Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich. Ich möchte Sie vor Eintritt in
die Tagesordnung darauf hinweisen, dass es eine interfraktionelle Vereinbarung gibt, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunkteliste aufgeführten
Punkte zu erweitern:
ZP 1 Wahl von Mitgliedern der „Kommission Lagerung hoch radioaktiver Abfallstoffe“ gemäß § 3 Absatz 1 Satz 2 Nummer 2 und Satz 3
des Standortauswahlgesetzes
Drucksache 18/1452
ZP 2 Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und
SPD
Freilassung der von Boko Haram entführten
Schulmädchen in Nigeria
({0})
ZP 3 Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren
({1})
Beratung des Antrags der Abgeordneten Oliver
Krischer, Jürgen Trittin, Annalena Baerbock,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Europäische Energieunion - Unabhängigkeit
durch Effizienz, Einsparung und erneuerbare
Energien schaffen
Drucksache 18/1461
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 4 Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE
Rüstungsexportgenehmigungen der Großen
Koalition
ZP 5 Wahl des Präsidenten des Bundesrechnungshofes
ZP 6 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD
Grüne Gentechnik - Sorgen und Vorbehalte
der Menschen ernst nehmen, Selbstbestimmung stärken, Wahlfreiheit ermöglichen
Drucksache 18/1450
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Irene
Mihalic, Dr. Konstantin von Notz, Luise
Amtsberg, Volker Beck ({3}), Frank Tempel,
Jan Korte, Ulla Jelpke, Martina Renner und weiterer Abgeordneter
Einsetzung eines Untersuchungsausschusses
Drucksache 18/1475
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Außerdem sollen die Tagesordnungspunkte 14 und 16
abgesetzt werden. Darüber hinaus kommt es zu den in
der Zusatzpunkteliste dargestellten weiteren Änderungen im Ablauf.
Schließlich möchte ich Sie noch auf mehrere nachträgliche Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunkteliste aufmerksam machen:
Der am 8. Mai 2014 ({4}) überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss
für Recht und Verbraucherschutz ({5}) zur
Mitberatung überwiesen werden:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur grund2996
Präsident Dr. Norbert Lammert
legenden Reform des Erneuerbare-EnergienGesetzes und zur Änderung weiterer Bestimmungen des Energiewirtschaftsrechts
Drucksache 18/1304
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({6})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Der am 8. Mai 2014 ({7}) überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Ausschuss für
Recht und Verbraucherschutz ({8}) zur Mitberatung überwiesen werden:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Eva
Bulling-Schröter, Caren Lay, Ralph Lenkert,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Ökostromförderung gerecht und bürgernah
Drucksache 18/1331
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({9})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
Der am 20. Februar 2014 ({10}) überwiesene
nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Innenausschuss ({11}) zur Mitberatung überwiesen
werden:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Christian Kühn ({12}), Julia Verlinden,
Oliver Krischer, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Heizkosten sparen - Energiewende im Gebäudebereich und im Quartier voranbringen
Drucksache 18/575
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({13})
Innenausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Der am 4. April 2014 ({14}) überwiesene
nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Innenausschuss ({15}) zur Mitberatung überwiesen
werden:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Corinna
Rüffer, Kerstin Andreae, Markus Kurth, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Fünf Jahre UN-Behindertenrechtskonvention - Sofortprogramm für Barrierefreiheit
und gegen Diskriminierung
Drucksache 18/977
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({16})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Tourismus
Der am 4. April 2014 ({17}) überwiesene
nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Ausschuss für
Tourismus ({18}) zur Mitberatung überwiesen werden:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin
Werner, Diana Golze, Sabine Zimmermann
({19}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Programm zur Beseitigung von Barrieren
auflegen
Drucksache 18/972
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit ({20})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Die am 8. Mai. 2014 ({21}) überwiesene nachfolgende Unterrichtung soll zusätzlich dem Innenausschuss ({22}) zur Mitberatung überwiesen
werden:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Stadtentwicklungsbericht 2012
Drucksache 17/14450
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit ({23})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Ausschuss Digitale Agenda
Ich frage Sie: Sind Sie mit diesen Vereinbarungen und
Änderungen einverstanden? - Das ist offensichtlich der
Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 d auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Berufsbildungsbericht 2014
Drucksache 18/1180
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({24})
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Präsident Dr. Norbert Lammert
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Thomas Feist, Uda Heller, Albert Rupprecht,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Willi Brase,
Rainer Spiering, Dr. Ernst Dieter Rossmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Berufliche Bildung zukunftssicher gestalten Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung
stärken
Drucksache 18/1451
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({25})
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Rosemarie Hein, Diana Golze, Sabine
Zimmermann ({26}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Das Recht auf Ausbildung umsetzen
Drucksache 18/1454
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({27})
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Beate
Walter-Rosenheimer, Brigitte Pothmer, Kai
Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Berufliche Bildung sichern - Jungen Menschen Zukunftschancen bieten
Drucksache 18/1456
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({28})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Hierzu soll nach einer interfraktionellen Vereinbarung
die Aussprache 96 Minuten betragen. - Auch das ist offensichtlich einvernehmlich. Wir können also so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Bundesministerin Professor Wanka.
({29})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich denke, wir können stolz auf unser Ausbildungssystem sein. Die Jugendarbeitslosenquote in
Deutschland liegt unter 8 Prozent. Nur Österreich hat
ebenfalls eine einstellige Prozentzahl. Alle anderen europäischen Länder haben ansonsten zum Teil sehr hohe
zweistellige Prozentzahlen, wie wir wissen.
Das hohe Qualifikationsniveau, das wir in Deutschland haben, ist ein großer Wettbewerbsvorteil. Jetzt als
Bundesministerin erlebe ich es mehr als noch als Landesministerin, dass ausländische Wirtschaftsvertreter
- zum Beispiel aus Italien oder aus den USA - sagen,
dass die Fachkräftesituation in Deutschland ein großer
Wettbewerbsvorteil ist. An verschiedenen Stellen wird
auch versucht, es in ähnlicher Weise zu machen. Zuletzt
hat uns sogar - man höre und staune - die OECD dafür
gelobt.
