Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Ich beginne mit der erfreulichen Mitteilung, dass die
Kollegen Rudolf Henke und Robert Hochbaum heute
ihren 60. Geburtstag feiern.
({0})
Sie haben sich dafür die bestmögliche Kulisse ausgesucht.
({1})
Jedenfalls nutzen wir diese Gelegenheit gerne, Ihnen
beiden unsere herzlichen Glückwünsche für das neue
Lebensjahr zu übermitteln. Das gilt auch für den Kollegen Herbert Behrens, der vor wenigen Tagen seinen
60. Geburtstag gefeiert hat.
({2})
Interfraktionell ist vereinbart worden, den Tagesordnungspunkt 11 abzusetzen. Statt dieses Tagesordnungspunktes soll der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf der Drucksache 18/1460 mit dem Titel
„Mehr Anerkennung für Peacekeeper in internationalen
Friedenseinsätzen“ als Zusatzpunkt aufgerufen werden.
Auch der Tagesordnungspunkt 12 soll abgesetzt werden;
an dieser Stelle soll die Beratung des Tagesordnungspunktes 21 erfolgen. Sind Sie mit diesen Verabredungen
einverstanden? - Das ist offenkundig der Fall. Dann verfahren wir so.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Tarifautonomie ({3})
Drucksache 18/1558
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({4})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Ernährung und Landwirschaft
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
Hierzu ist nach einer interfraktionellen Vereinbarung
eine Aussprache von 96 Minuten vorgesehen. - Auch
dazu erkenne ich keinen Widerspruch. Dann verfahren
wir so.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Andrea
Nahles.
({5})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
beraten heute ein Gesetzesvorhaben, das eine tiefe und
grundlegende Bedeutung für unser Land hat: das Tarifpaket. Nicht ohne Grund haben wir das Gesetz „Gesetz
zur Stärkung der Tarifautonomie“ genannt. Denn dass
Deutschland wirtschaftlich stark ist, verdanken wir gerade auch der guten Tradition verlässlicher Tarifpartnerschaft und Tarifautonomie.
Dass wir besser als andere in Europa durch die Krise
gekommen sind, dazu hat das gemeinsame verantwortliche Handeln von Arbeitgebern und Arbeitnehmern einen
wesentlichen Beitrag geleistet. Die Tarifautonomie ist
von zentraler Bedeutung für unser Arbeits- und Wirtschaftsleben. Sie ist ein Eckpfeiler der sozialen Marktwirtschaft.
({0})
Zwei gleich starke Partner handeln den Wert der Arbeit
in ihrer Branche aus. Damit sind wir über viele Jahrzehnte gut gefahren. Die Tarifautonomie sichert verantwortliche Abschlüsse und hat eine partnerschaftliche
kompromiss- und konsensorientierte Wirtschaftstradition begründet. Sie hat sozialen Frieden im Land und damit auch Stabilität für die gesamte Wirtschaft gesichert.
Sie hat den Arbeitgebern Wettbewerbssicherheit gegeben, da in den Branchen für alle die gleichen Lohnbedin3316
gungen gelten, und sie hat für Friedenspflicht gesorgt.
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern bietet sie
Schutz, Einkommenssicherheit und gleichzeitig die
Chance zur Mitbestimmung.
Gerade wegen dieser Erfolge dürfen wir die Augen
aber nicht vor den Problemen verschließen, die in den
letzten Jahren parallel zu den genannten Erfolgen immer
deutlicher geworden sind. Die Tarifautonomie hat Risse
bekommen.
Gestatten Sie mir, einige Zahlen dazu zu nennen:
Lag der Anteil der Beschäftigten in tarifgebundenen
Betrieben in Westdeutschland 1980 noch bei 91 Prozent,
so waren es 1998 nur noch 76 Prozent, und heute liegen
wir in Westdeutschland bei 60 Prozent, während es in
Ostdeutschland sogar nur 48 Prozent sind. Betrachtet
man die Betriebe, dann stellt man fest, dass im Osten nur
noch jeder fünfte Betrieb einem Tarifvertrag unterliegt.
Das ist eine dramatische Entwicklung.
({1})
Im europäischen Vergleich ist Deutschland von einer
Spitzenposition ins Mittelfeld zurückgefallen. Österreich
etwa, die skandinavischen Staaten, Frankreich und Italien verzeichnen auch weiterhin eine hohe Tarifbindung
von 85 bis 97 Prozent. In diesen Staaten gibt es, wie es
in Deutschland traditionell auch der Fall ist, meist keinen nationalen, sondern lediglich auf einzelne Wirtschaftszweige beschränkte Mindestlöhne. In Ländern
mit einer niedrigeren Tarifbindung hingegen wird überwiegend über ein allgemeines nationales Mindestlohnregime eine Lohngrenze nach unten verbindlich festgelegt.
Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass mit sinkender
Tarifbindung in Deutschland auch die Debatte über einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn begann.
Der Weg sollte - darüber waren wir uns in der letzten
Großen Koalition einig - zunächst über branchenbezogene Mindestlöhne gehen. Inzwischen sind durch Branchenmindestlöhne über 3 Millionen Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer vor Lohndumping geschützt - übrigens ohne dass es zu dem von manchen im Land befürchteten Verlust von Arbeitsplätzen gekommen ist.
({2})
Bei allen Erfolgen von branchenbezogenen Mindestlöhnen: Es bleiben große weiße Flecken. Dort haben
branchenbezogene Mindestlöhne nicht gegriffen, und sie
würden auch in Zukunft nicht greifen.
2012 arbeiteten mehr als 5 Millionen Menschen für
einen Stundenlohn von weniger als 8,50 Euro. Was ist
unsere Antwort darauf? Ich meine, eine ausgewogene
Antwort hat aus zwei Teilen zu bestehen: Zum einen
müssen wir alles dafür tun, dass wir aus dem Mittelfeld,
in das wir bei der Tarifbindung zurückgefallen sind, wieder zur Spitzengruppe aufschließen.
({3})
Zum anderen brauchen wir eine klare Grenze nach unten, und das geht nur mit dem flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn. Das Tarifpaket, das wir hier heute
vorlegen, verbindet vernünftig und wirksam genau diese
beiden Teile der Antwort.
({4})
Die Stärkung der Tarifautonomie und der Sozialpartnerschaft erreichen wir, indem wir die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen erleichtern. Dadurch geben wir den Sozialpartnern wieder das Heft des
Handelns in die Hand. Wir sorgen dafür, dass sie wieder
mehr Einfluss bekommen und die Arbeitswelt wieder
wirksam gestalten können. Die Regeln, die sie in
gemeinsamer Verantwortung für Betrieb und Branche
aushandeln, werden künftig verstärkt wieder für alle Unternehmen gelten, auch die, die ansonsten nicht tarifgebunden sind. Die Aushöhlung der Tarifpartnerschaft
wird unterbunden, die Flucht aus gemeinsam festgelegten vernünftigen Mindeststandards wird erschwert. Das
ist Verantwortung und Gestaltungswille.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der am meisten beachtete und diskutierte Teil des Tarifpaketes ist zweifelsohne der allgemeine gesetzliche Mindestlohn. Auf den
ersten Blick sieht es wie ein Eingriff in die Tarifautonomie aus, wenn wir den Mindestlohn gesetzlich festlegen.
Auf den ersten Blick wirkt das wie ein Widerspruch zu
dem, was ich vorhin gesagt habe und was wir mit der
Stärkung der Tarifautonomie in diesem Gesetz erreichen
wollen. Die weißen Flecken, von denen ich gesprochen
habe, zwingen uns aber dazu, diesen Eingriff vorzunehmen.
({6})
5 Millionen Menschen arbeiten zu Dumpinglöhnen.
Ohne einen gesetzlichen Mindestlohn würden sie es
nicht schaffen, aus diesem Niedriglohnbereich herauszukommen und einigermaßen anständig bezahlt zu werden,
und wir könnten ihnen nicht helfen. All diesen Menschen sagen wir: Der Mindestlohn kommt zum 1. Januar
2015. Das haben wir versprochen, und das wird gehalten.
({7})
Ab dem 1. Januar 2017 gilt für alle Branchen ohne Ausnahme in Ost und West gleichermaßen ein Mindestlohn
von 8,50 Euro.
({8})
Ja, wir müssen eingreifen. Aber auch hier gilt die Prämisse der Tarifautonomie. Mit dem Gesetz sorgen wir
dafür, dass die Tarifpartner das Heft des Handelns auch
bei der Umsetzung des gesetzlichen Mindestlohns in der
Hand behalten. Für die Übergangszeit bis Ende 2016
liegt es eben in der Hand der Tarifparteien, mit spezifischen Übergangsregelungen eine vernünftige Einphasung in den Mindestlohn für ihre Branche auszuhandeln.
Auch die künftige Entwicklung des Mindestlohns sollen Gewerkschaften und Arbeitgeber bestimmen. Sie
kennen die Lage in den Betrieben und Branchen und
können so am besten tragfähige und verantwortliche
Entscheidungen treffen. Dafür haben wir das Instrument
einer unabhängigen Mindestlohnkommission geschaffen. Sie entscheidet in Zukunft über die Erhöhung des
Mindestlohns, und die Bundesregierung ist an diese Entscheidung gebunden. Die zukünftige Festlegung des
Mindestlohns werden wir nicht der Politik, sondern, wie
es in unserem Land gute Tradition ist, den Tarifpartnern
überlassen.
({9})
Insoweit ist der Mindestlohn ein neuer Schritt, den
wir aber konsequent in der alten bewährten Tradition gehen. Alte bewährte Tradition - ich habe es schon mehrfach gesagt - heißt für mich soziale Marktwirtschaft.
Nach der Einführung des Arbeitsförderungsgesetzes
1969, nach der Neufassung des Betriebsverfassungsgesetzes 1972, nach der Einführung des Arbeitssicherheitsgesetzes 1973 und nach der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe 2003 setzt jetzt in diesem
Jahr, 2014, der Mindestlohn eine weitere wesentliche
Leitplanke für Arbeit in Deutschland.
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir geben den Sozialpartnern wieder mehr Einfluss und Gestaltungsmacht. Und wir geben der Arbeit ihren Wert zurück. Der
Wert der Arbeit bemisst sich nicht nur, aber vor allem
am Lohn.
({11})
Am Lohn kann ich ablesen, ob meine Arbeit gewürdigt
und wertgeschätzt wird.
Mit dem Tarifpaket setzt die Große Koalition ein klares Zeichen: Arbeit hat in Deutschland ihren Wert.
({12})
Das Wort erhält nun der Kollege Klaus Ernst für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es gibt tatsächlich vier Punkte, über die ich
mich heute ganz besonders freue.
({0})
- Ja, da könnt ihr durchaus klatschen.
({1})
Der erste Punkt ist: Es ist tatsächlich ein Gesetzentwurf zur Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns
vorgelegt worden. Das ist ein großer Fortschritt in
Deutschland.
({2})
Das Zweite, das mich freut - ich hätte gar nicht daran
geglaubt, meine Damen und Herren von der CDU/CSU -,
ist die Einsicht in die Realität, dass wir diesen Mindestlohn brauchen. Ich finde es toll, wie Sie Ihre Meinung in
diesem Punkt geändert haben.
({3})
Ich kann mich noch daran erinnern, dass das früher anders klang. Ich zitiere Herrn Lehrieder: „Ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn funktioniert nicht.“
Max Straubinger hat gesagt: „Die Auswirkungen gesetzlicher Mindestlöhne bestehen nicht nur in erhöhter Arbeitslosigkeit.“ Und so weiter.
Dass Sie sich jetzt, kurz vor Pfingsten - da kommt ja
der Heilige Geist -, dazu durchringen konnten, Ihre Meinung zu ändern, ist klasse.
({4})
In der Begründung des Gesetzentwurfs heißt es - und
das freut mich sehr; ich zitiere -:
Die Ordnung des Arbeitslebens durch Tarifverträge
ist in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen.
… Dies hat den Tarifvertragsparteien die ihnen
durch Artikel 9 Absatz 3 des Grundgesetzes überantwortete Ordnung des Arbeitslebens strukturell
erschwert.
Das ist die Anerkennung dessen, dass Ihr in den letzten Jahren üblicher Verweis darauf, dass die Tarifvertragsparteien das Problem regeln sollen, schlichtweg
nicht mehr reicht. Sie erkennen mit diesem Gesetzentwurf an, dass Sie damit falsch gelegen haben. Wenn die
Tarifvertragsparteien das regeln sollen, dann muss man
sie stärken. Ich freue mich über Ihren Gesinnungswandel. Bravo, meine Damen und Herren!
({5})
Das Dritte, das mich sehr freut - ich kann es nicht anders sagen -, ist, dass die Partei, die sich seit Jahren in
diesem Land als sozialer Bremser dargestellt
({6})
und den Mindestlohn konsequent abgelehnt und verhindert hat, diese Debatte von der Tribüne oder vor dem
Fernsehgerät verfolgen kann. Auch das freut mich sehr,
meine Damen und Herren.
({7})
Der vierte Punkt ist: Mich freut, dass an diesem Gesetzentwurf deutlich wird, dass sich Hartnäckigkeit
lohnt. Steter Tropfen holt den Stein.
({8})
- Was habe ich gesagt?
({9})
- Er holt ihn auch. Er holt den Stein.
Herr Wadephul, Sie haben im Dezember 2010 gesagt
- Zitat -:
Diskutieren Sie mit uns über andere sozialpolitische
Themen als jede Woche über denselben Aufguss alter Themen.
Diese Hartnäckigkeit der Linken hat sich gelohnt.
({10})
Inzwischen haben auch Sie es begriffen. Sie können sich
aufführen, wie Sie wollen: Das Thema Mindestlohn ist
ein ursächliches Thema der Linken.
({11})
Wir haben das schon eingebracht, als Sie alle noch dagegen waren. Jetzt freuen Sie sich wieder. 2006 haben wir
das Thema zum ersten Mal eingebracht. Alle waren dagegen, und die Einzige, die das Thema konsequent im
Parlament vertreten hat, war die Linke. Deshalb lassen
wir uns das Thema von Ihnen nicht nehmen, meine Damen und Herren. So ist die Welt.
({12})
Die Zweiten, die den Mindestlohn als Erfolg verbuchen können, sitzen nicht im Parlament. Das sind die
deutschen Gewerkschaften. Sie haben durch ihre Aktivitäten wesentlich dazu beigetragen, dass auch Sie sich einem Meinungswandel unterzogen haben. Auch das freut
mich ganz besonders, meine Damen und Herren.
({13})
Mich freut auch, dass Sie inzwischen unsere Begründung übernehmen.
Herr Kollege Ernst, lassen Sie Zwischenfragen zu?
Ja, selbstverständlich!
Na also. - Bitte schön.
Sie haben darauf hingewiesen, dass Sie als Linke bereits 2006 für einen Mindestlohn gekämpft haben. Sie
sind auch Mitglied der IG Metall.
({0})
Wenn ich mich richtig erinnere, war die IG Metall insbesondere in ihren Führungsgremien deutlich gegen einen
Mindestlohn. Sie hat dieses Projekt damals noch bekämpft. Ich frage Sie ganz persönlich: Hat das bei Ihnen
eigentlich zu schizophrenen Gefühlen geführt?
({1})
Das ist eine sehr nette Frage. Dass Sie diese Frage
stellen, ist in gewisser Weise verwunderlich.
({0})
Wir haben hier über die Erodierung der Tarifverträge
diskutiert. Wir lösen nun durch die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns ein Problem, das Sie in der Koalition mit der SPD selbst verursacht haben, und zwar
durch die Hartz-Gesetze, durch die die Tarifverträge unter Druck geraten sind. Das ist die Wahrheit, Frau
Pothmer.
({1})
Wenn Sie schon damals, als Sie regiert haben, auf die
Gewerkschaften gehört hätten,
({2})
dann hätten wir dieses Problem nicht; denn die Gewerkschaften waren gegen die Hartz-Gesetze. Sie waren dagegen, dass die Leistungen für Arbeitslose gekürzt werden.
({3})
Hätte Sie damals auf die Gewerkschaften gehört, hätten
Sie diese Frage nicht stellen müssen.
Ich bin im Übrigen überhaupt nicht schizophren. Ich
habe schon damals innerhalb der Gewerkschaften und
insbesondere innerhalb meiner Organisation durchaus
zur Kenntnis nehmen müssen, dass wir auch in der
IG Metall Bereiche haben, die nicht mehr dem Tarifvertrag unterliegen, weil wir nicht mehr die Stärke hatten,
dort Tarifverträge durchzusetzen. Deshalb sage ich Ihnen: Es ist vollkommen richtig, was in dem vorliegenden
Gesetzentwurf steht. Man muss die Tarifautonomie wieder stärken und darf nicht nur auf sie verweisen, in der
Hoffnung, dass diese dann das Problem löst. Ohne starke
Gewerkschaften sind die Probleme nicht lösbar. Sie haben die Tarifautonomie in Ihrer Regierungszeit geschwächt.
({4})
Nun zu den Bereichen, in denen wir Probleme mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf haben. Sie übernehmen unsere Begründung und sagen: Die Würde des
Menschen gilt auch für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Es hat etwas mit Würde zu tun, ob ein Arbeitnehmer von seinem Lohn leben kann oder nicht.
Diese Begründung höre ich inzwischen auch von Ihnen
immer öfter. Aber Sie nehmen in Ihrem Gesetzentwurf
die unter 18-Jährigen aus; sie sollen vom Mindestlohn
nicht profitieren. Da frage ich Sie natürlich: Gilt für
diese nicht der Satz von der Würde? Hat nicht auch
schon ein 18-Jähriger so viel Würde, dass er vernünftig
entlohnt werden soll? Warum eigentlich? Glauben Sie
tatsächlich, dass viele junge Menschen in letzter Zeit
deshalb keinen Ausbildungsplatz hatten, weil sie woanders zu hohe Löhne bekommen haben und deshalb keinen Ausbildungsplatz angenommen haben? So ein
Unfug! Ich sage Ihnen: Hören Sie auf, solche Ausnahmeregelungen für unter 18-Jährige zu schaffen! Sie wollen solche Ausnahmeregelungen, weil Sie doch noch
nicht alles begriffen haben. Das ist die Einschränkung
meines Lobes von vorhin.
({5})
Ich halte es genauso für vollkommen falsch, Ausnahmeregelungen für Langzeitarbeitslose zu schaffen. Haben denn die Langzeitarbeitslosen keine Würde? Wenn
Sie sagen, dass es etwas mit Würde zu tun hat, dass man
von seiner Arbeit leben kann, dann muss das auch für
Langzeitarbeitslose gelten. Hören Sie mit diesen Ausnahmeregelungen auf!
({6})
Der nächste Punkt, der dabei eine Rolle spielt, ist die
Altersregelung. Frau Nahles hat dazu am 3. April in der
Leipziger Volkszeitung gesagt:
Das beste Gesetz gegen Altersarmut ist der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn für alle.
Für alle, also auch für Langzeitarbeitslose!
Wir haben die Bundesregierung gefragt, wie hoch die
Nettorente sein müsste, damit jemand, der sein ganzes
Leben gearbeitet hat, eine Rente bezieht, die über der
Grundsicherung im Alter liegt. Die Antwort möchte ich
Ihnen nicht vorenthalten - ich zitiere -:
Um eine Nettorente … über dem durchschnittlichen
Bruttobedarf in der Grundsicherung im Alter … bei
einer wöchentlichen Arbeitszeit von 38,5 Stunden
über 45 Jahre versicherungspflichtiger Beschäftigung hinweg zu erreichen, wäre rechnerisch ein
Stundenlohn von rd. 10 Euro erforderlich.
Mit 8,50 Euro lösen Sie das Problem der Altersarmut in
diesem Land überhaupt nicht.
({7})
Dann frage ich Sie: Was ist das für eine Regelung, die
erste Erhöhung zum 1. Januar 2018 stattfinden zu lassen? Gilt denn die Würde erst ab dem 1. Januar 2018
wieder? Im Übrigen sind die 8,50 Euro von heute im
Jahre 2017 nur noch 8,16 Euro wert. Das heißt, dass im
Jahr 2017 sich die meisten Mindestlohnempfänger in der
Bedürftigkeit wiederfinden und Sie somit mit der niedrigen Marge des Mindestlohns Ihre eigenen Ziele verfehlen. Das ist das Problem in diesem Zusammenhang.
({8})
Mein letzter Punkt: Durch einen Tarifvertrag kann der
Mindestlohn - Frau Nahles, Sie selber haben es angesprochen - bis 2017 unterlaufen werden. Was ist denn
das für eine Regelung, dass man Gewerkschaftsmitglieder per Tarifvertrag schlechterstellen darf als die, die
nicht gewerkschaftlich organisiert sind? Haben denn die
gewerkschaftlich Organisierten weniger Würde als die
anderen? Hören Sie auf mit diesen Ausnahmeregelungen, meine Dame! Legen Sie vielmehr einen Mindestlohn für alle fest, wie Sie es angekündigt haben, und bestimmen Sie eine vernünftige Höhe! Damit erreichen Sie
Ihre eigenen Ziele.
({9})
Noch eine letzte Bemerkung. Ich habe die Äußerungen von Herrn Schweitzer und anderen von der Industrie, dem Handwerk und der Hotelbranche gelesen, die
sich massiv über diese Regelungen beschweren. Ich
habe gedacht, ich traue meinen Augen nicht. Herr
Schweitzer vom DIHK verweist auf die Chinesen und
die Amerikaner, die übrigens in einigen Städten teilweise einen Mindestlohn von 14 Dollar einführen. Dazu
sage ich nur: Lassen Sie sich - da muss ich Sie jetzt
wirklich in Schutz nehmen - davon nicht beirren! Herr
Schweitzer weiß doch genau, wo der Mindestlohn wirkt,
nämlich in Branchen, in denen hauptsächlich Frauen arbeiten, und im Dienstleistungsbereich.
Jetzt wird gesagt, die Chinesen seien billiger. Glaubt
denn wirklich einer, dass die Fenster, die geputzt werden
müssen, nach China zum Putzen und dann wieder zurückgeschickt werden, weil es in China niedrigere Löhne
gibt? Sind die denn von allen guten Geistern verlassen?
Wie kann man denn die chinesischen Löhne im Dienstleistungsbereich, der ortsgebunden ist, mit unseren Löhnen vergleichen?
Deshalb sage ich Ihnen: Bitte bleiben Sie an der Stelle
hartnäckig! Machen Sie vor allem das, was Sie angekündigt haben, nämlich einen gesetzlichen Mindestlohn für
alle ohne Ausnahme!
({10})
Herr Kollege Ernst, da Sie vorhin mit Blick auf das
bevorstehende Pfingstfest den Heiligen Geist für diese
Auseinandersetzung bemüht haben, erlaube ich mir den
Hinweis, dass die Frage, ob der Heilige Geist im Himmel Mindestlöhne eingeführt hat, bis heute unter den
Theologen nicht restlos geklärt ist.
({0})
Der Kollege Schiewerling hat nun für die CDU/CSUFraktion das Wort.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wir müssen schon aufpassen, dass die Diskussion über den Mindestlohn und über
die Frage der Zukunft der Arbeitswelt in unserer Gesellschaft nicht in einem Klamauk endet.
({0})
Wissen Sie, Herr Kollege Ernst: Sie können gerne Ihr
Mütchen an früheren politischen Auseinandersetzungen
kühlen. Die Union hat von Anfang an in der letzten Legislaturperiode an einem Mindestlohnkonzept - ich gestehe zu: etwas länger - gearbeitet und dabei konsequent
die Frage gestellt, wie wir die Tarifautonomie stärken
können. Deswegen hat sie das Konzept entwickelt, dass
in Zukunft eine Kommission einen Mindestlohn findet
und nicht der Deutsche Bundestag.
({1})
Deswegen werden wir hier im Hohen Hause jetzt zum
ersten und zum letzten Mal einen Mindestlohn von
8,50 Euro festlegen; danach ist die Kommission zuständig. Sie gehört dahin, wo die Verantwortung für die
Löhne liegt, und die liegt bei den Tarifpartnern. Wir werden diese nicht aus der Verantwortung entlassen.
({2})
Das vorliegende Gesetz trägt nicht umsonst die Überschrift „Stärkung der Tarifautonomie“. In der Tat steht
die Tarifautonomie für uns im Mittelpunkt, bei aller
Sorge, die wir haben, dass die Tarifbindung abnimmt,
was zu ganz schwierigen Entwicklungen geführt hat.
Das hat zu einem großen Teil auch dazu geführt, dass
wir heute über Mindestlöhne reden müssen; denn dort,
wo Tarifautonomie vernünftig funktioniert, haben wir
mit der Zahlung von Mindestlöhnen überhaupt keine
Probleme. Nur dort, wo es keine Tarifautonomie gibt
und die Bindungskraft der Unternehmen nachlässt, weil
sie nicht Mitglied in einem Arbeitgeberverband sind,
dort, wo Arbeitnehmer einen schwachen Organisationsgrad in ihrer jeweils zuständigen Gewerkschaft haben,
genau dort haben wir die Probleme und die Schwierigkeiten. Genau dort wollen wir ansetzen, damit wir zu gerechten und ordentlichen Lösungen kommen. Dem dient
dieses Gesetz. Aber im Mittelpunkt steht die Tarifautonomie. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird dieses
Ziel mit großer Konsequenz, auch bei den jetzt anstehenden Beratungen, zusammen mit ihrem Koalitionspartner
verfolgen.
({3})
Weil wir in vielen Bereichen eine schwache Tarifbindung haben, wird jetzt der Ruf nach dem Staat laut. Ich
halte es für eine ganz schwierige Entwicklung in unserem Land, dass überall da, wo etwas nicht mehr gelingt,
wo Subsidiarität nicht mehr funktioniert, weil die, die
dafür zuständig sind, die Verantwortung nicht übernehmen können oder nicht übernehmen wollen, der Ruf
nach dem Staat laut wird. Ich sage Ihnen sehr deutlich:
Es ist nicht garantiert, dass dann automatisch alles besser
wird. Aber wir sind gezwungen und aufgerufen, für Ordnung am Arbeitsmarkt zu sorgen. Daran arbeiten wir.
Folglich wird dieses Gesetz auf den Weg gebracht.
Dies geschieht mit mehreren Waggons, die wir auf
dieses tarifpolitische Gleis gesetzt haben:
Es geht zunächst einmal um die Reform der Allgemeinverbindlicherklärung. Es geht darum, dass Tarifverträge - auch solche mit einer Tarifbindung von unter
50 Prozent - dann, wenn ein besonderes öffentliches Interesse vorhanden ist, leichter auf diejenigen Gebiete
einer Branche, in denen keine Tarifbindung besteht, ausgeweitet werden können. Das ist eine konsequente Anwendung von Tarifautonomie im Hinblick auf die Stärkung von Arbeitgebern und Gewerkschaften.
({4})
Wir werden - das ist der zweite Waggon, der auf dem
tarifpolitischen Gleis steht - die Ausweitung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes vornehmen. Wir werden also
eine Ausweitung insbesondere auf diejenigen Branchen
vornehmen, in denen ausländische Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer tätig sind. Auf diese Branchen wird
somit dahin gehend Druck ausgeübt, dass dort faire und
vernünftige Bedingungen herrschen. Wir werden ermöglichen, dass noch mehr Branchen dem Geltungsbereich
des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes unterliegen. Auch
dort gelten dann zuvörderst die zwischen Arbeitgebern
und Gewerkschaften ausgehandelten Tarife.
Zum gesetzlichen Mindestlohn. Ich habe vorhin schon
gesagt: Der Deutsche Bundestag wird einmal einen Mindestlohn festlegen, 8,50 Euro, dadurch eine Marke setzen und danach die Verantwortung einer Tarifkommission übertragen, die paritätisch mit Arbeitgebern und
Gewerkschaftsvertretern besetzt ist.
Ich kenne mittlerweile den Wunsch aus diesem Bereich, dass man möglichst genau beschreibt, was diese
Kommission zu tun hat, dass man möglichst eng eingrenzt, welche Aufgaben sie hat. Ich sage Ihnen: Da haben wir eine gänzlich andere Vorstellung. Wenn Arbeitgeber und Gewerkschaften für die Findung von Löhnen
in unserem Land zuständig sind, dann haben sie auch die
Verantwortung dafür zu übernehmen. Deswegen werden
wir im Gesetzentwurf einige Kriterien formulieren, an
denen man sich zu orientieren hat.
({5})
Dazu gehört die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung
in unserem Land. Dazu gehört die Bruttolohnentwicklung in unserem Land. Dazu gehört die Auswirkung eines Mindestlohnes auf Branchen und Regionen. Dazu
gehört natürlich auch die Frage der Auswirkungen eines
Mindestlohnes auf bestimmte Altersgruppen. Alle diese
Fragen sollen von dieser Kommission mit bearbeitet
werden. Diese Kommission soll auch regelmäßig daKarl Schiewerling
rüber berichten und eine Analyse dazu abgeben, wie was
gewirkt hat.
In der Tat, es ist richtig: Wir beschreiten mit der Implementierung des Mindestlohnes, mit der Flexibilisierung der Allgemeinverbindlicherklärung und der Änderung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes einen neuen
Weg, dessen sämtliche Auswirkungen wir letztendlich
noch nicht überblicken können. Das gilt insbesondere
für die Frage der Altersgrenze. Das gilt insbesondere für
die Frage, wie sich das Ganze auf die Älteren nun wirklich auswirkt. Diesen Prozess haben wir nämlich jetzt
erst eingeleitet. Insofern ist es gut, wenn wir von der
Stunde null an die Entwicklungen beobachten und gemeinsam auswerten, um die Frage beantworten zu können, wie das Ganze gewirkt hat.
Eines wollen wir erreichen: Wir wollen, dass der
Mindestlohn und das andere, was wir auf den Weg bringen, den Menschen dient, Arbeitsplätze schafft und
keine vernichtet, Menschen hilft, zu faireren und gerechteren Bedingungen ihre Arbeit erledigen zu können.
Wenn wir gemeinsam dieses Ziel verfolgen, kann es uns
gelingen, Strukturen zu schaffen, die es ermöglichen,
dies auf Dauer gesehen zu bewerkstelligen.
({6})
Meine Damen und Herren, wir werden noch einige
Punkte miteinander zu diskutieren und zu klären haben.
Das wird wie immer in einer guten Form in den nächsten
Wochen passieren. Unser Wunsch als Fraktion ist, dass
wir auf jeden Fall schauen, dass die Wirtschaft nicht mit
unnötiger Bürokratie überzogen wird. Unser Wunsch ist,
auf jeden Fall darauf zu schauen, dass Branchen, die
jetzt noch besondere Beschwer sehen, Übergangsfristen
bekommen, mit denen wir ihnen helfen, auf den Weg zu
kommen. Wir sind darüber miteinander im Gespräch.
Ich bin sicher, dass wir miteinander zu einvernehmlichen
Lösungen kommen.
Unser Ziel bleibt - das gilt auch für die Unionsfraktion -: Es muss fair am Arbeitsmarkt zugehen. Wir wollen alles dafür tun, dass die Tarifpartner die Rahmenbedingungen haben, um dieses leisten zu können. Wir
werden den Menschen helfen. Wir sind für die Einführung des Mindestlohns, so wie es das Konzept jetzt vorsieht. Ich bin ganz sicher, dass wir damit unser Land
weiter voranbringen.
Herzlichen Dank.
({7})
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Schlecht
das Wort.
Herr Schiewerling, es ist ja begrüßenswert, dass Sie
sich so viele Gedanken über die Stärkung der Tarifautonomie machen, nachdem die Tarifautonomie seit zehn
Jahren durch politische Rahmenbedingungen, durch
politische Rahmensetzung unterminiert worden ist. Aber
wenn Sie es mit diesem Gesetz ernst meinen und nicht
nur ein Gesetz machen würden, das über weite Strecken
einen Etikettenschwindel darstellt, dann hätte in dieses
Gesetz über das hinaus, was drinsteht, ein Verbot der
Leiharbeit gehört. Dann hätte drinstehen müssen eine
Neuregulierung der Befristung; die Befristung hat eine
ganz verheerende Auswirkung auf die Tarifautonomie.
Dann hätte eine Regelung hineingemusst zu den Minijobs, nämlich dass die Minijobs ab der ersten Stunde sozialversicherungspflichtig sind. Dann hätten hineingemusst Veränderungen zu Werkverträgen, nämlich dass
die Betriebsräte Mitbestimmungsrechte erhalten, wenn
Werkverträge in den Unternehmen geschlossen werden
sollen. Dann hätte hineingemusst ein Verbandsklagerecht für die Gewerkschaften. Zur AVE, zur Allgemeinverbindlicherklärung, hätte nicht eine Regelung hineingehört, die nur eine sehr homöopathische Wirkung hat,
sondern eine Regelung, nach der Gewerkschaften allein
verlangen können, dass in einer Branche eine Allgemeinverbindlichkeit hergestellt wird.
({0})
Mit diesen Maßnahmen könnte man die verheerenden
Auswirkungen der Agenda 2010 auf die Tarifbindung,
auf das Tarifsystem zurückführen. Aber das sehen Sie
nicht vor, weil Sie es nicht wollen. Insofern stellt das
Ganze in der Tat einen Etikettenschwindel dar. Es ist ein
bisschen das Vergießen von Krokodilstränen, wenn man
heute feststellt: Die Tarifbindung geht zurück. - Es ist
aber die eigene Politik - Sie haben die Politik von RotGrün in dieser Frage immer unterstützt; es ist die Politik,
die man vor zehn Jahren gemacht hat -, die dazu geführt
hat, dass es überhaupt zu dieser Verschlechterung der
Tarifbindung gekommen ist.
Danke schön.
({1})
Zur Erwiderung: Herr Kollege Schiewerling.
Kollege Schlecht, ich danke Ihnen herzlich für die
Kurzintervention. - Dass Sie die nutzen, um das gesamte
Programm der Linken vorzustellen,
({0})
ist Ihnen sicherlich nicht zu verwehren. Sie haben genau
die Argumente dafür genannt, dass es unserem Land
besser geht als anderen Ländern und es uns besser geht,
als wenn Sie regieren würden.
({1})
Wenn Sie Ihren Katalog durchgesetzt hätten, ginge es
den Menschen schlechter, weil Sie Ihnen etwas vormachen würden. Deswegen ist der Katalog, den Sie vorgetragen haben, nicht dazu geeignet, den Menschen zu dienen.
Wir haben miteinander überhaupt nicht vor, alles zurückzudrehen, sondern es geht bei diesem Gesetz, das
wir jetzt auf den Weg bringen, darum, einen gewissen
Ausgleich für die Verwerfungen zu schaffen, die in manchen Bereichen in den vergangenen Jahren entstanden
sind. Es geht nicht darum, grundsätzlich den großen Erfolg, den wir in der Bundesrepublik Deutschland haben
und um den wir beneidet werden, nicht nur in Europa,
sondern weltweit - niedrigste Arbeitslosigkeit, höchste
Beschäftigung, auch höchste sozialversicherungspflichtige Beschäftigung -, durch so einen Blödsinn zu gefährden, wie Sie ihn vorschlagen. Deswegen werden wir so
einen Quatsch nicht mitmachen.
({2})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Andreae das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für
uns Grüne ist es ein großer Fortschritt, dass wir nicht
mehr über das Ob, sondern nur noch über das Wie und
Wann sprechen. Fast alle wollen diesen Mindestlohn:
Gewerkschaften, Kirchen, über 80 Prozent der Bevölkerung und zunehmend auch die Arbeitgeber. Der Vizekanzler hatte recht, als er auf dem Katholikentag sagte,
der Mindestlohn sei kein Instrument der Glückseligkeit.
Aber der Mindestlohn ist ein Instrument der Notwendigkeit. Mit unwürdigem Lohndumping muss Schluss sein.
({0})
„Arm trotz Arbeit“ darf es nicht weiter geben. 8 Millionen Menschen arbeiten im Niedriglohnsektor, zum
Teil für unter 5 Euro die Stunde. Diese Menschen müssen aufstocken. Das heißt, der Steuerzahler subventioniert Dumpinglöhne. Dass hier ein Riegel vorgeschoben
wird, ist gut;
({1})
denn Dumpinglöhne behindern fairen Wettbewerb. Ich
kenne viele Handwerker, die sagen, dass für sie der Mindestlohn richtig ist, weil sie sich dann nicht mehr mit den
Preisdrückern auseinandersetzen müssen, die normalerweise die Ausschreibungen gewinnen.
({2})
Andere europäische Länder haben bereits entsprechende Regelungen und gute Erfahrungen mit dem Mindestlohn. Deutschland zieht jetzt nach. Das ist keine Revolution, sondern eine Selbstverständlichkeit.
({3})
Was wir jetzt erleben, ist, dass der Wirtschaftsflügel
der Union noch gründlich überarbeiten will. Das haben
Sie beim Rentenpaket auch gesagt; da hätten wir Ihnen
viel Erfolg gewünscht. Dort ist es leider nicht gelungen.
Auch hier werden die Backen wieder weit aufgeblasen.
Ich glaube, die Arbeitsministerin kann ganz ruhig schlafen. Auch dieser Tiger wird wieder als Bettvorleger landen. Dabei wird nichts herauskommen.
({4})
Dabei muss das Gesetz an entscheidenden Punkten
verbessert werden; denn ein Sicherheitsnetz mit lauter
Löchern ist eben kein Sicherheitsnetz.
({5})
Wenn Sie 2 Millionen Erwerbstätige aus dieser Regelung herausnehmen, führt das zu großen Lücken beim
Mindestlohn; es höhlt ihn aus.
Ohne wirksame Kontrolle bleibt es eine Showveranstaltung. Wir wissen, dass ungefähr 340 Milliarden Euro
pro Jahr in der Schwarzarbeit umgesetzt werden. Aber
nur 770 Millionen Euro konnten letztes Jahr aufgedeckt
werden. Sie brauchen also mehr Personal. Die Finanzkontrolle Schwarzarbeit muss personell aufgestockt werden.
({6})
Die Zollverwaltungen brauchen mehr Stellen. Das haben
Sie aber nicht eingeplant. Wir haben beantragt, im Haushalt Mittel für die Personalaufstockung einzustellen, damit die Einhaltung des Mindestlohns kontrolliert wird
und man nachprüfen kann, ob das, was heute beschlossen wird, auch umgesetzt wird. Darum geht es.
({7})
Wo müssen Sie noch nacharbeiten? Die Bundesregierung traut sich nicht, eine unabhängige wissenschaftliche Evaluation zuzulassen. Das ist falsch. Der Mindestlohn ist keine Sozialromantik, sondern eine große
sozialpolitische Reform, die Auswirkungen hat. Es ist allenthalben über die Frage diskutiert worden, was das bedeutet. Diese Auswirkungen muss man sehr genau prüfen.
Wie sieht es jetzt aus? Im Gesetz steht, dass die Bundesregierung in sechs Jahren irgendwie prüfen will. Das
reicht nicht. Können Sie sich noch an die Handwerksnovelle 2004 erinnern? Auch damals wurde ins Gesetz hineingeschrieben, dass man irgendwann prüfen wolle.
Aber das hat man bis heute noch nicht gemacht.
Lassen Sie eine unabhängige wissenschaftliche Evaluation zu, und nehmen Sie die Wissenschaft mit ins
Boot! Das sollte auch für die Mindestlohnkommission
gelten, und zwar mit Stimmrecht. Die Wissenschaft
braucht ein Stimmrecht in der Mindestlohnkommission.
({8})
Wir brauchen eine starke und unabhängige Kommission, und zwar aus folgendem Grund: damit Akzeptanz
für die getroffenen Regelungen geschaffen wird, damit
der Mindestlohn nicht zum Zankapfel in Wahlkämpfen
und hier im Bundestag wird, damit Ruhe, Stetigkeit und
Planbarkeit in dieses Instrument hineinkommen. Dafür
brauchen Sie eine unabhängige Mindestlohnkommission.
({9})
Die Einführung des Mindestlohns war lange überfällig. Es ist gut, dass heute der erste Schritt getan wird.
Der Mindestlohn ist gut gegen Lohndumping, und er ist
gut für fairen Wettbewerb. Da darf man sich nicht die
Butter vom Brot nehmen lassen. Der Mindestlohn nutzt
den Menschen und den Unternehmen gleichermaßen. Er
ist keine Fürsorgeleistung. Armutsbekämpfung braucht
andere Instrumente. Der Mindestlohn ist ein Mindeststandard und hat mit der Würde der Arbeit der Menschen
zu tun.
({10})
Der Mindestlohn ist für uns von Bündnis 90/Die Grünen wie für einen großen Teil der Bevölkerung elementare Grundlage sozialer Gerechtigkeit, die diesem Land
gut ansteht. Bringen Sie ihn auf den Weg. Sorgen Sie für
die Unabhängigkeit der Mindestlohnkommission. Verbessern Sie die Evaluation. Lassen Sie die Ausnahmen
weg. Dann sind Sie auf dem richtigen Weg. Dann bekommen Sie unsere Unterstützung.
Vielen Dank.
({11})
Carola Reimann ist die nächste Rednerin für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Von 28 Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben 21 branchenübergreifende gesetzliche Mindestlöhne. Worüber wir seit Jahren streiten, ist in Ländern
wie Frankreich, Großbritannien und den Niederlanden
längst Normalität. Ich freue mich, dass wir heute mit der
ersten Lesung des vorliegenden Gesetzentwurfs diesem
europäischen Standard einen Schritt nähergekommen
sind; denn es wird höchste Zeit, dass das, was in Europa
längst Realität ist, auch in Deutschland zur Selbstverständlichkeit wird,
({0})
nämlich dass man nicht duldet, wenn unanständig niedrige Löhne gezahlt werden.
Kolleginnen und Kollegen, Sie wissen, trotz europäischer Normalität ist die Einführung des gesetzlichen
Mindestlohns in Deutschland ein bedeutender Schritt,
ein Meilenstein, für den wir Sozialdemokraten seit über
zehn Jahren kämpfen; Herr Ernst, hier muss ich Ihr
Langzeitgedächtnis bemühen. Gegen viele Widerstände
haben wir ihn jetzt durchgesetzt. Es wurde viel darüber
diskutiert, ob wir und ob sich die Unternehmen den Mindestlohn leisten können und wie sich dieser auf die wirtschaftliche Entwicklung auswirkt. Das sind zweifellos
wichtige Fragen.
Genauso wichtig ist aber die Frage, ob es sich eine
Gesellschaft leisten kann, dass Millionen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern nicht an der wirtschaftlichen Entwicklung teilhaben. Ich finde, wir können uns
das nicht leisten, weil es den sozialen Zusammenhalt in
unserer Gesellschaft gefährdet, wenn wir Menschen mit
Billiglöhnen ausgrenzen. Es ist deshalb Zeit, dass wir
dem endlich mit dem gesetzlichen Mindestlohn einen
Riegel vorschieben; hier sind wir, Kollegin Kerstin
Andreae, ganz dicht beieinander. In einem Land, das
wirtschaftlich so gut aufgestellt ist - besser als viele andere EU-Länder, die ich gerade genannt habe -, muss
das eine Selbstverständlichkeit werden. Deshalb werden
wir dafür sorgen, dass der Mindestlohn, wie im Koalitionsvertrag verabredet und schon im Kabinett beschlossen, auch zügig umgesetzt wird.
({1})
Wir werden auch dafür sorgen, Frau Andreae, dass die
Umsetzung durch die Finanzkontrolle Schwarzarbeit
kontrolliert wird und Verstößen stringent nachgegangen
wird.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, selbstverständlich nehmen wir die Sorgen einzelner Branchen
sehr ernst. An dieser Stelle möchte ich unserer Ministerin ausdrücklich dafür danken, dass sie sehr frühzeitig
auf einen konstruktiven und intensiven Dialog mit den
einzelnen Branchen gesetzt hat und nach wie vor dafür
sorgt, dass diese bei der Anpassung an den gesetzlichen
Mindestlohn die notwendige Unterstützung erhalten.
({2})
Ich finde, das Verfahren der Ministerin Nahles ist vorbildlich. Ich würde mir wünschen, dass das auch in anderen Bereichen Schule macht.
({3})
Dazu gehört auch, dass wir beim Übergang auf tarifvertragliche Lösungen setzen - das ist hier schon gesagt
worden -, um einen vernünftigen, gangbaren Weg für
die Unternehmen, die Probleme haben, zu schaffen.
Kolleginnen und Kollegen, wir haben also Regelungen mit Augenmaß gefunden; ich bin sicher, dass sie
sich in der Praxis bewähren werden. Ich sage allen, die
jetzt zum wiederholten Male - das ist auch schon angeklungen - schwere Geschütze gegen den gesetzlichen
Mindestlohn auffahren wollen: Es wird Zeit, abzurüsten.
Der Mindestlohn kommt, und er wird für viele Millionen
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gut sein, aber er
wird auch unserem Land guttun.
({4})
Vom Mindestlohn wird besonders eine Gruppe profitieren: die Arbeitnehmerinnen. Das ist gut, aber es zeigt
auch, dass nach wie vor insbesondere Frauen von Lohnungerechtigkeiten betroffen sind. Sieben von zehn Beschäftigten im Niedriglohnbereich sind Frauen. Hier ist
der gesetzliche Mindestlohn ein ganz wichtiger Schritt.
Weitere Schritte müssen folgen; das ist klar. Dazu gehören konkrete Maßnahmen gegen Lohndiskriminierung,
Regelungen für Frauen in Führungspositionen und natürlich das große Thema der Familienarbeitszeiten.
Zum Schluss will ich ansprechen, dass der Mindestlohn auch Schluss machen wird mit den Auswüchsen,
die wir in den vergangenen Jahren unter dem Schlagwort
„Generation Praktikum“ in der Praxis erleben mussten.
Sich nach der Ausbildung, häufig nach sehr guter Ausbildung, von einem Langzeitpraktikum zum nächsten
hangeln zu müssen und dabei noch schlecht oder gar
nicht bezahlt zu werden - diese Praxis muss der Vergangenheit angehören.
({5})
Praktikum heißt für uns Qualifizierung und Orientierung, aber nicht Ausbeutung. Dazu gehört für uns auch
mehr Rechtssicherheit durch einen schriftlichen Vertrag
sowie eine Mindestvergütung, insbesondere für freiwillige Praktika von bis zu sechs Wochen, die im vorliegenden Gesetzentwurf vom Mindestlohn ausgenommen
sind.
({6})
Kolleginnen und Kollegen, das Tarifpaket wird für
mehr Ordnung und Gerechtigkeit im Wirtschafts- und
Arbeitsleben sorgen. Wir führen mit dem Mindestlohn
ein neues Ordnungsinstrument ein und stärken vor allem
mit der Öffnung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes für
alle Branchen - das gilt dann auch für alle Beschäftigten,
Herr Kollege Ernst - und durch die Reform der Allgemeinverbindlicherklärung die Tarifautonomie und die
bewährte Sozialpartnerschaft in Deutschland. Das ist
nicht nur sozial gerecht, sondern auch ökonomisch vernünftig.
Danke fürs Zuhören.
({7})
Das Wort hat nun die Kollegin Jutta Krellmann für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Sehr geehrte Damen
und Herren! Auch ich möchte wie mein Kollege Klaus
Ernst allen gratulieren, die seit über zehn Jahren für einen Mindestlohn gekämpft haben, und dabei meine ich
insbesondere meine Kolleginnen und Kollegen von den
Gewerkschaften, die nicht nachgelassen haben, für dieses Thema immer wieder neu zu streiten.
({0})
Seit 2006 legt die Linke Anträge zum Mindestlohn
vor. Ich erinnere mich, dass die SPD unsere Anträge zum
Mindestlohn seit diesem Zeitpunkt abgelehnt hat. Von
daher müssen wir nicht streiten, wer welche Anträge eingebracht hat. Wenn Sie uns zugestimmt hätten, hätten
wir schon seit 2006 einen Mindestlohn.
({1})
Ich würde auch gerne der SPD an dieser Stelle gratulieren, aber irgendwie kriege ich das nicht hin. Sie hatten
die Chance, die verheerenden Folgen der Agenda 2010
abzufedern. Wie ich der Rede von Frau Nahles entnommen habe, ist die Agenda 2010 der Grund dafür, warum
wir überhaupt einen Mindestlohn in Deutschland brauchen. Wegen der Agenda 2010 musste entsprechend korrigiert werden.
Den Wert und die Würde der Arbeit in Deutschland
zu verteidigen, und das flächendeckend, das ist die Aufgabe, die wir unbedingt wahrnehmen müssen.
({2})
Diese Chance haben Sie aus unserer Sicht durch das unselige Gefeilsche um die Ausnahmen beim ohnehin zu
niedrigen Mindestlohn verpasst.
Die Wahrheit ist, dass dem Gejammer der Arbeitgeberseite nachgegeben wurde. Sie haben dem nichts entgegengesetzt. Das Resultat ist, dass wir es jetzt mit einem Flickenteppich von Ausnahmen zu tun haben,
einem Flickenteppich im Hinblick auf Personengruppen,
denen gesagt wird: Eure Arbeit ist weniger wert als die
Arbeit eurer Kolleginnen und Kollegen.
Können Sie sich eigentlich vorstellen, was das für einen 17-Jährigen oder eine 17-Jährige bedeutet, wenn der
ein Jahr ältere Kollege oder die Kollegin mehr Geld bekommt als er oder sie selbst? Das ist doch nicht in Ordnung!
({3})
Können Sie sich vorstellen, was es für einen Beschäftigten, der aus der Langzeitarbeitslosigkeit kommt, bedeutet, wenn ihm per Gesetz vom ersten Tag an mitgeteilt
wird, dass seine Arbeit weniger anerkannt wird und weniger wert ist? Das geht doch nicht!
({4})
Das hat mit der guten Idee eines Mindestlohns nichts zu
tun. Mich ärgert das total.
Auch die Tatsache, dass Arbeitgebervertreter jetzt
tagtäglich auf der Matte stehen und eine Ausnahme nach
der nächsten fordern, macht mich unglaublich ärgerlich.
Niemand von der Regierungskoalition haut auf den
Tisch und sagt: Leute, damit ist jetzt Schluss! Wir führen
das ein, ohne Wenn und Aber! - Aber genau das machen
Sie nicht.
({5})
Durch Ihre Haltung, dadurch, dass Sie einfach nichts
tun, geben Sie die Interessen der Beschäftigten preis,
und das ist absolut nicht in Ordnung.
Als Linke können wir die geplanten Ausnahmen nicht
hinnehmen.
({6})
Die Würde der Menschen kennt keine Ausnahmen. Für
Ihren Flickenteppich gibt es keine wirtschaftliche und
auch keine juristische Rechtfertigung. Ich fordere Sie
auf: Nehmen Sie Abstand von der Diskriminierung der
Langzeitarbeitslosen und der Jugendlichen.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, während wir hier
im Bundestag über dieses Mindestlohngesetz streiten,
stehen am Brandenburger Tor Kolleginnen und Kollegen
der Gewerkschaften und vom DGB, die unter dem Motto
„Mindestlohn für alle, jetzt. Würde kennt keine Ausnahmen“ darauf aufmerksam machen wollen, dass sie mit
den Ausnahmeregelungen nicht einverstanden sind.
Wir von der Linken können uns dem nur anschließen.
Auf Ihren Flickenteppich Mindestlohn können sich die
Menschen da draußen nicht verlassen, aber darauf
schon: Wir, die Linke, werden nicht lockerlassen, bis alle
Beschäftigten zu ihrem Recht gekommen sind, und zwar
flächendeckend.
Vielen Dank.
({8})
Matthias Zimmer erhält nun das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Jahre
1776, dem Jahr der Unabhängigkeitserklärung der USA,
veröffentlichte der Schotte Adam Smith sein wohl bekanntestes Werk über den Wohlstand der Nationen. Es
wurde zum wirtschaftspolitischen Grundmanifest einer
ganzen Epoche. Smith begründete die politische Ökonomie, und er wurde zum Stammvater des wirtschaftlichen
Liberalismus. Umso überraschender ist es, dass wir in
diesem Buch auch eine Passage über den gerechten Lohn
finden. Es sei der Lohn, der einem Arbeiter zustehe, um
sich und seine Familie zu ernähren. Nein, überraschend
war das eigentlich nicht; denn Smith war Moralphilosoph und sah die Wirtschaft in einer auf den Menschen
bezogenen, dienenden Funktion. Nur so viel, Herr Kollege Ernst: Wer hat’s erfunden? Die Liberalen waren Ihnen da 230 Jahre voraus.
({0})
Meine Damen und Herren, etwas mehr als 100 Jahre
später, im Jahre 1891, griff Papst Leo XIII. in der ersten
Sozialenzyklika Rerum Novarum den Begriff des gerechten Lohns wieder auf. Er ist seither fester Bestandteil der katholischen Soziallehre. So nahe wie damals
waren sich Liberalismus und katholische Soziallehre
vermutlich nie wieder.
Wer dagegen heute den „Sinn“-Spruch eines gleichnamigen Münchener Ökonomen vernimmt, die Löhne
müssten nur weit genug fallen, damit jeder Arbeit bekommt, vermisst schmerzlich jene normative Dimension, die einmal die Attraktivität des Liberalismus ausgemacht hat.
({1})
Wir haben in der sozialen Marktwirtschaft viele Antworten auf die Frage des gerechten Lohns gegeben. Eine
über lange Jahre gebräuchliche Antwort war: Die Lohnfindung überlassen wir den Sozialpartnern, also den Arbeitnehmern und den Arbeitgebern. Der Staat soll sich
aus der Lohnfindung heraushalten, dann wird es gerecht.
Das setzt aber starke Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften voraus, und diese Voraussetzung - die Ministerin hat es erwähnt - ist seit den 90er-Jahren zunehmend
erodiert.
({2})
Wir haben dann gesagt: „Lasst uns nicht über den gerechten Lohn, sondern über Einkommen diskutieren“,
und haben zu niedrige Löhne durch den Staat aufgestockt. Das war in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit durchaus eine breit akzeptierte Vorgehensweise. Wahr ist aber
auch: Diese Aufstockung ist eben auch eine Subvention
wirtschaftlicher Tätigkeit, und zwar in doppelter Weise;
denn zum einen stockt der Staat nicht hinreichende
Löhne auf, zum anderen muss er dann nach dem Arbeitsleben nicht auskömmliche Renten durch die Grundsicherung im Alter finanzieren. Ob das alles im Zeitalter eines
Fachkräftemangels noch sinnvoll ist, mag man füglich
bezweifeln.
({3})
Wir haben über viele Jahre - recht erfolgreich, wie
ich finde - branchenbezogene Mindestlöhne für allgemeinverbindlich erklärt und damit in vielen Branchen
den Wettbewerb sinnvoll geregelt. Aber es gibt noch
viele weiße Flecken in der Tariflandschaft. Deshalb ist
es gut und richtig, wenn wir als Schlussstein der Ordnung der Lohnfindung in Deutschland heute den Gesetzentwurf zur Einführung eines allgemeinen Mindestlohns
diskutieren, mit dem ein angemessener Mindestschutz
für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sichergestellt
werden kann. Der Mindestlohn soll künftig verhindern,
dass der Wettbewerb über die Fähigkeit definiert wird,
Löhne zu drücken. Wir erkennen damit an, dass der Arbeitsmarkt ein abgeleiteter Markt ist und anders behandelt werden muss als Märkte, die vollkommen vom Spiel
von Angebot und Nachfrage geleitet werden.
({4})
Das sind wir als Christdemokraten unserem Bild von Arbeit und unserem Bild des Menschen auch schuldig.
Wenn wir nun in die parlamentarischen Beratungen
über den Gesetzentwurf einsteigen, so habe ich einige
Wünsche dazu. Es ist nur fair, diese am Anfang der Beratungen auszusprechen. Ich will nur drei nennen:
Erstens glaube ich nicht, dass wir uns mit der vorliegenden Form der Generalunternehmerhaftung wirklich
einen Gefallen tun.
({5})
Zwar ist es ja durchaus ein biblisches Motiv, Haftung bis
ins sechste oder siebte Glied - das sagt einiges über die
Bibelfestigkeit der Ministerin aus -, aber ich halte das in
der Praxis gerade im Mittelstand für nicht wirklich hilfreich. Darüber müssen wir noch einmal intensiv nachdenken.
Zweitens finde ich die Regelung bei Praktika - Frau
Kollegin Reimann, ich stimme Ihnen da vollkommen zu;
die Generation Praktikum wollen wir nicht ({6})
noch nicht wirklich überzeugend. Wir nehmen zwar
Pflichtpraktika von Studierenden vom Mindestlohn aus,
aber häufig sind gerade in geisteswissenschaftlichen Studienfächern längere Praktika während des Studiums eine
Brücke in die Beschäftigung nach dem Studium. Das
sind aber in aller Regel, weil die Geisteswissenschaften
keine Pflichtpraktika kennen, freiwillige Praktika. Versperren wir hier nicht Möglichkeiten, anstatt zu helfen,
Brücken in den Arbeitsmarkt zu bauen? Mir fehlt im Übrigen auch eine genaue Definition des Praktikums, etwa
in Abgrenzung zu einem Volontariat oder zu einem Trainee-Programm.
Ein Drittes; dies regt mich ein wenig auf. Das Gesetz
soll den schönen Namen Tarifautonomiestärkungsgesetz
tragen. Dann sollten wir das auch tun. Wir haben eine
Mindestlohnkommission vorgesehen, die einen Vorschlag
zum Mindestlohn erarbeiten soll. Nun höre ich von der
BDA und dem DGB, dass man sich dieser Arbeit entziehen und einfach den Tarifindex nachgehend zum Maßstab für die Festlegung des Mindestlohns machen will.
Ich finde das einigermaßen abenteuerlich.
({7})
Mir scheint, da will sich jemand die Hände in Unschuld
waschen und sagen: Mit dem Mindestlohn habe ich
nichts zu tun, das ist Sache der Politik. - Nein, meine
Damen und Herren vom DGB und von der BDA, das ist
Sache der Tarifparteien in der Kommission. Ich will
schon, dass sich die Mindestlohnkommission die Arbeit
macht, ihren Vorschlag genau zu begründen, sich dabei
an bestimmten Kriterien ausrichtet und dann auch ausführlich berichtet; denn das hilft uns am Ende bei der
Evaluation des Mindestlohns.
({8})
Es ist gerade in ersten Lesungen eines Gesetzentwurfes schon beinahe parlamentarische Folklore, auf das
Struck’sche Gesetz hinzuweisen, wonach kein Gesetz
den Bundestag so verlässt, wie es in ihn hineingekommen ist. Ich will das Struck’sche Gesetz heute um eine
Vermutung ergänzen, dass nämlich dann, wenn beide
Regierungsfraktionen der Großen Koalition konstruktiv
zusammenarbeiten, das Gesetz nicht nur anders, sondern
besser den Bundestag verlässt.
({9})
Auf eine erste empirische Überprüfung dieser Vermutung freue ich mich.
({10})
Das Wort erhält nun die Kollegin Brigitte Pothmer für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Zimmer, Sie haben gerade gesagt: Schön, dass wir heute
über den Mindestlohn diskutieren. Ich habe einmal nachgezählt: In den letzten Jahren haben wir hier in diesem
Parlament mehr als 22-mal über den Mindestlohn diskutiert.
({0})
Ich gestehe hier ganz offen: Manchmal hatte ich, insbesondere was die rechte Seite des Hauses angeht, das Gefühl, dass ich auf ein totes Pferd einrede.
({1})
Dass dieser Gaul jetzt doch in Trab kommt,
({2})
halte ich für einen extremen gesellschaftlichen Fortschritt. Ich finde, das sollten wir deutlich sagen.
({3})
Aber ich finde, wir sollten auch sagen, dass wir die
Ziellinie leider noch lange nicht erreicht haben. Die
Mindestlohngegner haben noch lange nicht aufgegeben.
Dabei fällt mir die folgende Frage ein: Wo ist eigentlich
Herr Linnemann? Herr Linnemann, der über die Presse
immer Neues fordert, ist hier als Redner nicht vorgesehen.
({4})
Sie arbeiten weiter mit Hochdruck daran, den Mindestlohn immer weiter auszuhöhlen. Wenn Sie sich durchsetzen und nur ein Teil der vorgesehenen Ausnahmen im
Gesetz steht, dann werden wir es nicht mit einem flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn zu tun haben.
Dann werden wir es mit einem Niedriglohnsektor unterhalb des Mindestlohns zu tun haben.
({5})
Das hätte zur Konsequenz, dass die Niedriglöhner in
Konkurrenz zu den Mindestlöhnern träten. Dann würde
der Mindestlohn zu einem Konkurrenznachteil gegenüber den Niedriglöhnern. Das können wir auf gar keinen
Fall wollen.
({6})
Deswegen, liebe Frau Nahles, betrachten wir die Ausnahmen, die der Gesetzentwurf vorsieht, voller Skepsis.
Ich nenne die Ausnahme für die unter 18-Jährigen. Sie
wissen, dass ich ganz persönlich - daraus habe ich nie
einen Hehl gemacht - die Sorge sehr ernst nehme, dass
der Mindestlohn tatsächlich für Jugendliche den Anreiz
setzen könnte, auf eine Ausbildung zu verzichten und
stattdessen jobben zu gehen. Deswegen hat meine Fraktion ein sehr hochkarätig besetztes Fachgespräch dazu
durchgeführt. Nach diesem Fachgespräch kann ich Ihnen
eines klipp und klar sagen: Ihr Vorhaben taugt nichts.
({7})
Das ist weniger als ein Placebo. Ihre Regelung trifft genau 9 000 Personen. 9 000 unter 18-Jährige sind sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Das ist Ihre Zielgruppe. Von Ihrer Regelung betroffen sind am Ende aber
320 000 unter 18-Jährige, die neben der Schule und neben der Ausbildung jobben gehen. 9 000 Personen wollen Sie treffen, aber 320 000 treffen Sie in Wirklichkeit.
Das ist ein Kollateralschaden, der sich gewaschen hat.
({8})
Wenn Sie wirklich etwas für junge Leute tun wollen,
dann müssen Sie dafür sorgen, dass attraktive Ausbildungsplätze zur Verfügung gestellt werden, und die in
Ihrer Koalitionsvereinbarung vorgesehene Ausbildungsplatzgarantie endlich umsetzen.
Frau Nahles, richtig übel nehme ich Ihnen die Ausnahmen für die Langzeitarbeitslosen.
({9})
Sie wollen uns das hier verkaufen als eine Starthilfe für
Langzeitarbeitslose, um in Arbeit zu kommen. Das ist
keine Starthilfe, das ist Stigmatisierung. Die Botschaft,
die Sie aussenden, lautet: Die können doch nichts, die
kriegt ihr billiger. Wenn das keine Stigmatisierung ist,
dann weiß ich nicht, was Stigmatisierung ist.
({10})
Sie wissen sehr genau, dass es sich bei den Langzeitarbeitslosen um eine sehr heterogene Gruppe handelt.
Ich bestreite überhaupt nicht, dass es darunter auch Menschen gibt, die erhebliche Leistungseinschränkungen haben. Für diese Gruppe haben wir aber ein sehr zielgenaues Instrument, nämlich die Lohnkostenzuschüsse.
Statt dieses Instrument fortzuentwickeln, stigmatisieren
Sie über 1 Million Menschen als nicht leistungsfähig.
Ihnen geht es im Übrigen gar nicht um die Integration
von Langzeitarbeitslosen. Die Langzeitarbeitslosen sind
das Bauernopfer, das die SPD der Union in Sachen Mindestlohn geben musste.
({11})
Das ist der Skalp, den die Union gefordert hat, um zu demonstrieren, dass die Sozialdemokratisierung der Union
noch nicht vollends abgeschlossen ist. Ich sage Ihnen
aber: Hier geht es ausdrücklich nicht um politische Geländegewinne in der Koalition; hier geht es um den
Schutz vor Lohndumping, und zwar für alle Beschäftigten.
({12})
Noch eine Bemerkung: Dieses Gesetz heißt ja Gesetz
zur Stärkung der Tarifautonomie. Von dieser Ausnahme
bei den Langzeitarbeitslosen profitieren übrigens auch
nur die Betriebe, die keinen Tarifvertrag haben, weil die,
die einen Tarifvertrag haben, diese Ausnahme nicht machen können. So weit zur Stärkung der Tarifautonomie.
({13})
Meine Damen und Herren, wir werden in den Beratungen noch eine Menge Themen ansprechen müssen.
Auf die Konstruktion der Mindestlohnkommission ist
hingewiesen worden, auf die Evaluierung, die erst 2020
beginnen soll, ebenfalls. Auf die geplanten Ausnahmen
und ihre Folgen müssen wir ebenso eingehen wie auf das
Einfrieren des Mindestlohns bis 2018. Wissen Sie, was
das bedeutet? Das bedeutet, dass die Politik bis 2018 den
Mindestlohn festlegt, also genau das passiert, wogegen
Sie sich hier immer wieder zur Wehr setzen.
({14})
Dann müssen wir auch einmal darüber reden, ob diejenigen, die nicht vom Mindestlohn profitieren, eigentlich überhaupt geschützt werden
Frau Kollegin.
- ich komme zum Schluss - und ob deren Löhne nicht
die Grenze der Sittenwidrigkeit unterschreiten. Das können Sie doch nicht ernsthaft wollen.
Meine Damen und Herren, Sie sehen: Das alles sind
keine Petitessen. Es geht um mehr als 5 Millionen Menschen hier in Deutschland. Es geht um die Bekämpfung
des Niedriglohnsektors. Ich finde, das ist des Schweißes
der Edlen wert.
Ich danke Ihnen.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Stephan Stracke für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Deutschland ist wirtschaftlich und sozial
erfolgreich. Diesen Weg des Erfolgs wollen wir fortsetzen. Unser Erfolgsrezept lautet dabei soziale Marktwirtschaft. Soziale Marktwirtschaft ist immer eine Wettbewerbsordnung, die den sozialen Ausgleich aber niemals
beiseitelässt. Keiner darf verloren gehen; das ist unser
Anspruch. Natürlich umfasst soziale Marktwirtschaft
auch Wettbewerb: Wettbewerb um innovative Ideen, um
beste Produkte, um den Vorsprung an Wissen und Können. All das zeichnet unser Land aus. Das wollen wir
auch unterstützen, beispielsweise in den Bereichen Forschung und Wissenschaft, Infrastruktur und duale Ausbildung. In diesen Bereichen wird Zukunft gewonnen.
Deshalb geben wir hier auch in Zukunft mehr Geld aus.
Soziale Marktwirtschaft beinhaltet nach unserem Verständnis aber nicht Dumpinglöhne und Wettbewerb um
die niedrigsten Löhne und die schlechteste Bezahlung.
Wir wissen: Gute Arbeit muss sich lohnen.
({0})
Wo Vollzeit gearbeitet wird, da sollen die Menschen, die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, auch angemessen
bezahlt werden. Leistung muss fair bezahlt werden.
Dies zu gewährleisten, ist in erster Linie Aufgabe unserer Sozialpartner, der Arbeitgeber und Arbeitnehmer
in unserem Land, und nicht des Staates - nicht in erster
Linie. Die Sozialpartnerschaft hat über Jahrzehnte hinweg für Wohlstand und sozialen Frieden gesorgt. Gute
Tarifverträge sind die Garantie dafür, dass Leistung fair
bezahlt wird. Davon profitieren im Übrigen auch die untersten Lohngruppen. Wir haben in großzügiger Art und
Weise die branchenbezogenen Mindestlöhne ausgeweitet. 4 Millionen Menschen profitieren derzeit davon,
doppelt so viele wie 2009. Wenn man sich die tariflichen
Mindestlöhne ansieht, dann stellt man fest, dass diese zu
fast 90 Prozent über 8,50 Euro liegen. Das ist der Erfolg
von tariflichen Mindestlöhnen. 79 Prozent liegen im Übrigen bei 10 Euro und mehr. Deswegen wollen wir die
Tarifbindung in diesem Land stärken und hier auch unterstützen.
({1})
Soziale Marktwirtschaft funktioniert aber nur dann,
wenn wir starke Sozialpartner haben. Deswegen müssen
wir das Interesse an der Sozialpartnerschaft hochhalten,
zum einen auf der Arbeitnehmerseite, indem wir sagen:
„Geht in die Gewerkschaften, kämpft für eure Interessen“, zum anderen auf der Seite der Unternehmen, damit
diese sagen: „Ja, ich möchte Mitglied in einem Arbeitgeberverband werden und damit auch Einfluss auf die Tarifgestaltung in diesem Land nehmen.“
Tatsache ist aber auch: Die Tarifbindung hat sowohl
in Ostdeutschland als auch in Westdeutschland abgenommen, in den letzten 16 Jahren um rund 20 Prozent.
Die Anzahl der Betriebe mit Branchentarifbindung liegt
im Westen derzeit bei 53 Prozent, im Osten bei 36 Prozent. Das ist eine Entwicklung, die wir stoppen wollen.
Deswegen werden wir dafür sorgen, dass wir das Netz
an Tarifverträgen weiter ausbauen, indem wir die Allgemeinverbindlichkeitserklärung stärken und auch den Zugang zu den Möglichkeiten, die das Arbeitnehmer-Entsendegesetz bietet, entsprechend erleichtern.
Aber dort, wo die Lohnfindung auf tarifvertraglicher
Ebene nicht funktioniert, weil die Tarifbindung nicht
gegeben ist oder weil sich die Arbeitnehmer in diesem
Bereich unzureichend organisieren, da bedarf es einer
Lohnuntergrenze. Deswegen kommt der gesetzliche
Mindestlohn von 8,50 Euro zum 1. Januar 2015.
({2})
Wir sagen auch: Einmal werden wir den gesetzlichen
Mindestlohn hier im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens festlegen, aber in Zukunft werden bezüglich der
Entwicklung des Mindestlohns die Tarifvertragsparteien
eine entscheidende Rolle spielen. Sie sind es, die in der
Mindestlohnkommission Verantwortung dafür zu tragen
haben, wie sich die Entwicklung des Mindestlohns in
Zukunft gestaltet. Da hat Automatismus keinen Platz.
({3})
Platz hat hier nur eine Gesamtabwägung; denn es ist erforderlich, dass gut begründet wird, wie denn die Auswirkungen von Mindestlohnregelungen auf Beschäftigung, auf Branchen, auf Regionen sind. Diese
Auswirkungen sollen dezidiert und genau begutachtet
werden. Dann soll im Rahmen einer Gesamtabwägung
entschieden werden, welche Höhe des Mindestlohns in
Zukunft angemessen ist.
Wir haben - das müssen wir konstatieren - derzeit
keine Erfahrung mit gesetzlichen Mindestlöhnen. Wir
haben Erfahrung mit Branchenlöhnen. Hier haben wir
derzeit keine feststellbar negativen Beschäftigungseffekte. Aber wir steigen sehr hoch ein - international gesehen -, und wir gehen auch nicht so vorsichtig vor, wie
dies beispielsweise andere Länder gemacht haben. Deswegen müssen wir darauf achten, dass der Schuss für
Einzelne nicht nach hinten losgeht.
({4})
Wir müssen darauf achten, dass wir nicht in großem
Ausmaß negative Beschäftigungseffekte kreieren. Deswegen war uns von Anfang an wichtig: Wenn wir jetzt
den Mindestlohn einführen, dann müssen wir das Gesetz
auch entsprechend evaluieren, damit wir tatsächlich die
Kontrolle haben, wie sich das auf die Lebenswirklichkeit
auswirkt.
Deswegen haben wir uns auch für Ausnahmen eingesetzt. Ausnahmen gebieten die Vernunft und die Verantwortung beispielsweise auch gegenüber denjenigen, die
schwächer aufgestellt sind, die gering qualifiziert sind
oder langzeitarbeitslos sind. Das hat, Frau Pothmer,
nichts mit Stigmatisierung zu tun,
({5})
sondern es hat ausnahmslos damit zu tun, dass wir hier
die Chancen auf den Einstieg in das Arbeitsleben beispielsweise für diejenigen, die langzeitarbeitslos sind,
die gering qualifiziert sind, hochhalten müssen und
keine neuen, keine zusätzlichen Hürden aufbauen dürfen.
({6})
Deswegen haben wir dafür gesorgt, dass Langzeitarbeitslose in den ersten sechs Monaten von dem Mindestlohn ausgenommen werden. Ich glaube, das erhöht
die Chancen für Langzeitarbeitslose, in den ersten Arbeitsmarkt zu kommen.
({7})
Wir haben sichergestellt, dass Auszubildende, die beispielsweise eine duale Ausbildung machen, vom Mindestlohn ausgenommen werden.
({8})
Denn wir wollen die duale Ausbildung hochhalten; sie
ist ein Erfolgsgarant für unsere hohe Beschäftigung in
Deutschland. Deswegen ist es richtig, dass wir auch hier
eine Ausnahme machen.
Es ist genauso richtig, dass wir eine Altersgrenze einführen. Beides hat miteinander zu tun. Wenn ich einen
gesetzlichen Mindestlohn für einen Ungelernten einführe, dann wird es attraktiver sein, nicht in eine Ausbildung zu gehen. Deswegen ist die Altersgrenze von
18 Jahren bereits ein Erfolg, und wir müssen dann im
Rahmen der Evaluation des Gesetzes sehen, wie hier die
Wirkungen sind.
Im Übrigen haben wir auch klargestellt, dass Ehrenamtlichkeit nichts mit Mindestlohn zu tun hat. Auch das
gehört in eine Gesamtordnung mit hinein.
Wir wissen auch, dass manche Branchen einen besonderen Anpassungsbedarf haben werden. In der Koalitionsvereinbarung wird bereits die Landwirtschaft genannt. Wir haben diesbezüglich zwei Regelungen
vorgesehen: zum einen, dass wir Ausnahmen für Tarifverträge bis Ende 2016 machen, und zum anderen hat
die Ministerin in ihrem Zuleitungsschreiben an dieses
Hohe Haus auch deutlich gemacht, dass sie in bestimmten Branchen keine Verwerfungen will, insbesondere
was die Saisonarbeit angeht. Die Ministerin hat versprochen, zu liefern. Wir sehen dem, was sie hier auf den
Weg bringt, mit großer Sympathie entgegen.
({9})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir beraten
heute in erster Lesung das Mindestlohngesetz, das auch
eine Veränderung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes
und der Allgemeinverbindlichkeitserklärung mit sich
bringt. Es handelt sich insgesamt um ein Tarifpaket, das
die Tarifautonomie stärkt. Ich wünsche uns in der nächsten Zeit gute Beratungen und hoffe, dass letztlich ein Paket herauskommt, von dem wir tatsächlich in Gänze sagen können: Das bringt Deutschland weiter voran.
Herzlichen Dank.
({10})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Kerstin Griese für
die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Mindestlohn kommt nun endlich. Er wird für mehr Ordnung am Arbeitsmarkt sorgen, er wird vor Niedriglöhnen schützen und damit für mehr Gerechtigkeit für mehr
als 5 Millionen Menschen in Deutschland sorgen. Ich
bin stolz darauf. Wir können froh sein, dass sich die vielen Jahre sozialdemokratischer, aber auch gewerkschaftlicher Anstrengung gelohnt haben.
({0})
Ich will ganz klar sagen - weil einige das in der
Debatte angesprochen haben -: Der Mindestlohn wird
kein stumpfes Schwert. Wir werden die Einhaltung kontrollieren. Wir werden nicht dulden, dass es Schlupflöcher gibt, zum Beispiel durch Subunternehmen. Die
8,50 Euro sind gesetzlich verankert, und sie gelten flächendeckend, für alle Menschen in Ost und West, für
alle Branchen.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem gesetzlichen Mindestlohn betreten wir in Deutschland tatsächlich Neuland. Das machen wir, weil die Auswüchse im
Niedriglohnsektor in den letzten Jahren die Politik zum
Handeln zwingen. Ich sage durchaus selbstkritisch
- nicht alle haben nämlich immer bei allem recht, wie
Sie es von sich denken, Herr Ernst -: Die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes hat für viele Menschen neue
Chancen mit sich gebracht. Aber es hätte sich am Anfang auch niemand vorstellen können, wie sehr Unternehmen sie ausnutzen, durch Dumpinglöhne und durch
Aufstocker, und das auf Kosten der Beschäftigten und
damit auf unser aller Kosten. Deshalb ist es notwendig
und richtig, jetzt einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen.
({2})
Der Mindestlohn ist kein Allheilmittel. Aber er ist
notwendig, um eine Spaltung des Arbeitsmarktes und
damit auch eine Spaltung der Gesellschaft zu verhindern. In Europa betreten wir damit übrigens kein Neuland. 21 der 28 EU-Staaten haben schon einen Mindestlohn.
Der Mindestlohn ist eine Untergrenze, eine Haltelinie
nach unten. Noch besser sind immer gute Tariflöhne.
Deshalb ist unser Gesetz auch ein Gesetz zur Stärkung
der Tarifautonomie. Wir sorgen dafür, dass Tarifverträge
leichter für allgemeinverbindlich erklärt werden können.
Wir schaffen eine Übergangsregelung von zwei Jahren,
die dazu führt, dass mehr Branchen Tarifverträge abschließen. In den Bereichen, in denen bisher überhaupt
keine Ordnung auf dem Arbeitsmarkt herrschte - ich
nenne nur die Fleischindustrie, die wir in diesem Haus
erst vor kurzem einstimmig ins Arbeitnehmer-Entsendegesetz aufgenommen haben -, werden endlich Tarifverträge geschlossen, die dann übrigens für die komplette
Branche gelten, wenn für sie das Arbeitnehmer-Entsendegesetz gilt, und nicht nur für einige Unternehmen. Das
ist ein guter und wichtiger Schritt.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Mindestlohn ist
ein Stück mehr Gerechtigkeit für Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer. Aber er ist auch ein Stück mehr Gerechtigkeit für Arbeitgeber, nämlich für die Unternehmer, die anständig zahlen und ehrlich wirtschaften.
({4})
Denn ein Arbeitgeber, dessen Geschäft nur funktioniert,
wenn er so niedrige Löhne zahlt, dass der Staat sie aufstocken muss, hat kein gutes Geschäftsmodell. Das wollen wir nicht haben. Das belastet die Allgemeinheit, und
das belastet auch die Steuerzahler.
({5})
Insofern wird es auch für die Arbeitgeber in Zukunft
gerechter werden. Der Mindestlohn ermöglicht Wettbewerbsgerechtigkeit. Dabei geht es nicht darum, wer die
niedrigsten Löhne zahlt und dann auf dieser Basis mit
anderen konkurriert, sondern es wird um gute Arbeitsbedingungen, gute Löhne, gute Produkte und Dienstleistungen gehen. Das ist eine sinnvolle Sache.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, trotz insgesamt guter Arbeitsmarktdaten befinden sich weiterhin 1 Million
Menschen in Langzeitarbeitslosigkeit; ich will auf diese
Gruppe eingehen, weil ich die Kritik, die Sie an der vorgesehenen Ausnahme geübt haben, durchaus nachvollziehen kann. Es ist schwierig, Menschen, von denen vielen eine Ausbildung fehlt, die vielfach persönliche,
gesundheitliche oder - das nimmt immer mehr zu - psychische Probleme haben, in den ersten Arbeitsmarkt zu
vermitteln. Deshalb sage ich ganz klar: Wir müssen und
wollen mehr tun, damit Langzeitarbeitslose eine Perspektive bekommen, damit sie begleitet werden, und
zwar länger als bisher, wenn sie einen Job bekommen,
damit mehr aktive Leistungen statt passiver Leistungen
finanziert werden. Wir werden mittel- und langfristig sicherlich auch einen sozialen Arbeitsmarkt brauchen, in
dem diese Menschen besonders unterstützt werden.
({6})
Im Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Einführung eines Mindestlohnes ist für Langzeitarbeitslose,
also für Menschen, die mehr als ein Jahr arbeitslos sind,
eine befristete Ausnahme von sechs Monaten vorgesehen. Es ist sicher kein Geheimnis, dass meine Fraktion
von dieser befristeten Ausnahme beim Mindestlohn für
Langzeitarbeitslose nicht begeistert ist. Man hat sich innerhalb des Kabinetts aber darauf geeinigt.
Deshalb ist es so wichtig, dass wir festgehalten haben,
dass es schon zum 1. Januar 2017 eine Evaluation geben
wird, damit wir sehen, ob diese Regelung eine Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt verhindert oder befördert hat. Wir werden dann auch sehen, ob es sinnvoll ist,
sie beizubehalten. Ich glaube, es ist wichtig, dass wir
aufpassen, dass wir nicht eine bestimmte Gruppe stigmatisieren. Deshalb ist es so wichtig, dass wir diese Regelung sehr genau überprüfen.
Im Zuge der Beratung des Gesetzentwurfes, die wir
jetzt vor uns haben, sollten wir auch darauf achten, dass
diese Ausnahme nicht ausgenutzt wird und dazu führt,
dass zum Beispiel ein Arbeitgeber immer wieder Langzeitarbeitslose für sechs Monate einstellt. Ein solches
„Hire und Fire“ werden wir nicht dulden.
({7})
Es darf auch nicht passieren, dass ein Langzeitarbeitsloser immer nur für sechs Monate einen Job erhält. Auch
dagegen kann man eine Regelung einbauen, sodass das
zum Beispiel nur einmal innerhalb mehrerer Jahre möglich ist. Bei der Evaluation werden wir dann sehen, wie
sich das auswirkt. Uns geht es um echte Teilhabeangebote für Langzeitarbeitslose. Deshalb ist es gut, dass wir
die Gelder für Maßnahmen zur Eingliederung in Arbeit
bzw. zur Vermittlung in Arbeit nach vielen Jahren des
Sparens jetzt endlich wieder deutlich aufstocken.
350 Millionen Euro pro Jahr, also insgesamt 1,4 Milliarden Euro in dieser Wahlperiode: Das ist eine richtige Sache.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum
Schluss. Im Mittelpunkt steht der Mensch. Wir werden
den flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn in Ost
und West für alle Branchen und ohne jede Ausnahme
einführen. Damit stärken wir auch die Tarifautonomie.
Nach vielen Diskussionen mit Gewerkschaften und
Arbeitgebern beginnen heute die Beratungen im BundesKerstin Griese
tag, und ich bin sehr zuversichtlich, dass wir es noch vor
der Sommerpause schaffen werden, den gesetzlichen
Mindestlohn, beginnend mit 8,50 Euro, einzuführen. Wir
sind stolz darauf, dass wir das in dieser Regierungskoalition schaffen und damit vielen Menschen wirklich helfen.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort erhält nun der Kollege Wilfried Oellers für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir beraten heute in der ersten Lesung den Entwurf
des Tarifautonomiestärkungsgesetzes. Das verfassungsrechtlich verankerte hohe Gut der Tarifautonomie hat in
der Vergangenheit dazu geführt, dass die Tarifvertragsparteien in allen Bereichen stets erfolgreich gemeinsame
Regelungen und Lösungen erarbeitet haben. Dies war
zum Teil mit harten Verhandlungen verbunden, die zu
Kompromissen führten, in denen die Interessen beider
Tarifvertragsparteien akzeptabel berücksichtigt worden
sind - und das auch in schwierigen Zeiten.
({0})
Daher ist es nur konsequent, dass die Tarifautonomie
durch das hier vorliegende Tarifpaket weiter gestärkt
werden soll.
Bei der näheren Betrachtung des Gesetzentwurfs gilt
es jedoch, einige Aspekte nochmals zu bedenken. Ich
komme zunächst zur Öffnung des Arbeitnehmer-Endsendegesetzes für alle Branchen: Diese ist grundsätzlich
zu begrüßen, da sie die Tarifautonomie stärkt. Ich bitte
jedoch, auf die Bestimmungen zur Definition der einzelnen Branchen ein gewisses Augenmerk zu legen, um
klare Trennungen zu regeln, damit es hier zu keinen
Überschneidungen kommt. Zur Klarstellung sollte hier
insbesondere auch eine gesetzliche Regelung erfolgen.
Zur Erleichterung von Allgemeinverbindlichkeitserklärungen von Tarifverträgen nach dem Tarifvertragsgesetz sei Folgendes erwähnt: Die Allgemeinverbindlichkeitserklärung nach dem Tarifvertragsgesetz ist ein
bewährtes Instrument, mit dem einheitliche Standards
branchenbezogen geregelt werden können. Allerdings
stellt das Erreichen der erforderlichen starren Quote in
Höhe von 50 Prozent der in den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallenden Arbeitnehmer zunehmend ein Problem dar, wenn es darum geht, auf der Arbeitgeberseite
die Voraussetzungen zu erfüllen.
Diese starre Grenze wird nun aufgehoben. Durch den
nunmehr erforderlichen gemeinsamen Antrag der Tarifvertragsparteien und das damit verbundene gemeinsame
Handeln wird die Tarifautonomie gestärkt. Das vom
Bundesministerium für Arbeit und Soziales zu prüfende
öffentliche Interesse sollte allerdings im besonderen
Maße vorliegen, um zu verhindern, dass bereits eine relative überwiegende Bedeutung eines Tarifvertrages zu
dessen Allgemeinverbindlichkeit führen kann.
({1})
Das besondere öffentliche Interesse sollte weiterhin
als Korrektiv gegeben sein. Dies gilt auch für die AVE
von Tarifverträgen über eine gemeinsame Einrichtung.
Diese sollten im Übrigen auch nicht in Konkurrenz zu
anderen Tarifverträgen stehen, an die ein Arbeitgeber
bereits gebunden ist, damit die Tarifautonomie an dieser
Stelle weiterhin gestärkt bleibt.
({2})
Zum Mindestlohngesetz sei Folgendes erwähnt: Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sollen einen auskömmlichen Lohn erhalten. Hierfür hat sich die Union
bereits in der Vergangenheit durch die Aufnahme von
14 Branchen ins Arbeitnehmer-Entsendegesetz eingesetzt und damit jeweils bundesweit einheitliche Mindestlöhne eingerichtet, zuletzt für die Fleischindustrie. Damit
konnten die Tarifpartnerschaft gestärkt und branchenbezogene Besonderheiten berücksichtigt werden. Letzteres war insbesondere deswegen wichtig, um dem Umstand Rechnung zu tragen, dass ein Lohn erwirtschaftet
werden muss.
In einigen Bereichen besteht noch ein Lohnniveau
von unter 8,50 Euro. Um in diesen die Lohnhöhe von
8,50 Euro zahlen zu können, ist es erforderlich, gewisse
Übergangszeiten einzuräumen, damit sich das Marktniveau und damit das Erwirtschaften von Löhnen der
Lohnsteigerung anpassen können. Eine Möglichkeit ist,
alle bestehenden Tarifverträge für eine Übergangszeit
weiter gelten zu lassen. Für den stark betroffenen Bereich der Saisonarbeit sollte ebenfalls eine Übergangsregelung geschaffen werden.
({3})
Darüber hinaus sollte auch berücksichtigt werden,
dass die Lohngestaltung in Deutschland sehr vielschichtig ist: Bei den Zeitungszustellern wird ein Stücklohn gezahlt. Beim Taxigewerbe liegt die Besonderheit vor, dass
Einnahmen bzw. Preise durch die Kommunen festgelegt
werden. Hier sollten Lösungen gefunden werden.
Im Rahmen des parlamentarischen Verfahrens sind
noch weitere Bestandteile des Mindestlohngesetzes zu
überdenken. Gewollt ist, einen Mindestlohn in Höhe von
8,50 Euro einzuführen. Hierzu steht die Union. Nicht
vereinbart ist allerdings, dass mit dem Mindestlohngesetz weitere allgemein geltende Regelungen hinsichtlich
der Handhabung von Überstunden oder Dokumentationspflichten eingeführt werden sollen. Dies führt zu
mehr Bürokratie, was gerade nicht beabsichtigt ist.
Beide Themenbereiche sollten genauso wie die Thematik der Verwirkung wie bisher im Regelungsbereich
der Tarifvertragsparteien liegen. Ebenso wenig ist das
Mindestlohngesetz dafür da, strengere Haftungsregelungen einzuführen. Die Unternehmerhaftung ist derart
weitgehend angelegt, dass sie eine Haftungskette ermöglicht, die unverhältnismäßig ist.
({4})
Begrüßenswert ist, dass der gemeinsame Wunsch besteht, eine Altersgrenze für die Inanspruchnahme des
Mindestlohns einzuführen, damit kein Anreiz geschaffen
wird, nach dem Schulabschluss eher ohne Ausbildung
ein Arbeitsverhältnis mit einem Stundenlohn von
8,50 Euro einzugehen als eine Ausbildung zu absolvieren, in der man zunächst weniger verdient. Ob eine Altersgrenze von 18 Jahren an dieser Stelle allerdings richtig gewählt ist, muss infrage gestellt werden, wenn man
berücksichtigt, dass die meisten Schulabsolventen ihre
Ausbildung im Alter von über 18 Jahren beginnen. Eine
Anpassung erscheint mir hier geboten zu sein, um das
erfolgreiche duale Ausbildungssystem in Deutschland zu
stärken.
Zur Arbeit der Mindestlohnkommission ist zu erwähnen, dass diese hinsichtlich der Entwicklung des Mindestlohns keine starre gesetzliche Vorgabe erhalten
sollte. Eine Orientierung an dem Tariflohnindex ermöglicht keine uneingeschränkte Gesamtbetrachtung aller
zur Neuberechnung des gesetzlichen Mindestlohns heranzuziehenden Umstände.
Nach einer ersten Festlegung des Mindestlohns durch
den Gesetzgeber soll es im Weiteren die gemeinsame
Aufgabe der Tarifvertragsparteien sein, den Mindestlohn
weiterzuentwickeln, und zwar unter Berücksichtigung
einer wirtschaftlichen und sozialen Gesamtbetrachtung.
Da der gesetzliche Mindestlohn eine Neugestaltung des
bisherigen Lohnsystems darstellt, sollte eine Evaluierung möglichst zeitnah nach Inkrafttreten erfolgen.
Auch wenn noch über Einzelheiten gesprochen werden
muss, so sind wir uns einig, dass die Tarifautonomie gestärkt werden muss und der Mindestlohn in Höhe von
8,50 Euro kommt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Ich erteile das Wort der Kollegin Daniela Kolbe für
die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Für mich ist heute wirklich ein ganz besonderer Tag: Wir beraten heute einen guten und für mich und
viele hier im Raum extrem wichtigen Gesetzentwurf.
Das Gesetz wird das Leben von Millionen Menschen in
diesem Land ganz konkret verbessern. Wir reden von
Leistungsträgern, die mit ihrer Hände Arbeit mit dazu
beitragen, dass unser Land so gut dasteht. Dieser Arbeit
geben wir mit dem Gesetzentwurf die Würde zurück, die
sie verdient.
({0})
Wir reden über einen konsistenten und guten Gesetzentwurf - ich würde fast sagen: über einen schönen Gesetzentwurf -, der komplett ohne Branchenausnahmen
auskommt und stattdessen - großes Kompliment an die
Ministerin und ihr Haus! - Branchengespräche anbietet,
um real existierende Herausforderungen, die es in manchen Branchen in der Tat gibt, außergesetzlich zu lösen.
Den Unternehmern, die jetzt noch zweifeln, kann ich zurufen: Ihre Sorgen werden in Berlin von Andrea Nahles
ernst genommen und in diesen Branchengesprächen angegangen. Ich finde, das ist exakt der richtige Weg, damit umzugehen.
({1})
Wir als Parlament setzen den konkreten Willen der
Menschen in diesem Land um. 86 Prozent - das ist der
überwiegende Teil der Menschen in Deutschland - wollen den gesetzlichen Mindestlohn, übrigens auch 82 Prozent der Unionsanhänger. Kluge Leute!
({2})
Nach einer Forsa-Umfrage wollen ihn sogar 57 Prozent
der befragten deutschen Manager. Er scheint auch ökonomisch sehr viel Sinn zu machen.
Es ist kein neues Thema, Herr Ernst. Damit haben Sie
völlig recht. Gerade für die ostdeutsche Sozialdemokratie - das kann ich als einzige Ostdeutsche in der Debatte
feststellen - ist heute ein ganz besonderer Tag. Ostdeutsche Sozialdemokraten wie Thomas Jurk oder Christoph
Matschie haben bereits im August 2004 die Einführung
von Mindestlöhnen gefordert, um Niedriglöhne, die es
schon damals in Ostdeutschland massiv gab, einzudämmen und den Menschen ihre Würde zurückzugeben.
({3})
Gerade die geringe Tarifbindung hat dafür gesorgt,
dass schon damals viele Menschen nicht von ihrer
Hände Arbeit leben konnten. Ein Mindestlohn ist keine
elegante Lösung. Aber aufgrund der massiven Betroffenheit ist er die einzig mögliche Maßnahme, die wir treffen
können. Wir als Sozialdemokraten haben die Forderung
schon sehr früh aufgenommen, und nach langem Kampf
und vielen Diskussionen können wir heute sagen: Der
einheitliche gesetzliche Mindestlohn kommt.
({4})
Der Mindestlohn ist wichtig für das gesamte Land,
aber ganz besonders für den Osten der Republik. In Ostdeutschland haben 2012 fast 2 Millionen Menschen weniger als 8,50 Euro pro Stunde verdient. Das sind fast
30 Prozent der Beschäftigten. Gerade die extrem niedrigen Stundenlöhne sind in Ostdeutschland besonders verbreitet. 11,1 Prozent der ostdeutschen Beschäftigten haDaniela Kolbe
ben 2012 weniger als 6 Euro brutto pro Stunde verdient.
Gerade diese Menschen brauchen den Mindestlohn dringend, und er kommt.
({5})
Den Rest meiner Redezeit - sie ist für dieses Thema
eindeutig zu kurz ({6})
möchte ich der Frage der Altersgrenze beim Mindestlohn widmen. Ich war immer ein bisschen verwundert
darüber, wie über junge Leute geredet wurde, die angeblich keine Ausbildung antreten, wenn es einen gesetzlichen Mindestlohn gibt. Ich habe deshalb an die Berufsschulen in meinem Wahlkreis in Leipzig geschrieben
und die jungen Leute gebeten, mir zu schreiben, ob sie
eine Ausbildung begonnen hätten, wenn es bereits einen
Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde gegeben hätte,
oder ob sie dann lieber gejobbt hätten. Der übergroße
Teil der Menschen hat geantwortet, natürlich hätten sie
eine Ausbildung gemacht.
Die jungen Menschen sollen das letzte Wort in der
Rede haben. Vielleicht ändert das ein bisschen das Bild,
das wir von der Jugend haben. Ich habe einen ganzen
Stapel Zitate mitgebracht.
Nein, das geht leider nicht, weil wir in unserer Debatte keine Mindestredezeiten, sondern Höchstredezeiten haben.
({0})
Aber Sie wollen als Präsident des Bundestages sicherlich auch die jungen Menschen zu Wort kommen lassen.
Zum Beispiel hat jemand geschrieben: „800 Euro
netto ohne Ausbildung mein Leben lang? - Nein danke.“
Jemand anders schreibt: „Ich übe meinen Job leidenschaftlich aus, habe mich bewusst für ebendiese Ausbildung entschieden.“ Oder: „Man braucht eine Ausbildung, um im Leben etwas erreichen zu können.“ Und
schließlich: „Ausbildung ist Pflicht. Ohne geht es nicht.“ In diesem Sinne!
({0})
Das ist doch ein schöner Schluss.
Albert Stegemann erhält nun das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute beraten wir in erster Lesung über den Entwurf eines Tarifautonomiestärkungsgesetzes. Hierbei
geht es nicht nur um den viel diskutierten Mindestlohn.
Das Gesetz zielt vielmehr auf die Zukunft der Tariflandschaft in unserem Land. So wollen wir unter anderem
das Arbeitnehmer-Entsendegesetz allen Branchen zugänglich machen und die Hürden senken, um einen Tarifvertrag allgemeinverbindlich erklären zu können.
Schaut man sich die geplanten Maßnahmen an, dann
stellt man fest, dass der Titel des Gesetzentwurfs teilweise für Verwirrung sorgt. Inwieweit Eingriffe seitens
des Staates die Autonomie der Tarifvertragsparteien stärken sollen, erscheint auf Anhieb nicht jedem logisch.
Um allerdings die tarifstärkende Wirkung verstehen zu
können, sollte getreu dem Motto „Zukunft braucht Herkunft“ erst der Blick auf unsere arbeitsmarktpolitische
Vergangenheit gehen, bevor man den Blick in die Zukunft richtet.
Das Tarifvertragsgesetz gehört zu den Gründungsdokumenten der Bundesrepublik. Im Grundgesetz steht geschrieben, dass Arbeitgeber und Gewerkschaften Tarifverträge eigenständig aushandeln können. Der Staat hält
sich dabei heraus. Diese gelebte Sozialpartnerschaft hat
sich jahrzehntelang bewährt. Sie war quasi der Motor
des Wirtschaftswunders und hat damit einen wesentlichen Beitrag zu unserem heutigen Wohlstand geleistet.
Die klar geregelte Ordnung des Arbeitslebens durch Tarifverträge ist jedoch in jüngerer Vergangenheit zurückgedrängt worden. Machen wir uns nichts vor: Fast jeder
zweite Beschäftigte wird bald ohne Tarifvertrag arbeiten, sollte sich diese Entwicklung fortsetzen.
Dafür sind verschiedene Einflüsse verantwortlich.
Zum einen hat sich unser Industriestaat zu einer Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft weiterentwickelt.
Form und Organisation von Arbeit haben sich grundlegend verändert. Darüber hinaus steht unser Land in einem
globalen Wettbewerb. Deutschland ist wirtschaftlich in
vielen Bereichen Vorreiter. Damit unsere Wirtschaft
wettbewerbsfähig bleiben konnte, waren politische Weichenstellungen nötig. Diese sind jedoch nicht ohne Folgen für die Tariflandschaft geblieben. Letztlich haben
auch die Tarifvertragsparteien selbst zu dieser Entwicklung beigetragen. Während Gewerkschaften seit Jahren
Mitglieder verlieren, scheiden Arbeitgeber aus der Tarifbindung aus. Damit verlieren die Tarifvertragsparteien
auch ihre Grundlage, um für alle Beschäftigten sprechen
zu können. Für Politik und Gesellschaft bleibt die Erkenntnis: Das System der Tarifverträge ist löchriger geworden. Damit steigt die Gefahr, dass der einzelne Arbeitnehmer durch das Raster fällt.
Der vorliegende Gesetzentwurf greift diese Herausforderung auf. Politik kann zwar viel bewirken, jedoch
keine Tarifstrukturen stellen. Daher liegt es nahe, die bestehenden Strukturen zu stützen und zu stärken. Wir
wollen tariffreie Zonen schließen und das bestehende
System ergänzen. Mit der geplanten Allgemeinverbindlicherklärung und der Erweiterung des ArbeitnehmerEntsendegesetzes greifen wir lediglich dort ein, wo die
Sozialpartner aus eigener Kraft nicht mehr zu angemessenen Lösungen kommen können. Aber für die Union ist
auch klar: Wir sind klug beraten, in den kommenden
Wochen Details genau zu prüfen. Wir dürfen hier in den
zwei genannten Elementen nicht über das Ziel hinausschießen.
({0})
Kommen wir nun zum medial viel beachteten Mindestlohngesetz. Der zentrale Anspruch der Union war es
immer, dass jeder von seiner Hände Werk leben kann.
({1})
Indem wir einen Mindestlohn einführen, schützen wir
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Zukunft vor
Ausbeutung. Zugleich war immer eine zentrale Forderung der Union: Eine verbindliche Lohnuntergrenze ist
nur in Absprache mit den Tarifvertragsparteien machbar. Dazu stehen wir noch immer. Der Bundestag soll die
Einführung beschließen. Die weitere Ausgestaltung legen wir in die Hände der Tarifvertragsparteien. Das
heißt, die geplante Tarifkommission setzt damit künftig
den Mindestlohn fest, und keine Politiker im Bundestag.
Das ist Aufgabe der Tarifvertragsparteien.
({2})
Der Mindestlohn muss aber auch mit den wirtschaftlichen Realitäten vereinbar sein. Wir verschließen unsere
Augen nicht vor möglichen Nebenwirkungen.
Herr Kollege Stegemann, darf Ihnen der Kollege
Ernst eine Zwischenfrage stellen?
Ich würde das lieber nach meiner Rede in einem bilateralen Gespräch klären.
({0})
Gut.
Nicht nur die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,
sondern auch deren Arbeitsplätze müssen geschützt werden.
Ich bin mir sicher, dass die im Regierungsentwurf
aufgeführte Generalunternehmerhaftung, die jährliche
Abrechnung der Arbeitszeitkonten, die Ausschlussfristen oder Dokumentationspflichten, um nur einige offene
Diskussionspunkte zu nennen, dem Ziel einer tariflichen
Ausgewogenheit entgegenstehen. Für alle diese Punkte,
die im Regierungsentwurf Erwähnung finden, gibt es
keine Grundlage im Koalitionsvertrag.
Weiterhin sind aber auch Dinge entscheidend, die
sehr wohl im Koalitionsvertrag stehen, jedoch offensichtlich im Regierungsentwurf vergessen wurden. So
finden zum Beispiel die explizit im Koalitionsvertrag erwähnten Saisonarbeiter im Regierungsentwurf noch
keine Berücksichtigung. Hier muss an Lösungen gearbeitet werden, die auf die besonderen Lebensrealitäten
und den außergewöhnlichen Arbeitsalltag der Saisonarbeit in geeigneter Weise eingehen. Ansonsten gibt es in
diesem Bereich nur Verlierer, sowohl aufseiten der Arbeitgeber als auch aufseiten der Arbeitnehmer und
schließlich auch aufseiten der Verbraucher.
Dabei haben wir im letzten Herbst so viel Herzblut in
die Ausarbeitung eines sehr guten Koalitionsvertrages
gesteckt. Liebe Freunde von der SPD, wer seine Partei in
einer Mitgliederbefragung über ebendiesen Koalitionsvertrag abstimmen lässt, sollte dann auch im Sinne seiner Mitglieder einmal nachschauen, was dort vereinbart
wurde.
({0})
Ich jedenfalls werde gerne meinen Beitrag dazu leisten, dass es im parlamentarischen Verfahren zu einer
weiteren Annäherung des Regierungsentwurfs an den
Koalitionsvertrag kommt. Daneben bedarf es noch
Nachbesserungen für die Situation der Praktikanten und
bei der Altersgrenze mit 18 Jahren. In beiden Fällen ist
es unstrittig, dass es hier eine Lösung geben muss. Nach
dem derzeitigen Stand verfehlen die Regelungen aber ihr
Ziel.
Wir alle wissen, dass wir den Gesetzentwurf in der
ersten Juliwoche in einer anderen Form verabschieden
werden, als er heute vorliegt. Eines ist für uns als Koalitionsfraktionen aber klar: Wir wollen eine Tariflandschaft, die drohende soziale Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt genauso im Auge behält wie die Bedürfnisse
einer im globalen Wettbewerb stehenden Wirtschaft. So
war es auch in der Vergangenheit. Ich hoffe, dass wir
heute den Grundstein legen, dass dieser Grundsatz auch
in Zukunft gilt.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Antje Lezius für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Gesetzentwurf, über den wir heute verhandeln, ist, wie wir
schon mehrmals gehört haben, eine Herzensangelegenheit für viele Bürger und Bürgerinnen in diesem Land.
Von den drei Bestandteilen, die darin enthalten sind, ist
das Mindestlohngesetz derjenige mit der größten Signalwirkung. Laut BMAS befürworten rund 80 Prozent der
Bundesbürger einen flächendeckenden gesetzlichen
Mindestlohn. Zwei Drittel der Deutschen haben uns als
Große Koalition auch deswegen gewählt, weil wir versprochen haben, für einen tariflichen Mindestlohn zu
sorgen.
({0})
Der vorliegende Gesetzentwurf, den wir jetzt noch im
Detail beraten, löst damit nun ein weiteres Versprechen
der Koalition ein. Er basiert vor allem auf dem Grundgedanken, dass jeder von seiner Arbeit leben können muss.
Wenn wir uns fragen, liebe Kolleginnen und Kollegen, wie Arbeit in Zukunft beschaffen sein soll, so gibt
es zahlreiche Anforderungen und Wünsche, die so verschieden sind wie die Menschen selbst. Allerdings müssen wir uns Gedanken darüber machen, welche Auswirkungen der demografische Wandel auf unsere
Gesellschaft und unseren Arbeitsmarkt haben wird.
Es wird in Zukunft weniger jüngere und mehr ältere
Menschen geben; darauf müssen wir uns einstellen. Wir
von der Union setzen dabei sowohl auf die Eigenverantwortung des Einzelnen als auch auf solidarische Unterstützung. Wir wollen nicht nur die Qualität der Arbeit
durch moderne und gesunde Arbeitsplätze besser gestalten, wir wollen auch, dass die Menschen existenzsichernde Einkommen haben, von denen sie auch für das
Alter vorsorgen können, sei es durch eigene Beiträge
oder durch private Vorsorge. Bei der Lohnfestsetzung ist
die Tarifautonomie seit Jahrzehnten ein bewährtes Erfolgsmodell der sozialen Marktwirtschaft, wovon wir
auch heute schon mehrmals gehört haben.
({1})
Lassen Sie mich ganz deutlich sagen: Wir sind stolz
auf die Errungenschaften der Tarifvertragspartner. Dieser Gesetzentwurf ist aber auch eine Antwort auf die seit
Jahren immer schwächer werdende Tarifbindung. Hier
müssen wir entgegenwirken. In Zeiten des Fachkräftemangels bedeutet die Stärkung der Tarifbindung auch
die Stärkung der Attraktivität des Standortes im Wettbewerb mit den Regionen.
Uns ist wichtig, dass die Tarifvertragspartner auch
weiterhin die Verantwortung für die Lohngestaltung in
unserem Land übernehmen. Die Politik hat nicht die
Aufgabe, Löhne festzusetzen. Wir sind gegen eine staatliche Bevormundung und für die bewährte Balance
zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen.
Deswegen sehen wir die Tarifkommission in der Verantwortung, wenn es darum geht, die Höhe des Mindestlohns zu überprüfen und anzupassen. Die Sorge über die
Auswirkungen des Mindestlohns zeigt sich auch in den
zahlreichen Schreiben diverser Institutionen von Wirtschaftsverbänden bis hin zu Gewerkschaften, die wir alle
seit einiger Zeit bekommen.
Eines der wichtigsten Anliegen unserer Politik ist die
Erhaltung der Arbeitsplätze für die Menschen in diesem
Land. Insbesondere der Mittelstand mit 99,6 Prozent aller Unternehmen der Privatwirtschaft ist es, der Arbeitsplätze schafft und es Menschen ermöglicht, durch
Erwerbsarbeit ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Deswegen sollten wir auch die Einwände der Arbeitgeber
nicht einfach ignorieren.
({2})
Die Höhe des Mindestlohns ist ein wichtiger Faktor.
Hier müssen wir behutsam vorgehen. Die Kollegen von
der Linken sowie Verdi träumen hier öffentlich von einem Mindestlohn von 10 Euro. Das wäre für den Arbeitsmarkt in manchen Regionen jedoch ein Albtraum.
Grundsätzlich gönnen auch wir den Menschen einen
möglichst hohen Stundenlohn. Das ist hier nicht die
Frage, auch wenn die Kolleginnen und Kollegen von der
Opposition uns das jetzt nicht recht glauben. Auch wir
sehen die Menschen, die für gute Arbeit zu wenig verdienen. Das Problem ist nur, dass dieses Einkommen zunächst von den Unternehmen erwirtschaftet werden
muss. Wir finden es unehrlich, den Menschen etwas zu
versprechen, was nicht eingehalten werden kann.
Unternehmen können natürlich nur dann höhere
Löhne zahlen, wenn sie sie erwirtschaften können. Am
Beispiel einer Tankstelle wird dies deutlich: Pächter sind
selbstständige Handelsvertreter und haben keinen Einfluss auf die Benzinpreisgestaltung. Sie können auch die
Shopartikel nicht beliebig verteuern. Wenn sie den Preis
trotzdem erhöhen, beobachten sie einen Effekt, den zum
Beispiel auch die Friseure fürchten: Die Kunden bleiben
aus. Bedauerlicherweise nämlich sind dieselben Kunden,
die zu 80 Prozent den Mindestlohn befürworten, oft
nicht bereit, den daraus resultierenden höheren Preis
auch zu zahlen.
Ich habe in meinem Wahlkreis zahlreiche Betriebe besucht, die mir dies bestätigt haben. Hier hat sich übrigens
auch gezeigt, dass sich Arbeitgeber grundsätzlich im
Klaren darüber sind, dass es ohne guten Lohn schwer ist,
jemanden für offene Stellen zu gewinnen, gerade in
ländlichen Regionen. Auf der anderen Seite müssen sich
Löhne aber auch an der Qualifikation messen lassen.
Wir sehen auch die reale Gefahr, dass durch den Mindestlohn unproduktive Arbeitsplätze wegfallen. Darunter würden gerade diejenigen leiden, die von der Erhöhung der Lohnuntergrenze eigentlich profitieren sollten.
Diese Fehlentwicklungen wollen wir vermeiden, und wir
werden deswegen einige Beschäftigungsgruppen ganz
bewusst aus dem Mindestlohn herausnehmen, wie zum
Beispiel Auszubildende, Praktikanten und Jugendliche
unter einer bestimmten Altersgrenze ebenso wie Langzeitarbeitslose in den ersten sechs Monaten.
In Rheinland-Pfalz, wo sich mein Wahlkreis befindet,
berichten die jüngsten Zahlen der Bundesagentur für Arbeit von 11 400 jungen Menschen unter 25 Jahre ohne
Arbeit und von 39 200 Langzeitarbeitslosen. Diese Zahlen sind mir deutlich zu hoch. Es ist vernünftig, wenn
wir hier einen Anreiz schaffen, um diese Menschen in
Arbeit zu bringen.
Über die Frage der Lohnhöhe hinaus können wir aber
sagen: Wir sind kein Volk von Mindestlöhnern. Wir sind
ein Volk von fleißigen, kreativen und innovativen Arbeitnehmern und Unternehmern, und wir haben mit starkem Zusammenhalt die Krise gemeistert.
Ich wünsche mir für die Zukunft, sehr geehrte Damen
und Herren, den gleichen Zusammenhalt, indem die Bevölkerung, die sich in großer Mehrheit für einen Mindestlohn ausspricht, diesen am Ende auch mitträgt.
Vielen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Dass das Präsidium, Frau Kollegin Kolbe, Ihre Ein-
schätzung teilt, dass dieses Thema sicher noch eine län-
gere Beratungszeit verdient hätte, kommt schon darin
zum Ausdruck, dass wir jetzt nachweislich deutlich län-
ger debattiert haben, als wir zu Beginn dieser Debatte
gemeinsam beschlossen haben.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf der Drucksache 18/1558 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt
es dazu alternative Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 5 a und 5 b:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes
zur Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes
Drucksache 18/1312
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jan
Korte, Sevim Dağdelen, Dr. André Hahn, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Aufhebung der Optionsregelung im Staatsangehörigkeitsrecht
Drucksache 18/1092
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Auch für diese Aussprache sollen nach einer interfraktionellen Vereinbarung 96 Minuten vorgesehen werden. - Das ist offenkundig allgemeine Auffassung. Dann
verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst für
die Bundesregierung das Wort dem Parlamentarischen
Staatssekretär Günter Krings.
({2})
Warten Sie erst einmal ab! - Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Herr Kollege
Schuster! Ich will zu Beginn meiner Ausführungen nicht
versäumen, den Herrn Bundesinnenminister zu entschuldigen. Er hätte die Rede zur Einbringung des Gesetzentwurfs zur Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts gern
selber gehalten. Durch die Teilnahme am Justiz-und-Inneres-Rat der Europäischen Union ist er allerdings heute
in Luxemburg gebunden. Ich bitte dafür um Verständnis,
will aber ergänzen: So gern der Minister die Rede selber
gehalten hätte, so gern vertrete ich ihn heute hier.
Meine Damen und Herren, Deutschland war lange
Zeit ein Land mit geringer Zuwanderung aus anderen
Staaten. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mensch sein
gesamtes Leben in der Region, in der Stadt oder gar in
dem Dorf verbrachte, in dem er geboren wurde, war für
viele Generationen vor uns jedenfalls dann sehr groß,
wenn sie nicht etwa Opfer von Krieg und Vertreibung
wurden.
Heute leben wir in einer Gesellschaft, die mobiler ist
denn je. Die Menschen wechseln ihren Lebensmittelpunkt über regionale und nationale Grenzen hinweg: zur
Ausbildung, um eine Familie zu gründen, aus wirtschaftlicher Not oder der Karriere wegen. In Deutschland
wohnen über 15 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund. Das entspricht fast einem Fünftel der deutschen Wohnbevölkerung.
