren werde letztendlich gar keine
großen administrativen Erleichterungen bringen.
Ich wiederhole - in diesem Zusammenhang danke ich
auch den Mitarbeitern in Nürnberg bzw. dort, wo sie
sonst in der Bundesrepublik tätig sind -: Anders als früher, als die Behörde noch Bundesanstalt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge hieß, aber in Wirklichkeit eher für die Ablehnung von Flüchtlingen eintrat,
ist es heute so, dass unter der sensiblen Amtsführung des
damaligen Präsidenten Albert Schmid und des derzeitigen Präsidenten Manfred Schmidt die Mitarbeiter in der
Lage sind, die Schutzbedürftigen entsprechend herauszufinden. Dafür noch einmal meinen herzlichen Dank!
({7})
In Albanien und Montenegro - der Minister hat es angesprochen - ist die Situation etwas anders. Für Antragsteller aus Montenegro beträgt die Schutzquote 0,0. Bei
Antragstellern aus Albanien ist sie, anders als bei den
anderen Herkunftsstaaten, über die wir heute reden,
deutlich höher. Das hat aber unterschiedliche Ursachen,
die wir in der Tat sorgfältig beobachten müssen. Dazu
laufen Gespräche. Ich gebe aber keine Erklärungen darüber ab, ob die SPD dazu bereit sein könnte, über die
jetzt vereinbarten drei Staaten hinaus weitere Staaten
aufzunehmen. Aber ich sichere zu, dass wir diesen Komplex weiterhin sachkundig, wie ich hoffe, und ohne
Scheuklappen bearbeiten werden. Dann wird man das
Ergebnis sehen.
Übrigens, was Albanien angeht - liebe Ulla Jelpke,
auch diesen Hinweis will ich geben -, ist es keineswegs
so, dass alle, die aus Albanien zu uns kommen, Roma
sind. Ausgerechnet aus dem Land sind es nur 6 Prozent.
Alle anderen haben eine andere ethnische oder staatsbürgerschaftliche Herkunft.
Jenseits dessen, was wir nun damit schaffen werden,
ist dies für mich persönlich ein sehr schwieriger Kompromiss gewesen. Aber wir haben in den Koalitionsverhandlungen gerade im Bereich des Flüchtlingsrechts einiges erreicht. - Nun schaue ich ganz bewusst die beiden
Verhandlungsführerinnen in der Arbeitsgruppe „Migration/Integration“, Frau Kollegin Maria Böhmer und Frau
Kollegin Aydan Özoğuz, an. Ich denke, wir haben uns
gerade für Flüchtlinge eine Reihe von Verbesserungen
vorgenommen, die sich sehen lassen können. Dazu gehört das stichtagsunabhängige Bleiberecht, dazu gehört
eine Ausweitung des Resettlement-Programms, dazu gehört die Fastabschaffung der Residenzpflicht, dazu gehört die frühzeitige Unterweisung in der deutschen Sprache, und dazu gehört natürlich auch die Frage der
Handlungsfähigkeit von 16- und 17-Jährigen, die in Zukunft als Kinder einzustufen sind, was das Asylverfahrensrecht angeht. Das alles sind wichtige Maßnahmen
für Flüchtlinge - auf den Arbeitsmarkt bin ich schon zu
sprechen gekommen -, die sich sehen lassen können.
Eine Koalitionsvereinbarung ist immer - wem sage ich
das eigentlich hier im Haus, wer ist denn so unerfahren,
dass er das nicht wüsste - ein Geben und ein Nehmen.
Von daher gesehen ist das letztendlich ein Kompromiss,
zu dem wir Sozialdemokraten stehen.
Ich will einen weiteren Punkt ansprechen. Da ich von
meiner persönlichen Befindlichkeit bei der Ausweisung
von Ländern als sichere Herkunftsländer gesprochen
habe, will ich darauf hinweisen, dass in unseren Reihen,
auch bei unseren Länderinnenministern und Senatoren
der SPD, durchaus die Sorge besteht, die Bundesminister
de Maizière hier artikuliert hat, nämlich dass die Akzeptanz für die Aufnahme noch schutzbedürftigerer Menschen als derjenigen vom Westbalkan in unserer Bevölkerung schwinden kann, wenn wir alle wieder mit
Größenordnungen konfrontiert sind, die man nur sehr
schwer bewältigen kann. Wir sind zwar weit entfernt von
den Größenordnungen von 1991/92. Damals gab es
450 000 Asylantragsteller und über 400 000 Spätaussiedler. Aber man sollte versuchen, die Sensibilität sich
selber zu bewahren und in der Bevölkerung zu erhalten.
Ich füge hinzu: Wenn das nach dem Prinzip kommunizierender Röhren funktioniert und man die Meinung
vertritt, dass diejenigen, die vielleicht weniger schutzbedürftig sind, möglichst zügig in ihre Heimat zurückkehren sollen, damit wir uns um diejenigen kümmern können, die in besonderem Maße an Leib und Leben bedroht
und traumatisiert sind, dann gehört dazu - darum bitte
ich auch unseren Koalitionspartner -, dass wir uns in Europa, bezogen auf die Aufnahme syrischer Flüchtlinge,
weiterhin so vorbildlich verhalten, wie wir das bisher getan haben. Da erwarte ich, Herr Minister, insbesondere
von der nächsten Innenministerkonferenz in Bonn in der
nächsten Woche entsprechende Fortschritte.
({8})
Lassen Sie mich noch etwas zur Situation der Sinti
und Roma sagen. Ich weiß nicht, ob nur ich dieser MeiRüdiger Veit
nung bin, aber meine Einschätzung ist, dass diese größte
Ethnie bzw. Minderheit überall in Europa schlecht behandelt wird, nicht nur auf dem Westbalkan. Ich erinnere
mich an einen Besuch in der Harzer Straße in BerlinNeukölln - die Kollegin Kolbe hat ihn freundlicherweise
organisiert -, wo wir mit Betroffenen - dabei hat es sich
um Roma vorwiegend aus Bulgarien und Rumänien gehandelt - genauso gesprochen haben wie mit Sozialarbeitern. Bei diesem Besuch wurde uns noch einmal klar
und deutlich vor Augen geführt: Selbst hier bei uns in
Deutschland - die Zahlen aus der Studie sind eben genannt worden - gibt es so etwas wie eine Hierarchie der
Fremden. Diejenigen, die nicht zur Stammbevölkerung
gehören, unterteilen sich ungefähr wie folgt - so wurde
es uns gesagt; ich befürchte, dass das so ist -: Relativ
weit oben stehen die Türken, die noch gut emanzipiert
sind. Dann kommen diejenigen russischer Abstammung,
gefolgt von denjenigen arabischer Abstammung oder
Herkunft. Ganz am Schluss dieser Kette, wenn es um
Anerkennung und Integration sowie um die Frage geht,
wie man ihnen begegnet, befinden sich, auch bei uns in
Deutschland, Sinti und Roma. Nach meiner Einschätzung ist das in ganz Europa so. Deswegen müssen wir
unsere europäischen Anstrengungen darauf richten, die
Lebensbedingungen, die für diese Ethnie in ganz Europa
wirklich schändlich sind, dort, wo sie sich in erster Linie
aufhält, zu verbessern. Das jedenfalls wäre der gemeinsamen Anstrengungen wert. Das würde unserer historischen Verantwortung dieser Ethnie und dieser Bevölkerungsgruppe gegenüber entsprechen. Das wäre eine
Gemeinsamkeit, zu der wir uns zusammenfinden könnten.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({9})
Als nächster Rednerin erteile ich der Abgeordneten
Luise Amtsberg, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
„Sie gehören zu den Verwundbarsten unserer Gesellschaft, vor allem wenn es darum geht, sie in unserem …
Umfeld zu integrieren und sie zu fördern.“ Das wurde
bei einem Treffen mit Papst Franziskus gestern Abend
gesagt. Dieses Zitat stelle ich an den Anfang meiner
Rede.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen der Großen Koalition! Ich
finde es traurig, dass wir heute im Zusammenhang mit
dem ersten Gesetzentwurf der Koalition im flüchtlingspolitischen Bereich eine weitere Einschränkung des
Asylrechts diskutieren und nach meiner Auffassung mit
diesem Gesetzentwurf dem Asylrecht den finalen Todesstoß versetzen.
({0})
Heute, fast auf die Woche genau 21 Jahre später, bringen Sie einen Gesetzentwurf ein, bei dem mehr als deutlich wird, dass Sie erneut die bundesrechtlichen und
europarechtlichen Voraussetzungen auf Kosten der Menschenrechte und auf Kosten der europäischen Idee ignorieren. Das ist einfach nur enttäuschend.
({1})
Bei Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
CDU, wundert es mich nicht. Von Ihnen haben wir gelernt, wie man so eine Grundgesetzverschärfung von
langer Hand plant und vorbereitet. Blickt man zurück
auf das Ende der letzten Legislatur, bekommt man dafür
eine perfekte Handlungsanleitung. Das geht so: Erst lassen Sie den damaligen Bundesinnenminister wegen steigender Asylzahlen eine Debatte über die Wiedereinführung der Visumspflicht und innereuropäische Grenzen
auslösen. Mal austesten, wie weit es so geht mit unserem
europäischen Bewusstsein. - Na ja, für das Aufstellen
von Schlagbäumen hat es zum Glück nicht gereicht,
wohl aber dafür, das Bundesamt anzuweisen, das Asylverfahren für Menschen aus dieser Region zu beschleunigen.
Dann lässt man die Schwesterpartei und ihr - nun ja Flaggschiff Horst Seehofer, der mit seiner Einwanderungspolitik wirklich nur noch die Emotionalsten unter
uns zum Kopfschütteln bringt, an den Ball. Der erzählt
dann was vom Missbrauch unseres Sozialsystems - als
ob es in Deutschland keine Gesetze gäbe, die diesen verhindern würden! -, macht mit Betrügergerüchten Front
gegen Bulgaren und Rumänen und vergiftet damit vor
der Europawahl das gesellschaftliche Klima in Deutschland gegenüber Europa.
({2})
Damit es dann auch alle glauben, spricht sogar die Kanzlerin von Sozialmissbrauch in einer ihrer Regierungserklärungen.
Im letzten Schritt - und das ist wirklich unerträglich,
durchsichtig und perfide - nehmen Sie die niedrigen
Schutzquoten von Menschen aus dieser Region als
Rechtfertigung für diesen Gesetzentwurf und berufen
sich damit auf Fakten, die Sie mit Ihrer vorangegangenen Politik selber geschaffen haben.
({3})
Man muss schon an Amnesie leiden, um diese Taktik
nicht zu begreifen. Ihnen, liebe Christdemokraten, kann
ich also an der Stelle keine unbedachte oder fahrlässige
Politik vorwerfen; denn das, was Sie hier intendieren, ist
absolut gewollt.
Was aber um alles in der Welt ist eigentlich mit euch
los, liebe Sozialdemokraten?
({4})
Wie konntet ihr nach 1993, als das Grundrecht auf Asyl
seines Inhalts beraubt wurde, mit euren Stimmen - ich
weiß, lieber Rüdiger, dass das vielen von euch noch auf
der Seele liegt -, zulassen, dass an diese Politik jetzt
wieder angeknüpft wird? Ihr wisst doch, dass mit dieser
Grundgesetzänderung das elendige Hin- und Hergeschiebe von Schutzsuchenden in Europa erst möglich gemacht wurde, dass heute nur noch weniger als 2 Prozent
der Asylsuchenden in Deutschland über unseren Verfassungsartikel geschützt werden, dass alle anderen unter
die Dublin-Regulierung fallen und dass niemand in
Deutschland einfach so vom Himmel fällt und Asyl beantragt. Wie kann es sein, dass ihr erneut vor der Panikmache der CDU vor steigenden Asylbewerberzahlen
einknickt? Ich kann das wirklich nicht glauben.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieser Gesetzentwurf schlägt - das wurde noch nicht gesagt - noch in einem anderen Bereich dem Fass den Boden aus; denn in
dem Gesetz geht es auch um eine zweite Sache, die bedauerlicherweise überhaupt gar nichts mit der ersten
Sache zu tun hat - es handelt sich also um eine Art Sammelgesetz -: Es geht nämlich auch um den Arbeitsmarktzugang von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern in Deutschland.
Keine Frage: Die Absenkung der Frist für den Zugang
zum Arbeitsmarkt von neun auf drei Monate ist ein gutes
Anliegen. Aber auch hier, wie auch schon bei der Debatte über den Optionszwang oder die Residenzpflicht,
gehen Sie nur einen halben Schritt. Eine Lockerung der
Arbeitsverbote macht doch nur dann Sinn, wenn die sogenannte Vorrangprüfung wegfällt. Wenn dieser Schritt
nicht gegangen wird, dann ist den meisten Asylbewerberinnen und Asylbewerbern leider überhaupt nicht geholfen.
({6})
Damit ist dieses zentrale Anliegen, liebe SPD, noch
nicht mal mehr ein Zückerchen, sondern einfach nur
- und das ist bedauerlich - an der Sache vorbei.
Der Gesetzentwurf ist aber auch ein fantastisches
Lehrstück dafür, mit welcher Arroganz große Mehrheiten hier in diesem Parlament Politik machen. Warum hat
man denn an dieser Stelle Birnen und Tomaten in einen
Topf geschmissen? Das kann man wohl nur damit begründen, dass dieser Gesetzentwurf im Bundesrat zustimmungspflichtig ist und man versucht hat, den SPDInnenministern in irgendeiner Form Argumentationshilfen an die Hand zu geben oder uns als Opposition in die
Enge zu treiben und zu unterstellen, dass wir mit einer
Ablehnung dieses Gesetzes arbeitsmarktpolitische Verbesserungen blockieren würden. Ich sage nur: Meine
Fraktion lässt sich nicht erpressen. Ich hoffe, dass es
auch die SPD-Landesinnenminister nicht tun.
({7})
Zurück zu den „sicheren Herkunftsstaaten“. Wir werden diesen Gesetzentwurf mit aller Schärfe zurückweisen. Die Logik darin ist nämlich folgende: Wenn die
meisten Anträge auf Asyl von Bewerbern aus der
Region, um die es geht, abgelehnt werden, dann kann es
dort, wo diese Menschen herkommen, ja nicht so
schlimm sein; dann kann man so ein Land auch einfach
als sicher einstufen. Meine Fraktion hat sich schon immer gegen die Praxis der „sicheren Herkunftsstaaten“
ausgesprochen. Denn das Einstufen eines Landes als sicher führt zur pauschalen Ablehnung von Asylanträgen
und somit zu schwerwiegenden Fehlentscheidungen.
({8})
Jetzt kommen Sie vermutlich und sagen - ich habe es
schon gehört -: Frau Amtsberg, regen Sie sich mal nicht
so auf. Es ist ja nicht so, dass niemand Asyl beantragen
kann. Die Möglichkeit dazu ist nach wie vor vorhanden.
- Das stimmt. Nur, der entscheidende Unterschied ist,
dass die Anträge nicht mehr sorgfältig geprüft werden.
Damit unterwandert dieses Gesetz einen der zentralsten
Grundsätze unseres Asylrechts: das Recht auf individuelle und gründliche Prüfung eines Asylbegehrens und
auf effektiven - nicht individuellen, Herr Strobl! Rechtsschutz.
Der Hauptkritikpunkt an Ihrem Gesetzentwurf muss
sich zweifelsohne nach meiner Auffassung auf den
Rechtsbruch beziehen, den Sie begehen, indem Sie
nicht, wie nach europäischem Recht vorgeschrieben, alle
verfügbaren menschenrechtlichen Quellen zurate ziehen,
wenn Sie ein Land als sicher einstufen wollen.
({9})
Denn unser europäisches Recht erlaubt es ohne Weiteres, existenzbedrohende Mehrfachdiskriminierung als
Asylgrund einzustufen. Ich sage es mal so: Besonders
vor dem Hintergrund unserer Geschichte - Frau Jelpke
hat darauf hingewiesen - wäre es mehr als angezeigt,
wenn Deutschland diesen Spielraum endlich nutzen
würde.
In all den benannten Ländern finden schwerwiegende
Diskriminierungen statt. Fast alle Menschenrechts- und
Flüchtlingsverbände haben sich dazu geäußert: das
Deutsche Institut für Menschenrechte, Pro Asyl, Amnesty International, die Flüchtlingsräte, der UNHCR, das
Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen, der Jesuiten-Flüchtlingsdienst, die Diakonie, der UN-Flüchtlingshochkommissar, die Kommission; und sogar das
Auswärtige Amt äußert sich dazu sehr deutlich. Sie alle
haben gesagt, dass die menschenrechtliche Lage vor Ort
besorgniserregend ist.
Nur ein Beispiel: In Bosnien-Herzegowina sind Angehörige der Romaminderheit gleich mehrfachen Diskriminierungen ausgesetzt: Sie stecken in einem Teufelskreis aus Armut und Arbeitslosigkeit. Der Zugang zu
Bildung, Arbeit, medizinischer Versorgung oder vernünftigen Wohnverhältnissen ist ihnen verwehrt. Roma
werden häufig Opfer rassistischer Propaganda und Gewalt. Die Sterblichkeit von Romakindern ist in allen drei
Staaten, um die es hier geht, doppelt so hoch wie anderswo. Die älteren Roma sterben zehn Jahre früher als
der Rest der Bevölkerung. Das ist doch kein Zufall!
({10})
Herr Bundesinnenminister, Sie haben recht, wenn Sie
sagen, dass man von Beitrittskandidaten und Ländern,
die es werden wollen, erwarten kann, dass sie den
Rechtsstaat und die Menschenrechte aufrechterhalten
und achten. Der Wunsch und die Erwartung sind fromm.
Ich teile sie. Auch ich habe diese Erwartung; denn die
Achtung der Menschenrechte ist und muss europäischer
Konsens sein.
Aber gerade dann ist es doch fahrlässig, nicht zur
Kenntnis zu nehmen, wie die menschenrechtliche Situation vor Ort ist, und diese Staaten, in denen die Beitrittskapitel zu Justiz und Menschenrechten noch nicht geschlossen sind, einfach als sicher einzustufen. Ein Staat
ist eben nicht einfach sicher, weil man ihn hier so nennt.
({11})
In meinen Augen ist das Vogel-Strauß-Taktik: Kopf in
den Sand; denn was nicht sein darf, ist auch nicht.
So macht man keine Politik. Liebe SPD, liebe Innenminister der SPD, macht den Rücken gerade und zeigt
eure Verantwortung! Denn jeder Einzelfall ist es wert,
beachtet zu werden. Wir sollten an unseren asylrechtlichen Grundsätzen festhalten. Menschen, die Schutz verdienen, müssen ihn hier bei uns auch bekommen.
Herzlichen Dank.
({12})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Thomas Strobl, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident Hintze! Verehrte Kolleginnen und
Kollegen! Wenn wir in diesen Tagen mit Bürgermeistern
und Landräten in unseren Wahlkreisen sprechen, dann
werden wir sehr häufig auf die steigenden Zahlen von
Asylbewerberinnen und Asylbewerbern angesprochen.
Die Kommunen müssen Unterkünfte bereitstellen. Die
Bürgerinnen und Bürger fragen uns besorgt: Geht dieser
Anstieg immer weiter?
2009 waren es 28 000 Asylbewerber in der Bundesrepublik Deutschland. Im letzten Jahr waren es knapp
100 000 mehr: 127 000. Innerhalb von fünf Jahren gab
es also fast eine Verfünffachung der Asylbewerberzahlen
in der Bundesrepublik Deutschland. Dabei ist der Anstieg von Asylbewerbern aus den Balkanstaaten besonders groß: Fast jeder fünfte Bewerber kommt aus Serbien, Mazedonien oder Bosnien-Herzegowina.
Diese Entwicklung ist kein Anlass für Alarmismus.
Ich finde, dass die Koalition heute einen maßvollen Vorschlag macht. Eines, liebe Kolleginnen und Kollegen,
wollen wir auch: Wir wollen vor allem sicherstellen,
dass wir unsere Anstrengungen für syrische Flüchtlinge
aufrechterhalten und ausbauen können; denn wenn
Flüchtlinge aus Syrien zu uns kommen und ein Asylverfahren durchlaufen, dann liegt die Schutzquote bei
100 Prozent. Bei Flüchtlingen aus den Westbalkanstaaten liegt sie bei nahe 0 Prozent. Deswegen: Wer aus Syrien kommt - Herr Kollege Veit, das möchte ich auch
dem Koalitionspartner, der SPD, zusagen -, dem wollen
wir effektiv helfen. Hier wollen wir den Schutz im Zweifel sogar ausbauen.
({0})
Dafür, meine Damen und Herren, ist es aber erforderlich, dass wir unsere Kräfte bündeln und die Ressourcen,
die nicht unbegrenzt sind, entsprechend gezielt einsetzen. Deswegen verfolgt der Gesetzentwurf der Bundesregierung zwei zentrale Ziele:
Erstens. Wir wollen, dass Asylbewerber und geduldete Ausländer schneller arbeiten können, nämlich
schon nach drei Monaten. Damit soll die Abhängigkeit
von Sozialleistungen reduziert werden. Sie sollen mit ihrer eigenen Hände Arbeit ihren Lebensunterhalt oder jedenfalls einen Teil davon selbst bestreiten können, und
sie sollen auch nicht verdammt sein, tatenlos in den Tag
hineinleben zu müssen. Das ist ein konkreter Fortschritt,
der auch geduldeten Ausländerinnen und Ausländern zugutekommt. Frau Kollegin Amtsberg, das sollten eigentlich auch die Grünen anerkennen.
({1})
Wir wollen zweitens zügige Verfahren bei Bewerbern
aus sicheren Herkunftsstaaten, damit solche aussichtslosen Asylanträge schneller bearbeitet werden und die
Menschen schneller in ihre Heimatländer zurückkehren
können. Das ist ein Kernanliegen, das wir mit diesem
Gesetzentwurf verfolgen; denn wir brauchen zügig - zügig! - eine Verbesserung unseres Asylsystems. Wir erwarten, dass wir damit auch dem eigentlichen Ziel unseres Asylsystems, den tatsächlich politisch Verfolgten
Schutz und einen sicheren Rechtsstatus gewähren zu
können, einen Schritt näher kommen.
({2})
Das bedeutet konkret: Die steigende Zahl von Bewerbern stellt unsere Kommunen vor große Herausforderungen. Ich will Ihnen zwei Beispiele nennen: Stuttgart investiert augenblicklich 21 Millionen Euro in sogenannte
Systembauten, in denen 1 000 Asylbewerber unterkommen sollen. Aber das ist nicht nur ein Problem für die
großen Städte, sondern auch eines für den ländlichen
Raum. Im Ostalbkreis in Baden-Württemberg rechnet
man mit 1 000 Asylbewerbern am Ende dieses Jahres.
Der Landrat und die Kommunalpolitiker arbeiten intensiv daran, Unterkünfte zu erstellen. Deshalb brauchen
wir eine Entlastung der Kommunen. Unser Gesetzentwurf leistet dazu einen wichtigen Beitrag.
Den Kommunen ist am meisten damit geholfen, wenn
die Bewerberzahlen aus Staaten zurückgehen, in denen
offensichtlich keine politische Verfolgung stattfindet.
({3})
Thomas Strobl ({4})
Das ist offensichtlich bei Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina der Fall. Ich möchte nicht auf jedes
Land im Einzelnen eingehen, aber lassen Sie mich zu
Serbien Folgendes anmerken:
Vor einem Jahr hat der Europäische Rat die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Serbien beschlossen. Diese Verhandlungen mit Serbien haben im Januar
dieses Jahres begonnen. Die EU verhandelt mit Serbien
auch deshalb, weil man davon ausgeht, dass Serbien inzwischen ein bestimmtes Maß an Rechtsstaatlichkeit erreicht hat und dort eben keine politische Verfolgung
stattfindet.
({5})
Serbien ist auf dem Weg in die europäische Wertegemeinschaft. Deswegen finde ich es sehr bemerkenswert
und begrüße es, dass Serbien selbst um Aufnahme in die
Liste der sicheren Herkunftsländer gebeten hat. Diesem
Wunsch sollten wir doch auch entsprechen. Er deckt sich
im Übrigen, Frau Staatsministerin Böhmer, mit den Analysen des Auswärtigen Amtes.
({6})
Wir sind dabei, Frau Kollegin Amtsberg, auch nicht
allein in Europa:
({7})
Großbritannien, Frankreich, die Schweiz, Österreich stufen Serbien als sicheres Herkunftsland ein.
({8})
Wir befinden uns also in guter Gesellschaft. Ich weise
zurück, dass Frankreich, Großbritannien und Österreich
europäisches Recht brechen, wenn sie Serbien in die
Liste der sicheren Herkunftsstaaten aufnehmen. Wir
können es auch tun.
({9})
Es gibt neben den drei Westbalkanstaaten auch andere
europäische Staaten, aus denen immer mehr Asylbewerber nach Deutschland kommen. Herr Kollege Veit, wir
sollten diese Entwicklung im Blick behalten und bei den
anstehenden parlamentarischen Beratungen auch genau
analysieren, wie sich etwa die Situation in Montenegro
und in Albanien darstellt.
2010 waren es 39 Asylanträge von Albanern, in den
ersten Monaten dieses Jahres aber schon über 3 000. Die
Zahlen schießen durch die Decke.
({10})
Uns ist bewusst - darauf hat Kollege Veit auch hingewiesen -, dass die Schutzquote bei Albanern in den letzten Jahren über den Quoten der übrigen Westbalkanstaaten lag. Im Augenblick liegt sie bei 2,7 Prozent. Aber sie
geht deutlich nach unten. Albanien ist in Frankreich seit
Dezember 2013 auf der Liste der sicheren Herkunftsstaaten. Die Zahlen albanischer Bewerber sind in Frankreich deutlich zurückgegangen. Bei uns allerdings sind
sie dramatisch angestiegen. Das zeigt aber: Die Einstufung als sicherer Herkunftsstaat wirkt entlastend.
Albanien ist im Übrigen seit 2009 NATO-Mitglied.
Die Europäische Kommission hat gerade dieser Tage
empfohlen, Albanien den Status eines Beitrittskandidaten für die Europäische Union zu verleihen. Auch hier
gehen wir in einem anderen Kontext, bei dem es nicht
um Asyl geht, davon aus, dass sich Albanien unserer
Wertegemeinschaft annähert, auch wenn bei rechtsstaatlichen Standards und bei der Bekämpfung von Korruption sicherlich noch einiges zu tun ist. Wir sollten aber
die Entwicklung Albaniens wie auch die Montenegros
genau im Blick behalten und uns ernsthaft fragen, ob
nicht eine Einstufung als sichere Herkunftsstaaten auch
für diese beiden Länder infrage kommt.
({11})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, viele Asylbewerber kommen aus Syrien. Dafür haben wir und dafür haben die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land
großes Verständnis. Was in Syrien täglich geschieht, erfüllt uns mit Trauer und mit Schrecken. Deshalb begrüßen wir von der Koalition es ausdrücklich, dass der Bundesinnenminister Thomas de Maizière mit den Ländern
über die weitere Aufnahme syrischer Flüchtlinge verhandelt. Herr Innenminister, wir stehen bei diesen Verhandlungen als Koalition hinter Ihnen und ermutigen Sie
ausdrücklich zu diesen Verhandlungen.
({12})
Aber nimmt man die drei Balkanstaaten, um die es
hier und jetzt geht, zusammen, dann muss man sagen,
dass von dort derzeit mehr Asylbewerber kommen als
aus Syrien, nämlich 11 600 Bewerber in den ersten vier
Monaten dieses Jahres gegenüber rund 7 500 Asylbewerbern aus Syrien: 11 600 Bewerber aus dem westlichen Balkan, bei denen die Anerkennungsquote nahe
null ist, 7 500 Syrer, bei denen die Anerkennungsquote,
die Schutzquote 100 Prozent ist. Das ist unseren Bürgerinnen und Bürger schwer zu vermitteln.
Damit bin ich beim zweiten Grund, warum wir die
Liste der sicheren Herkunftsstaaten maßvoll erweitern
wollen: Wir wollen unsere Kapazitäten in Deutschland
für alle wirklich politisch Verfolgten wie etwa die aus
Syrien nutzen. Das sind wir den Verfolgten, den tatsächlich politisch Verfolgten, und unseren Bürgerinnen und
Bürgern auch schuldig. Nur wenn unser Asylsystem die
wirklich politisch Verfolgten und die, die aus asylfremden Motiven zu uns kommen, klar differenziert und es
auch unterschiedliche asylrechtliche Konsequenzen gibt,
dann bleibt der Rückhalt in der Bevölkerung für unser
Asylsystem vorhanden. Dann können wir unseren Verpflichtungen als humaner Rechtsstaat nachkommen. Das
wollen wir alle zusammen gerne tun.
Danke fürs Zuhören.
({13})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Sevim Dağdelen, Fraktion Die Linke.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Kollege Strobl,
Sie sagten, man muss das Asylrecht verbessern. Wenn
diese Aussage von Ihrer Fraktion kommt, dann ist das
ein ernsthafter Grund zu besonderer Besorgnis in diesem
Haus, vor allem, wenn man sich anschaut, was mit dem
Asylrecht in den letzten Jahren und Jahrzehnten mit Ihrer Hilfe geschehen ist.
Der Minister und Sie haben Syrien erwähnt. Deswegen erlauben Sie mir eine kurze Bemerkung zum Thema
Syrien. Vor einer Woche war ich mit dem Außenminister
Steinmeier im Libanon und habe ein syrisches Flüchtlingslager des UNHCR besucht. Der Libanon hat bei einer Bevölkerungszahl von 4 Millionen über 1 Million
syrische Flüchtlinge aufgenommen: Ein Viertel der gesamten Bevölkerung besteht aus syrischen Flüchtlingen.
Angesichts dessen finde ich es wirklich beschämend,
dass die Aufnahme weniger Tausend syrischer Flüchtlinge in Deutschland meistens zu einer Belastung erklärt
wird.
({0})
Ich finde, hier muss ein Schritt in die Richtung erfolgen,
dass Deutschland deutlich mehr syrische Flüchtlinge
aufnimmt, weil die Anrainerstaaten hoffnungslos überlastet sind.
({1})
Dass Roma und andere Minderheiten in Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina massiv rassistisch
diskriminiert werden, ihnen der Zugang zu Arbeit, zu
medizinischer Versorgung, zu regulären Wohnungen und
oft auch zu sauberem Trinkwasser verwehrt wird, haben
wir schon von meiner Kollegin Jelpke, aber auch von
meiner Kollegin von den Grünen gehört.
Ich möchte mich dem kleinen Feigenblatt des Gesetzes widmen, den vermeintlichen Erleichterungen beim
Arbeitsmarktzugang, wie es die Bundesregierung nennt.
Wir sind der Auffassung: Auch hier haben wir es mit einer Mogelpackung der Großen Koalition zu tun. Zu diesem Schluss kommt man, wenn man sich die Maßnahmen anschaut bezüglich des Arbeitsmarktzugangs für
Asylbewerber und geduldete Ausländer. Völlig zutreffend heißt es in der allgemeinen Begründung des Gesetzentwurfes, dass Asylsuchende und Geduldete durch den
Zugang zum Arbeitsmarkt die Möglichkeit erhalten sollen, durch Aufnahme einer Beschäftigung ihren Lebensunterhalt selbst zu bestreiten, anstatt auf Leistungen
nach dem Asylbewerberleistungsgesetz angewiesen zu
sein. Diese Position vertritt die Linksfraktion seit Jahren.
Aber nach den hehren Worten in der Gesetzesbegründung vermissen wir die Taten.
({2})
Die Arbeitsverbote werden nämlich nicht abgeschafft.
In der Praxis bleibt es bei dem faktischen Arbeitsverbot.
Es wurde oft von der Vorrangprüfung gesprochen. Diese
möchte ich für die Zuschauer erklären. Bei der Vorrangprüfung - sie soll für die ersten vier Jahre bestehen bleiben - wird aufwendig geprüft, ob deutsche oder sogenannte bevorrechtigte Arbeitslose den Job übernehmen
könnten, auf den sich ein Asylsuchender oder ein Geduldeter bewirbt, ungefähr nach dem Motto: Arbeit zuerst
für Deutsche. Das lehnen wir als Linke ganz konsequent
ab.
({3})
Da ist die Frage, lieber Rüdiger, ob das gesetzliche Arbeitsverbot drei, neun oder zwölf Monate beträgt, fast
schon zweitrangig. Faktisch kommt diese Vorrangprüfung insbesondere in Regionen mit schlechter Arbeitsmarktlage zum Tragen; das sind ja die meisten. Das
kommt einem Arbeitsverbot gleich. Wenn diese Menschen auf staatliche Hilfen angewiesen sind, obwohl sie
arbeiten wollen, ist es immer wieder auch die Politik, die
ihnen unter Benutzung der legalen Basis des Arbeitsverbotes vorwirft, dass sie nur wegen der Sozialleistungen
nach Deutschland gekommen seien. Diese legale Basis
wird sehr oft - ich habe das in meiner Heimatstadt Duisburg erlebt, besonders bei den Kommunalwahlen - für
rechtspopulistische Kampagnen gegen Asylsuchende,
gegen Geduldete und gegen Flüchtlinge benutzt. Diesen
Kampagnen muss der Boden entzogen werden, und
zwar, indem wir die gleichen sozialen Rechte allen Menschen geben, die in Deutschland leben.
({4})
Wie schon gesagt, führt die Koalition in der Begründung an, dass die Asylsuchenden und Geduldeten durch
den Zugang zum Arbeitsmarkt die Möglichkeit erhalten
sollen, zu arbeiten, anstatt auf Leistungen nach dem
Asylbewerberleistungsgesetz angewiesen zu sein. Da
stellt sich mir die Frage: Wie kann es sein, dass Sie jetzt
vor der Sommerpause wirklich alle Gesetzesvorhaben,
auch in Bezug auf das Staatsangehörigkeitsrecht, durch
den Bundestag jagen, aber nichts in Richtung Umsetzung des Bundesverfassungsgerichtsurteils in Sachen
Asylbewerberleistungsgesetz unternehmen?
({5})
Dabei hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil den Bundestag aufgefordert, dieses verfassungswidrige Gesetz unverzüglich zu ändern. Das ist im Juli 2014
ganze zwei Jahre her. Ich frage mich: Wo ist denn da eigentlich der Eifer der Bundesregierung?
({6})
Frau Kollegin, achten Sie bitte auf die Zeit.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. - Ich finde,
man kann Deutschland schlecht als Hort des Humanismus darstellen, Herr Minister, wenn man gleichzeitig die
Menschenrechte mit Füßen tritt. Die Sondergesetzgebung - Asylbewerberleistungsgesetz, Sachleistungen,
Residenzpflicht, menschenunwürdige Lagerunterbringung - muss abgeschafft werden. Wir möchten das
Grundgesetz mit Leben füllen. Die Würde des Menschen, nicht die Würde des deutschen Menschen, ist laut
unserem Grundgesetz unantastbar. Ich fordere Sie auf,
der sich aus unserer Verfassung ergebenden Verpflichtung nachzukommen.
({0})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Uli Grötsch, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit Beginn dieser Wahlperiode sind die Schicksale von Flüchtlingen aus Syrien und die Situation der Asylbewerber in
Deutschland auf jeder Tagesordnung des Innenausschusses, und das zu Recht. Das Schicksal von Flüchtlingen
beschäftigt uns aber nicht nur im Bundestag, sondern betrifft uns alle auch ganz konkret zu Hause in den Wahlkreisen, etwa wenn es um geeignete Unterkünfte für
diese hilfesuchenden Menschen geht. Wir sehen es nicht
als Belastung, sondern als Herausforderung für die
Kommunen in unserem Land, geeignete Unterkünfte zur
Verfügung zu stellen, Frau Kollegin Dağdelen. Seien wir
ehrlich: Es werden vor allem die Abgeordneten aus den
Volksparteien sein, die gemeinsam mit ihren Bürgermeistern und ihren Landräten in den Wahlkreisen im
ganzen Land dafür werben und nach geeigneten Unterkünften suchen werden.
({0})
Wie schwer es oftmals für die Behörden ist, in den Kommunen noch zusätzliche Unterkünfte für Asylbewerber
und Flüchtlinge zu finden, erfahren wir in vielen Städten
und Gemeinden unseres Landes leider viel zu oft.
Ein Blick auf die von Jahr zu Jahr steigende Zahl von
Asylanträgen zeigt, dass Deutschland ein attraktives
Zielland ist. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat mehr als alle Hände voll zu tun, um die Anträge
und Verfahren sorgfältig zu prüfen, und an dieser sorgfältigen Prüfung habe ich keinerlei Zweifel.
({1})
Bislang sind bereits in diesem Jahr knapp 26 000 Erstund Folgeanträge beim Bundesamt eingegangen. Damit
stieg die Zahl der Erstanträge - es wurde heute schon öfter erwähnt; es ist aber so wichtig, sodass ich es noch
einmal sagen möchte - um 70 Prozent und die Zahl der
Folgeanträge um fast 100 Prozent. Die Tendenz der eingehenden Anträge ist nach wie vor steigend. Immer
mehr Menschen fliehen vor Verfolgung, Folter und Vertreibung aus ihrer Heimat und suchen bei uns in
Deutschland Zuflucht.
Ich begrüße es sehr, dass Deutschland neben Schweden das Land in der EU ist, das die meisten syrischen
Bürgerkriegsflüchtlinge aufgenommen hat.
({2})
Damit sind wir top in der EU.
({3})
Aber wir wollen noch besser werden. Das hat auch Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier erst vor wenigen Tagen sehr eindrucksvoll bestätigt, und zwar - das
haben wir alle gemerkt - aus seiner vollsten und tiefsten
Überzeugung. Wir spüren seitens der SPD-Bundestagsfraktion sehr deutlich, dass das Schicksal der syrischen
Bevölkerung, dass das Schicksal der Flüchtlinge aus Syrien bei Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier
in den besten Händen ist.
({4})
Es ist aber auch so, dass viele Menschen ihre Heimat
aus anderen Motiven als die syrischen Flüchtlinge verlassen und nach Deutschland kommen, um Asyl zu beantragen. Diesen Menschen droht in ihrer Heimat keine
systematische politische Verfolgung oder gar Folter.
Bei der Prüfung zur Einstufung als sicheres Herkunftsland hat sich die Bundesregierung an den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts und auch an den europäischen Vorgaben orientiert und ist zu dem Schluss
gekommen, dass Serbien, Mazedonien und BosnienHerzegowina als sogenannte sichere Herkunftsstaaten
gemäß § 29 a des Asylverfahrensgesetzes einzustufen
sind. Das heißt, dass zukünftig der Asylsuchende glaubhaft darlegen muss, dass er in seinem eigentlich sicheren
Heimatland politisch verfolgt wird.
Wir meinen, das ist nachvollziehbar; denn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat 2013 insgesamt fast 22 000 Entscheidungen über Asylerst- und
-folgeanträge von bosnischen, serbischen und mazedonischen Staatsangehörigen getroffen. Nur drei Menschen
aus einem dieser Staaten wurde Asyl zugesprochen, vier
Menschen wurde Flüchtlingsschutz gewährt, und bei
53 Personen wurde ein Verbot der Abschiebung erteilt.
90 Prozent der vor Gericht verhandelten und abgelehnten Asylanträge von Menschen aus den drei erwähnten
Staaten wurden als unbegründet abgelehnt. Mit anderen
Worten: Nur im Einzelfall haben die Antragsteller aus
den drei Westbalkanstaaten Asyl zugesprochen bekommen.
Gegen eine Äußerung aus Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion Die Linke, verUli Grötsch
wehre ich mich ganz entschieden und ausdrücklich: Die
hohen Ablehnungsquoten des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge seien „ein Indiz für unzureichende
Prüfungen und pauschale Ablehnungen aufgrund politischer Vorgaben“. Das ist eine Unterstellung und wird
dem Engagement der betroffenen Behörden nicht gerecht.
({5})
Laut aktueller Asylgeschäftsstatistik hat das BAMF
bislang in diesem Jahr mehr als 26 000 Entscheidungen
getroffen. Das ist im Vergleich zum Vorjahreszeitraum
eine Zunahme um mehr als 130 Prozent - und das bei
auch dort leider knappen personellen Ressourcen. Wer
schon einmal eine solche Behörde besucht hat, weiß,
was dort geleistet wird. Von dieser Stelle aus möchte ich
den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Bundesamt
für Migration und Flüchtlinge im Namen der SPD-Bundestagsfraktion meine ausdrückliche Anerkennung aussprechen.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die genannten Zahlen belegen eines: Unbegründete Asylanträge binden ohnehin erschöpfte Kapazitäten bei Bund, Ländern und
Kommunen und verhindern auch eine noch zeitnähere
Bearbeitung von Anträgen tatsächlich schutzbedürftiger
Asylsuchender beispielsweise aus Syrien, Afghanistan
oder dem Irak. Selbstverständlich muss nach wie vor jeder Asylantrag gewissenhaft geprüft werden, egal aus
welchem Land die Flüchtlinge stammen.
({7})
Aber es ist angesichts der erwähnten Zahlen, so meine
ich, keine Zumutung für die Asylsuchenden aus den betroffenen Staaten, die Menschenrechtsverletzungen einzeln darzulegen, aufgrund derer sie um Asyl ersuchen.
Ja, das ist eine Beweislastumkehr. Sie sollte deshalb in
einem fairen und geordneten Verfahren stattfinden.
Ich möchte auch ganz klar sagen: Wir leugnen nicht,
dass insbesondere Sinti und Roma Anfeindungen und
Diskriminierungen in ihren Heimatländern ausgesetzt
sind. Wir wissen natürlich, dass gerade diese Bevölkerungsgruppe in ihren Heimatländern oftmals von sozialer Ausgrenzung und rassistischer Diskriminierung betroffen ist. Nicht nur für diese Menschen, sondern
generell auch für andere Menschen, die aufgrund von
Perspektivlosigkeit ihre Heimatländer verlassen, gilt es,
die Bedingungen vor Ort in ihren Heimatländern in den
Blick zu nehmen. Die Verbesserung der gesellschaftlichen Realitäten kann die deutsche Asylpolitik nicht leisten.
({8})
Das ist eine europäische Aufgabe. Ich bin davon überzeugt, dass die Bundesregierung im Europäischen Rat
entsprechend darauf hinwirken wird, dass die Regierungen von Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina ihre Bemühungen entsprechend intensivieren werden. Es steht übrigens auch im Koalitionsvertrag, dass
wir uns gegenüber den Regierungen dieser drei Staaten
und gegenüber der EU-Kommission dafür einsetzen
wollen, rasche und nachhaltige Schritte zur Verbesserung der Lebenssituation vor Ort zu ergreifen.
({9})
Herr Kollege, wenn Sie einen Blick auf die Zeit werfen, werden Sie feststellen, dass sie abgelaufen ist.
Ich komme zum Schluss. - Liebe Kolleginnen und
Kollegen, wir sind uns unserer Verantwortung ganz sicher bewusst. Deutschland kann mehr machen, und
Deutschland wird auch mehr machen. Wir sind aber der
Meinung, dass wir uns angesichts von Bürgerkriegen
und massenhaften Vertreibungen in verschiedenen
Brandherden der Welt schnell und effizient um die akut
Schutzbedürftigen kümmern müssen.
Vielen Dank.
({0})
Als nächster Rednerin in der Debatte erteile ich der
Abgeordneten Claudia Roth, Bündnis 90/Die Grünen,
das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
war mein Vater, der mir als Kind erklärt hat, was unser
Grundgesetz, die Grundrechte bedeuten: dass die Menschenwürde kein Konjunktiv ist, dass die Menschenwürde ganz ohne Adjektiv auskommt und dass die
Grundrechte jedem einzelnen Menschen gehören. So
verhält es sich auch mit dem Grundrecht auf Asyl. Es ist
ein individuelles Recht. Kein Staat, keine Regierung
kann mich einfach enteignen, und wenn ich es für mich
beanspruche oder einklagen will bzw. muss, dann bin
nicht ich die Missbraucherin. Vielmehr missbrauchen
diejenigen den Geist unserer Verfassung, die Menschen,
die sich um Asyl bewerben, kriminalisieren.
({0})
Unser Asylrecht wird seit 20 Jahren malträtiert. Herr
de Maizière, es soll jetzt weiter entleert und in sein Gegenteil verkehrt werden. Nichts anderes passiert doch,
wenn per Gesetz sichere Herkunftsstaaten definiert werden, wenn per Gesetz politische Verfolgung sowie unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung ausgeschlossen und als nicht existent
dekretiert werden. Ganz in kafkaesker Logik braucht es
dann ja auch keinen vorläufigen Rechtsschutz mehr;
denn das Recht hat gerade Sicherheit definiert. Man
nennt das unter Juristen, so habe ich mir sagen lassen,
„normative Vergewisserung“. Ich nenne das: Umdefinition der Realität in eine Welt, die es zwar so gar nicht
gibt, die aber perfekt ins politische Kalkül passt.