({0})
Die berufliche Ausbildung ist also ein wichtiges
Rückgrat unseres Wirtschaftssystems. Man darf es aber
keinesfalls nur in volkswirtschaftlicher Hinsicht betrachten, indem man sagt: Wir brauchen Fachkräfte etc. - Wir
müssen auch sehen, dass jedem Einzelnen ein Berufsabschluss ein ganzes Leben lang nutzt. Er ist für seinen Lebensweg, für seine individuellen Perspektiven und für
seine gesellschaftliche Teilhabe außerordentlich wichtig.
Berufsbildung ist deswegen sowohl im Hinblick auf Bildungsgerechtigkeit als auch in volkswirtschaftlicher
Hinsicht sehr wichtig.
Der Berufsbildungsbericht enthält viele Tabellen und
Darstellungen. Er zeigt viel Positives. Er zeigt aber auch,
dass wir in diesem Bereich Probleme haben: Es zeigen
sich schon jetzt Tendenzen hin zu einer Veränderung der
Ausbildungsmarktsituation. Darauf haben wir zum Teil
schon reagiert, müssen aber auch noch weiter reagieren.
Der Bericht zeigt deutlich auf, welche Punkte für unser
Handeln in Zukunft sehr wichtig sind. Ich möchte Sie Ihnen nennen:
Erstens. 2013 wurden weniger Ausbildungsverträge
neu abgeschlossen als im Vorjahr und noch weniger als
in den Jahren zuvor. Das Minus gegenüber dem Vorjahr
beträgt 3,5 Prozent.
Zweitens. Die Unternehmen haben zunehmend Probleme, geeignete Bewerber oder überhaupt Bewerber für
ihre freien Ausbildungsplätze zu finden. Das heißt, wir
haben in Deutschland im Moment einen Höchststand an
unbesetzten Ausbildungsstellen.
Drittens. Es gelingt trotzdem nicht, dass alle von der
Schule direkt in die Ausbildung gehen. Wir haben in
dem Bereich über 20 000 unversorgte Bewerber. Das
sind zwar von der Zahl her weniger, als es freie Plätze
gibt, aber wir haben auch bei denen, die eine Alternative
zur Ausbildung begonnen haben, die also ein Praktikum
oder etwas anderes machen, einen Anstieg.
Viertens. Analog zu den eben genannten Punkten zeigen auch viele Untersuchungen, dass es zunehmend
schwieriger wird, dafür zu sorgen, dass betriebliches Angebot und Nachfrage von Jugendlichen zusammenpassen. Wir haben da also - so wird bei uns im Haus gesagt ein Matchingproblem; auf Deutsch könnte man vielleicht Passproblem sagen. Dieses Passproblem stellt sich
nach Beruf und auch nach Region sehr unterschiedlich
dar; aber es ist ein generelles Problem.
Fünftens. Es zeigt sich im Bericht deutlich, dass immer weniger Betriebe ausbilden. In den letzten Jahren
- nehmen wir einmal die Zahlen ab 1990 - ist sowohl
die Zahl der Betriebe insgesamt als auch die Zahl der
Betriebe, die ausbilden, gewachsen. Das heißt, dass es
eine relativ parallele Entwicklung gab. Jetzt gibt es eine
prozentuale Absenkung. Gemessen an der Zahl der Betriebe bilden nur knapp über 21 Prozent aus. Das ist prozentual der tiefste Stand an ausbildenden Betrieben seit
1990.
({1})
Ein letzter Punkt, der die Berichte über dieses Thema
in den Zeitungen sehr stark bestimmt: Die Zahl der Studienanfänger war 2013 zum ersten Mal höher als die
Zahl derer, die eine berufliche Ausbildung begonnen haben.
Die Analyse des Berichts ist nicht nur von den Koalitionsfraktionen, sondern auch von den Grünen und zum
Teil von den Linken sehr ähnlich gehandhabt worden.
Alle erkennen die Herausforderungen und Probleme.
Aber auch die Vorschläge in Bezug darauf, was verändert werden kann, liegen gar nicht so weit auseinander.
Es gibt einige, die unrealistisch sind; aber vieles liegt
sehr eng beieinander. Unsere Mitarbeiter sagen, dass sie
bei fast 70 Prozent der Vorschläge schon in der Vorhand
sind, dass da etwas gemacht bzw. in Angriff genommen
wird. Trotzdem muss aber insgesamt gesagt werden,
dass niemand - weder hier im Haus noch bei den Kammern und den Sozialpartnern, wie sich in vielen Gesprächen herausstellte - eine einfache Lösung hat.
Wir alle sehen aber, dass es ein großes Problem gibt.
Wenn es uns nicht gelingt, entsprechend viele Facharbeiter auszubilden, kann das in den nächsten Jahren eine
riesige Innovationsbremse für Deutschland darstellen.
Bei all dem, was wir vonseiten der Bundesregierung in
dieser Legislaturperiode schon getan haben, geht es
- das haben wir auch im Koalitionsvertrag festgeschrieben - dezidiert um den Schwerpunkt „Berufliche Ausbildung stärken“. Wir nennen das Initiative „Chance Beruf“.
Der Qualitätsmix, den wir auch immer im Verhältnis
zwischen akademischer und beruflicher Ausbildung hatten, ist für Deutschland wichtig. Deswegen muss ein
politischer Schwerpunkt - hier geht es noch nicht um die
einzelnen Maßnahmen - in dieser Legislaturperiode
sein, die Attraktivität der beruflichen Ausbildung zu
stärken. Dabei geht es um Qualitätsverbesserung und
Gleichwertigkeit. Formal ist die Gleichwertigkeit an vielen Stellen gegeben - zum Beispiel zwischen Bachelor
und Meister -, aber nicht in der Wahrnehmung der Menschen. Das gilt für die jungen Menschen, aber vor allen
Dingen auch für die Eltern und die Großeltern.
Es ist deswegen wichtig, effektive Maßnahmen zu ergreifen, damit sehr viele junge Menschen von der Schule
direkt in die Ausbildung gehen und keine Umwege machen. Wir haben erfolgreiche Modelle erprobt. Ich sage
allerdings: In Deutschland kann man Modelle ohne Ende
machen; wichtig ist aber immer, dass so etwas auch systematisch in großem Umfang bzw. flächendeckend gemacht wird.
({2})
Das heißt, wir müssen aus dem, was wir erprobt haben
und was sich bewährt hat, den Regelfall machen.