Damit einher geht die Frage: Was ist Heimat? Und ich
meine hier „Heimat“ nicht in einem nostalgischen Bedeutungssinn. Das Wort „Heimat“ war bis zu seiner romantischen Verklärung ein eher nüchterner, im Grunde
juristischer Begriff zur Bezeichnung eines Aufenthaltsstatus, des Heimatrechts: Man hatte besondere Rechte
- etwa das Recht auf Aufenthalt und Armenpflege - und
Pflichten in der Gemeinde, zu der man gehörte. Daraus
hat sich dann die Staatsangehörigkeit moderner Prägung
historisch entwickelt.
Beide Ansätze des Staatsangehörigkeitsrechts, das ius
sanguinis und das ius soli, hatten dasselbe Ziel: festzulegen, wer zu einer Gemeinde, wer zu einem bestimmten
Staat gehört, wobei man annahm, dass er oder sie dort
verwurzelt sei und in aller Regel einen dauerhaften Bezugs- oder Lebensmittelpunkt haben würde. Da die individuelle Mobilität geringer war als heute, liefen Abstammung und Geburtsort eben häufig auf dasselbe hinaus.
Seither hat die grenzüberschreitende Mobilität die
Verhältnisse verkompliziert, nicht nur was die nostalgische Seite des Begriffs „Heimat“ betrifft - wenn sich der
Einzelne heute fragen mag, wo er eigentlich zu Hause ist -,
sondern auch was seine einstmals juristische Bedeutung
betrifft: das Heimatrecht als eine besondere Rechtsstellung zu einem bestimmten Gemeinwesen. Die mitunter
heftigen Diskussionen um die doppelte Staatsangehörigkeit spiegeln genau das wider.
Die Lebensgewohnheiten haben sich in den vergangenen Jahrzehnten rasant verändert, in Deutschland wie
überall. Dem trägt die Bundesregierung Rechnung, indem sie für die Optionspflicht im Staatsangehörigkeitsrecht eine neue Regelung vorschlägt. Das haben wir so
auch in der Koalitionsvereinbarung zwischen CDU,
CSU und SPD beschlossen, und diesen Auftrag setzen
wir mit dem Gesetzentwurf um.
Der Entwurf findet einen Ausgleich zwischen den Interessen junger Deutscher mit mehrfacher Staatsangehörigkeit auf der einen Seite und auf der anderen Seite dem
staatlichen Interesse, die Staatsangehörigkeit als eine beParl. Staatssekretär Dr. Günter Krings
sondere Loyalitäts- und Verantwortungsbeziehung zwischen Gemeinwesen und Bürger zu erhalten.
Der Gesetzentwurf geht von der Einführung der sogenannten Ius-soli-Regel im deutschen Staatsangehörigkeitsrecht vor über einem Jahrzehnt aus: Hat ein Elternteil seit mindestens acht Jahren seinen gewöhnlichen
Aufenthalt in Deutschland, so erwirbt das in unserem
Land geborene Kind die deutsche Staatsangehörigkeit
eben unabhängig von der Staatsangehörigkeit der Eltern.
Nach bisheriger Rechtslage mussten sich diese Kinder aber spätestens mit Vollendung des 23. Lebensjahres
zwischen der deutschen Staatsangehörigkeit und der
Staatsangehörigkeit der Eltern entscheiden.
({0})
Die jungen Erwachsenen, die eine solche Entscheidung
bisher treffen mussten, haben sich ganz überwiegend für
die deutsche Staatsangehörigkeit entschieden. Ich halte
das für einen großen Vertrauensbeweis für unseren Staat
und für die Bestätigung einer erfolgreichen Integrationspolitik. Ich meine: Als Politiker, die wir für unser Gemeinwesen Verantwortung tragen, können wir darauf stolz
sein.
({1})
Dennoch dürfte diese Entscheidung nicht allen Betroffenen leichtgefallen sein. Genau aus diesem Grund
sieht unser Gesetzentwurf eine deutliche Einschränkung
der sogenannten Optionspflicht vor: Wer in Deutschland
geboren ist und hier auch aufwächst, braucht sich nicht
mehr zwischen zwei Staatsangehörigkeiten zu entscheiden. Nur für den, der als Kind ausländischer Eltern in
Deutschland geboren wird, dann aber nicht hier aufwächst, gilt weiterhin die Optionspflicht. Nach der Neuregelung muss der Optionshinweis bis zum 22. Lebensjahr zugestellt werden. Ab Zustellung hat der Betroffene
dann zwei Jahre Zeit, zu optieren. Das heißt, spätestens
vor dem 24. Geburtstag muss er dann diese Entscheidung treffen.
Diese Lösung folgt einer plausiblen Abwägung: Diejenigen, die hier zur Welt kommen und hier aufwachsen,
bauen hier eine prägende Bindung auf. Sie sind bei uns
verwurzelt. Deutschland ist ihre Heimat - im ursprünglichen Bedeutungssinn und hoffentlich auch dem Gefühl
nach.
({2})
Wir gestehen ihnen aber die Mehrstaatigkeit als Teil ihrer persönlichen Biografie zu. Wir wollen ihnen die Entscheidung zwischen ihren Staatsangehörigkeiten ersparen, und zwar nicht, um ihre Integration zu fördern,
sondern weil wir gerade davon ausgehen, dass sie bei
uns bereits gut integriert sind.
Bei denjenigen, die durch Geburt die deutsche Staatsangehörigkeit erworben haben, die dann aber nicht hier
aufgewachsen sind, überwiegt allerdings weiterhin das
Interesse, Mehrstaatigkeit zu vermeiden. Denn mehrfache Staatsangehörigkeit birgt auch Komplikationen und
Konflikte. Diese wiegen im Regelfall schwerer als ein
gewisser, aber eben sehr überschaubarer Verwaltungsaufwand, der mit der Feststellung verbunden ist, ob jemand in Deutschland aufgewachsen ist oder nicht.
({3})
Diese Komplikationen haben wir sogar jüngst bei
Mehrstaatigkeit innerhalb der EU mit Blick auf die Wahlen zum Europäischen Parlament erlebt. Auch wenn die
Unionsbürgerschaft innerhalb der EU gleichsam das
Dach für die 28 nationalen Staatsangehörigkeiten bildet
und die Hinnahme der Mehrstaatigkeit innerhalb der Europäischen Union schon von daher nicht weiter begründungsbedürftig ist, so entstehen selbst in dieser Konstellation wegen der Mehrstaatigkeit offenbar besondere
Probleme, die wir in diesem konkreten Fall - vorzugsweise durch ein einheitliches europäisches Wahlrecht einer Lösung zuführen können.
({4})
Das ist aber nur ein Beispiel dafür, dass Mehrstaatigkeit rechtlich mit einem Verlust an Eindeutigkeit einhergeht. Deswegen ist es richtig, Mehrstaatigkeit im
Regelfall zu vermeiden, wo es keine echte inhaltliche
Rechtfertigung dafür gibt. Und deswegen dürfen wir gerade von denen, die nicht schon mit ihrer Biografie beweisen, dass sie ein plausibles Interesse daran haben, die
deutsche Staatsangehörigkeit auf Dauer zu erhalten, erwarten, dass sie dieses Interesse dokumentieren, indem
sie die Staatsangehörigkeit ihrer Eltern dann aufgeben.
Mit meinem Verständnis von Staatsangehörigkeit
wäre es nicht vereinbar, wenn wir auf die Optionspflicht
auch bei den Ius-soli-Deutschen verzichten würden, die
seit ihrer Geburt kaum etwas mit Deutschland zu tun hatten, hier vielleicht nur wenige Jahre oder Monate gelebt
haben. Wer bis zu seinem 21. Geburtstag keine signifikante Beziehung zu Deutschland aufgebaut hat, kann
nicht verlangen, lebenslang zwei Staatsangehörigkeiten
zu behalten.
({5})
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Volker Beck?
Ich freue mich immer über die Verlängerung meiner
Redezeit und ganz besonders, wenn das durch Herrn
Volker Beck geschieht.
Verehrter Herr Staatssekretär, Sie haben gerade davon
gesprochen, dass man sich zwischen den beiden Staatsangehörigkeiten entscheiden soll, wenn keine intensivere Beziehung zu Deutschland besteht. Haben Sie dabei
bedacht, dass die deutsche Staatsangehörigkeit auch zur
Volker Beck ({0})
EU-Freizügigkeit berechtigt und dass es sein kann, dass
jemand seine EU-Bürgerschaft und damit auch sein Aufenthaltsrecht innerhalb der EU aus dem deutschen Pass
ableitet? Ihre Regelung hätte zur Folge, dass jemand, der
sich mit seinen Eltern in Griechenland, in Frankreich, in
Portugal aufgehalten hat und deshalb nicht die Zeiten erreicht, die in Ihrem Gesetz stehen, den deutschen Pass
verlieren würde. In einigen Mitgliedstaaten würde sich
dann unter Umständen die Frage stellen, ob er als Drittstaatler überhaupt innerhalb der Europäischen Union
noch aufenthaltsberechtigt ist. Halten Sie diese Konsequenz nicht auch wie ich für unverhältnismäßig?
Selbstverständlich haben wir diese europarechtlichen
Implikationen geprüft. Aus gutem Grund ist das Staatsbürgerschaftsrecht primär nationales Recht. Dabei soll es
bleiben. Ich glaube nicht, dass es gut wäre, dies zu einem
rein europäischen Recht zu machen. Das ist der erste
Teil meiner Antwort auf Ihre Frage.
({0})
Zweitens. Natürlich hat es derjenige in der Hand,
diese Konsequenz auszuschließen, indem er sich für die
deutsche Staatsbürgerschaft entscheidet. Er muss diese
Konsequenz also gar nicht tragen. Nur wenige Hundert
haben sich anders entschieden. Das habe ich eben ausgeführt.
Drittens. Ich komme gleich noch dazu, was das Kriterium „aufgewachsen“ heißt und welche Bedingungen es
dafür gibt, zwei Staatsbürgerschaften zu erhalten. Wir
haben beispielsweise auch eine Härtefallklausel vorgesehen.
Es gibt also drei Antworten auf Ihre Frage. Jede für
sich wäre eine überzeugende Antwort. Wir haben das
Problem somit dreifach gelöst, lieber Herr Kollege.
({1})
Man kann - hier sind wir beim Thema der konkreten
Ausgestaltung - darüber streiten, was die Formulierung
in unserem Koalitionsvertrag „in Deutschland … aufgewachsen“ konkret heißt. Darüber haben wir in den letzten Monaten diskutiert. Der Gesetzentwurf zieht aus
meiner Sicht eine sehr überzeugende Linie. In Deutschland aufgewachsen ist danach jeder, der hier eine Schuloder Berufsausbildung abgeschlossen hat. Wer hier keinen Abschluss gemacht hat, der muss bis zu seinem
21. Geburtstag über acht Jahre hier gelebt haben oder
sechs Jahre eine deutsche Schule besucht haben. Das
sind einfache Regeln. Gerade der Nachweis des Schulabschlusses wird in den meisten Fällen die einfachste
Möglichkeit sein. Selbst derjenige, der sein Zeugnis verloren hat, wird noch wissen, wo seine Schule war, und
sich ein neues besorgen können. Wer hierin Bürokratie
sieht, hat die Regelung nicht richtig verstanden. Damit
sind in Zukunft voraussichtlich über 90 Prozent der Iussoli-Deutschen von der Optionspflicht befreit.
Die neue Regelung lässt sich in der Praxis einfach
umsetzen. Diese Voraussetzungen sind in aller Regel
einfach nachweisbar. Oft genügen der Blick ins Melderegister oder die Vorlage eines Schul- oder Berufsschulabschlusszeugnisses. Ein einfacher Weg, sich in diesen
Fällen die doppelte Staatsangehörigkeit dauerhaft zu erhalten.
Meine Damen und Herren, die Staatsangehörigkeit ist
- da sind wir uns hoffentlich in weiten Teilen des Hauses
einig - mehr als ein nützliches Papier in Form eines Passes, das mir die Einreise erleichtert oder ein Aufenthaltsrecht garantiert. Sie ist ein besonderes Verhältnis zwischen Staat und Bürger, geprägt durch Verantwortung
und Loyalität. Dem muss jede Neuregelung der Optionspflicht Rechnung tragen. Wer meint, man könne Mehrstaatigkeit generell und voraussetzungslos hinnehmen,
ignoriert das Wesen und die Bedeutung der Staatsangehörigkeit. Und wer darauf setzt, dass notfalls solche Veränderungen in dem eben dargestellten Sinn auch mit
knappen politischen Mehrheiten durchzusetzen wären,
versündigt sich an einem Kerngedanken der Demokratie.
Das Staatsangehörigkeitsrecht ist aufgrund seiner besonderen Bedeutung für unser Gemeinwesen auf einen
breiten Konsens angewiesen. Über die Staatsangehörigkeit definiert unsere Verfassung, wer zum Staatsvolk gehört, wer der Souverän ist. Neben anderen Rechtswirkungen vermittelt die Staatsangehörigkeit das Recht,
über unser Gemeinwesen mitzubestimmen. Aus diesem
Grunde ist es nicht klug, zu versuchen, parteipolitische
Maximalpositionen durchzusetzen. Keine Parlamentsmehrheit sollte je in den Verdacht geraten, das Volk, das
sie demokratisch trägt, auf streitigem Wege neu zusammenzustellen.
({2})
Mit der Neuregelung der Optionspflicht haben wir
eine gute Chance zu einem breiten Konsens. Wenn wir
diesen Konsens auch gemeinsam aktiv vertreten, ist er
eine klare Botschaft an die jungen Menschen, deren Eltern oder Großeltern einst nach Deutschland kamen, dass
sie voll und ganz zu Deutschland gehören.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. - Nächste Rednerin
ist Sevim Dağdelen von der Linken.
({0})
Verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Ich werde der SPD keinen Koalitionsvertrag vorlegen, in dem die doppelte Staatsbürgerschaft nicht
drin ist.
Dies erklärte der Vorsitzende der SPD und jetzige Vizekanzler Sigmar Gabriel auf dem SPD-Parteitag - nach
den Bundestagswahlen, vor dem Koalitionsvertrag - am
2. November 2013.
Im Vorfeld, im Bundestagswahlkampf, ging es vor allen Dingen auch darum, Wählerinnen- und Wählerstimmen unter Migrantinnen und Migranten zu bekommen.
So suchte man die Nähe zu Migrantenselbstorganisationen und warb um die Unterstützung bei der Wahl. Das
konkrete Versprechen lautete: Man wird sich für die
Rechte der Migrantinnen und Migranten, besonders die
der Türkinnen und Türken, einsetzen. Was steht jetzt im
Koalitionsvertrag? Darin steht nichts von doppelter
Staatsangehörigkeit und nichts von der Abschaffung der
Optionspflicht. Darin steht:
Wer in Deutschland geboren und aufgewachsen ist,
soll seinen deutschen Pass nicht verlieren und keiner Optionspflicht unterliegen.
Wie befürchtet - von unserer Seite, aber auch von
vielen Migrantinnen und Migranten -, entpuppte sich
der Kompromiss im Koalitionsvertrag von CDU, CSU
und SPD als faul; denn was die Formulierung „in Deutschland geboren und aufgewachsen“ bedeutet, machte im Februar dieses Jahres Bundesinnenminister Thomas de
Maizière deutlich: Entfallen solle die Optionspflicht bei
denjenigen, die bis zu ihrem 23. Lebensjahr zwölf Jahre
hier gelebt haben, davon mindestens vier Jahre zwischen
ihrem 10. und 16. Lebensjahr. Nachgewiesen werden
könne dies anhand von Meldebescheinigungen, alternativ reiche auch ein deutscher Schulabschluss.
Bereits seit Jahren wird der bürokratische Aufwand
- man nennt es auch Bürokratiemonster - bei den Optionspflichtigen in den Einbürgerungsbehörden kritisiert.
Gerade dieser enorme Bürokratieaufwand hat drei von
der SPD mitregierte Länder eine Initiative in den Bundesrat einbringen lassen, mit der die generelle Abschaffung der Optionspflicht gefordert wird.
({0})
Ich sage an dieser Stelle: Wir als Linke loben diese Bundesratsinitiative ausdrücklich.
({1})
Aber leider, leider wurde die mutige Tat dieser drei
Bundesländer sofort von der SPD-Generalsekretärin, die
den Unionsparteien Treue schwor, einkassiert. Noch im
April, also vor zwei Monaten, hatten viele Organisationen und Verbände den SPD-Vorsitzenden Sigmar
Gabriel in einem offenen Brief aufgefordert, gegenüber
den Unionsparteien an der vollständigen Abschaffung
der Optionspflicht im Staatsangehörigkeitsrecht festzuhalten und Wort zu halten. Doch auch dieser Appell
blieb leider ohne Erfolg. So ist der vorliegende Gesetzentwurf kümmerlich geblieben; denn herausgekommen
ist ein kleingeistiger, engstirniger, ja ein fauler Kompromiss zwischen den Koalitionsfraktionen.
({2})
In Deutschland aufgewachsen und von der Optionspflicht befreit ist nach dem vorliegenden Gesetzentwurf,
wer bei Vollendung seines 21. Lebensjahres mindestens
acht Jahre in Deutschland lebt, sechs Jahre lang eine
Schule in Deutschland besucht hat, einen deutschen
Schulabschluss oder eine abgeschlossene Berufsausbildung hat. Falls kein Antrag der betroffenen Person vorliegt, prüft die Behörde nach dem 21. Geburtstag die Voraussetzungen von Amts wegen.
Die Mehrheit wird in Zukunft überhaupt nicht mehr
in Kontakt zu den Behörden treten müssen,
so heißt es im vorliegenden Gesetzentwurf. Über 90 Prozent der Betroffenen werden die Nachweise über das
Aufwachsen in Deutschland erbringen können. Einen
Wohnsitz im Ausland haben derzeit laut Melderegister
lediglich 3 Prozent, so das Bundesinnenministerium.
Angesichts der wirklich kleinen Zahl von überwiegend
im Ausland aufgewachsenen Kindern ist es unserer Meinung nach nicht zu rechtfertigen, diesen Riesenaufwand
mit Zehntausenden Optionsverfahren pro Jahrgang weiter zu betreiben.
({3})
Es ist wirklich absurd und nur mit ideologischer Borniertheit zu erklären, dass an diesen Zehntausenden Optionsverfahren pro Jahr festgehalten werden soll - ab
2018 etwa 40 000 im Jahr -, nur damit am Ende einigen
wenigen Menschen der Doppelpass vorenthalten werden
kann.
({4})
So bleibt es bei diesem Wahnsinn der Optionspflicht
in Deutschland, einer weltweit wirklich einmaligen Regelung. Die völlig gleichberechtigte Zugehörigkeit, also
die deutsche Staatsbürgerschaft, hier geborener Kinder
wird in einer oft ohnehin schwierigen Lebensphase - das
müsste hier eigentlich jeder wissen - infrage gestellt.
Künftig wird es - so das Gesetz - Deutsche nach Absatz 1 des § 29 Staatsangehörigkeitsgesetz geben, das
bedeutet nichts anderes als Deutsche zweiter Klasse.
Meine Damen und Herren, insbesondere türkische
Migrantinnen und Migranten fühlen sich erneut vor den
Kopf gestoßen; denn Kinder mit einer deutsch-EU- oder
deutsch-schweizerischen Doppelstaatsangehörigkeit sollen künftig generell nicht mehr optieren müssen. Man
sieht: Was für sehr viele gilt, gilt nicht für türkische
Migrantinnen und Migranten. Sie müssen nachweisen,
dass sie wirkliche, tatsächliche Deutsche sind, wenn sie
ihren Doppelpass behalten wollen. Dieser diskriminierende Effekt ist etwas, was wir abschaffen wollen.
({5})
Diese Diskriminierungen müssen aus Sicht der Linken ein Ende haben. Deshalb fordern wir Sie auf: Öffnen
Sie die Fenster, schaffen Sie endlich die Optionspflicht
bedingungslos ab, und akzeptieren Sie auch endlich etwas, was mittlerweile zum Normalzustand in der Europäischen Union gehört, nämlich die doppelte Staatsbürgerschaft!
({6})
Wir als Linke wollen es Ihnen wirklich leichtmachen.
Wir haben Ihnen einen Gesetzentwurf vorgelegt, der im
Wortlaut eins zu eins der von mir angesprochenen Bundesratsinitiative der drei SPD-mitregierten Bundesländer
entspricht. Glauben Sie mir wirklich: Es geht nicht darum, Sie in irgendeiner Art und Weise im Bundestag vorzuführen. Es geht lediglich darum, dass diese Initiative
endlich diese Diskriminierungen beseitigt. Es gibt eine
Mehrheit im Deutschen Bundestag und auch im Bundesrat für die bedingungslose Abschaffung dieser wirklich
unsäglichen Optionspflicht. Lassen Sie uns gemeinsam
diesen Schritt gehen, und lassen Sie uns sagen: Diese
wahnsinnige, weltweit einmalige Regelung gibt es in
Deutschland nicht mehr, wir sind für ein fortschrittliches
Staatsbürgerschaftsrecht, wir sind für die Abschaffung
der Optionspflicht. Lassen Sie uns gemeinsam dieses
Zeichen setzen für Integration,
({7})
gegen Diskriminierungen und gegen neue Bürokratiemonster, die hiermit heute auch geschaffen werden!
({8})
Für die Bundesregierung erteile ich als nächster Rednerin der Staatsministerin Aydan Özoğuz das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Bundespräsident Joachim Gauck hat
am 22. Mai 2014 eine bemerkenswerte Rede bei einer
Einbürgerungsfeier im Schloss Bellevue gehalten. Ich
habe mich sehr über seine Worte gefreut; denn sie haben
auf den Punkt gebracht, dass wir unverkrampft mit der
Vielfalt in unserem Land umgehen sollten, auch im
Staatsangehörigkeitsrecht.
({0})
Ich zitiere ihn:
Die doppelte Staatsbürgerschaft ist Ausdruck der
Lebenswirklichkeit einer wachsenden Zahl von
Menschen. … Unser Land lernt gerade, dass Menschen sich mit verschiedenen Ländern verbunden
und trotzdem in diesem, in unserem Land zu Hause
fühlen können.
Es war überdeutlich für alle, die dort gewesen sind: Bundespräsident Gauck hat dabei allen Anwesenden aus der
Seele gesprochen. Ein schönes und richtiges Signal aus
dem Schloss Bellevue, wie ich finde.
({1})
In Deutschland sprechen wir in diesen Tagen sehr viel
über Einwanderung. Wir werden sogar gelobt, zum Beispiel von der OECD, dass Deutschland nun ein sehr beliebtes Einwanderungsland geworden sei, auch für Menschen, die es sich aussuchen können, wohin sie gehen
wollen. Das war lange Zeit nicht so, wie wir wissen.
Leider unterscheiden wir aber gerade in solchen Zeiten viel zu wenig, wer bei uns eigentlich alles zu dieser
Kategorie Migrant zählt und was uns dabei von der Zählweise anderer Länder unterscheidet. Denn auch wenn
wir in diesen Tagen sagen, dass unsere Quote zeigt, wir
seien das beliebteste Land gleich nach den USA, muss
doch hinzugefügt werden, dass in dieser Quote auch
viele Kriegsflüchtlinge enthalten sind, die es sich nicht
aussuchen können, wohin sie denn nun fliehen. Und: Die
USA zählen keine jungen Menschen, die dort geboren
werden, zu Migranten. Die Second Generation, wie sie
dort genannt wird, gilt als einheimisch-amerikanisch ohne Wenn und Aber. Bei uns sind solche Menschen
zum Teil Deutsche, aber mit Migrationshintergrund.
Dass sie überhaupt zum Teil Deutsche sein können, verdanken wir der Einführung des Geburtsortprinzips, also
des Ius soli, das im Jahr 1999 durch die rot-grüne Bundesregierung eingeführt wurde.
({2})
Damals war die große Neuerung: Wer unter bestimmten
Voraussetzungen - es wurde ja gesagt, welche Voraussetzungen das sind - als Kind ausländischer Eltern in
Deutschland geboren wurde, sollte neben seiner Ursprungsidentität eben auch deutscher Staatsbürger sein
können. Das war bis dahin nicht der Fall. Ich finde, man
muss schon noch daran erinnern: Es galt das Staatsangehörigkeitsrecht von 1913. Nach diesem Gesetz aus der
Kaiserzeit konnte nur derjenige Deutscher sein, der Kind
eines Deutschen war, nicht einmal einer Deutschen.
Auch das möchte ich betonen: Deutsche Frauen zählten
an dieser Stelle nicht. Eine deutsche Frau konnte ein
Kind in Deutschland bekommen, das als Ausländer galt,
nämlich wenn der Vater nicht deutsch war. 1974 hat man
immerhin erkannt, dass auch deutsche Frauen das Recht
haben sollten, die Staatsangehörigkeit zu vererben.
Ich möchte noch einmal daran erinnern, dass Bundestagsabgeordnete von heute wie Cemile Giousouf, Sevim
Dağdelen - die gerade gesprochen hat -, Cem Özdemir
oder Mahmut Özdemir allesamt in Deutschland geboren
wurden, als - vielleicht war das bei Mahmut Özdemir
schon anders; er ist ja der Jüngste von allen - kaum jemand daran dachte, dass die Gesellschaft der Nachkriegszeit sich erheblich verändern würde.
Heute machen wir nun nach 1999 den nächsten großen Schritt.
({3})
Wer in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, soll
nicht bis zur Volljährigkeit Deutscher unter Vorbehalt
sein und dann womöglich zum Ausländer in Deutschland erklärt werden - wie es ja bereits einigen ergangen
ist. Es wird zukünftig nicht vom Herkunftsland abhängen, ob bei in Deutschland geborenen und aufgewachsenen Kindern die Mehrstaatigkeit hingenommen wird.
({4})
Das, meine Damen und Herren, ist ein riesengroßer
Schritt, den wir machen.
({5})
Hunderttausende Jugendliche werden damit endlich von
der belastenden Entscheidung befreit, sich mit dem Erreichen des Erwachsenenalters entweder gegen ihre familiäre Herkunft oder gegen Deutschland entscheiden zu
müssen. Es ist einfach lebensfremd, dass wir junge Menschen in unserem Land vor diese Wahl stellen.
({6})
Das haben wir auch immer wieder betont. Ich weiß aus
unzähligen Gesprächen der letzten Jahre - erst vor kurzem habe ich optionspflichtige Jugendliche ins Bundeskanzleramt eingeladen, um direkt von ihnen noch einmal
Meinungen und Gefühle zu hören; der Tenor war eindeutig -: Die Jugendlichen verstehen nicht, warum wir ihnen diese Entscheidung abnötigen; sie empfinden es anders; ihre Realität und Lebenswirklichkeit ist, in
mehreren Kulturen zu Hause zu sein. Das bekommen sie
übrigens von der Gesellschaft auch immer wieder zu
spüren: dass sie Deutsche sind, aber eben auch etwas anderes.
Frau Dağdelen, diese jungen Menschen haben das,
was wir machen, als einen riesigen Schritt empfunden;
die haben nicht das gesagt, was Sie hier gerade kundtaten; die freuen sich, dass wir endlich noch einen Schritt
weitergehen.
({7})
Die Zahlen brauche ich jetzt nicht weiter zu untermauern - es wurde schon gesagt -: 15,3 Millionen Menschen - also jeder Fünfte in unserem Land - hat familiär
eine Zuwanderungsgeschichte. Wichtig ist, dass mehr
als die Hälfte, 55 Prozent der Menschen mit Migrationshintergrund, die in Deutschland einst geboren wurden,
minderjährig sind und ein Teil dieser jungen Menschen
- das wurde schon richtig gesagt - ohnehin beide Pässe
behalten darf. Für die anderen ist unser Gesetzentwurf
wichtig; denn wir zeigen, um es noch einmal mit den
Worten von Bundespräsident Gauck zu sagen, dass wir
lernen, „vielschichtige Identitäten“ zu akzeptieren - genau das ist es, was wir heute tun - und „niemanden zu einem lebensfremden Purismus“ zu zwingen.
({8})
In den Koalitionsverhandlungen haben wir uns - das
möchte ich natürlich nicht unerwähnt lassen - nach harten und langen Verhandlungen - alle wissen: das war
wohl morgens um fünf oder halb sechs - auf die Formulierung geeinigt: Für in Deutschland geborene und aufgewachsene Kinder ausländischer Eltern entfällt in Zukunft der Optionszwang.
({9})
- Das habe ich auch nicht gesagt.
Die Union hatte bekanntlich auf dem Kriterium des
Aufwachsens in Deutschland bestanden. Da mussten wir
uns erst einmal einige Zeit überlegen, wie das nun messbar sein soll, zumal - das möchte ich dann schon erwähnen - keine Zahlen vorlagen, die belegt hätten, dass reihenweise Kinder nicht in Deutschland aufwachsen
würden. Auch das Bundesinnenministerium konnte solche Zahlen nicht vorlegen.
Von diesem Pult aus wurde immer wieder erklärt, das
sei eine große Gefahr für unser Land. Ich bitte, wenn
man solche Aussagen macht, sie auch zu belegen. Doch
genau das war nicht möglich.
({10})
Mit dem Gesetzentwurf setzen wir nun das um, worauf wir uns im Koalitionsvertrag geeinigt haben. Ich bin
überzeugt, dass das Kriterium des Aufwachsens eine
gute Lösung ist, auch wenn wir uns diesbezüglich vielleicht nicht einig sind. Bis zum 21. Lebensjahr muss der
Jugendliche acht Jahre in Deutschland gelebt haben oder
sechs Jahre die Schule besucht haben oder einen deutschen Schul- oder Berufsbildungsabschluss besitzen.
({11})
Das wird auf über 95 Prozent zutreffen. Hier wurde von
90 Prozent gesprochen. Ich denke, es werden weit über
95 Prozent sein. Es wäre interessant, zu wissen, wie
viele nicht betroffen sein werden. Ich finde, dass Hunderttausende Jugendliche ab dem Jahr 2018 nicht in die
Ämter laufen müssen, wie es ursprünglich gedacht war,
sondern nur im Bedarfsfall nachgefragt wird, ist ein ganz
großer Schritt, den wir mit diesem Gesetzentwurf tun.
Damit sind die Kinder faktisch mit acht Jahren von der
Optionspflicht befreit, und mit acht Jahren diskutiert
man in der Regel noch nicht darüber.
({12})
Ich möchte unterstreichen, dass es mir wichtig ist,
dass der Gesetzentwurf eine Härtefallklausel enthält. Die
Juristen wissen es wahrscheinlich am besten: Wir können gar nicht so kreativ denken, wie manche Lebenswege verlaufen. Ich kann mir viele Beispiele vorstellen
- hier wurden einige bereits genannt -, die deutlich ma3342
chen, dass es wichtig ist, auf einzelne Fälle eingehen zu
können
({13})
- Sie kommen doch gleich dran, Herr Beck -, wo der
Bezug zu Deutschland vielleicht sehr deutlich nachgewiesen werden kann, aber das Gesetz trotzdem nicht
greift.
Mein Kollege Rüdiger Veit hat in der vergangenen
Debatte darauf hingewiesen, dass im hessischen Koalitionsvertrag von Schwarz-Grün Folgendes zu lesen ist
- Zitat -:
Auf bundespolitischer Ebene werden wir die Aufhebung der Optionspflicht … für in Deutschland
geborene und aufgewachsene Kinder ausländischer
Eltern unterstützen.
Es freut mich ausdrücklich, Herr Beck, dass Sie das tun
wollen.
({14})
Vielleicht haben Sie ja noch eine Idee dazu.
Ich möchte noch auf das eingehen, was Frau
Dağdelen hier erwähnt hat. Es zeugt nicht von riesengroßer Kreativität, wenn man Anträge von einer Initiative
dreier rot-grüner Bundesländer wortgleich abschreibt
und hier einbringt. Ich glaube, das könnte man auch anders machen. Wir sind uns unter den Kollegen einig,
dass auch Sie das machen dürfen.
({15})
Wir sehen: Wir sollten den Gesetzentwurf rasch beraten. Wir dürfen keine Zeit verlieren; denn jeden Tag
müssen Jugendliche nach dem alten Gesetz optieren. Jeden Tag droht einem jungen Menschen, der 23 wird,
möglicherweise die Ausbürgerung, obwohl er oder sie
hier geboren und aufgewachsen ist. Das sollten wir den
jungen Menschen ersparen. Die Bundesländer warten
darauf, dass wir hier endlich weiterkommen, weil sie den
jungen Menschen genau das ersparen wollen.
Wir wissen, dass diese Abschaffung für einige zu spät
kommt.
({16})
Es ist ganz wichtig, dass wir darüber sprechen. Es gibt
ungefähr anderthalb Jahrgänge, die optieren mussten,
also einen Pass abgeben mussten. Einige sind nun tatsächlich zu Ausländern in dem Land, in dem sie groß geworden sind, geworden. Diese jungen Menschen auszuschließen, nur weil sie zufällig ein oder zwei Jahre zu
früh geboren wurden, halte ich für einen schwer vermittelbaren und unwürdigen Zustand. Da erhoffe ich mir
eine Lösung im parlamentarischen Verfahren.
({17})
Ich möchte zum Abschluss noch ein Zitat des Bundespräsidenten anfügen:
Wir verlieren uns nicht, wenn wir Vielfalt akzeptieren. Wir wollen dieses vielfältige „Wir“. Wir wollen es nicht besorgnisbrütend fürchten. Wir wollen
es zukunftsorientiert und zukunftsgewiss bejahen.
Ich hoffe, mit dieser Denke gehen wir in die parlamentarischen Verhandlungen.
Danke schön.
({18})
Nächster Redner für Bündnis 90/Die Grünen ist der
Kollege Volker Beck.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie haben
mit dem Bundespräsidenten geschlossen, Frau Özoğuz.
Ich will mit ihm beginnen. Der Bundespräsident sagte
am 22. Mai:
Der größte Schritt war wahrscheinlich 1999 die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts.
({0})
Neben das ius sanguinis trat das ius soli. Seitdem
kann Deutscher werden, wer in Deutschland geboren wurde, auch wenn seine Eltern es beide nicht
sind. Inzwischen wächst auch die Gelassenheit,
doppelte Staatsbürgerschaften als selbstverständlich
hinzunehmen.
So weit der Bundespräsident. - Ihrem Gesetzentwurf
und der Rede von Herrn Krings merkt man die Gelassenheit, von der der Bundespräsident spricht, aber nicht an.
({1})
Sie setzen eine Diskriminierungspolitik fort; die
schwarze Pädagogik der Integrationspolitik der Union
führt die Feder. Für ein kleines Häuflein von Menschen,
wie der Deutsche Anwaltverein schreibt, bauen Sie ein
bürokratisches Monstrum auf, um den jungen Deutschen, die hier geboren sind, deren Eltern aber aus dem
Ausland stammen, weiter zu sagen: Ihr seid Deutsche
auf Bewährung. Ihr seid Deutsche mit Verfallsdatum. Ihr
seid Deutsche auf Probe. - Das ist das Gegenteil von
Willkommenskultur. Deshalb muss die Optionspflicht
ganz fallen. Erst das wäre ein richtiger Schritt nach
vorne.
({2})
Ich will noch eines sagen. Der Bundespräsident
spricht davon, dass man dann, wenn man in Deutschland
geboren ist, auch Deutscher ist. Das ist allerdings etwas,
Volker Beck ({3})
was wir noch verwirklichen müssen. Das fassen Sie
überhaupt nicht an. Nach dem heutigen Staatsangehörigkeitsrecht müssen die Eltern erst acht Jahre eine Aufenthaltserlaubnis haben, bevor ihre hier geborenen Kinder
auch als Deutsche geboren werden. Ich frage: Warum
reicht es nicht aus, einen legalen Aufenthalt in Deutschland zu haben, damit der, der hier Kinder bekommt,
Deutsche und keine Ausländer gebiert?
({4})
In anderen Ländern besteht darüber Konsens. In Frankreich sind sich von den Gaullisten bis zu den Kommunisten alle einig. Die Einzigen, die dagegen sind, sind
die Anhänger des Front National; die wollen wir uns
politisch wohl nicht zum Vorbild nehmen.
Vor dem Hintergrund Ihrer Argumentation bezüglich
des Kriteriums „aufgewachsen sein“, Frau Kollegin,
sollten Sie sich vielleicht einmal den Artikel von Professor Zimmermann zu Ihrem Gesetzentwurf durchlesen.
Er legt nämlich dar, dass das Kriterium „aufwachsen“
bzw. „aufgewachsen sein“ im Staatsangehörigkeitsrecht
eigentlich schon dann zutrifft, wenn die Eltern dauerhaft
hier leben und das Kind hier geboren ist, da man dann
davon ausgehen kann, dass es in der Regel hier aufwachsen wird. Insofern setzen Sie hier ein Kriterium zweimal
ein.
({5})
Ich fand Ihren Koalitionsvertrag in dem Punkt vollkommen in Ordnung. Was Sie dann umgesetzt haben, finde
ich allerdings nicht mehr in Ordnung. Es ist auch lebensfremd.
({6})
Sie reden sich ja bei allen Problemen auf die Härtefallklausel heraus. Ich habe vorhin schon Herrn Krings
gefragt: Was machen wir eigentlich mit Menschen, die
mit ihrem deutschen Pass die EU-Freizügigkeit wahrnehmen und, wenn sie im Ausland womöglich noch
nicht einmal erfahren haben, dass sie optionspflichtig
sind, plötzlich die deutsche Staatsangehörigkeit verlieren
und dann Drittstaatausländer in einem anderen europäischen Land sind und sich damit die aufenthaltsrechtlichen Fragen für diese jungen Menschen auf einmal neu
stellen? Das zeigt: Ihr Gesetzentwurf ist national gedacht. Sie sind nicht in Europa angekommen.
({7})
Auch Migrantenkinder können innerhalb Europas migrieren und ihre Freizügigkeit wahrnehmen.
Wir haben bei der Bundesregierung ein paar Fälle abgefragt. Was ist zum Beispiel mit denen, die sieben Jahre
in Deutschland gelebt haben, hier fünf Jahre zur Schule
gegangen sind und dann in Österreich Matura gemacht
haben? Nach Ihrem Gesetzentwurf ist nicht klar, was mit
denen passiert. Was ist mit denen, die im Ausland waren
und eine deutsche Auslandsschule besucht haben? Die
haben keinen inländischen Schulabschluss gemacht. Was
ist mit denjenigen, die in Frankreich das Baccalauréat
machen und dann zurückkommen, aber erst nach dem
21. Lebensjahr ihr Bachelorstudium in Germanistik aufnehmen? Haben sie keinen Bezug zu Deutschland? Nach
dem Wortlaut Ihres Gesetzes sind sie alle draußen. Die
Bundesregierung sagt: Das könnten Sachverhalte für einen Härtefall sein. Aber welche Gesetzgebung ist das,
wo der Bürger nicht weiß, unter welche Regelung er
fällt, und alle konkreten Einzelfälle unter eine Härtefallklausel fallen, bei der keiner von Ihnen hier sagen kann,
was das Ausländeramt damit konkret macht,
({8})
und Sie hoffen können, dass das Bundesverwaltungsgericht das irgendwann in zehn Jahren klarstellt? Das ist
keine Integrationspolitik. Das ist schlechte Gesetzgebung!
Sie müssen auch einmal sagen, warum wir bei Kindern zwei Klassen von deutschen Doppelstaatlern haben.
Wir haben einerseits die Kinder, von denen beide Elternteile Ausländer sind. Sie werden durch Geburtsrecht
Deutsche. Dann haben wir die Kinder von binationalen,
also deutsch-ausländischen Ehepaaren, die, weil eine
Deutsche oder einer Deutscher ist, sie also eine deutsche
Abstammung haben, auch beide Pässe haben. Die kommen für die Optionspflicht freilich nicht infrage. Ich
muss Ihnen sagen: Das ist eine ethnische Diskriminierung derjenigen, die keine deutsche Abstammung haben,
weil ihnen eine Pflicht auferlegt wird, die für alle anderen Bürgerinnen und Bürger richtigerweise nicht gilt.
Was muten Sie damit eigentlich dem Bundesrat zu,
der in seinem NPD-Verbot-Schriftsatz gesagt hat, dass
der ethnische Volksbegriff überkommen ist, und sich da
ausdrücklich auf die Staatsbürgerschaftsdiskussion bezogen hat, wenn Sie ihm einen solchen Gesetzentwurf
vorlegen? Deshalb rate ich Ihnen: Denken Sie noch einmal gut nach! Lohnt es den Verwaltungsaufwand wirklich, für eine Handvoll Leute - ein Häuflein Menschen,
wie der DAV sagt - hier dazu zu kommen, dass wir ihnen die Staatsbürgerschaft wieder aberkennen und dafür
jedes Jahr 40 000 Verwaltungsverfahren durchführen?
Der Deutsche Städtetag hat Ihnen ins Stammbuch geschrieben, dass Sie mit den Begriffen beim Härtefall und
mit der Auslegung des „sonstigen Bezugs zu Deutschland“ nicht zurechtkommen, und Ihnen dann noch dargelegt, dass die von Ihnen verlangten Daten der Meldebehörden nach Nummer 4 und 5 bei den Gemeinden
gegenwärtig gar nicht zur Verfügung stehen
({9})
und sie keine Antwort haben für den Fall, dass jemand
zwischendrin seine Meldekarriere in Deutschland durch
einen Auslandsaufenthalt unterbrochen hat; denn dann
sind die Meldedaten nicht mehr miteinander verbunden
und es kommt ein riesiger Sermon an Verwaltung auf sie
zu.
Der Städtetag, die beiden großen Kirchen und der
Deutsche Anwaltverein sagen Ihnen allen: Es ist unver3344
Volker Beck ({10})
hältnismäßig, wegen dieser kleinen Gruppe einen solchen Verwaltungsaufwand zu betreiben. Sie betreiben
ihn ja auch gar nicht wegen dieser kleinen Gruppe; Sie
wollen allen hier sagen: Ihr müsst euch bewähren. Nein, Deutsche müssen sich nicht bewähren. Allen
Deutschen steht nach unserer Verfassung gleiches Recht
zu. Das gilt auch für die Kinder von Menschen, die im
Ausland geboren sind. Deshalb: Machen Sie einen
Schritt in Richtung Integration! Schaffen Sie die Optionspflicht ab! Liebe SPD, Sie haben das noch im Zusammenhang mit dem Koalitionsvertrag Ihren eigenen
Mitgliedern versprochen, als es um die Abstimmung
ging. Nehmen Sie sich unseren Gesetzentwurf oder den
des Bundesrates zum Vorbild, und sagen Sie: Wir beseitigen die Optionspflicht ganz. Das bringt nichts, kostet
nur und funktioniert am Ende nicht, sondern führt nur zu
vielen Verfahren.
Es wäre schön, wenn die Union, die sonst immer gegen Bürokratie ist - ich erinnere mich noch an die
Diskussion über das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz -, hier einmal zu ihrem Wort stünde und sagte: weniger Bürokratie, mehr Bürgerrechte, mehr Weltoffenheit. - So käme Deutschland tatsächlich voran.
({11})
Nächster Redner für die CDU/CSU ist der Kollege
Helmut Brandt.
({0})
Sehr geehrter Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist
noch gar nicht so lange her, da dominierte die Überzeugung, dass Einwanderer, die die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben, vor allem Kinder und Nachfahren, den
deutschen Pass nur unter Aufgabe ihrer ursprünglichen
Staatsangehörigkeit erwerben bzw. behalten können.
Ausdruck dieser Überzeugung waren unter anderem internationale Verträge zur Vermeidung doppelter Staatsangehörigkeit. Dafür gab und gibt es gute Gründe. Aber
wir leben in einer globalisierten, mobilen Welt, und der
Doppelpass wird weltweit zunehmend zur Realität.
Deutschland hat sich sukzessive zu einem Einwanderungsland entwickelt mit einem heute bestehenden hohen Bedarf an Fachkräften.
({0})
Doch worin besteht denn nun eigentlich der Wert eines Passes - für uns Politiker, aber insbesondere für die
Bürgerinnen und Bürger? Staatsangehörigkeit bedeutet
unter anderem Sicherheit und Schutz vor einer Reihe
staatlicher Maßnahmen. Sie bedeutet uneingeschränkten
Zugang zum Arbeitsmarkt, Zugang zu öffentlichen
Dienstleistungen, Recht auf Bildung und Teilhabe, Gesundheitsversorgung und nicht zuletzt - auch ein wichtiger Aspekt - das Recht auf Familienzusammenführung.
Die deutsche Staatsangehörigkeit erleichtert jedem das
Reisen; das ist sicherlich ein zunehmend wichtiges Gut.
Das alles sind sehr praktische Gründe. Die Frage, die
sich mir allerdings aufdrängt, ist, ob eine Staatsangehörigkeit tatsächlich auch einen integrationspolitischen
Wert hat, ob sie das Gefühl der Zugehörigkeit stärkt und
damit unser Zusammenleben fördert.
Abgeordnete von der Linken und vom Bündnis 90/
Die Grünen behaupten immer wieder, die Optionspflicht
sei integrationsfeindlich. Woher das genommen wird, erschließt sich mir, offen gesagt, nicht. Der Wert eines Gutes steigt bekanntlich nicht, wenn es leichter zu erwerben
ist.
({1})
Eine Staatsangehörigkeit, die man bekommt - Herr
Beck, Sie haben ja eben lange genug geredet -, ohne die
Staatsangehörigkeit des Herkunftslandes aufgeben zu
müssen, wird womöglich gerade nicht wertvoller, sondern „billiger“.
Herr Beck, Sie zitieren ja so gerne die juristische
Fachliteratur und den Deutschen Anwaltverein. Mein
Repetitor hat immer gesagt: Was nichts kostet, ist auch
nichts wert.
({2})
Das lag daran, dass man den Repetitor bezahlen muss
und damit offensichtlich der Wert der Anhörung steigt.
({3})
Steigert nicht gerade die Auseinandersetzung mit der
Frage, welche Staatsangehörigkeit man denn nun gerne
behalten möchte, den Wert einer solchen, und fördert
man nicht gerade dadurch die Integration, wenn am
Ende einer solchen Auseinandersetzung das klare Bekenntnis zur deutschen Staatsangehörigkeit steht? Welchen höheren Wert muss zum Beispiel ein junger Mensch
seinem deutschen Pass beimessen, der sechs Jahre in
Deutschland zur Schule ging, dann aber - aus welchen
Gründen auch immer - in das Heimatland seiner Eltern
zurückkehrt und dort lebt? Sicher, er möchte und wird
den Pass aus praktischen Gründen gerne behalten, zum
Reisen und als Sicherheitsgarantie. Aber das ist doch
nicht der Sinn einer Staatsangehörigkeit.
({4})
Gestatten Sie mir deshalb an dieser Stelle eine weitere
Frage: Sollte es nicht unser Ziel sein, dass Menschen, die
in Deutschland leben und hier bleiben möchten, den
deutschen Pass haben möchten, weil sie sich uns zugehörig fühlen und von unserem Land überzeugt sind? Das
ist der Maßstab, den jedenfalls ich an die Staatsangehörigkeit anlege.
Hinter unserer bisherigen Skepsis gegenüber der doppelten Staatsangehörigkeit stand - das gebe ich offen
zu - selbstverständlich auch die Frage, ob wir im GegenHelmut Brandt
zug zur Staatsangehörigkeit auf die Loyalität der Doppelstaatler zählen können. Schließlich reden wir hier
über die deutsche Staatsangehörigkeit und nicht über
eine Parkerlaubnis, wie der Kollege Strobl in der letzten
Debatte über dieses Thema so markant sagte. Staatsangehörigkeit umfasst ein Bündel an Pflichten und Rechten, darunter das Wahlrecht und den Zugang zu öffentlichen Ämtern bis hin zum Beamtentum. Das ist übrigens
ein Punkt, den ich für äußerst wichtig halte. Unser Bestreben muss sein, mehr Menschen mit Migrationshintergrund in das Beamtentum zu bekommen.
({5})
Selbstverständlich müssen wir uns vor diesem Hintergrund fragen, wer in den Genuss dieser Rechte kommen
soll und muss, und wir sollten so weit wie möglich sicherstellen, dass diese Rechte nicht missbraucht werden.
Sie haben es selbst erwähnt, Frau Dağdelen: Weil
Menschen mit türkischem Hintergrund den proportional
größten Anteil ausmachen, möchte ich - das habe ich
vorhin etwas vermisst - auf Ihren bzw. auf den - Gott sei
Dank nicht Ihren - Ministerpräsidenten Erdogan zu sprechen kommen.
({6})
- Ich wollte von Ihnen ja nur die Bestätigung, dass es
nicht Ihr Ministerpräsident ist.
({7})
- Genau. Das frage ich sie auch. - Aber lassen Sie mich
einfach einmal ausreden; Sie haben ja schon genug dazwischengerufen.
Erdogan hat bekanntlich eine Behörde ins Leben gerufen, die sich speziell an die im Ausland lebenden Türken wendet, und verfolgt damit offenkundig das Ziel, sie
für seine speziellen Interessen zu gewinnen. Dass jedenfalls die aktuelle Regierung der Türkei im Vergleich zu
uns eine andere Vorstellung von Demokratie hat, hat
Präsident Erdogan in der jüngsten Vergangenheit mehr
als einmal gezeigt. Sein jüngster Besuch in Köln zeigte
einmal mehr, dass er völlig unbeeindruckt von zahlreichen hier lebenden türkischen Gegendemonstranten versucht, im Zuge des Wahlkampfes hier lebende Landsleute für seine Ziele zu gewinnen.
({8})
- Sie müssen all das, was Sie dazwischenrufen, einmal
zu Ende denken. Dann kommen Sie zu dem gleichen Ergebnis wie ich.
Dass ausländische Staatspräsidenten, noch dazu auf
deutschem Boden, versuchen, Menschen mit doppelter
Staatsbürgerschaft für ihre Ziele zu vereinnahmen, die
nicht zwangsläufig mit unseren Wertvorstellungen übereinstimmen,
({9})
empfinde ich als grotesk, Herr Beck, und Sie sollten das
auch tun.
({10})
Das kann doch nicht in unserem Interesse sein. Man
stelle sich nur vor, unsere Bundeskanzlerin würde demnächst als Parteivorsitzende Wahlkampf auf Mallorca
machen. Ich würde gerne einmal sehen, was die Spanier
zu einem solchen Auftritt sagten.
({11})
- Es gibt Leute, die vor nichts zurückschrecken, Herr
Beck. Dazu gehören Sie auch.
({12})
- Sie können den Saal ja verlassen. In unserem Land gibt
es die Freiheit, dass man sich alles anhören kann, aber
nicht anhören muss.
Ich will ein weiteres Beispiel dafür anführen - das ist
schon angeklungen -, welche Probleme die Doppelstaatigkeit mit sich bringt. Der Zeit-Chefredakteur Giovanni
di Lorenzo hat im Fernsehen offen bekundet, dass er bei
der Europawahl sowohl in Deutschland als auch in seinem Konsulat gewählt hat.
({13})
- Herr Beck, wir werden das prüfen lassen. - Ich glaube,
8 Millionen Menschen könnten von einer solchen Möglichkeit Gebrauch machen. Deshalb muss man sich doch
die Frage stellen: Haben sie ein doppeltes Wahlrecht?
({14})
Ist die Europawahl damit noch gültig?
Wie ich eingangs bereits sagte, leben wir in einer globalisierten Welt, und der Doppelpass wird zunehmend
selbstverständlich. Die Bundesregierung hat nun einen
Gesetzentwurf vorgelegt, der junge Menschen nicht mehr
in die für sie - jedenfalls teilweise - offensichtlich unangenehme Situation bringt, sich zwischen zwei Staatsbürgerschaften entscheiden zu müssen, wenn sie hier geboren und aufgewachsen sind. Die Entscheidung zwischen
der deutschen Staatsangehörigkeit und der des Herkunftslandes der Eltern, ist - zumindest zum Teil - ein
Problem für diese jungen Migranten, die hier geboren
sind und hier leben wollen. Diese Gruppe wollen wir
durch diese Neuregelung entlasten.
Bei aller Erleichterung aufseiten der vehementen Befürworter der doppelten Staatsangehörigkeit sollten wir
eines aber nicht vergessen: Das Problem, um das es hier
eigentlich geht, nämlich die Integration dieser jungen
Menschen, ist kein politisches, sondern ein gesellschaftliches Problem. Integration ist nicht durch einen Verwaltungsakt zu erreichen und kann auch nicht verordnet
werden. Integration findet in den Schulen, im Arbeitsleben, in der kulturellen und gesellschaftlichen Praxis und
nicht zuletzt natürlich in der eigenen Familie statt.
({15})
- Frau Künast, wenn Sie es nicht verstehen, sage ich es
für Sie gleich vielleicht noch einmal deutlicher.
({16})
- Sie können noch so viel brüllen: Es nutzt nichts. Sie
müssen sich meine Argumente trotzdem anhören.
({17})
Seit 2005 haben wir als CDU/CSU gemeinsam mit
unseren jeweiligen Koalitionspartnern sehr viel für Zuwanderer getan. Mit Blick auf die demografische Entwicklung haben wir in den letzten Jahren begonnen, Zuwanderung aktiv zu steuern und klare gesetzliche
Vorgaben zu schaffen, um Zuwanderern den Start in
Deutschland zu ermöglichen und ihren Integrationsprozess zu fördern. Seitdem sind über 1 Milliarde Euro in
Integrationsmaßnahmen und Sprachkurse geflossen, und
zwar mit steigender Tendenz. Diesen Weg wollen und
müssen wir fortsetzen.
({18})
- Das trifft auf eine Gruppe von Menschen zu, natürlich.
Aber Herr Beck spricht ja immer von den Minderheiten.
Es gibt eben auch Zuwanderer, die Schwierigkeiten mit
der deutschen Sprache haben.
Eines steht fest: Das Wohlergehen und der Zusammenhalt einer Gesellschaft werden gestärkt, wenn alle
Beteiligten, seien sie Einheimische oder Zuwanderer, ein
Gefühl der Zugehörigkeit empfinden. Staatsangehörigkeit auf eine Weise zu verleihen, die uns bei diesem Ziel
voranbringt, ist die eigentliche Herausforderung, der wir
uns stellen müssen, wenn wir auch in Zukunft eine stabile soziale und ökonomisch erfolgreiche Gesellschaft
sein wollen.
({19})
Wenn wir nun die hier lebenden jungen Migranten, die
hier geboren sind und hier leben wollen, entlasten können, indem wir die Optionspflicht durch eine praktikable
Neuregelung ihrer Lebenswirklichkeit anpassen, dann
sollten wir dies tun.
Trotzdem wollen und müssen wir sicherstellen, dass
die betroffenen Personen einen konkreten Bezug zu
Deutschland haben. Ich kann darin beim besten Willen,
Herr Beck, keine Zumutung für die Betroffenen erkennen. Ich fände es im Gegenteil völlig realitätsfern, unangemessen und gefährlich, wenn wir dies an keine Voraussetzungen binden würden. Wir wollen und brauchen
hier Menschen, die gut integriert sind, die die deutsche
Sprache sprechen, die unsere Werte nicht nur kennen,
sondern sie auch teilen. Das ist die Zukunft für uns und
unser Land.
({20})
Es ist ein guter Kompromiss, den die Koalition hier gefunden hat. Ich bitte um Ihre Zustimmung.
({21})
Ich erteile jetzt das Wort für eine Kurzintervention
dem Kollegen Volker Beck.
Ich möchte jetzt nicht auf die Argumente von Ihnen
eingehen, Herr Brandt, sondern nur eine Sache klarstellen. Giovanni di Lorenzo konnte zweimal abstimmen,
nicht weil er einen deutschen und einen italienischen
Pass hat, sondern weil er einen italienischen Pass hat und
in Deutschland lebt. Gegenwärtig ist es so, dass wir, obwohl das nach dem Europäischen Wahlakt und auch
nach dem Europawahlgesetz nicht zulässig ist, keine organisatorischen Vorkehrungen getroffen haben, um solche Doppelabstimmungen durch ein einheitliches Wahlregister zu verhindern. Das ist ein Defizit bei der
Exekution des Gesetzes durch die Verwaltung. Das hat
mit dem Besitz von zwei oder drei Pässen oder einem
Pass überhaupt nichts zu tun.
({0})
Damit die Bürgerinnen und Bürger das wissen, wollte
ich das hier richtigstellen.
Sie haben auch den Auftritt von Herrn Erdogan in
Köln angesprochen. Frau Dağdelen und ich haben auf
der Gegendemonstration zusammen mit Ihrem Kollegen
Hirte gesprochen und mit 50 000 Deutschen, Türken und
Kurden gegen diesen Auftritt demonstriert. Aber ich
habe auch schon deutsche Politiker Wahlkampf in SpaVolker Beck ({1})
nien machen sehen. Schauen Sie einmal in den Gazetten
nach, was die FDP im Wahlkampf alles gemacht hat. Ich
weiß, dass das auch manche bei uns machen. Das ist
nicht ehrenrührig. Die Politik, die Herr Erdogan macht,
ist anzugreifen, nicht aber die Tatsache, bei einer Gemeinde im Ausland aufzutreten und mit den Menschen
zu diskutieren. Wir sollten dies auseinanderhalten. In Ihrer Rede klang das so: Wenn das ein Türke macht, ist es
schlimm. Wenn das ein deutscher Politiker auf Mallorca
macht, ist es nicht mehr so schlimm. - Das erschließt
sich mir nicht, es sei denn, Türken und Deutsche unterscheiden sich doch so wesentlich.
({2})
Herr Kollege Brandt, wollen Sie auf die Kurzintervention erwidern?
Ja, gerne. - Herr Beck, ob es zulässig war oder nicht,
was Herr di Lorenzo gemacht hat, spielt im Endeffekt
doch keine Rolle und kann hier und heute gar nicht entschieden werden.
({0})
- Sie rufen ja immer noch dazwischen. - Aber mit diesem Beispiel wollte ich nur deutlich machen, dass Doppelstaatigkeit auch Probleme mit sich bringt
({1})
und dass diese Probleme sich dann auch - und in diesem
Zusammenhang ist das erwähnt worden - manifestieren.
Was die andere Frage angeht, Herr Beck, ob und welche Menschen im Ausland für ihre Sache werben: Ich
habe kein Problem damit, dass jemand das tut. Ich frage
nur, ob das richtig und sinnvoll ist. Ich denke, dass Herr
Erdogan - ich bin froh, dass Sie unter denen waren, die
dagegen demonstriert haben - genug damit zu tun hätte,
in seinem Heimatland für Ordnung zu sorgen, statt sich
in Köln von Menschen bejubeln zu lassen, die er hier in
Deutschland bewusst für seine Sache in Anspruch
nimmt. Genau das kritisiere ich. Davor will ich aber
auch warnen. Wir müssen doch davon ausgehen können,
dass Menschen, die dauerhaft in Deutschland leben und
die ich alle sehr schätze, sich auch zu uns bekennen,
statt irgendjemandem nachzulaufen, der in Deutschland
Wahlkampf betreibt.
({2})
Vielen Dank. - Frau Kollegin Jelpke, jetzt haben Sie
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu Beginn
will ich anhand eines aktuellen Beispiels erläutern, warum die Zulassung der doppelten Staatsbürgerschaft so
wichtig für die Demokratie ist. Beim Volksentscheid in
Berlin zum Tempelhofer Feld konnten nur diejenigen abstimmen, die einen deutschen Pass haben. Es ging darum, ob dieses Feld eine Fläche für Freizeit, Erholung
und Sport bleibt. Aber diejenigen, die dort leben, jedoch
keinen deutschen Pass haben - das sind knapp eine halbe
Million Menschen -, waren ausgeschlossen. Dieses demokratische Defizit, dass Menschen an Entscheidungen,
die sie unmittelbar betreffen, nicht beteiligt werden, darf
es in Deutschland nicht mehr geben.
({0})
Auch bei den Wahlen ist es regelmäßig so: Ein großer
Teil der Bevölkerung ist ausgeschlossen, weil ihm der
deutsche Pass bzw. das richtige Papier fehlt. Wer Einbürgerung erschwert, der erschwert oder verhindert demokratische Teilhabe und Gleichberechtigung. Wir dürfen
im 21. Jahrhundert solche demokratiefeindlichen Zonen
nicht mehr zulassen.
({1})
Nach den Bundestagswahlen war - das wurde schon
angesprochen - gerade von der SPD immer wieder zu
hören: Die doppelte Staatsbürgerschaft muss her. Meine
Kollegin hat schon Sigmar Gabriel zitiert:
Ich werde der SPD keinen Koalitionsvertrag vorlegen, in dem die doppelte Staatsbürgerschaft nicht
drin ist.
Man kann nicht oft genug wiederholen, dass dieses Versprechen gegeben wurde. Aber wenige Wochen später
waren diese markigen Worte vom Tisch. Es sollte jetzt
nicht einmal mehr die Abschaffung der Optionsregelung
geben, nach der sich viele junge Menschen zwischen der
deutschen Staatsangehörigkeit und der ihrer Eltern entscheiden müssen. Das ist übrigens nicht nur eine Riesenblamage für den Vorsitzenden der SPD und Vizekanzler,
sondern, wie ich finde, auch für die SPD. Diese Vorwürfe müssen Sie sich gefallen lassen: Es ist Wahlbetrug
an den Wählern und Wählerinnen, und für die Betroffenen ist es eine riesengroße Enttäuschung.
({2})
Meine Damen und Herren, auch in diesem Haus ist in
den vergangenen Monaten viel von Willkommenskultur,
einer Anerkennung der Verdienste von Einwanderern
und einer offenen Gesellschaft die Rede gewesen. Doch
was folgt aus diesen hehren Worten? Angesichts der bisherigen Bilanz dieser Bundesregierung kann ich nur sagen: Es ist weniger als nichts.
Ich will ein weiteres Beispiel dafür anführen. Im Entwurf des Haushalts für das laufende Jahr sind 200 Millionen Euro für Integrationskurse eingestellt. Das hört
sich erst einmal viel an. Tatsächlich liegt der Bedarf aber
weit höher. Das wissen Sie von der Union ganz genau.
Das hat nämlich sogar das Innenministerium einge3348
räumt; es hat gesagt, dass schon nach bisheriger Planung
46 Millionen Euro fehlen.
Bei den Beratungsstellen für Migrantinnen und Migranten werden Kürzungen vorgenommen. Spezielle
Kurse für Frauen werden zusammengestrichen. Gerade
von der Union kommt immer wieder das Argument, dass
die Einbürgerung am Ende des Integrationsprozesses
stehen muss. Sie verweigern aber mit solchen Sparmaßnahmen genau diesen letzten Schritt zur Integration. Sie
legen den Menschen damit schon vorher Steine in den
Weg. Das Herumstolpern dieser Bundesregierung beim
Staatsangehörigkeitsrecht steht in einer Linie mit der
verfehlten Integrationspolitik. Ich möchte darauf hinweisen, dass das zusammengehört.
({3})
Meine Damen und Herren von der konservativen
Seite, Sie halten den Inhabern zweier Staatsangehörigkeiten immer wieder - soeben haben wir es auch gehört - einen Loyalitätskonflikt vor; man könne nicht
Diener zweier Herren sein. Aber ich finde, dass es ein
Treppenwitz der Geschichte ist, dass solche Argumente
von einer Partei kommen, die in Niedersachsen sogar einen Ministerpräsidenten mit doppelter Staatsangehörigkeit gestellt hat.
({4})
David McAllister war der erste Ministerpräsident mit
doppelter Staatsangehörigkeit in der Geschichte der
Bundesrepublik. Ich kann Sie nur aufrufen: Kommen Sie
doch endlich in der Realität an! Mehrfache Staatsbürgerschaften schwächen die Demokratie nicht, sondern stärken sie, weil sie mehr Menschen zu demokratischer Teilhabe und Mitwirkung berechtigen, nach dem Motto „Ein
Mensch, eine Stimme“.
({5})
Die Linke hat in eigenen Anträgen schon zu Beginn
dieser Legislaturperiode die Anforderungen an ein
modernes und fortschrittliches Staatsangehörigkeitsrecht
genannt. Dazu gehört in erster Linie: Mehrstaatlichkeit
muss bei Einbürgerung und Geburt in Deutschland generell hingenommen werden. Hier noch einmal ganz deutlich gesagt: Nicht nur in anderen EU-Staaten, sondern
auch in den USA, Israel sowie in vielen anderen Ländern
dieser Welt ist es eine Selbstverständlichkeit, dass ein
Mensch die Staatsbürgerschaft des Landes erhält, in dem
er geboren wurde. Er muss sich nicht verbiegen und
irgendwelche Schul- und Ausbildungsabschlüsse nachweisen, wie es bei uns der Fall ist. Das kann doch wohl
nicht sein.
({6})
Nur in Deutschland gibt es nun enorme Hürden. Ich
will betonen: Die Optionsstaatsbürgerschaft wird nicht
abgeschafft. Ist es nicht komisch, dass bei vielen doppelten Staatsbürgerschaften wie bei der des ehemaligen
Ministerpräsidenten von Niedersachsen überhaupt kein
Problem besteht? Aber einer großen Gruppe unserer
Bevölkerung, deren ursprüngliches Herkunftsland die
Türkei ist, werden Steine in den Weg gelegt.
Frau Kollegin Jelpke, denken Sie an die Redezeit!
Ich komme sofort zum Ende. - Gegen diese
Ungleichheiten treten wir an. Es gibt keinen Grund, der
es rechtfertigt, nicht endlich die doppelte Staatsbürgerschaft für alle einzuführen. Dafür wird die Linke weiterhin streiten; denn das ist das Einzige, was demokratieförderlich sein wird.
Danke schön.
({0})
Für die Sozialdemokraten spricht jetzt die Kollegin
Dr. Eva Högl.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir diskutieren heute in erster Lesung hier im
Deutschen Bundestag mit dem Zweiten Gesetz zur Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes über ein zweites wichtiges Gesetz der Großen Koalition nach dem
Gesetz zur Einführung eines Mindestlohns, über das wir
vorhin beraten haben, und damit über ein Thema, das zu
den Prioritäten der Großen Koalition gehört. Mit diesem
Gesetz wollen wir - ebenso wie mit dem Gesetz zum
Mindestlohn - Verbesserungen für viele Menschen in
diesem Land erreichen.
({0})
Mit diesem Gesetz zur Staatsangehörigkeit verändern
wir unsere Gesellschaft; das ist uns sehr wichtig. Wir
machen also einen großen Schritt nach vorne.
Nach vielen Jahren gesellschaftlicher Diskussion
- wir haben um das Für und Wider gerungen - legen wir
nun den Entwurf eines Gesetzes zur Aufhebung der
Optionspflicht vor. Es ist ein wirklicher Erfolg, dass uns
das gelingt.
({1})
Das stellt eine wichtige Verbesserung für viele junge
Menschen mit Migrationshintergrund in unserer Gesellschaft dar. Wir tragen dazu bei, dass unser Staatsangehörigkeitsrecht weiter modernisiert wird. Das ist ein
wichtiges Signal und eine wichtige Reform.
({2})
Ich finde es sehr gut, dass dieses wichtige Thema zu
den ersten großen Projekten der Großen Koalition
gehört. Deswegen möchte ich an dieser Stelle ganz ausdrücklich Bundesinnenminister Thomas de Maizière - er
ist heute nicht da, aber Sie nehmen den Dank stellvertretend entgegen -, Bundesjustizminister Heiko Maas - der
Staatssekretär nimmt den Dank entgegen - und unserer
Staatsministerin Aydan Özoğus - sie ist da - danken,
weil sie an einem Kompromiss gearbeitet haben und uns
hier - wir beraten das Gesetz heute in erster Lesung - einen wirklich guten Vorschlag vorlegen. Herzlichen Dank
dafür.
({3})
Ich sage einmal ganz deutlich hier: Wir haben das im
Koalitionsvertrag vereinbart, und wir halten unser Wort.
Natürlich ist das ein Kompromiss.
({4})
Das wissen alle hier im Haus. Die Rede von Herrn
Brandt hat gezeigt, dass auch wir in der Koalition verschiedene Akzente setzen und Unterschiede haben. Es
ist ein offenes Geheimnis, dass einige mehr wollen - davon sitzen einige in den Reihen der SPD-Bundestagsfraktion ({5})
und einigen das, was wir heute diskutieren und dann vor
der Sommerpause verabschieden werden, vielleicht
schon zu viel ist.
({6})
Aber wir haben uns darauf verständigt, und deswegen
ist der Gesetzentwurf über die Abschaffung der Optionspflicht, über den wir heute beraten, ein erster wichtiger
Schritt. Es ist ein guter Vorschlag, über den wir beraten.
({7})
Ich möchte ganz kurz zurückblicken - ich will das
nicht lange ausführen; es ist schon gesagt worden, woher
die Optionspflicht kommt - und daran erinnern, dass
das, was uns alle geschmerzt hat, ist, dass mit diesem
Optionszwang junge Menschen zu Deutschen auf Probe
wurden. Das ist etwas, was wir nicht akzeptieren und
was nicht sein darf. Deswegen schaffen wir den Optionszwang ab. Niemand, der oder die hier in Deutschland geboren ist, ist bei uns Deutscher oder Deutsche auf Probe.
Das ist ein wichtiges Signal.
({8})
Ich erinnere die Grünen daran, dass der Optionszwang nicht einfach so in das Gesetz gekommen ist.
({9})
Wir haben unter Rot-Grün gemeinsam das Staatsangehörigkeitsrecht 1999 reformiert. Das war ein ganz großer
Schritt weg vom Abstammungsprinzip hin zum Prinzip
des Geburtsortes. Wir machen jetzt, 15 Jahre danach,
den nächsten Schritt mit der Abschaffung der Optionspflicht, die uns schon immer geschmerzt hat.
({10})
Das Optionsmodell war im Übrigen auch ein Integrationshemmnis in unserer Gesellschaft; denn wenn wir
jungen Leuten sagen, sie seien Deutsche auf Probe, dann
sind sie auch auf Probe in unserer Gesellschaft.
({11})
Dieses Signal wollen wir nicht mehr senden. Wir wollen
vielmehr sagen: Ihr alle seid hier herzlich willkommen,
ihr gehört dazu,
({12})
ihr seid Teil unserer Gesellschaft, und wir stellen deswegen keine hohen Hürden auf, damit ihr Deutsche werdet.
Mir ist es ganz wichtig, nach der Rede von Herrn
Brandt eines zu sagen: Natürlich ist die Frage der Loyalität zu einem Staat keine einfache Frage. Wir wissen,
dass in Ihren Reihen die Frage eine große Bedeutung
hat, ob man überhaupt eine Loyalität zu zwei Staaten haben kann und ob es zwei Staatsangehörigkeiten geben
kann. Wir glauben, dass man in unserer Gesellschaft
mittlerweile ganz viele Identitäten haben kann. Man ist
Berlinerin, so wie ich, man kommt ursprünglich aus
Niedersachsen oder woanders her, man ist Europäerin,
wenn man in anderen Ländern ist. So sehen wir an vielen
konkreten Beispielen in unserer Gesellschaft, dass die
Identitäten ganz bunt und vielfältig sind und von dem
jeweiligen Kontext abhängen. Sie sind keine Gefahr für
unsere Gesellschaft, sondern es ist eine Bereicherung,
wenn wir mehrere Identitäten haben.
({13})
Auch zwei Staatsangehörigkeiten können eine Bereicherung sein. Vor allen Dingen ist es wichtig, dass wir
nicht die Wurzeln der Menschen kappen, die sie haben,
die Wurzeln ihrer Familie, ihrer Eltern und Großeltern.
Wir müssen ihnen vielmehr signalisieren: „Diese Wurzeln kappen wir nicht, sondern ihr könnt sie behalten“,
und das mit der Staatsangehörigkeit zum Ausdruck bringen.
({14})
Ich möchte noch an Folgendes erinnern: Für mich war
es ein sehr bewegender Moment, als wir am 23. Mai im
Deutschen Bundestag den 65. Geburtstag des Grundgesetzes gefeiert haben und hier Navid Kermani gesprochen hat, ein Deutscher, in Deutschland geboren, mit
iranischen Wurzeln, ein Muslim. Wir hatten ihn eingeladen, das Jubiläum unseres deutschen Grundgesetzes zu
feiern. Das empfand ich als eine ganz starke Geste
({15})
und ein ganz starkes Signal in unsere Gesellschaft hinein. Er hat uns sehr viel mitgegeben. Dass das möglich
ist, zeigt, dass man mit vielen Identitäten umgehen kann
und dass mehrere Identitäten und damit auch mehrere
Staatsangehörigkeiten überhaupt kein Problem, sondern,
wie ich schon sagte, eine Bereicherung sind.
Insofern ist das, was wir heute besprechen - die
Abschaffung der Optionspflicht -, für die betroffenen
Personen ganz wichtig. Wir orientieren uns dabei nicht
an Einzelfällen, die vielleicht schwierig sind, nicht an
Problemen, die es vielleicht im Zusammenhang mit dem
Nachweis des Bezugs zu Deutschland gibt. Vielmehr
orientieren wir uns an der Mehrheit der Fälle: Das sind
beinahe 40 000 junge Menschen jährlich, für die die Optionspflicht entfällt. In über 90 Prozent der Fälle brauchen wir überhaupt keine weitere Prüfung, sondern allein die melderechtliche Lage dient dazu, gleich sagen
zu können: Du kannst beide Staatsangehörigkeiten behalten, und du bist vollständig integriert. Du gehörst
dazu, und wir müssen nichts weiter überprüfen. - Der
Erfolg besteht darin, dass wir dies für die große Mehrheit ermöglichen. Allein dafür lohnt sich dieses Gesetz.
({16})
Uns als SPD war es besonders wichtig, deutlich zu
machen, dass die Mehrheit der Menschen nicht zum Amt
muss, dass wir keinen bürokratischen Aufwand betreiben und dass wir die Mehrheit der Menschen nicht zu
einer Aktivität verpflichten, sondern dass von vornherein für viele klar ist, dass sie zwei Staatsangehörigkeiten bekommen können, Stichwort „wenig Verwaltungsaufwand“. Aber natürlich geht es nicht ganz ohne
Verwaltungsaufwand. Denn selbstverständlich müssen
wir in einzelnen Fällen die entsprechenden Voraussetzungen prüfen. Dafür gibt es logischerweise Kriterien.
Wir legen diese Kriterien an, weil wir vereinbart haben, dass diejenigen, die hier geboren und aufgewachsen
sind, unbefristet die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten, aber auch, weil die Staatsangehörigkeit natürlich
keine Bagatelle ist. Das ist klar geworden, und das betone ich hier noch einmal. An die Staatsangehörigkeit
sind viele Rechte und auch Pflichten geknüpft, die nicht
unwesentlich sind, zum Beispiel die Übernahme des
Amtes eines Schöffen, einer Wahlhelferin, eines Wahlhelfers oder ähnlicher Dinge in unserer Gesellschaft.
Vieles ist an die Staatsangehörigkeit geknüpft, nicht nur
das Wahlrecht als solches, sondern eben auch andere
Dinge. Deswegen müssen wir genau schauen, was mit
der Staatsangehörigkeit verbunden ist. Dafür brauchen
wir bestimmte Kriterien.
Einen Punkt möchte ich noch ansprechen - dabei
blicke ich in die Richtung des Koalitionspartners -,
Stichwort „Altfälle“; kein schöner Begriff. Es geht dabei
um die Frage, was wir mit denjenigen machen, die eine
Staatsangehörigkeit jetzt schon haben zurückgeben müssen, die also eine Staatsangehörigkeit verloren haben,
obwohl sie mit Blick auf den von uns unterschriebenen
Koalitionsvertrag eigentlich hätten Deutsche bleiben und
auch Türkinnen und Türken sein können.
({17})
Ich wäre sehr dankbar - wir beraten diesen Gesetzentwurf heute in erster Lesung -, wenn wir noch einmal darüber ins Gespräch kommen könnten, um zu klären, ob
wir für die infrage kommenden wenigen Hundert jungen
Menschen eine Regelung finden können,
({18})
damit wir ihnen sagen können: Auch ihr seid von dieser
Reform betroffen. Auch für euch eröffnen wir eine Möglichkeit zur doppelten Staatsangehörigkeit. Auch ihr
könnt beide Staatsangehörigkeiten haben. Auch euch
umfasst dieser Gesetzentwurf. - Wenn wir dazu noch
einmal beraten könnten, würden jedenfalls wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten uns sehr freuen.
({19})
Ich sage es noch einmal: Ein guter Kompromiss liegt
zur Beratung vor. Ich freue mich auf die weiteren Beratungen hier bei uns im Deutschen Bundestag, und vor
allen Dingen freue ich mich, dass wir in der Koalition
vereinbart haben, diesen Gesetzentwurf noch vor der
Sommerpause zu verabschieden. Es wäre ein ganz
starkes Signal und eine schöne Sache, wenn wir vor der
Sommerpause sagen könnten: Wir haben die Optionspflicht abgeschafft. Es gibt die Möglichkeit einer doppelten Staatsangehörigkeit. - Das ist ein erster Schritt,
aber ein wichtiger Schritt. Wir Sozialdemokratinnen und
Sozialdemokraten bleiben an diesem Thema dran, und
wir wollen noch weitere Schritte machen. Dazu werden
wir weitere Anläufe unternehmen.
Herzlichen Dank.
({20})
Vielen Dank, Frau Kollegin Högl, auch für die punktgenaue Landung und Ausschöpfung der Redezeit.
Nächster Redner ist für Bündnis 90/Die Grünen der
Kollege Özcan Mutlu.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich
möchte hier einmal deutlich sagen: Hören Sie einfach
auf mit dem Märchen, dass Sie die Optionspflicht abschaffen.
({0})
Sie schaffen sie nicht ab, Sie heben sie nicht auf; denn
§ 29 des Staatsangehörigkeitsgesetzes bleibt.
({1})
Dieser Paragraf bleibt nicht nur, sondern er wird in seinen Ausführungen sogar noch präzisiert, wodurch ein
Bürokratiemonster geschaffen wird. Das ist offensichtlich. Das sehen Sie zum Beispiel, wenn Sie sich § 34 des
Staatsangehörigkeitsgesetzes anschauen. Darin steht,
was alles für Pflichten die Meldebehörden plötzlich bekommen. Sie ignorieren die Lage vor Ort bei den Kommunen, bei den Ländern und geben den Behörden dort
Aufgaben, die sie vermutlich gar nicht lösen können.
Zum Beispiel sollen die Meldebehörden wissen und der
zuständigen Staatsangehörigkeitsbehörde melden - und
das bis zum zehnten Tag jedes Kalendermonats -, wo
welcher Optionspflichtige lebt. Das soll keine Bürokratie sein? Das soll eine Abschaffung der Optionspflicht
sein? Hören Sie auf mit diesem Märchen, und belügen
Sie die Bürgerinnen und Bürger nicht!
({2})
Diese melderechtliche Sache ist ein richtiges Problem
und wichtiger Punkt; denn das zeigt genau, dass Sie
überhaupt nicht daran interessiert sind, die Optionspflicht abzuschaffen.
Ich habe den Kollegen von der Union zugehört. Der
Herr Krings hat gesagt: Man kann stolz sein auf dieses
Staatsangehörigkeitsgesetz. - Tut mir leid; ich bin nicht
stolz darauf. Ein modernes Staatsangehörigkeitsgesetz,
lieber Kollege Krings, sieht anders aus. Wenn tatsächlich
nur 5 Prozent der Optionspflichtigen von der neuen Regelung betroffen sind, warum nehmen wir dann die restlichen 95 Prozent in Haftung? Warum schaffen wir dieses Bürokratiemonster? Warum sagen wir nicht, wie
unser Bundespräsident es getan hat: „Jeder, der hier zur
Welt kommt, dessen Eltern legal in unserem Land leben,
bekommt aufgrund des ius soli bedingungslos die deutsche Staatsbürgerschaft“? Punkt. Aus.
({3})
Da kann ich nur sagen: Hören Sie auf den Bundespräsidenten!
Und kommen Sie mir nicht immer wieder mit Geschichten von Erdogan und der Türkei! Damit zeigen Sie
nur, dass es Ihnen anscheinend um eine Lex Türkei geht.
Während in der Kölnarena 20 000 Leute Erdogan zugehört haben, haben draußen 50 000 ihr demokratisches
Recht genutzt und gegen ihn demonstriert.
({4})
Hören Sie also auf mit der Frage der Illoyalität oder der
fehlenden Loyalität zu diesem Land!
Außerdem: Deutschland und die Türkei als NATOPartner werden nie gegeneinander Krieg führen, sodass
auch die Frage „Wo diene ich?“ irrelevant ist. Es ist einfach unsinnig, darüber zu reden.
({5})
Herr Krings hat in seiner Rede irgendetwas von
Volkszugehörigkeit und von Heimatrecht gesagt und solche Begriffe verwendet. Ich habe mich da gefragt: Welchen Redezettel benutzt er? Den von vor zehn Jahren,
oder was? Wir sind doch viel weiter. Wir haben zum Jahr
2000 das Staatsangehörigkeitsgesetz reformiert und uns
von dem Wilhelminischen Gesetz, das auf dem Blutsrecht basierte, verabschiedet. Wir haben das ius soli,
wenn auch nicht vollständig, aber optional. Deshalb: Die
Staatsangehörigkeit ist hier wichtig und nicht die Volkszugehörigkeit; das sollten Sie als Staatssekretär inzwischen auch gemerkt haben, Herr Krings.
Wir wollen weiter gehen als Sie. Wir wollen gern das
umsetzen, liebe Frau Staatsministerin Özoğuz, was Sie
am 29. März 2014 - also in diesem Jahr, nicht irgendwie
vor drei Jahren oder im Wahlkampf - gesagt haben, etwa
in der FAZ nachzulesen: Das Ziel der SPD bleibt die
volle Abschaffung der Optionspflicht. - Wir nehmen Sie
beim Wort.
({6})
Lassen Sie uns gemeinsam etwas dafür tun! Lassen Sie
sich nicht mit solchem Unsinn und Murks von der Union
über den Tisch ziehen!
Es ist keine Abschaffung, was Sie hier betreiben; es
ist einfach eine Mogelpackung. Wenn Ihnen junge
Leute, denen Sie natürlich erzählen, was Sie Tolles geleistet haben, sagen: „Wir sind zufrieden mit dem Gesetz“, dann kann ich Ihnen nur raten: Geben Sie denen
diesen Entwurf, den Sie vorgelegt haben! Dann werden
die jungen Leute sehr wohl sagen, was das für eine Mogelpackung ist. - Mit diesem Entwurf sind wir auf keinen Fall einverstanden.
({7})
Hier ist des Öfteren Hessen zitiert worden. Ich kann
Ihnen wirklich sagen: Ein Freund der hessischen CDU
bin ich nie gewesen, werde ich auch nicht so ohne Weiteres; aber wenn diese hessische CDU, die noch 1999
auf der Straße Unterschriften gegen die doppelte Staatsbürgerschaft gesammelt hat und gegen Migranten gewettert hat, heute in einem schwarz-grünen Koalitionsvertrag unterschreibt, dass sie quasi der eingeschränkten
Abschaffung des Optionsmodells zustimmt,
({8})
dann ist das doch ein Schritt. Seien Sie doch zufrieden!
Was wollen Sie denn? Ich bin nicht unzufrieden damit.
Ich denke, die CDU in Hessen wird auch noch weiter dazulernen.
Herr Präsident, ich komme zum Schluss. - Ich bin gespannt auf die Beratungen in den Ausschüssen. Ich
hoffe, dass das, was Frau Högl hier angekündigt hat,
auch tatsächlich umgesetzt wird und der Entwurf der
Bundesregierung hinsichtlich der Altfälle verändert und
weiter verbessert wird.
Herr Kollege Mutlu, der Kollege Reichenbach
möchte Ihnen noch eine Zwischenfrage stellen.
Ja, bitte.
Herr Kollege, können Sie mir die Logik Ihres Satzes
von vorhin erklären? Auf der einen Seite sagen Sie, dass
die Tatsache, dass die CDU in Hessen diesen großen
Schritt gegangen ist, indem sie den Koalitionsvertrag unterschrieben hat, eine ganz enorme Leistung der Grünen
sei. Auf der anderen Seite behaupten Sie, dass das Bestreben der SPD, die CDU auf Bundesebene zu diesem
großen Schritt in Richtung der Position der SPD zu bewegen, eine kritikwürdige Leistung sei.
({0})
Wir haben in Hessen nicht gesagt, wir unterschreiben
keinen Koalitionsvertrag, in dem nicht eine doppelte
Staatsbürgerschaft enthalten ist. Das haben Sie gesagt.
({0})
Wir kämpfen in Hessen weiterhin dafür. Aber ich bin
Bundestagsabgeordneter, und ich bin gespannt auf die
Debatten in den Ausschüssen.
Ich danke Ihnen.
({1})
Nächster Redner ist für die CDU/CSU der Kollege
Michael Frieser, dem ich hiermit das Wort erteile.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Ich glaube, dass wir gerade eine Sternstunde der logischen Beweisführung erlebt haben.
({0})
Ich bin gespannt, ob es uns gelingt, diese Debatte - damit greife ich ein Wort eines ehemaligen Bundespräsidenten auf - unverkrampft zu führen.
Der Kollege hat gerade in seinem Beitrag einen etwas
laxen Tonfall gewählt. Ich erlaube mir daher, angesichts
der bevorstehenden Fußballweltmeisterschaft dieses
vielleicht etwas laxe Bild vom Doppelpass zu wählen.
Dieses taktische und strategische Mittel setzt mehrere
Dinge voraus: Es muss genau zum richtigen Zeitpunkt
sein, es muss zielgenau eingesetzt werden, und der Überblick muss gegeben sein. Nur dann funktioniert der Doppelpass.
Ich als Vertreter der CDU/CSU habe keinerlei
Gründe, die SPD von ihren Wahlkampfversprechen zu
erlösen. Aber wenn eines richtig ist, dann doch wohl,
dass in diesem Koalitionsvertrag die Frage der doppelten
Staatsangehörigkeit nicht nur angesprochen, sondern tatsächlich geregelt wird, und das mit Sicherheit nicht
schlecht.
({1})
Die etwas marktschreierische Art, die wir heute hier
erleben, ist der Sache nicht besonders dienlich. Natürlich
war die Optionspflicht immer ein Kompromiss mit allen
Nachteilen und Unwägbarkeiten. Vor allen Dingen war
damit eine große Bürokratie verbunden. Uns geht es darum, dass man einerseits das Ganze nicht zu einem bürokratischen Monstrum aufbläst und andererseits die Menschen nicht in Loyalitätskonflikte bringt.
Interessant ist das Ergebnis der Optionspflicht: Am
Ende haben sich weit über 90 Prozent zur deutschen
Staatsbürgerschaft bekannt und damit eine Confessio abgegeben: Jawohl, das will ich, das ist meine Entscheidung.
Interessant ist weiterhin, dass es beim Staatsbürgerschaftrecht neben Staatsrecht und Staatslehre immer
auch um eine Werte- und Kulturgemeinschaft geht. Die
Linke macht es sich da ganz einfach. Sie drücken sozusagen „copy & paste“ und bringen die Bundesratsvorlage als Plagiat im Deutschen Bundestag ein. Dabei
könnten Sie es sich noch einfacher machen, indem Sie
das sagen, was Sie wollen.
({2})
Die Linke will die Abschaffung einer deutschen Staatsbürgerschaft. Dann sagen Sie es auch, wenn Sie es so
meinen.
({3})
Dann sagen Sie auch, dass es für Sie ein überkommenes
Modell ist, dass ein Bekenntnis zu diesem deutschen
Staat nicht gewollt ist. Dann sagen Sie es aber auch so
und verbergen es nicht hinter einer Kritik, die sich letztendlich in einem Werfen von Nebelkerzen abbildet.
({4})
Ich meine, dass wir bei der Frage, den Menschen in
besonderen Ausnahmefällen eine doppelte Staatsbürgerschaft zuzubilligen, heute einen ganz großen Schritt weiter sind, weil wir mit einem Akt des Vertrauens auf die
Menschen zugehen. Wir sagen: Sie haben durch familiäre Zugehörigkeit oder durch ein Aufwachsen hier den
Beweis geführt. Es ist nicht irgendein Hirngespinst, sondern es ist ein Beleg, dass man in diesem Land Fuß gefasst hat, dass man seine Wurzeln gerade nicht kappt,
dass man nicht vergessen muss, woher man kommt, dass
man seine Identität nicht gegeneinander ausspielen
muss. Es geht darum, dass man bezüglich seiner Vergangenheit und seiner Perspektiven Fuß gefasst hat, das
heißt, dass man sich eine Zukunft in diesem Land, eine
Zukunft mit den Menschen, eine Zukunft im MiteinanMichael Frieser
der einer deutschen Kultur und Wertegemeinschaft vorstellen kann. Das bedeutet dieser heutige Gesetzentwurf.
({5})
Ich habe bisher kein einziges Argument gehört, was
diese Frage zum Einsturz brächte. Ich habe kein einziges
Argument gehört, warum es falsch sein soll, zu erwarten,
dass ein Mensch in diesem Land aufwächst, zur Schule
geht und letztendlich auch Kontakte für seine Zukunft,
seine Lebensperspektive knüpft. Es tut mir leid: kein
einziges Argument. Es geht ausschließlich darum, dass
wir von den Menschen, die mit einer Migrationsgeschichte, der Zuwanderung ihrer Familie in diesem Land
sind, nicht eine Entscheidung verlangen. Natürlich sind
es immer Kappungen, Fristen und Entscheidungsgrundlagen, die in Jahren, in bestimmten Akten fußen. Staatsbürgerschaftsrecht ist so. Das können wir mit der heutigen Diskussion nicht abschaffen. Letztendlich müssen
wir immer noch deutlich machen: Die deutsche Staatsbürgerschaft ist etwas Wertvolles, und zwar im Sinne des
Wortes: voll Werten. Das bedeutet auch, dass die Menschen wissen müssen, womit sie umzugehen haben.
Hier bin ich bei dem Thema Integrationspolitik. Es
gehört schon viel Chuzpe dazu, zu sagen, dass wir mit
diesem Gesetz die Integrationspolitik verhindern oder
behindern würden.
({6})
Seit einer Dekade, zehn Jahre hintereinander, wird der
bundesdeutsche Haushalt bezüglich der Integrationskurse - im Haushalt des Innenministers - tatsächlich
aufgestockt. Er wird aufgedoppelt. Wir legen ständig zu:
Milliarde um Milliarde. Deshalb kann ich nur sagen:
Wer am Ende des Tages behauptet, es sei ein integrationspolitischer Fehlakt, verkennt die Realität total.
({7})
Im Gegenteil. Integrationspolitisch muss man deutlich sagen: Wir wollen den Menschen eine Perspektive
der Integration geben, weil sie bereits selber ein Bekenntnis abgelegt haben, indem sie in diesem Land aufwachsen und vor allem auch ausgebildet wurden, Kontakte geknüpft haben. Das bedeutet Integration.
Ich muss aber den Menschen auch sagen, wohin sie
sich integrieren sollen. Wenn diese Gesellschaft etwas
komplett Beliebiges hat, wenn sie in ihrem Kern nicht
mehr existiert, dann weiß der Betreffende eigentlich
nicht mehr, ob es überhaupt einen Sinn hat, außer praktischen Gründen des Reisens und vielleicht ein bisschen
Sicherheit, dass er im Ernstfall auch noch die deutsche
Staatsbürgerschaft hat. Es muss noch eine besondere Art
und Weise sein, warum wir sagen: Eine doppelte Staatsbürgerschaft kann und soll zugelassen werden.
Das bedeutet aber auch, dass wir an die Ausnahmen
denken müssen. Die doppelte Staatsbürgerschaft soll immer noch die Ausnahme sein, weil wir die Menschen
trotzdem in einen Wettbewerb schicken. Wir schicken
sie in einen Wettbewerb zwischen verschiedenen Nationen und Abstammungen. Das kann auch sehr sinnvoll
sein. Im Ergebnis sage ich am Ende des Tages: Natürlich
hat es auch mit einem demografischen Faktor zu tun.
Der Kollege Brandt hat es angeführt. Es geht hier nicht
um die Frage der Quantität. Vielmehr geht es darum,
dass die Menschen, die hier ausgebildet wurden, hier
Abschlüsse gemacht haben, hier etwas gelernt haben, ihrerseits eine Bindung zu diesem Land entwickeln und sagen: Das, was diese Gesellschaft in mich investiert hat,
diese Kenntnisse möchte ich versuchen, in sie einzubringen.
Herr Kollege Frieser, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Mutlu?
Ich dachte schon, ich hätte mich versehen. Bitte
schön, Herr Kollege, stellen Sie Ihre Frage.
Danke, Herr Präsident. Danke, Herr Frieser. - Ich
habe eine ganz banale und kurze Frage. Ist Ihnen bekannt, dass in unserem Land bereits circa 5 Millionen
Menschen einen Doppelpass haben und dass die Bundesrepublik Deutschland mit 53 Ländern dieser Erde sogenannte Abkommen zur doppelten Staatsangehörigkeit
oder die Hinnahme der Mehrstaatigkeit vereinbart hat?
Und warum sehen Sie vor diesem Hintergrund ein Problem darin, dass man diese Vereinbarungen auch auf den
Rest der Menschen, die in unserem Land leben, ausweitet? Wovor haben Sie Angst?
Herr Kollege, schon der Begriff „Rest“ macht Ihre
Haltung zu diesem Thema deutlich. Dass es die von
Ihnen genannten Vereinbarungen gibt, hat etwas mit der
Historie unseres Landes zu tun. Vor dem Hintergrund
unserer Geschichte tun wir in vielen Einzelfällen
gut daran, also zum Beispiel aus Sicherheitsgründen und
-bedenken eine doppelte Staatsbürgerschaft zuzulassen.
Dass wir in diesen Ausnahmefällen so etwas zulassen,
heißt aber im Umkehrschluss nicht, dass wir nun automatisch auch sofort akzeptieren, dass alle anderen in diesen Genuss kommen. Das wäre nichts anderes als
Gleichmacherei, aber die Voraussetzungen für doppelte
Staatsbürgerschaft sind da aus meiner Sicht nicht erfüllt.
Zweiter Teil der Antwort: Gerade weil sich die Europäische Union als Kultur- und Wertegemeinschaft begreift, macht es Sinn, zu sagen: Wir nehmen doppelte
Staatsbürgerschaften gegenseitig wirklich ernst.
Tun Sie mir einen Gefallen: Mit Ihrer stilistischen
Volte, mit der Reductio ad Absurdum, also indem Sie sagen, dass ich das jeweils übertriebe, haben Sie immer
noch kein Argument dafür geliefert, warum die doppelte
Staatsbürgerschaft nicht ein besonderer Akt bleiben soll,
so wie das derzeit der Fall ist: In bestimmten Fällen wird
gegebenenfalls die doppelte Staatsbürgerschaft verliehen.
({0})
Liebe Kollegen, der entscheidende Punkt bleibt, dass
wir die jungen Menschen, auch wenn wir ihnen die doppelte Staatsbürgerschaft ermöglichen, dazu auffordern,
mit ihren Wurzeln, mit ihren Kenntnissen, mit ihren
Möglichkeiten und mit ihren Perspektiven in einen Wettbewerb zu treten. Wir ermöglichen den Menschen, ihre
Herkunft in unser Land einzubringen, und wir hoffen,
dass dabei der optimale Fall eintritt. Um bei dem Bild zu
bleiben, das ich eingangs gebracht habe: Der schlechteste Fall wäre, dass ein Doppelpass im Nirgendwo verschwindet. Es wäre schade, wenn wir Menschen verlören, die bei der Gestaltung der Zukunft unseres Landes
mithelfen und Perspektiven eröffnen könnten. Der beste
Fall wäre, dass wir Brücken bauen, dass wir die Menschen tatsächlich zusammenbringen und dass sie sich
mit all dem, was sie ausmacht, was sie können und was
sie auch an Hoffnungen haben, in Deutschland einbringen - sogar vor dem Hintergrund der Tatsache, dass sie
irgendwann die Entscheidung treffen, dass sie in unserem Land bleiben, sich einbringen und ihre Zukunft gestalten wollen.
Danke schön.
({1})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist die Kollegin
Christina Kampmann, SPD.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Nehmen wir einmal an, alles wäre anders, alles wäre irgendwie umgekehrt: Ich wäre als Kind deutscher Eltern
in der Türkei geboren; die Türkei wäre Mitglied in der
Europäischen Union, Deutschland nicht; und es gäbe
dort genau wie hier das Optionsmodell; meine Eltern
hätten in der Türkei einen kleinen Betrieb; und welche
Staatsangehörigkeit ich habe, das hat mich eigentlich nie
so wirklich interessiert - bis zu dem Tag, an dem die Behörde mir sagt, ich müsse mich entscheiden: für die eine
oder für die andere Staatsangehörigkeit. In der Zeitung
lese ich von einem Politiker mit einem britisch klingenden Namen. Er hat die türkische und die britische Staatsangehörigkeit. Seine Eltern kommen aus EU-Mitgliedstaaten, sagt man mir. Ganz schön ungerecht, finde ich.
Wieso muss ich mich entscheiden und andere nicht? Ich
frage bei der Behörde nach. Die sagen: Es geht um die
Vermeidung von Mehrstaatigkeit. Und ich frage mich:
Warum geht es nur bei mir darum und nicht bei diesem
Politiker?
Ich habe gerade angefangen, zu studieren. Vielleicht
möchte ich einmal als Ärztin in Deutschland arbeiten.
Meine Großeltern haben dort einen Hof, und früher habe
ich die Sommerferien dort verbracht. Auch dieser Ort ist
irgendwie ein Teil von mir. Vielleicht möchte ich aber
auch in der Türkei bleiben, eine Familie gründen und
den Betrieb meiner Eltern übernehmen. - Aber weiß ich
das jetzt, mit Anfang 20?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein fiktives Beispiel, das deutlich macht, vor welch schwierige Entscheidung wir junge Menschen mit der Optionspflicht
stellen. Es ist vor allem eine Entscheidung, die Menschen, die hier geboren sind, in Bürger erster und zweiter
Klasse unterteilt.
({0})
Wenn ich von erster und zweiter Klasse rede, dann geht
es dabei nicht um Banalitäten, dann geht es um nichts
Geringeres als um politische Teilhabe in dem Land, in
dem diese Menschen leben, in dem sie arbeiten, in dem
sie Steuern zahlen und dessen Gesetze sie zu respektieren haben, ohne dass sie in Form von Wahlen darüber
entscheiden können - es sei denn, sie geben die Staatsangehörigkeit ihrer Eltern auf.
Doch was sich vielleicht einfach anhört, ist es ganz
und gar nicht; denn für die meisten Menschen ist die
Staatsangehörigkeit viel mehr als ein Pass. Viele sind,
auch wenn sie nicht dort leben, durch die Kultur ihres
Landes stark geprägt. Sie verbinden damit Menschen,
die ihnen etwas bedeuten, Freunde, Familie, vielleicht
auch die Großeltern, und nicht selten verbinden sie damit auch ein zweites Zuhause, zu dem sie immer wieder
gerne zurückkehren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt viele gute
Gründe, die für die Abschaffung der Optionspflicht sprechen.
Der erste ist: Wir kommen zu einem Abbau von Bürokratie. Das ist in einem Land, in dem nicht gerade ein
Mangel an Bürokratie herrscht, immer schon einmal ein
richtig guter Grund, glaube ich.
Der zweite ist: Mehrstaatigkeit ist in einer globalisierten Welt bereits gelebte Realität, und die funktioniert im
Übrigen ganz wunderbar.
Der dritte und damit wichtigste Grund ist, dass wir bis
zu 36 000 jungen Menschen pro Jahr mit dieser Regelung helfen werden. So viele werden davon profitieren,
und das finde ich richtig gut und wichtig, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({1})
Denn die Optionspflicht ist wie das Haar in der Suppe
einer modernen Einwanderungsgesellschaft. Man könnte
auch sagen: Sie ist wie die vier Tore des österreichischen
FC Nationalrat in einem interparlamentarischen Fußballturnier für unseren FC Bundestag: Niemand will sie, niemand braucht sie. Deshalb ist es richtig, dass wir endlich
eine Antwort gefunden haben, die nichts anderes als die
Abschaffung der Optionspflicht bedeuten kann.
({2})
Damit sind wir einen wichtigen Schritt weiter, wenn
es darum geht, mehr Gerechtigkeit zu schaffen, wenn es
darum geht, Menschen die Hand auszustrecken und einfach einmal zu sagen: „Schön, dass ihr da seid!“, und
wenn es darum geht, zu respektieren, dass auch Menschen, die einen deutschen Pass haben, eine tiefe Verbindung zu einem anderen Land haben können, die sie zu
Recht gar nicht aufgeben wollen.
({3})
Ich bin stolz darauf, dass sich die SPD für die Abschaffung der Optionspflicht starkgemacht hat. Damit
beenden wir einen langen Weg und bekennen uns endgültig zu unserem Dasein als Einwanderungsland. Und
ich begrüße es außerordentlich, dass wir gemeinsam mit
unserem Koalitionspartner einen ebenso guten wie praktikablen Kompromiss gefunden haben.
({4})
Ich sage aber auch: Das ist nicht unser letzter Schritt,
Herr Beck.
({5})
Die generelle Anerkennung der Mehrstaatigkeit bleibt
das Ziel der SPD.
({6})
Zunächst bin ich aber froh, dass wir einen Anfang gemacht haben, dass wir einen Weg gefunden haben, damit
es für junge Menschen in Zukunft nicht mehr entweder - oder heißt, sondern einfach nur: Schön, dass du da
bist, und hoffentlich bist du - ganz im Sinne der Band
„Wir sind Helden“ - Gekommen um zu bleiben.
Danke schön.
({7})
Abschließende Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist für die CDU/CSU die Kollegin Erika
Steinbach, der ich hiermit das Wort erteile.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Frau Kampmann hat völlig zu Recht gesagt: Für die
meisten Menschen ist die Staatsangehörigkeit viel mehr
als ein Pass. Das ist vollständig richtig. Vor dem Hintergrund haben wir uns auch gemeinsam entschieden, zu
sagen: Die vorliegende Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes rüttelt nicht daran, dass eine doppelte
Staatsangehörigkeit weiterhin kein Normalfall sein
sollte, vielmehr bleibt die doppelte Staatsangehörigkeit
die Ausnahme.
({0})
Wir wollen aber - auch gemeinsam - mit dem vorliegenden Gesetzentwurf die hier geborenen Zuwandererkinder weitgehend nicht mehr in die emotional wirklich
schwierige Situation bringen, sich spätestens zum
23. Lebensjahr entweder für die deutsche Staatsangehörigkeit oder für die ihrer Eltern entscheiden zu dürfen
oder zu müssen - je nachdem, wie es der Einzelne
empfindet. Dazu müssen aber aus unserer Sicht Mindestanforderungen erfüllt sein, und darauf haben wir uns erfreulicherweise gemeinsam verständigen können.
Ganz entscheidend ist für uns der Aspekt, dass eine
Bindung an Deutschland, die über eine emotionale Bindung hinausgeht, erkennbar sein muss. Deswegen haben
wir einen Kriterienkatalog aufgestellt. Die Pflicht, sich
für eine Staatsangehörigkeit zu entscheiden, entfällt mit
der vorgesehenen Gesetzesänderung für die junge Generation, und zwar für die Kinder, die hier acht Jahre gelebt
haben oder sechs Jahr zur Schule gegangen sind oder die
Schule bzw. die Ausbildung erfolgreich abgeschlossen
haben. Eine Härtefallklausel für all die Fälle, die man
nicht prognostizieren kann, zu denen aber jeder Mensch
mit Vernunft sagt: „Das darf ja wohl nicht wahr sein,
dass in diesem Fall keine Lösung möglich ist“, ist natürlich auch enthalten. Uns von der CDU/CSU ist also
wichtig, dass mit der vorgesehenen Gesetzesänderung sichergestellt wird, dass bei denjenigen, die die doppelte
Staatsbürgerschaft erlangen, eine Bindung an Deutschland erkennbar ist. Das halten wir für erforderlich und
sinnvoll für dieses Land, für die Gemeinsamkeit in diesem Land.
Die Betroffenen können die Frage, ob sie nach dem
Gesetz in Deutschland aufgewachsen und damit von der
Optionspflicht befreit sind, schon sehr früh, bereits mit
Vollendung des achten Lebensjahrs, wenn sie acht Jahre
lang hier gelebt haben, klären lassen. Das gibt ihnen Sicherheit, auch emotionale Sicherheit für die Zukunft;
({1})
denn eine frühe Rechtssicherheit stabilisiert.
Aus den Reihen der Opposition wird die Forderung
nach einer grundsätzlichen Möglichkeit zur doppelten
Staatsbürgerschaft erhoben. Das wollen wir ausdrücklich
nicht. Aber ich habe mich schon amüsiert, dass der
Redner der Grünen diesen Gesetzentwurf in Bausch und
Bogen verdammt und gleichzeitig die hessische Landesregierung gelobt hat. Als Frankfurterin freue ich mich
natürlich, dass die schwarz-grüne Landesregierung gelobt wird. Also, Herr Kollege, das, was Sie da losgelassen haben, war ein Bumerang.
({2})
Es geht bei dieser gesetzlichen Regelung auch nicht
um die grundsätzliche Neuordnung der Einbürgerungen,
sondern tatsächlich ausschließlich um die hier geborenen
und aufgewachsenen Menschen, die sich sonst als junge
Erwachsene hätten entscheiden müssen, welche Staatsbürgerschaft sie fortan weiterführen wollen. Es geht also
nicht um den generellen Doppelpass - allen, die solche
Sorgen haben, sei das hier noch einmal deutlich gesagt.
Zu einer völligen Gleichstellung - den Hinweis will
ich auch noch geben - der Inhaber mehrerer Staatsangehörigkeiten mit den Menschen, die nur eine Staatsangehörigkeit haben, kommt es auch nicht. So ist etwa der
diplomatische und konsularische Schutz von Deutschen,
die weitere Staatsangehörigkeiten besitzen, im Ausland
eingeschränkt. Sie können sich beispielsweise gegenüber dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit sie auch
noch besitzen, nicht auf ihre deutsche Staatsangehörigkeit berufen. Ich glaube, auch das ist ein Akt der Gerechtigkeit.
Meine lieben Freunde, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, wir haben, wenn wir jetzt in die
Beratungen eintreten, eine gute Vorlage. Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir sie gemeinschaftlich über die
Rampe kriegen, und das auch noch vor der Sommerpause; daran würde mir liegen.
Alles Gute!
({3})
Vielen Dank. - Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzesent-
würfe auf den Drucksachen 18/1312 und 18/1092 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Gibt es dazu einen anderweitigen Vorschlag? -
Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Bärbel
Höhn, Annalena Baerbock, Sylvia Kotting-Uhl,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Festlegung nationaler Klimaschutzziele und zur Förderung des Klimaschutzes ({0})
Drucksache 18/1612
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Julia
Verlinden, Christian Kühn ({2}), Oliver
Krischer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die Energiewende durch Energieeffizienz voranbringen - EU-Energieeffizienzrichtlinie
unverzüglich umsetzen
Drucksache 18/1619
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({3})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das somit beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin in dieser
Aussprache ist die Kollegin Bärbel Höhn, Bündnis 90/
Die Grünen, der ich hiermit das Wort erteile.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor
wenigen Monaten wurde meine jüngste Enkeltochter geboren, die Hannah.
({0})
- Danke schön. - Am vergangenen Samstag haben wir
Taufe gefeiert. Was heißt das?
({1})
Das heißt, Verantwortung zu übernehmen für eine gute
Zukunft, und das heißt, sie vor Schaden zu bewahren.
Ich bin ganz sicher, dass jeder von Ihnen in so einer Situation genauso denkt wie ich. Dabei geht es nicht nur
darum, dass wir sagen, wir wollen Verantwortung übernehmen in akuter Not, sondern es geht auch darum, langfristigen Schaden von diesen kleinen Krabbelkindern abzuwenden. Deshalb müssen wir heute und jetzt etwas
gegen den Klimawandel unternehmen; denn diese Kleinen, auch Hannah, haben eine gute Chance, das nächste
Jahrhundert zu erleben. Dann werden die Vorhersagen
der Wissenschaftler eintreten. Dann werden die Schäden
eingetreten sein. Wenn wir heute nicht handeln, dann
hinterlassen wir diesen Kindern eine dramatische Bürde.
Das wollen wir doch alle nicht.
({2})
Wir haben zu Recht eine Schuldenbremse eingebaut,
weil wir gesagt haben, wir wollen unsere Kinder nicht
mit Schulden belasten. Aber wir müssen ebenso eine
CO2-Bremse einbauen; denn ansonsten werden wir ihnen diese Schäden aufbürden.
Der Punkt ist, dass nicht nur die Generation meiner
Enkelkinder betroffen ist, sondern auch unsere eigene
Generation. Vor einem Jahr haben wir hier über das
Hochwasser an der Elbe und die dramatischen Schäden
dort diskutiert. Von diesem Pult aus möchte ich sagen:
Herzlichen Dank an die vielen Helfer! Danke für die
große Solidarität, auch der Privatleute, die hingegangen
sind und geholfen haben! Danke auch an Bund und Länder, die 8 Milliarden Euro Finanzhilfe gegeben haben,
um die Schäden zu beseitigen. Das war gut, das war notwendig, und das war richtig.
({3})
Nicholas Stern sagt: Wir müssen etwas gegen den
Klimawandel tun, ansonsten werden wir die Schäden
nicht mehr bezahlen können. Die Wetterextreme kommen: Dürren, Fluten, Stürme. Das alles wird enorm viel
Geld kosten, und es geht offensichtlich schneller, als wir
alle gedacht und die Wissenschaftler vorhergesagt haben.
Jetzt werden viele von Ihnen sagen: Ja, aber Deutschland tut doch so viel; sollen doch die anderen erst einmal
was machen. Stimmt das wirklich? Schauen wir uns die
Fakten an: In Deutschland haben wir pro Kopf einen
Ausstoß von 10 Tonnen CO2 pro Jahr. Wie viele sind es
in der EU? Gut 7 Tonnen. In Deutschland steigt der CO2Ausstoß in den letzten zwei Jahren wieder und sinkt
nicht. Wir nähern uns den Zielen des Kioto-Abkommens
von der falschen Seite. Von daher müssen wir etwas tun.
Deutschland ist auf den Klimakonferenzen nicht mehr
der Vorreiter in der EU. Mittlerweile bewegen sich andere - zugegebenermaßen auf hohem Niveau. Aber die
USA bewegen sich, und auch China muss sich bewegen,
weil es so viele schmutzige Kohlekraftwerke hat, dass
die Luft gesundheitsschädlich ist. Deshalb müssen auch
wir in Deutschland uns bewegen. Das heißt: Deutschland muss aus der Braunkohlenutzung raus; sonst werden wir unsere Klimaziele nicht erreichen können.
({4})
Deshalb empfand ich es als ein schlimmes Zeichen,
dass dieser Tage das Kabinett in Brandenburg den
Braunkohleplan genehmigt hat und damit dem Klimakiller Braunkohle für 40 weitere Jahre eine Bestandsgarantie gegeben hat.
Das Umweltbundesamt warnt seit Jahren davor, dass
wir das Ziel, die CO2-Emissionen um 40 Prozent zu reduzieren, krachend verfehlen werden. Die neue Bundesministerin hat gesagt: Mit den jetzigen Maßnahmen werden es wohl nur 33 Prozent. - Experten sagen: Auch eine
Reduktion um 33 Prozent werden wir nicht erreichen.
Das werden eher unter 30 Prozent sein, die wir schaffen.
Es wird gesagt, die Bundesministerin lege jetzt ein
„Aktionsprogramm Klimaschutz 2020“ auf, um etwas zu
tun. Dieses Aktionsprogramm wird aber erst diskutiert.
In der Zeit, in der es diskutiert wird, werden von anderen
Ministerien schon wieder Fakten geschaffen. Das, liebe
Kolleginnen und Kollegen, geht nicht. Wenn Gabriel
gleichzeitig den Ausbau von Wind- und Sonnenenergie
im neuen EEG ausbremst, dann heißt das nämlich nichts
anderes, als dass er gegen den Klimaschutz handelt;
denn der Ausbau der erneuerbaren Energien ist die erfolgreichste Klimaschutzmaßnahme überhaupt.
({5})
Die Energieeffizienz kommt nicht vom Fleck. Das ist
bei den Gebäuden so, aber auch bei der schmutzigen
Braunkohle. Diese boomt, weil der Emissionshandel
nicht funktioniert. Die Krönung war der Vorschlag, den
Eigenverbrauch der schmutzigen Braunkohle von der
EEG-Umlage auszunehmen, aber Eigenverbrauch von
Photovoltaik bezahlen zu lassen. Ich finde ja interessant,
dass Gabriel von diesem Vorschlag schon heute ein
Stück abrückt, aber ich bin einmal gespannt, was am
Ende herauskommt. Vielleicht ist das aber auch unter
dem Druck der Anhörung geschehen, in der die Experten
ja gesagt haben: Den Klimakiller Braunkohle zu befreien
und die Photovoltaik zu belasten, ist absolut unsinnig; so
etwas Verrücktes habe ich selten gehört.