Claudia Roth ({1})
({2})
Ich wundere mich schon, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass Sie sich nicht einmal ein bisschen schämen,
das auch noch schwarz auf weiß zu benennen. Da steht
geschrieben: „Deutschland soll … weniger attraktiv werden.“ Also geht es wieder einmal um die Anreizminderung, aber nicht um die Gründe, warum Menschen ihre
Heimat verlassen.
({3})
Es wird eine Kosten-Nutzen-Rechnung aufgemacht: Weniger Asylbewerber bedeuten mehr Geld in den Kassen
von Bund, Ländern und Kommunen. - Ich befürchte,
dass diese kalte Rechnung uns sehr teuer zu stehen kommen wird, weil wir damit das verlieren, was Humanität,
Schutzgewährung und Schutzverantwortung ausmachen:
unseren moralischen Imperativ nach dem Naziterror, der
500 000 Sinti und Roma das Leben gekostet hat.
Ich lese im Gesetzentwurf, dass Menschen aus Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina angeblich
- ich zitiere - „aus nicht asylrelevanten Motiven“ kommen. Lieber Herr Minister, waren Sie eigentlich schon
einmal persönlich unter der Autobahnbrücke in Belgrad,
wo die Roma zu überleben versuchen, die ihrer Menschenwürde beraubt wurden? Waren Sie im Lager von
Deponija in Belgrad, wo die Menschen, die Roma, wie
Abfall behandelt werden? Waren Sie schon einmal persönlich in Skopje, in Šutka, der wohl größten Romasiedlung weltweit, einem grauenhaften Ort, der an Bangladesch, aber nicht an Europa erinnert? Ich war vor Ort;
ich habe die Not gesehen, ich habe die Verzweiflung erlebt, die Angst der Menschen vor rassistischer Gewalt,
vor pogromartigen Angriffen.
„Nicht asylrelevante Motive“? Trotz Diskriminierung, trotz versperrten Zugängen zur Gesundheitsversorgung, zum Bildungssystem, zur Arbeit, zur Ausbildung,
trotz einer zehn Jahre geringeren Lebenserwartung?
„Nicht asylrelevante Motive“? Trotz Verweigerung elementarster Teilhaberechte für Menschen, die oft aus dem
Kosovo vertrieben wurden und alles, aber wirklich alles
verloren haben? Keine gruppenspezifische Verfolgung,
Herr Minister de Maizière? Ich bin, nachdem ich dort
war, wirklich davon überzeugt: Wenn Sie in einem so
menschenverachtenden Umfeld leben würden, dann
würden auch Sie alles dafür tun, Ihre Kinder, Ihre Familie zu retten und ihnen eine Zukunft in Sicherheit zu eröffnen.
({4})
Eine vorgestern veröffentlichte Studie zum Rechtsextremismus in unserem Land, die schon genannt worden ist, hat erschreckende Auffassungen belegt: Über
50 Prozent der Deutschen glauben, dass Sinti und Roma
kriminell sind; über 50 Prozent wollen nicht in ihrer
Nähe leben. Verantwortliche Politik - da gebe ich Ihnen
recht - muss Ängste und Vorurteile sehr ernst nehmen,
aber sie darf sie nicht schüren. Doch genau das tut Ihr
Gesetzentwurf nicht.
({5})
Deshalb sage ich: Bitte, bewahren wir unser Grundrecht
auf Asyl! Das macht uns als Gesellschaft reich. Und
bitte, spielen wir nicht Flüchtlinge aus Syrien gegen
Flüchtlinge aus anderen Ländern aus!
({6})
Errichten wir keine zusätzlichen Mauern, sondern bewahren wir unser Grundrecht, und schaffen wir endlich
ein modernes Einwanderungsrecht!
Vielen Dank.
({7})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Stephan Mayer, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Deutschland verfügt über
ein humanes, weltoffenes und tolerantes Asylrecht.
({0})
Ich glaube, gerade in einem Gedenkjahr wie diesem
ist es wichtig, dass wir uns ständig unserer historischen
Verantwortung bewusst werden, dass gerade Deutschland jederzeit für jeden offen sein muss, der verfolgt
wird, aus welchen Gründen auch immer, und an Leib
und Leben bedroht ist. Es ist unsere historische Aufgabe,
dass wir jederzeit dem Schutz gewähren, der aufgrund
seiner Religion, aufgrund seiner Ethnie, aufgrund seiner
sexuellen Orientierung oder aus politischen Motiven
verfolgt wird. Ich glaube aber, dass wir mit Fug und
Recht behaupten können: Wir Deutsche haben ein derartiges humanes und weltoffenes Asylrecht.
Kein Land in Europa nimmt so viele Asylbewerber
auf wie Deutschland. Deswegen stimmt es einfach nicht,
Frau Kollegin Roth, dass wir mit diesem Gesetzentwurf
unser Asylrecht malträtieren oder entleeren. Es stimmt
auch nicht, Frau Kollegin Amtsberg, dass wir mit diesem
sinnvollen Gesetzentwurf unserem Asylrecht den Todesstoß versetzen. Das Gegenteil ist der Fall. Deutschland ist
offen für alle, die schutzbedürftig sind. Im letzten Jahr
haben wir insgesamt 127 000 Asylbewerber aufgenommen. Die Zahlen entwickeln sich weiter rasant nach oben.
Allein im ersten Quartal dieses Jahres hatten wir
50 000 Erst- und Folgeanträge. Wenn sich die Entwicklung der ersten drei Monate fortschreibt, dann werden am
Ende dieses Jahres in Deutschland über 200 000 Asylanträge gestellt worden sein.
Stephan Mayer ({1})
Ich glaube, dass es deshalb richtig ist, dass wir uns
Gedanken darüber machen, wo wir die Prioritäten setzen. Da unter den sechs Ländern, aus denen die meisten
Asylbewerber nach Deutschland kommen, vier Länder
des westlichen Balkans sind, sollten wir das intensiver
betrachten. Im letzten Jahr gehörten Bosnien-Herzegowina, Serbien, Mazedonien und Albanien zu diesen ersten sechs Ländern. Auch in den ersten vier Monaten dieses Jahres war das der Fall. Allein aus den drei Ländern
Serbien, Bosnien-Herzegowina und Mazedonien wurden
in den ersten drei Monaten dieses Jahres insgesamt
13 000 Asylanträge gestellt. Im Vergleich dazu waren es
in den ersten drei Monaten des letzten Jahres
5 000 Asylanträge. Die Anerkennungsquote liegt bei allen drei Ländern bei 0,0 Prozent. Die Schutzquote liegt,
wenn man die Flüchtlinge und die subsidiär Schutzberechtigten hinzuzählt, bei maximal 0,4 Prozent. Bezogen
auf Mazedonien, das Land mit der - in Anführungszeichen - höchsten Schutzquote, liegt sie bei gerade einmal
0,4 Prozent.
Ich möchte eines klar herausstreichen: Auch mit diesem Gesetzentwurf bleibt es bei unserem individuellen
Recht auf Asyl. Es gibt eine widerlegbare Vermutung,
dass Personen aus den drei genannten Ländern, aus Serbien, Bosnien-Herzegowina und Mazedonien, politisch
nicht verfolgt werden. Aber natürlich gibt es für jedermann die Möglichkeit, im Einzelfall nachzuweisen, dass
dies doch der Fall ist.
({2})
Es ist nur so: Das Verfahren wird insgesamt unkomplizierter, die Klagefrist wird auf eine Woche verkürzt, und
eine Klage hat zunächst einmal zwar keine aufschiebende Wirkung, aber die aufschiebende Wirkung kann
natürlich sofort angeordnet werden.
Mit diesem Gesetzentwurf leisten wir einen aus meiner Sicht wichtigen Beitrag dazu, das Bundesamt für
Migration und Flüchtlinge und seine Mitarbeiter zu entlasten. In der vergangenen Nacht hat der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages richtigerweise den
Beschluss gefasst, dass das Bundesamt für Migration
und Flüchtlinge insgesamt 300 zusätzliche Stellen bekommt.
({3})
Das ist ein wichtiger Schritt.
({4})
Ich möchte in diesem Zusammenhang aber auch erwähnen, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
900 zusätzliche Stellen als sachgerecht angemeldet hat
und dass derzeit auch 40 Beamte der Bundespolizei ihren Dienst beim BAMF leisten. Um es klar zu sagen:
Diese wären an anderer Stelle mindestens genauso notwendig.
({5})
Aber aus durchaus verständlichen Gründen sind diese
Mitarbeiter derzeit zum BAMF abgeordnet worden; sie
sollen dort die Arbeitsbelastung etwas reduzieren. Wenn
durch die Deklaration von drei Ländern des westlichen
Balkans als sichere Herkunftsländer erreicht wird, dass
die Verfahrensdauer bzw. die Dauer der Einzelprüfung
verkürzt wird, dann wird dies auch zusätzliche Ressourcen im BAMF schaffen. Diese Ressourcen sind dringend
erforderlich angesichts der weiterhin rasant wachsenden
Asylbewerberzahlen.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich
empfinde es als unanständig von der Fraktion Die Linke,
wenn uns in dem Antrag unterstellt wird, dass die Mitarbeiter des BAMF erst einmal dazu angehalten werden
müssen, sorgfältig, gewissenhaft und gründlich zu prüfen.
({6})
Das ist kein Affront gegenüber der Bundesregierung und
uns - das würde man im politischen Geschäft vielleicht
noch verstehen -, sondern gegenüber den Mitarbeitern
des BAMF. Es ist, sehr verehrte Kollegin Jelpke, wirklich nicht fair, dass Sie den Mitarbeitern des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, die wirklich keinen
einfachen Job machen und unter einer enorm hohen Arbeitsbelastung leiden, unterstellen, sie würden die Anträge nicht gewissenhaft und gründlich prüfen.
({7})
Ich möchte auch noch einmal auf Folgendes hinweisen: Es gibt ein gemeinsames Ziel. Ich hoffe, dass das
Ziel, die Dauer der Asylverfahren zu reduzieren, von allen hier im Haus geteilt wird. Derzeit beträgt die durchschnittliche Dauer der Asylverfahren neun Monate. Es
gibt die klare Aussage im Koalitionsvertrag, dass wir die
Dauer der Asylverfahren auf drei Monate reduzieren
wollen. Wenn wir nur annähernd an dieses Ziel herankommen wollen, dann ist es erforderlich, diese Länder,
insbesondere die, bei denen die Schutz- und Anerkennungsquoten gegen 0,0 Prozent tendieren oder wirklich
0,0 Prozent betragen, als sichere Herkunftsländer zu deklarieren.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir
sollten uns aber auch die Mühe machen, in dem anstehenden Gesetzgebungsverfahren intensiv zu prüfen,
noch zwei weitere Länder des westlichen Balkans, Albanien und Montenegro, als sichere Herkunftsstaaten zu
deklarieren. Auch ich bin da für eine vorurteilsfreie und
offene Prüfung. Wenn man sich aber zum Beispiel im
Falle Albaniens ansieht, dass im letzten Jahr insgesamt
1 247 Erstanträge gestellt wurden und allein in den ersten fünf Monaten dieses Jahres 3 204, also fast dreimal
so viel wie im gesamten letzten Jahr, dann sollte dies,
glaube ich, schon Anlass sein, intensiv zu prüfen, ob
nicht auch Albanien ein sicheres Herkunftsland ist.
({8})
Stephan Mayer ({9})
Zur Erklärung: Wie kommt es gerade im Fall Albaniens zu diesem rasanten Anstieg? Frankreich hat genau
das getan, was wir jetzt bezüglich der drei anderen Länder vorhaben.
({10})
Frankreich hat im Dezember des vergangenen Jahres Albanien als sicheres Herkunftsland deklariert.
({11})
Das führt jetzt zu den genannten Umlenkungseffekten,
was die Ströme der Asylbewerber anbelangt. Ähnlich ist
es bei Montenegro. Da waren es im vergangenen Jahr
insgesamt 258 Erstanträge und allein in den ersten fünf
Monaten dieses Jahres schon 351.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, mir
ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass wir in unserer Bevölkerung - aus meiner Sicht; das ist zumindest meine
Wahrnehmung - eine außerordentlich hohe Empathie,
Sympathie und auch ein großes Verständnis für die Situation von Asylbewerbern und Flüchtlingen haben. Die
Situation der Kommunen ist alles andere als einfach. Ich
möchte noch einmal sagen, Frau Kollegin Roth: Es gibt
mittlerweile auch einige Bürgermeister, die der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angehören. Die ächzen genauso
unter der Notwendigkeit, jetzt händeringend Unterkünfte
für die Asylbewerber finden zu müssen.
({12})
Das ist für keinen Oberbürgermeister, für keinen Bürgermeister und für keinen Landrat, egal in welchem Bundesland, derzeit eine einfache und angenehme Aufgabe.
({13})
Alle Kommunalpolitiker tun hier ihr Möglichstes, unabhängig davon, welcher Fraktion und welcher Partei sie
angehören. Deshalb finde ich es wichtig, dass wir die
Bereitschaft in der Bevölkerung gerade auch zu ehrenamtlichem Engagement und zu einer ehrenamtlichen
Unterstützung der Asylbewerber weiterhin auf diesem
hohen Niveau halten.
Die Studie der Universität Leipzig, die vorgestern
hier in Berlin veröffentlicht wurde, ist ja schon erwähnt
worden. Was ich an dieser Studie interessant finde, ist,
dass wir in Deutschland - ich glaube, darauf können wir
auch ein Stück weit stolz sein - einen deutlichen Rückgang der Ausländerfeindlichkeit, auch des Antisemitismus, zu verzeichnen haben. Was ich aber aus dieser Studie mit großem Ernst und auch mit einer gewissen Sorge
zur Kenntnis genommen habe - das gebe ich ganz offen
zu -, ist, dass es laut der Zahlen dieser Studie eine
enorme Ablehnung gegenüber Asylbewerbern gibt. In
den neuen Bundesländern liegt sie bei 85 Prozent, in den
westlichen Bundesländern bei 74 Prozent. Ich möchte eines nicht, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen:
dass wir in Deutschland wieder Zustände bekommen wie
zu Beginn der 90er-Jahre. Ich möchte nicht, dass hier
Brandstifter, politische Hetzer wieder das Sagen bekommen. Ich glaube, gerade deshalb müssen wir das gemeinsame Ziel haben, die Empathie, das Verständnis der Bevölkerung gegenüber Asylbewerbern und Flüchtlingen
auf diesem hohen Niveau zu halten.
({14})
Es ist daher richtig, sich Gedanken zu machen, für
wen wir prioritär offen sein sollen. Die syrischen Flüchtlinge sind da schon genannt worden. Die größte humanitäre Katastrophe auf unserem Globus spielt sich aus meiner Sicht derzeit in Syrien und in den Anrainerländern
von Syrien ab. Gerade gegenüber syrischen Flüchtlingen
gibt es in Deutschland eine hohe Aufnahmebereitschaft
in der Bevölkerung.
({15})
Frau Kollegin Roth, ich wehre mich dagegen, dass Sie
uns unterstellen, wir würden die Menschen gegeneinander ausspielen oder das eine Schicksal gegen das andere
Schicksal aufwiegen. Aber ich bin schon der Meinung,
dass wir für zusätzliche Kontingente gegenüber syrischen Flüchtlingen offen sein sollten. Wir unterstützen
hier unseren Bundesinnenminister in seinen Verhandlungen mit seinen Länderkollegen.
Ich sage ganz offen: Es muss weitere zusätzliche
Kontingente für die Aufnahme von syrischen Flüchtlingen geben.
({16})
Ich füge aber hinzu: Wir bekommen diese Bereitschaft
in der Bevölkerung nur dann, wenn wir die Bevölkerung
nicht überstrapazieren und nicht überfordern. Deshalb
sollten wir, glaube ich, in den nächsten Wochen
Die Zeit, Herr Kollege!
- dieses Gesetzgebungsverfahren gründlich, aber
auch zügig vorantreiben. Insbesondere unsere Kommunen harren dringend darauf, dass wir diese Probleme lösen.
In diesem Sinne freue ich mich auf ein konsequentes,
auf ein gründliches, aber auch auf ein zügiges Gesetzgebungsverfahren.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Als nächster Rednerin erteile ich der Abgeordneten
Daniela Kolbe, SPD-Fraktion, das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich werde mich in meinem Redebeitrag auf
den arbeitsmarktpolitischen Teil des Gesetzentwurfs
konzentrieren. Er ist mir ein bisschen zu kurz gekommen, und ich finde es wichtig, dass wir uns darüber auch
noch einmal kurz unterhalten.
Mit dem Gesetzentwurf wird vorgeschlagen, Asylbewerbern und Geduldeten bereits nach drei Monaten den
Zugang zum Arbeitsmarkt zu ermöglichen. - Viele der
Zuhörerinnen und Zuhörer wissen das vielleicht nicht:
Nach der geltenden Gesetzeslage dürfen Asylsuchende
erst nach neun Monaten arbeiten und Geduldete erst
nach zwölf Monaten. - Die Opposition hat das hier in ihren Redebeiträgen anklingen lassen, aber ein bisschen
kleingeredet. Die Kollegin Amtsberg hat es als „Zückerchen“ bezeichnet.
({0})
Das finde ich, ehrlich gesagt, sehr schade; denn für die
Betroffenen ist das ein riesiger Schritt nach vorn.
({1})
Wir als SPD stehen dafür, dass es ein starkes Recht
auf Asyl geben muss. Frau Roth, da sind wir uns sicherlich einig. Wir wollen Schutzsuchenden Schutz gewähren, und wir müssen das auch tun. Aber wenn wir uns
das gegenwärtige Asylsystem anschauen, dann sehen
wir, dass selbst für die Menschen, die davon profitieren
- das sind doch einige -, das Asylsystem derzeit eine
zeitweilige Sackgasse ist, weil es sie ganz ungewollt in
Passivität und Hilfsbedürftigkeit drängt.
Die Regel, über die wir heute sprechen, dieses zwölfmonatige Arbeitsverbot, stammt aus dem Jahr 1980.
Damals gab es einen Anstieg der Zahlen der Asylsuchenden, auch dadurch ausgelöst, dass mit dem Anwerbestopp von 1973 legale Zuwanderungsmöglichkeiten
beseitigt worden waren.
Seither hat sich nicht nur die Welt weitergedreht,
sondern es hat sich auch einiges auf dem Arbeitsmarkt
- und nicht nur da - verändert. Wir reden wieder über legale Zuwanderung, wir reden über Fachkräftebedarf, wir
reden über Globalisierung und eine weltoffene Gesellschaft. Insofern ist es schlichtweg anachronistisch, dass
wir Menschen per se von Erwerbstätigkeit ausschließen,
zumal diese vielfach nichts lieber täten, als ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen.
({2})
Viele gut ausgebildete Menschen landen im Asylsystem. Bezeichnenderweise wissen wir, ehrlich gesagt, eigentlich gar nicht so richtig, was für eine Ausbildung die
Asylsuchenden mitbringen. Das ist bezeichnend, weil
wir uns bisher in diesem Zusammenhang gar nicht mit
diesen Menschen auseinandergesetzt und uns gefragt haben, was für Fähigkeiten sie mitbringen. Ich weiß nur,
dass ich in den Heimen, in den Asylbewerberunterkünften, die ich besuche, auf sehr unterschiedliche Menschen
treffe, vielfach auch auf Ärzte, auf Ingenieure, auf Menschen, die vor allen Dingen eines beschreiben: dass sie
es unerträglich finden, dass sie in diese Langeweile, in
dieses Nichtstun, in dieses Ausharren gesteckt werden.
Das empfinden sie wirklich vielfach als das größte Übel,
das sie erleben, wenn sie hier in Deutschland einen Asylantrag gestellt haben. Die Neuregelung ist insofern
längst überfällig. Wir schaffen jetzt das formale Arbeitsverbot nach einer dreimonatigen Ankunftsphase ab. Das
freut mich sehr.
Das Asylrecht hat bisher den Aufenthaltsstatus von
Asylbewerberinnen und Asylbewerbern grundsätzlich
als vorübergehend angesehen, als Provisorium. Die Realität sieht aber anders aus. Wir haben heute schon viel
von Schutzquoten gehört. Im Durchschnitt liegt die
Schutzquote bei 25 Prozent. Bei Menschen aus vielen
Herkunftsstaaten liegt sie aber bei deutlich über 50 Prozent, zum Teil bei über 80 oder 90 Prozent, zum Beispiel
bei Menschen aus Syrien.
Darüber hinaus gibt es weitere Möglichkeiten, den
eigenen Aufenthaltsstatus zu legalisieren. Viele der
85 000 Menschen, die geduldet in Deutschland leben, leben hier sehr lange, jahrelang. Insofern leben die Menschen nicht regelmäßig nur vorübergehend hier, sondern
regelmäßig nicht vorübergehend. Auch dieser Denkweise werden wir an dieser Stelle mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf gerecht. Denn bisher war es so, dass wir
Tausende Menschen über Jahre hinweg systematisch
vom Arbeitsmarkt desintegriert haben, um sie dann nach
einer positiven Aufenthaltsentscheidung individuell wieder zu integrieren. Erst dann gab es Sprachkurse, erst
dann gab es Qualifizierung. Das war viel mühevoller
und hatte viel weniger Aussicht auf Erfolg. Das ist total
widersinnig, teuer, unmenschlich und falsch, sowohl für
die Betroffenen als auch für die Gesellschaft insgesamt.
({3})
Wir geben den Betroffenen mit diesem Gesetz ein
Mehr an Selbstbestimmung und die Chance, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Die Gesellschaft spart
den Arbeits- und Kostenaufwand, der mit der Wiedereingliederung dieser Menschen, die jahrelang nicht auf den
Arbeitsmarkt durften, verbunden wäre.
Richtig ist auch - das ist von der Opposition angesprochen worden -, dass die Vorrangprüfung erhalten
bleibt und die Arbeitsaufnahme im Regelfall nur nachrangig möglich ist. Gleichwohl ist das ein deutlicher
Schritt, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Es ist ein ganz
starkes Signal in Richtung der betroffenen Menschen:
Sobald ihr euch nach drei Monaten zurechtgefunden
habt, dürft, könnt und sollt ihr versuchen, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, euren Lebensunterhalt selber
zu bestreiten. - Es gibt auch derzeit schon Bereiche, in
denen Menschen, die noch nicht gut Deutsch sprechen
oder vielleicht auch nicht die erforderliche Qualifikation
mitbringen, händeringend gesucht werden. Das heißt,
trotz Nachrangigkeitsprüfung gibt es Bereiche, in denen
Asylsuchende eine Chance haben.
({4})
Es gibt auch Bereiche, die nicht von der Nachrangigkeitsprüfung betroffen sind. Da geht es um die Berufsausbildung und Weiterbeschäftigung; auch das sei an
dieser Stelle gesagt.
Ehrlich gesagt ist mir ein Punkt am wichtigsten - er
ist noch gar nicht angeklungen -: Dadurch, dass diese
Menschen nun den prinzipiellen Zugang zum Arbeitsmarkt haben, haben sie unabhängig davon, ob sie einen
Job finden oder nicht, Zugang zu Leistungen, zu arbeitsmarktpolitischen Leistungen aus dem Bereich der Bundesagentur für Arbeit, dem SGB III, und zu einigen
ESF-Programmen.
({5})
- Ich sage das trotzdem, und zwar richtig laut. Ich erkläre Ihnen einmal, worum es dabei geht. Es geht um
Beratung, um Vermittlung in Arbeit, um Förderung aus
dem Vermittlungsbudget. Jetzt sage ich Ihnen auf
Deutsch, was das heißt. Dabei handelt es sich zum Beispiel um die Übernahme von Bewerbungskosten, wie
Dolmetscherkosten, und von Kosten für die Anerkennung im Ausland erworbener Abschlüsse.
Nach dem SGB III hat man auch ein Recht auf Maßnahmen zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung
sowie zur beruflichen Weiterbildung, ein Recht auf Einstiegsqualifizierung und einen Eingliederungszuschuss
und ein Recht auf die Förderung der Teilhabe behinderter Menschen, was für viele Menschen, die als Flüchtlinge nach Deutschland kommen, auch sehr wichtig ist;
denn es kann auch für Menschen mit posttraumatischen
Belastungsstörungen denkbar sein, eine solche Förderung zu bekommen.
Mit dieser Änderung ist im deutschen Asylsystem
beileibe nicht alles gut. Sie kennen ja die SPD: Wir wollen noch viele andere Verbesserungen. Es ist aber eine
signifikante Verbesserung für die Menschen.
({6})
Insofern freue ich mich für die Betroffenen und auch
für die gesamte Gesellschaft von Herzen über diese Veränderungen, wenn wir sie hinbekommen.
({7})
Als letzte Rednerin in dieser Debatte erhält die Abgeordnete Nina Warken, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Zahl der Asylbewerber in Deutschland - das haben wir
bereits gehört - steigt seit einigen Jahren deutlich. Zu
den zehn Hauptherkunftsstaaten zählen aktuell nicht nur
Länder mit massiven gewaltsamen innerstaatlichen Konflikten, wie etwa Syrien, Afghanistan, Somalia oder der
Irak, sondern auch Länder aus der direkten Nachbarschaft zur EU, wie Serbien, Mazedonien sowie Bosnien
und Herzegowina.
Allein aus den Balkanländern kamen zwischen Januar
und April dieses Jahres 25 Prozent aller Asylantragsteller in Deutschland - und das, obwohl nach verschiedenen glaubhaften Quellen in diesen Ländern weder
Verfolgung noch andere systematische Menschenrechtsverletzungen drohen, die ein Asylgrund wären.
({0})
Zu diesem Schluss kommen entgegen der Kritik in
dem vorliegenden Antrag der Linken nicht nur die Lagebilder des Auswärtigen Amtes, das seine Informationen
aus verschiedenen Quellen bezieht, sondern auch die
Fortschrittsberichte der EU-Kommission, die die Entwicklung eines Landes bekannterweise sehr kritisch beurteilt.
Die einzelnen Berichte kommen zu der Einschätzung,
dass es in allen drei Ländern keine diskriminierenden
Gesetze gibt. Willkürliche oder unmenschliche Bestrafungen sowie staatliche Repression oder Verfolgung einzelner Bevölkerungsgruppen finden nicht statt.
({1})
Bemerkenswert ist, dass selbst in den Berichten des
UNHCR und von Menschenrechtsorganisationen diese
Länder betreffend nicht von Verfolgung oder schweren
Menschenrechtsverletzungen die Rede ist.
({2})
Um dennoch einen Schutzgrund annehmen zu können, wird von den Menschenrechtsorganisationen und
dem UNHCR sowie im vorliegenden Antrag der Linksfraktion mit dem Begriff der „kumulativen Verfolgung“
aus der EU-Qualifikationsrichtlinie argumentiert. Demnach soll auch die Beeinträchtigung von weniger
schwerwiegenden Rechten einen Anspruch auf Asyl begründen können. Betont werden muss hier allerdings,
dass dies nur dann gilt, wenn die Rechtsverletzungen
oder Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtwirkung einer
schweren Menschenrechtsverletzung gleichkommen.
Meine Damen und Herren, es ist richtig, dass in Serbien, Mazedonien sowie Bosnien und Herzegowina viele
Menschen - darunter auch viele Sinti und Roma - aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Lage und der gesellschaftlichen Probleme in großer Armut leben.
Ebenso ist unumstritten, dass viele Roma in diesen Ländern gesellschaftlich diskriminiert werden. Diskriminierung und soziale Ausgrenzung stellen zwar eine erhebliNina Warken
che Härte dar, sind aber selten mit Verfolgung und
Schaden im asylrechtlichen Sinn gleichzusetzen.
Um diesem Problem zu begegnen, ist vielmehr dringend ein Prozess des Umdenkens in der Gesellschaft dieser drei Balkanländer erforderlich. Dabei muss auch
gesagt werden, dass sich die Regierungen dieser Länder
bemühen, diesen Prozess des Umdenkens voranzutreiben. Es wurden Gesetze zum Schutz nationaler Minderheiten verabschiedet, und durch verschiedene Programme wird versucht, die Lage der Roma zu
verbessern, auch wenn sie bislang leider noch nicht die
erhoffte Wirkung erzielt haben. Ein solcher Prozess kann
nicht von heute auf morgen Erfolg haben.
Umso wichtiger ist es, dass wir gemeinsam mit unseren europäischen Partnern und Akteuren vor Ort im
Zuge einer koordinierten Entwicklungszusammenarbeit
dafür sorgen, dass die notwendigen Maßnahmen ergriffen werden und die Hilfe bei den Betroffenen ankommt.
Dazu müssen wir die Regierungen der drei Balkanländer
diesbezüglich stärker in die Pflicht nehmen; denn diese
erhalten im Zuge des Stabilisierungs- und Assoziierungsprozesses mit der EU beträchtliche Finanzhilfen
zur Integration ihrer nationalen Minderheiten.
Vor diesem Hintergrund kann die Lage in Serbien,
Mazedonien sowie Bosnien und Herzegowina, auch
wenn sie nach wie vor wirtschaftlich und sozial schwierig sein mag, nicht mit den Auswirkungen für die Betroffenen von Verfolgung oder anderen systematischen
Menschenrechtsverletzungen, wie etwa in Syrien oder
Afghanistan, gleichgesetzt werden. Vielmehr stellt sich
bei der Prüfung der Asylanträge aus den Balkanstaaten
in der Regel heraus, dass Armut und die wirtschaftlich
schwierigen Verhältnisse in diesen Ländern die wahren
Gründe sind, zusammen mit der Gewissheit, dass jeder,
der in Deutschland Asyl auch nur beantragt, bereits Sozialleistungen erhält. Zu glauben, all dies sei kein Anreiz, um in Deutschland Asyl zu beantragen, ist naiv. Dafür sprechen auch die erheblich gestiegenen Zahlen der
Asylfolgeanträge aus den Balkanstaaten. Aus Sicht der
Antragsteller mag dieses Verhalten menschlich nachvollziehbar sein. Ihnen kann man es nicht verdenken, dass
sie alles tun, um ihre Situation zu verbessern.
Auf der anderen Seite geht dieses Verhalten zulasten
der tatsächlich schutzbedürftigen Flüchtlinge, etwa aus
Syrien, die in ihrer Heimat verfolgt werden und jeden
Tag um ihr Leben bangen müssen. Diese Flüchtlinge
müssen aufgrund der Flut von Anträgen aus den Balkanstaaten oft länger als notwendig warten, bis über ihre
Anträge entschieden werden kann. Zudem sind mittlerweile - das haben wir gehört - die meisten Bundesländer
bzw. Kommunen mit ihren Aufnahmekapazitäten
schlicht an ihre Grenzen geraten. Wegen der Antragsteller aus den Balkanstaaten können dort weniger Flüchtlinge aus den Krisenregionen aufgenommen werden.
Konzentrieren wir uns auf die wirklich Hilfsbedürftigen, auf diejenigen, in deren Herkunftsländern Krieg,
Verfolgung, Plünderungen und Unterdrückung herrschen. Der Antrag der Linksfraktion differenziert nicht
richtig. Es wird versucht, für alle irgendwie einen Anspruch auf Aufnahme zu begründen. Damit geht der
Schuss, meine Damen und Herren Kollegen von der
Linksfraktion, am Ziel vorbei.
({3})
Wir sagen stattdessen: Lassen Sie uns das Augenmerk
auf die wirklich Hilfsbedürftigen richten, damit unsere
Asylpolitik gerecht und durchführbar ist. Vor diesem
Hintergrund ist es richtig und verantwortungsvoll, dass
die Bundesregierung nun einen Gesetzentwurf zur Einstufung von Serbien, Mazedonien sowie Bosnien und
Herzegowina als sichere Herkunftsstaaten eingebracht
hat. Wie der Bundesinnenminister bereits erläutert hat,
können durch die Einstufung Asylanträge von Staatsangehörigen aus diesen Ländern schneller bearbeitet werden, da sie grundsätzlich als offensichtlich unbegründet
betrachtet werden. Der Aufenthalt von nicht schutzbedürftigen Antragstellern kann künftig schneller beendet
werden, wodurch den tatsächlich Schutzbedürftigen
mehr Aufnahmekapazitäten zur Verfügung stehen.
Davon unabhängig kann dennoch jeder Antragsteller
weiterhin im Verfahren Beweise vorlegen, dass in seinem konkreten Fall eine schwere Menschenrechtsverletzung vorliegt. Dadurch ist sichergestellt, dass die betroffenen Menschen im Einzelfall nach wie vor Schutz
erhalten.
Gleichzeitig sollen mit dem Gesetzentwurf Asylbewerber schon nach drei Monaten Zugang zum Arbeitsmarkt bekommen. Das bedeutet für viele Asylbewerber,
die arbeiten können und wollen, eine Chance auf ein
selbstbestimmtes Leben, was dazu beitragen kann, das
Trauma von Flucht und Verfolgung zu überwinden.
Obendrein werden dadurch die Haushalte von Bund,
Ländern und Kommunen entlastet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, für die Akzeptanz
des Asylrechts in der Bevölkerung ist es wichtig, dass
Asyl den tatsächlich Schutzbedürftigen vorbehalten
bleibt. Das ist und muss der Maßstab für die Zuerkennung dieses zentralen Menschenrechts bleiben. Ich spreche mich deshalb dafür aus, auch die beiden weiteren
Balkanländer Albanien und Montenegro als sichere Herkunftsstaaten einzustufen; denn auch für diese beiden
Länder gilt, dass dort keine Gefahr durch Verfolgung
oder schwere Menschenrechtsverletzungen für die Menschen drohen und nur in wenigen Einzelfällen Schutz gewährt wird.
Trotzdem ist die Zahl der Anträge von Asylbewerbern
aus diesen Ländern in jüngster Vergangenheit stark gestiegen und hat sich innerhalb eines Jahres mehr als verzehnfacht. Besonders auffällig ist, dass es sich bei den
Antragstellern überwiegend um junge Menschen handelt, die zuvor schon in Griechenland oder Italien gelebt
haben. Dass es in diesen Fällen vor allem um wirtschaftliche Motive geht, liegt aus meiner Sicht auf der Hand.
Mit dieser Einschätzung sind wir in Europa nicht allein. Viele weitere EU-Mitgliedstaaten wie Frankreich,
Belgien, Luxemburg, Österreich und Großbritannien haben nicht nur Serbien, Mazedonien sowie Bosnien und
Herzegowina, sondern auch Albanien und Montenegro
bereits als sichere Herkunftsstaaten eingestuft.
Dem Versuch, die Asylgründe so weit auszudehnen,
dass allein aufgrund von Armut und sozialen Problemen
ein Asylrecht besteht, möchte ich eine entschiedene Absage erteilen.
({4})
Unser Asylsystem würde unter dem zu erwartenden Ansturm kollabieren.
Zudem verwahre ich mich gegen den Vorwurf der
Linken, Roma seien in Deutschland unerwünscht. Ganz
im Gegenteil! Lassen Sie mich dies so klar formulieren
- womit ich dann auch zum Ende kommen möchte -:
Deutschland ist sich seiner historischen Verantwortung
sehr bewusst. Deshalb ist es auch richtig, dass die
Gruppe der Sinti und Roma als nationale Minderheit in
unserem Land anerkannt ist und einen besonderen
Schutz und eine spezifische Förderung erhält. Gerade
deshalb müssen wir unbedingt darauf hinwirken, dass
Roma denselben Schutz auch in Serbien, Mazedonien
sowie Bosnien und Herzegowina genießen.
Meine Damen und Herren, vor Ort kann damit viel
mehr Menschen geholfen und ein Beitrag zur Verbesserung des gesellschaftlichen Zusammenlebens in den sicheren Herkunftsstaaten geleistet werden. Lassen Sie
uns das tun.
Lassen Sie mich am Ende der Debatte noch eine Anmerkung an meine Kolleginnen und Kollegen aus dem
Innenausschuss richten und erklären, warum wir bzw.
unser Obmann bislang einem gemeinsamen flüchtlingspolitischen Antrag eine Absage erteilt haben. Ich glaube,
wir führen im Innenausschuss eine sehr moderate und in
Teilen auch konstruktive Debatte zu diesem Thema.
Aber hier wurde heute aus meiner Sicht diametral anders
diskutiert als im Ausschuss.
({5})
Deswegen sehe ich auf dieser Grundlage momentan
keine Veranlassung zu einem gemeinsamen Antrag aller
Fraktionen in dieser Frage.
Herzlichen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/1528 und 18/1616 an die an der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Kipping, Sabine Zimmermann ({0}),
Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Sanktionen bei Hartz IV und Leistungseinschränkungen bei der Sozialhilfe abschaffen
Drucksache 18/1115
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Als erster Rednerin erteile ich der Abgeordneten
Katja Kipping, Fraktion Die Linke, das Wort.
({2})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Linke
meint: Das Existenzminimum, also das Mindeste, was
ein Mensch zum körperlichen und sozialen Überleben
braucht, darf nicht gekürzt werden.
({0})
Deshalb bringe ich heute den Antrag ein, die Sanktionen
bei Harz IV und Leistungseinschränkungen bei der Sozialhilfe abzuschaffen.
Wir sagen Ja zur Sanktionsfreiheit. Das ist für uns ein
erster wichtiger Schritt zu einer sanktionsfreien Mindestsicherung, und das wiederum ist ein Meilenstein auf dem
Weg zu einer angstfreien Gesellschaft.
({1})
Über 1 Million Sanktionen wurden im Jahr 2013 verhängt. Um den Begriff „Sanktionen“ noch einmal zu erläutern: Sanktion bedeutet, dass das ohnehin niedrige
Arbeitslosengeld II gekürzt wird, und zwar im ersten
Schritt um 30 Prozent, dann um 60 Prozent, und am
Ende komplett gestrichen wird.
Um Missverständnisse auszuschließen, möchte ich
Folgendes klarstellen: Wenn wir das schikanöse Hartz-IVSystem kritisieren, dann meinen wir damit ausdrücklich
nicht die vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der
Bundesagentur und den Jobcentern, die unter schweren
Umständen arbeiten und nach besten Kräften versuchen,
die Betroffenen zu unterstützen. Ihnen gilt unser Dank
und Respekt.
({2})
Meine Kritik gilt den politisch Verantwortlichen, also
all jenen Bundestagsabgeordneten, die immer wieder
Nein zur Sanktionsfreiheit gesagt haben. Davon gibt es
leider noch viel zu viele, und ich finde, das muss sich ändern.
({3})
Die Gegner der Sanktionsfreiheit bedienen sich unter
anderem, vereinfacht ausgedrückt, folgender Behauptung: Wer suchet, der findet. Also im Klartext: Wer erwerbslos ist, ist selber schuld. Die Mathematik spricht
eine andere Sprache. Ich habe mich informiert: Das Verhältnis von offenen Stellen zu offiziell ErwerbsarbeitsuKatja Kipping
chenden war im vergangenen Jahr eins zu neun, wenn
man nur die offensichtlichen statistischen Tricks herausnimmt. Auf eine offene Stelle kommen also neun Erwerbsarbeitsuchende. Das heißt, egal wie sich diese
neun anstrengen: Acht von ihnen müssen nach mathematischen Grundsätzen leer ausgehen.
Halten wir also fest: Erwerbslosigkeit ist keine individuelle Schuld; sie hängt mit dieser Wirtschaftsweise zusammen. Deswegen müssen wir da ansetzen.
({4})
Ein weiteres Gegenargument, das ein Redner der
CDU/CSU vor einigen Jahren bedient hatte, lautet:
Sanktionen betreffen nur 3 Prozent aller Leistungsberechtigten; wenn wir uns darum kümmern, dann machen
wir Politik vom Rande her. Ich finde, das ist eine ungeheuerliche Ignoranz gegenüber Menschen, die in einer
besonderen existenziellen Notlage sind.
({5})
Es stimmt vor allen Dingen nicht, weil die Möglichkeit
einer Sanktion, dieses Damoklesschwert, viele bedroht
und verunsichert.
Die Sanktionen sind auch ein Angriff auf die Mitte.
Deswegen ist die Standardantwort vonseiten der CDU/
CSU so verlogen, man müsse auch an diejenigen denken, die von früh bis abends arbeiten. Ja, wenn Sie die
Mitte steuerlich entlasten wollen, können Sie das machen. Sorgen Sie mit uns gemeinsam für Steuergerechtigkeit! Aber tun Sie nicht so, als ob die Verkäuferin, der
Lehrer, die Kindergartenerzieherin oder der Krankenpfleger einen Cent mehr in der Tasche hätten, nur weil
Erwerbslose noch schärfer und weiter sanktioniert werden. Das ist einfach verlogen.
({6})
Wir wissen doch: Das Gegenteil ist der Fall. Das ist offiziell durch das IAB belegt worden. Im Zuge von
Hartz IV hat die Bereitschaft zugenommen, schlechte
Löhne und familienunfreundliche Arbeitszeiten zu akzeptieren. Hartz IV ist also auch ein Angriff auf das Lohngefüge. Deswegen liegt die Abschaffung der Hartz-IV-Sanktionen im Interesse sowohl von Erwerbslosen und prekär
Beschäftigten als auch von Kernbelegschaften.
({7})
Ein weiteres Vorurteil lautet, Sanktionen träfen nur
diejenigen, die den ganzen Tag faul vor dem Fernseher
sitzen. Die offiziellen Zahlen sprechen eine andere Sprache. 72 Prozent der Sanktionen gehen auf Meldeversäumnisse zurück. Möglicherweise sind die Betroffenen
nicht zu einem Termin erschienen, weil sie keinen Brief
erhalten haben oder Angst hatten, den Brief zu öffnen,
der in einer Sprache verfasst ist, die für viele bedrohlich
wirkt. Nur 12 Prozent der Sanktionen gehen zurück auf
mögliche Ablehnungen von Maßnahmen oder Arbeitsplätzen. Darunter sind Maßnahmen, die oft nichts anderes als eine fragwürdige Beschäftigungstherapie für Erwachsene darstellen.
Ich habe mich mit einer Sozialarbeiterin aus Neukölln
unterhalten. Sie sagte mir: Das SGB sollte doch eigentlich ein Sozialgesetzbuch sein. Ich erlebe es zunehmend
als Strafgesetzbuch.
({8})
Ja, Sanktionen sind Ausdruck eines paternalistischen Erziehungsstaates. Das steht in der Tradition des Arbeitshauses. Erwachsene werden als Erziehungsbedürftige
betrachtet. Wir als Linke sagen Nein zu diesem paternalistischen Verständnis. Wir sagen Ja zu einem demokratischen Sozialstaat, der von demokratischen und sozialen
Rechten ausgeht. Für uns ist es nicht hinnehmbar, wenn
Erwachsene als Erziehungsbedürftige behandelt werden.
({9})
Es gibt einen weiteren Grund für uns. Das Regelsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts besagt ganz klar:
Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ist dem Grunde
nach unverfügbar …
Weiter heißt es:
Der gesetzliche Leistungsanspruch muss so ausgestaltet sein, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt.
Ich wiederhole: „Unverfügbar“ und „stets“ muss es den
notwendigen Bedarf decken. Beim soziokulturellen
Existenzminimum handelt es sich also um ein Grundrecht, und Grundrechte kürzt man einfach nicht.
({10})
Vor einigen Wochen fand im Petitionsausschuss die
öffentliche Behandlung der Massenpetition zur Abschaffung der Sanktionen gegen Inge Hannemann statt. Viele
Betroffene sind zu diesem Termin angereist, um zuzuhören. Meine Fraktion hat danach die Betroffenen zu einem Fachaustausch eingeladen. Wir haben Expertinnen
und Experten der Praxis angehört. Ich habe in den zweieinhalb Stunden, in denen ich zugehört habe, viele berührende Berichte vernommen, die mir gezeigt haben,
wie sehr Hartz IV Spuren auf den Seelen der Betroffenen hinterlassen hat. Am Ende habe ich die Frage aufgeworfen: Wir haben uns nun ausgetauscht, wer und was
alles unter Hartz IV leidet. Aber gibt es auch Profiteure
von Hartz IV? Die Antwort lautete: Ja. Denn im Zuge
von Hartz IV ist die Bereitschaft gestiegen - ich sprach
bereits darüber -, schlechtere Arbeitsbedingungen zu akzeptieren. Ja, ein Ziel von Hartz IV war und ist auch,
Menschen gefügig zu machen und die Widerstandsfähigkeit zu schwächen.
({11})
- Mir ist schon klar, dass Sie das nicht gerne hören.
({12})
Um es auf den Punkt zu bringen: In der Auseinandersetzung zwischen oben und unten stärkt Hartz IV die Besitzenden und schwächt diejenigen, die nur ihre Arbeits3510
kraft als Ware haben. Deswegen werden wir, die Linke,
uns niemals mit Hartz IV zufriedengeben.