Als Beispiel nenne ich die Bildungsketten. Dabei handelt es sich um eine Initiative des BMBF. Bei ihr ging es
zum einen darum, Schulabbrüche zu verhindern, und
zum anderen, für eine Berufsausbildung zu motivieren.
Das sollte zum Teil durch Ehrenamtliche begleitet werden, um den Abschluss bzw. den Berufseinstieg zu
schaffen. Diese Bildungsketten sind sehr effektiv und
werden überall geschätzt. Sie enthalten individuelle und
präventive Beratung; das stellt für mich ein Stück weit
eine Zauberformel dafür dar, dass es gelingt, die berufliche Ausbildung zu stärken. Es soll also nicht erst dann
ein Nachhaken geben, wenn man merkt, dass es bei einem 27-Jährigen nicht funktioniert hat, sondern es soll
individuell und präventiv beraten werden. Die Bildungsketten sind dafür ein Beispiel. Wir haben mit verschiedenen Bundesländern - zum Beispiel Thüringen und Hessen - schon Verträge geschlossen. Sie wollen das auch
mit eigenen Mitteln in großem Maßstab entsprechend
implementieren. Potenzialanalysen und Möglichkeiten
zum Ausprobieren gehören dazu.
Wir wollen aber auch die anderen vorhandenen Förderinstrumente wie „Schulverweigerung - Die
2. Chance“ integrieren sowie neue entwickeln, die wir
dann vorstellen werden.
An dieser Stelle eine Bemerkung zum Übergangssystem. Zu diesem Punkt wird später sicher vonseiten der
Linken gesagt, dass soundso viele im Übergangssystem
sind.
({3})
- Ist es nicht so, Frau Hein? Doch, das nehme ich an.
({4})
Ich erinnere daran: Das Übergangssystem war wichtig
und notwendig, als wir deutschlandweit viel zu wenig
Ausbildungsplätze hatten. Die Länder haben sich mit
großen finanziellen Mitteln daran beteiligt. Hunderttausende junger Leute sind in diesem Übergangssystem gewesen. Von 2005 bis jetzt ist es gelungen, die Zahl derer,
die sich im Übergangssystem befinden, um ein Drittel zu
reduzieren. Es gibt die Ansicht, das Übergangssystem
abzuschaffen. Das halte ich für völlig verfehlt. Wir brauchen das Übergangssystem zum einen, um die Ausbildungsfähigkeit der Schulabbrecher, die es trotz aller Bemühungen nicht schaffen, zu sichern; zum Glück sind es
nur noch 5,9 Prozent und nicht mehr 12 Prozent. Zum
anderen ermöglicht das Übergangssystem jungen Leuten, notwendige Voraussetzungen zu erhalten; sie könBundesministerin Dr. Johanna Wanka
nen so beispielsweise, wenn sie Erzieher werden wollen,
ein Praktikum absolvieren. Das heißt, wir brauchen ein
Übergangssystem, das wirklich zur Ausbildung befähigt
bzw. dabei Unterstützung leistet. Weil die Länder dieses
System in starkem Maße tragen, wollen wir vonseiten
meines Hauses mit ihnen verhandeln, wie man es zurückbauen kann. Hier geht es ja auch um unbefristete
Arbeitsplätze für Lehrer und anderes, was sich über die
ganze Zeit entwickelt hat.
Es geht aber nicht nur darum, die nicht so leistungsstarken Schüler in die Ausbildung zu bekommen, sondern es geht uns auch darum, dass leistungsstarke Schüler eine Ausbildung aufnehmen, statt dass alle in die
Hochschulen drängen und wir dann hohe Abbrecherzahlen zu verzeichnen haben. Wie kann man das erreichen?
Auch hier gibt es vielfältigste Ansichten. Auf keinen
Fall kann man es durch einfache Verbote erreichen. Das
funktioniert nicht. Der NC, also die Zulassungsbeschränkung, ist eine Möglichkeit der Steuerung. Nehmen Sie
aber zum Beispiel den Studiengang Psychologie. Bundesweit gibt es an allen Hochschulen Zulassungsbeschränkungen.
({5})
Der Effekt ist, dass nun in Innsbruck heftig darüber diskutiert wird, dass 90 Prozent derjenigen, die dort Psychologie studieren, Deutsche sind. Einfach zu beschränken, heißt also nicht, dass sie dann entsprechend eine
Ausbildung beginnen,
({6})
sondern auch hier gilt: individuell und präventiv.
({7})
Es muss also deutlich gemacht werden, dass jeder nur
dann ein Studium beginnen soll, wenn er die Chance hat,
es wirklich erfolgreich abzuschließen, und dafür gesorgt
werden, dass nicht so viele nur aus Statusgründen ein
Hochschulstudium aufnehmen.
Etwas, was wir dafür tun können, ist, die Durchlässigkeit, das Hin und Her zu erhöhen, sodass man mit einer
guten beruflichen Ausbildung an die Hochschule gehen
kann, sodass aber auch die, die abbrechen - die wird es
immer geben -, von der Wirtschaft als kluge junge Leute
gut aufgenommen werden. Dass wir diese Durchlässigkeit in Deutschland nicht haben, hielt ich immer für einen Mangel. Daran, dass es zu dieser geringen Durchlässigkeit kam, waren wir zum Teil selbst schuld. Viele
Jahre galt in Deutschland die These: Bei uns ist das Abitur die allgemeine Hochschulzugangsberechtigung und
nichts anderes. Das ist jetzt rechtlich aufgebrochen;
Möglichkeiten gibt es jetzt. Damit funktioniert es aber
nicht ohne Weiteres. Es gehören viele flankierende Maßnahmen dazu, um zu erreichen, dass aufgrund der
Durchlässigkeit Betriebe eher junge Leute bekommen,
weil sie wissen: Ich kann weiter, wenn ich will. - Aber
zugleich sollen auch nicht alle diesen Weg gehen; denn
auch die Betriebe brauchen gute Leute.
Ich appelliere auch an die Betriebe, bei den Ausbildungsanstrengungen nicht nachzulassen. Wenn Sie sich
den Berufsbildungsbericht genau anschauen, dann stellen Sie fest, dass wir einen Rückgang der Ausbildungsplatzangebote nicht bei den großen und mittleren Unternehmen, sondern vor allen Dingen bei den kleinen
Firmen zu verzeichnen haben. Zum Teil ist es auf die
Frustration zurückzuführen, dass sie jahrelang keine
Auszubildenden bekommen haben. Deswegen ist ein
Schwerpunkt unserer Arbeit, gerade die kleinen und
mittleren Unternehmen sowie von Migranten geführte
Unternehmen dazu zu befähigen, dass sie Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen. Im Rahmen von Jobstarter
wollen wir bald eine neue Initiative verkünden.