({6})
Wir legen deshalb unser Klimaschutzgesetz vor. Wir
wollen damit nicht nur langfristig Ziele erreichen, sondern auch Kontrolle, Verlässlichkeit und Planungssicherheit. Vor allen Dingen wollen wir eines: Wir wollen einen Mindestpreis für CO2; denn die Klimakiller müssen
für das, was sie tun, auch bezahlen. Wir wollen es so machen wie in Großbritannien, den Niederlanden und
Schweden: Der Ausstoß von CO2 muss etwas kosten.
Wir müssen an die Ursachen ran, um das hinzubekommen.
({7})
Meine Enkeltochter Hannah und ihre Krabbelgruppe
werden irgendwann einmal erwachsen sein. Dann werden sie uns fragen: Warum habt ihr eigentlich nicht anders gehandelt? Die Wissenschaftler haben euch die
Fakten auf den Tisch gelegt, und es wäre eure Verantwortung gewesen, uns diese Schäden nicht zuzumuten. Deshalb ist es, glaube ich, Zeit, nicht nur in Sonntagsreden für den Klimaschutz zu sprechen, sondern endlich
auch an Werktagen für den Klimaschutz zu handeln. Wir
legen deswegen heute ein Gesetz vor, das Klimaschutz
verbindlich macht, ein grünes Klimaschutzgesetz. Lasst
uns darüber diskutieren!
Ein Vertreter des IPCC hat bei der Vorstellung des
jüngsten IPCC-Berichtes gesagt: „Es kostet nicht die
Welt, unseren Planeten zu retten“. Ich füge hinzu: „Aber
es kostet unsere Existenz, wenn wir nichts tun.“ In dem
Sinne: Lasst uns über Instrumente diskutieren, damit wir
unsere Kinder und Enkelkinder vor den Schäden bewahren, die wir ansonsten anrichten.
Vielen Dank.
({8})
Für die CDU/CSU spricht jetzt die Kollegin Dr. Anja
Weisgerber.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Folgen des Klimawandels
sind bereits heute zu beobachten. Dies hat der letzte Bericht des Weltklimarates vor Augen geführt. Deshalb
sind wir uns über alle Fraktionen hinweg einig, dass wir
einen ambitionierten Klimaschutz brauchen und auch
wollen.
Deutschland hat sich ein ehrgeiziges Ziel gesetzt. Wir
wollen bis 2020 40 Prozent der CO2-Emissionen einsparen.
({0})
Das ist doppelt so viel, wie sich die EU bis 2020 vorgenommen hat. Nach aktuellen Prognosen - Frau Höhn hat
es erwähnt - werden wir ohne zusätzliche Anstrengungen aber nur 33 bis 35 Prozent erreichen; diesbezüglich
gibt es unterschiedliche Meinungen bei den Experten.
Um diese Lücke zu schließen - das zu der Frage, ob wir
etwas dafür tun -, arbeiten wir gerade an einem „Aktionsprogramm Klimaschutz 2020“. Umweltministerin
Hendricks hat im April Eckpunkte dazu vorgelegt. Die
Verabschiedung des Aktionsprogramms ist für November dieses Jahres geplant.
Darüber hinaus will die Bundesregierung 2016 einen
nationalen „Klimaschutzplan 2050“ verabschieden. Darin sollen dann Zwischenziele für die Zeit nach 2020
zum Erreichen des langfristigen Klimaschutzziels, das ja
sehr ehrgeizig ist - bis 2050 80 bis 95 Prozent Treibhausgasminderung -, enthalten sein.
In den Eckpunkten zum Aktionsprogramm werden
für sämtliche relevanten Sektoren von der Energiewirtschaft über die Industrie, den Verkehr, die Kreislaufwirtschaft bis hin zur Landwirtschaft mögliche Maßnahmen
aufgezeigt. In einem umfangreichen Dialogprozess werden diese jetzt gemeinsam mit allen betroffenen Ressorts
- das ist auch wichtig, dass alle Ressorts eingebunden
werden -, den Bundesländern und den Verbänden konkret erarbeitet und festgelegt. Sie sehen, meine Damen
und Herren, die Bundesregierung handelt und schlägt
ganz konkrete Klimaschutzmaßnahmen vor.
({1})
Da die Energiewirtschaft der Sektor mit den höchsten
Treibhausgasemissionen und den größten Minderungspotenzialen ist, werde ich mich im Folgenden darauf
konzentrieren. Das, was in diesem Bereich am meisten
zur Treibhausgasminderung beiträgt, sind der Ausbau
der erneuerbaren Energien und der Kraft-Wärme-Kopplung, der Emissionshandel und die Steigerung der Energieeffizienz, die auch im Sektor Industrie, Gewerbe,
Handel und Dienstleistungen eine große Rolle spielt.
Sehr große Einsparpotenziale gibt es in Deutschland
im Gebäudebereich. Dort fallen rund 40 Prozent des
Endenergieverbrauchs und etwa ein Drittel der CO2Emissionen an. Deshalb setzen wir weiterhin durch zahlreiche Programme der KfW Anreize zu energieeffizientem Bauen. Das ist auch gut so, meine Damen und Herren. Aber - ich werde nicht müde, es zu erwähnen -:
Daneben brauchen wir auch die steuerliche Absetzbarkeit von Investitionen in die Gebäudesanierung.
({2})
Da sind auch die Bundesländer in der Pflicht.
({3})
Einen wesentlichen Beitrag zur Reduzierung der
Treibhausgasemissionen muss auch der Emissionshandel leisten. Deshalb machen wir uns auch auf europäischer Ebene für eine Reform des Emissionshandels
stark. Unsere Bundeskanzlerin Angela Merkel und Umweltministerin Hendricks kämpfen in Brüssel dafür, dass
der Emissionshandel durch eine Reform wieder flottgemacht wird. Dann werden umweltfreundliche Kraftwerke wie zum Beispiel moderne Gaskraftwerke endlich
wieder eine faire Chance auf den Märkten erhalten. Das
ist ganz wichtig zur Treibhausgasemissionsminderung.
Wir setzen uns sogar an die Spitze der Bewegung für
diesen Reformprozess und fordern diese Reform schon
für einen Zeitraum vor 2020.
Diskutieren müssen wir auch darüber - Sie haben angeregt, dass wir diskutieren -, wie wir jetzt diese Reform
machen, wie die Reform ganz konkret aussehen soll.
Lassen Sie uns doch darüber sprechen! Ein Mindestpreis, wie die Grünen und die Linke ihn vorschlagen, ist
meiner Meinung nach nicht der Schlüssel zu einem funktionierenden Emissionshandel. Der Vorschlag der Einführung einer sogenannten Marktstabilitätsreserve, der
jetzt auf dem Tisch liegt, also automatisch ab einer bestimmten Schwelle Zertifikate aus dem Markt zu nehmen oder auch wieder in den Markt zu geben, ist meiner
Meinung nach eine gute Basis, auf der wir aufbauen
können.
Sie sehen also: Wir handeln, und wir liegen auch in
unseren Absichten gar nicht so weit auseinander. Ob Klimaschutzgesetz oder „Aktionsprogramm Klimaschutz
2020“ und „Klimaschutzplan 2050“: Das Einzige, was
meiner Meinung nach zählt, ist das Ergebnis. Das Wie,
also wie man dort hinkommt, ob über ein Gesetz oder
ein Aktionsprogramm, sollte an dieser Stelle im Sinne
der Sache nachrangig sein.
({4})
Meine Damen und Herren, wir diskutieren heute über
Klimaschutzmaßnahmen in Deutschland, aber alleine
können wir die Welt nicht retten. Deshalb müssen wir
den Klimaschutz auf europäischer und auf globaler
Ebene weiter vorantreiben.
({5})
Wie unsere Bundeskanzlerin gestern in ihrer Regierungserklärung sagte: Wir müssen alles daransetzen,
dass Lima und dann Paris Erfolge werden. Deshalb ist es
wichtig, dass wir als europäische Staaten an einem
Strang ziehen und gemeinsam mit ambitionierten Zielen
nach Paris fahren. Genau dafür setzt sich Deutschland
aktuell in Brüssel weiterhin mit aller Kraft ein wie auch
für die Beibehaltung der bewährten Zieltrias. Dabei sollten wir die Bundeskanzlerin und die Umweltministerin
bestärken, statt alles schlechtzureden, meine Damen und
Herren.
({6})
Wenn Deutschland und Europa weiterhin so ehrgeizig
voranschreiten, dann könnte es gelingen, dass die anderen Staaten außerhalb Europas von uns mitgerissen werden und endlich auch mehr Verantwortung übernehmen.
Ich freue mich sehr darüber, dass in den letzten Tagen
positive Signale aus den USA kamen. US-Präsident
Obama hat eine für sein Land noch nie dagewesene Klimarevolution angestoßen. Und Bundeskanzlerin Angela
Merkel hat angekündigt - das ist auch entscheidend -,
Deutschland wird seine G-7- bzw. G-8-Präsidentschaft
auch nutzen, um international dafür zu werben, dass wir
bei den Klimaverhandlungen wirklich vorankommen.
Dies kann - Frau Höhn, Sie haben das schon einmal erwähnt - entscheidend dazu beitragen, dass die internationalen Klimaverhandlungen erfolgreich abgeschlossen
werden. Deshalb begrüße ich diese Ankündigung von
Angela Merkel besonders.
Meine Damen und Herren, die nächsten Monate werden entscheidend dafür sein, wie es mit dem Klimaschutz weitergeht. Die Wahrnehmung, die Sie von unserer Klimapolitik haben, ist nicht die gleiche wie die, die
die Welt von ihr hat. Das erkennt man auch an so manchen Aussagen. Zum Beispiel hat US-Präsident Obama
vor einigen Jahren an der Siegessäule hier in Berlin gesagt, dass er die Treibhausgasminderung mit der gleichen Ernsthaftigkeit angehen möchte wie wir Deutschen. Lassen Sie uns bei all den Unterschieden in den
Details gemeinsam mutig voranschreiten, damit
Deutschland und Europa bei der Klimakonferenz in Paris der große Wurf gelingt!
Vielen Dank.
({7})
Nächste Rednerin für die Linken ist die Kollegin Eva
Bulling-Schröter.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Dass wir heute auf Antrag der Grünen über Klimaschutz
sprechen, ist gut und richtig. Es ist wichtig, dass wir
trotz zunehmender sozialer Verwerfungen in Deutschland,
({0})
trotz Euro-Krise und trotz internationaler Konflikte weiter über den Klimaschutz reden. Dieses wichtige Thema
darf nicht in den Hintergrund der öffentlichen Aufmerksamkeit rücken.
({1})
Die Diskussionen darüber, wie mehr effektiver Klimaschutz ohne den Verlust von Arbeitsplätzen und ohne
zu hohe Energiepreise zu schaffen ist, sind natürlich
nicht neu. Ich weiß sehr gut, wovon ich rede und wie
dick die Bretter sind, die wir zu bohren haben. Seit Mitte
der 90er-Jahre setze ich mich im Bundestag für nachhaltiges Wirtschaften ein und werbe auf internationalen
Konferenzen für globalen Klimaschutz. Der Antrag der
Grünen geht aus unserer Sicht ganz klar in die richtige
Richtung.
({2})
Bindende Verpflichtungen statt Klima-Wischiwaschi,
genau das ist das Motto der Stunde. Denn wenn nationale Ziele zur CO2-Reduktion per Gesetz festgeschrieben werden und es zu Verstößen gegen definierte Klimazielzusagen kommt, sind die politisch Verantwortlichen
klar zum Handeln gezwungen. Dann können sie sich gerade nicht hinter reinen Absichtserklärungen verstecken,
über die sich die Kohlelobby bisher genüsslich hinweggesetzt hat.
Immer mehr Menschen begreifen, dass der Klimawandel bereits Tatsache ist. Das weiß übrigens auch die
Bundesregierung, die uns in ihrer Antwort auf eine
Kleine Anfrage zu Klimaflüchtlingen bestätigt hat, dass
2012 weltweit über 31 Millionen Klimavertriebene gezählt wurden. Über 31 Millionen! Tätig werden will man
im Kanzleramt aber nicht, etwa den rechtlichen Schutzstatus für Klimaflüchtlinge verbessern, so wie wir uns
das wünschen.
({3})
Aber nicht nur aus humanitären, sondern besonders
auch aus realwirtschaftlichen Gründen, die vor unserer
eigenen Haustür eine Rolle spielen, ist mehr Klimaschutz angesagt. Schenkt man dem Deutschen Institut
für Wirtschaftsforschung Glauben, so kommen bei
„business as usual“ bis zum Jahr 2050 Folgekosten des
Klimawandels in Höhe von 800 Milliarden Euro auf unsere Volkswirtschaft zu; das sind keine Peanuts. Allein
300 Milliarden Euro davon entstehen übrigens durch erhöhte Energiepreise, hier vor allem für private Haushalte. Auch der jüngste Klimasachstandsbericht der Vereinten Nationen kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Die
Entscheidung der Bundeskanzlerin, nicht zum Klimagipfel der Regierungschefs nach New York zu fahren, halte
ich da natürlich für ein Unding; ich denke, Sie auch.
({4})
Wer über Klimaschutz redet, der muss natürlich auch
über Energie reden. Weltweit ist die Energiegewinnung
für zwei Drittel der CO2-Emissionen verantwortlich. In
Deutschland kommt weiterhin fast jede zweite Kilowattstunde aus Braun- und Steinkohle. Die Energiewende ist
die beste Medizin gegen den voranschreitenden Klimawandel. Allein durch den Ausbau der Energie aus Wind,
Sonne und Biogas konnten für das Jahr 2012 über
145 Millionen Tonnen CO2 eingespart werden. Fast ein
Drittel des Bruttoenergieverbrauchs stammt heute aus
erneuerbaren Energien. Hunderttausende Arbeitsplätze
werden in dieser Branche gesichert. Investitionen in Milliardenhöhe sorgen für ökologischen Wohlstand.
Wer es mit dem Klimaschutz also ernst meint, der
muss den Ausstieg aus den fossilen Energieträgern ganz
oben auf die Agenda setzen.
({5})
Die Linke hat dazu einen Antrag zu einem Kohleausstiegsgesetz vorbereitet; denn nur über eine saubere
Energieversorgung ist echter Klimaschutz möglich - sei
es in Brandenburg oder in Nordrhein-Westfalen.
Danke.
({6})
Als nächster Redner hat Frank Schwabe von der SPD
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vielen lieben Dank an die Grünen - zum einen für die
Fleißarbeit,
({0})
was ja auch hilfreich für weitere Beratungen ist, und
zum anderen dafür, dass wir hier noch einmal über die
Klimaschutzpolitik in Deutschland und darüber hinaus
resümieren und auch ausblicken können.
Wenn man sich die Phasen der Klimaschutzpolitik anguckt - ich rede jetzt nur von diesem Jahrhundert -,
dann kann man, glaube ich, feststellen, dass die Klimaschutzpolitik zum Anfang dieses Jahrhunderts sehr engagiert war. Die Hochphase lag zwischen 2003 und 2008,
die sicherlich auch durch neue Erkenntnisse angeheizt
wurde, die wir auf internationaler Ebene über die Auswirkungen des Klimawandels gewonnen hatten.
Ich muss leider sagen, dass in den Jahren 2009 bis
2013 - das kann der Koalitionspartner ja auf die FDP
schieben ({1})
auf diesem Gebiet nicht sehr viel passiert ist, sondern
- diesen Eindruck habe ich - eher Rückschritte zu verzeichnen waren. Gerade auf europäischer Ebene haben
wir den Klimaschutz eher blockiert als vorangetrieben.
Das führt mich zum Jahr 2015. Es wird Sie nicht verwundern, dass ich finde, dass wir gerade dabei sind, zu
einer konsolidierten deutschen Klimaschutzpolitik zurückzufinden. Dafür will ich hier der Ministerin Barbara
Hendricks ausdrücklich danken, die jetzt bei den Verhandlungen in Bonn ist.
({2})
Das war im Übrigen auch dringend notwendig - zumindest aus zweierlei Gründen:
Erstens ist eine konsolidierte deutsche Klimaschutzpolitik aufgrund der Erkenntnisse des Weltklimarats notwendig: Der Klimawandel schreitet voran, er ist menschengemacht, er bringt Not und Elend über viele
Menschen und Regionen auf der Welt, und - das ist die
vierte und vielleicht wichtigste Erkenntnis - wir können
zu relativ überschaubaren Preisen etwas dagegen tun.
Deshalb müssen wir handeln.
Zweitens ist es notwendig, zu einer konsolidierten
deutschen Klimaschutzpolitik zu kommen, weil es entgegen einer Fehlwahrnehmung, der wir, glaube ich, auch
in der Öffentlichkeit in Deutschland unterliegen, sehr
wohl Veränderungen auf der Welt gibt. Das bildet sich
noch nicht immer in internationalen Prozessen ab. Noch
verpflichten sich in den internationalen Verträgen nicht
genügend Länder zu einer ambitionierten Klimaschutzpolitik, aber in den Ländern geschieht eine ganze
Menge, zum Beispiel beim Ausbau der erneuerbaren
Energien - übrigens orientiert an der Bundesrepublik
Deutschland. Die Kollegin Baerbock, die Vizepräsidentin und meine Wenigkeit reisen gleich zu einer Konferenz nach Mexiko City. Dort werden wir die deutsche
Politik im Bereich der erneuerbaren Energien international präsentieren. Andere Länder haben sich in den letzten Jahren schon daran orientiert und werden das, glaube
ich, auch in den nächsten Jahren tun.
Wir sehen zum Beispiel auch in China enorme Veränderungen. Es gibt gerade Hinweise darauf, dass im
nächsten Fünfjahresplan ab 2016 feste Treibhausgasobergrenzen - das wäre eine Revolution - für China festgelegt werden sollen. Wer das Land ein bisschen kennt,
der weiß, dass das Thema „Umwelt und Auswirkungen
von Umweltverschmutzung“ eines der zentralen Themen, wenn nicht sogar das zentrale Thema, in der Volksrepublik China ist.
Über die USA ist ja gerade schon gesprochen worden.
Mit dem, was Obama jetzt vorgelegt hat, hat er nur ein
Versprechen eingelöst, das er der Weltgemeinschaft gegeben hat. Das ist hochinteressant. Ich komme gleich
noch auf einzelne Maßnahmen zu sprechen.
Klimaschutz ist nicht nur eine Frage des Umweltschutzes, sondern auch eine Frage der Technologieführerschaft. Wenn man sich die Kommentare zu dem anguckt, was Obama jetzt angestoßen hat, dann sieht man,
dass Technologieführerschaft ein wichtiges Thema ist.
Es ist auch die Frage, welche Rolle ein Land international spielen will und spielen kann. Deswegen will ich
die Frau Bundeskanzlerin an einer Stelle ein bisschen
kritisieren: Ich jedenfalls habe nicht verstanden - vielleicht erklärt sie es noch einmal -, warum sie nicht an
dem Ban-Ki-moon-Gipfel in New York teilnimmt.
({3})
Ich will sie aber ausdrücklich dafür loben, dass sie gesagt hat, sie werde das Thema Klimaschutz - das ist
nicht das erste Mal - zu einem zentralen Thema der G-8oder G-7-Präsidentschaft - was auch immer es ist - machen. Es ist richtig und gut, dass dort entsprechender
Druck aufgebaut wird.
({4})
Es ist gut und richtig, dass diese Bundesregierung mit
der Ministerin an der Spitze in wenigen Wochen und
Monaten zwei Dinge erreicht hat: Erstens. Wir sind in
der EU wieder zu einem eher führenden Land in Sachen
Klimaschutz geworden. Zweitens. Deutschland macht
sich ehrlich in der Frage: Wie weit sind wir im Bereich
des Klimaschutzes hinsichtlich der Zielerreichung?
Zur Europäischen Union. Es sind nur wenige Tage
vergangen, bis es Deutschland - auch dank der guten
Absprachen zwischen Ministerin Hendricks und Minister Gabriel - gelungen ist, auf europäischer Ebene beim
Thema Emissionshandelsreform und hinsichtlich der
Ziele für das Jahr 2030 zu guten Regelungen und Positionen zu kommen.
Es gibt innerhalb der Europäischen Union drei Ziele
- das jedenfalls ist die Position der Bundesrepublik
Deutschland - für das Jahr 2030: Die CO2-Reduktion
soll mindestens 40 Prozent betragen. Der Anteil der erneuerbaren Energien soll bei 30 Prozent liegen. Die
Energieeffizienz - ich finde, der diesbezügliche Vorschlag der Unionsfraktion ist sehr gut und sollte von der
Bundesregierung aufgegriffen werden - soll bis zum
Jahr 2030 um 40 Prozent verbessert werden. Ohne Zweifel - das kann wohl niemand bestreiten - sind wir damit
wieder am progressiven Ende der Europäischen Union
angelangt. All das wurde auf europäischer Ebene erreicht.
Was wurde in Deutschland erreicht? Deutschland
macht sich ehrlich, habe ich gerade gesagt. Wir alle gemeinsam haben hier im Deutschen Bundestag bezüglich
der CO2-Reduktion ein 40-Prozent-Ziel beschlossen. Es
ist gerade schon festgestellt worden: Wir sind noch
längst nicht dabei, dieses Ziel zu erreichen, sondern wir
liegen bei 33 Prozent, vielleicht noch weniger.
Leider ist es so, dass es seit dem Meseberger Programm von 2007 kein vernünftiges Programm mehr gegeben hat, um sich der Herausforderung des Klimaschutzes umfassend zu stellen. Deswegen ist es richtig, dass
die Ministerin deutlich gemacht hat: Es soll - ich will es
einmal so nennen - ein mittelfristiges Sofortprogramm
bis zum Ende des Jahres geben ({5})
ich nenne das einmal Meseberg II -, um in diesem Jahr
wirklich zu konkreten Veränderungen und Verbesserungen zu kommen.
({6})
Ich will ausdrücklich die Kollegin Weisgerber unterstützen: All das ist nicht die Aufgabe einer Ministerin. Nicht
nur eine Ministerin ist für Klimaschutz zuständig,
({7})
sondern es ist die Aufgabe aller Ministerien, hierzu ihren
Beitrag zu leisten.
({8})
Dabei wäre die Unterstützung des ganzen Hauses sinnvoll.
({9})
Es soll ein Klimaschutzgesetz geben - man könnte es
auch „Klimaschutz mit Gesetzescharakter“ nennen -,
weil wir eben wissen müssen - ich glaube, das ist der
Kardinalfehler der letzten Jahre gewesen -: Wo stehen
wir eigentlich bei der Zielerreichung? Ambitionierte
Ziele haben wir uns gegeben, aber bei der Zielerreichung
wird es kompliziert. Deswegen sage ich: Wir brauchen
so etwas wie ein KEÜG. Eigentlich brauchen wir kein
Klimaschutzgesetz, sondern ein Klimaschutz-Erreichungs-Überprüfungs-Gesetz. Mit einem solchen Gesetz
wissen wir immer: Wo stehen wir gerade? Da lobe ich
noch einmal die grüne Fraktion: Das, was von ihr vorgelegt wurde, ist zumindest eine Möglichkeit, sich in den
nächsten Monaten in die lebendige Debatte einzubringen.
Vor einer Debatte werden wir uns alle nicht drücken
können - das will ich hier ganz offen sagen -: Wenn wir
das Ziel, die CO2-Emissionen in Deutschland um mindestens 40 Prozent zu reduzieren, ernst nehmen, dann
müssen wir sehen, dass die Hälfte davon über den Emissionshandel erreicht werden müsste, im Bereich der
Kraftwerke und im Bereich der Industrie. Ich will ausdrücklich sagen, dass dies innerhalb der SPD noch nicht
ausdiskutiert ist. Aber es ist wohl klar - das müssen wir
alle feststellen -: Der Emissionshandel sendet im Moment nicht ausreichend Signale, um dieses Ziel zu erreichen.
Aus meiner Sicht gibt es hier, wenn wir ehrlich damit
umgehen, vier Möglichkeiten:
Die erste Möglichkeit ist: Wir werden das 40-ProzentZiel nicht erreichen. Ein Scheitern wollen wir aber verhindern; darin sind wir uns einig. Wir haben im Deutschen Bundestag festgelegt, dass wir dieses Ziel erreichen wollen.
Die zweite Möglichkeit ist: Wir müssen in den Bereichen, die der Emissionshandel nicht umfasst, mehr leisten, also im Verkehrsbereich oder im Landwirtschaftsbereich. Ich glaube, wir wissen alle: Es ist ziemlich
unrealistisch, das zu erreichen.
Die dritte Möglichkeit ist, dass wir den Emissionshandel in der Tat wieder flottmachen. Dafür bleibt aber
nicht viel Zeit. Das können wir nicht auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben. Möglicherweise können wir
ihn auch dadurch flottmachen, dass wir auf nationaler
Ebene komplementäre Maßnahmen, wie ich es einmal
nennen will, ergreifen.
Die vierte Möglichkeit wäre, dass wir zu der Auffassung kommen, der Emissionshandel reicht nicht als Regulierungsinstrument, sondern wir müssen uns auch der
Frage des Kraftwerksparks widmen. Dann werden wir
über das diskutieren müssen, was gerade in den USA im
Bereich der Effizienzziele gemacht wird.
Wenn wir das alles nicht tun und die Dinge einfach
laufen lassen, dann werden wir am Ende die Ziele verfehlen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, den Kopf in den
Sand zu stecken, wird nicht funktionieren. Das ist keine
Lösung. Wenn man mit Menschen aus allen Teilen der
Welt spricht - das werden wir ja in den nächsten Tagen
wieder tun -, dann merkt man, welche dramatischen
Auswirkungen der Klimawandel hat und welche Verantwortung wir haben. Wir haben die Lösungsmöglichkeiten durchaus in der Hand, um anders zu wirtschaften und
Energie auf andere Weise zu produzieren. Es ist unsere
Verantwortung, das wahrzunehmen, und das sollten wir
im deutschen Parlament gemeinsam tun.
Vielen herzlichen Dank.
({10})
Als nächste Rednerin hat Herlind Gundelach von der
CDU/CSU das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir debattieren heute neben dem Gesetzentwurf von
Bündnis 90/Die Grünen zur Etablierung eines Klimaschutzgesetzes, zu dem meine Kollegin Weisgerber
schon ausführlich Stellung genommen hat, erneut einen
Antrag der Grünen zur Energieeffizienz. Neben dem
Ausbau der erneuerbaren Energien, den wir mit der Novelle des EEG auf stabile Füße stellen, zählt die Energieeffizienz zweifellos zu den tragenden Säulen der Energiewende. Dessen sind sich die Bundesregierung und die
sie tragenden Fraktionen wohl bewusst.
Derzeit stehen wir aber aufgrund des Beihilfeverfahrens unter dem Zugzwang, die EEG-Novelle bis zur
Sommerpause verabschiedet zu haben, weil sonst die
Besondere Ausgleichsregelung für die energieintensiven Betriebe im nächsten Jahr nicht mehr greift. Daher
haben wir uns zunächst auf das EEG konzentriert.
Vor genau drei Jahren, nämlich am 6. Juni 2011, haben wir eine Energiewende beschlossen. Bei dieser
Energiewende geht es eben nicht nur um die Steigerung
des Anteils der erneuerbaren Energien an der deutschen
Stromversorgung. Insoweit liegen Sie mit dem Thema
Ihres Antrags absolut richtig. Das unterstreicht aber auch
schon der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und
SPD,
({0})
der die Verbesserung der Energieeffizienz als zweite
wichtige Säule für den Umbau der Energieversorgung in
Deutschland beschreibt. Dabei brauchen wir einen sektorübergreifenden Ansatz, der Gebäude, Industrie, Verkehr, Gewerbe und private Haushalte gleichermaßen
umfasst.
Außerdem müssen wir Strom, Wärme und Kälte
ebenfalls in den Blick nehmen, und zwar gemeinsam.
Daher haben wir bereits konkrete Ziele im Koalitionsvertrag festgelegt, die Sie ganz offensichtlich unterstützen. Denn bei genauem Lesen Ihres Antrags fällt auf,
dass Sie viele unserer Forderungen in Ihren Antrag aufgenommen haben.
({1})
Wenn ich daraus den Schluss ziehen darf, dass Sie uns
bei der Umsetzung dieser Ziele tatkräftig unterstützen,
würde mich das sehr freuen; im Interesse der Sache wäre
es übrigens auch geboten.
({2})
Lassen Sie mich daher einige Punkte aus dem Koalitionsvertrag nennen. Wir wollen einen Nationalen Aktionsplan Energieeffizienz vorlegen, und zwar in der
zweiten Jahreshälfte. Wir wollen die KfW-Programme
aufstocken, verstetigen und vereinfachen. Wir wollen
eine unabhängige Energieberatung fördern und kostenlose Energieberatung für Haushalte mit niedrigen Einkommen ausbauen. Wir wollen auf europäischer Ebene
anspruchsvolle Standards durchsetzen und gegebenenfalls in dem einen oder anderen Punkt Forerunner sein,
und wir brauchen eine bessere Kennzeichnung von Produkten.
({3})
Was mich dann allerdings doch wieder etwas nachdenklich stimmt, ist die Tatsache, dass Sie uns Untätigkeit unterstellen, nur weil die konkreten Vorschläge den
Bundestag noch nicht erreicht haben. Den Grund dafür
habe ich Ihnen schon erklärt. Wir haben uns entschieden,
sorgfältig vorzugehen und keine Schnellschüsse ins
Land abzufeuern.
({4})
Ich kann Ihnen aber versichern, dass sowohl in der
Regierung als auch in den Fraktionen bereits seit vielen
Monaten an Ideen gearbeitet wird; wir werden sie in den
nächsten Monaten und Jahren hier sicherlich intensiv debattieren.
Nun aber zur Umsetzung der EU-Energieeffizienzrichtlinie: Ich finde, Sie zeichnen in Ihrem Antrag ein
sehr dramatisches Bild und verzerren damit die Realität.
Die EU-Energieeffizienzrichtlinie ist am 4. Dezember
2012 in Kraft getreten, und sie soll von den Mitgliedstaaten bis zum Juni dieses Jahres umgesetzt werden.
({5})
- Genau. - Die Frist ist aus meiner Sicht sehr ambitioniert.
({6})
So haben beileibe noch nicht alle Länder die Richtlinie
vollständig umgesetzt. Wir stehen da nicht alleine.
({7})
Hinzu kommen bei uns - ich denke, das muss man auch
ins Kalkül ziehen - eine Bundestagswahl und eine Regierungsneubildung mit sorgfältigen Koalitionsverhandlungen, die ebenfalls Zeit beansprucht haben.
({8})
Es ist außerdem gut nachvollziehbar, dass der neue
Minister in dem von ihm vorzulegenden Maßnahmenkatalog seine Handschrift wiederfinden will. Im Übrigen
- das übersehen Sie völlig - sind Teile der Energieeffizienzrichtlinie bei uns schon geltendes Recht. So sind
die Artikel 9 bis 11 beispielsweise weitestgehend umgesetzt.
Außerdem stimmt es nicht, dass Deutschland bei seinen Reduktionszielen und Effizienzzielen weit hinterherhinkt. So steigern wir seit 1990 die Endenergieproduktivität jährlich um ungefähr 1,8 Prozent. Wir haben
kontinuierlich unsere Ausgaben für die Förderung der
Energieeffizienz beispielsweise im Gebäudebereich aufgestockt und verstetigt. Wir haben noch nie zuvor so viel
Geld für die Förderung der energetischen Gebäudesanierung ausgegeben wie heute. Aber ich stimme Ihnen zu:
Man kann noch mehr tun, und wir werden auch noch
mehr tun.
({9})
Ich mache nun seit über 25 Jahren Umwelt- und Energiepolitik. Für viele Fachleute ist Energieeffizienz schon
immer ein schlafender Riese gewesen.
({10})
Deshalb bin ich froh, dass dieses Thema endlich die Öffentlichkeit erreicht hat und entsprechende Aufmerksamkeit vorhanden ist.
Mit Sorge sehe ich aber die von der EU-Richtlinie
vorgesehenen Energieeffizienzverpflichtungssysteme. Hier
verfolgen wir ausdrücklich einen anderen Ansatz und
setzen auf Anreize, Beratung und Förderung; denn staatlicher Zwang bringt gerade an den Stellen, wo Eigentum
und persönliches Handeln tangiert sind, in der Regel wenig, wie wir in den letzten Jahren bei vielen Projekten
deutlich erfahren mussten. Ganz im Gegenteil: Die Menschen suchen nach Auswegen, um die Maßnahmen nicht
durchführen zu müssen, oder sie verschieben sie auf der
Zeitachse. Auch bürokratische Monster, wie sie in Ihrem
Antrag durchschimmern, sind der Effizienz in der Regel
nicht förderlich.
Effizienzfortschritte und Effizienzsteigerungen sind
auf eine gut ausgebaute Forschungslandschaft angewiesen. Daher ist es notwendig, dass die Forschungsgelder
im Bereich der Energieeffizienz weiterhin auf dem hohen Niveau gehalten werden, auf dem sie sich befinden.
Ich plädiere sogar ausdrücklich dafür, sie zu steigern. In
diesem Zusammenhang ist es auch notwendig, dafür zu
sorgen, dass in Deutschland endlich die Forschungsleistungen von Unternehmen steuerlich geltend gemacht
werden können.
({11})
Wir alle wissen, dass gerade im privaten Bereich noch
erhebliche Effizienzen zu stemmen sind. Smart Grid und
Smart Metering bergen hier große Potenziale; denn mit
ihnen kann der Energieeinsatz auch im privaten Bereich
optimal gestaltet werden. Auf die energetische Gebäudesanierung ist meine Kollegin schon eingegangen; ich
kann das nur noch nachträglich unterstützen. Glücklicherweise haben wir in Deutschland bereits gut funktionierende Strukturen im Energiedienstleistungsmarkt.
Auch diese müssen wir nutzen und mit Vernunft und Augenmaß an die Sache herangehen.
Vernunft und Augenmaß, das wiederum führt mich
zurück zu Ihrem Antrag. Wie bereits gesagt: Sie sprechen zum Teil durchaus sinnvolle Maßnahmen an und
haben marktwirtschaftliche Ansätze, was bei Ihnen normalerweise nicht so häufig vorkommt. Dennoch bietet
Ihr Antrag auch blanken Aktionismus, nach dem Motto
„Viel hilft viel“. Aber das ist bei der Förderung der Energieeffizienz so nicht immer richtig. Betrachtet man beispielsweise die deutschen Förderprogramme, dann stellt
man fest: Hier gibt es für die Bürgerinnen und Bürger inzwischen eine so große Bandbreite, dass viele die Förderung gar nicht mehr durchschauen und deswegen gar
nichts machen. Das kann auch nicht Sinn der Übung
sein; denn mehr Geld bringt nichts, wenn es nicht abgerufen wird.
Hingegen unterstütze ich Ihre Forderung nach mehr
Informations- und Aufklärungsarbeit. Wir haben bereits
im Koalitionsvertrag festgeschrieben, dass wir die unabhängige Energieberatung fördern werden und die kostenlose Energieberatung für Haushalte mit niedrigen Einkommen ausbauen möchten; denn es ist uns allen doch
bewusst, dass der Rebound-Effekt eines unserer größten
Probleme ist. Dem können wir nur durch gute Informationsarbeit begegnen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Energieeffizienz ist
kosteneffektiv, verbessert die Energieversorgungssicherheit und hilft, Emissionen zu senken. Deshalb kann
Energieeffizienz in mancherlei Hinsicht als Europas
größte Energieressource betrachtet werden. Ich lade Sie
gerne ein, gemeinsam mit uns an diesem Projekt zu arbeiten, allerdings realistisch, innovationsoffen und nicht
ideologisch.
Herzlichen Dank.
({12})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Caren Lay das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wenn wir es mit dem Klimaschutz ernst meinen,
dann müssen wir heute auch über das Thema der energetischen Gebäudesanierung sprechen; denn die energetische Gebäudesanierung - das wissen viele - ist der ungehobene Schatz beim Thema Energieeinsparung.
({0})
Hier fällt fast ein Drittel der Treibhausgase an. Das
heißt, wir müssen das Tempo bei der Sanierung anziehen, vor allen Dingen beim Bestand. Wenn wir die Klimaschutzziele erreichen wollen, dann müssen doppelt so
viele Häuser saniert werden, wie es derzeit der Fall ist.
Das ist die eine Seite.
({1})
Die andere Frage ist, wer das Ganze bezahlen soll. In
der gegenwärtigen Situation tragen die Kosten dafür fast
ausschließlich die Mieterinnen und Mieter. Modernisierung - das wissen Sie - ist eine der zentralen Ursachen
für die Vertreibung aus den Innenstädten, weil sich die
Menschen ihre Wohnung nicht mehr leisten können.
Wenn Sie die Zeitung aufschlagen, dann finden Sie Beispiele hier aus der Nähe. In Berlin-Prenzlauer Berg soll
ein Haus saniert werden. Die Mieterinnen und Mieter
sollen nachher fast eine Verdreifachung ihrer Mieten
hinnehmen. So etwas müssen wir unterbinden.
({2})
Deswegen brauchen wir zum einen eine wirkliche
Änderung der Modernisierungsumlage für Mieterinnen
und Mieter. Es muss sich auch die öffentliche Hand an
diesen Kosten beteiligen. Dafür brauchen wir eine andere Finanzierung. Wenn wir uns die Lücke ansehen, die
zwischen den Kosten der Sanierung auf der einen Seite
und den Einsparungen bei den Heizkosten auf der anderen Seite besteht, dann stellen wir fest, dass es sich um
einen Betrag von 5 bis 9 Milliarden Euro handelt. Das
heißt, dass das Gebäudesanierungsprogramm mit 1,5 Milliarden Euro viel zu niedrig angesetzt ist. Wir fordern
deswegen gemeinsam mit vielen Expertinnen und Experten eine Aufstockung auf 5 Milliarden Euro.
({3})
Wir können das Thema Klimawandel und das Thema
energetische Gebäudesanierung nur anpacken, wenn wir
auch Menschen mit geringem Einkommen mitnehmen.
Deswegen sagen wir als Linke ganz klar: Der Heizkostenzuschuss beim Wohngeld muss wieder eingeführt
werden. Schwarz-Gelb hat ihn in der letzten Legislatur
mit der abenteuerlichen Begründung abgeschafft, die
Heizkosten seien gesunken. Schauen Sie sich einmal
Ihre eigenen Zahlen an! Auf meine Anfrage zu dem
Thema wurde geantwortet, sie seien in fünf Jahren um
fast 24 Prozent gestiegen. Wenn wir den Heizkostenzuschuss beim Wohngeld wieder einführen, dann müssen
wir eine Klimakomponente hinzufügen; denn mit einer
solchen Klimakomponente bekommen wir eine Gebäudesanierung hin, die ökologisch und sozial ist.
({4})
Wenn wir über Klimaschutz reden, dann sollten wir in
der Tat auch über das aktuelle Thema EEG-Umlage und
Industrieprivilegien sprechen. Frau Kollegin Gundelach,
ich weiß nicht, ob ich Sie richtig verstanden habe, als Sie
gesagt haben, man dürfe hier keine Schnellschüsse machen; denn die EEG-Novelle, die der Minister vorgelegt
hat, ist ein solcher Schnellschuss.
Kommen wir zum Thema Industrieprivilegien. In der
derzeitigen Form sind und bleiben die Industrieprivilegien eine Einladung zur Energieverschwendung. Das
dürfen wir überhaupt nicht mitmachen, wenn wir es mit
dem Klimaschutz ernst meinen.
({5})
Es ist gestern in der Anhörung klar geworden: Die Effizienzkriterien sind viel zu schwach. Wir sagen: Wir
wollen eine deutliche Reduzierung der Industrieprivilegien, und wir wollen Privilegien nur dort, wo wirklich
verbindliche, klare und anspruchsvolle Einsparpläne
vorliegen. Ansonsten können diese Privilegien der Großindustrie überhaupt nicht gewährt werden.
({6})
Die EEG-Novelle geht insgesamt in die völlig falsche
Richtung. Der Ausbaudeckel für die erneuerbaren Energien, die Direktvermarktung, die Ausschreibungspflicht das alles wird die erneuerbaren Energien ausbremsen.
Das alles ist dem Klimaschutz überhaupt nicht förderlich. Wir müssen alles tun, um dieses EEG zu ändern.
Das Beste wäre, Sie zögen diese Novelle zurück; denn
mit dieser Novelle gehen Sie in die völlig falsche Richtung. Das Gegenteil wäre richtig. Wir müssen alles tun,
um die erneuerbaren Energien zu fördern, damit wir
schnellstmöglich aus Kohle- und Atomenergie herauskommen.
({7})
Klimaschutz ist keine Ökospinnerei, er ist auch kein
Hippiethema, er ist für viele Menschen schon jetzt eine
knallharte Existenzfrage. Deswegen müssen wir uns
deutlich mehr anstrengen. Das geht nicht so nebenbei
nach dem Motto „Noch 148 Mails checken und dann
mal schnell die Welt retten“. Hier müssen wir deutlich
mehr tun. Deswegen unterstützen wir diese Anträge. Ich
freue mich auf die weitere Debatte zum Klimaschutz und
auch zum EEG.
Vielen Dank.
({8})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Nina Scheer
das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, dass uns der Antrag der
Grünen „Die Energiewende durch Energieeffizienz
voranbringen - EU-Energieeffizienzrichtlinie unverzüglich umsetzen“ nun vorliegt, da darin Handlungsbedarfe
angesprochen werden, wodurch wir alle aufgefordert
werden, tätig zu werden.
({0})
Ich möchte voranschicken, dass die im Antrag enthaltene Unterstellung, die Regierung sei untätig bzw. auf
diesem Gebiet sei noch nichts passiert, so nicht zutrifft.
Wir wissen alle - darauf hat auch die Kollegin
Gundelach hingewiesen -, dass ein Regierungswechsel
stattgefunden hat, dass gewisse Neuordnungen in den
Ministerien stattfinden mussten und dass wir mit der
EEG-Novelle derzeit ein großes Projekt zu bewältigen
haben.
({1})
Insofern ist vielleicht erwähnenswert, dass selbst in
der EEG-Novelle im Kontext der Besonderen Ausgleichsregelung ein Passus enthalten ist, der zwar nicht
im Sinne der Umsetzung der Energieeffizienzrichtlinie
zu werten ist - so ist es in der Begründung auch nicht
dargestellt -, der aber sehr wohl anklingen lässt, dass
Energieeffizienzbemühungen ernsthaft aufgegriffen werden. In dieser Novelle ist zum ersten Mal die Einführung
von vollwertigen Energie- und Umweltmanagementsystemen verbindlich verankert, so wie es der Antrag der
Grünen verlangt. Wenn der Gesetzentwurf der Bundesregierung verabschiedet wird, werden solche Systeme
kommen.
Man sieht daran: Das ist eine Neuauflage von Energieeffizienzpolitik, wie sie mit dem Regierungswechsel
möglich wird. Ich denke, wir sollten das als ersten
Schritt in diese Richtung anerkennen und die nächsten
Schritte in diesem Sinne entschlossen vollziehen.
({2})
Klar ist auch - das sieht man auch an den von mir gerade erwähnten Punkten -, dass wir keine Erkenntnislücken haben. Uns allen ist klar, dass wir unsere Energieeffizienzziele nicht infrage stellen dürfen, auch wenn wir
uns darüber bewusst sind, dass es in diesem Zusammenhang Umsetzungslücken gibt. Selbst wenn die Umsetzungslücken schwierig zu schließen sind, so ist trotzdem
eindeutig, dass das Ganze eine Herausforderung und
keine Offenbarung ist, dass wir diese Aufgabe einfach
zu bewältigen haben. Ich denke, das werden wir hier
nicht infrage stellen. Von meiner Seite wird das jedenfalls nicht geschehen. Damit spreche ich mit Sicherheit
auch für die Bundesregierung, unsere Koalition und für
meine Fraktion.
({3})
Ein kurzer Überblick: Seit den 90er-Jahren ist durch
Studien belegt, welche Handlungsaufforderungen an uns
formuliert sind. Es gibt Studien über Studien - etwa vom
Wuppertal-Institut für Klima, Umwelt, Energie; neuere
Studien stammen von der Agora Energiewende -, die
nachweisen, welche Effizienzmaßnahmen wir ergreifen
müssen bzw. inwieweit wir die Energieeffizienz steigern
und Ressourcen schonen müssen, um unsere Klimaschutzziele zu erreichen.
Insofern gibt es kein Erkenntnisdefizit.
({4})
- Es ist ein Handlungsdefizit; das habe ich eingestanden. Ich denke schon, dass es wichtig ist, sich deutlich zu machen, was für Schritte man nun zu gehen hat. Zwar ist
schnell von einem Handlungsdefizit gesprochen; damit
ist aber noch keine Zielerreichung in Sicht, und man hat
damit noch keine Umsetzungsschritte definiert.
Wichtig ist also, dass wir uns noch einmal vergegenwärtigen, was die Chancen von Energieeffizienzmaßnahmen sind. Häufig wird darüber folgendermaßen
diskutiert: Verzicht tut weh, Verzicht ist nichts Schönes.
Dass Energieeinsparmaßnahmen natürlich einen Benefit
für die Gesellschaft bedeuten, dass Energieeinsparmaßnahmen in den Wertschöpfungskreisläufen und mit Blick
auf die Ressourcenschonung langfristig ein Benefit sind,
muss uns noch stärker bewusst werden. Ein typisches
Phänomen von Langfristpolitiken, wie ich sie gerne
nenne, ist, dass sie, anders als kurzfristige Maßnahmen,
erst langfristig effektiv sind; erst die langfristig erzielten
Benefits verschaffen uns Erfolge.
Grundsätzlich sind die damit verbundenen politischen
Herausforderungen nicht so einfach zu bewältigen, weil
die Umsetzung der Maßnahmen kurzfristig manchmal
unbequem ist. Sich unbequeme Maßnahmen vorzunehmen, ist in der Vergangenheit unzulänglich geschehen.
Aber ich denke, wir haben mit den Beispielen, die genannt wurden, die ersten Schritte dargelegt, woraus man
erkennen kann, dass das ernsthaft aufgegriffen wird.
Klar ist auch, dass mit Energieeffizienzmaßnahmen
eine soziale Aufgabe wahrgenommen wird. Sie vermindern das Risiko von Energiearmut. Es ist natürlich auch
klar, dass der Weg hin zu einem vollständigen Umstieg
auf erneuerbare Energien damit verkürzt wird.
Wir sollten dabei in den Mittelpunkt stellen, dass die
Umsetzungsdiskrepanz - davon sprechen wir ja Beschleunigung in der politischen Umsetzung verlangt.
Sonst bräuchten wir nicht von einer Diskrepanz zu sprechen; sonst käme die Umsetzung ja von allein. Die Diskrepanz fordert also Beschleunigung. Das heißt, dass die
Politik gefordert ist, wie es auch die Umsetzung der
Energieeffizienzrichtlinie verlangt. Der Staat ist gefordert. Das müssen wir als Chance begreifen, als Chance,
die Langfristziele zu erreichen.
({5})
Wenn der Staat eine aktiv gestaltende Rolle einnehmen möchte, darf er nicht einfach nur auf freiwillige
Vereinbarungen, auf Selbstverpflichtungen der Industrie
setzen - das hat in der Vergangenheit nicht gereicht -,
sondern er muss verlässliche Rahmenbedingungen
schaffen, die Effizienzinvestitionen ermöglichen. Effizienzinvestitionen sind meist sehr kostenintensiv und
amortisieren sich erst nach längerer Zeit.
Insofern müssen wir uns auch ehrlich die Frage stellen: Welche Schritte sind wir bereit zu tun? Ist das nur
über das Ordnungsrecht zu machen, oder sind es eher
monetäre Anreize, die wir geben müssen? Bei den
monetären Anreizen ist die Frage: Regulieren wir Mengen oder Preise? Es ist weiterhin in der Koalition und
natürlich auch in der Bundesregierung im ersten Schritt
die Frage zu diskutieren, ob die monetären Anreize ausschließlich aus Haushaltsmitteln oder auch aus haushaltsunabhängigen Mitteln gegeben werden können.
Zur Erschließung zusätzlicher Finanzierungsquellen
möchte ich erwähnen, dass die OECD kürzlich auf eine
Schwäche in unserem Steuersystem hingewiesen hat. Ich
finde, das sollten wir ernst nehmen. Die OECD hat angemahnt, dass in Deutschland ein ausgewogenes, sozial
inklusives und umweltfreundliches langfristiges Wachstum die Zielvorgabe sein sollte. Das sehe ich auch als
Aufforderung an uns im Parlament, für eine sozialökologische Transformation im Steuersystem zu sorgen.
Hervorzuheben ist hierbei auch, dass von der OECD
Steuervergünstigungen für umweltschädliche Aktivitäten negativ vermerkt wurden. In diesem Zusammenhang
finde ich es gut, dass Bundesminister Sigmar Gabriel das
schon aufgegriffen hat und die umweltschädlichen
Dienstwagenvergünstigungen unter die Lupe nehmen
möchte.
({6})
Zum Schluss noch ganz kurz: Eine sehr große Herausforderung - das ist ein alter Hut; aber die Frage, wie
wir damit umgehen, ist nach wie vor ungelöst - ist der
Rebound-Effekt. Wir alle wissen: Nach Energieeinsparerfolgen kommt es meist zu einem gesteigerten
Verbrauch. Ganz klar muss sein, dass es hier eine Ausgewogenheit geben muss zwischen Energiepreisen und
Energieeffizienzgewinnen. Die Effekte der beiden Komponenten müssen sich die Waage halten, müssen sich
ausgleichen, sodass sich als Endwirkung von Energieeinsparmaßnahmen und -effizienzmaßnahmen tatsächlich ein Erfolg erzielen lässt.
({7})
Vielleicht noch ein letzter Schlusssatz, wenn mir das
erlaubt ist. - Ich möchte noch eine Brücke zu den drei E
der Energiewende schlagen. Energieeffizienz und Energieeinsparung, das ist im Kontext der Energiewende zu
sehen. Die Energiewende gibt uns eine Chance. Das haben wir auch in der Regierungserklärung von Angela
Merkel gestern gehört, in der auf den Erfolg beim Ausbau der erneuerbaren Energien im Stromsektor - 25 Prozent - hingewiesen wurde. Hier geht es darum, dass sich
eine daran aktiv beteiligte Bevölkerung dessen bewusst
wird. Nur eine aktiv beteiligte Bevölkerung hat die Möglichkeit, Know-how zu sammeln und die Initiativen und
die Motivation zu entwickeln, um auch im Energieeffizienzbereich die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen.
Auf dieser Grundlage bitte ich uns alle, uns diesem
wichtigen Thema erneut zu widmen.
Vielen Dank.
({8})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Julia Verlinden
das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Heute ist ein schlechter Tag für den
Klimaschutz und auch für die Energiewende. Es ist ein
schlechter Tag für wirtschaftliche Innovationen in
Deutschland. Denn heute ist der Stichtag, zu dem die
EU-Energieeffizienzrichtlinie hätte umgesetzt werden
müssen.
({0})
Doch außer Sonntagsreden hat die Bundesregierung
nichts vorzuweisen. Ich sage Ihnen: Sie hätten schon
längst handeln müssen.
Die von der Bundesregierung eingesetzte Expertenkommission schreibt in ihrer Stellungnahme zum Energiewende-Monitoringbericht, dass zwei Drittel der CO2Minderung über die Energieeinsparung erreicht werden
müssen. In einer Befragung im Rahmen des Eurobarometers sagen über 90 Prozent der Europäerinnen und
Europäer, dass die Regierungen Energieeffizienzmaßnahmen unterstützen sollten. Leider scheint diese Erkenntnis immer noch nicht bei Ihnen angekommen zu
sein, Frau Zypries.
Die Bundesregierung brüstet sich ja gerne damit, dass
Deutschland Effizienzweltmeister sei. Doch den Weltmeistertitel kann Deutschland nur verteidigen, wenn die
Regierung jetzt nicht die Füße hochlegt.
({1})
Weltmeisterschaften kann man eben nur mit kontinuierlichem Training, klugen Strategien und schneller Reaktion gewinnen.
({2})
Beim Thema Effizienz - das haben schon viele Vorredner gesagt - würden so viele Akteure profitieren: die
Unternehmen, die Effizienztechniken entwickeln, und
das Handwerk, zum Beispiel bei der energetischen Gebäudesanierung, die schon angesprochen wurde, und
auch bei der Installation von Hocheffizienztechnologien
gerade in den kleinen und mittelständischen Betrieben.
Auch die Verbraucherinnen und Verbraucher sowie die
Kommunen, die unter den hohen Energiekosten leiden,
sie alle würden von einer ambitionierten Energieeffizienzpolitik profitieren. Deshalb verlange ich das jetzt von
Ihnen.
({3})
Bis 2020 könnten laut dem Deutschen Institut für
Wirtschaftsforschung 150 000 neue Jobs durch Energieeffizienz geschaffen werden. Zusätzlich würden jährlich
45 Millionen Tonnen CO2 vermieden und rund 10 Milliarden Euro Energiekosten eingespart.
Während die Europäische Union den Zieleinlauf für
das Energiesparwettrennen heute schon schließt - heute
ist die Deadline -, ist Deutschland noch nicht einmal losgelaufen. Herr Gabriel hat den Startschuss nicht gehört
und setzt damit leichtfertig die eigenen Energiewendeziele aufs Spiel. Die Große Koalition bremst also den
Klimaschutz aus. Obendrein riskiert die Regierung ein
Vertragsverletzungsverfahren aus Brüssel wegen Untätigkeit beim Energiesparen.
({4})
Dabei ist doch klar: Je früher wir in Energiespartechnik und Effizienz investieren, desto höher fällt am Ende
die Dividende aus, desto weniger müssen Haushalte und
Industrie für teure Energieimporte bezahlen. Deswegen
ist es grob fahrlässig, wenn die Energieeffizienzrichtlinie
jetzt nicht zügig umgesetzt wird und wir keine vernünftige Energieeffizienzpolitik von Ihnen bekommen.
Vielen Dank.
({5})
Als nächster Redner hat der Kollege Hansjörg Durz
von der CDU/CSU das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir
alle in diesem Hause wollen die Klimaschutzziele erreichen. Darüber herrscht Einigkeit. Daher bekennen wir
uns ausdrücklich zum 20-20-20-Ziel in den Bereichen
Treibhausgasreduktion, Ausbau der erneuerbaren Energien und Energieeffizienz.
Der Verpflichtung, in Deutschland die Effizienz um
20 Prozent zu steigern, kommt dabei eine ganz besondere Bedeutung zu. Auch wenn beim Thema Energiewende im Fokus der öffentlichen Diskussion seit langem
und aktuell im Besonderen der Ausbau der erneuerbaren
Energien steht, so wird bei Betrachtung der Energieverbrauchsstruktur in Deutschland deutlich, dass Strom
eben nur ein Fünftel ausmacht. Einen größeren Anteil an
Energie, nämlich ein Drittel, verbrauchen wir für Verkehr; den größten Anteil, nämlich die Hälfte, macht die
Wärme aus. Damit wird deutlich, welche Bedeutung der
Energieeffizienz zukommt, aber auch, wie vielschichtig
das Thema ist.
Andererseits sind die Einsparpotenziale riesig. Laut
einer Studie des Fraunhofer-Instituts bietet sich EU-weit
ein wirtschaftliches Einsparpotenzial von 41 Prozent bis
2030. Insofern verstehe ich den Ansatz der zwei Vorlagen, die wir heute beraten, als Chance, die Bedeutung
der Energieeffizienz zu bekräftigen und in einer Phase,
in der die Novelle des EEG das alles beherrschende
Thema der Energiepolitik in unseren Sitzungen und Gesprächen sowie in der öffentlichen Wahrnehmung ist,
darzustellen, welche Bedeutung Effizienzsteigerung und
Einsparungen haben bzw. bekommen müssen.
({0})
Wir müssen gemeinsam dafür sorgen, dass Wirtschaft, öffentliche Hand und private Verbraucher deutlich mehr als bisher zu Energieeffizienzmaßnahmen motiviert werden. Die Fragen, die wir uns in diesem
Zusammenhang immer wieder stellen sollten, sind: Wie
schaffen wir es, das Thema Energieeffizienz besser in
den Köpfen der Menschen zu verankern? Wie setzen wir
Anreize, vor allem solche, die finanzierbar sind?
Mit der Energiewende geht Deutschland einen Weg,
den kein anderes Land der Welt einschlägt. Klimaschutz
darf aber an Ländergrenzen nicht haltmachen, sondern
muss gemeinsam mit unseren europäischen Nachbarn
und in enger Abstimmung umgesetzt werden. Deshalb
ist es so wichtig, dass die Energieeffizienzmaßnahmen
auf europäischer Ebene angegangen werden. Deshalb ist
die europäische Energieeffizienzrichtlinie auch der richtige Weg.
({1})
Allerdings lässt sich die Umsetzung der Energieeffizienzrichtlinie nicht wie eine Checkliste stur nach
Schema F abhandeln. Es handelt sich um eine Richtlinie,
die ein sehr breites Spektrum energiepolitischer Bereiche betrifft, deren Umsetzung in nationales Recht durch
unterschiedliche Normen geregelt wird. Ich bin mir sicher, dass die Bundesregierung intensiv daran arbeitet,
die Richtlinie so umzusetzen, dass die nationalen und
europäisch verabredeten Ziele auch erreicht werden können. Aber dies geschieht nicht anhand eines einzigen nationalen Gesetzes, sondern durch ein ganzes Bündel an
Maßnahmen. Die Richtlinie sieht eine solche alternative
Vorgehensweise ausdrücklich vor, was wir begrüßen.
Die Einführung von Einsparverpflichtungssystemen,
wie es die Richtlinie auch ermöglicht, ist für uns definitiv keine Lösung. Wir dürfen nicht riskieren, dass in
Konsequenz der Umsetzung der EED etwa die Energiepreise weiter steigen oder mehr Bürokratie aufgebaut
wird. Wir wollen vor allem kein System, das auf Zwang
oder Bevormundung basiert. Statt starrer Vorgaben brauchen wir flexible Lösungen.
Die Branche für Energieeffizienzprodukte und -dienstleistungen in Deutschland hat sich enorm entwickelt und
verzeichnet einen starken Zuwachs. Ein Umsatz von
162 Milliarden Euro und die Tatsache, dass dort
800 000 Menschen tätig sind, verdeutlichen das Potenzial, welches das Thema Energieeffizienz auch unter
wirtschaftlichen Gesichtspunkten hat.
Eine zentrale Rolle bei der Umsetzung nimmt unser
heimisches Handwerk ein; das ist bereits erwähnt worden. Nicht nur große Konzerne, sondern insbesondere
die kleinen und mittelständischen Betriebe haben sich
diesem Thema verschrieben. Bei jedem Unternehmensbesuch in meinem Wahlkreis erlebe ich, wie sehr dieses
Thema im unternehmerischen Bewusstsein an Bedeutung gewonnen hat. Allein aufgrund der Entwicklung
der Energiekosten ist es für jedes Unternehmen unerlässlich, die Effizienz des Energieverbrauchs zu steigern.
Dabei wird immer auch deutlich, dass es nicht die Lösung gibt, sondern ganz individuelle Ansätze, auf das jeweilige Unternehmen zugeschnitten. So wird in der Praxis immer wieder deutlich, warum in Deutschland
Erstaunliches gelungen ist: Während die Wirtschaftsleistung in den vergangenen zwei Jahrzehnten deutlich zugelegt hat, ist der Energieverbrauch gleichzeitig gesunken.
Aber auch in den Privathaushalten ist das Thema Effizienz längst angekommen, weil uns allen klar ist, dass
wir in diesem Bereich deutlich mehr tun müssen. Fast
90 Prozent des Energieverbrauchs eines privaten Haushaltes in Deutschland werden für Heizung und Warmwasser verwendet. Hier besteht ein riesiges Einsparpotenzial, das durch bessere Dämmung und effizientere
Heizungen gehoben werden kann. Wie können wir die
Menschen motivieren, dies zu tun? Die Politik hat zuallererst die Aufgabe, zu informieren und aufzuklären sowie ein Bewusstsein für Effizienz und Energieeinsparung zu schaffen.
Es entspricht dabei unserem Gesellschaftsbild, dieses
Bewusstsein nicht durch Zwang oder durch von oben gesteuerte Auflagen zu schärfen, sondern durch Anreize.
Die Energieeffizienzrichtlinie lässt neben den genannten
Energieeinsparverpflichtungssystemen den Mitgliedstaaten auch die Möglichkeit, die Zielvorgaben durch alternative Maßnahmen zu erreichen. Der von uns gewählte
marktorientierte Ansatz ist sicher der schwierigere, aber
der richtige.
({2})
- Das machen wir. - Mit einem vielfältigen Maßnahmenmix sorgen wir für Aufmerksamkeit und Sensibilisierung, Information und Motivation, setzen aber auch
Vorhaben zu Beratung, Finanzierung und Förderung um.
Wir werden an der Politik der Anreize festhalten und
bereits bestehende und bewährte Fördersysteme vorantreiben, so wie wir es im Koalitionsvertrag festgeschrieben haben. So wollen wir zum Beispiel die Mittel für das
KfW-Programm zur energetischen Gebäudesanierung
aufstocken und das Programm verstetigen und deutlich
vereinfachen.
Allein das CO2-Gebäudesanierungsprogramm 2012
bis 2014 ist ein bedeutender Beitrag zur Steigerung der
Energieeffizienz. Schon jetzt bietet es Unternehmen und
privaten Haushalten vielfältige Möglichkeiten, Unterstützung bei der Umsetzung von Energieeffizienzmaßnahmen zu erhalten. Wir müssen die Maßnahmen aber
auch ausbauen und verstetigen. Wir müssen auch alles
daransetzen, die schon jetzt vorhandenen Mittel und
Möglichkeiten noch besser zu kommunizieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,
Sie kritisieren, dass die Richtlinie noch nicht fristgerecht
umgesetzt ist. Das ist nachvollziehbar, Ihr gutes Recht
und letztlich auch die Aufgabe der Opposition. Entscheidend ist aber vor allem, was bis 2020 gegenüber 2008
konkret umgesetzt ist.
({3})
Das ist schon heute einiges - zugegeben: noch nicht ausreichend -, hätte aber mit Ihrer Unterstützung bereits in
der letzten Legislaturperiode deutlich mehr sein können.
Ich denke da an das Scheitern der steuerlichen Förderung der energetischen Gebäudesanierung im Bundesrat.
({4})
Energieeffizienz ist eine Schlüsselfrage im Rahmen
der Energiewende. Wir müssen hier unsere gemeinsamen Anstrengungen deutlich verstärken. Ich bin gespannt auf die Vorschläge des Bundeswirtschaftsministers zur Umsetzung der Richtlinie, die uns sicher bald
vorliegen werden.
Vielen Dank.
({5})
Als nächster Redner hat der Kollege Carsten Müller
von der CDU/CSU das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die Debatte hat eines gezeigt: Was das Ziel an
sich angeht, sind wir hier im Hause eng beieinander; allerdings gibt es durchaus unterschiedliche Vorstellungen
darüber, wie man das Ziel konkret und am besten erreichen kann.
Ich persönlich begrüße es beispielsweise ausdrücklich, dass wir das Aktionsprogramm Klimaschutz 2020
auf den Weg bringen und damit ein fest anvisiertes Ziel
erreichen wollen. Ich halte es auch für einen wesentlichen Baustein, dass es 2016, darauf aufbauend, einen nationalen Klimaschutzplan 2050 geben wird, in dem die
Langfristziele festgeschrieben werden sollen, zum Beispiel - ein kleiner Ausblick -, dass wir bis 2050 die
Treibhausgasemissionen um bis zu 95 Prozent abgesenkt
sehen wollen.
Der Beratungsprozess zu diesem ambitionierten Programm, auch über die langfristigen Ziele, läuft. Ich bin
mir ziemlich sicher, dass die Vorschläge, die die Grünen
sowohl in ihrem heute eingebrachten Antrag als auch in
ihrem heute eingebrachten Gesetzentwurf gemacht haben, zum Teil berücksichtigt werden können. Auf jeden
Fall werden sie die Diskussion beleben.
Wir sind uns Gott sei Dank völlig einig darüber, dass
wir die Treibhausgasemissionen absenken und erneuerbare Energien ausbauen wollen. Verschiedentlich hat
mich die Diskussion leider an eine vorweggenommene
EEG-Debatte erinnert. Aber, ehrlich gesagt, das ist für
die Debatte über die Energieeffizienz und für die Fokussierung auf das wichtige Thema der Energieeffizienz
nicht immer hilfreich.
Wir haben auch weitgehende Einigkeit darüber erzielt, dass die Energieeffizienz gesteigert werden muss.
Wir brauchen hierzu - und das ist der CDU/CSU-Fraktion besonders wichtig - ein eigenständiges verpflichtendes Ziel, nämlich eine Verbesserung der Energieeffizienz
um 40 Prozent bis zum Jahr 2030.
Dass das Thema für die CDU/CSU-Fraktion nicht nur
ein Lippenbekenntnis ist, zeigt sich beispielsweise daran,
dass die Unionsfraktion hierzu einen eigenen Arbeitskreis
gegründet hat, der vor einigen wenigen Wochen mit
durchaus ambitionierten Zielen an die Öffentlichkeit getreten ist und - was mich besonders freut - eine außerordentlich belebende Wirkung auf die Bundesministerin
Hendricks gehabt hat, die sich relativ schnell, daran orientierend, neu positioniert hat.
An dieser Stelle möchte ich ein ausdrückliches Dankeschön an die Bundesregierung richten, verbunden mit
dem Zuruf an Herrn Gabriel und an Frau Hendricks, zu
diesen ambitionierten Zielen, über die wir hier Einigkeit
erzielen, auf EU-Ebene kluge Verhandlungen zu führen
und sie im Ergebnis durchzusetzen.
Meine Damen und Herren, fest steht: Wirksamer Klimaschutz gelingt nur, wenn wir der Energieverschwendung Einhalt gebieten. Dieser Tage passiert auf diesem
Gebiet einiges Bemerkenswertes - ich sehe das nicht annähernd so schwarz wie meine Kollegin Verlinden -,
weil wir beispielsweise nicht nur darüber diskutieren,
welche Menge an Geld wir dafür vorsehen, sondern eben
auch darüber, wie wir dieses Geld effizient einsetzen. Ich
finde es gut, dass, nachdem beispielsweise der VKU, die
DENEFF und auch der BUND schon vor einigen Jahren
wettbewerbliche Modelle im Bereich der Energieeffizienz in die Diskussion gebracht haben, mittlerweile, in
der letzten Woche, auch die dena diesen von ihr einstmals sehr kritisierten Weg als richtig erkannt hat. Ich
glaube, das hat eine enorm belebende Wirkung auf die
Anstrengungen, die wir unternehmen wollen.
Die Anstrengungen sind erheblich. Bis 2020 müssen
wir noch 1 500 Petajoule einsparen, um der EU-Energieeffizienzrichtlinie Rechnung tragen zu können. Dafür
brauchen wir mehr Anstrengungen. Es ist in den Vorreden schon eine ganze Menge Richtiges erwähnt worden.
Wir müssen das also ganzheitlich in Angriff nehmen.
Wir brauchen den Blick auf die Energiewirtschaft: Wie
erzeugt sie Energie, wie transportiert sie sie? Wir müssen der Industrie Anreize zur Energieeffizienz geben.
Gewerbe und Handel sind angesprochen worden, die
Landwirtschaft ist eine wichtige Säule, die wir nicht aus
dem Blick verlieren dürfen. Der Verkehr und die privaten Haushalte haben hier zum Teil Erwähnung gefunden.
Deswegen - ich habe es eben erwähnt - haben wir uns in
der Unionsfraktion intensiv mit diesem Thema auseinandergesetzt.
Wir brauchen Ziele und Anreize - das hat mein Vorredner Durz richtigerweise gesagt -, beispielsweise für
Hausbesitzer und Unternehmer. Wir haben einen ganzen
Strauß von Maßnahmen, die wir kurzfristig umsetzen
oder ausbauen wollen: Wir wollen die KfW-Mittel für
die energetische Gebäudesanierung aufstocken, verstetigen und Investitionssicherheit geben sowie energetische
Investitionen der Haus- und Eigenheimbesitzer steuerlich fördern - ein leider in der letzten Legislaturperiode
nicht zum Erfolg geführtes Projekt. Wir brauchen einen
aussagefähigen Energieausweis; auch da gibt es im Moment konkrete Überlegungen. Wir müssen darauf achten
- da bin ich zuversichtlich -, dass wir die aus meiner
Sicht ganz wichtige Kraft-Wärme-Kopplung zum Beispiel im Rahmen der EEG-Novelle nicht verunmöglichen. Wir müssen - das hat der Kollege Schwabe
richtigerweise angesprochen - dazu kommen, dass formulierte Energieeffizienzanforderungen an die Industrie
schließlich auch überprüft und nachgehalten werden.
Das ist ein wichtiger Baustein. Da sind wir uns Gott sei
Dank in diesem Haus auch weitgehend einig.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, abschließend noch ein Blick auf einige ganz wesentliche Punkte.
Wenn wir uns über Klimaschutz und Energieeffizienzpolitik unterhalten, dann sprechen wir immer auch über
Wirtschaftspolitik. Es arbeiten bereits heute 800 000 Beschäftigte in der Energieeffizienzbranche in Deutschland, stark bzw. überdurchschnittlich aufwachsend. Die
Produkte, die diese 800 000 Menschen herstellen, kön3370
Carsten Müller ({0})
nen zum Exportschlager werden, sind es zum Teil auch
schon.
Ein wichtiger Punkt, der zu meiner Überraschung in
dieser Diskussion noch nicht angesprochen worden ist,
ist, dass uns Energieeffizienz und das Einsparen von
Energie unabhängiger von Energieimporten machen.
Das berührt nicht nur die Diskussion um Gasimporte aus
Russland, sondern es gilt generell, weil wir das Geld, das
wir jetzt für die Energiebeschaffung einsetzen, viel sinnvoller im örtlichen Handwerk einsetzen könnten.
({1})
Wenngleich heute dem Antrag der Grünen und dem
Gesetzentwurf wegen verschiedener Details die Zustimmung versagt bleiben muss,
({2})
so hat doch die bisherige Diskussion und insbesondere
die Nachsichtigkeit der Frau Präsidentin bei leichter
Überschreitung der Redezeiten gezeigt, dass es eine
wichtige Debatte war und dass wir uns ganz wesentlich
einig sind. Ich erinnere mich insbesondere daran - und
das mit Freude; dafür nutze ich die letzte Überschreitung
der Redezeit gerne -, dass sich Vertreter aller Fraktionen
darauf verständigt haben, dem Thema Energieeffizienz
eine besondere Bedeutung dadurch zu verleihen, dass es
einen Parlamentskreis geben wird. Ich lade Sie herzlich
ein, auch im Namen der Vertreter anderer Fraktionen,
sich daran zu beteiligen.
Vielen lieben Dank.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit schließe ich
die Debatte und bitte, die Nachsichtigkeit der Präsiden-
tin jetzt nicht für alle weiteren Debatten einzufordern.
Aber es ist richtig: Es ist wirklich eine sehr wichtige De-
batte, die wir heute miteinander geführt haben.
Ich komme jetzt zu der interfraktionell vorgeschlage-
nen Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen
18/1612 und 18/1619 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse. Sind Sie damit einverstanden? -
Das ist der Fall. Damit sind die Überweisungen so be-
schlossen.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 32 a bis 32 j
auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Abkommen vom 9. September 2013 zwischen
der Bundesrepublik Deutschland und der
Republik der Philippinen zur Vermeidung
der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der
Steuern vom Einkommen und vom Vermögen
Drucksache 18/1568
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Luftverkehrsabkommen vom 25. und 30. April 2007 zwischen den Vereinigten Staaten von
Amerika einerseits und der Europäischen
Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits ({1})
Drucksache 18/1569
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Europa-Mittelmeer-Luftverkehrsabkommen
vom 15. Dezember 2010 zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten einerseits und dem Haschemitischen Königreich Jordanien andererseits ({3})
Drucksache 18/1570
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur ({4})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 26. Juni 2012 zwischen der
Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten und der Republik Moldau über den Gemeinsamen Luftverkehrsraum ({5})
Drucksache 18/1571
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur ({6})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform der Besonderen Ausgleichsregelung für
stromkosten- und handelsintensive Unternehmen
Drucksache 18/1572
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({7})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Umweltinformationsgesetzes
Drucksache 18/1585
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit ({8})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Cornelia Möhring, Birgit Wöllert, Sabine
Zimmermann ({9}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Zukunft der Hebammen und Entbindungspfleger sichern - Finanzielle Sicherheit und
ein neues Berufsbild schaffen
Drucksache 18/1483
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({10})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike
Hänsel, Niema Movassat, Wolfgang Gehrcke,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Verhandlungen über die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen - Neustart ohne Drohungen und Fristen
Drucksache 18/1615
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({11})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
i) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Cornelia Möhring, Kathrin Vogler, Sabine
Zimmermann ({12}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Bundestagsmehrheit nutzen - Pille danach
jetzt aus der Rezeptpflicht entlassen
Drucksache 18/1617
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({13})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
j) Unterrichtung durch die Nationale Stelle zur
Verhütung von Folter
Jahresbericht 2013 der Bundesstelle und der
Länderkommission
Drucksache 18/1178
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({14})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Es handelt sich hierbei um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 33 a bis 33 h auf.
Es handelt sich hier um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Ich rufe zunächst den Tagesordnungspunkt 33 a auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 2. Dezember
2010 zwischen der Europäischen Union und
ihren Mitgliedstaaten einerseits und Georgien
andererseits über den Gemeinsamen Luftverkehrsraum ({15})
Drucksache 18/1224
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr und digitale Infrastruktur
({16})
Drucksache 18/1641
Der Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/1641, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf
Drucksache 18/1224 anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. Wer stimmt dafür? - Alle Fraktionen, soweit ich das sehe. Wer stimmt dagegen? - Einige Mitglieder der Linken.
({17})
Wer enthält sich? - Niemand. Dann ist der Gesetzentwurf damit in zweiter Beratung angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Das sind die Koalition und Bündnis 90/Die Grünen. Wer
stimmt dagegen? - Das ist die Fraktion der Linken. Wer
enthält sich? - Niemand. Damit ist der Gesetzentwurf
mit den Stimmen der Koalition und von Bündnis 90/Die
Grünen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenommen worden.
Ich komme zum Tagesordnungspunkt 33 b:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Richard
Pitterle, Jan Korte, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des
Europäischen Parlaments und des Rates über
Gesellschaften mit beschränkter Haftung mit
einem einzigen Gesellschafter
KOM({18}) 212 endg.; Ratsdok. 8842/14
Stellungnahme gemäß Artikel 6 des Protokolls Nr. 2 zum Vertrag von Lissabon
({0})
Umgehung der Unternehmensmitbestimmung
bei Ein-Personen-GmbH verhindern
Drucksache 18/1618
Wer stimmt für diesen Antrag? - Das ist die Fraktion
Die Linke. Wer stimmt dagegen? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer enthält sich? - Das ist Bündnis 90/
Die Grünen. Damit ist dieser Antrag mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen abgelehnt worden.
Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 33 c bis
33 h, den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Ich rufe zunächst Tagesordnungspunkt 33 c auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({1})
Sammelübersicht 54 zu Petitionen
Drucksache 18/1476
Wer stimmt dafür? - Das sind alle Fraktionen. Wer
stimmt dagegen? - Niemand. Wer enthält sich? - Auch
niemand. Damit ist die Sammelübersicht 54 mit den
Stimmen aller Fraktionen angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 33 d auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({2})
Sammelübersicht 55 zu Petitionen
Drucksache 18/1477
Wer stimmt dafür? - Wiederum alle Fraktionen. Wer
stimmt dagegen? - Niemand. Wer enthält sich? - Auch
niemand. Damit ist die Sammelübersicht 55 ebenfalls
mit den Stimmen aller Fraktionen angenommen worden.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 33 e auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({3})
Sammelübersicht 56 zu Petitionen
Drucksache 18/1478
Wer stimmt hierfür? - Die Koalitionsfraktionen. Wer
stimmt dagegen? - Die Fraktion Die Linke. Wer enthält
sich? - Bündnis 90/Die Grünen. Damit ist die Sammelübersicht 56 mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
angenommen worden.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 33 f auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({4})
Sammelübersicht 57 zu Petitionen
Drucksache 18/1479
Wer stimmt dafür? - Alle Fraktionen. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Wer enthält sich? - Auch niemand.
Damit ist die Sammelübersicht 57 mit den Stimmen aller
Fraktionen angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 33 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({5})
Sammelübersicht 58 zu Petitionen
Drucksache 18/1480
Wer stimmt dafür? - Das sind die Koalitionsfraktionen
und Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? - Die
Fraktion Die Linke. Wer enthält sich? - Niemand. Damit
ist die Sammelübersicht 58 mit den Stimmen der Koalition und von Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 33 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({6})
Sammelübersicht 59 zu Petitionen
Drucksache 18/1481
Wer stimmt dafür? - Die Koalitionsfraktionen. Wer
stimmt dagegen? - Bündnis 90/Die Grünen und die
Fraktion Die Linke. Wer enthält sich? - Niemand. Damit
ist die Sammelübersicht mit den Stimmen der Koalition
angenommen worden.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Weiterentwicklung der
Finanzstruktur und der Qualität in der gesetzlichen Krankenversicherung ({7})
Drucksachen 18/1307, 18/1579
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({8})
Drucksache 18/1657
- Bericht des Haushaltsausschusses ({9}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Drucksache 18/1660
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({10})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Harald
Weinberg, Sabine Zimmermann ({11}),
Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Einführung des neuen Entgeltsystems in
der Psychiatrie stoppen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Maria
Klein-Schmeink, Elisabeth Scharfenberg,
Kordula Schulz-Asche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Unabhängige Patientenberatung stärken
und ausbauen
Drucksachen 18/557, 18/574, 18/1657
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein
Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat
Staatssekretärin Annette Widmann-Mauz von der Bundesregierung das Wort.
({12})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Weiterentwicklung
der Finanzstruktur und der Qualität in der gesetzlichen
Krankenversicherung gehen wir drei wichtige Ziele für
unser Gesundheitswesen an, die wir im Koalitionsvertrag festgehalten haben: Sicherheit für die Versorgung,
Stärkung der Qualität und die Orientierung an den Interessen und Bedürfnissen der Patientinnen und Patienten.
Diese Ziele bedingen einander, und keines ist ohne das
andere wirklich zu erreichen. Das will ich an diesem Gesetzentwurf und wenigen Regelungsbereichen dieses
Gesetzes zeigen.
Wir stellen die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung auf eine dauerhaft solide Grundlage.
({0})
Wir machen die Finanzstruktur der gesetzlichen Krankenversicherung zukunftsfest, indem wir einen allgemeinen paritätisch finanzierten Beitragssatz von 7,3 Prozent
für Arbeitgeber und für Arbeitnehmer gesetzlich festschreiben. Das ist kein Selbstzweck. Wir befördern damit eine gute Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt; denn
mehr Arbeit und sichere Arbeitsplätze bedeuten mehr
Beiträge und damit mehr Sicherheit, im Krankheitsfall
eine gute medizinische Versorgung erhalten zu können.
({1})
Wir legen fest, dass die Krankenkassen ihren zusätzlichen Finanzierungsbedarf über kassenindividuelle einkommensabhängige prozentuale Zusatzbeiträge decken
können.
({2})
Die Mitglieder haben bei der erstmaligen Einführung
oder bei einer späteren Erhöhung des Zusatzbeitrags das
Recht, die Krankenkasse zu wechseln. Sie werden in Zukunft rechtzeitig und in einem separaten Schreiben auf
die Beitragsänderung und ihr Sonderkündigungsrecht
hingewiesen. Sie erhalten darüber hinaus Zugang zu
Beitragsvergleichen der gesetzlichen Krankenkassen.
Wir gehen im Übrigen davon aus, dass im kommenden Jahr bis zu 20 Millionen Versicherte finanziell
entlastet werden können. Die Erhebung von Zusatzbeiträgen erfolgt für die Krankenkassen über einen vollständigen Einkommensausgleich. Damit sorgen wir für faire
Wettbewerbsbedingungen zwischen den Kassen, und wir
vermeiden Fehlanreize wie zum Beispiel die Bevorzugung von Besserverdienenden im Wettbewerb.
Durch diese neue Struktur mit wirksamen Informationspflichten der Kassen, Transparenz für die Versicherten und dem Recht zum Krankenkassenwechsel setzen
wir den Rahmen so, dass die Krankenkassen ihre Beiträge möglichst gering halten, maßvoll und effizient
wirtschaften, aber zugleich ein großes Interesse an hochwertigen Leistungen, guten Versorgungsstrukturen und
gutem Service haben. Das befördert den Qualitätswettbewerb zwischen den Kassen,
({3})
und genau das wollen wir.
({4})
Heute setzen wir einen weiteren überaus wichtigen
Eckstein für die Zukunft unseres Gesundheitswesens,
der in der Fachwelt und sogar über Parteigrenzen hinweg
auf breite Zustimmung stößt. Mit der sehr zügigen Einrichtung eines unabhängigen wissenschaftlichen Instituts
für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen richten wir die medizinische Versorgung noch
stärker grundsätzlich an Qualitätsaspekten und den Bedürfnissen der Patientinnen und Patienten aus. In diesem
Institut werden unter anderem Instrumente und Verfahren entwickelt werden, die zur Messung und zur Darstellung von Qualität in der ambulanten und der stationären
Versorgung geeignet und sachgerecht sind. Damit erhalten die Verantwortlichen im Gesundheitswesen, insbesondere in der Selbstverwaltung, belastbare Qualitätskriterien, die sie zum Beispiel bei der Krankenhausplanung
oder bei der Vergütung von Leistungen einsetzen können. Gleichzeitig schaffen sie mehr Transparenz über die
Qualität der Versorgung und bieten damit Patientinnen
und Patienten verständlichere Informationen an, ja sie
helfen ihnen zum Beispiel auch bei der Entscheidung auf
der Suche nach einem guten Krankenhaus. Das ist eine
sehr anspruchsvolle und schwierige Aufgabe, aber sie ist
des Schweißes der Edlen wert; denn Qualität ist ein
wichtiger Parameter für unser Gesundheitswesen.
({5})
Qualität geht nicht ohne oder gar gegen diejenigen,
die für die gesundheitliche Versorgung im Alltag stehen
und die die medizinischen und pflegerischen Leistungen
erbringen. Deshalb wird dieses vom Gemeinsamen Bundesausschuss als oberstes Organ der gemeinsamen
Selbstverwaltung zu gründende Institut auch von einer
Stiftung getragen. Die Patienteninteressen werden bei
der inhaltlichen Arbeit des Qualitätssicherungsinstituts,
also bei der Entwicklung der Verfahren und der Instrumente zur Qualitätssicherung, durch ein Mitberatungsrecht der Patientenvertretung berücksichtigt.
Zu einer verbesserten Patientenorientierung gehört
für uns auch die Stärkung und Weiterentwicklung der
unabhängigen Patientenberatung. Insbesondere mit der
Ausweitung des telefonischen Serviceangebots wird
diese Beratungs- und Verbraucherschutzeinrichtung in
Zukunft einer noch deutlich größeren Zahl von Patientinnen und Patienten zugänglich werden.
({6})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, neben diesen
grundsätzlichen Maßnahmen steht seit Wochen und Monaten die Sicherstellung der geburtshilflichen Versorgung
durch Hebammen und damit das Recht der Schwangeren
auf freie Wahl des Geburtsorts ganz oben auf der gesundheitspolitischen Themenliste. Wir sind sehr froh,
dass wir in diesem Gesetz eine Regelung gefunden haben, durch die die Hebammen im Hinblick auf steigende
Prämien für ihre Berufshaftpflichtversicherung dauerhaft finanziell entlastet werden können. Von dem befristeten Vergütungszuschlag werden Hebammen profitieren, die typischerweise nur eine geringe Anzahl von
Geburten betreuen, also Hebammen, die Hausgeburten
betreuen, freiberuflich in Geburtshäusern oder als Beleghebammen in der Eins-zu-eins-Betreuung tätig sind.
Ab dem 1. Juli des nächsten Jahres wird es dann einen
dauerhaften Sicherstellungszuschlag geben, der generell
Hebammen hilft, die Haftpflichtprämie aufzubringen,
die aufgrund zu geringer Geburtenzahlen durch die Prämien wirtschaftlich überfordert sind und die - das ist uns
sehr wichtig - die an sie gestellten Qualitätsanforderungen auch erfüllen. Auch damit ist das Thema für uns im
Übrigen noch nicht erledigt, sondern wir gehen weitere,
langfristig wirksame Maßnahmen an. Bundesminister
Gröhe hat zur Begrenzung der Prämiendynamik in diesem Bereich einen Regressverzicht von Kranken- und
Pflegekassen zur Diskussion gestellt. Dieser Vorschlag
wird jetzt innerhalb der Bundesressorts sorgfältig geprüft und weiter konkretisiert.
({7})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieses Gesetz bringt unser Gesundheitswesen strukturell und qualitativ weiter. Es bringt spürbare Verbesserungen für die
Versicherten und insbesondere für die Patientinnen und
Patienten in unserem Land. Es bringt uns den drei großen Zielen der Großen Koalition in der Gesundheitspolitik deutlich näher: mehr Versorgungssicherheit, bessere
Qualität in der Versorgung und mehr Patientenorientierung.
Ich danke am heutigen Tag den Kolleginnen und Kollegen der Koalition und im Ausschuss, insbesondere den
Berichterstattern, für die konstruktiven Beratungen im
parlamentarischen Verfahren. Ich freue mich heute auf
Ihre Zustimmung zu diesem wichtigen Gesetz.
Vielen Dank.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, als nächster Redner
hat der Kollege Harald Weinberg von der Linken das
Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Das zentrale
Finanzierungsgesetz zur gesetzlichen Krankenversicherung für diese Wahlperiode ist auf der Zielgeraden. Es
macht alles ein wenig anders, aber kaum etwas besser.
Im Gegenteil: Gesetzlich Krankenversicherte werden
sich auf Mehrkosten einstellen müssen. Sie zahlen zukünftig mehr. Dagegen werden ihre Arbeitgeber nicht an
den absehbar steigenden Kosten beteiligt. Das ist ganz
klassische Umverteilung von unten nach oben. Das Gemeine daran ist, dass kaum jemand wirklich versteht,
wie genau ihm in die Taschen gegriffen wird.
({0})
Die gesetzliche Krankenversicherung finanziert sich
derzeit im Wesentlichen über einen bundesweit einheitlichen Beitragssatz von 15,5 Prozent. Davon zahlen die
Arbeitgeber 7,3 Prozent, die Versicherten 8,2 Prozent.
Die Versicherten zahlen also jetzt schon 0,9 Prozent
mehr.
Die Bundesregierung wird nun den bundesweit einheitlichen Versichertenbeitrag wie auch den Arbeitgeberbeitrag bei 7,3 Prozent festschreiben; insgesamt
14,6 Prozent. Damit fehlt den Krankenkassen Geld, das
sie zur Versorgung brauchen. Das Geld müssen die einzelnen Kassen nun von den Versicherten verlangen. Die
Arbeitgeber zahlen nichts.
Da bei dem momentanen Beitragssatz von 15,5 Prozent die Einnahmen und die Ausgaben in etwa gleich
hoch sind, werden die Kassen von den Versicherten einen Zusatzbeitrag in Höhe von durchschnittlich 0,9 Prozent verlangen müssen. Die Kassen haben dabei einen
Gestaltungsspielraum. Kassen, denen es gut geht, werden einen Zusatzbeitrag von weniger als 0,9 Prozent verlangen.
({1})
Dazu ist ja gesagt worden, 20 Millionen Versicherte
seien da sozusagen im Vorteil. Nach unserer Kenntnis
sind es nach wie vor sieben Kassen, die das angekündigt
haben, davon nur eine große Versorgerkasse. Da kommen keine 20 Millionen Versicherte zusammen.
({2})
Kassen, denen es durchschnittlich geht, werden so um
die 0,9 Prozent nehmen. Also, für die Versicherten ändert sich im ersten Jahr erst einmal nichts. Kassen, denen
es schlecht geht, werden mehr als 0,9 Prozent nehmen
müssen. Das heißt also, der Beitragssatz steigt. Im
Durchschnitt zahlen zunächst alle gleich viel, es wird
nur von Anfang an zwischen den Kassen anders verteilt
sein. Das ist aber auch gewollt, denn diese Koalition will
ja - wie es gesagt wurde - den Preiswettbewerb zwischen den Kassen anheizen.
Aber auch dieses „gleich viel“ wird sich bald ändern.
In den vergangenen zehn Jahren sind die Einnahmen der
Kassen jährlich um 2 Prozent gestiegen, die Ausgaben
jährlich um 3,7 Prozent. Damit stieg der Beitragssatz regelmäßig an. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass
sich das in der Zukunft ändern wird.
Aber jetzt sind die Zusatzbeiträge die einzige Stellschraube für die Kassen, um zukünftige Kostensteigerungen auszugleichen. Die Versicherten werden alle
diese Kosten allein tragen müssen. Sie tragen also einen
immer größeren Anteil an den steigenden Kosten. Und
das geht richtig ins Geld.
Derzeit zahlen die Versicherten durch den um
0,9 Prozent höheren Beitragssatz jährlich etwa 10 Milliarden Euro mehr als die Arbeitgeber. Im Jahr 2020
wird dieser Betrag auf 34 Milliarden Euro im Jahr angewachsen sein. In Summe werden die Versicherten bis
2020 rund 150 Milliarden Euro mehr zahlen als die Arbeitgeber. Das sind pro Beitragszahler durchschnittlich
3 000 Euro.
Begründet wird dies in unschöner Tradition
Schröder’scher Agenda-Politik mit der notwendigen
Stabilisierung der Lohnnebenkosten zur Stärkung insbesondere der deutschen Exportindustrie. Einmal abgesehen davon, dass jede Wechselkursschwankung einen
weitaus größeren Einfluss auf die Kostensituation der
Unternehmen hat, und einmal abgesehen davon, dass
diese Exportorientierung
({3})
zumindest ein Grund dafür ist, dass sich die Bankenkrise
zur europäischen Wirtschaftskrise ausgeweitet hat, ist es
ein Raubzug durch die Geldbörsen derer mit kleinen und
mittleren Einkommen, der da vorbereitet wird. Das hat
weder etwas mit sozialdemokratischer noch mit christlicher Politik zu tun, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({4})
Die Linke lehnt diese Politik ab, und deshalb lehnen
wir auch dieses Gesetz ab, obwohl darin - neben der
Finanzierung - im Omnibusverfahren auch einige positive Regelungen getroffen werden. Es handelt sich hierbei um Forderungen, die wir selbst seit langem erhoben
haben, denen wir eigentlich zustimmen würden und denen wir übrigens im Ausschuss auch zugestimmt haben.
Dazu gehört zum Beispiel die Verschiebung der Entgeltreform für psychiatrische Kliniken. Am Anfang der
Wahlperiode haben wir selbst einen Antrag eingebracht,
der den Stopp dieses Entgeltsystems fordert, weil sich
sonst die Versorgung psychisch kranker Menschen
verschlechtern würde. Nachdem wir und diverse Fachverbände Druck gemacht haben, verschiebt die Bundesregierung nun die Einführung um zwei Jahre.
({5})
Wir sollten die zwei Jahre nutzen, um dieses Entgeltsystem von Grund auf zu reformieren.
({6})
Dazu gehört auch die verbesserte und verlängerte
Finanzierung der unabhängigen Patientenberatung, die
jedem kostenlose Beratung in allen Fragen rund um die
Krankenversicherung und die Versorgung anbietet ({7})
hier hat die Regierung unseren Vorschlag ja fast übernommen -, und das gilt auch für die Sicherstellung der
Hebammenversorgung. Der würden wir ebenfalls gern
zustimmen, auch wenn die Bundesregierung hier nur
eine kurzfristige Lösung in das Gesetz geschrieben hat,
die nur bis 2016 halten wird. Aber diese ganzen durchaus positiven Punkte schaffen nicht genügend Zuckerglasur, um die Linke dazu zu bringen, die bittere Pille einer grundfalschen Finanzierungsreform zu schlucken.
Deshalb werden wir den Gesetzentwurf ablehnen.
Vielen Dank.
({8})
Als nächster Redner hat der Kollege Karl Lauterbach
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Zunächst einmal: Die Umwandlung der kleinen
Kopfpauschalen in kassenindividuelle, prozentuale Zusatzbeitragssätze ist ein Schritt in Richtung mehr Solidarität in unserem Gesundheitssystem;
({0})
daran ändert auch Ihre Kritik nichts. Sie ist, wie gesagt,
ein Schritt in Richtung mehr Solidarität. Ich möchte
mich ausdrücklich auch bei den Kolleginnen und Kollegen von der Union bedanken, dass sie diesen Schritt mit
uns gegangen sind. Er bedeutet den endgültigen Abschied von kleinen oder großen Kopfpauschalen. Das ist
ein wichtiger Schritt. Das ist ein Schritt, den wir gemeinsam gegangen sind. Das ist ein Schritt, der sowohl
christlich als auch sozial und sozialdemokratisch ist.
Zu dem von Ihnen vorgetragenen Kritikpunkt, Herr
Weinberg, dass zunächst nur die Arbeitgeber entlastet
würden, die Arbeitnehmer aber nicht, muss ich sagen: Es
ist genau umgekehrt. Wenn Sie es also umgekehrt gesagt
hätten, wäre es richtig gewesen. Vielleicht geht es um
20 Millionen Menschen, vielleicht auch um 18 Millionen Menschen. Eine andere Zahl haben Sie ja nicht genannt. Die Zahl, die wir berechnet haben und die von
Ihnen in keinem Dokument widerlegt wurde, ist also die
Zahl, die unwidersprochen im Raum steht. Die
Menschen, die entlastet werden, sind ausschließlich Ar3376
beitnehmer. Arbeitgeber werden zunächst einmal nicht
entlastet.
({1})
Daher ist es nicht so, wie Sie gesagt haben, sondern genau umgekehrt. Wir entlasten zunächst einmal ausschließlich die Arbeitnehmer.
({2})
Von einer Entlastung der Arbeitgeber ist keine Rede. Sie
haben daher schlicht und ergreifend die Fakten falsch
dargestellt.
({3})
- Doch, es ist tatsächlich so. Zunächst einmal werden
nur die Arbeitnehmer entlastet; daran ändert auch der
Zwischenruf von den Grünen nichts. Auch hier im
Plenum muss das Faktische noch eine Rolle spielen. Es
gibt keine einzige Kasse, die zum jetzigen Zeitpunkt
eine Belastung der Arbeitnehmer angekündigt hat. Es
gibt aber zahlreiche Kassen, die eine Entlastung angekündigt haben.
({4})
- Das betrifft aber Millionen Versicherte.
({5})
Millionen Versicherte, die Arbeitnehmer sind, werden
entlastet. Kein Arbeitgeber wird entlastet, und kein
Arbeitnehmer wird belastet.
({6})
Daher ist das ein Schritt in die richtige Richtung, ein
Schritt in Richtung mehr Solidarität.
({7})
- Das ist kein Quatsch; das ist die Wahrheit.
({8})
Sie reden ohne Bezug zum Gesetz.
({9})
Das Gleiche gilt auch an einer anderen Stelle. Es
wurde eben vorgetragen, demnächst gebe es nur noch
einen Preiswettbewerb. Durch das neu eingeführte Qualitätsinstitut werden wir die Qualitätsunterschiede der
Kliniken und sogar der einzelnen Kassen und einzelnen
medizinischen Leistungen transparent machen. Das ist
der erste gewichtige Schritt in Richtung evidenzbasierter
Transparenz und Qualitätskontrolle in unserem Gesundheitssystem, wenn man von Zulassungs- und Erstattungsfragen einmal absieht. Somit ist das auch der erste
richtige Schritt in Richtung eines Qualitätswettbewerbs
und weg vom Preiswettbewerb, den wir derzeit haben.
Der Qualitätswettbewerb ist die einzige Begründung,
weshalb wir keine Einheitskasse haben und weshalb wir
überhaupt einen Wettbewerb zwischen mehr als 130
Krankenkassen haben wollen.
({10})
Wir wollen ausschließlich einen Qualitätswettbewerb,
aber keinen Preiswettbewerb, meine Damen und Herren.
({11})
Es ist richtig, dass die SPD bei dieser Reform natürlich nicht mit allem einverstanden sein kann. Sie ist ein
Kompromiss. Aus meiner Sicht ist sie ein guter Kompromiss, ein Kompromiss mit Augenmaß. Durch die Kombination der Stärkung des Qualitätswettbewerbs und der
kurzfristigen Entlastung der Arbeitnehmer
({12})
schaffen wir Raum für die langfristig aus Sicht der SPD
unbedingt notwendige Einführung einer Bürgerversicherung. Für die SPD bleibt es natürlich dabei: Unser langfristiges Ziel ist die Bürgerversicherung. Aber dieser
Kompromiss ist ein Kompromiss mit Augenmaß, ein
Schritt in die richtige Richtung, ein Schritt, der die Solidarität in unserem Gesundheitssystem stärkt und nicht
schwächt.
Es wird die unabhängige Patientenberatung weiter
ausgebaut. Sie kann auf die Ergebnisse des neu eingerichteten Qualitätsinstituts zurückgreifen. Wir stärken
die Solidarelemente im Kernstück des Wettbewerbs, des
Risikostrukturausgleichs. Wir werden den 15 Jahre lang
geforderten - übrigens auch von Grünen und Linken geforderten - vollständigen Einkommensausgleich im
Rahmen des Risikostrukturausgleichs einführen. Das
führt zu einer Entlastung der Einkommensschwachen
und der Krankenkassen, die viele Einkommensschwache
versichern, und ist ein wichtiger Schritt in Richtung
Solidarität.
Folgende Bemerkung sei mir erlaubt: Wir haben die
besonderen Anliegen der Arbeitslosen und der Empfänger von Sozialhilfeleistungen berücksichtigt, indem Zusatzbeiträge von ihnen gar nicht erhoben werden. Das
wäre eine Erwähnung wert gewesen - gerade von einer
Partei wie der Linken -; denn wir haben hier auf die Zusatzbeiträge derjenigen, die sie sich am wenigsten leisten
können, komplett verzichtet. Das halte ich für eine wichtige Leistung und es darf nicht vergessen werden.
({13})
Somit ist zusammenzufassen: bessere Qualität, wichtiger und richtiger Schritt in Richtung mehr Solidarität
und in Richtung eines Qualitätswettbewerbes, weg vom
derzeitigen Preiswettbewerb, der das Gesundheitssystem
nicht effizienter macht.
({14})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Maria KleinSchmeink das Wort.
Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Erneut konnten wir erleben, dass die Große
Koalition versucht hat, sich einen Gesetzentwurf, der
zutiefst ungerecht ist - im Wesentlichen soll nämlich der
einkommensunabhängige Zusatzbeitrag der CDU/CSUFDP-Koalition abgeschafft und dafür ein prozentualer
Zusatzbeitragssatz eingeführt werden, mit der Gemeinsamkeit, dass dieser Zusatzbeitrag alleine durch die Versicherten zu zahlen ist -, schönzureden.
({0})
Das wird nicht gelingen, weil es im Kern darum geht,
Zusatzlasten den Versicherten aufzubürden.
Harald Weinberg hat gerade vorgerechnet, was das
bedeutet. Ich nenne noch einmal die Zahlen: Im Kern
geht es darum, dass die Versicherten in den nächsten vier
Jahren jährlich 10 Milliarden Euro mehr tragen müssen.
Das ist der Kern des Gesetzentwurfes, der heute verabschiedet werden soll.
({1})
Karl Lauterbach hat sich sehr viel Mühe gegeben,
darum herumzureden: Das überzeugt nicht. Ich muss
ehrlich sagen: Man kann als Verhandlungsführer stolz
sein, wenn man meint, man hätte eine Kopfpauschale
ausgehebelt. Wenn man aber im Gegenzug akzeptieren
muss, dass die Versicherten sämtliche Lasten aufgrund
des Kostenanstiegs im Gesundheitswesen tragen müssen, kann man das nicht mehr sein. Das ist nicht gerecht
und nicht solidarisch, sondern eine einseitige Belastung
der Versicherten, und darüber kann man überhaupt nicht
hinwegreden.
({2})
Ich finde es auch perfide - Sie versuchen, ein Mäntelchen darum herumzuhängen -, dass darauf verwiesen
wird, dass die Versicherten jetzt auf einem Vergleichsportal nachgucken können, welche Versicherung
aufgrund eines geringeren Zusatzbeitrages etwas billiger
ist. Das kann doch nicht die Lösung dafür sein. Es muss
doch darum gehen, dass wir zu einer solidarischen
Finanzierung zurückkehren. Mit Verlaub gesagt: Das
wäre einer Sozialdemokratie würdig! Aufgrund Ihrer
Niederlage im Verhandlungsprozess hätte ich mir an dieser Stelle durchaus ein bisschen mehr Demut gewünscht.
({3})
Ich komme nun zu dem anderen Teil des Gesetzentwurfes. Sie haben im Gesetzestext betont - die Staatssekretärin hat das gerade noch einmal wiederholt -, es
ginge um eine solide und nachhaltige Finanzierung.
Nichts da! Jeder von uns hier im Saal weiß, dass wir spätestens in der nächsten Wahlperiode erneut über die
Finanzierung reden müssen, weil es in der Debatte und
auch gesellschaftlich natürlich nicht zu vermitteln ist,
dass die Belastungen durch Kostensteigerungen einseitig
nur den Versicherten aufgebürdet werden sollen. Sie
werden im Wahlkampf die Frage beantworten müssen,
ob es sein kann, dass jeder Versicherte eine Zusatzbelastung von mehr als 2 bis 3 Prozent zu tragen hat, während
der Beitrag der Arbeitgeber eingefroren bleibt. Das werden Sie der Gesellschaft nicht verkaufen können, und
natürlich werden wir in der nächsten Wahlperiode darüber wieder diskutieren müssen.
({4})
Frau Klein-Schmeink, lassen Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Vogler zu? - Bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. Vielen Dank, Frau
Kollegin, dass Sie die Frage zulassen. - Ich habe einmal
nachgeschaut, was die SPD in ihrem Wahlprogramm
hierzu versprochen hat, und möchte gern Ihre Meinung
dazu hören, inwieweit das umgesetzt wurde.
({0})
Die SPD schreibt in ihrem Programm:
Wir wollen … die Solidarität zwischen den hohen
und den niedrigen Einkommen stärken. Und Arbeitgeber sollen wieder den gleichen Beitrag leisten
wie Beschäftigte, die
- und das Folgende ist fettgedruckt tatsächliche Parität muss wiederhergestellt werden.
Der nächste Satz lautet:
Wir werden mehr Nachhaltigkeit durch die Einführung einer stetig ansteigenden Steuerfinanzierung
erreichen.
Können Sie uns vielleicht erklären, ob diese Anforderungen mit dem vorliegenden Gesetzentwurf und auch
mit dem Haushalt, der uns für den Einzelplan 15 vorliegt, eingehalten werden?
({1})
Ich danke herzlich, liebe Kollegin, für diese Frage,
weil die Antwort mir Gelegenheit gibt, mehr Zeit dafür
aufzuwenden, auf Folgendes hinzuweisen:
({0})
Es ist in der Tat ein gemeinsames Anliegen dieser Opposition und der SPD im letzten Wahlkampf gewesen,
deutlich zu machen: Wir wollen zu einer paritätischen
Finanzierung zurückkehren. - Genau dieses Ziel wird
mit diesem Gesetzentwurf in keiner Weise erreicht.
({1})
Im Gegenteil: Durch die Kürzung des Steuerzuschusses zum Gesundheitsfonds wird der Gang in die Zusatzbeiträge beschleunigt. Auch das wird dazu führen, dass
es noch eher zu den ungerechten Zusatzbeiträgen kommen wird. Genau so stellt es sich dar.
({2})
Kommen wir noch einmal zum Thema „solide und
nachhaltige Finanzierung“. Es stellt sich die Frage: Müssen wir nicht tatsächlich zu einer nachhaltigen Finanzierung kommen? Genau das sollte mit der Bürgerversicherung erreicht werden. Mit der Bürgerversicherung hätten
wir die Gelegenheit gehabt, alle einzubeziehen: sowohl
die Besserverdienenden als auch die kleinen Selbstständigen, die dadurch eine bessere Chance auf faire Bedingungen bei ihrer Krankenversicherung hätten.
Auf der anderen Seite hätten wir die Möglichkeit gehabt, andere Einkommensarten einzubeziehen. Das hätte
zu einer soliden, nachhaltigen und sicheren Finanzierung
unserer ansteigenden Gesundheitskosten führen können.
Genau das wäre der Weg, den wir hätten gehen müssen.
Davon, liebe Sozialdemokratie, sind Sie weiter denn je
entfernt.
({3})
Ich komme zum letzten Teil. Ich habe leider nicht
mehr genug Redezeit, um das Positive in diesem Gesetzentwurf zu betonen. Uns ist es wichtig, dass es mit der
UPD, der unabhängigen Patientenberatung, vorangeht
und dass wir sie stärken. Uns ist es wichtig, dass wir zu
einer wirklichen Psychiatriereform kommen.
({4})
Dazu gehört natürlich die Verlängerung der Optionsphase im Psychiatrie-Entgeltsystem.
({5})
Das halten wir für richtig, und wir finden, dass Sie da
den richtigen Weg eingeschlagen haben. Wir haben mit
unseren Anträgen gezeigt, wie weit das Ganze gehen
müsste. Da hoffen wir auf eine weitere Debatte.
Ein letzter Satz zu den Hebammen. Auch da sind wir
froh, dass da etwas in die Gänge gekommen ist. Wir haben leider in der letzten Wahlperiode erleben müssen,
dass eine Problemlösung verschoben worden ist. Sie gehen dieses Problem an. Aber wir sind von einer nachhaltigen Regelung noch immer weit entfernt. Die Hebammen wissen zwar bis zum nächsten Jahr, wie es
weitergeht. Aber die eigentliche Lösung der Haftpflichtproblematik im Gesundheitswesen steht noch immer
aus. Auch das werden wir massiv einklagen und diesen
Diskussionsprozess vorantreiben.
Danke schön.
({6})
Als nächster Redner hat der Kollege Georg Nüßlein
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Wir
reden über die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung nicht unter den üblichen Vorzeichen. Üblicherweise wird über Leistungseinschränkungen und
Kostendämpfungen diskutiert. Wir haben hier die einmalige Chance, über mehr Transparenz, mehr Wettbewerb
und mehr Qualität bei der Versorgung zu reden. Ich
stelle das deshalb an den Anfang meiner Rede, weil ich
glaube: Das ist der eigentlich wichtige Aspekt.
({0})
Nun geben wir zu: Das geschieht unter dem Vorzeichen einer guten Finanzlage, die einer guten Wirtschaftsund Beschäftigungslage geschuldet ist. Wir alle wissen,
dass das nicht zwangsläufig so bleiben muss und dass
natürlich das Thema Kostenbewusstsein auf lange Sicht
für uns alle als Gesundheitspolitiker ganz entscheidend
bleibt.
Weil die Frau Kollegin Klein-Schmeink das Thema
Kürzung des Bundeszuschusses zum Gesundheitsfonds
angesprochen hat, will ich deutlich sagen: In der jetzigen
Situation ist das vertretbar. Es ist insbesondere deshalb
vertretbar, weil es keine Kürzungen bei den Zuweisungen an die Krankenkassen und mithin auch keine Leistungskürzungen geben wird. Ich bitte Sie deshalb dringend, die Patientinnen und Patienten nicht zu
verunsichern.
({1})
Ich will unterstreichen, dass wir auch schon den umgekehrten Weg gegangen sind. Der Bund ist sich seiner
Verantwortung absolut bewusst. Wir haben in den Krisenjahren 2009 und 2010 im Rahmen des Konjunkturpaketes II den Bundeszuschuss erhöht. Dazu habe ich
keine Kritik gehört, meine Damen und Herren. Ich will
klarmachen, dass das keine Einbahnstraße ist und dass
dieser Betrag wieder aufgefüllt wird. Deshalb wird der
Bundeszuschuss zum Gesundheitsfonds ab 2017 und
über das Jahr 2018 hinaus dauerhaft auf 14,5 Milliarden
Euro erhöht, sodass wir wieder den Ausgleich schaffen.
({2})
Ein zentrales Thema der Vorredner der Opposition
waren die paritätisch getragenen Versicherungsbeiträge.
Frau Kollegin Klein-Schmeink hat mehr Demut eingefordert. Diese hätte ich an ihrer Stelle selber. Denn dass
die Arbeitnehmer anteilig mehr bezahlen als die Arbeitgeber und der Arbeitgeberbeitrag eingefroren wird - aus
wohlüberlegten Gründen, nämlich weil es um Arbeitsplätze geht -, ist keine Erfindung dieser oder der vorhergehenden Koalition. Das wurde vielmehr unter einer rotgrünen Bundesregierung eingeführt. Daran waren die
Grünen mit beteiligt.
({3})
Damals waren Sie der Auffassung, dass das der richtige Weg sei.
({4})
Sie haben nichts dazu gesagt, warum Sie der Meinung
sind, dass das jetzt geändert werden sollte und es nicht
mehr auf die Arbeitsplätze ankommt.
Im Übrigen gehört zur Wahrheit auch, dass die Arbeitgeber über die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall
immerhin rund 30 Milliarden Euro - das entspricht drei
Beitragssatzpunkten - zusätzlich zahlen. Das muss man
der Vollständigkeit halber in diese Rechnung mit einbeziehen.
({5})
- Die erste Errungenschaft, die es überhaupt gegeben
hat, wie Sie sagen, haben Sie dann offenkundig mit aufgekündigt. Es ist schon ein bisschen Demut nötig, wenn
man so etwas in diesem Zusammenhang vorträgt.
Wir gehen einen anderen Weg. Wir stärken die Beitragsautonomie der Krankenkassen und verfolgen den
Weg zu mehr Transparenz und Wettbewerb, versehen
mit einem Sonderkündigungsrecht, sodass man nicht
dazu verurteilt ist, Herr Kollege, höhere Beiträge zu zahlen, sondern wie in einem richtigen Wettbewerb die
Krankenkasse wechseln kann.
({6})
Für entscheidend halte ich auch, dass man darauf hingewiesen wird, und zwar per Brief, statt irgendwo auf der
linken Seite ganz unten in der Mitgliederzeitschrift. So
kann jeder diese Möglichkeit nutzen.
({7})
Das ist ein wichtiges Thema, genauso wie viele andere Fragen, die in diesem Zusammenhang eine Rolle
spielen. Mit der Regelung zum Risikostrukturausgleich
versuchen wir, Gerechtigkeit zwischen den Kassen zu
schaffen. Dazu soll eine verbesserte Anrechnung von
Sterbefällen auf der einen Seite und ein Ausgleich für
Krankengeldzahlungen auf der anderen Seite beitragen.
Dabei melden wir allerdings auf Unionsseite noch einen
gewissen Gesprächsbedarf für die Zukunft an. Denn wir
alle wissen, dass das Einkommen bzw. der Grundlohn
eine Rolle spielt. Wir wollen, dass das im Rahmen der
anstehenden Diskussion stärker berücksichtigt wird. Das
ist ganz klar.
Zu dem Thema Hebammen möchte ich unterstreichen, dass wir jetzt eine Lösung und einen gangbaren
Weg gefunden haben. Es geht um die Hebammen. Ganz
wichtig ist aber auch die freie Wahl des Geburtsortes,
und es geht um die Versorgung im ländlichen Raum.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte ganz ausdrücklich dem Bundesgesundheitsminister dafür danken,
dass er sich außerordentlich dafür engagiert hat, in diesem Bereich den richtigen Weg einzuschlagen.
Vielen herzlichen Dank.
({8})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Sabine Dittmar
das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Mit dem umfangreichen Gesetz zur Weiterentwicklung der Finanzstruktur und der Qualität in der
gesetzlichen Krankenversicherung und den 25 Änderungsanträgen, die wir gestern im Gesundheitsausschuss
beraten und beschlossen haben, werden wir die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung gerechter
und nachhaltiger ausgestalten sowie die Qualität der Patientenversorgung verbessern. Zuallererst - das ist die
gute Botschaft heute -: Die unsägliche Kopfpauschale
wird in wenigen Minuten hier in diesem Plenum beerdigt.