({13})
Wir sagen ganz klar: Wer wie wir eine angstfreie Gesellschaft möchte, der muss Hartz IV und vor allem die
Hartz-IV-Sanktionen abschaffen und eine sanktionsfreie
Mindestsicherung einführen.
Vielen Dank.
({14})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Albert Weiler, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Liebe Frau Kipping, ich selbst habe nach
meinen Ausbildungen bei der Eisenbahn Klos geputzt,
ich habe Wagen gereinigt, aus den Aschenbechern Kaugummis herausgekratzt und fühlte mich dabei nicht unwohl; denn das war meine Arbeit, und ich wollte nicht
arbeitslos werden. Sicherlich wollte ich das nicht auf
Dauer machen, aber ich habe es gemacht, weil ich nicht
arbeitslos werden wollte. Ich fühle mich von Ihnen diffamiert. Keine Arbeit ist schändlich. Jeder soll für seine
Arbeit geehrt werden. Das ist wichtig. Ich ehre jeden,
egal was er tut, auch wenn er, wie ich es getan habe,
Aschenbecher saubermacht.
({0})
Es ist wieder einmal so weit. Der obligatorische Antrag der Linken zur Abschaffung der Sanktionen bei
Hartz IV ist da. Zum wiederholten Mal beschäftigt sich
der Deutsche Bundestag mit diesem Antrag der Linken.
({1})
Es war sicherlich nicht das letzte Mal.
({2})
Ich habe recherchiert. Allein in den letzten zwei Wahlperioden ist immer wieder ein derartiger Antrag von Ihnen
eingebracht, diskutiert und abgelehnt worden. Ich sehe,
dass Ihre Führungsspitze nicht da ist; dann ist das wohl
auch Ihnen gar nicht so wichtig. Das ist eher Wahlkampfpropaganda. So werden wir auch heute wieder damit verfahren. Lassen Sie uns also die bekannten Argumente, die wir schon so oft ausgetauscht haben, noch
einmal austauschen. Ich bin gerne bereit dazu.
Kopfschütteln und Kommentare wie „Schwachsinn“,
„Geht’s noch?“ und „Man nimmt uns damit das letzte
Mittel, das wir haben“ waren nur ein Teil der Reaktionen
der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus Jobcentern in
Berlin und Thüringen, denen ich Ihren Antrag vorgelegt
habe und die ich gebeten habe, diesen zu bewerten. Das
Gespräch mit den Fachleuten in den Jobcentern hat mich
darin bestärkt, dass ich mit meinem Gefühl der Ablehnung Ihres Ansinnens doch richtig liege.
({3})
Überall sind Regeln notwendig, in der Schule, im
Verkehr, so auch in der Politik wie hier im Deutschen
Bundestag. Es hat mit Fairness, Gerechtigkeit und Verantwortung zu tun, dass wir ein solches Sanktionssystem
haben. Wir müssen ein solches haben; denn wenn unser
Sozialsystem nicht ausgenützt würde, dann brauchten
wir solche Sanktionen nicht.
Das ist Fairness gegenüber den Arbeitnehmern und
Arbeitgebern, die diesen Sozialstaat erst ermöglichen,
und - das wird oft vergessen - gegenüber den arbeitslosen Menschen, die sich regelkonform verhalten. Die
Jobcentermitarbeiter bestätigten mir, dass gegenüber
97 Prozent der Hartz-IV-Bezieher keine Sanktionen verhängt werden bzw. verhängt werden müssen. Dieser
Großteil will ernsthaft aus seiner Notsituation herauskommen und einen Job finden. Lediglich 3 Prozent der
Hartz-IV-Empfänger sind von Sanktionen betroffen. Wir
sprechen hier wahrlich nicht von einem Massenphänomen, wie Sie es immer wieder darstellen,
({4})
um Wahlkampfpropaganda zu betreiben. Wir haben
schließlich in Thüringen und Sachsen wieder Wahlkampf. Jetzt versuchen Sie, die Randgruppen noch weiter an den Rand zu drängen, um zu zeigen, dass Sie die
Guten sind, die gewählt werden sollen. Das tun Sie in
dem Wissen, dass man nichts erreicht; aber Sie wollen
nur Stimmen fischen.
Ich würde mir sehr wünschen, dass die Linken endlich damit aufhören, Politik vom Rand aus zu betreiben
und so zu tun, als sei die Mehrheit der Gesellschaft von
diesem Problem betroffen.
({5})
Wir nehmen die gesamte Gesellschaft in den Blick
und sorgen dafür, dass mit unserer Politik die guten Rahmenbedingungen erhalten bleiben.
Wann bedankt sich die Partei Die Linke eigentlich bei
den über 42 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern,
({6})
die durch ihr fleißiges Tun und ihre Steuern und Abgaben erst ermöglichen, dass wir überhaupt Hartz IV zahlen können?
({7})
Schauen wir uns doch einmal die Zahlen an. Worüber
reden wir hier eigentlich? 2013 wurden laut Statistik der
Bundesagentur für Arbeit rund 1 Million Sanktionen gegenüber Menschen mit Hartz-IV-Bezug verhängt. Circa
726 000 Personen melden sich einfach nicht auf Schreiben der Jobcenter. Frau Kipping hat versucht, das kleinzureden.
({8})
Aber wenn ich Arbeit habe, dann muss ich mich auch
melden, wenn ich krank bin oder nicht kommen kann.
Andere weigern sich sogar, eine Arbeit anzunehmen. Ich
habe selbst auf Stellen gearbeitet, auf denen man nicht
unbedingt arbeiten will, aber ich habe es getan.
Manche weigern sich, eine Ausbildung aufzunehmen.
Rund 5 000 von den vollsanktionierten Personen sind
unter 25 Jahre. Es sind also junge Leute, die nicht arbeiten wollen. Das geht nicht.
Die Sanktionen fallen nicht plötzlich und unangekündigt vom Himmel. In jeder Einladung zu einem Gespräch mit dem Betreuer im Jobcenter wird schriftlich
darauf hingewiesen, dass bei unentschuldigtem Nichterscheinen oder bei Ausbleiben einer Rückmeldung eine
Kürzung von 10 Prozent der Leistungen droht. Dem, der
es dann noch nicht verstanden hat, drohen noch mehr
Kürzungen. Zudem werden die Rechtsbelehrungen immer wieder mündlich im persönlichen Gespräch zwischen dem Betreuer und dem Empfänger vorgetragen.
Es ist sogar so, dass Betreuer und Empfänger gemeinsam eine Vereinbarung unterzeichnen, in der explizit auf
die Möglichkeit von Sanktionen hingewiesen wird.
Es kann mir keiner erzählen, dass man keine Rückmeldung auf eine Einladung zum Gespräch im Jobcenter
geben kann. Jeder Arbeitnehmer muss sich beim Arbeitgeber melden, wenn er krank ist oder einen wichtigen
Termin wahrnehmen muss. Das ist, liebe Freunde, ganz
einfach Ausdruck gesunden Menschenverstands. Den
würde ich Ihnen gerne unterstellen. Im Moment fällt es
mir schwer.
({9})
Wenn man sich nicht bewerben will, folgen Sanktionen, und das halte ich für richtig. Schließlich muss es
das Ziel sein, einen Arbeitslosen wieder in Arbeit zu
bringen. Es ist nun einmal so, dass die Arbeit nicht vom
Himmel fällt. Ohne Bewerbung kein Job! Deshalb wollen wir den Betroffenen helfen, durch Bewerbungen wieder Arbeit zu finden.
({10})
Das Stichwort „Mitwirkungspflichten“ findet sich in
allen Zweigen des Sozialgesetzbuches. Ohne die Mitwirkung der Menschen, für die die Leistungen des Sozialstaats angeboten werden - das ist gut so -, können keine
Anträge gestellt, kann keine Untersuchung stattfinden,
kann kein Anspruch geprüft werden, kann aber auch
kein Geld ausgezahlt und keine Leistung erbracht werden. Es kann doch nicht sein, meine Damen und Herren,
dass ich einen angebotenen Job ablehne oder zu Terminen unentschuldigt nicht erscheine und trotzdem unkontrolliert Steuermittel von fleißigen Arbeitern einkassiere.
Das geht nicht.
({11})
Das ist der Kern des Ganzen: In einer guten Gesellschaft
muss jeder seinen Beitrag leisten. Regeln müssen von allen eingehalten werden. Gegen Regeln zu verstoßen und
weiter Geld einzukassieren, ist in unserem Sozialstaat
Gott sei Dank verboten. Das ist nicht lediglich eine
rechtliche Frage, sondern betrifft auch das Funktionsprinzip der Solidarität. Sie gilt für alle Seiten.
An dieser Stelle gilt mein besonderer Dank den vielen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den deutschen Jobcentern, die eine hervorragende Arbeit machen. Sie sind
in einem sehr sensiblen Bereich tätig; denn sie haben es
mit arbeitslosen Menschen zu tun, die sich teilweise in
einer sehr schwierigen persönlichen Situation befinden,
und sie müssen sich individuell auf diese Arbeitslosen
einstellen. Das ist für beide Seiten nicht einfach. Dafür
noch einmal vielen Dank an die Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter der Jobcenter!
({12})
An die Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Die
Linke gerichtet - passen Sie noch einen Moment auf; ich
bin gleich fertig -:
({13})
Nur weil man einen Antrag immer wieder hervorholt,
wird er nicht besser und nicht richtiger. Noch viel
schlimmer: Mit Umsetzung dieses Antrags würde nicht
ein einziger Langzeitarbeitsloser in Arbeit gebracht.
({14})
Gerade das muss unser Ziel sein.
Bitte sorgen Sie dafür, dass sich Firmen in unserem
Land ansiedeln, und bringen Sie Leute in Arbeit. Dann
tun Sie mehr, als nur den Betrieb zu stören.
({15})
Gerne diskutieren wir hier mit Ihnen, wie wir Menschen
ohne Arbeit wieder in Lohn und Brot bringen. Ein Antrag aber, der auf Spaltung der Gesellschaft fokussiert ist
und nur der Wahlpropaganda dient, ist falsch und muss
daher, auch wenn wir Wahlkampf haben, heute zum wiederholten Male abgelehnt werden, egal wie leid Ihnen
das tut.
Vielen Dank.
({16})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Wolfgang
Strengmann-Kuhn, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Weiler, Sie haben angekündigt, dass Sie
Argumente gegen den Antrag der Linken vorbringen
wollen. Ich habe kein einziges Argument gehört.
({0})
Stattdessen wird ein Menschen- und Gesellschaftsbild
verbreitet, das eigentlich weder zu unserem Grundgesetz
noch zum gesellschaftlichen Konsens passt.
({1})
Wir haben an dieser Stelle vor zwei Wochen einen
Festakt aus Anlass des 65. Jahrestages der Verkündung
des Grundgesetzes mit einer großartigen Rede von
Navid Kermani erlebt.
({2})
Artikel 1 des Grundgesetzes beginnt mit den Worten:
„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Das Bundesverfassungsgericht leitet aus Artikel 1 und aus Artikel 20 des Grundgesetzes ein Grundrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums ab.
Ich finde, dieses Grundrecht müssen wir rechtfertigen,
verteidigen und den Menschen tatsächlich gewähren.
({3})
Aber die Frage der Sanktionen ist nicht nur eine
rechtliche Frage. Es geht darum: In welcher Gesellschaft
wollen wir tatsächlich leben? Wir Grüne wollen in einer
Gesellschaft leben, die inklusiv ist, in der niemand ausgegrenzt wird und in der jeder Mensch ein Recht auf
selbstbestimmte gesellschaftliche Teilhabe hat. An diesen Maßstäben - Grundrecht auf Existenzminimum und
eine gesellschaftliche Realität, die allen selbstbestimmte
Teilhabe ermöglicht - messen wir auch die Sanktionen.
Wenn wir uns die derzeitige Sanktionspraxis angucken,
stellen wir fest, dass die Sanktionen zurzeit diesen Maßstäben nicht genügen.
({4})
Die meisten Sanktionen sind in der Tat demütigend,
sie sind häufig unnötig, und sie sind meist auch kontraproduktiv. Deswegen sagen wir: Wir brauchen ein Sanktionsmoratorium. Die Zeit, in der die Sanktionen ausgesetzt werden, sollten wir nutzen, um die Sanktionsregeln
so zu ändern, dass sie den Maßstäben des Grundgesetzes
aber auch den Maßstäben einer inklusiven Gesellschaft
genügen, also Menschen nicht ausgrenzt werden und
Teilhabe gefördert wird.
({5})
An der Stelle eine kleine Anmerkung zu den Vorstellungen der Linken. Ich glaube, man muss auch darüber
nachdenken, ob die sofortige Abschaffung aller Sanktionen diesem Anspruch tatsächlich gerecht wird oder ob
nicht die komplette Abschaffung der Sanktionen auch
dazu führen kann - wohlgemerkt: unter den derzeitigen
Bedingungen -, dass Menschen von gesellschaftlicher
Teilhabe und aus der Gesellschaft ausgegrenzt werden.
Ich stelle das einmal als eine Frage in den Raum, über
die man intensiv nachdenken müsste.
({6})
Was heißt das, wenn wir sagen: „Menschen müssen in
die Gesellschaft hereingeholt werden, dürfen nicht ausgegrenzt werden“? Das heißt, wir müssen Barrieren abbauen, wir müssen Hürden abbauen, wir müssen Mauern
einreißen, und wir müssen Türen aufschließen, die verhindern, dass Menschen in die Gesellschaft hineinkommen. Die derzeitige Sanktionspraxis schafft das nicht.
Zwei Beispiele:
Totalsanktion. Dass Menschen eine Leistung komplett verweigert wird, das geht unseres Erachtens nicht.
Meines Erachtens ist das auch nicht mit dem vom Verfassungsgericht festgestellten Grundrecht auf Gewährung eines Existenzminimums vereinbar. Dass Menschen gar nichts bekommen, das geht so nicht.
({7})
Wir hatten dazu schon Anhörungen im Ausschuss; da ist
dieser Punkt von allen Experten kritisiert worden, auch
von den Verfassungsrechtlern. Wir haben jetzt die Bundesregierung einmal gefragt, wie viele Fälle das eigentlich sind. Es sind 9 000 Fälle. Da kann man sagen: Das
sind nicht viele. Aber: 9 000 Menschen, denen das Existenzminimum tatsächlich verweigert wird - das müssen
wir dringend ändern.
({8})
Von diesen 9 000 Menschen sind 5 000 Menschen unter
25 Jahre. Wir finden, gerade bei jungen Menschen muss
man darauf achten und ihnen dabei helfen, dass sie in die
Gesellschaft hineinkommen.
({9})
Zweitens. Wir haben besonders scharfe Sanktionsregeln für die unter 25-Jährigen. Das ist von der letzten Großen Koalition eingeführt worden. Auch das wurde von allen Verfassungsrechtlern als problematisch bezeichnet.
Insbesondere Altersdiskriminierung ist da ein rechtliches Problem. Diese schärferen Sanktionsregeln für unter 25-Jährige gehören also abgeschafft.
({10})
Schließlich ist es wichtig, noch einmal die Bedeutung
einer Grundsicherung für die Gesellschaft insgesamt zu
betonen. Für uns als Freiheitspartei
({11})
ist es wichtig, dass die Selbstbestimmung der Menschen
gewährleistet wird. Zur Selbstbestimmung gehört eine
verlässliche Grundsicherung als Existenzsicherung in allen Lebenslagen unmittelbar dazu. Eine stabile Grundsicherung ist die Voraussetzung für ein selbstbestimmtes
Leben.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({12})
Vielen Dank. - Für die Sozialdemokraten spricht jetzt
die Kollegin Dagmar Schmidt.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Bevor ich zu den Sanktionen direkt komme, möchte ich etwas Grundsätzliches zum Sozialstaatsverständnis sagen,
weil Sie diesen Punkt nicht nur in Ihrem Antrag, sondern
auch in Ihrer Rede angesprochen haben.
Es ist für uns selbstverständlich, dass der Sozialstaat
ein menschenwürdiges Existenzminimum sichern muss.
Aber es sollte genauso selbstverständlich sein, dass alle
Menschen, die es können, auch ihren Beitrag zur Entwicklung und zum Wohlstand unserer Gesellschaft leisten und sich bemühen, ihren Lebensunterhalt selbstständig zu verdienen.
({0})
Wir sind uns wahrscheinlich einig, dass die ganz große
Mehrheit genau das auch möchte.
Die Menschen sind unterschiedlich. Sie haben unterschiedliche Voraussetzungen und befinden sich in unterschiedlichen Lebenslagen. Man kann nicht von allen das
Gleiche erwarten. Aber dass man etwas von den Menschen erwartet, das hat auch etwas mit Respekt zu tun.
Ich will keine Grundsatzdebatte zum bedingungslosen
Grundeinkommen führen. Ich will aber ein paar kleine
Worte dazu verlieren, weil es in Ihrem Antragstext zumindest angedeutet ist.
Chancengleichheit stellt man nicht dadurch her, dass
man Menschen bedingungslos alimentiert, sondern
durch eine aktive, gute und gerechte Bildungspolitik, die
individuell fördert mit Ganztagsschulen und die einen
Nachteilsausgleich für sozial Schwächere vorsieht, und
durch eine gute Familienpolitik, die Familien mit Zeit,
Geld und guter Betreuung unterstützt.
({1})
Man verändert Arbeitsbedingungen nicht dadurch,
dass man alle Menschen alimentiert und eine eigenständige Existenzsicherung überflüssig macht, sondern
durch solidarisches gewerkschaftliches Handeln und
durch gute gesetzliche Rahmenbedingungen. Einen großen Schritt in die richtige Richtung haben wir gestern
mit der Verabschiedung des Tarifpakets bereits gemacht.
({2})
Statt den Menschen Scheinfreiheit unbegrenzter ehrenamtlicher Arbeit zu geben, wollen wir ihnen die Freiheit geben, durch eigenes Einkommen ihr Leben selber
in die Hand zu nehmen. Aus Ihrer Sicht ist Fördern und
Fordern Ausdruck eines paternalistischen Sozialstaates,
aus unserer Sicht ist es Ausdruck eines emanzipatorischen Sozialstaats.
({3})
Die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe hat für viele Menschen die Tür zu Hilfe und Unterstützung geöffnet. Wir wollen keinen Sozialhilfestaat
mehr, der Menschen alimentiert und dann links liegen
lässt. Fördern und Fordern heißt: Wir brauchen alle, wir
wollen alle, wir erwarten von allen etwas, aber wir geben
auch allen Hilfe und Unterstützung.
Damit komme ich zu den Sanktionen. Entscheidend
dafür, dass es gelingt, Arbeitslose in gute Jobs zu bringen, ist neben dem eigenen Engagement eines jeden Einzelnen - wir lassen da auch keinen raus - all das, was
wir zur Förderung und Unterstützung zur Verfügung
stellen. „Wir lassen den Einzelnen nicht raus“ heißt aber
auch, dass wir Sanktionen nicht grundsätzlich abschaffen wollen. Ob sie in der jetzigen Form aber die Ziele
erreichen, die wir damit erreichen wollen, ist fraglich.
Darüber muss geredet werden. Deswegen haben wir gemeinsam im Koalitionsvertrag verabredet, dass wir uns
vor allem mit der Überprüfung der Sanktionsregelungen
und der Sanktionspraxis für die unter 25-Jährigen beschäftigen wollen.
Wir haben darüber hinaus beschlossen, dass wir uns
mit den Ergebnissen der Bund-Länder-Arbeitsgruppe
zur Rechtsvereinfachung im SGB II beschäftigen werden,
({4})
und zwar dahin gehend beschäftigen werden - das steht
auch so im Koalitionsvertrag -, dass wir Verbesserungen
sowohl für die Arbeitslosen als auch für die Verwaltung
erreichen wollen.
({5})
Diese Ergebnisse werden bald auf dem Tisch liegen und
sicher eine gute Grundlage für eine spannende und heftige Debatte werden.
({6})
Dagmar Schmidt ({7})
Ich persönlich kann mir vorstellen, dass wir uns an
der Stelle vor allem über die Frage der Gleichbehandlung der unter und über 25-Jährigen unterhalten; denn
die Unterscheidung in Altersgruppen hat sich weder als
gerecht noch als zielführend erwiesen.
({8})
Ich möchte an der Stelle der Debatte noch nicht vorgreifen, aber zumindest möchte ich einen kurzen Eindruck davon vermitteln, was nach meinen Vorstellungen
noch auf den Tisch kommen müsste. Auch mit der
Frage, ob die Sanktionen auf den Bereich der Kosten der
Unterkunft ausgedehnt werden sollten, müssen wir uns
beschäftigen. Dies ist nämlich ein Punkt, der ganz hart in
die Existenz von Menschen eingreift.
({9})
Wir werden uns darüber unterhalten, welche Sanktion
wofür angemessen und was an dieser Stelle zielführend
ist.
Zum Weg in die selbstständige Existenzminderung
gehört Förderung genauso wie eigenes Engagement. Es
gehört dazu, Erwartungen zu formulieren und sich dann
auf Vereinbarungen verlassen zu können. Wenn nicht,
dann muss man auch mit Sanktionen rechnen. Das ist in
anderen gesellschaftlichen Bereichen nicht anders. Wer
Vereinbarungen, wer Verträge, wer Verabredungen
bricht, muss mit Konsequenzen rechnen. Das ist nicht
paternalistisch, sondern hat etwas mit einem normalen
und respektvollen Umgang miteinander zu tun.
({10})
Aber entscheidend ist dabei doch: Handelt es sich um
eine Verabredung oder eine Verordnung? Deshalb finde
ich andere Fragen viel entscheidender als die Frage der
Sanktion.
Nehmen wir als erstes Beispiel einmal die Eingliederungsvereinbarung. Ich finde, eine Eingliederungsvereinbarung ist ein Schlüsselinstrument, um Menschen den
Weg in den Arbeitsmarkt zu ebnen, und zwar dann,
wenn eine echte Verständigung stattfindet, die den Wünschen der Arbeitsuchenden genauso gerecht wird wie sie
den realistischen Möglichkeiten entspricht, und sich die
Arbeitsuchenden mit ihr auch identifizieren können.
Dann ist sie ein Erfolgsinstrument. Aber sind die Voraussetzungen dafür überall geschaffen? Lässt der Betreuungsschlüssel an allen Stellen eine so intensive Betreuung und Beratung zu, dass es wirklich klappt?
Stimmt die Chemie zwischen den Beratern und denen,
die Beratung wünschen? Was passiert, wenn das nicht
der Fall ist? Wer hat dann welche Rechte? Das sind für
mich die viel interessanteren Fragen
({11})
als die, ob man grundsätzlich für oder gegen Sanktionen
ist.
Der zweite Punkt - Sie haben es angesprochen -:
Sind die Schriftstücke, die informieren und darüber aufklären sollen, welche Rechte und Pflichten man hat, für
alle wirklich immer so verständlich, dass daraus das
richtige Handeln resultieren kann?
Mit diesen Fragen möchten wir uns gerne in Zukunft
beschäftigen.
Die Reform des SGB II ist ein steter Prozess. Wir alle
haben die Aufgabe, zu überprüfen, ob die angewandten
Mittel die bestmöglichen sind, um zu den Zielen zu führen, die wir erreichen wollen. Unser sozialpolitisches
Ziel ist es aber eben nicht, Arbeitslosigkeit zu bezahlen
und uns mit Ihnen über die Höhe der Transferleistungen
zu streiten. Unser Ziel ist es, Menschen in Arbeit zu
bringen, und zwar zu guten Bedingungen und so, dass
sie sich und ihre Familien ernähren können.
({12})
Die allermeisten Menschen wollen arbeiten und stolz auf
das Geschaffene sein.
Wir sind der Auffassung, dass „Menschen in Arbeit
zu bringen“ Ausdruck eines emanzipatorischen Sozialstaatsverständnisses ist. Wir wollen alles dafür tun, die
notwendige Hilfe und Unterstützung zu gewährleisten,
auch und gerade für die, die es besonders schwer haben;
frei nach Abraham Lincoln:
Je schwerer etwas fällt, desto größer die Freude,
wenn es uns gelingt.
({13})
Nächster Redner ist der Kollege Professor
Dr. Matthias Zimmer, CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Psalm 127
sagt bekanntlich, dass es unnütz sei, früh aufzustehen
und hernach lange zu sitzen, um das Brot mit Sorgen zu
essen, denn den Seinen gebe es der Herr im Schlaf. Ich
fühle mich ein wenig an diesen Psalm erinnert, wenn wir
- nicht zum ersten Mal - auf Antrag der Fraktion Die
Linke die Abschaffung von Sanktionen in der Welt der
Sozialgesetzgebung debattieren. Ich will an einigen
Punkten deutlich machen, warum die biblische Verheißung und die Solidarität in unserer Gesellschaft zwei
verschiedene Dinge sind, in der Hoffnung - denn diese
stirbt bekanntlich zuletzt -, dass die ganze Debatte ein
wenig von der vordergründigen Perspektive der Fairness
im Einzelfall auf das Grundsätzliche gestellt werden
kann und am Ende die Kolleginnen und Kollegen der
Fraktion, die sich des Themas immer wieder annehmen,
das Irrige ihrer Argumentation einzusehen in der Lage
sind.
({0})
Von der Abschaffung der Sanktionen in der Sozialgesetzgebung, meine Damen und Herren, ist es ein kaum
noch wahrnehmbarer Schritt zum bedingungslosen
Grundeinkommen. Ich habe sehr wohl wahrgenommen,
dass es hierüber in der Fraktion der Linken wie auch bei
den Grünen sehr unterschiedliche Auffassungen gibt.
Aber ein sanktionsfreies Regime in der Sozialgesetzgebung ist ein bereits auf niedrigem Niveau installiertes
Grundeinkommen, das an keine erzwingbaren Bedingungen mehr geknüpft ist. Hiergegen habe ich drei
grundsätzliche Einwände.
Der erste Einwand ist, dass wir durch ein solches System die Bedingungen von Solidarität selbst untergraben.
Solidarität ist ein Sozialprinzip der gesamtschuldnerischen Haftung. Es ist aus dem römischen Privatrecht
entlehnt und in der französischen Revolution dann zu einem politischen Prinzip der Gesellschaftsgestaltung umgedeutet worden. Mit anderen Worten: Wir kennen in
der Gesellschaft, im Sozialverband das solidarische Eintreten für den Einzelnen, wenn er in Not gerät. Wir kennen hier unbedingte und bedingte Solidaritätspflichten.
Unbedingte Solidaritätspflichten sind solche, die
nicht auf Gegenseitigkeit beruhen oder beruhen können.
Der Mensch, der sich in einer solchen Lage befindet,
kann sich aus eigener Kraft und auch mit Hilfe anderer
daraus nicht mehr befreien. Er bedarf der dauerhaften
Hilfestellung.
Anders in Fällen der bedingten Solidaritätspflichten.
Hier kann sich der Einzelne selbst oder mit Hilfe anderer
aus der Notlage befreien; denn sie ist nicht dauerhaft.
Mehr noch: Die Legitimität der gesellschaftlichen Ressource Solidarität ist gerade davon abhängig, dass er dies
auch tut, weil er es kann. Solidarität versteht sich hier als
Einstehen für andere in unverschuldeten Notlagen, aber
nicht als eine dauerhafte Subventionierung der Unwilligkeit, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen.
Mein zweiter Einwand ist, dass damit der Wert von
Arbeit selbst diskreditiert wird. Überspitzt formuliert:
Wer arbeitet, ist der Dumme; denn es ginge ja auch anders. Das ist im Übrigen auch mein Haupteinwand gegen
ein bedingungsloses Grundeinkommen. Die Befürworter
rechnen damit, dass sich in der Summe die Anzahl derjenigen, die durch produktive Arbeit ein solches Grundeinkommen finanzieren, nicht verändert.
({1})
Ich hingegen glaube schon, dass die Anzahl derjenigen,
die sich ohne Arbeit auf niedrigerem Niveau einrichten,
deutlich ansteigt. Die Finanzierung eines Grundeinkommens lebt damit von Voraussetzungen, die sie selbst untergräbt. Das gilt eben auch für die Überstrapazierung
der Solidarität.
({2})
Mein dritter Einwand ist, dass damit Menschen nicht
mehr als selbstständig wahr- und ernstgenommen werden, sondern zum dauerhaften Objekt staatlicher Betreuung werden. Der enge Zusammenhang von Freiheit und
Selbstverantwortung wird aufgelöst. Man kann Freiheit
durchaus denken als dauerhafte staatliche Alimentierung, aber das ist ein Freiheitsbegriff, dem die Dimension der Selbstverantwortung fehlt. Aus meiner Sicht
- ich glaube, hier spreche ich auch für die Union als
Ganzes - verfehlt ein solcher Freiheitsbegriff den Kern
der Personalität des Menschen.
({3})
Er nimmt den Menschen nicht als mündig wahr. Wäre es
nicht Aufgabe einer neuen Aufklärung, den Menschen
an seine Mündigkeit zu erinnern und ihn aufzufordern,
aus allen Formen der Unmündigkeit sich zu befreien,
auch wenn diese noch so benevolent als staatliche Betreuung daherkommt?
Damit zusammen hängt ein weiteres Argument. Die
Linke behauptet in ihrem Antrag, dass Sanktionen gegen
die Würde des Menschen verstoßen. Wenn wir aber Freiheit und Selbstverantwortung ernst nehmen, dann müssen wir auch die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen
ernst nehmen. Wir knüpfen Sozialleistungen an Bedingungen und machen dies auch sehr deutlich; der Kollege
Weiler hat in seiner Rede davon ja ausführlich gesprochen. Wenn diese Bedingungen wissentlich und willentlich nicht erfüllt werden, und zwar im Wissen um die
Konsequenzen, dann ist das mitnichten ein Verstoß gegen die Würde. Es ist Ausfluss der Entscheidungsfreiheit
des Einzelnen.
({4})
Es verstieße, meine Damen und Herren, meines Erachtens gegen die Würde des Menschen, diese Entscheidungsfreiheit sozialtherapeutisch oder gesellschaftlich
aufheben zu wollen.
({5})
Hinter dem unscheinbar daherkommenden Antrag der
Linken, die Sanktionen in der Sozialgesetzgebung abzuschaffen, verbirgt sich also mehr. Sie, meine Damen und
Herren von den Linken, stellen damit in Wahrheit die
Grundlagen unserer Wirtschafts- und Sozialordnung infrage, Sie stellen die Systemfrage.
({6})
Nicht mehr und nicht weniger hatte ich auch von Ihnen
erwartet. Im Wege der heutigen Rede wollte ich Sie wissen lassen: Wir haben es gemerkt und lehnen deshalb Ihren Antrag ab.
({7})
Nächste Rednerin ist für die Linken die Kollegin
Sabine Zimmermann.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Kollege Zimmer, es geht in unserem
Antrag nicht um das bedingungslose Grundeinkommen.
Ich glaube, da haben Sie etwas falsch verstanden; denn
beim bedingungslosen Grundeinkommen sollen alle
Geld bekommen, egal ob sie arbeiten, ob sie nicht arbeiten, ob sie Millionäre sind oder sonst was. Es geht hier
einfach darum, die Aussage von Artikel 1 des Grundgesetzes „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ umzusetzen. Um nichts anderes geht es hier.
({0})
Meine Damen und Herren, über 1 Million Sanktionen
wurden im letzten Jahr wieder gegenüber Hartz-IV-Bezieherinnen und -Beziehern verhängt. Das sind alles Einzelschicksale; davon, wie es diesen Menschen geht, haben die meisten hier im Saal allenfalls eine vage
Vorstellung. Wie ist es denn, wenn von einem Betrag,
der als Existenzminimum gilt, noch etwas weggenommen wird? Was heißt denn das überhaupt: Leben unterhalb des Existenzminimums? Ich frage Sie hier: Kann
man denn mit weniger als dem Existenzminimum überhaupt noch ein Leben in Würde führen?
Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Ich kenne viele Menschen - zum Beispiel Frauen über 50 -, die vor dem Jobcenter stehen, zittern und Angst haben, dort hineinzugehen. Ich habe letztens erst einen alleinerziehenden Mann
getroffen, der Aufstocker ist und 150 Euro gestrichen
bekommen sollte. Der hat nächtelang davor nicht geschlafen. Wissen Sie, wie es den Kolleginnen und Kollegen geht?
({1})
- Die sollte er ungerechtfertigerweise gestrichen bekommen, das ist dann später herausgekommen, was ich richtig finde. Danach konnte der Kollege wieder richtig
schlafen. Vorher hatte er nur noch 700 Euro verdient und
konnte sein Kind nicht mehr ernähren. Das war nämlich
das ganze Problem dabei.
({2})
Mit den Sanktionen sollen - so das angebliche Ziel Erwerbslose dazu angehalten werden, sich um Arbeit zu
bemühen. Meine Damen und Herren, ich muss Ihnen sagen, dass das ziemlicher Unsinn ist. Ich will es Ihnen
auch belegen. Vor etwas längerer Zeit hat die Bundesagentur für Arbeit Arbeitslosengeld-II-Bezieher befragt.
Danach stimmten 76 Prozent der Aussage zu: Arbeit zu
haben ist das Allerwichtigste im Leben. 86 Prozent erklärten sogar: Arbeit ist wichtig, weil sie einem das Gefühl gibt, dazuzugehören. Meinen Sie wirklich, diesen
Arbeitslosen müsste man noch mit Sanktionen drohen,
damit sie sich um Arbeit bemühen? - Ich glaube das
eher nicht.
({3})
Denn sie bewirken zudem das Gegenteil: Sie entmutigen
die Betroffenen, und das kann so weit gehen, dass manche den Kontakt zu den Jobcentern total abbrechen. Sie
fördern keine Motivation, im Gegenteil, sie machen sie
kaputt. Und das, meine Damen und Herren, ist Ihre Politik.
({4})
Warum das alles? - Die Antwort ist einfach. Sanktionen drangsalieren nicht nur Erwerbslose, sie zwingen
auch dazu, schlechte, unsichere Jobs anzunehmen. Damit üben Sie auch Druck auf die Löhne aus. Erwerbslose
im Hartz-IV-System sind bei der Jobsuche meist zu Zugeständnissen bereit. Meine Kollegin Katja Kipping hat
es gesagt. Dazu sagt auch die erwähnte Befragung der
Agentur für Arbeit: acht von zehn Hartz-IV-Beziehern
sind bereit, eine Arbeit unterhalb ihrer Qualifikation anzunehmen. Zwei Drittel würden ungünstige Arbeitszeiten in Kauf nehmen und knapp die Hälfte ein geringeres
Einkommen.
Dass Sanktionen dazu führen, jede x-beliebige Arbeit
anzunehmen, zeigt auch eine aktuelle Studie des Arbeitsministeriums aus Nordrhein-Westfalen. Dort heißt
es: Harte Sanktionen führen häufig nicht zu einem „kontinuierlichen Beschäftigungsverhältnis“, sondern nur zu
einer „kurzfristigen Beschäftigung zur Verbesserung der
finanziellen Situation“.
Wenn Sie glauben, dass ohne Sanktionen Erwerbslose
zumutbare Arbeit ablehnen würden, dann muss ich Ihnen sagen, dass nur jede achte Sanktion zustande gekommen ist, weil Arbeit, Ausbildung oder eine Maßnahme abgelehnt oder abgebrochen wurden. Wenn Sie
sich diese Fälle einmal ganz genau anschauen, dann erkennen Sie, dass in vielen Fällen Erwerbslose missbraucht und ihre Rechte mit Füßen getreten werden. Das
ist der Ist-Zustand.
Aber Sanktionen sind nicht nur ein Problem der Erwerbslosen. Wer einmal Betriebe besucht hat, die in
wirtschaftlich schwierigen Situationen stecken, weiß,
welches Drohpotenzial auch Arbeitgeber damit besitzen,
welche Angst unter den Kolleginnen und Kollegen geschürt wird, auf Lohn zu verzichten, damit sie nicht in
kürzester Zeit in Hartz IV landen; das will nämlich keiner.
Auch der DGB merkte erst kürzlich in einer Stellungnahme zu den Sanktionen an, mit Hartz IV und anderen
Maßnahmen der Hartz-Gesetze sollte erklärtermaßen der
Niedriglohnbereich ausgebaut werden. - Das, meine Damen und Herren, ist Ihnen wirklich gelungen.
Deutschland hat nach Litauen den zweitgrößten Niedriglohnsektor Europas. Sogar die internationale Wirtschaftsorganisation OECD hat die Bundesregierung
inzwischen aufgefordert, das Problem des Niedriglohnbereichs zu bekämpfen. Das geht nicht, wenn man
Hartz IV außen vorlässt. Nach den derzeitigen Mindestlohnplänen sollen die Langzeitarbeitslosen - das sind
1,1 Millionen Menschen - für Löhne unterhalb des vorgesehenen Mindestlohns von 8,50 Euro arbeiten. Für uns
Sabine Zimmermann ({5})
gilt aber auch hier das Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“.
({6})
Ich komme zum Schluss. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Großen Koalition und hier insbesondere
von der SPD, wenn es Ihnen wirklich ernst damit ist,
Niedriglöhne zu bekämpfen und für gute Arbeit zu sorgen, kommen Sie nicht daran vorbei, die Sanktionen abzuschaffen. Das liegt im gemeinsamen Interesse der Erwerbslosen und der Beschäftigten. Die Linke bleibt
dabei - jetzt, Frau Pothmer, kommt mein Satz -:
Hartz IV muss weg, und auch das Sanktionssystem muss
weg. Es ist nichts anderes als ein Programm zur Drangsalierung der Erwerbslosen und zur Disziplinierung der
Beschäftigten. Wir brauchen eine sanktionsfreie, armutsfeste Mindestsicherung.
Danke schön.
({7})
Für die Sozialdemokraten spricht jetzt der Kollege
Matthias Bartke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Eines vorweg: Die überwältigende Mehrheit
der Hartz-IV-Empfänger ist gesetzestreu. Es gibt unzählige Gründe, warum man in den Hartz-IV-Bezug gelangen kann: Verwerfungen am Arbeitsmarkt, Betriebsschließungen und persönliche Schicksalsschläge. Nur
einen Grund gibt es fast nie: Unlust oder Faulheit.
({0})
Es ist wichtig, dies zu Beginn zu betonen; denn man hat
in der Debatte über Leistungsmissbrauch zuweilen den
Eindruck, dass ein signifikanter Anteil der Hartz-IVEmpfänger Leistungsmissbrauch betreibt. Ich sage Ihnen: Das stimmt nicht; das ist nicht zutreffend.
({1})
Von Sanktionen sind nach Angaben des IAB im Laufe
der Zeit gerade einmal 5 Prozent der Leistungsbezieher
betroffen, und die ganz häufig nur wegen Meldeversäumnissen; das wurde eben schon gesagt.
({2})
Dennoch sind Sanktionen im System des SGB II unerlässlich. Grundsätzlich muss man sich vor Augen führen, dass es sich bei Hartz-IV-Leistungen um Steuergelder handelt, die von anderen Menschen hart erarbeitet
worden sind. Gerade die wenig verdienenden Menschen
sind es, die in der Regel am wenigsten Verständnis dafür
haben, wenn Menschen nicht alles daransetzen, aus dem
Leistungsbezug wieder herauszukommen.
Der richtige Grundgedanke, der hinter dem Sanktionskonzept steht, ist der Ansatz der fordernden Aktivierung. Damit soll sichergestellt werden, dass die Leistungsberechtigten mit den Jobcentern kooperieren, und
es sollen dadurch Bewerbungsaktivitäten und die Annahme von angebotenen Stellen gewährleistet werden.
Wenn man arbeitslos und bedürftig ist und kein ALG I
erhält, bekommt man ALG II. Man muss dafür nicht arbeiten; das liegt in der Natur der Sache. Aber man muss
schon die Auflagen des Jobcenters erfüllen. Das ist die
Gegenleistung für staatliche Unterstützung, und das ist,
mit Verlaub, auch richtig.
({3})
Die Linke fordert in ihrem vorliegenden Antrag, bei
Fehlverhalten von Leistungsbeziehern komplett auf Sanktionen zu verzichten. Das, meine Damen und Herren, ist
ein weitgehender Schritt in Richtung bedingungsloses
Grundeinkommen:
({4})
Man muss keine Leistung erbringen, man muss keine
Auflagen erfüllen, und man muss nicht arbeiten, aber
Geld vom Staat bekommt man trotzdem. Meine Damen
und Herren, das geht nicht.
({5})
Die Große Koalition ist ohne Wenn und Aber gegen ein
bedingungsloses Grundeinkommen, und ich war bisher
davon ausgegangen, dass es auch bei der Linken differenziert betrachtet wird. In Ihrem Wahlprogramm fordern Sie noch eine Enquete-Kommission dazu;
({6})
nun fordern Sie aber die völlige Abschaffung der Sanktionen im SGB II. Damit setzen Sie einen Kurs fort, den
Sie mit der ziemlich populistischen Kampagne von Inge
Hannemann zum bedingungslosen Grundeinkommen
begonnen haben.
({7})
Ich kenne Frau Hannemann; sie kommt aus meinem
Wahlkreis. Ich sage Ihnen: Sie ist zweifellos eine kluge
Frau, die mit ihrer Kritik in vielen Einzelpunkten recht
hat; nur sind die Handlungskonsequenzen - so ist das
häufig bei Kritikern - nicht zu Ende gedacht.
Meine Damen und Herren von der Linken, in Ihrem
Antrag fordern Sie die Totalabschaffung aller Sanktionen im SGB II. Damit hat sich bei Ihnen in dieser zentralen Frage der populistische Flügel durchgesetzt. Ich bedaure das sehr. Wir werden Ihren Antrag ablehnen. Das
heißt im Umkehrschluss aber keineswegs, dass wir das
Sanktionssystem in seiner jetzigen Form gutheißen.
({8})
Es ist nicht gut; es ist zu kompliziert, es ist intransparent,
und es wird von vielen Betroffenen als Schikane empfunden.
({9})
Besonders das verschärfte Sanktionssystem gegen Jugendliche geht gar nicht. Verstöße von Jugendlichen gegen Auflagen der Jobcenter werden stärker geahndet als
die von Erwachsenen. Das ist eine Verdrehung der tatsächlichen Notwendigkeiten.
({10})
Eine Streichung sämtlicher ALG-II-Leistungen inklusive aller KdU-Leistungen ist bei Jugendlichen deutlich
schneller möglich als bei Erwachsenen. Das setzt häufig
eine Abwärts- und Verschuldungsspirale in Gang, die
niemand wollen kann. Sogar das IAB hat kürzlich festgestellt, dass das zutiefst problematisch ist. Selbst im
Strafrecht werden Jugendliche milder behandelt als Erwachsene. Dabei stehen pädagogische Erwägungen im
Vordergrund. Solche Erwägungen müssen auch im
SGB II stärker zum Tragen kommen.
({11})
Das vorhin schon von Ihnen zitierte Institut für Sozialund Gesellschaftspolitik hat dazu festgestellt: Je höher
die Sanktionen bei Jugendlichen, desto stärker schwindet ihr Vertrauen in die Berater. Das ist ja auch kein
Wunder.
Das Sanktionssystem des SGB II, insbesondere das
für Jugendliche, gehört auf den Prüfstand. Das hat die
Große Koalition daher auch in ihrem Koalitionsvertrag
festgeschrieben. Die Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Rechtsvereinfachung im SGB II“ hat sich dieses Auftrags angenommen. Vorgestern haben wir im Ausschuss erfahren,
dass sich die Arbeitsgruppe auf der Zielgeraden befindet. Wir werden also in Kürze mit Ergebnissen rechnen
können. Es ist geplant, dass die notwendigen SGB-IIÄnderungen spätestens im kommenden Frühjahr im
Bundesgesetzblatt stehen werden. Das Sanktionssystem
für Erwachsene wird vereinfacht und transparenter, und
das Sanktionssystem für Jugendliche wird völlig geändert. Ich sage: Je schneller das passiert, desto besser.
({12})
Meine Damen und Herren, ich komme aus Hamburg.
Wir haben dort das System der Jugendberufsagenturen
entwickelt. Ein Bestandteil dieses Systems ist, dass wir
immer wieder auf Jugendliche zugehen. Wir sorgen so
dafür, dass keiner von ihnen verloren geht. Das, was die
Hamburger Jugendberufsagenturen machen, hat der
Hamburger Bürgermeister Olaf Scholz einmal fürsorgliche Belagerung genannt. Ich sage Ihnen: Eine solche
fürsorgliche Belagerung ist viel wirksamer als Sanktionen.
({13})
Es ist daher gut, dass die Große Koalition die bundesweite Einführung der Hamburger Jugendberufsagenturen im Koalitionsvertrag festgeschrieben hat.