Meine Damen und Herren, wir haben bei der Initiative „Chance Beruf“ viele Komponenten, die hier nicht
erwähnt werden können, und sprechen die unterschiedlichsten Zielgruppen an, zum Beispiel Alleinerziehende
und andere. Die vor uns liegenden Herausforderungen
werden wir mit der nationalen Allianz für Aus- und Weiterbildung, die wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben, thematisieren und anpacken. Wir brauchen übergreifende Lösungsansätze - Bund, Länder, Arbeitgeber,
Sozialpartner, Schulen -, um einen systematischen Effekt zu erzielen und nicht in diesen Engpass zu geraten,
vor dem uns allen graut. Alle, die an diesem Berufsbildungssystem beteiligt sind, müssen sich aktiv einbringen. Wir wollen dafür sorgen, dass jeder in diesem Land
eine Chance hat und von dem System profitieren kann.
Deshalb gibt es dieses umfassende Bildungspaket. Damit wird es uns gelingen, die berufliche Ausbildung zukunftsfähig zu machen.
Danke schön.
({8})
Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin
Rosemarie Hein das Wort.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Liebe Frau Ministerin, ich habe ein Problem damit, wenn Sie sich hier vorne hinstellen und sagen: „Wir sind ja im Prinzip ganz gut“, dann aber Zahlen
benennen, die durchaus bedenklich sind. Statt konkret
darauf einzugehen, sagen Sie immer wieder: „Wir sind
auf dem Weg, wir lösen das.“ Wir lösen das seit Jahren
nicht, eigentlich seit Jahrzehnten nicht. Schon im Januar
hat das Bundesinstitut für Berufsbildung die Ausbildungsplatzzahlen und die Arbeitsmarktzahlen für diesen
Bereich vorgelegt. Das war damals schon ein Ausrufezeichen. Heute reden wir über den Bericht, der auf genau
diesen Zahlen beruht.
Es ist eben so - Sie haben es vorhin gesagt -: Die
Zahl der angebotenen Ausbildungsplätze und die Zahl
der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge sind auf
historische Tiefststände gesunken. Seit gestern ist die
Zahl von 4,3 Prozent weniger abgeschlossenen Ausbil3000
dungsverträgen im Jahr 2013 im Gespräch; es sind nicht
bloß 3,7 Prozent weniger. Die Zahl ist also deutlich
schlechter geworden. Zugleich sind mehr Ausbildungsplätze als im Vorjahr unbesetzt geblieben; 33 000 Stellen
sollen es sein. Und die Betriebe klagen zunehmend darüber, dass sie keine geeigneten Bewerberinnen und Bewerber finden. Die Bundesregierung spricht dann von
„Passungsproblemen“. Ich finde, das ist eine Beschönigung der Situation.
Sie hatten sicherlich gehofft, dass sich das Problem
der Versorgungslücke bei Ausbildungsplätzen mit den
zurückgehenden Schülerzahlen löst. Sie müssen aber
nun feststellen, dass für 100 Ausbildungsplatznachfrager
nicht einmal 92 Ausbildungsplatzangebote zur Verfügung standen. Auch hier gibt es seit Jahren keine Verbesserung. Für ein auswahlfähiges Angebot an Ausbildungsplätzen müssten - das fordern die Gewerkschaften
seit vielen Jahren - 112 Plätze für 100 Suchende zur Verfügung stehen. Insofern geht es eben nicht um „Passungsprobleme“, sondern um eine massive, deftige Ausbildungsplatzlücke, nicht von nur 21 000 unversorgten
Bewerbern, sondern von 83 000 Suchenden, denen kein
Angebot gemacht werden konnte.
Außerdem - jetzt kommt die Zahl, auf die Sie schon
so lange warten - gibt es immer noch 257 000 junge
Menschen, die in Maßnahmen des sogenannten Übergangsbereiches geschickt wurden, in Bildungsmaßnahmen also, die zu keinem anerkannten Berufsabschluss
führen. Sie sollen zwar die Chance erhöhen, später einmal eine Ausbildung beginnen zu können, aber es gibt
keine Garantie. Ein Lehrer einer berufsbildenden Schule
bestätigte mir vor wenigen Tagen, dass manche Schülerin und mancher Schüler bis zu acht oder gar neun Jahre
in unterschiedlichen Bildungsmaßnahmen oder Bildungsgängen seiner Schule bliebe. Was aber ist das für
ein Bildungssystem, das junge Menschen jahrelang auf
die Wartebank schickt, bevor sie ins Berufsleben eintreten können? Ich finde, wir können uns das nicht leisten.
({0})
Es ist noch schlimmer: Die Schülerinnen und Schüler
in den verschiedenen Bildungsmaßnahmen im Übergangsbereich zwischen Schule und Berufsausbildung haben zu 51 Prozent einen Hauptschulabschluss. Der
Hauptschulabschluss gilt in allen Schulgesetzen als der
Abschluss, der zur Aufnahme einer Ausbildung befähigt,
also die Ausbildungsreife bestätigt. Was aber ist von
dem von der Koalition oft als erstrebenswert angesehenen Ziel zu halten, dass jeder wenigstens einen Hauptschulabschluss macht, wenn man hinterher damit gar
keinen Ausbildungsplatz bekommen kann? - Nur noch
7 Prozent der Unternehmen stellen Azubis mit Hauptschulabschluss ein. Wie soll man denn da motivieren,
auf diesen Hauptschulabschluss hinzuarbeiten? Ich finde
da keine Argumente mehr. Ich kann den Schülerinnen
und Schülern doch nicht sagen: Macht doch mal wenigstens den Hauptschulabschluss! Dann habt ihr zwar auch
keine Perspektive, aber immerhin einen Abschluss.
Die Bundesregierung schickt dann Berufseinstiegsbegleiter los, die den benachteiligten Jugendlichen helfen
sollen, den Weg in den Beruf zu finden. Aber was sind
die vielen Hilfsprogramme wert, wenn das Erreichen
oder das Nachholen des Hauptschulabschlusses eben
nichts bewirkt?