({0})
Die notwendigen Zusatzbeiträge werden zukünftig prozentual und einkommensabhängig erhoben und sind natürlich ein Stück weit gerechter und solidarischer, Frau
Kollegin Klein-Schmeink. Ich habe Ihnen schon das
letzte Mal gesagt: Uns ist die Mehrbelastung der Arbeitnehmer durchaus bewusst. Wir werden darauf einen
scharfen Blick haben. Aber ich sage Ihnen auch: Wir
hätten, wie Sie wissen, gerne eine ganz andere Finanzierung gehabt. Hätten Sie im September letzten Jahres ein
besseres Wahlergebnis erzielt, dann hätten wir das hier
vielleicht auch umsetzen können.
({1})
Ein weiterer wichtiger Bestandteil des Gesetzentwurfs ist die vorgesehene Gründung des Qualitätsinstituts. Für mich ist das ein echter Meilenstein in der Weiterentwicklung der Versorgungsqualität, und zwar
sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich.
({2})
Mit der Erarbeitung, Erhebung und Dokumentation von
Qualitätskriterien im Gesundheitswesen wird das Institut
dem Gemeinsamen Bundesausschuss in der Qualitätssicherung sektorenübergreifend massive Unterstützung
leisten. Auf Grundlage dieser sicheren, belastbaren und
transparenten Daten können dann effiziente Maßnahmen
zur Qualitätsverbesserung entwickelt und eingeleitet
werden. Für mich ist hierbei aufgrund meiner Erfahrungen, die ich in 15 Jahren Hausarzttätigkeit gesammelt
habe, und angesichts der Verunsicherung der Patienten
ein wesentlicher Aspekt, dass zukünftig Qualitätsberichte der Krankenhäuser in verständlicher Sprache veröffentlicht werden. Hiermit bekommen die Patientinnen
und Patienten eine echte Orientierungs- und Entscheidungshilfe an die Hand, um sich in unserer vielfältigen
Versorgungslandschaft zurechtzufinden.
({3})
Ich sage in aller Offenheit: Gerne hätten wir die Patientenvertretung im Vorstand des Qualitätsinstituts stärker verankert. Hier war leider keine Verständigung möglich. Ich meine, dass wir hier eine echte Chance vertan
haben. Wir werden aber darauf achten, dass die Interessen der Patientenvertretung über das Beantragungsrecht
beim Gemeinsamen Bundesausschuss in ausreichendem
Maße berücksichtigt werden.
Wenn ich schon bei den Patientinnen und Patienten
bin, komme ich nicht umhin, hier und heute meiner
Freude über die massive Stärkung der unabhängigen Patientenberatung Ausdruck zu verleihen.
({4})
Denn sowohl die Etablierung als auch die Stärkung der
UPD sind für uns Sozialdemokraten eine wirkliche Herzensangelegenheit. Deswegen erfreut es mich, dass wir
den entsprechenden Etat auf 9 Millionen Euro aufstocken
({5})
und so sowohl die telefonische Beratung verbessern als
auch die Möglichkeit eröffnen, mehr Beratungsangebote
vor Ort zu schaffen. Mit der Verlängerung des Förderzeitraums haben wir für die Träger mehr Planungssicherheit erreicht. Das ist ein großer Erfolg der Koalition und
wird die Patientensouveränität und die Patientenkompetenz weiter stärken.
({6})
In den vergangenen Wochen wurde sehr viel über das
pauschalierte Entgeltsystem in der Psychiatrie, PEPP,
gesprochen. Mit dem nun vorliegenden Gesetzentwurf,
der unter anderem eine Verlängerung der Optionsphase
um zwei Jahre vorsieht, nehmen wir den Druck von den
Kliniken. Das schafft Zeit, das System einer eingehenden Überprüfung zu unterziehen. Ich möchte an dieser
Stelle darauf hinweisen, dass hier auch externer Sachverstand und externe Expertise notwendig sind. Der Minister hat Offenheit gegenüber dieser Thematik signalisiert.
({7})
Die Weiterentwicklung des Morbi-RSA hat in der öffentlichen Anhörung breiten Raum eingenommen. Es
wurde deutlich gezeigt, dass hier noch großer Forschungsbedarf besteht. Ich bin der Meinung, dass die
von der Koalition beabsichtigte Vorgehensweise, Gutachten in Auftrag zu geben, die den Einfluss von Grundlohn, krankengeldauslösender Morbidität sowie sozioökonomischen und soziodemografischen Faktoren sehr
differenziert untersuchen, sinnvoll ist und dass die bis
dahin getroffene Übergangsregelung 50/50 eine sachgerechte und politisch vernünftige Lösung darstellt.
Zur Hebammenversorgung ist heute schon einiges
ausgeführt worden. Ich möchte nur unterstützen, dass
mit diesen Sicherstellungszuschlägen und auch den vereinbarten Qualitätssicherungsmaßnahmen ein erheblicher Beitrag geleistet wird, um die Versorgung aufrechtzuerhalten. Es ist aber auch ganz deutlich, auch von der
Frau Staatssekretärin, gesagt worden, dass noch weiterer
Handlungsbedarf besteht.
Auf die Regionalkennzeichen, die für die Versorgungsforschung sehr wichtig sind, möchte ich jetzt nicht
näher eingehen. Wir werden auch diese einführen und
wichtige Daten gewinnen, vor allem für die regionale
Versorgungsforschung. Das ist auch notwendig; denn
wir werden uns in wenigen Monaten mit einem neuen
Versorgungsstrukturgesetz hier beschäftigen und werden
die Herausforderungen der Versorgungsstrukturen sehr
intensiv diskutieren.
Jetzt bin ich erst einmal froh, dass wir heute dieses
Gesetz auf den Weg bringen. Ich sage: Es ist ein gutes
Gesetz, wir stärken unser Gesundheitssystem nachhaltig
und fördern Qualität und Transparenz zum Wohle unserer Patientinnen und Patienten.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({8})
Als letzter Redner in dieser Debatte hat jetzt der Kollege Rudolf Henke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Ich bin Ihnen, Frau KleinSchmeink und Herr Weinberg, dankbar, dass Sie dem
Parlament sagen, was es mit diesem Gesetzentwurf tun
soll. Sie sagen, das Parlament solle diesen Gesetzentwurf ablehnen.
({0})
Jetzt muss man sich einmal fragen, was eigentlich
passiert, wenn das Parlament Ihrer Empfehlung in dieser
Debatte folgt. Sie haben gesagt, Sie fänden es richtig,
dass die unabhängige Patientenberatung eine stärkere
Grundlage erhalte. Da reden Sie, und wir handeln.
({1})
Sie haben gesagt, Sie fänden es richtig, dass wir mit
den Monopolverträgen bei Impfstoffen für Schutzimpfungen Schluss machen und keine Exklusivverträge
mehr haben. Jedenfalls haben Sie das im Ausschuss gesagt. Hier im Plenum haben Sie es nicht gesagt. Ihre
Empfehlung würde dazu führen, nichts zu tun; wir handeln.
Sie haben davon gesprochen, dass die Versorgung der
Hebammenhilfe verbessert werden müsse.
({2})
Sie haben recht damit, aber wenn man so handelt, wie
Sie das wollen, dann bedeutet das, nichts zu tun; wir
handeln.
({3})
Sie haben von der Notwendigkeit gesprochen, das
PEPP-Entgeltsystem für zwei Jahre auszusetzen und die
Chancen in der Zwischenzeit zu nutzen. Wenn man Ihrer
Empfehlung folgt, wird das nicht geschehen, sondern es
bleibt, wie es ist. Sie tun nichts, wir handeln.
({4})
Deswegen muss man sich die Frage stellen, aus welchem Grund Sie das alles fordern. Da nennen Sie beide
eine einzige Begründung. Die Begründung ist, dass Sie
das Finanzierungssystem, das Schwarz-Gelb eingeführt
hat, behalten wollen, während Sie das Finanzierungssystem, das wir von der CDU/CSU jetzt mit der SPD im
Kompromiss ausgehandelt haben, ablehnen. Weil Sie an
der schwarz-gelben Politik festhalten wollen, lehnen Sie
die Änderungen bei der UPD, bei den Hebammenhilfen,
bei den Impfstoffen und bei der Frage der PEPP-Systematik ab.
({5})
Das müssen Sie einmal Ihren Wählerinnen und Wählern
erläutern. Sie drehen doch Pirouetten, wie es schlimmer
nicht sein kann.
({6})
Das hätten Sie mit uns vor den Koalitionsverhandlungen mit der SPD diskutieren müssen. Dann wären wir
vielleicht zusammengekommen. Aber das wollten Sie
nicht. Sie haben gesagt: Das machen wir nicht. - Dass
Sie jetzt unseren guten Kompromiss mit der SPD torpedieren, weil Sie an schwarz-gelber Politik festhalten
wollen - damit torpedieren Sie die ganzen anderen Verbesserungen -, ist wirklich nicht zu fassen. Die Linke
macht dabei mit, obwohl sie den Änderungsanträgen
gestern im Ausschuss sogar zugestimmt hat. Das ist
wirklich nicht zu fassen.
({7})
Herr Kollege, wollen Sie eine Zwischenfrage zulassen?
Ja, gerne.
Bitte.
Herr Kollege, habe ich Sie richtig verstanden, dass
Sie im Grunde froh sind, dass die Ergebnisse der vierjährigen Regierungszeit von Schwarz-Gelb jetzt begraben
worden sind und dass man den einen Zusatzbeitrag, der
zugegebenermaßen mit sehr viel Bürokratie verbunden
war, nun gegen einen anderen Zusatzbeitrag ausgetauscht hat? Habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie die
letzten vier Jahre im Ergebnis eine relativ schlechte Politik gemacht haben?
({0})
Nein, da verstehen Sie mich völlig falsch. Das glauben Sie auch nicht im Ernst.
Die Welt dreht sich natürlich weiter. Ich habe Sie an
Ihren eigenen Ansprüchen gemessen. Ich finde, das ist
ein wesentlicher Punkt.
Lassen Sie mich noch auf das Thema „Institut für
Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen“ zu sprechen kommen. Ich möchte auf etwas aufmerksam machen, was in den bisherigen Debatten vielleicht nicht ausreichend berücksichtigt worden ist. Herr
Kollege Lauterbach hat bei der Einbringung dieses Gesetzentwurfs von einem Quantensprung gesprochen. Die
Aufgabe, Qualität zu bewerten, ist natürlich sehr komplex. Das kann in der Praxis zu riesigen Problemen führen, beispielsweise beim Vergleich von Krankenhäusern.
Derzeit gibt es in Deutschland ungefähr 30 Listen, die
die Qualität von Krankenhäusern zu vergleichen bean3382
spruchen. Die besten dieser Listen - Krankenhaus-Directory, Weiße Liste, Qualitätskliniken.de - sind einmal
einer Untersuchung unterzogen worden. Dabei ist folgendes Dilemma zutage getreten: Wenn man die Empfehlungen dieser drei Listen, die alle beanspruchen, das
jeweils beste Krankenhaus zu nennen, miteinander vergleicht, dann stellt man fest, dass es nur für sehr wenige
Krankenhäuser übereinstimmende Empfehlungen gibt.
Das heißt, der eine Führer empfiehlt eine bestimmte Klinik und der andere rät vom Besuch des gleichen Krankenhauses ab.
Wir haben etwas Wichtiges getan: Durch unsere gestrigen Änderungsanträge wurde ein Punkt in die Aufträge
an das Institut für Qualitätssicherung und Transparenz
im Gesundheitswesen aufgenommen, nämlich die Risikoadjustierung der Daten. Sie ist von zentraler Bedeutung; denn nur mit einer solchen Risikoadjustierung verhindert man, dass man Äpfel mit Birnen vergleicht.
Schließlich vergleicht man auch nicht die Leistungskraft
eines Läufers, der in der Ebene läuft, mit der eines Läufers, der eine 10-prozentige Steigung zu überwinden hat.
Beide unterliegen nämlich einer unterschiedlichen Aufgabensetzung. Die Risikoadjustierung, auf die wir uns
als Auftragsbestandteil für die Vergleiche und für die
Untersuchungen des Instituts verständigt haben, ist ein
enormer Schritt.
Ich will angesichts der Tatsache, dass in der Ärzteschaft noch der eine oder andere ein bisschen zurückhaltend hinsichtlich dieses Instituts ist, sagen: Ich glaube,
dieses Institut hat die Chance, den Ärztinnen und Ärzten,
den Pflegekräften, den Angehörigen anderer Gesundheitsberufe, etwa den Physiotherapeutinnen und -therapeuten, dabei zu helfen, ihr Ziel einer Qualitätsorientierung der Arbeit in den Krankenhäusern leichter zu
erreichen und davon wegzukommen, dass man sich ausschließlich an Preisen orientiert.
Ich bitte alle darum, sich für dieses Institut einzusetzen. Wie für die Patientenvertretung besteht auch für andere die Möglichkeit, sich im Beirat daran zu beteiligen,
konstruktive Vorschläge für die Beauftragung dieses Instituts zu machen. Ich glaube, dass dieses Institut die
Chance bieten wird, denen zu helfen, auf die es in der
Versorgung eigentlich ankommt, nämlich denen, die sich
für die Patientinnen und Patienten direkt einsetzen.
Ich bedanke mich sehr, dass Sie mir zugehört haben.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Kollege Henke
feiert heute seinen 60. Geburtstag. Herr Henke, dazu
möchte ich Ihnen ganz herzlich gratulieren.
({0})
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes
zur Weiterentwicklung der Finanzstruktur und der Qualität in der gesetzlichen Krankenversicherung. Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/1657, den
Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 18/1307 und 18/1579 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer
stimmt dagegen? - Bündnis 90/Die Grünen und Die
Linke. Wer enthält sich? - Niemand. Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen?
- Bündnis 90/Die Grünen und die Fraktion Die Linke.
Wer enthält sich? - Niemand. Damit ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen der Koalition angenommen worden.
Ich komme zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
der Drucksache 18/1664. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Bündnis 90/Die Grünen und die
Fraktion Die Linke. Wer stimmt dagegen? - Die Koalitionsfraktionen. Wer enthält sich? - Niemand. Damit ist
dieser Entschließungsantrag mit den Stimmen der Koalition abgelehnt worden.
Wir setzen die Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit auf Drucksache
18/1657 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe
b seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/557 mit
dem Titel „Einführung des neuen Entgeltsystems in der
Psychiatrie stoppen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die Koalition. Wer stimmt dagegen? Die Linke. Wer enthält sich? - Bündnis 90/Die Grünen.
Damit ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen
der Koalition angenommen worden.
Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/574 mit dem Titel „Unabhängige
Patientenberatung stärken und ausbauen“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? - Bündnis 90/Die Grünen
und die Fraktion Die Linke. Wer enthält sich? - Niemand. Damit ist diese Beschlussempfehlung ebenfalls
mit den Stimmen der Koalition angenommen worden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe jetzt den
Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({1}) zu dem Antrag der Bundesregierung
Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der
internationalen Sicherheitspräsenz in Kosovo
auf der Grundlage der Resolution 1244 ({2})
des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
vom 10. Juni 1999 und des Militärisch-Technischen Abkommens zwischen der internatioVizepräsidentin Edelgard Bulmahn
nalen Sicherheitspräsenz ({3}) und den
Regierungen der Bundesrepublik Jugoslawien ({4}) und der Republik Serbien vom 9. Juni 1999
Drucksachen 18/1415, 18/1653
Bericht des Haushaltsausschusses ({5})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Drucksache 18/1654
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.
Über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses werden wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Wenn die Kolleginnen und Kollegen im Saal sich gesetzt haben, können wir auch mit der Aussprache beginnen. - Ich eröffne die Aussprache. Ich gebe dazu als erstem Redner das Wort an Dietmar Nietan.
({6})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Europäische Rat hat mit Beschluss vom 23. Mai das
EULEX-Mandat bis in den Oktober 2014 verlängert.
Wer sich diesen Beschluss anguckt, findet einen Satz sagen wir einmal: in der EU-Sprache formuliert -, der
nachdenklich macht. Da heißt es nämlich unter Punkt 6:
Die EULEX-Kosovo-Mission wird in einer Lage durchgeführt, die sich möglicherweise verschlechtern könnte.
- Ich glaube, dieser Satz bringt es auf den Punkt, warum
es wichtig ist, das KFOR-Mandat zu verlängern.
Es gibt unbezweifelbar Erfolge in der Heranführung
des Kosovos an die Europäische Union, es gibt große Erfolge in der Normalisierung der Beziehungen zwischen
Serbien und dem Kosovo, aber das ist immer noch erst
der Anfang eines Weges, von dem wir natürlich hoffen,
dass er am Ende dazu führen wird, dass ein unabhängiges Kosovo von allen Mitgliedstaaten der Europäischen
Union anerkannt wird und dass das Kosovo gute nachbarschaftliche Beziehungen nicht nur zu Serbien hat.
Aber auf diesem Weg gibt es auch Risiken. Deshalb,
liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wir, glaube ich,
beides tun: Wir müssen dieses Mandat verlängern; wir
müssen uns aber auch sehr gut überlegen, was wir als
Deutscher Bundestag, als Bundesregierung, als Europäische Union tun können, um von der militärischen Mission Schritt für Schritt immer mehr zu einer zivilen Mission zu kommen; denn es ist kein Selbstzweck, dass es
KFOR weiterhin als Mandat gibt.
({0})
Ein Punkt ist für mich in diesem Zusammenhang besonders wichtig: Die Menschen, nicht nur die im Kosovo, sondern im gesamten sogenannten Westbalkan,
dürfen nicht nur das Gefühl haben, sondern sie müssen
die Überzeugung haben, dass wir in der Europäischen
Union weiterhin ein großes Interesse daran haben, dass
die gesamte Region, der gesamte sogenannte Westbalkan, eine faire Chance bekommt, am Ende des Tages
Schritt für Schritt mit seinen Staaten Mitglied in der Europäischen Union zu werden. Deshalb darf es ein Signal
von uns nach dem Motto „Nach dem Beitritt Kroatiens
war Schluss, und jetzt geht es nicht mehr“ nicht geben.
Das wäre in dieser Lage, wie sie sich jetzt darstellt, kontraproduktiv, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({1})
Wir müssen uns mehr engagieren. Das heißt für mich
aber nicht, dass es automatisch mehr Geld geben sollte
oder dass es einen Rabatt auf dem Weg zum Beitritt zur
Europäischen Union geben sollte. Vielleicht wäre es
schon sehr hilfreich, wenn es für die Region, insbesondere auch für die Menschen im Kosovo, mehr Interesse
und mehr Empathie seitens der europäischen Staaten geben würde. Manchmal hat man das Gefühl, dass diese
Region von vielen einfach vergessen wird oder nicht
mehr beachtet wird. Ich glaube, das frustriert gerade die
vielen Menschen im Kosovo, die daran glauben, dass sie
eine europäische Perspektive haben.
({2})
Ich will in diesem Zusammenhang an einen bemerkenswerten Artikel von Una Hajdari, einer jungen Kosovarin, die als Bosch-Stipendiatin zurzeit hier weilt, erinnern, der am 21. Mai, einen Tag vor der Debatte zur
ersten Lesung, in der taz zu lesen war. Sie hat in diesem
Artikel geschrieben:
Sie wollen ein Opfer. … Von den Problemen des
Opfers wollen sie nicht allzu viel wissen.
Mit „sie“ in diesem Artikel meint sie die politischen Eliten in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Ich
empfehle Ihnen diesen Artikel zur Lektüre, weil er, wie
ich glaube, zum Ausdruck bringt, wie sich viele Menschen im Kosovo fühlen. Sie haben eher das Gefühl,
dass KFOR eine Besatzungsarmee ist, als dass sie das
Gefühl haben, dass wir uns für sie interessieren und mit
ihnen diesen Weg nach Europa gehen wollen.
Weil das so ist, müssen wir alles dafür tun, dass wir
mit unserem Engagement denjenigen zur Seite stehen,
die im Kosovo rechtsstaatliche Strukturen aufbauen wollen. Wir müssen noch mehr in die Entwicklung der gesamten Region investieren. Vielleicht macht es angesichts der Erfahrungen in der Ukraine Sinn, darüber
nachzudenken, ob der Westbalkan nicht so etwas wie einen zweiten Stabilitätspakt Südosteuropa braucht.
Wir sollten außerdem fair mit allen Ländern des
Westbalkans umgehen. Das heißt für mich: Wir sollten
endlich denjenigen in der Europäischen Union auf die
Füße treten, die wie zum Beispiel Spanien oder Zypern
eine Visaliberalisierung aus plumpen egoistischen Gründen verhindern. Das führt nämlich dazu, dass viele, gerade junge Menschen im Kosovo das Gefühl haben, dass
es ihnen vor der EU-Beitrittsperspektive im ehemaligen
Jugoslawien zumindest hinsichtlich der Reisefreiheit
besser ging als heute. Ich glaube, das kann nicht in unserem Interesse sein, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({3})
Diejenigen in der Europäischen Union, die den Kosovo noch nicht als Staat anerkannt haben, müssen wir
davon überzeugen, den Abschluss eines Stabilisierungsund Assoziierungsabkommens nicht zu blockieren. Mit
diesen Schritten - Visaliberalisierung, Stabilitäts- und
Assoziierungsabkommen - wollen wir den Menschen im
Kosovo signalisieren: Es geht weiter; es gibt eine politische und ökonomische Perspektive.
Das müssen wir tun, damit eines nicht passiert - nicht
nur im Kosovo; wir erleben es leider an vielen Stellen in
Europa -: dass Perspektivlosigkeit gerade bei jungen
Menschen dazu führt, dass das Gift des Nationalismus
- nicht nur im Kosovo - um sich greift. Ob wir es wollen
oder nicht: Für diese Region und insbesondere für das
Kosovo tragen wir die Verantwortung dafür, dass es vorwärtsgeht.
In diesem Sinne sollten wir das Mandat für KFOR
verlängern, aber auch an die zivile Perspektive denken.
Nur in Kooperation mit den Menschen und mit Empathie
für die Menschen vor Ort wird es dort einen Fortschritt
geben.
Vielen Dank.
({4})
Als nächster Rednerin erteile ich der Abgeordneten
Inge Höger, Fraktion Die Linke, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bevor ich
zum Kosovo komme, möchte ich ein paar Worte zur
Lage in Bosnien-Herzegowina sagen. Das Land wurde
unlängst von einer Jahrhundertflut erfasst. Angesichts
der humanitären Katastrophe in dieser Region ist es bedauerlich, dass die Notlage der Menschen so wenig Beachtung in Deutschland findet.
({0})
Beobachter gehen davon aus, dass die materiellen Schäden größer sind als die im Krieg vor 20 Jahren. Ich selbst
werde mir nächste Woche die Hochwasser- und Erdrutschgebiete ansehen und mit den Betroffenen reden.
Die Menschen dort brauchen keine Bundeswehr, sondern humanitäre Hilfe und Unterstützung.
({1})
In Bosnien wie im Kosovo hängen zwei Probleme
eng zusammen: Armut und ethnischer Nationalismus.
Beides wird durch die Balkanpolitik der Bundesregierung nicht bekämpft, sondern befördert. Knapp 40 Prozent der Bevölkerung des Kosovo leben in Armut, etwa
15 Prozent in extremer Armut. Die Hälfte der Menschen
ist erwerbslos. Diese Situation hat ihre Ursache auch in
den Privatisierungen, die die EU und Deutschland dem
Kosovo als Bedingung für Unterstützung vorschreiben.
Die KFOR-Truppen sorgen dafür, dass diese Privatisierungen notfalls militärisch abgesichert werden. Das ist
unglaublich.
({2})
Ich gebe Ihnen gerne ein Beispiel. Im Jahr 2000 haben KFOR-Soldaten die von Arbeiterinnen und Arbeitern besetzte Trepca-Mine in der Nähe von Mitrovica
militärisch geräumt. Das blüht den Menschen, wenn sie
sich gegen den Ausverkauf ihres Landes zur Wehr setzen. Die Linke lehnt es ab, die Bundeswehr zur Aufstandsbekämpfung in den Kosovo zu schicken.
({3})
Die Bundesregierung hat wohl auch deshalb ein Interesse an der Stationierung von Soldatinnen und Soldaten
im Kosovo, weil deutsche Unternehmen dort Geld machen wollen. Nun ist der Kosovo nicht gerade ein lukrativer Markt, aber paradoxerweise subventioniert die
Bundesregierung den Unterhalt deutscher Kohlekraftwerke in diesem Land. Deutsche Steuergelder werden
dafür eingesetzt, dass Vattenfall und Co. Profite machen
und die Luft im Kosovo verpesten.
({4})
Gleichzeitig tönt Herr Gabriel von einer Energiewende.
Das ist Heuchelei. Die Linke wird das nicht akzeptieren.
({5})
- Stimmt es oder stimmt es nicht? Nehmen Sie dazu einmal Stellung.
({6})
Auch an den ethnischen Spannungen im Kosovo ist
die Bundesregierung nicht unbeteiligt. Dass sich die
Bundesregierung 1999 einseitig auf die kosovo-albanischen Separatisten gestützt hat und sich für sie starkgemacht hat, ist hinlänglich bekannt. Aktuell muss ich
mich aber sehr wundern, dass Ministerin von der Leyen
meint, es sei gelungen, den Kosovo von einer gespaltenen in eine inklusive Gesellschaft zu verwandeln.
({7})
Frau Ministerin, haben Sie sich auch mit den einfachen
Menschen des Landes unterhalten oder nur mit Soldatinnen und Soldaten?
Ungeachtet des Brüsseler Abkommens, das eine Normalisierung der Beziehung zwischen Serbien und dem
Kosovo postuliert, nehmen die Spannungen zwischen
Albanern und Serben nicht ab. Sinti, Roma, Juden und
andere Minderheiten sind von massiver Diskriminierung
bedroht. Ich habe den Kosovo mehrere Male besucht
und muss sagen, dass zur Bezeichnung „inklusive Gesellschaft“ sehr viel Fantasie gehört. Schönreden hilft
nicht.
({8})
Auch die Parlamentswahlen am kommenden Sonntag
stehen unter keinem guten Stern. Das Handelsblatt vom
1. Juni findet dazu sehr klare Worte - ich zitiere -:
Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Parteien in
der Regel von einigen wenigen Oligarchen abhängig sind, die durch Stimmenkauf und Manipulationen der Wählerlisten größeren Einfluss auf den
Wahlausgang haben als die Bürger selbst.
({9})
Dass sich im Kosovo in Zukunft etwas Grundlegendes ändern könnte, wird nicht erwartet, weil die
Kandidaten fürs Parlament in der Regel bekannte
Gesichter sind.
({10})
Wie in der Ukraine unterstützt die Bundesregierung auch
im Kosovo eine Clique von Oligarchen, die sich bereichern, während der Großteil der Menschen in Armut
lebt. Mit dieser Politik muss endlich Schluss sein.
({11})
Die KFOR-Truppen sind ein fester Bestandteil des
ganzen Schlamassels. Die NATO hat 1999 bei ihrem
völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf Jugoslawien
auch Uranmunition eingesetzt. Besonders betroffen ist
der Kosovo. Ein hoher Staatsbeamter aus Pristina hat
mir unter vier Augen verraten, dass die KFOR den Behörden im Kosovo untersagt hat, Untersuchungen zu
Umfang und Folgen des Einsatzes von Uran durchzuführen. Bezeichnenderweise importiert die KFOR Trinkwasser für ihre Soldatinnen und Soldaten. Kenner wissen eben, dass Uran das Trinkwasser verseucht.
({12})
Die Linke bleibt dabei: Bundeswehr und KFOR richten im Kosovo nur Schaden an und müssen schnell abgezogen werden. Wir sagen Nein zum KFOR-Mandat.
({13})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Peter Beyer, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Verehrte Gäste! Frau Höger, nur ganz kurz am Anfang sei gesagt: Diese Geschichts- und Wahrheitsverzerrung, ja Wahrheitsverfälschung, die Sie hier betreiben,
ertragen wir nicht.
({0})
Das können wir fast nur unter Schmerzen wahrnehmen.
Das soll es aber auch schon zu Ihren Ausführungen über
den KFOR-Einsatz gewesen sein.
Im Übrigen ist das eine Beleidigung für die Soldatinnen und Soldaten, die dort Dienst tun. Das darf ich an
dieser Stelle auch einmal sagen.
({1})
15 Jahre nach dem Ende des Kosovo-Krieges geht es
darum, die Geschichte des Annäherungsprozesses zwischen ehemaligen Kriegsfeinden verantwortungsvoll
fortzuschreiben. Es geht darum, die Sicherheit für die
Menschen auf dem westlichen Balkan zu stärken und ihnen damit Hoffnung auf eine attraktive Zukunft zu geben. Die Spuren des Guerillakrieges nach dem Auseinanderbrechen Jugoslawiens sind nicht erst nach der
verheerenden Flut der vergangenen Wochen gewissermaßen an das Tageslicht geschwemmt worden.
Das Kosovo zählt zu den ärmsten Ländern in Europa,
und die Menschen brauchen greifbare Perspektiven. Das
haben wir Ihnen 2003 auf dem Gipfel von Thessaloniki
versprochen. Daran hat sich nichts geändert. Dazu stehen wir noch heute.
Die Geschichte zeigt uns in den Ländern des westlichen Balkans auf beeindruckende Weise, wie man aus
einer schier ausweglos erscheinenden Situation gleichwohl den Weg in eine friedliche Zukunft finden kann,
obwohl die ethnischen, religiösen und politischen Gegensätze zwischen Kosovaren und Serben unverändert
sind und das Konflikt- und Eskalationspotenzial nach
wie vor hoch ist, besonders im Norden des Landes.
Die Soldatinnen und Soldaten der Schutztruppe
KFOR sind nach wie vor ebenso wie die Rechtsstaatlichkeitsmission EULEX ein Sicherheitsanker, den wir noch
nicht lichten können. Wir sollten allerdings für die nähere Zukunft eine weitere Absenkung der Obergrenze
der Truppenstärke andenken.
Gewissermaßen als Sinnbild für den nicht beendeten
Konflikt und das Überwinden bestehender Ängste steht
die immer noch verbarrikadierte Brücke über den Fluss
Ivar in der geteilten Stadt Mitrovica. Immer wieder
kommt es hier zu Explosionen, zuletzt vor circa zwei
Wochen. Auch vor den Kommunalwahlen Ende letzten
Jahres war es wiederholt zu gewalttätigen Auseinandersetzungen gekommen. Die anhaltenden Spannungen und
das gegenseitige Misstrauen zwischen den Bevölkerungsgruppen im Norden machen den Einsatz der KFOR
in dieser Phase der Integrationsbemühungen unabdingbar.
Meine Damen und Herren, anfangs - und das sollten
wir uns noch einmal in Erinnerung rufen - waren 40 Na3386
tionen mit rund 50 000 Soldaten am KFOR-Einsatz beteiligt. Mittlerweile leisten noch knapp 5 000 Soldaten
Dienst. Seit 1999 waren zusammengenommen über
100 000 deutsche Soldatinnen und Soldaten im Kosovo
im Einsatz. Für ihren wichtigen Beitrag zu Stabilität,
Frieden und Sicherheit an der serbisch-kosovarischen
Staatengrenze sage ich ausdrücklich Danke.
({2})
Solange der Normalisierungsprozess nicht abgeschlossen ist und niemand die Sicherheit und den Frieden für die Region garantieren kann, wäre es schier
unverantwortlich, das aktuelle internationale Sicherheitsgefüge im Kosovo aufzugeben. Es gilt, das Erreichte für die Menschen vor Ort zu sichern und Rückschritte zu verhindern.
Das Normalisierungsabkommen vom April letzten
Jahres, das sogenannte Brüsseler Abkommen, ist ein
wichtiger Schritt auf einer vielsprossigen Leiter vom
Dauerkonflikt hin zu einer friedlichen Koexistenz und
damit zu einer sicheren Nachbarschaftspolitik. Die konkrete Implementierung als nächste Sprosse auf dem Weg
in die angestrebte EU-Mitgliedschaft erfordert dabei aktives und konkretes Handeln, gerade in Bezug auf den
technischen Dialog.
Die Auflösung der Parallelstrukturen im finanziellen
und im Justizbereich im Norden des Kosovo ist nach wie
vor nicht erreicht. Hier ist Serbien in der Pflicht.
Besonders heikel ist die Regelung zum Appellationsgericht. Nach wie vor liegen keine Auflistung und keine
Übersicht aller von Serbien geleisteten Zahlungen vor.
Die vollständige Einrichtung des serbischen Gemeindeverbundes ist nicht vollzogen. Das alles sind Herausforderungen, ja Bedingungen für eine erfolgreiche Heranführung an europäische Standards.
Zur Wahrheit gehört auch, zu sagen, dass Europa
bedauerlicherweise selbst noch nicht bereit für eine
Aufnahme des Kosovo in die Staatengemeinschaft ist.
Kollege Nietan hat es ausgeführt: Immer noch verweigern fünf EU-Mitgliedstaaten dem Kosovo die völkerrechtliche Anerkennung. Das ist wenig ruhmreich und
muss sich alsbald ändern. Zudem halte ich es für überfällig, den Menschen des Kosovo Reisefreiheit einzuräumen. Es ist das einzige Land der gesamten Region, für
dessen Bürger eine Visumspflicht für den Schengenraum
besteht. Auch hier sollten die Anstrengungen zur Anpassung der Situation verstärkt werden.
({3})
Einiges ist bereits im Kosovo geleistet worden. So ist
die Einrichtung eines Sondertribunals als positiv zu
werten. Es soll die mutmaßlichen Verbrechen der kosovarischen Befreiungsarmee untersuchen. Gerade für die
politische Landschaft im Kosovo spielt diese Entscheidung eine wichtige Rolle; denn diese wurde - nach einigen Widerständen - von einer breiten Mehrheit im Parlament getragen. Zu den anerkennungswerten Punkten
zählt auch die Fortsetzung der EU-Rechtsstaatsmission
EULEX sowie die insgesamt gut verlaufenen Kommunalwahlen Ende vergangenen Jahres.
Niemand sollte dabei allerdings in der Illusion leben,
sich ausruhen zu können. Die dringend erforderliche
Wahlrechtsreform, die eine Durchführung von Wahlen
nach internationalen Standards garantieren sollte, ist anzumahnen. Noch nicht beantwortet wurde die Frage
nach den Sitzen für Minderheiten im Parlament. Darüber
hinaus wird sich bei den Wahlen am 8. Juni 2014 zeigen,
wie die Eingliederung des Nordens gelingt und ob in Zukunft der bereits angemahnte Abbau von Parallelstrukturen sowie eine stärkere Einbindung in das kosovarische
Staatengefüge wirklich erkennbar werden.
Herr Kollege, ein kurzer Blick auf die Zeit, bitte.
Genau, ich komme zum Schluss. - Auch mit Blick
auf die bevorstehenden Parlamentswahlen am kommenden Sonntag erwarten wir, dass der Dialogprozess mit
Serbien von beiden Seiten mit großer Ernsthaftigkeit
fortgesetzt wird; denn wer beitreten will, muss beitragen.
Herzlichen Dank.
({0})
Als nächster Rednerin erteile ich der Abgeordneten
Dr. Franziska Brantner, Bündnis 90/Die Grünen, das
Wort.
Herzlichen Dank. - Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Vorrednerinnen und Vorredner haben es schon
gesagt: Die Annäherung zwischen Serbien und dem
Kosovo geht in den nächsten Monaten in eine kritische
Phase. Das Abkommen vom April des letzten Jahres
wurde schon erwähnt. Wir wissen aber gleichzeitig auch,
dass es immer noch Kräfte gibt - rechtsextreme Serben,
aber auch Angehörige der organisierten Kriminalität, die
gar nicht unbedingt eine nationale Agenda verfolgen -,
die eine Annäherung verhindern wollen. Sie schrecken
vor Gewalt nicht zurück. Das zeigen die Angriffe auf die
Kommunalwahlen im November und auch wiederholte
Beschüsse der EULEX-Mission im Norden. Deshalb ist
der KFOR-Einsatz in dieser Übergangsphase der - zu
hoffenden - Annäherung immer noch notwendig.
Sie haben schon die Parlamentswahlen erwähnt, die
jetzt am Sonntag anstehen. Wir sollten den Grund dafür
in Erinnerung rufen: Das war eine Abstimmung über
eine eigene kosovarische Armee im Parlament, für die es
keine Mehrheit gab. Alle Serben haben dabei den Saal
verlassen. Darum gibt es jetzt Neuwahlen. In der Diskussion um eine eigene kosovarische Armee - die vielleicht
in dieser Phase nicht sehr hilfreich für den AnnäherungsDr. Franziska Brantner
prozess ist - war es für die Gegner dieser eigenen Armee
wichtig, sagen zu können: KFOR ist ja da. - In dieser Situation KFOR abzuziehen, wäre fatal und politisch nicht
wünschenswert.
({0})
Für Serbien muss aber auch klar sein: Ein EU-Beitritt
ist nur möglich, wenn das Kosovo bis dahin völkerrechtlich anerkannt ist. Ein zweites Zypern kann sich die
Europäische Union nicht leisten, und Serbien darf den
Beitritt des Kosovo nicht blockieren.
({1})
Wir wissen, dass die Bedrohung immer noch vorhanden ist, dass wir im Kosovo eine Art zweite Republika
Srpska bekommen können und die serbischen Strukturen
nicht wirklich in das Land integriert werden. Das müssen wir verhindern. Wir müssen daran arbeiten, dass
auch diese Menschen sich im Kosovo wirklich zu Hause
fühlen.
Ich hoffe sehr, dass die serbischen Kosovaren bei den
Parlamentswahlen, die jetzt anstehen, ihr Wahlrecht
wahrnehmen, sich beteiligen und nicht auf die Boykottforderungen einzelner Vertreter der serbischen Minderheit eingehen. Wir hoffen, dass der Friedensprozess
durch die Wahl gestärkt werden kann.
({2})
Uns belastet die Hypothek, dass die Anerkennung des
Kosovo durch fünf Mitgliedsländer der Europäischen
Union immer noch aussteht. Es ist wirklich eine Krux,
dass sie das Kosovo immer noch nicht anerkannt haben.
EULEX hat deswegen Probleme vor Ort. Die Mission ist
nicht so stark, wie sie sein sollte, von ihren Rechten her,
von ihrem Ansehen her, von der Komplexität der Strukturen her. Dass wir es immer noch nicht hinbekommen
haben, dass die gesamte EU das Kosovo anerkennt, ist
eigentlich eine Schande für die Europäische Union. Ich
hoffe, dass die Bundesregierung ihren Beitrag dazu leistet, dass endlich die letzten fünf Länder davon überzeugt
werden können, das Kosovo anzuerkennen.
({3})
Lassen Sie mich am Ende ein Wort zur Lage der
Roma im Kosovo sagen: Ihre Situation ist unverändert
schlecht. UNICEF berichtet auch von der unzumutbaren
Lage der Rückkehrer, vor allem der Kinder. Drei Viertel
der Kinder gehen nach der Rückkehr in das Kosovo
nicht mehr zur Schule. Sie erkranken körperlich und seelisch. In der Regel sprechen diese Kinder Deutsch, aber
weder Albanisch noch Serbisch. Insgesamt ist die Lage
dort weiterhin von Ausgrenzung und Diskriminierung
geprägt. UNICEF und Amnesty International fordern
deswegen, die Abschiebung von Minderheitenangehörigen in das Kosovo zu stoppen.
({4})
Wir brauchen endlich einen bundesweiten Abschiebestopp für Roma und andere Minderheitenangehörige aus
dem Kosovo und eine Visumfreiheit für die Bürger des
Kosovo, um zu verhindern, dass es als einziges, letztes
kleines Land keinen Anschluss an Europa hat.
Ich danke Ihnen.
({5})
Als nächster Rednerin erteile ich der Abgeordneten
Julia Bartz, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Vor zwei Monaten hat die NATO, 15 Jahre
nach dem Ende des Kosovokrieges, den oberen Luftraum über dem Balkanstaat wieder für zivile Flugzeuge
geöffnet - ein kleines Stück Normalität, das viele positive Begleiteffekte mit sich bringt.
Seit 15 Jahren entsenden wir Jahr für Jahr unsere
Soldatinnen und Soldaten in das Kosovo, seit 15 Jahren
verlängern wir Jahr für Jahr das Mandat. Mittlerweile ist
das Amselfeld vielen Bürgerinnen und Bürgern nur mehr
als Weinbauregion bekannt, und das „Land der Skipetaren“ wird vermehrt wieder als Schauplatz der Geschichten Karl Mays betrachtet. Wer aber denkt, wir bräuchten
den Einsatz nicht mehr, den dürfte spätestens die Krise
in der Ukraine eines Besseren belehrt haben. Präsident
Putin bemühte in aller Unsachlichkeit eine von ihm
konstruierte Parallele, nämlich zwischen der Unabhängigkeit des Kosovo und dessen unverändert bestehenden
Problemen mit der Situation auf der Krim sowie der
Lage in der Ostukraine. Doch der völkerrechtliche Vergleich des Kosovokrieges mit der Kriminvasion hinkt;
die Hinter- und Beweggründe sind vollkommen verschieden.
Seit 15 Jahren stabilisieren wir eine Region, in der ein
Völkermord geplant war, der in letzter Minute abgewendet werden konnte,
({0})
vor unserer Haustür, in Europa, in einer Region, in der
28 Staaten friedlich miteinander leben, an der Schwelle
zwischen Abendland und Morgenland. Nicht erst seit
Ivo Andrics Schilderungen in seinem Werk Die Brücke
über die Drina wissen wir, welch langes kulturelles Gedächtnis und welcher Stolz die Völker dieser Region
verbinden - Eigenschaften, die uns mitunter fremd erscheinen, wo wir selbst mit ehemaligen Gegnern heute
wunderbare Freundschaften pflegen. Doch gerade die
Vertreter nationaler Maximalpositionen beziehen sich
noch heute auf Geschehnisse, die vor 600 Jahren stattge3388
funden haben, und empfinden für das Amselfeld wie andere für Jerusalem. Diese Maximalpositionen wurden in
den letzten 15 Jahren so weit verlassen, dass heute miteinander geredet und nicht mehr aufeinander geschossen
wird. Deshalb sind heute nicht mehr 50 000 Soldatinnen
und Soldaten nötig, sondern nur noch ein Zehntel davon.
Doch die sind eben noch nötig. Im Norden des Kosovo,
wo sich die serbische Bevölkerungsminderheit konzentriert, weigern sich die meisten Serben immer noch, die
Zentralregierung in Pristina anzuerkennen. Im Parlament, wo sie aufgrund von Schutzklauseln großen
Einfluss haben, boykottieren sie die Bildung einer eigenen Armee. Parlamentsauflösung und Neuwahlen sind
derzeit die Folge, aber eben kein Bürgerkrieg.
Die Region bewegt sich in die richtige Richtung, aber
nur langsam. Zu Gesprächen und Verhandlungen, wie
schmerzhaft und schwer sie für alle Seiten in Zukunft
auch sein mögen, gibt es keine Alternative, zumindest
keine, die wir uns für Europa wünschen. Dafür brauchen
wir den Schutz von KFOR. 15 Jahre KFOR, das ist eine
lange Zeit; das entspricht fast vier Legislaturperioden.
Sehr geehrte Gäste und Zuschauer! Gerne möchte ich
die Mandatsverlängerung zum Anlass nehmen, zu erklären, wie wir solche Entscheidungen treffen. Unsere ausschlaggebenden Kernfragen bei allen Einsätzen der Bundeswehr lauten: Was ist unser nationales Interesse?
Welchen beabsichtigten Zielzustand legen wir zugrunde? Was wollen wir mit dem Einsatz wirklich erreichen, und wann beenden wir den Einsatz? Für den Einsatz im Kosovo sind die naheliegenden Antworten auch
die Erklärung, warum 15 Jahre gar nicht so lang sind und
wir vielleicht noch eine 20. oder 25. Verlängerung erleben werden: Es liegt in unserem besonderen nationalen
Interesse, in einem einigen und friedlichen Europa zu leben. Dazu gehört auch der Westbalkan. Eine rechtsstaatliche Entwicklung dieser Länder ist der Schlüssel zum
Erfolg. Einen Misserfolg würden wir zu spüren bekommen. Organisierte Kriminalität kennt nämlich keine
Grenzen.
({1})
Dieser Einsatz darf erst beendet werden, wenn diese
Länder stabile Demokratien sind, in denen man ethnien-,
religions- und kulturübergreifend friedlich über die gemeinsame Geschichte sprechen kann, eine Geschichte,
die auch ein wesentlicher Teil unserer europäischen
Geschichte darstellt. Deshalb bitte ich Sie alle um Ihre
Zustimmung für die weitere Unterstützung unserer
Nachbarn.
({2})
Nächster Redner ist der Abgeordnete Wolfgang
Hellmich, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Sie der
Debatte folgen! Frau Höger, ich will vorab zwei Punkte
klarstellen: Sie waren gestern ebenso wie ich in der Sitzung, in der wir uns über die Frage unterhalten haben,
wie wir mit den Minen in Bosnien-Herzegowina umgehen. Sie haben den Ausführungen des Vertreters des
Auswärtigen Amtes zugehört und haben erfahren, an
welchen Initiativen sich die Bundesregierung beteiligt
und dass mehr Geld gegeben wird, um das Problem zu
lösen. Angesichts dessen ist das, was Sie hier gesagt haben, schlichtweg eine Frechheit. Oder Sie waren in einer
anderen Sitzung als ich.
({0})
Der zweite Punkt. Dass 25 Jugendliche aus dem
Kosovo, die ehemals Flüchtlinge waren, aber in den
Kosovo zurückgekehrt sind, unterstützt von der Handwerkskammer Dortmund in einem dualen System - in
Dortmund und im Kosovo - als Handwerker ausgebildet
werden, ist für mich ein gutes Beispiel. Es zeigt, was
dieses Land tatsächlich braucht: Es braucht Initiativen,
mit denen die Wirtschaftskraft gestärkt und die Bildung
verbessert wird. Das ist garantiert kein Beispiel dafür,
dass das Land ausgebeutet wird, wie Sie vonseiten der
Linken das behaupten. Ich glaube, es ist richtig, dieses
Programm weiterzuführen. Wir brauchen mehr solcher
Initiativen.
({1})
An dieser Stelle danke ich den Soldatinnen und Soldaten der KFOR, die mit ihrem Einsatz die Rahmenbedingungen für solche Initiativen aufrechterhalten. Es
geht darum, die öffentliche Sicherheit zu garantieren, damit all diese Initiativen im Kosovo Platz greifen können,
damit diese Initiativen den Raum haben, politisch, gesellschaftlich und zivil zu wirken. Das ist der Kern. Es
geht nicht nur um militärische Fragen, sondern es geht
vor allem darum, über den KFOR-Einsatz die zivile Entwicklung dieses Landes zu ermöglichen. Das ist Kern,
Sinn und Auftrag aller Missionen, über die wir in diesem
Zusammenhang reden.
Wir können auf der Habenseite Fortschritte im
Kosovo verzeichnen. Diese Fortschritte müssen wir aufzählen, weil das die Punkte sind, um die wir uns gekümmert haben: Im Herbst soll der Beschluss über das SAAAbkommen zwischen dem Kosovo und der EU gefasst
werden. Bei der Polizei wurden die Parallelstrukturen im
Norden des Kosovo abgebaut; die Bezahlung der
kosovarischen Polizei erfolgt jetzt komplett durch den
Kosovo und nicht über Serbien. Wir haben vorgestern
Abend gehört, wie aus Belgrad der Aufruf an die serbischen Minderheiten im Norden des Kosovo erging, sich
bitte an der Parlamentswahl zu beteiligen und diese nicht
zu boykottieren. Ich glaube, das alles sind positive Signale, mit denen die Nachbarn, die Kosovaren selber
und auch die Serben im Kosovo deutlich machen, dass
sie an einer friedlichen Entwicklung des Landes interesWolfgang Hellmich
siert sind und vorankommen wollen. Wir sollten das
nicht behindern.
({2})
Im Gegenteil: Wir sollten durch eine positive Entscheidung über dieses Mandat deutlich machen, dass wir unserer europäischen Verantwortung nachkommen, Sicherheit, Stabilität und die Sicherheit des öffentlichen
Raumes für die Menschen im Kosovo zu garantieren.
Erfreulich ist, dass wir in diesem Zusammenhang als
„third responder“ über die KFOR immer weniger gefragt
sind. Das zeigt, dass die kosovarischen Institutionen aufgrund der Strukturen auch selber zunehmend mehr in der
Lage sind, die öffentliche Sicherheit herzustellen und im
öffentlichen Raum aufzutreten. Wir schätzen die Bedrohungslage insgesamt als mittel, im Norden als etwas
stärker ein. Die Menschen dort sagen uns, dass, wenn
wir die KFOR zurückziehen, sie nicht wissen, in welche
Richtung sich das Land entwickeln wird. Sie bitten uns,
einem solchen Mandat zuzustimmen und ihnen zu helfen, ihr Land friedlich weiterzuentwickeln.
Ja, es gibt lokale Konflikte, aber Gott sei Dank keine
ethnischen Konflikte. Wir wissen, dass eine traumatisierte Situation, die sich tief in die Seelen der Kosovaren
eingegraben hat, nicht unbedingt in 10 oder 15 Jahren zu
beseitigen ist. Es wird eine Generation und mehr dauern
- diese Erfahrung haben wir selber gemacht -, um die
Menschen davon zu überzeugen, dass es sich lohnt, etwas dafür zu tun, um in einem sicheren Land zu leben.
Diejenigen, die im Ausland Gelder erwirtschaften und
diese in den Kosovo schicken, um ihre Familien zu ernähren, müssen im Kosovo selber eine Chance haben, zu
arbeiten, zu wirken, produktiv zu sein und ihr Land weiterzuentwickeln. Es geht auch darum, Arbeitsplätze zu
schaffen, Rahmenbedingungen zu schaffen, damit dort
gut gearbeitet werden kann, und funktionierende Justizstrukturen aufzubauen. Wir wissen, dass dazu im Kern
auch die Bekämpfung der Korruption im Kosovo gehört.
({3})
Das muss die Aufgabe staatlicher Institutionen sein, die
wir durch entsprechende Ausbildung stärken. Unsere
Missionen sind auf die Stärkung des Staates Kosovo ausgerichtet, damit seine Gesellschaft entsprechend organisiert werden kann.
({4})
Solange es nötig ist, eine friedliche Entwicklung zu
begleiten, sollten wir das mit allen Instrumenten, die wir
haben, tun, abgesichert durch die entsprechenden Mandate. Ich bitte Sie herzlich, diesem Mandat zuzustimmen, weil es dem Kosovo und den Menschen dort hilft,
ihre Gesellschaft und ihren Staat weiterzuentwickeln. An
der Stelle bitte ich Sie um Zustimmung. Wir helfen damit dem Land.
Danke.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen - insbesondere die,
die sich jetzt unterhalten -, jeder möge sich einmal kurz
vorstellen, dass er hier am Pult steht und als einer der
letzten Redner in einer solchen Debatte zu sprechen hat
und dann in ein allgemeines Gemurmel hineinspricht.
Ich finde das erstens unkollegial und unfair.
({0})
Zweitens müssen unsere Besucher auf den Tribünen einen unguten Eindruck von uns bekommen. Deswegen
wäre es schön, wenn es etwas zu besprechen gibt, das
draußen zu tun oder jetzt dem letzten Redner zuzuhören.
Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Roderich
Kiesewetter von der CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube,
am Ende dieser sehr klugen und übergreifend geführten
Debatte - bis auf eine Ausnahme: die Linken ({0})
können wir als Bundestag uns durchaus einmal in Erinnerung rufen, was in den letzten 15 Jahren erreicht
wurde.
Wer hätte sich vorstellen können, dass wir heute im
Bundestag laut und offen darüber debattieren, ob nicht
dem Kosovo in gewissem Rahmen eine Visafreiheit zugestanden wird? Ich bin dem Kollegen Beyer ausdrücklich dankbar für diesen Hinweis. Wer hätte sich vor
15 Jahren vorstellen können, dass die EU nach den Vereinten Nationen in verantwortlicher Mission dort mit
über 2 000 Angestellten und Beamten für Rechtsstaatlichkeit sorgt? Wer hätte sich vorstellen können, dass wir
von seinerzeit über 50 000 Soldaten heute bei knapp
5 000 sind und wir selbst als deutsche Bundeswehr, die
wir hier entsenden, von über 6 500 Soldaten bei knapp
700 sind? Trotzdem ist unser Land in der Verantwortung,
die der Bundestag wahrnimmt, mit den Vereinigten Staaten stärkster Truppensteller.
Lassen Sie mich, weil vieles Gute und Richtige schon
gesagt wurde, nur auf einige wenige Aspekte eingehen.
Wer hätte sich noch vor drei oder vier Jahren vorstellen
können, dass sowohl die serbische Regierung, ein Premierminister Vučić, als auch der Kosovo KFOR begrüßen? Wir hatten erst in dieser Woche in der Arbeitsgruppe eine klare Diskussion und Aussprache mit dem
serbischen Gesandten, der uns ausdrücklich aufgerufen
hat, es bei der Höhe im KFOR-Mandat zu belassen.
An dieser Stelle sollten wir aber auch - nicht nur mit
Blick auf die anstehenden Wahlen im Kosovo - einen
Appell an den Kosovo richten. Die kosovarischen Sicherheitskräfte werden zahlenmäßig deutlich erhöht und
in bewaffnete Kräfte umbenannt. Das ist eine historische
Chance für den Kosovo, dafür zu sorgen, dass diese
Streitkräfte multiethnisch zusammengesetzt werden,
({1})
dass in der Bevölkerung Vertrauen in diese Streitkräfte
herrscht, dass diese nicht zur Eskalation eingesetzt werden, sondern dass diese Selbstverteidigungskräfte für einen Ausgleich innerhalb des Landes und - das ist auch
der Zweck militärischer Kräfte - über Militärdiplomatie
für Aussöhnung in der Nachbarschaft sorgen.
({2})
Deshalb sollten wir alles daransetzen, dass die Präsenz
solcher kosovarischen Kräfte auch im Nordkosovo
selbstverständlich wird - nicht nur einvernehmlich, sondern so, wie es sich für ein souveränes Land gehört.
Ein Wort an die Adresse Serbiens: Vom Bundestag,
von unserer CDU/CSU-Fraktion ging vor zwei Jahren
ein Sieben-Punkte-Plan aus. Fünf dieser sieben Punkte
sind bereits umgesetzt. Zwei Punkte sind noch nicht umgesetzt: erstens die endgültige Anerkennung des Kosovo
durch Serbien - das erwarten wir am Ende des Prozesses und zweitens - das erwarten wir ebenfalls von Serbien die Ermittlung derjenigen, die die deutsche Botschaft in
Belgrad im Jahr 2008 in Brand setzen wollten, und deren
Inhaftnahme. Ich glaube, diese Forderungen dürfen wir
nicht vergessen.
({3})
Wir sollten auch deutlich anerkennen, wie sich der
Außenminister des Kosovo darum bemüht, den Kosovo
international als einen verlässlichen Partner weiterzuentwickeln. Ich appelliere aber auch an Albanien, weiter
mäßigend auf die albanischen Minderheiten außerhalb
Albaniens einzuwirken, wie das in der Vergangenheit
schon geschehen ist. Es ist wichtig, dass die Staaten des
westlichen Balkans gemeinsam begreifen, dass sie eine
Perspektive brauchen und es nur gemeinsam erreichen
können, in die Europäische Union zu kommen, und zwar
nicht durch den Wettbewerb des Schlechten, sondern
durch die Auswahl des Besten und eine Bewerbung mit
gegenseitiger Unterstützung, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({4})
Wenn wir heute dem KFOR-Mandat zustimmen, sollten wir uns erstens bewusst sein, dass wir vor weiteren
Reduzierungsschritten stehen. Diese Reduzierungsschritte müssen nicht nur im Einklang mit der Sicherheitslage sein, sondern auch dazu führen, dass EULEX
bei ihrer schwierigen Aufgabe abgesichert bleibt. Denn
neben den Rechtsstaatlichkeitsaufgaben geht es immer
noch um das Aufspüren, Verfolgen und die Festnahme
von Kriegsverbrechern. Hier braucht EULEX Absicherung, die zuverlässig ist.
Zweitens. Es gibt Überlegungen, möglicherweise in
einem weiteren Mandat die Europäische Union verantwortlich zu machen. Hier warne ich vor Übereile; denn
es haben von den Schengen-Staaten mit Deutschland nur
24 Staaten den Kosovo anerkannt. Wir dürfen uns hier
keine Spaltung leisten. Das hat Frau Kollegin Brantner
deutlich angesprochen.
Angesichts der Entwicklungen in der Ukraine ist es
für mich als überzeugtem Transatlantiker auch erforderlich, dass die USA weiterhin in unsere Missionen eingebunden sind. Es ist wichtig, dass sie Teil von KFOR
sind. Mögen sie uns dort noch lange erhalten bleiben.
({5})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das, was im
Kosovo erreicht wurde, ist auch für unseren Bundestag
ein Ausweis guter sicherheitspolitischer Arbeit. Es ist
die am besten erklärte Mission, über deren Fortsetzung
wir heute abstimmen; sie ist viel besser erklärt als beispielsweise der Einsatz in Afghanistan. Sie könnte als
Paradebeispiel dafür dienen, wie eine notwendige sicherheitspolitische Diskussion aussehen könnte: mit klaren Interessen, die wir im Kosovo haben, mit definierten
Aufgaben, die wir lösen wollen, mit einer klaren Zielsetzung und vor allen Dingen - das ist das Wichtigste - mit
einer guten Erklärung für unsere Bevölkerung, warum
unsere Soldatinnen und Soldaten dort sind. Ich bitte um
Zustimmung.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti-
gen Ausschusses auf Drucksache 18/1653 zu dem An-
trag der Bundesregierung zur Fortsetzung der deutschen
Beteiligung an der internationalen Sicherheitspräsenz in
Kosovo. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 18/1415 anzunehmen. Wir stimmen über die
Beschlussempfehlung namentlich ab. Ich bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen
Plätze einzunehmen. - Sind die Plätze an den Urnen be-
setzt? - Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung.
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimmkarte noch nicht abgegeben hat? - Das ist nicht
der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte
die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Aus-
zählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung
wird Ihnen später bekannt gegeben.1)
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die Plätze im
Plenum wieder einzunehmen. - Wir kommen nun zur
Abstimmung über den Entschließungsantrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/1665.
Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschlie-
ßungsantrag ist mit den Stimmen aller Fraktionen mit
Ausnahme der Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen, die für ihren Antrag gestimmt hat, abgelehnt.
1) Ergebnis Seite 3392 C
Vizepräsident Peter Hintze
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Matthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann
({0}), Caren Lay, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Angleichung der Renten in Ostdeutschland
an das Westniveau sofort auf den Weg bringen
Drucksache 18/982
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Haushaltsauschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als Erster erhält Matthias
W. Birkwald, Fraktion Die Linke, das Wort.
({2})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zur Angleichung der Renten in Ostdeutschland an
das Westniveau hat die Bundeskanzlerin gesagt - ich zitiere -:
Ich stehe dazu, dass wir eine solche Angleichung
von Ost und West brauchen. Ich würde … sagen,
dass das Thema in den ersten beiden Jahren der
nächsten Legislaturperiode erledigt sein wird.
Herr Kollege Weiß, das hat die CDU-Vorsitzende
Angela Merkel Anfang Juni 2009 bei der Eröffnung des
9. Deutschen Seniorentages in Leipzig versprochen, also
vor der Bundestagswahl vor fünf Jahren. - Im Koalitionsvertrag 2009 hieß es dann - Zitat -:
Wir führen in dieser Legislaturperiode ein einheitliches Rentensystem in Ost und West ein.
Nach der Bundestagswahl 2009: Pustekuchen! Nach der
Bundestagswahl ist nichts passiert - bis heute, Juni
2014. Versprochen, gebrochen - das ist die beschämende
Rentenpolitik der CDU für die Rentnerinnen und Rentner im Osten.
({0})
Und die SPD? Die SPD forderte im Juni 2013, also
vor der vergangenen Bundestagswahl, in einem ExtraWahlkampfantrag, einen Gesetzentwurf zu erarbeiten,
„der die vollständige Angleichung des aktuellen Rentenwertes ({1}) an den aktuellen Rentenwert in Stufen“ vorsah. Dieses Gesetz sollte 2014 in Kraft treten. Tja, so
spricht man vor der Wahl. Nach der Wahl ist davon
nichts mehr zu sehen.
({2})
Das heißt: Ein Standardrentner in Rostock erhält nach
45 Jahren Arbeit zum Durchschnittslohn noch immer
100 Euro weniger Rente als ein Rentner in Stuttgart, der
auf die gleiche Lebensleistung zurückschauen kann - im
25. Jahr nach dem Mauerfall. Das war ungerecht, das ist
ungerecht, und das bleibt ungerecht.
({3})
An dieser Ungerechtigkeit ändert auch Ihr Rentenpaket
nichts. Die Rente ab 63 ist für die vielen Hartz-IV-Betroffenen im Osten nicht zu realisieren, und bei der
neuen Mütterrente ist ein Kind im Osten noch immer
4,44 Euro weniger wert als ein Kind im Westen. Das war
ungerecht, und das bleibt ungerecht.
({4})
Die Ursache dafür ist: Ein Vierteljahrhundert nach dem
Einheitsvertrag liegt der Rentenwert im Osten mit
26,39 Euro noch immer knapp 7,8 Prozent unter dem
Rentenwert im Westen mit 28,61 Euro.
Es stimmt: Der Abstand hat sich über die Jahre langsam verringert. Aber keine Bundesregierung hat bisher
die Gerechtigkeitslücke geschlossen. CDU, CSU, SPD,
Grüne, sie alle haben hier gemeinsam versagt.
({5})
Es stimmt: Ein einheitlicher flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn wird die Rentenlücke verkleinern,
aber besonders dann, wenn er bei 10 Euro liegen würde;
denn im Osten erhalten rund 40 Prozent der Beschäftigten weniger als 10 Euro brutto die Stunde. 10 Euro Mindestlohn, das würde die Ostrenten den Westrenten ein
deutliches Stück näherbringen.
({6})
Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie haben in Ihrem Koalitionsvertrag festgelegt, erst 2016 zu
prüfen, ob man 2017 vielleicht etwas machen muss, um
dann irgendwie zu einer Angleichung der Renten im Jahr
2020 zu kommen. Das alles erzählen Sie seit Jahren. Davon stimmt kein Wort. Ich sage Ihnen: Die Ostdeutschen
haben Ihre Vertröstungen satt.
({7})
Mit Tippelschritten und dem Hoffen auf eine automatische Lohnangleichung kommen wir hier nicht weiter.
Die Lohnangleichung stagniert seit Mitte der 90er-Jahre
bei unter 80 Prozent. Da tut sich nichts. Deshalb sagen
wir Linken als einzige Partei in diesem Hause: Die Angleichung der Renten im Osten an das Westniveau muss
jetzt sofort auf den Weg gebracht werden.
({8})
Ich fordere Sie auf: Führen Sie zum 1. Juli dieses Jahres
einen steuerfinanzierten und stufenweise steigenden Zuschlag ein, und zwar so, dass die Rentenwerte in Ost und
West bis zum Jahresende 2017 vollständig angeglichen
sein werden! Das würde jede Steuerzahlerin und jeden
Steuerzahler in diesem Jahr durchschnittlich nur 1,80 Euro
im Monat kosten. 1,80 Euro - das ist doch finanzierbar.
Das sollte Ihnen die Umsetzung des Prinzips „Gleiche
Rente für gleiche Lebensleistung“ wert sein.
({9})
Wenn die Löhne und Gehälter in den östlichen Bundesländern im Durchschnitt 100 Prozent der Löhne und
Gehälter der westlichen Bundesländer erreicht haben
werden, dann ist auch die Linke dafür, die Umrechnung
der ostdeutschen Löhne für die Rente abzuschaffen, aber
eben erst dann und nicht vorher.
({10})
Ansonsten bekäme die Friseurin in Weimar für die gleiche Menge an frisierten Ostköpfen nicht nur weniger
Lohn als die Friseurin in Nürnberg für die gleiche Zahl
an frisierten Frankenköpfen, sondern auch noch weniger
Rente für die völlig gleiche Leistung, und das ist nicht in
Ordnung.
({11})
Ich komme zum Schluss. Unser Antrag beruht im
Kern auf dem Stufenmodell des Bündnisses für die Angleichung der Renten in den neuen Bundesländern. Dazu
gehören Verdi, die GEW, die EVG, die GdP und die
Volkssolidarität, der Sozialverband Deutschland, die Arbeiterwohlfahrt, der Beamtenbund und sogar der BundeswehrVerband. Deswegen sage ich: Liebe Große Koalition, liebe Frau Nahles, hören Sie auf dieses breite
Bündnis! Erkennen Sie endlich die Lebensleistung der
Ostdeutschen an!
Danke schön.
({12})
Das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung zur
Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der internationalen Sicherheitspräsenz in Kosovo, Drucksachen 18/1415
und 18/1653, liegt vor: abgegebene Stimmen 598. Mit Ja
haben gestimmt 532, mit Nein haben gestimmt 59, Enthaltungen 7. Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 597;
davon
ja: 531
nein: 59
enthalten: 7
Ja
CDU/CSU
Stephan Albani
Katrin Albsteiger
Dorothee Bär
Norbert Barthle
Günter Baumann
Maik Beermann
Manfred Behrens ({0})
Veronika Bellmann
Sybille Benning
Dr. André Berghegger
Dr. Christoph Bergner
Ute Bertram
Steffen Bilger
Peter Bleser
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexandra Dinges-Dierig
Alexander Dobrindt
Michael Donth
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Jutta Eckenbach
Dr. Bernd Fabritius
Hermann Färber
Uwe Feiler
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Axel E. Fischer ({1})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Dr. Astrid Freudenstein
Dr. Hans-Peter Friedrich
({2})
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Cemile Giousouf
Josef Göppel
Reinhard Grindel
Ursula Groden-Kranich
Hermann Gröhe
Klaus-Dieter Gröhler
Michael Grosse-Brömer
Astrid Grotelüschen
Markus Grübel
Manfred Grund
Oliver Grundmann
Monika Grütters
Fritz Güntzler
Christian Haase
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Matthias Hauer
Mark Hauptmann
Dr. Stefan Heck
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Frank Heinrich ({3})
Mark Helfrich
Uda Heller
Jörg Hellmuth
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Christian Hirte
Dr. Heribert Hirte
Alexander Hoffmann
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Dr. Hendrik Hoppenstedt
Margaret Horb
Bettina Hornhues
Charles M. Huber
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Erich Irlstorfer
Thomas Jarzombek
Sylvia Jörrißen
Andreas Jung
Dr. Franz Josef Jung
Xaver Jung
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kanitz
Alois Karl
Bernhard Kaster
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Dr. Georg Kippels
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Markus Koob
Carsten Körber
Hartmut Koschyk
Kordula Kovac
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Roy Kühne
Günter Lach
Uwe Lagosky
Dr. Karl A. Lamers
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Vizepräsident Peter Hintze
Barbara Lanzinger
Dr. Silke Launert
Paul Lehrieder
Dr. Katja Leikert
Dr. Philipp Lengsfeld
Dr. Andreas Lenz
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Andrea Lindholz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Wilfried Lorenz
Dr. Claudia Lücking-Michel
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Yvonne Magwas
Gisela Manderla
Matern von Marschall
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({4})
Dr. Michael Meister
Jan Metzler
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Karsten Möring
Elisabeth Motschmann
Dr. Gerd Müller
({5})
Stefan Müller ({6})
Dr. Andreas Nick
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Florian Oßner
Dr. Tim Ostermann
Henning Otte
Ingrid Pahlmann
Sylvia Pantel
Martin Patzelt
Dr. Martin Pätzold
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Ronald Pofalla
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Kerstin Radomski
Alexander Radwan
Alois Rainer
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht
Anita Schäfer ({7})
Dr. Wolfgang Schäuble
Andreas Scheuer
Jana Schimke
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Heiko Schmelzle
Christian Schmidt ({8})
Gabriele Schmidt ({9})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({10})
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Dr. Klaus-Peter Schulze
Uwe Schummer
Armin Schuster ({11})
Christina Schwarzer
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Tino Sorge
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Dr. Wolfgang Stefinger
Peter Stein
Sebastian Steineke
Johannes Steiniger
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Rita Stockhofe
Gero Storjohann
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Stritzl
Thomas Strobl ({12})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Sabine Sütterlin-Waack
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Astrid Timmermann-Fechter
Dr. Volker Ullrich
Arnold Vaatz
Oswin Veith
Thomas Viesehon
Volkmar Vogel ({13})
Sven Volmering
Christel Voßbeck-Kayser
Kees de Vries
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Nina Warken
Kai Wegner
Albert Weiler
Marcus Weinberg ({14})
Peter Weiß ({15})
Sabine Weiss ({16})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Marian Wendt
Kai Whittaker
Peter Wichtel
Heinz Wiese ({17})
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Oliver Wittke
Dagmar G. Wöhrl
Barbara Woltmann
Tobias Zech
Heinrich Zertik
Dr. Matthias Zimmer
Gudrun Zollner
SPD
Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heike Baehrens
Ulrike Bahr
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Dr. Matthias Bartke
Sören Bartol
Bärbel Bas
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({18})
Willi Brase
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Martin Burkert
Dr. Lars Castellucci
Petra Crone
Bernhard Daldrup
Dr. Daniela De Ridder
Dr. Karamba Diaby
Martin Dörmann
Siegmund Ehrmann
Michaela Engelmeier-Heite
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Saskia Esken
Karin Evers-Meyer
Dr. Fritz Felgentreu
Elke Ferner
Christian Flisek
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Ulrich Freese
Dagmar Freitag
Sigmar Gabriel
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Ulrike Gottschalck
Gabriele Groneberg
Wolfgang Gunkel
Bettina Hagedorn
Rita Hagl-Kehl
Metin Hakverdi
Ulrich Hampel
Sebastian Hartmann
Michael Hartmann
({19})
Hubertus Heil ({20})
Marcus Held
Dr. Barbara Hendricks
Heidtrud Henn
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Thomas Hitschler
Matthias Ilgen
Christina Jantz
Josip Juratovic
Thomas Jurk
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Ralf Kapschack
Gabriele Katzmarek
Ulrich Kelber
Marina Kermer
Cansel Kiziltepe
Arno Klare
Dr. Bärbel Kofler
Birgit Kömpel
Anette Kramme
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Helga Kühn-Mengel
Christine Lambrecht
Christian Lange ({21})
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Hiltrud Lotze
Kirsten Lühmann
Dr. Birgit Malecha-Nissen
Hilde Mattheis
Dr. Matthias Miersch
Klaus Mindrup
Susanne Mittag
Bettina Müller
Michelle Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Dietmar Nietan
Vizepräsident Peter Hintze
Ulli Nissen
Thomas Oppermann
Mahmut Özdemir ({22})
Markus Paschke
Jeannine Pflugradt
Sabine Poschmann
Joachim Poß
Florian Post
Achim Post ({23})
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Dr. Simone Raatz
Martin Rabanus
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Dr. Carola Reimann
Andreas Rimkus
Sönke Rix
Dennis Rohde
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({24})
Susann Rüthrich
Bernd Rützel
Johann Saathoff
Annette Sawade
Dr. Hans-Joachim
Schabedoth
Axel Schäfer ({25})
Marianne Schieder
Udo Schiefner
Dr. Dorothee Schlegel
Ulla Schmidt ({26})
Matthias Schmidt ({27})
Dagmar Schmidt ({28})
Carsten Schneider ({29})
Ursula Schulte
Swen Schulz ({30})
Ewald Schurer
Stefan Schwartze
Dr. Carsten Sieling
Rainer Spiering
Norbert Spinrath
Svenja Stadler
Martina Stamm-Fibich
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Claudia Tausend
Wolfgang Tiefensee
Carsten Träger
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dirk Vöpel
Gabi Weber
Bernd Westphal
Dirk Wiese
Gülistan Yüksel
Stefan Zierke
Dr. Jens Zimmermann
Brigitte Zypries
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Luise Amtsberg
Annalena Baerbock
Volker Beck ({31})
Agnieszka Brugger
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Katharina Dröge
Harald Ebner
Matthias Gastel
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Anja Hajduk
Britta Haßelmann
Dr. Anton Hofreiter
Dieter Janecek
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Sven-Christian Kindler
Tom Koenigs
Oliver Krischer
Stephan Kühn ({32})
Christian Kühn ({33})
Renate Künast
Steffi Lemke
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Özcan Mutlu
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Cem Özdemir
Tabea Rößner
Claudia Roth ({34})
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Ulle Schauws
Dr. Frithjof Schmidt
Kordula Schulz-Asche
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Dr. Valerie Wilms
Nein
SPD
Klaus Barthel
DIE LINKE
Jan van Aken
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Matthias W. Birkwald
Christine Buchholz
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Wolfgang Gehrcke
Diana Golze
Annette Groth
Dr. Gregor Gysi
Dr. André Hahn
Dr. Rosemarie Hein
Andrej Hunko
Sigrid Hupach
Susanna Karawanskij
Kerstin Kassner
Katja Kipping
Jan Korte
Katrin Kunert
Sabine Leidig
Michael Leutert
Stefan Liebich
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Cornelia Möhring
Niema Movassat
Thomas Nord
Harald Petzold ({35})
Martina Renner
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Dr. Sahra Wagenknecht
Harald Weinberg
Birgit Wöllert
Jörn Wunderlich
Hubertus Zdebel
Pia Zimmermann
({36})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Enthalten
SPD
Petra Hinz ({37})
({38})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Sylvia Kotting-Uhl
Monika Lazar
Beate Müller-Gemmeke
Als nächster Rednerin in unserer Debatte erteile ich
das Wort Jana Schimke, CDU/CSU-Fraktion.
({39})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Deutschland hat kürzlich gewählt. Auch bei den
Kommunalwahlen in Brandenburg, woher ich stamme,
wo ich geboren bin und wo mein Wahlkreis liegt, gab es
interessante Ergebnisse: Die Union hat erwartungsgemäß zugelegt,
({0})
und die Linke hat verloren, und zwar ordentlich.
({1})
Das zeigt nicht nur, dass die Linke dort, wo sie in Regierungsverantwortung ist, das Vertrauen der Wähler stetig
verliert.
({2})
Es zeigt vor allen Dingen auch, dass ihre Strategie des
Schlechtredens nicht mehr länger aufgeht.
({3})
Seit Jahren reden Sie den Menschen in Ostdeutschland
ein, dass deren Lebensleistung nicht gewürdigt wird.
Doch indem Sie Vorbehalte zementieren und Wahrheiten
verklären, sind Sie es, die Lebensleistung nicht anerkennen.
({4})
Auch 25 Jahre nach dem Fall der Mauer dürfen wir
eines nicht vergessen: Die Wiedervereinigung und auch
die Überleitung des Rentenrechts auf die neuen Länder
war und ist ein gesamtgesellschaftlicher, solidarischer
Kraftakt. Diese Leistung zeigt sich auch bei den Renten
in den neuen Ländern. Die Renten in Ostdeutschland
werden noch heute um circa 18 Prozent hochgewertet,
und bei gleichem Brutto gibt es im Osten einen höheren
Rentenanspruch als im Westen. So viel zur Klarheit.
({5})
Das durchschnittliche Lohnniveau im Osten, verursacht durch eine unterschiedliche Wirtschafts- und Branchenstruktur, ist aber immer noch niedriger als im Westen. Das ist ein Umstand, den auch meine Kollegen aus
den neuen Ländern und ich bedauern; aber das sind nicht
die Folgen von politisch gewollter Ungerechtigkeit. Das
sind immer noch die Auswirkungen von 40 Jahren staatlich verordneter Plan- und Misswirtschaft.
({6})
Deshalb bin ich froh und dankbar darüber, dass wir die
Angleichung der Lebensverhältnisse als gesamtdeutsche
Aufgabe anerkennen und auch im Rentenrecht berücksichtigen. Zur Erinnerung: 1990 lag das Verhältnis des
Rentenwerts Ost im Vergleich zum Rentenwert West bei
durchschnittlich 40 Prozent. Heute sind wir bereits bei
über 90 Prozent und ab 1. Juli 2014 sogar bei 92,2 Prozent. Das ist Anerkennung von Lebensleistung.
({7})
Wir sind gut beraten, nicht vorschnell in die Rentenformel einzugreifen. Sowohl die Rentenanpassung durch
jetzt steigende Löhne als auch die zusätzliche Hochwertung gleichen bestehende strukturelle Unterschiede aus.
Das schafft ein höchstmögliches und für die Solidargemeinschaft verträgliches Maß an Gerechtigkeit.
Sie aber wollen mit Steuererhöhungen auf Unternehmensgewinne, Erbschaften und Vermögen Ungerechtigkeiten beseitigen.
({8})
Aber Sie schaffen damit Ungerechtigkeiten. Wissen Sie
eigentlich, dass der größte Teil des Vermögens in
Deutschland selbst erarbeitet ist,
({9})
dass er in Betrieben und mitunter im selbstgebauten Eigenheim steckt? Wie passt diese Politik zu Ihrem selbsterklärten Ziel, bessere Rahmenbedingungen für eine positive Lohnentwicklung im Osten zu schaffen? Sie
rütteln an dem Fundament, auf dem unser Land fußt, und
gefährden Wachstum, Wohlstand und Arbeitsplätze auch
in Ostdeutschland.
({10})
Als Brandenburgerin sage ich Ihnen: Das ist nicht
mein Verständnis und auch nicht das Verständnis der
Ostdeutschen von einer guten Politik für die neuen Bundesländer. Sprechen Sie doch einmal über das, was uns
stark macht! So drückt sich die Lebensleistung der Ostdeutschen heute konkret auch im Rentenzugang aus. Gerade Frauen sind und waren im Osten öfter und länger
erwerbstätig. Diese kontinuierlichen Erwerbsbiografien
ermöglichen es heute vielen, früher in Rente zu gehen.
Frauen in den neuen Ländern gehen im Schnitt fast zwei
Jahre früher in Rente als Frauen in den alten Ländern.
Das ist möglich, weil sie so lange erwerbstätig waren.
Dadurch liegt ihre durchschnittliche Rente heute um
44 Prozent höher - das ist also wesentlich mehr - als in
den alten Bundesländern.
({11})
Lassen Sie mich noch auf eines hinweisen: Zum
1. Juli 2014 steigt der Rentenwert. Er wird in den neuen
Bundesländern von 91,5 Prozent auf 92,2 Prozent des
Westwertes ansteigen. Damit steigen die gesetzlichen
Renten im Osten einmal mehr stärker als im Westen.
Meine Damen und Herren, auch die Union möchte die
Angleichung der Lebensbedingungen in Ost- und Westdeutschland weiter voranbringen. Das haben wir auch im
Koalitionsvertrag so festgeschrieben. Die Renten bis
2020 anzugleichen, ist politisch vernünftig und liegt in
einem zeitlich vertretbaren Rahmen. Das bleibt eines unserer wichtigsten politischen Ziele.
({12})
Wir sehen uns in der Verantwortung und werden den Angleichungsprozess deshalb auch schrittweise fortführen.
Aber wir können Folgendes daraus lernen: Eine stringente Erwerbsbiografie ist die beste Altersvorsorge.
Auch deshalb sollten die weitere Integration von Frauen
in den Arbeitsmarkt sowie die Vereinbarkeit von Beruf
und Familie ein zentraler Punkt unserer Sozial- und Arbeitsmarktpolitik sein.
({13})
Das ist eine Stärke der neuen Bundesländer. Auch sollten wir alle Säulen des Rentensystems im Blick behalten. Die gesetzliche Rentenversicherung wird dies künftig nicht mehr alleine leisten können.
({14})
Bereits heute erwerben über 70 Prozent der Deutschen
Rentenansprüche aus der privaten und betrieblichen
Altersvorsorge. Diesen Weg müssen wir künftig konsequent weiterführen. Nur so schaffen wir eine zukunftsfähige Altersvorsorge, die im Sinne der gesamten Solidargemeinschaft in Ost und West ist.
Vielen Dank.
({15})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordnetem Markus Kurth, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Frau Schimke, Sie haben zwar sehr wortreich gesprochen, aber zur tatsächlichen Problematik, zur Angleichung der Renten im Osten an die im Westen sowie zu
Gleichstellung und Gleichbehandlung haben Sie fast
nichts gesagt.
({0})
Ich habe noch eine Bitte - auch mit Blick auf die folgenden Redner -, bevor ich zu meiner eigentlichen Rede
komme. Lassen Sie doch einmal die Platte von den
40 Jahren SED-Misswirtschaft im Schrank stehen! Das
bringt doch nichts. Wirklich geistreicher macht es das
nicht.
({1})
Es ist sinnvoll, dass diese Debatte aufgesetzt ist. Ich
will gleich mit den Kernforderungen von Bündnis 90/
Die Grünen beginnen. Wir wollen die Anhebung des
Rentenwertes Ost auf das Westniveau. Wir wollen die
Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze Ost auf das
Westniveau. Wir wollen in der Vergangenheit erworbene
Rentenansprüche unangetastet lassen. Wir wollen die
Gleichstellung auf allen Ebenen. Das bedeutet auch das sagen wir ganz offen - einen Verzicht auf die Höherwertung nach einer sofortigen Angleichung der Rentenpunkte Ost an das Westniveau.
({2})
Weil wir wissen, dass die Abschaffung der Höherwertung kurzfristig eine leichte Absenkung des Niveaus bedeutet und dann möglicherweise zu Armutsproblematik
führt - das kommt allerdings auch im Westen vor -, wollen wir eine Garantierente einführen und nach 30 Versicherungsjahren einen Mindestanspruch sicherstellen.
Wir glauben, dass man auf diese Art und Weise zielgenauer als mit einer pauschalen, je nach Region gewichteten Höherwertung Armutsvermeidungspolitik betreiben
kann.
({3})
Der einzige Punkt, in dem sich die Union gegenüber
der letzten Legislaturperiode als lernfähig erwiesen hat,
ist, dass die Formulierungen im Koalitionsvertrag vorsichtiger sind und die Ankündigungen nicht mehr ganz
so vollmundig sind.
({4})
Kollege Birkwald hat schon die Aussagen der Kanzlerin
aus dem Jahr 2009 zitiert. Ich möchte einen Satz aus
dem Koalitionsvertrag vortragen:
Zum 1. Juli 2016 wird geprüft,
- geprüft! wie weit sich der Angleichungsprozess bereits vollzogen hat, und auf dieser Grundlage entschieden,
ob mit Wirkung ab 2017 eine Teilangleichung
- eine Teilangleichung! notwendig ist.
Das ist im Grunde nichts weiter als die verkappte Ankündigung, dass Sie überhaupt nichts gegen das Problem
unternehmen wollen.
({5})
Ich möchte noch etwas zu der sogenannten Höherwertung sagen, die nach dem Vorschlag der Fraktion Die
Linke - Sie wollen das in mehreren Stufen machen beibehalten werden soll. Wir glauben: Wer im Osten
3 000 Euro verdient, der soll den gleichen Rentenanspruch erwerben wie jemand, der im Westen ebenfalls
3 000 Euro verdient.
Die Maßeinheit ist das Gehalt und nicht die Zahl frisierter Köpfe.
Man muss schon der Tatsache Rechnung tragen, dass
sich in der Tariflandschaft in den letzten Jahren einiges
verändert hat. Wirft man einen Blick in das Tarifarchiv
der Hans-Böckler-Stiftung, stellt man fest, dass die Tarifniveauunterschiede laut WSI - es stimmt, dass nicht
alles tariflich abgedeckt ist - im Jahr 2013 nur noch
3 Prozent betragen. In vielen Tarifverträgen ist mittlerweile die gleiche Bezahlung in Ost und West vereinbart.
Wenn man sich die regionalen Unterschiede anschaut,
dann stellt man fest, dass die Himmelsrichtung West/Ost
nicht mehr so aufschlussreich ist. Es gibt auch im Westen Regionen mit einem sehr niedrigen Lohnniveau. Ich
komme aus dem Ruhrgebiet. Wenn man insbesondere
das nördliche Ruhrgebiet mit Stuttgart oder dem Münchner Umland vergleicht, dann kommt man zu ganz erheblichen Lohnunterschieden, die die Lohnunterschiede
zwischen Ost und West weitaus übersteigen.
Wir wollen daher zielgerichtet über Instrumente wie
die Garantierente und Maßnahmen, die das Rentenniveau stabilisieren, die Rente armutsfest machen und uns
dabei möglichst nahe an einer lebensstandardsichernden
Rente orientieren. Es sollen aber keine Ausgleiche mehr
nach Himmelsrichtung erfolgen.
({6})
Das trifft auch auf den Solidarpakt zu. Selbst die ostdeutschen Länder haben inzwischen erkannt, dass sich
die Situation fast 25 Jahre nach dem Mauerfall verändert
hat. Strukturschwache Regionen gibt es in ganz
Deutschland. Insofern muss sich eine öffentliche Intervention nach dem Bedarf und darf sich nicht nach der
Himmelsrichtung richten. Wenn wir in den weiteren Beratungen in diesem Sinne zusammenkommen könnten,
wäre das gut.
Ich halte fest: Wir brauchen möglichst schnell, am
besten zum 1. Juli, zum nächsten jährlichen Rentenanpassungstermin, eine Gleichberechtigung und Gleichstellung von Rentnerinnen und Rentnern in Ost und
West.
({7})
Als nächste Rednerin erhält Daniela Kolbe, SPDFraktion, das Wort.
({0})
- Der Kollege Birkwald hatte eine Kurzintervention angemeldet. Er hat aber vorhin selber gesprochen. Deswegen kann er zwar eine Frage stellen, aber eine Kurzintervention ist nicht möglich; denn die Idee der
Kurzintervention besteht darin, dass ein Redner, dem
spontan etwas einfällt, etwas sagen kann. Es soll nicht so
sein, dass einer, der schon etwas gesagt hat, noch etwas
sagen soll.
({1})
Bitte, Frau Kollegin.
Jetzt habe ich wieder etwas über die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages gelernt.
Man lernt hier laufend.
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Erst einmal danke an die Linke, dass wir über
das Thema sprechen können. Jeder, der in den neuen
Bundesländern Wahlkampf macht, weiß, dass es kaum
ein Thema gibt, das so emotional diskutiert wird. Man
spürt immer wieder, dass wegen der Tatsache, dass es
zwei unterschiedliche Rentensysteme in Ost und West
gibt, ein massives Ungerechtigkeitsempfinden nach wie
vor vorhanden ist. Ich war 1989 neun Jahre alt. Es ist irgendwie schon verrückt, dass wir 25 Jahre nach der
friedlichen Revolution immer noch zwei unterschiedliche Rentensysteme haben. Aber es lohnt durchaus ein
Blick zurück.
Im Rentenüberleitungsgesetz nach der Wiedervereinigung sind Regelungen für die bestehenden und für die
zukünftigen Renten in den damals wirklich noch neuen
Bundesländern getroffen worden. Ich finde, diese Regelungen verdienen unser aller Hochachtung.
({0})
Denn damals sind zwei völlig unterschiedliche Rechtssysteme zusammengeführt worden, auch mit dem impliziten Versprechen, dass die Unterschiede lediglich für
eine Übergangszeit gelten sollten. Profitiert davon haben
insbesondere die Rentnerinnen und Rentner in der ehemaligen DDR, die für ihre Rentenanwartschaften Renten
bekommen haben und hoffentlich immer noch bekommen, die sie nach DDR-Rentenrecht nie und nimmer bekommen hätten. Ich weiß, einige wollen und können es
nicht mehr hören, dennoch sollte man nicht unerwähnt
lassen: Das Ganze war und ist immer noch eine riesige
gesamtgesellschaftliche Leistung in Ost und West.
({1})
So weit zur Vergangenheit. Die Rentenüberleitung
war klug konzipiert. Mit der Lohnangleichung in Ost
und West sollten sukzessive gleiche Anwartschaften in
Ost und West erreicht werden. Irgendwann sollte dann
der Durchschnittslohn gleich sein, damit auch der Rentenwert in Ost und West gleich. Dann brauchte man
keine Höherwertung mehr und hätte sozusagen automatisch ein Rentensystem.
Leider sieht die Realität anders aus. Die Rentenwerte
haben sich zwar in der Vergangenheit zunächst sehr
schnell angeglichen, in den letzten Jahren hat sich aber
das Tempo verlangsamt. Die Frage stellt sich natürlich,
ob wir bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag warten wollen,
bis sich diese Rentensysteme automatisch angleichen.
Das könnte auch erst in einigen Jahrzehnten sein, wenn
man sich die Lohnentwicklung anschaut, womöglich
auch niemals. Wir, die SPD-Fraktion, sagen: Nein, natürlich nicht, auch wenn es anders schöner wäre und es
morgen in Ostdeutschland die gleichen Löhne wie in
Westdeutschland gäbe; den letzten Schritt dieser Rentenangleichung müssen wir politisch hier im Deutschen
Bundestag beschließen.
({2})
Mit dem Passus zur Rentenangleichung haben wir mit
unserem Koalitionspartner im Koalitionsvertrag auf
Seite 53 eine vernünftige Formulierung gefunden. Die
wird auch im Antrag der Linken zitiert. Es steht darin,
dass es einen Fahrplan zur vollständigen Angleichung
geben soll, gegebenenfalls mit einem Zwischenschritt.
Das Ganze soll in einem Rentenüberleitungsabschlussgesetz noch in dieser Legislatur festgeschrieben werden.
Das ist für uns eine der zentralen Forderungen für die
18. Legislaturperiode. Ich schaue an dieser Stelle zu der
neuen Ministerin Andrea Nahles. Wir haben Sie jetzt als
Ministerin kennengelernt, die das, was im Koalitionsvertrag beschlossen wurde, auch umsetzt. Insofern vergleichen Sie uns bitte nicht mit vorangegangenen Koalitionen, sondern messen Sie uns an unseren Taten.
({3})
Nach dem Koalitionsvertrag muss spätestens zum
1. Juli 2016 geprüft werden, wie weit der Angleichungsprozess vorangekommen ist. Rein mathematisch gesehen, kann man ja relativ leicht sagen, wo dieser Prozess
stehen müsste. Würde er automatisch ablaufen, müsste
der durchschnittliche Rentenwert im Osten bei ungefähr
95 Prozent des durchschnittlichen Rentenwertes im Westen liegen. Wenn dieser Rentenwert im Osten darunterliegt und eine Anpassung nötig sein sollte, dann muss
sie, wenn Sie mich fragen, möglichst schnell und möglichst auch noch in dieser Legislaturperiode erfolgen.
Der Passus im Koalitionsvertrag, erst 2016 zu prüfen,
ist wichtig und auch richtig. Mit Blick auf die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns, den wir heute Morgen diskutiert haben, bin ich mir hundertprozentig sicher, dass wir bis 2016 eine deutliche Anhebung der
Löhne im Osten erleben werden; sie werden deutlicher
als in Westdeutschland steigen. Ich hoffe auch, dass dieses kluge Gesetz zur Einführung flächendeckender Mindestlöhne zu einer höheren Tarifbindung in Ostdeutschland führen wird. Es ist vernünftig, abzuwarten, welche
Impulse für die Lohnangleichung und dann auch für die
Rentenangleichung notwendig sind. Denn wenn es ohne
einen Anpassungsschritt gehen könnte, dann wäre das,
ehrlich gesagt, deutlich eleganter. Insofern finde ich diesen Passus im Koalitionsvertrag wirklich klug.
({4})
Wir, die SPD-Fraktion, wollen mit dem Auslaufen des
Solidarpaktes ein deutsches Rentensystem. Davon rücken wir auch nicht ab. Ich denke, es wird auch nicht
erst am Sankt-Nimmerleins-Tag kommen, wie es im
Linken-Antrag steht.
({5})
- Auch Sie fordern die Rentenangleichung ja nicht für
morgen,
({6})
und dafür haben Sie auch gute Gründe.
Zur Ehrlichkeit gehört, festzustellen, dass mit dem
Höherwertungsfaktor, den wir derzeit haben, die ostdeutschen Löhne nach oben gewertet werden. Wenn man
dem Vorschlag der Grünen folgen würde und die Renten
vieler Menschen schon morgen angeglichen würden,
dann würden gerade die jetzt arbeitenden Menschen
massive Einbußen hinnehmen müssen. Es ist ganz wichtig, dass wir uns auf die Lohnpolitik konzentrieren und
uns 2016 anschauen, ob das Tarifpaket gewirkt hat.
Dann können wir im Sinne des Koalitionsvertrags voranschreiten.
Ich sage aber auch: Dadurch, dass die Unterschiede
eben nicht mehr allein zwischen Ost und West verlaufen,
dass es durchaus Konflikte innerhalb des Ostens und des
Westens gibt, dass es auch Unterschiede gibt zwischen
Beitragszahlern Ost und Rentnern Ost, dass es unterschiedliche Interessen zwischen Beitragszahlern im
Westen und Beitragszahlern im Osten gibt, tun wir gut
daran, das Projekt „Angleichung der Rentensysteme“
nicht auf die lange Bank zu schieben, sondern zu einem
guten Abschluss zu bringen.
Stichwort „Abschluss“: Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Kollegen Peter Weiß, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Da in drei der ostdeutschen Bundesländer dieses Jahr
noch Landtagswahlen stattfinden, muss die Linke natürlich einen Antrag zum Thema Rente im Deutschen Bundestag einbringen.
({0})
Der Punkt ist nur: Die Linke erzählt den Menschen in
den neuen Bundesländern nie die wirkliche Wahrheit
zum Thema Rente.
({1})
Das Rentensystem ist zwischen Ost und West deswegen immer noch gespalten, weil es zwei Faktoren sind,
nach denen die Rente im Osten berechnet wird. Weil der
Lohnunterschied zwischen Ost und West leider immer
noch relativ groß ist - Gott sei Dank nimmt er ab; aber er
ist immer noch relativ groß -, wird der Rentenanspruch,
den ein ostdeutscher Arbeitnehmer oder eine ostdeutsche
Arbeitnehmerin bis heute erworben hat, morgen, wenn
er oder sie den Rentenantrag stellt, um 18,7 Prozent erhöht. Das heißt, sie oder er hat ein besser gefülltes Rentenkonto als jemand Vergleichbares in Westdeutschland.
Das ist die sogenannte Höherwertung. Das ist das Erste.
Das Zweite ist: Das, was auf diesem Rentenkonto
liegt, wird mit einem Zahlbetrag multipliziert, dem sogePeter Weiß ({2})
nannten Rentenwert. In der Tat ist der Rentenwert West
derzeit noch 8 Prozent höher als der Rentenwert Ost.
Aber jeder, der ein bisschen etwas von Mathematik versteht, wird erkennen: Wenn man morgen auf einen
Schlag, sofort, gleiches Rentenrecht in Ost und West einführt, also der gleiche Zahlbetrag gilt und es keine
Höherwertung um 18,7 Prozent gibt, dann hat der
Ostrentner oder die Ostrentnerin weniger, als ihm oder
ihr nach dem derzeitigen Rentenrecht zusteht. Das ist der
Punkt.
({3})
Um es klar und deutlich zu sagen: Wer einfach nur alles angleicht, der sorgt für ein Minus für die Rentnerinnen und Rentner im Osten. Das ist der Punkt.
({4})
Die Grünen erklären hier mutig: Ja, das wollen wir.
({5})
Die Linke verschweigt, was sie wirklich vorhat. Sie
will nämlich nicht gleiches Rentenrecht in Ost und West
- das beantragt sie auch nicht -, sondern sie will, dass
Deutschland in Sachen Rente weiter in zwei Zonen aufgeteilt wird.
({6})
Sie will Folgendes machen: Sie will die Höherwertung
der Rentenansprüche, die man gesammelt hat, beibehalten, aber den höheren Zahlbetrag West darauf anwenden.
Was hat das zur Folge? Dass ein Arbeitnehmer oder eine
Arbeitnehmerin im Osten, der oder die die gleiche Arbeit hinter sich gebracht hat und das Gleiche verdient hat
wie ein Arbeitnehmer oder eine Arbeitnehmerin im Westen,
({7})
eine höhere Rente bekommt als der Arbeitnehmer oder
die Arbeitnehmerin im Westen. Man schafft also eine
neue Ungerechtigkeit, nämlich für die Westrentner und
Westrentnerinnen. Das ist die Politik der Linken.
({8})
Herr Kollege Weiß, der Herr Kollege Matthias W.
Birkwald möchte jetzt gern eine Zwischenfrage stellen
oder eine Zwischenbemerkung machen; beides ist möglich.
Bitte schön.
Vielen Dank, Herr Präsident. Vielen Dank, Herr
Weiß, dass Sie die Zwischenfrage zulassen.
Zunächst möchte ich Ihnen sagen: Selbstverständlich
haben wir nicht das vor, was Sie hier eben vorgetragen
haben.
Doch!
Nein.
Guckt doch euren Antrag an!
Ich möchte Ihnen das jetzt gern noch einmal erklären.
Sie vergleichen immer diejenigen im Osten mit einem
Gehalt von beispielsweise 2 000 Euro mit denjenigen im
Westen, die ebenfalls 2 000 Euro verdienen. Das Problem ist, dass es solche Fälle nur selten gibt. Wir haben
nur ein, zwei Branchen, vielleicht auch zwei oder drei
mehr - aber es sind insgesamt wenige -, in denen der
Lohn Ost und der Lohn West jeweils gleich sind.
Die Tarifbindung im Osten ist deutlich niedriger. Im
Westen arbeiten 60 Prozent der Beschäftigten mit Tarifvertrag, im Osten nur 48 Prozent. Deswegen ist es so,
dass - das habe ich vorhin auch gesagt; ich halte die Tabelle gern noch einmal hoch - die Beschäftigten im
Osten 79 Prozent der Einkommen im Westen haben. Das
stagniert seit Jahren bei unter 80 Prozent; da tut sich
nichts.
Das bedeutet, dass man auch in dem Bundesland mit
dem höchsten Durchschnittslohn im Osten - das ist
Brandenburg im Jahr 2013 mit 25 600 Euro brutto - immer noch deutlich unter dem Bundesland im Westen mit
dem niedrigsten Durchschnittseinkommen - das ist
Schleswig-Holstein mit 27 600 Euro - liegt. Solange es
so ist, dass selbst in dem östlichen Bundesland, in dem
am besten verdient wird, weniger verdient wird als in
dem westlichen Bundesland mit dem niedrigsten Einkommen, so lange ist die Umrechnung, wie der korrekte
Begriff heißt, notwendig.
Was würde sonst passieren? Ich will es an einem Beispiel zeigen. Nehmen wir jetzt nicht eine Friseurin, sondern eine Floristin. Eine Floristin hat in Teilzeit im Westen 1 000 Euro und im Osten 790 Euro im Monat. Die im
Osten hat natürlich auch nur für 790 Euro Beiträge gezahlt. Wenn die beiden am selben Tag in Rente gehen,
nachdem sie, die eine in Köln, die andere in Leipzig,
45 Jahre Blumen verkauft haben, kriegt die Rentnerin in
Leipzig nach wie vor 7,8 Prozent weniger als ihre Kollegin im Westen. Das sind bei Durchschnittslöhnen, wenn
man alles zusammen betrachtet, 100 Euro im Monat.
So herum muss man vergleichen. Man muss dieselben
Jobs vergleichen. Außerdem ist im Osten die Arbeitszeit
länger, und es gibt weniger Sonderzahlungen. Das heißt,
insgesamt hat die Kollegin im Osten die deutlich
schlechtere Ausgangsposition und die niedrigere Rente.
Das könnte man mit dem Stufensystem deutlich ändern.
Machen Sie es ab dem 1. Juli!
({0})
Herr Kollege Birkwald, erstens haben wir in der Tat
in vielen Berufen nach wie vor einen deutlichen Lohnunterschied zwischen Ost und West.
({0})
Deswegen haben wir die Höherwertung von Rentenansprüchen um 18,7 Prozent. Deswegen wollen wir diese
Höherwertung nicht auf einen Schlag abschaffen.
Zweitens. In der Tat haben wir auch sonst Lohnunterschiede. Die Rentenversicherung ist so gebaut, dass sie
beitragsbezogen ist. Weil wir aber wissen, dass im Osten
weniger verdient wird, gibt es diese Höherwertung.
Ich gebe Ihnen ein anderes Beispiel. Ich komme aus
Baden-Württemberg, einem Bundesland, in dem durchschnittlich sehr gut verdient wird. Schleswig-Holstein
dagegen hat ein Lohnniveau, das bei 75 Prozent des baden-württembergischen Niveaus liegt. Die Kolleginnen
und Kollegen aus Schleswig-Holstein könnten mit gleichem Recht fragen: Warum ist angesichts solcher Lohnunterschiede 1 Euro Rentenbeitrag in Baden-Württemberg und in Schleswig-Holstein gleich viel wert? Diese
Frage könnte zum Beispiel Frau Kollegin Hiller-Ohm
aus Lübeck stellen.
Ja, wir wollen ein einheitliches Rentenrecht in Ost
und West. Aber wenn wir es auf einen Schlag einführen
würden, hieße dies, die Höherwertung würde wegfallen,
und damit hätten die Rentnerinnen und Rentner im Osten
weniger, wenn sie morgen einen Rentenantrag stellen
würden, als es nach heutigem Recht der Fall wäre. Das
wollen wir von der Großen Koalition nicht.
({1})
Herr Birkwald, wenn die Linken Gerechtigkeit tatsächlich ernst nehmen - das tun sie angeblich -, dann
darf nicht das passieren, was gemäß Ihrem Antrag passieren würde, nämlich dass plötzlich die Beitragszahlung
eines westdeutschen Arbeitnehmers oder einer westdeutschen Arbeitnehmerin weniger wert ist als die von jemandem aus Ostdeutschland. Es geht erst recht nicht,
dass die Verhältnisse umgekehrt werden. Ihr Antrag bedeutet: Spaltung Deutschlands auf Dauer.
({2})
Damit habe ich dieses komplexe System einmal dargestellt. Natürlich ist es richtig, dass wir 24 Jahre nach
der deutschen Einheit zu einem gemeinsamen System in
der Rente kommen müssen,
({3})
aber doch bitte so, dass es nicht auf der einen oder anderen Seite Verliererinnen und Verlierer in großer Zahl
gibt.
Das Rentensystem - Frau Kollegin Kolbe hat es ja erklärt - ist deshalb unterschiedlich angelegt worden, weil
man gedacht hat, dass die Lohngleichheit in Ost und
West relativ schnell zustande kommt. Bei Lohngleichheit müsste es keine Höherwertung geben, und der Rentenwert in Ost und West wäre der gleiche. Wir wissen
heute, dass dies nicht automatisch geschieht.
Aber wir haben in der Ost-West-Angleichung eine
neue Dynamik. Letztes Jahr gab es eine deutliche Anhebung des Rentenwerts Ost. Zum 1. Juli dieses Jahres
wird dies erneut der Fall sein. Das Lohnniveau gleicht
sich also schneller an, als wir gedacht haben.
Zum Schluss werden wir - Zielmarke ist das Jahr
2019, also das Auslaufen des Solidarpakts - hoffentlich
ein gemeinsames Rentenrecht in Ost und West durch einen Gesetzgebungsakt des Deutschen Bundestages
schaffen. Aber wir sollten dies bitte so tun, dass es weder
im Osten noch im Westen Verlierer und Verliererinnen
gibt und dass keine neuen Ungerechtigkeiten geschaffen
werden, die dafür sorgen, dass sich plötzlich Rentner aus
dem Westen bei uns über das Rentenrecht beschweren.
Wir müssen wirklich ein gleiches Rentenrecht schaffen,
was bedeutet, dass jeder in die Rentenversicherung eingezahlte Euro das gleiche wert ist - im Osten und im
Westen. Das ist unser Ziel, das wir miteinander erreichen
wollen.
Wenn die Linken im Osten diese Wahrheit im Wahlkampf erzählen würden, dann wüssten die Menschen,
dass die Rentnerinnen und Rentner in Ost und West bei
der Großen Koalition besser aufgehoben sind.
Vielen Dank.
({4})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Waltraud Wolff, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir merken alle, wie emotional die Rentendebatte ist. Das ist
nicht nur im Wahlkampf im Osten der Republik so, sondern auch hier. Aber wir wissen auch, dass der geringere
Rentenwert bei den Menschen im Osten ganz eindeutig
als ungerecht empfunden wird. Sie haben einfach das
Gefühl, dass ihre Lebensleistung weniger wert ist. Nach
so langer Zeit eines gemeinsamen Deutschlands wollen
sie eine gleiche Rente.
Ich kann diesen Wunsch verstehen und finde ihn auch
berechtigt. Genau darum bin ich sehr froh, dass wir im
Koalitionsvertrag einen ganz klaren Fahrplan zur Rentenangleichung verankert haben. 2020 wird es keine UnWaltraud Wolff ({0})
terschiede mehr geben. Das beschließen wir in dieser
Legislaturperiode.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken,
manchmal ist die Koalition schneller, als Sie vermuten.
({1})
Heute Morgen gab es die erste Lesung zum Mindestlohn und zum Tarifpakt. In der letzten Sitzungswoche
haben wir das Rentenpaket beschlossen. Also, meine
Bitte: Hören Sie doch auf, im Kaffeesatz immer nur das
Schlechte herauszufischen.
({2})
Wenn Sie dafür unsere Gesetzentwürfe lesen würden,
dann wüssten Sie, dass der Mindestlohn bereits 2015
kommt und dass es spätestens 2017 überhaupt keine
Übergänge mehr gibt. Ich finde es sehr unlauter, gerade
an einem Tag wie heute das schlechtzumachen, was wir
für Juli 2016 angekündigt haben. Wir haben einen klaren
Fahrplan, und der gilt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nur die SPD ist mit
einem ganz klaren Konzept für die Rentenangleichung
Ost/West in den Wahlkampf gegangen.
({3})
- Auch die Grünen brauchen sich nicht aufzuregen. Hier
gibt es weder einen Fahrplan noch eine richtige Programmatik und keine festen Zusagen.
({4})
Aber wir müssen eines gemeinsam zur Kenntnis nehmen: Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass die Menschen im Osten der Republik die Linke mit 21,2 Prozent
und die SPD mit 19 Prozent gewählt haben. Das Vertrauen jedoch hat die Union bekommen. Meine Damen
und Herren, hier hat man auch Grenzen für das, was man
im Wahlkampf versprochen hat.
Die Unterschiede im Rentenrecht sind nach über
20 Jahren natürlich nicht mehr akzeptabel. Das haben
wir in der Großen Koalition im Koalitionsvertrag festgeschrieben. Zwar wird der Unterschied in den Durchschnittslöhnen mit dem Höherwertungsfaktor ausgeglichen,
({5})
aber alles das, was in der Rente pauschal berücksichtigt
wird, ist für Rentnerinnen und Rentner in den neuen
Bundesländern noch immer weniger wert: Kindererziehungszeiten, Wehrpflicht, Zivildienst, Pflegezeiten und
Arbeiten in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen. Die Renten sind an die Lohnentwicklung gekoppelt.
Wir sind stolz darauf, dass Renten sich wie die Löhne
entwickeln. Das soll auch so bleiben. Das heißt - das
schreiben Sie auch in Ihrem Antrag -: Wir brauchen eine
positive Lohnentwicklung in Ostdeutschland. Nur mit
einer solchen Politik können wir die Probleme bei den
Renten im Osten wirklich lösen.
({6})
Das Problem, das wir in Ostdeutschland haben, ist,
dass durch den Zusammenbruch der desolaten Industrie
Tausende Erwerbsbiografien ein abruptes Ende gefunden haben, eine wirkliche Erholung der Wirtschaft ausblieb. Bis heute haben wir schlecht bezahlte und schlecht
abgesicherte Jobs, die damals entstanden sind, und im
Osten der Republik spielen Betriebsrenten so gut wie
keine Rolle. Diese Unterschiede, die ich eben genannt
habe, meine Damen und Herren, können wir über die
Angleichung des Rentenwertes nicht ausgleichen. Darum muss etwas anderes passieren. 2015 kommt der
Mindestlohn. Etwa 30 Prozent der Beschäftigten im
Osten Deutschlands werden davon direkt profitieren. Sie
erhalten höhere Löhne. Dadurch steigen die Entgeltpunkte für die Rente. Dadurch wiederum steigt auch der
Rentenwert: weil das Lohnniveau steigt. Meine Damen
und Herren, das kommt bei den Menschen in den neuen
Bundesländern an.
({7})
Das Rentenpaket ist beschlossen. Auch die Mütterrente hilft. Die Solidarrente ist im Koalitionsvertrag festgeschrieben. Auch dadurch kommen höhere Renten.
Also: Wir haben einen festen Fahrplan zur Rentenangleichung. Wir machen Politik für gerechtere Löhne und höhere Renten. Wir packen das an. Daran sollen uns die
Menschen im Land messen.
Herzlichen Dank.
({8})
Als letzter Rednerin in dieser Aussprache erteile ich
das Wort der Abgeordneten Dr. Astrid Freudenstein,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Antrag der Linkspartei ist nichts Neues. Sie fordern in regelmäßigen Abständen das Parlament auf, die Renten in
Ost und West anzugleichen
({0})
und verschweigen dabei, dass der Angleichungsprozess
seit Jahren in vollem Gange ist.
({1})
Dass Sie den Menschen im Osten einreden, sie seien eklatant benachteiligt, ist also nicht in Ordnung.
Ich möchte Ihnen ein paar Zahlen nennen. 1990, im
Jahre der Wiedervereinigung, hatte ein Entgeltpunkt im
Osten einen Wert von 15,95 D-Mark, im Westen waren
es 39,58 D-Mark. Das war ein riesiger Unterschied.
Doch schon im Jahr 2000 lag der Rentenwert im
Osten dann bei 42,26 D-Mark und im Westen bei
48,58 D-Mark. Innerhalb von zehn Jahren hatte eine riesige Angleichung stattgefunden. Im kommenden Jahr
wird der Rentenwert im Osten auf 26,39 Euro gestiegen
sein und damit nur noch sehr knapp unter dem Wert im
Westen von 28,61 Euro liegen. Sagen Sie das den Menschen im Osten, statt beharrlich von einer Benachteiligung zu sprechen, die in dem Ausmaß nicht gegeben ist.
({2})
Die Zahlen belegen, dass das Rentensystem mit der
Wiedervereinigung die bis heute größte Herausforderung seiner Geschichte mit Bravour gemeistert hat. Nur
mit der von Adenauer eingeführten umlagefinanzierten
gesetzlichen Rentenversicherung war es überhaupt möglich, die ostdeutsche Alterssicherung in das deutsche
Rentenversicherungssystem einzugliedern. Das war eine
ganz große Solidarleistung der Rentenbeitragszahler.
({3})
Sie von der Linken sprechen in Ihrem Antrag von einer vergleichbaren Lebensleistung, die nicht in gleicher
Weise anerkannt würde. Sie beziehen sich dabei allein
auf den aktuellen Rentenwert. Das ist aber zu kurz gedacht; das wurde in der Debatte mehrfach erwähnt.
Nach der Wiedervereinigung galt es, ein ausgeklügeltes, faires und allgemein akzeptiertes Verfahren zu finden, das verschiedene Erwerbsbiografien, Lohnunterschiede und eben auch andere Faktoren berücksichtigt.
Die Gerechtigkeit an der Gleichheit eines einzigen Werts
festzumachen, ist deswegen hanebüchen, gerade in Bezug auf die Komplexität des Angleichungsprozesses.
Kollege Weiß hat das ja sehr schön erklärt.
Damit den Rentnern in Ostdeutschland aus den niedrigen DDR-Arbeitsentgelten kein Nachteil entsteht, werden diese mit einem Umrechnungsfaktor um gut 18 Prozent erhöht; auch das wurde erwähnt. So haben die
Versicherten in den neuen Bundesländern heute teils höhere Ansprüche als in den alten Bundesländern: Bei den
Männern sind es im Schnitt 77 Euro mehr, bei den
Frauen sogar 209 Euro mehr im Jahr.
({4})
Es gab - das hören Sie wieder ungern - in der sozialistischen Planwirtschaft eine vermeintliche, eine künstliche Vollbeschäftigung, somit durchgängige Erwerbsbiografien und längere Lebensarbeitszeiten.
({5})
Frauen konnten oder mussten - wie auch immer - ihre
Kinder abgeben
({6})
und gingen einer Erwerbsarbeit nach. Deshalb bekommen sie heute auch mehr Rente als ihre westdeutschen
Mitbürgerinnen, die auch gearbeitet haben, aber eben daheim in der Kindererziehung; und das ist nicht weniger
wert. Wenn sich jemand beschweren kann, dann sind es
tatsächlich die älteren Frauen im Westen.
Das feine und akzeptierte System, das gegenwärtig
die Renten organisiert, funktioniert, und wir wollen es
deshalb auch nicht verändern. In zwei Jahren, zum
1. Juli 2016, wird geprüft, wie weit sich der Angleichungsprozess bereits vollzogen hat, und auf dieser
Grundlage werden wir dann entscheiden, was zu tun ist.