Unterm Strich lässt sich festhalten:
Erstens. Die ganz überwältigende Mehrheit der HartzIV-Empfänger verhält sich rechtskonform.
Zweitens. Das von der Linken geforderte weitgehend
bedingungslose Grundeinkommen ist ein gesellschaftlicher und politischer Irrweg.
({14})
Drittens. Das gesamte Sanktionsregularium im
SGB II bedarf dringend der Überarbeitung, insbesondere
hinsichtlich der unter 25-Jährigen.
Viertens. Die GroKo ist dabei. Wir liefern.
Ich danke Ihnen.
({15})
Herr Kollege Dr. Bartke, vielen Dank. - Es spricht
jetzt die Kollegin Brigitte Pothmer, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Weiler ist leider schon gegangen, aber ich möchte trotzdem das Argument, das er hier vorgebracht hat, aufgreifen. Herr Weiler sagte: Wo ist eigentlich das Problem?
Es sind doch sowieso nur 3 Prozent aller Arbeitslosen
von Sanktionen betroffen. - Das zeigt, dass er die Wirkung von Sanktionen total verkennt; denn wenn 3 Prozent sanktioniert werden, erleben 97 Prozent der Betroffenen die Sorge, ebenfalls von Sanktionen betroffen zu
werden. Sanktionen wirken weit über die Gruppe hinaus,
die von ihnen unmittelbar betroffen ist.
({0})
Trotzdem sage ich an dieser Stelle - Herr
Strengmann-Kuhn hat es schon angedeutet -: Die Grünen sind ausdrücklich nicht grundsätzlich und in jedem
Fall gegen Sanktionen. Wir stehen zu dem Prinzip „Solidarität ist keine Einbahnstraße“. Da, wo es möglich ist,
müssen diejenigen, die Solidarität erfahren haben, im
Rahmen ihrer Möglichkeiten etwas zurückgeben. Das
finden wir richtig.
Aber dafür müssen die Voraussetzungen stimmen,
und die Voraussetzungen stimmen ausdrücklich nicht.
({1})
Sanktionen können nicht nach dem Prinzip „Vogel friss
oder stirb“ ausgesprochen werden.
Herr Zimmer, wir haben die Situation - das können
Sie mir glauben; denn ich bin wirklich Handlungsreisende in Sachen Jobcenter -, dass Arbeitslose jeden Job
annehmen müssen, dass sie jede ihnen angebotene, auch
jede unsinnige, Maßnahme annehmen müssen. Das ist
aus meiner Sicht ein Verstoß gegen die Würde. Ich finde,
das geht gar nicht.
({2})
Wenn immer sofort mit der Keule der Sanktionen gedroht wird, dann ist das ebenfalls ein Angriff auf die
Würde.
Frau Schmidt, Sie haben hier zu Recht gesagt, dass es
um Fordern und Fördern geht. Aber finden Sie nicht
auch, dass die Balance zwischen Fordern und Fördern,
die herzustellen wir den Menschen versprochen haben,
nie da war und dass das Verhältnis zwischen Fordern und
Fördern im Laufe der Jahre sogar vollständig aus den
Fugen geraten ist? Ich finde, an der Stelle ist es der Staat,
der nicht vertragstreu ist, es sind nicht die Arbeitslosen.
({3})
Die Mittel der Arbeitsförderung sind auf der einen
Seite immer weiter gekürzt worden. Auf der anderen
Seite sind die Sanktionen, insbesondere für die unter
25-Jährigen, verstärkt worden. Das ist auch der Grund
dafür, dass dieses Hartz-IV-System in der gesamten Gesellschaft, aber in besonderer Weise von den Arbeitslosen als ein sehr repressives System wahrgenommen
wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, daran ändert die Abschaffung aller Sanktionen schlicht gar
nichts. Dadurch bekommt kein einziger Arbeitsloser
wieder einen Job. Dafür brauchen wir tatsächlich ganz
andere Jobcenter. Wir müssen die Jobcenter umbauen in
Servicecenter für Arbeitslose, aber auch in Servicecenter
für Beschäftigte, die zum Beispiel nach einer neuen beruflichen Perspektive suchen. Wir brauchen Jobcenter, in
denen diejenigen, die vor dem Schreibtisch sitzen, und
diejenigen, die hinter dem Schreibtisch sitzen, tatsächlich auf Augenhöhe miteinander kommunizieren.
({4})
Obrigkeitsstaatliches Verhalten darf da keine Rolle spielen.
Wir haben, Herr Zimmer, nach wie vor ein asymmetrisches Machtverhältnis zwischen den Jobcentern und
den Arbeitslosen. Immer noch kommen sich die Arbeitslosen in den Jobcentern wie Bittsteller vor. Deswegen
müssen wir die sozialen Bürgerrechte dringend stärken,
und wir müssen die Zumutbarkeitsregelungen ändern.
Daran führt kein Weg vorbei,
({5})
jedenfalls dann nicht, wenn wir wirklich die Potenziale
der Arbeitslosen heben wollen. Wenn wir Arbeitslose
nachhaltig in Arbeit bringen wollen, dann geht das nicht
mit Drohungen, sondern nur dann, wenn Arbeitslose
auch mitarbeiten, wenn ihre Ideen und ihre Vorstellungen in diesen Prozess einbezogen werden, wenn sie auch
einmal Nein sagen können, wenn sie eine echte Wahlmöglichkeit haben.
Ich sage Ihnen noch etwas: Natürlich gibt es auch Situationen, in denen ein Arbeitsloser und ein Fallmanager
sich so ineinander verhaken, dass es nicht weitergeht. In
diesem Fall müssen Arbeitslose sich einen anderen Fallmanager suchen können; da muss es eine Wechselmöglichkeit geben.
({6})
Ich plädiere im Übrigen dafür, dass wir in allen Jobcentern Ombudsstellen einrichten.
({7})
Ich prognostiziere Ihnen: Das wird die Zahl der Klagen,
die es derzeit vor den Arbeitsgerichten gibt, exorbitant
reduzieren. Das lohnt sich also in jeder Hinsicht.
({8})
Meine Damen und Herren, es geht um weniger Bürokratie und mehr Freiheit. Es geht um qualifiziertes Personal. Es geht um bessere und individuelle Förderung.
Am Ende geht es tatsächlich auch um mehr Geld. Solange diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, solange
wir diese Arbeitssituation in den Jobcentern haben, wie
sie sich derzeit leider immer noch darstellt, so lange wollen wir ein Sanktionsmoratorium. Wenn die Bedingungen sich bessern, dann muss es, finde ich, tatsächlich ein
Projekt auf Gegenseitigkeit werden.
Ich danke Ihnen.
({9})
Nächster Redner ist für die CDU/CSU der Kollege
Matthäus Strebl.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Wir beraten heute über den Antrag „Sanktionen bei Hartz IV und Leistungseinschränkungen bei der
Sozialhilfe abschaffen“ der Linken. Um es gleich vorwegzusagen: Die vornehmste Aufgabe des deutschen
Sozialstaats ist es, einen erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, der nicht in der Lage ist, seinen Lebensunterhalt aus eigenen Mitteln zu bestreiten, finanziell zu unterstützen. An dieser Aufgabe werden wir nach wie vor
festhalten.
Jedem kann es passieren, dass er unverschuldet in
eine Notlage gerät, und dann sollte er nicht allein zurückgelassen werden und nicht sich selbst überlassen
werden.
Wenn wir uns jetzt mit dem Kapitel 1 des Zweiten
Buches Sozialgesetzbuch befassen, müssen wir uns die
Stichwörter Fördern und Fordern als grundlegende Maßstäbe vergegenwärtigen. Neben ihrer Regelleistung, den
Kosten für Unterkunft und Heizung, können Bezieher
von Arbeitslosengeld II weitere Unterstützung erhalten.
Ich nenne hier Qualifizierungsmaßnahmen, Umschulungen, finanzielle Unterstützung beim Umzug oder beim
Führerschein und Coaching. Dies sind nur einige der
vielen Maßnahmen, die bei der Eingliederung in den Arbeitsmarkt helfen.
Aber wir müssen uns auch dem Stichwort Fordern
widmen. Dabei müssen wir uns vor Augen halten, dass
das Arbeitslosengeld II nur eine temporäre Unterstützung sein sollte und nicht zur Dauerleistung im Sinne einer Bürgerrente oder ein bedingungsloses Grundeinkommen werden darf.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, darin unterscheiden wir uns von der Antragstellerin. Der Arbeitslosengeld-II-Bezieher wird aktiv gefordert, seine Hilfsbedürftigkeit zu beenden. Allein gelassen wird er dabei
auch nicht. Unterstützung erhält er zum Beispiel durch
die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei den Jobcentern
und den Trägern. Dafür muss er Meldetermine in den
Jobcentern wahrnehmen.
Nur in einem persönlichen Gespräch können Qualifizierungsmöglichkeiten oder Stellenausschreibungen angeboten werden. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
sind bemüht, Meldeversäumnisse zu verhindern. Ein
neuer Weg ist zum Beispiel die kostenlose Erinnerung
per SMS durch das Jobcenter einen Tag vor dem Termin.
Allein im März dieses Jahres wurden fast 500 000 SMS
an Arbeitslosengeld-II-Bezieher versandt. Diese Zahl ist
bezeichnend.
Mit jeder Einladung zu einem Meldetermin erhält der
Arbeitslose auch eine Rechtsfolgenbelehrung für den
Fall, dass er nicht zum Termin erscheint.
({1})
Außerdem erfolgt bei Nichterscheinen nicht gleich eine
Kürzung der Leistung. Der Arbeitslose erhält zunächst
die Möglichkeit einer Anhörung mit einer erneuten
Rechtsfolgenbelehrung. Ihm bleibt somit offen, die Entschuldigungsgründe zu benennen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, entgegen
der weitverbreiteten Auffassung werden Sanktionen
nicht willkürlich und plötzlich erlassen. Liegt kein wichtiger Grund vor und die Sanktion wird erlassen, hat das
nicht zur Folge, dass der Arbeitslose keine Unterstützung mehr bekommt. Er kann dann immer noch ergänzende Sachleistungen beantragen.
Außerdem kann von dem Leistungsbezieher erwartet
werden, dass er alles Mögliche unternimmt, um sich aus
dem Leistungsbezug zu lösen. Dazu gehört eben auch,
dass man sich eine Arbeit sucht, die nicht immer den eigenen Fähigkeiten oder Vorlieben entspricht. Aber auch
hier werden Grenzen der Zumutbarkeit nach § 10 des
Zweiten Buches Sozialgesetzbuch beachtet. Jeder Leistungsbezieher hat die Möglichkeit, zunächst eine nicht
so beliebte Tätigkeit aufzunehmen, sich aber trotzdem
weiterhin auf andere Jobs zu bewerben. Somit kann eine
Verfestigung der Langzeitarbeitslosigkeit verhindert
werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, eine Tätigkeit ist zum Beispiel dann nicht zumutbar, wenn jemand
körperlich dazu nicht in der Lage ist oder wenn durch die
Ausübung der Arbeit die Erziehung des Kindes gefährdet wäre.
Entgegen der Auffassung der Linken teilen wir die
Ansicht, dass Sanktionen weder gegen das Grundrecht
der Berufswahlfreiheit noch gegen das Grundrecht auf
Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums verstoßen. Auch bleibt es mir unverständlich,
welchen Weg die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der
Jobcenter wählen sollen, wenn sich diejenigen, die Leistungen beziehen, jeglicher Mitwirkung entziehen.
({2})
Bei aller Kritik, meine sehr verehrten Damen und
Herren, die an den Sanktionen geäußert wird, darf eines
nicht vergessen werden: Leistungen nach dem Zweiten
Buch Sozialgesetzbuch sind steuerfinanzierte Leistungen, die von der Allgemeinheit aufgebracht werden. Die
Allgemeinheit kann erwarten, dass jemand, der vorsätzlich und in Kenntnis aller Rechtsfolgen nicht dazu beiträgt, seine Hilfsbedürftigkeit zu überwinden, mit Konsequenzen rechnen muss. Das ist auch die Grundlage der
sozialen Marktwirtschaft.
({3})
Im Koalitionsvertrag haben wir vereinbart, die Regelungen und auch die Praxis der Sanktionen im SGB II
auf ihre Wirkung zu überprüfen. Dieser Aufgabe werden
wir uns effizient widmen. Wir wollen im Herbst erste Ergebnisse vorlegen.
Zusammenfassend kann zum Schluss gesagt werden:
Im Ergebnis halten wir an Sanktionen und Leistungseinschränkungen im Zweiten und Zwölften Buch Sozialgesetzbuch fest. Wir werden deshalb den Antrag der Linken ablehnen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Vielen Dank, Herr Kollege Strebl. - Für die Sozialdemokraten spricht jetzt die Kollegin Daniela Kolbe.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Ich finde, über Sanktionen zu sprechen, ist
mehr als sinnvoll. Immerhin sprechen wir auch über einen zum Teil sehr massiven Eingriff in das Leben von
Menschen. Deshalb lohnt die Reflexion darüber, auch
als Gesetzgeber, ob wir mit dem Sanktionsregime, das
wir installiert haben, die Ziele wirklich in dem Maße erreichen, wie wir uns das vorstellen.
Auch deshalb gibt es derzeit eine Bund-Länder-Kommission mit dem Titel - ob er eingängig ist, darüber kann
man sich streiten - „Rechtsvereinfachung im SGB II“.
Diese Kommission beschäftigt sich auch mit dem Thema
Sanktionen. Wir haben am Mittwoch im Ausschuss für
Arbeit und Soziales einen ersten Zwischenbericht gehört, der sich aus meiner Sicht sehr positiv anlässt. Allerdings wird dort nicht die Abschaffung aller Sanktionen
gefordert oder vorgeschlagen, und das ist auch gut so.
Sehr wohl aber deutet sich an, dass die verschärften
Sanktionen gegenüber U25, also unter 25-Jährigen, kritisch gesehen werden. Das sehen wir als Sozialdemokraten ähnlich. Es gibt aus meiner Sicht keine wirklich guten Gründe, warum unter 25-Jährige härter bestraft
werden sollten als Ältere. Ich finde auch, dass dies Sanktionen als erzieherische Maßnahme ein ganzes Stück
überbewertet. Ich bezweifle, dass möglichst scharfe
Sanktionen dazu führen, dass sich bei jungen Erwachsenen Verhaltensänderungen einstellen oder dadurch gar
eine Nachsozialisation möglich wird. Scharfe Sanktionen sind dann womöglich gerade eine Maßnahme, die
Türen nicht öffnet, sondern zuschlägt.
Die verschärften Sanktionen haben zudem oft krasse
Auswirkungen auf das reale Leben der Betroffenen. Sie
stehen häufig von einem Tag auf den anderen ohne Ressourcen für alltägliche Dinge da. Die verschärften Sanktionen widersprechen auch dem gesellschaftlich eigentlich weitverbreiteten Ansatz, dass Menschen am Anfang
ihrer Berufskarriere eher eine zweite Chance verdient
haben, als sofort abgestraft zu werden. Deswegen finde
ich den Ansatz der Bundesregierung richtig, einen anderen Weg zu wählen, nämlich diese jungen Menschen gezielt zu fördern und eine viel stärkere Betreuung durch
die Behörden zu organisieren.
Wir orientieren uns dabei an den sehr guten Erfahrungen, die unter SPD-Führung in Hamburg gemacht wurden, und an den dort sehr erfolgreich erprobten Jugendberufsagenturen. Dort gibt es eine enge Zusammenarbeit
zwischen allen Behörden, die damit zu tun haben: zwischen Jugendämtern, Schulen, Jobcentern, Arbeitsagenturen und vielen anderen mehr. Ziel ist ganz klar: Niemand soll durchs Netz fallen, weder nach der Schulzeit
noch dann, wenn es mit der Ausbildung schiefgegangen
ist und man sie abgebrochen hat, noch nach Beendigung
einer Ausbildung. Niemand soll also durchs Netz fallen.
Das ist genau der richtige Ansatz.
({0})
Im besten Fall führt das dazu, dass die jungen Menschen
die Behörden eben nicht mehr als Gegner, wie es manchmal mitunter der Fall ist, sondern als Partner wahrnehmen. Uns als Sozialdemokraten erscheint es zielführender, genau diesen Zustand zu erreichen.
Sanktionen sind allerdings grundsätzlich notwendig.
Wir lehnen die radikale Abschaffung aller Sanktionen
ab. Oft wird in diesem Zusammenhang von den Gegnern
der Sanktionen eine Studie aus NRW ins Feld geführt
- die ich übrigens sehr interessant finde -, die auch im
Antrag erwähnt ist. Man sucht sich aus Studien ja immer
gerne das heraus, was passt. Es stehen aber auch einige
andere Aspekte darin, zum Beispiel, dass die Tatsache,
dass Leistungen des Staates an bestimmte Pflichten gebunden sind, auch bei den Betroffenen auf Zustimmung
stößt und dass der überwiegende Teil der Betroffenen
weiß, warum eine Sanktion gegen ihn oder sie ergangen
ist. 80 Prozent der Betroffenen haben zudem auch die
Rechtsschutzbelehrung verstanden. Sie wissen also, welche Folgen ihr Handeln hat. Am wichtigsten finde ich:
Es gibt ein grundsätzliches Verständnis der Betroffenen
dafür, dass es Sanktionen gibt und warum es sie gibt.
Wir halten Sanktionen als grundsätzlich vorhandenes
Mittel für notwendig, und daran werden wir als SPD
auch weiter festhalten. Trotzdem sagen wir ganz klar:
Veränderungen in diesem Bereich sind notwendig. Gerade wenn es um den KdU-Bereich - Wohnung, Miete,
Heizung - geht, sind Sanktionen oft kontraproduktiv.
Wenn jemand erst einmal obdachlos geworden ist, sind
viel größere Maßnahmen und Ressourcen notwendig.
Ganz grundsätzlich halte ich noch einmal fest: Zielstellung ist, dass die Jobcenter als Partner gesehen werden. Dazu gehört, dass die Jobcenter die Kundinnen und
Kunden als individuelle Personen wahrnehmen können
und wahrnehmen. Das wird zunehmend schwieriger.
Ich will noch einen Aspekt einführen, der noch gar
nicht richtig zur Sprache gekommen ist. Wir erleben
auch eine Veränderung bei den Arbeitsuchenden. Ein
immer größerer Anteil der Kundinnen und Kunden der
Jobcenter ist durch wirklich große Schwierigkeiten belastet und hat es auf dem Arbeitsmarkt sehr schwer. Das
hat unterschiedlichste Gründe: persönliche Gründe, gesundheitliche Gründe, psychologische Schwierigkeiten,
Suchtprobleme, Verschuldung. Ich denke, dass wir alle
mit unserem gesunden Menschenverstand sagen: Bei
dieser Klientel ist einfach nur ein Mehr an Sanktionen
womöglich nicht der richtige Weg; vielmehr sind hier
Verbesserungen in ganz anderer Weise vonnöten. Ich
rede allerdings nicht von der Abschaffung von Sanktionen, sondern es geht zum Beispiel darum, eine bessere
Betreuung durch einen besseren Betreuungsschlüssel zu
organisieren. Die Jobcenter müssen in der Lage sein, auf
jeden Einzelnen wirklich individuell zugehen zu können.
Dazu brauchen sie die notwendigen Ressourcen, aber sicherlich auch die richtige Grundhaltung, um jeden, der
kommt, als Individuum zu betrachten. Daneben brauchen wir eine bessere Zusammenarbeit der verschiedenen Träger in diesem Bereich usw. usf.
Zum Schluss will ich sagen: Das ist ein sehr wichtiges
Thema. Reformen sind nötig, allerdings keine pauschale
Ablehnung von Sanktionen. Insofern lehnen wir an dieser Stelle nur Ihren Antrag pauschal ab.
Wir werden die Diskussionen anhand eines Gesetzentwurfs, der noch vorgelegt wird - wir haben die BundLänder-Kommission ja nicht zum Spaß eingesetzt -,
fortsetzen. Nach der Sommerpause werden wir dann viel
Gelegenheit haben, miteinander zu diskutieren. Ich freue
mich darauf.
({1})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist die Kollegin
Christel Voßbeck-Kayser, CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist eigentlich schon alles gesagt worden, nur noch nicht
von mir.
({0})
Vielleicht ist es ja auch gut, einmal aus NRW-Sicht über
dieses Thema zu reden.
Bis September letzten Jahres habe ich fast 30 Jahre
lang im Sozialpsychiatrischen Dienst gearbeitet - auch
in Zusammenarbeit mit den Jobcentern. Ich fühle mich
durch Ihren Antrag, Kolleginnen und Kollegen der Linken, schon auch angegriffen und verärgert. Die Arbeit,
die in den Jobcentern von den Mitarbeitern geleistet
wird, finde ich hier nicht ausreichend gewürdigt.
({1})
Ich habe in den letzten Wochen öfter hier gestanden und
habe auch immer wieder negative Äußerungen gehört.
Alles wird kaputtgeredet. Das ist wieder Stimmungsmache vor anstehenden Landtagswahlen.
({2})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Kipping?
Nein, ich würde gerne meine Rede zu Ende führen.
Vielleicht erledigt sich die Frage dann von selbst.
Zur Sache. Die Gewährung von Leistungen nach dem
SGB II basiert auf dem Solidaritätsprinzip. Dieses Prinzip unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens hat sich
seit Jahrzehnten bewährt. Das ist kein einseitiges System, keine Einbahnstraße. Jedes Mitglied in unserer
Gesellschaft hat Rechte und Pflichten. Ja, in der Gewährung von Leistungen nach dem SGB II sind Einschränkungen aufgeführt. Aber es kann und wird abgewogen.
Es wird nicht willkürlich gekürzt. Es gibt unterschiedliche zeitliche Abläufe, es gibt auch unterschiedliche
finanzielle Abstufungen.
Die Möglichkeit, Leistungen zu mindern, ist sehr
wohl ein arbeitsmarktpolitisches Instrument. Es ist auch
ein pädagogisches Instrument. Mir haben in meiner beruflichen Tätigkeit viele Kunden rückgemeldet: Ja, die
Kürzung war ein Schock. Sie hat wehgetan. Aber sie hat
mich auch wachgerüttelt. - Die Kürzung entmutigt nicht,
und die Menschen werden auch nicht alleine gelassen.
Das Beratungs- und Hilfesystem in Deutschland ist mit
eines der größten. Wer will, kann sich mit den Mitarbeitern ein entsprechendes Beratungssystem aussuchen.
({0})
Die Studie des Institutes für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung ist schon genannt worden. Es wird darin
eindeutig aufgezeigt, dass eine Kürzung, die dazu dient,
Fehlanreizen im System der Arbeitslosenversicherung
entgegenzuwirken, als Maßnahme sehr wohl Früchte
trägt und als Sanktion dazu führt, dass die Leute in die
Gänge kommen. Somit ist Ihre Aussage widerlegt, dass
Sanktionen nicht zu Verhaltensänderungen führen würden. Sie tun es sehr wohl.
({1})
Damit die zur Verfügung stehenden Arbeitsmarktinstrumente, die den Jobcentern zur Verfügung stehen,
Wirkung zeigen können, bedarf es nun einmal eines regelmäßigen Kontaktes zwischen den Leistungsbeziehern
und den Jobcentermitarbeitern, sonst können die eingesetzten Maßnahmen nicht wirken.
Leistungsempfänger erhalten nicht nur finanzielle
Unterstützung, sondern sie werden auch aktiv unterstützt. Diese aktive Unterstützung heißt Fallmanagement; darüber haben wir uns gestern im Rahmen einer
Debatte zu diesem Thema ausgetauscht. Hier sitzen die
Mitarbeiter der Jobcenter mit Mitarbeitern der Beratungsstellen - ich kann Ihnen das, wie gesagt, aus meinem eigenen Erleben und aus meiner beruflichen Tätigkeit versichern - zusammen und suchen gemeinsam
nach dem richtigen Instrument für die Zusammenarbeit
mit den Kunden.
Im Rahmen des Fallmanagements, der aktiven Unterstützung, gibt es verschiedene Formen. Es gibt die Qualifizierung und Unterstützung zur Eingliederung, sei es
ein Bewerbungstraining, sei es eine fachspezifische Weiterbildung, seien es Arbeitsgelegenheiten in unterschiedlichen Gewerken zur Berufsorientierung.
Die Sanktionen wegen Meldeversäumnissen - der
häufigste Grund für Sanktionen - sind angesprochen
worden. Seit dem vergangenen Jahr versenden die Jobcenter Termin-SMS. Von Januar bis Oktober letzten Jahres waren das 430 000 Termin-SMS. Ich frage Sie, Kolleginnen und Kollegen: Welcher Arbeitnehmer erhält
diese Form der Unterstützung von seinem Arbeitgeber?
({2})
Wie gesagt, die Personen mit Vermittlungshemmnissen, die wirklich auf Unterstützung angewiesen sind, bekommen diese Unterstützung auch. Ich kann doch nicht
sagen: Es gibt in Deutschland kein Hilfe- und FürsorgeChristel Voßbeck-Kayser
system. - Die Sache ist eher die: Ich muss dort hingehen. Darüber hinaus wird auch aufsuchende Hilfe geleistet.
Es werden nicht einfach Sanktionen ausgesprochen und
dann, plumps, steht auf einmal keiner mehr als Ansprechpartner zur Verfügung. Das ist Unsinn. Das
stimmt so nicht.
Das Prinzip des Förderns und Forderns, insbesondere
das Prinzip des Förderns, habe ich anhand der gerade genannten Beispiele sehr deutlich gemacht. Aber es darf
doch auch gefordert werden, dass eine Person mithilft,
die eigene Situation nach ihren Möglichkeiten zu verbessern.
({3})
Wenn Sie die Abschaffung von Sanktionen fordern,
dann erklären Sie uns bitte, was Sie einer Krankenschwester, einem Handwerker oder einem Fabrikarbeiter
sagen und damit all denen, die jeden Tag frühmorgens
aufstehen, zur Arbeit gehen, ihrer Arbeit nachgehen und
vielleicht auch noch zwischendurch Familienmanager
sind,
({4})
also Kinder zur Kita, zur Schule, zu Freunden, zum Kinderarzt oder zum Vereinssport bringen, und die hart für
ihren Beitrag zur Sozialversicherung arbeiten. Wie erklären Sie ihnen, dass ihre Sozialversicherungsbeiträge
per Gießkannenprinzip verteilt werden, ohne etwas zu
fordern?
({5})
Dieses Gießkannenprinzip können Sie niemandem erklären. Es widerspricht auch allen Grundsätzen unseres
Zusammenlebens und der sozialen Gemeinschaft in unserem Land. Das alles hat nichts mit einer Solidargemeinschaft zu tun.
({6})
Ein anderer Aspekt: Hat nicht jeder, der einen Beitrag
für die Solidargemeinschaft leistet, indem er Beiträge
einzahlt, das Recht, dass mit seinem Beitrag verantwortungsvoll umgegangen wird? Ich fände es deshalb wesentlich hilfreicher, Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Die Linke, wenn Sie statt wiederholter Showanträge
zu Sanktionen bei Hartz IV einmal einen konstruktiven
Antrag einbringen würden, der einer Solidargemeinschaft gerecht wird.
Wir haben im Koalitionsvertrag - meine Vorrednerinnen und Vorredner haben es schon erwähnt - gerade die
junge Generation berücksichtigt. Wir wollen uns den
jungen Menschen widmen und Lücken zwischen der Jugendhilfe und anderen Hilfesystemen weiter reduzieren.
({7})
Lassen Sie uns deshalb gemeinsam konstruktiv an Lösungen und Ideen arbeiten,
({8})
um den Menschen zu helfen, in Arbeit zu kommen und
damit eine geregelte Tagesstruktur zu haben.
({9})
Sie stellen mit Ihrem Antrag quasi die Jobcentermitarbeiter unter den Generalverdacht, nichts Besseres zu
tun haben, als den Leistungsbeziehern immer nur
Schlechtes zu wollen und sie zu sanktionieren. Das
stimmt einfach nicht.
Eben wurde es schon angesprochen: Worum geht es
heute Mittag? Es geht um 3 Prozent der Leistungsbezieher.
({10})
- Doch, das ist so. Der Jahresdurchschnitt der Leistungsberechtigten mit mindestens einer Sanktion lag im vergangenen Jahr bei 147 000 Personen. Das sind die genannten 3 Prozent. 97 Prozent der Leistungsberechtigten
sind nicht von Sanktionen betroffen.
({11})
Die Mehrheit der Leistungsberechtigten verhält sich verantwortungsvoll. Auch das Instrumentarium der Leistungsminderung wird von den Jobcentermitarbeitern
nicht ausgenutzt.
({12})
Ihr Antrag vermittelt den Eindruck, es gäbe eine generelle Ungerechtigkeit im gesamten Leistungsbereich
des SGB II. Ich wünsche mir, wie sicherlich viele andere
Kollegen auch, dass Sie aufhören, Einzelfälle, die nicht
gut laufen, als allgemeingültig hinzustellen und damit
ein Versagen des ganzen Hilfesystems zu unterstellen.
Denn dies entspricht in keiner Weise der Realität.
({13})
Deshalb lehnen wir auch diesen Antrag, den Sie eingebracht haben, ab. Denn er verstößt gegen den Grundsatz der Solidargemeinschaft und torpediert das Prinzip
der Solidarität.
Vielen Dank.
({14})
Bevor der Kollege Paschke gleich das Wort ergreifen
wird, hat die Kollegin Kipping die Möglichkeit zu einer
Kurzintervention.
({0})
Frau Voßbeck-Kayser, es ist ein beliebtes Spiel Ihrerseits: Wir kritisieren die gesetzliche Regelung, und Sie
unterstellen uns, wir würden die Arbeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht würdigen. Ich möchte Sie
an den Beginn meiner Rede erinnern: Ich habe gleich zu
Anfang den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Respekt
und Anerkennung ausgesprochen.
({0})
Meine Fraktion hat darum gekämpft, dass die vielen
befristeten Stellen bei der Bundesagentur in unbefristete
Stellen umgewandelt werden. Wir haben gegen Kürzungen bei der Bundesagentur für Arbeit gekämpft, die den
Mitarbeitern das Leben schwermachen. Wir wissen von
vielen Mitarbeitern, dass sie selber darunter leiden, dass
sie laut Gesetz verpflichtet sind, Sanktionen umzusetzen,
weil sie ansonsten mit arbeitsrechtlichen Konsequenzen
zu rechnen haben. Das ist nicht nur mein Eindruck.
Meine Kollegin Zimmermann ist in verschiedenen Beiräten von Jobcentern tätig und hat das ebenfalls bestätigt. Deswegen sage ich noch einmal: Stellen Sie sich Ihrer politischen Verantwortung, und hören Sie auf, sich
hinter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu verstecken!
({1})
Weil Sie mir unterstellt haben, dass ich immer nur auf
Einzelfälle verweise, will ich daran erinnern - das sind
die offiziellen Zahlen der Regierung -: Rund 40 Prozent
der Widersprüche gegen Sanktionen wird - je nach Jahr in Gänze oder teilweise stattgegeben. Das heißt, allein
bei den falschen Sanktionen reden wir nicht über Einzelfälle, sondern über 40 Prozent. Es ist also etwas grundlegend falsch. Da muss man ran.
({2})
Frau Kollegin Voßbeck-Kayser, möchten Sie darauf
erwidern? - Das ist nicht der Fall.
Dann hat jetzt der Kollege Markus Paschke, SPD, das
Wort.
({0})
Nur noch nicht von mir. - Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es macht keinen Sinn, wenn
wir uns über den Prozentsatz der Betroffenen streiten.
Gerade bei diesem Thema geht es um Recht, Gerechtigkeit und Gerechtigkeitsempfinden. Da zählt für mich im
Zweifel jeder Einzelne.
Als ich Ihren Antrag gelesen habe, habe ich sofort den
Eindruck gewonnen - auch wenn Sie das in der heutigen
Debatte immer wieder abstreiten -: Es geht darum, das
bedingungslose Grundeinkommen light einzuführen.
({0})
Die Diskussion in der Gesellschaft darüber ist erst am
Anfang. Es gibt aber auch viele, die behaupten, sie sei
schon zu Ende. Jedenfalls finde ich, dass die Einführung
eines solchen Einkommens durch die Hintertür gegen
die gesellschaftlichen und politischen Mehrheiten erfolgen würde. Das ginge auch meilenweit an den Interessen
der Menschen vorbei.
Stattdessen sollten wir uns die Frage stellen: Was
wollen wir denn mit dem SGB II und den Sanktionen erreichen? Wollen wir Erwachsene erziehen, oder wollen
wir alle motivieren und befähigen, am gesellschaftlichen
Leben - dazu gehört maßgeblich auch die Erwerbsarbeit teilzuhaben? Das führt wiederum zu der Frage: Wie erreichen wir dieses Ziel am besten? Sind Sanktionen das
beste Mittel, und wenn ja, wann und in welcher Höhe
sind sie angemessen und akzeptiert?
({1})
Lassen Sie mich das anhand eines Beispiels verdeutlichen. Ein junge Frau unter 25 Jahren bezieht seit Jahren
ununterbrochen Leistungen nach dem SGB II. Trotz
Hauptschulabschluss stellt das Amt immer wieder fest,
dass sie keine Ausbildungsreife hat. Verschiedene Fördermaßnahmen konnten sie weder in eine Ausbildung
noch in eine Anstellung bringen. Hinzu kam, dass die
Mutter sie aus dem gemeinsamen Haushalt geworfen
hatte und die junge Frau daraufhin zu ihrem Vater in eine
Einzimmerwohnung zog. Die Geschichte der jungen
Frau lässt vermuten, dass sie Schwierigkeiten hat, Inhalt
und Bedeutung amtlicher Schreiben zu verstehen und
den Aufforderungen Folge zu leisten.
Zwischen ihr und dem Jobcenter wurde dann eine
Eingliederungsvereinbarung getroffen. Die darin enthaltenen Auflagen hat sie nicht vollständig erfüllt. Als Reaktion gab es seitens des Jobcenters eine Sanktion: Der
Leistungsanspruch wurde gemindert; die junge Frau bekam weniger Geld. Für sie brach die Welt zusammen.
Sie hat keinen Widerspruch eingelegt, aber auch keine
Einladung des Jobcenters mehr angenommen. Kurz und
gut: Es dauerte nicht lange, und ihr Leistungsanspruch
wurde auf null herabgesetzt. Sie bekam also nicht nur
weniger, sondern gar kein Geld. Auch die Mittel zur Deckung der anteiligen Miete für die Einzimmerwohnung
und der Heizkosten wurden gekürzt. Damit drohten Vater und Tochter als Bedarfsgemeinschaft die Wohnung
zu verlieren.
Das ist zwar ein Einzelfall, aber wir finden sicher in
jedem Wahlkreis ähnliche Fälle. Es ist eine völlig unangemessene Bestrafung eines Vaters, der seinen Beitrag
leisten wollte, um seiner Tochter zu helfen. Deswegen ist
das für mich ein gutes Beispiel, das zeigt: Es gibt Bedarf, das bestehende System zu verändern.
({2})
Ein erster Schritt hierzu wäre für mich eine verständliche Sprache in den Schreiben an die Betroffenen.
({3})
Anträge und Bescheide sind rechtlich einwandfrei, aber
für Laien häufig völlig unverständlich verfasst.
({4})
Wie sollen Menschen darauf reagieren, wenn sie nicht
oder nur teilweise verstehen, was man eigentlich von ihnen will? Haben Sie schon einmal das Vergnügen gehabt, ein solches Schreiben jemandem erklären zu müssen, der es nicht verstanden hat? Manche Sätze muss
auch ich zwei- oder dreimal lesen. Das ging mir allerdings bei dem vorliegenden Antrag ähnlich.
({5})
Zweitens. Bei der Ausgestaltung der Sanktionen besteht für mich Handlungsbedarf. Ich finde, Gelder für
Miete und Heizung dürfen nicht gekürzt werden.
({6})
Wir wollen Teilhabe organisieren, nicht Wohnungslosigkeit.
Drittens. Die Verhältnismäßigkeit des bürokratischen
Aufwands müssen wir überprüfen. Macht es denn wirklich Sinn, alle sechs Monate einen neuen Antrag zu stellen? Ich finde, wir sollten weniger verwalten und mehr
unterstützen und fördern.
({7})
Viertens. Wir brauchen mehr Klarheit und Verständlichkeit in den Regeln zum SGB II. Wir wollen nicht
Richter und Rechtsanwälte beschäftigen, sondern Menschen zur Teilhabe befähigen.
({8})
Ich stelle also fest: Die Sanktionspraxis bedarf einer
gründlichen und nachhaltigen Überprüfung. Ich sage bewusst: Überprüfung. Denn bei den Leistungen nach dem
SGB II handelt es sich um einen Interessenausgleich
zwischen Leistungsempfängern und Leistungsgebern.
Die Leistungsgeber sind wir alle; das ist unsere Gesellschaft. Ich denke, unsere Gesellschaft hat einen Anspruch darauf, dass sich jeder im Rahmen seiner Möglichkeiten bemüht, diese Unterstützung zu beenden.
({9})
Wir haben aber auch die Pflicht, diejenigen, die sich
bemühen, zu unterstützen, egal in welchem Bereich
diese Unterstützung benötigt wird. Ich persönlich habe
den Eindruck, dass in den vergangenen Jahren das Fordern gegenüber dem Fördern deutlich die Oberhand gewonnen hat.
({10})
Hier muss wieder eine Balance geschaffen werden.
({11})
Deshalb packen wir die Themen in der Großen Koalition an.
({12})
Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, in einem ersten Schritt die gesonderten Sanktionen für junge Menschen bis 25 Jahre zu überprüfen. Unterschiedliche Strafen für jemanden, der 25 Jahre alt ist, und jemanden, der
26 Jahre alt ist, sind für mich und für ganz viele Betroffene überhaupt nicht nachvollziehbar.
Eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe erarbeitet bereits
seit letztem Jahr sowohl für den Bereich Rechtsvereinfachung als auch für den Bereich Sanktionen konkrete
Vorschläge für Verbesserungen. Erste Ergebnisse erwarten wir noch in diesem Sommer. Danach werden wir uns
hier im Bundestag mit diesen Vorschlägen auseinandersetzen. Ich finde, es ist ein gutes parlamentarisches Verfahren, wenn man erst einmal den Rat der Experten abwartet, bevor man politische Entscheidungen trifft.
Gute politische Arbeit bedeutet für uns: motivieren
und fördern statt alleinlassen, einfache und verständliche
Regeln statt Bürokratiemonster - und vor allem: kümmern statt verwalten. Bei allem, was wir hier in die
Wege leiten, sollten wir immer die Menschen in den
Mittelpunkt stellen.
In diesem Sinne danke ich für die Aufmerksamkeit
und wünsche allen frohe Pfingsten.
({13})
Abschließender Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Kai Whittaker, CDU/CSU, dem ich
hiermit das Wort erteile.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Heute reden wir über
Sanktionen für Leistungsempfänger - ein Thema, liebe
Linke, das Ihnen am Herzen liegt. Seit Jahren stellen Sie
Anträge hierzu. Man sollte meinen, dass Sie sich mit diesem Thema sehr gut auskennen. Ich saß also mit Ihrem
Antrag da und habe überlegt, wie ich das Ganze am besten kritisieren kann. Zwei Dinge ließen mich dabei nicht
mehr los:
Das eine war in der Tat die Reflexartigkeit meiner
Handlung. Ich habe gerade erst hier angefangen, und
schon habe ich mir ein Ritual dieses Hauses angewöhnt:
Da flattern Anträge von der Opposition herein, und noch
bevor man sie gelesen hat, weiß man, dass man sie ablehnen wird. Der Grund ist einfach: Trotz vielleicht wahrem Kern glänzen viele der Anträge durch unrealistische
Forderungen. Das ist aus Sicht der Opposition nicht
wirklich schlimm; denn für sie muss Politik nicht realistisch sein, sondern großzügig klingen. Wenn die am
Steuer aussehen wie zynische Geizhälse, dann wird das
gern in Kauf genommen, quasi als Kollateralschaden Ziel erreicht!
Unsichtbar für die Außenstehenden werfen dann die
zuständigen Abgeordneten die Selbstverteidigungsmaschinerien an: Da sitzen dann knapp eine Woche lang
ungefähr 50 emsige Mitarbeiter in unseren Büros und
googeln sich die Finger blutig. Man will alles wissen:
Was für Anträge hat die Opposition in den letzten
100 Jahren zu dem Thema gestellt? Irgendetwas Peinliches? Gibt es irgendwo Widersprüche?
({0})
Hauptsache, man kann sie bloßstellen. - Eine hausinterne Detektei hätte wahrscheinlich mehr zu tun als unser Wissenschaftlicher Dienst.
({1})
Diebisch freut man sich dann über jede Verwundbarkeit, die da auftaucht, und Suchergebnisse verwandeln
sich in wahre Trefferlisten. Manchmal macht so ein Treffer ja auch Spaß. Auch ich bekenne mich schuldig im
Sinne der Anklage.
Doch, meine Damen und Herren, ich frage Sie ganz
im Ernst: Ist das die Existenzberechtigung der Opposition?
({2})
Anträge zu schreiben, bloß damit die regierenden Parteien schlecht dastehen? Sie hauen hier ein Ding raus mit
meterlangen Begründungen - für zwei magere Forderungen.
Klar, es wäre toll, wenn die Sanktionen wegfielen.
({3})
Da freuten sich alle Betroffenen - für fünf Minuten.
Aber aus der Arbeitslosigkeit, aus der sozialen Not holen
Sie die Leute damit nicht heraus.
({4})
Wie Sie das Problem lösen wollen, dazu sagen Sie
nichts.
({5})
Wem wäre mit Ihrem Antrag denn wirklich geholfen?
Doch nur Ihrem Profil! Dafür verstopfen Sie den halben
Ausschuss, während wichtige Arbeit liegen bleibt. Das
ist weit unter dem Potenzial, das parlamentarische Entscheidungsfindung leisten kann. Sicher, die eigentliche
Arbeit findet in den Ausschüssen statt. Aber genau dieser Moment im Plenum, an dem Sie oder ich hier stehen
und reden, das ist der Moment, in dem die wenigen Zuschauer, die wir hier noch haben, den Bundestag erleben.
Lassen Sie uns den Zuschauern doch wirklich einmal etwas bieten statt der sitzungstäglichen Show,
({6})
die wir hier veranstalten.
({7})
Vielleicht wollen uns die Wählerinnen und Wähler etwas
sagen, wenn sie eine Partei mit dem Slogan „Inhalte
überwinden“ wählen. Die Partei mit diesem Slogan hat
bei der letzten Europawahl nämlich 180 000 Stimmen
bekommen.
Ich will hier nicht den Moralapostel spielen; nach so
kurzer Zeit der Zugehörigkeit steht mir das auch nicht
zu. Aber wir sollten aufhören, uns mit uns selbst zu befassen, und wir müssen konstruktiv zusammenarbeiten.
Liebe Linke, bitte geben Sie sich da ein bisschen mehr
Mühe.
Die zweite Sache, die mir auffiel, klang zum Teil
schon durch. Das Thema Sanktionen ist nur ein Bruchteil eines großen Problems, das wir alle gemeinsam tragen: Arbeitslosigkeit. Bei diesem Thema hatte ich,
ehrlich gesagt, gar keine Lust, Ihren Antrag auseinanderzupflücken und in Definitionsorgien zu verfallen.
({8})
Es bringt doch niemanden weiter, ständig Scheindiskussionen über dieses Thema zu führen. Ich bin überzeugt,
dass unsere Gesellschaft hier eine Großbaustelle ignoriert.
({9})
Lassen Sie uns wirklich einmal über das Thema Arbeitslosigkeit reden. In der Tat werden manche unserer
Gesetze oder auch deren Ausführungen der Realität
nicht gerecht. Fest steht: Bei der Arbeitslosigkeit warten
eine Menge Probleme auf uns. Wenn wir die Langzeitarbeitslosen in den Blick nehmen, dann sehen wir Folgendes: Akribisch verfolgen wir da die Regelverstöße.
Manchmal verlieren wir die aus dem Blick, die statt
komplizierter Regeln Hilfe bräuchten. Diesen Menschen
müssen wir ein besseres Angebot machen.
({10})
Wir bieten ihnen momentan nicht sehr viel außer Beschäftigungsprogrammen, die eher Ablenkungsmanövern gleichen. Damit geben wir in der Tat eine halbe
Million Menschen in diesem Land einfach auf.
Wir müssen unsere Kriterien der Realität anpassen.