Das ist noch nicht alles; denn mehr als 25 Prozent der
Schülerinnen und Schüler im Übergangsbereich haben
sogar einen Realschulabschluss. Drei Viertel der in den
Übergangsbereich Abgeschobenen verfügen also über
eine ausreichende Qualifizierung, um eine Ausbildung
aufnehmen zu können. Wieso kann immer noch von
Fachkräftemangel geredet werden, wenn wir so vielen
jungen Menschen erst so spät oder gar nicht eine Chance
geben? Nein, es muss für alle Jugendlichen einen verbrieften Rechtsanspruch auf eine Ausbildung geben, und
darum fordern wir das auch in unserem Antrag.
({1})
Ihr Ausbildungspakt ist gescheitert. Eine Neuauflage,
gleich unter welchem Namen Sie die Karte im Koalitionsvertrag versteckt haben, lohnt sich nicht. Denken
Sie endlich über eine Umlagefinanzierung nach, die alle
Unternehmen angemessen ins Boot holt. Es ist höchste
Zeit, umzudenken.
({2})
Ich möchte noch eine Unmöglichkeit ansprechen,
auch wenn sie im Berufsbildungsbericht nur am Rande
vorkommt. Fast jede oder jeder von uns dürfte irgendwann schon einmal in die Verlegenheit gekommen sein,
sich den verspannten Rücken wieder richten lassen zu
müssen. Dann geht man zu einem Physiotherapeuten,
der kriegt das wieder hin. Ich habe neulich meine Physiotherapeutin nach den Konditionen ihrer Ausbildung
gefragt. Sie kostete für sie vor einigen Jahren noch etwa
300 Euro im Monat, und das drei Jahre lang. Eine Ausbildungsvergütung gab es nicht. Von wem auch? Es ist ja
kein dualer Ausbildungsberuf. So geht es auch Logopädinnen, Ergotherapeuten, Heilerziehungspflegerinnen,
Altenpflegerinnen usw.
Für die Gesundheits- und Sozialberufe sind die Länder zuständig, auch wenn es entsprechende Bundesgesetze zu Ausbildung und Berufsanerkennung gibt. Zum
großen Teil erfolgen diese Ausbildungen in berufsbildenden Ersatzschulen, und die zahlen nicht, sondern die
kosten, und zwar zwischen 300 Euro und 500 Euro im
Monat. Daran ändern auch die gesetzlichen Regelungen
zur Finanzierung der Gesundheits- und Krankenpflegeberufe und der Altenpflegeausbildung nichts. Da nicht
dual Ausgebildete keine Ausbildungsvergütung erhalten,
fordern wir in unserem Antrag, dass das Schüler-BAföG
reformiert werden muss.
({3})
Wohl gemerkt: Es handelt sich hier nicht um eine Maßnahme des Übergangsbereiches und nicht um eine Ausbildung über den Bedarf hinaus; denn in der Regel
finden die so Ausgebildeten hinterher alle einen Job.
Zählt man die Erziehungsberufe hinzu, zeigt sich auch,
dass es nicht um eine kleine Gruppe geht. Es sind etwa
200 000 junge Menschen, die jährlich diese so wichtigen
Berufe ergreifen. Da muss sich endlich etwas ändern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das sind nur einige
von ganz vielen Baustellen, die uns der Berufsbildungsbericht aufzeigt. Ich kann sie in der kurzen Zeit nicht alle
auch nur annähernd nennen. Es scheint so, als müssten
wir in Bezug auf unser gesamtes Bildungssystem umdenken.
Herr Rossmann hat gestern in einem Gespräch im Bildungsausschuss geäußert, dass wir möglicherweise darüber nachdenken müssen, ein Bildungsgesetz zu machen. Ja, ich finde ein Bildungsrahmengesetz über alle
Bildungsbereiche hinweg, das Rechtsansprüche, soziale
Rahmenbedingungen und wesentliche Bildungsziele und
Bildungswege für alle regelt, könnte ein Weg sein, aus
dem Wirrwarr von Regelungen und dem Förderungsdschungel herauszukommen und Bildung für alle zu verbessern. Dann müssen wir allerdings auch wieder über
die Aufhebung des Kooperationsverbotes und des Verbots der Bildungszusammenarbeit reden, und zwar nicht
nur im Hochschulbereich, sondern in allen Bildungsbereichen. Vielleicht wächst in der Koalition ja so langsam
die Einsicht.
Danke schön.
({4})
Rainer Spiering ist der nächste Redner für die SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir können uns glücklich schätzen, über das
Instrument der dualen Berufsausbildung zu verfügen ein ausgesprochen komplexes System mit vielen unterschiedlichen Beteiligten. Ich möchte einige nennen: berufsbildende Schulen, Bund, Länder, Kommunen, Gewerkschaften, Kammern, viele andere Sozialpartner und
vor allen Dingen viele engagierte junge Menschen.
Das besondere System unserer Berufsausbildung versetzt Jugendliche in die Lage, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Zahlen sprechen hier eine klare Sprache.
Deutschland verzeichnete 2013 mit unter 8 Prozent
europaweit die geringste Jugendarbeitslosenquote; aktuell sind es - die neuen Zahlen liegen vor - 5,5 Prozent.
({0})
Zum Vergleich: In Spanien liegt sie bei über 50 Prozent.
({1})
Frau Dr. Hein, gestatten Sie mir eine Bemerkung, da
ich aus dem System komme - ich bin seit fast 30 Jahren
Berufsschullehrer -: Meine Betrachtung des Systems steht
in diametralem Gegensatz zu Ihrer.
({2})
Ihre ist eine Außenbetrachtung, die über Zahlen geht,
und meine stammt aus dem inneren Erleben, wie das Berufsbildungssystem funktioniert. Wenn unser System so
schlecht wäre, wie Sie es darstellen, dann hätten wir die
Erfolge der letzten 50 Jahre nicht verzeichnen können.
Mit Ihren Darstellungen machen Sie das alles schlecht.
({3})
Ich möchte das an meinem Werdegang verdeutlichen:
aufgewachsen in der Familie eines kleinen Handwerkers, nach der Schule Ausbildung und dann der klassische zweite Bildungsweg: Fachabitur, Studium zum
Diplom-Ingenieur an der Fachhochschule und dann Studium zum Gewerbelehrer in Hamburg. Dazu sage ich
ganz deutlich: ein erfülltes Berufsleben mit dem Start-up
Lehre. Das ist das, was unser System ausmacht und was
es wirklich stark macht.