Wie man daraus eine Ankündigung ableiten kann, man
wolle nichts tun, kann ich nicht erkennen.
Eine Angleichung des Rentenwerts durch Zulagen,
wie Sie sie fordern, würde neue Ungerechtigkeiten
schaffen, anstatt alte abzuschaffen. Wir wollen zu einem
gemeinsamen Rentensystem in Ost und West kommen,
wir wollen aber keine neuen Ungerechtigkeiten schaffen.
Danke schön.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/982 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur
Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto
Drucksachen 18/1308, 18/1577
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({0})
Drucksache 18/1649
Bericht des Haushaltsausschusses ({1})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Drucksache 18/1650
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Matthias W. Birkwald, Jan
Korte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Vizepräsident Peter Hintze
Renten für Leistungsberechtigte des GhettoRentengesetzes ab dem Jahr 1997 nachträglich auszahlen
Drucksachen 18/636, 18/1649
Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein
Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. Sind Sie einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Als erster Rednerin erteile ich das Wort Frau Staatssekretärin Gabriele Lösekrug-Möller für die Bundesregierung.
({3})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren auf den Tribünen! Bei der gemeinsamen Sondersitzung von Bundestag und Bundesrat
zum Gedenken an das Kriegsende hat der damalige Bundespräsident Horst Köhler am 8. Mai 2005 Folgendes
gesagt:
Wir Deutsche blicken mit Schrecken und Scham
zurück auf den von Deutschland entfesselten Zweiten Weltkrieg und auf den von Deutschen begangenen Zivilisationsbruch Holocaust.
Was wir heute beschließen werden, macht nichts gut
von all dem Schrecken, den die Nationalsozialisten während der Jahre 1933 bis 1945 verbreitet haben, nichts
von dem unermesslichen Leid, das sie Millionen von
Menschen angetan haben.
Der vorliegende Gesetzentwurf, kurz Ghettorentengesetz, ist aber ein wichtiges Zeichen der Anerkennung,
({0})
der Anerkennung der Arbeit, die Menschen in Ghettos,
die im nationalsozialistischen Einflussbereich lagen, unter unwürdigen Bedingungen geleistet haben. Sie taten
das - das Wort geht mir schwer über die Lippen - freiwillig, wobei der Begriff „freiwillig“ aufgrund der Realität im Ghetto einen bitteren Beigeschmack hat; denn
die Menschen hegten die verzweifelte Hoffnung, der Deportation und dem Tod entgehen zu können, wenn sie
eine Arbeit hatten. Das Leid, das sie erlitten haben, ist
heute unvorstellbar. Diese Menschen - es leben immer
noch Zehntausende von ihnen - wollen in der großen
Mehrzahl statt einer einmaligen Entschädigungszahlung
eine tatsächliche Sozialversicherungsrente für die Zeiten
der Beschäftigung im Ghetto.
Dass es sich bei Ghettoarbeit nicht automatisch um
Zwangsarbeit handelt, hat das Bundessozialgericht bereits im Jahr 1997 festgestellt. 2002 hat der Deutsche
Bundestag beschlossen, dass Renten aus Beschäftigungen im Ghetto auch tatsächlich ab dem 1. Juli 1997 gezahlt werden können. Allerdings war die Rechtsauslegung anfangs so strikt, dass viele Anträge zunächst
abgelehnt wurden. Erst 2009 wurde diese Rechtsauslegung geändert. Jetzt wurden die Renten zwar bewilligt,
aber aufgrund einer Ausschlussfrist nur für vier Jahre
rückwirkend, also meist ab 2005 mit einem Zuschlag.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ändern wir das.
Ab dem 1. Juli 2014 erhalten nun alle ehemaligen Ghettobeschäftigten ihre Renten rückwirkend ab 1997. Zudem werden alle Renten auf Antrag der Berechtigten von
Juli 1997 an neu festgestellt und gezahlt. Jeder und jede
entscheidet selbst, ob er oder sie eine Nachzahlung der
Rente wünscht - ohne die bisherigen Zuschläge - oder
ob er oder sie stattdessen die bisherige Rente mit Zuschlägen - jedoch ohne weitere Nachzahlung - behalten
möchte.
Aufgrund ihres hohen Alters müssen die ehemaligen
Ghettobeschäftigten nun schnell zu ihrem Recht kommen. Deshalb bitte ich Sie um Ihre Zustimmung zum
Ghettorentengesetz.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte abschließend noch einmal betonen: Durch die Neuregelung
bei den Ghettorenten können wir nichts wiedergutmachen, doch wir stehen zu unserer Verantwortung für die
Opfer der Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten. Wir
setzen ein Zeichen gegen das Vergessen. Und wir sorgen
dafür, dass die Arbeit im Ghetto anerkannt wird und die
Betroffenen nun zügig und unbürokratisch die Rente erhalten, die ihnen zusteht.
Vielen Dank.
({1})
Als nächstem Redner erteile ich dem Abgeordneten
Matthias W. Birkwald von der Fraktion Die Linke das
Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Jahr 1997 stellte das Bundessozialgericht fest,
dass NS-Verfolgten, die in einem Ghetto arbeiteten, eine
Rente nach deutschem Recht zustehe. 2002 hatte dann
der Bundestag zum ersten Mal beschlossen, allen Überlebenden der Nazighettos eine Rente rückwirkend bis
zum Zeitpunkt des Urteils, also bis 1997, zu gewähren.
Aber erst heute, 17 Jahre nach dem BSG-Urteil, können
40 000 betroffene hochbetagte Jüdinnen und Juden in aller Welt nun endlich hoffen, dass dieser Anspruch zum
ersten Mal Wirklichkeit werden wird. Dafür danke ich
der Bundesregierung und dem Bundesministerium für
Arbeit und Soziales, namentlich Frau Ministerin Nahles
und Frau Staatssekretärin Lösekrug-Möller, und allen
anderen daran Beteiligten im Namen der Fraktion Die
Linke.
({0})
Sie, meine Damen und Herren, haben sich erstens im
Gegensatz zu all ihren Vorgängerregierungen endlich
den komplizierten rechtlichen Problemen gestellt, statt
sich hinter ihnen zu verstecken, haben die mehreren
Hundert Petitionen dazu ernst genommen; beispielhaft
sei hier nur die Petition des engagierten Sozialrichters
Dr. Jan-Robert von Renesse erwähnt. Sie haben zweitens
nun schnell eine Lösung gefunden. Drittens haben Sie
alle Regelungsvorschläge meiner Fraktion aus unserem
Antrag in Ihren Gesetzentwurf aufgenommen.
Ich danke Ihnen aber vor allem dafür, dass Sie mit
dem heute zu verabschiedenden Gesetz seine unrühmliche zwölfjährige Vorgeschichte beenden.
({1})
Denn gegen eine angemessene und schnelle Auszahlung
der Ghettorenten gab es in Deutschland leider massive
Widerstände. Ich will das gerade heute sehr ehrlich und
sehr deutlich sagen: Die jüdischen Opfer sahen sich über
ein Jahrzehnt lang bürokratischen Blockaden durch die
Rentenversicherungsträger ausgesetzt. Ausführlich hat
das der Warschauer Historiker Stephan Lehnstaedt in einem Aufsatz in den Vierteljahresheften für Zeitgeschichte im vergangenen Jahr beschrieben. Die Opfer litten unter einer meist restriktiven richterlichen Praxis,
wenn sie gegen ihre abgelehnten Bescheide klagten. Die
Bundes- und auch die Landesregierungen versagten als
Aufsichtsbehörden. Denn sie wussten um die Unzulänglichkeiten des Gesetzes, aber sie weigerten sich bis
heute, daran etwas zu ändern, auch aus Sorge vor finanziellen Belastungen. Im Jahr 2008 gab es deshalb 6 100
bewilligte Anträge und 65 000 abgelehnte Anträge. Erst
das BSG-Urteil aus dem Jahr 2009 hat dazu geführt, dass
Zehntausende von abgelehnten Bescheiden überprüft
wurden. 24 000 Bescheide wurden anschließend positiv
beschieden. Aber den Betroffenen - das ist das Problem - wurde der rückwirkende Rentenbeginn ab 1997
versagt.
Diese Vorgeschichte des heutigen Gesetzes ist kein
Ruhmesblatt für die deutschen Bundesregierungen dieser Zeit und auch nicht für die Rentenversicherungsträger dieser Jahre.
Sicher, es ist viel, viel zu spät dafür; aber ich bin dennoch froh, dass den Ghettoarbeiterinnen und Ghettoarbeitern als Opfern der faschistischen Gewaltherrschaft
heute nun endlich ein Stück Gerechtigkeit widerfahren
wird. Deswegen wird meine Fraktion diesem Gesetzentwurf zustimmen.
({2})
Meine Damen und Herren, es bleibt aber noch eine
Gerechtigkeitslücke. Es war die Klage einer polnischen
Jüdin, die zum Urteil von 1997 führte und den Stein bei
den Ghettorenten ins Rollen brachte. Aber ausgerechnet
für die Jüdinnen und Juden und die Sinti und Roma, die
seit dem 31. Dezember 1990 durchgängig in Polen wohnen, gibt es immer noch keine Lösung. Dem steht leider
das deutsch-polnische Rentenabkommen aus dem Jahre
1975 im Weg. Es blockiert in seiner derzeitigen Fassung
die Auszahlung von Ghettorenten in Polen. Darum fordern wir in unserem Entschließungsantrag die Bundesregierung auf, hier ebenfalls schnell zu einer Lösung mit
der polnischen Seite im Interesse der hochbetagten Betroffenen zu kommen.
({3})
Ich bitte Sie, diesen letzten fehlenden Stein aus dem Weg
zu räumen und das Ghettorentengesetz so zu einem guten Abschluss zu bringen.
Herzlichen Dank.
({4})
Als nächstem Redner erteile ich dem Abgeordneten
Peter Weiß, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Im Jahr 2002 hat der Deutsche Bundestag mit dem Gesetz zur Ghettorente einen wichtigen Beitrag geleistet,
indem den Menschen, die von der Nazidiktatur in Ghettos zusammengepfercht wurden und die dort selbstverständlich um ihren Lebensunterhalt gekämpft und dafür
gearbeitet haben, erstmalig ein eigener Rentenanspruch
zuerkannt wurde. Es war 2002 eine wirklich großartige
Leistung des deutschen Parlaments, dies endlich zu beschließen.
({0})
Mit dieser Entscheidung von 2002 haben wir dafür gesorgt, dass denen, denen die Nazis durch die Verbringung in Ghettos ihre menschliche Würde rauben wollten
und geraubt haben, mit dem eigenen Rentenanspruch für
ihre in den Ghettos geleistete Arbeit ein Stück ihrer
Würde zurückgegeben wurde. Bei der Ghettorente geht
es in Wahrheit nicht nur um eine finanzielle Leistung; es
geht zuallererst um die Achtung der Würde des Menschen und um die Achtung der Würde der Arbeit. Das
war das Entscheidende bei dem Ghettorentengesetz.
({1})
Nun war es leider so, dass viele Männer und Frauen,
die nach der Intention des Gesetzgebers einen Anspruch
auf Ghettorente hatten, erfahren mussten, dass aufgrund
hoher bürokratischer Hürden und einer ziemlich problematischen Auslegung durch die Rentenversicherung ihre
Anträge abgelehnt wurden. Als nun das Bundessozialgericht hinsichtlich der Anwendung des Gesetzes neues
Recht gesprochen hatte, konnte man eine solche Ghettorente aber nur vier Jahre rückwirkend beantragen.
Mit der heutigen Gesetzesnovelle sorgen wir für Klarheit. Jeder und jede, der oder die unter den schrecklichen
Zuständen in einem Ghetto leben und arbeiten musste,
kann rückwirkend ab dem Jahr 1997 Rente beantragen.
Damit sorgen wir dafür, dass alle, die Anspruch auf eine
Ghettorente haben, gleichbehandelt werden. Das, was
Peter Weiß ({2})
2002 die eigentliche Absicht des Gesetzgebers war, wird
im Zuge dieser Novellierung deutlich und klar ins Gesetz geschrieben. Damit sorgen wir hoffentlich ein Stück
weit für mehr Gerechtigkeit bei der Ghettorente.
({3})
Wie die Frau Staatssekretärin schon dargestellt hat,
kann jeder für sich berechnen lassen, ob er die bisherige,
vier Jahre rückwirkend gewährte Rente beziehen will
oder ob er sie neu berechnen lassen will und sich ab dem
Jahr 1997 ausbezahlen lassen will. Wir sorgen also für
Wahlfreiheit. Jeder Betroffene kann selbst für sich entscheiden.
Zum Zweiten unterliegt derjenige, der es bislang vielleicht versäumt hat, einen Antrag zu stellen, dann, wenn
er erstmalig einen Antrag stellt, keiner Verfallsfrist.
Auch das ist wichtig.
Zum Dritten kann auch die Witwe oder der Witwer eines mittlerweile verstorbenen Ehepartners, der diese
Ghettorente hätte beantragen können und Anspruch auf
sie gehabt hätte, nachträglich für sich diese Witwenrente
beantragen. Es ist, wie ich glaube, wichtig, dass wir denen, die als Hinterbliebene von Anspruchsberechtigten
heute hochbetagt unter uns leben, die Möglichkeit eröffnen, die ihnen und ihrem Ehepartner zustehende Rente
in Form der Witwenrente zu beziehen.
({4})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, zu Recht ist
darauf hingewiesen worden - die Opposition will ja
überall ein Haar in der Suppe finden -, dass wir in Bezug
auf Polen eine Sondersituation haben, weil es ein
deutsch-polnisches Sozialversicherungsabkommen gibt.
({5})
Darin ist geregelt - was ja auch nicht dumm, sondern eigentlich gescheit ist -, dass Rentenansprüche, die ein
polnischer Staatsbürger gegenüber der Deutschen Rentenversicherung hat, durch die polnische Sozialversicherung eingelöst werden. Wenn wir hier im Deutschen
Bundestag ein Gesetz beschließen, hat das aufgrund dieses Sozialversicherungsabkommens nicht unmittelbar
Auswirkungen für jemanden in Polen. Aber natürlich
wünschen wir uns, dass jemand, der in Polen lebt, in
Polen, wenn auch nach polnischem Recht, eine eigene
Rente für im Ghetto geleistete Arbeit bekommt. Dass er
diese vorgesehene Ghettorente bekommt, die wir ihm
zugestehen, ist unser Wille.
Insofern begrüße ich es, Frau Bundesministerin
Nahles, dass die Bundesregierung bereits, bevor wir
heute dieses Gesetz beschließen, also sozusagen schon
in vorauseilendem Gehorsam, mit der polnischen Regierung Gespräche aufgenommen hat, wie wir unter den
Bedingungen des deutsch-polnischen Sozialversicherungsabkommens dafür sorgen können, dass möglichst
auch in Polen lebende ehemalige Ghettoarbeiterinnen
und -arbeiter ihre Rentenansprüche einlösen können.
Dafür ein herzliches Dankeschön an die Bundesregierung.
({6})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, für uns
heute Lebende ist ja überhaupt nicht vorstellbar, was es
bedeutete, zusammengepfercht und vom normalen Leben ausgeschlossen in einem Ghetto unter der Nazidiktatur zu leben und zu arbeiten. Eine Betroffene aus Ungarn
hat mir in meiner Eigenschaft als Präsident des
Maximilian-Kolbe-Werks - nicht in meiner Eigenschaft
als Abgeordneter - einen Brief geschrieben, nachdem sie
zu einem von deutscher Seite mitfinanzierten Erholungsaufenthalt eingeladen worden war. Sie schreibt Folgendes:
Die Frage „warum“ stellt sich ein jeder, der
Auschwitz überlebt hat. Warum wurde gerade ich
begünstigt oder bestraft? Dass dort, wo vollkommene Familien spurlos verschwunden waren, wo
aus zehn Personen im Durchschnitt nicht mehr als
zwei zurückgekehrt waren, ich am Leben geblieben
bin, warum?
Ich brauchte nach Kriegsende 45 Jahre, um in 1990
nach Deutschland zu reisen, und 59 Jahre, um den
Mut zu fassen, nach Auschwitz - freiwillig aus eigenem Wunsch - in 2003 zurückzufahren. 1990
wollte ich meinen Augen nicht glauben. Ich habe
ein ganz anderes Deutschland gefunden …
Nach so vielen Jahren - das kann ich im Namen
meiner ehemaligen Lagergeschwister und Lagerbrüder auch sagen - hassen wir schon niemanden.
Wir sind zumeist weit über 80 Jahre alt, unsere Täter leben schon nicht. Wen sollen wir denn jetzt hassen? Das Leben hat uns auch überzeugt, dass Hass
nur weiter Hass und Angst als Erfolg hat.
Ich finde es menschlich bewegend und großartig, dass
diejenigen, denen so unendliches Leid geschehen ist,
heute - hochbetagt - zu einer solchen Haltung, zu einer
solchen Aussage fähig sind.
({7})
Deshalb freue ich mich, wenn wir heute - hoffentlich
einstimmig - die Änderung des Ghettorentengesetzes
beschließen und solch großartigen Menschen, die
Schreckliches und Schlimmes in ihrem Leben erfahren
haben, durch die Ghettorente ein Stück ihrer Würde zurückgeben können.
Vielen Dank.
({8})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Bündnis 90/
Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
hat jetzt zwölf Jahre gedauert, bis der Deutsche Bundestag es schafft, den damals einstimmigen Beschluss rechtlich so klarzustellen, dass dem Willen, den der Deutsche
Bundestag vor zwölf Jahren geäußert hat, tatsächlich
auch Geltung verschafft wird. Die Phase dazwischen war
durchaus beschämend. Das ist beschrieben worden. Der
Wille wurde in der Verwaltung nicht umgesetzt. Deshalb
hat es bis zum Sozialgerichtsurteil von 2009 gedauert,
bis rechtliche Klarstellung erfolgt ist. Dann wurden halt
nur rückwirkend ab 2005 die Renten gezahlt, im Gegensatz zu dem Willen des Gesetzgebers, dass das ab 1997
passieren sollte.
Es ist gut, dass wir so einmütig sind. Aber für diese
beschämende Phase können wir uns bei den Betroffenen
- auch wenn es nicht unser Wunsch war - eigentlich nur
entschuldigen. Von ihnen sind in der Zwischenzeit ja
auch schon viele gestorben; das muss man an der Stelle
ja auch noch einmal sagen. Das ist mehr als bitter. Das
ist eine bewegende Geschichte.
Ich will noch einmal kurz beschreiben, was in den
letzten vier Jahren passiert ist, denn es war für mich und,
wie ich glaube, auch für alle Beteiligten ein ganz besonderer Prozess - nicht nur wegen des Themas, sondern
weil wir da einen Parlamentarismus gelebt haben, der in
meinen Augen vorbildlich ist. Wir haben nämlich gemeinsam darum gerungen, wie wir eine Lösung hinkriegen, damit die Menschen ab 1997 ihre Renten bekommen.
Ich möchte mich an der Stelle auch noch einmal bei
allen seinerzeit beteiligten Berichterstattern bedanken:
bei Karl Schiewerling, bei Peter Weiß, bei Volker Beck
aus meiner Fraktion, bei Ulla Jelpke und Matthias
Birkwald von den Linken, aber auch bei Heinrich Kolb
von der FDP und last, not least bei Toni Schaaf von der
SPD, der wesentlich mit dazu beigetragen hat, dass wir
das Thema auf die Tagesordnung gesetzt haben, und dabei immer eine treibende Kraft war.
({0})
Es war eine schwierige Geschichte; denn es ist rentenrechtlich so, dass man dann, wenn man später Rente
bezieht, einen Zuschlag bekommt. Die Menschen, die ab
2005 ihre Rente bekommen haben, haben eine höhere
Rente bekommen als dann, wenn sie sie schon ab 1997
bekommen hätten.
Bis es dazu kam, dass heute der Gesetzentwurf auf
dem Tisch liegt, gab es vielfältige Überlegungen. Es
wurde die Möglichkeit erörtert, dass die Menschen eine
Nachzahlung bekommen, dafür aber für die Zukunft eine
geringere Rente erhalten. Da haben wir gefragt: Kann
man das den Menschen wirklich zumuten, dass man
sagt, ihr kriegt eine geringere Rente? Dann haben wir
über steuerfinanzierte Entschädigungslösungen nachgedacht. Das ist alles sehr kompliziert, aber alles durchaus
machbar.
Es gab einen Moment, in dem der Prozess fast gestoppt worden wäre, weil gesagt worden ist: Durch die
Rentenaufschläge wird doch ausgeglichen, dass die
Menschen erst später Rente bekommen haben. Wir
konnten aber nachweisen, dass dem nicht so ist. Es ist
vielmehr so, dass Verluste in der Größenordnung eines
vierstelligen Euro-Betrages entstehen. Das sind keine
Beträge, mit denen man die Schuld wieder begleichen
kann, aber sie sind mehr als symbolisch und für die Betroffenen teilweise durchaus viel Geld. Es ist gut, dass
wir das hinbekommen haben, dass die Menschen dieses
Geld nun auch ausgezahlt bekommen können.
Wir hatten dann eine Anhörung, in der gesagt worden
ist, beide Wege - Entschädigungen und Rentennachzahlungen - sind prinzipiell möglich; beide sind schwierig.
Es gab aber eine klare Äußerung von den Betroffenen
und von den Betroffenenverbänden; sie haben gesagt:
Wir wollen eine rentenrechtliche Lösung, wir wollen
keine Entschädigung. Wir wollen kein Almosen, sondern wir haben gearbeitet und möchten dafür unsere
wohlverdiente Rente haben.
Wir waren eigentlich vor einem Jahr fast schon so
weit, wie wir heute sind. Leider ist es uns nicht schon
vor einem Jahr gelungen, das Gesetz zu verabschieden.
Es gab Widerstände. Ich weiß nach wie vor nicht, von
wem und mit welchen Gründen. Ich kann es nicht wirklich nachvollziehen. An der Stelle muss ich es einfach
sagen: Ich finde, die Leute, die dafür verantwortlich
sind, dass wir das Gesetz nicht schon vor einem Jahr verabschiedet haben, sollten sich etwas schämen.
({1})
Denn in der Zwischenzeit sind wieder mehr Menschen
gestorben. Im politischen Prozess ist ein Jahr wenig, für
Menschen, die 85 Jahre alt sind, die 90 Jahre alt sind, ist
ein Jahr sehr viel. Umso besser ist es - dafür möchte ich
der Bundesregierung und allen Beteiligten danken -,
dass diese Widerstände überwunden worden sind, wir
den Gesetzentwurf sehr zügig beraten haben und dass
wir dieses Gesetz heute einstimmig verabschieden können.
Ich möchte mit einem Zitat aus der Anhörung enden.
Uri Chanoch, einer der Überlebenden, hat gesagt:
Was wir und eigentlich alle Überlebenden wollen,
es ist nicht viel, wirklich nicht viel. Die Ghettoinsassen waren, die sollen die Rente ab 1997 bekommen, und das ist einfach. … Es ist wirklich nicht
viel. … macht das mit dem Termin 1997 und fertig.
Und damit ist dann Schluss, mehr wollen wir nicht
von euch. Wir bitten nur darum, dass das erledigt
wird.
Das schaffen wir heute - viel zu spät, aber wir schaffen es und senden damit, wie ich finde, ein gutes Signal
an die Betroffenen.
Vielen Dank.
({2})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Kerstin Griese, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Gestern haben wir im Ausschuss für Arbeit und Soziales
der Änderung des Ghettorentengesetzes einstimmig zugestimmt. Alle Fraktionen sind sich einig, dass die Änderungen, die wir heute in zweiter und dritter Lesung beschließen, für die Betroffenen endlich etwas mehr
Gerechtigkeit bedeuten. Ich bedanke mich schon zu Beginn meiner Rede ganz herzlich für diese Einmütigkeit
im Deutschen Bundestag.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht - das wurde
schon gesagt - um Menschen, die in der NS-Zeit unter
schlimmsten Bedingungen und zu Hungerlöhnen in von
den Nazis errichteten Ghettos gearbeitet haben. Ihre Arbeitskraft wurde ausgenutzt, ihr Leben sollte keine Zukunft haben. Dennoch wurden für sie Rentenbeiträge abgeführt. Die Betroffenen selbst haben jahrzehntelang
gefordert, dass sie für diese Zeit eine Rente und nicht
etwa eine Entschädigung bekommen, weil sie das, was
sie dort unter Zwangsbedingungen, eingesperrt im
Ghetto, erlitten haben, dennoch als Arbeit empfunden
haben.
Bis Ende 2013 sind insgesamt rund 57 000 Ghettorenten bewilligt worden. 21 500 dieser Renten wurden wegen der Anwendung der Regelung, nur vier Jahre rückwirkend zu zahlen, und knapp 17 000 von ihnen wegen
versäumter Antragsfrist erst später ausgezahlt. Etwa
zwei Drittel aller Renten werden jetzt durch dieses Gesetz rückwirkend ab 1997 ausgezahlt. Etwa zwei Drittel
der Antragsteller werden jetzt eine entsprechende Unterstützung bekommen.
Als der Bundestag das Ghettorentengesetz 2002 beschlossen hat, war für uns nicht abzusehen, dass es dazu
führen wird, dass in den ersten Jahren etwa 90 Prozent
der Anträge, also der allergrößte Teil, abgelehnt werden.
Erst durch eine Entscheidung des Bundessozialgerichts
2009 hat sich das verändert. Etwa die Hälfte aller bislang
abgelehnten Anträge wurde dann rückwirkend bewilligt.
Aber das Problem war, dass sie nur vier Jahre rückwirkend bewilligt wurden; das liegt an unserem Sozialrecht.
Dies wurde von den Betroffenen als Unrecht empfunden, weil andere diese Rente ja ab 1997 bekamen. Es
ging um Ansprüche, die die Menschen verdient haben.
Auch durch die Möglichkeit, stattdessen Zuschläge zu
bekommen, wurde man dem Gerechtigkeitsbedürfnis der
Opfer nicht gerecht. Sie wollten ihr gutes Recht. Sie
wollten die Ghettorenten ab 1997, wie sie ihnen auch
laut Gesetz zustehen.
Es ging und geht den Opfern um die Anerkennung ihrer geleisteten Arbeit. Mit den drei Änderungen, um die
es heute geht, erzielen wir tatsächlich Fortschritte: Wir
geben erstens die zurückwirkende Vierjahresfrist auf.
Wir schaffen zweitens die Optionsmöglichkeit einer
rückwirkenden Zahlung ab 1997 oder einer Zahlung mit
Zuschlägen ab 2005. Drittens - auch das ist interessant streichen wir die Antragsfrist, die bisher im Jahre 2003
endete. Noch heute stellen Menschen Anträge. Noch
heute erfahren Menschen, dass sie aufgrund ihrer Arbeit
in Ghettos in der damaligen Zeit eine Rente bekommen
können. Deshalb ist es gut, dass wir die Antragsfrist
streichen.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in den Beratungen,
die wir sehr intensiv geführt haben, sind von den Grünen
und den Linken zwei Anliegen vorgetragen worden; sie
sind auch hier gerade vorgestellt worden. Ich will dazu
gerne etwas sagen.
Die Fraktion Die Linke hat die Überlebenden, die
heute in Polen leben, ins Gespräch gebracht. Viele Menschen waren ja aufgrund der deutschen Besatzung
Polens im Zweiten Weltkrieg dort in Ghettos. Für diese
Personengruppe gilt das Ghettorentengesetz nicht, weil
es ein Sozialabkommen zwischen Deutschland und
Polen aus dem Jahr 1975 gibt, in dem vereinbart ist, dass
alle Menschen, die in Polen leben, vom dortigen Sozialversicherungsträger auch für in Deutschland geleistete
Arbeit - das Gleiche gilt auch umgekehrt - eine Rente
bekommen. Deshalb kann dieses Abkommen nicht einseitig von uns verändert oder aufgekündigt werden. Ich
bin sehr froh, dass die Bundesregierung bereits Gespräche führt - diese Gespräche wird sie auch weiterhin
führen -, um dieses Problem im Sinne der polnischen
Ghettobeschäftigten einvernehmlich so zu lösen, dass sie
den anderen Personen gleichgestellt werden.
Mit dem Entschließungsantrag der Fraktion Die
Linke, der uns gerade eben erst vorgelegt wurde, wird
also eigentlich das gefordert, was wir schon tun, nämlich
Gespräche in diese Richtung zu führen. Wir unterstützen
die Bundesregierung bei ihren Gesprächen und wünschen ihr viel Erfolg im Sinne der Betroffenen. Wir machen das aber auf dem diplomatischen Weg und nicht
über diesen Antrag.
Die Fraktion der Grünen hatte vorgeschlagen, dass es
den Hinterbliebenen - dem Witwer bzw. der Witwe von Ghettorentenberechtigten möglich sein soll, auch
nach dem Tod der bzw. des Berechtigten einen Antrag
auf Ghettorente zu stellen. Diese Forderung habe ich aus
den Reihen der Betroffenen zwar noch nicht gehört; aber
selbst wenn jemand sagt, dass die betroffene Person zeitlebens keinen Antrag auf Ghettorente gestellt hat, weil
die Sorge vor einer Ablehnung so groß war oder weil
man keine schlimmen Erinnerungen wecken wollte,
kann man, da die Rente durch eine individuelle Willenserklärung beantragt werden muss, nach deren Tod keine
Rente für diese Person beantragen. Man kann aber sehr
wohl eine Hinterbliebenenrente beantragen. Auch das
passiert heute noch, und es ist wichtig, dass das weitergeht. Wir haben die Forderung allerdings sehr ernsthaft
geprüft und sind zu dem heute vorliegenden Gesetzentwurf gekommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Präsident des
Zentralrates der deutschen Juden, Dieter Graumann, hat
vor ein paar Wochen in der Jüdischen Allgemeinen geschrieben - ich zitiere -:
Das Leid, das diese mittlerweile hochbetagten
Menschen erfahren haben, lässt sich mit nachträglich gezahlter Rente gewiss nicht wiedergutmachen.
Er betonte, dass die früheren Ghettoarbeiter bisher mit
bürokratischen Vorschriften abgekanzelt worden seien.
Jetzt würden sie aber endlich ernst genommen und würdig behandelt. Herr Graumann bezeichnet diese Rentenregelung als eine „Geste der Menschlichkeit“.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist beschämend,
dass wir diesen Beschluss erst so spät, 69 Jahre nach
Ende des Zweiten Weltkrieges, 69 Jahre nach Ende der
nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, fassen, aber es
ist gut, dass wir es heute tun, und es ist vielleicht ein besonderes Zeichen, dass wir diese überfällige „Geste der
Menschlichkeit“ einstimmig zeigen werden. Herzlichen
Dank dafür an die Bundesregierung und an alle Fraktionen im Deutschen Bundestag.
({2})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Strebl
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Wir beraten heute in zweiter und dritter
Lesung die Änderung des Gesetzes zur Zahlbarmachung
von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto. Dieses Gesetz betrifft einige Zehntausend Menschen und ist
in mehrfacher Hinsicht von hoher Symbolkraft. Es ist
ein deutlicher Hinweis auf die schwärzesten Jahre deutscher Geschichte und der in deutschem Namen begangenen Verbrechen. Die heutige Debatte zeigt zugleich aber
auch, dass wir uns als Deutscher Bundestag unserer Verantwortung stellen - wenn auch mit großer Verspätung.
Rund 70 Jahre sind nunmehr vergangen - das entspricht zwei Generationen -, seitdem das nationalsozialistische System zusammengebrochen ist. Zur menschenverachtenden Politik der damaligen Zeit gehörte
es, Menschen in Ghettos zu sperren, weil sie anders waren, als die Führung es sich vorstellte. Nicht nur in den
Konzentrationslagern, sondern auch in diesen Ghettos
kämpften die Menschen - vornehmlich jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger - um ihr Leben.
Historiker befassen sich damit, und die Geschehnisse
von damals sind heute zumeist Gegenstand von Gedenkveranstaltungen. Es zeigt sich, dass sie zwar untrennbar
zu unserer Geschichte gehören, aber keineswegs Vergangenheit sind - bewältigte Vergangenheit schon gar nicht.
Wir können damit erlittenes Unrecht nicht wiedergutmachen. Mit dem Gesetz zur Ghettorente wollen wir einen Beitrag dazu leisten, die Folgen dieses Unrechts wenigstens teilweise zu mildern.
Lassen Sie mich in wenigen Worten den Weg nachzeichnen, der zu der heutigen Beschlussfassung geführt
hat:
1997 hatte eine ehemalige Näherin aus dem Ghetto
Lodz auf Zahlung ihrer deutschen Rente geklagt und
auch gewonnen. Daraus entstand 2002 das Gesetz zur
sogenannten Ghettorente. Alle ehemaligen Ghettoinsassen, die in einem Ghetto gearbeitet hatten, konnten nun
Rentenanträge stellen.
Rund 70 000 Betroffene machten davon Gebrauch,
doch fast alle Anträge wurden leider abgelehnt. Die Begründung damals lautete: Die Arbeit im Ghetto war nicht
freiwillig, sondern Zwangsarbeit, und Zwangsarbeit war
aus den Mitteln der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ zu entschädigen. Viele Sozialrechtler
gaben dem damaligen Zeitgeist entsprechend den Rententrägern recht.
Es stellte sich allerdings schon bald, wie der Historiker Jürgen Zarusky vom Münchner Institut für Zeitgeschichte formulierte, die Frage nach dem Unterschied
zwischen einem KZ-Häftling, der einem Kommando unterstellt ist, der durchgezählt wird, der eingeordnet wird,
und einem Ghettoinsassen, der sich selbst bemühen
muss, eine Arbeit zu bekommen. Man konnte sich nicht
vorstellen, dass Arbeit in einem Ghetto freiwillig und
ohne Zwang geleistet werden konnte. 2009 hat es dann
eine Änderung in der Beurteilung gegeben, und im Juni
2009 hat das Bundessozialgericht dementsprechend entschieden.
Unter den gegebenen Umständen reicht es seitdem
zur Bestätigung der Freiwilligkeit aus, wenn der Antragsteller zwischen Arbeit und Hungertod entscheiden
musste. Alle abgelehnten Bescheide werden seither neu
bearbeitet. Exakt 23 818 von 26 186 überprüften und abgelehnten Rentenanträgen wurden nunmehr bewilligt.
Allerdings gab es weiterhin ein als Unrecht empfundenes Problem: Die Renten wurden nicht rückwirkend
ab dem Jahr 1997, sondern wegen der im allgemeinen
Sozialrecht geltenden Rückwirkung von maximal vier
Jahren erst ab Januar 2005 gezahlt. Zum Ausgleich für
diesen späteren Rentenbeginn erhielten die Betroffenen
Rentenzuschläge in Höhe von 6 Prozent pro Jahr. Wegen
des verschobenen Rentenbeginns ergaben sich also Zuschläge bei nachträglich bewilligten Ghettorenten von
rund 45 Prozent.
Trotz dieser begrüßenswerten finanziellen Regelungen wurde der spätere Rentenbeginn von den Rentenberechtigten, ungeachtet der hohen Rentenzuschläge, als
ungerecht empfunden. Das heute zur Verabschiedung
stehende Gesetz ermöglicht es, dass künftig auch die
nachträglich nur für vier Jahre rückwirkend bewilligten
Renten auf Antrag bereits ab Juli 1997 ausgezahlt werden können - in diesem Fall jedoch ohne die entsprechenden Rentenzuschläge.
Um weitere Ungerechtigkeiten zu vermeiden, können
auch diejenigen, die aus unterschiedlichen Gründen eiMatthäus Strebl
nen Antrag auf Ghettorente nicht innerhalb der bisher
geltenden Antragsfrist 30. Juni 2003 gestellt haben, ihre
Rente rückwirkend ab 1997 erhalten, vorausgesetzt, die
Anspruchsvoraussetzungen sind erfüllt. Uns allen in diesem Hohen Hause ist bewusst, dass die Berechtigten
überwiegend hochbetagt sind. Wir stellen daher sicher,
dass sie selbst unmittelbar nach Erhalt ihres Rentenbescheides über ihre Rentennachzahlung verfügen können.
Im Vertrag der Großen Koalition haben CDU/CSU
und SPD festgelegt - ich zitiere -:
Wir sind uns der historischen Verantwortung für die
Überlebenden des Holocaust, die in der NS-Zeit unsägliches Leid erlebt haben, bewusst.
Wir wollen daher, dass den berechtigten Interessen
der Holocaustüberlebenden mit einer angemessenen Entschädigung für die in einem Ghetto geleistete Arbeit
Rechnung getragen wird.
Diese Koalition ist nicht einmal ein halbes Jahr im
Amt. Sie erfüllt mit dem vorliegenden Gesetz zwar auch
eine finanzielle Verpflichtung, mehr noch aber ein moralisches Gebot. Alle Fraktionen dieses Hohen Hauses tragen dieses Gesetz mit. Ich bin mir sicher, dass wir dieses
Gesetz heute geschlossen verabschieden werden.
Recht herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Ersten Gesetzes
zur Änderung des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto. Der Ausschuss
für Arbeit und Soziales empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/1649, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen
18/1308 und 18/1577 anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Stimmt jemand dagegen? - Das ist nicht der Fall. Enthält
sich ein Mitglied des Hauses? - Auch das ist nicht der
Fall. Der Gesetzentwurf ist damit mit den Stimmen aller
Mitglieder des Hauses angenommen.
({0})
Wir sind noch immer bei Tagesordnungspunkt 10 a
und kommen nun zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache
18/1661. - Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 10 b. Wir setzen die Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses
für Arbeit und Soziales auf Drucksache 18/1649 fort.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/636 mit dem Titel
„Renten für Leistungsberechtigte des Ghetto-Rentengesetzes ab dem Jahr 1997 nachträglich auszahlen“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Agnieszka Brugger, Dr. Franziska Brantner, Tom
Koenigs, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Mehr Anerkennung für Peacekeeper in internationalen Friedenseinsätzen
Drucksache 18/1460
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({1})
Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Agnieszka Brugger für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
würde gerne mit der Geschichte von Stephan Fantham
beginnen. Er ist Neuseeländer und hat sich im Rahmen
der UN-Friedensmission UNMIS in Juba für mehr Frieden und Sicherheit engagiert. Er ist verwundet worden,
als der UNMIS-Wagen über eine Landmine gefahren ist,
und hat dabei einen Fuß verloren. Nur ein paar Monate
später war er wieder dort. Ich finde, dieses Engagement
ist sehr beeindruckend.
({0})
Er ist einer von derzeit über 240 000 Menschen weltweit, die sich in den Krisenregionen dieser Welt für die
Menschen dort, für bessere Lebensbedingungen und mehr
Sicherheit engagieren. Sie tun das als zivile Experten, Soldaten oder Polizisten im Rahmen von Missionen der Vereinten Nationen, der Europäischen Union, der OSZE, von
NGOs oder Durchführungsorganisationen der Entwicklungszusammenarbeit. Sie nehmen so wichtige Aufga3410
ben wahr wie Wahlbeobachtung, Menschenrechtsschutz
und Entwicklung, oder sie tragen zur Entstehung eines
gerechten Justizsystems bei oder unterstützen eine Regierung darin, Good Governance zu leisten.
Viele von uns haben von diesem Pult aus schon gesagt, dass sich die Konflikte und Krisen dieser Welt - eigentlich ist das eine Binsenweisheit - nicht mit militärischen Mitteln lösen lassen. Es ist ein langer und steiniger
Weg, bis es zu Frieden und Sicherheit kommt. Die Menschen, die sich dafür engagieren, tun das unter hohem
persönlichem Einsatz, getrennt von ihren Familien und
oft unter der Gefahr, verwundet oder sogar getötet zu
werden. Diese Menschen verdienen unseren Dank und
unsere Anerkennung.
({1})
Es ist nicht damit getan, dass Gewalt endet oder dass
es einen Waffenstillstand gibt. Echter Friede ist letztlich
mehr als nur die Abwesenheit von Gewalt. Die frühzeitige Prävention von Krisen und Gewaltausbrüchen ist sicherheitspolitisch effizienter und ökonomischer. Sie ist
in der Regel erfolgreicher und häufig politisch konsensfähiger als der Einsatz militärischer Mittel. Aktuell gibt
es eine große Debatte über die Zukunft der deutschen
Außen- und Sicherheitspolitik. Ich habe mich an einigem in den Reden von Bundespräsident Gauck, Verteidigungsministerin von der Leyen und Bundesaußenminister Steinmeier gestört. Aber ganz besonders verwundert
war ich darüber, dass in diesen Reden die Vereinten Nationen kaum vorgekommen sind, dass man sie sozusagen
mit der Lupe suchen musste und dass gerade auf die zivilen und diplomatischen Mittel kaum eingegangen
wurde.
Laut einer aktuellen Umfrage der Körber-Stiftung darüber, was die deutsche Bevölkerung über die deutsche
Außen- und Sicherheitspolitik denkt, ist die Unterstützung für zivile Mittel und außenpolitisches Engagement
groß. Auch die Zustimmungswerte betreffend humanitäre und friedenserhaltende Einsätze sind - das hat mich
überrascht - hoch. Wenn man sich aber einige Zahlen in
diesem Zusammenhang anschaut, dann sieht man:
Deutschland ist zwar der viertgrößte Geldgeber für VNFriedensmissionen; aber bei der Personalbereitstellung
belegen wir Rang 48. Von 6 155 deutschen Einsatzkräften sind derzeit genau 333 in VN-Friedensmissionen aktiv. 5 700 Soldaten und Soldatinnen sind im Auslandseinsatz. Die Zahl der zivilen Experten und der Polizisten
beträgt 147 bzw. 188. Ich finde, da geht mehr.
({2})
Wenn wir uns alle so einig sind, dass Konflikte vor allem zivil gelöst werden müssen, dann müssen wir uns
schon die Frage stellen: Haben wir in ausreichendem
Maße Instrumente, finanzielle Mittel, Strukturen und
Aufmerksamkeit dafür zur Verfügung? Es gibt gute Ansätze. Ich nenne in diesem Zusammenhang das Zentrum
für Internationale Friedenseinsätze. Wir haben unter
Rot-Grün einiges auf den Weg gebracht. Wir schlagen in
unserem Antrag, der heute zur Debatte steht, noch einiges vor, was dazu dient, gerade die Vereinten Nationen,
die Europäische Union und die OSZE und ihre krisenpräventiven Instrumente zu stärken. Dazu braucht es
aber auch mehr politischen Willen.
Wir müssen uns noch eine zweite Frage stellen: Widmen wir den Menschen und ihrem Engagement in den
entsprechenden Missionen genügend Aufmerksamkeit?
Ist in Bezug auf deren Betreuung und Fürsorge, aber
auch in Bezug auf Dank und Anerkennung alles in Ordnung? Wir haben als grüne Bundestagsfraktion im letzten Jahr ein Fachgespräch für zivile und militärische
Rückkehrerinnen und Rückkehrer organisiert. Das waren
sehr unterschiedliche Gruppen mit sehr unterschiedlichen Ansichten. Aber eines war ihnen allen gemeinsam:
Sie alle hatten das Gefühl, sich in einem wichtigen Einsatz engagiert zu haben. Aber nicht alle hatten, als sie
zurückgekehrt waren, das Gefühl, dass Interesse an ihren
Erfahrungen und Erlebnissen bestand, dass die Lessons
Learned im politischen Raum angekommen sind. Vielleicht haben Sie, meine Damen und Herren, auch Gespräche mit Polizeibeamten geführt, die in Afghanistan
eingesetzt waren. Diese erzählen, dass sie, nachdem sie
einen so wertvollen Beitrag für die Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte geleistet haben, von ihren
Kollegen nach der Rückkehr gefragt wurden: Einen
schönen Urlaub in Afghanistan gehabt? - Wie oft lesen
wir in den Medien von Menschen, die sich in solchen
Friedensmissionen engagieren?
Meine Damen und Herren, nächste Woche, am
11. Juni, begehen wir zum zweiten Mal den Tag des
Peacekeepers in Deutschland. Das ist ein bisschen der
Aufhänger unseres heutigen Antrags. Es ist ein guter
Anfang, dass es einen solchen Tag gibt und dass wir ihn
zum zweiten Mal feiern. Aber er sollte für uns auch Ansporn sein, mehr zu tun; denn wir können noch einiges
machen. Es geht um eine bessere Versorgung und Betreuung der zivilen Einsatzkräfte, aber auch darum, für
diese Mittel mehr Öffentlichkeit zu schaffen sowie an
Schulen und Universitäten von dem Engagement dieser
Menschen zu berichten. Die Menschen, die solche Aufgaben übernehmen, dürfen ihr Engagement nicht als
Karrierehemmnis erleben. Vielmehr muss das etwas
Positives in ihrer politischen Laufbahn sein. Auf all das
zielen unsere Vorschläge ab, die wir heute mit unserem
Antrag vorlegen.
Meine lieben Kollegen und Kolleginnen, ich kann mir
nicht vorstellen, dass man wirklich etwas dagegen haben
kann. Ich möchte Sie gerne dazu einladen, dass wir uns
gemeinsam an einen Tisch setzen und wir uns hier vielleicht überlegen, was wir verbessern wollen und können,
und dass Sie bei unserer Initiative mitmachen. Ich
glaube, es wäre ein schönes Zeichen, wenn wir nächstes
Jahr ein drittes Mal den Tag des Peacekeepers feiern.
Auf diesem Weg sollten wir ein gutes Stück vorankommen. Ich finde, dass die Menschen, die diese wertvollen
Aufgaben erfüllen und dieses gefährliche Engagement
auf sich nehmen, das auch verdient haben.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Thorsten Frei für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst einmal möchte ich der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
gerne dafür danken, dass sie mit ihrem Antrag die Frage,
wie wir mehr Wertschätzung für Peacekeeper in internationalen Friedensmissionen erreichen können, zum
Thema gemacht und damit in die Debatte eingebracht
hat.
Ich glaube, wir alle haben vor dem Hintergrund der
öffentlichen Anhörung unseres Unterausschusses für Zivile Krisenprävention zwei wesentliche Punkte im Kopf,
wenn wir an das Thema denken: zum einen, dass in den
vergangenen zehn, zwölf Jahren unheimlich viel passiert
ist, und zum anderen, dass es natürlich noch viele Aufgaben gibt und die Wegstrecke in die Zukunft lang ist. Insofern haben Sie durchaus einige Punkte angesprochen,
die aus meiner Sicht vollkommen richtig sind.
Es ist vieles passiert. Wir haben es in den letzten zehn
Jahren geschafft, die Infrastruktur zu implementieren
und letztlich auch zu professionalisieren. Sie haben beispielsweise das Zentrum für Internationale Friedenseinsätze angesprochen. Auch die Bundesakademie für
Sicherheitspolitik ist hier zu nennen oder der Zivile Friedensdienst. Außerdem wurde die wissenschaftliche Begleitforschung in diesem Zusammenhang angesprochen.
Es ist schon sehr viel passiert. Die Tatsache, dass viel
Geld fließt, dass Deutschland 7,14 Prozent des Haushalts der Vereinten Nationen finanziert, dass wir gemeinsam mit den USA und Japan 40 Prozent der Friedensmissionen finanzieren, zeigt vor allem zwei Dinge:
Erstens. Deutschland ist multilateral unterwegs: im Rahmen von Missionen der Vereinten Nationen, im Rahmen
von Missionen der OSZE und im Rahmen von EU-Missionen. Zweitens. Wir lassen uns diese Einsätze viel
Geld kosten. Auch damit ist eine Botschaft ausgedrückt.
Es ist natürlich noch einiges zu tun. Wir sind uns darüber einig, dass es darum geht, ein Leitbild für die zivile Krisenprävention zu entwickeln, ressortübergreifend
die Koordinierung der Akteure zu verbessern und im Bereich der Krisenfrüherkennung besser zu werden. Wir
müssen auch besser werden, wenn es darum geht, von
Early Warning zu Early Action zu kommen, und vieles
andere mehr. Wir brauchen mehr öffentliche Anerkennung für diejenigen, die in Peacekeeping-Einsätzen sind.
Es sind immerhin 49 solcher Einsätze, an denen wir
Deutsche beteiligt sind.
Es ist also vieles zu tun. Trotzdem muss ich Ihnen sagen, dass der Antrag Ihrer Fraktion letztlich in vielen
Fällen alter Wein in neuen Schläuchen ist; denn wir haben vieles von dem, was Sie fordern, bereits umgesetzt.
Wer einen Blick in die Koalitionsvereinbarung wirft, der
sieht, dass wir diesen Weg ganz konsequent weitergehen. Wir haben den festen Willen, das im Laufe dieser
Legislaturperiode umzusetzen. Ich denke beispielsweise
daran, dass wir in der Tat mehr Polizeikräfte in zivilen
Friedensmissionen benötigen. Dabei geht es darum, dass
wir im Rahmen einer Bund-Länder-Vereinbarung zu guten Lösungen kommen. Wenn Sie mithelfen, dass wir
mit der grün-roten und den rot-grünen Landesregierungen am Ende zu einem guten Ergebnis kommen, dann
haben wir, glaube ich, alle etwas beigetragen.
Frau Brugger, Sie haben es angesprochen: Sowohl der
Bundespräsident als auch die Verteidigungsministerin und
der Bundesaußenminister haben in München Anfang des
Jahres bemerkenswerte Reden gehalten. Ich habe offensichtlich noch etwas mehr gehört als Sie: Ganz zentral
war, dass die Frage, wie sich Deutschland aufgrund seiner Größe und wirtschaftlichen Kraft in der Welt engagieren soll - früher, effizienter und auch substanzieller -,
eindeutig so beantwortet wurde, dass das Engagement
nicht nur militärische Mittel beinhaltet, sondern darüber
hinaus natürlich auch diplomatische, wirtschaftliche und
krisenpräventive Mittel. Das hat im Übrigen bereits seinen Niederschlag in den „Afrikapolitischen Leitlinien
der Bundesregierung“ gefunden. Dort wird ganz eindeutig gesagt, dass wir den kompletten Instrumentenkasten
ausbreiten möchten und dass die zivilen Mittel dabei geradezu von zentraler Bedeutung sind.
Ich glaube, es geht auch darum, mehr öffentliche
Wertschätzung zu erhalten. Das erreichen wir dadurch,
dass wir dieses Thema in den Mittelpunkt rücken. Auch
weniger schöne Dinge wie beispielsweise die Vorkommnisse in der Ukraine bzw. der Einsatz der OSZE-Beobachter dort haben in das Blickfeld der Öffentlichkeit
gerückt, dass da viele in einer schwierigen Mission sind,
häufig unter Einsatz ihres Lebens, und dass sie dafür die
notwendige Wertschätzung benötigen.
({0})
Ich glaube, dass da sehr viel passiert ist und dass wir diesen Weg konsequent weitergehen müssen.
Das beinhaltet beispielsweise den „Tag des Peacekeepers“, der am 11. Juni 2014 das zweite Mal veranstaltet wird. Dabei werden alle beteiligten Bundesminister
in einer öffentlichen und würdevollen Zeremonie den
Soldatinnen und Soldaten, den Polizistinnen und Polizisten, aber auch den zivilen Einsatzkräften für ihren wichtigen und wertvollen Einsatz danken und diesen Einsatz
würdigen.
Denken Sie beispielsweise daran, dass die Bundesverteidigungsministerin vor wenigen Tagen ihre Pläne vorgestellt hat, wie wir es schaffen können, die Bundeswehr
attraktiver zu machen und den Dienst in der Bundeswehr
besser mit der Familie zu vereinbaren.
({1})
Ich verweise auf viele andere Dinge darüber hinaus, an
denen man schon sehen kann, dass wir einiges erreichen.
Lassen Sie mich noch einen letzten Gedanken ansprechen. Ich war vor wenigen Tagen beim Zentrum für In3412
ternationale Friedenseinsätze. Ich weiß, dass wir dort
noch bessere Ergebnisse erzielen könnten, wenn dessen
Mannschaft größer wäre und wenn wir aus dem Bundeshaushalt noch mehr Geld als 2,3 Millionen Euro zur Verfügung stellen würden. Wir werden mit dem nächsten
Haushalt etwa fünf zusätzliche Stellen für das ZIF schaffen und damit ganz markant deutlich machen, wie wichtig und wertvoll uns diese Arbeit ist.
({2})
In diesem Sinne sind wir, glaube ich, auf einem sehr guten Weg.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat die Kollegin Kathrin Vogler für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Grünen wollen mit ihrem Antrag, über den wir heute
reden, mehr Anerkennung für Peacekeeper in internationalen Friedenseinsätzen. Einerseits möchte auch ich dafür Danke sagen, dass sie dieses wichtige Thema auf die
Tagesordnung gesetzt haben; aber andererseits müssen
wir natürlich genau aufpassen, worüber hier gesprochen
wird, wenn von Friedenseinsätzen die Rede ist.
Mir ist wichtig, dass wir klar unterscheiden zwischen
Maßnahmen, die wirklich dem Frieden dienen, und solchen, die nur als Friedenseinsätze etikettiert werden. Darin, alle möglichen Militäreinsätze, die allen möglichen
Interessen und Zwecken dienen, als Friedenseinsätze zu
maskieren,
({0})
sind sich leider alle anderen Fraktionen hier im Haus
sehr oft einig, und da haben wir nun einmal einen grundsätzlichen Widerspruch.
({1})
Aber Ihr Anliegen hat einen sinnvollen Kern. Sicher
sind in diesem Antrag einige Punkte, auf die wir uns positiv beziehen werden, etwa wenn es darum gehen wird,
die Arbeit der zivilen Fachkräfte anzuerkennen, die - ich
zitiere - „unter schwierigen Bedingungen in den Konfliktregionen lokale und regionale Akteure bei der
Schaffung von Frieden und Sicherheit unterstützen“.
Da bin ich ganz bei Ihnen, gerade als jemand, der aus
der Friedensbewegung kommt. Ich frage mich aber, ob
wir den Peacekeepern in internationalen Friedenseinsätzen wirklich einen Gefallen tun, wenn wir sie mit den
Militärs, die in bewaffneten Einsätzen Dienst tun, immer
in einen Topf werfen. Es ist wirklich nicht wahr, dass der
Einsatz von Bundeswehrsoldaten im Ausland zu wenig
wahrgenommen wird, wie der Antrag ebenfalls suggeriert. Leider wird verallgemeinernd immer wieder von
Einsatzkräften gesprochen; aber das wird der unterschiedlichen Situation ziviler und militärischer Einsatzkräfte, die Sie, Frau Brugger, selber angesprochen haben, überhaupt nicht gerecht.
({2})
Ich muss leider sagen, dass sich dieser Antrag für
mich in ein Medien- und Öffentlichkeitskonzept einreiht, mit dem die große Mehrheit der Politik die große
Mehrheit der Bevölkerung in diesem Land schlicht hinter die Fichte führen will. Nur 13 Prozent der Bevölkerung stehen nämlich nach einer aktuellen Umfrage den
Auslandseinsätzen der Bundeswehr positiv gegenüber.
Viele Menschen wissen, dass nicht überall Frieden drin
ist, wo „Frieden“ draufsteht.
Ein besonders krasses Beispiel der Verschleierungstaktik habe ich einmal mitgebracht. Sie sehen hier vom
Zentrum für Internationale Friedenseinsätze, ZIF, das
schon mehrfach angesprochen worden ist, eine Karte mit
der Überschrift „Friedenseinsätze“. Hier werden 60 verschiedene Missionen dargestellt, in denen im Augenblick Deutsche im Einsatz sind. Welche Mission ist die
größte? Das ist der Bundeswehrkampfeinsatz in Afghanistan, und das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist nun
wirklich kein Friedenseinsatz.
({3})
Die Linke meint, dass man die zivilen Fachkräfte in
Friedenseinsätzen würdigen sollte, indem man ihren eigenständigen Beitrag betont. Genau das leistet der Antrag der Grünen aber leider nicht. Zivil und militärisch,
das geht bei Ihnen immer munter durcheinander.
({4})
Ich würde einen Vorschlag machen wollen: Warum
nehmen wir nicht den von den Vereinten Nationen zum
Internationalen Tag des Friedens erklärten 21. September zum Anlass, um das eigenständige zivile Engagement wertzuschätzen?
({5})
Wir wollen diejenigen ehren, die sich mit gewaltfreien
Mitteln um Frieden und Versöhnung, um die Beendigung von Gewalt und die Vorbeugung kümmern.
Schon seit einigen Jahren begehen viele Organisationen, die mit ziviler Konfliktbearbeitung zu tun haben,
diesen Tag in Bonn mit einem großen Programm. Eine
ganze Woche lang gibt es Diskussionsveranstaltungen,
Vorträge, aber auch sportliche und kulturelle Events. Ich
könnte mir sehr gut vorstellen, dass eine offizielle Veranstaltung von Parlament und Regierung die Wertschätzung für diese Arbeit gut zum Ausdruck bringen könnte.
Warum sprechen wir nicht darüber, genau diese Wertschätzung getrennt von der Wertschätzung der militärischen Einsatzkräfte zu organisieren, um damit auch die
Menschen einzubeziehen, die zum Beispiel im Rahmen
des zivilen Friedensdienstes in Auslandseinsätzen sind?
Das wäre, glaube ich, ein wirklich schönes Zeichen der
Wertschätzung. Daran würden wir uns auch gern beteiligen.
({6})
Für die SPD-Fraktion spricht nun die Kollegin
Dr. Ute Finckh-Krämer.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer oben auf den
Tribünen! Als langjährig friedenspolitisch Engagierte
begrüße ich das Grundanliegen des Antrags der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen ausdrücklich. Auch ich setze
mich seit langem dafür ein, die Arbeit von Friedensfachkräften und anderen im Bereich Peacekeeping und Friedensförderung engagierten Menschen öffentlich zu würdigen und das deutsche Engagement in diesem Bereich
zu verstärken. Daher werde ich, liebe Kolleginnen und
Kollegen von den Grünen, gerne im Unterausschuss für
Zivile Krisenprävention, Konfliktbearbeitung und vernetztes Handeln über Ihre Vorschläge diskutieren.
({0})
Im Vorgriff auf diese Diskussion möchte ich einige
Worte zum Inhalt Ihres Antrags sagen. Er enthält viele
berechtigte Forderungen. Einige hoffen wir zeitnah umsetzen zu können - wie die schon erwähnte Erhöhung
der Mittel für das ZIF, aber auch für den Zivilen Friedensdienst.
({1})
Allerdings hätte ein roter Faden Ihrem Anliegen nicht
geschadet. Einen wichtigen Aspekt haben Sie leider
komplett ausgelassen: die Forderung nach einer umfassenden Evaluation. Eine Bilanzierung deutscher Interventionen, sowohl militärischer als auch ziviler, steht
nämlich immer noch aus.
({2})
Ich erinnere an den Abschlussbericht des Unterausschusses für Zivile Krisenprävention aus der letzten Legislaturperiode, in dem eine systematische Auswertung der
Aktivitäten im Bereich der zivilen Krisenprävention und
Konfliktbearbeitung empfohlen wird.
Kollegin Finckh-Krämer, gestatten Sie eine Bemerkung oder Zwischenfrage der Kollegin Brugger?
Ja, gern.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. Vielen Dank, liebe
Frau Kollegin Finckh-Krämer. - Ich stimme Ihnen absolut zu. Wir als Grüne haben schon in der letzten Legislaturperiode, auch gemeinsam mit Ihrer Fraktion, gefordert, dass wir die Einsätze besser evaluieren - das gilt
insbesondere für den Afghanistan-Einsatz - und dass wir
daraus Lehren ziehen sollten. Wir haben diese Forderung
auch in der neuen Legislaturperiode schon mehrfach erhoben.
Habe ich Ihre Ausführungen richtig verstanden, dass
die Bundesregierung jetzt doch vorhat, den AfghanistanEinsatz wirklich in einem angemessenen Maß zu evaluieren und nicht nur im Rahmen kleinerer Anhörungen,
die schon stattgefunden haben?
({0})
Ich kann nicht für die Bundesregierung sprechen.
Aber ich kann sagen, dass ich das im Unterausschuss für
Zivile Krisenprävention gerne einbringe. Ich hoffe, dass
das auch von unserem Koalitionspartner unterstützt
wird.
({0})
Erst eine solche ehrliche Bestandsaufnahme ermöglicht es uns, die Frage zu beantworten, wie Deutschland
effektiver zum Frieden in der Welt beitragen kann als
bisher. Insbesondere müsste also eine außenpolitisch integrierte Strategie für Friedensförderung und Konflikttransformation entwickelt werden. Der Antrag, den wir
heute hier debattieren, leistet hierzu leider keinen substanziellen Beitrag.
Dass die Frauen und Männer, die sich aktuell in Friedensmissionen engagieren, Anerkennung verdienen, ist
in diesem Haus wohl unstrittig. Allerdings sollten wir
auch das ernst nehmen, was der Geschäftsführer des Forums Ziviler Friedensdienst, einer der Durchführungsorganisationen des Zivilen Friedensdienstes, letztes Jahr
zum Tag des Peacekeepers formuliert hat. Ich zitiere:
Bitter erscheint zudem, dass hier mit großem Aufwand der Fokus auf einen kleinen Teilaspekt des internationalen Friedensengagements gelegt wird.
Peacekeeping, zu deutsch Friedenserhaltung, meint
nur jene Einsätze, die der Eskalation von Gewalt
unmittelbar entgegenwirken. Mit vor allem militärischem Peacekeeping kann also im besten Fall unmittelbare Gewalt verhindert werden. Frieden wird
damit nicht erreicht.
Ein wichtiger Teil … internationalen Friedensengagements gerät dabei aus dem Blickfeld: die Programme
ziviler Konfliktbearbeitung und langfristiger Friedensförderung, die Ursachen von Konflikten angehen und verhindern, dass Konflikte zu Krieg und
Gewalt eskalieren.
So weit das Zitat.
In Ihrem Antrag fordern Sie zwar, liebe Kolleginnen
und Kollegen von den Grünen, „in geeigneter Form auch
die Arbeit und die Leistungen der anderen Frauen und
Männer anzuerkennen, die im Rahmen der Durchführungsorganisationen der Entwicklungszusammenarbeit,
von NGOs und Hilfsorganisationen in Krisenregionen
arbeiten“. Aber auch damit werden diejenigen, die krisenpräventiv arbeiten, nicht erfasst.
Die Würdigung ist das eine, liebe Kolleginnen und
Kollegen, eine umfassende friedenspolitische Strategie,
die es diesen Frauen und Männern auch ermöglicht, mit
ihrem Engagement den bestmöglichen Beitrag zu leisten, ist das andere. Dies möchte ich an einem Beispiel
aus Ihrem Forderungskatalog kurz verdeutlichen.
Sie fordern, die Voraussetzungen für die Entsendung
von mehr Polizisten in Missionen der Vereinten Nationen und der Europäischen Union zu verbessern. Zu diesen Missionen gab es in der letzten Legislaturperiode
eine Anhörung im Unterausschuss für Zivile Krisenprävention, bei der auch Experten zu Wort kamen, die in
diesen Missionen eingesetzt waren. Es wurde sehr deutlich, wie beschränkt ihre Möglichkeiten waren, weil eine
Einbindung in eine Gesamtstrategie fehlte. Deswegen ist
es aus meiner Sicht wichtig, zu diesem Thema unter Federführung des Innenausschusses eine weitere Anhörung
durchzuführen, und zwar möglichst noch in diesem Jahr.
Lassen Sie uns also gemeinsam und partnerschaftlich
die Herausforderung angehen, eine friedenspolitische
Strategie zu entwickeln, nicht nur, um den zivilen Fachkräften, die in Friedenseinsätzen aller Art aktiv sind, zu
der Anerkennung zu verhelfen, die sie verdienen, sondern auch, um ihr Engagement möglichst wirksam werden zu lassen.
Die Fraktion der Grünen und alle anderen Fraktionen
des Hauses sind herzlich eingeladen, ihre Forderungen
in den Unterausschuss für Zivile Krisenprävention, Konfliktbearbeitung und vernetztes Handeln einzubringen,
damit wir - hoffentlich fraktionsübergreifend - in diesem Politikbereich ein Stück weiterkommen.
Danke schön.
({1})
Das Wort hat der Kollege Dr. Hans-Peter Uhl für die
CDU/CSU Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen
und Kollegen! Die Präambel des Grundgesetzes erteilt
uns bereits den Auftrag, für den Frieden in der Welt zu
sorgen. Ich glaube, ein stabiles und wirtschaftlich prosperierendes Deutschland hat auch die Verantwortung, für
den Frieden in der Welt einzutreten.
Als die Präambel geschrieben wurde, konnte man sich
die vernetzte und globalisierte Welt von heute noch nicht
vorstellen, eine Welt mit einem Europa ohne Grenzen.
Wie soll da der soziale Friede in Deutschland gewährleistet werden, wie wollen wir angesichts dieser neuen
Welt unsere Sicherheit erhalten?
Wir sind abhängiger geworden von scheinbar weit
entfernten Regionen. Deswegen erwächst daraus die
Verantwortung, uns um diese Regionen zu kümmern.
Wir müssen dafür sorgen, dass in weit entfernten Regionen mit unserer Hilfe rechtsstaatliche Strukturen und
funktionierende Sicherheitsbehörden eingerichtet werden.
Ich gebe Ihnen ein Beispiel - sehr aktuell -: Nigeria.
In Nigeria leben bereits heute 170 Millionen Menschen.
Es sind mehr als doppelt so viele Menschen wie in
Deutschland. Das Durchschnittsalter in Nigeria beträgt
19 Jahre. Es wird erwartet, dass sich die Bevölkerung bis
zum Jahr 2050 - nicht so weit weg - verdreifacht. Wie
sieht es in diesem Land mit dieser großen Bevölkerungszahl aus? Zwei Drittel leben schon jetzt in Armut. Was
islamistische Kräfte, wie zum Beispiel Boko Haram mit
der Massenentführung von 230 Schulmädchen, anrichten können, wissen wir alle.
Das heißt, das Konfliktpotenzial in solchen Regionen
mit einem solch ungeheuren Bevölkerungswachstum
wächst von Tag zu Tag. Diese wachsende junge Generation, die in Armut und Gewalt aufwächst, will auch ein
friedliches Leben in Wohlstand und mit Perspektive erreichen und für sich einklagen. Das heißt, auch sie wollen glücklich werden und suchen deshalb ihr Glück in
anderen Ländern. Wer sollte ihnen das übel nehmen? Sie
suchen ihr Glück bei uns. Ich glaube, auch wir würden
dies so tun, wenn wir in deren Lage wären. Das heißt,
massenhafte Migrationswellen in Richtung Europa sind
unumgänglich. In diesem Jahr rechnen wir mit circa
200 000 neuen Asylbewerbern. Das ist nur ein Zwischenergebnis.
Wir sollten also alles tun, um Hilfe zur Selbsthilfe in
solchen Regionen und Ländern zu organisieren. Wir
müssen das Konfliktmanagement in diesen Ländern stärken. Wir müssen Sicherheitskräfte ausbilden, sie beraten
und sie ausrüsten. Wir müssen für rechtsstaatliche
Grundsätze sorgen. Wir müssen unser Rechtssystem, soweit es dort passt, zu übertragen versuchen. Wir haben
hiermit einen Markenartikel auf der ganzen Welt. Unser
Rechtsstaat, den wir uns nach vielen Irrungen und Wirrungen in unserer Geschichte geschaffen haben, der in
den letzten Jahrzehnten erprobt und eingeübt wurde, ist
ein Markenartikel auf der ganzen Welt, mit dem wir uns
sehen lassen können. Wir sind auch willkommen.
Mehr Polizei, mehr zivile Sicherheitskräfte und nicht
mehr Soldaten ist die Losung des Tages. Das entspricht
auch dem Geist des Afrika-Papiers, das in dieser Woche
im Auswärtigen Ausschuss präsentiert wurde, in dem
vor allem von zivilen Sicherheitskräften die Rede ist.
Meine Damen und Herren von der Opposition, wir sollten nicht künstlich einen Konflikt herbeireden, der nicht
da ist. Wir sind uns darin einig, dass die zivilen Sicherheitskräfte wichtiger sind als militärische Einsätze.
Ich glaube auch, dass wir diesbezüglich eine Grundsatzdebatte in diesem Hause brauchen, und zwar aus
mehreren Gründen: Wir haben den Vorsatz, mehr zu tun,
aber es fehlt in der Tat noch am Vollzug. Wir sollten angesichts der komplizierten Struktur unserer polizeilichen
Kräfte in einem föderalen Deutschland mit 16 Ländern
und dem Bund endlich dafür sorgen, dass eine Struktur
entsteht, bei der wir in großer Zahl Polizeikräfte zur
Ausbildung in das Ausland schicken können. Dies sollte
hier diskutiert werden. Es sollte nicht der einzelne Einsatz legitimiert werden, sondern es sollte im Bundestag
eine Grundsatzdebatte über die Frage geführt werden, in
welcher Art und Weise und unter welchen Bedingungen
wir ins Ausland gehen. Das ist mein Vorschlag.
Ich glaube, es gibt genügend Menschen, die dazu bereit sind, ins Ausland zu gehen. Dies ist angesichts unserer Polizeistrukturen keine Frage von Planstellen und
Kosten. Wir haben bei den Ländern und beim Bund genügend pensionierte Polizeibeamte von 60 Jahren, die
gern bereit sind, ihre Expertise freiwillig in verschiedenen Teilen der Welt einzubringen. Man muss nicht unsere Polizeistrukturen sozusagen entvölkern, um im
Ausland tätig zu sein. Das alles ist möglich.
Wir sollten unseren Koalitionsvertrag, in dem wir
dies alles formuliert haben, aber auch die „Afrikapolitischen Leitlinien der Bundesregierung“ ernst nehmen,
umsetzen und zur Tat schreiten - daran fehlt es -, indem
wir ganz konkrete Beispiele umsetzen, die wir bisher so
noch nicht haben. Ich möchte mich bei all denen bedanken, die sich dieser Aufgabe stellen und ihren Beitrag
dazu leisten. Ich möchte insbesondere die Opposition
bitten, nicht etwas künstlich zu zerreden, das von uns allen bereits als gemeinsames Engagement anerkannt worden ist und das nur noch hier oder da der Umsetzung bedarf.
Wir alle wollen letztlich dasselbe: Wir wollen den
Frieden in der Welt erhalten. Wir danken den Menschen,
die für andere Menschen da sind. Wir wollen alles tun,
damit wir möglichst wenigen Menschen Grund geben,
ihr Leben bei uns leben zu müssen, weil ihres in der Region, in der sie leben, unerträglich geworden ist, zum
Beispiel in Nigeria. Wir wollen, dass ein Land mit einer
hohen Bevölkerungszahl wie Nigeria selbstständig für
Sicherheit, Ordnung, Frieden und Wohlstand sorgen
kann.
({0})
Der Kollege Dr. Karl-Heinz Brunner hat nun für die
SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Vor zwei
Wochen stand ich mit einigen Kolleginnen und Kollegen
auf dem Maidan, dem Platz der Unabhängigkeit in Kiew.
Es war gutes Wetter, die Familien gingen spazieren, Kinder tobten herum. Es herrschte eine fast ausgelassene
Stimmung vor all den Barrikaden, ausgemusterten Panzern und Bildern von zahllosen Toten, dort, wo manch
einer eine Träne verdrückte und Blumen niederlegte.
Das Wochenende und die Präsidentenwahl standen
vor der Tür. Wir hatten aus der Presse erfahren, dass alle
politischen Kräfte in diesem Land Einfluss haben können, wovon wir bisher gar keine Ahnung hatten. Doch
eines hätte ich nie für möglich gehalten: Die Augen der
Menschen strahlten vor Zuversicht, die die Krise fast
vergessen ließ. Bei jedem Gespräch, das ich als Mitglied
der deutschen NATO-PV-Delegation, als Deutscher, als
EU-Bürger geführt habe, war diese aufrichtige Zuversicht und Offenheit sichtbar. Mir wurde klar: Die Menschen - ob in der Ukraine oder anderswo auf der Welt wollen nach Umbrüchen, nach teilweise verheerender
Politik endlich Ruhe, und sie wollen eine Perspektive.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, was heißt
das für uns? Die Menschen erwarten von uns keine
Wunder, sie erwarten kein überambitioniertes NATOEngagement, sie erwarten keine Mitgliedschaften, kein
Geld sofort, keine warmen Worte oder Anschuldigungen. Sie erwarten von uns eigentlich nichts anderes als
eine klare Linie, eine Position, mit der man arbeiten
kann. Ich bin davon überzeugt: Wir haben uns lange gedrückt, doch jetzt müssen wir über die Möglichkeiten
und Grenzen von Außenpolitik, Friedenspolitik und
nicht zuletzt über unsere Rolle, die Rolle Deutschlands,
diskutieren.
In dieser Debatte reicht es nicht, sich in unbekümmertem Vertrauen zu wiegen. Ich finde - und ich zitiere frei
unseren Außenminister Frank-Walter Steinmeier -, unsere Kultur der Zurückhaltung darf nicht zu einer Kultur
des Heraushaltens und schon gar nicht zu Gleichgültigkeit werden. Wir sind keine Insel - wir sind das in keiner
Hinsicht -, und ich sage: Gott sei Dank sind wir eingebettet in der Mitte Europas.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, was können wir tun, um unsere
Nachbarschaft zu stabilisieren? Im Osten? In Afrika?
Tun wir alles, um unseren Beitrag zum Frieden zu leisten? Was müssen wir tun gegen den Terrorismus? Denn
er ist da, und er wird in seiner Brutalität nichts einbüßen,
wenn wir uns einigeln. Interessieren wir uns überhaupt
für manche Gegenden dieser Welt? Engagieren wir uns
humanitär und militärisch ausreichend dort, wo unsere
Stärken liegen, nämlich in der Konfliktprävention, in der
Mittlerrolle, als Scharnier zwischen Mächten, als Scharnier, das Krieg vermeidet? Diese Fragen sind vielschichtig, und wir haben keine eindeutigen Antworten. Entgegen jeder Verschwörungstheorie führt das aber nicht
zwangsläufig zu mehr Militär.
Die Debatte darüber - angestoßen von unserem Außenminister Frank-Walter Steinmeier, von unserem Bundespräsidenten und von unserer Bundesverteidigungsministerin - kann Klarheit schaffen, und ich bin fest davon
überzeugt: Sie muss auch Klarheit schaffen. Insofern
verdient der Antrag der Grünen zu den Peacekeepern
wenige Tage vor dem 11. Juni, an dem der „Tag des
Peacekeepers“ begangen wird, Anerkennung und Respekt. Er enthält gute Bausteine, er zeigt in die richtige
Richtung.
Was mir allerdings noch mehr am Herzen liegt - denn
es hängt damit innerlich zusammen; es leistet hervorragende Arbeit und denkt einen Schritt weiter -, ist das
Zentrum für Internationale Friedenseinsätze selbst. Das
ZIF vermittelt trotz eines viel zu unsicheren Budgets zivile Expertinnen und Experten in Missionen der OSZE,
der EU oder der Vereinten Nationen. Sie vermitteln ein
Bild von und Erwartungen an Deutschland, die ich auch
bei der Mission in der Ukraine erfahren habe: Verantwortung übernehmen, Friedenseinsätze mit Weitblick,
konkrete vertrauenswürdige Außen- und Sicherheitspolitik. Diesen Erwartungen müssen wir gerecht werden.
Das lohnt sich nicht nur für die Menschen, sondern auch
für uns und vor allen Dingen für die Wertschätzung der
Peacekeeper.
Vielen herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Michael Vietz für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ein asiatisches Sprichwort sagt: „Erkennen ist eine
große Leistung des Geistes, Anerkennen eine solche des
Herzens.“ In diesem Hause - wir haben es vielfach gehört - mangelt es nicht an Anerkennung für die Männer
und Frauen, die für unser Land direkt oder indirekt im
Bereich der Friedenssicherung weltweit im Einsatz sind.
Dies gilt weder für uns noch für unsere Bürgerinnen und
Bürger.
Peacekeeping steht für die Bewahrung des Friedens,
Peacekeeper sind Hüter des Friedens. Nächste Woche
- auch das haben wir schon mehrmals gehört - findet der
zweite deutsche „Tag des Peacekeepers“ statt - eine Veranstaltung, die eine junge Tradition begründet und die
vom Zentrum für Internationale Friedenseinsätze begleitet wird.
Gleich drei Minister werden an diesem Tag Soldaten,
Polizisten und zivile Experten für ihren Einsatz im Bereich der internationalen Friedenssicherung ehren, stellvertretend für Hunderte andere, die sich tagtäglich einbringen. Das ist ein deutliches Zeichen, dass deren
Arbeit geschätzt und gewürdigt wird. Insofern wird zumindest in einem Bereich der Forderung des vorliegenden Antrags schon entsprochen.
Zivile Experten jeder Couleur stehen direkt im Dienst
Deutschlands, deutscher NGOs oder internationaler Organisationen. Um es deutlich zu sagen: Ich danke all diesen Männern und Frauen, die sich hier einbringen, die
auch als unsere Vertreter den Frieden weltweit sichern
und ermöglichen - ob in Uniform oder in Zivil. Ein herzliches Danke an dieser Stelle!
({0})
Wir diskutieren hier im Plenum regelmäßig intensiv,
leidenschaftlich und kontrovers - und zu Recht - über
jeden Einsatz der Bundeswehr im Ausland, unabhängig
von der Art der Mission oder der Anzahl der eingesetzten Soldaten. Um Frieden zu sichern, braucht es jedoch
den vernetzten Ansatz, den unsere Kräfte auch in Krisengebieten verfolgen. Auf militärischer Seite steht es
bereits lange außer Frage, dass es vielseitige Spezialisten
und Experten braucht, um Ordnungsstrukturen wiederherzustellen. Gleiches gilt für zivile Einsatzkräfte. Hier
sind wir auf dem richtigen Weg.
Wolfgang Schäfer - der Name mag den meisten nicht
bekannt sein - wurde im letzten Jahr am „Tag des Peacekeepers“ für sein Engagement in Afghanistan ausgezeichnet. Auf die Frage seiner Heimatzeitung, ob er noch
einmal als Friedenshelfer nach Afghanistan gehen
würde, antwortete er, dass er offen dafür sei; Arbeit für
ihn als Polizeiausbilder gebe es noch auf Jahre hinaus.
Er betonte aber auch, dass seine Arbeit ohne den Schutz
der Bundeswehr nur schwer machbar gewesen sei.
Gerade dieses Beispiel zeigt, dass nicht nur wir wissen, was wir an unseren Peacekeepern haben, sondern
auch, dass sie wissen, was sie aneinander haben. Gleiches gilt für unsere Gesellschaft, für unsere Bürgerinnen
und Bürger. Niemand zweifelt an der Anerkennung und
dem Respekt, die beispielsweise den Helfern von THW
und GIZ entgegengebracht werden. Nur manchmal werden die Töne leiser.
Natürlich sollten wir generell mehr und lauter darüber
sprechen, auch und gerade weil die jüngsten außenpolitischen Debatten gern allein auf den militärischen Part reduziert werden. Das Ziel der Bundesregierung - wie
auch von Minister Steinmeier formuliert - ist, dass
Deutschland bereit sein muss, sich außen- und sicherheitspolitisch früher, entschiedener und substanzieller
einzubringen. Das umfasst im Wesentlichen und in erster
Linie auch die Bündelung unserer zivilen Kompetenzen,
die zugegebenermaßen auch militärisch flankiert sein
müssen, wenn es die Situation verlangt. National wie international mangelt es dabei nicht an Anerkennung für
die Experten der Friedenssicherung. Sie sind und bleiben
eine elementare Stütze unserer Außen- und Sicherheitspolitik. Dies belegt auch die Arbeit des Unterausschusses für Zivile Krisenprävention. Unser internationales
Engagement, unsere Verantwortung geht weit über das
Militärische hinaus. Unser Handwerkszeug umfasst eben
mehr als nur den Hammer und die Brechstange.
Dieses Selbstverständnis spiegelt sich auch in unserer
Gesellschaft wider. Laut einer Umfrage der Körber-Stiftung ist eine große Mehrheit unserer Bevölkerung durchaus bereit, international mehr Verantwortung zu übernehmen. Eine deutliche Mehrheit, mehr als zwei Drittel
der Befragten, ist der Meinung, Deutschland solle sich in
der humanitären Hilfe, bei Projekten zur Stärkung der
Zivilgesellschaft, bei der Ausbildung von Polizei- und
Sicherheitskräften oder der Hilfe beim Aufbau staatlicher Institutionen - klassische Elemente der Friedenssicherung - stärker engagieren. Das ist kein Zeichen mangelnder Anerkennung; es bleibt einfach das gute Gefühl,
dass wir hier gut aufgestellt sind.
Ich begrüße eine breitere Diskussion zu unserer Rolle
bei der Friedenssicherung auf dem internationalen Parkett und dementsprechend auch die Intention des Antrages. Der vorliegende Antrag mag insofern ein Denkanstoß sein. Er bietet einen bunten Strauß an Ideen,
Anregungen und möglichen Maßnahmen - vor allem
dazu, wo wir noch mehr Geld in die Hand nehmen sollten. Nur ist Geld allein kein Allheilmittel. Einige Ihrer
Vorschläge haben sich bereits erledigt oder werfen praktische Probleme auf. Lassen Sie uns einfach darüber diskutieren.
Lassen Sie mich auf mein einleitendes Zitat zurückkommen. Unser Geist ist in der Lage, zu erkennen, was
unsere Peacekeeper leisten, und unsere Anerkennung
kommt von Herzen. - Meine Redezeit ist zu Ende.
Vielen Dank.
({1})
Herzlichen Dank. - Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/1460 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz,
Bau und Reaktorsicherheit ({0}) zu
der Verordnung der Bundesregierung
Siebte Verordnung zur Änderung der Verpackungsverordnung
Drucksachen 18/1281, 18/1379 ({1}) Nr. 2.3,
18/1583
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Michael Thews für die SPD-Fraktion.
({2})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich denke, wir sind uns über alle Fraktionen hinweg
einig, dass der Missbrauch der Verpackungsverordnung,
wie er in den letzten Monaten verstärkt stattgefunden
hat, dringend mit dieser siebten Novelle gestoppt werden
muss. Einige möchten zwar gleich das ganze Duale System abschaffen, aber wir halten es für sinnvoll, das bestehende System - zumindest als Übergangslösung auf
dem Weg zu einem Wertstoffgesetz - zu stabilisieren.
Die Verpackungsverordnung regelt die Rücknahme
und Verwertung von Verpackungsabfällen, und zwar basierend auf dem Prinzip der Produktverantwortung. Das
Prinzip, dass Produzenten oder Vertreiber für die Sammlung und Verwertung ihrer Verpackungsprodukte verantwortlich sind und dass sie und nicht die Bürger für den
Abtransport der gelben Tonne zahlen, ist seit Anfang der
90er-Jahre in Deutschland etabliert. Insbesondere die
Produktverantwortung als Regelinstrument zur Erreichung der Ziele der Kreislaufwirtschaft - Abfallvermeidung und besseres Recycling - sollte ausgebaut werden.
Das Duale System hat seine Fehler und Schwächen
und bietet, wie wir jetzt sehen, auch Missbrauchsmöglichkeiten. Aber die Grundidee halte ich nach wie vor für
schützenswert und nicht für gescheitert.
({0})
Es wurde aber in letzter Zeit Missbrauch betrieben, und
zwar im Zusammenhang mit den sogenannten Eigenrücknahmen und den Branchenlösungen. Diese Instrumente wurden als Schlupflöcher genutzt, um Kosten zu
sparen und sich Wettbewerbsvorteile zu verschaffen.
Das hat im Ergebnis zu einer erheblichen Finanzlücke
und letztendlich zu einer Destabilisierung des Dualen
Systems geführt.
Die gemeldeten Mengen, die im Rahmen der Eigenrücknahme oder der Branchenlösungen gesammelt
worden sein sollen und damit im Ergebnis nicht der Lizenzpflicht unterlagen, stimmen nicht mit der Lebenswirklichkeit überein. Gemäß den gemeldeten Mengen
müsste ein Großteil der Verpackungen im Rahmen der
Eigenrücknahme vom Käufer in den Laden zurückgebracht bzw. gleich dagelassen worden sein. Wir alle wissen aus eigener Erfahrung, dass das nicht mit der Realität übereinstimmt. Diese sogenannte Eigenrücknahme
als Ausnahme von der Lizenzpflicht hat sich nicht bewährt. Sie führte verstärkt zum Missbrauch des Systems.
Deshalb wollen wir sie streichen. Das trifft bei fast allen
Beteiligten auf Zustimmung; diesbezüglich gibt es einen
breiten Konsens.
Zumindest einschränken wollen wir die Branchenlösung. Sie wurde mit der fünften Novelle der Verpackungsverordnung eingeführt. Es sollte für Branchen,
bei denen die Verpackungen an der Übergabestelle direkt
anfallen, die Möglichkeit geschaffen werden, diese selber ohne vorherige Lizensierung über das Duale System
zu entsorgen oder entsorgen zu lassen. Laut Gesetzesbegründung hatte man damals zum Beispiel an die Entsorgung und Verwertung von Verbrauchsverpackungen von
in Kfz-Werkstätten eingesetzten Kfz-Ersatzteilen gedacht oder eben an Behälter für Öl und Schmierstoffe in
Kfz-Werkstätten, Tankstellen oder im Einzelhandel. Das
sind durchaus sinnvolle Branchenlösungen. Oft sind es
herstellerbasierte Lösungen mit eigenen Sammelsystemen, die auch in Zukunft möglich sein werden.
Seit der fünften Novelle sind die Verpackungsmengen, die als Teil einer Branchenlösung gemeldet wurden,
allerdings massiv angestiegen. Von einigen Unterneh3418
men, unter anderem in der Lebensmittelindustrie, wurden so unrealistische Mengen gemeldet, dass der Missbrauch offensichtlich wurde. Manchmal war es sogar so,
dass die Anfallstelle, die als Teil einer Branchenlösung
angegeben wurde, selbst gar nichts davon wusste und
den Verpackungsmüll ganz normal über die gelbe Tonne
oder den gelben Sack im Dualen System entsorgt hat.
Zusammenfassend kann man festhalten: Das bisherige System der Branchenlösung funktioniert nicht; es ist
nicht transparent und auch nicht überprüfbar.
({1})
Die Regelung wird deshalb so geändert, dass die
Branchenlösungen, die wir damals mit der fünften Novelle zulassen wollten, weiter möglich sind, der Missbrauch aber so weit wie möglich beseitigt wird und das
System insgesamt transparenter und damit kontrollierbarer wird.
({2})
Das fordert sowohl von den Herstellern oder Vertreibern
als auch von den Anfallstellen mehr Dokumentationsaufwand. So wird zum Beispiel die Möglichkeit, den
Nachweis über die als Teil einer Branchenlösung gelieferten Produkte über allgemeine Marktgutachten zu führen - Gutachten, die man kaum überprüfen kann -, abgeschafft. Die Anfallstellen müssen die im Rahmen der
Branchenlösung gelieferten Verpackungsmengen dokumentieren, beispielsweise anhand von Lieferbelegen.
Das ist zumutbar, machbar und notwendig, um wieder
faire Bedingungen zwischen den Herstellern und dem
Dualen System herzustellen.
Ich bin der festen Überzeugung, dass die Idee der Produktverantwortung nicht gescheitert ist. Sie ist schon
deshalb nicht gescheitert, weil das Verpackungsrecycling effektiv zur Ressourcenschonung beigetragen hat
und damit auch zur Energieeinsparung und zur Reduzierung von Treibhausgasemissionen. Sie ist auch deshalb
nicht gescheitert, weil die gelben Tonnen und Säcke von
Bürgerinnen und Bürgern mit großem Engagement genutzt werden. Vor allem aber ist uns durch dieses System
ein wichtiger Paradigmenwechsel in Deutschland geglückt, der erstens zu der Verantwortung der Hersteller
und Vertreiber für die Entsorgung und Verwertung ihrer
Verpackungen und die daraus entstehenden Abfälle geführt hat, zweitens zu einer qualitativ hochwertigen
stofflichen Verwertung von Verpackungen und drittens
zum Aufbau einer leistungsstarken Recyclingindustrie
und einer vorbildlichen Recyclingtechnik.
({3})
Diese Voraussetzungen müssen wir jetzt nutzen, um
die Verpackungsverordnung zu einem Wertstoffgesetz
weiterzuentwickeln. Wie im Koalitionsvertrag vereinbart, wollen wir die rechtlichen Grundlagen zur Einführung einer gemeinsamen haushaltsnahen Wertstofferfassung nicht nur für Verpackungen, sondern auch für
andere Wertstoffe schaffen. In vielen Kommunen stehen
heute schon Wertstofftonnen, in denen nicht nur Verpackungen aus Plastik, Metall und Verbundstoffen gesammelt werden, sondern auch sogenannte stoffgleiche
Nichtverpackungen wie alte Gießkannen, Kochtöpfe
oder Plastikspielzeug. Diese Wertstofftonnen wollen wir
bundesweit auf der Grundlage eines Wertstoffgesetzes
einführen; denn für sinnvolles und effektives Recycling
müssen Abfälle nach Stoffen und nicht nach ihrem Verwendungszweck getrennt werden.
({4})
Die praktizierte Trennung wurde vom Bürger weder akzeptiert noch verstanden. Deswegen sprechen wir ja vom
intelligenten Fehlwurf.
In unserem Abfall gibt es noch jede Menge Potenzial.
Urban Mining, also das Heben von Wertstoffen aus dem
Abfall und das Zurückführen in den Wirtschaftskreislauf, muss unser Ziel sein. Wir können es uns nicht leisten, darauf zu verzichten. Diese Woche wurde Friedrich
Schmidt-Bleek, der ehemalige Vizepräsident des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie, einer der
Pioniere der Umweltbewegung, im Spiegel mit der Anmerkung zitiert, wenn die Politik den Klimawandel stoppen wolle, müsse sie an der Wurzel des Übels ansetzen,
am Verbrauch natürlicher Ressourcen.
Hierzu können wir heute mit unserer Entscheidung auf
dem eingeschlagenen Weg zu einem Wertstoffgesetz einen wichtigen Beitrag leisten.
({5})
Kollege Thews, das Protokoll des Deutschen Bundestages verzeichnet zwar schon eine Rede des Abgeordneten Thews, aber diese wurde zu Protokoll gegeben. Deshalb sind wir heute Zeuge Ihrer ersten tatsächlich
gehaltenen Rede im Bundestag geworden. Ich gratuliere
Ihnen recht herzlich. Im Namen des ganzen Hauses wünsche ich Ihnen alles Gute.
({0})
Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege Ralph
Lenkert das Wort.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geehrte Damen und
Herren! Die gelbe Tonne ist ein Dauerbrenner. Die Tinte
unter der Sechsten Verordnung zur Änderung der Verpackungsverordnung ist noch nicht trocken, da kommen
Sie bereits mit der siebten Änderung um die Ecke. Wann
begreifen Sie, dass jede weitere Änderung der Verpackungsverordnung, ob die sechste, siebte, achte oder
zwanzigste, sinnlos ist, solange Sie nicht das Übel selbst
anpacken? Denn die von Ihnen gehätschelten elf privaten Großfirmen kriegen die Verpackungsentsorgung im
Dualen System nicht in den Griff. Sie sind keine Opfer,
sie sind das Problem.
Wir alle kennen die Zahlen. 2,4 Millionen Tonnen
Verpackungsabfall fielen 2013 an, aber nur für 1 Million
Tonnen stellten die elf Firmen Rechnungen aus. Wie
kann das sein? Wenn eine Entsorgungsfirma ihrem potenziellen Kunden die Lizenzgebühr gemessen an der
vollen Menge an Verpackungen berechnet - mit den vollen Entsorgungskosten -, dann wechselt der Kunde zum
nächsten Systemanbieter, der kundenfreundlicher rechnet. Diesen Wettbewerb des kreativen Gestaltens der Lizenzgebühren ignorieren Sie von Union, SPD und Grünen. Lieber toben Sie sich auf Nebenschauplätzen aus.
Ein Beispiel: Dem Möbelanbieter, der bisher fast alle
Verpackungen selbst einsammelte, streichen Sie die Eigenrücknahme, weil einige Kunden die Verpackungen
manchmal in die gelbe Tonne warfen. Jetzt muss er nach
Ihren Vorstellungen eine der elf Firmen zur Verpackungsentsorgung über die gelbe Tonne bezahlen. Da
werden dann wohl seine Kundendienstmonteure zukünftig Folien, Schaumpolysterol und Luftpolster stets beim
Kunden lassen. Wenn dann plötzlich die gelben Tonnen
vor den Haustüren überquellen, weil die Mehrmengen
beim Abholen nicht eingeplant waren oder die dünnen
Sammelsäcke reißen, ist die nächste, die achte Änderung
der Verpackungsverordnung schon vorprogrammiert.
Ein zweites Beispiel: PU-Schaumdosen werden bisher über eine Branchenlösung gesammelt. 90 Prozent
werden erfasst. Daran waren die elf Firmen nicht beteiligt. 18 echte Branchenlösungen funktionieren - alle
ohne die glorreichen Elf. Ein paar Dutzend Branchenlösungen dagegen funktionieren nicht. Und wer organisiert
diese? - Die elf Firmen. Jetzt zerschlagen Sie alle Branchenlösungen zugunsten der elf Firmen. Erklären Sie es!
Mit einer Ausnahme: Wenn eine Branche eine vollständige Erfassung und Selbstabholung ihrer Verpackungen
nachweist, darf sie ihre Lösung weiterbetreiben.
100 Prozent Nachweis: Was für ein Bürokratiemonster!
Mit dessen Hilfe schanzen Sie den elf Firmen weiteres
Geschäft zu.
({0})
Übrigens: Die elf Firmen des Dualen Systems verbrauchen bei 1 Milliarde Euro Umsatz rund 60 Prozent,
also 600 Millionen Euro, für Verwaltung, Ausschreibungen und Gewinne. Nur 400 Millionen Euro werden ausgegeben für Sammlung und Verwertung der Verpackungen. Das bringt zwar wenig für die Umwelt, aber der
Rubel rollt.
Wir, die Linke, wollen eine Verpackungsverordnung,
die funktioniert. Führen wir Verpackungsabgaben für
Hersteller pro Kilogramm Verpackungsmaterial ein. Das
verhindert Betrug und fördert Verpackungsvermeidung im Handel und bei Produzenten. Beauftragen wir die
Kommunen mit der Erfassung der Verpackungen, bezahlt aus der Verpackungsabgabe. Geschätzte 60 Prozent
der Verwaltungskosten könnten entfallen.
Beerdigen wir das Duale System! Die siebte Änderung der Verpackungsverordnung ist der erneute Versuch, tote Pferde zu reiten. Schaffen wir dafür eine lebensfähige und ökologische Verpackungsverordnung,
und lassen Sie das Duale System in Frieden ruhen!
({1})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege
Dr. Thomas Gebhart das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Anfang der 90er-Jahre in Deutschland: Die
Rede war vom Müllnotstand. Das war die Situation.
Dann hat der damalige Umweltminister Klaus Töpfer etwas auf den Weg gebracht, was ein echtes Erfolgsmodell
wurde: die Verpackungsverordnung. Sie war wegweisend. Viele Länder haben dieses Konzept in der Zwischenzeit übernommen.
Die Idee basierte auf dem Prinzip der Produktverantwortung. Diejenigen, die Verpackungen in den Markt
bringen, sind also auch dafür verantwortlich, diese Verpackungen wieder zurückzunehmen und möglichst wiederzuverwerten.
({0})
Es ist eine marktwirtschaftliche Lösung. Die Entsorgungskosten werden Teil des Preises, und es entsteht ein
Anreiz, Verpackungen möglichst von Anfang an zu vermeiden.
({1})
Und die Wirkungen? Die Kosten für die Verbraucher
sind zurückgegangen. Wir haben in Deutschland hochmoderne Recyclingtechnologien entwickelt - es war
eine echte Innovation -, und Abfälle sind zu wichtigen
Rohstoffen geworden. 14 Prozent der Rohstoffe, die die
deutsche Wirtschaft heute einsetzt, stammen aus Abfällen.
In Zukunft, meine Damen und Herren, muss dies
noch mehr gelten: Es kommt immer mehr darauf an,
dass wir Kreisläufe dort schließen, wo dies ökologisch
und ökonomisch sinnvoll ist. In Zukunft wird das vor
dem Hintergrund, dass die Nachfrage nach Ressourcen
weltweit stark steigt, noch mehr notwendig sein. Und
diese Ressourcen sind begrenzt.
({2})
Wir wollen daher das Prinzip der Produktverantwortung stärken, den Wettbewerb erhalten und möglichst
stärken. Es wäre verrückt, wenn wir dieses gute Prinzip
der Produktverantwortung aufgeben würden.
Vor kurzem haben wir hier im Deutschen Bundestag
über die sechste Novelle der Verpackungsverordnung
debattiert und sie beschlossen. Damit haben wir europäische Vorgaben umgesetzt. Wir haben eine Liste von Beispielen dafür übernommen, was als Verpackung gilt und
was nicht als Verpackung gilt. Seit der sechsten Novelle
wissen wir daher, dass zum Beispiel die Kleiderbügel,
die als Teil des Kleidungsstücks verkauft werden, als
Verpackung gelten, aber die gleichen Kleiderbügel, die
separat verkauft werden, eben nicht als Verpackung gelten. Das klingt fast schon absurd.
({3})
Aber, meine Damen und Herren, es weist uns auf einen
zentralen Punkt hin: Wir müssen das Kreislaufwirtschaftssystem weiterentwickeln. Künftig sollten wir
Verpackungen und sonstige Abfälle aus den gleichen
Materialien in einer einheitlichen Wertstofftonne entsorgen. Wir müssen das jetzt angehen, und wir werden dies
in einem Wertstoffgesetz angehen. Die Verbraucher sind
übrigens schon weiter - das Stichwort wurde schon genannt -: intelligente Fehlwürfe.
({4})
Daher ist klar: Die siebte Novelle, die wir heute beschließen werden, ist ein Zwischenschritt. Aber es ist ein
notwendiger Zwischenschritt.
({5})
- Ja, selbstverständlich. ({6})
Warum ist dieser Zwischenschritt notwendig? Weil die
Verpackungsverordnung so, wie sie ausgestaltet ist,
Schwachstellen aufweist, die zu akuten Schwierigkeiten
führen. Diese müssen wir beheben. Konkret bedeutet
dies: Erstens. Die Möglichkeit der Eigenrücknahme wird
gestrichen. Was steckt dahinter? Die Eigenrücknahme
wird offenkundig teilweise als Schlupfloch genutzt, um
Lizenzgebühren zu sparen. Die Pflicht, sich am Dualen
System zu beteiligen, wurde verstärkt umgangen. Der
Wettbewerb ist an dieser Stelle verzerrt.
Zweitens. Die Anforderungen an die Nachweise bei
sogenannten Branchenlösungen werden erhöht. Bei der
Branchenlösung war uns als Union wichtig, dass es eben
nicht zu einer ausschließlichen Einengung auf direkte
Lieferbeziehungen kommt. Dafür haben wir uns starkgemacht. Dies sieht die Verordnung jetzt auch genau so
vor.
({7})
Meine Damen und Herren, wir leisten mit der siebten
Novelle einen wichtigen Beitrag, um das System zu stabilisieren. Der nächste Schritt steht mit dem Wertstoffgesetz vor der Tür. Dann wird es vor allem darum gehen,
anspruchsvolle Recyclingquoten durchzusetzen, für eine
bessere Organisation der Kreislaufwirtschaft insgesamt
zu sorgen und vieles mehr. Wir haben eine ganze Menge
Arbeit vor uns. Aber das ist auch eine gewaltige Chance;
denn wir können unser Land in einem wichtigen Zukunftsfeld weiter fit machen. Diese Chance sollten wir
nutzen. Gehen wir es an!
Herzlichen Dank.
({8})
Der Kollege Peter Meiwald hat für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben nur eine Erde. Ich glaube, in ähnlicher Form
haben wir das heute schon einmal von Bärbel Höhn gehört. Ich kann zwar nicht mit Enkelkindern aufwarten.
Trotz alledem glaube ich, das sollte uns auch weiterhin
bewegen. Wir sollten bei der Müllproblematik ähnlich
wie bei der Klimaproblematik darauf hinweisen: Wir haben Verantwortung. Die Rohstoffe, von denen wir leben,
sind begrenzt. Ihr Abbau ist oftmals mit großen Umweltbelastungen verbunden. Deshalb befassen wir uns als
Parlamentarier immer wieder mit dem Ressourcenschutz, mit dem sparsamen Umgang mit Ressourcen und
mit Recycling. Das ist auch richtig so.
„Änderung der Verpackungsverordnung“ klingt nicht
besonders ambitioniert in Richtung Ressourcenschutz.
Aber sie hat natürlich damit zu tun. Am 20. März dieses
Jahres haben wir uns zuletzt mit dem Thema Verpackungen befasst, und zwar anlässlich der sechsten Novelle;
das ist eben schon angesprochen worden. Schon da haben wir zum Ausdruck gebracht, dass für uns nur schwer
verständlich ist, warum man die damals schon vorliegenden Anträge, die nun in die siebte Novelle eingeflossen
sind, im Rahmen der sechsten Novelle nicht gleich mit
bearbeitet hat. Wir haben auch entsprechende Anträge
eingebracht; Nordrhein-Westfalen hatte dies schon länger thematisiert. Wir müssen nun damit leben, dass wir
in zwei Schritten vorgehen; deswegen stehen wir heute
wieder hier. Trotzdem - das ist verschiedentlich gesagt
worden - ist es inhaltlich richtig, am System zu arbeiten,
auch wenn das, was wir tun, in der Tat - Kollege Lenkert
hat darauf hingewiesen - nicht der große Wurf ist. Das
ist vollkommen klar, und ich glaube, das haben alle in
dieser Form mitgetragen.
Auch der Öffentlichkeit ist mittlerweile bekannt, dass
immer mehr Unternehmen die Lizenzgebühren umgehen; auch das haben wir eben schon gehört. Es stellt sich
die Frage: Was können wir kurzfristig tun, und was müssen wir langfristig tun? Im Moment umgehen einige
Marktteilnehmer die lästigen Lizenzgebühren. Dem
muss man zunächst einmal Einhalt gebieten. Aber das ist
nur eine Übergangslösung. Die Änderungen, die wir
jetzt vornehmen - die Streichung der Eigenrücknahme
und die deutliche Einschränkung von Branchenlösungen -, sind in dieser Form notwendig. Sie sind zwar
nicht schön und bringen uns nicht wirklich voran. Aber
wir werden diesen Änderungen zustimmen, weil wir das
System erst einmal so weit bringen müssen, dass wir
endlich ein Wertstoffgesetz bekommen können.
({0})
Es handelt sich in der Tat nur um eine Zwischenlösung. Dass die Verpackungsentsorgung grundlegend neu
organisiert werden muss, um auch andere Wertstoffe aus
dem Hausmüll zu holen und dem Recycling zuzuführen,
ist wohl klar; das ist offensichtlich. Verbrennen kann daPeter Meiwald
bei nicht mehr die Hauptlösung sein. Im Moment ist es
ja so, dass alles, was sich unterhalb der Quoten noch irgendwie nutzen lässt, direkt verwendet wird. Aber das
meiste landet in der Verbrennung. Das darf, wenn es zukünftig ein Wertstoffgesetz gibt, nicht mehr so sein. Daran müssen wir dringend etwas ändern.
({1})
Als wir uns im Umweltausschuss mit diesem Thema
befasst haben, hat das Umweltministerium angekündigt
- Kollege Gebhart hat gerade darauf hingewiesen -, dass
ein Wertstoffgesetz in Arbeit ist. Alle Fraktionen arbeiten in dieser Richtung. Ich freue mich, dass wir gemeinsam an einem System arbeiten, das dynamische
Recyclingquoten mit sich bringt, sodass Deutschland
auch in der Müllpolitik wieder Vorreiter in Europa wird.
Das waren wir ja schon einmal; das ist zu Recht erwähnt
worden. Mittlerweile aber versinken die meisten Abfälle
in der sogenannten thermischen Verwertung. Das ist des
Wertes, den die in den einzelnen Produkten enthaltenen
Rohstoffe haben, nicht würdig. Deswegen werden wir
aufmerksam verfolgen, ob jetzt schnell ein Wertstoffgesetz auf den Weg gebracht wird. Nur so ist sichergestellt,
dass die Öffentlichkeit angemessen an dieser Diskussion
beteiligt werden kann. Wir müssen eine breit angelegte
Debatte führen. Gerade haben wir schon in einigen
Nebensätzen gehört, dass wir die Kommunen und die
Länder mit einbinden müssen. Damit müssen wir jetzt
endlich beginnen, damit die Diskussion auch in der
Breite stattfinden kann.
Wir erwarten deutlich höhere und dynamisch ansteigende Recyclingziele im Wertstoffgesetz; denn die
jetzigen Vorgaben - das sagen selbst die verwertenden
Unternehmen - werden im Moment spielend erreicht.
Alles andere wird dann einfach möglichst kostengünstig
erledigt. Müllverbrennung ist einfach billiger. Daher
wird im Moment alles, womit die Recyclingquoten übererfüllt würden, verbrannt.
Das widerspricht mittlerweile nicht nur der Überzeugung der Grünen, sondern - das habe ich in der breiten
Diskussion hier im Plenum ja mit Freuden zur Kenntnis
genommen - auch unser aller Vorstellung von einer zukunftsfähigen Welt. Deswegen freue ich mich auf die
hoffentlich sehr bald anstehenden Debatten zu einem
echten Wertstoffgesetz.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat der Kollege Artur Auernhammer für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland
ist Weltklasse im Fußball, wie wir in den nächsten Wochen sicherlich erleben werden.
({0})
Wir sind aber auch Weltklasse, wenn es darum geht,
Rohstoffe zu recyceln.
({1})
Man erkennt, dass die Kreislaufwirtschaft funktioniert und dass sie bei einem Jahresumsatz von 50 Milliarden Euro auch ökonomisch Sinn macht. Recycling ist
zu einem echten Wirtschaftsfaktor geworden. Das erste
dieser Systeme besteht bereits seit den 90er-Jahren; wir
haben das schon gehört.
An das damals zugrunde gelegte System, die Trennung von Abfällen, hat sich auch der Verbraucher grundsätzlich gewöhnt, und er nimmt es erfolgreich an. An
dieser Stelle sollten wir auch einmal ein großes Lob an
die Verbraucherinnen und Verbraucher aussprechen, die
ihren Müll trennen und diese Systeme erfolgreich nutzen. Herzlichen Dank dafür.
({2})
Um diese bewährten Systeme zu erhalten, müssen wir
aber auch da nachsteuern, wo ein System in Schieflage
geraten ist, und das ist bei der Verpackungsverordnung
der Fall. Heute zeigt sich: Das Zusammenspiel von Lizenzsystem, Eigenrücknahme und Branchenlösungen
funktioniert nicht. Die Eigenrücknahme wird missbraucht.
Ein Teil der Branche macht Gewinne, die anderen
zahlen die Zeche. Hersteller und Vertreiber nutzen dieses
Zusammenspiel anscheinend gezielt, um das System zu
umgehen. Klar erkennbar ist dies am deutlichen Rückgang der lizenzierten Verpackungsmengen, während die
tatsächlich gesammelten verwertbaren Mengen konstant
bleiben.
Die vor allem in den vergangenen Jahren beobachteten Folgen waren ein hohes finanzielles Defizit und
teilweise ein drohender Zusammenbruch des gesamten
Systems. Sowohl Branchenlösungen als auch die Eigenrücknahme werden wohl teilweise genutzt, um Verpackungsmengen aus den lizenzierungspflichtigen Mengen
herauszurechnen - wahrscheinlich, um Kunden attraktivere Angebote zu machen.
Dieses bewusste Umgehen hat auch einen Nebeneffekt, der nicht so häufig diskutiert wird und auch heute
noch nicht angesprochen wurde. Ich selbst bin Landwirt
und Milcherzeuger. Unsere Molkerei muss natürlich wie
jeder andere Hersteller auch ihre Beiträge an das Duale
System zahlen. Leider können diese Beiträge nicht an
die Handelsketten weitergereicht werden, sondern im
Endeffekt zahlen wir Milcherzeuger das. Deshalb muss
es ein Anliegen von uns sein, hier eine vernünftige Regelung zu finden. Dabei ist es wichtig, dass wir die
schwarzen Schafe in der Abfallwirtschaft erkennen und
benennen und diesen Missstand beseitigen.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dieser siebten
Verordnung streichen wir den Tatbestand der Eigenrücknahme, weil wir das bewährte Gesamtsystem erhalten,
stärken und ausbauen wollen. Gerade deshalb ist es
wichtig, dieses Schlupfloch zu schließen.
Wir schaffen die Branchenlösung nicht ab, konzentrieren sie aber auf die Bereiche, in denen wirklich funktionierende Systeme bestehen und sich ein Missbrauch
ausschließen lässt; denn der Ansatz „Wettbewerb bei der
Entsorgung“ ist und bleibt auch in Zukunft wichtig. Deshalb geht es hier vor allem darum, die Möglichkeit eines
Mengenabgleichs zu schaffen.
Kurz gesagt: Unser Ziel ist, eine flächendeckende
Entsorgung von Verkaufsverpackungen unter Beibehaltung des Prinzips der Produktverantwortung zu sichern
und faire Wettbewerbsbedingungen zu schaffen. Das,
liebe Kolleginnen und Kollegen, leistet die heute zur
Abstimmung stehende Novelle. Sie wird dazu beitragen,
dass Deutschland auch in Zukunft Weltklasse bleibt: bei
der Mülltrennung und beim Fußball.
Vielen herzlichen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit zu der Verordnung der Bundesregierung zur
Änderung der Verpackungsverordnung. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/1583, der Verordnung der Bundesregierung auf
Drucksache 18/1281 zuzustimmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion
Die Linke angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Susanna
Karawanskij, Klaus Ernst, Dr. Dietmar Bartsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Den Grauen Kapitalmarkt durchgreifend
regulieren
Drucksachen 18/769, 18/1656
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Mechthild Heil für die CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Meine sehr verehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ihr Antrag, liebe Kollegen von den Linken, ist wieder einmal ein Sammelsurium an finanzpolitischen Forderungen. Sie haben wieder einmal alles in
einen Topf geworfen.
Erstens. Es ist kein regulatorischer Missstand, dass es
einen legalen Grauen Kapitalmarkt gibt, sondern das ist
ganz einfach Ausdruck von Gewerbefreiheit. Crowdinvesting und Crowdfunding beispielsweise ermöglichen
Innovationen, die sonst keine Chancen hätten.
Mehr als 3 000 Anleger haben zum Beispiel in den
Kinofilm Stromberg Geld investiert. Der fertige Film
mag dem einen oder anderen vielleicht nicht als Highlight des kulturellen Daseins, nicht als eine große Produktion erscheinen, aber man kann nicht leugnen: Wirtschaftlich war der Film sehr erfolgreich. Die Investoren
haben nicht nur ihr Geld, sondern darüber hinaus noch
eine ansehnliche Rendite erhalten. Aber es hätte auch alles komplett anders kommen können. Wenn niemand
sich den Film angesehen hätte, wäre das Geld einfach
weg gewesen. Nun die Frage: Muss man die Menschen
vor solchen Anlagen schützen? Wir sagen Nein. Wir
wollen solche Innovationen nicht totregulieren.
({0})
Zweitens. Es ist auch falsch, wenn Sie unterstellen,
dass der Graue Kapitalmarkt komplett unreguliert sei.
Schon in der letzten Wahlperiode haben wir die Aufsicht
im Bereich des Grauen Kapitalmarkts und auch die
Transparenz der Produkte deutlich verbessert. Wir haben
auch den Sach- und Fachkundenachweis eingeführt.
Wir gehen auf diesem Weg noch ein Stück weiter. Wir
ziehen Konsequenzen aus der Pleite des Windkraftbetreibers Prokon. Wir haben ein ganzes Maßnahmenpaket
zum Schutz von Kleinanlegern vorgelegt. Die Unternehmen werden dadurch zu mehr Transparenz verpflichtet,
und auch der Vertrieb wird so geregelt werden, dass
Finanzprodukte nicht systematisch an Anleger vertrieben werden, für die sie sich nicht eignen.
Wir wollen auch die Verbraucherzentralen mit zusätzlichen Millionen Euro ausstatten, damit sie den Markt
noch besser und systematischer beobachten und so vielleicht auch Missstände schneller aufdecken können.
Dies alles tun wir mit einem Ziel: einen Ausgleich zwischen der staatlichen Regulierung auf der einen Seite
und der Eigenverantwortung der Verbraucher auf der anderen Seite zu schaffen.