Wir brauchen Regeln, denen die Arbeitslosen gerecht
werden können. Versuchen Sie einmal, einen Ball in einen Briefkasten zu bekommen: Da können Sie drücken,
so fest Sie wollen, das wird nicht passen. Genauso ist es
manchmal mit unseren Sozialgesetzen, die Vielfalt keinen Raum lassen. Es ist eine Illusion, zu glauben, dass
wir Menschen mit unterschiedlichsten Problemen
schnell in den ersten Arbeitsmarkt bringen können. Und
eine bessere Bastelstunde ist auch nicht die Lösung. Wir
sollten einsehen, dass manch einer nur langfristig wieder
zum Arbeitsmarkt findet und wir eine Arbeitsvermittlung brauchen, die Wirtschaft, sozialpädagogische Betreuung und Integrationsbetriebe miteinander verzahnt.
Arbeitslosigkeit macht krank; das wissen wir. Wir
wissen ebenfalls, dass Sanktionen, wie wir sie jetzt haben, nicht so effizient sind, wie wir uns das wünschen,
dass manche jungen Menschen Schwierigkeiten bekommen und aus dem System auch verschwinden, bis sie
vielleicht auf der Straße oder gar im Gefängnis wieder
angespült werden.
({11})
Aus rechtlicher und aus volkswirtschaftlicher Perspektive müssen wir dieses System tatsächlich in einigen Bereichen überdenken.
({12})
Da wir gerade bei der Wirtschaft sind, möchte ich
gern einen Vorschlag machen: Warum nicht auch Anreize setzen? Eine Menge an Belegen deutet darauf hin:
Mit einer durchdachten Anreizstruktur schafft man Motivation und Ziele für die, denen keiner mehr etwas zutraut. Man kann, wenn man will, sanktionieren ohne die
ganzen negativen Effekte. Wo wirkliche Belohnungen
gegeben werden, können wir sie auch wieder nehmen.
Fazit: Wir dürfen die Leute nicht einfach so abschreiben. Unsere Gesetzgebung und unsere Verwaltungsstrukturen müssen Möglichkeiten schaffen, haushaltsgerecht und bedürfnisgerecht zu fördern.
Ein weiteres Problem, meine Damen und Herren,
sehe ich bei der Messung unserer Ergebnisse. Die Bundesagentur kann mir zum Beispiel nicht sagen, wie lange
ein Langzeitarbeitsloser insgesamt unter dem System
des ALG II betreut wurde.
({13})
Wenn jemand zum Beispiel sieben Wochen krank ist,
fängt seine offizielle Betreuungsdauer wieder bei null
an. Das halte ich wirklich für absurd. So kann der Bundestag, so können wir nicht effektiv sehen, wie unsere
Maßnahmen wirken. Für ein klares Bild darüber, wie erfolgreich wir sind, brauchen wir bessere Erfolgskriterien, transparentere Daten und das gesammelte Knowhow all jener, die sich mit Arbeitslosen beschäftigen.
Nachdem wir angefangen haben, unsere Arbeitslosen
in den Agenturen und Jobcentern „Kunden“ zu nennen,
sollten wir sie nun auch so behandeln und sie in den Mittelpunkt unserer Bemühungen stellen. So könnten wir,
wenn wir uns denn dafür entscheiden, Politik zur Dienstleistung für den Bürger machen - eine Sichtweise, die
der britischen Verwaltungsstruktur übrigens Millionen
einspart. Denn wenn ich den Kunden im Blick habe,
schaffe ich ein Produkt, das jeder versteht, das einfach
wirkt und die versprochene Leistung bringt.
Aber konkret noch einmal zu Ihrem Antrag, liebe
Linke. Sie haben vielleicht gemerkt: Den innersten Kern
Ihres Antrags zu den Sanktionen habe ich gehört. Ablehnen muss ich Ihren Antrag trotzdem. Lassen Sie mich im
Geiste der Großen Koalition hier einen SPD-Politiker,
Kurt Schumacher, zitieren:
({14})
Das Wesen der Opposition ist der permanente Versuch, an konkreten Tatbeständen mit konkreten
Vorschlägen der Regierung und ihren Parteien den
positiven Gestaltungswillen der Opposition aufzuzwingen.
Sie haben zwar einen Teil des Problems im Ansatz
richtig benannt, aber den positiven Gestaltungswillen
konnte ich nicht finden.
({15})
Die notwendige Einordnung in den Kontext und einen
echten Lösungsvorschlag bleiben Sie uns schuldig. Damit bewegen Sie sich weit unter Ihren Möglichkeiten als
Opposition. Nehmen Sie mir das nicht krumm; das ist
konstruktiv gemeint.
({16})
Ich sage Ihnen auch ganz eindeutig: Ich lasse mich
nicht in die Ecke drängen, dieses Parlament in die Guten
und die Bösen aufzuteilen. Wir machen hier Bundespolitik und müssen die Verantwortung für die viertstärkste
Wirtschaftsnation der Welt sowie für 80 Millionen Menschen übernehmen. Sowohl unsere Anträge als auch unser Gebaren müssen das widerspiegeln; denn die Menschen bezahlen uns nicht für rhetorische Schaukämpfe.
({17})
Daher biete ich Ihnen an, liebe Kollegen: Schalten Sie
die automatische Wiedervorlage für „Antrag stellen:
Sanktionen abschaffen“ aus,
({18})
und lassen Sie uns gemeinsam ein System überarbeiten,
bei dem es offensichtlich Probleme gibt und das den
Menschen in unserer Republik nicht hilft! Dafür werden
wir alle gewählt. Ich denke, das ist eine angemessene
Aufgabe für ein selbstbewusstes Parlament wie uns.
Vielen Dank.
({19})
Damit sind alle vorgesehenen Redebeiträge zu diesem
Tagesordnungspunkt gehalten, und deshalb schließe ich
die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/1115 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe, dass sich
kein Widerspruch dagegen erhebt. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stabilisierung des Künstlersozialabgabesatzes
({0})
Drucksache 18/1530
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin ist für die
Bundesregierung die Parlamentarische Staatssekretärin
Gabriele Lösekrug-Möller, der ich hiermit das Wort erteile.
({2})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wir wissen: Ohne die Gestaltungskraft der Künstler und Kreativen wäre unser
Land nicht so lebenswert und um einiges ärmer. Aber
auch für unsere Wirtschaft ist diese Branche ein wichtiger Impulsgeber. Immerhin 143 Milliarden Euro Umsatz
machte die Kreativwirtschaft allein im Jahr 2012 - Tendenz steigend.
Hinter diesen Zahlen stehen mehr als 1 Million
Frauen und Männer, die ihren Beruf mit ganz besonderem Einsatz und viel Herzblut ausüben. Viele von ihnen
nehmen dafür soziale Risiken auf sich: selbstständige
und abhängige Beschäftigung, die sich abwechseln oder
überschneiden, projektbezogene und unvorhersehbare
Arbeit und nicht zuletzt unregelmäßiges Einkommen,
das oft kaum zum Leben reicht. Aufgrund all dieser Unsicherheiten brauchen Künstler und Designer, Kreative
und Werbefachleute, Schriftsteller und Publizisten eine
soziale Absicherung, auf die sie sich verlassen können.
({0})
Die Einführung der Künstlersozialkasse vor 30 Jahren
war dafür ein Meilenstein. Heute leisten wir mit dem
Gesetz zur Stabilisierung des Künstlersozialabgabesatzes dazu einen weiteren wichtigen Beitrag. Es sind vor
allem zwei Ziele, die wir mit diesem Gesetzentwurf erreichen: erstens echte Abgabengerechtigkeit zwischen
den Unternehmen und zweitens einen stabilen Abgabesatz. In den letzten beiden Jahren musste der Künstlersozialabgabesatz deutlich angehoben werden: von 3,9 auf
5,2 Prozent. Einen weiteren Anstieg werden wir mit diesem Gesetzentwurf durch einen effektiven Prüfmechanismus verhindern, und zwar ohne dass unnötiger bürokratischer Aufwand entsteht.
Die Rentenversicherung wird die Künstlersozialabgabe bei den alle vier Jahre stattfindenden Sozialversicherungsprüfungen mitprüfen. Das ist effizient, weil
keine zusätzlichen Kontrolltermine notwendig sind. Zugleich wird die Rentenversicherung die Arbeitgeber umfassend informieren und beraten. Von den Unternehmen,
die weniger als 20 Beschäftigte haben, werden nur diejenigen geprüft, bei denen das Bestehen einer Abgabepflicht am wahrscheinlichsten ist. Arbeitgeber, die nicht
geprüft werden, müssen bestätigen, abgabepflichtige
Sachverhalte von sich aus zu melden. Genau damit wird
der Verwaltungsaufwand für kleinere Betriebe gegenüber flächendeckenden Prüfungen deutlich reduziert.
Gleichzeitig aber stellen wir sicher, dass alle abgabepflichtigen Arbeitgeber erfasst werden.
Darüber hinaus führen wir eine Bagatellgrenze ein.
Wer zum Beispiel zu Werbezwecken kleinere Aufträge
an einen selbstständigen Designer erteilt, die unterhalb
von 450 Euro im Jahr liegen, ist nicht abgabepflichtig.
Das erleichtert die Anwendung des Künstlersozialversicherungsgesetzes. Es schafft auch mehr Rechtssicherheit
für Unternehmen ohne nennenswerte Einnahmeausfälle.
Wir stellen also sicher, dass es gerecht zugeht. Aber wir
verlieren auch nicht die Lebenswirklichkeit in den Unternehmen aus den Augen. So haben wir es im Koalitionsvertrag vereinbart, und so setzen wir es um.
({1})
Die Künstlersozialkasse und die Rentenversicherung
werden bei der Arbeitgeberprüfung eng zusammenarbeiten. Die Künstlersozialkasse erhält zudem ein eigenes
Prüfrecht, um branchenspezifische Schwerpunktkontrollen und anlassbezogene Prüfungen selbst durchzuführen.
Gleichzeitig wird sie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Rentenversicherung mit ihrem Wissen über die
Kultur- und Kreativwirtschaft, eine ja besondere Branche, unterstützen. So verbessern wir Fachkompetenz vor
Ort.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine starke, innovative Kulturbranche braucht eine zukunftsfeste Künstlersozialkasse. Mit diesem Gesetz sorgen wir dafür, dass
Künstlerinnen, Künstler und Kreative Zeit für das haben,
was sie am besten können, ohne sich ständig Sorgen
über ihre soziale Absicherung machen zu müssen; denn
wir wissen: Nur wer den Kopf frei hat, kann wirklich
kreativ sein. Das wollen wir erreichen.
Vielen Dank.
({3})
Es steht dem Präsidenten nicht zu, die Bundesregierung oder andere zu loben, aber ich muss doch feststellen, dass Ihre Rede bezüglich der Redezeit eine Punktlandung war, nämlich auf die Sekunde.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sigrid Hupach, Die
Linke.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Ich freue mich, dass die jetzige Koalition im
Gegensatz zur vorherigen endlich den so dringend notwendigen Gesetzentwurf zur Stabilisierung des Künstlersozialabgabesatzes vorgelegt hat.
({0})
Die Gesetzesnovelle war überfällig und ist ein erster
Schritt in die richtige Richtung. Das Gesetz stellt klar,
dass geltendes Recht auch umgesetzt werden muss. Es
ermöglicht eine gegenüber der bisherigen Praxis deutlich
ausgeweitete Überprüfung von Unternehmen. Diese regelmäßige Überprüfung der Abgabepflicht ist unabdingbar und sollte eine Selbstverständlichkeit sein:
({1})
für die Deutsche Rentenversicherung als Überprüfende
genauso wie für die Unternehmen. Aber von dieser
Selbstverständlichkeit sind wir beim Thema Künstlersozialkasse leider noch weit entfernt.
In den letzten Jahren haben sich so viele Unternehmen ihrer Abgabepflicht entzogen, dass 2014 der Abgabesatz von 4,1 Prozent auf 5,2 Prozent hochgesetzt werden musste. Wir, die Linke, fordern schon lange eine
flächendeckende Überprüfung der Verwerter, sprich: der
Unternehmen.
({2})
Denn wir brauchen Abgabegerechtigkeit. Die gibt es nur
mit einem gesetzlich festgelegten Prüfrhythmus. Es kann
nicht sein, dass die Unternehmen, die ehrlich zahlen,
letztendlich mit einem höheren Abgabesatz bestraft werden, weil andere ihre Beiträge nicht zahlen.
Gut finde ich, dass Rentenversicherung und Künstlersozialkasse zukünftig enger zusammenarbeiten sollen.
Effektivere Abläufe helfen sicherlich, auf Unternehmensseite das Verständnis für die Abgabe zu verbessern.
Akzeptanz ist wichtig; denn fatalerweise steigt oder fällt
die Akzeptanz der Künstlersozialkasse mit der Höhe des
jeweiligen Abgabesatzes. Es darf aber nicht sein, dass
bei jeder neuen Festlegung des Beitragssatzes über die
Zukunft der Künstlersozialkasse neu diskutiert wird.
Leicht hatte es die Kasse nie. Immer war sie massiven
Angriffen von Arbeitgeberseite ausgesetzt. Für eine derartig großartige sozialpolitische Errungenschaft wie die
Künstlersozialkasse ist es aber verheerend, wenn die
Debatte um eine potenzielle Erhöhung des Abgabesatzes
jedes Jahr neu zur Existenzfrage wird.
({3})
Hier brauchen wir endlich Stabilität, nicht zuletzt für unsere Künstlerinnen und Künstler.
({4})
Warum, zeigt ein Beispiel, das der Deutschlandfunk
vor einiger Zeit sendete: Sonntagnachmittag in einem
Kindertheater in Köln. Auf der Bühne: Hänsel und Gretel. Gretel heißt eigentlich Sophie. Die 28-Jährige spielt
diese Rolle mehrmals im Monat, allerdings ohne festes
Bühnenengagement. Gerade einmal 50 Euro brutto verdient sie pro Auftritt. Der Weg in die Selbstständigkeit
war für sie nur machbar, weil sie sich günstig sozial absichern kann, wie eine Angestellte. Möglich ist das nur mit
der Künstlersozialversicherung. So wie Sophie sind in
Deutschland fast 180 000 Kreative sowie Publizistinnen
und Publizisten versichert. Laut Künstlersozialkasse haben sie ein durchschnittliches Einkommen von circa
14 500 Euro im Jahr. Das ist nicht gerade üppig. Deswegen gibt es diese Kasse.
Ich verstehe nicht, dass die Wirtschaft schon wieder
sagt, dass das neue Abgabeverfahren zu kompliziert und/
oder der Aufwand zu hoch sei. Die Abgabepflicht der
Unternehmen wird schließlich nicht durch eine neue Gesetzeslage begründet, sondern besteht seit Jahren. Ich
plädiere zudem dafür, dass in einer neuen gesetzlichen
Regelung auch die Grundlagen für ein elektronisches
Meldeverfahren geschaffen werden. Dies könnte dem
Argument des potenziell zu hohen bürokratischen Aufwands den Wind aus den Segeln nehmen.
Der heute debattierte Gesetzentwurf ist ein Kompromiss, ein Kompromiss vor allem mit der deutschen Rentenversicherung, deren völlig überzogene Zahlen maßgeblich für das Scheitern einer Überprüfungsregelung im
letzten Sommer mit verantwortlich waren.
Die grundsätzlichen finanziellen Probleme der Künstlersozialkasse kann dieses Gesetz allein aber nicht lösen,
und ob es sich bewährt, wird die für das Jahr 2019 geplante Evaluation zeigen.
Will man die Künstlersozialkasse dauerhaft erhalten,
müssen wir weitergehen, als es dieses Gesetz heute tut.
Da wäre einerseits über den Bundeszuschuss zu reden,
andererseits über die Weiterentwicklung und den Zugang zur Künstlersozialkasse. Denn in ihr spiegelt sich
ein gesamtgesellschaftliches Problem wider: Viele Menschen sind heute kurzfristig beschäftigt oder in wechselnden Erwerbsformen tätig. Vor allem betrifft dies
Freiberufler und Selbstständige, vorwiegend im künstlerischen Bereich. Für die soziale Absicherung und Altersvorsorge dieser Menschen brauchen wir dringend Lösungen.
Danke.
({5})
Nächste Rednerin ist für die CDU/CSU die Kollegin
Jana Schimke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Künstlersozialversicherung hat eine Sonderstellung in der deutschen Sozialversicherung, und das aus
gutem Grund; denn den Raum für das Andersdenken zu
garantieren und Freiheit von Kunst und Kultur zu fördern, ist das Prinzip der Bundesregierung. Es ist Arbeitsauftrag und Verpflichtung zugleich.
Künstlerinnen und Künstler in Deutschland - das sind
zahllose Schriftsteller, Musiker, Grafiker, Fotografen,
Tänzer oder auch Schauspieler. Sie leben von ihren kreativen Leistungen, und die Gesellschaft lebt von und mit
ihnen. Kunst und Kultur sind mehr als eine Bereicherung
für unsere Gesellschaft, sie haben identitätsstiftende
Kraft. So sorgen der föderale Aufbau Deutschlands und
die Kulturhoheit der Länder für eine Vielzahl kultureller
Einrichtungen und eine reiche Kulturszene in Deutschland. Mehr als 100 Opernspielstätten gibt es bundesweit,
so viele wie in keinem anderen Land der Welt. Ebenso
gehört unser Land mit über 94 000 neuen und neu aufgelegten Büchern pro Jahr zu den großen Buchnationen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich gehe davon aus,
dass alle hier Anwesenden mindestens eine Tageszeitung
am Tag lesen. Die insgesamt etwa 350 Tageszeitungen
und die enorme Zeitschriftenvielfalt in Deutschland sind
nicht nur der Beleg für eine lebendige Medienlandschaft.
Sie sind der Beleg für Meinungsfreiheit und für Vielfalt,
die sich täglich in der Arbeit unserer Journalistinnen und
Journalisten ausdrückt. Kunst und Kultur existieren
nicht einfach so, sondern sie entstehen überhaupt erst
durch die Arbeit der Künstler. Wir brauchen unsere
selbstständigen Künstlerinnen und Künstler in Deutschland. Sie sind Voraussetzung für diese lebendige Kulturlandschaft.
Das alles geht nicht ohne einen Schutz in der Sozialversicherung. Die Künstlersozialversicherung bietet diesen Schutz in der gesetzlichen Kranken-, Pflege- und
insbesondere Rentenversicherung. Sie ist eine bedeutende Einrichtung für die soziale Absicherung und
Altersvorsorge der deutschen Künstler. Der heute diskutierte Gesetzentwurf zur Stabilisierung des Künstlersozialabgabesatzes ist eine Antwort auf die Entwicklung
der letzten Jahre.
Zum 1. Januar stieg der Beitragssatz über 1 Prozentpunkt von 4,1 Prozent auf 5,2 Prozent. Jetzt schaffen wir
Abgabengerechtigkeit und Beitragssatzstabilität und setzen damit die Vereinbarungen des Koalitionsvertrages
um. Dazu werden wir auch die Prüfungen durch die
Träger der Rentenversicherung erheblich ausweiten.
Denn unser Ziel ist es, einen weiteren Anstieg der
Künstlersozialabgabe zu vermeiden und die Künstlersozialkasse zu stabilisieren.
Das Ziel der Stabilisierung des Abgabesatzes ist
wichtig und richtig. Wir wissen alle, dass die Höhe von
Abgaben und das Ausmaß von Bürokratie Arbeit in
Deutschland verteuern können. Deshalb ist es wichtig,
an die Unternehmen und insbesondere an unsere kleinen
Unternehmen zu denken. Sie erteilen oft Aufträge nur
zum Zweck der Eigenwerbung und werden jetzt über die
Einführung der Geringfügigkeitsgrenze von 450 Euro
entlastet. Auch die Begrenzung auf stichprobenartige
Prüfungen bei kleinen Betrieben ist positiv und zeigt,
dass wir bei den Anforderungen kleine Betriebe berücksichtigt haben.
Natürlich kann man immer darüber nachdenken, wo
weitere Entlastungen geschaffen und Vereinfachungen
erzielt werden müssen. Ich halte deshalb auch die Anregungen der Wirtschaft für wichtig, künftig unter anderem über die Höhe der Geringfügigkeitsgrenze oder auch
über die Anzahl der Aufträge, an die diese Grenze gekoppelt ist, zu sprechen. Deshalb ist es sinnvoll, dass wir
diese neuen Regelungen im Jahr 2019 einer Prüfung unterziehen werden. Sie wissen, wir reden gerade auch im
Rahmen der Mindestlohndebatte darüber, wie und wann
wir evaluieren. Ich glaube, das ist etwas, was alle Gesetzgebungsverfahren kennzeichnen sollte.
Eine Evaluation ist auch deshalb geboten, da der Aufwand und die zusätzlichen Einnahmen durch die verstärkte Prüftätigkeit sehr unterschiedlich eingeschätzt
wurden. Ich denke, wir sind mit der jetzigen Reform auf
dem richtigen Weg. Dennoch sollten wir auch für weitere Diskussionen und alternative Regelungen offenbleiben.
Nicht von der Hand zu weisen ist die Kritik, dass Unternehmen die Künstlersozialabgabe auch zahlen müssen, wenn Künstler nicht in der Künstlersozialversicherung versichert sind. Diese Regelung ist kritikanfällig,
da weder der Auftraggeber noch der Künstler oder die
Künstlerin selbst von diesem Beitrag profitieren. Sie erinnern sich vielleicht an die Diskussion um das Rentenpaket und die Einführung der Flexirente. Auch da haben
wir diese Frage im Zusammenhang mit der Beschäftigung älterer Arbeitnehmer und der Beschäftigung von
Rentnern diskutiert. Sie tritt hier erneut auf. Ich denke,
die Debatte sollte deswegen auch in Zukunft aufgegriffen, geführt und bewertet werden.
Auch die Ausweitung des Künstlerbegriffs und die
Frage „Was ist Kunst?“ sind letztendlich gerechtfertigt.
Ebenso müssen wir abwarten, wie sich die Schaffung eines eigenen Prüfrechts auf die Künstlersozialkasse auswirken wird. Mit der Reform im Jahr 2007 wurde die
flächendeckende Prüfung der Abgabepflicht explizit auf
die Deutsche Rentenversicherung übertragen, um AbgaJana Schimke
begerechtigkeit herzustellen. Unser zukünftiger Auftrag
wird deshalb sein, zu beobachten, wie dieser Prüfauftrag
wirkt.
Auch sollten wir über grundlegende Fragen wie zum
Beispiel über die des Verwerters im Gespräch bleiben.
Verlage, Theater oder auch Musikproduzenten können
als Verwerter angesehen werden. Trifft dies aber auch
auf das kleine Unternehmen zu, das sich die Homepage
von einem Webdesigner gestalten lässt, der nicht in der
Künstlersozialversicherung versichert ist?
Die Künstlersozialversicherung ist ein kompliziertes
Konstrukt für eine spezifische Gruppe der Selbstständigen. Unser Ziel und Auftrag für die Zukunft sollte daher
sein, weiterhin über die grundsätzlichen und sozialpolitischen Fragen der Künstlersozialversicherung im Gespräch zu bleiben.
Heute aber leisten wir einen wichtigen Beitrag für die
Rechtssicherheit in der Künstlersozialversicherung und
für den Fortbestand der Kunst und Kultur in Deutschland.
Vielen Dank.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Wolfgang
Strengmann-Kuhn für Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Künstlersozialversicherung ist ein typisches Beispiel dafür, wie soziale Sicherung eine Grundlage für selbstbestimmte Tätigkeit, für Freiheit, für Kreativität und für
die Förderung von Innovationen sein kann. Ich glaube,
dass man das nicht stark genug betonen kann, weil oft
Freiheit, Kreativität, Selbstbestimmung und soziale Sicherung als Widerspruch gesehen werden. Sie ist aber
geradezu die Voraussetzung für tatsächliche Freiheit und
Selbstbestimmung.
({0})
Man sollte auch über eine Sozialversicherung nicht
nur für diese Gruppe der Selbstständigen, sondern vielleicht für alle Selbstständigen nachdenken im Sinne einer Bürgerversicherung für alle Selbstständigen. Aber
das ist ein anderes Thema, das wir an anderer Stelle sicher noch einmal diskutieren müssen.
Wichtig ist, dass eine Einrichtung wie die Künstlersozialversicherung auch gesellschaftliche Akzeptanz findet. Dazu ist es wichtig, dass die Abgabensätze nicht ins
Uferlose steigen. Es ist wichtig, dass die finanzielle Stabilität gewährleistet ist, dass die Mittel vernünftig fließen. Zu diesem Zweck leistet dieser Gesetzentwurf tatsächlich einen wichtigen Beitrag.
({1})
Man darf das aber auch nicht überschätzen. Es ist ein
wichtiger Beitrag, aber nicht der Einzige. Ich möchte an
dieser Stelle übrigens nicht nur der Bundesregierung
danken, der es - im Gegensatz zur letzten Bundesregierung - gelungen ist, jetzt einen Gesetzentwurf vorzulegen, sondern auch den über 70 000 Menschen, die eine
Petition an den Deutschen Bundestag gerichtet haben, in
der das, was jetzt umgesetzt worden ist, gefordert wurde.
Das ist ein Zeichen lebendiger Demokratie und zeigt
noch einmal, wie wichtig der Petitionsausschuss für unsere Demokratie ist.
({2})
Wie gesagt: Manches, was im letzten Jahr in der Diskussion gesagt worden ist - es hieß, durch das fehlende
Gesetz würde die Existenz der Künstlersozialversicherung gefährdet oder sie quasi abgeschafft -, halte ich für
übertrieben. Andererseits ist es aber auch übertrieben, zu
behaupten, dass mit dem Gesetz, das wir hoffentlich bald
verabschieden können, alle Probleme gelöst sind. Vielmehr gibt es weitere strukturelle Probleme bei der
Künstlersozialversicherung. Man muss schauen, wie
sich der Beitragssatz weiterentwickelt und wovon sonst
die Abgabenentwicklung abhängt. Ich glaube, wir sollten hier ohne Tabus herangehen. Es gibt da wichtige
strukturelle Fragen, die wir tatsächlich angehen müssen.
Auch so etwas wie der Bundeszuschuss darf meines Erachtens kein Tabu sein; möglicherweise muss man auch
an der Stelle nachjustieren.
({3})
Die Einnahmeseite ist nicht das einzige Problem im
Hinblick auf die Akzeptanz einer Sozialversicherung;
auch die Ausgabenseite, die Leistungsseite, ist wichtig.
Es ist schon angesprochen worden: Die Einkommenssituation von Künstlerinnen und Künstlern ist in vielen
Fällen mehr als prekär. Das Durchschnittseinkommen
der in der Künstlersozialversicherung Versicherten liegt
bei ungefähr 16 000 Euro, in manchen Berufsgruppen
- Musiker, bildende Künstler - deutlich darunter.
({4})
Das heißt, die Armutsbedrohung ist bei Künstlerinnen
und Künstlern sehr groß. Viele von ihnen haben Angst
vor Altersarmut. Wir haben mit der Garantierente ein
Konzept vorgelegt, das auch für diese Gruppe eine gute
Absicherung bedeuten würde, weil 30 Versicherungsjahre reichen würden, um das Minimum der Garantierente zu erhalten. Die Künstlersozialversicherung gibt es
jetzt seit über 30 Jahren. Wer dauerhaft in der Künstlersozialversicherung war, hätte also nach unserem Modell
Anspruch auf ein Minimum in der gesetzlichen Rentenversicherung. Auch bei der solidarischen Lebensleistungsrente - wenn sie denn überhaupt mal kommen
sollte - müsste dieser Aspekt berücksichtigt werden, damit sie für Künstlerinnen und Künstler überhaupt erreichbar ist; ich habe da meine Zweifel.
Ich will die letzte halbe Minute meiner Redezeit nutzen, um auf ein weiteres Problem aufmerksam zu ma3532
chen. Nicht nur Altersarmut ist für Künstlerinnen und
Künstler ein Problem, sondern auch Armut im aktuellen
Leben, während sie erwerbstätig sind und Kunst schaffen. Auch da müssen wir über Lösungen nachdenken,
wie vielleicht innerhalb der Künstlersozialversicherung,
aber vielleicht auch mit anderen Maßnahmen dafür gesorgt werden kann, dass das Existenzminimum von
Künstlerinnen und Künstlern gewährleistet wird. Denn
Hartz IV ist für Künstlerinnen und Künstler sicherlich
nicht die perfekte Existenzsicherung. Wir brauchen da
andere Maßnahmen, um die Existenz zu sichern und damit tatsächlich Freiheit und Kreativität in dieser Gesellschaft zu fördern; davon brauchen wir noch mehr.
Vielen Dank.
({5})
Für die Sozialdemokraten spricht jetzt der Kollege
Ralf Kapschack.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein
Gruß an die Zuschauer auf der Besuchertribüne! „Kunst
ist schön, macht aber viel Arbeit“ - diese Erkenntnis
stammt von Karl Valentin, dem genialen bayerischen
Künstler, der am Mittwoch 132 Jahre alt geworden wäre.
Ja, Kunst und Kultur machen Arbeit, aber sind auch Arbeit; sie sind für viele Künstlerinnen, Künstler und freie
Autoren - auch um sie geht es heute - Quelle des Lebensunterhalts. Sie leben häufig in prekären Verhältnissen. Deshalb ist es notwendig, ihnen einen sicheren Zugang zur Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung zu
gewährleisten;
({0})
das war die Idee, als die Künstlersozialversicherung
1981 ins Leben gerufen wurde.
Der SPD-Abgeordnete Egon Lutz hat den Gesetzentwurf damals so begründet - mit Genehmigung des Präsidenten zitiere ich aus dem Protokoll -:
Nichts zu tun und die Künstler und Publizisten weiterhin ohne jeden sozialen Schutz zu belassen, wie
er für die weit überwiegende Mehrheit der Bevölkerung längst schon eine Selbstverständlichkeit ist,
das ist in einem gewissen Umfang … schändlich.
Aus heutiger Sicht wäre es also schändlich, durch
Nichtstun die Künstlersozialversicherung vor die Wand
fahren zu lassen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Künstlersozialversicherung ist einzigartig in Europa, und sie ist Ausdruck der Wertschätzung für die vielen Kulturschaffenden, die mit ihrer Arbeit diese Gesellschaft bereichern
und etwas lebenswerter machen.
({1})
Zurzeit sind 180 000 von ihnen über diesen Weg abgesichert.
Die Finanzierung der Künstlersozialversicherung ist
eine solidarische: über die Beiträge der Versicherten,
über den Bundeszuschuss und über die Beiträge der Unternehmen und Einrichtungen, die Aufträge an freischaffende Künstler und Publizisten vergeben, die sogenannten Verwerter. Genau da liegt der Hase im Pfeffer: Es ist
offensichtlich, dass einige Unternehmen ihrer Zahlungspflicht nicht nachkommen. Die schwarz-gelbe Bundesregierung hat es noch abgelehnt - das ist schon erwähnt
worden -, eine gesetzliche Überprüfung durch die Deutsche Rentenversicherung auf den Weg zu bringen. Die
Große Koalition dagegen hat vereinbart, die Künstlersozialkasse zu erhalten und zu stabilisieren.
({2})
Deshalb ist der vorliegende Gesetzentwurf konsequent. Er ist ein konkreter, dringend notwendiger Schritt
hin zu mehr Abgabengerechtigkeit und damit zur Beitragssatzstabilität; denn durch die verstärkten Prüfungen
werden auch die Verwerter herangezogen, die sich bisher
ihrer Zahlungspflicht entzogen haben. Davon profitieren
alle - wir haben es schon gehört -, weil die Chance, den
Beitragssatz stabil zu halten, mit höheren Einnahmen
größer wird.
In der Diskussion ist mir in der Tat das Argument begegnet, durch die Ausweitung der Prüfungen würden
Unternehmen unter Generalverdacht gestellt. Das ist natürlich völliger Unsinn.
({3})
Dass der Staat kontrolliert, dass geltendes Recht durchgesetzt wird, ist für mich nicht besonders bemerkenswert, sondern eigentlich selbstverständlich.
({4})
Mangelnde Kontrolle hat dazu geführt, dass längst
nicht alle Unternehmen, die dazu verpflichtet wären, die
Abgabe zahlen. Das kann aus Unkenntnis, aber auch aus
anderen Gründen so sein. Beim Deutschen Kulturrat ist
uns erzählt worden, dass Steuerberater ihre Unternehmen animiert haben, sich der Zahlungspflicht zu entziehen, weil ja gar nicht geprüft würde. An diesem Beispiel
kann man sehen, dass da einiges im Argen liegt. Durch
die regelmäßige Prüfung, alle vier Jahre, wird der Druck
erhöht, der Zahlungspflicht nachzukommen. Wir finden
das gut so.
({5})
Gleichzeitig gibt es eine Bagatellgrenze, um den bürokratischen Aufwand für die Verwerter in einem vertretbaren Rahmen zu halten. Das ist für eine ganze Reihe
von ihnen eine deutliche Entlastung. Aus unserer Sicht
gibt es auch einen ausreichenden Schutz der ehrenamtlich Tätigen, zum Beispiel der Musikvereine. Wir sehen
hier keine unzumutbare Belastung und auch keine Notwendigkeit für Sonderregelungen. Wir werden gleich
möglicherweise noch etwas dazu hören.
Es taucht immer wieder die Frage auf: Brauchen wir
die Künstlersozialkasse eigentlich als eigene Einrichtung? Unsere Antwort ist: Ja. Als Ziel haben wir Sozialdemokraten allerdings nach wie vor die Ausweitung der
Rentenversicherung zu einer Erwerbstätigenversicherung, in der dann auch alle Selbstständigen pflichtversichert wären.
({6})
Bis dahin steht die SPD zur Künstlersozialversicherung. Aber wir wissen natürlich - das ist vom Kollegen
Strengmann-Kuhn vorhin schon angesprochen worden -,
dass das nicht reicht, um die soziale Lage der Künstler
und freischaffenden Publizisten grundlegend zu verbessern. Wir sind uns dessen durchaus bewusst. Zu einer
Verbesserung gehört zum Beispiel ein leichterer Zugang
zum Arbeitslosengeld I. Darüber werden wir in nächster
Zeit sprechen. Mit großem Interesse wird im Kulturbereich auch unser Plan zur solidarischen Lebensleistungsrente verfolgt.
Kultur fällt uns nicht wie eine reife Frucht in den
Schoß. Der Baum muß gewissenhaft gepflegt werden, wenn er Früchte tragen soll.
Das hat Albert Schweitzer gesagt. Es gibt noch einiges
zu tun. Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir das in diesem Haus mit einer großen Mehrheit hinbekommen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Vielen Dank. - Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist die Kollegin Dr. Astrid Freudenstein,
CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren auf der Tribüne! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Was macht die
Kunst?“, fragt der Prinz in Lessings Emilia Galotti den
Hofmaler Conti. Dieser antwortet: „Prinz, die Kunst geht
nach Brot“, was so viel heißt, wie: Erst einmal muss man
satt werden, bevor an die Kunst zu denken ist. Lessing
war nicht der einzige Schriftsteller, der das Einkommen
und die soziale Lage von Künstlern und Publizisten thematisiert hat. Johann Wolfgang von Goethe hat dem
Thema bekanntlich mit seinem Torquato Tasso gleich ein
ganzes Stück gewidmet. Im Vordergrund dieser Werke
stehen die Abhängigkeiten der Künstler und Dichter von
Mäzenen und Monarchen. Ohne die war Künstlerleben
damals nicht denkbar. Nun gibt es heute keine Prinzen,
Fürsten und Könige, keine Friedrichs und Ludwigs
mehr, welche die Kunst und deren Erschaffer nach eigenem Gusto aus der Staatsschatulle fördern könnten. Das
ist ja im Prinzip auch ganz gut so. Doch umso mehr Verantwortung für die Entwicklung von Kunst und Kultur
liegt nun beim Demos, beim Volk, also bei uns.
Nun ist die Bundesrepublik Deutschland ja bekanntlich nicht nur ein Sozial- und Rechtsstaat, sondern auch
ein Kulturstaat, worauf wir immer wieder gern und zu
Recht verweisen. Wir haben deshalb eine ganz besondere Verantwortung. Das bedeutet ausdrücklich nicht,
dass wir alle Künstler alimentieren müssten. Eine Alimentierung kann nicht Aufgabe eines freiheitlichen Kulturstaates sein. Sie würde neue Abhängigkeiten schaffen,
die wir nicht wollen. Was wir aber tun können, ist, den
Boden zu schaffen, den Kultur braucht, um gedeihen zu
können.
Das Kunstwerk, zum Beispiel einen Roman oder ein
Gedicht, das der Künstler oder Publizist schafft, verstehen wir oft als öffentliches Gut. Die soziale Absicherung
des Künstlers ist aber Privatsache. An genau diesem
Punkt greift die Künstlersozialversicherung. Seiner Aufgabe kann der Künstler oder Publizist nämlich nur gerecht werden, wenn auch seiner sozialen Situation Rechnung getragen wird. Diese unterscheidet sich zum Teil
ganz erheblich von der anderer Berufsgruppen. Die
Erwerbsbiografien von selbstständigen Künstlern und
Publizisten sind risikoreich. Das zeigen auch die Werdegänge berühmter Künstler und Dichter, die eben oft auch
brotlose Künstler waren und sind. Die Einkommensverhältnisse unterliegen überdurchschnittlichen Schwankungen - und das oft auf niedrigem Niveau. Die Gründe
hierfür sind vielschichtig, zum Beispiel die Abhängigkeit vom Publikumsgeschmack oder von geistigen Modeströmungen, die wirtschaftliche Situation des öffentlichen Kulturbetriebes und die Fördermöglichkeiten von
Bund, Ländern und Kommunen, Stiftungen und Banken.
Umso wichtiger war die Einführung der Künstlersozialversicherung vor gut 30 Jahren. Mit ihr wurde es den
freischaffenden Künstlern und Publizisten de facto erst
ermöglicht, die größten Lebensrisiken abzusichern. Sie
bekamen Zugang zur Kranken-, Renten- und Pflegeversicherung zu Konditionen, die sie sich leisten konnten.
Damals betrat Deutschland Neuland. Bis heute ist die
Künstlersozialversicherung ein weltweit einmaliges
Konstrukt, aber eben auch eine herausragende sozialpolitische Institution in der deutschen Kulturlandschaft,
um die wir im Übrigen von vielen Ländern beneidet werden.
({0})
Genauso einmalig wie die Versicherung selbst ist die
Finanzierung. Die Hälfte der Kosten tragen die versicherten Kulturschaffenden selbst, 20 Prozent trägt der
Bund, und 30 Prozent übernehmen die Verwerter, also
die Unternehmen, welche die künstlerische Leistung in
Auftrag geben.
So weit, so gut. Aber es gibt ein Problem, sonst wären
wir heute nicht hier. Der Abgabesatz für diese abgabepflichtigen Verwerter steigt gerade rasant an, allein innerhalb der vergangenen beiden Jahre von 3,9 auf
5,2 Prozent. Das liegt zum einen an der stark steigenden
Mitgliederzahl der Künstlersozialversicherung, zum anderen an der ausbaufähigen Zahlungsmoral einiger Unternehmen bei der Künstlersozialabgabe, was oft daran
liegt, dass die Unternehmen noch nicht einmal wissen,
dass sie abgabepflichtig sind. Ein steigender Abgabesatz
gefällt jedoch niemandem und gefährdet die Stabilität
der Versicherung als Ganzes.
Genau hier setzt der vorliegende Gesetzentwurf an,
den wir von der Union ausdrücklich begrüßen. Im Kern
des Entwurfs wird festgelegt, dass ab 2015 ein strengeres Prüfverfahren eingeführt wird, das die Finanzierung
auf solide Beine stellt und für Abgabegerechtigkeit
sorgt. Mehr Unternehmen werden regelmäßiger auf ihre
Abgabepflicht hin geprüft. Denn wir bleiben dabei: Wer
von der Arbeit freischaffender Künstler profitiert, muss
sich auch an deren sozialer Sicherung beteiligen.
({1})
Entscheidend war für uns dabei von Anfang an die
Art und Weise der Prüfungen. Wir wollen ein Prüfverfahren, dass effektiv und effizient ist. Das ist, meine ich,
mit dem Vorschlag, der jetzt auf dem Tisch liegt, gut gelungen. Im Rahmen der alle vier Jahre stattfindenden Arbeitgeberprüfungen werden alle bei der Künstlersozialkasse erfassten Unternehmer und alle Arbeitgeber mit
mindestens 20 Beschäftigten auch auf die Künstlersozialabgabe hin geprüft. So wird sichergestellt, dass Unternehmen ihre Abgabepflicht aufgrund fehlender Prüfungen nicht vernachlässigen.
Von den kleineren Arbeitgebern mit bis zu 19 Beschäftigten werden im Kalenderjahr mindestens 40 Prozent geprüft. Jene Arbeitgeber, die nicht Teil des Prüfkontingents sind, werden von den Prüfern der Deutschen
Rentenversicherung beraten und bestätigen schriftlich,
dass sie abgaberelevante Sachverhalte melden werden.
So erreichen wir - das war uns wichtig -, dass kleinere mittelständische Unternehmen im Schnitt nur alle
zehn Jahre geprüft werden. Das bedeutet weniger Aufwand für diese und hält die allgemeinen Bürokratiekosten im Rahmen.
Trotzdem: Die Rentenversicherung benötigt und bekommt dafür zusätzliches Personal. Die Mehrkosten
werden jetzt auf 12,3 Millionen Euro geschätzt. Dem
stehen erwartete Mehreinnahmen in Höhe von 32 Millionen Euro gegenüber. Aufwand und Ertrag stehen also
in einem akzeptablen Verhältnis zueinander.
Das alles sind Schätzungen, daher können wir nicht
genau sagen, wie sich die neuen Regelungen letztlich
tatsächlich in der Praxis auswirken werden. Deshalb ist
es gut und richtig, dass wir nach einem vierjährigen
Prüfturnus eine Evaluation vorsehen. Denn erst dann
sind klare Aussagen über das Kosten-Nutzen-Verhältnis
möglich.
Ein weiterer wichtiger Punkt im Gesetzentwurf ist die
Einführung einer Geringfügigkeitsgrenze von 450 Euro.
Wer innerhalb eines Jahres Aufträge erteilt, die insgesamt diese Summe nicht überschreiten, wird von der Abgabe befreit. Mit dieser Bagatellgrenze schaffen wir
Rechtssicherheit; denn in diesem Punkt war das Gesetz
bisher missverständlich.
Nebenbei hat diese 450-Euro-Grenze auch den Effekt,
dass insbesondere kleine Unternehmen - etwa Handwerksbetriebe -, die nur in geringem Umfang Aufträge
an Künstler erteilen, entlastet werden.
Der Gesetzentwurf berücksichtigt damit die Aspekte
der Abgabegerechtigkeit, der Effektivität und der Effizienz. Er beinhaltet die richtigen Instrumente, um die
Künstlersozialversicherung kurz- und mittelfristig zu
stabilisieren. Die regelmäßige Überprüfung, die nun
festgeschrieben wird, ist notwendig, um das System in
dieser Weise in Deutschland zu erhalten.
Wir müssen aber auch überlegen, wie wir die Künstlersozialversicherung langfristig stabilisieren können.
Dabei darf eine kritische Überprüfung der Kriterien für
die Aufnahme in diese Versicherung kein Tabu sein.
({2})
Auch die Abgrenzung zwischen ehrenamtlicher und
künstlerischer Arbeit, wie wir sie uns im Koalitionsvertrag vorgenommen haben, steht noch auf der Agenda.
Das Ehrenamt, das die kulturelle Vielfalt in unserem
Land wahrt, darf nicht über Gebühr belastet werden.
Doch nun wollen wir mit dem Gesetz zur Stabilisierung des Künstlersozialabgabesatzes einen ersten und
sehr, sehr wichtigen Schritt tun. Künstler und Publizisten
wären in früheren Jahren vermutlich heilfroh gewesen,
wenn sie eine Künstlersozialversicherung gehabt hätten.
Man stelle sich einmal vor, wie viele Werke der Weltliteratur hätte Friedrich Schiller wohl noch schreiben können, hätte er eine ordentliche Krankenversicherung gehabt.
({3})
Während einer seiner etlichen Erkrankungen soll er
seine Nachwelt aufgefordert haben: Sorgt für eure Gesundheit, ohne diese kann man nicht gut sein.