({4})
Herr Kollege Spiering, darf die Kollegin Hein Ihnen
einen Zwischenfrage stellen?
({0})
Gerne.
Vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. Ich schätze Ihre Kompetenz; das ist gar keine Frage.
({0})
Ich habe mich gefreut, dass wir jetzt einen Berufsbildner
im Ausschuss haben, der das Ganze aus der Praxis sieht.
Möglicherweise haben Sie mich ja missverstanden; denn
ich rede nicht das System schlecht, nicht das, was in den
Berufsschulen passiert. Vielmehr ist das, was den Jugendlichen zugemutet wird, schlecht. Diese Erkenntnis
basiert nicht auf einer Außensicht, sondern auf dem, was
mir von vielen Berufsschullehrerinnen und Berufsschullehrern seit vielen Jahren angetragen wird. Ein Berufsschullehrer hat mir sogar gesagt: Einige Schülerinnen
und Schüler bleiben länger in diesem System, als sie in
der allgemeinbildenden Schule waren. - Das macht mich
schon nachdenklich. Würden Sie mir recht geben, dass
das ein Problem ist?
Frau Dr. Hein, ich betrachte das Problem anders. Ja,
wir haben bei uns Schüler, die eine längere Zeit in diesem System verbleiben. Sie bleiben aber sicherlich
längst nicht so lange, wie sie in einer allgemeinbildenden Schule waren. Ein großer Vorteil unseres Systems
ist, dass es bei uns kein Hängenbleiben gibt. Ich betone
„bei uns“, weil ich immer noch als Berufsschullehrer sozialisiert bin.
Wir haben am Ende der Berufsausbildung ja zwei
Faktoren, die unser System von anderen Systemen maßgeblich unterscheiden: Vor den Kammern machen unsere Jungs und Mädels ihren Abschluss als Facharbeiter
und Facharbeiterinnen. Damit haben sie einen eigenstän3002
digen Systemabschluss. Deswegen brauchen wir kein
Hängenlassen. Zusätzlich vergeben wir - jetzt komme
ich zur Durchlässigkeit des Systems - den Abschluss der
berufsbildenden Schulen, der in den Sek-I- oder Sek-IIBereich führen kann. Das heißt, wir bieten zwei Abschlussmöglichkeiten. Deswegen brauchen einige Schüler vielleicht ein bisschen länger. In unserem System
wird aber niemand sieben oder acht Jahre verbleiben,
({0})
es sei denn - Frau Dr. Hein, vielleicht haben Sie das
nicht verstanden, was möglich ist -, nach der Facharbeiterausbildung wird ein Meister- oder Technikerbrief angestrebt. Dann verbleiben sie länger bei uns. Dann erhalten sie aber auch einen entsprechend hochkarätigen
Abschluss.
({1})
- Sie müssen nicht mit mir schimpfen.
({2})
Durch meine Arbeit als Berufsschullehrer bin ich immer wieder auf zwei Eigenschaften gestoßen, die ich als
Voraussetzung für eine erfolgreiche Berufsausbildung
ansehe - die sind mir wirklich wichtig -: Sprache und
Sozialverhalten. Gute schriftliche und mündliche Ausdrucksfähigkeit ist wichtig, um Arbeitsanweisungen oder
Aufträge zu verstehen und umzusetzen. Und ein gutes
Sozialverhalten ist notwendig, um mit Kollegen, Vorgesetzten und Kunden klarzukommen. Das sind für mich
die Kernkompetenzen, um die es erst einmal geht. Diese
beiden Kompetenzen werden schon im Kleinkindalter
angelegt und sollten deshalb auch früh gefördert werden.
Krippe und Kita können das sehr gut leisten.
Noch eine sehr persönliche Bemerkung dazu: Es kann
nicht angehen, dass im Rahmen des dualen Systems die
Erzieherausbildung teilweise kostenpflichtig ist. Hier
besteht dringend Handlungsbedarf. Den angehenden Erzieherinnen und Erziehern muss geholfen werden, sie
müssen entlastet werden.
({3})
Die Anzahl der Betriebe, die ausbilden - die Frau
Ministerin hat das gesagt -, ist zurückgegangen. Die
Quote liegt bundesweit bei nur noch 21 Prozent. Gerade
Kleinstunternehmen haben sich aus der Berufsausbildung partiell zurückgezogen. Lehrstellen bleiben unbesetzt - ja, das ist wahr -, und gleichzeitig stehen Jugendliche ohne Ausbildungsplatz da; auch das ist wahr. Die
Frage ist: Wie antwortet das System darauf? Antwortet
es mit staatlicher Stringenz und versucht es, Rahmen zu
setzen, die nicht einzuhalten sind, oder schafft das System Anreizsysteme? Wir sind eindeutig dafür, Anreizsysteme zu schaffen und Hilfen zu geben.
Noch eine weitere Bemerkung - auch das hat die Frau
Ministerin gesagt -: Erstmalig ist die Zahl der Studenten
größer als die Zahl der Auszubildenden. Unsere Form
der Berufsausbildung ist ein wesentliches Merkmal des
erfolgreichen Industrie- und Wirtschaftsstandorts Deutschland. Es muss unsere Aufgabe sein, möglichst viele
Menschen für die greifbaren Chancen des Systems zu
begeistern.
In den letzten Jahren hat sich etwas verändert: In vielen Berufen hat sich das Anforderungsprofil an die Auszubildenden mit rasanter Geschwindigkeit geändert. Der
Transfer der Wissensgesellschaft, das heißt, der Weg von
Neuentwicklungen hinein in die Betriebe, findet bei uns
fast in einer Eins-zu-eins-Situation statt. Wir müssen zusammenführen, was zusammengehört. Wenn Studenten
erkennen, dass ein Studium vielleicht nicht das Richtige
für sie ist, würde ich das nicht als Scheitern darstellen.
Vielmehr handelt es sich um die Erkenntnis: Ich muss
bzw. ich kann einen anderen Weg gehen. - Wir haben
glücklicherweise das System der dualen Berufsausbildung. Diese Möglichkeit müssen wir den Studentinnen
und Studenten auch anbieten, und zwar auch in den Universitäten. Wir müssen Stellen schaffen, wo solche Studenten beraten und begleitet werden. Wir dürfen sie
nicht alleinelassen.