Die Kollegin Lay von den Linken hat in einer Pressemitteilung dieses Maßnahmenpaket kritisiert. Sie hat gesagt - ich zitiere -:
Im Kern bleibt es an den Verbraucherinnen und
Verbrauchern hängen, sich zu informieren und
dementsprechend zu handeln.
Ja, Frau Kollegin, so kann man das sagen. Am Ende entscheidet immer der Verbraucher und nicht der Staat; so
wollen zumindest wir das.
Aber schauen wir uns doch einmal genau an, was Sie
vorschlagen. Sie fordern zum Beispiel einen FinanzTÜV, der alle Finanzinstrumente und -akteure prüfen
soll. Mit welchem Ergebnis soll er prüfen? Sie denken
dabei an ein Ampelsystem. Rot bedeutet demnach Gefahr. Das kann ich noch verstehen. Gefahr heißt, das Produkt darf nicht auf den Markt, weil Totalverlust droht.
Das bedeutet auch: kein Geld für Filme wie Stromberg.
Ihr Konzept - das zeigt das kleine Beispiel - ist nicht
sinnvoll. Ich schlage Ihnen vor: Packen Sie es einfach in
die Tonne, am besten wird es auch nicht wieder hervorgeholt und recycelt.
({1})
Eine weitere Forderung von Ihnen ist, die provisionsbasierte Beratung zu verbieten. Sie unterstellen, alle Berater empfehlen Produkte nicht nach der Qualität, sondern nach der Höhe der Provision. Sie verleumden damit
einen ganzen Berufszweig. Aber darauf will ich nicht
weiter eingehen. Sie wollen eine Vertriebsform unterbinden, die fast den gesamten Markt ausmacht. Was würden
wir damit erreichen? Welchen Vorteil hätte der Kunde
bzw. der Verbraucher dadurch?
Nach Ihrem Wunsch müssten die Kunden dann auch
für jede Hausratversicherung oder Haftpflichtversicherung eine Honorarberatung bezahlen. Der Stundensatz
einer Honorarberatung gerade in diesen Bereichen ist
viel höher als die heutige Provision. Das nutzt den Honorarberatern, aber sicherlich nicht den Verbrauchern.
({2})
Wir wollen dagegen die honorarbasierte Beratung als
Alternative zum provisionsbasierten Modell weiter ausbauen und fest im Markt etablieren. Denn beide Modelle
haben ihre Vorteile für den Verbraucher, und wir wollen,
dass der Verbraucher selber auswählen kann, was für ihn
gut ist.
Mit unseren Maßnahmen zum finanziellen Verbraucherschutz schützen wir die Verbraucher, ohne sie zu
überfordern oder zu entmündigen. Das ist unser Ziel,
und auf dieses Ziel richten wir auch alle weiteren Maßnahmen aus.
Vielen Dank.
({3})
Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin
Susanna Karawanskij das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Wir Linken wollen mit
unserem Antrag den Grauen Kapitalmarkt, der eben
nicht staatlich reguliert ist, umfassend regulieren, damit
nicht länger ein lax regulierter Grauer Kapitalmarkt neben dem Weißen Kapitalmarkt existiert.
Heute wird in der FAZ - das ist nicht gerade ein Parteiblatt - Bundestagspräsident Norbert Lammert zitiert:
Es gibt eine Reihe von Phantasieprodukten, die
schon in ihrer Konstruktion schlicht unanständig
sind.
({0})
Daimler-Finanzvorstand Manfred Gentz sagt dazu in der
FAZ - lassen Sie mich auch das zitieren -:
Man wird wahrscheinlich für bestimmte Produkte
ganz simpel zu Verboten kommen müssen.
({1})
Das ist kein Zitat der Linken, sondern eine Aussage des
Daimler-Chefs.
Dass wir eine Regulierung brauchen, zeigt sich auch
daran, dass Sie jetzt einen Aktionsplan und ein Maßnahmenpaket vorhaben. Sie sagen selber: Wir brauchen die
Verbesserung des Schutzes der Kleinanleger im Grauen
Kapitalmarkt.
Genau da liegt der Hase im Pfeffer. Sie denken nicht
im Traum daran, den Grauen Kapitalmarkt zu regulieren.
Sie möchten lediglich den Verbraucherschutz, also sozusagen den Anlegerschutz im Grauen Kapitalmarkt regulieren, statt diesen endlich von der Bildfläche verschwinden zu lassen.
({2})
Wir wollen ebenfalls einen finanziellen Verbraucherschutz, aber das schließt noch lange nicht aus, dass man
dem Grauen Kapitalmarkt nicht das Wasser abgraben
und ihn schlussendlich schlicht und ergreifend beseitigen kann.
({3})
Um es ganz klar zu sagen: Unter den von Ihnen vorgeschlagenen Maßnahmen sind einige bemerkenswerte
und sinnvolle Regulierungen. Das möchte ich gar nicht
verheimlichen.
Herr Sieling von der SPD hat uns bei der ersten Beratung des Antrages keck vorgeworfen, dass wir unsere
Forderungen nur bei Google zusammengesucht hätten.
Sie haben jetzt ein Maßnahmenpaket mit 20 Einzelmaßnahmen vorgelegt.
({4})
Ihrer Koalition hätte eine ausführlichere Google-Suche
gutgetan. Denn Sie rücken dem Grauen Kapitalmarkt
nicht wirklich zuleibe; Sie gehen das halbherzig an. Dass
Sie das nur gebremst tun, zeigt sich auch daran, dass Sie
ständig auf die mündigen Anleger und auf die Eigenverantwortung verweisen. Gewiss muss jeder Verantwortung für seine Anlageentscheidungen übernehmen. Die
Entscheidungen wollen wir den Anlegern auch gar nicht
abnehmen. Aber wir wollen die Anleger nicht in das offene Messer laufen lassen.
({5})
Sie selbst haben zugegeben, dass die Finanzbranche sehr
kreativ ist und einige Produkte sehr undurchsichtig sind.
Die mündigen Anleger und Verbraucher werden und
können das Spiel gegen die mächtige Finanzbranche
nicht gewinnen. Da sind Sie auf dem Holzweg; das muss
ich Ihnen einfach so klar sagen.
({6})
Wir legen in unserem Antrag tatsächlich einen weiträumigeren Blick an den Tag. Wir wollen, dass jede
Geld- und Vermögensanlage in einschlägigen Gesetzen
reguliert wird.
({7})
An Sie geht die Aufforderung, die Lücken im Kapitalanlagegesetzbuch zu schließen. Darüber hinaus wollen wir
den Grauen Kapitalmarkt einer wirksamen Finanzaufsicht unterstellen. Dazu gehört beispielsweise, dass die
Finanzanlagevermittler nicht länger von den Gewerbeämtern kontrolliert werden. Das hat im Übrigen auch die
SPD in der letzten Legislaturperiode gefordert. Der Fall
Prokon ist tatsächlich der Aufhänger für unseren Antrag.
Aber Sie müssen weiterdenken, damit wir - erlauben Sie
mir bitte dieses Wortspiel - dem Grauen Kapitalmarkt
das Grauen nehmen können.
({8})
Da meine Redezeit abläuft,
({9})
komme ich zum Schluss. In Sachen Vertrieb sollten Sie
strenger sein. Sie sollten den provisionsbasierten Verkauf von Finanzprodukten aller Art unterbinden und als
Alternative die unabhängige Finanzberatung durch Verbraucherzentralen bzw. Honorarberater stärken. Da Sie
sicher gleich von Erfolgsgarantien und Finanzplaketten
sprechen werden: Wenn ein Fahrer oder eine Fahrerin eines Pkw mit TÜV-Plakette einen Auffahrunfall provoziert, dann wird deswegen nicht gleich der TÜV infrage
gestellt bzw. in Haftung genommen. Aus unserer Sicht
führt an einem Finanz-TÜV - egal ob es um die Einführung einer Ampelkennzeichnung oder schlicht um die
Frage der Zulassung eines Finanzprodukts geht - genauso wenig ein Weg vorbei wie an einer vollständigen
Überwindung des Grauen Kapitalmarkts.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat der Kollege Dr. Carsten Sieling für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte als
Erstes sagen, dass ich mich ausgesprochen freue, Frau
Kollegin Karawanskij, dass Sie sich in Ihrer Rede sehr
ausführlich auf das 22-Punkte-Papier der beiden zuständigen Minister, nämlich des Ministers der Justiz und für
Verbraucherschutz, Heiko Maas, und des Ministers der
Finanzen, Herrn Schäuble, bezogen haben, das dazu
dient, die Beratungen über das voranzubringen, was wir
in der Großen Koalition auf der Grundlage unseres Koalitionsvertrags zum Schutz der Sparerinnen und Sparer,
der Anlegerinnen und Anleger sowie aller Verbraucherinnen und Verbraucher, aber auch zur weiteren Regulierung der Finanzmärkte auf den Weg bringen wollen. Das
ist doch eigentlich ein gutes Zeichen für die Debatte in
diesem Parlament.
({0})
Wir von der Koalition können stolz darauf sein, dass
wir nun diesen Weg gehen und entsprechende Maßnahmen ergreifen. Wir sind in der glücklichen Situation,
dass schon in der vergangenen Legislaturperiode an verschiedenen Stellen Schritte gemacht wurden, auch wenn
diese teilweise unterschiedlich bewertet wurden. Wir
sind allein schon deshalb weiter, weil mittlerweile in diesem Parlament in der Frage betreffend die notwendige
Regulierung und den Schutz der Sparerinnen und Sparer
sowie der Anlegerinnen und Anleger und die Vermeidung von Fehlentwicklungen eine ganz große Koalition
besteht. Das war in der letzten Legislaturperiode noch
nicht der Fall. Hier können wir gute Fortschritte verzeichnen. Wir werden nun Lücken schließen müssen.
Kollegin Heil hat schon einige Punkte des Antrags
der Linksfraktion angesprochen. Wir werden und können den dort skizzierten Weg so nicht mitgehen. Angesichts der Aufgaben, vor denen wir stehen, darf man das
Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Es gibt eine fachliche und eine politische Dimension. Die fachliche Dimension besteht darin, dass man keine Maßnahmen ergreifen darf, die am Ende negative Effekte für die
Menschen, um die es uns geht, haben werden. Das Problem des Provisionsverbots - ich komme gleich darauf
zurück - ist angesprochen worden. Wenn man so vorgeht, wie Sie es vorschlagen, wird man dieselben negativen Erfahrungen machen, die die Briten gemacht haben.
In Großbritannien gibt es das Verbot. Das ist schlecht für
die Verbraucherinnen und Verbraucher. Darum gehen
wir einen solchen Weg nicht mit.
({1})
Man muss auch beachten, dass man am Ende politische
Wege suchen muss. Auch da darf man das Kind nicht
mit dem Bade ausschütten. Man muss unterschiedliche
Kräfte bündeln und Mehrheiten finden. Auch dazu sind
Teile Ihrer Vorschläge nicht geeignet.
Ich will an der Stelle den zweiten Punkt aus meiner
Sicht ansprechen. Das ist der sich gut anhörende Vorschlag eines Finanz-TÜVs. Das Problem besteht darin,
dass wir insgesamt 1 Million Produkte haben, die sich zu
einem großen Teil immer wieder verändern, weil sie sehr
individuell zugeschnitten werden und in dem Zusammenhang neu konstruiert werden. Wenn Sie alle diese
Produkte einer Behörde, in dem Fall der BaFin, übergeDr. Carsten Sieling
ben wollen - das wäre eine Superbehörde für eine Superaufsicht -, dann wird das nicht klappen. Die BaFin wird
nicht hinterherkommen können, die Aufsicht wird nicht
wirksam sein. Deshalb lehnen wir den Finanz-TÜV ab
und halten seine Einführung für einen Schritt in die falsche Richtung.
Ich habe gesagt, dass es an der Stelle eine ganz große
Koalition gibt. Die haben wir natürlich auch deshalb
- das hat sich so gesellschaftlich herausgebildet -, weil
wir mit S&K, Phoenix, aber natürlich auch zuletzt Prokon Fälle haben, die wir angehen müssen. Ich will deshalb auf das kommen, was die Zukunft in unserem Land
bestimmen wird, nämlich das Eckpunktepapier, das von
den beiden zuständigen Ministerien vorgelegt worden
ist.
Es ist nicht so, wie der Eindruck zu erwecken versucht wurde, dass damit nur - „nur“ in Anführungsstrichen - Verbraucherschutz betrieben wird. Natürlich wird
Verbraucherschutz betrieben, aber es wird auch eine Regulierung der Anleger und der Finanzmärkte geben. Es
wird zum Beispiel die Frage des Vertriebs aufgegriffen,
und die Werbung soll eingeschränkt werden. Dazu
möchte ich zwei Zahlen nennen, die einen wirklich erschrecken und die deutlich machen, wie wirksam es sein
wird, wenn wir die Werbung für gewisse Produkte einschränken.
Prokon hatte einen Werbeetat für seine Produkte in
Höhe von 85 Millionen Euro. Irgendwie musste das, was
über die Bildschirme flackerte, bezahlt werden. Der Automobilkonzern Ford hat einen Jahresetat von 100 Millionen Euro für seine Werbung. Wenn man die beiden
Zahlen ins Verhältnis setzt, sieht man, welcher Aufwand
bei Prokon betrieben worden ist und was für eine verzerrte Vertriebsstrategie gefahren worden ist. Dass das
eingeschränkt wird, ist, glaube ich, eine sehr wichtige
Angelegenheit.
Die zweite wichtige Angelegenheit, an der wir arbeiten werden, ist, dass die BaFin natürlich eine erweiterte
Aufgabe erhält. Wir als SPD haben lange gefordert, dass
sie auch die Zuständigkeit für den Verbraucherschutz erhält. Das ist ein Riesenschritt voran, weil sie dann natürlich - aber nur in Fällen, in denen es richtig schiefgehen
kann - auch die Möglichkeit haben wird, Produkte zu
verbieten. Das Instrument muss sie auch bekommen,
wenn sie wirksam und durchschlagend sein will. Sie soll
aber nicht Genehmigungen für 1 Million Produkte erteilen, sondern gezielt vorgehen, quasi mit dem Florett arbeiten, um diejenigen, die den Markt ausnutzen und
Übergriffe tätigen, aus dem Markt zu nehmen.
({2})
Lassen Sie mich noch eines zum Schluss sagen. Wir
werden große Schritte vorangehen, indem wir auch
Maßnahmen ergreifen, um den kollektiven Verbraucherschutz zu stärken, beispielsweise mit dem Aufbau von
Marktwächtern. Auch das sagt das Eckpunktepapier der
beiden Ministerien. Aber wir werden auch - auch Kollegin Heil hat das hier schon angesprochen; das ist ein
wichtiges Vorhaben - dafür sorgen, dass ein Wettbewerb
zwischen jetziger provisionsorientierter Beratung und
zukünftiger Honorarberatung stattfindet. Wir müssen
Honorarberatung auf Augenhöhe ermöglichen. Das
werden wir mit dem, was wir machen, schaffen. Das ist
vernünftiger als das, was Sie heute hier vorlegen. Aber
vielleicht bringen wir ja eine konstruktive Diskussion
zustande, und am Ende steht bei der Beschlussfassung
über das, was dieses Haus irgendwann als Gesetzentwurf
erreicht, eine große und das ganze Haus umfassende
Mehrheit. Ich glaube, das wäre gut, um den Grauen Kapitalmarkt einzuschränken und die Verbraucherinnen
und Verbraucher zu schützen.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Dr. Gerhard Schick für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zu dem Antrag der Fraktion Die Linke werden wir uns
enthalten, obwohl er viele richtige Punkte enthält. Die
Linke fordert einen Finanz-TÜV, der alle Finanzinstrumente, -akteure und -praktiken vor ihrer Zulassung daraufhin untersucht, ob sie - ich zitiere - „gesamtwirtschaftlich keine unerwünschten Nebenwirkungen haben,
ob das gesamt- und betriebswirtschaftliche Risiko beherrschbar ist und ob sie verbraucherfreundlich sind“.
({0})
Das halten wir nicht für sinnvoll; denn solche Wirtschaftlichkeitsprüfungen sind mit hohen Prognoserisiken
behaftet. Ein positives Urteil eines solchen FinanzTÜVs könnte wie eine Erfolgsgarantie verstanden werden, ganz zu schweigen von der drohenden Amtshaftung.
({1})
Als wir den Antrag der Fraktion Die Linke bei seiner
Einbringung hier im Plenum behandelt haben, schloss
ich meine Rede mit einem Appell an den Verbraucherschutzminister Maas. Ich habe gesagt, bezüglich seiner
Ankündigungen, ausgehend vom Fall Prokon im Bereich
des Grauen Kapitalmarkts jetzt etwas zu tun, würden wir
ihn schon beim Wort nehmen; denn eine Ankündigungsministerin Aigner hatten wir im Verbraucherschutzministerium lange genug.
({2})
Mittlerweile hat der Verbraucherschutzminister zusammen mit dem Bundesfinanzminister Schäuble einen
Aktionsplan zum Verbraucherschutz im Finanzmarkt
vorgelegt. Dieser besteht aus einem Maßnahmenpaket
insbesondere zur Verbesserung des Schutzes von Klein3426
anlegern im Grauen Kapitalmarkt. Ich muss sagen:
Wenn das so im Gesetz Niederschlag findet, dann hat der
Verbraucherschutzminister meinen Respekt; denn dieser
Aktionsplan enthält viele Punkte, die wir Grünen seit
langem fordern.
({3})
Zum Beispiel begrüßen wir sehr, dass nun Umgehungsmöglichkeiten für Anbieter von Graumarktprodukten eingeschränkt werden sollen und dass der Katalog
der nach dem Vermögensanlagegesetz geregelten Anlageformen erweitert wird. Es gibt am Markt nämlich erhebliche Ausweicherscheinungen, zum Beispiel partiarische Darlehen oder Nachrangdarlehen. Darauf muss
man reagieren. Es ist richtig, dass das vorgesehen ist.
Zu begrüßen sind auch die Vorschläge zur verstärkten
Transparenz von Vermögensanlagen und die Offenlegung ihrer Risiken. Es ist zum Beispiel eine Selbstverständlichkeit, dass verpflichtende Angaben zu personellen Verflechtungen im Umfeld des Anbieters für den
Anleger transparent gemacht werden müssen; denn das
kann er selber nicht erkennen. Richtig ist auch, dass die
Finanzaufsicht Befugnisse bekommt, Werbeverbote und
Vertriebsbeschränkungen bei unseriösem und aggressivem Anbieterverhalten auf dem Grauen Kapitalmarkt
vorzunehmen.
Trotz alldem gibt es zwei zentrale Schwachpunkte,
und ich sehe noch nicht, dass Sie sie angehen:
Erstens. All die neuen anlegerschützenden Maßnahmen gehören auch umgesetzt. Aber von personellen Verbesserungen für die Aufsicht ist nirgendwo die Rede.
Auf einer Pressekonferenz hat Herr Schäuble auf Nachfrage einer Journalistin an dieser Stelle deutlich den
Kopf geschüttelt. Ich befürchte daher, dass die Durchsetzung dieser Punkte an mangelnden personellen Kapazitäten scheitern wird. Das darf nicht passieren.
({4})
Zweitens. Eine Finanzaufsicht mit Befugnissen auszustatten, ist das eine. Das andere ist, dass sie auch davon Gebrauch machen will. Es irritiert mich massiv, dass
die BaFin ihre Handlungsmöglichkeiten nicht nutzt.
Zum Beispiel hat die BaFin bereits 2008/2009, als sie
gegenüber Prokon das Erbringen eines unerlaubten
Bankgeschäfts monierte, Handlungsspielräume gehabt,
um die Geschäftstätigkeit zu untersagen; aber sie hat es
nicht gemacht. Wir haben ein massives Vollzugsdefizit
in der deutschen Finanzaufsicht zulasten der Verbraucher, und das muss korrigiert werden.
({5})
An dieser Stelle gibt es eine klare Verantwortungszuteilung: Die Bundesfinanzaufsicht untersteht der Rechtsund Fachaufsicht des Bundesfinanzministers.
({6})
Wenn sechs Jahre nach Ausbruch der Finanzkrise noch
immer ein solches Vollzugsdefizit besteht, dann ist das
an dieser Stelle einfach eine miserable Leistung.
({7})
Wenn sich hier nichts tut, dann werden die geplanten
Maßnahmen ins Leere laufen. Deswegen lautet unsere
zentrale Aufforderung heute: Tun Sie etwas an diesen
zwei zentralen Schwachpunkten!
Danke schön.
({8})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege
Dr. Volker Ullrich das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei der Debatte um den Grauen Kapitalmarkt klaffen Anspruch und
Lebenswirklichkeit auseinander. Ähnlich verhält es sich
mit der ökonomischen Theorie und der Wirklichkeit. In
der idealen Welt haben alle Teilnehmer Informationen
über das gesamte Marktgeschehen und handeln rein am
ökonomischen Nutzen orientiert. In der Praxis verhält es
sich anders. In der Politik stellt man in der Theorie der
idealen Welt Anträge in Kenntnis dessen, was bislang
passiert ist. In der Praxis liegt ein Antrag wie der der
Linksfraktion auf dem Tisch. Sie verkennen, dass die
Problematiken des Grauen Kapitalmarkts und das
strukturelle Versagen, das auf diesem Markt zulasten der
Verbraucher aufgetreten ist, von der unionsgeführten
Bundesregierung in den letzten Jahren erkannt und behoben worden sind.
({0})
In den Jahren 2011 und 2013 sind mit dem Vermögensanlagengesetz und mit dem Kapitalanlagegesetzbuch wesentliche Schutzlücken geschlossen worden.
Gleichwohl erkennt eine vorausschauende Politik, dass
der Schutz im Augenblick nicht ausreicht. Angesichts
der aktuellen Fälle, die wir alle bedauern, sehen wir einen Handlungsauftrag an den Gesetzgeber, weiter tätig
zu werden, und zwar umsichtig und besonnen und unter
Berücksichtigung der besonderen Aufgaben, die ein Kapitalmarkt auch für das Funktionieren unserer Wirtschaft
hat.
Dementsprechend haben die Bundesminister der Finanzen und der Justiz vor zwei Wochen ein weiteres
Maßnahmenpaket auf den Weg gebracht, welches in den
nächsten Wochen und Monaten in die parlamentarische
Debatte eingebracht werden wird. Ich glaube, es ist ein
gutes Signal, dass wir diese Debatte führen werden. Mit
dem Maßnahmenpaket können wir weitere Schutzlücken
schließen.
Es darf aber nicht vergessen werden, dass bei der Debatte um den Grauen Kapitalmarkt auch die Funktion für
unsere Wirtschaft nicht aus den Augen verloren werden
darf.
({1})
Sie können nicht einige Fälle, die wir alle bedauern und
in denen Menschen auch ganz konkret betrogen worden
sind, zum Anlass nehmen, Kapitalbeschaffungsmaßnahmen für den Mittelstand, für neue Projekte, für Windenergie, für Solarenergie, für andere innovative Themen
unmöglich zu machen. Sie müssen erkennen, dass in unserer Marktwirtschaft - wir sind davon geprägt - auch
die Allokation von Kapital noch entsprechend funktionieren muss.
({2})
Alles andere ist Planwirtschaft.
Es ist doch Planwirtschaft, wenn Sie durch einen Finanz-TÜV alles regeln wollen, weil Sie damit den Staat
zu einer Art Wirtschaftsprüfer machen, letzten Endes
Amtshaftungsansprüche begründen und Erwartungen
wecken, die der Staat nicht erfüllen kann.
({3})
Es sei in dieser Debatte weiter daran erinnert, dass es
auch um die Bildung unserer Mitbürger in finanziellen
Fragen geht. Ich meine, Eigenverantwortung und Bildung in finanziellen Fragen, das ist der notwendige Eigenbeitrag, den alle leisten müssen, und das ergänzt den
staatlichen Anlegerschutz. Nur zusammen kann damit
ein Schutzniveau erreicht werden, das für alle tauglich
ist. Um es mit den Worten eines bedeutenden Investors,
Warren Buffett, zu sagen: Kaufen Sie nichts, was Sie
nicht kennen!
({4})
Dementsprechend ist „Eigenverantwortung“ nicht irgendwie nur ein liberales Wort, sondern Eigenverantwortung ist letzten Endes etwas, was den Menschen im
Kern angeht. Wir müssen und dürfen den Menschen
etwas zutrauen, ohne dass wir vergessen, dass der Staat
eine gewisse Schutzpflicht hat.
({5})
Ich bin überzeugt, dass wir mit dem Maßnahmenpaket einen Schutz des Grauen Kapitalmarkts vor problematischen Anbietern erreichen, der dem Niveau unserer
Volkswirtschaft entspricht und die Menschen ruhiger
schlafen lässt, weil sich die Politik darum kümmert.
Gleichzeitig erlauben wir, dass die Kapitalfunktion in
unserer Wirtschaft beibehalten werden kann.
In diesem Sinne: Warten Sie ab, was wir zukünftig
vorlegen werden. Wir werden damit den Grauen Kapitalmarkt auf eine anlegerfreundliche Art und Weise regulieren.
({6})
Vielen Dank. - Das war der letzte Redner in dieser
Debatte.
Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit
dem Titel „Den Grauen Kapitalmarkt durchgreifend regulieren“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/1656, den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/769 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung von Gesetzen auf dem Gebiet des Finanzmarktes
Drucksachen 18/1305, 18/1574
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({0})
Drucksache 18/1648
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre
hierzu keinen Widerspruch. Damit ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner in der Debatte ist der Kollege Fritz Güntzler, CDU/CSU-Fraktion.
Bitte schön.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Vor vier Wochen haben wir
hier in erster Lesung über den Entwurf eines Gesetzes
zur Anpassung von Gesetzen auf dem Gebiet des Finanzmarktes beraten. Daraufhin folgen die Anhörung,
aber auch viele intensive Gespräche mit Verbänden und
dem Ministerium. Diese haben zu Änderungsanträgen
geführt, über die wir heute ebenfalls beschließen wollen.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden im Wesentlichen aber nur redaktionelle Korrekturen und europarechtlich notwendige Anpassungen vorgenommen.
Dies ist insbesondere notwendig, weil die Definition von
offenen und geschlossenen Fonds im KAGB an die delegierte Verordnung der EU-Kommission angepasst werden muss. Diese Verordnung wird voraussichtlich im
Juli 2014 in Kraft treten. Als geschlossen gelten dann
nur noch Fonds, deren Anteile nicht vor Beginn der Liquidation oder Auslaufphase auf Ersuchen eines Anteilseigners zurückgenommen werden können. Vorher waren
dies solche Fonds, bei denen die Rückgabe nicht mindestens einmal jährlich möglich war. Dies ist also eine
weitaus restriktivere Auslegung des Begriffs.
Aufgrund der unterschiedlichen Anforderungen an einen geschlossenen bzw. einen offenen Fonds hat diese
Änderung der Definition erhebliche Auswirkungen.
Viele bisherige geschlossene Fonds wären damit zu offenen Fonds geworden. Deshalb wird den bestehenden
Fonds, den sogenannten Altfonds, durch das Gesetz nunmehr Bestandsschutz gewährt. Das ist notwendiger Vertrauensschutz.
Meine Damen und Herren, weiter hätte diese Änderung erhebliche negative Auswirkungen auf die zahlreichen Energiegenossenschaften gehabt, sofern sie denn in
den Anwendungsbereich des KAGB fallen, also als Investmentvermögen anzusehen sind. In diesem Zusammenhang möchte ich aber auch einmal darauf hinweisen,
dass weit über 90 Prozent der mittlerweile über 800 bestehenden Energiegenossenschaften operativ tätig sind.
Diese werden somit von der Regulierung des KAGB gar
nicht erfasst. Diese Tatsache wird in der Diskussion teilweise nicht richtig gewürdigt.
Für die unter das KAGB fallenden Energiegenossenschaften - das ist also der weitaus geringere Teil - war
noch in den letzten Zügen der Ausschussberatung im
vergangenen Jahr eine Ausnahmeregelung geschaffen
worden, um diese Bürgerenergieprojekte - um diese
handelt es sich zumeist - nicht durch zu große Regulierung und Anforderungen zu gefährden. Die Ausnahmeregelung für diese Genossenschaften wäre aufgrund der
nach dem Genossenschaftsgesetz vorgesehenen Kündigungsmöglichkeiten ausgehebelt worden. Daher haben
wir die Ausnahmeregelung an die neue Definition entsprechend angepasst. Wir wollen allen Bürgerenergiegenossenschaften weiterhin ermöglichen, einen wichtigen
Beitrag zur Energiewende in der Bundesrepublik zu leisten.
Meine Damen und Herren, ich möchte noch auf einen
weiteren Punkt hinweisen, den ich auch schon in der
Einbringung des Gesetzentwurfes angesprochen habe.
Wir haben auch in den Beratungen intensiv über den
Nachweis der fachlichen Eignung von Geschäftsleitern
von Bürgerenergiegenossenschaften diskutiert. Die
CDU/CSU-Fraktion und ich halten es für richtig und
wichtig, dass auch diese - neben der Zuverlässigkeit des
Geschäftsleiters - geprüft wird. Die BaFin soll künftig
bei der Beurteilung der Zuverlässigkeit und Eignung der
Geschäftsleitung einer Genossenschaft aber auch die
Stellungnahme des zuständigen genossenschaftlichen
Prüfungsverbandes einbeziehen. Mit diesem Hinweis
wird berücksichtigt, dass die Eignung der Geschäftsleiter bereits bei der Gründung der Energiegenossenschaften durch die genossenschaftliche Prüfung festgestellt
wird. Weiterhin geht von uns an die BaFin das klare Signal, bei ihrer Prüfung ihren Maßstab an der Größe, der
Komplexität und dem Risikogehalt der Geschäftstätigkeit auszurichten. Wir wollen bürgerliches Engagement
unterstützen und nicht durch übertriebene Anforderungen verhindern.
({0})
Darum haben wir auch eine Evaluierung dieser Ausnahmevorschriften für Energiegenossenschaften zum Ende
des Jahres 2015 vereinbart, um gegebenenfalls, falls notwendig, nachsteuern zu können.
Ich möchte noch zwei weitere Punkte, die auch Gegenstand der Anhörung gewesen sind, kurz ansprechen.
Durch die Änderung im KAGB ermöglichen wir jetzt
auch das sogenannte Derivatenclearing, also die Aufrechnung von in der Verrechnung des Sondervermögens
begründeten Forderungen und Ansprüchen, künftig auch
für börslich gehandelte Derivate. Bisher war das Clearing nur für außerbörslich gehandelte Derivate möglich.
Die deutlich strenger regulierten börslich gehandelten
Derivate sind im Rahmen der AIFM-Umsetzung versehentlich außen vor geblieben. Das machte so keinen
Sinn. Darum haben wir dies angepasst.
Nicht übernommen haben wir den Vorschlag aus der
Anhörung, der auch von den Grünen übernommen worden ist, Ausnahmeregelungen für sogenannte KleinstAIF in der Rechtsform einer Genossenschaft zu schaffen. Bei denen sollte unter anderem die Höchstanlage bei
2 500 Euro liegen und das Anlagevolumen einen Betrag
von 5 Millionen Euro nicht übersteigen. Ich vermag
nicht einzusehen, warum Anleger bei diesen Gesellschaften einen schlechteren Anlegerschutz erhalten sollen. Für so manchen von uns sind auch 2 500 Euro viel
Geld. Auch diesen Anlegern gebührt ein angemessener
Anlegerschutz.
({1})
Meine Damen und Herren, mit dem vorliegenden Gesetzentwurf haben wir bewusst keine größeren materiellen Änderungen im KAGB vorgenommen. Um zu wissen, an welchen Stellen wir gegebenenfalls noch
Anpassungen vorzunehmen haben, sollten wir den Praxistest der umfangreichen und komplexen Finanzmarktregulierung abwarten. Ich bin sicher, dass das Finanzmarktanpassungsgesetz nicht die letzte Etappe bei der
Regulierung des Kapitalmarktes ist. Weitere werden sicher folgen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Vielen Dank. - Für die Fraktion Die Linke erhält jetzt
Susanna Karawanskij das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Wir sprechen - wir haben es gerade gehört - über die Anpassung von Finanzmarktgesetzen in einem begrenzten, redaktionellen Sinn.
Das haben Sie, Herr Kollege, gerade treffend gesagt. So
weit, so gut. Gesetze müssen immer mal wieder überarbeitet werden, wenn sich die Bezeichnungen von Sachverhalten, aber auch die Relationen ändern. Aber: Ihr
Vorgehen beinhaltet gleichzeitig eine ganz klare Botschaft, dass nämlich die Bundesregierung über die techSusanna Karawanskij
nokratische Aktualisierung von Gesetzen im Finanzsektor hinaus keinen Handlungsbedarf sieht. Das ist, ehrlich
gesagt, ein Armutszeugnis, und das vor dem Hintergrund, dass wir uns immer noch im siebten Jahr der Banken- und Finanzkrise befinden. Sie werden jetzt sagen:
Das ist das siebte Jahr nach der Krise. - Aber wenn Sie
immer wieder behaupten, dass diese vorbei sei, schauen
Sie einmal über den Tellerrand nach Europa, und dann
sehen Sie: Wir stecken immer noch in dem Schlamassel.
({0})
Die EZB, die Europäische Zentralbank, führt wieder
einmal Stresstests durch, wonach Banken und deren Eigenkapital hinsichtlich ihrer Risikotragfähigkeit überprüft werden. Hier geht es darum, dass man Prävention
zu dem Zweck betreibt, dass bei einem erneuten Crash
nicht wieder die Hosen heruntergelassen werden müssen. Es ist eher eine Prüfung der großen Banken dahin
gehend, ob Europa im Ernstfall wieder einspringen darf.
Ich finde, der Koalitionsvertrag war, was Ihre Ambitionen zu weiteren Regulierungen der Finanzmärkte
angeht, beschämend zahm. Dieses Thema plätschert einfach dahin. Ehrlich gesagt verspielen Sie die Gelegenheit, aus der größten Finanzkrise, die wir seit 1929 bzw.
den 30er-Jahren hatten, die notwendigen Schlüsse zu
ziehen. Sie brauchen sich nicht hinter Europa und der
Euro-Krise zu verstecken. Die Bundeskanzlerin hat in
Europa die unsoziale, ökonomisch kontraproduktive
Sparpolitik mit aller Härte gegen die Euro-Krisenländer
durchgesetzt. Wenn Sie als Bundesregierung nur halb so
entschlossen wären, den hochriskanten Finanzgeschäften und dem Grauen Kapitalmarkt den Kampf anzusagen
- von den Schattenbanken rede ich gar nicht -, dann wären wir im Hinblick auf eine europäische Regulierung
deutlich weiter.
({1})
Uns ist natürlich nicht entgangen, dass Sie, vor allem
auf Druck der Finanzbranche selbst, wenige inhaltliche
Veränderungen vorgenommen haben. Auf diese will ich
kurz eingehen.
Zur Anzahl der Aufsichtsmandate. Wir finden es vollkommen richtig, dass die Begrenzung der Aufsichtsmandate die Sparkassen gegenüber den Privatbanken nicht
benachteiligen darf. Wir hätten uns aber eine andere Reaktion gewünscht: nicht die, dass Sparkassen nun mehr
Mandate wahrnehmen dürfen, sondern dass die Zahl der
Mandate der privaten Banken eingeschränkt wird.
Durch die Finanzkrise wurde flächendeckend bestätigt, dass neben dem Management und der Finanzaufsicht auch die Aufsichts- und Verwaltungsräte der Banken ihre Kontrollfunktion eben nicht erfüllt haben. Es
wäre nur konsequent, dass man der Ämterhäufung bei
Kontrollmandaten entgegentritt und damit die Bürde auf
mehr Schultern verteilt.
({2})
Wir brauchen mehr kompetentes Personal mit entsprechender Zeit, um den verbundenen Instituten - sei es nun
im Konzernverbund, sei es im öffentlichen-rechtlichen
Institutsverbund - intensiver auf die Finger zu schauen
und, wenn nötig, eben halt auch mal auf die Finger zu
klopfen.
({3})
Abschließend möchte ich noch etwas zum Kapitalanlagegesetzbuch sagen. Die dortigen Vorschriften lassen
unseres Erachtens noch viel zu viele Umgehungsmöglichkeiten und Ausweichkonzepte für unseriöse Anbieter
von Kapitalanlagen zu. Das wurde auch in der Anhörung
ganz deutlich. Man muss sich das Tatbestandsmerkmal
„operativ tätig sein“ erst einmal zu Gemüte führen. Wie
ist das mit der Grenze zum Tatbestand „Investitionsvermögen“, der unter die Bestimmungen des Kapitalanlagegesetzbuches fällt? Das alles ist sehr schwammig. Das
hatten wir ja schon in der Debatte vorher: Die seit Prokon berühmt-berüchtigten Genussrechte oder auch die
Nachrangdarlehen bleiben immer noch unreguliert.
Um es auf den Punkt zu bringen: Das Kapitalanlagegesetzbuch muss endlich wasserdicht gemacht werden.
Die Finanzkrise ist immer noch nicht vorbei, auch wenn
Sie diese Falschaussage mantraartig wiederholen.
Beenden Sie Ihren Dienst nach Vorschrift! Werden
Sie aktiv, und ziehen Sie vor allen Dingen die notwendigen Schlüsse aus der Finanzkrise, und setzen Sie die gewonnenen Erkenntnisse in wirklich wirksame und gute
Gesetze um!
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist der Kollege
Manfred Zöllmer für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn ein Gesetz „Finanzmarktanpassungsgesetz“ heißt,
dann könnte man vermuten, es gehe um ganz viel Gesetzestechnik. Das ist in der Tat auch richtig. Der Gesetzentwurf soll im Nachgang zu europaweiten Regelungsvorhaben - es hat viele Regelungsvorhaben gegeben; das
muss man fairerweise sagen, auch wenn wir in der letzten Legislaturperiode in der Opposition waren und auch
manche Kritik geübt haben; ich nenne nur CRD IV, liebe
Kollegin Karawanskij, ein riesiges Regulierungswerk,
oder das AIFM-Umsetzungsgesetz - Korrekturen und
europarechtlich notwendige Anpassungen vornehmen.
Bei dem vorliegenden Gesetzentwurf handelt es sich
um ein Mantelgesetz, mit dem insgesamt elf andere Gesetze geändert werden. Ganz häufig sind es in der Tat rein
redaktionelle Korrekturen. Liebe Kollegin Karawanskij,
das kann man als technokratische Weiterentwicklung bezeichnen, aber so funktioniert unser Rechtsstaat nun einmal: Wir müssen die Gesetze entsprechend anpassen;
denn nur dann ist eine saubere Regulierung möglich, und
nur dann ist der Staat in der Lage, seine Vorstellungen
überhaupt durchzusetzen. Das machen wir hier.
({0})
Ich habe mich gefragt: Wie kann man in einer Rede
mit einem solch umfangreichen Werk umgehen? Ich
habe mich entschieden, zwei politisch wichtige Punkte
herauszugreifen.
Das erste Stichwort ist die Mandatsbegrenzung. Worum geht es? Es geht um die grundsätzliche Frage: Wie
viele Aufsichtsratsmandate kann eine Person in unterschiedlichen Bereichen sinnvoll wahrnehmen? Wie groß
darf die Zahl sein, sodass es noch möglich ist, wirklich
Aufsicht und Kontrolle über das Geschäftsgebaren auszuüben? Wir haben in der Finanzmarktkrise erlebt, dass
es häufig ein Versagen in diesem Bereich gegeben hat,
dass die Aufsicht nicht mit der nötigen Sorgfalt durchgeführt wurde. Das hat im Ergebnis zu existenzbedrohenden Schieflagen von Banken geführt, die dann mit Steuergeldern gerettet werden mussten. Dieses darf sich
nicht wiederholen.
({1})
Deshalb brauchen wir eine sinnvolle Beschränkung der
Zahl der Mandate.
Ich glaube, wir haben gemeinsam eine sehr sinnvolle
Regelung gefunden, die der Struktur des deutschen Kreditsystems Rechnung trägt. Wir haben bei kleinen Instituten die alte Rechtslage beibehalten; das sind nicht systemrelevante Institute. Wir haben in Deutschland zum
Glück sehr viele sehr kleine Institute. Aber bei Instituten
von erheblicher Bedeutung, von denen eine Systemgefährdung ausgehen kann, wollen wir an der strikten
Mandatsbegrenzung festhalten.
({2})
Wenn man das einmal in Zahlen übersetzt, kann man
sagen, dass ungefähr 1 900 Institute unter die alte Regelung fallen. Es sind kleine und sehr kleine Institute.
52 Institute fallen unter die sehr stark begrenzende Regelung. Wir haben die Grenze bei einem Bilanzvolumen
von 15 Milliarden Euro gezogen. Das ist eine vernünftige Regelung, vor allen Dingen wenn wir uns vor Augen führen, dass in Zukunft die EZB für systemrelevante
Banken zuständig ist und dafür die Aufsicht übernimmt.
Ein zweiter Punkt, den ich noch kurz herausgreifen
möchte. Es hat Probleme bei der Frage gegeben, was eigentlich zum harten Kernkapital einer Bank zählt und
was nicht. Angesichts des bevorstehenden Stresstests der
EZB ist das eine wichtige Frage, die geregelt werden
muss, damit Klarheit herrscht; denn das Ganze wird
auch veröffentlicht. Wir haben in diesem Gesetzentwurf
klargestellt, dass in Zukunft bestimmte Reserven als hartes Kernkapital anzusehen sind, weil sie diese Funktion
erfüllen. Das Ganze war mehr ein rechtstechnisches als
ein inhaltliches Problem.
Wir haben ansonsten in dem Gesetz eine Reihe von
Detailregelungen gefunden - beim Kreditmeldewesen,
beim Geldwäschegesetz, bei der Gewerbeordnung usw.
Der Kollege Petry wird gleich noch auf ein paar andere
Punkte hinweisen.
Die Auswirkungen der einzelnen Regelungen in der
Praxis sind nicht immer präzise vorhersagbar. Von daher
ist es wichtig, dass der Gesetzgeber flexibel reagiert. Das
Wort „Nachbesserung“ ist in diesem Zusammenhang
kein Schimpfwort. Vielmehr wollen wir das Ganze evaluieren, also überprüfen, wie es wirkt, und an den entsprechenden Stellschrauben drehen, wenn wir erkennen,
dass Nachbesserung notwendig und möglich ist.
Sie müssen zum Schluss kommen, Herr Kollege.
Das ist vernünftige Gesetzgebung, die wir in dieser
Legislaturperiode umsetzen werden.
Herzlichen Dank.
({0})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist der Kollege
Dr. Gerhard Schick, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden eine Reihe
Fehler in bestehenden Regelungen korrigiert, und das ist
auch richtig so. Bei der Begrenzung von Aufsichtsratsmandaten haben wir einvernehmlich eine gute Lösung
gefunden. Wir werden uns allerdings trotzdem bei der
Abstimmung über diesen Gesetzentwurf enthalten; denn
wir sehen Schwächen bei der Korrektur des Kapitalanlagegesetzbuches.
({0})
Das betrifft zum einen die Energiegenossenschaften.
Da bleibt immer noch eine gewisse Rechtsunsicherheit,
die die dezentrale Energiewende erschwert. Zum anderen meinen wir, dass die Schwelle für die Ausnahmeregelung mit 100 Millionen Euro deutlich zu hoch bemessen ist und deswegen noch viele kritische
Anlagemöglichkeiten bestehen, die Anleger in die Irre
führen könnten.
({1})
Schließlich haben Sie unseren Vorschlag abgelehnt,
für Kleinstgenossenschaften Erleichterungen zu schaffen. Wir meinen: Dort, wo große Risiken bestehen, muss
man hart durchgreifen, aber dort, wo es sich um kleine
Institutionen handelt, die einen sehr begrenzten Bereich
bewirtschaften, ist es auch richtig, bürokratische Lasten
zu reduzieren.
({2})
Ich will aber heute einen anderen, etwas grundsätzlicheren Aspekt thematisieren. Die Bundeskanzlerin sagte
neulich, 80 Prozent der Finanzmarktregulierung seien
gemeistert. Doch diese Angabe basiert auf einer verfehlten Analyse. Als die jetzige Regulierungsagenda beim
G-20-Gipfel 2009 in Pittsburgh skizziert wurde, geschah
das unter Anleitung der Experten, die das Regulierungsregime prägten, das uns in diese Krise geführt hat. Der
Glaube an die Möglichkeit, Risiko zu berechnen, blieb
ungebrochen. So begann eine Bekämpfung von Symptomen, die noch heute die Regulierungsagenda dominiert.
Der Fehler dieser Agenda von Pittsburgh war der
Glaube, dass man die Komplexität an den Finanzmärkten mit immer komplexeren Regeln bekämpfen kann.
Ich finde, es ist Zeit, zu erkennen, dass das nicht funktioniert.
({3})
Werden die vielen Gesetze, die wir in der vergangenen Legislaturperiode durch den Bundestag gebracht haben, eine neue Krise verhindern? Ich bin da sehr skeptisch. Tatsächlich ist die Wahrscheinlichkeit einer
Finanzkrise heute leider nicht geringer als vor fünf Jahren. Die Finanzmärkte sind größer als 2007; sie sind
schneller und komplexer geworden. Nach Berechnungen
der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich sind
weltweit Anleihen im Volumen von gut 100 Billionen
Dollar im Umlauf - das sind 43 Prozent mehr als beim
Ausbruch der Finanzkrise 2008. Christine Lagarde, die
Chefin des Internationalen Währungsfonds, schrieb im
vergangenen Jahr: „Derivatemärkte sind so groß und undurchsichtig wie zuvor.“ Die entscheidenden Reformen
am Finanzmarkt stehen also noch aus. Von wegen
„80 Prozent sind geschafft“! Die große Arbeit, die Finanzmärkte kleiner, langsamer und weniger komplex zu
machen, haben wir noch vor uns.
({4})
Die Finanzaufsichtsbehörden haben häufig keinen
wirklichen Überblick darüber, was auf den Märkten geschieht. Wir Politiker können an vielen Stellen die Umsetzung der von uns beschlossenen Regelungen und ihre
Wirkung in der Praxis nicht ausreichend nachvollziehen.
Komplexe Regulierung und komplexe Finanzmärkte bedingen sich hier gegenseitig. Wir Grünen plädieren deshalb für eine neue Regulierungsagenda, die auf einfachere, aber harte Regelungen setzt.
({5})
Eine solche Regulierung ist möglich. Dazu gehört ganz
zentral wesentlich mehr Eigenkapital, damit Verluste
dort anfallen, wo der Gewinn landet, nämlich bei den Eigentümern der Finanzinstitute. Es geht um ein Steuersystem, mit dem die Privilegierung von Fremdkapital
überwunden wird, ein solides Trennbankensystem, das
zusammen mit der europäischen Bankenunion wirklich
eine Abwicklung auch größerer Banken ermöglicht, ein
Verbot des parasitären Hochfrequenzhandels und vor allem klare Haftungsregeln.
({6})
Was jetzt ansteht, ist, eine neue Regulierungsagenda
auf den Weg zu bringen, die die Finanzmärkte kleiner,
langsamer und weniger komplex macht. Hierzu erwarten
wir Initiativen der Bundesregierung.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Dr. Philipp
Murmann, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Besucher! Meine Damen und Herren!
Wir sind noch bei der Abarbeitung der Krise von 2008 das ist sicherlich richtig. Es ist natürlich bedenkenswert,
woran Wolfgang Schäuble erinnerte, als er neulich bei
uns im Ausschuss war: Der internationale Bankensektor
hat unserer Gesellschaft, der Wirtschaft und der Politik
in den letzten Jahren tatsächlich viel zugemutet.
Herr Schick, ich gebe Ihnen insoweit recht, dass es sicherlich auch notwendig ist, an die Wurzeln der Problematik heranzugehen. Aber Ihrer Behauptung, man könne
zukünftige Krisen allein durch Regulierungen und immer weiter gehende Regulierungen vermeiden, kann ich
mich nicht anschließen. Im Moment müssen wir erst einmal dafür sorgen, dass eine Krise, wie sie das letzte Mal
eingetreten ist, sich nicht wiederholen kann. Ich denke,
dazu sind inzwischen viele Maßnahmen ergriffen worden, Maßnahmen, die unser Finanzsystem insgesamt
deutlich stabilisiert haben.
({0})
Was brauchen wir? Wir brauchen sicherlich die Rückkehr zu mehr Verantwortung im Bankensektor; das ist
ein ganz zentrales Element. Sie haben einige Beispiele
genannt. Die Eigenkapitalbildung ist sicherlich ein wichtiger Aspekt, den wir ja auch aufgreifen. Man darf es
aber auch nicht übertreiben; denn sonst kann das Bankensystem für unsere Wirtschaft nicht die Rolle erfüllen,
die es erfüllen muss, nämlich Kredite zu vergeben, Risiken einzugehen und viele Dinge mehr.
In unserem Grundgesetz steht:
Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich
dem Wohle der Allgemeinheit dienen.
Diesen Aspekt müssen wir bei all dem, was wir tun, immer berücksichtigen. Natürlich müssen wir das auch den
Banken und all denen, die in diesem System arbeiten,
immer wieder mit auf den Weg geben; denn sie sind Eigentümer von zum Teil großen Instituten und tragen deswegen natürlich eine erhebliche Verantwortung.
Die Regulierung, die wir nun auf den Weg bringen,
besteht im Wesentlichen aus drei Elementen: Haftung
durch Eigenkapital, Eigentümer in die Verantwortung
zwingen und Reserven aufbauen. Das Aufbauen von Reserven durch die Bankenabgabe ist ein wichtiges Element - über eine europäische Bankenabgabe wird diskutiert -, mit dem wir das Finanzsystem insgesamt robuster
gegenüber einer eventuellen neuen Krise machen können.
Der Gesetzentwurf zur Anpassung von Gesetzen auf
dem Gebiet des Finanzmarktes, den wir heute verabschieden, enthält viel Technik; das haben wir schon von
verschiedenen Seiten gehört. Wir haben im Ausschuss
zu dem Ursprungsgesetzentwurf acht Änderungsanträge
eingebracht; die Linken übrigens überhaupt keinen. Angesichts der Kritik, die sie hier vortragen, darf man das
sicherlich sagen. Herr Troost hat an dem gemeinsamen
Berichterstattergespräch teilgenommen und mehreren
dieser Änderungsanträge, die wir gemeinsam verabredet
haben, zugestimmt.
({1})
Wie gut unsere Große Koalition zusammenarbeitet,
können Sie daran erkennen, dass Herr Zöllmer und ich
unter anderem am Himmelfahrtswochenende miteinander telefoniert haben, um uns abzustimmen,
({2})
und daran, dass genau die Punkte, die Herr Zöllmer genannt hat, auch auf meinem Zettel stehen.
({3})
Auch ich bzw. wir glauben, dass diese Elemente von
großer Relevanz sind:
Ein wesentliches Element sind die drei Kategorien bei
den Mandaten: erstens die systemrelevanten großen
Banken - das sind nur 35 -, zweitens die Banken von erheblicher Bedeutung, die eine Bilanzsumme zwischen
15 und 30 Milliarden Euro ausweisen, und drittens die
1 800 neuen Kleininstitute, die wir sozusagen in die alte
Regelung zurückführen und damit aus der Überregulierung - so sage ich es einmal - herausnehmen.
Das zweite wesentliche Element ist, die Kernkapitalbildung bei den Banken zu ermöglichen. Dadurch werden,
so wurde es uns gesagt, für die Banken auch für den Krisenfall 1,3 Milliarden Euro mehr Kernkapital verfügbar
sein. Ich denke, auch das ist eine sinnvolle Sache. Ganz
herzlichen Dank an alle, die daran mitgearbeitet haben.
Zum Schluss möchte ich anmerken, dass es auch darum geht, dass unsere Banken international wettbewerbsfähig bleiben. Herr Schick, es kann doch nicht
sein, dass wir hier in Deutschland wild vor uns hinregulieren - so sage ich es einmal - und das am Ende dazu
führt, dass unser deutsches Bankensystem auf dem Weltmarkt nicht mehr agieren kann. Wenn Sie sich die Größenordnung, um die es bei den amerikanischen Banken
geht, vor Augen führen, stellen Sie fest, dass es sich dabei um ganz andere Dimensionen handelt als bei uns, vor
allem, da es bei uns ja viele Kleininstitute gibt.
Aus meiner Sicht ist es wichtig, dass unsere Banken
wettbewerbsfähig bleiben. Sie müssen vor allen Dingen
für unseren starken Mittelstand Kapital zur Verfügung
stellen und Risiken finanzieren. Wenn wir mehr Gründer
in Deutschland haben wollen und wenn wir wollen, dass
unsere Unternehmen in neue Technologien investieren,
brauchen wir an deren Seite Banken, die in der Lage
sind, dafür Kapital zur Verfügung zu stellen.
({4})
Deswegen müssen wir für eine gute Balance sorgen, um
diese Möglichkeiten nicht zu verschenken.
Nochmals herzlichen Dank für die gute Diskussion.
Ich bitte um Zustimmung zu dem Gesetzentwurf, in den
unsere sehr guten Änderungsanträge eingeflossen sind.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank. - Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der
Kollege Christian Petry.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Murmann, dass Sie mit Herrn Zöllmer am
Himmelfahrtswochenende telefoniert haben, ist sehr
schön. Ich kann auch etwas bieten: Mit Herrn Güntzler
habe ich mich beim Fußballspielen ausgetauscht. Insoweit hat die Zusammenarbeit hervorragend funktioniert.
({0})
Dieser Gesetzentwurf bezieht sich auf eine Reihe von
Gesetzen. Er steht in einer Linie mit anderen Gesetzen,
mit denen wir mehr Transparenz, mehr Verbraucherschutz, mehr Aufsicht und mehr Sicherheit in die Finanzmärkte bringen. Wir waren in Brüssel und haben
uns dort informiert. Dort haben wir die Information erhalten, dass es mittlerweile über 100 verschiedene Regelungen gibt, mit denen die Finanzmärkte stärker reguliert
werden sollen, damit solche Krisen wie die der Vergangenheit nicht wieder auftreten. Wir haben die Aufgabe,
das nationale Recht anzupassen; das ist ja schon gesagt
worden.
Diese erforderliche Umsetzung bzw. Anpassung betrifft neben vielen anderen Gesetzen auch das Kapitalanlagegesetzbuch. Wir wollen dabei zwischen Erleichterungen und Kontrollen die Balance wahren, damit
niemand durch eine zu harte Prüfung Erschwernisse hinnehmen muss oder unter Umständen am Ende in dem
Bereich nicht mehr tätig sein darf.
In diesem Zusammenhang sind, denke ich, die entsprechenden bürgerschaftlichen Engagements in Energiegenossenschaften und genossenschaftliches Engagement insgesamt zu nennen. Wir haben das Thema
Kleinstgenossenschaften ja behandelt; sie sind ein Beispiel. Wir sind davon ausgegangen, dass die BaFin dies
pragmatisch regelt. Wir sind - das wurde genannt - der
Auffassung, dass sich die Prüftiefe an der Größe der entsprechenden Einheit orientieren muss und dass entsprechend der Größe die Maßstäbe hier auch niedriger angelegt werden müssen. Wir haben die entsprechenden
Eignungen bei der Genossenschaft so angelegt, dass eine
Prüfung, sofern sie durch eine andere Behörde oder Organisation, zum Beispiel nach dem Genossenschaftsrecht, bereits vorgenommen worden ist, maßgeblich berücksichtigt wird bzw. in die Entscheidung einfließt.
({1})
Davon gehen wir aus. Ich glaube, dass damit die Balance
zwischen gewünschter Aufsicht und Kontrolle und den
Erleichterungen, die man braucht, um im Rahmen dieses
ehrenamtlichen bürgerschaftlichen Engagements tätig zu
sein, erreicht wird.
Wir werden nach einer Überprüfung durchaus über
weitere Änderungen beraten können. Wir gehen davon
aus, dass es praktikabel ist, wenn Ende 2015 eine entsprechende Überprüfung stattfindet. Dann werden wir
sehen, meine sehr verehrten Damen und Herren, ob das
Gesetz so gewirkt hat, wie wir uns das heute vorstellen.
Wir sind damit aber weiterhin auf einem richtigen Weg
für mehr Verbraucherschutz, für mehr Transparenz, für
mehr Kontrolle und Aufsicht und für sicherere Märkte.
Glück auf!
({2})
Danke schön. - Der Kollege Petry war der letzte Redner in dieser Debatte. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Anpassung von Gesetzen auf dem Gebiet des Finanzmarktes. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/1648, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen
18/1305 und 18/1574 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung von
Bündnis 90/Die Grünen und der Linken angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Gesetzentwurf mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Harald Terpe, Maria Klein-Schmeink,
Elisabeth Scharfenberg, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Mehr Transparenz der Selbstverwaltung im
Gesundheitswesen
Drucksache 18/1462
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({0})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner in der
Debatte hat der Kollege Dr. Harald Terpe, Bündnis 90/
Die Grünen, das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Selbstverwaltung ist das tragende Prinzip bei der Organisation der Sicherstellung der Leistungsfähigkeit unseres Gesundheitswesens; das wissen wir alle. Das ist so
gewollt. Ihre Bedeutung dokumentiert sich deshalb auch
dadurch, dass die Selbstverwaltungskörperschaften gesetzlich als Körperschaften öffentlichen Rechts verankert sind. Der Gesetzgeber hat die Verantwortung für das
Funktionieren des Gesundheitssystems auf diese Selbstverwaltungskörperschaften übertragen und mithin natürlich auch die Verantwortung für fast 200 Milliarden Euro
Versichertengelder und Steuermittel. Allerdings sind sozialrechtlich - besonders im SGB V - eine vielschichtige Zweckbindung und grundsätzlich der Maßstab der
Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit verankert worden. Ich glaube, das ist auch richtig so. Deshalb kann man
sagen: Solidarisch aufgebrachte Beitragsgelder - ich
glaube, darüber sind wir uns alle einig - und Steuergelder müssen dem Solidarsystem zugutekommen und dürfen nicht zweckentfremdet werden.
({0})
Im Rahmen einer Kleinen Anfrage interessierte uns,
ob es eine ausreichende Transparenz bei der Mittelverwendung und eine ausreichende Aufsicht über die Mittelverwendung insbesondere bei den bundesweit agierenden Selbstverwaltungskörperschaften gibt. Seitens
des Bundesministeriums ist auf eine entsprechende
Frage geantwortet worden:
Es besteht keine gesetzliche Regelung, die zu einer
… Veröffentlichung der Jahresrechnungen und
Haushaltspläne
- zum Beispiel des GKV-Spitzenverbandes oder der
KBV verpflichtet oder sie ausdrücklich untersagt.
Die Schlussfolgerung war für uns ein bisschen überraschend - Zitat -:
Für eine Veröffentlichung … sind gesetzliche Änderungen daher nicht erforderlich.
Das sehen wir anders. Wir fordern deshalb aus Gründen
der größeren Transparenz und aus Aufsichtsgründen in
Punkt 1 unseres Antrags eine vollständige Offenlegung
der Haushaltspläne und Jahresrechnungen.
({1})
Anlass für diese Kleine Anfrage waren Medienberichte über Unregelmäßigkeiten im Finanzsektor einer
dieser größeren bundesweiten Körperschaften. Es ging
dort auch um eine Unternehmensbeteiligung. In der Antwort des BMG war interessant, dass das BMG, obwohl
es formulierte, dass es selbst mit Nachdruck auf Aufklärung gedrängt habe, mehr als ein halbes Jahr später noch
nicht abschließend informiert war. Hier wiederholt sich
für uns nicht zum ersten Mal, dass vom Gesetzgeber beauftragte Körperschaften - manchmal sind es auch Stif3434
tungen - nur widerstrebend auskunftsbereit sind. Ich
finde, das darf nicht hingenommen werden.
({2})
Deshalb fordern wir in unserem Antrag speziell zur besseren Transparenz und Aufsicht, dass auch Unternehmensgründungen oder Unternehmensbeteiligungen, die
nicht mit gesetzlichem Auftrag erfolgten, geprüft werden und sich das entsprechende Prüfrecht der zuständigen Rechtsaufsicht auch auf private Gesellschaften
überträgt, bei denen die entsprechenden Selbstverwaltungskörperschaften die Mehrheit haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bitte unterstützen
Sie unseren Antrag. Gern können Sie ihn auch noch verbessern. Er trägt auf jeden Fall zur Transparenz und zur
besseren Aufsicht bei.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({3})
Vielen Dank. - Nächster Redner für die CDU/CSUFraktion ist der Kollege Reiner Meier.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn ich das eben Gesagte auf mich wirken lasse, habe
ich das dringende Bedürfnis, einige Dinge klarzustellen.
Die Selbstverwaltung ist ein bewährtes System, das
im Großen und Ganzen seit Jahrzehnten gut funktioniert.
Es ist ein Markenzeichen der guten Sozialpartnerschaft
in unserem Land, dass sich Versicherte, Leistungserbringer und Beitragszahler an einen Tisch setzen und die
Angelegenheiten der gesetzlichen Krankenversicherung
weitgehend eigenständig regeln. Ich halte es auch für
richtig, dass sich der Staat auf die Rechtsaufsicht beschränkt. Das bürokratische Monster, das wir hätten,
wenn sich der Staat in jede kleine Sachentscheidung einmischen würde, möchte ich mir besser nicht vorstellen.
Wie wir alle wissen, gab es auch in der Vergangenheit
unschöne Einzelfälle. Ich denke da besonders an die
Vorgänge um die Bürogebäude der Kassenärztlichen
Bundesvereinigung hier in Berlin. Zu diesen Vorgängen
hat das Bundesministerium für Gesundheit unverzüglich
eine Prüfung eingeleitet, die gegenwärtig noch andauert.
({0})
Allein die Tatsache, dass diese Kontrollen laufen, zeigt
doch, dass die Rechtsaufsicht bereits heute gut funktioniert. Genau deshalb ist es noch zu früh, um reflexartig
nach mehr Kontrolle, nach schärferen Vorschriften zu rufen.
({1})
Lassen Sie uns doch erst einmal das Ergebnis dieser Untersuchung abwarten, bevor wir über gesetzliche Schlussfolgerungen diskutieren, meine Damen und Herren.
({2})
Ich darf Sie übrigens daran erinnern, dass es die
christlich-liberale Bundesregierung war, die in den
letzten zwei Jahren die einschlägigen Vorschriften im
SGB IV deutlich verschärft hat. Ein besonderer Schwerpunkt war zum Beispiel die Vorstandsvergütung. Seit der
Gesetzesänderung müssen die Arbeitsverträge aller Vorstände vom Ministerium genehmigt werden; sonst werden
sie unwirksam. Die Genehmigung erteilt das Ministerium aber nur, wenn das Vorstandsgehalt in einem angemessenen Verhältnis zu den Aufgaben des Betreffenden
steht. Überzogene Gehälter wird es deshalb also nicht
mehr geben. Auch Mietverträge zum Beispiel für Bürogebäude können die Selbstverwaltungskörperschaften nicht
mehr frei nach Belieben abschließen. Ab einer bestimmten Fläche und einer Mietdauer von zehn Jahren muss
der Mietvertrag dem Ministerium vorgelegt werden. Damit haben wir langfristige und teure Verpflichtungen
wirksam unterbunden.
Ich meine, wenn Ihnen wirklich etwas an Transparenz
in der Selbstverwaltung läge, hätten Sie diesen Änderungen vor einem Jahr in diesem Hohen Hause Ihre Zustimmung geben müssen. Das haben Sie aber nicht getan.
Das sagt schon einiges aus.
({3})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn wir
über Selbstverwaltung sprechen, dürfen wir das nicht
mit einem Tunnelblick tun und uns nur auf Einzelaspekte in der Gesundheitsverwaltung oder im Gesundheitswesen fokussieren. Stattdessen sollten wir das System der Selbstverwaltung als Ganzes betrachten.
({4})
Wir haben uns im Koalitionsvertrag vorgenommen, die
Selbstverwaltung weiterzuentwickeln und insbesondere
die Sozialwahlen zu modernisieren. Die Stichworte dazu
lauten „Onlinewahlen“ und „mehr Direktwahlen“, vor
allem in der gesetzlichen Krankenversicherung.
({5})
Die Selbstverwaltung soll wieder stärker in das Bewusstsein rücken, damit möglichst viele Menschen von ihrem
Wahlrecht Gebrauch machen.
({6})
Mit Blick auf meine Redezeit lege ich Ihnen hierzu den
Schlussbericht zu den Sozialwahlen 2011 ans Herz, der
diese Thematik sehr gut darstellt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die konsequente Weiterentwicklung der Selbstverwaltung ist für
uns ein zentrales Thema, das wir in all seinen Facetten
anpacken werden. Wenn die laufenden Untersuchungen
der Unregelmäßigkeiten abgeschlossen sind, werden wir
daraus selbstverständlich unsere Schlüsse ziehen. Der
heutige Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von den
Grünen, ist aber verfrüht. Er bleibt auch den Nachweis
schuldig, dass die derzeitigen Regelungen unzureichend
sind. Da habe ich bessere Schaufensteranträge von Ihnen
aus der letzten Zeit in Erinnerung.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Harald Weinberg,
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Grünen haben
einen Antrag vorgelegt, dessen Titel hohe Ansprüche
weckt. „Mehr Transparenz der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen“ - diese hohen Erwartungen kann Ihr
Antrag meines Erachtens nicht ganz erfüllen, da lediglich die Rechnungsprüfung, nicht aber das sonstige Handeln der Selbstverwaltung transparenter würde. Dennoch
geht dieser Antrag aus unserer Sicht völlig in Ordnung.
Er wird von den Linken wohlwollend begleitet werden.
({0})
Was war Anlass für diesen Antrag? Die Kassenärztliche Bundesvereinigung, die KBV, wollte beim Umzug
von Köln nach Berlin ein neues Gebäude beziehen. Die
Aufsicht lehnte dies ab. Daraufhin gründete die KBV gemeinsam mit einer Bank eine Partnerschaft, die die Immobilie baute und dann an die KBV vermietete. Im Rahmen dieser intransparenten Geschäfte kam es sogar zu
einigen strafrechtlichen Ermittlungen wegen Steuerhinterziehung. Die Aufsichtsbehörde bekam von vielem erst
viel später etwas mit, weil es bislang keine ausreichende
Verpflichtung gibt, relevante Rechnungslegungsdaten
oder Unternehmensbeteiligungen an die Aufsichtsbehörde zu übermitteln. Die Aufsichtsbehörde ist in dieser
Frage also quasi blind. Das ist die Situation, vor der wir
stehen.
({1})
Wenn der Bundestag diesen Antrag annähme, dann
würde sich dies ändern. Man würde die Selbstverwaltung damit nicht schwächen, sondern meines Erachtens
sogar stärker machen, weil glaubwürdiger.
({2})
Die Jahresrechnungen und die Haushaltspläne des Gemeinsamen Bundesausschusses, des GKV-Spitzenverbandes, der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung
und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung müssten
veröffentlicht werden. Es geht schließlich um Körperschaften des öffentlichen Rechts - das ist bereits gesagt
worden -, die sich aus Geldern der gesetzlich Krankenversicherten finanzieren. Außerdem müssten diese Körperschaften die Absicht zur Ausgründung privatrechtlichter Unternehmen der jeweiligen Aufsichtsbehörde
anzeigen und zur Genehmigung vorlegen.
Zusätzlich wird mit diesem Antrag ein Prüfrecht der
Aufsichtsbehörde bei Ausgründungen gefordert. Hätte
es diese Regelung schon vor 15 Jahren gegeben, dann
hätte sich die Kassenärztliche Bundesvereinigung nicht
über eine Ausgründung eine Immobilie kaufen können,
deren Erwerb von der Aufsicht zuvor untersagt worden
war.
Nur am Rande: Der GKV-Spitzenverband ist nach eigenen Angaben - wir haben mit ihm darüber diskutiert mit diesem Antrag einverstanden, wenngleich er bislang
nicht selbsttätig und proaktiv alle Haushaltsberichte und
Jahresrechnungen veröffentlicht hat. Es gibt bisher
schließlich kein Gesetz, das die Veröffentlichung untersagt. Insofern hätten die Verbände schon mehr Transparenz zeigen können. Da sie dies bisher nicht getan haben,
halte ich es für erforderlich, dass man sie gesetzlich dazu
verpflichtet.
({3})
Ich gehe davon aus, dass nicht nur der GKV-Spitzenverband, sondern auch der Gemeinsame Bundesausschuss, die Kassenärztliche Bundesvereinigung und die
Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung nichts gegen
diese neue Transparenz einwenden werden; denn im
Kern geht es ja darum, die Versichertengelder wirtschaftlich, solidarisch und transparent einzusetzen.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist der Kollege Dirk
Heidenblut, SPD.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Mehr Transparenz der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen“, so lautet der Titel des plakativen Antrags,
der heute eingebracht wurde.
({0})
Ich denke, es ist gar keine Frage: Das System der
Selbstverwaltung mit seiner enormen Verantwortung für
fast 200 Milliarden Euro Versichertengelder - auch ich
will hier nicht vergessen: einschließlich der Steuergelder baut vor allen Dingen darauf, dass die Versicherten auf
das Verantwortungsbewusstsein der Handelnden vertrauen dürfen und dass diese die Mittel im Bewusstsein
der Verantwortung zielgerichtet, wirtschaftlich, sparsam
und mit der gebotenen Effizienz gerade auch im Verwaltungshandeln - das ist hier ja häufig der strittige Punkt verwenden.
({1})
Immer wieder liest oder hört man, dass dies womöglich nicht geschieht - der Kollege Meier hat schon darauf hingewiesen - oder verbesserungsbedürftig ist.
Meist sind es die Verwaltungen der Selbstverwaltung,
die dabei in der Diskussion stehen. Es gibt aber auch
konkrete Erkenntnisse - wie zuletzt bei der KBV -, dass
etwa die Wirtschaftlichkeit und die erwartete zielgerichtete Verwendung nicht gegeben sind. Neben solchen
konkreten Erkenntnissen oder zumindest begründeten
Verdachtsmomenten gibt es auch so etwas - ich denke,
das ist bei diesen Summen ganz klar - wie ein gesundes
Misstrauen. Das ist hier quasi systemimmanent. Umso
mehr ist der Wunsch nach größtmöglicher Transparenz
und einer darauf fußenden effektiven Aufsicht und Aufklärung von möglichen Problemen verständlich und
- um das auch zu sagen - zunächst einmal durchaus berechtigt.
Transparenz schafft Vertrauen, beseitigt vor allen
Dingen das unwohle Bauchgrummeln und hilft nicht zuletzt, vor tatsächlichen Problemen zu schützen oder
schnell zur Klärung von Sachverhalten beizutragen. Daher kann man nicht deutlich genug sagen: Die Forderung
nach Transparenz - gerade in Bezug auf das Finanzgebaren aller Beteiligten - findet ganz sicher politische Zustimmung, muss aber eigentlich auch ein klares Anliegen der Selbstverwaltung sein.
({2})
Der von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung letztlich selbst aufgedeckte Fall belegt, dass das auch so ist.
Strittig bei der Diskussion zu diesem Antrag kann
aber sicherlich sein, wie tatsächlich mehr Transparenz
geschaffen werden kann, nicht nur scheinbare Transparenz aufgrund einer völlig verwirrenden Informationsflut. Da haben wir im Gesundheitsbereich durchaus das
eine oder andere Beispiel, wo am Ende für den Versicherten und auch den Betreuten keine Transparenz mehr
vorhanden war.
Natürlich ist auch die Frage, wie man die vorhandene
Transparenz bewertet und deren Wirksamkeit einschätzt.
({3})
Dass Fehlverhalten offenkundig wird und letztlich zu
Korrekturen führt, ist ein Zeichen dafür, dass wir hier
keinesfalls über ein komplett intransparentes System reden. Das signalisiert erfreulicherweise auch der Antrag;
denn „mehr Transparenz der Selbstverwaltung“ heißt ja:
Es gibt bereits Transparenz im System.
Die Diskussion über Transparenz sollte nicht als
grundsätzliches Misstrauen in die durchaus gut aufgestellte Selbstverwaltung missdeutet werden. Die Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage der Grünen,
die diesem Antrag letztlich zugrundeliegt, macht deutlich - da muss ich Ihnen widersprechen -, dass die Aufsicht keineswegs blind ist.
({4})
Alle Abschlüsse der Körperschaften werden extern von
renommierten Wirtschaftsprüfungsgesellschaften geprüft. Ergeben sich daraus Beanstandungen oder weiterer Prüfungsbedarf - das macht der zuletzt erkennbar gewordene Fall sehr deutlich -, werden ergänzende
Prüfungen beauftragt, und es wird eine Klärung herbeigeführt. Diese kann natürlich eine gewisse Zeit dauern.
Das zuständige Ministerium reagiert ebenfalls in angemessener Form. Wie der Antragsteller aus der umfassenden und sehr detaillierten Antwort der Bundesregierung, die mehr als deutlich macht, wie ernst das
Ministerium seine Aufsicht nimmt und wie klar die Erkenntnisse sind, schließen kann, dass die Bundesregierung an mehr Transparenz nicht interessiert sei, erschließt sich zumindest mir nicht wirklich.
Der Hinweis, dass mehr Transparenz, also etwa die
Offenlegung von Jahresabschlüssen, eine gesetzliche
Regelung nicht entgegensteht, kann so kaum gedeutet
werden. Vielmehr macht das zuständige Ministerium in
seiner Antwort deutlich, wie gut die Erkenntnisse sind,
wie damit umgegangen wird und dass die Bundesregierung die Aufgaben, die sich aus der schon lange bestehenden Transparenz ergeben, sehr ernst nimmt. Selbstherrlichkeit im Umfang mit Versichertengeldern - da
sind wir absolut sicher - wird keinesfalls geduldet.
({5})
Es ist sicherlich auch richtig und im Sinne der Interessen der Versicherten, dass Transparenz nicht nur für die
Körperschaften selbst, sondern auf jeden Fall auch für
deren Beteiligungen gelten muss, soweit hier nicht unwesentlich Mittel der Körperschaft eingesetzt oder in
Haftung genommen werden oder in Haftung genommen
werden können, wobei sich hier, je nach Art der Beteiligung, zum Teil aus anderen gesetzlichen Regelungen
schon Vorschriften ergeben können.
Wir haben ein gutes Gesundheitssystem, gerade auch
wegen der Besonderheit der Selbstverwaltung. Aber wir
haben auch dafür Sorge zu tragen, dass Mittel, die von
Versicherten aufgebracht werden, nur insoweit erhoben
werden, wie sie für das Gesundheitssystem tatsächlich
nötig sind, und daher auch nur genau dort eingesetzt
werden. Das schränkt den Spielraum für die Mittelverwendung ganz klar und deutlich ein. Es ist unsere
Pflicht, immer wieder genau hinzuschauen, ob sich die
Selbstverwaltung an diese Vorgabe hält.
Wir werden uns im Ausschuss mit dem Antrag eingehend auseinandersetzen. Ob er letztlich tatsächlich ein
Mehr an Transparenz ermöglicht, ob das dort Beschriebene dem wirklich gerecht wird und wie das im Verhältnis zu bestehenden Regelungen, aber auch zu den gesetzlichen Rahmenbedingungen am Ende zu bewerten
ist, das wird die weitere Diskussion zeigen.
Uns ist wichtig: Die, die am Ende die Kosten zu tragen haben, müssen neben allem nötigen Vertrauen in die
Selbstverwaltung - ohne das geht es im Gesundheitssystem nicht - auch die Sicherheit haben, dass das bereitgestellte Geld dem richtigen Zweck dient. Wir als SPDFraktion und damit auch die Große Koalition setzen
- das macht der Koalitionsvertrag mehr als deutlich auf eine gute und fortschrittliche Weiterentwicklung des
Gesundheitswesens.
({6})
Wir setzen auf Qualität und Transparenz und damit ganz
klar auf eine ordnungsgemäße Mittelverwendung, die
genau diesen Kriterien entspricht.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank. - Jetzt erhält die Kollegin Karin Maag,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Beim Antrag der Grünen, lieber Harald Terpe, handelt es
sich sehr wohl um das Erbe von Biggi Bender, die die
Aufdeckung im Zusammenhang mit den Unregelmäßigkeiten bei der KBV mit viel Herzblut betrieben hat. Ihr
führt ihre Arbeit jetzt einem Ergebnis zu.
Bei der KBV ging es im Wesentlichen um unprofessionelles Wirtschaften und fehlende interne und externe
Genehmigungen. Ein finanzieller Schaden ist, soweit die
Ermittlungen bisher gediehen sind, allerdings nicht entstanden. Die KBV hat übrigens diese Fehler und Versäumnisse eingeräumt. Das Ministerium prüft intensiv
und nachhaltig. Die Prüfung ist noch nicht abgeschlossen. Aber bislang ist von der Rechtsaufsicht noch kein
Grund für die endgültige Versagung der fehlenden Genehmigungen gesehen worden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, ich
bin versucht, zu Ihrem Antrag Ja zu sagen.
({0})
Ich bin versucht;
({1})
aber der Antrag schießt doch über das Ziel hinaus.
Ich gebe zu: Auch mich ärgert es, wenn mit solchen
Fehlern die gesamte Selbstverwaltung in ein schiefes
Licht gebracht wird. Die Selbstverwaltung - das haben
Sie deutlich gemacht - ist ein tragendes System dieses
Gesundheitswesens. Deshalb muss jeder Anschein vermieden werden, dass mit den Mitteln der Beitragszahler,
aber auch der Leistungserbringer und der Verbände nicht
sorgfältig genug umgegangen wird. Die Frage, ob diese
Mittel tatsächlich zur Erfüllung der gesetzlich vorgeschriebenen Aufgaben verwendet werden, stellt sich natürlich nicht nur in dem beschriebenen Fall. Ich denke
auch an eine Krankenversicherung, die laut Zeitungsberichten als Sponsor der deutschen Handball-Nationalmannschaft 700 000 bis 1 Million Euro ausgibt. Ich
meine, es ist grundsätzlich richtig, solche Fragen zu stellen. Ob die Körperschaften ihren Handlungs- und Ermessensspielraum verlassen haben, klären aber nicht wir
oder die Öffentlichkeit, sondern immer noch die Aufsichtsbehörden. Deswegen hilft der Antrag nicht wirklich weiter.
Welche weiteren Vorteile zum Beispiel aus der Veröffentlichung der Jahresrechnung oder der Haushaltspläne
erreicht werden, erschließt sich mir aus Ihrem Antrag
nicht unbedingt. Die Haushalte der KBV, der KZBV und
des GKV-Spitzenverbandes machen nämlich nur einen
sehr kleinen Teil der 194 Milliarden Euro Gesamtausgaben aus. Darüber werden natürlich nicht nur die Mittel
der GKV abgewickelt. Worin liegt denn der Nutzen für
die Öffentlichkeit, wenn sie weiß, wie viel Geld die
KBV beispielsweise für IT-Systeme oder Personal ausgibt? Die Rechtsaufsicht kennt die Zahlen. Die Öffentlichkeit kann damit nichts anfangen.
Wenn es um die Beteiligung an privatrechtlichen Unternehmen geht, gilt die Verordnung über das Haushaltswesen in der Sozialversicherung, die ausreichende
Schutzmechanismen enthält.
Es ist auch nicht Sache der Rechtsaufsicht, Fragen zur
Zweckmäßigkeit zu stellen. Selbstverwaltung gibt Gestaltungsfreiheit. Diese muss man aber auch zulassen
und gegebenenfalls sogar ertragen. Der Rechtsaufsicht
vorgeschaltet - auch das darf man nicht vergessen - sind
die Kontrollen durch die internen Gremien, die Vertreterversammlung und die Verwaltungsräte. Wofür die jeweiligen Körperschaften Geld ausgeben dürfen bzw. die
Aufgaben, die sie mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu erfüllen haben, sind gesetzlich festgelegt.
Ein Vorstand, der bewusst dagegen verstößt, riskiert
nicht nur strafrechtliche Konsequenzen, sondern muss
persönlich für diesen Schaden haften.
Was die Frage betrifft, wie die Kassen geprüft werden:
Das Bundesversicherungsamt und die Landesversicherungsämter prüfen zusätzlich für die Kassen mindestens
alle fünf Jahre Geschäfts-, Rechnungs- und Betriebsführung. Das BMG prüft mindestens alle fünf Jahre beim
GKV-Spitzenverband und bei der KBV. Der Bundesrechnungshof ist beteiligt. Ich meine, wir haben ausreichend Sicherungssysteme eingebaut. Falls der Vorstand
wirklich versuchen sollte, diese Regeln zu umgehen,
wird es jedenfalls nicht im Haushaltsplan widergespiegelt.
Meines Erachtens sind die Regelungen detailliert. Die
Rechtsaufsicht funktioniert. Dass sie funktioniert, beweist gerade der Fall der KBV. Die Rechtsaufsicht ist ihren Aufsichtsbefugnissen umfassend und nachdrücklich
nachgekommen, und die KBV hat entsprechende Konsequenzen gezogen. Das Fehlermanagement wurde verbessert, eine Sonderprüfung veranlasst. Es gibt jetzt eine
Innenrevision. Ich kann aber zusagen: Wenn am Ende
die Prüfung zeigen sollte, dass noch Handlungsbedarf
besteht, werden wir entsprechende Änderungen vorantreiben.
Ich will zusammenfassen. Dort, wo Probleme bestehen, schaffen wir Abhilfe. Der Kollege hat an die Neuregelung der Vorstandsbezüge erinnert. Wir sollten unsere
Energie aber vor allem darauf verwenden, die Versorgung zu verbessern; das ist die wichtige Aufgabe. Noch
mehr Verwaltungsvorschriften, die möglicherweise dazu
dienen, auch die Rechtsaufsicht zu kontrollieren, sind für
uns jedenfalls keine Option.
Danke schön.
({2})
Vielen Dank. - Das war die letzte Rednerin in dieser
Debatte. Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/1462 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Achten
Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches
Sozialgesetzbuch - Ergänzung personalrechtlicher Bestimmungen
Drucksachen 18/1311, 18/1586
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({0})
Drucksache 18/1651
- Bericht des Haushaltsausschusses ({1})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Drucksache 18/1652
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Erster Redner in der Debatte ist der Kollege
Dr. Martin Rosemann, SPD-Fraktion.
({2})
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu dieser späten Stunde beraten wir abschließend
über den Entwurf eines Achten Gesetzes zur Änderung
des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch. Es geht um drei
unterschiedliche Aspekte personalrechtlicher Bestimmungen. Es geht um drei Regelungen, die für Klarheit
und Rechtssicherheit für die Arbeit der Jobcenter sorgen
sollen. Erstens geht es um die Zuständigkeit bei datenschutzrechtlichen Ordnungswidrigkeiten. Es gibt bisher
eine unklare sachliche Zuständigkeit für die Verfolgung
und Ahndung bei datenschutzrechtlichen Ordnungswidrigkeiten. Die Klarstellung, die durch das Gesetz der
Bundesregierung hier vorgenommen werden soll, besteht darin, dass für kommunale Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter in den gemeinsamen Einrichtungen die
oberste Landesbehörde sowie für die Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter der Bundesagentur für Arbeit das Ministerium für Arbeit und Soziales zuständig ist.
Zweitens geht es um Erstattungsansprüche der Träger
der Grundsicherung gegenüber der Rentenversicherung.
Das Problem, das sich dahinter verbirgt, ist, dass insbesondere nach einem Urteil des Bundessozialgerichts
vom 31. Oktober 2012 Unsicherheit über die Entstehung
von Erstattungsansprüchen der Jobcenter besteht. Es
geht um den Fall, dass ein Jobcenter, also der Träger der
Grundsicherung, in Vorleistung durch Leistungen des
SGB II getreten ist und es dann rückwirkende Leistungen durch den Rententräger - konkret: Erwerbsminderungsrenten - gibt. Hier wird durch das Gesetz klargestellt, dass es in Zukunft einen Rückerstattungsanspruch
der Träger der Grundsicherung, also der Jobcenter, gegenüber den Trägern der Rentenversicherung gibt.
Drittens geht es - das ist wohl der politisch bedeutendste Punkt - um die Verstetigung der Zuweisung von
Tätigkeiten und damit von Personal bei den gemeinsamen Einrichtungen. Hintergrund ist, dass die Regelungen zur gesetzlichen Erstzuweisung von Tätigkeiten in
die gemeinsamen Einrichtungen bis Ende 2015 befristet
sind und dass daher dringend eine neue Rechtsgrundlage
geschaffen werden muss. Die Lösung, die uns mit dem
Gesetzentwurf der Bundesregierung vorliegt, ist, eine
unbefristete Rechtsgrundlage für die Zuweisung der
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in die Jobcenter zu
schaffen, und zwar für bereits in den Jobcentern tätige
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Zukunft ohne
Zustimmung des Geschäftsführers oder der Geschäftsführerin und für neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
weiterhin mit Zustimmung des Geschäftsführers oder
der Geschäftsführerin der jeweiligen Grundsicherungsstelle. Bei dringendem dienstlichen Interesse ist in Zukunft auch eine Zuweisung ohne die Zustimmung des
Betroffenen möglich - allerdings, und das betone ich:
nur bei dringendem dienstlichen Interesse. Damit werden die Hürden sehr hoch gelegt. Die Möglichkeit der
Rückkehr der Beschäftigten in die Kommune oder die
Bundesagentur für Arbeit bleibt durch die gesetzliche
Neuordnung unberührt.
Mit diesen Lösungen sorgen wir für eine Verstetigung
des Personals in den Jobcentern. Wir schaffen damit
mehr Sicherheit für die Mitarbeiterinnen und MitarbeiDr. Martin Rosemann
ter, Planungssicherheit für ihre berufliche Zukunft, aber
auch in privater Hinsicht. Wir schaffen weiterhin Sicherheit für die Jobcenter selbst hinsichtlich ihrer Personalentwicklung, und wir sorgen damit auch dafür, dass der
Betreuungsprozess der Kundinnen und Kunden in den
Jobcentern kontinuierlicher erfolgen kann.
({0})
Das ist besonders wichtig, weil der Erfolg des Betreuungsprozesses gerade von der Beziehung des Betreuers
zum Kunden abhängt. Darüber hinaus ist es so, dass wir
durch die dauerhafte Zuweisung erst die Grundlage dafür legen, dass vernünftige Personalentwicklung und
Personalqualifizierung in den Jobcentern betrieben werden kann. Das ist eine zentrale Voraussetzung für einen
guten Betreuungs- und Beratungsprozess.
({1})
Warum ist das so wichtig? Es handelt sich bei der Arbeit, die die Menschen in den Jobcentern verrichten, um
eine Dienstleistung von Menschen an Menschen. Es
handelt sich um eine Dienstleistung gegenüber Kundinnen und Kunden mit häufig sehr komplexen Problemlagen und Vermittlungshemmnissen. Das stellt sehr hohe
Anforderungen an die Leute, die in den Jobcentern arbeiten, an ihre soziale Kompetenz, die sehr hoch sein
muss, an ihre Empathie, Gesprächsführung und ihre
Konfliktfähigkeit.
Es setzt voraus, dass die Leute, die in den Jobcentern
arbeiten, auch komplexe Problemlagen erkennen. Es
setzt voraus, dass sie gemeinsam mit den Kunden Problemlösungsstrategien entwickeln und mit den Kunden
die Problemlösung dann auch angehen. Es setzt voraus,
dass man erkennt, wenn eine Problemlösungsstrategie
eben nicht zum Ziel führt, und dass man dann in der
Lage ist, diese zu ändern. Es setzt voraus, dass man
weiß, welche Instrumente, welche Hilfe man einsetzen
kann, um Menschen wieder Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt zu vermitteln. Es setzt eine gute Kenntnis der
Arbeitsmarktlage und die Kenntnis vieler unterschiedlicher Berufe voraus.
Das ist in meinen Augen eine Qualifikationsanforderung, die sehr komplex ist, was häufig der Öffentlichkeit
und auch vielen hier im politischen Raum nicht so klar
ist.
({2})
Das macht deutlich, dass es gerade auf einen guten und
auf einen stabilen Personalkörper in den Jobcentern ankommt.
Wir schaffen mit dem heutigen Gesetzentwurf wichtige Grundlagen, um an der Ausgestaltung und Qualität
dieses Personalkörpers weiterzuarbeiten. Wir wissen
auch, dass das nur die ersten Grundlagen sind, dass wir
als politisch Verantwortliche in Regierung und Parlament aufgerufen sind, daran weiter zu arbeiten. Ich
glaube, dass gute Betreuungsschlüssel und eine gute
Qualität der Betreuung durch qualifiziertes Personal
letztlich die beste Voraussetzung dafür sind, um Langzeitarbeitslosen in Deutschland wieder eine bessere Perspektive zu geben.
Wir legen dafür heute die Grundlagen, und ich
begrüße ausdrücklich, dass das Bundesministerium für
Arbeit und Soziales auch mit einem eigenen Gutachten
die Personalsituation in den Jobcentern, insbesondere im
Leistungsbereich, genauer unter die Lupe nimmt. Ich
denke, wir müssen gemeinsam die Voraussetzungen weiter dafür schaffen, in die Qualität der Betreuung und in
die Qualität des Personals in den Jobcentern zu investieren.
Herzlichen Dank.
({3})
Vielen Dank. - Für die Fraktion Die Linke erhält jetzt
die Kollegin Sabine Zimmermann das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Heute geht es wieder einmal um die Arbeitsfähigkeit der Jobcenter. Ich muss Ihnen sagen: Uns allen
muss es doch eigentlich darum gehen, dass wir gute,
qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben, die
gute Arbeitsbedingungen haben und dadurch natürlich
eine optimale Vermittlung vornehmen können.
({0})
Im Jahr 2010 hat das Bundesverfassungsgericht
erklärt, dass die Mischverwaltung von Bundesagentur
für Arbeit und Kommunen, damals „Argen“ genannt,
unzulässig ist. Kurzerhand haben Sie daraufhin das
Grundgesetz geändert und die Verwaltungspraxis dem
Hartz-IV-System angepasst. Jetzt heißen die zuständigen
Einrichtungen Jobcenter.
Nun muss die Bundesregierung wieder gesetzgeberisch handeln, da die Zuweisung von Personal an die
Jobcenter für fünf Jahre bis Ende 2015 befristet war und
somit deren Arbeitsfähigkeit nicht gewährleistet wäre.
Die nun geplante dauerhafte Rechtsgrundlage für Zuweisungen schafft natürlich schon eine Planungssicherheit,
auch für die Beschäftigten in den Jobcentern. Doch an
der grundsätzlich völlig verfehlten Hartz-IV-Konstruktion ändert das natürlich überhaupt nichts, und das ist
das Problem.
({1})
Betroffene und Beschäftigte befinden sich in der
Hartz-IV-Verwaltung von Beginn an in einem dauerhaften Umstellungsprozess. Die Beschäftigten arbeiten dort
über ihre Belastungsgrenze hinaus. Strukturelle Defizite
in der Betreuung, zum Beispiel von Menschen mit
Behinderung, sind nach wie vor ungelöst. Eine hohe
Anzahl von oft erfolgreichen Klagen vor den Sozialgerichten ist ein treuer Begleiter des Hartz-IV-Systems.
Sie wissen doch alle selbst, wie viele Tausende
Klagen vor den Gerichten Jahr für Jahr notwendig sind.
Sabine Zimmermann ({2})
Nehmen Sie doch einfach einmal zur Kenntnis: Die
Beschäftigten in einem Jobcenter leiden von Beginn an
unter einer zu geringen Personalausstattung. Das geht
natürlich auch zulasten der Betroffenen, für die nicht genügend Zeit bleibt, um wirklich helfen zu können. Die
Unterfinanzierung der Jobcenter erkennt man auch daran, dass alljährlich die Gelder zwischen den Bereichen
Arbeitsmarktmaßnahmen und Verwaltungskosten hinund herjongliert werden. Das Spiel „linke Tasche, rechte
Tasche“ geht eindeutig zulasten der erwerbslosen Menschen. Die Linke sagt ganz klar: Das ist aus unserer
Sicht im höchsten Maße verantwortungslos.
({3})
Stellen Sie sich einfach einmal vor, Sie sind in einem
Jobcenter angestellt und selbst prekär beschäftigt. Dann
erklären Sie mir einmal, wie die Mitarbeiter voll motiviert auf die Probleme von Erwerbslosen eingehen sollen. Mit prekärer Beschäftigung erreichen Sie einfach
nicht das, was wir in den Jobcentern erreichen wollen.
Seit 2005 teilen Sie die Menschen in Menschen erster
und zweiter Klasse ein, in diejenigen, die Arbeitslosengeld I bekommen, und in diejenigen, die Hartz-IV-Empfänger sind - obwohl sie alle das gleiche Schicksal verbindet, nämlich Arbeitslosigkeit.
Wir kritisieren im vorliegenden Gesetzentwurf, dass
das Personal die Möglichkeit haben soll, einzuschränken. Eine Zuweisung ohne Einverständnis des Beschäftigten ist alles andere als eine verantwortungsbewusste
und motivierende Personalpolitik. Natürlich ist aus unserer Sicht die unterschiedliche Bezahlung für gleiche
Arbeit - die Tarifverträge für die Beschäftigten der BA
und für die Beschäftigten der Kommunen sind nicht dieselben - ungerecht. Hier muss einfach eine einheitliche
Bezahlung geschaffen werden.
({4})
Meine Damen und Herren der Großen Koalition,
wenn Sie etwas für die erwerbslosen Menschen und für
die Beschäftigten in den Jobcentern tun wollen, hören
Sie endlich auf, an dieser Fehlkonstruktion notdürftig
herumzudoktern. Schaffen Sie klare Strukturen, überwinden Sie das System, und organisieren Sie Hilfe aus
einer Hand.
({5})
Statten Sie die Jobcenter ausreichend mit finanziellen
Ressourcen aus, sodass die Beschäftigten dort vernünftig
arbeiten können und die Betroffenen wirklich unterstützt
und eben nicht nur verwaltet werden.
Danke schön.
({6})
Vielen Dank. - Jutta Eckenbach ist die nächste Rednerin für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ideologische Vorgaben werden wir hier heute nicht ändern. Die
Linke ist an dieser Stelle in der Tat ideologisch behaftet.
Sie wettert immer wieder gegen die Hartz-IV-Reform,
obwohl sich gezeigt hat, dass Deutschland gerade mit
diesem Instrument
({0})
seine Wirtschaftskraft aufrechterhalten konnte, während
es praktisch allen anderen europäischen Ländern
schlechter geht. Das dürfte eigentlich auch bei Ihnen angekommen sein.
({1})
Wir haben heute Morgen im Plenum die erste Lesung
des Mindestlohngesetzes gehabt. Auch dort gab es Einsprüche. Auch dort war etwas, was von Ihnen kam, nicht
in Ordnung. Ich gestehe Ihnen ja ein bisschen Opposition zu,
({2})
aber es ist so, dass an dieser Stelle auch einmal etwas positiv gesehen werden kann. Ich glaube, das sollte ein
bisschen mehr Anerkennung insgesamt bekommen.
({3})
Wir haben heute schon viel zu dem Thema gehört. Ich
kann natürlich vieles davon wiederholen. In Anbetracht
der langen Sitzung heute werde ich auf das eine oder andere verzichten.
Es sind mir aber ein paar Dinge ganz wichtig. Es geht
in der Tat darum - Dr. Rosemann hat das vorhin schon
angesprochen -, dass wir jetzt eines schaffen, nämlich
den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Jobcentern
wirklich Planungssicherheit geben, die sie bisher nicht
hatten. Wir ermöglichen eine Personalplanung, indem
wir befristet beschäftigte Mitarbeiter in unbefristete Arbeitsverhältnisse überführen. Das hat viele positive Seiten, die man hier ansprechen und auch begrüßen muss.
Eine Planung nur über fünf Jahre - das weiß jeder kann keine vernünftige langfristige Personalplanung
sein. Insofern ist es ein richtiger Schritt, den wir heute
hier beschließen werden.
({4})
Damit einhergehend können wir auch mehr für die
Mitarbeiter tun. Wir können sie stärker qualifizieren,
besser ausbilden. Wir können die Potenziale nutzen, die
alle Mitarbeiter mitbringen, die in den Jobcentern angesiedelt sind. Wir können Sorge dafür tragen, dass sie
durch Fortbildung und Qualifikation auch in höherwertige Beschäftigungsverhältnisse kommen können. Es ist
wichtig, dass Aufstiegschancen für die Zukunft gewahrt
bleiben, auch wenn man im Jobcenter ist.
Dabei wissen wir alle, wie die Wirklichkeit in den
Jobcentern nun einmal ist: Wer einmal dort ist, hat es natürlich sehr schwer, wieder herauszukommen. Aber die
unbefristeten Arbeitsverhältnisse können auch dazu führen, dass das kommunal besser ausgestattet wird. Das
muss eine Zielrichtung sein.
Es gibt noch einen Punkt, den ich ansprechen will und
der ganz wichtig ist. Natürlich ist es nicht schön, dass in
den Jobcentern einmal durch den Bund bezahlte Beamte
und zum anderen durch die Kommune besoldete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind, dass sozusagen die Tarifeinheit dort nicht gegeben ist. Aber das muss vor Ort
geregelt werden. Gesetzliche Regelungen in die Kommunen hinein werden wir vom Bund aus nicht schaffen
können; das wissen wir. Aber dafür, dass das Ungleichgewicht beseitigt werden kann, werden wir alle Sorge
tragen. Dafür haben wir auch schon etwas getan. Wir haben gerade 6 Milliarden Euro zur Entlastung der Kommunen gegeben. Ich glaube, dass wir damit Spielraum
schaffen können. Wenn die Haushalte ausgeglichen werden, haben auch die Kommunen mehr Spielraum, um ein
Missverhältnis an dieser Stelle zu beseitigen.
({5})
Wir haben auch noch darauf hinzuweisen - das ist im
Gesetzgebungsverfahren ganz wichtig -, dass es nicht
nur darum geht, Mitarbeiter unbefristet zu beschäftigen.
Wir haben auch an einer anderen Stelle Handlungsbedarf
gesehen. In der Frage der Ausgestaltung von Regelungen zu Ordnungswidrigkeiten schaffen wir jetzt auch
Rechtssicherheit. Wir schaffen Rechtssicherheit ferner in
einem dritten Bereich - auch das werden wir heute mit
verabschieden -, indem wir Überzahlungen und Doppelzahlungen ausgleichen werden. Das führt ebenfalls zur
Entlastung bei den Kommunen und im Bundeshaushalt.
Insofern sind wir auf dem richtigen Wege. Wir werden uns aber nicht auf diesem Gesetz - das ist die erste
Gesetzgebungsmaßnahme dieser Art - ausruhen, sondern es wird weitergehen. Die Bund-Länder-Kommission wird sich noch mit organisatorischen Fragen und
mit der Ausgestaltung im Bereich der Jobcenter beschäftigen. Wir haben in der letzten Ausschusssitzung gehört,
dass der Zeitplan schon festgelegt worden ist.
Wir sind schon sehr gespannt auf die Ergebnisse des
Gutachtens, das vom Bundesministerium dankenswerterweise in Auftrag gegeben worden ist. Wir werden daraus Erkenntnisse ziehen können und auch müssen, damit wir da weiter an den richtigen Schrauben drehen
können. An der ersten richtigen Schraube haben wir bereits gedreht.
Insgesamt gesehen ist es wichtig, dass wir heute ein
gutes Signal an die Mitarbeiter der gemeinsamen Einrichtungen und der Jobcenter der Optionskommunen
aussenden, die ich an dieser Stelle einbeziehe. Beide haben sich grundsätzlich bewährt. Letztere sind von dieser
Gesetzgebung aber nicht betroffen. Ich will auch noch
einmal deutlich machen, dass wir in den Jobcentern insgesamt hervorragendes Personal haben. Die Mitarbeiter
handeln im Rahmen ihrer jetzigen Möglichkeiten im Interesse der Kunden, also der Arbeitslosen und der Leistungsempfänger.
({6})
Wir wollen diesen Weg weitergehen. Wir wollen die
rechtliche Situation weiter verbessern und bleiben nicht
bei dem Gesetz stehen, das wir heute verabschieden. Wir
werden in dieser Legislaturperiode eine weitere Runde
beginnen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Letzte Rednerin ist Brigitte Pothmer, Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
Eckenbach, Frau Zimmermann hat zwar das Hartz-IVSystem kritisiert, sie hat aber nicht gesagt, Hartz IV
müsse weg. Das ist schon einmal ein Fortschritt, den Sie,
Frau Eckenbach, hätten würdigen können.
({0})
Herr Rosemann, Sie haben vollkommen recht: Ein
kompetentes Fallmanagement ist tatsächlich die Grundvoraussetzung für Integration. Dafür brauchen wir qualifiziertes Personal. Dieses qualifizierte Personal muss
aber die Freiheit haben, auf individuelle Problemlagen
mit individuellen Lösungen zu reagieren.
({1})
- Wenn Herr Rosemann das gesagt hat, dann gebe ich
ihm einfach mal recht.
({2})
Wir wissen auch, dass mit dieser gesetzlichen Regelung die Fluktuation und die Zahl der Befristungen bei
weitem noch nicht auf dem Stand sind, den wir erreichen
müssen. Noch immer sind die Jobcenter extrem unterfinanziert. Das gilt sowohl für das Personal als auch für
den Verwaltungsbereich insgesamt und vor allen Dingen
für die Eingliederungsmittel.
Noch immer fehlt es den Jobcentern an flexiblen Instrumenten, insbesondere für die immer schwieriger
werdende Gruppe von Menschen, die bereits Kunden bei
den Jobcentern sind. Auch da haben wir einen extrem
großen Handlungsbedarf.
Noch immer belohnen die Jobcenter durch das vorhandene Steuerungssystem eher statistische Effekte, belohnen die Bestenauslese, belohnen aber nicht die nachhaltige Integration der schwierigsten Personen.
({3})
Angesichts dieser Problemlagen begrüßen wir jeden
Schritt, der in die richtige Richtung geht und der zu Verbesserungen führt.
({4})
Herr Rosemann, Sie haben gesagt, dass dieses Gesetz
die Grundlagen für Verbesserungen legen würde. Ich
finde, da blasen Sie die Backen ein bisschen zu sehr auf.
Das heutige Gesetz ist zwar ein kleiner Schritt in die
richtige Richtung; deswegen werden wir ihm auch zustimmen.
({5})
Aber eine Grundlage ist das wirklich nicht. Ich sehe an
einigen Punkten extremen Handlungsbedarf.
Erstens. Es wurde die Bürokratisierung angesprochen. Ich finde, es wäre ein richtiger Fortschritt, wenn
sich die Bund-Länder-Arbeitsgruppe tatsächlich dazu
durchringen könnte, den Bewilligungszeitraum für Bescheide auf ein Jahr zu verlängern. Das wäre gut für die
Verwaltung. Das wäre gut für das Personal. Aber es wäre
vor allen Dingen auch gut für die Arbeitslosen.
({6})
Aber auf keinen Fall darf es unter dem Deckmantel der
Entbürokratisierung zu Verschärfungen im System kommen. Darauf werden wir achten.
({7})
Zweitens. Die Zahl der Befristungen muss deutlich
zurückgefahren werden. Insbesondere vor dem Hintergrund der schwierigen Gruppen, die jetzt in den Jobcentern betreut werden, brauchen wir einen besseren Betreuungsschlüssel.
({8})
Es ist inzwischen nachgewiesen, dass ein besserer Betreuungsschlüssel tatsächlich zu einer nachhaltigen Integration von Arbeitslosen führt. Mit anderen Worten:
Mehr und besseres Personal in den Jobcentern zahlt sich
aus.
({9})
Drittens. Wer über die Personalausstattung redet, darf
über die Finanzen nicht schweigen. Da sind die 350 Millionen Euro wirklich ein Witz, Herr Rosemann.
({10})
Damit können die Jobcenter noch nicht einmal die Personalkostensteigerung der letzten Jahre auffangen. Für
Eingliederungsmittel bleibt nichts übrig. Diese schlichte
Formel - ich komme zum Schluss, ich verspreche es -:
weniger Arbeitslose ist gleich weniger Geld, geht nicht
auf.
Das sind eine Menge Baustellen, an denen wir dringend arbeiten müssen. Es muss dringend etwas passieren. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Jobcenter
warten darauf. Vor allem die Arbeitslosen warten darauf.
Der Ball liegt in Ihrem Spielfeld.
Ich danke Ihnen.
({11})
Vielen Dank. - Ich schließe die Aussprache.
Ich komme damit zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes
zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch Ergänzung personalrechtlicher Bestimmungen. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/1651, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den
Drucksachen 18/1311 und 18/1586 anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Damit ist der Gesetzentwurf mit den
Stimmen der Koalition, des Bündnisses 90/Die Grünen
bei Enthaltung der Fraktion Die Linke in zweiter Beratung angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der
Gesetzentwurf in dritter Beratung mit dem gleichen
Stimmenverhältnis angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank
Tempel, Jan Korte, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
sowie der Abgeordneten Dr. Harald Terpe, Maria
Klein-Schmeink, Elisabeth Scharfenberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Beabsichtigte und unbeabsichtigte Auswirkungen des Betäubungsmittelrechts überprüfen
Drucksache 18/1613
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner in der Debatte ist der Kollege Frank Tempel, Fraktion Die Linke.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Rund die Hälfte aller Strafrechtsprofessoren
unseres Landes fordert in einer Resolution an den Bundestag eine Evaluierung des Drogenstrafrechts. Also
dürfte es im Sinne von uns allen sein, wenn Linke und
Grüne nun einen entsprechenden Antrag hier vorlegen.
({0})
Während die Positionen in der Politik wie in Beton
gegossen wirken, ist in der Öffentlichkeit längst eine offene und sehr sachliche Debatte in Gange. Verbände und
Organisationen wie die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen, die Deutsche Aids-Hilfe oder der Schildower
Kreis halten diese Verbotspraxis schon längst für überholt und stehen ihr kritisch gegenüber. International
hört man Namen wie Javier Solana, Kofi Annan oder
Ban Ki-moon, die den Krieg gegen die Drogenkartelle
als nicht gewinnbar einordnen und von einer grundlegenden Umkehr in der Drogenprohibition sprechen.
Der neue „Europäische Drogenbericht“ weist übrigens aus, dass in Europa bereits 73 Millionen Erwachsene Cannabis konsumiert haben. Hier hört sich das oft
so an, als würden wir diese Droge erst bekommen, wenn
sie legalisiert wird. Diese Millionen sind übrigens nicht
alles Holländer;
({1})
denn dort ist ganz ohne Kriminalisierung der Pro-KopfAnteil an Cannabiskonsumenten in der Bevölkerung
nicht höher als in Deutschland.
Vor viereinhalb Jahren wechselte ich vom Kriminaldauerdienst in Gera in den Bundestag und begann, mir
das Thema Drogenpolitik völlig ergebnisoffen neu zu erschließen. Ich habe sozusagen die Ermittlungen aufgenommen - gründlich, offen und in alle Richtungen -, so
wie ich es gelernt habe.
Der Drogenkonsument - das ist eine Besonderheit wird aufgrund einer potenziellen Selbstgefährdung mit
Strafe bedroht. Er hat bei Besitz und Erwerb von Drogen
niemand Fremdes geschädigt. Wir wissen: Wenn der
Staat in die Grundrechte seiner Bürger eingreift, muss
das - und das macht er hier sehr drastisch mit einem Verbot, dem sogar eine Haftstrafe folgen kann - verhältnismäßig sein; das heißt: geeignet, erforderlich und angemessen.
Die polizeiliche Sicht kannte ich bereits; denn ich
selbst war einige Jahre in der Rauschgiftbekämpfung tätig. Mein Weg als Bundestagsabgeordneter führte mich
also zu Streetworkern, Suchtkliniken und Präventionseinrichtungen. In vielen Gesprächen traf ich Rechtswissenschaftler, Sozialwissenschaftler und Gesundheitswissenschaftler ebenso wie Praktiker aus der Suchthilfe. Ich
nahm auch die internationale Drogenpolitik genauer unter die Lupe, schaute auf Länder wie die Niederlande,
Spanien, Portugal oder die Schweiz genauso wie auf
Mexiko, Brasilien, Kolumbien, Afghanistan und, natürlich nicht zu vergessen, die USA.
Kann ein Verbot wirklich Angebot und Nachfrage reduzieren?
({2})
Welche Nebenwirkungen hat das Verbot, und welches
Ausmaß haben diese Nebenwirkungen? Mit Nebenwirkungen meine ich einen Schwarzmarkt, wo Milliarden in
die Kriminalität fließen, ein Markt übrigens, auf dem es
keinen Verbraucherschutz und keinen Jugendschutz gibt.
Glauben Sie mir: Einen Dealer auf dem Schwarzmarkt
interessiert nicht, ob der Kunde 14, 20 oder 40 Jahre alt
ist. Er gibt auch keine Auskunft darüber, welche Substanz er in welcher Konzentration und mit welchen
Streckmitteln abgibt. Er ist auch nicht verpflichtet, Präventionsprogramme zu unterstützen. Dieser Schwarzmarkt macht so gefährliche Drogen noch gefährlicher,
unberechenbarer und vor allen Dingen auch erreichbarer
für die Jugend, als sie jetzt schon sind. Auch mit diesen
Nebenwirkungen des Verbots müssen wir uns offen auseinandersetzen; denn sie verursachen zusätzlich Krankheit, Tod und Sucht.
Aus dem Ergebnis dieser „Ermittlungen“ habe ich
Forderungen entwickelt, aber diese Forderungen sind
explizit nicht in dem heute vorliegenden Antrag enthalten. Was wir anbieten, ist ein wirklich offenes Herangehen an ein sehr strittiges Thema. Bei manchen Anträgen
sagen Sie - das höre ich von der SPD immer wieder -:
Das ist ja ganz richtig, aber der Antrag ist schlecht geschrieben, schlecht gemacht, und deshalb können wir leider nicht zustimmen. Diese Antwort kennen wir schon.
Deswegen sage ich ausdrücklich: Wir sind zur Zusammenarbeit bei der Weiterentwicklung dieses Antrages
hin zu anderen Fragekomplexen jederzeit bereit; denn es
soll ein gemeinsames Herangehen an ein strittiges
Thema werden.
({3})
Öffnen Sie sich einem solchen Prozess! Arbeiten Sie
mit uns gemeinsam! Denn die Resolution der Strafrechtsprofessoren war an uns alle gerichtet.
({4})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Emmi Zeulner,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Prinzipiell arbeite ich sehr gerne mit Polizisten zusammen; denn die sind in der Regel sehr nett.
({0})
- Ja, so ist es. - Der gemeinsame Antrag der Fraktionen
Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen aber, der vordergründig lediglich auf die Überprüfung des Betäubungs3444
mittelrechts abzielt, kommt für mich wie ein Wolf im
Schafspelz daher.
So fordern Sie eine ergebnisoffene Debatte über die
Entkriminalisierung von Drogen und meinen, dass die
Wurzel allen Übels in der Verbotspolitik und nicht im
Konsum selbst liegt.
({1})
Sie stellen den möglichen gesellschaftlichen und gesundheitlichen Abstieg eines Drogenabhängigen in
kausalen Zusammenhang mit dem Sanktionssystem
des Betäubungsmittelrechts und verharmlosen dabei das
eigentliche Übel: die Suchtkrankheit.
Was Sie im Grunde fordern - da brauche ich Ihre
Wahl- und Parteiprogramme nur aufzuschlagen -, ist
langfristig die Legalisierung von Drogen.
({2})
So fordern die Grünen im ersten Schritt die Entkriminalisierung aller Drogen, die aber bei Drogen wie Cannabis
fließend in die Legalisierung übergehen soll. Die Linke
geht sogar noch weiter und fordert in ihrem Parteiprogramm - ich zitiere wörtlich -: „langfristig eine Legalisierung aller Drogen“.
({3})
Wobei es mir persönlich egal ist, in welcher Form der
Wolf auftritt; denn die Entkriminalisierung bedeutet,
vereinfacht gesagt, dass ich ein Verbot habe, die Handlung aber ohne sanktionsrechtliche Folgen bleibt. Wenn
der Gesetzgeber den Weg einer Legalisierung beschreiten wollte, müsste er bereits vorher ansetzen und die
Handlung als nicht verboten definieren.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Tempel?
({0})
Er hat doch gerade gesprochen. - Ich bleibe dabei,
was ich am Anfang gesagt habe: Schlussendlich bleibt
der Wolf ein Wolf, und dem legalen Konsum von Drogen wird Tür und Tor geöffnet. Das Ziel der Antragspartei ist eine Abkehr von der aktuellen Drogenpolitik und
damit ein kompletter Systemwechsel. Die Notwendigkeit einer solchen Abkehr erkenne ich nicht. Genau deshalb werden wir Ihren Antrag ablehnen.