Herzlichen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/1530 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 29 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter
deutscher Streitkräfte an der Multidimensionalen Integrierten Stabilisierungsmission der
Vereinten Nationen in Mali ({0}) auf
Grundlage der Resolution 2100 ({1}) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom
25. April 2013
Drucksache 18/1416
Auswärtiger Ausschuss ({0})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Bundesregierung ersucht heute um Ihre Zustimmung
zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher
Streitkräfte an der Multidimensionalen Integrierten Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen in Mali,
MINUSMA. Die Entwicklung der Sicherheitslage im
Norden Malis ist beunruhigend und zeigt, dass eine Stabilisierung des Landes weiter notwendig ist. Bedauerlicherweise sind durch die bewaffneten Auseinandersetzungen immer wieder Opfer zu beklagen, die durch
einen durch alle Seiten getragenen Vermittlungs- und
Versöhnungsprozess vermieden werden könnten. Mehr
denn je sind wir deshalb gefordert, die uns zur Verfügung stehenden Mittel einzusetzen, um die Lage in diesem westafrikanischen Staat zu verbessern.
Mit dem vorliegenden Mandat zu MINUSMA stehen
wir auch weiterhin zusammen mit unseren europäischen
und internationalen Partnern zu der durch uns übernommenen sicherheitspolitischen Verantwortung für die Region. Das Ziel unseres gesamten Engagements in Mali
bleibt es, die malischen Streitkräfte selbst in die Lage zu
versetzen, die wiedererlangte territoriale Integrität Malis
aufrechtzuerhalten und nachhaltig für Stabilität zu sorgen. Wir Deutsche engagieren uns im europäischen Verbund für die Menschen in Afrika, damit sie ihre Probleme selbst lösen können. Das ist und bleibt der richtige
Ansatz. Ihn verfolgen wir weiter, liebe Kolleginnen und
Kollegen.
({0})
Wir müssen uns weiterhin bewusst sein, dass der militärische Beitrag zu dieser VN-Mission nur ein Teil des
mit unseren Partnern abgestimmten mehrdimensionalen
Ansatzes zur Stabilisierung der Region sein kann. Insbesondere im Norden Malis bleibt die Lage fragil. Eine
zentrale Herausforderung bleibt vor diesem Hintergrund
die Stabilisierung der großen Bevölkerungszentren im
Norden des Landes.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die humanitäre
Lage in Mali hat sich seit dem Beginn der internationalen Bemühungen insgesamt verbessert. Ein ungehinderter Zugang zu allen Regionen Malis ist für die Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe aber
weiterhin noch nicht vollständig sichergestellt. Insbesondere die langfristigen Aufgaben der Entwicklungszusammenarbeit im Norden Malis können bisher nur sehr
begrenzt umgesetzt werden. Zur Stabilisierung des Landes als Grundvoraussetzung zur Verbesserung der Sicherheitslage bleibt deswegen das weitere Engagement
der internationalen Gemeinschaft auch im Rahmen der
VN-geführten Mission MINUSMA erforderlich.
Der Einsatz im Rahmen von MINUSMA bleibt Teil
eines umfassenden Engagements der Bundesregierung
für Mali im Rahmen eines vernetzten Ansatzes. Damit
stellen wir einen Teil der Voraussetzungen zum Einsatz
von Krisenpräventionsmitteln, von Entwicklungshilfe,
dem Ausstattungshilfeprogramm der Bundesregierung
und der Ausbildung von Polizei und Sicherheitskräften
im Rahmen der EU- und VN-Missionen.
Die kürzlich durch die Bundesregierung verabschiedeten afrikapolitischen Leitlinien haben einen Bogen für
unser Engagement in Afrika aufgespannt, aus dem wir
bei weiterer Verbesserung der Sicherheitslage noch weitere Instrumente im Rahmen eines regionalen Ansatzes
zum Einsatz bringen können. So sollen Konfliktursachen
bekämpft und die malischen Behörden und Sicherheitskräfte in die Lage versetzt werden, Sicherheit und staatliche Souveränität selbst aufrechtzuerhalten. Entsprechende Beschlüsse, zum Beispiel für das Engagement im
Rahmen von EUTM Mali, sind auf europäischer Ebene
bereits gefasst. Auch darüber hinaus wird uns ein komplementär und umfassend angelegter Ansatz langfristig
fordern, gerade im Bereich der direkten Stabilisierung
des Landes und beim Aufbau von Sicherheitskräften als
Grundvoraussetzung eines insgesamt erfolgreichen Vorgehens.
Meine Damen und Herren, die Entsendung bewaffneter deutscher Streitkräfte steht unter dem Vorbehalt der
konstitutiven Zustimmung des Deutschen Bundestages.
Die Fortsetzung erfolgt auf der Grundlage der Resolution 2100 ({1}) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 25. April letzten Jahres. Aller Voraussicht
nach wird der UN-Sicherheitsrat nach Ende Juni eine
Verlängerung des Mandats um ein Jahr bis zum 30. Juni
2015 beschließen. Im Rahmen des deutschen Engagements bei MINUSMA können bis zu 150 Soldatinnen
und Soldaten eingesetzt werden, solange ein Mandat des
Sicherheitsrates der Vereinten Nationen und die konstitutive Zustimmung des Deutschen Bundestages vorliegen, längstens jedoch bis zum 30. Juni 2015.
Das Mandat der Mission MINUSMA soll inhaltlich
unverändert bleiben. Die deutsche Beteiligung soll im
zweiten Mandatszeitraum vergleichbar zum bisherigen
Rahmen beibehalten werden.
MINUSMA, die wesentlich von afrikanischen Truppenstellern getragen wird, verfolgt eine umfassende Stabilisierung des Landes. Sie bildet den unverzichtbaren
Gesamtrahmen für den fokussierten Beitrag der EU zum
Aufbau der Streitkräfte.
Das Mandat umfasst die Unterstützung bei der Wiederherstellung der staatlichen Autorität im gesamten
Land, die Unterstützung für die Umsetzung des Fahrplans für den Übergang, die sogenannte Roadmap, den
Schutz von Zivilpersonen, die Förderung und den Schutz
der Menschenrechte, die Unterstützung für humanitäre
Hilfe, die Unterstützung für die Erhaltung des Kulturguts und die Unterstützung für die nationale und internationale Justiz.
Diese abgestimmte Aufgabenteilung mit besonderer
Einbeziehung regionaler Akteure, ergänzt um vielfältige
Maßnahmen der Entwicklungszusammenarbeit und weiterer nationaler und internationaler Bemühungen, illustriert unsere Vorstellung davon, wie eine ganzheitliche
Stabilisierung eines Landes mit einem Konfliktherd gestaltet werden kann, nämlich umfassend, multidimensional und auf Nachhaltigkeit ausgerichtet.
Seit Beginn der internationalen militärischen Mission
und des darüber hinausgehenden umfassenden Engagements
der internationalen Gemeinschaft zur Unterstützung der
malischen Sicherheitskräfte bei der Wiederherstellung
der staatlichen Integrität Malis und der nachhaltigen Verbesserung der Sicherheitslage sind bereits beachtliche
Fortschritte erzielt worden. Der für die Lösung des Konflikts entscheidende politische Prozess hat auch seit dem
Beginn der Mission wesentliche Fortschritte gemacht.
Mali verfügt nach den weitgehend friedlich verlaufenen freien und demokratischen Präsidentschafts- und
Parlamentswahlen wieder über eine demokratisch legitimierte Regierung, die den Reform- und Aufbauprozess
in die Hand genommen und sich den Aussöhnungsprozess zwischen den Volksgruppen im Land als wichtiges
Ziel gesetzt hat. Die Gespräche dazu dauern weiter an,
wobei unstrittig ist, dass man diesen Prozessen Zeit geben muss.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, ich finde, es ist wichtig, dass wir uns immer
wieder vor Augen führen bei all den Problemen, die es in
Ländern gibt, in denen wir uns entwicklungspolitisch
und auch militärisch engagieren, dass diese Probleme
nicht durch die Bundeswehr ausgelöst worden sind, sondern dass unsere Soldatinnen und Soldaten im Gegenteil
einen Beitrag dazu leisten, dass diese Probleme gelöst
werden. Sie können sie nicht alleine lösen, aber sie leisten einen Beitrag zur Problemlösung, und sie haben die
Probleme nicht verursacht.
({2})
Weil dies so ist und weil unsere Soldatinnen und Soldaten in Mali einen sehr wichtigen Beitrag zur Stabilisierung des Landes, zum Aufbau selbsttragender Streitkräfte und für die Zukunft der Menschen in der Region
leisten, ist es gut, dass unsere Soldatinnen und Soldaten
dort sind. Sie sind in unserem Auftrag dort.
Um die Zustimmung zur Verlängerung dieses Auftrages bittet Sie die Bundesregierung. Ich bitte Sie um Unterstützung dieses Antrags.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Jan van Aken für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als
Frankreich im Januar 2013 im Alleingang in Mali intervenierte, haben wir das scharf kritisiert. Wir haben damals auch kritisiert, dass die Bundesregierung Frankreich sofort militärische Unterstützung angeboten hat;
denn damals wie heute - das ist Ihnen wahrscheinlich
genauso klar wie mir - ging es Frankreich nicht um die
Menschen in Mali. Es geht nicht um den Schutz der Zivilbevölkerung oder um die Menschenrechte, sondern
als ehemaliger Kolonialmacht geht es Frankreich natürlich um regionalen Einfluss und auch um den Zugriff auf
die Ressourcen in der Region.
Leider hat der UNO-Sicherheitsrat vor einem Jahr
beschlossen, Frankreich mit einem Militäreinsatz
- MINUSMA - zu unterstützen. Diesen wollen Sie
heute verlängern, und wieder einmal sind Ihre beiden
Argumente - das läuft doch gut und ist erfolgreich und
außerdem weiterhin nötig - falsch. Das wissen Sie auch.
({0})
Ein Blick in den jüngsten Mali-Bericht des UN-Generalsekretärs spricht hier eigentlich Bände: Die Sicherheitslage im Norden des Landes ist katastrophal. Die Gewalt durch bewaffnete Gruppen hat in den letzten drei
Monaten massiv zugenommen; es gab allein 25 Raketenangriffe, und das, obwohl mehr als 7 000 MINUSMA-Soldaten und zusätzlich 3 000 französische Soldaten im
Land sind!
({1})
In Kidal, im Nordosten des Landes, gab es am
17. Mai 2014 wieder offene Kämpfe zwischen malischen Soldaten und der MNLA. Die MNLA, die Nationale Befreiungsbewegung für Azawad, ist eine überwiegend aus Tuareg bestehende Bewegung. Sie will im
Norden einen eigenen Staat errichten. Der Anlass am
17. Mai 2014 war der Versuch des malischen Premierministers Moussa Mara, die Stadt Kidal zu besuchen. Am
Ende gab es an die 50 tote malische Regierungssoldaten.
Das Erschütternde daran ist, dass all das unter den Augen und sogar mit der Billigung der Franzosen stattgefunden hat.
Sie wissen: Nach dem Waffenstillstand im letzten
Jahr hätte die MNLA schon lange Kidal verlassen und
die Waffen abgeben müssen, und die malische Regierung hätte Kidal übernehmen müssen. Es waren die
Franzosen, die dafür gesorgt haben, dass die MNLA die
Waffen nicht abgegeben und weiter die Kontrolle über
Kidal behalten hat. Der Grund dafür ist relativ simpel:
Zum einen kämpfen die Franzosen gemeinsam mit der
MNLA gegen die Islamisten, und zum anderen verhanJan van Aken
deln die Franzosen gerade mit der MNLA über die Ausbeutung der Ressourcen im Norden Malis. Das ist die
Wahrheit.
Um das Ganze einmal auf den Punkt zu bringen - das
muss ich mir immer wieder vor Augen halten -: Sie
schicken jetzt Bundeswehrsoldaten zur Unterstützung
der malischen Regierung, um gegen die MNLA zu
kämpfen, die wiederum von Frankreich unterstützt wird.
Das kann doch nicht wirklich Ihr Ernst sein.
({2})
Es kommt noch schlimmer. Ich habe gesagt: Bei den
Kämpfen um Kidal sind 50 malische Regierungssoldaten
getötet worden. Das sind genau die malischen Soldaten,
die Sie gerade in einer anderen Mission, EUTM Mali,
ausbilden. Da wird es für mich am Ende vollkommen
absurd.
Ich fasse das einmal zusammen: Sie bilden malische
Soldaten für den Kampf gegen Separatisten aus, die von
Frankreich unterstützt werden. Sie unterstützen wiederum Frankreich im Kampf gegen die Islamisten, die wiederum von Katar unterstützt werden, einem Land, das
wiederum Sie mit Waffen beliefern. - Irgendwann finden Sie sich auf beiden Seiten des Konfliktes wieder. Es
ist doch vollkommener Irrsinn, was Sie da machen. Eine
Friedensmission ist das jedenfalls nicht.
({3})
Sie wissen auch: Nach einem Jahr können Sie
MINUSMA nicht als Erfolgsgeschichte verkaufen. Das
Land ist nicht friedlicher geworden. Die Probleme sind
nicht einmal im Ansatz gelöst. Das ist auch kein Wunder: Militärisch - das haben Sie selbst gesagt, Herr
Brauksiepe - lassen sich die Probleme nicht lösen, aber
für einen politischen Prozess haben Sie im letzten Jahr
nullkommanichts getan.
Sie reden hier immer von einem vernetzten Ansatz
- das haben Sie auch eben wieder getan -, in dem
MINUSMA nur ein Baustein sei. Aber ich sehe nur Militär. Ich sehe Bundeswehrsoldaten, die andere Soldaten in
das Einsatzgebiet fliegen. Ich sehe Bundeswehrsoldaten,
die französische Kampfflugzeuge auftanken. Ich sehe
Bundeswehrsoldaten, die malische Soldaten ausbilden.
Ich will einmal konkret hören: Wo sind die anderen Bausteine? Wo sind die politischen Maßnahmen? Was haben
Sie getan?
Es gibt in Mali ganz viele Partner für zivile Konfliktlösungen. Hier sehe ich bei Ihnen gar nichts. Warum setzen Sie sich zum Beispiel nicht dafür ein, dass die jetzt
wieder neu gebildete Wahrheits- und Versöhnungskommission nicht wieder so eine Farce wird wie die Vorgängerkommission, sondern dieses Mal funktioniert? Setzen
Sie sich doch einmal ganz konkret und knallhart dafür
ein, dass in dieser Wahrheitskommission auch die zivilgesellschaftlichen Organisationen mitreden und auch
wirklich mitbestimmen können; denn diese gibt es dort,
und sie machen eine gute Arbeit.
Setzten Sie sich doch endlich für ein vernünftiges
Programm zur Beseitigung der Ursache der Krise ein.
Die Ursache - das wissen Sie so gut wie ich - ist die
Ausgrenzung des Nordens und die Armut im Norden
Malis. Auf diesem Gebiet tun Sie gar nichts.
Anstatt jetzt weitere 15 Millionen Euro in einen Bundeswehreinsatz in Mali zu versenken, sollten Sie diese
15 Millionen Euro in eine zivile Konfliktbearbeitung in
Mali investieren. Damit könnten Sie wirklich für eine
friedliche Situation vor Ort sorgen. Das aber verweigern
Sie.
Zum Abschluss muss ich sagen: Es gäbe in Mali so
viel Gutes zu tun. Aber dieser Militäreinsatz gehört ganz
sicher nicht dazu. Beenden Sie die Beteiligung an
MINUSMA! Vor allem: Sorgen Sie dafür, dass Ihr
Bündnispartner Frankreich endlich mit dieser blutigen
Interessenpolitik aufhört!
({4})
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland
keine Waffen mehr exportieren sollte. Ich will noch hinzufügen: im Moment nicht nach Frankreich und nach
Mali sowieso nicht.
({5})
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Achim Post das
Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Kollege van Aken, die Sache mit dem
Export von Waffen nach Frankreich überlegen wir uns
noch einmal. Wenn wir keine Waffen mehr nach Frankreich liefern und nicht mehr mit den Franzosen zusammenarbeiten dürfen, frage ich mich, mit wem wir als
Bundesrepublik Deutschland Ihrer Ansicht nach überhaupt noch zusammenarbeiten dürfen.
({0})
Ich fange einmal ganz anders an. Was ist in der Außen- und Sicherheitspolitik das wichtigste Gut oder eines
der höchsten Güter? - Vertrauen und Verlässlichkeit.
Das gilt gerade in dieser Debatte. Das macht gerade der
Antrag der Bundesregierung deutlich; denn wir gewährleisten beides mit der Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte in Mali.
Fast alle hier wissen: Mali galt bis 2012 als Musterbeispiel der Demokratisierung in Afrika.
Ende 2012 drohte dieses Land in die Hände von radikalen islamistischen Gruppen und Terroristen zu fallen.
Gewalt, Vertreibung, Hunger und Tod gingen mit dem
Vormarsch dieser Rebellengruppen einher. Es ist vor allem Frankreich zu verdanken, dass der Vormarsch der
Rebellen gestoppt werden konnte.
Seit Beginn des internationalen Engagements gibt es
Fortschritte: die weitgehende Wiederherstellung der territorialen Integrität des Staates, die Verbesserung der Sicherheitslage und die Präsidentschafts- und Parlaments3538
Achim Post ({1})
wahlen im Spätsommer 2013. Ich bin fest davon
überzeugt: MINUSMA und der deutsche Beitrag haben
erheblich zu diesen Fortschritten beigetragen.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, sowohl Mali als auch
unsere UN-Partner verlassen sich auf unseren Beitrag.
Es ist richtig: Es bleibt noch sehr viel zu tun. Die sicherheitspolitische Lage in Mali ist fragil. Die Ziele der
Mission werden nur schrittweise erreicht. Der Dialogund Versöhnungsprozess läuft unstet. Die Bemühungen
um die Friedensverhandlungen wurden durch die Auseinandersetzungen in Kidal unterbrochen. Immer noch
sind Hunderttausende Menschen auf der Flucht.
Warum ist die Verlängerung des Mandats notwendig?
Lassen Sie mich für die SPD-Fraktion vier Kernpunkte
nennen.
Erstens. Mali braucht Unterstützung bei der Umsetzung des Aktionsplans der Regierung, das heißt bei der
Schaffung starker und glaubwürdiger Institutionen, bei
der Wiederherstellung der Sicherheit, bei der Umsetzung
einer aktiven Politik der nationalen Versöhnung, beim
Wiederaufbau des malischen Schulwesens und beim
Aufbau einer aufstrebenden Wirtschaft.
Die malische Regierung kann all diese Herausforderungen noch nicht alleine bewältigen. Deshalb geht es
darum, die politischen Probleme auch politisch zu lösen.
Zweitens. Mali braucht die langfristige Entwicklungszusammenarbeit - das hat der Herr Staatssekretär gerade
ausgeführt - in der Landwirtschaft, bei der Dezentralisierung, bei guter Regierungsführung und bei der Wasserversorgung. Deshalb ist die Erhöhung der Mittel für
die staatliche Entwicklungszusammenarbeit auf 120 Millionen Euro für 2013/2014 richtig. Ich glaube, dass es im
Interesse des gesamten Hauses ist, dass Mali ein
Schwerpunktland der deutschen Entwicklungspolitik
bleibt.
({3})
Drittens. Mali braucht eine nachhaltige sicherheitspolitische Stabilisierung. Dabei leisten die genannten
Missionen der EU gute Arbeit.
Viertens. Mali braucht einen Friedensprozess und einen strukturierten Dialog zwischen den Konfliktparteien. Die Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens in Kidal vor zwei Wochen ist ein erster Lichtblick.
Das gilt es zu nutzen. Wir brauchen verstärkten diplomatischen Druck auf die malische Regierung und die Organisationen der Rebellen, um die zügige Implementierung von Friedensverhandlungen zu erreichen.
Ich fasse zusammen, liebe Kolleginnen und Kollegen:
Deshalb braucht diese Mission internationale Unterstützung.
({4})
Diese Mission braucht eine umfassende politische Strategie, und sie braucht einen steten und zügigen Dialog
zwischen den Konfliktparteien.
Deshalb unterstützt meine Fraktion den Antrag der
Bundesregierung und die vorgeschlagene Mandatsverlängerung. Mali hat ein Recht auf Vertrauen und Verlässlichkeit.
Schönen Dank.
({5})
Das Wort hat der Kollege Uwe Kekeritz für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Herr van Aken, eigentlich habe ich mir geschworen,
nicht auf Sie einzugehen. Aber ich habe gestern einen
Fehler gemacht: Ich habe nämlich Ihre Rede vom
23. Juni 2013 gelesen. Dabei habe ich gelernt, wie Sie
Ihre Reden zusammenstellen: Sie gehen dabei modular
vor. Die Rede, die Sie damals gehalten haben, „fits for
all those questions“. Das ist ganz phantastisch.
({0})
- Vom 23. Juni 2013.
({1})
- Ja, das ist ein Basismodul, das sich immer für solche
Themen eignet. Sie müssen es nur ein bisschen individuell anpassen.
({2})
- Ja, da sind Sie jetzt durcheinandergekommen.
Mit der französischen Intervention und dem vorgesehenen Mandat sind die Gefahren in Mali bei weitem
nicht gebannt. Die Lage - das wurde schon gesagt - ist
erschreckend. Nichtsdestotrotz können wir heute sagen,
dass das Mandat seine Aufgabe in einer noch akzeptablen Weise erfüllt.
Die Alternative zu diesem Mandat und der französischen Intervention wäre ein radikaler islamistischer
Staat gewesen, in dem die Terrorherrschaft zum dominierenden Regierungsprinzip geworden wäre. Es gibt gar
keinen Grund zu der Annahme, dass bei einer erfolgreichen Einnahme Malis der Ausdehnungswille der Terroristen gestoppt gewesen wäre. Es wäre verantwortungslos gewesen, Burkina, Mauretanien, Niger und die
anderen angrenzenden Staaten einer schleichenden terroristischen Unterwanderung oder einer offenen militärischen Konfrontation auszusetzen.
Die Beispiele Boko Haram und Lords Resistance
Army und viele andere Terrorgruppen mit ihren Warlords zeigen doch deutlich, dass solche Terrorgruppen,
so sie einmal Fuß gefasst haben, nicht mehr oder kaum
mehr unter Kontrolle zu bringen sind und welche Gefahren mit ihnen verbunden sind. Boko Haram - Sie wissen
es - hat in den letzten Jahren 4 000 Menschen ermordet.
Beim Kampf gegen die terroristischen Islamisten in Mali
ging es deshalb nicht nur um die Situation in Mali. Es
musste unbedingt eine Destabilisierung der gesamten
Region verhindert werden, genauso wie das Entstehen
eines gefestigten, erstarkten Terrorbandes von Mali bis
Nigeria.
Wir alle in diesem Hause wissen, dass durch dieses
Mandat allein keine langfristige Stabilisierung erfolgen
wird. Wir müssen in Mali Menschenrechte etablieren
sowie soziale und ökologische Gerechtigkeit entwickeln.
Deshalb begrüßen wir es natürlich sehr, dass vor zwei,
drei Wochen in Bamako die Wiederaufnahme der
entwicklungspolitischen Zusammenarbeit beschlossen
wurde, und auch, dass diese Zusammenarbeit europäisch
koordiniert werden soll. Ich bedanke mich in diesem Zusammenhang beim Parlamentarischen Staatssekretär
beim Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Herrn Fuchtel.
Zwei Schwerpunkte der deutschen Entwicklungszusammenarbeit sind besonders zu begrüßen. Den einen
Schwerpunkt bildet die ländliche Entwicklung. Dabei
geht es vor allem um Wasserversorgung und Wasserentsorgung sowie die Ernährungssituation im Land. Den
zweiten Schwerpunkt bildet das Thema Good Governance.
In Mali könnte Good Governance tatsächlich sehr
schnell große Wirkung erzielen. Das mag Sie etwas verblüffen, weil Good Governance in vielen Entwicklungsländern eigentlich zu den Bereichen gehört, in denen nur
wenige Fortschritte zu erzielen sind. Im Sinne von Good
Governance müssten bestehende Altverträge gerade im
Bergbaurecht überprüft werden. Ich fordere den Staatssekretär Fuchtel auf, dafür zu sorgen. Ich spreche ganz
besonders den Goldabbau an. In Mali werden jährlich
circa 90 Zentner Gold gefördert. Tatsächlich verbleiben
von diesem Goldwert in Mali gerade einmal 1 bis 2 Prozent, ein erschreckender Wert. Dies reicht noch nicht
einmal aus, um den ökologischen Schaden, der durch
den auf unqualifizierte Art und Weise betriebenen Goldbergbau entstanden ist, auszugleichen. Bei einer fairen
Besteuerung des Goldabbaus mit 60 oder 70 Prozent
- bei Gold und Diamanten sind solche Sätze durchaus
üblich und legitim - ließe sich der Haushalt Malis innerhalb eines Jahres schlichtweg verdoppeln. Der Staatssekretär hat vorhin gesagt, dass eine Eigenleistung Malis
erwünscht ist und auch erbracht werden muss. Eine solche Besteuerung wäre ein sehr guter Weg dorthin.
Wir müssen allerdings feststellen, dass es Freihandelsverträge gibt, die Investitionen enorm schützen. Da
haben wir ein riesengroßes Problem. Diese Freihandelsverträge sorgen dafür, dass Investitionen einen höheren
Stellenwert als ökologische, soziale oder menschenrechtliche Aspekte haben. Das verhindert natürlich eine
vernünftige Entwicklung in Mali. Deswegen sollten wir
uns Gedanken darüber machen, welche Möglichkeiten
wir haben, alte Abbauverträge zu kündigen. Es kann
nicht sein, dass wir, global gesehen, Milliarden in Form
von Investitionen oder Hilfeleistungen zur Verfügung
stellen und gleichzeitig zulassen, dass die eigentlichen
Werte, über die dieses Land verfügt, zum Beispiel das
Gold, das Land verlassen.
Kollege Kekeritz, Sie sind schon weit über Ihre Redezeit.
Herr van Aken hat mir meine Redezeit geklaut.
Er nicht.
Ich bedanke mich bei Ihnen.
({0})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Philipp
Mißfelder das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
({0})
- Ich kann Ihnen, Herr van Aken, nur sagen: Hören Sie
genau zu! Von dem, was unser Kollege von den Grünen
gerade gesagt hat, konnten Sie etwas lernen, was verantwortungsvolle Opposition und Politik angeht.
Sie wiederholen bei jeder Rede Ihr „ceterum censeo“,
dass Karthago zerstört werden muss. Es lohnt sich
schon, das Ganze genauer zu betrachten. Sie können natürlich eine radikalpazifistische Position vertreten, aber
Sie können uns gerade im Fall von Mali nicht unterstellen, dass das ein interventionistischer Vorstoß der Bundesregierung sei. Ganz im Gegenteil, wir sichern mit
dem, was wir tun, unsere gesamten humanitären Aktivitäten ab. Darum geht es an der Stelle, um nichts anderes.
Deshalb ist es ein Zerrbild, was Sie gezeichnet haben.
Vor dem Hintergrund weise ich das, was Sie sagen, zurück.
({1})
Ich behaupte angesichts der Komplexität des Konflikts nicht, dass Sie mit allem, was Sie sagen, unrecht
haben. Deshalb prüfen wir auch ganz genau, inwiefern
dieses Mandat Sinn macht oder nicht. Wir können ein
Jahr nach Beginn des MINUSMA-Mandats sagen: Der
Einsatz war richtig, und er ist es immer noch. Deshalb
unterstützen wir die Verlängerung und werden diesem
Mandat auch zustimmen.
Die Ereignisse der vergangenen Wochen - ich verweise auf die Ausschreitungen in der nordmalischen
Stadt Kidal am 17. Mai - machen deutlich, dass die Lage
weiterhin fragil ist, selbst wenn die Medien sich nicht in
dem Umfang damit beschäftigen, wie wir das hier im
Deutschen Bundestag mit Blick auf das Mandat tun müssen.
Wir sind in einer schwierigen Situation. Es sind noch
immer über 200 000 Menschen auf der Flucht. Davon
befinden sich rund 140 000 Menschen in den Nachbarländern Malis, sodass die Gefahr besteht, dass der Konflikt übergreift. Vor dem Hintergrund haben wir die Verantwortung, uns um diese Nachbarländer zu bemühen,
sie zu stabilisieren und ihnen die Möglichkeit zu geben,
mit der Flüchtlingsproblematik klarzukommen.
Das Mandat MINUSMA, wozu Deutschland konkret
einen sehr bescheidenen Beitrag leistet, ist eine beruhigende und stabilisierende Maßnahme. Wir beteiligen uns
mit bis zu 150 Soldatinnen und Soldaten. Davon sind
zurzeit 77 im Einsatz. Das ist wie jedes Bundeswehrmandat eine nicht ungefährliche Mission. Deshalb danke
ich all denjenigen, die für unser Land dort ihren Dienst
tun.
({2})
Wir beteiligen uns darüber hinaus mit einer polizeilichen Komponente, die aus bis zu zehn Polizisten besteht.
Die Hauptaufgabe der deutschen Soldaten liegt weiterhin, auch beim neuen Mandat, darin, den Lufttransport
und die Luftbetankung zu unterstützen und in Führungsund Verbindungsstäben Beratungs- und Unterstützungsaufgaben zu übernehmen. Das ist wichtig; denn das zeigt
den Charakter des Mandats und wie wir in diesem Land
vorgehen, nämlich unterstützend und nicht interventionistisch.
Das gehört aus meiner Sicht zu den Kernaufgaben der
Bundeswehr und fügt sich in das ein, was die Bundesregierung mit ihrer Afrika-Strategie anstrebt. Auch das ist
- das sage ich hier ganz deutlich - an manchen Stellen
noch ausbaufähig. Wir diskutieren und ringen darum,
welcher Weg der beste für Afrika sein soll. Ich schließe
nicht aus, dass auch militärische Maßnahmen zur Konfliktlösung gehören können. Sie sind aber nicht ein
Allheilmittel. Das hat im Übrigen auch niemand von unserer Fraktion oder von der Regierung gesagt. Insbesondere der Beitrag von Staatssekretär Brauksiepe hat gezeigt, dass sich dieses Mandat in ein Gesamtkonzept
einfügt, das entwicklungspolitische und diplomatische
Maßnahmen umfasst.
Vor dem Hintergrund können wir diesem Mandat zustimmen. Wir hoffen, dass in den nächsten zwölf Monaten dieses Mandat einen kleinen stabilisierenden Beitrag
für das Land leistet.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({3})
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Dirk Vöpel das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Afrika wird unterschätzt. In weiten Teilen des Kontinents vollzieht sich ein dramatischer, wenn nicht gar
epochaler Wandel zum Besseren. Es ist noch nicht lange
her, da hätte das niemand für möglich gehalten, da galt
die Wiege der Menschheit als hoffnungsloser Fall. Der
Name Afrika war nur ein anderes Wort für Hunger, Gewalt, Stagnation und millionenfaches Elend. Natürlich
gibt es nach wie vor Regionen, auf die das alles zutrifft;
aber in seiner Einseitigkeit ist dieses Afrika-Bild, das
viele Menschen noch immer im Kopf haben, definitiv
falsch.
Viele Länder Afrikas erleben eine ökonomische und
soziale Gründerzeit, die in ihrer Dynamik vielleicht nur
mit dem Aufbruch der asiatischen Tigerstaaten vergleichbar ist. Mali gehört zu den Ländern, die nach wie
vor auf der Schattenseite dieses afrikanischen Aufbruchs
stehen. Es ist eines der ärmsten Länder der Welt und
stand vor zwei Jahren unmittelbar vor dem Staatszerfall.
Eine Rebellion im Norden und ein Putsch im Süden
hatten den westafrikanischen Staat innerhalb eines Vierteljahres von einer scheinbar stabilen Demokratie in einen neuen internationalen Krisenherd verwandelt. Nur
das Eingreifen der internationalen Gemeinschaft, insbesondere der Franzosen im Rahmen der Operation Serval,
hat den Absturz in das völlige Chaos verhindert. Seit
dem Anlaufen der VN-Mission MINUSMA, die von
afrikanischen Partnern ganz wesentlich mitgetragen
wird, ist die Gesamtsituation in Mali nicht schlechter,
sondern besser geworden. Staatsgewalt und territoriale
Integrität sind im Wesentlichen wiederhergestellt, wenn
man von den weiten Wüstengebieten im Norden absieht.
Diese sind schon aus geografischen Gründen nur sehr
schwer zu kontrollieren.
Die Sicherheitslage und damit auch die Arbeitsvoraussetzungen für die zivilen Aufbauhelfer konnten im
Süden und in der Mitte des Landes erheblich verbessert
werden. Die politische Stabilisierung hat mit den Präsidentschafts- und den Parlamentswahlen im letzten Jahr
ebenfalls große Fortschritte gemacht. Nur wo sich die regionale Sicherheitslage entspannt, verbessert sich auch
die humanitäre Situation. Es gibt also Hoffnung für
Mali; aber es ist noch lange nicht über den Berg.
Die Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft und damit auch durch Deutschland bleibt notwendig. Sie bleibt notwendig, um das bisher Erreichte abzusichern und weitere Fortschritte überhaupt erst in
Reichweite zu bringen. Gerade die besorgniserregenden
Ereignisse der jüngsten Tage im Norden Malis zeigen
überdeutlich, dass die Fähigkeiten auch zu einem robusten Vorgehen zurzeit nicht verzichtbar sind, wenn man
den mühsam erkämpften Erfolg nicht aufs Spiel setzen
will.
Diese Ereignisse zeigen aber auch, dass der stockende
Friedensprozess wieder in Gang kommen muss. Seit den
Wahlen sind hier leider keine sichtbaren Fortschritte erzielt worden. Eine Befriedung des Nordens hängt aber in
hohem Maße gerade von diesen politischen Fortschritten
ab. Jetzt ist weiterer diplomatischer Druck auf die malische Regierung und die MNLA sowie auf deren Verbündete zwingend erforderlich.
({0})
Heute liegt uns der Antrag der Bundesregierung auf
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher
Streitkräfte an der MINUSMA-Mission der Vereinten
Nationen in Mali vor. Das deutsche Engagement bleibt
hinsichtlich der Instrumente und des entsandten Personals im Rahmen der Gesamtoperation MINUSMA eine
kleine Mission. Die Bereitstellung von taktischen Lufttransportkapazitäten wie auch - im Anforderungsfall die zugesicherte Fähigkeit zur Luftbetankung gehören
jedoch zu den Kompetenzen, ohne die eine solche Mission kaum durchgeführt werden könnte.
Bemerkenswert und vorbildlich finde ich die konsequente entwicklungspolitische Unterfütterung und Flankierung des MINUSMA-Einsatzes. Es ist sehr erfreulich
und markiert durchaus einen beachtlichen Fortschritt,
dass mit den deutsch-malischen Regierungsverhandlungen Mitte Mai nun auch ganz offiziell die vollständige
Wiederaufnahme der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit in Mali erfolgen kann.
Auch die Mission EUTM Mali und die zivile EUMission EUCAP Sahel Mali zeigen deutlich, dass der
Lösungsansatz für Mali gut vernetzt und breit aufgestellt
ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, für unsere internationalen Partner, aber vor allem für Mali ist unsere Unterstützung auch weiterhin wichtig und notwendig.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Der Kollege Florian Hahn hat nun für die CDU/CSUFraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! In Malis Norden liegt die Oasenstadt Timbuktu:
Zentrum islamischer Gelehrsamkeit, geprägt vom Sufismus, Heimat Tausender Handschriften aus dem Mittelalter, Standort vieler Heiligengrabmäler, Moscheen und
Bibliotheken, UNESCO-Weltkulturerbe der Menschheit.
Erinnern wir uns an das Frühjahr 2012: Die Regierung in Bamako wird gestürzt. Tuareg und Söldner aus
dem libyschen Bürgerkrieg erobern die Stadt Timbuktu.
Nach wenigen Tagen werden die Tuareg von Islamisten
der Gruppe Ansar al-Din aus der Stadt gejagt. Zusammen mit al-Qaida des Islamischen Maghreb versuchen
diese, die Scharia in ihrer strengsten Form durchzusetzen. Es beginnt ein Regime des Terrors und der Verwüstung. Mehrere berühmte Mausoleen wurden als „unislamisch“ zerstört, eine Bibliothek mit unersetzlichen
Handschriften wurde in Brand gesetzt.
Erst Ende Januar 2013 machte die Militäraktion Serval der Franzosen diesem Spuk Gott sei Dank ein Ende ein gutes Beispiel, das zeigt, warum in bestimmten Fällen auch kurzfristige militärische Interventionen unerlässlich sein können.
Ziel der Mission MINUSMA in Mali ist es nun, Bevölkerungszentren zu stabilisieren, staatliche Autorität
im ganzen Land wiederherzustellen und den Übergangsfahrplan zu unterstützen, vor allem den nationalen politischen Dialog.
Der deutsche militärische Beitrag dazu ist im Schwerpunkt taktischer Lufttransport mit zwei Flugzeugen vom
Typ Transall, die in Dakar im Senegal und in Bamako
bereitstehen. Sie bilden die German Airlift Support
Group und fliegen fast täglich Transporte in den unruhigen Norden zur Versorgung der UN-Truppen. Außerdem
stellen wir optional Luftbetankung für französische
Streitkräfte bereit, und Einzelpersonal ist in den Führungsstäben bzw. als Verbindungsoffizier tätig.
Nicht alle Probleme sind mit militärischen Mitteln
lösbar - schon gar nicht ethnische Konflikte. Aber wir
müssen als Übergangslösung so viel Stabilität und Sicherheit schaffen, dass ein geordneter Neuaufbau von Sicherheitskräften und Verwaltungsapparat beginnen kann.
Im nichtmilitärischen Bereich hilft Deutschland durch
die Bereitstellung von Krisenpräventionsmitteln - allein
2013 10 Millionen Euro - für Versöhnung und Entwicklung im Norden Malis, durch humanitäre Hilfe, insbesondere Nahrungsmittelhilfe - hierfür sind 8,1 Millionen
Euro ausgegeben worden - und die Entwicklungszusammenarbeit: Hier werden allein 2013/2014 120 Millionen
Euro aus den Mitteln der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit und 20 Millionen Euro über nichtstaatliche Träger bereitgestellt. Außerdem beteiligen wir uns
an der Ausbildung von Polizei und Sicherheitskräften.
Lassen Sie mich abschließend sagen: Unsere Transportflieger leisten unter extremen Bedingungen Herausragendes. Wir müssen auch hier unserer Fürsorgepflicht
nachkommen und sicherstellen, dass bei den Einsatzbedingungen, was Material und Einsatzzeiten angeht, die
Belastungsgrenze nicht überschritten wird.
Militärische Unterstützung und Ausbildung in Mali
stehen für uns nicht allein; wir verfolgen zu Recht einen
ganzheitlichen Ansatz beim Staatsaufbau. Versöhnung
aller Volksgruppen und Beteiligung aller Regionen am
Staatswesen sind Voraussetzungen für langfristige Stabilität. Die jüngsten Rückschläge im Norden zeigen deutlich: In Mali werden wir einen längeren Atem brauchen.
Aber unser Engagement ist wichtig und notwendig für
Mali, für die Menschen dort und ist nicht zuletzt auch in
unserem eigenen Interesse.
Den zivilen und militärischen Beteiligten an der Unterstützung in Mali wünsche ich Gesundheit, Erfolg und
Gottes Segen bei ihrem Tun.
Danke schön.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/1416 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Kai
Gehring, Özcan Mutlu, Beate WalterRosenheimer, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Gesetzes über befristete Arbeitsverträge in der Wissenschaft ({0})
Drucksache 18/1463
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({1})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Kai Gehring für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vor zwei Wochen hat dieses Haus gegen die Stimmen
der grünen Bundestagsfraktion ein milliardenschweres,
aber ungerechtes Rentenpaket verabschiedet. Aber was
ist mit der jungen Generation? Was tut die Bundesregierung für den wissenschaftlichen Nachwuchs in Deutschland, der mit seinem Wissen und Können für dringend
benötigte Innovationen sorgt? Die Antwort ist: bisher
nichts. Wenn es um verlässliche Perspektiven für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an den Hochschulen und Forschungseinrichtungen geht, zeigt sich
diese Koalition erschreckend ideenlos und erschreckend
tatenlos. So darf es nicht bleiben.
({0})
Hochschulen und Forschungseinrichtungen sind
Herzstücke unseres Wissenschaftssystems. Sie müssen
attraktive Arbeitgeber mit guten und zukunftsfähigen
Arbeitsbedingungen sein.
Schauen wir uns den Gesetzentwurf an, den wir heute
debattieren. Ich möchte zunächst fragen: Liebe Koalition, warum muss diese Initiative zur Novellierung des
Wissenschaftszeitvertragsgesetzes eigentlich aus der Opposition kommen? Sie selbst kündigen doch im Koalitionsvertrag eine Novelle des Gesetzes an.
({1})
Der Gesetzentwurf, den wir heute in den Bundestag einbringen, wurde schon im Frühjahr 2013 von grün-rot
und rot-grün regierten Ländern in den Bundesrat eingebracht. Sie - und hier meine ich vor allem die Kolleginnen und Kollegen der SPD - hätten längst handeln können. Ihre Zögerlichkeit als Koalition schadet dem
wissenschaftlichen Nachwuchs.
({2})
Meine Fraktion hat die prekären Arbeitsbedingungen
des wissenschaftlichen Nachwuchses schon mehrmals
im Bundestag zum Thema gemacht. Sie kennen die Zahlen: Beinahe neun von zehn Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftlern an den deutschen Hochschulen und
Forschungseinrichtungen sind befristet beschäftigt. Das
gilt auch für die Phase nach der Promotion, in der
51 Prozent der Verträge an den Hochschulen und 40 Prozent der Verträge in den Forschungseinrichtungen eine
Laufzeit von unter einem Jahr haben. Das sind Zustände,
die sich kein Unternehmen leistet, das genauso wie der
Wissenschaftsbetrieb auf Spitzenpersonal angewiesen
ist. Hier ist etwas aus dem Lot geraten, und das müssen
wir ändern.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sprechen hier
durchaus von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die gut und gern ihr viertes, teils sogar fünftes Lebensjahrzehnt erreicht haben. Diese erfahrenen Kräfte
wollen Sie weiter mit kurzfristigen Verträgen hinhalten.
({4})
Mit einer solchen Politik schafft man keine Innovationen
und kein wettbewerbsfähiges Wissenschaftssystem, das
kreative Menschen an sich bindet. Man schafft vielmehr
Frustration und riskiert das Abwandern dieser klügsten
Köpfe in die Wirtschaft oder ins Ausland. Das kann hier
niemand ernsthaft wollen.
({5})
Mit unserer Novelle des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes schlagen wir konkrete Verbesserungen vor. Dabei
ist uns bewusst, dass es nur ein Baustein ist, den wir im
deutschen Wissenschaftssystem voranbringen müssen.
Im Bereich dieses Gesetzes hat der Bund originäre Zuständigkeiten und Handlungsmöglichkeiten. Deshalb
schieben Sie in der Debatte die Verantwortung nicht nur
auf die Länder und Hochschulen, sondern lassen Sie uns
dort, wo wir es als Bund können, einen klaren Rahmen
setzen!
({6})
Zu diesem klaren Rahmen gehört, Mindestvertragslaufzeiten für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
in der zweiten Qualifizierungsphase einzuführen. Wer
seine Promotion erfolgreich abgeschlossen hat, soll nur
noch in begründeten Ausnahmefällen eine Vertragslaufzeit von unter zwei Jahren erhalten. Außerdem soll für
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in allen Qualifizierungsphasen gelten, dass die Laufzeit der Verträge, die
auf Drittmittelbefristung beruhen, mindestens der Laufzeit der Finanzierungsbewilligung des Drittmittelgebers
entsprechen muss. Sorgen wir endlich dafür, dass sachgrundlose Befristungen Vorrang haben vor Drittmittelbefristungen. Das täte dem wissenschaftlichen Nachwuchs
gut. Mit diesen Vorschlägen können wir einiges tun gegen das Befristungsunwesen in unserem Wissenschaftssystem.
({7})
Wenn wir schon dabei sind: Lassen Sie uns auch die
Tarifsperre im Wissenschaftszeitvertragsgesetz aufheben, um so die Autonomie der Hochschulen zu stärken.
Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreterinnen und -vertreter im Wissenschaftsbereich müssen endlich die Möglichkeit erhalten, eigene adäquate Tarifregelungen für
die Wissenschaft auszuhandeln. Es ist aus unserer Sicht
allerhöchste Zeit, dass die Bundesregierung auch junge
Beschäftigte in Deutschland in den Blick nimmt. Promovierende und Postdocs an den Hochschulen und Forschungseinrichtungen sind Teil einer Generation, von
der sich dieses Land superwichtige Impulse für seine
wirtschaftliche, soziale und ökologische Modernisierung
erhofft.