({4})
Zur Wahrheit und zu unseren Erkenntnisprozessen gehört übrigens auch: Häufig ist der gut ausgebildete Facharbeiter besser entlohnt als der gut ausgebildete Akademiker oder vor allen Dingen auch als die gut
ausgebildete Akademikerin.
({5})
Eine große Chance unseres Systems ist es, als Unternehmer in kleinen und mittelständischen Betrieben
selbstständig tätig zu sein. Das ist - ich betone das - ein
Wert für sich, unabhängig vom materiellen Erfolg. Ich
habe das als Kind in meiner Familie erlebt. Selbstständig
zu agieren und tätig zu sein, ist eine wunderbare Möglichkeit in unserem Land.
Jetzt noch etwas sehr Kritisches. In den vergangenen
Jahren gab es gelegentlich von der einen oder anderen
Seite negative Töne über die Ausbildungsfähigkeit der
Jugendlichen. Das hat mich sehr geärgert, und es hat die
Jugendlichen betroffen gemacht.
({6})
Ihre Neigung, eine Ausbildung zu beginnen, hat das bestimmt nicht gefördert. Ich finde, Betriebe sollten auch
den jungen Menschen eine Chance geben, die nicht auf
den ersten Blick einen pflegeleichten Eindruck machen
und nicht die besten Zeugnisse mitbringen.
({7})
Mit der assistierten Ausbildung gibt es die Möglichkeit,
allen Beteiligten bei eventuellen Problemen zu helfen.
Wir haben einige Möglichkeiten, den Jugendlichen
im System zu helfen. Eine davon sind die Jugendberufsagenturen. Die Jugendberufsagentur in Hamburg - das
ist bekannt - zeigt einen Weg auf, der für den Stadtstaat
Hamburg gangbar ist, weil alles aus einer Hand passiert.
Ich glaube, unsere Anstrengung muss darauf hinauslaufen, dass wir dieses Beispiel, dieses Hamburger Modell,
soweit es möglich ist, in die Länder und in die Regionen
transferieren. Auf Grundlage dieses Hamburger Modells
kann dann - die Anforderungen sind regional unterschiedlich; man muss das Modell an das System in der
jeweiligen Region anpassen - den jungen Menschen
passgenau geholfen werden.
({8})
Vorrangig sollen Schulabgänger in die betriebliche
Ausbildung gehen. Aber für diejenigen, die keinen Ausbildungsplatz finden, müssen wir auf Zeit ausreichend
Plätze im überbetrieblichen Bereich bereithalten. Ich betone das: Wir müssen diesen überbetrieblichen Bereich
halten, auch wenn es Stimmen dagegen gibt. In dieses
Puffersystem können wir die jungen Menschen aufnehmen. Wir können sie mithilfe der berufsbildenden Schulen, die exzellent arbeiten, begleiten und für den ersten
Ausbildungs- bzw. Arbeitsmarkt befähigen. Dort können
wir ihnen das, was ihnen vielleicht noch fehlt, beibringen. Die berufsbildenden Schulen können das wirklich
gut - ich weiß das; denn ich komme aus diesem Bereich und werden das auch tun. Wir müssen ihnen aber auch
die Chance dazu geben.
({9})
Wir wissen, dass 90 000 Jugendliche zurzeit nicht
wissen, wie sie ihren Lebensweg nach der Schule gestalten. Der Datenschutz spielt bei der Lösung dieses Problems eine große Rolle. Wir müssen im Rahmen der
gesetzlichen Möglichkeiten herausfinden - auch das machen die Hamburger gut vor -, wo diese jungen Menschen sind. Denn nur wenn wir wissen, wo diese jungen
Menschen sind, können wir ihnen auch helfen. Wenn du
nicht weißt, wo jemand ist, kannst du ihm auch nicht
helfen. Deswegen müssen wir unsere Anstrengungen darauf konzentrieren, systemisch dafür zu sorgen, dass wir
alle jungen Menschen erfassen und auf ihrem Lebensweg begleiten können.
({10})
Ich merke, dass ich jetzt durch meine restliche Rede
hetzen muss.
({11})
Lassen Sie mich noch zwei Punkte anmerken, die mir
ganz wichtig sind. Wir haben ein historisch gewachsenes
Rollenverhältnis, das nicht mehr zu unserer Zeit passt.
Wir wissen, dass viele junge Frauen keinen der exzellent
bezahlten technischen Berufe ergreifen. Ich habe mit
dem Betriebsratsvorsitzenden der Meyer-Werft darüber
gesprochen. Nur 10 Prozent der Arbeitsplätze in einer
solch toll arbeitenden Firma sind mit Frauen besetzt. Das
sind angesichts unserer Bevölkerungsstruktur deutlich
zu wenig.
({12})
Wir müssen unsere jungen Frauen, beginnend in
Krippe und Kita und nachfolgend in der Schule, dafür
begeistern, diese technisch anspruchsvollen Berufe zu
ergreifen, damit sie ordentlich Geld verdienen, gut in
diesem System leben können und vor allen Dingen ein
freies, selbstbestimmtes Leben führen können.
({13})
Das wäre, Herr Kollege, ein vorzüglicher Schlusssatz.
Abschließend - wenn mir diese Bemerkung noch gestattet ist -: Wir werden im universitären System etwas
ändern müssen. Früher ist Berufsbildung ein eigenständiges Merkmal an Universitäten gewesen; das hat sich
systemisch verändert. Ich glaube, wir müssen dahin zurückkommen. Die Berufsbildung muss an den Universitäten wieder den Stellenwert bekommen, der ihr zusteht.
Denn nur dann ist das System dazu in der Lage, auf wissenschaftlicher Basis Erkenntnisse zu sammeln und sie
in unsere Berufsbildung einzuspeisen.
Herzlichen Dank und Entschuldigung fürs Überziehen.
({0})
Das Wort erhält nun die Kollegin Beate WalterRosenheimer für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der Berufsbildungsbericht 2014 liegt uns jetzt
vor, und ich darf das erste Mal dazu sprechen. Ich kann
nur sagen - auch wenn das bei Ihnen ein bisschen anders
klingt -: Es ist nicht alles Gold, was glänzt. Wir sind gerade mitten im Europawahlkampf und deshalb in Europa
bzw. in unseren Wahlkreisen in Deutschland unterwegs.