Die Drogenpolitik der Bundesregierung hat sich bewährt. Sie steht im Einklang mit den internationalen Abkommen der UNO und wurde über Jahrzehnte - meist
über Parteigrenzen hinweg - von den Parlamentariern
erfolgreich getragen.
({0})
Sie folgt einem ganzheitlichen Ansatz und ist von Kontinuität geprägt. Die Gesundheit der Menschen steht dabei
an oberster Stelle.
Unsere Drogenbeauftragte Marlene Mortler steht wie
ich für eine ausgewogene Drogenpolitik mit den bewährten vier Säulen: Prävention, Beratung und Behandlung,
Hilfe zum Ausstieg als Mittel zur Schadensminimierung
und Bekämpfung der Drogenkriminalität.
({1})
Die Zahlen geben uns recht. Der Konsum illegaler Drogen und die damit verbundenen gesundheitlichen Risiken sind in den letzten Jahren insgesamt rückläufig, was
vor allem diesem in sich schlüssigen Konzept geschuldet
ist. Das Konzept sollte nicht gefährdet werden, indem
einzelne Elemente herausgebrochen werden.
Die für mich wichtigste Säule ist die Prävention, wie
sie zum Beispiel die Aufklärungskampagnen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und der entsprechenden Landeszentralen, die Suchtverbände und
auch die Polizei seit vielen Jahren wirkungsvoll und engagiert betreiben. Diese Aufklärung setzt bereits bei den
jüngeren Mitgliedern unserer Gesellschaft an. Damit
entmündigen wir die Jugendlichen nicht etwa, sondern
schützen diese. Wir werden unserem im Grundgesetz
festgelegten Auftrag des sozialen Rechtsstaates gerecht.
Die allgemeine Handlungsfreiheit des Artikels 2 des
Grundgesetzes erkennen wir selbstverständlich an, jedoch hat bereits das Bundesverfassungsgericht in seinem
wegweisenden Cannabis-Beschluss von 1994 festgelegt, dass ein „Recht auf Rausch“ nicht besteht. Diesen
entscheidenden Tenor hat das Gericht wiederholt in aller
Deutlichkeit bestätigt. Eine Legalisierung würde die Präventionsbemühungen gegenüber potenziellen Erstkonsumenten nachhaltig schwächen und ist ein falsches Signal.
({2})
Sucht ist eine Krankheit mit einer meist langen Entwicklungsgeschichte. Die Sucht bildet hierbei meist den
Endpunkt dieser Entwicklung. Deswegen ist Prävention
so wichtig. Dazu, die Prävention weiter zu stärken und
die bereits bestehenden erfolgreichen Ansätze weiter
auszubauen, wird uns in dieser Legislaturperiode auch
das Präventionsgesetz dienen.
Auch im Rahmen der zweiten und dritten Säule sehe
ich keine gravierenden Lücken, die einer Überprüfung
bedürften. Die primäre Zielsetzung der Drogenbekämpfung ist zwar, Sucht und Abhängigkeit zu verhindern,
aber dennoch arbeiten wir stetig daran, den Hilfesuchenden die optimale Unterstützung für eine Heilung und
Wiedereingliederung zukommen zu lassen. Die Hilfe
zum Ausstieg - zum einen als Mittel zur Schadensminimierung und zum anderen als Ausweg aus dem oftmals
leider vorprogrammierten sozialen Abstieg - ist Teil unserer politischen Agenda. Sozialer Abstieg beginnt nicht
mit der Kriminalisierung, sondern ist oftmals eine Begleiterscheinung des Drogenkonsums selbst. Der regelEmmi Zeulner
mäßige Konsum illegaler Substanzen verändert die Persönlichkeit, er schädigt die Gesundheit und treibt die
Menschen in die soziale Isolation.
({3})
Auch bei der vierten Säule, dem Sanktionsrecht im
Hinblick auf die Drogenkriminalität, kann ich keine gravierenden Mängel erkennen. Ja, Ihre These, dass eine
förmliche Strafverfolgung zu einer Stigmatisierung jugendlicher Straftäter führen kann, lässt sich nicht bestreiten. Sie wissen genau, dass dies in allen Bereichen
der Kriminalität zu beobachten ist. Es ist jedoch keineswegs so, dass, wie in der Resolution des Schildower
Kreises suggeriert wird, bei jedem kleinen Verstoß sofort
eine dauerhafte Stigmatisierung stattfindet. Es fließen
selbstverständlich auch das Alter und die Reife mit in die
Sanktionsausgestaltung ein. Denn im Gegensatz zum Erwachsenenstrafrecht liegt dem Jugendstrafrecht der Erziehungsgedanke zugrunde. Speziell für den Bereich des
Betäubungsmittelrechts hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Cannabis-Beschluss festgelegt, dass bei
einem geringen individuellen Unrechts- und Schuldgehalt die Möglichkeit besteht, von der Strafverfolgung abzusehen. Gerade hierdurch wird einer unnötigen Stigmatisierung heute schon entgegengewirkt, und der Staat
wird dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gerecht.
({4})
Zielsetzung des Betäubungsmittelrechts ist nicht nur,
Verhaltensweisen unter Strafe zu stellen, sondern es geht
dem Gesetzgeber viel mehr um die Gestaltung des sozialen Zusammenlebens. Der Schutz vor den sozialschädlichen Wirkungen des Umgangs mit Drogen steht im Mittelpunkt der Überlegungen.
Wir dürfen uns natürlich nichts vormachen: Die Resultate der strafrechtlichen Bekämpfung des Drogenhandels sind nicht durchweg ermutigend. Aber daraus dürfen wir doch nicht den Umkehrschluss ziehen, wie Sie es
in Ihrem Antrag tun, dass die derzeitige Drogenpolitik
und insbesondere die Strafverfolgung untauglich sind.
({5})
Es ist und bleibt unser zentrales Anliegen, den Handel
mit Betäubungsmitteln zu bekämpfen. Doch weder die
Entkriminalisierung noch die Legalisierung können geeignete Mittel sein, um der Drogenkriminalität ihre wirtschaftliche Grundlage zu entziehen. Bitte vergessen Sie
nicht: Auch beim Handel mit legalen Waren existiert ein
Schwarzmarkt, und die Beteiligung der organisierten
Kriminalität ist nicht ausgeschlossen. Eine Schattenwirtschaft, wie die Resolution sie beschreibt, entsteht doch
nicht allein aus der Verbotspolitik.
Eine grundlegende Schwäche Ihres Antrags besteht in
einem weiteren Punkt. Liest man die Resolution des
Schildower Kreises, auf die Sie sich beziehen, stellt man
fest, dass keinerlei Differenzierung nach Härte oder Art
der Drogen vorgenommen wird. Wollen Sie ernsthaft
eine Situation wie in Portugal? - In Portugal findet der
Konsum von Kokain, Ecstasy und Amphetaminen aufgrund der liberalen Drogenpolitik in aller Öffentlichkeit,
zum Beispiel in Diskotheken, statt.
({6})
Möchten Sie junge Menschen abends in einem solchen
Umfeld wissen?
Bei aller Liebe zur Eigenverantwortlichkeit und Mündigkeit: Sie glauben doch nicht im Ernst, dass es einen
verantwortungsvollen Konsum von Crystal oder anderen
schweren Drogen geben kann. Eine Droge, die bereits
nach der ersten Einnahme zu einer Abhängigkeit führen
kann,
({7})
nimmt dem Konsumenten gerade die Eigenverantwortlichkeit.
Zentrales Argument gegen eine Liberalisierung bleibt
für mich schlussendlich - da sind wir uns doch hoffentlich alle einig -, dass bei einer Entkriminalisierung die
Hemmschwelle, die Drogen tatsächlich auszuprobieren
und einzunehmen, definitiv sinkt. Dafür kann ich in meiner Funktion als Abgeordnete keine Verantwortung
übernehmen.
({8})
Sosehr ich die europäischen Freiheiten schätze, die
uns etwa das Schengener Abkommen mit der Aufhebung
der Zollgrenzen gewährt, so bewusst müssen wir uns darüber sein, dass wir die Auswirkungen der liberalen
Drogenpolitik in manchen Anrainerstaaten zu spüren bekommen. Unsere Drogenpolitik steht vor der Herausforderung, hier geeignete Maßnahmen zu finden. Gerade
bei Crystal kämpfen wir derzeit gemeinsam mit unseren
tschechischen Kollegen dafür, dieses mittlerweile gesamtgesellschaftliche Problem in den Griff zu bekommen.
Sie wissen, wovon ich spreche; auch Sie bekommen
regelmäßig Briefe von besorgten Müttern und Vätern,
die wollen, dass die Kinder vor dieser gravierenden
Droge geschützt werden.
({9})
- Sie sagen: „Ja, genau!“ - Was soll ich diesen Eltern Ihrer Ansicht nach antworten? Dass das Experimentieren
mit Drogen zum Erwachsenwerden nun mal dazugehört?
Dass „ideologische Vorbehalte“, wie Sie es in Ihrem Antrag nennen, aufzubrechen sind? - Bei aller Liebe: Eine
solche Argumentation kann und darf nicht die Antwort
auf die Gefahren illegaler Drogen sein.
({10})
Vielen Dank. - Das Wort zu einer Kurzintervention
hat jetzt der Kollege Tempel.
Ich muss leider antworten, weil Sie offensichtlich ein
Problem damit hatten, meinem Vortrag vorhin zu folgen.
Es war sehr freundlich, dass Sie aus den Wahl- und Parteiprogrammen unserer Parteien zitiert haben. Wir haben
aber extra gesagt: In unseren Antrag haben wir keine
Forderungen übernommen. Wir wollen eine ergebnisoffene Evaluierung.
({0})
Und wir wollen sie deswegen, weil das auch die Fachgremien befürworten, in denen die verschiedenen Wissenschafts- und Praxisbereiche zusammentreffen, beispielsweise die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen,
die jedes Jahr eine dreitätige Fachtagung durchführt. In
den letzten drei Jahren habe ich weder einen Landesnoch einen Bundespolitiker der CDU dort angetroffen.
Ich bin dort Stammgast. Ich höre den Fachleuten zu.
Diese fordern den Dialog mit der Politik, um endlich
eine Änderung herbeizuführen.
Wenn Sie bei solchen Gelegenheiten dabei wären,
würden Sie auch Vorträge zur Drogenpolitik in Portugal
hören,
({1})
wo nach einer Liberalisierung die Zahl der Drogentoten
gesunken und die Zahl der Konsumenten nicht angestiegen ist. Die Konsumenten müssen sich jetzt nicht mehr
verstecken - man sieht sie jetzt; das stimmt -, aber die
Zahl der Konsumenten ist nicht angestiegen. Gesunken
ist hingegen die Zahl der Erstinfektionen mit Aids und
Hepatitis. Gesunken ist auch die Affinität von Konsumenten, süchtig zu werden. Das besagt eine Studie über
zehn Jahre liberalisierte Drogenpolitik in Portugal. Wenn
Sie dieses Arbeitsfeld hier im Bundestag bearbeiten wollen, wäre es sehr nett, wenn Sie solche Studien auch einmal lesen würden. Dann müssten Sie hier nicht so verdrehte Sachen erzählen.
({2})
Es gibt sehr viel Material. Gerade deswegen, weil dieses Material in Ihrer Fraktion nicht ankommt, weil Sie
sich damit nicht beschäftigen und sich hier im Haus, wo
Sie eine Mehrheit haben, fernab jeglicher wissenschaftlicher Erkenntnisse des Landes bewegen, fordern wir eine
unabhängige wissenschaftliche Evaluierung.
Ich möchte von Ihnen wissen: Wenn Sie glauben, dass
Ihre Position richtig ist, warum kneifen Sie dann, wenn
es um eine unabhängige Evaluierung durch Fachleute
geht?
({3})
Frau Kollegin Zeulner, möchten Sie antworten? Bitte.
Die Zielrichtung Ihres Antrages ist schon eindeutig.
Ich freue mich, dass wir jetzt bald zusammen einen Ausflug unternehmen werden, dass Sie mich mitnehmen. Im
Zusammenhang mit dem Präventionsgesetz werden wir
im Ausschuss Gelegenheit haben, darüber zu diskutieren. Auf diese Diskussion freue ich mich ganz besonders.
({0})
Vielen Dank. - Jetzt spricht der Kollege Harald Terpe,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Natürlich muss ich zu Anfang auf meine Kollegin
Zeulner reagieren. Ich glaube, dass es wichtig ist - ich
versuche ja nur, Erfahrung weiterzugeben -, dass man
sich auch in der Politik mit bestimmten Fragen ergebnisoffen auseinandersetzt. Ich habe in Ihrer Rede sehr viel
vorgefasste Meinung gefunden. Ich kann jetzt nur noch
einmal betonen, dass hier ein Antrag vorliegt, mit dem
eine ergebnisoffene, ohne Vorbedingungen geführte Diskussion in Gang gesetzt werden soll.
Wichtig ist auch, wie ich glaube, noch einmal zu sagen, dass Anlass für diesen Antrag war, dass über 120
Strafrechtsprofessoren - das sind knapp 50 Prozent eine Evaluation gefordert haben. Was hier noch nicht gesagt worden ist, ist, dass sich nur 8 der 250 Professoren
ausdrücklich dagegen ausgesprochen haben. Jedenfalls
vor dem Hintergrund dieser wissenschaftlichen Expertise ist eine Evaluation also überfällig. Viele wissenschaftliche Fachgesellschaften setzen sich dafür ein. Im
Übrigen setzt sich auch der Bund der Kriminalisten
mehrheitlich dafür ein. Viele Verbände und viele Teile
der Gesellschaft unterstützen diese Forderung nach einer
Evaluation.
({0})
Wir sagen ja auch ausdrücklich, dass wir Parteipolitiker
an dieser Evaluation gar nicht teilnehmen wollen. Warum sollten wir das auch? Damit würden wir ja nur die
Grabenkämpfe der Vergangenheit weiterführen. Doch
das führt ja zu nichts.
Die Fakten sind, denke ich, relativ eindeutig. Ich will
jetzt keine juristische Exegese betreiben; aber wenn man
sich das Ziel, das vor 40 Jahren mit dem Betäubungsmittelgesetz verbunden wurde, vor Augen führt, entwickelt
man große Zweifel, dass das große Versprechen, die Jugend vor den Gefahren des Drogenkonsums zu schützen,
wirklich eingelöst wurde. Trotz 40 Jahren Betäubungsmittelgesetz kann man faktisch flächendeckend an jeder
Schule Drogen erwerben. Das muss man nicht gut finden, aber es ist Fakt. Mit anderen Worten: Das Gesetz
hat an dieser Praxis überhaupt nichts geändert. Weder
Drogenerwerb noch Handel noch Verbreitung von Drogen sind verhindert worden, nicht einmal bei Jugendlichen.
Angesichts dessen kann ich nur wiederholen: Der
Schwarzmarkt, der ja Folge der Illegalisierung ist, kennt
keinen Jugendschutz und keinen Gesundheitsschutz. Er
kennt nichts dergleichen.
({1})
Wir haben also im Gegenteil erhebliche Chancen, wenn
wir uns einer unabhängigen Evaluation aussetzen. Welche Chancen haben wir? Wir haben Chancen bei der Prävention. Wir haben Chancen beim Gesundheitsschutz.
Wir haben Chancen beim Jugendschutz. Wir haben
Chancen bei der Behandlung.
In Ihrer Darstellung sind im Übrigen die Abhängigen
in den Vordergrund geschoben worden.
({2})
Auch ich bedaure, dass wir in unserem System nicht genug Mittel dafür einsetzen, damit abhängig Erkrankte das sind keine Verhaltensgestörten; das sind Kranke ausreichend behandelt werden können. Das liegt unter
anderem auch daran, dass die Mittel so ungleich eingesetzt werden.
Zu Ihrer Bemerkung, dass es ein Präventionsgesetz
geben wird und dass Sie mit der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung schon eine ganze Menge machen: Das Bundesministerium hat im Haushalt 10 Millionen Euro zur Aufklärung über den Konsum legaler
und illegaler Drogen bereitgestellt. Demgegenüber werden 3,3 Milliarden Euro für die Strafverfolgung ausgegeben. Das heißt also: Haushaltspolitisch gibt es praktisch eine Fixierung auf die Prohibition, verbunden mit
der Folge der Entstehung eines Schwarzmarktes.
Ich bitte Sie, rein nüchtern unseren Vorschlag, eine
unabhängige Evaluation in Angriff zu nehmen, zu prüfen, und selbst dafür zu sorgen, dass dort politisch kein
Einfluss genommen wird. Dann können wir anhand der
Ergebnisse schauen, was wir in Zukunft ändern müssen.
({3})
Das ist doch das Entscheidende. Daher kann ich nur darum bitten, das wirklich vorurteilslos mit uns gemeinsam
zu machen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({4})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Burkhard
Blienert, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Zu Beginn
der Legislaturperiode haben die besagten Strafrechtsprofessoren mittels einer Resolution zur Reform des Drogenstrafrechts eine wichtige Debatte angestoßen. Die
Rechtsgelehrten fordern in ihr die Einsetzung einer Enquete-Kommission des Bundestages zum Thema „Erwünschte und unbeabsichtigte Folgen des geltenden
Strafrechts“.
Zwar hat 1994 das Bundesverfassungsgericht - das ist
auch schon mehrmals angeklungen - das Betäubungsmittelstrafrecht für verfassungsgemäß befunden, aber allen Beteiligten war die damalige lückenhafte Erkenntnislage deutlich bewusst. Nun, 20 Jahre später, sind wir hier
ein ganzes Stück weiter. Mittlerweile liegen uns durchaus umfangreiche Erkenntnisse vor. Ich möchte einige
einfach nur kurz anreißen.
Wir sehen zum Beispiel die Entwicklungen in anderen Staaten, die dort gemachten Erfahrungen und auch
die Korrekturen in der staatlichen Drogenpolitik. Dabei
sind es jedoch auch immer sehr spezifische und unterschiedliche Aspekte, die zu Neuausrichtungen in den jeweiligen Ländern geführt haben. Wir nehmen natürlich
die Resultate, wie beispielsweise die aus den Niederlanden und aus Portugal, zur Kenntnis.
Warum jedoch einige Staaten neue Wege gehen, hat
wiederum sehr unterschiedliche Gründe. Uruguay gibt
zum Beispiel den Marihuana-Anbau komplett frei. Der
Bundesstaat Colorado hat den Handel legalisiert, unter
anderem auch, um höhere Steuereinnahmen zu erzielen.
Auch das muss man natürlich bedenken.
Wir sollten daher auch erst einmal politisch beginnen,
gemeinsame Ziele einer fortschrittlichen Drogen- und
Suchtpolitik zu formulieren. Das Angebot nehme ich daher persönlich erst einmal auch an. In diesem Zusammenhang gilt es, Risiken und Nebenwirkungen etwaiger
Maßnahmen genauestens abzuwägen. Das Minimieren
von Gesundheitsrisiken und die Prävention muss bei allen Überlegungen höchste Priorität haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, allein auf Basis der
fünf Thesen der Staatsrechtler - auch wenn es wirklich
eine große Gruppe deutscher Staatsrechtler ist - zu arbeiten, halte ich jedoch für uns als Bundestag für zu
dünn. Darauf gegründet eine hundertköpfige Expertenkommission ins Leben zu rufen, die mittels der sogenannten Delphi-Methode neue Erkenntnisse zu den Wirkungen des Betäubungsmittelrechts herausarbeiten soll,
halte ich doch für recht experimentell.
({0})
Ich bin zwar einverstanden, wenn wir uns frei von
Ideologie diesen Themen nähern; frei von Politisierung
kann es aber nicht gehen.
({1})
Ich bin daher nicht sicher, ob diese Methode, die Sie in
Ihrem Antrag erwähnen, tatsächlich ein geeignetes Instrumentarium zum Erkenntnisgewinn sein kann. Auch
Sie selber sind sich da offensichtlich nicht ganz sicher,
wenn Sie in Ihrem Antrag auch andere Verfahren für
denkbar erachten.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es lohnt sich daher,
für eine Debatte im Ausschuss einmal die Erkenntnisse,
die vorhanden sind, zusammenzutragen.
Die Friedrich-Ebert-Stiftung hat zum Beispiel bereits
im Juni 2013 eine entsprechende Studie mit dem Titel
„Entkriminalisierung und Regulierung“ veröffentlicht,
die viele interessante Aspekte hierzu behandelt. Es lohnt
sich schon, dort auch einmal hineinzuschauen.
({3})
Dabei wird deutlich, dass es eben um mehr als um das
Strafrecht bzw. um rechtspolitische Fragestellungen
geht. Es geht natürlich um gesundheitspolitische Fragen,
um ökonomische Auswirkungen, um sozialpolitische
Aspekte, auch um ethische Fragen.
({4})
Mein Fazit ist aber: Man kann und muss auch eine
Debatte zu den Auswirkungen des Betäubungsmittelrechts führen. Ihr Antrag greift den wichtigen Beitrag
der Strafrechtsprofessoren und die medialen Berichterstattungen hierzu auf. Ihr Antrag insgesamt ist aber eigentlich ein Schnellschuss. Sie versuchen mit ihm, erst
einmal kurzfristig Punkte zu machen, wohl wissend,
dass mit der Einsetzung einer derart umfangreichen Expertengruppe dann wohl kaum mit Handlungsempfehlungen in dieser Wahlperiode zu rechnen sein dürfte.
Auch wenn der Antrag gut gedacht ist, er scheitert an
Praktikabilität und zum Teil eben auch an Plausibilität.
({5})
Das Thema ist komplexer, und Lösungswege sind
schwieriger zu finden. Der Umgang mit Cannabis und
dem damit im Zusammenhang stehenden Diskurs nicht
nur über das Betäubungsmittelrecht in Deutschland beschäftigt eben nicht ohne Grund Politikerinnen und Politiker seit vielen Jahren. Wir von der SPD-Bundestagsfraktion - und ich denke, auch die Kolleginnen und
Kollegen von der Union - wollen nicht für die Ihrerseits
unbedachten Nebenwirkungen dieses Schnellschusses
verantwortlich gemacht werden. Lassen Sie uns daher in
den entsprechenden Ausschüssen eingehend dazu beraten. Ich denke, dass dies der Sache dann insgesamt dienlich sein wird.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Vielen Dank. - Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/1613 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federführung beim Ausschuss für Gesundheit liegen soll. Sind
Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen, und in den
nächsten Wochen können dann über dieses Thema noch
intensive Diskussionen geführt werden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung steuerlicher Regelungen
an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
Drucksachen 18/1306, 18/1575
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({0})
Drucksache 18/1647
Hierzu liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin in der Debatte ist die Kollegin Anja Karliczek, CDU/CSU-Fraktion. Bitte schön, Frau Kollegin.
({1})
Sehr geehrte Frau Bundestagspräsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Wir führen heute
das zu Ende und vervollständigen das, was wir schon im
Sommer 2013 politisch und gesetzgebend begonnen haben: die steuerliche Gleichstellung der Lebenspartnerschaft mit der Ehe.
Bereits in der letzten Legislaturperiode hat der Bundestag in Teilen das Einkommensteuergesetz dem Urteil
des Bundesverfassungsgerichts angepasst. Aus Zeitgründen kam es allerdings vor der Wahl nicht mehr dazu, die
steuerliche Gleichstellung in allen betroffenen Gesetzesbereichen durchzuführen.
Ich habe mich ausführlich mit den Einzelheiten der zu
ändernden Gesetze beschäftigt und muss schon sagen:
Wir haben eine sehr ordentlich arbeitende Verwaltung.
Denn ob es die Kaffeesteuerverordnung ist, die nun geändert werden muss, oder das Gesetz, in dem die Eigenheimzulage geregelt wird, die schon seit 2006 nicht
mehr für neue Fälle gewährt wird: Wir sorgen für Ordnung in unseren Gesetzen.
({0})
Von den heute anstehenden Änderungen ist eine Vielzahl von Gesetzen betroffen: das Altersvorsorgeverträge-Zertifizierungsgesetz, das Wohnungsbau-Prämiengesetz, das Altersvorsorge-Durchführungsgesetz, die
Abgabenordnung, das Bewertungsgesetz, das Energiesteuergesetz, das Dritte Buch Sozialgesetzbuch, die
Erbschaftsteuer-Durchführungsverordnung, das BundesAnja Karliczek
kindergeldgesetz und sogar die Deutsch-Schweizerische
Konsultationsvereinbarungsverordnung. In all diesen
Gesetzen und Verordnungen wird die Lebenspartnerschaft nun der Ehe gleichgestellt.
Dass Menschen füreinander Verantwortung übernehmen - unabhängig von ihrem Lebensentwurf und ihrer
sexuellen Orientierung -, findet damit auch steuerrechtlich seinen Niederschlag. Im Alltag zeigt sich das zum
Beispiel durch die Möglichkeit, eine gemeinsame
Steuererklärung für Lebenspartner abzugeben oder die
Altersvorsorge gemeinsam zu gestalten.
In dieser Debatte liegt mir ein Aspekt besonders am
Herzen: Mich erstaunt sehr, wie heftig und emotional in
diesem Haus, in der veröffentlichten Meinung und in der
Öffentlichkeit über die Frage der rechtlichen Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften diskutiert wurde und teilweise immer noch diskutiert wird.
({1})
Was heißt Lebenspartnerschaft? Heißt das nicht,
füreinander da zu sein, miteinander zu leben und Verantwortung füreinander zu tragen? Ist das nicht eine Selbstverständlichkeit und keine Frage des Lebensentwurfs?
Ich finde, das ist eine Selbstverständlichkeit. Für mich
heißt das aber auch: Toleranz gegenüber verschiedenen
Lebensentwürfen ist Ausdruck einer freien Gesellschaft.
In einer freien Gesellschaft ist die eigene Gestaltung des
individuellen Lebensentwurfs selbstverständlich, ich
möchte sogar sagen: konstitutiv. Das anzuerkennen,
nenne ich Ausdruck einer liberal-wertkonservativen Haltung.
({2})
Die rechtlichen Schritte, die wir heute gehen, nehmen
der Würde der Institution von Ehe und Familie damit
nichts. Auch durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes bleiben Ehe und Familie nach Artikel 6 des
Grundgesetzes ein eigener Schutzbereich, und sie erfahren dadurch eine besondere Würdigung.
Ich streife damit in einer finanzpolitischen Debatte
das Thema Familienpolitik. Es steht weiter ganz oben
auf unserer politischen Agenda. Erst in diesen Tagen hat
das Kabinett die Reform des Bundeselterngeld- und
Elternzeitgesetzes beschlossen. Wir wollen damit die
Vereinbarkeit von Familie und Beruf weiter fördern und
die wirtschaftliche Sicherheit junger Familien weiter
stärken. Wir hoffen, dass dies mehr Mut macht, sich für
Kinder zu entscheiden.
Seit der Evaluation der ehe- und familienbezogenen
Leistungen, deren Ergebnisse die letzte Bundesregierung
im vergangenen Jahr veröffentlicht hat, wissen wir von
rund 150 verschiedenen Maßnahmen, in die wir jährlich
- ob durch direkte Auszahlungen oder durch steuerliche
Förderung - über 200 Milliarden Euro investieren. Dennoch haben wir trotz hoher staatlicher Leistungen weiter
eine geringe Geburtenrate in Deutschland. Den Satz von
Konrad Adenauer: „Kinder kriegen die Leute immer“
haben wir alle im Ohr. Er trifft aber leider nicht mehr zu.
Dabei muss doch unser aller Interesse darauf gerichtet
sein, dass dieser Satz wieder wahr wird; denn nur dann
werden wir als Gesellschaft innovativ und wettbewerbsfähig bleiben.
({3})
Wir wissen auch, dass finanzielle und wirtschaftliche
Überlegungen bei der Entscheidung für Kinder nicht
ausschlaggebend sind. Letztendlich werden wir Eltern,
weil Kinder Reichtum und Vielfalt bedeuten, weil Kinder uns Erwachsene lehren, die wesentlichen Dinge des
Lebens zu erkennen, und weil Kinder unsere Zukunft
sind. Nicht zuletzt aus genau diesem Grund müssen wir
jungen Menschen Mut zu dieser Entscheidung machen.
({4})
Wir können das weiter unterstützen durch ein familienfreundliches Klima, aber auch durch die ideelle Anerkennung von Familienleistung und die Stärkung von
Vertrauen. Deshalb sehe ich aus steuerlicher Sicht noch
eine weitere Aufgabe, der wir uns - sicherlich unter
Berücksichtigung des finanziellen Spielraums, aber
dennoch forciert - künftig widmen sollten: der Weiterentwicklung des Ehegattensplittings zu einem Familiensplitting.
Die Verantwortung für unsere Kinder ist eine ganz
besondere Verantwortung. Denn Kinder sind der Keim
unserer Gesellschaft - nicht die Eltern und auch nicht
eine Lebensgemeinschaft. Diese besondere Verantwortung müssen wir auch durch eine besondere steuerliche
Behandlung zum Ausdruck bringen.
Vielen Dank.
({5})
Liebe Frau Kollegin Karliczek, ich gratuliere Ihnen
im Namen des ganzen Hauses zu Ihrer ersten parlamentarischen Rede hier im Deutschen Bundestag.
({0})
Das war die erste Rede in dieser Debatte und die erste
Rede in Ihrem parlamentarischen Leben. Herzlichen
Glückwunsch und auf viele weitere interessante Debatten!
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Kollegin Susanna Karawanskij, Fraktion Die Linke.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Dieser Tagesordnungspunkt, den wir jetzt gerade besprechen, ist bei Lichte betrachtet ein Dauerbrenner. Es geht um die steuerliche
Gleichstellung einer Lebenspartnerschaft von Lesben
und Schwulen mit der Ehe.
Ehrlich gesagt ist es traurig, dass dieses Thema überhaupt zum Dauerbrenner wurde - nicht nur aus unserer
Sicht, sondern vor allen Dingen aus Sicht der Betroffenen.
({0})
Das lag vor allen Dingen an der Engstirnigkeit der
Fraktionsspitze der CDU/CSU, die die bestehenden gesellschaftlichen Realitäten nicht anerkennt.
({1})
Leider nimmt diese Fraktionsspitze Rücksicht auf den
Teil der Partei, der dem Familienbild aus dem vorletzten
Jahrhundert anhängt.
({2})
Wir, die Linken, fordern hingegen schon seit Jahren die
Gleichstellung - vor allen Dingen auch die steuerliche
Gleichstellung - der Lebenspartnerschaften mit der Ehe.
({3})
Die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zwingt den Gesetzgeber zur Gleichstellung in
allen der ihm vorgelegten Fälle. Das Peinliche daran ist,
dass Ihre Missachtung dieser ständigen Rechtsprechung
zugleich auch eine Missachtung von Grundrechten bedeutet. Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2013 war nämlich erstens klar,
dass eine umfassende Gleichstellung von Lebenspartnerschaften mit der Ehe bei der Besteuerung zwingend erforderlich ist. Zweitens war auch klar, dass dafür nicht
nur das Einkommensteuergesetz geändert werden muss.
Die Folgeänderungen in den Steuergesetzen sollen
durch den nun vorliegenden Gesetzentwurf angegangen
werden. Sie betreiben aber wieder einmal Augenwischerei; denn dieser Anspruch wird nicht in Gänze erfüllt. Es
gibt leider immer noch keine vollständige Gleichbehandlung. Ich will Ihnen das auch erklären.
Es geht um folgende Lücke: § 52 der Abgabenordnung - das ist sozusagen das Grundgesetz der Steuerpolitik - führt einen ganzen Katalog steuerlich anerkannter gemeinnütziger Zwecke auf. Die Förderung des
Schutzes von Ehe und Familie ist danach ein förderwürdiger Zweck. Diese Definition muss allerdings meines
Erachtens um die Förderung des Schutzes der eingetragenen Lebenspartnerschaften erweitert werden.
({4})
Dieser Diskrepanz ging ich auch mittels einer schriftlichen Frage an das Finanzministerium nach. In der
Antwort vom 30. Mai 2014 teilte die Bundesregierung
die Auffassung der Linken, dass es keine verfassungsrechtlichen Gründe für einen Ausschluss der Förderung
des Schutzes von Lebenspartnerschaften gibt.
({5})
Die Bundesregierung ist sich also der Unvollständigkeit
durchaus bewusst. Damit ist der Beweis erbracht, dass
die Nichtgleichstellung eine ganz klare politische Willkürentscheidung ist.
Ich möchte das an dieser Stelle noch einmal betonen:
Trotz der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
können CDU und CSU von der Diskriminierung der
Lebenspartnerschaften gegenüber der Ehe nicht lassen.
Beenden Sie das! Beenden Sie die ideologischen Grabenkämpfe, und verhalten Sie sich vor allen Dingen
nicht wie bockige Kinder! Das ist wirklich traurig.
({6})
Noch viel trauriger ist, dass die SPD hier neben dem
Koalitionspartner wieder einknickt und sich nicht an ihr
Wahlprogramm und ihre Wahlversprechen hält. Sie haben der Community gegenüber versprochen: „100 Prozent … Gleichstellung … nur mit der SPD“. Jetzt lassen
Sie die Menschen schon wieder im Regen stehen.
({7})
Sie sind beim Adoptionsrecht eingeknickt, und jetzt knicken Sie auch hier wieder ein. Das ist wirklich enttäuschend. Ich frage mich, wann Sie mit diesem Einknicken
einmal aufhören.
Für uns Linke ist klar, dass wir langfristig die steuerliche Privilegierung der Ehe beenden müssen. Um den
Beweis anzutreten, dass wir nicht bockig sind, wollen
wir Ihrem Gesetzentwurf - Sie sind in Ihrem Gesetzentwurf ja die von uns seit langem geforderte steuerliche
Gleichstellung der Lebenspartnerschaften mit der Ehe in
vielen Bereichen angegangen - trotz der bestehenden
Lücke, die ich gerade beschrieben habe, zustimmen.
({8})
Wir betrachten die Öffnung der Ehe als den entscheidenden Schritt; denn die Linke will letztendlich die rechtliche Gleichstellung und damit auch die gesellschaftliche
Akzeptanz aller Lebensweisen. Ich bitte Sie daher:
Nehmen Sie das Heft des Handelns weiter in die Hand!
Entlasten Sie vor allen Dingen das Bundesverfassungsgericht!
Wir haben als erste Fraktion einen Gesetzentwurf
hierzu in den Bundestag eingebracht. Damit können Sie
die entsprechenden Regelungen im Adoptionsrecht bis
hin zum Steuerrecht abdecken. Wenn Sie es wirklich
ernst meinen, stimmen Sie unserem Antrag zu.
Vielen Dank.
({9})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort Kollegen
Frank Junge, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Karawanskij, weil Sie es explizit angesprochen haben, möchte ich eine Bemerkung vorausschicken. Mich
hat im Vorfeld dieser Debatte ziemlich beunruhigt, was
zu diesem Thema in der Presse zu lesen war. Da war von
„Diskriminierung beim Kindergeld“ die Rede. Da war
- Sie sagten es - von „Bockigkeit“ die Rede. Es wurde
so getan - das unterstreiche ich zweimal -, als seien wir
auf dem Weg zur Gleichstellung von eingetragenen
Lebenspartnerschaften mit der Ehe nicht einen Millimeter vorangekommen. Das muss ich ganz klar von uns
weisen.
({0})
Das, womit wir uns hier beschäftigen, ist doch vom
Grundsatz her genau das, worum es geht. Mit dem heute
vorliegenden Gesetzentwurf zur Anpassung steuerlicher
Regelungen an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wird die Ungleichbehandlung homosexueller Lebenspartnerschaften mit der Ehe unter steuerlichen Gesichtspunkten beseitigt. Punkt!
({1})
Da gibt es nichts weiter hinzuzufügen: Mit diesem einen
Satz lässt sich der Gesetzentwurf der Bundesregierung
zusammenfassen. Wir alle kennen die Entscheidung
- Sie haben darauf hingewiesen - des Verfassungsgerichts vom letzten Jahr, nach der der Ausschluss von eingetragenen Lebenspartnerschaften beim Ehegattensplitting für verfassungswidrig erklärt wurde. Das haben wir
konstatiert. Die daraufhin notwendige Anpassung im
Einkommensteuergesetz, mit den Stimmen von allen
Fraktionen dieses Hauses verabschiedet, wurde schon
vorgenommen.
Letztendlich ist das ein guter Schritt gewesen. Heute
haben wir allerdings die Gelegenheit, die letzten noch
offenen Bereiche in diesem Segment glattzuziehen.
Wenn man dann auf die großen Bereiche schaut, wie
Bundeskindergeldgesetz, Eigenheimzulagengesetz, das
Wohnungsbau-Prämiengesetz, das Altersvorsorgeverträge-Zertifizierungsgesetz und die Abgabenordnung,
dann kann man festhalten: Das sind die richtigen und
notwendigen Schritte.
({2})
Es ist auch mehr als das. Es ist mit Blick auf unsere
moderne und demokratische Gesellschaft, in der homosexuelle Lebenspartnerschaften und Regenbogenfamilien genauso zur Lebenswirklichkeit gehören wie die
klassische Ehe, ein längst überfälliger Schritt.
({3})
Nach der gesetzlich verankerten Vereinfachung der
Sukzessivadoption - Sie erinnern sich: vor genau 14 Tagen haben wir zu diesem Punkt Vereinfachungen beschlossen ({4})
kann dieses Parlament heute ein weiteres wichtiges
Etappenziel auf dem Weg zur vollständigen Gleichstellung eingetragener Lebenspartnerschaften mit der Ehe
markieren. Ich werbe daher dafür, diesem Gesetz zuzustimmen, und bitte Sie, dies am Ende auch zu tun.
({5})
Liebe Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, ich beziehe
mich kurz auf Ihre zwei Änderungsanträge, die Sie einbringen werden und die wir im Finanzausschuss sehr
ausführlich besprochen haben.
Stichwort Kindergeld. Hier fordern Sie eine Ergänzung in der Anwendungsvorschrift des Bundeskindergeldgesetzes.
({6})
Danach soll Kindergeld nach dem Bundeskindergeldgesetz nachträglich und rückwirkend zum August 2001
auch für Lebenspartner gewährt werden, sofern die Kindergeldbescheide noch nicht rechtskräftig sind. Das ist
völlig in Ordnung. Dagegen hat die SPD-Fraktion überhaupt nichts einzuwenden. Das ist gut so, das ist rechtmäßig, auch wir vertreten das. Wir haben nur etwas gegen den Weg. Sie wollen dafür das Kindergeldgesetz
ändern. Wir sagen: Dazu reicht eine Änderung der
Durchführungsanweisung nach dem Bundeskindergeldgesetz. Aus diesem Grund sind wir zwar inhaltlich für
Ihren Antrag, aber weil wir den Weg ablehnen, lehnen
wir letztendlich auch Ihren Antrag ab. Wir gehen davon
aus und werden dafür auch Sorge tragen, dass diese Änderung über den von mir beschriebenen Weg umgesetzt
wird.
({7})
Stichwort Gemeinnützigkeit. In der Abgabenordnung
sind mit Blick auf die steuerlich begünstigte gemeinnützige Tätigkeit bisher die Vereine und Körperschaften als
förderungswürdig erachtet worden, die sich dem Schutz
von Ehe und Familie verschrieben haben; auch Sie
haben diesen Punkt aufgegriffen, Frau Karawanskij. Sie
beantragen heute, die Förderung des Schutzes von Lebenspartnerschaften als begünstigten Zweck anzuerkennen und dort aufzunehmen. Dieser Ansicht können wir
grundsätzlich folgen. Das sage ich ganz klar. Denn auch
nach unserer sozialdemokratischen Ansicht versteht es
sich in einer aufgeklärten toleranten Gesellschaft ganz
von selbst, dass zu einer vollständigen Gleichstellung
eben auch gehört, die Förderung homosexueller Lebenspartnerschaften als gemeinnützigen Zweck in der
Abgabenordnung zu verankern. Leider lässt sich dieses
Selbstverständnis anderen nicht verordnen, auch unserem Koalitionspartner nicht.
Vor diesem Hintergrund bedauere ich es sehr - auch
das unterstreiche ich zweimal -, dass wir aus diesem
Grund und mit Rücksicht auf unseren Koalitionsvertrag
dem von Ihnen vorgelegten Antrag nicht zustimmen
können. Wir tun das jedoch nicht, ohne eine Erklärung
nach § 31 der Geschäftsordnung des Bundestages abzugeben, in der wir noch einmal ausführlich auf die Zusammenhänge hinweisen.
Ich bedaure die Ablehnung des Antrags aber auch
deshalb sehr, weil ich weiß, dass es in den Reihen der
CDU/CSU-Fraktion eine Reihe von Mitgliedern gibt, die
ebenfalls ein solch weltoffenes und tolerantes Gesellschaftsbild haben wie wir.
({8})
Ich glaube, dass wir auf dieser Basis auch zukünftig
noch weiter kommen werden als dorthin, wo wir heute
sind.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, eines möchte ich an
dieser Stelle noch hinzufügen: Damit klar wird, dass wir
nicht vor einem Riesendilemma stehen, möchte ich unterstreichen, dass § 52 der Abgabenordnung Vereinen
und Verbänden schon jetzt ganz klar die Möglichkeit
bietet, sich den Belangen Homosexueller zu stellen und
dafür auch den Status der Gemeinnützigkeit zu bekommen.
Wir reden also heute bei der Beratung Ihres Antrags
über einen Punkt, der im praktischen Leben keine Rolle
spielt. Vor diesem Hintergrund erscheint die Darstellung
in der Öffentlichkeit, hier würde ein Riesenfehler nicht
beseitigt werden, als völlig falsch.
({10})
Mir ist absolut klar, dass wir im Prozess bis zur vollständigen Gleichstellung gleichgeschlechtlicher eingetragener Lebenspartnerschaften mit der Ehe noch einen
weiten Weg vor uns haben. Gleichwohl nähern wir uns
diesem Ziel Schritt für Schritt. Der vorliegende Gesetzentwurf stellt einen solchen Schritt dar.
Unter diesem Gesichtspunkt ist die homosexuelle
Partnerschaft, sofern wir dem Gesetzentwurf heute zustimmen, unter steuerlichen Gesichtspunkten der Ehe
gleich. Das halte ich für einen Fortschritt. Von diesem
Punkt ausgehend wird die SPD-Fraktion weiterarbeiten,
bis wir letztendlich das Ziel erreicht haben.
({11})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Lisa Paus, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Junge, wir werden dem Gesetzentwurf auch zustimmen,
weil er tatsächlich eine weitgehende Umsetzung der Verfassungsgerichtsentscheidung mit sich bringt.
({0})
Trotzdem muss man heute darüber reden, welchen Unsinn Sie mit diesem Gesetz getrieben haben.
({1})
Wir müssen nämlich erneut mit ansehen, wie die
Union auf dem Feld der Gleichstellung von Lebenspartnerschaften eine ihrer letzten ideologischen Schlachten
zelebriert. Ja, bei diesem Thema kommen bei Ihnen Herz
und Bauch zusammen, meine Damen und Herren von
der CDU/CSU. In der vergangenen Wahlperiode wurden
Sie dabei von der inzwischen abgewählten FDP flankiert. In dieser Legislaturperiode reiben wir uns schlichtweg die Augen, was die SPD mit sich machen lässt oder
machen lassen muss. Das ist unwürdig.
({2})
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf war angekündigt, endlich die vollständige steuerliche Gleichstellung
von eingetragenen Lebenspartnerschaften, wie vom
Bundesverfassungsgericht eingefordert, vom Kaffesteuergesetz bis zur Abgabenordnung umzusetzen. Nun wird
eine Einwortänderung in der Abgabenordnung zur Koalitionsräson erklärt. Absurder geht es wirklich nicht
mehr, meine Damen und Herren.
({3})
Das Bundesverfassungsgericht hat in jedem seiner
Urteile klargestellt, wie groß der Abstand zwischen Ehe
und Lebenspartnerschaft sein darf: nämlich genau null.
Sie wissen es. Wir wissen es. Alle Menschen in diesem
Lande wissen es. Doch was tun Sie? Sie unterlaufen
diese Vorgaben nach wie vor. Sie verteidigen bis in die
allerletzten Winkel der Gesetzgebung, bis in die Abgabenordnung hinein, die Privilegierung der Ehe. Sie beharren auf der Diskriminierung der Lebenspartnerschaft
und bleiben bei Ihrer Politik der Nadelstiche, indem Sie
ihre Berücksichtigung als gemeinnützigen Zweck, geregelt in der Abgabenordnung, nicht anerkennen wollen.
Ein bisschen tröstlich ist, dass dies, ähnlich wie im
letzten Jahr beim Ehegattensplitting, in der Praxis der
Anerkennung der Gemeinnützigkeit wohl keine Rolle
spielen wird.
({4})
- Ja, wir hoffen es. Aber wir wissen es nicht. Wir hätten
es als Bundestag klar regeln können. - Auch im letzten
Jahr beim Ehegattensplitting war es der Union ein besonderes Anliegen, hinsichtlich der steuerlichen Gleichstellung etwas zu beschließen. Dabei haben Sie es geschafft, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom
Mai 2013 so zu verbiegen, dass Lebenspartner nicht wie
Angehörige betrachtet werden und zwei getrennte Steuererklärungen abgeben müssen. Aber nachdem jede Finanzbehörde in diesem Land diesen Unsinn als nicht administrierbar kritisiert hat, ist nun damit endlich Schluss.
Hoffentlich wird das auch im Fall der Gemeinnützigkeit
so sein.
({5})
Ich finde es mindestens genauso bemerkenswert, mit
welcher Vehemenz Sie eine gesetzliche Klarstellung
beim Bundeskindergeldgesetz verhindern.
({6})
Mir unterstellen Sie dabei auch noch in der gestrigen
Pressemitteilung, ich hätte das alles nicht verstanden. Es
geht darum, dass eine Verwaltungsanweisung angeblich
viel besser und zielgenauer ist als eine gesetzliche Klarstellung. Sie wissen, dass das nicht stimmt. Wir hätten es
hier einfach und klar gesetzlich regeln können. Nun ist
eine zusätzliche Handlung notwendig.
({7})
Der einzige Grund, warum das nun auf diesem Weg gemacht werden muss, ist, dass nicht das Finanzministerium, sondern das SPD-geführte Familienministerium
zuständig ist.
({8})
Die CDU/CSU muss sich damit die Hände nicht schmutzig machen. Das finde ich einfach nur beschämend.
({9})
- Das ist schon überzeugend, liebe Kollegin. Zum Beispiel hat das Justizministerium darauf hingewiesen, dass
es besser gewesen wäre, das gesetzlich zu regeln. Das
wissen Sie genauso gut wie ich. Die Gründe, warum es
anders gekommen ist, sind diejenigen, die ich gerade angeführt habe.
Beamtenbesoldung, Erbschaftsteuer, Grunderwerbsteuer, Einkommensteuer und Sukzessivadoption - in Ihrem Kampf gegen das Verfassungsgericht liegen Sie
0 : 5 hinten. Aber Sie spielen noch immer auf Zeit. Was
braucht es denn noch, damit Sie endlich umdenken? Wir
geben Ihnen nun die letzte Gelegenheit. Wir haben zwei
Änderungsanträge vorgelegt. Stimmen Sie ihnen zu! Ansonsten wird es mit Sicherheit weitere Urteile zum Beispiel zum Adoptionsrecht geben. Dann werden wir uns
erneut mit Ihren verklemmten Rückzugstaktiken befassen müssen. Bei anderen Themen haben Sie es doch
auch geschafft, die Oppositionsmeinung zu übernehmen.
Lassen Sie den Menschen endlich den Gestaltungsfreiraum, der ihnen von unserer Verfassung her zusteht! Geben Sie den Lesben und Schwulen in diesem Land endlich eine Chance auf Nichtdiskriminierung!
({10})
Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich das
Wort dem Abgeordneten Philipp Graf von und zu
Lerchenfeld, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Vielen Dank. - Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Hohes Haus! Mit der Verabschiedung des Gesetzes zur Anpassung steuerlicher
Regelungen an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts setzen wir heute die Vorgaben der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 7. Mai
2013 vollumfänglich um. Für manche Änderungen
wurde durch die Erklärung der Bundesregierung Klarheit geschaffen - beispielsweise auf dem Gebiet des
Bundeskindergeldgesetzes -, sodass sich Ihre Änderungsanträge total erledigt haben. Die Beschlussempfehlung unseres Ausschusses, das Gesetz in der jetzt vorliegenden Fassung, die durch einen Antrag auf eine
notwendige Konkretisierung der Lebenspartnerschaften
geändert wurde, anzunehmen, wird von allen Fraktionen
mitgetragen, wie man hört.
Von einigen Seiten - auch von Ihnen - wurden weiter
gehende Änderungen gewünscht. Diese Änderungen
entsprechen aber nicht der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die wir, wie gesagt, bereits in vollem
Umfang umgesetzt haben. Insbesondere die Änderungswünsche hinsichtlich des § 52 Absatz 2 AO sind gerade
nicht aus dem Bundesverfassungsgerichtsurteil abzuleiten. Das Schutz- und Fördergebot - ich ergänze hier: des
Artikels 6 Grundgesetz - bildet einen sachlichen Differenzierungsgrund, der geeignet ist, die Besserstellung
der Ehe gegenüber anderen, durch ein geringeres Maß an
wechselseitiger Pflichtbindung geprägten Lebensgemeinschaften zu rechtfertigen.
Ich beziehe mich im Folgenden auf mehrere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts sowohl aus dem
Jahr 2012 als auch aus dem Jahr 2013. Das Grundgesetz
stellt nämlich in Artikel 6 Absatz 1 Ehe und Familie unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. Damit garantiert die Verfassung nicht nur das Institut der
Ehe, sondern gebietet als verbindliche Wertentscheidung
für den gesamten Bereich des Ehe und Familie betreffenden privaten und öffentlichen Rechts einen besonderen
Schutz durch die staatliche Ordnung.
Die Ehe als allein der Verbindung zwischen Mann
und Frau vorbehaltenes Institut erfährt durch den Artikel 6 Absatz 1 Grundgesetz einen eigenständigen verfassungsrechtlichen Schutz. Um diesem Schutzauftrag Genüge zu tun, ist es insbesondere Aufgabe des Staates,
alles zu unterlassen, was die Ehe beschädigt oder sonst
beeinträchtigt, und sie durch geeignete Maßnahmen zu
fördern. Dies kommt im § 52 Absatz 2 Nummer 19 AO
zum Ausdruck, wo die Förderung des Schutzes der Ehe
und Familie als gemeinnütziger Zweck ausdrücklich anerkannt wird. Die Anerkennung der Förderung der Ehe
und Familie als gemeinnütziger Zweck folgt somit unmittelbar aus dem Grundgesetz und muss auch in dieser
Form erhalten bleiben.
Die Anträge der Grünen sind aus zwei Gründen abzulehnen. Der eine ist die Erklärung der Bundesregierung,
die sehr deutlich gemacht hat, dass kein Änderungsbedarf besteht; der andere Grund ist, weil sie über die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hinausgehen.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, alle Fraktionen haben diesem Gesetzentwurf in der geänderten Fassung zugestimmt und einstimmig eine Beschlussempfehlung für den Gesetzentwurf gegeben. Ich bitte Sie
deshalb, dem Gesetzentwurf heute in dieser Fassung Ihre
Zustimmung zu geben.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Anpassung steuerlicher Regelungen an die Rechtspre-
chung des Bundesverfassungsgerichts. Der Finanzaus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/1647, den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung auf den Drucksachen 18/1306 und 18/1575 in
der Ausschussfassung anzunehmen.
Hierzu liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor, über die wir zuerst abstim-
men. Zu diesen Änderungsanträgen auf den Drucksa-
chen 18/1662 und 18/1663 liegen einige Erklärungen
nach § 31 der Geschäftsordnung vor, die wir zu Proto-
koll nehmen.1)
Wir kommen zum Änderungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/1662. Wer
stimmt für diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dage-
gen? - Wer enthält sich? - Der Änderungsantrag auf
Drucksache 18/1662 ist mit den Stimmen der CDU/
CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion abgelehnt bei Zu-
stimmung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der
Fraktion Die Linke.
Wir kommen zum zweiten Änderungsantrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/1663.
Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Der Änderungsantrag auf
Drucksache 18/1663 ist mit den Stimmen der CDU/CSU
und der SPD abgelehnt, dafür stimmten Bündnis 90/Die
Grünen und die Fraktion Die Linke.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? -
Damit ist der Gesetzentwurf in der Ausschussfassung
einstimmig in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetz-
1) Anlagen 3, 4, 5
entwurf ist mit den Stimmen aller Fraktionen des Hauses
einstimmig angenommen.
({0})
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Kathrin
Vogler, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Umwidmung nicht genutzter Bundesmittel
der United Nations Mission in South Sudan
({1}) für die Unterstützung des unbewaffneten Schutzes der Zivilbevölkerung im
Südsudan
Drucksache 18/1614
Ich darf die Kolleginnen und Kollegen, die jetzt das
Haus zu verlassen gedenken, darauf hinweisen, dass wir
nach dieser Debatte noch eine ganze Reihe von Abstimmungen haben. Es wäre schön, wenn sich dazu auch
noch Abgeordnete im Plenum befänden, die diese Abstimmungen vornehmen könnten.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache zum Tagesordnungspunkt 19 25 Minuten vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Kathrin Vogler,
Fraktion Die Linke.
({2})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ende 2013
entbrannte im Südsudan ein blutiger Machtkampf zwischen den Truppen des ehemaligen Vizepräsidenten
Riek Machar und der Regierungsarmee SPLA. Bis zum
Waffenstillstand im Mai starben Tausende; etwa 800 000
Menschen mussten fliehen. Schon 2010, vor der Unabhängigkeit, als ich mit Kolleginnen und Kollegen meiner
Fraktion im Südsudan vor Ort war, haben wir befürchtet,
dass ein solcher Gewaltausbruch wieder möglich wäre.
Es ist ungemein bitter, zu erleben, dass unsere Befürchtungen wahr geworden sind.
Aufgrund unserer Beobachtungen haben wir 2011 einen Antrag mit konkreten Vorschlägen in den Bundestag
eingebracht. Damals haben wir zum Beispiel gefordert:
die Stärkung der Zivilgesellschaft, die langfristige
Unterstützung innersudanesischer Ansätze für zivile
Konfliktbearbeitung, für Dialog, für Versöhnungs- und
Traumaarbeit und dass sich die Bundesregierung im UNSicherheitsrat dafür einsetzt, dass ein künftiges UNMandat nicht der militärischen Logik folgt, sondern auf
Konfliktlagen frühzeitig mit Mitteln der zivilen und gewaltfreien Konfliktbearbeitung deeskalierend reagiert.
Dieses UN-Mandat mit dem Namen UNMISS wurde
dann allerdings doch ein vorwiegend militärisches. Trotz
eines Jahresetats von 924 Millionen US-Dollar und bis
zu 7 000 Soldaten und 900 Polizisten im Einsatz konnte
UNMISS gegen die Gewaltausbrüche nicht viel mehr
tun, als Zehntausenden Flüchtlingen die Türen ihrer
Stützpunkte zu öffnen. Das war ein wertvoller, aber kein
ausreichender Beitrag zum Schutz der Zivilbevölkerung.
({0})
Schon im Januar 2013 hatte eine unabhängige Evaluation ergeben, dass UNMISS vor allem politisch und
zivil erfolgreich war. Deswegen gab es die Empfehlung,
die militärische Komponente radikal zu reduzieren und
gerade politische und zivile Kapazitäten aufzubauen.
({1})
Das Gegenteil ist leider passiert, und das findet die
Linke grundfalsch.
({2})
Deutschland unterstützt UNMISS über den Peacekeeping-Haushalt der Vereinten Nationen, und Deutschland gibt noch extra Mittel für den Bundeswehreinsatz
im Rahmen von UNMISS. Davon wird allerdings nur
etwa ein Drittel jedes Jahr verbraucht. Allein im letzten
Jahr sind 1,2 Millionen Euro übrig geblieben. Um diese
Mittel geht es in unserem Antrag. Wir wollen sie einsetzen, um die Arbeit ziviler Akteure im Südsudan beim
Schutz der Zivilbevölkerung zu fördern.
({3})
Ich denke zum Beispiel an Nonviolent Peaceforce.
Nonviolent Peaceforce ist eine internationale Organisation, die mit der lokalen Bevölkerung gemeinsam
Schutznetzwerke aufbaut und damit erfolgreich gegen
ethnische Spaltung agiert. Sie hat dafür gesorgt, dass in
dem Konflikt Dinka Nuer geschützt haben und dass
Nuer Dinka geschützt haben. Es wurden Gerüchte aufgeklärt, die zu Hass hätten führen können, und Flüchtlinge
aus den Kampfgebieten unterstützt. Für eine solche
Arbeit braucht es eine flächendeckende, eine große Präsenz, vor allem in einem Riesenland wie dem Südsudan.
Deswegen hat sich diese Organisation mit anderen Organisationen im South Sudan Protection Cluster vernetzt.
Die Arbeit dieser Organisation, so wertvoll sie ist,
kostet nicht viel. Aber selbst das wenige Geld, das sie
braucht, fehlt. Deswegen werben wir dafür, mehr Mittel
für genau diese Arbeit zur Verfügung zu stellen, um die
Handlungsmöglichkeiten ziviler und gewaltfreier Organisationen zu verbessern und um damit mehr für den
Schutz der Menschen vor Gewalt zu tun. Deshalb bitte
ich Sie und werbe dafür: Unterstützen Sie unseren Antrag! Unterstützen Sie ziviles, unbewaffnetes Peacekeeping!
Danke.
({4})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Thorsten Frei, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben in
diesem Jahr schon sehr oft in diesem Hause darüber diskutiert, wie wir auf krisenhafte Situationen in der Welt
angemessen reagieren können. Häufig waren damit militärische Einsätze und Aufträge verbunden. Aber insgesamt sind wir in knapp 50 Friedensmissionen weltweit
unterwegs und tätig.
Ich glaube, die Fraktion Die Linke darf durchaus für
sich in Anspruch nehmen, dass sie sich mit dem Thema
„zivile Friedensarbeit“ sehr intensiv auseinandersetzt.
({0})
Es ist aber auch richtig, dass die Linken ein typisches
Schwarz-Weiß-Schema anwenden, bei dem sie auf der
einen Seite ein Bild von Frieden und Harmonie zeichnen
und auf der anderen Seite den Einsatz militärischer Mittel verteufeln. Damit blenden sie einen großen Teil der
Wirklichkeit aus, und damit tun sie so, als ob bei Konflikten wie im Südsudan oder auch andernorts allein mit
zivilen Mitteln eine Besserung der Situation erreicht
werden kann. Gerade das ist nicht der Fall. Wer Ihren
Vortrag, Frau Vogler, gehört hat, dem ist deutlich geworden, dass eine rein zivile Antwort in einer solchen Situation schlicht nicht ausreicht.
Ich glaube sehr wohl, dass wir in unserer Außenpolitik auch eigene Interessen zu verfolgen haben und dass
wir ein Interesse daran haben, in europäischer Nachbarschaft letztlich für Frieden, für Sicherheit und für Stabilität zu sorgen. Genau dafür braucht man die UNMISS,
die ganz erfolgreich gearbeitet hat und arbeitet.
Was haben wir für eine Situation im Südsudan? Es ist
ein vergleichsweise kleines Land mit gerade einmal
9 Millionen Einwohnern.
({1})
- Ein großes Land, gemessen an der Fläche, aber ein
kleines Land, gemessen an der Einwohnerzahl. - Im Jahr
der Unabhängigkeit wurden bereits 2,2 Milliarden Dollar an internationaler Hilfe eingesetzt. Im vergangenen
Jahr - Sie haben die Zahl selber genannt - waren es
925 Millionen Dollar. Im Mai hat eine internationale
Geberkonferenz entschieden, die zugesagten Mittel zu
verdoppeln. Es fließt unheimlich viel Geld in dieses
Land.
({2})
Darüber hinaus müssen wir, glaube ich, zur Kenntnis
nehmen, dass die Grundvoraussetzungen im Südsudan
gar nicht schlecht sind, weil insbesondere aus den
Ölvorkommen in den vergangenen Jahren Erlöse in Milliardenhöhe geflossen sind. Das heißt, es ist keine Frage
des Geldes. Man muss vielleicht sehr viel eher überlegen, wie man die vorhandenen Mittel richtig einsetzt und
Eigenverantwortung vor Ort entwickelt. Dazu gehört,
dass man klare Erwartungen damit verbindet und diese
auch formuliert.
Frau Vogler, Sie sind auch darauf eingegangen, dass
der dahinterliegende ethnische Konflikt zwischen den
Volksstämmen der Dinka und Nuer, der sich letztlich
auch in den beiden Personen des Präsidenten Kiir und
des Rebellenführers Machar abbildet, die große Konfliktlinie in diesem Land ist. Deshalb, glaube ich, ist es
ganz entscheidend, dass man es schafft, die Parteien wieder an den Verhandlungstisch zurückzubringen. Der
Friedensschluss vom Mai dieses Jahres war ein erstes
zartes Pflänzchen, das sich da gezeigt hat, und jetzt geht
es darum, diesen Friedensschluss nachhaltig umzusetzen.
Es ist wahr, dass unvorstellbare Gräueltaten im
Südsudan heute wieder an der Tagesordnung sind, dass
es Verfolgung gibt, dass Kinder als Soldaten missbraucht
werden, dass eine Hungerkatastrophe im Anzug ist und
vieles mehr. Über 10 000 Menschen haben in diesem
Konflikt erst jüngst ihr Leben verloren, und - Sie haben
es selbst gesagt - etwa 60 000 Flüchtlinge haben Camps
von UNMISS zum Schutz erreichen wollen und auch
erreicht. Daran wird klar, dass rein zivile Mittel und
Bürgernetzwerke auf Dorfebene, wie es beispielsweise
Nonviolent Peaceforce macht - sicherlich eine sehr gute
Arbeit -, den Anforderungen angesichts der Situation
vor Ort letztlich nicht gerecht werden, sondern das eigentliche Problem die fehlende Staatlichkeit, die fehlenden Strukturen sind.
Genau darauf und auf die Probleme in der Justiz
- Korruption und dergleichen mehr - ist UNMISS die
richtige Antwort. Es ist die richtige Antwort, weil es sich
dabei nicht um einen Kriegseinsatz handelt, sondern um
eine Beobachtermission, in der 12 500 Soldatinnen und
Soldaten aus 66 Nationen ihren Auftrag in einer hervorragenden Art und Weise erledigen.
({3})
Wir glauben, das Problem besteht nicht darin, dass da
zu wenig Geld im Spiel ist; wir müssen letztlich auf Eigenverantwortung und auf die richtigen Rahmenbedingungen vor Ort setzen. Darauf müssen wir Rücksicht
nehmen. Genau das tun wir. Deshalb werben wir dafür,
Ihren Antrag abzulehnen.
Vielen Dank.
({4})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Agnieszka Brugger, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Sit and
wait is no option.“ Diesen starken Satz hat Verteidigungsministerin von der Leyen auf der Münchner Sicherheitskonferenz gesagt. Er wurde breit verstanden als Abkehr
von der Kultur der militärischen Zurückhaltung. Das
wäre ein Kurs, den wir Grüne klar ablehnen würden.
({0})
Sie hat danach gesagt - das haben Sie von der Koalition immer wieder betont -, es gehe vor allem darum,
zivile Instrumente zur Konfliktlösung und zur Krisenprävention einzusetzen. Das ist die Botschaft, mit der Sie
die neuen „Afrikapolitischen Leitlinien der Bundesregierung“ gerade verkaufen.
Was tun wir denn genau in Afrika? Es gab in den letzten Monaten schöne Bilder von der Mali-Reise der
Verteidigungsministerin. Es gibt die schreckliche Gewalteskalation in der Zentralafrikanischen Republik, wo
der deutsche Beitrag zur Konfliktlösung mit Blick auf
den zivilen Bereich ehrlicherweise mehr als bescheiden
ist.
Während wir alle hier sehr abstrakt über Afrika diskutieren, ist im Südsudan Folgendes passiert: Präsident
Salva Kiir und der Exvizepräsident Machar haben ihren
persönlichen Machtkampf anhand ethnischer Linien
blutig eskalieren lassen. Es ist ein humanitäres Desaster
eingetreten. Es gab über 20 000 Todesopfer, wobei die
genauen Zahlen nicht gesichert sind; es sind wahrscheinlich viel mehr. 1,5 Millionen Menschen sind im Südsudan intern vertrieben. 863 000 Menschen sind in die
Nachbarländer geflohen. Es droht eine Hungerkatastrophe. Die UN sagen, dass sie in den nächsten drei Jahren
1,1 Milliarden Euro brauchen. Es ist zu grausamsten
Menschenrechtsverletzungen gekommen. Todesschwadronen sind durch das Land gezogen. Das Ausmaß an
sexueller Gewalt ist wirklich erschreckend. Kinder wurden als Soldaten rekrutiert. Es ist eine desaströse Situation, die wir dort gesehen haben.
Dazu gab es aber kaum ein Wort von Verteidigungsministerin von der Leyen und von Außenminister
Steinmeier, obwohl die Bundeswehr im Rahmen der
UN-Friedensmission UNMISS dort vor Ort ist.
Ich habe die Bundesregierung in den letzten Wochen
mehrfach gefragt, wie sie innerhalb der Vereinten Nationen zu dem Thema Individualsanktionen bezüglich der
zwei - anders kann man sie nicht nennen - Verbrecher
steht. Bis heute hat die Bundesregierung hierzu keine
klare Haltung eingenommen. Damit haben sich Ihre großen Ankündigungen von der neuen Verantwortung der
deutschen Außen- und Sicherheitspolitik für mich ein
Stück weit als Showreden an die Adresse der westlichen
Partner entlarvt.
({1})
In dem Antrag der Linken wird gefordert, nicht abgerufene Haushaltsmittel für UNMISS in den unbewaffneten Schutz der Zivilbevölkerung zu investieren. Herr
Kollege Frei, egal wie lange ich darüber nachdenke, ich
kann darin nichts Falsches sehen. Es ist eine absolut
richtige Forderung.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei,
ich bin wirklich sehr positiv überrascht über Ihren AnAgnieszka Brugger
trag und auch darüber, dass Sie so klar einräumen, das
UNMISS einen sehr wertvollen Beitrag zum Schutz der
Zivilbevölkerung geleistet hat. Über 93 000 Menschen
haben dort Zuflucht gefunden. Ich bin denjenigen, die im
Rahmen von UNMISS ihren Dienst tun, zutiefst dankbar
für jeden Einzelnen, den sie vor Gewalt retten konnten.
({3})
Es ist völlig richtig - das tun auch Sie in Ihrem Antrag -, zu der Konzeption von UNMISS kritische Fragen
zu stellen und kritische Punkte anzumerken. Aber ich
finde, dieser Antrag und auch die Rede der Kollegin
Vogler stehen in einem sehr wohltuenden Kontrast zu
den Reden, die Sie von der Linkspartei sonst zum Teil
hier gehalten haben. Teilweise haben Sie, wie ich finde,
mit sehr konstruierten Argumenten den UNMISSEinsatz abgelehnt.
({4})
Ihr Antrag wäre aber noch besser gewesen, wenn Sie
noch weitere Forderungen aufgenommen hätten, zum
Beispiel die Forderung, UNMISS zu stärken und zu verändern. Da geht es um mehr Personal - es kann ja auch
ziviles Personal sein, es muss nicht immer militärisches
Personal sein -, es geht um Transportkapazitäten. Jetzt
schaue ich in Richtung Bundesregierung: Es geht darum,
die Mittel für die humanitäre Hilfe zu erhöhen. Herr Außenminister Steinmeier hat 6 Millionen Euro zusätzlich
zur Verfügung gestellt. Wir brauchen aber, wie gesagt,
über 1 Milliarde Euro.
Die Bundesregierung muss klare Position beziehen
und sagen: Wenn die beiden Kontrahenten den Waffenstillstand nicht umsetzen und keine Vereinbarungen für
die Zukunft treffen, dann muss politischer Druck ausgeübt werden und dann müssen endlich Sanktionen verhängt werden.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
„Sit and wait is no option.“ Wenn das mehr als nur
schöne Schaufensterreden sein sollen, dann sollten Sie
dem Antrag der Linken zustimmen.
Vielen Dank.
({6})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Gabriela Heinrich, SPD Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen und
Kolleginnen! Meine Damen und Herren! Hunger, Armut, Gewalt, Flucht, Vertreibung und Tod kommen im
Südsudan derzeit zusammen. Die Lage der Menschen im
Südsudan - das wurde bereits erwähnt - ist katastrophal.
In einer solchen Situation geht es jetzt darum - es geht
uns allen darum -, den Menschen zu helfen, so schnell
wie irgend möglich. Deswegen unterstützen wir als
Bundesrepublik zum einen UNMISS, die Mission der
Vereinten Nationen im Südsudan. Sie hat den klaren
Auftrag, die Zivilbevölkerung zu schützen und die humanitäre Hilfe abzusichern.
Der Antrag der Linken erkennt an, dass UNMISS einen Beitrag zum Schutz der Bevölkerung geleistet hat
und nennt dabei die Öffnung der UNMISS-Stützpunkte
für - das sind meine Zahlen - 65 000 Vertriebene. Es ist
auch richtig, dass UNMISS nicht im ganzen Land für
Sicherheit sorgen kann. Auch UNMISS-Soldatinnen und
-Soldaten sind Angriffen ausgesetzt. Ein Beispiel dafür
ist der Angriff von Bewaffneten auf ein UNMISS-Gelände in Bor vor zwei Monaten mit mindestens 48 Toten.
Selbst die Welthungerhilfe fordert deshalb, die
Schutzfunktion für die Zivilbevölkerung im Rahmen der
Erneuerung von UNMISS auszuweiten, wobei auch
Deutschland seinen Beitrag leisten soll. Die Frage, ob
und wie wir UNMISS weiterentwickeln, wird uns sehr
bald beschäftigen. Fest steht, dass die Forderung der
Linken nach unbewaffnetem Schutz der Zivilbevölkerung, wenn sie als Alternative zu UNMISS gemeint sein
sollte, komplett an der Realität des Landes vorbeigeht.
Dabei ist die Beteiligung an UNMISS bei weitem
nicht der einzige Beitrag Deutschlands. Außenminister
Frank-Walter Steinmeier hat auf der Geberkonferenz in
Oslo - das wurde bereits erwähnt - vor kurzem 6 Millionen Euro für weitere humanitäre Hilfe zugesagt. Ich
würde schon sagen, dass sich der Außenminister an dieser Stelle zur Situation des Landes geäußert hat.
({0})
Frau Kollegin Heinrich, es gibt den Wunsch nach einer Frage von Frau Kollegin Vogler. Möchten Sie sie zulassen?
Bitte.
Frau Kollegin, eigentlich hat es mir schon beim Kollegen Frei in den Fingern gejuckt, aber jetzt erwischt es
Sie. Ich kann den Beiträgen der Regierungskoalition
nicht entnehmen, dass Sie unseren Antrag wirklich gelesen haben.
({0})
Wir fordern darin nicht, UNMISS umgehend einzustellen. Wir fordern nur, dass die Bundesregierung die Mittel, die sie für UNMISS bereits eingeplant hatte, freigibt,
um damit andere zivile und gewaltfreie Organisationen,
die bereits erfolgreich arbeiten, zu fördern und es ihnen
zu ermöglichen, den Schutz der Zivilbevölkerung zu organisieren. Es handelt sich nur um einen winzigen, kleinen Anteil des Gesamtbeitrages, der über die Vereinten
Nationen in das UNMISS-Budget fließt. Ich verstehe
nicht, zu welchem Antrag Sie hier reden. Wir reden über
einen sehr konkreten Antrag.
({1})
Es geht um eine relativ kleine Summe, mit der sehr viel
bewegt und verändert werden kann.
Wenn Sie sagen, Sie lehnen einen Antrag von uns ab,
dann können Sie ihn gerne abschreiben und das Geld
von anderer Stelle nehmen. Woher Sie es nehmen, ist
mir letzten Endes egal. Wichtig ist mir, dass es bei den
Menschen und Organisationen ankommt, die zum
Schutz der Zivilbevölkerung, der Menschen im Südsudan, die sich in dieser fürchterlichen Situation befinden,
beitragen; denn sie haben effektiv gearbeitet. Sie haben
Erfolge erzielt. Ohne diese Organisationen wäre im letzten Bürgerkrieg noch viel mehr passiert. Deshalb muss
man diese Ansätze ausbauen und fördern.
Insofern bitte ich Sie: Sprechen Sie einmal konkret zu
diesem Antrag, der vorliegt, und verhalten Sie sich dazu.
({2})
Frau Vogler, ich werde mich sofort dazu verhalten.
Ich habe Ihren Antrag sehr genau gelesen. Dieser Antrag
hat unzweifelhaft für die SPD einen gewissen Charme.
Ich habe mich auch erkundigt, ob eine Umwidmung dieser Mittel möglich wäre, habe aber eine abschlägige
Antwort erhalten; dazu komme ich noch. Ich glaube, wir
sind uns einig, dass wir alle miteinander den Menschen
im Südsudan so schnell wie möglich helfen wollen. Ich
möchte aber in meinen Ausführungen darstellen, dass
Deutschland sich sehr wohl seiner Verantwortung bewusst ist und an dieser Stelle im Moment sehr viele Mittel einsetzt. Wir können nachher noch einmal darüber reden.
Ich komme nun zu meinen Ausführungen zurück. Die
Beteiligung an UNMISS ist bei weitem nicht der einzige
Beitrag Deutschlands. Ich habe es schon gesagt: Der Außenminister hat 6 Millionen Euro für weitere humanitäre
Hilfe zugesagt.
Insgesamt werden wir allein für humanitäre Hilfe in diesem Jahr 12,5 Millionen Euro zur Verfügung stellen. Das
ist dringend notwendig - da gebe ich Ihnen völlig recht -,
und ich bin sehr froh, dass sich der Außenminister hier
entsprechend einsetzt.
Der Entwicklungsminister hat bereits im März
10 Millionen Euro für das Welternährungsprogramm zugesagt. Mit einem Quick Response Fonds in Höhe von
5 Millionen Euro wird Deutschland Hilfeleistungen von
Nichtregierungsorganisationen im Südsudan unterstützen, zum Beispiel die Verteilung von Saatgut. Weitere
7,5 Millionen Euro werden Nichtregierungsorganisationen vor Ort erhalten. Aber erst Ende April konnte ein
Expertenteam aus Deutschland wieder einreisen und versucht jetzt, die Hilfe unter sehr schwierigen Bedingungen zu starten.
Die bisherigen Waffenstillstandsabkommen - da werden Sie mir recht geben - sind brüchig. Deutschland und
die EU werden weiter mit ganzer Kraft - ein Kollege hat
darauf hingewiesen - die afrikanischen Vermittlungsbemühungen unterstützen, hier weiter voranzukommen,
und das aus gutem Grund: Der politische Konflikt um
die Macht, um Geld und um Öl ist der Kernkonflikt in
diesem Land, an dem alles Weitere hängt. Ohne eine belastbare Einigung werden wir keinen nachhaltigen Frieden im Südsudan erhalten. Wir werden auch nachgelagerte Konflikte nicht lösen können, solange die Wurzel
des Konflikts unverändert besteht.
Um es zusammenzufassen: Die deutsche Unterstützung für den Südsudan ist weit mehr als die Beteiligung
an UNMISS.
Die im Antrag der Linken angesprochene unbewaffnete Friedenssicherung - ich habe es schon gesagt - hat
für die SPD durchaus einen speziellen Charme. Wir unterstützen seit langem den Zivilen Friedensdienst, dessen
Gründung unter Rot-Grün von Heidemarie WieczorekZeul vorangetrieben wurde. Die Große Koalition bekennt sich zum einst von Rot-Grün verabschiedeten Aktionsplan „Zivile Krisenprävention, Konfliktforschung
und Friedenskonsolidierung“. Das BMZ finanziert weltweit Projekte der deutschen Friedens- und Entwicklungsorganisationen, die den Zivilen Friedensdienst tragen.
({0})
Die Stärkung des Zivilen Friedensdienstes war und ist
gerade für uns als SPD ein wichtiges Anliegen; das haben wir auch bei den diesjährigen Haushaltsberatungen
deutlich gemacht. Ich denke, an dieser Stelle müssen wir
uns nichts vorhalten lassen.
Aber davon abgesehen, dass eine Umwidmung im
Haushalt nicht möglich ist, darf man UNMISS und die
zivile Friedenssicherung nicht gegeneinander ausspielen. Auch wenn es in einzelnen Dörfern - ich habe Ihren
Antrag sehr genau gelesen - möglich sein mag, dass
Menschen ihre Nachbarn, die einer anderen ethnischen
Gruppe angehören, schützen: 800 000 Menschen, Binnenflüchtlinge, sind im Südsudan aktuell auf der Flucht,
mindestens 20 000 Menschen - die Zahl wurde schon
genannt - sind getötet worden. Das Land befindet sich
mitten im Konflikt. Beobachter berichten von Leichen
am Straßenrand und stündlichen Übergriffen der verschiedenen Milizengruppen.
Zuletzt sollen im April bei der Eroberung der ÖlHauptstadt Bentiu allein 200 Zivilisten ermordet worden
sein, die in einer Moschee Zuflucht gesucht hatten. Es
soll eine regelrechte Jagd auf Menschen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit gegeben haben. Die Truppen der
Vereinten Nationen konnten einige Hundert Zivilisten in
das UNMISS-Camp evakuieren.
Hier müssen wir die Parallelen zu Ruanda beachten.
({1})
Auch dort ging es ursprünglich nicht um einen ethnischen Konflikt, sondern um die Instrumentalisierung der
ethnischen Zugehörigkeit. Am Ende stand in Ruanda ein
Völkermord. Auch im Südsudan instrumentalisieren die
Konfliktparteien die ethnischen Zugehörigkeiten. Es
wurde und es wird Hass im Südsudan gesät, der letztlich
zu einer Spirale von Gewalt und Gegengewalt geführt
hat und weiter führen wird. Ich halte es deshalb für eine
Illusion, zu glauben, dass aktuell unbewaffnete, zivile
Kräfte ein weiteres Blutvergießen verhindern können.
({2})
Wir müssen jetzt die Grundlagen dafür schaffen, dass
sich die Menschen wieder frei und ohne Angst vor Gewalt bewegen und ihre Felder bestellen können. Dann
kann auch die Entwicklungszusammenarbeit wieder mit
voller Kraft anlaufen. Die Aufarbeitung und die Versöhnung im Land müssen darauf aufbauen, um die Gefahr
künftiger Konflikte zu verringern und den Frieden nachhaltig abzusichern. Aber zuvor muss die internationale
Gemeinschaft darauf hinwirken, dass der Waffenstillstand dauerhaft eingehalten wird.
Mit Ihrem Antrag werden Sie unserer Ansicht nach
der aktuellen Situation im Südsudan nicht gerecht, und
daher werden wir Ihrem Antrag nicht zustimmen.
Vielen Dank.
({3})
Als letzter Rednerin in dieser Debatte erteile ich das
Wort der Abgeordneten Emmi Zeulner, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir alle sind uns der nicht tragbaren, katastrophalen Lage im Südsudan bewusst, katastrophal vor allem für die zivile Bevölkerung, die leider - wie so oft Leidtragende politischer und ethnischer Machtkämpfe
ist. Ihr Schutz - da sind wir uns alle einig - ist und bleibt
oberste Priorität für jede Hilfeleistung Deutschlands und
der Vereinten Nationen. Dies hat der Sicherheitsrat in
seiner letzten Resolution auch bewusst mit der Fokussierung der UNMISS auf den Schutz der Zivilbevölkerung
und der humanitären Hilfe klargestellt. Auch Bundesminister Dr. Müller hat bestätigt, dass bereits um die
30 Millionen Euro an finanziellen Zusagen bereitgestellt
wurden und mit der Umsetzung der humanitären Hilfe
zügig begonnen wurde. Im laufenden Jahr sollen die
Mittel noch einmal substanziell gesteigert werden.
Gerade vor diesem Hintergrund lautet meine Antwort
auf den Antrag der Fraktion Die Linke: Wir brauchen die
im Einzelplan vorgesehenen Bundesmittel für internationale Einsätze der Bundeswehr auch weiterhin an dieser
Stelle. In Krisengebieten, wie es der Südsudan ist, kann
nur die VN-Mission den nötigen Rahmen für eine wirkungsorientierte humanitäre Hilfe bilden. Die Bundeswehr vor Ort muss voll handlungsfähig bleiben. Wenn
die Lage im Südsudan allein durch Geld, insbesondere
durch die von der Linken vorgeschlagene Umbuchung,
zu lösen wäre, glauben Sie dann ernsthaft, dass wir uns
zu einem Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte entschlossen hätten,
({0})
bei dem Bundeswehrsoldaten auch ernsten Gefahren
ausgesetzt wären?
({1})
Vor allem ist der Antrag schlichtweg nicht mit der
Haushaltssystematik, insbesondere der Jährlichkeit der
Mittel, vereinbar. Die Linke verkennt, dass die nicht verwendeten Haushaltsmittel aus dem Einzelplan 14, die
zunächst für die UNMISS vorgesehen werden, nicht einfach ungenutzt bleiben, sondern umgehend in andere internationale Missionen der Bundeswehr wie zum Beispiel MINUSMA fließen, wo sie auch dringend benötigt
werden.
Die Rolle und Notwendigkeit von UNMISS muss
hervorgehoben werden. Der Südsudan ist seit der Sezession im Jahr 2011 der jüngste Staat der Erde. Er ist aus
einer Rebellenbewegung heraus entstanden, die sich
noch immer vor der strukturellen Herausforderung der
neu gewonnenen Staatlichkeit sieht. Machen wir uns
nichts vor: Unser Verständnis von Staatlichkeit, ja
Rechtsstaatlichkeit und von einer Regierung ist hier völlig verfehlt. Es handelt sich um eine Regierung, die sich
in den politischen Machtkämpfen auf blutige Weise
durchgesetzt hat. Im Mittelpunkt steht der ethnische
Konflikt zwischen den vom Präsidenten Kiir geführten
Dinka und den hinter dem ehemaligen Vizepräsidenten
Machar stehenden Nuer.
Auch wenn es im Mai dieses Jahres auf internationalen Druck hin zu einer Friedensvereinbarung kam, ist
dies leider kein Garant für eine andauernde Stabilität.
Auf Grundlage dieser Analyse stellt sich nun die
Frage, welche Unterstützung die Bevölkerung benötigt.
Sehr schnell komme ich zu dem Schluss: Unbewaffneter
Schutz ist hierbei ein Widerspruch in sich.
({2})
Dies zeigen die Überfälle auf und in Flüchtlingslagern.
Zentraler Punkt muss die Hilfe zur Selbsthilfe beim Aufbau eines neuen Staates sein. Doch dazu ist es meiner
Ansicht nach noch zu früh. Auf den Trümmern eines
Bürgerkrieges lässt sich schwer ein stabiler Staat bilden,
der der Bevölkerung Sicherheit bieten kann. Ich spreche
hier noch nicht einmal von einer Sicherheit im Sinne des
erweiterten Sicherheitsbegriffes, die den Bürgern Schutz
nach innen und außen gewährt, auch wenn ich der Meinung bin, dass der erweiterte Sicherheitsbegriff als langfristiges Ziel im Rahmen eines Gesamtkonzeptes für
Afrika von der internationalen Gemeinschaft gelebt werden muss.
({3})
Nein, ich spreche zunächst von einem grundlegenden
Sicherheitsgefüge, welches ein Staat seiner Bevölkerung
gewährleisten sollte. In einem Staat, der von einer Rebellenarmee ohne Loyalität und Kohäsion unterstützt
wird, ist dies nicht möglich.
Deswegen ist der bewaffnete Einsatz der VN so wichtig. Bewaffneter Einsatz heißt ja nicht, dass die Vereinten Nationen mit gezogener Waffe vor Ort handeln. Bewaffneter Einsatz heißt, dass es ein robustes Mandat gibt
und die Angehörigen von UNMISS ihr Mandat notfalls
auch durch Androhung - und erst in der höchsten Eskalationsstufe durch Anwendung - von staatlicher Waffengewalt durchsetzen können.
({4})
Diese Bewaffnung dient letztlich auch dem Selbstschutz
der Soldaten.
Die Leistung der VN möchte ich hier ganz deutlich
hervorheben; denn so wirkungslos, wie uns die Linke
das in ihrem Antrag schildert, ist UNMISS keinesfalls.
Auch UNMISS hat „Friedensfachkräfte“, bringt den
„Friedensprozess“ voran und baut „Friedensinfrastrukturen“ auf. Diese Begriffe schreibt die Linke in ihrem Antrag aber nur den Organisationen zu, die mit dem Antrag
unterstützt werden sollen.
({5})
Der Antrag verkennt die schützende und verbindende
Rolle, zu der auch die Bundeswehr ihren Teil beiträgt.
Wie kann der geforderte Entzug von Bundesmitteln
für UNMISS - nichts anderes ist die Umwidmung diese Lage verbessern?
({6})
Die richtige Antwort auf gestiegene Soldatenzahlen bei
den Rebellenarmeen sieht für mich anders aus. Ich bin,
wie anfangs gesagt, der festen Überzeugung, dass nur
das Militär den Rahmen für eine wirkungsvolle humanitäre Hilfe im Südsudan bilden kann.
({7})
Ich erkenne selbstverständlich die Leistung der zivilen
Akteure vor Ort an und verweise auf die zahlreichen
Programme, die die Bundesregierung bereits unterstützt.
({8})
Gerade jetzt, in dieser instabilen Lage, müssen die
vorgesehenen Mittel aus dem Einzelhaushalt für die
Bundeswehr schnell abrufbar sein.
({9})
Wir stehen dort in der Verantwortung. Denn wenn erneut
blutige Auseinandersetzungen drohen, hilft den Menschen vor Ort vor allem auch der bewaffnete Einsatz. In
einem Land, in dem Krankenhäuser überfallen und Menschen willkürlich umgebracht werden, braucht die Bundeswehr den finanziellen Rückhalt.
({10})
Ich zumindest möchte nicht die Verantwortung dafür tragen, zivile Helfer ohne bewaffneten Schutz in dieses
Krisengebiet zu entsenden.
({11})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/1614 mit dem Titel „Umwidmung nicht genutzter Bundesmittel der United Nations Mission in South Sudan ({0}) für die
Unterstützung des unbewaffneten Schutzes der Zivilbevölkerung im Südsudan“. Wer stimmt für diesen Antrag? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist der
Antrag mit den Stimmen von CDU/CSU- und SPDFraktion gegen die Stimmen der Fraktionen Die Linke
und Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.
Wir haben jetzt noch eine ganze Reihe von Abstimmungen vorzunehmen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Rindfleischetikettierungsgesetzes und des Legehennenbetriebsregistergesetzes
Drucksache 18/1286
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung und Landwirtschaft
({1})
Drucksache 18/1639
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.
Das heute behandelte Gesetz scheint auf den ersten
Blick rein bürokratischer Natur zu sein. Es hat sich auf
der EU-Ebene wieder etwas geändert - oder auch die
Bundesministerien heißen anders -, und schon muss
ein neues Gesetz her. Ja, es müssen auch Bezugnahmen
im nationalen Recht auf das EU-Recht angepasst werden.
Wenn man sich aber gründlich mit der Vorlage beschäftigt, erkennt man, dass es in dem Gesetzentwurf
der Bundesregierung zur Änderung des Rindfleischetikettierungsgesetzes und des Legehennenbetriebsregistergesetzes um viel mehr geht, nämlich: um den
gesundheitlichen Verbraucherschutz, den Schutz der
Verbraucher vor Täuschung und Tierwohl.
Um es vorwegzunehmen: Nein, mit der Änderung
des Rindfleischetikettierungsgesetzes wollen wir keinen neuen sprachlichen Rekord aufstellen und das
Rindfleischetikettierungsüberwachungsaufgabenübertragungsgesetz in der Länge des Namens überbieten.
Wir wollen die notwendigen technischen Anpassungen vornehmen, damit dieses wichtige Gesetz richtige
Verweise enthält. Nur so können wir sicherstellen, dass
das Gesetz zur besonderen Etikettierung von Rindfleisch weiterhin die Verbraucher vor gesundheitlichen
Risiken schützt. Denn wir dürfen nicht vergessen, worauf diese gesetzlichen Vorgaben zurückzuführen sind.
Sie wurden als Reaktion auf die BSE-Krise eingeführt
und bewähren sich bis heute.
Bei den Änderungen des Legehennenbetriebsregistergesetzes handelt es sich nicht nur um Verweiskorrekturen. Es wird die Überwachung der Legehennenhaltung in Deutschland verbessert, indem die
Regelung der Kennnummernvergabe für Legehennen
haltende Betriebe geändert wird. Die neue Regelung
ermöglicht es, insbesondere Betrugsfällen zu begegnen, wie es sie im Februar 2013 mit Bioeiern gab. Die
Medien berichteten von den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Oldenburg gegen mehr als 100 Legehennenbetriebe.
Der Vorwurf: Überbelegung der Ställe. Hinzu
kommt, dass die Eier zu Unrecht als Bioprodukt vermarktet wurden und so die Verbraucher getäuscht wurden. Ferner wurde durch die Überbelegung der Ställe
das Mehr an Tierwohl, das in der Biohaltung eingehalten werden muss, eingeschränkt.
Um derartigen Betrügereien besser entgegenzusteuern, wird es den Kontrollbehörden künftig möglich
sein, aufgrund der Anzahl der vermarkteten Eier in
Verbindung mit durchschnittlichen Legeleistungen
Rückschlüsse auf die tatsächliche Anzahl der gehaltenen Tiere zu ziehen. So werden der Schutz der Verbraucher vor Täuschung und das Tierwohl gestärkt.
Wir sind uns alle einig, dass Missstände in der
Landwirtschaft konsequent aufgeklärt, behoben und
gegebenenfalls auch sanktioniert werden müssen. Und
dies unabhängig davon, ob es sich um ökologische
oder konventionelle Landwirtschaft handelt. Denn für
uns Christdemokraten ist klar: Gesundheitlicher Verbraucherschutz steht an erster Stelle.
Ebenso steht es für uns fest, dass sich alle Beteiligten an die Regeln halten müssen. Da hilft es nicht weiter, ideologisch die einen für die Guten und die anderen für die Bösen zu erklären. Unsere Bauern - egal,
nach welchem Haltungssystem sie wirtschaften - sind
in Sachen Verbraucher-, Tier- und Umweltschutz
spitze. Sie sind Vorreiter nicht nur in Europa, sondern
auch weltweit. Darauf können wir stolz sein, dafür haben wir unseren Landwirten höchsten Respekt zu zollen.
Selbstverständlich soll das nicht heißen, dass bei
uns alle Probleme gelöst sind. Deswegen sind wir - gemeinsam mit der Bundesregierung - am Ball und
kämpfen für eine bäuerliche Landwirtschaft mit ihrer
Vielfältigkeit an Haltungssystemen und hohem Verantwortungsbewusstsein für Mensch, Tier und Umwelt.
Wir reden über die Rindfleischetikettierung und es
ist ziemlich spät am Abend. Ganz ehrlich, das ist kein
schlechtes, es ist ein richtig gutes Zeichen. Denn nach
stürmischen Zeiten in Sachen Rindfleisch ist wieder
Alltag eingekehrt. Vor 15 Jahren war BSE das große
Thema auf den Titelseiten unserer Boulevardblätter.
Ein Gespenst ging um in Europa, ein reales Gespenst. Die Menschen hatten Angst vor einer neuen
großen Epidemie. In Großbritannien erkrankten die
Rinder reihenweise, ganze Herden wurden gekeult.
Ich will nicht sagen, dass BSE und die hiervon wohl
ausgelöste Creutzfeld-Jakob-Krankheit - ganz bewiesen ist das ja immer noch nicht - überwunden seien.
Aber es ist doch gelungen, die Krankheit ganz erheblich einzudämmen.
In den letzten fünf Jahren gab es in Deutschland gerade einmal zwei Fälle. Das kommt nicht von nichts.
Wir haben wirklich etwas erreicht, Bund, Länder,
Fleischverarbeitung und Bauern gemeinsam. Zusätzlich zu den allgemeinen Vorschriften des Lebensmittelrechts und der Lebensmittelkennzeichnung gibt es
beim Rindfleisch ein System, das die Herkunft jedes
Steaks und jeder Rindswurst transparent macht. Sie
können heute von der Bedientheke an den Weg jedes
Stückes Rindfleisch über alle Vermarktungs- und Erzeugungsstufen zurückverfolgen bis in den Stall, ja sogar bis zu einer konkreten Gruppe von Tieren. Und Sie
können ablesen, wo ein Tier geboren, gemästet, geschlachtet und zerlegt wurde.
Unser Transparenz- und Überwachungssystem hat
in den letzten Jahren ausgezeichnet funktioniert, und
so soll es auch in Zukunft bleiben, weil dieses System
das Vertrauen der Konsumentinnen und Konsumenten,
unser aller Vertrauen, in unser Rindfleisch wieder hergestellt hat. Ich möchte sagen: Vertrauen, das heute
absolut berechtigt ist. Es ist beim Rindfleisch wie bei
fast allen Lebensmitteln: Sie sind heute so sicher wie
noch nie zuvor. Und so muss es in Zukunft auch bleiben - das ist das klare Ziel unserer Fraktion.
Es ist deshalb keine große Nachricht, wenn wir
heute eine Reihe von Verweisregeln des Rindfleischetikettierungsgesetzes an den Stand der europäischen
Rechtsetzung anpassen. Ich muss gar nicht im Einzelnen beschreiben, was wir durch welche Regelung wie
genau ersetzen.
Die Nachricht, die dahinter steht ist: Mit dem System der Rindfleischetikettierung, das wir nach dem
Auftauchen von BSE aufgesetzt haben, können wir weitermachen. Es hat sich bewährt.
Mehr als über Rindfleisch wurde zuletzt über Hühner und Eier gesprochen. Nicht weil es dort KrankheiZu Protokoll gegebene Reden
ten oder Gefährdungen, geschweige denn einen Gesundheitsskandal gegeben hätte, sondern weil das eine
oder andere schwarze Schaf unter die Biobauern gegangen ist - und damit erheblichen Imageschaden an
der Branche ausgelöst hat. Ich denke etwa an den Fall,
der im April ans Licht gekommen ist: Ein Landwirt aus
Niedersachsen hatte in großem Stil konventionelle
Hähnchen als Neuland-Hähnchen verkauft und damit
die Käufer geprellt.
Weil wir beim Rindfleisch mit der Herkunftsverfolgung gute Erfahrung gemacht haben, ist es richtig, das
System der Kennnummernvergabe auch bei der Legehennenhaltung fortzuentwickeln. Deswegen ändern
wir hier auch das Gesetz mit dem griffigen Titel Legehennenbetriebsregistergesetz.
Wir wollen, dass über die Kennzeichnung die Anzahl der vermarkteten Eier sichtbar wird und man dadurch Schlüsse auf die Menge der Hühner in einem
Stall ziehen kann, weil wir Überbelegungen verhindern wollen. Das geschieht aus drei guten Gründen:
erstens natürlich wegen des Tierschutzes, zweitens
zum Schutz all jener Landwirte, die sich an die Regeln
halten und die deshalb nicht mit Wettbewerbsnachteilen bestraft werden dürfen, und drittens zum Schutze
der Verbraucherinnen und Verbraucher, die wie beim
Rindfleisch darauf vertrauen können sollen, dass sie
das essen, was sie zu essen meinen. Ich sage nur Neuland.
Ich finde es gut, dass das Gesetz nun auch eine bußgeldrechtliche Ahndungsmöglichkeit vorsieht - auch
das dient dem Schutz aller, die ihren Pflichten rechtstreu nachkommen.
Meine Damen und Herren, der Abend ist spät, der
Freitagmorgen nah. Aber wenn wir dieses Gesetz jetzt
verabschieden, dann kann ich Ihnen für Ihr morgiges
Frühstücksei, für die leckere Scheibe Roastbeef mit besonders gutem Gewissen einen guten Appetit wünschen.
2013 war nicht gerade arm an Lebensmittelskandalen. Wir erinnern uns: Parallel zum Pferdefleischskandal wurde im Februar letzten Jahres bekannt, dass
Millionen falsch deklarierter Eier in Umlauf geraten
waren. Eierproduzenten hatten zu viele Hennen auf zu
wenig Platz gehalten. Was als Freiland- oder Bio-Ei
verkauft wurde, hätte allerhöchstens noch als Ei aus
Bodenhaltung angeboten werden dürfen. Einmal mehr
ist das Vertrauen der Verbraucher in Lebensmittel und
Lebensmittelüberwachung erschüttert worden.
Um Verbraucher künftig besser vor solchen Täuschungsfällen zu schützen und der Lebensmittelüberwachung die Kontrolle von Legehennenbetrieben zu
erleichtern, haben wir nun das Legehennenbetriebsregistergesetz geändert. Die geplante Änderung wird
es den Behörden einfacher machen, eine Überbelegung von Ställen zu ermitteln und zu ahnden.
Zeitgleich aktualisieren wir auch das Rindfleischetikettierungsgesetz. Wir passen Definitionen und Bezeichnungen an, die sich mit der Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik auf EU-Ebene geändert haben.
Das war dringend notwendig.
In Sachen Legehennen gilt es nun allerdings noch
eine weitere Überwachungslücke zu schließen. Um die
Besatzdichten in Legehennenbetrieben tatsächlich effektiv kontrollieren zu können, müssen die Brütereien
und die Junghennenaufzucht in die Überwachungskette integriert werden.
Herr Minister Schmidt, bitte prüfen Sie schnell, wie
wir dies umsetzen können. Wir sollten alles daransetzen, den nächsten Eier-Skandal zu verhindern, bevor
er passiert.
Die aktuelle Gesetzesänderung ist ein erster Schritt.
Aber dabei sollte und darf es nicht bleiben. Um das
Vertrauen der Verbraucher in unsere Lebensmittelproduktion und unsere Überwachungsbehörden
wiederherzustellen, müssen wir nicht nur die Voraussetzungen für die lückenlose Überwachung von Legehennen schaffen. Wir müssen auch mehr Transparenz
in die Lebensmittelkette bringen.
Ich denke dabei an die Überarbeitung des § 40 des
Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuches, genauer
gesagt die Veröffentlichungspflichten der Behörden bei
Täuschung, Irreführung und Hygieneverstößen, die
wir endlich rechtssicher machen müssen. Denn eine
drohende Veröffentlichung ist ein massiver Anreiz für
jedes Unternehmen, sich an alle gesetzlichen Vorgaben
und Regeln zu halten. Transparenz wirkt präventiv,
auch gegen den nächsten Eier-Skandal.
Hier endlich Nägel mit Köpfen zu machen, sind wir
den Verbrauchern schuldig.
Verbraucherbetrug bei Lebensmitteln taucht immer
da auf, wo es für die Lebensmittelindustrie profitabel
ist oder wo sie mit Dumpingpreisen den Markt bestimmt. Kosten 400 Gramm Lasagne nur 1,64 Euro,
muss man sich über das Pferd im Fleisch nicht wundern. Ähnliches gilt bei Eiern: Lasche Vorschriften
führten dazu, dass Eier aus überfüllten Hühnerställen
als Bioware verkauft wurden. Eine Lebensmittelbranche, die in diesem Klima weniger staatliche Regulierung fordert, muss sich nicht wundern, dass sie bei den
Verbrauchern das Image von Hühnerdieben genießt.
Der hier nun vorliegende Gesetzentwurf verbessert
den Verbraucherschutz. Das begrüßen wir. Eine falsche Kennzeichnung von Eiern fällt schneller auf, was
Betrugsversuche erschwert. Legehennenbetriebe dürfen künftig pro Stall nur eine Kennzeichnung verwenden, also entweder Boden-, Freiland- oder Biohaltung.
Ändert ein Stallbetreiber die Haltungsform, was nur in
begründeten Ausnahmen möglich ist, muss er dies den
Behörden unmittelbar vorher anzeigen. Kontrolleure
können durch diese Regelung besser nachvollziehen,
Zu Protokoll gegebene Reden
ob die gesetzlichen Vorgaben zum Tierwohl und zum
Verbraucherschutz eingehalten werden.
Der vorliegende Gesetzentwurf zeigt, dass es in der
Vergangenheit ein buntes Durcheinander gab, das zu
Falschkennzeichnungen einlud. Wir erinnern uns: Eier
aus konventioneller Haltung wurden den Verbrauchern als Bioeier untergeschoben. Ställe waren systematisch überbelegt. Profit ging manchen Hühnerhaltern offenbar vor Tierschutz. Das „Handelsblatt“
schrieb vor einem Jahr dabei von einer „flächendeckenden Praxis“. Verbraucherbetrug war offenbar ein
Geschäftsmodell. An diesem Beispiel zeigt sich also,
wie wichtig klare Regeln bei der Lebensmittelerzeugung sind.
Der Gesetzgeber muss auch deutlich machen, dass
organisierte Verbrauchertäuschung kein Kavaliersdelikt ist. Da wünschen wir uns schon lange ein konsequenteres Vorgehen: Die Namen betrügerischer
Lebensmittelerzeuger und -händler müssen umgehend
veröffentlicht werden. Wer wiederholt erwischt wird,
muss damit rechnen, dass sein Betrieb ein für alle Mal
dichtgemacht wird. Wir werden uns daher bei dem Gesetzentwurf enthalten.
Konventionelle und Biohaltung müssen strikter getrennt und dürfen nicht auf demselben Hof in benachbarten Ställen erlaubt sein. Bei der Reform der EUBioverordnung wäre es zu begrüßen, wenn die gleichzeitige Erzeugung von Biolebensmitteln und herkömmlichen Produkten im selben Betrieb unterbunden wird.
Nur so funktioniert glaubwürdiger Verbraucherschutz.
Der vorliegende Gesetzentwurf und der damit ver-
bundene Änderungsantrag ist solide und beinhaltet
primär erforderliche Anpassungen von veralteten Ver-
weisen auf das Gemeinschaftsrecht. Dem stimmen wir
zu.
Das Legehennenbetriebsregistergesetz wurde auf
Druck des Bundesrates mit einer Öffnungsklausel ver-
sehen, um auf Länderebene spezifische Vorlaufzeiten
für die Umstellung des Haltungssystems festzulegen.
So weit, so gut, dies stellt meiner Meinung nach einen
tragfähigen Kompromiss zwischen nachvollziehbarer
Dokumentationspflicht, aber auch Reaktionsmöglich-
keiten der Betriebe auf beispielsweise Starkregen-
ereignisse dar. Denn nach wie vor muss bei allem ver-
ständlichen Drängen nach Wahrheit und Klarheit bei
der Kontrolle dem ureigenen Wesen der Landwirt-
schaft Rechnung getragen werden: Im Umgang mit der
Natur ist zwar vieles planbar, doch oftmals muss die
Möglichkeit bestehen, kurzfristig Entscheidungen zu
treffen und auf Wetter- und Klimaeinflüsse angemessen
reagieren zu können.
Eines ist jedoch anzumerken: Es wurde versäumt,
die Junghennenaufzucht in die Marktüberwachung
einzubeziehen. So wurde es zu Recht in der Stellung-
nahme des Bundesrates kritisiert. Die Bundesregie-
rung verweist in ihrer Gegendarstellung auf ausste-
hende Rechtsprüfungen, die im Vorlauf einer solchen
Integration zu tätigen seien. Wenn dem so ist, dann lei-
ten Sie dies bitte in die Wege. Denn diese Funktion
wäre ein echter Fortschritt, um die Überwachungs-
kette zu schließen und um belastbare Belegungsdich-
ten aufzunehmen.
Des Weiteren stimmen wir heute über die Änderung
des Rindfleischetikettierungsgesetzes ab: Die jetzige
Anpassung ist, das wissen Sie, werte Kolleginnen und
Kollegen, so gut wie ich, eine reine Formalie. Dass
Rindfleisch seit der BSE-Krise gesondert ausgewiesen
und etikettiert werden muss, ist ein Gewinn für Ver-
braucherschutz und Transparenz.
Wir fordern noch Weitergehendes - ein Mehr an
Kennzeichnung von frischem und auch verarbeitetem
Fleisch: Es muss klar nachvollziehbar sein, woher je-
des Fleisch kommt, das sich im Handel befindet, egal
ob Frischfleisch oder Raviolifüllung. Ab dem 1. April
2015 gelten der Rindfleischetikettierung ähnliche
Regelungen für Schweine-, Schaf-, Ziegen- und Geflü-
gelfleisch. Das begrüßen wir. Wäre mit einer solchen
Regelung ein so großflächiger Betrug im Sinne der
Pferde-Lasagne möglich gewesen? Ich glaube nein.
Die Kommission plant eine Evaluierung der Rinder-
kennzeichnung, um herauszufinden, welche Markt-
effekte diese in den vergangenen Jahren ausgelöst hat.
Es soll, so hört man, ermittelt werden, ob die Rind-
fleischetikettierung den Bedürfnissen der Verbraucher
einerseits und denen der Landwirte und Fleischver-
arbeiter andererseits entspricht. Ich hoffe, die Stimme
der Verbraucherinnen und Verbraucher und die der
Landwirte, die verantwortungsvoll mit ihrem Beruf
umgehen, wiegt schwerer als die der Fleischindustrie,
die sich in der Vergangenheit nicht unbedingt um mehr
Transparenz und Kundeninformation verdient gemacht
hat.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Er-
nährung und Landwirtschaft empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 18/1639, den Gesetz-
entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/1286 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-
men wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dage-
gen? - Wer enthält sich? - Dann ist das mit den Stimmen
aller Fraktionen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke
so angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist der
Gesetzentwurf mit den Stimmen von CDU/CSU-Frak-
tion, SPD-Fraktion und Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen
worden.
Vizepräsident Peter Hintze
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a und 22 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz ({0})
zu dem Vorschlag für eine Verordnung des
Rates über die Errichtung der Europäischen
Staatsanwaltschaft ({1})
KOM({2}) 534 endg.; Ratsdok. 12558/13
hier:
a) Stellungnahme gegenüber der Bundesregie-
rung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundge-
setzes
b) Politischer Dialog mit den EU-Institutio-
nen
Drucksache 18/1658
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Halina
Wawzyniak, Jan Korte, Dr. Gregor Gysi, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
zu dem Vorschlag für eine Verordnung des
Rates über die Errichtung der Europäischen
Staatsanwaltschaft ({3})
KOM({4}) 534 endg.; Ratsdok. 12558/13
hier:
a) Stellungnahme gegenüber der Bundesregie-
rung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundge-
setzes
b) Politischer Dialog mit den EU-Institutionen
Drucksache 18/1646
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. Ich höre und sehe, dass Sie damit einverstanden sind.
Bereits am 16. Oktober 2013 richtete der Unterausschuss Europarecht ein Schreiben an den Präsidenten
der Europäischen Kommission, Herrn Dr. José Manuel
Durão Barroso, und kündigte eine Stellungnahme des
Deutschen Bundestages zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft an. In diesem Schreiben
wurde mitgeteilt, dass der Unterausschuss Europarecht des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages die Arbeit an dem Verordnungsvorschlag über die
Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft in
der nun ablaufenden Wahlperiode eng begleitet hat.
Gespräche mit Frau Kommissarin Reding, Herrn
Kommissar Šemeta sowie weiteren Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern der Europäischen Kommission boten
dankenswerterweise mehrfach Gelegenheit zu einem
konstruktiven Dialog über die Ausgestaltung einer
künftigen Europäischen Staatsanwaltschaft.
Weiter wurde ausgeführt, dass der Verordnungsvorschlag im Unterausschuss Europarecht und dann im
Bundestag noch intensiv beraten werden wird.
Dies ist nun geschehen, und ich darf mich herzlich
für die konstruktive Arbeit aller Berichterstatterinnen
und Berichterstatter zu dem Verordnungsvorschlag bedanken.
Der Unterausschuss Europarecht kann sich intensiv
mit den Vorlagen der EU in den Bereichen Rechts- und
Justizpolitik befassen. Hierauf gibt er dem Rechtsausschuss Empfehlungen für die weitere Vorgehensweise.
Neben vielen rechtpolitischen Gesetzesentwürfen wird
die europäische Rechtspolitik immer wichtiger. Der
Unterausschuss hat sich immer mehr zu einem Gremium entwickelt, das besonders die Prüfung der Subsidiarität im Blick hat. Hierbei wird die Subsidiaritätsrüge nicht als scharfes Schwert des Diskurses gesehen,
sondern vielmehr als ein Weg, wie sich nationale Parlamente in den politischen Dialog einbringen können.
Nur wenn im Rahmen der Subsidiaritätsprüfung auch
Stellungnahmen und Rügen erfolgen, kann ein Mitgestalten an Europa Erfolg haben.
Eine solche Teilhabe an Europa gelingt uns mit der
heute zu verabschiedenden Stellungnahme zum Verordnungsvorschlag Europäische Staatsanwaltschaft.
Hinsichtlich des vorliegenden Verordnungsentwurfs
gab es einige Kritikpunkte, die ich in der gebotenen
Kürze nochmals kurz darstellen darf:
Erstens ist die im Kommissionsvorschlag vorgesehene Unabhängigkeit des Europäischen Staatsanwalts
insofern zu weitgehend, als die Kontrollmöglichkeiten
unzureichend sind. Über den in Artikel 70 KomV vorgesehenen Jahresbericht hinaus, sollten weitergehende
und regelmäßige Berichts- und Rechenschaftspflichten
vorgesehen werden. Eine justizielle Kontrolle der Tätigkeit des Europäischen Staatsanwaltes ist notwendig.
Zweitens soll die Geschäftsordnung, Artikel 7
KomV, die die Organisation der Arbeit der Europäischen Staatsanwaltschaft regelt, für alle EU-Bürgerinnen und EU-Bürger aus Gründen der Transparenz
einsehbar sein; allgemeine Zuständigkeitsregelungen
sollen hingegen nicht dort, sondern in der Verordnung
selbst geregelt werden.
Drittens fehlt es im Verordnungsvorschlag an einer
Rechtsschutzmöglichkeit des Betroffenen, um gegen
die Entscheidung der einzelstaatlichen Justizbehörde
({0}), welche Staatsanwaltschaft im
konkreten Fall zuständig ist, gerichtlich vorzugehen.
Viertens müssen die Beschuldigtenrechte auf ein
einheitliches europäisches Niveau gebracht werden.
Artikel 32-35 KomV genügen den rechtsstaatlichen
Anforderungen insoweit nicht. Der Verordnungsvorschlag muss Mindeststandards der Beschuldigtenrechte gewährleisten und vor allem Ermittlungsbefugnisse gemäß dieser Standards beschränken.
Der Grundsatz des „ne bis in idem“ fehlt im Kommissionsvorschlag.
Fünftens fehlen wichtige Beschuldigtenrechte, wie
das Akteneinsichtsrecht und das Recht, bei Einstellung
des Verfahrens durch die Europäische StaatsanwaltDr. Patrick Sensburg
schaft über die Einstellung informiert zu werden,
Artikel 15 IV KomV.
Sechstens benötigt Artikel 17 KomV dahingehend
Präzisierung, dass geklärt werden muss, was unter
dem Begriff „Bestätigen“ in Bezug auf Eilmaßnahmen
verstanden werden soll und ob gegebenenfalls eine
rechtliche Prüfung der Maßname({1}) erfolgen muss.
Siebtens kann nach Artikel 18 V der Europäische
Staatsanwalt in bestimmten Fällen selbst die Ermittlungen leiten. Hier besteht die Gefahr des Eingriffs in
materielles Recht, vor allem hinsichtlich der Kongruenzverhältnisse zwischen verschiedenen Straftaten. In
diesem Fall bleibt die Regelung in Bezug auf die Kompetenzen und Überwachungsmöglichkeit dieser Tätigkeit zu unkonkret. Außerdem ist die vorgesehene Trennung von Ermittlungstätigkeit und Durchführung der
Zwangsmaßnahmen durch die mitgliedstaatliche Behörde nicht praktikabel. Unklar bleibt auch, ob es eine
gerichtliche Kontrolle der Europäischen Staatsanwaltschaft gibt und welches Gericht sie in diesem Fall
durchführt.
Achtens genügen die in Artikel 26 KomV genannten
Ermittlungsmaßnahmen rechtsstaatlichen Anforderungen nicht. Problematisch ist im Besonderen, dass für
die in Artikel 26 I vorgesehenen Maßnahmen neben
der Verordnung auch einzelstaatliches Recht gelten
soll, Artikel 26 II KomV. Damit kämen unterschiedliche nationale Regelungen zum Tragen.
Aufgrund von Artikel 26 besteht somit die Gefahr
des „Forum Shopping“ und der Absenkung der rechtsstaatlichen Standards. Unklar bleibt darüber hinaus,
inwieweit die Maßnahme durch ein Gericht überprüft
werden kann.