Um diese Hoffnung zu erfüllen, brauchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verlässliche Perspektiven und planbare Karrierewege. Das beginnt bei der
Novelle des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes, es geht
weiter bei der Zukunft der Wissenschaftspakte und endet
im Kern bei der dringend notwendigen Verbesserung der
Grundfinanzierung der Hochschulen. Letzterem, liebe
Koalitionäre, haben Sie im Haushalt 2014 und in der
gestrigen Bereinigungssitzung des Haushaltsausschusses
einen Bärendienst erwiesen. Die bei Schäuble zwischengeparkte halbe Milliarde Euro fließt nun doch nicht in
Bildung und Forschung, sondern Sie stopfen damit Lücken im Gesamthaushalt.
({8})
Damit hätten Sie so viel für die Wissenschaft tun können, unter anderem ein neues Juniorprofessorenprogramm mit Tenure Track auflegen, wie wir es in den
Haushaltsberatungen beantragt haben. Ihre Politik ist dagegen unsäglich zukunftsvergessen.
({9})
- Wenn Sie das „alte Kamelle“ nennen, dann rate ich Ihnen: Sprechen Sie einmal mit Vertretern des Wissenschaftsbetriebs. Die werden Ihnen sagen, dass ein neues
Juniorprofessorenprogramm Perspektiven schafft,
({10})
wichtig und ein Fortschritt ist. Das könnten Sie machen,
anstatt 500 Millionen einfach so zu versenken.
({11})
Ich sage Ihnen: Es ist dringend notwendig, Wissenschaft als Beruf wieder attraktiver zu machen. Wir wollen es im Wissenschaftssystem fair statt prekär.
({12})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat die Kollegin
Alexandra Dinges-Dierig das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Das Wichtigste vorweg:
Deutschland ist ein hervorragender und attraktiver Forschungsstandort. Diesen gilt es weiter zu stärken. Dies
haben wir bei den Haushaltsberatungen ganz deutlich
gezeigt. Die Regierungskoalition aus CDU, CSU und
SPD hat sich ausgesprochen für zusätzliche 3 Milliarden
Euro für die Forschung und, lieber Herr Gehring, für
weitere 6 Milliarden Euro, die sich auf Kita, Schulen und
Hochschulen verteilen. Es bleibt also bei den 9 Milliarden Euro, egal bei welchem Posten sie nun stehen.
({0})
Unsere politische Verantwortung ist es, den geeigneten
Rahmen für erfolgreiche Forschung zu schaffen. Da sind
wir beieinander, Herr Gehring; das haben auch Sie gesagt. Wir sind auch da beieinander, dass das Wissenschaftszeitvertragsgesetz dazu ein Baustein ist.
Wir debattieren heute das Wissenschaftszeitvertragsgesetz auf Wunsch der Grünen noch einmal. Ich muss
aber sagen - Sie haben es selber erwähnt, Herr Gehring -:
Ihr Gesetzentwurf entspricht dem Gesetzentwurf der
SPD aus dem letzten Jahr
({1})
- nahezu -; ich vermisse die Ergebnisse der Debatten
und der Anhörungen des letzten Jahres.
({2})
Es hätte uns in der Diskussion viel weiter gebracht,
wenn Sie dies konstruktiv eingebaut hätten. Dann hätten
wir jetzt über andere Inhalte sprechen können, nämlich
über die Stärkung der Forschung und die Schaffung verlässlicher Karrierewege für Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler.
({3})
Weil es ein Gesetzentwurf von gestern ist, wird die
CDU/CSU ihn auch diesmal wieder ablehnen.
({4})
Meine Damen und Herren, Kern des Gesetzes ist - für
diejenigen, die sich damit noch nicht beschäftigt haben die Regelung von Möglichkeiten, im Bereich der Wissenschaft Arbeitsverträge abzuschließen, die befristet
sind. Das betrifft besonders Nachwuchswissenschaftler,
also Personen, die ihr Studium abgeschlossen haben. Es
geht um die Befristung für einen festen Zeitraum, und
zwar ohne Angabe von Gründen. Natürlich gibt es auch
befristete Arbeitsverträge mit Angabe von Gründen.
Hier geht es insbesondere um Arbeitsverträge mit Befristungsgrund, zum Beispiel bei Drittmittelprojekten
oder auch wegen notwendiger Kinderbetreuung oder
Pflege.
Eine Evaluation aus dem Jahr 2011 und eine Expertenanhörung im vergangenen Jahr haben gezeigt: Das
Wissenschaftszeitvertragsgesetz wird in hohem Maße
der projektorientierten Arbeitsweise in der Forschung
gerecht. Es gibt den Arbeitgebern die notwendige
Rechtssicherheit bei Arbeitsverträgen, weil es einfach zu
handhaben ist. Außerdem - für diejenigen, die das nicht
so gerne hören - stößt das Wissenschaftszeitvertragsgesetz auch bei den jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aufgrund ihrer individuellen Arbeitsweise
auf hohe Akzeptanz. - Diese Punkte sollten wir nicht unter den Tisch fallen lassen.
Darüber hinaus können wir in Deutschland beobachten: Seitdem wir das Wissenschaftszeitvertragsgesetz
haben, nimmt die Anzahl der Promotionen enorm zu.
Wir liegen in Deutschland inzwischen weit über dem
EU-Durchschnitt. Dass wir international attraktiv sind,
das zeigt der nicht nachlassende Zustrom von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern an unsere Universitäten. Das ist eine erfreuliche Entwicklung.
({5})
Ich stelle also fest: Das Wissenschaftszeitvertragsgesetz ist im Kern ein wichtiger und richtiger Baustein. Mit
seiner Hilfe gewinnen wir die Besten der Besten. Gleichzeitig - das haben Sie leider nicht erwähnt - können wir
den Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftlern vermehrt die Möglichkeit des Einstiegs
in eine wissenschaftliche Laufbahn bieten. In dem Zeitraum seit 1992 bis heute stieg die Zahl derer immerhin
um 80 Prozent. Das ist ein gutes Zeichen für einen sich
entwickelnden Wissenschaftsstandort.
({6})
Meine Damen und Herren, aber neben viel Licht gibt
es auch Schatten. Dieser Schatten ist die zunehmende
Zahl kurzfristiger Arbeitsverträge. Dies war - und ist nicht die Intention des Gesetzgebers in 2007. Ich gebe
Ihnen zu 100 Prozent recht, dass hier Handlungsbedarf
besteht.
({7})
Die Debatten des letzten Jahres haben aber gezeigt, dass
es keine Lösung ist, die Fristen mit Mindestzeiten bei
gleichzeitig begründeter Verkürzungsmöglichkeit zu belegen.
({8})
Denn das wiederum führt zu Starrheit in einem flexiblen
System, zu Rechtsunsicherheit und vor allem zu neuer
Ungerechtigkeit.
({9})
Eine kurzfristige Verlängerung der bestehenden Verträge, für sechs Monate, weil jemand mit der Arbeit
nicht fertig ist, weil jemand in die Familienphase eintritt
oder weil ein Überbrückungsvertrag nötig ist, bis ein
neuer Vertrag geschlossen wird, wird extrem schwierig.
Das hemmt unsere Entwicklung. Deshalb sind in meinen
Augen systemfremde Änderungen der falsche Weg.
Der Gesetzentwurf der Grünen, so wie er jetzt vorliegt, ist in meinen Augen wieder ein Beispiel dafür, dass
versucht wird, Symptome zu bekämpfen, ohne die Ursachen aufzudecken.
({10})
Ich sage es ganz deutlich: Es gibt kein Problem von gesetzgeberischer Seite, sondern ein Umsetzungsproblem
in den Ländern. Die Hochschulen haben in vielen Ländern nicht den Stellenwert, der ihnen zusteht.
({11})
Es fehlen - das zeigt auch die Empfehlung der HRK
vom 13. Mai 2014; das ist gerade einmal drei Wochen
her - die rechtlich und finanziell verlässlichen Rahmenbedingungen an den Hochschulen. Hier sind die Länder
in der Pflicht.
Lassen Sie mich eines deutlich machen: Die Regierungskoalition von CDU, CSU und SPD hat in den vergangenen Tagen beschlossen, dass der Bund zukünftig
die Kosten für das BAföG vollständig übernimmt. Damit
haben die Länder zusätzliche finanzielle Möglichkeiten,
in Schule und Hochschule zu investieren. Jetzt geht es
darum, dass die Länder dies auch tun.
({12})
Im Bereich der Hochschulen zum Beispiel könnte mit
diesen Mitteln eine veränderte, attraktive Personalstruktur aufgebaut werden.
Neben den Ländern sind bezüglich der Umsetzung
des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes auch die Hochschulen in der Pflicht. Herr Gehring hat gerade einige
Zahlen genannt; die sind richtig. Ich möchte aber zeigen,
dass, wenn man eine andere Auswahl von Zahlen heranzieht, man vielleicht zu einem anderen Ergebnis kommt.
Frau Kollegin, das können Sie gerne tun, aber ab jetzt
geht das zulasten der Kollegen Ihrer Fraktion.
Ich bin auch sofort fertig. - An den Hochschulen haben wir 53 Prozent kurzfristige Verträge, an HelmholtzInstituten nur 23,8 Prozent. An den Hochschulen haben
wir 11 Prozent langfristige Verträge, an Helmholtz-Instituten 50 Prozent. Das spricht für sich.
({0})
Das Wissenschaftszeitvertragsgesetz schafft einen
flexiblen Rahmen. Schwächen in der Umsetzung des
Gesetzes sind bei den Ländern und Hochschulen zu beheben. Der Bund will gern dabei unterstützen, dieses zu
ändern. Das werden wir mit der Änderung des Artikels 91 b Grundgesetz auch tun. Die Flexibilität zu nehmen, ist der falsche Weg. Deshalb werden wir vonseiten
der CDU/CSU, wie zu Beginn ausgeführt, den Gesetzentwurf ablehnen.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat der Kollege Ralph Lenkert für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geehrte Kolleginnen
und Kollegen! Eine Novelle zum Wissenschaftszeitvertragsgesetz ist überfällig. Es reicht aber nicht, Frau
Dinges-Dierig, nur die Schwächen zu benennen und alles andere schönzubeten; Sie müssen handeln.
({0})
Mit dem Handeln ist das bei Ihnen aber so eine Sache:
Sie kündigen an, und es passiert nichts.
Wie würden Sie sich fühlen, wenn Sie mit 19 ein Studium beginnen, nach Studienabschluss über vier Jahre in
20 Stunden Teilzeit mit Halbjahresverträgen bis zur Promotion angestellt werden, aber real über 40 Stunden im
Labor schuften und abends zu Hause büffeln, um dann
weitere sechs Jahre mit jahresbefristeten Teilzeitverträgen am wissenschaftlichen Fortschritt der Bundesrepublik teilzuhaben und sich anschließend mit Quartalsverträgen auf Drittmittelprojekten bis zur Rente hangeln zu
müssen? Ausgebeutet und missbraucht würden Sie sich
fühlen - zu Recht. Deshalb ist es höchste Zeit, dieses
Gesetz zu hinterfragen.
({1})
Mit flexibleren Forschungsmöglichkeiten und mehr
Chancen für angehende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler begründete die letzte GroKo die Einführung
dieses Gesetzes. Was hat es für unseren wissenschaftlichen Nachwuchs an den Hochschulen gebracht? Nur
noch einer von zehn Wissenschaftlern hat eine feste
Stelle. 50 Prozent der Befristungen sind kürzer als ein
Jahr. Kettenbefristungen sind die bittere Realität. Damit
haben die Betroffenen oft mehr abgelaufene Arbeitsverträge als Lebensjahre. An den außeruniversitären Forschungseinrichtungen ist die Situation nicht viel besser.
({2})
Und die Folgen? Es ist kein Wunder, dass Absolventen die erste Chance ergreifen, in die Industrie oder ins
Ausland zu wechseln.
({3})
Mehr Geld, mehr Anerkennung und eine planbare Zukunft sind starke Argumente.
({4})
Entscheiden sich Akademikerfamilien für die Wissenschaft, dann wird Familienplanung verdammt schwer,
und der Kinderwunsch wird häufig zu lange aufgeschoben. Ignorieren Sie dies nicht länger! Sie beschädigen
die Zukunft unserer Familien.
({5})
Begreifen Sie endlich, dass Sie so auch die Qualität unserer Hochschulen und Forschungseinrichtungen ruinieren!
Die ständigen Projektbefristungen bei Verwaltungsangestellten und technischem Personal sind für die Linke
ebenfalls inakzeptabel. Unternehmen der freien Wirtschaft haben auch keine Auftragssicherheit über mehrere
Jahre. Trotzdem arbeitet die Industrie mit wesentlich
mehr Dauerverträgen. Warum? Weil es strengere Gesetze für Befristungen gibt. Ehrlich: Unsere Professoren
sind doch nicht unfähiger als die Manager in der Industrie. Bringen wir Hochschulen und Forschungseinrichtungen mit härteren Befristungsvorschriften zum Abschluss von Dauerverträgen! Alle Beschäftigten haben
ein Recht auf eine planbare Zukunft.
({6})
Es sind erste gute Schritte, die unsere Kollegen von
Bündnis 90/Die Grünen mit ihrem Gesetzentwurf vorschlagen: weniger Willkür bei Befristung durch die verpflichtende Einbeziehung der Tarifpartner und durch garantierte Qualifizierungszeiten bei wissenschaftlichen
Befristungen. Das unterstützt die Linke.
({7})
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Doktoranden und das gesamte Personal an Hochschulen und Forschungseinrichtungen haben für die Linke Anspruch,
erstens, auf eine Mindestbefristungszeit der Verträge
nach Dauer der Qualifizierungsphase, jedoch mindestens
auf zwölf Monate, zweitens, bei Drittmittelprojekten auf
eine Mindestbefristung nach Projektdauer und gesicherter Finanzierung, jedoch mindestens auf zwölf Monate,
und, drittens, einen rechtssicheren Anspruch auf Verlängerung vereinbarter Befristungen um die Länge von Kinderbetreuungs- und Pflegezeiten. Wir fordern, dass bei
Drittmittelprojekten das nichtwissenschaftliche Personal unbefristete Arbeitsverträge erhält. Grundsätzlich
wollen wir die Schaffung von Dauerarbeitsplätzen für
Personal in Lehre und Forschung an öffentlichen Hochschulen und Forschungseinrichtungen für die Wiederbelebung des akademischen Mittelbaus.
({8})
Es wird höchste Zeit, die Lehr-, Lern- und Forschungsbedingungen an öffentlichen Einrichtungen des Wissenschafts- und Forschungssystems zu verbessern. Machen
Sie da mit! Verweigern Sie sich nicht; sonst gefährden
Sie den Wissenschaftsstandort Deutschland.
({9})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Simone Raatz für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren!
Herr Gehring, ich bin schon ein bisschen verwundert,
dass Ihre Fraktion, Bündnis 90/Die Grünen, es wirklich
schafft, einen SPD-Gesetzentwurf aus dem vergangenen
Jahr zu 100 Prozent, nahezu wortwörtlich, als ihren eigenen in diese Debatte einzubringen
({0})
und dazu nicht ein Wort zu sagen. Man kann das natürlich verschmitzt machen. Ich verstehe es ja. Es ist Aufgabe der Opposition, ein paar Themen zu setzen und zu
sagen: Guckt mal, das habt ihr vergangenes Jahr gemacht. - Aber Sie sollten es wirklich nicht so unkritisch
zu 100 Prozent übernehmen. Vielleicht haben Sie es
nicht ganz zu 100 Prozent übernommen. Dann sind es
99,9 Prozent; denn es sind wirklich nur zwei Punkte anders und auch die haben Sie aus Vorlagen von Nordrhein-Westfalen und Hamburg abgeschrieben.
({1})
Ein bisschen Kreativität hätte ich mir sehr gewünscht,
weil - da stimme ich, wie viele andere auch, mit Ihnen
überein - gute Arbeit in der Wissenschaft ein ganz wichtiges Thema ist.
({2})
Ich denke, dass wir uns des Themas „gute Arbeit in
der Wissenschaft“ in dieser Legislatur unbedingt annehmen müssen. Hier wurden schon einige Argumente genannt.
Kollegin Raatz, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Klein-Schmeink?
Gerne.
Kann ich, nachdem Sie darauf hingewiesen haben,
dass der Gesetzentwurf im Wesentlichen dem entspricht,
was rot-grün regierte Länder in den Bundesrat eingebracht haben, davon ausgehen, dass Sie diesem Gesetzentwurf im weiteren Verfahren zustimmen werden?
({0})
Ich denke, Sie haben verfolgt, dass wir weiter an einer
Vorlage arbeiten werden, gemeinsam mit unserem Koalitionspartner. Ich werde in den paar Minuten Redezeit,
die ich habe, schon einige Punkte benennen, an denen
wir über die Bundesratsinitiative hinausgehen. Prinzipiell entspricht Ihr Gesetzentwurf dem vom vergangenen
Jahr, den wir damals gerne durchgebracht hätten. Aber
seitdem ist ein bisschen Zeit vergangen, und wir werden
das nun weiterentwickeln. Wir würden uns freuen, wenn
Sie uns dabei unterstützten.
({0})
Im vergangenen Jahr wurde intensiv über dieses
Thema debattiert; ich war noch nicht dabei, aber konnte
die Debatte nachverfolgen. Die Zahlen haben sich seitdem nicht verändert: 83 Prozent der hauptberuflich tätigen wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
an Hochschulen sind in befristeten Beschäftigungsverhältnissen. Auch an außeruniversitären Forschungseinrichtungen - da muss ich meiner geschätzten Kollegin
Frau Dinges-Dierig ein klein wenig widersprechen sieht die Lage nicht besser aus. Sicherlich ist die Situation an einigen Instituten schon ganz gut - wir hatten einen Vertreter der Helmholtz-Gemeinschaft im Ausschuss zu Gast -, aber an manchen Instituten gibt es eine
Befristungsquote von 80 bis 90 Prozent. Ich kann mir
überhaupt nicht erklären, wie gerade an außeruniversitären Forschungseinrichtungen solch eine BefristungsDr. Simone Raatz
quote zustande kommt. Da muss dringend etwas geändert werden.
({1})
Wenn man sich einmal anschaut, wohin unsere Spitzenwissenschaftler gehen,
({2})
dann sieht man: zum großen Teil in die USA. Warum?
Wie ist da die Befristungsquote? Sie liegt bei 14 Prozent.
Das ist natürlich etwas anderes. In England liegt sie bei
28 Prozent. Ich denke, daran sollten wir uns orientieren
und auch messen lassen.
Es wurde schon gesagt: Die Hälfte der befristeten Beschäftigungsverhältnisse an den Einrichtungen in
Deutschland ist auf weniger als ein Jahr angelegt; über
20 Prozent der wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter müssen sogar mit Sechsmonatsverträgen leben. Das können wir nicht fortführen.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das macht deutlich:
Hier ist etwas gewaltig aus dem Ruder gelaufen. Diesem
Missstand müssen und werden wir einen Riegel vorschieben. Wir werden mit der Novellierung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes - ich denke, dass wir da zukünftig unseren Koalitionspartner an der Seite haben Mindeststandards einführen; denn dies allein den Hochschulen zu überlassen, hat, wie wir gesehen haben, nicht
zu dem Ergebnis geführt, das wir uns wünschen. Wir
wünschen uns für unsere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler planbare und verlässliche Karrierewege; das
wurde hier schon gesagt.
({4})
Drei unserer Kernforderungen, die sich im Gesetzestext wiederfinden werden, will ich an dieser Stelle benennen - ich staune und freue mich, dass wir diesbezüglich sogar etwas weiter sind als die Linken -:
({5})
Erstens. Wichtig ist für uns, dass zukünftig sowohl in
der ersten als auch in der zweiten Qualifizierungsphase
eine Vertragslaufzeit von mindestens 24 Monaten gilt.
Natürlich können Sachgründe dagegen sprechen - Sie
haben einige genannt -, aber das ist die Ausnahme.
Wenn Sachgründe dagegen sprechen, dann kann man sicherlich einmal davon abweichen; aber prinzipiell wollen wir in der Qualifizierungsphase Vertragslaufzeiten
von mindestens 24 Monaten.
Zweitens. Die Drittmittelbefristung wird zukünftig an
die Dauer der Drittmittelförderung gekoppelt. Das heißt,
bei Dreijahresverträgen gibt es einen Beschäftigungsvertrag über drei Jahre.
Drittens ist uns die Tarifsperre sehr wichtig. Die Linken haben 12 Monate genannt. Ich gehe etwas weiter
und sage: 24 Monate. Das ist doch etwas.
({6})
Ich denke, das allein reicht nicht, um die Situation für
unsere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nachhaltig zu verbessern. Dazu gehört in jedem Fall auch,
dass die Grundfinanzierung unserer Hochschulen deutlich verbessert wird, um dem Stellenkürzungswahn Einhalt zu gebieten. In Sachsen - das ist Wahnsinn - sollen
über 1 000 Stellen gestrichen werden; keiner weiß, wie.
Dem muss Einhalt geboten werden. Wir müssen - das ist
unser Ziel - mehr dauerhafte Stellen im Hochschul- und
Forschungsbereich einrichten.
({7})
Die komplette Übernahme der Kosten für das BAföG
durch den Bund wurde schon von meiner Kollegin erwähnt. Die Aufhebung des Kooperationsverbots steht
auch bevor. Das eröffnet zeitnah Spielräume für die Länder. Dieser Spielraum muss - da bin ich ganz an Ihrer
Seite - aber auch genutzt werden.
({8})
Für Sachsen bedeutet das 84 Millionen Euro. Damit
kann man doch etwas machen.
({9})
Bei der Verlängerung des Paktes für Forschung und
Innovation sollten wir auch daran denken, mit den außeruniversitären Forschungseinrichtungen messbare Zielvereinbarungen zu treffen, die eine wirklich signifikante
Reduzierung der Befristungsquote sicherstellen.
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, es ist einiges zu tun. Ein erster wichtiger Schritt wurde bereits
unternommen. So haben wir die Novellierung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes gemeinsam mit der Union
im Koalitionsvertrag festgeschrieben. Wir sind uns also
einig, dass es hinsichtlich der prekären Beschäftigungsverhältnisse in der Wissenschaft einen dringenden Handlungsbedarf gibt. Der nächste Schritt wird sein, gemeinsam mit unserem Koalitionspartner und im Dialog mit
den Betroffenen und den Fachgemeinschaften von GEW
oder Verdi in den nächsten Monaten an einer Lösung zu
arbeiten, die attraktive Beschäftigungsverhältnisse
schafft und so das deutsche Wissenschaftssystem international wieder wettbewerbsfähiger macht. Anderenfalls
werden wir - das wurde schon gesagt - unsere Spitzenleute und guten Nachwuchswissenschaftler verlieren,
weil sie aus dem System ausscheiden oder abwandern.
Ich denke, damit wäre keinem geholfen.
Ich lade also die Fraktionen, aber auch Sie persönlich,
Herr Gehring, ganz herzlich dazu ein, sich jetzt in den
Prozess der Ausgestaltung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes konstruktiv einzubringen,
({11})
und zwar nicht durch Abschreiben von Gesetzentwürfen,
sondern mit eigenen Ideen.
({12})
Vielen Dank.
({13})
Der Kollege Tankred Schipanski hat für die Fraktion
der CDU/CSU das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich darf
die Debatte an dieser Stelle wieder ins richtige Fahrwasser führen. Insbesondere nach dem Beitrag der Linken
scheint es nötig zu sein, den Sachstand aufzuzeigen und
den Fahrplan der Koalition in dieser Frage zu skizzieren.
Lassen Sie mich Folgendes voranstellen - das wurde
schon gesagt -: Herr Gehring, ich finde es einfallslos, einen Gesetzentwurf einzubringen, der fast identisch ist
mit einer Vorlage, über die in der letzten Legislaturperiode diskutiert wurde und die mit sehr guten Argumenten abgelehnt worden ist.
({0})
Von daher knüpfe ich argumentativ gerne an meine Ausführungen in der letzten Legislaturperiode an. Ich darf
Sie herzlich einladen, unsere Debatten vom 10. April
und vom 27. Juni letzten Jahres in den Parlamentsprotokollen nachzulesen. Der Eindruck, der in dieser Debatte
vermittelt wird, die Politik würde ein als wichtig erkanntes Problem nicht lösen, ist grob falsch. Ich finde es unverantwortlich, dass die Grünen hier einen solchen Eindruck erwecken, zumal Ihnen, lieber Herr Gehring, die
verschiedensten Maßnahmen bekannt sein müssten, da
Sie in der letzten Legislaturperiode dabei waren.
Ausgangspunkt und Impuls dieser gesamten Debatte
waren die Evaluation des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes durch die HIS GmbH im Jahre 2011 sowie der
Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs im Jahr
2013.
({1})
Die Kernbotschaften waren damals: Dem wissenschaftlichen Nachwuchs in Deutschland geht es gut. Die Arbeitsbedingungen sind insgesamt zufriedenstellend.
Noch nie strömten mehr Wissenschaftler an unsere Universitäten und außeruniversitären Forschungseinrichtungen. Noch nie schlossen so viele junge talentierte Menschen eine Promotion ab. Noch nie entschieden sich
mehr junge Menschen für eine Karriere in der Wissenschaft.
({2})
Liebe Frau Raatz, die Leute verlassen Deutschland als
Forschungsstandort nicht, sondern sie kommen zu uns,
weil wir die attraktiveren Bedingungen haben.
({3})
Die Berichte benennen zwei Probleme, unter denen
junge Wissenschaftler in Deutschland leiden. Das ist
zum einen die Personalstruktur, die derzeit als einziges
Karriereziel die Vollprofessur bietet.
({4})
Das ist zum anderen die überbordende Befristungspraxis
- wir haben es gehört -: Stellensplitting, Vertragslaufzeiten von teilweise unter einem Jahr, Kettenverträge. Jeder
kennt Beispiele aus seinem Bekanntenkreis.
({5})
Die christlich-liberale Koalition hat daher in der letzten Legislaturperiode konkrete Maßnahmen ergriffen
und vor allen Dingen mit Blick auf die Universitäten
- Sie kennen die Vorlage, die wir hier behandelt haben konkrete Verbesserungen vorgeschlagen. Stichwortartig
darf ich Ihnen nennen: Associate-Professuren, befristete
Assistenzprofessuren mit Tenure-Track-Option, also ein
ganz ausgewogenes Karrieremodell neben der Vollprofessur und nicht irgendwelche aufgewärmten Juniorprofessorenprogramme. Das sind Modelle, die sich in der
Praxis bewähren. Wir können das an der TU München
sehen, die diese Personalstruktur eingeführt hat. Das ist
praxistauglich. Jede andere Uni kann dieses Modell einführen. Es bedarf keiner Änderung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes, um hier planbare Karrierepfade zu
ermöglichen.
({6})
Zum zweiten Problem, der überbordenden Befristungspraxis, hat die christlich-liberale Koalition in diesem Hohen Hause im Jahre 2013 sowie bereits 2012 im
Ausschuss einen Antrag beschlossen, in dem wir die
Verantwortlichen auffordern, die Vertragslaufzeiten „an
die Laufzeit der Qualifikationsphase bzw. der Projekte
zu koppeln, in denen die wissenschaftlichen Nachwuchskräfte beschäftigt sind. … Das Stellensplitting in
Einheiten von weniger als einer halben Stelle muss gänzlich unterbleiben“. Wir wissen zudem um die Notwendigkeit, auf den immer schneller werdenden Wissenschaftsbetrieb mit flexiblen Personallösungen zu
reagieren. - Adressiert waren diese Forderungen an die
Forschungseinrichtungen und Hochschulen, die daraufhin Leitlinien erlassen haben für die Ausgestaltung
befristeter Beschäftigungsverhältnisse mit ihrem wissenschaftlichen Personal, sogenannte Selbstverpflichtungserklärungen. Wir werden schauen, ob sich die Einrichtungen an diese Selbstverpflichtungserklärungen halten
oder nicht. Das evaluieren wir jetzt.
({7})
Sind die Missstände in der Befristungspraxis aufgehoben, werden wir nicht reagieren. Sind sie nicht aufgehoben, bedarf es eventuell einer gesetzlichen Regelung.
Diese gesetzliche Regelung - meine Kollegin von der
SPD hat es angesprochen - haben wir im Koalitionsvertrag als „flankierend“ bezeichnet.
Sie haben es angesprochen, liebe Frau Raatz: Wir
können uns auch vorstellen, dass der Bund bei der Ausgestaltung der Pakte lenkend einwirkt. Aber darüber
können wir erst entscheiden, wenn wir wissen, wie es
um die Selbstverpflichtungserklärungen steht. Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung hat in der letzten Legislaturperiode einen ähnlichen Gesetzentwurf diskutiert und am 12. Juni letzten
Jahres eine Sachverständigenanhörung dazu durchgeführt. Im Rahmen dieser Anhörung wurde eindeutig aufgezeigt, dass mit den vorgeschlagenen Änderungen an
diesem Wissenschaftszeitvertragsgesetz ein Missbrauch
der Befristungsmöglichkeiten nicht ausgeräumt werden
kann.
({8})
Vielmehr müssen die einschlägigen Landeshochschulgesetze geändert werden; Frau Dinges-Dierig hat das hier
zu Recht betont.
({9})
Die damalige Expertenanhörung - das kann ich Ihnen
nicht ersparen - hat zudem gezeigt, dass der Grund für
die überbordende Befristungspraxis nicht dieses Gesetz
ist, sondern die mangelnde finanzielle Planbarkeit der
Hochschulen. Um diese zu verbessern, dürfen die Länder auf gar keinen Fall bei der Grundfinanzierung sparen. Die Redner der Koalition haben es angesprochen:
Wir haben vereinbart, das BAföG komplett zu übernehmen. Das ist eine milliardenschwere Entlastung der Länder. Das Geld können sie in die Grundfinanzierung ihrer
Hochschulen investieren. Somit setzen wir auch unser
Versprechen im Koalitionsvertrag um, uns an der Grundfinanzierung zu beteiligen.
({10})
Die Verfassungsänderung im Hinblick auf Artikel 91 b
haben wir im Blick.
Meine Damen und Herren, das sind Meilensteine in
der Wissenschaftspolitik, die natürlich auch positive
Auswirkungen auf den wissenschaftlichen Nachwuchs
haben werden. Ich darf den Grünen nur empfehlen, sich
hieran konstruktiv zu beteiligen und nicht alte Gesetzentwürfe aufzuwärmen.
Vielen Dank.
({11})
Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Dr. Daniela De
Ridder das Wort.
({0})
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In einer Großen Koalition ist man miteinander
verpartnert, Herr Schipanski. Das bedeutet auch - so
kenne ich das aus meiner Ehe -, dass man gelegentlich
beim Abendessen, beim Frühstück eine hitzige Diskussion führt. Auf die mit Ihnen im Ausschuss, auch jenseits des Ausschusses, freue ich mich,
({0})
weil ich Sie gerne davon überzeugen möchte, dass wir
hier wirklich Änderungs- und Handlungsbedarf haben.
({1})
Die Einladung steht. Sie können das auch gleich heute
einlösen.
Heute sprechen wir aber zunächst - scheinbar - über
die Vorschläge von Bündnis 90/Die Grünen, die sich ja
inhaltlich weitestgehend bei jenem Gesetzentwurf bedient haben, den die SPD im vergangenen Jahr in dieses
Hohe Haus eingebracht hat.
({2})
- Es freut mich doch, liebe Kolleginnen und Kollegen
von den Grünen, dass Sie unseren Gesetzentwurf offensichtlich so klasse fanden, dass Sie ihn fast eins zu eins
übernommen haben.
({3})
Worum ging es bei diesem Gesetzentwurf? Wir wollten gegensteuern, weil im wissenschaftlichen Bereich in
der Tat prekäre Beschäftigungsverhältnisse zunehmend
zum Standard zu werden drohen. Davon werden wir Sie,
Herr Schipanski, auch noch überzeugen. Fast der gesamte akademische Mittelbau arbeitet nämlich befristet,
meist projektbezogen, häufig sogar mit Arbeitsvertragslaufzeiten von unter einem Jahr. Am Ende stehen dann
die meisten vor der ungeklärten Frage, wie ihre Jobperspektiven aussehen. Gelingt der Aufstieg zur Professur,
oder folgt der Abstieg in die Arbeitslosigkeit?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben keineswegs vergessen, was wir gesagt haben. Heute, ein Jahr danach, wissen wir noch besser, was wir wollen. Es ist nämlich
unser Gesetzentwurf aus dem vergangenen Jahr, der die
Grundlage für die Arbeit in dieser Legislaturperiode
legt. Wie gesagt: Sie sind alle herzlich eingeladen, mit
uns darüber zu diskutieren, um mit uns für den wissenschaftlichen Nachwuchs den besten Weg zu entwickeln.
({4})
Mich stimmt es sehr optimistisch, wenn wir hier zu einer
großen Übereinstimmung kommen. Die werden wir herstellen; davon bin ich felsenfest überzeugt. Denn es geht
um faire Arbeitsbedingungen; das wollen wir für unsere
Wissenschaft weiterentwickeln.
Beim Wissenschaftszeitvertrag, lieber Herr Gehring,
geht es um die Perspektive für die Jüngeren. Unser wissenschaftlicher Nachwuchs braucht bessere Arbeitsbedingungen. Wer heute als junger Mensch einen sicheren
Job will, dem kann man in der Tat kaum empfehlen, an
der Uni zu bleiben.
({5})
80 Prozent - ich wiederhole: 80 Prozent - der wissenschaftlich Beschäftigten unter 30 Jahren arbeiten auf befristeten Stellen. Das sind die Zahlen des Statistischen
Bundesamtes. Das ist, ehrlich gesagt, alles andere als
Planbarkeit. Das gilt nicht nur für den wissenschaftlichen Nachwuchs, sondern umso mehr für die Universitäten und Forschungseinrichtungen; denn die wollen ihre
Talente bewahren können.
Wer also Exzellenz will, insbesondere wissenschaftliche Exzellenz, muss lebensnahe und faire Arbeitsbedingungen schaffen. Das gilt im Übrigen auch - lassen Sie
mich das aus meiner Perspektive betonen - für die Familienfreundlichkeit an Hochschulen. Schon vor rund
20 Jahren habe ich mich als Gleichstellungsbeauftragte
an einer Hochschule für mehr Familienfreundlichkeit
eingesetzt. Am Ende meiner Wünsche bin ich heute
noch lange nicht; aber das Ziel - da bin ich ganz sicher scheint heute näher zu rücken. Wir müssen dafür sorgen
und klarstellen, dass die sogenannte familienpolitische
Komponente deutlich häufiger angewandt wird. Die erlaubt nämlich, dass der Arbeitsvertrag, den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben, aus familiären Gründen pro Kind um jeweils zwei Jahre verlängert
werden kann. Beschäftigte - das ist unser Problem, Herr
Schipanski - haben darauf bislang aber noch keinen verbindlichen Rechtsanspruch.
({6})
Das ist ein Problem, und deshalb müssen wir hier tätig
werden und nicht nur die Länder.
({7})
- Weil es nicht im Gesetz steht, haben wir hier Handlungsbedarf. Wie gesagt: Ich überzeuge Sie gern davon,
dass das eine Perspektive ist, die wir gemeinsam diskutieren müssen. Kommen Sie also ruhig mit mir! Ich
trinke gerne Tee oder Kaffee. Über anderes reden wir
dann noch.
({8})
Die SPD wird in der Diskussion dafür Sorge tragen
- das versichere ich Ihnen -, dass an den Hochschulen
Elternzeit, Betreuungs- und Pflegezeiten ernster genommen werden als bisher. Denn unser Versprechen - Sie
kennen es - lautet: gesagt, getan, gerecht. Ich lade Sie
alle, die Sie sich als Bildungspolitikerin bzw. -politiker
verstehen, dazu ein. Dies ist eine Situation, die wir herstellen müssen, insbesondere in der Bildungspolitik.
Wer, wie wir in der SPD, will, dass wir möglichst vielen jungen Menschen mehr Chancen geben, der darf
doch vor den Toren der Hochschulen nicht haltmachen.
Wer will, dass unsere Talente, unsere Wettbewerbsfähigkeit und unser Innovationspotenzial in einer globalisierten Welt konkurrenzfähig bleiben - denn darum geht
es -, der lässt nicht zu, dass der wissenschaftliche Nachwuchs ausgebeutet wird. Wir sollten deshalb klar benennen, welche Stressfaktoren in der wissenschaftlichen Arbeitswelt leistungssteigernd und welche blockierend
wirken.
Wir haben - das bleibt eine Tatsache - zu viele Beschäftigungsverhältnisse, die am Menschen vorbei nur
negativen Stress produzieren. Deshalb brauchen wir
faire Arbeitsbedingungen. Dazu werden wir Mindeststandards entwickeln
Kollegin De Ridder, Sie müssen bitte zum Schluss
kommen.
- das tue ich - und positive Anreize setzen, mit mehr
Planungssicherheit.
({0})
Das gilt im Übrigen für alle Phasen der wissenschaftlichen Qualifikation. Wir machen das - davon bin ich
überzeugt - gemeinsam, wohlüberlegt, zeitnah und im
Konsens. Ich lade Sie alle herzlich ein, daran mitzuwirken.
Vielen Dank.
({1})
Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege
Dr. Wolfgang Stefinger.
({0})
Liebe Frau Kollegin De Ridder, wenn ich richtig informiert bin, haben wir bereits einen Termin ausgemacht.
({0})
Nach Ihrer Rede freue ich mich umso mehr auf das Mittagessen mit Ihnen.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Den Beginn meiner heutigen Rede möchte ich
nutzen, um mich bei unseren Wissenschaftlern für die
Innovationskraft zu bedanken, mit der sie Deutschland
im Forschungsbereich international wettbewerbsfähig
halten.
({2})
- Ja, da darf man ruhig klatschen.
Zahlreiche Studien und Berichte der letzten Zeit belegen: In vielen Bereichen ist die deutsche Wissenschaft,
sind unsere Wissenschaftler Weltspitze. Unser Wissenschaftssystem scheint attraktiv zu sein. Welche Zahlen
könnten dies eindrucksvoller belegen als die der ausländischen Wissenschaftler, die gerne zu uns kommen, um
hier zu forschen und sich weiterzuentwickeln?
Wir wissen nämlich: Spitzenwissenschaftler gehen
dorthin, wo sie die besten Arbeitsbedingungen vorfinden. Sie wollen unter optimalen Bedingungen arbeiten
und Grundlagenforschung betreiben. Hervorragende Bedingungen bieten auch unsere außeruniversitären Einrichtungen. Sie genießen weltweit ein hohes Ansehen
und sind national wie international begehrte Arbeitgeber.
Ja, unsere Einrichtungen ziehen Wissenschaftler an.
Dies liegt zum einen an ihrem weltweit hervorragenden
Ruf und zum anderen auch an den Arbeitsbedingungen;
davon konnte ich mich bei meinen Besuchen in Forschungszentren überzeugen. Denn das Ziel unserer Forschungseinrichtungen ist und muss es sein, als attraktiver Arbeitgeber im deutschen Wissenschaftssystem
wahrgenommen zu werden.
({3})
Gute Entwicklungsmöglichkeiten gehören selbstverständlich dazu.
Das Wissenschaftszeitvertragsgesetz hat hierfür die
Rahmenbedingungen geschaffen. Unsere Einrichtungen
wissen - davon bin ich überzeugt -, dass sie eine Verantwortung haben: nicht nur eine Verantwortung gegenüber
dem Staat oder den Drittmittelgebern, die für die Forschung bewilligten Gelder zu rechtfertigen, sondern
auch eine Verantwortung gegenüber der Gesellschaft,
mit neuen Erfindungen und durch die Erforschung von
Ursachen Probleme zu lösen, Krankheiten zu bekämpfen, neue Technologien zu entwickeln und ressourcenschonende Werkstoffe zu erfinden. Sie wissen auch um
ihre Verantwortung für ihre Mitarbeiter und deren Familien. Genau diese Verantwortung spiegelt sich in den
Leitlinien der Forschungsorganisationen wider. Viele
Einrichtungen haben in diesen nämlich geregelt, dass sie
verantwortlich und nachvollziehbar mit der Befristung
von Arbeitsverhältnissen umgehen.
({4})
Wenn ich mit den Einrichtungen spreche, dann sagen
mir diese auch: Bitte engt uns mit gesetzlichen Vorgaben
nicht zu sehr ein. Wir brauchen eine gewisse Flexibilität,
um an Themenfelder herangehen zu können.
Bei meinen Besuchen treffe ich auch Wissenschaftler,
die nur an einem Teilbereich eines Forschungsprojektes
mitarbeiten möchten und von sich aus nur sechs, acht
oder zwölf Monate mitforschen wollen.
({5})
Hier stelle ich mir die Frage: Wollen wir für diese hochmotivierten Forscher wirklich eine Begründungspflicht
einführen? Brauchen wir wirklich ein Mehr an Bürokratie?
({6})
Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Gerade als junger Mensch weiß ich natürlich, wie wichtig es ist, Perspektiven zu haben und sich Ziele zu setzen. Natürlich
ist es notwendig, ein Stück weit berufliche Planungssicherheit zu bekommen, vor allem dann, wenn es an die
Familiengründung geht. Aus diesem Grund werden bei
der Weiterentwicklung unserer großen Wissenschaftspakte auch verlässliche und planbare Karrierewege in
der Wissenschaft eine wichtige Rolle spielen.
Wir wollen die bisherigen Bemühungen der Wissenschaftsorganisationen durch eine maßvolle Novellierung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes unterstützen
und nicht belasten.
({7})
Das 2007 in Kraft getretene Gesetz wurde 2011 evaluiert. Die gesetzlichen Befristungsvorschriften haben
sich, so das Ergebnis der Evaluation, im Grunde bewährt.
({8})
Auf einer seiner nächsten Sitzungen wird sich der
Wissenschaftsrat mit den Perspektiven des wissenschaftlichen Nachwuchses befassen. Ich denke, dessen Stellungnahme sollten wir abwarten.
Eines ist klar: Wo Anpassungen sinnvoll sind, werden
wir diese vornehmen,
({9})
aber mit Maß und Ziel.
Vielen Dank.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Vizepräsidentin Petra Pau
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/1463 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 31 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der „United Nations
Interim Force in Lebanon“ ({0}) auf
Grundlage der Resolution 1701 ({1}) vom
11. August 2006 und folgender Resolutionen,
zuletzt 2115 ({2}) vom 29. August 2013 des
Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
Drucksache 18/1417
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({3})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe.
({4})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Entwicklungen in Syrien und darüber hinaus im ganzen Nahen und Mittleren Osten verdienen unverändert
unsere ganze Aufmerksamkeit; denn das Leiden der Bevölkerung in Syrien geht weiter. Millionen von Flüchtlingen haben das Land bereits verlassen und suchen Zuflucht in den Nachbarstaaten.
Erst kürzlich hat deshalb der Deutsche Bundestag aus
guten Gründen mit großer Mehrheit einer Beteiligung
deutscher Streitkräfte am maritimen Begleitschutz für
die Vernichtung der syrischen Chemiewaffen zugestimmt. Das ist aus Sicht der Bundesregierung weit mehr
als nur ein symbolischer Beitrag. Wir leisten einen aktiven Beitrag dafür, dass Massenvernichtungswaffen vernichtet werden, und ich bin dankbar, dass es dafür eine
so große Zustimmung hier in diesem Hohen Hause gegeben hat. Wer dem nicht zugestimmt hat, hat hinsichtlich
der Bekämpfung von Massenvernichtungswaffen wirklich jede politische Glaubwürdigkeit verloren.
({0})
Ursprünglich eine reine Beobachtermission, machte
UNIFIL den Waffenstillstand zwischen Israel und dem
Libanon vom 14. August 2006 erst möglich. Seitdem ist
diese robuste VN-Mission ein entscheidender Stabilitätsfaktor in der Region.
Der Auftrag der Mission ist es letztlich, den Rahmen
für politische Lösungen offener Fragen zwischen dem
Libanon und Israel zu bieten. Es gilt, die Beziehungen
zwischen diesen beiden Nachbarn stabil zu halten und
damit zur Stabilität der gesamten Region beizutragen.
Genau das ist das, was wir tun können. Man kann als
erster Redner nicht alles vorhersehen, was nachher noch
gesagt wird. Aber wir haben heute ja schon eine Debatte
über ein Mandat gehabt, und wir haben unsere Erfahrungen.
Es ist wahr: Natürlich sind die Konflikte zwischen
dem Libanon und Israel noch längst nicht gelöst. Aber
diese Konflikte hat nicht die Bundeswehr ausgelöst, die
Ursachen dafür liegen ganz woanders. Wir leisten mit
der Bundeswehr einen Beitrag für einen Rahmen zur
Konfliktlösung. Den Konflikt müssen andere lösen. Wir
tragen zur Konfliktlösung bei.
({1})
Es geht aber auch konkret darum, die libanesische Regierung auf Anforderung bei der Sicherung der Grenzen
zu unterstützen und zu verhindern, dass Rüstungsgüter
und sonstiges Wehrmaterial illegal in den Libanon verbracht werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer
wirklich dagegen ist, dass Rüstungsgüter unkontrolliert
und illegal in ein Land verbracht werden, der muss für
dieses Mandat bzw. die Fortsetzung dieses Mandats
stimmen. Nur so kann in dieser Region ein Beitrag zur
Verhinderung der illegalen Verbringung geleistet werden.
({2})
Wir sind mit der Bundeswehr seit dem Jahr 2006 an
UNIFIL beteiligt, genauer gesagt: am damals neu aufgestellten Marineeinsatzverband der Mission. Auftrag unserer Soldatinnen und Soldaten ist es, die seeseitigen
Grenzen des Libanon zu sichern. Wichtiger Teil des
deutschen Beitrags ist aber auch der Fähigkeitsaufbau
der libanesischen Marine. Wir wollen die libanesische
Marine so weit ausbilden und ausstatten, dass sie den
Schutz der seeseitigen Grenzen künftig selbstständig
durchführen und gewährleisten kann. Es ist durch deutsche Unterstützung in den vergangenen Mandatszeiträumen bereits ein bemerkenswerter Fähigkeitsaufbau bei
der libanesischen Marine erreicht worden.
Als letztes großes Projekt wurde bisher im vergangenen Jahr der Aufbau der Küstenradarorganisation mit
deutschen Mitteln abgeschlossen. Heute sind acht Stationen personell besetzt und bereits voll funktionsfähig.
Zusätzlich haben wir seit dem Jahr 2007 drei Patrouillenboote, Schiffssicherungsausstattung, Anlagen für eine
Maschinenwerkstatt und Schulmöbel an die libanesische
Regierung übergeben. Zudem wurde eine hochmoderne
Navigations- und Radarausbildungsanlage beschafft.
Auch für dieses Jahr ist wieder ein wichtiges Projekt
geplant. Ressortübergreifend werden durch das Auswärtige Amt und das Bundesministerium der Verteidigung
drei Elektronikwerkstätten sowie ein Werkstattfahrzeug
aufgebaut und ausgerüstet. Damit soll die libanesische
Marine in die Lage versetzt werden, die Ausbildung und
Durchführung von Wartung und Instandsetzung elektronischer Anlagen künftig eigenständig wahrzunehmen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sicherheitslage
im Nahen und Mittleren Osten ist nach wie vor angespannt. Innenpolitische Probleme vieler Länder und der
Konflikt in Syrien fordern unverändert unsere ganze
Aufmerksamkeit. UNIFIL ist dabei einer der wichtigsten
Stabilitätsanker in der Region. Er kann nicht allein die
Probleme lösen, aber er ist und er bleibt ein wichtiger
Stabilitätsanker. Deswegen ist es gut, dass wir mit unseren Soldatinnen und Soldaten zu dieser Stabilität beitragen.
Deswegen ist es naheliegend und nicht erstaunlich,
dass sowohl der Libanon als auch Israel eine Fortsetzung
der Mission wünschen. Sie legen ausdrücklich großen
Wert auf eine fortgesetzte deutsche Beteiligung an dieser
so nachhaltigen Mission. Gemeinsam mit ihren Kameraden aus 36 anderen Nationen haben unsere deutschen
Soldatinnen und Soldaten für UNIFIL viel geleistet und
für die Region eine Menge erreicht.
Unsere Soldatinnen und Soldaten auf unseren
Schnellbooten, unsere Stabs- und Unterstützungskräfte
in Limassol auf Zypern, unsere Soldaten in den Stäben
des UNIFIL Force Headquarters im Libanon sowie unsere Ausbilder im Libanon erfüllen die ihnen zugewiesenen Aufgaben gewissenhaft und erfolgreich. Sie können
stolz auf das Geleistete sein. Wir können dankbar für das
sein, was unter diesen schwierigen Bedingungen geleistet wird.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, durch unsere vielfältigen Beiträge haben sich über die letzten acht Jahre
intensive Kontakte zwischen Deutschland und dem Libanon entwickelt. Deutschland wird heute als vertrauensvoller Partner in der Region geschätzt. Auch in Zukunft wird es noch eines starken internationalen
Engagements bedürfen, um die Lage vor Ort zu stabilisieren und den Aufbau der libanesischen Streitkräfte voranzubringen.
Die personelle Obergrenze für die deutsche Beteiligung am UNIFIL-Flottenverband wird bei 300 Soldatinnen und Soldaten belassen. In der Realität liegen wir
deutlich darunter. Aber es ist sicherlich sinnvoll, diese
Obergrenze zu belassen; denn sie erlaubt es uns, alle im
Rahmen des Mandats vorgesehenen Aufgaben zu erfüllen, und sie trägt der unverändert angespannten Sicherheitslage in der Region Rechnung.
Wir wollen auf dem bisher Erreichten aufbauen und
weiterhin einen Beitrag zu Stabilität und Sicherheit in einer Region leisten, die in unserer Nachbarschaft liegt
und diese Stabilität im Hinblick auf eine friedliche Entwicklung ganz dringend braucht. Deswegen ist es der
Wunsch der Bundesregierung, dass das Mandat für die
deutsche Beteiligung an UNIFIL um zwölf Monate verlängert wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregierung bittet Sie daher um Unterstützung für diesen Antrag
im Sinne der Stabilität in unserer Nachbarregion und im
Sinne der Menschen im Nahen und Mittleren Osten.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Sevim Dağdelen für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Staatssekretär, die Unterstützung der Linken werden Sie
auch im neunten Jahr des UNIFIL-Mandates nicht bekommen.
({0})
Die Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen,
aber auch der Grünen, die diesen Einsatz immer befürwortet haben, müssen sich immer dringender die
Frage stellen, ob der Aufwand - bislang hat der Einsatz
330 Millionen Euro gekostet - und der Ertrag dieses
Einsatzes in einem guten Verhältnis zueinander stehen.
Wenn wir uns den Anspruch der Mission, den Waffenschmuggel vor der Küste des Libanon zu unterbinden, vor Augen führen, und dann den Blick darauf
richten, wie das Ganze vor Ort gehandhabt wird, dann
müssen auch dem stärksten Befürworter der globalen
Präsenz deutscher Streitkräfte eigentlich Zweifel am
Sinn des Einsatzes kommen.
({1})
Wie sieht die Unterbindung dieses Waffenschmuggels
durch die deutsche Marine aus? Die Bundeswehr meldet
verdächtige Schiffe an die libanesische Küstenwache,
die diese dann im Rahmen ihrer eigenen Kapazitäten
durchsucht. Bei all diesen Aktionen in neun Jahren
wurde rein gar nichts gefunden. Vielleicht muss ich mich
korrigieren: Die UNIFIL-Mission hat doch etwas gefunden, nämlich geschmuggelte Zigaretten. Das ist zwar
auch verdienstvoll, aber ich frage mich und Sie: Rechtfertigt dies aus Ihrer Sicht den Einsatz der Bundeswehr
vor der libanesischen Küste?
({2})
Ich denke, das ist keine Rechtfertigung. Die Linke jedenfalls will diesen kafkaesken Einsatz beenden. Das
Geld, das für den Schiffsdiesel der Bundeswehrflottille
hinausgeblasen wird, könnte weitaus besser verwendet
werden als dafür.
({3})
Dass bei dem Einsatz rein gar nichts an Waffen gefunden wurde, ist nicht weiter verwunderlich, meine Damen
und Herren. Der Einsatz ist nämlich so angelegt, dass
nichts gefunden werden kann.
({4})
Bei unserem Besuch letzte Woche mit Außenminister
Steinmeier im Libanon hatten wir Abgeordneten die Gelegenheit, die Bundeswehroffiziere der UNIFIL selbst zu
befragen. Zu unser aller Überraschung wurde uns mitgeteilt, dass es trotz des Ausbruchs des Syrien-Krieges und
erhöhten Waffenschmuggels auch für diesen Krieg bisher keine gesteigerte Aktivität von UNIFIL gibt,
({5})
und dies, obwohl wir wissen, dass ein Gutteil der Waffen
für den Syrien-Konflikt über den Libanon und seine
Küste kommt.
Ebenso verwunderlich ist diese Aussage vor dem
Hintergrund, dass Auseinandersetzungen im Libanon im
Kontext des Syrien-Krieges bereits über 400 Menschen
das Leben gekostet haben. Die Hisbollah jedenfalls gilt
bereits seit mehreren Jahren trotz der peniblen Kontrollen der Bundeswehr als viel stärker ausgerüstet als vor
dem Waffengang 2006. Auch diverse andere paramilitärische Akteure im Libanon sind bis an die Zähne bewaffnet.
({6})
Letzteres kann man auch an den immer wiederkehrenden gewaltsamen Aktionen der saudi-arabisch und
vor allen Dingen US-amerikanisch finanzierten islamistischen Fatah al-Islam ablesen, als Teil des Syrien-Konfliktes, der in den Libanon hineingetragen wurde.
Die Bevölkerung des Libanon braucht deshalb ganz
dringend die Lösung des Syrien-Konflikts.
({7})
Die Bevölkerung des Libanon braucht keine Bundeswehrschiffe vor der Küste, die nach Phantomen jagen.
Nachdem die angebliche Aufgabe von UNIFIL mittlerweile schon fast in Vergessenheit geraten ist, verändern Sie nun auch noch den Fokus. Die verschiedenen
westeuropäischen Soldatenkontingente wollen nämlich
jetzt verstärkt auf die Ausbildung der libanesischen Armee setzen. Was dieser neue Schwerpunkt bedeuten
könnte, haben jüngst wieder die italienischen UNIFILSoldaten gezeigt. Vergangene Woche haben italienische
Soldaten zum wiederholten Mal libanesische Soldaten
im Bereich Riot Control, also in der Bekämpfung ziviler
Aufstände, ausgebildet. Was der Libanon tatsächlich
braucht, ist Hilfe für die vielen Flüchtlinge im Land und
nicht eine Armee, die das Zerschlagen von Demonstrationen trainiert.
({8})
Wenn wir heute über den Libanon sprechen, müssen
wir auch darüber sprechen, dass wir dringend eine politische Lösung des Syrien-Konflikts brauchen. Unsere libanesischen Gesprächspartner jedenfalls haben sich in
diesem Zusammenhang über die neue Initiative des USamerikanischen Präsidenten Obama zur verstärkten Aufrüstung der Aufständischen entsetzt gezeigt, weil sie davon ausgehen, dass dies die Region noch mehr destabilisieren und noch mehr Blutvergießen bedeuten wird. Die
Bundesregierung schweigt sich dazu bislang leider öffentlich aus. Ich finde, das ist wirklich absurd. Ein Teil
der Waffen wird an der libanesischen Küste angelandet,
wo sie die Bundeswehr selbstverständlich wieder einmal
nicht finden wird. Deshalb lautet unser Appell: Beenden
Sie lieber diesen Einsatz! Die beantragten 23,6 Millionen Euro für diesen UNIFIL-Einsatz wären an anderer
Stelle viel besser aufgehoben, zum Beispiel für eine substanzielle Unterstützung des libanesischen Roten Kreuzes oder eine stärkere Unterstützung bei der Aufnahme
von Flüchtlingen im Libanon. Der Libanon hat bei einer
Bevölkerung von rund 4 Millionen Einwohnern über
1 Million syrische Flüchtlinge aufgenommen. Hier und
nicht bei der Bundeswehr sollte ein substanzieller Beitrag geleistet werden.
Danke.
({9})
Das Wort hat der Kollege Niels Annen für die SPDFraktion.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Meine Damen und
Herren! Liebe Kollegin Dağdelen, Sie haben die berechtigte Frage nach dem Verhältnis von Aufwand zu Ertrag gestellt. Ich glaube, diese Frage lässt sich relativ
eindeutig beantworten. Wir sollten uns zurückerinnern,
welches der Anlass für die maritime Komponente von
UNIFIL war. Ich erinnere Sie an das Jahr 2006. Damals
gab es Krieg zwischen Israel und der Hisbollah. Dieser
Krieg hat weit über 1 000 Tote gefordert und wichtige
Teile der libanesischen Infrastruktur zerstört und ist in
einer ökologischen Katastrophe gemündet. Frau Kollegin, darf ich Sie daran erinnern, dass es der damalige und
heutige Außenminister Frank-Walter Steinmeier gewesen ist, der mit unermüdlichen diplomatischen Anstrengungen mit dafür gesorgt hat, dass es zu einem WaffenNiels Annen
stillstand gekommen ist, der bis heute hält! Kernelement
dieses Waffenstillstands und der entsprechenden Vereinbarung ist die maritime Komponente von UNIFIL, über
die wir heute diskutieren. Aufwand und Ertrag stehen
also in einem hervorragenden Verhältnis zueinander,
Frau Kollegin Dağdelen.
({0})
Ich habe bei der logischen Argumentation, die Sie
vorgetragen haben, genau zugehört. Sie haben aus einem
Gespräch berichtet, an dem ich teilgenommen habe. Ich
habe in den letzten Monaten zweimal die Gelegenheit
gehabt, mit UNIFIL-Soldaten zu sprechen. Bei einem
Gespräch waren Sie dabei. Das war ein Briefing am
Rande des Besuchs von Außenminister Steinmeier. In
der Tat sind bislang keine Waffen gefunden worden.
Wenn das Ziel dieser Operation ist, den Küstenschutz
insgesamt zu stabilisieren und die lokale Marine in die
Lage zu versetzen, diese Aufgabe eigenständig wahrzunehmen,
({1})
und alle sagen: „Wir sind in die Lage versetzt worden
und haben in einer ganz schwierigen Situation dafür gesorgt, dass dieser Seeraum inzwischen kontrolliert wird
und kein Schmuggel mehr stattfindet“, dann ist das doch
ein Erfolg und nichts, was man kritisieren sollte. Ich
finde Ihre Logik ein wenig merkwürdig.
({2})
Ich will die Gelegenheit nutzen, auf Folgendes aufmerksam zu machen - der Staatssekretär hat bereits darauf hingewiesen -: Wir diskutieren nicht über eine isolierte Mission, sondern über einen deutschen Beitrag in
einer Region, in der wir einen Konflikt erleben, der inzwischen biblische Ausmaße angenommen hat, eine Katastrophe von ungekannter Intensität, die uns alle hier
betrifft, wenn es um Flüchtlinge und regionale Stabilität
geht. Da haben Sie, Frau Kollegin, wie ich finde, zu
Recht auf die prekäre Lage im Libanon hingewiesen.
Man kann die Zahlen gar nicht häufig genug wiederholen. Es sind inzwischen über 1 Million Flüchtlinge, die
ein Land mit etwas über 4 Millionen Einwohnern aufnimmt. Das ist eine gigantische Leistung. An dieser
Stelle muss man vielleicht auch sagen: Ohne den Beitrag
der Vereinten Nationen und ihrer Unterorganisationen,
UNHCR, Welternährungsprogramm, aber auch UNIFIL
im Libanon, wäre dieses Land überhaupt nicht in der
Lage, mit diesem immensen Druck klarzukommen.
Deswegen will ich Ihnen Folgendes berichten: Ich
habe mir die Arbeit des deutschen Einsatzkontingentes
in Nakura angeschaut. Vielleicht erinnert sich der eine
oder andere an diesen Krieg 2006. Damals gab es eine
Vereinbarung über eine sogenannte Waffenstillstandslinie. Das ist nicht die völkerrechtliche Grenze zwischen
Israel und dem Libanon, sondern es ist eine vereinbarte
Grenze, die dort markiert wird. Das ist ein ganz schwieriger, im Grunde genommen technischer Prozess. Es
geht darum, dass weithin sichtbare, blau angemalte Tonnen verankert werden, um diese Linie zu markieren.
Ich würde das nicht erläutern, wenn es sich nur um einen technischen Prozess handeln würde. Es handelt sich
um einen Prozess, auch wenn die libanesische Seite das
offiziell in dieser Form nicht eingesteht, in dem UNIFIL,
Israel und der Libanon zusammenarbeiten. Sie, Frau
Kollegin, werden bei unserer gemeinsamen Reise in den
Libanon festgestellt haben, dass dort über viele Probleme geredet worden ist; aber über ein Problem ist nicht
mehr geredet worden, nämlich über den andauernden
Konflikt mit Israel. Der Süden des Libanon ist heute
- das muss man einmal sagen - im Grunde genommen
der sicherste und stabilste Teil des Landes.
Ist der Libanon deswegen ein stabilisiertes Land?
Nein, natürlich nicht, weil die Konflikte jederzeit wieder
aufbrechen können. Aber die Präsenz von UNIFIL unter
professioneller und engagierter Beteiligung unserer
deutschen Soldatinnen und Soldaten leistet dazu einen
essenziellen Beitrag. Wir sollten dazu beitragen, dass
diese Arbeit fortgesetzt werden kann.
Deswegen will ich auf Folgendes hinweisen: Die unterschiedlichen Komponenten - einmal die Präsenz der
Vereinten Nationen, gerade in diesem ehemals so umstrittenen und umkämpften Teil im Süden des Landes,
der technische Vorgang der Markierung, der ein praktischer Beitrag zur Vertrauensbildung ist, und die maritime Komponente, über die wir hier diskutieren - gehören zusammengedacht. Deswegen ist es richtig, dass die
Bundesregierung diesen Antrag hier vorgelegt hat.
Gleichzeitig tragen wir dazu bei, dass die technischen
Fähigkeiten der libanesischen Marine verbessert werden,
dass die Soldatinnen und Soldaten ausgebildet werden,
dass technisches Gerät angeschafft und auch die Fähigkeit vermittelt wird, dieses Gerät eigenständig zu warten
und einzusetzen. Ich halte das für ganz essenziell.
Ganz am Ende meines kurzen Beitrages will ich noch
Folgendes sagen: Die libanesische Armee genießt etwas,
was im Libanon kaum jemand genießt, nämlich Vertrauen von allen Seiten, und das in einem Land, in dem
es weiterhin intern massive Probleme gibt. Die sogenannte Antiterroroperation, begonnen in Tripoli im Norden des Landes, dann in der Bekaa-Ebene und im Süden
und in der Hauptstadt des Landes fortgeführt, ist von allen Teilen des politischen Spektrums im Libanon mitgetragen worden.
Riot Control ist etwas, was die libanesische Armee
beherrschen muss, um den Terrorismus beispielsweise in
Tripoli zu bekämpfen, und zwar mit Unterstützung der
gesamten Regierung. Das ist geschehen. Wenn die italienischen Soldaten dazu einen Beitrag geleistet haben, haben sie einen Beitrag zum Frieden geleistet.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({3})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Herzlich Willkommen
von meiner Seite aus zum Endspurt.
Die nächste Rednerin ist Dr. Franziska Brantner für
Bündnis 90/Die Grünen.
Danke. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe
Kollegen! Liebes Publikum! Aus dem Nahen Osten
kommen seit geraumer Zeit eigentlich nur schlechte
Nachrichten. Zwischen Israel und Palästina scheint nach
den gescheiterten Verhandlungen ein friedliches Nebeneinander weiter entfernt denn je, in Ägypten hat sich gerade der Exmilitärchef zum Präsidenten „wählen“ lassen, der sich anschickt, sein Land in die Vor-MubarakÄra zurückzuführen, auch in Syrien gibt es einen „Wahlsieger“, Baschar al-Assad, obwohl die Schreckensherrschaft weitergeht.
Direkt betroffen von diesem Krieg ist eben nicht nur
Jordanien, sondern auch der Libanon. Es wurde von
Niels Annen gerade schon gesagt: Vom Libanon wurden
über 1 Million Menschen aufgenommen. Jeder Fünfte
im Libanon ist Flüchtling, die Nachbarstaaten Syriens
nehmen gerade ungeheure Belastungen - so hat es Herr
Steinmeier bezeichnet - auf sich.
Leider ist nur selten Positives zu vermelden. Ich
glaube, man kann sagen, dass der UNIFIL-Einsatz, der
den Waffenstillstand zwischen Israel und dem Libanon
absichert, positive Auswirkungen hat. Man darf nicht
vergessen, was zu diesem Einsatz geführt hat. Nach jahrelangen blutigen Auseinandersetzungen im israelischlibanesischen Grenzgebiet stellte dieser Einsatz, beschlossen im Jahr 2006, eine Möglichkeit dar, dort wenigstens für weniger Tote und für etwas Frieden zu sorgen. Man sollte auch daran erinnern, dass die meisten
Leidtragenden der Auseinandersetzungen damals Zivilisten waren. Viele von ihnen kamen durch diesen Konflikt ums Leben.
Es geht um eine Mission, die sich in dieser sich täglich weiter destabilisierenden Region um zumindest etwas Stabilität bemüht. Ich glaube, wenn diese Mission
heute aufhören würde, würden die Spannungen zwischen Israel und dem Libanon sofort wieder aufflackern,
({0})
weil die Grenzstreitigkeiten noch nicht endgültig beigelegt sind.
({1})
Wir wissen ja durch Gerüchte oder schon bewiesene
neue Informationen über Rohstoffquellen in diesem Gebiet, dass der Konflikt dort nach Abzug von UNIFIL bestimmt nicht kleiner würde; vielmehr könnte es zu einer
Verschärfung der Auseinandersetzungen über Grenzfragen kommen. Deswegen ist UNIFIL heute immer noch
genauso wichtig wie zuvor.
Ein Abzug von UNIFIL wäre politisch nicht nur ein
fatales Signal für den Libanon, sondern auch für die
ganze Region. Das bedeutet nicht, wie ich finde, dass
wir der internationalen Gemeinschaft oder Europa Versagen im Hinblick auf den Konflikt in Syrien vorwerfen
müssen, auch wenn es die internationale Gemeinschaft
nicht schafft, dort für Frieden und damit für ein Ende der
wirklich grausamen Situation - sie ist nicht akzeptabel
und nicht länger ertragbar - zu sorgen. Ich habe mich gewundert, als ich gelesen habe, dass Gerd Müller, immerhin einer unserer Minister, der Europäischen Union in
der Syrien-Krise ein Aussitzen vorgeworfen hat. Ich
habe mich da schon gefragt: Was trägt die deutsche Bundesregierung denn dazu bei, diesen Krieg wirklich zu beenden?
({2})
- Wir glauben, dass man über Dialog in dieser Region
wesentlich mehr erreichen könnte und dass man sowohl
auf die russische Seite als auch auf die Partner SaudiArabien und Katar wesentlich mehr Druck ausüben
müsste.
({3})
Beide Seiten sorgen dafür, dass der Konflikt dort anhält
und sich somit für sie lohnt, weil sie Waffen dorthin liefern können. Für uns ist klar: Beide Kriegsparteien in
Syrien haben Akteure hinter sich, die dafür sorgen, dass
man von dem Krieg dort profitiert und man sich nicht
auf eine friedliche Einigung einlässt.
({4})
- Nicht mit Waffenlieferungen; die dürfen auf jeden Fall
nicht stattfinden.
({5})
Erlauben Sie mir am Ende meiner Rede noch einen
kritischen Hinweis zu dem Mandat, über dessen Verlängerung wir abstimmen. Nicht nur bei der Debatte über
dieses Mandat haben wir festgestellt, dass die Bundesregierung im Antrag auf seine Verlängerung darauf verzichtet, wichtige Angaben, zum Beispiel die völker- und
verfassungsrechtlichen Grundlagen, den Auftrag, die
einzusetzenden Fähigkeiten, den Rechtsstatus und das
Einsatzgebiet, explizit zu nennen. Stattdessen verweist
sie einfach nur auf die Fortgeltung der Regelungen der
acht Mandatsbeschlüsse seit 2006. Wir bitten wirklich
darum, dass die Bundesregierung dem Bundestag künftig Mandate vorlegt, die zumindest die im Parlamentsbeteiligungsgesetz aufgeführten Angaben enthalten. Im Interesse aller Abgeordneten wünschen wir uns, dass uns
diese Angaben wieder vollständig und korrekt vorgelegt
werden.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Danke, Frau Kollegin Brantner. - Nächster Redner
für die CDU/CSU-Fraktion ist Philipp Mißfelder.
({0})
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Frau
Dr. Brantner, ich kann mich noch daran erinnern, dass
vor nicht allzu langer Zeit hier einmal eine Abgeordnete
- sie ist heute Ministerin - gestanden und ein Lied gesungen hat; singen kann ich nicht so gut wie sie. Ich
kann nur sagen, dass der Inhalt des Liedtextes in etwa
dem entsprach, was Sie gerade an außenpolitischer Konzeption aufgezeigt haben: Sie malen sich die Welt, wie
es Ihnen gefällt. Nichts anderes machen Sie.
({0})
Den wegweisenden und bahnbrechenden Hinweis, man
solle jetzt auf Dialog setzen, nehmen wir gern auf. Nur:
Das tun wir seit Ausbruch des Konflikts.
({1})
Angesichts dessen bin da ein bisschen sprachlos. Ich
weiß nicht, was wir da noch tun sollen. Ich weiß nicht,
wie lange Sie jetzt schon dabei sind, Frau Brantner - ich
habe nicht im Volkshandbuch nachgesehen -, aber lassen
Sie sich von einem zweifellos älteren Abgeordneten sagen:
({2})
Auch in der vorherigen Koalition haben wir auf Dialog
gesetzt. Ich habe hier schon mehrmals zum Thema gesprochen, das letzte Mal vor ein paar Tagen, als wir den
gemeinsamen Antrag zu Syrien auf den Weg zu bringen
versucht haben.
Der Konflikt, was Syrien angeht, hat sich natürlich
auch insgesamt verändert. Man ging von einer ganz anderen Ausgangssituation aus. Wir haben über Monate
hinweg Treffen mit den sogenannten Friends of Syria gehabt, die wir für die - in Anführungszeichen - „Richtigen“ gehalten haben, zumindest für solche, die hehre
Motive für die Zukunft ihres Landes haben. Nur: Währenddessen hat sich der Konflikt verändert, wie Sie ja
selbst sagen. Von außerhalb des Landes sind zusätzliche
Spieler hinzugekommen - mit eigenen Interessen und
mit einer eigenen Agenda.
Die Alternative zu unserer Dialogbereitschaft damals
wäre Intervention gewesen. So schlimm das Leid in
Syrien auch ist: Ich bin froh, dass wir nicht interveniert
haben, weil ich mir sicher bin, die Situation wäre dadurch nicht besser geworden.
({3})
Deshalb sage ich, dass es von uns richtig war, von Anfang an die militärische Option vom Tisch zu nehmen.
Herr Mißfelder, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder
-bemerkung des Kollegen Omid Nouripour? Er ist ein
bisschen älter als Sie.
({0})
Selbstverständlich, Frau Präsidentin.
({0})
Wollen Sie eine Bemerkung dazu machen, Herr
Mißfelder? - Nein. Gut.
Nein; ich nehme das einfach so hin.
Herr Nouripour, bitte.
Herr Kollege Mißfelder, herzlichen Dank, dass Sie
die Zwischenfrage zulassen.
Selbstverständlich.
Ich glaube nicht, dass jemand im Hohen Hause sagen
würde: Es gibt eine klare militärische Lösung für die Situation in Syrien. - Aber das, was die Kollegin Brantner
angesprochen hat, blieb unbeantwortet. Die Frage war
doch - und das ist gerade auch aus Ihren Reihen gekommen -: Wie kann man denn Druck auf Staaten machen,
die doch einiges an Unheil ins Land bringen? Zu nennen
sind auf der einen Seite die Russen und die Iraner, auf
der anderen Seite die Golfstaaten. Wir sagen ja - nicht
meine Fraktion, aber die Bundesrepublik sagt es die
ganze Zeit -, dass genau diese Golfstaaten unsere Partner sind.
Also: Welche Vorstellung haben Sie davon, wie wir
Druck auf Saudi-Arabien und Katar machen können?
Das sind Staaten, von denen wir wissen, dass sie, während wir ihnen gleichzeitig Waffen liefern, Gruppierungen finanzieren, die nicht nur Terror nach Syrien brin3558
gen, sondern auch in Ländern wie Afghanistan oder Mali
Gruppen finanzieren, die auf Bundeswehrsoldaten schießen. Wie wollen Sie diesen Druck überhaupt aufbauen
und aufrechterhalten?
Sie sprechen die Problematik zu Recht an. Das betrifft
unsere Partner in Peace und unsere Partner im Kampf
gegen den internationalen Terrorismus ganz klar. Die Janusköpfigkeit manch unserer Partner in der Region ist
uns schon bewusst. Sie ist ja auch Ihnen bekannt; Sie
sind ja bei den Besprechungen dabei, Herr Kollege
Nouripour.
An einer Stelle muss ich Sie korrigieren. Wenn Sie
per se sagen: „Saudi-Arabien unterstützt das, Katar unterstützt das“, dann ist das nicht ganz korrekt; das wissen
Sie selbst. Es sind zum Teil Einzelpersonen, die konkrete
Aktionen unterstützen. Ich würde sie nicht gleichsetzen
mit dem Staat. Davor würde ich warnen. Das ist gerade
der Balanceakt, den man in der gesamten Golfregion
schaffen muss. Es ist ja so, dass wir die Golfstaaten nicht
als Partner abschreiben wollen, sondern mit ihnen zusammenarbeiten wollen, wissend, dass es schwierige
Partner sind und dass Einzelpersonen, wenn nicht sogar
größere Gruppierungen in einzelnen Ländern, Leute, die
sehr viel Einfluss haben, konkret hinter solchen Aktionen stecken. Wir können die ja zum Teil genau lokalisieren und auch konkret benennen, wer das ist. Aber ich
würde trotzdem nicht sagen: Der Staat Saudi-Arabien
selbst ist hier die treibende Kraft. - Das würde ich schon
differenzierter darstellen. Was die Art und Weise der Zusammenarbeit angeht: Ich kann Ihnen da - wir haben darüber schon oft gesprochen - nur recht geben. Es gibt
halt kein Schwarz und Weiß in dieser Region; es gibt
aber Interessen.
Wir reden hier über UNIFIL. Denken Sie nur daran
zurück, wie UNIFIL auf den Weg gekommen ist.
UNIFIL ist - Niels Annen hat es angesprochen - auf den
Weg gekommen, weil wir damals einen Beitrag dazu
leisten wollten, das Existenzrecht des jüdischen Staates
Israel zu sichern. Das war der Ausgangspunkt. Bei uns
lief die Debatte damals eigentlich in die falsche Richtung. Bei uns haben alle ausgeschlossen, dass Deutschland in dieser Region militärisch tätig werden könne,
während der damalige israelische Premierminister
Olmert uns öffentlich aufgefordert, eingeladen und dringend gebeten hat, tätig zu werden. Wir wurden tätig,
aber nicht mit Landstreitkräften, sondern mittels eines
sehr moderaten und, wie ich finde, gelungenen Beitrages
im Rahmen von UNIFIL. Deshalb ist dieses Mandat
auch eine Erfolgsgeschichte.
Wenn wir über die Region insgesamt reden, dann dürfen wir die deutschen Interessen nicht außen vor lassen.
Dazu gehören auch wirtschaftliche Interessen und vielerlei andere Aspekte. Definitiv gehört aber auch der
Schutz Israels dazu.
Wir beschäftigen uns mit der Menschenrechtssituation in Saudi-Arabien eingehend. Es ist zum Teil sehr
schwer nachvollziehbar, was dort passiert. Aber aus strategischen Gründen gilt: Saudi-Arabien ist und bleibt ein
wichtiger Verbündeter und Partner für uns, wenn es darum geht, den Hegemon Iran teilweise in seine Schranken zu weisen. Das möchte ich an dieser Stelle deutlich
sagen. In welchem Grad Unterstützung und Kooperation
stattfinden kann, das wird im Bundessicherheitsrat - das
steht ja in der Zeitung - offenbar sehr lebhaft diskutiert.
Wir im Parlament spiegeln diese Diskussion wider und
tun uns deshalb mit Rüstungsexporten insgesamt sehr
schwer. Niemand trifft hier leichtfertige Entscheidungen.
Ich komme zum UNIFIL-Mandat zurück. Ich halte
dieses Mandat, wie gesagt - ich wiederhole mich - nach
wie vor für eine Erfolgsgeschichte. Es zeigt, wie einsatzfähig unsere Streitkräfte mittlerweile sind und zu welch
großartigen Leistungen sie in der Lage sind. Ich sehe
diesen Einsatz auch deswegen als Erfolgsgeschichte an,
weil es nicht jeden Tag Vorkommnisse gibt. Ehrlich gesagt, wünsche ich mir das auch nicht. Lieber berate ich
hier über ein Mandat, bei dem es nur wenige Zwischenfälle gibt und das nach außen weniger spektakulär zu
sein scheint. Ich werte dieses Mandat also als vollen Erfolg und sage im Namen meiner Fraktion die Unterstützung für dieses Mandat zu.
Herzlichen Dank.
({0})
Vielen Dank, Herr Kollege Mißfelder. - Nächster
Redner ist Thomas Hitschler für die SPD.
({0})
Sie sagten viel, sie schrieben viel,
Tränenschiffe und Seidenlandschaften.
Gedichte, die das Ende der Erde erreichten,
verwundete Gedichte.
Sie sagten: Die Heimat des Taubengurrens verfällt,
die Heimat der Zeit, die abermals baute und lehrte.
Und die Erde weinte.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Diese Zeilen stammen von der libanesischen
Sängerin Fairuz. 1978 veröffentlichte sie das Lied „Der
Vogel kehrt zurück“, zu einer Zeit, als sich ihr Heimatland mitten in einem blutigen Bürgerkrieg befand.
Fairuz hat sich damals bewusst nicht für eine Seite entschieden. Sie engagiert sich für die Einheit von Norden
und Süden, von Arm und Reich, von allen Menschen im
Libanon und für den Frieden. Dies ist ein wichtiger Beitrag in einem Land, das wie kaum ein anderes in der Region von verschiedenen Konfliktlinien durchzogen und
geteilt wird. Nicht zuletzt deshalb gilt Fairuz als eine der
beliebtesten und am meisten respektierten Persönlichkeiten in der arabischen Welt.
Im Jahr 1978 startete die Mission UNIFIL, über die
wir gerade beraten. Heute ist es jedoch der Bürgerkrieg
im benachbarten Syrien, der die Sicherheit im Libanon
bedroht - zusätzlich zu allen anderen Problemen, die
dieses Land hat. Wir haben die Zahlen heute schon das
eine oder andere Mal gehört: Etwa 1 Million Flüchtlinge
aus Syrien sind im Libanon, eine enorme Belastung für
ein Land mit gerade einmal 4 Millionen Einwohnern.
Zum Vergleich: Deutschland müsste die gesamte Bevölkerung Australiens aufnehmen, um eine ähnliche Quote
zu erreichen.
({0})
Bei uns finden aber gerade einmal 40 000 syrische
Flüchtlinge Zuflucht. Ich meine, Deutschland müsste da
einiges mehr tun. Frank-Walter Steinmeier hat in der
vergangenen Woche angekündigt, mehr Menschen aus
Syrien nach Deutschland zu holen und ihnen damit
Schutz zu gewähren. Gut, wieder einen echten Außenminister zu haben, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({1})
Es muss auch unser Anliegen sein, den Libanon zu
entlasten. Die großen Flüchtlingsströme haben enorme
Auswirkungen auf die Lage der Gesellschaft, Auswirkungen auf das fragile Gleichgewicht zwischen den
Konfessionen. Auch hier müssen wir helfen.
Die Syrienkrise hat auch enorme Auswirkungen auf
die wirtschaftliche Entwicklung des Libanon, und sie ist
in hohem Maße sicherheitsrelevant, nicht nur, weil die
Hisbollah an der Seite Assads und sunnitische Kräfte
aufseiten der Rebellen direkt in den Konflikt eingreifen.
Es grenzt eigentlich an ein Wunder, dass der syrische
Bürgerkrieg noch nicht auf den Libanon übergegriffen
hat.
Die aktuelle Situation im Libanon gleicht, wenn man
das vergleichen darf, dem Spiel „Jenga“, bei dem man
kleine Bausteine aus einem Turm ziehen muss. Wenn der
Turm umfällt, hat man verloren. Nur gewinnen würde im
Libanon niemand. Mit den genannten Konfliktlinien, mit
Akteuren wie der Hisbollah, mit den demografischen,
wirtschaftlichen und sozialen Problemen und dem Bürgerkrieg vor der eigenen Haustür schwankt der libanesische Turm gewaltig. UNIFIL mag dabei nur ein kleiner,
ein stabilisierender Baustein sein. Wer ihn in dieser Situation jedoch wieder herauszieht, riskiert den Zusammensturz des gesamten fragilen Gebildes mit schlimmen
Folgen für die Region.
({2})
UNIFIL ist ein Beitrag zu mehr Stabilität. Bei allen
Zwischenfällen an den libanesischen Grenzen möchte
ich mir nicht ausmalen, wie die Lage ohne die Mission
aussehen würde. Dass sich die libanesische und die israelische Armee bei regelmäßigen Treffen im UNIFILHauptquartier direkt austauschen können, ist ein von allen Seiten hochgeschätzter Beitrag zu mehr Stabilität.
Der Aufbau der Marine mit dem Ziel einer eigenständigen Sicherung der Seegrenzen ist ein langfristiger Beitrag zu mehr Stabilität.
Wir müssen die Kräfte in der Region stärken, die sich
für mehr Stabilität einsetzen. Wir müssen den Dialog
und die Zusammenarbeit zwischen allen gesellschaftlich
relevanten Akteuren unterstützen. Und wir müssen weiterhin helfen, tragfähige Sicherheitsstrukturen aufzubauen. Dazu wird auch der deutsche Beitrag zu UNIFIL
benötigt, der sowohl von den Vereinten Nationen als
auch von der libanesischen und der israelischen Regierung ausdrücklich begrüßt wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Mission UNIFIL
ist eine der ältesten UN-Missionen überhaupt. Angesichts dieser langen Zeit wäre es naiv, zu hoffen, dass sie
schon bald überflüssig sein könnte. Nicht aufgeben will
ich aber die Hoffnung, dass ein erneuter Bürgerkrieg im
Libanon verhindert werden kann, dass der Frieden und
die Vögel zurückkehren bzw., um es mit den Worten von
Fairuz zu sagen:
Aber wir kehren zurück.
Wir kehren aus Bränden zurück.
Aus Straßen unter Geschossen.
Der wahre Libanon kehrt zurück,
räumt gefärbte Geschichte
und falsche Versprechen weg.
Und der Winter nimmt sie fort.
Liebe Heimat,
der Fluss glüht vor Freude,
und mit der Morgendämmerung wird das Leben
strahlen.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank, Herr Kollege, auch für die schönen Zitate, die Sie gebracht haben. Wie heißt das Spiel, das Sie
genannt haben? Ich habe neugierige Blicke gesehen.
Jenga.
Jenga. Gut, beim nächsten Mal werden wir es spielen.
Mal schauen, welcher Turm dann einstürzt.
Letzter Redner in der Debatte ist Florian Hahn für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Bevor ich zum Thema komme, möchte ich
kurz Stellung nehmen zu dem Zwischenruf, den ich vorhin gemacht habe. Ich möchte nämlich nicht, dass der
Kollege Mißfelder frustriert in die Ferien geht. Ich
meinte natürlich, dass der Kollege Nouripour jünger aussieht, als er ist. Das war nicht auf dich gemünzt, lieber
Philipp; nur, damit da nichts aufkommt.
({0}):
Aha!)
Als letzter Redner vor den Pfingstferien, darf ich vielleicht eins sagen: Spätestens nach Ihrer Rede, Frau
Dağdelen, bin ich urlaubsreif. Die Mischung aus Ideologie, Weltverschwörungstheorie und Unsinn ist so un3560
glaublich anstrengend - das war leider nicht das erste
Mal in dieser Woche -, dass ich froh bin, dass wir gleich
in die Ferien gehen können.
({1})
Meine Damen und Herren, wenn wir über die internationalen Mandate sprechen, stellen wir naturgemäß den
deutschen Beitrag ganz besonders heraus. Ich möchte
aber heute mit Brasilien beginnen. Wenn man über Brasilien redet - aktuell denkt man hier vor allem an den
Fußball und die kommende Fußballweltmeisterschaft;
darüber hinaus fallen einem vielleicht noch andere Brasilienklischees ein -, vergisst man meistens, dass es um
ein aufstrebendes Schwellenland geht, das internationale
Verantwortung übernimmt und sich im Rahmen der Vereinten Nationen militärisch engagiert. Schon seit Anfang
2011 führt Brasilien den Flottenverband, die Maritime
Task Force, im Rahmen von UNIFIL an. Dafür möchte
ich an dieser Stelle Brasilien ganz herzlich danken.
({2})
Daneben sind noch viele andere Nationen vor der
Küste des Libanon beteiligt. Insgesamt haben schon
15 Nationen die Maritime Task Force unterstützt. Zurzeit sind etwa 10 500 Soldatinnen und Soldaten im
UNIFIL-Einsatz, davon etwa 1 000 im Flottenverband.
Dieser besteht aus drei Fregatten aus Brasilien, Indonesien und Bangladesch sowie vier Patrouillenbooten aus
Bangladesch, der Türkei, Griechenland und Deutschland. Hier ist das Schnellboot „Wiesel“ unterwegs.
Die Operation UNIFIL dient als Friedensmission zum
einen der Begleitung der Waffenruhe zwischen dem Libanon und Israel und zum anderen der Unterstützung der
libanesischen Regierung bei der Grenzsicherung. Der
deutsche Beitrag dient im Schwerpunkt dem Ausbau der
Fähigkeiten der libanesischen Marine, Küste und Territorialgewässer zu überwachen, damit sie sie irgendwann
einmal selbstständig überwachen kann. Unsere Beteiligung soll bis zum 30. Juni 2015 mit einer unveränderten
Personalobergrenze von 300 Soldatinnen und Soldaten
fortgesetzt werden.
UNIFIL war bislang erfolgreich. Die Mission ist aber
noch nicht abgeschlossen. Damit ein nachhaltiger Erfolg
sichtbar wird, müssen wir das Engagement fortsetzen.
Aufbau und Training der libanesischen Marine sind
wichtig, damit der Libanon seine Sicherheitsaufgaben
künftig eigenverantwortlich wahrnehmen kann. Hierbei
wurden erste Erfolge erzielt.
Hervorzuheben ist, dass Israel ebenso wie die libanesische Regierung und die Vereinten Nationen weiterhin
größten Wert auf eine deutsche Beteiligung am UNIFILFlottenverband legen. UNIFIL wird auch als Forum für
Vertrauensbildung und Austausch zwischen Israel und
Libanon genutzt.
Die Beteiligung am Flottenverband ist - wie bei praktisch allen unseren Mandaten - nur ein Teil eines umfassenderen Engagements für den Libanon und die gesamte
Region. Deutschland hilft dem Libanon bei der Durchführung des nationalen Dialogs, beim Hariri-Tribunal,
bei der Verbesserung der Flüchtlingssituation, bei der
Grenzsicherung, beim Wiederaufbau der Wasser- und
Abwasserinfrastruktur sowie bei der Berufsausbildung.
Der deutsche Beitrag im Rahmen von UNIFIL ist ein
wichtiges Element im Hilfskonzept für den Libanon und
die Region. Für mich ist er durch den klar greifbaren
Nutzen, die erkennbaren Fortschritte bei der libanesischen Marine, ein besonders überzeugender Beitrag.
Wie bei vielen anderen Einsätzen zeigt sich auch hier,
wie viel man mit einem konsequenten und durchdachten
Einsatz bewegen kann. Dies wird auch auf libanesischer
Seite anerkannt. Gerade in dieser zerrissenen Region, in
diesem Land am Abgrund, ist dieses enge Zusammenwirken ein kleines, ermutigendes Signal.
Hier ist in den Jahren seit 2006 nicht nur eine professionelle Beziehung vertieft worden, sondern auch
Freundschaft gewachsen. Im letzten November pflanzten deutsche und libanesische Soldaten im Marinestützpunkt Beirut eine deutsche Steineiche als Geschenk an
die libanesische Marine. Der deutsche UNIFIL-Kontingentführer merkte an: „Wir pflanzen einen jungen
Baum, der so groß und stark werden soll wie die Freundschaft zwischen unseren Marinen“. Die Tafel neben dem
Baum trägt die Inschrift: „Wo Freunde sind, da ist
Reichtum“.
Ich wünsche Ihnen allen schöne Pfingstferien.
({3})
Vielen Dank, Herr Kollege Hahn.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/1417 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ja. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Dienstag, den 24. Juni 2014, 10 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen, meine Kolleginnen und Kollegen,
aber auch unseren Gästen und den Mitarbeitern des Hauses ruhige, friedliche und schöne Pfingsttage. Wer daran
glaubt: Hoffentlich schickt uns der Heilige Geist ziemlich viel Erleuchtung. Schöne Pfingsten und bis zum
nächsten Mal!
Die Sitzung ist geschlossen.