Neuntens sind die Kriterien, an welchem Ort die
Anklage erfolgen soll, nicht klar erkennbar. Wünschenswert wäre es, dass der gewöhnliche Aufenthaltsort des Beschuldigten Priorität bei der Anklageerhebung bekommt. Die örtliche Zuständigkeit sollte
überdies gerichtlicher Kontrolle unterliegen.
Zehntens müsste die Möglichkeit des „Vergleichs“
in Artikel 29 KomV explizit zum Strafklageverbrauch
führen; ein Hinweis dazu fehlt in der Vorschrift.
Elftens sollte das Prozessgericht entgegen der Regelung in Artikel 30 KomV die Möglichkeit bekommen,
zu prüfen, ob die Beweiserhebung nach rechtsstaatlichen Grundsätzen erfolgt ist.
Zwölftens birgt der Ausschluss der Kontrolle durch
den Europäischen Gerichtshof bei verfahrensrechtlichen Maßnahmen, Artikel 36 I KomV, die Gefahr unterschiedlicher Rechtsentwicklungen und damit verschiedener Schutzniveaus in den Mitgliedstaaten und
ist daher abzulehnen.
Dreizehntens fehlt dem Verordnungsvorschlag eine
klare Abgrenzung, welche Kompetenz die Staatsanwälte haben, wenn sie national und wenn sie international tätig sind.
Vierzehntens besteht auch nach Artikel 27 IV des
Verordnungsvorschlags die Gefahr des „Forum Shopping“. Der Europäische Staatsanwalt wählt demnach
das zuständige Prozessgericht.
Fünfzehntens steht nach Artikel 6 V des Verordnungsvorschlages nur fest, dass es einen Abgeordneten
Europäischen Staatsanwalt in jedem Mitgliedstaat geben soll. Wie wird dies in Deutschland umgesetzt? In
welchem Umfang werden welche Kosten getragen?
Sechzehntens verlangt die Verordnung in Artikel 5 II
die Unabhängigkeit von nationalen Weisungen, und
Artikel 6 VI schreibt den Vorrang der Europäischen
Staatsanwälte fest; hierbei ist das Weisungsrecht aber
nicht eindeutig formuliert.
Letztens müssen die Erwägungsgründe des Verordnungsvorschlages sicherstellen, dass die Befugnisse
der Europäischen Staatsanwälte nicht immer weiter
ausgedehnt werden.
Festzuhalten bleibt, wie die Stellungnahme ausführt, dass der Deutsche Bundestag den Ansatz der
Kommission zur Errichtung einer dezentral aufgebauten Europäischen Staatsanwaltschaft ({2}), deren
Aufgabe es sein soll, Straftaten zum Nachteil der Europäischen Union zu bekämpfen, begrüßt. Struktur und
rechtlicher Handlungsrahmen für die EU-StA müssen
darauf ausgerichtet sein, effektive Ermittlungsverfahren unter Beachtung hoher rechtsstaatlicher Anforderungen zu gewährleisten und eine enge Zusammenarbeit mit den Behörden der Mitgliedstaaten zu
ermöglichen. Der Deutsche Bundestag sieht in dem
Verordnungsvorschlag der Kommission vom 17. Juli
2013 ({3}) vor allem unter Berücksichtigung des von der Ratspräsidentschaft am
17. März 2014 vorgelegten Arbeitsdokuments
({4}) eine Verhandlungsgrundlage zur Errichtung der EU-Staatsanwaltschaft. Der Bundestag begrüßt, dass mit dem Arbeitsdokument auch Änderungen zu einer Reihe von Regelungen vorgeschlagen
werden, die auch der Bundestag kritisch gesehen hatte.
Schließlich bleibt mir noch einmal allen für die gute
Zusammenarbeit vor allem im Unterausschuss Europarecht zu danken. Um aber eine Unterstützung des
Deutschen Bundestages für das wichtige Vorhaben einer Europäischen Staatsanwaltschaft zu sichern - hier
darf ich nochmals auf den Text der Stellungnahme verweisen -, wäre es hilfreich, wenn Kommission und Europäisches Parlament den vorgenannten Punkten im
weiteren Verhandlungsverlauf Rechnung tragen würden.
Auch für die Zukunft hoffe ich, dass es dem Deutschen Bundestag möglich sein wird, sich aktiv am politischen Dialog zu beteiligen. Hierbei ist es vor allem
wichtig, dass sich die nationalen Parlamente immer
besser vernetzen. Zu diesem Zweck ist geplant, eine
Konferenz zur Europäischen Staatsanwaltschaft in
Paris durchzuführen. Hier sollen die Vertreter der nationalen Parlamente zusammen kommen und sich austauschen können. Als Ergebnis könnte ein gemeinsaZu Protokoll gegebene Reden
mes Positionspapier aller teilnehmenden Parlamente
erstellt werden. Auf diesem Weg könnten die jeweiligen
nationalen Interessen sehr gut in den politischen Dialog eingebracht werden.
Wir debattieren heute über einen fraktionsübergreifenden Antrag zur Errichtung einer dezentral aufgebauten Europäischen Staatsanwaltschaft ({0}),
deren Aufgabe es sein soll, Straftaten zum Nachteil der
Europäischen Union zu bekämpfen.
Die Europäische Staatsanwaltschaft soll dabei eine
neue Behörde bzw. Einrichtung auf Ebene der EU
werden und der Europäischen Union damit eine Kompetenz bei der Strafverfolgung verschaffen.
Grundsätzlich sehen wir in dem Verordnungsvorschlag der Kommission vom 18. Juli 2013 ({1}) vor allem unter Berücksichtigung
des von der Ratspräsidentschaft am 17. März 2014
vorgelegten Arbeitsdokuments ({2}) eine Verhandlungsgrundlage.
Dennoch ist die Frage der Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft meines Erachtens eine sensible Frage, welche losgelöst von der parlamentarischen Routine behandelt und grundlegend durchdacht
werden sollte. Mit dem Arbeitsdokument werden zwar
Änderungen zu einer Reihe von Regelungen vorgeschlagen, die auch wir kritisch gesehen haben. Allerdings sind meines Erachtens noch eine Reihe von
wichtigen Fragen nicht abschließend beantwortet: So
soll die Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft ohne die gleichzeitige Errichtung eines korrespondierenden Verfahrensrechts erfolgen. Das halte ich
für ungenügend. Mehr noch: Die Europäische Staatsanwaltschaft wird agieren können, ohne dem Bürger
ein Niveau des rechtsstaatlichen Schutzes gewährleisten zu können, wie es unsere Strafprozessordnung
vorsieht. Hoheitliches Handeln im Bereich der Strafverfolgung bedarf aber unbedingt rechtsstaatlicher
Kontrolle. Zudem soll die zukünftige Europäische
Staatsanwaltschaft auch in Fragen ermitteln können,
welche in bloßem Sachzusammenhang zur Frage der
Veruntreuung von EU-Geldern stehen. Damit wird mittelbar eine Kompetenz in vielerlei Fragen der Wirtschaftskriminalität geschaffen, welche in echter Konkurrenz zu den nationalen Ermittlungsbehörden steht.
In den zurückliegenden Tagen haben CDU/CSU mit
Nachdruck auf ein besseres und bürgernahes Europa
mit mehr Transparenz und weniger Bürokratie gedrängt. Die Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft lässt sich damit aber nicht ohne weiteres in
Einklang bringen.
Ich meine sogar, dass vor dem Hintergrund des zu
beachtenden Subsidiaritätsprinzips dieses höher zu
bewerten ist als eine mögliche Ermächtigung zu einer
Europäischen Staatsanwaltschaft im Vertrag von
Lissabon, auf welche sich die Kommission bei ihrem
Verordnungsentwurf bezieht. Europäische Integration
bedeutet nicht, jede nur denkbare und vertraglich zulässige Regelung auch zu ergreifen. Man könnte auch
aus guten Gründen davon absehen.
Diese Ansicht teilten auch nicht weniger als
16 Staaten der Europäischen Union, welche im Zuge
der Konsultation über die Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft Subsidiaritätsrüge erhoben
haben. Die Bundesrepublik Deutschland war nicht
darunter, sodass der Vorschlag des Rates für diese
Verordnung sich im weiteren Gesetzgebungsverfahren
befindet.
Ich selbst stehe der Verordnung eher kritisch gegenüber. Das Ziel der Verhinderung von Veruntreuungen
europäischer Mittel ist ohne Frage ein legitimes Ziel.
Dennoch sollte nicht ohne Not eine neue europäische
Behörde im Kernbereich staatlichen Hoheitsanspruches geschaffen werden. Auch andere Mitgliedstaaten,
wie zum Beispiel Großbritannien und Irland, stehen
dem kritisch gegenüber und nehmen erst gar nicht an
der EU-StA teil.
Unsere nationalen Ermittlungs- und Strafverfolgungsbehörden sind in der Lage, einen vergleichbaren
Schutz der finanziellen Interessen der Union und eine
gleichwertige Verfolgung entsprechender Straftaten zu
gewährleisten. Darüber hinaus macht die Unterstützung durch Eurojust, Europol und OLAF die Errichtung einer EU-StA meines Erachtens entbehrlich.
Mit der Errichtung der EU-StA wird erstmalig auf
dem Gebiet des Strafrechts eine Kernkompetenz der
Mitgliedstaaten teilweise auf eine Einrichtung der
Union übertragen.
Dem wäre durchaus noch zu folgen, wenn es ein
europäisches Verfahrensrecht und ein Rechtsschutzsystem gäbe, welches unseren rechtsstaatlichen Anforderungen genügen würde. Dem ist jedoch leider nicht
so.
Es böte sich an, wofür ich plädiere, auf europäischer Ebene nach der Konstituierung der neuen Europäischen Kommission diese Frage noch einmal grundlegend zu beraten und insbesondere die hier nur
kursorisch vorgetragenen Einwände nochmals mit
Nachdruck in die Debatte einfließen zu lassen. Zudem
sollte auch die Frage, wie die Kommission mit der Situation umgeht, dass nicht alle Mitgliedstaaten an der
EU-StA teilnehmen, noch einmal durchdacht werden.
Unabhängig davon müssen im weiteren Verhandlungsverlauf zumindest die von uns wie im Antrag geforderten Belange durch die Bundesregierung durchgesetzt werden.
Jährlich versickern circa 700 Millionen Euro, die
für die Förderung von EU-Projekten gedacht sind. Die
Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen. Die Zahl der
aufgeklärten Fälle ist gering, da derzeit zwischen den
nationalen Strafrechtssystemen und den UnionsorgaZu Protokoll gegebene Reden
nen, die nicht strafrechtlich ermitteln dürfen, eine Lücke klafft.
Straftaten gegen die finanziellen Interessen der EU
treffen nicht nur den EU-Haushalt, sondern unmittelbar auch die europäischen Steuerzahler. Deshalb
begrüßen wir grundsätzlich die Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft. Sie kann die Zusammenarbeit der Ermittlungsbehörden auf EU-Ebene verbessern, um grenzüberschreitende Fälle von Betrug und
Korruption mit EU-Mitteln aufzudecken.
Damit der unionsweite Betrug am europäischen
Steuerzahler besser strafrechtlich verfolgt werden
kann, hat die Europäische Kommission im Juli letzten
Jahres einen Vorschlag zur Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft vorgelegt. Es ist sinnvoll und
richtig, dass die Europäische Union die Verschwendung ihrer Fördergelder künftig mit einer eigenen
Strafverfolgungsbehörde bekämpfen kann.
Leider war der Vorschlag der Kommission so unzulänglich und an vielen Stellen sogar problematisch,
dass mehrere nationale Parlamente ihn nicht mittragen wollen. Da die grenzüberschreitende Betrugsbekämpfung aber nur effektiv arbeiten kann, wenn sie lückenlos ist, das heißt wenn sich alle Mitgliedstaaten
beteiligten, bedarf es detaillierter Nachbesserungen.
Die griechische Ratspräsidentschaft hat hier gute
Arbeit geleistet und wesentliche Änderungsvorschläge
erarbeitet. Viele dieser Vorschläge haben wir im Deutschen Bundestag fraktionsübergreifend aufgegriffen
und weiterentwickelt. Denn die Europäische Staatsanwaltschaft braucht zwar weitreichende Befugnisse
für ihre Ermittlungen, diese dürfen aber auf keinen
Fall zulasten der Beschuldigten gehen und zu einer
Absenkung rechtsstaatlicher Standards führen. Befugnisse und Kontrollrechte müssen detailliert beschrieben werden und sich die Waage halten. Wir fordern
deshalb die Bundesregierung auf, sich bei den weiteren Beratungen - Verhandlungen im Rat - dafür einzusetzen, dass die Berichts- und Rechenschaftsplicht der
Europäischen Staatsanwaltschaft weiter gestärkt wird,
zum Beispiel durch ein gemeinsames Kontrollrecht
vom Europäischen Parlament und den nationalen Parlamenten. Die Stellung und die Aufgaben der sogenannten Abgeordneten Europäischen Staatsanwälte
müssen präzisiert werden, damit keine Konfliktfälle
zwischen dem Weisungsrecht der Europäischen Staatsanwaltschaft und der Unabhängigkeit von nationalen
Behörden entstehen. Die Unabhängigkeit der Abgeordneten Europäischen Staatsanwälte sollte außerdem
durch genau festgelegte Einstellungsvoraussetzungen
und Entlassungsgründe untermauert werden. Die Europäische Staatsanwaltschaft sollte bei Straftaten zum
finanziellen Nachteil der EU nicht die ausschließliche
Zuständigkeit haben - wie beim Vorschlag der Kommission vorgesehen -, sondern eine mit den Mitgliedstaaten konkurrierende mit einem Evokationsrecht der
Europäischen Staatsanwaltschaft - das würde dazu
beitragen, dass sich die Europäische Staatsanwaltschaft auf die Fälle konzentriert, die auf EU-Ebene
besser zu ermitteln sind. Entsprechend dem Grundsatz
„ne bis in idem“ sollte sich ein Beschuldigter nicht für
dieselbe Tat vor einem nationalen Gericht und der
Europäischen Staatsanwaltschaft verantworten müssen. Die Entscheidung, vor welchem Gericht sich ein
Beschuldigter verteidigen muss, sollte einer gerichtlichen Kontrolle unterliegen. Die Auswahl des Gerichtsortes muss nach transparenten Kriterien und bereits
im Ermittlungsverfahren festgelegt werden.
Durch Regelungen zu präzisieren sind außerdem die
rechtlichen Befugnisse bei grenzüberschreitenden Ermittlungsmaßnahmen, damit keine unklare Gemengelage von europäischen und einzelstaatlichen Regelungen entsteht. Klarer Regeln bedarf es auch bezüglich
der Einstellung und Wiederaufnahmen von Ermittlungsverfahren.
Vor allem bezüglich der Beschuldigtenrechte muss
ein hoher Mindeststandard gewährleistet sein. Auf einem hohen Level ist hier eine weitere Harmonisierung
der nationalen Rechtsordnungen notwendig.
Wenn es uns gelingt, diese Eckpunkte umzusetzen,
können wir der Europäischen Union ein effektives Instrument zur Betrugsbekämpfung an die Hand geben,
das gleichzeitig mit den nationalstaatlichen Rechtsordnungen in Einklang steht und die Verfahrensrechte
in der EU stärkt und harmonisiert. Nur so kann es uns
gelingen, alle Mitgliedstaaten in ein Boot zu holen und
die rechtsstaatlichen Standards der EU dauerhaft zu
verbessern. Davon wird am Ende nicht nur das Budget
der EU, sondern auch die EU als Rechtsgemeinschaft
profitieren. Und der EU stehen erhebliche Mittel für
zusätzliche sinnvolle Projekte zur Verfügung.
Vor kurzem diskutierte eine bekannte Zeitung Geldverschwendung auf EU-Ebene und nannte als ein Beispiel die Europäische Staatsanwaltschaft.
Überflüssig und vor allem teuer? Das genaue
Gegenteil ist der Fall. Denn Straftaten, die gegen die finanziellen Interessen der EU gerichtet sind, belasten
unmittelbar die europäischen Steuerzahler. Durch
Betrug und andere Vermögensstraftaten gehen dem
EU-Haushalt in jedem Jahr Hunderte Millionen Euro
verloren. Die Kommission geht aufgrund von Erhebungen in den Mitgliedstaaten sogar von circa
500 Millionen Euro in jedem der letzten drei Jahre aus.
Das wären 500 Millionen Euro, die nicht in die Verbesserung der Lebensbedingungen in den Kommunen
fließen können und die damit durch Steuergelder ausgeglichen werden müssen. Und damit ist klar: Die Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft, die
Straftaten zulasten des EU-Haushalts effektiv verfolgt,
wird zu einer effektiveren Verwendung der EU-Mittel
beitragen. Das ist der wesentliche Grund, warum die
SPD-Fraktion und der Deutsche Bundestag die geplante Einrichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft ausdrücklich begrüßen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Trotzdem gibt es einige Punkte, an denen der Verordnungsvorschlag unserer Ansicht nach noch verbessert werden kann. Deshalb haben alle Fraktionen des
Deutschen Bundestages diese Stellungnahme erarbeitet, die heute hier zur Abstimmung steht. Ausdrücklich
lobe und bedanke ich mich bei den Fraktionen der
Union, der Grünen und der Linken für die gute und
konstruktive Zusammenarbeit.
Ich erläutere im Folgenden kurz unsere wesentlichen Kritikpunkte:
Statt der Ernennung des Leiters der Europäischen
Staatsanwaltschaft und seiner Vertreter/-innen durch
den Rat - mit Zustimmung des Parlaments - regen wir
ein Wahlverfahren an, das die demokratische Legitimation sicherstellt. Der Leiter der Europäischen
Staatsanwaltschaft und gegebenenfalls dessen Stellvertreter/-innen könnten vom Europäischen Parlament
direkt gewählt werden.
Die Entlassungsgründe für die Europäischen
Staatsanwälte bedürfen einer näheren Präzision, um
willkürlichen Entlassungen vorzubeugen.
Klargestellt werden muss außerdem, dass die Tätigkeit der Europäischen Staatsanwaltschaft an Recht
und Gesetz gebunden ist. Der Bundestag empfiehlt,
dass dieser wesentliche Rechtsgrundsatz ausdrücklich
aufgenommen wird.
Die Entscheidung, ob die Europäische Staatsanwaltschaft aufgrund einer Zuständigkeit kraft Sachzusammenhangs oder die Staatsanwaltschaft des Mitgliedstaates für das Verfahren zuständig ist, muss
gerichtlich überprüfbar sein, da diese Entscheidung
für die Beschuldigten erhebliche Auswirkungen haben
kann.
Die Geschäftsordnung der Europäischen Staatsanwaltschaft muss für die Bürger einsehbar sein. Die
Grundzüge der Zuständigkeit innerhalb der Behörde
sollten allerdings bereits in der Verordnung geregelt
werden.
Im Interesse des Beschuldigten muss die für den
konkreten Fall anwendbare Rechtsordnung bereits im
Ermittlungsverfahren und nicht erst nach Abschluss
der Ermittlungen bekannt sein. Bei der Auswahl des
Gerichts darf die Europäische Staatsanwaltschaft kein
freies Ermessen haben, damit der Gefahr entgegengetreten werden kann, dass Beschuldigte vor den Gerichten angeklagt werden, wo ihre Rechte am geringsten sind.
Die Möglichkeit, dass die Zentrale der Europäischen Staatsanwaltschaft die Ermittlungen selbst statt
der in den Mitgliedstaaten tätigen Europäischen
Staatsanwälte leitet, wird von uns kritisch gesehen, da
in Bezug auf das Verfahren noch erhebliche Unklarheiten bestehen.
Da die Regelungen zu den Ermittlungsbefugnissen
nicht zu Konflikten mit einzelstaatlichen Verfahrensordnungen führen sollen, soll die Europäische Staatsanwaltschaft nur solche Ermittlungsmaßnahmen nach
Artikel 26 Absatz 1 des Verordnungsvorschlages anordnen können, die auch das nationale Recht vorsieht.
Im Fall einer Einstellung des Verfahrens muss der
Beschuldigte von der Einstellung in Kenntnis gesetzt
werden. Eine entsprechende Regelung dazu fehlt bisher im Verordnungsvorschlag.
Bei Einstellung des Verfahrens mangels sachdienlicher Beweise muss die Möglichkeit einer Wiederaufnahme des Verfahrens eingeführt werden.
Gegen Ermittlungsmaßnahmen der Europäischen
Staatsanwaltschaft müssen hinreichende Rechtsschutzmöglichkeiten bestehen. Justizielle Kontrolle muss besonders in den Fällen sichergestellt werden, in denen
die europäische Staatsanwaltschaft auf Grundlage der
Vorschriften in der Verordnung ermittelt.
Das zuständige Gericht der Mitgliedstaaten muss
die Beweisanträge der Europäischen Staatsanwaltschaft überprüfen dürfen, und zwar zum einen, ob die
Beweise nach rechtsstaatlichen Grundsätzen erhoben
wurden, und muss zum anderen solche Beweise ablehnen dürfen, deren Verwertung gegen mitgliedstaatliches Recht verstoßen würde.
Bei Berücksichtigung dieser Kritikpunkte könnte
aus unserer Sicht eine effektive Bekämpfung der Straftaten zulasten des EU-Haushalts bei gleichzeitiger
Verbesserung der rechtsstaatlichen Standards erreicht
werden.
Lassen Sie mich zum Schluss noch einmal ausdrücklich sagen, dass wir als SPD-Fraktion und ich als Berichterstatter hoffen, dass die Europäische Staatsanwaltschaft wie in Artikel 86 AEUV vorgesehen - mit
möglichst allen Mitgliedstaaten - errichtet werden
kann.
Daneben halte ich es für wichtig, dass die Kritikpunkte des Bundestages Gehör finden, und bitte Sie
daher heute um Zustimmung für unsere Stellungnahme.
Wir reden heute über etwas Seltenes und etwas Seltsames.
Kommen wir zum Seltenen: Mit der vorliegenden
Beschlussempfehlung und dem Bericht des Ausschusses sowie dem gleichlautenden Antrag der Fraktion
Die Linke gibt der Bundestag der Bundesregierung einen Verhandlungsauftrag bei den Debatten zur Verordnung zur Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft. Die Europäische Staatsanwaltschaft soll für
Delikte zum Nachteil der Europäischen Union, konkreter des EU-Haushalts, zuständig sein. Nach Artikel 23
Absatz 3 Satz 2 GG muss die Bundesregierung die
Stellungnahme des Bundestages bei den Beratungen
berücksichtigen. Nach § 8 Absatz 2 EUZBBG muss die
Bundesregierung die Stellungnahme sogar ihren Verhandlungen zur Grundlage legen. Und nach § 8
Zu Protokoll gegebene Reden
Absatz 4 EUZBBG muss die Bundesregierung einen
Parlamentsvorbehalt einlegen, wenn der Beschluss
des Bundestages in einem seiner wesentlichen Belange
nicht durchsetzbar ist.
Eine solche Mitsprache des Bundestages bei Verhandlungen über Verordnungen ist nicht häufig. Ich
finde aber, wir alle sollten dieses Instrument viel intensiver nutzen. Denn es macht deutlich: Nationale Regierungen nehmen entscheidend auf Europäische
Rechtsetzungsakte Einfluss. Mit dem Finger nach
Brüssel zeigen, bedeutet eben eigentlich, dass auch
zwei Finger zurückzeigen.
Wir reden heute also nicht über die Errichtung der
Europäischen Staatsanwaltschaft, sondern über Bedingungen, unter denen eine Europäische Staatsanwaltschaft aus Sicht des Bundestages zustimmungsfähig ist. Welche Bedingungen das sind, das werden
die Kolleginnen und Kollegen der anderen Fraktionen
hier sicherlich im Detail noch vortragen. Seien Sie
sich aber sicher, wir werden genau darauf achten, ob
die formulierten Bedingungen eingehalten werden
oder nicht.
Ich habe bereits darauf verwiesen, dass die Kolleginnen und Kollegen sicherlich die Details der Bedingungen für eine Zustimmung zur Europäischen Staatsanwaltschaft erklären werden. Wenn ich mich da auf
die Kolleginnen und Kollegen verlasse, dann hat das
etwas mit dem Seltsamen oder, besser gesagt, Absurden zu tun.
Wie Sie sicherlich gemerkt haben, liegen zwei
gleichlautende Vorlagen vor. Wenn Sie aufmerksam gelesen haben, wird Ihnen aufgefallen sein, dass diese
auch wortgleich sind. Das mag insbesondere die Zuschauerinnen unter Ihnen verwundern. Und, ja, es ist
auch verwunderlich. Es liegen zwei Vorlagen vor, weil
wir im Unterausschuss Europarecht sehr kollegial und
gemeinsam an einer gemeinsamen Stellungnahme gearbeitet haben. Meine Fraktion hat konkrete Formulierungsvorschläge zur Qualifizierung der Stellungnahme des Deutschen Bundestages unterbreitet, die
sich wortwörtlich in beiden Dokumenten wiederfinden.
Mit anderen Worten, beide Anträge tragen auch unsere
Handschrift. Es ist also festzustellen, dass hier eine
große Gemeinsamkeit aller Fraktionen gegeben ist. Es
liegt auf der Hand, dass hier eine gemeinsame Stellungnahme aller Fraktion hätte verabschiedet werden
können.
Doch dem ist nicht so. Ich will ausdrücklich alle
Kolleginnen und Kollegen des Unterausschusses Europarecht aus meiner Kritik herausnehmen. Ein gemeinsamer Antrag aller Fraktionen scheiterte an der
Fraktionsführung der CDU und hier an der KauderDoktrin. Diese besagt, dass keine gemeinsamen inhaltlichen Anträge mit der Linken eingebracht werden
dürfen. Ich muss schon sagen: Diese Kauder-Doktrin
der Unionsfraktionsführung ist ein wenig ballaballa
und rational nicht zu erklären. Sie hat es zu verantworten, dass hier zwei gleichlautende Vorlagen vorliegen.
Ich hätte gern demonstriert, dass alle Fraktionen sich
in der Kritik an der Europäischen Staatsanwaltschaft
einig sind. Das ist mir aber nicht möglich. Ich will mal
klar und deutlich sagen: Diese Kauder-Doktrin schadet der Demokratie. Diese Kauder-Doktrin schadet
dem Parlamentarismus. Diese Kauder-Doktrin ist antidemokratisch. Sie führt zu Politikverdrossenheit,
denn es ist nicht ernsthaft zu vermitteln, warum bei
gleichlautendem Inhalt von Anträgen es unmöglich
sein soll, einen gemeinsamen Antrag vorzulegen und
hier abstimmen zu lassen. Kurz zusammengefasst:
Dieser Vorgang ist einfach nur peinlich, und Sie sollten sich schämen.
Die Chance, dies und andere Kritikpunkte in einer
gemeinsamen Stellungnahme aller Fraktionen zu beschließen, wurde vertan. Das tut auch den weiteren
Verhandlungen um die Europäische Staatsanwaltschaft nicht gut. Die Verantwortung dafür trägt die
Fraktionsspitze der Union, die sich somit auch als Antieuropäer geoutet haben.
Auch wir sind dafür, dass Straftaten zum Nachteil
der Europäischen Union wirksamer verfolgt werden.
Der Vorschlag des EU-Rates für die Verordnung über
die Europäische Staatsanwaltschaft, EPPO, ist eine
brauchbare Diskussionsgrundlage. Sie muss gründlich
beraten werden. Schließlich soll sie unmittelbar an-
wendbares Recht für die ganze EU schaffen, Bürgerin-
nen und Bürger strafrechtlich verfolgt und mit Krimi-
nalstrafen bestraft werden. Nötig sind eine ganze
Reihe Änderungen und Ergänzungen.
Die Stellungnahme des deutschen Bundestages
kommt spät. Zu lange brauchte das deutsche Parla-
ment, um sich zu konstituieren und arbeitsfähig zu
werden. Gut ist, dass alle vier Fraktionen gemeinsam
den vorliegenden Antrag erarbeitet haben. Damit
könnte er auch mehr Gewicht in den Diskussionen im
EU-Rat haben. Gar nicht gut ist, dass der Antrag nur
von drei Fraktionen eingebracht wird und unterschrie-
ben ist. Die Fraktion Die Linke wurde von der Union
willkürlich ausgegrenzt. Das ist ungehörig und nicht
demokratisch. Die Linke hat kollegial und sachdien-
lich mit eigenen Vorschlägen, die im Antrag Aufnahme
fanden, an der Erstellung mitgearbeitet. Wir verurtei-
len dies und werden deshalb auch dem gleichlautenden
Antrag der Linken zustimmen.
Die EU gibt viel Geld aus, das sie aus den Steuer-
einnahmen der Mitgliedstaaten eingenommen hat. Wir
setzen uns dafür ein, dass das viele Geld auch vernünf-
tig für vertretbare Zwecke im Interesse der Bevölke-
rung ausgegeben wird. Darüber, ob dies immer ge-
lingt, wird viel gestritten. Aber besonders ärgerlich ist,
wenn geschätzte 700 Millionen Euro im Jahr durch
Veruntreuung oder in anderer strafbarer Weise in
dunklen Kanälen verschwinden. Da dürfen wir nicht
länger einfach zusehen. Es ist auch ungerecht, wenn in
Mitgliedstaaten der EU die Aufklärung und Verfolgung
Zu Protokoll gegebene Reden
von Straftaten zum Nachteil der EU ungleich konse-
quent verfolgt werden. Damit wird zudem Vorurteilen
gegen europäische Völker und Skepsis gegenüber der
ganzen EU Vorschub geleistet.
Eine Europäische Staatsanwaltschaft kann ein Mit-
tel sein, solche Straftaten konsequenter zu verfolgen
und den Schaden zu mindern. Sie kann dazu beitragen,
dass unabhängige Abgeordnete Europäische Staatsan-
wälte Strafverstöße gleich konsequent nach gleichen
Kriterien ermitteln, anklagen und vor Gericht zur Ab-
urteilung bringen.
Dieses Ziel ist schwer zu erreichen in einer Union
von Staaten mit großen Unterschieden in den Rechts-
traditionen, im Straf- und Strafprozessrecht.
Die für Straftaten zum Nachteil der EU einschlägi-
gen Strafgesetze sind in Ländern häufig verschieden.
Dies gilt auch für den Grad der Unabhängigkeit der
Staatsanwälte in der jeweiligen Justiz, für die Rechte
der Beschuldigten, für die Zulassung von Beweismit-
teln und sogar für die Möglichkeit, Beschuldigter zu
sein, ob Unternehmen oder nur natürliche Personen.
Wir haben uns besonders dafür eingesetzt, dass die
Europäischen Staatsanwälte nicht nur dem EU-Parla-
ment rechenschaftspflichtig und verantwortlich sind,
sondern auch von diesem gewählt werden. Wir haben
eingebracht, den „deal“, also die Beendigung eines
Strafprozesses durch einen Vergleich, nur unter den
strengen Vorgaben der deutschen Rechtsprechung,
also unter Mitwirkung des Gerichts und mit Transpa-
renz, zulässig sein soll. Wichtig sind für uns auch die
Garantie der Beschuldigtenrechte und die rechtsstaat-
liche Begrenzung der Zulassung von Beweismitteln.
Eigentlich wäre es besser, zunächst die Straf- und
Strafprozessregelungen der Mitgliedstaaten weitge-
hender zu harmonisieren, bevor grenzüberschreitende
Strafverfolgung durch eine gemeinsame Behörde ein-
geführt wird. Aber dies scheint noch viel Zeit zu brau-
chen.
Wir werden genau verfolgen, ob diese und die zahl-
reichen anderen Forderungen aus dem Antrag des
Bundestages in die endgültige Fassung des Vorschla-
ges des Rates übernommen werden. Vom Ergebnis
werden wir abhängig machen, ob wir diesen mittra-
gen.
Am Wochenende habe ich erfahren, dass EU-Gel-
der zur Finanzierung eines Nachbarschaftsheimes in
meinem Wahlkreis beitragen. Für solch gute Zwecke
könnten EU-Finanzen durch eine EU-Staatsanwalt-
schaft geschützt werden.
Tagesordnungspunkt 22 a. Wir kommen zur Abstim-
mung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses
für Recht und Verbraucherschutz zu dem Vorschlag für
eine Verordnung des Rates über die Errichtung der Euro-
päischen Staatsanwaltschaft. Der Ausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/1658, in
Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung gemäß
Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes anzunehmen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist die Be-
schlussempfehlung einstimmig, mit den Stimmen aller
Fraktionen, angenommen.
Tagesordnungspunkt 22 b. Abstimmung über den An-
trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/1646 zu
dem Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die
Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Damit ist der Antrag mit den Stimmen
von CDU/CSU-Fraktion und SPD-Fraktion bei Zustim-
mung der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen abgelehnt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Antiterrordateigesetzes und anderer Gesetze
Drucksache 18/1565
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss Digitale Agenda
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht zur Evaluierung des Antiterrordateigesetzes
Drucksache 17/12665 ({1})
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss Digitale Agenda
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.
Zwei Erkenntnisse liegen dieser Debatte über die
Antiterrordatei und die Rechtsextremismusdatei zugrunde. Erstens, die Bedrohung, die von Extremisten
für unseren Staat und unsere Demokratie ausgeht, ist
sehr ernst zu nehmen. Das zeigt die Aufarbeitung der
Straftaten, die dem rechtsextremistischen Terrortrio
NSU zugerechnet werden, durch Untersuchungsausschüsse und das Gerichtsverfahren in München. Das
zeigen aber auch die alarmierenden Nachrichten über
rund 320 Islamisten, die in den vergangenen beiden
Jahren als islamistische Kämpfer aus Deutschland
nach Syrien gereist sind und mit einiger Sicherheit zum
Teil auch wieder nach Deutschland zurückkehren - radikalisiert, mit Kampferfahrung und entsprechender
Ausbildung im Umgang mit Waffen. Deshalb müssen
wir unseren Sicherheitsbehörden die richtigen Instrumente in Form von gemeinsamen Dateien an die Hand
geben, die nachweislich effektiv und erfolgreich zur
Bekämpfung von Terrorismus und gewaltbereitem Extremismus beitragen. Zweitens, der Weg eines verbesClemens Binninger
serten Informationsaustauschs zwischen den Sicherheitsbehörden in Bund und Ländern - also vor allem
Polizei und Nachrichtendiensten - ist mit dem Grundgesetz vereinbar. Daran gibt es keinen Zweifel. Auch
deshalb gilt es, am Instrument der gemeinsamen Dateien festzuhalten.
Genau das tun wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf. Wir halten an dieser Form des Datenaustauschs
fest. Wir passen die Regelungen zur Antiterrordatei
und zur Rechtsextremismusdatei an die Vorgaben des
Bundesverfassungsgerichts an, und wir wollen die
Auswerte- und Analysefähigkeit der Antiterrordatei in
Anlehnung an die Rechtsextremismusdatei ausbauen.
Diese Verbunddateien geben unseren Sicherheitsbehörden die Möglichkeit, auf wesentliche Informationen
über gewaltbereite Extremisten, die oft nur bruchstückhaft bei den Behörden in Bund und Ländern vorliegen, zurückzugreifen und aus diesen Mosaiksteinen
der Erkenntnisgewinnung ein aussagekräftiges Bild
zusammenzusetzen. Die Erfahrungen mit den Dateien
zeigen, dass die gemeinsamen Dateien auch eine Art
Inhaltsverzeichnis sind, in denen man die vorhandenen
Erkenntnisse recherchiert, um einen weiteren Informationsaustausch zwischen den Behörden zu organisieren. Die Dateien unterscheiden dabei zwischen Grunddaten - also etwa Namen, Geburtsdatum und -ort,
Staatsangehörigkeit, Sprache oder Lichtbilder - und
erweiterten Grunddaten - also etwa Telekommunikationsanschlüsse, Bankverbindungen, Familienstand,
Ausbildung, Fahrerlaubnisse oder ähnlichem. Wichtig
ist dabei, dass wir keine neuen Daten erheben, weder
bei der Polizei noch bei den Nachrichtendiensten. Wir
schaffen keine neuen Befugnisse zur Datenerhebung.
Diese gemeinsamen Dateien beziehen sich auf Daten,
die bereits vorhanden und in verschiedenen polizeilichen und nachrichtendienstlichen Informationssystemen gespeichert sind.
In der Vergangenheit gab es das Problem, dass die
vorliegenden Erkenntnisse nicht ausreichend vernetzt
werden konnten. Manchmal dauerte es Wochen oder
gar Monate, bis eine wichtige Information zwischen
den Behörden ausgetauscht wurde - das hat der NSUUntersuchungsausschuss herausgearbeitet. Wenn 36
oder 37 Sicherheitsbehörden in Bund und Ländern für
die Bekämpfung von Extremismus und extremistischen
Straftaten zuständig sind, kann die Antwort nicht sein,
dass wir das Wissen voreinander abschotten, auf möglichst viele Stellen verteilen. Die Antwort kann nicht
sein, dass keiner mit dem anderen spricht, Informationen nur im Ausnahmefall ausgetauscht werden und
man sich hinterher wundert, wenn es zu spät ist. Deshalb ist es wichtig, dass die Daten für beide Bereiche
- den gewaltbereiten Rechtsextremismus und den Islamismus - jeweils in einer zentralen und standardisierten Datei gespeichert werden.
Dass das sogenannte Trennungsgebot dieser Art des
Datenaustauschs nicht entgegensteht und ausreichende Vorkehrungen zum Schutz der personenbezogenen Daten getroffen sind, hat das Bundesverfassungsgericht im vergangenen Jahr in den Blick
genommen. Die Korrekturen, die das Gericht an den
bestehenden Gesetzen gefordert hat, gehen wir mit
dem vorliegenden Entwurf an. Dabei geht es unter anderem um die Definition bestimmter Merkmale, um
den Rahmen, in dem Kontaktpersonen gespeichert
werden können, um verdeckte Speicherungsmöglichkeiten oder die Inverssuche.
Die Antiterrordatei wurde auch aufwändig evaluiert. Solche Evaluationen sind wichtig, weil sie zeigen,
wie Gesetze in der Praxis wirken und an welchen Stellen Bedarf für Nachbesserungen oder Korrekturen besteht. Das betrifft einerseits die Technik, andererseits
die Gesetzgebung. Die Ergebnisse dieser Evaluation
möchte ich hier nicht im Einzelnen ansprechen. Zwei
Punkte scheinen mir aber wichtig.
Zum einen hat die Evaluation gezeigt, dass es aus
Sicht der Nutzer der Datei in den Sicherheitsbehörden
ein wichtiger Fortschritt für ihre Arbeit wäre, wenn sie
auch komplexere Abfragen über den Datenbestand
durchführen könnten. Etwa dass zum Beispiel Verknüpfungen zwischen Personen, Gruppierungen und Objekten direkt in der Datei hergestellt werden können.
Erste Erfahrungen mit solchen gemeinsamen Projekten gibt es auch schon mit der Rechtsextremismusdatei. Wir haben deshalb vor, mit diesem Gesetz eine ähnliche Möglichkeit - wenn auch in eingeschränkterem
Maße - für die Antiterrordatei zu schaffen.
Die Evaluierung der Antiterrordatei hat zum anderen gezeigt, dass die Datei als ein wichtiges Element
zur verbesserten Zusammenarbeit und Kommunikation
zwischen den Sicherheitsbehörden in Deutschland beigetragen hat. Und die Evaluierung der Rechtsextremismusdatei - da bin ich sehr zuversichtlich - wird
dies in den nächsten Jahren zeigen.
Natürlich können dabei gemeinsame Dateien nur
ein Element einer verbesserten Zusammenarbeit sein,
das durch weitere Formen der Zusammenarbeit ergänzt werden muss. Das ist in den vergangenen Jahren
mit der Etablierung der gemeinsamen Zentren, in denen Mitarbeiter verschiedener Sicherheitsbehörden
zusammenarbeiten, erfolgreich gelungen. Eventuell
vorhandenes Misstrauen wurde abgebaut, und Expertennetzwerke haben sich intern herausgebildet.
Genau diese Zusammenarbeit ist der Weg, den wir
in einer globalisierten und vernetzten Welt, in der Bedrohungen und Gefährdungslagen immer komplexer
werden, gehen müssen. Und das tun wir mit diesem
Gesetz.
Wir beraten heute in erster Lesung den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Antiterrordateigesetzes
und anderer Gesetze. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, BVerfG, vom 24. April 2013 wird
diese Änderung notwendig, und ich bin mir sicher,
dass wir die notwendigen Änderungen bis zur durch
Zu Protokoll gegebene Reden
das Verfassungsgericht gesetzten Frist zum 31. Dezember dieses Jahres auch bewerkstelligen können.
Die Antiterrordatei, ATD, hat sich seit ihrer Einführung in jeglicher Hinsicht bewährt: Schon alleine der
Umstand, dass sie von den deutschen Sicherheitsbehörden wie dem Bundeskriminalamt, der Bundespolizeidirektion, den Landeskriminalämtern, den Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder, dem
Militärischen Abschirmdienst, dem Bundesnachrichtendienst und dem Zollkriminalamt als Verbunddatei
verwendet werden kann, umreißt die Bedeutung und
den Stellenwert für die Arbeit der genannten Sicherheitsbehörden eindrucksvoll. Vernetzt zu arbeiten und
damit effektiv bei der Bekämpfung des internationalen
Terrorismus arbeiten zu können, sind wichtige
Aspekte, die den nachweisbaren Erfolg der ATD kennzeichnen.
Wir alle wissen, dass das Bundesverfassungsgericht
die Verfassungsmäßigkeit der ATD im Grundsatz wie
erwartet bestätigt hat. Überraschend ist das sicherlich
nicht. Schließlich speichert die ATD keine neuen Daten, sondern führt bereits gespeicherte Erkenntnisse
der jeweiligen Behörden zusammen.
Auch der ebenfalls heute auf der Tagesordnung stehende und im Gesetz vorgesehene Evaluierungsbericht
nach fünf Jahren bestätigt, dass die ATD den Informationsaustausch zwischen den Behörden in der Terrorismusbekämpfung verbessert hat. Das halte ich für einen
sehr wichtigen Aspekt des Evaluierungsberichts: Die
Einführung ist ein Erfolg und schafft mehr Effektivität
bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus
in all seinen Erscheinungsformen.
Natürlich gibt es auch Bedenken im Hinblick auf
den Datenschutz und die Persönlichkeitsrechte eines
Menschen. Jeder Eingriff muss natürlich einer Güterabwägung standhalten.
Es gibt aber auch geradezu wahnhafte Gerüchte
über willkürliche Speicherungen und Abfragen von
Personendaten. Deshalb möchte ich einen für mich
entscheidenden Satz aus dem Evaluierungsbericht zitieren:
„Von der Eilfallregelung nach § 5 Absatz 2 ATDG,
wonach die abfragende Behörde unmittelbaren Zugriff
auf die erweiterten Grunddaten nehmen darf, wenn
dies aufgrund bestimmter Tatsachen zur Abwehr einer
gegenwärtigen Gefahr unerlässlich ist, wurde nur ein
einziges Mal Gebrauch gemacht.“
Das heißt: Im Berufsalltag wird höchst sensibel mit
diesen Daten umgegangen. Kein Wunder also, dass die
Eilfallregelung vom BVerfG nicht beanstandet wurde.
Gemäß dem Urteil des BVerfG nimmt die Bundesregierung einige „Nachjustierungen“ in der konkreten
Ausgestaltung von einzelnen Vorschriften vor, etwa
dass nur derjenige Unterstützer einer terrorismusunterstützenden Gruppierung gespeichert werden darf,
der auch willentlich und in Kenntnis der terroristischen Tätigkeiten diese Gruppierung fördert.
Außerdem wird künftig das Merkmal des „Befürwortens“ von Gewalt konkretisiert: Es muss Anhaltspunkte dafür geben, dass die Person tatsächlich Gewalt anwenden, unterstützen oder vorbereiten will.
Auch die Regelungen zur sogenannten Inverssuche
werden ergänzt. Hierbei handelt es sich um merkmalsbezogene Recherchen in den erweiterten Grunddaten,
die der abfragenden Behörde im Trefferfall weiterführende Informationen vermitteln und unmittelbar Zugang zu den einfachen Grunddaten verschaffen. Das
wird es nicht mehr geben, denn künftig wird der Zugriff bei der Inverssuche nur auf die Grunddaten, die
Nennung der informationsführenden Behörde und das
Aktenzeichen beschränkt.
Neu ist auch, dass das BKA erstmals zum 1. August
2017 und dann alle drei Jahre dem Bundestag und der
Öffentlichkeit über den Datenbestand und die Nutzung
der ATD berichten muss.
Daten, die durch Eingriffe in das Telekommunikationsgeheimnis und die Unverletzlichkeit der Wohnung
gewonnen wurden, werden künftig nur noch verdeckt
eingestellt, sodass sie nur angezeigt werden dürfen,
wenn die datenbesitzende Behörde aufgrund einer Anfrage nach Vorliegen der Übermittlungsvoraussetzungen die Daten freigegeben hat.
Ich bin mir sicher, dass diese Änderungen die
Transparenz der ATD erhöhen und damit die noch immer vorhandenen Ängste in der Bevölkerung ausräumen können.
Entsprechend werden die genannten Änderungen
auch für die Rechtsextremismusdatei vorgenommen,
weil das Urteil des BVerfG auch diese Verbunddatei
betrifft.
Eine weitere Änderung im ATD-Gesetz betrifft die
erweiterte Datennutzung, die auch bereits in der
Rechtsextremismusdatei möglich ist. Diese soll nun gemäß der Koalitionsvereinbarung auch für die ATD geschaffen werden. Bei einer erweiterten Nutzung kann
die beteiligte Behörde zur Terrorismusbekämpfung
einzelfallbezogen Daten zum Beispiel zu Personen,
Gruppierungen und Institutionen sammeln, statistisch
auswerten und Zusammenhänge herstellen.
Diese Recherchemöglichkeit wird aufgrund der
weitreichenden Eingriffe nur zeitlich befristet möglich
und muss auf Antrag angeordnet bzw. dann auch genehmigt werden; die Zugriffsberechtigung ist auf einen
engen Personenkreis beschränkt.
Auch der Evaluierungsbericht sagt aus, dass erweiterte „Auswerte- und Analysefunktionen“ erforderlich
seien und „die fehlende Möglichkeit, Daten innerhalb
der ATD miteinander zu verknüpfen und weiterführende Analysen zu betreiben, nachteilig seien“. Das
sagen uns diejenigen, die in ihrem Arbeitsalltag mit
der ATD zu tun haben.
Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme vom
23. Mai 2014 Bedenken bezüglich der Einführung der
Zu Protokoll gegebene Reden
erweiterten Nutzung angemeldet. Das mag nicht unberechtigt sein, denn natürlich handelt es sich um einen
sehr sensiblen Grundrechtsbereich, aber ich bin mir
sicher: Das hat auch der zuständige Innenminister vor
Augen gehabt und war sich dessen bewusst. Und dessen sind sich auch in diesem Zusammenhang die Menschen bewusst, die die Datei verwenden. Das hat der
Evaluierungsbericht, wie schon erwähnt, gezeigt.
Diese Tatsache entbindet das Parlament natürlich
nicht davon, genau hinzuschauen. Wir werden uns in
den Ausschüssen mit diesem Gesetz beschäftigen und
die verfassungsmäßigen Bedenken prüfen.
Fest steht, dass die ATD sich in der Praxis bewährt
hat und ihr Ziel erfüllt. Ich bin mir sicher, dass wir ein
gutes Gesetz auf den Weg bringen werden.
Wir verhandeln heute ein von der Bundesregierung
eingebrachtes Gesetz zur Änderung der seit 2007 bestehenden Antiterrordatei. Dies wurde notwendig, weil
das Bundesverfassungsgericht die bisherige Datei im
April letzten Jahres in mehreren entscheidenden Punkten für gesetzeswidrig erachtete. Die heute von der Regierung vorgeschlagenen Änderungen betreffen zum
Teil auch die nach dem Vorbild der Antiterrordatei geklonte Rechtsextremismusdatei.
Bei diesen Dateien handelt es sich um Datenpools,
zu denen 38 Landes- und Bundespolizeibehörden und
Geheimdienste - die Verfassungsschutzämter, der Bundesnachrichtendienst und der Militärische Abschirmdienst - gemeinsamen Zugriff haben. Nur einmal zur Dimension: Die Antiterrordatei enthält mehr
als 17 000 Datensätze, bis 2013 erfolgten 350 000 Suchanfragen der Polizeien und Geheimdienste.
Die Linke hat die Schaffung solcher Verbunddateien
von Anfang an aus grundsätzlichen bürgerrechtlichen
Erwägungen abgelehnt. Denn hier wird das als Lehre
aus den Erfahrungen mit der Gestapo unter dem
Nazi-Regime geltende grundgesetzliche Trennungsgebot von Polizei und Geheimdiensten weiter unterlaufen.
Leider ging das Bundesverfassungsgericht bei seiner Kritik nicht so weit. Doch selbst gemessen an den
Rügen des höchsten deutschen Gerichts an der bisherigen Handhabung dieser Datei ist der vorliegende Gesetzentwurf ein Affront. Denn unter dem Vorwand der
verfassungskonformen Ausgestaltung will die Bundesregierung die Datennutzung sogar noch erweitern, wie
das bei der Rechtsextremismusdatei bereits Praxis ist.
So sollen ein Data Mining unter Einbeziehung mehrerer Datensätze aus verschiedenen Datenbeständen und
eine statistische Auswertung ermöglicht werden. Mit
anderen Worten: Die Fähigkeiten zur digitalen Rasterfahndung von Polizeien und Geheimdiensten sollen
ausgeweitet werden.
Kritik an diesem Ansinnen erfolgte am 23. Mai
durch den Bundesrat. Die Landesregierungen haben
darin einer „erweiterten Datennutzung“ durch eine
ausgeweitete Suchfunktion eine Absage erteilt. Der
Bundesrat verweist auf die noch ausstehende Evaluierung dieser Funktion im Falle der Rechtsextremismusdatei. Doch die Bundesregierung hält es nicht einmal
für nötig, das Ergebnis dieser Überprüfung abzuwarten. Offensichtlich lässt auch die Stellungnahme des
Bundesrates die Regierung kalt - so wie die Regierung
die Kritik des Bundesverfassungsgerichts mit Geringschätzung behandelt.
Das Gericht hatte die Speicherung von sogenannten
„Befürwortern“ von Gewalt als Mittel zur Durchsetzung politischer oder religiöser Ziele kritisiert. Weil
diese Bewertung auf einer „inneren Haltung“ beruhe,
könne sie zu einer einschüchternden Wirkung bei der
Wahrnehmung der Freiheitsrechte führen, so das Gericht.
Ich möchte es noch deutlicher benennen: Es geht
hier schlicht um Gesinnungsjustiz - und die darf in einem Rechtsstaat keinen Platz haben.
Jetzt will die Bundesregierung die Formulierung so
ändern, „dass es Anhaltspunkte geben muss, dass die
Person tatsächlich Gewalt anwenden, unterstützen,
vorbereiten oder hervorrufen will“. Das Deutsche Institut für Menschenrechte hat klargestellt, dass hier
weiterhin in unzulässiger Weise ein Rückschluss auf
die „innere Haltung“ erfolgt.
Die Bundesregierung will also die bisherige rechtswidrige Praxis einfach mit neuen Worten fortschreiben. Es ist schon ungeheuerlich, wie hier versucht
wird, das höchste deutsche Gericht an der Nase herumzuführen.
In der Antiterrordatei sind eben nicht nur Terrorverdächtige, sondern auch zahlreiche sogenannte „Befürworter“, „Unterstützer“ und „Kontaktpersonen“ gespeichert - Menschen, die sich nichts zuschulden
kommen ließen und vielleicht gar nicht wussten, mit
wem sie in Kontakt standen. Dass es sich hier nicht um
Paranoia handelt, zeigte erst vor drei Wochen das Ergebnis einer Überprüfung von Daten beim niedersächsischen Verfassungsschutz durch eine eigens dafür eingesetzte Task Force. Rund 40 Prozent der überprüften
Personendaten waren illegal gespeichert. Betroffen
waren Menschen, die sich völlig legal in Bürgerinitiativen politisch engagieren. Gespeichert wurden Muslime, die in den - nach Meinung der Schlapphüte - falschen Moscheen beten. Selbst Minderjährige wurden
erfasst. Das Beispiel Niedersachsen zeigt, wohin die
unkontrollierte Datensammelwut der Dienste führt.
Und dabei bleibt es ja nicht. Anschließend haben über
die gemeinsame Verbunddatei auch die Ermittlungsbehörden und Geheimdienste der anderen Bundesländer
Zugriff auf solche unrechtmäßig erfassten Daten.
Schon zum Schutze solcher zu Unrecht erfassten
Personen sollten Geheimdienste keinen Zugriff mehr
auf die Antiterrordatei erhalten - als ersten Schritt zur
Abschaffung dieses Datenmonsters.
Die Linke bleibt dabei: Bürgerrechte dürfen nicht
im Namen der Sicherheit geopfert werden.
Zu Protokoll gegebene Reden
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem
Grundsatzurteil vom April 2013 erstmals das informationelle Trennungsprinzip zwischen Polizeien und
Nachrichtendiensten ausdrücklich anerkannt und aus
dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung
abgeleitet. Die Konturen der unterschiedlichen Aufgaben der Sicherheitsbehörden und auch des verfassungsrechtlichen Trennungsgebotes wurden damit
deutlich geschärft. Das Bundesverfassungsgericht hat
hohe Anforderungen an die informationelle Trennung
von Polizei und Nachrichtendiensten formuliert. Daraus
ergibt sich ein enormer Prüf- und Handlungsbedarf,
der weit über das Antiterrordateigesetz hinausreicht.
Und nur deshalb hat das Bundesverfassungsgericht
dem Gesetzgeber eine Umsetzungsfrist für das Urteil
eingeräumt: Sie läuft noch bis zum 31. Dezember
2014.
Nach diesem Urteil ist es unsere Aufgabe, die Datenübermittlungsvorschriften in den Sicherheitsgesetzen am Maßstab der Verfassung neu zu überprüfen und
zu reformieren - da gibt es zum Beispiel auch dringenden Handlungsbedarf bei § 19 Bundesverfassungsschutzgesetz. Das hat die Innenministerkonferenz auch
schon so gesehen. Außerdem geht es in dieser Sache
nicht nur um die gemeinsamen Dateien. Wir brauchen
nach diesem Urteil auch zwingend eine gesetzliche
Grundlage für die Gemeinsamen Abwehrzentren wie
das GETZ - soweit der Betrieb überhaupt noch verfassungskonform möglich ist. Und wir brauchen eine
deutlich bessere Bund-Länder-übergreifende externe
Kontrolle der Zusammenarbeit von Polizeien und
Nachrichtendiensten.
Aber der Gesetzentwurf der Bundesregierung geht
leider völlig an den Erfordernissen, die sich aus dem
Urteil ergeben, vorbei. So wird sogar noch die verfassungswidrige erweiterte Datennutzung, die bisher nur
in der Rechtsextremismusdatei möglich war, nun auch
für die Antiterrordatei neu einführt. Und dass die Gesetzesgrundlagen beider Dateien entfristet werden
sollen, obwohl keine von beiden je einer unabhängigen
grundrechtsorientierten Evaluierung unterzogen
wurde, erweckt bei mir den Eindruck, als interessiere
die Bundesregierung die Wahrung der Grundrechte in
der Sicherheitspolitik nicht. Das zeigt sich auch darin,
dass uns die Bundesregierung das unabhängige
rechtswissenschaftliche Gutachten aus der letzten
Wahlperiode zur Evaluierung der Antiterrordatei bis
heute nicht vorgelegt hat.
Mit diesem Gesetzentwurf missachtet die Bundesregierung das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung und ignoriert die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts. Das können wir so nicht hinnehmen
und deshalb müssen wir hier im Deutschen Bundestag
dafür sorgen, dass die Anforderungen des Bundesverfassungsgerichtsurteils berücksichtigt werden. Wir haben in der Fraktion bereits ein öffentliches Fachgespräch zu den Konsequenzen des Urteils durchgeführt.
Im Innenausschuss haben wir eine Sachverständigenanhörung zu diesem Gesetzentwurf beantragt. Wir
werden nicht aufhören, für den Datenschutz, die Wahrung des Trennungsgebotes zwischen Polizeien und
Nachrichtendiensten und für eine verfassungskonforme Sicherheitsarchitektur zu kämpfen.
Das Antiterrordateigesetz von 2006 war eine von
zahlreichen Antworten auf die gewachsene Bedrohung
durch den internationalen Terrorismus. Durch die Einrichtung einer gemeinsamen Fundstellendatei wollten
wir - nicht zuletzt im Licht der Anschläge von Madrid
im März 2004, bei denen 191 Menschen getötet und
über 1 900 verletzt wurden - die Zusammenarbeit und
die Kontaktaufnahmemöglichkeiten der zuständigen
Behörden verbessern.
Dank der Datei kann ein Behördenmitarbeiter, der
im Bereich des internationalen Terrorismus ermittelt
oder aufklärt, schnell herausfinden, ob zu einer bestimmten Person auch bei anderen Behörden bereits
Informationen vorhanden sind und an wen er sich wenden muss.
Und im Eilfall, wenn Gefahr im Verzug ist und niemand in der anderen Behörde erreichbar, kann die Behörde auch die erweiterten Grunddaten freischalten.
Das ist bislang genau einmal vorgekommen und bestätigt zweierlei: zum einen, wie zurückhaltend und verantwortungsvoll die Behörden mit dieser Datei und ihren Befugnissen umgehen. Zum anderen aber zeigt
dieser konkrete Einzelfall auch, wie wichtig solche Eilklauseln sind:
So konnte der Terrorismusverdacht gegen einen Betroffenen, der am Wochenende im Rahmen einer konkreten Terrorismusfahndung mit mehreren gefälschten
Pässen angetroffen wurde, schnell entkräftet werden,
obwohl er wegen Namensgleichheit mit einem anderen
Verdächtigen einen Treffer in der ATD hatte.
Dass die Datei so funktioniert, wie wir uns das vorgestellt haben, hat die gesetzliche Evaluierung in der
letzten Legislaturperiode gezeigt. Ganz eindeutig haben die befragten Mitarbeiter, die mit der Datei arbeiten, bestätigt, dass diese die Zusammenarbeit insgesamt verbessert hat.
Noch während die Evaluierung lief, hat ein anderes
tragisches Ereignis gezeigt, dass sich das terroristische Täterpotenzial nicht auf den islamistischen Terrorismus beschränkt. Die Aufdeckung der Mordserie des
NSU hat uns deutlich vor Augen geführt, wie dringend
wir die Zusammenarbeit der zahlreichen Sicherheitsbehörden in Deutschland auch im Bereich des gewaltbereiten Rechtsextremismus verbessern müssen.
Einer der ersten Schritte war daher auch hier, nach
dem Vorbild der ATD eine Rechtsextremismusdatei
einzurichten.
Gerade vor dem Hintergrund des NSU und den Ergebnissen, die auch der parlamentarische UntersuZu Protokoll gegebene Reden
chungsausschuss hierzu in der letzten Legislaturperiode gebracht hat, wirkt das Urteil des BVerfG vom
24. April 2013 zur ATD beinahe anachronistisch,
schreibt es doch erstmals ein verfassungsrechtliches
informationelles Trennungsprinzip fest, das den Austausch von personenbezogenen Daten zwischen Polizei- und Strafverfolgungsbehörden einerseits und den
Verfassungsschutzbehörden andererseits nur unter bestimmten Voraussetzungen gestattet.
Aber im Kern bestätigt auch das BVerfG die ATD
- und implizit auch die RED - als sinnvolle Einrichtung für die Fälle, in denen eine schnelle und unkomplizierte Kontaktaufnahme zwischen den einzelnen Behörden notwendig wird.
Daher beschränken sich die Änderungen auch auf
wenige, wenngleich entscheidende Punkte. So fassen
wir die Definition der Personen, die in den beiden Dateien gespeichert werden, etwas enger, insbesondere
werden Kontaktpersonen nur noch mit wenigen Elementardaten, die zur schnellen Identifizierung und
Kontaktaufnahme notwendig sind, zu den Hauptpersonen gespeichert und können nicht mehr eigenständig
in den Dateien gesucht werden.
Außerdem werden künftig Daten, die aus Eingriffen
in das Fernmeldegeheimnis oder durch Maßnahmen
der Wohnraumüberwachung gewonnen wurden, nur
noch verdeckt eingestellt, sind also auch über die Eilfallregelung nicht abrufbar. Mit weiteren Maßnahmen
wie der Veröffentlichung der ergänzenden Verwaltungsvorschriften und einem regelmäßigen Tätigkeitsbericht des BKA an den Bundestag erhöhen wir zudem
die Transparenz der Dateien. Und ein Novum ist auch,
dass die Datenschutzbeauftragten des Bundes und der
Länder die Dateiführung nicht nur vollumfänglich
kontrollieren dürfen. Hierfür hatte bereits das alte Gesetz eine revisionssichere Vollprotokollierung aller Zugriffe auf die Dateien vorgeschrieben.
Zukünftig müssen sie - den Vorgaben des BVerfG
entsprechend - mindestens alle zwei Jahre Kontrollen
durchführen.
Eine Änderung im ATDG ist allerdings nicht auf das
BVerfG zurückzuführen. Im Zuge der Evaluierung der
ATD ist eine Forderung der Nutzer immer wieder aufgetaucht: Der bloße Fundstellennachweis, wenn man
bereits einen konkreten Verdächtigen hat, hilft zwar bei
der Informationsverdichtung. Aber gerade wenn man
aufgrund weniger spezifischer Hinweise nach Tätern
suchen muss, wie das ja bei den NSU-Morden der Fall
war, wären erweiterte Suchmöglichkeiten äußerst hilfreich.
Und in der Tat: Wenn man moderne Suchmaschinen
kennt, muten die Eingabemasken für die Suche in der
ATD oder RED reichlich altbacken an, was in diesem
Fall nicht der schlechten IT-Ausstattung der Polizei,
sondern den gesetzlichen Restriktionen geschuldet ist.
Nun widerspräche aber eine Suchmöglichkeit, wie
wir sie von Google kennen, klar den Vorgaben des
BVerfG, das gerade die Funktion als Fundstellennachweis betont hat.
Daher zielt die eng begrenzte Erweiterung der Antiterrordatei hinsichtlich einer Auswerte- und Analysefähigkeit darauf ab, dass nur bereits erhobene Daten
von einer an der ATD beteiligten Behörde systematisch
recherchiert werden können. Dabei werden hohe formelle und materielle Maßstäbe an die Zulässigkeit solcher Auswerte- und Analyseprojekte angelegt.
Insgesamt legen wir damit einen guten und praktikablen Gesetzentwurf dem Deutschen Bundestag vor,
der zwei Ziele erreicht: nämlich die Einhaltung der
verfassungsrechtlichen und verfassungsgerichtlichen
Vorgaben auf der einen Seite und die Erfüllung der
praktischen Anforderungen an eine effektive Recherche in den für die Terrorbekämpfung notwendigen Datenbeständen auf der anderen Seite.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/1565 und 17/12665 ({0}) an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung des nationalen Steuerrechts an den Beitritt Kroatiens zur EU und zur Änderung
weiterer steuerlicher Vorschriften
Drucksache 18/1529
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. Sind
Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall.
Wir beraten heute in erster Lesung das Gesetz zur
Anpassung des nationalen Steuerrechts an den Beitritt
Kroatiens zur EU und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften. Ein zugegebenermaßen etwas sperriger Titel für ein Gesetz, welches überwiegend Vorschriften enthält, die in der Vergangenheit mit den
jeweiligen Jahressteuergesetzen geregelt wurden. So
wollen wir neben der fachlichen Umsetzung der notwendigen Anpassungen eine Vielzahl von redaktionellen Änderungen und auch Vereinfachungen im Steuerrecht vornehmen.
Bedeutsam ist, dass im Einkommensteuer-, Körperschaft- und Gewerbesteuergesetz eine Neuregelung
und Straffung der Anwendungsregelungen erfolgt, wodurch insgesamt über 100 Absätze gestrichen werden
können. Abbau von Bürokratie auch und gerade im
Steuerrecht ist uns ein Anliegen. Diesem Ansinnen haben wir auch im Koalitionsvertrag entsprechend Rechnung getragen und setzen dies konsequent mit dem
vorliegenden Gesetzentwurf gemeinsam mit unserem
Koalitionspartner um.
Fakt ist, dass der Abbau von unnötiger Bürokratie
die Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen stärkt
und zudem auch zu einer leistungsfähigeren Verwaltung führt. Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart,
dass Gesetze einfach, verständlich und zielgenau ausgestaltet sein müssen. Bei der Steuergesetzgebung sind
die Anforderungen „einfach“ und „verständlich“ zugegebenermaßen oft nur sehr schwer zu erreichen.
Nicht selten ist es so, dass die wünschenswerte Einfachheit dem notwendigen Gerechtigkeitsgedanken
nicht immer zuträglich ist. Vereinfachen bedeutet oft,
Pauschalierungen vorzunehmen. Bei Pauschalierungen gibt es aber immer Gewinner und Verlierer, trotz
der damit verbundenen Entbürokratisierung, welche
den Bürgern und der Verwaltung zugutekommt.
Ich freue mich daher umso mehr, dass wir der Entbürokratisierung weiter entgegengehen und unser
Steuerrecht - wie im vorliegenden Gesetzentwurf - von
unnötigen Regelungen befreien, sozusagen entrümpeln.
Die Jahressteuergesetze stehen da in einer guten
Tradition. Im Rahmen dieser Omnibusgesetze wurde
bislang eine Vielzahl von Entbürokratisierungsmaßnahmen umgesetzt. So weit die bisherige bewährte
Praxis, an die wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
nahtlos anknüpfen wollen.
Ein weiterer wichtiger Punkt der Gesetzesvorlage
ist, dass zukünftig alle Einrichtungen zur ambulanten
Rehabilitation in die Gewerbesteuerbefreiung einbezogen werden. Sie werden damit den stationären Einrichtungen gleichgestellt.
Weiterer wesentlicher Inhalt des Entwurfs ist im Bereich der Vereinfachungen beispielsweise die Wiedereinführung der Fifo-Methode beim Handel mit Fremdwährungsbeträgen. Mit der Wiedereinführung lösen
wir die mit jedem weiteren Kauf und Verkauf von
Fremdwährungsbeträgen komplizierter werdende
Durchschnittsmethode ab, welche wir mit der Geltung
der Abgeltungsteuer eingeführt haben.
Im Bereich der Umsatzbesteuerung wollen wir die
Einführung einer eigenständigen Umsatzsteuerbefreiungsnorm für Arbeitsmarktdienstleistungen nach dem
SGB II und dem SGB III schaffen.
Die Umsatzsteuerbefreiung dient der zielgerichteten Umsetzung der europäischen MehrwertsteuerSystemrichtlinie, die für die mit der Sozialfürsorge und
der sozialen Sicherheit verbundenen Leistungen Umsatzsteuerfreiheit vorsieht.
Der Entwurf ist schon gut, bei den kommenden Beratungen werden wir aber sicherlich noch die eine
oder andere zusätzliche Maßnahme ins Gesetz aufnehmen.
Ein Punkt, den wir bei den Beratungen intensiv
prüfen werden, wird die Steuerschuldnerschaft des
Leistungsempfängers bei Bauleistungen und bei Gebäudereinigungsleistungen nach der aktuellen Rechtsprechung des BFH sein. Die Rechtsprechung sorgte
jedenfalls in der Bau- und Handwerksbranche für erhebliche rechtliche Unsicherheit. Wir wollen jedoch
möglichst präzise Gesetze, welche für die Bürger und
Unternehmen klar sind. Die Beratungen und auch die
anstehende Sachverständigenanhörung bleiben hier
abzuwarten.
Da die Gesetzvorlage bisher lediglich politisch
unproblematische Regelungen zum Inhalt hat, dürfte
einer zügigen Umsetzung und dem Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens nichts entgegenstehen.
Die Beratungsbranche und die Praxis wird mit Erleichterung zur Kenntnis nehmen, dass wir die hier getroffenen Regelungen nicht erst kurz vor Abschluss des
Kalenderjahres, sondern weit vorher beschließen werden.
Ich freue mich auf eine aufschlussreiche Sachverständigenanhörung und auf gute Beratungen in den
nächsten Wochen - auch mit der Opposition.
Zur mittlerweile fortgeschrittenen Stunde will ich
Ihnen detaillierteste Ausführungen zum Gesetzentwurf
der Bundesregierung ersparen, da wir auch immer
noch ganz am Anfang des Verfahrens stehen, aber auf
einige wenige Punkte möchte ich doch auch weit nach
Sonnenuntergang eingehen.
Es ist immer wieder spannend, was sich so alles hinter Gesetzesbezeichnungen verbirgt, und wenn man
dann mal genauer reinschaut, entdeckt man allerlei
Überraschendes und Vielfältiges. Ähnlich vielfältig
wie das Land Kroatien ist, so ist auch dieser Gesetzentwurf. Hangeln wir uns hierbei doch durch allerlei
steuerliche Regelungen und Richtlinien, die teilweise
sogar Kroatien betreffen.
Zu einem nicht unwesentlichen Teil handelt es sich
beim vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung um die Anpassung geltenden Rechts an den bereits zurückliegenden Beitritt Kroatiens zur Europäischen Union. Dies sind weitestgehend unstrittige
redaktionelle oder rechtsförmliche Anpassungen, die
geschehen müssen, um bestehende Gesetze an den Beitritt Kroatiens anzupassen. Ich denke da etwa an die
Anpassung der Mutter-Tochter-Richtlinie oder der Anpassung der Richtlinie über die Zins- und Lizenzgebühren.
Aber die Bundesregierung nutzt, und das begrüßen
wir als SPD-Bundesfraktion ausdrücklich, die Gelegenheit, die Steuergesetzgebung auch etwas zu entschlacken, teils über redaktionelle Änderungen, teils
aber auch durch berechtigte Straffung des Gesetzestextes. Denken wir etwa an die Neufassung der Anwendungsregelungen in § 52 des Einkommensteuergesetzes, in dem nun statt 150 Absätzen künftig nur noch
48 Absätze stehen sollen. Das vereinfacht es nicht unZu Protokoll gegebene Reden
wesentlich den Gesetzestext zu nutzen, aber auch erst
einmal zu verstehen.
Neben den zahlreichen technischen und redaktionellen Änderungen und rechtlichen Klarstellungen
gibt es aber auch tatsächlich substanzielle Änderungen, die wir begrüßen und die es vor allem auch den
Finanzbeamtinnen und Finanzbeamten in unserem
Land erleichtern sollen, ihre Arbeit weiterhin so gut zu
verrichten. Die nun einzuführende Regelung, dass
künftig die Steuer-ID des Unterhaltsempfängers auf
der Steuererklärung des Unterhaltspflichtigen genannt
werden muss, erleichtert es, Missbrauch zu vermeiden,
und ist der richtige Schluss aus der berechtigten Kritik
der Rechnungshöfe.
Die Anhebung des Grenzbetrages für die jährliche
Abgabe der Lohnsteueranmeldung von 1 000 Euro auf
1 080 Euro ist logisch und nachvollziehbar und entlastet die Steuerverwaltung genauso wie die Arbeitgeber.
Wir unterstützen das.
Zwei notwendige Schritte im Rahmen des Einkommensteuergesetzes werden angepackt, bei denen ich
mich besonders auf die Beratungen und Diskussionen
im Finanzausschuss freue, weil ich der festen Überzeugung bin, das wir dort alle gemeinsam einen Schritt
vorankommen wollen. Zum einen richtet sich der Gesetzentwurf gegen Modelle, bei denen „gebrauchte“
Versicherungen von Versicherungsnehmern an Dritte
- häufig Versicherungen oder Fonds - verkauft werden. Der Gewinn, den dabei die Käufer erzielen, ist
bisher steuerfrei, und das müssen wir ändern. Es handelt sich hierbei häufig um Lebensversicherungen, und
letztlich sind das Wetten auf den Tod, die hier abgeschlossen werden. Wer daraus Gewinn erzielen will,
der muss darauf auch Steuern zahlen. Das Credo muss
nämlich weiterhin lauten: Risikovorsorge darf steuerbefreit bleiben, Renditeerwartungen zweckentfremden
jedoch die Versicherung und sollten somit steuerpflichtig sein. Hier kommen wir einen weiteren Schritt
voran.
Zum anderen geht es darum, zu vermeiden, dass beschränkt Steuerpflichtige ihre Dividendenansprüche
kurz vor dem Stichtag veräußern, um die Steuerpflicht
zu umgehen. Auch hier sieht der Gesetzentwurf sinnvolle Veränderungen vor, die dieses künftig vermeiden
sollen. Durch die gesetzliche Klarstellung der geltenden Rechtslage werden künftig Fehlinterpretationen
vermieden.
Im Bereich der Gewerbesteuer sollen auch Änderungen vollzogen werden, die es zu erwähnen gilt. Die
Erweiterung des Inlandsbegriffes ist aus meiner Sicht
unstrittig. Weitere Veränderungen soll es im Bereich
der ambulanten Rehaleistungen geben. Wer sich ein
wenig mit Rehabilitationsmaßnahmen in unserem
Land beschäftigt, kennt die Entwicklung, dass heutzutage Therapien, die früher immer stationär vollzogen
wurden, heute häufig ambulant geschehen. Dies geschieht häufig auch im Sinne des Patienten. Nun soll es
eine steuerliche Gleichstellung geben, da bisher nur
Krankenhäuser und stationäre Rehaeinrichtungen von
der Gewerbesteuer befreit sind. Der einzige Unterschied besteht jedoch in der ausbleibenden Übernachtung. Hier sehen wir Handlungsbedarf. Ich denke, der
Gesetzentwurf geht hier in die richtige Richtung.
Aber ein gutes Steuergesetz ändert auch immer einiges in der Umsatzsteuer. Auch hier bin ich sehr gespannt auf die gestern im Finanzausschuss beschlossene Anhörung, weil wir hier den wohl spannendsten
und kontroversesten Teil des Gesetzentwurfes finden
können. Die Steuerbefreiungen für Eingliederungsleistungen nach dem SGB II und der aktiven Arbeitsförderung nach SGB III scheinen mir nachvollziehbar und
richtig zu sein. Ganz ähnlich denke ich über die Steuerbefreiung für die Personalgestellung durch religiöse
und weltanschauliche Einrichtungen.
Nun hat uns der Finanzausschuss des Bundesrates
schon eine Stellungnahme übermittelt, die auch noch
einige interessante Änderungsvorschläge beinhaltet,
und ganz besonders spannend ist der Änderungswunsch zu § 13 b Umsatzsteuergesetz. Die Rechtsprechung hat hier einiges verändert oder verschlimmbessert - wie man will. Hier geht es um die dringende
Frage, wer denn nun die Umsatzsteuer abführen muss
oder nicht, beispielsweise wenn ich einen Auftrag an
eine Baufirma vergebe und diese ihn an unterschiedliche Subunternehmer weitergibt. Wer führt nun die Umsatzsteuer ab? Das gilt es gesetzlich endlich festzuzurren, um rechtliche Klarheit wiederherzustellen. Aktuell
etwa kann es unter anderem passieren, dass Subunternehmer eigentlich Umsatzsteuer zahlen müssten, aber
eventuell gar nicht mehr existieren. Hier besteht
Handlungsbedarf, und den hat der Bundesrat in seiner
Weisheit entdeckt und einen praktikablen Vorschlag
gemacht, den wir mit in die Beratungen im Ausschuss
nehmen und auch in der Anhörung mit den Verbänden
diskutieren werden.
Es bewahrheitet sich also wie so häufig das Strucksche Gesetz: Kein Gesetz verlässt den Bundestag so,
wie es reingekommen ist. Ich freue mich auf die Beratungen im Ausschuss und die gemeinsame Arbeit.
Der Entwurf, den uns die Bundesregierung hier vorgelegt hat, heißt ganz unscheinbar „Gesetz zur Anpassung des nationalen Steuerrechts an den Beitritt Kroatiens zur EU und zur Änderung weiterer steuerlicher
Vorschriften“. Man könnte also denken, hier gehe es
nur um ein, zwei kleine Änderungen, die durch den
Kroatien-Beitritt notwendig geworden wären.
Tatsächlich aber setzen Sie, meine Damen und Herren von der Bundesregierung, uns hier ein neunzigseitiges Monstrum vor, das auf den ersten Blick nur sehr
schwer zu durchschauen ist. Sie sehen in dem Entwurf
so viele Gesetzesänderungen vor, dass er teils sogar
schon als „heimliches Jahressteuergesetz 2014“ bezeichnet wird.
Zu Protokoll gegebene Reden
Zwar will ich Ihnen, meine Damen und Herren von
der Bundesregierung, erst einmal zugestehen, dass es
sich bei vorliegendem Gesetzentwurf zu großen Teilen
auch um eine begrüßenswerte Entrümpelungsmaßnahme im völlig unüberschaubaren Wust des Steuerrechts handelt. Dass Sie zum Beispiel längst überholte
Paragrafen im Einkommensteuergesetz streichen, war
sozusagen ohnehin überfällig. Eines können wir nämlich mit Bestimmtheit sagen: Jedes kleine bisschen
Mehr an Transparenz und Verständlichkeit ist wünschenswert. Das wird jeder bestätigen können, der
schon mal mehr als einen Blick ins deutsche Steuerrecht werfen musste.
Einige Stellen in Ihrem Entwurf geben aber auch
Anlass zur Sorge. Ich gebe Ihnen mal ein Beispiel: In
Ihrem Entwurf wollen Sie unter anderem das Gewerbesteuerrecht ändern, indem Sie die Liste der Ausnahmen von der Gewerbesteuerpflicht erweitern. Zwar
mag es sich letztlich gemessen an der Summe der dadurch bedingten Steuerausfälle hier nur um „Peanuts“
handeln, Sie wissen aber auf der anderen Seite ganz
genau, dass die Gemeinden in Deutschland teilweise
so pleite sind, dass sie auf die Einnahmen aus der Gewerbesteuer, und seien es nur „Peanuts“, schlichtweg
nicht verzichten können.
Die Linke hat dies im Gegensatz zu Ihnen erkannt
und erst kürzlich einen Antrag zur Stärkung der Kommunalfinanzen eingebracht. Wir fordern statt der Aushöhlung der Gewerbesteuer deren Ausbau und Weiterentwicklung hin zu einer Gemeindewirtschaftsteuer,
damit die Kommunen ihren öffentlichen Aufgaben endlich wieder nachkommen können - kaputte Straßen
und verfallende Schulen und Krankenhäuser gehen zulasten der Bürgerinnen und Bürger; das sollte Ihnen
doch wohl klar sein.
Und wo wir schon dabei sind, hier noch eine weitere
Anregung, die Sie unbedingt beherzigen sollten: In Ihrem Sammelsurium von Änderungen, die Sie mit diesem Gesetzentwurf vorlegen, müssen Sie dringend
auch den durch die Entscheidung des Bundesfinanzhofes aus dem August letzten Jahres angefallenen Reformbedarf bei den umsatzsteuerlichen Regelungen
zum Übergang der Steuerschuld bei der Erbringung
von Bauleistungen berücksichtigen. Es kann nicht angehen, dass bei Bauleistungen zwischen zwei Unternehmen am Ende keiner weiß, wer denn nun die Umsatzsteuer zu zahlen hat. Sie haben hier bereits
entsprechende Änderungen im vorliegenden Gesetzentwurf angekündigt. Lassen Sie dem auch Taten folgen.
Letztlich befürchte ich, dass im Zuge der kommenden Anhörung im Finanzausschuss noch einiges mehr
in diesem Gesetzentwurf aufgedeckt werden könnte,
was eher schlecht als recht ist. Man könnte ja sogar
auf die Idee kommen, meine Damen und Herren auf
der Regierungsbank, dass Sie uns hier im Vorfeld der
Fußballweltmeisterschaft, wo fast sämtliche Augenpaare der Republik bereits nach Brasilien gerichtet zu
sein scheinen, noch ein paar unliebsame Überraschungen durch diesen Gesetzentwurf unterjubeln wollen. Aber wie heißt es doch so schön: ein Schelm, wer
Böses dabei denkt.
Das Spannendste bei diesem Gesetzentwurf, den die
Bundesregierung hier vorlegt, sind die Baustellen, die
mit diesem Gesetz nicht berührt werden.
Die Bundesregierung schlägt auf über 80 Seiten Änderungen in 15 Gesetzen und 3 Durchführungsverordnungen vor, und am Ende kostet dieses Paket lediglich 20 Millionen Euro pro Jahr? Und selbst diese
20 Millionen beruhen allein auf den Änderungen im
Umsatzsteuer- und Gewerbesteuergesetz. Das Kroatienanpassungsgesetz kommt im Mantel eines Jahressteuergesetzes daher, doch die sehr begrenzte
Aufkommenswirkung zeigt, wie wenig ambitioniert die
vorgeschlagenen Maßnahmen sind. Statt dringende
Themen anzugehen, präsentieren Sie einen Wust von
Vorschriften, die nichts kosten, aber auch niemandem
etwas bringen.
Sie haben angekündigt, im Baubereich das ReverseCharge-Verfahren einführen zu wollen. Wer sich einmal ausführlich mit den Empfehlungen des Bundesrechnungshofes zur Reform der Umsatzsteuer oder mit
dem Katalog der Steuersubventionen auseinandersetzt, stößt auf sehr viel weiter gehende Empfehlungen.
Die Erhebungslücke der Umsatzsteuer gefährdet die
öffentlichen Haushalte. Betriebsprüfungen und Umsatzsteuersonderprüfungen kommen regelmäßig zu
Mehrergebnissen in Höhe von 4 Milliarden Euro pro
Jahr, die ohne diese Prüfungen im Erhebungsverfahren unter den Tisch gefallen wären. Allein die Steuerfahndung sorgt noch für weitere Umsatzsteuermehreinnahmen im Umfang von etwa 2 Milliarden Euro.
Diese prüfungsbedingten Mehreinnahmen sind ein
Indiz für den unentdeckt gebliebenen Bereich wirtschaftlicher Tätigkeiten, die der Umsatzbesteuerung
entgehen. Zählt man die Niederschlagungen und Insolvenzen dazu, zeigt sich, wie groß das Ausfallrisiko im
Umsatzsteuersystem ist. Setzen Sie sich intensiver mit
dem Reverse-Charge-Verfahren auseinander, und Sie
werden dem Bundesrechnungshof vielleicht zustimmen, dass damit erhebliche Ausfälle vermieden werden
könnten.
Die Hotelsteuer ist eine ungerechtfertigte Steuersubvention, die zu Steuerausfällen von etwa 1 Milliarde Euro jährlich führt. Ansatzpunkte haben Sie genug, und parlamentarische Mehrheiten finden Sie
dafür sogar jenseits der Koalitionsmehrheit.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/1529 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Vizepräsident Peter Hintze
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung 2013 nach § 7
des Gesetzes zur Einsetzung eines Nationalen
Normenkontrollrates
Bessere Rechtsetzung 2013: Erfolge dauerhaft
sichern - zusätzlichen Aufwand vermeiden
Drucksache 18/866
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. Sind
Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall.
Bürokratieabbau ist eines der zentralen Themen der
Großen Koalition.
Im Koalitionsvertrag heißt es dazu: „Wir wollen
Wirtschaft und Bürger weiter spürbar von unnötiger
Bürokratie entlasten.“ Uns ist es wichtig, diese Vereinbarung in enger Zusammenarbeit mit unserem Koalitionspartner einzuhalten.
Als Vorsitzender der AG Bürokratieabbau des Parlamentskreises Mittelstand der CDU/CSU-Fraktion ist
es mir deswegen ein Anliegen, die Bundesregierung
beim Abbau bürokratischer Überregulierung zu unterstützen.
Bei der Einsetzung des Nationalen Normenkontrollrats 2007 waren Unternehmen in Deutschland mit
rund 50 Milliarden Euro jährlich durch Informationspflichten belastet. Um diese Kosten zunächst spürbar
zu senken, wurde ein Nettoabbauziel von 25 Prozent
definiert, was einer Senkung von rund 12 Milliarden
Euro entspricht. Dieses Ziel wurde 2013 erreicht.
Um Bürokratie messbar zu machen, wurde ein
Bürokratiekostenindex geschaffen. Dies macht es zum
ersten Mal möglich, die Kostenentwicklung darzustellen.
Im Laufe des Jahres 2013 wurden die Weichen für
eine bessere Gesetzgebungskultur gestellt. Zu nennen
sind hier insbesondere der Beschluss für eine systematische Evaluierung wesentlicher Regelungsvorhaben
sowie gemeinsame Vorarbeiten von Bundesregierung,
Bundestag und Bundesrat für ein elektronisches Unterstützungssystem zur Vorbereitung von Regelungsentwürfen.
Im Bericht der Bundesregierung wird deutlich, dass
sich die Methodik zur Darstellung des Erfüllungsaufwands nach gut zweijähriger Erfahrung bewährt hat.
Die Kontrolle der Gesetzesfolgen innerhalb der Ministerien ist nicht nur vorgeschrieben, sondern stellt mittlerweile eine Selbstverständlichkeit dar.
Auch das ist ebenfalls als großer Erfolg zu verbuchen. Sowohl in den Ministerien als auch bei Bürgern,
Verbänden, Verwaltung und Unternehmen ist diese
Vorgehensweise auf große Akzeptanz gestoßen. Dadurch erhalten wir größtmögliche Transparenz für den
Entscheidungsträger und zudem ein realistisches, praxisnahes Bild von den zu erwartenden Folgen einer
Regelung.
Trotz des Erfolges verzeichnet die Bundesregierung
beim jährlichen Erfüllungsaufwand 2013 im Saldo einen Anstieg um circa 2,4 Milliarden Euro. Davon entfallen laut Nationalem Normenkontrollrat auf die
Wirtschaft 1,71 Milliarden Euro, auf Bürgerinnen und
Bürger 0,47 Milliarden Euro und auf die Verwaltung
0,25 Milliarden Euro. Allein 2,16 Milliarden Euro sind
allerdings auf die Zweite Verordnung zur Änderung
der Energieeinsparverordnung zurückzuführen. Verantwortlich hierfür ist insbesondere die Anhebung der
Energieeffizienzstandards ab 2016.
Mit der Einführung der aktuellen Gesetzentwürfe
zum Tarifautonomiestärkungsgesetz und zum EEG ist
ebenfalls ein Anstieg des Erfüllungsaufwands auf allen
Ebenen zu erwarten.
Mit dem Tarifautonomiestärkungsgesetz beispielsweise soll eines der zentralen Vereinbarungen des
Koalitionsvertrags umgesetzt werden. Damit einher
gehen diverse Änderungen im Arbeitnehmer-Entsendegesetz, im Tarifvertragsgesetz und in weiteren Gesetzen. Zuständig für die Überprüfung wird die Zollverwaltung sein. All diese Maßnahmen bewirken einen
erheblichen Anstieg des Erfüllungsaufwands.
Eine entsprechende Auswertung zur Darstellung
des Erfüllungsaufwands muss gemäß § 4 Absatz 4
NKR-Gesetz mittlerweile in jedem Gesetz enthalten
sein. Durch die Ermittlung des Erfüllungsaufwands
soll der Gesetzgeber eine angemessene vollständige
Übersicht zu den Kostenfolgen und dadurch eine wichtige Entscheidungsgrundlage erhalten.
Der Normenkontrollrat veröffentlichte bereits eine
Stellungnahme, ob die Anforderungen an eine hinreichende Abschätzung und Darstellung der Gesetzesfolgen entsprechend den Bestimmungen des NKR-Gesetzes gegeben sind. Nach dieser Stellungnahme ist die
Darstellung der Regierung in Bezug auf den Erfüllungsaufwand jedoch sehr lückenhaft. Kritisiert wird,
dass wesentliche Aufwände wie beispielsweise die Verpflichtung der Zollverwaltung zur Prüfung nicht aufgeführt werden. Zudem sei den nach dem NKR-Gesetz
geforderten Anforderungen für eine Alternativenprüfung nicht entsprochen worden. Genaue Zahlen sind
bislang nicht bekannt. Der zu erwartende Erfüllungsaufwand ist aller Voraussicht nach jedoch erheblich.
Auch wenn der Erfüllungsaufwand bereits ein etablierter Mechanismus ist, muss hier weiter nachgebessert werden. Der Prozess zu den aktuellen Gesetzent3480
würfen zum Tarifautonomiestärkungsgesetz und auch
zum EEG sind bereits zu weit fortgeschritten, um den
bürokratischen Lasten wirksam entgegenwirken zu
können. Bei zukünftigen Gesetzesvorlagen muss deswegen rechtzeitig Einfluss genommen werden. Dazu
bedarf es einer angemessenen Beachtung der Anforderungen des NKR-Gesetzes bei der Darstellung des Erfüllungsaufwands und vor allem einer rechtzeitigen
und transparenten Kostenübermittlung der zuständigen Ressorts.
Deswegen gilt es nun, auf Grundlage des bereits Erreichten das Regierungsprogramm „Bessere Rechtssetzung“ systematisch weiterzuentwickeln. Nur so können wir unsere Zusagen im Koalitionsvertrag für die
18. Legislaturperiode zuverlässig einlösen: „Wir wollen bei den Informations- und Nachweispflichten zu einer Entlastung kommen und den Erfüllungsaufwand
verringern.“
Das aktuelle Arbeitsprogramm „Bessere Rechtssetzung 2014“ wurde am 4. Juni veröffentlicht und baut
auf den Entwicklungen des Programms von 2013 auf.
Eines der elementaren Ziele des Programms ist es,
Entlastungen noch spürbarer zu machen. Deswegen
soll der Fokus auf qualitativen Elementen liegen, wie
beispielsweise einer regelmäßigen Befragung von Bürgerinnen und Bürgern. Es soll herausgefunden werden, wie innerhalb bestimmter Lebenslagen Kontakt
und Zusammenarbeit mit der Verwaltung wahrgenommen wird, um Hinweise zu möglichen Vereinfachungen
und Verbesserungen bei Verwaltungskontakten zu erlangen. Die Befragungen beginnen 2015. Zahlreiche
Vereinfachungsprojekte für diverse Lebenslagen sollen
initiiert werden, mit dem Ziel, dass die Ergebnisse zu
weiteren spürbaren Entlastungen führen.
Zudem soll der Erfüllungsaufwand bei einer Reihe
von Maßnahmen weiter reduziert werden, beispielsweise durch Normenscreenings oder eine Modernisierung des steuerlichen Verfahrensrechts. Der Fokus
liegt hier insbesondere auf der Entlastung kleinerer
und mittlerer Unternehmen sowie einer bürger- und
unternehmensfreundlichen Verwaltung. Ein weiteres
Vorhaben bezieht sich auf die Verbesserung von Rechtsetzungsprozessen, vor allem auf die praktische Erprobung von Maßnahmen sowie deren systematische Evaluierung. Um einen besseren Überblick zu erhalten,
soll die Entwicklung des Erfüllungsaufwands künftig
vierteljährlich ermittelt werden.
Wir begrüßen die bisher erzielten Fortschritte sowie
die weiteren Ziele, die die Bundesregierung sich im
Rahmen des Arbeitsprogramms „Bessere Rechtssetzung 2014“ gesetzt hat. Diese sind jedoch laut der
ebenfalls am 4. Juni veröffentlichten Stellungnahme
des NKR noch nicht ausreichend. Der Rat bemängelt,
dass im Programm kein neues Abbauziel gesetzt
wurde. Insbesondere vor dem Hintergrund eines steigenden Erfüllungsaufwands ist aber ein quantitatives
Abbauziel dringend erforderlich. Zudem regt der Rat
an, die vierteljährliche Ermittlung des Erfüllungsaufwands im Sinne von mehr Transparenz auch zu veröffentlichen. Positiv bewertet der Rat die weiteren Bemühungen zur Spürbarkeit von Maßnahmen, die einen
qualitativen Ansatz beinhalten.
Das aktuelle Arbeitsprogramm weist in die richtige
Richtung, dennoch besteht noch Verbesserungsbedarf.
Und dafür müssen wir uns konkrete Ziele setzen. Diese
Ziele können wir jedoch nur gemeinsam erreichen. Gemeinsam mit den hochspezialisierten Mitarbeitern in
den Ministerien. Gemeinsam mit den betroffenen Verbänden. Gemeinsam mit den betroffenen Bürgern und
Unternehmern. Aber auch gemeinsam mit unseren
Kollegen in Brüssel und der Europäischen Union.
Über 50 Prozent unserer Gesetze kommen von der Europäischen Union. Deswegen ist es besonders wichtig,
auch bereits dort anzusetzen, wo sie entstehen.
In den letzten Jahren wurden bereits wichtige
Schritte auf EU- und Mitgliedstaatenebene erreicht.
Ich gehe davon aus, dass das Thema Bürokratieabbau
auch weiterhin in den Mitgliedstaaten, der Kommission und dem EU-Parlament hohe Priorität genießt.
Im Mai war ich auf der internationalen Konferenz
zum Thema „Smart Regulation“ in Den Haag. Die
Niederlande sind bereits seit Jahren Vorreiter beim
Bürokratieabbau. Ihr 25-Prozent-Nettoabbauziel erreichten sie erfolgreich mit einem Ansatz ähnlich dem
deutschen Standardkostenmodell. Vor Ort konnte ich
mir ein Bild von den Aktivitäten auf EU-Ebene und in
den anderen Mitgliedstaaten machen. Mein Fokus lag
auf der zukünftigen Gestaltung der EU-Regulierungspolitik. Ich wollte dadurch konkrete Ansatzpunkte und
Ziele für die Mitwirkung des Deutschen Bundestages
im europäischen Gesetzgebungsprozess erfahren.
Hierzu führte ich ein aufschlussreiches Gespräch
mit Dr. Edmund Stoiber, der seit 2007 die Hochrangige
Gruppe Bürokratieabbau in Brüssel leitet. Gestern
fand bereits das zweite Treffen statt, bei dem mich
Dr. Stoiber über seine Arbeit in Brüssel informierte.
Auch wenn im September 2014 das Mandat seiner
Gruppe bereits ausläuft, muss seine wichtige und erfolgreiche Arbeit fortgesetzt werden.
Ein hoher bürokratischer Aufwand schadet der europäischen Wirtschaft, schadet der deutschen Wirtschaft und somit Deutschland insgesamt. Laut einer
aktuellen Studie von PriceWaterhouseCoopers ist
„Überregulierung […] das größte Risiko für das Wirtschaftswachstum“, zumindest unter den Faktoren, die
von der Politik beeinflusst werden können.
Nicht nur Unternehmen, sondern auch Bürger und
Verwaltungen leiden unter den Lasten überbordender
Bürokratie. Im Koalitionsvertrag haben wir bereits diverse Maßnahmen hierzu herausgearbeitet, die es jetzt
zu konkretisieren gilt, um unser gemeinsames Ziel, belastende Bürokratie abzubauen, zu erreichen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wenn auch zu wirklich später Stunde, klar ist: Die
Themen Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung
sind und bleiben außerordentlich wichtig für die Bürgerinnen und Bürger, für Verwaltung und die Wirtschaft. Denn eine schlanke Verwaltung, verständliche
Gesetze mit möglichst wenig Bürokratie, aber auch
die regelmäßige Überprüfung, ob Gesetzesziele und
Folgen vertretbar sind, das alles sind wichtige Standortfaktoren für ein modernes Industrieland wie
Deutschland. Es ist ganz entscheidend, dass über Regelungskosten und Regelungsnutzen Transparenz für
Parlament und Regierung hergestellt wird.
Klar ist damit auch: Über den Erfolg unseres Wirtschaftsstandortes Deutschland entscheiden nicht allein zukunftsträchtige Ideen, hochwertige Produkte
und Dienstleistungen. Auch möglichst niedrige Bürokratiekosten tragen letztlich dazu bei, ob sich Unternehmen bei uns ansiedeln und ob Bürgerinnen und
Bürger sich gesellschaftlich engagieren. Geringe
Bürokratiekosten sind damit auch ein Markenkern für
unsere soziale Marktwirtschaft und unser demokratisches Gemeinwesen, die letztlich auf dem Engagement
des Einzelnen beruhen und die Akzeptanz der großen
Mehrheit der Bevölkerung benötigen.
Dazu ist die Herstellung von Transparenz ein notwendiger Ansatz. Bereits in der vergangenen Großen
Koalition haben wir seit 2005 dazu die richtigen Entscheidungen getroffen. Damals hatten wir im Koalitionsvertrag beschlossen, Bürger und Wirtschaft von
einem Übermaß an Vorschriften und der damit einhergehenden Belastung durch bürokratische Pflichten und
Kosten zu entlasten.
Der Bundestag hat seitdem die Weichen dafür gestellt, dass wir heute einen handhabbaren und transparenten Instrumentenkasten zum Bürokratieabbau vorweisen können:
Bereits im Jahr 2006 hat der Bundestag die Einrichtung des Normenkontrollrats als unabhängiges Kontroll- und Beratungsgremium beschlossen, das seitdem
die Angaben der Ministerien über die zu erwartenden
Bürokratiekosten in den Regelungsvorhaben der Bundesregierung sowie den Normenbestand prüft.
Wir haben das Standardkosten-Modell zur objektiven Messung der bürokratischen Belastungen von Unternehmen eingeführt.
Seit 2011 erreichen wir mit der Ermittlung des Erfüllungsaufwandes, dass alle mit einem Regelungsvorhaben verbundenen Belastungen der Wirtschaft,
Verwaltung sowie der Bürgerinnen und Bürger systematisch untersucht und dargestellt werden.
Seit 2012 wird die Entwicklung der Bürokratiekosten für die Wirtschaft mit dem Bürokratiekostenindex
transparent dargestellt.
Schließlich hat die Bundesregierung 2012 beschlossen, alle Regelungsvorhaben mit einem Erfüllungsaufwand von über 1 Million Euro drei bis fünf Jahre nach
ihrem Inkrafttreten hinsichtlich der tatsächlich erzielten Wirkungen zu evaluieren.
Insgesamt besteht durch diese Maßnahmen die
Möglichkeit, die bei uns bestehenden Bürokratiekosten
zuverlässig zu erfassen, den Bürokratiekostenabbau
nachprüfbar zu machen und auch für neue Gesetze
weitgehend vorherzusagen.
Der Bericht der Bundesregierung zur besseren
Rechtsetzung 2013 mit dem Titel: „Erfolge dauerhaft
sichern - zusätzlichen Aufwand vermeiden“ zeigt einmal mehr, dass wir beim Bürokratieabbau zwar den
richtigen Weg eingeschlagen haben, aber noch lange
nicht am Ziel sind.
Aus dem Bericht für das Jahr 2013 geht hervor, dass
das Ziel, die Bürokratiekosten der Wirtschaft dauerhaft auf niedrigem Niveau zu halten, für 2013 weitgehend erfüllt werden konnte. So ist der Bürokratiekostenindex der Wirtschaft um 0,04 Punkte auf 100,31
gestiegen und bleibt damit auf relativ niedrigem Niveau. Positiv ist auch, dass 2013 mehrere Vereinfachungsprojekte durchgeführt worden sind, wie beispielsweise zu den gesetzlichen Leistungen in der
Pflege, zur Fahrzeug-Online-Zulassung oder zum Bildungs- und Teilhabepaket. Schließlich wurden 2013
die Weichen für eine systematische Evaluierung wesentlicher Regelungsvorhaben gestellt, um auch nach
Inkrafttreten zu prüfen, ob die Ziele erreicht wurden
und der ermittelte Aufwand vertretbar ist.
Trotz dieser zweifelsohne erreichten Fortschritte
müssen wir auf der anderen Seite erkennen, dass auch
2013 der laufende Erfüllungsaufwand in der Summe
weiter um rund 2,4 Milliarden Euro angestiegen ist:
für die Wirtschaft um rund 1,6 Milliarden Euro, für die
Bürger um 470 Millionen Euro und für die Verwaltung
um jährlich 245 Millionen Euro. Entscheidender
Kostentreiber mit einem Anteil von 40 Prozent der im
Berichtszeitraum geänderten Vorgaben bleiben darunter beispielsweise für die Wirtschaft die Informationspflichten.
Der Nationale Normenkontrollrat fordert in seiner
Stellungnahme zum Jahresbericht die Bundesregierung dazu auf, klare Ziele für eine Begrenzung des
Erfüllungsaufwandes zu setzen und geeignete
Maßnahmen zur Kostenreduzierung bzw. -begrenzung
zu erarbeiten bzw. umzusetzen. Einen besonderen
Schwerpunkt legt der Normenkontrollrat bei seinen
Vorschlägen auf die Kostenfolgen durch EU-Recht und
kritisiert, dass bisher keine Transparenz über die von
EU-Verordnungen ausgehenden Belastungen für
Deutschland bestehen.
Ich begrüße es deshalb ausdrücklich, dass die Bundesregierung in ihrem neuen Arbeitsprogramm „Bessere Rechtsetzung 2014“ genau diesen Punkt teilt, ihre
Verfahren zur Mitwirkung an der EU-Gesetzgebung
überprüfen und weiterentwickeln will. Auch bei der
Vereinfachung geltenden EU-Rechts, der Rücknahme
nicht notwendiger Vorschläge und der Aufhebung
Zu Protokoll gegebene Reden
überholter Rechtsvorschriften will die Bundesregierung mitwirken.
Die Regierungsfraktionen werden die Maßnahmen
rund um den Bürokratieabbau und für bessere Rechtsetzung aktiv begleiten. Wir haben im Koalitionsvertrag verabredet, Wirtschaft und Bürger weiter spürbar
von unnötiger Bürokratie zu entlasten. Wir wollen,
dass Unternehmen und Verbände, Normenkontrollrat
und Bundesministerien, Landesbehörden und Kommunen gemeinsam Vereinfachungsmöglichkeiten identifizieren und für eine bessere Rechtsetzung sorgen. Wir
wollen in geeigneten Fällen Regelungen praktisch erproben, schon bevor sie beschlossen werden. Wir wollen, dass auch bestehende Rechtsvorschriften hinsichtlich ihrer Kosten und ihres Nutzens überprüft werden.
Und wir wollen erreichen, dass es auch auf europäischer Ebene einen eigenständigen Normenkontrollmechanismus gibt. Mit diesen Zielen kann der Kreislauf bei den Regelungen geschlossen und noch mehr
Transparenz hergestellt werden.
Die Koalition wird beim Bürokratieabbau und bei
der besseren Rechtsetzung entschlossen die nächsten
Schritte gehen. Schwerpunkte sind neben den bereits
genannten Zielen aus Sicht der SPD-Bundestagsfraktion vor allem klare und überprüfbare Vorgaben für
eine Begrenzung des Erfüllungsaufwands, aber auch
die umfassendere Einbindung von Ländern und Kommunen in die Ermittlung und Reduzierung der Vollzugskosten von Bundesrecht sowie die kontinuierliche
Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an den Vorhaben zum Bürokratieabbau und besserer Rechtsetzung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin sicher, die
Anstrengungen des Bundestages für Bürokratieabbau
und bessere Rechtsetzung lohnen sich. Sie regen Unternehmensgründungen, Innovationen und zivilgesellschaftliches Engagement insgesamt an. Lassen Sie uns
gemeinsam daran arbeiten.
Das Wort Bürokratie hat bei vielen Bürgerinnen und
Bürgern einen schlechten Klang. Millionen von Menschen in Deutschland sind regelmäßig mit den Mühlen
der Bürokratie beschäftigt, wenn es darum geht, ihren
Anspruch auf ALG II einzufordern oder ihre Steuererklärung zu machen. Alles Bereiche in denen ein
Bürokratieabbau millionenfache Jubelstürme auslösen
würde. Doch der absolute Schwerpunkt des Normenkontrollrates liegt nach wie vor auf der Reduzierung
von tatsächlichem und vermeintlichem bürokratischem
Aufwand für Unternehmen.
Nun ist die Reduzierung von unnötiger Bürokratie
auch für Unternehmen, welche erheblich zum Wohlstand in Deutschland beitragen, insbesondere bei der
Beschäftigung, nichts Verwerfliches. Bedenklich wird
es nur, wenn zum Beispiel der Abbau von Berichts-,
Informations- und Aufbewahrungspflichten zu einer
Verschlechterung im Bereich des Arbeitnehmer- oder
Verbraucherschutzes oder im Bereich der Steuerbefolgung führt. Der Normenkontrollrat gab in seinem
Bericht aus dem Jahr 2012 freimütig zu: „Die vom
NKR ({0}) abschließend geprüften
Regelungsvorhaben führen im Saldo zu einer Reduzierung des jährlichen Erfüllungsaufwands von rund
1,4 Milliarden Euro. Dieser Rückgang des Aufwands
geht allerdings im Wesentlichen auf eine einzige Maßnahme zurück - die Reduzierung der Aufbewahrungsfristen nach dem Steuer- und Handelsrecht. Ohne diese
Maßnahme wäre ein Anstieg des Erfüllungsaufwands
seit Juli 2011 von rund 1,1 Milliarden Euro zu verzeichnen.“ Im Bericht vom Juli 2013 wird dann die
Steigerung der Befolgungskosten um 1,5 Milliarden
Euro bemängelt - Zitat - „Neuregelungen im Zusammenhang mit Energiewende und Finanzmärkten waren
dabei die größten Kostentreiber.“ Die Regulierung der
Finanzmärkte, die die Euro-Zone in eine tiefe Wirtschafts- und Finanzkrise gestürzt haben, scheint aus
Sicht des Normenkontrollrates als reines Problem
der Befolgungskosten. Eine solche Beurteilung gerät
zwangsläufig schief.
Im Gegensatz zur Berechnung der Befolgungskosten scheint die Berechnung eines Nutzens mit unlösbaren methodischen Problemen einherzugehen.
Wenn aber die Sinnhaftigkeit eines Gesetzes außerhalb
der Betrachtung bleibt, sind weder vernunftgeleitete
Urteile noch Abwägungen von Kosten und Nutzen
möglich.
Bei aller Sinnhaftigkeit von Bürokratieabbau darf
damit keine Reduzierung von Arbeitnehmer- und Verbraucherschutzrechten einhergehen und keiner Steuervermeidung Vorschub geleistet werden. Das ist aber
gerade nicht Prüfauftrag des Normenkontrollrates.
Vermeidung von überflüssigem bürokratischem Aufwand, Anpassung von sich widersprechenden gesetzlichen Vorschriften sind alles gute Ziele. Doch bei der
Normenkontrolle darf es nicht zu allererst um reine
Kostenreduzierung gehen, sondern um die qualitative
Verbesserung von Verwaltungsvorgängen.
Bürokratieabbau ist und bleibt ein Dauerthema. In
fast jedem Gespräch mit Vertretern des Mittelstandes
wird das Thema vorgetragen, immer wieder werden
Vorschläge unterbreitet - aber nur wenig wird letztendlich umgesetzt. Bezeichnend ist, dass diese Debatte
erst nach Mitternacht von der Koalition aufgesetzt
wurde und dann die Reden zu Protokoll gegeben wurden. Das zeigt aber auch auf, dass für diese Bundesregierung Bürokratieabbau ein untergeordnetes Thema
ist.
Bevor ich das bewerten will, möchte ich ein paar
Sätze zum vorgelegten Bericht der Bundesregierung
und zum Jahresbericht des Nationalen Normenkontrollrats sagen. Dieser hat für das Jahr 2013 einen
Anstieg des sogenannten Erfüllungsaufwands um gut
1,5 Milliarden Euro errechnet. Hinzu kommen einmaZu Protokoll gegebene Reden
lige Erfüllungsaufwandskosten in Milliardenhöhe.
Wenn man den Standpunkt vertritt, dass Bürokratie per
se schlecht ist, dann klingt das zunächst ernüchternd.
Wenn man den Jahresbericht des Normenkontrollrats
dann aber genau betrachtet und sieht, was zu einem
Aufwuchs des Erfüllungsaufwands geführt hat, dann
muss man zu anderen Schlüssen kommen.
Da haben wir zum Beispiel als größten Posten beim
jährlichen Erfüllungsaufwand Auflagen bei Energieeinsparvorschriften bei Wohngebäuden und damit bei
der Energiewende. Daneben haben insbesondere neue
Auflagen und Regeln für das Finanzsystem zu einem
höheren Aufwuchs der Bürokratie geführt. Und an dieser Stelle muss ich ganz klar sagen: An der richtigen
Stelle ist Bürokratie richtig und wichtig. Märkte und
Marktteilnehmer brauchen Grenzen und Leitplanken,
in denen sie sich bewegen können. Gerade im Bereich
der Ökologie müssen wir Vorgaben machen, die auch
zu einem Mehraufwand bei den Erfüllungspflichten
führen können. Gleiches gilt für das Finanzsystem, das
ohne nennenswerte Grenzen direkt auf den Crash der
Finanz- und Eurokrise zugesteuert ist. Zu diesen Grenzen gehören auch Anforderungen an mehr Transparenz
und damit verbundenen gewisse Auskunftspflichten,
die zu mehr Bürokratie führen. Da müssen Banken,
Versicherungen und auch die Verwaltung im Zweifel
mehr Aufwand betreiben. Um weitere Krisen so gut es
geht zu vermeiden, ist das aber mehr als gerechtfertigt.
Beide Beispiele verdeutlichen: Der Begriff Bürokratie hat immer zwei Betrachtungsseiten. Zum einen
müssen durch Nachweise die Einhaltung von - sinnvollen - Rahmenbedingungen und Grenzen überprüft
werden. Zum anderen muss aber darauf geachtet werden, dass diese Nachweise gezielt auf den Regelungszweck ausgerichtet werden und technisch mit einem
möglichst geringen Aufwand erfüllt werden können.
Insofern muss man sich jedes einzelne Gesetzesvorhaben ansehen und dann bewerten, ob etwaige Mehrkosten beim Erfüllungsaufwand gerechtfertigt sind. Bei
den einmaligen Kosten verursacht das Endlagergesetz
für die Atomindustrie 2 Milliarden Euro Erfüllungsaufwand. Wer aber glaubt, Atommüll ohne einen hohen
Überprüfungsaufwand lagern zu können, der wird den
Risiken dieser Technologie nicht gerecht. Das Problem
ist eben hier, dass die Nutzer dieser Energie diese mit
der Lagerung des Atommülls verbundenen Kosten nie
in der Gesamtheit erfasst, geschweige denn in die
Stromgestehungskosten internalisiert hatten.
Und dennoch ist es richtig und wichtig, sich immer
wieder mit dem Thema Bürokratie auseinanderzusetzen. Es gibt nach wie vor viele Regeln, die in dieser
Hinsicht auf den Prüfstand gehören. Bürokratische
Kosten sollten bei allen politischen Entscheidungen
berücksichtigt werden, deshalb müssen sie ermittelt
und offengelegt werden. Verantwortungslos handelt
derjenige, der diese Transparenz nicht herstellt, so wie
die letzte Bundesregierung beim Gesetz zum verminderten Mehrwertsteuersatz für Übernachtungen, bei
der sie durch Einbringung des Gesetzentwurfs über die
Fraktionen die Bewertung durch den Normenkontrollrat umging. Abschätzungen haben einen erheblichen
Bürokratie- und Umsetzungsaufwand aufgezeigt. Sonst
wäre diese schon von der Sache her vollkommen fehlgeleitete Branchensubvention vielleicht vollständig infrage gestellt worden. Übrigens schade, dass sich die
SPD an dieser Stelle mit dem Status quo abgefunden zu
haben scheint und auch der Finanzminister sich der
Verantwortung für eine Korrektur dieser Fehlentscheidung der letzten Regierungskoalition entzieht.
Für die Arbeit des Normenkontrollrates ist sehr
wichtig und richtig, dass nicht mehr alleine der Aufwand von Unternehmen berechnet wird, sondern die
Bürgerinnen und Bürger und die Verwaltungen in die
Betrachtung der Bürokratiekosten aufgenommen wurden. Richtig und wichtig ist auch, dass Projekte gestartet wurden, um Antragsverfahren für die Bürgerinnen
und Bürger zu erleichtern.
Kritisieren müssen wir an dieser Stelle die Bundesregierung, die sich keine quantitativen Bürokratieabbauziele geben will, sondern lediglich den Status quo
halten will. An zu vielen Stellen gibt es Bürokratie, die
schlanker und vor allem kundenfreundlicher sein
könnte. Aber Stillstand und fehlende Ambition ist keine
sonderliche Überraschung bei einer Großen Koalition, die den Stillstand als Erfolg preist, sei es in der
Steuerpolitik, bei der Energiewende oder eben beim
Bürokratieabbau.
Es gilt der Satz von Robert Bosch: „Wer aufhört,
besser zu werden, hat aufgehört, gut zu sein!“ Deshalb
fordere ich die Bundesregierung auf, das Thema Bürokratieabbau wirklich ernst zu nehmen, die Ergebnisse
des Normenkontrollrates aufzugreifen und Debatten
über seine Arbeit nicht auf nach Mitternacht zu schieben.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
Drucksache 18/866 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 6. Juni 2014, 9 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.