Wir sehen, dass wir im europäischen Vergleich sehr gut
dastehen; das ist eine Tatsache. Wir sehen, welch unschätzbaren Wert ein guter Start ins Berufsleben für Jugendliche hat. Wir sehen aber auch, wie bedrückend es
ist, wenn Perspektiven fehlen.
Wir brauchen gar nicht weit zu schauen, um in unseren Nachbarländern ein unglaubliches Ausmaß an Jugendarbeitslosigkeit vorzufinden; das haben auch Sie
schon beschrieben. Griechenland, Portugal und Spanien
bieten jungen Menschen nur geringe Perspektiven. Bei
uns hingegen läuft vieles gut; das ist eine Tatsache. Wir
werden von vielen Ländern beneidet. Unser duales System wäre ein Exportschlager, wenn es verkäuflich wäre.
Aber unser Berufsbildungssystem hat auch Schwachstellen. Ich finde, es ist wichtig, das zu artikulieren und Lösungen aufzuzeigen.
({0})
Das tun Sie in meinen Augen nicht. Das, was wir von Ihnen bisher gesehen und gehört haben, ist, wie wir finden,
zu wenig. Wir finden das mutlos und halten es für nicht
geeignet, um den aktuellen Herausforderungen, von denen Sie, Frau Wanka, sprechen, gerecht zu werden.
Sehr geehrte Frau Ministerin, Sie sprechen auf Ihrer
Homepage davon, dass sich der Ausbildungsmarkt ändert. Ich weiß ja nicht, welchen Vergleichsmaßstab Sie
anlegen. Aber aus unserer Sicht und nach unserer Analyse hat sich leider nichts verändert,
({1})
sondern die Probleme haben sich manifestiert. Das ist
doch der Punkt.
({2})
Die Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge ist wieder gesunken, um 4,3 Prozent. Das liegt
nicht nur am demografischen Wandel. Der Übergangssektor - er ist heute schon beschrieben worden -, in dem
viele Jugendliche für längere Zeit quasi geparkt werden,
ist weiterhin viel zu groß. Über eine Viertelmillion junger Menschen - das sind über 250 000 junge Menschen - hängt da jahrelang gewissermaßen herum, ohne
eine wirkliche Aussicht zu haben und ohne einen Abschluss zu erreichen. Das sind für uns zu viele,
({3})
auch wenn die Zahlen insgesamt leicht rückläufig sind.
Nebenbei bemerkt: Es gibt auch viele Betriebe im
Land, die händeringend Auszubildende suchen, sie aber
nicht finden. Außerdem herrscht Fachkräftemangel. Hier
stimmt sozusagen das Matching nicht. Man muss
schauen, wie man das besser hinbekommt. Hier muss
man etwas tun.
({4})
Vor diesen Herausforderungen stehen wir, und ihnen
müssen wir uns stellen. Hier besteht Handlungsbedarf.
Worte allein nützen da nichts. Ich finde, unsere grüne
Position, die wir auch in unserem heute vorliegenden
Antrag formuliert haben, ist nach wie vor aktuell und
richtig. Wir brauchen eine Reform des Übergangsdschungels, der für viele eine ewige Warteschleife darstellt und undurchsichtig ist, wir brauchen verbindliche
Zusagen und Angebote an junge Menschen, und wir
müssen vor allem einen richtigen Kraftakt leisten, um all
den Jugendlichen, die es alleine nicht schaffen, Perspektiven aufzuzeigen.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
der Antrag, den Sie heute vorlegen, ist für uns nicht gerade der große Wurf.
({6})
- Ich sage Ihnen gleich etwas dazu. - Der Deutsche Bundestag soll demnach Absichtserklärungen und Prüfvorhaben begrüßen. Die Bundesregierung soll zu Selbstverständlichem oder bereits Bestehendem aufgefordert
werden. Außerdem soll der Bundestag Dinge feststellen,
die Sie durch Ihre eigene Haushaltspolitik gerade konterkarieren. Verzeihen Sie bitte, aber Sie ermüden teilweise
durch Begrifflichkeiten, denen es an Substanz fehlt. Ich
zitiere:
Alle an der Ausbildung beteiligten Akteure sollen
eine Ausbildungsgarantie umsetzen …
({7})
- Ja. Mich interessiert aber brennend, was Sie unter Ausbildungsgarantie verstehen.
({8})
Unsere entsprechenden Nachfragen dazu haben Sie leider noch nicht beantwortet. Wie soll die Ausbildungsgarantie denn konkret aussehen?
({9})
- Das wollen Sie in den nächsten Monaten sagen. Sie
wecken hier Erwartungen, haben aber anscheinend noch
keinen Plan dafür.
({10})
Jetzt ist aber politisches Handeln gefragt.
Ich nenne weitere Beispiele: Sie begrüßen die „Evaluation des Berufsbildungsgesetzes“. Sie begrüßen die
„Überprüfung der Maßnahmen im Übergangssystem“.
Sie begrüßen „die Weiterentwicklung des Nationalen
Pakts für Ausbildung … in eine Allianz für Aus- und
Weiterbildung“, ohne überhaupt zu wissen, was dabei
herauskommt.
({11})
Wir finden: Für eine Maximalkoalition sind das wirklich
Minimalaussagen.
({12})
Noch mehr: Alle Ihre Forderungen stellen Sie auch noch
unter Haushaltsvorbehalt. Da ist überhaupt kein Mumm
drin. Das ist kein Bekenntnis zu einer Reform, das ist ein
zögerliches Lavieren, ohne wirklich Wege aufzuzeigen.
({13})
Sie fordern die Bundesregierung auf, „Jugendliche
mit Migrationshintergrund bei der Eingliederung in die
Berufsausbildung zu unterstützen“. Guten Morgen! Sie
wollen doch nicht ernsthaft sagen, dass Sie Ihre eigene
Regierung dazu jetzt noch auffordern müssen!
({14})
Sie fordern die Bundesregierung auf, das Berufsorientierungsprogramm „auf sämtliche allgemeinbildende
Schulen auszuweiten“. Das ist toll; aber wie soll das
bitte gehen? Da müssen Sie doch erst einmal das Kooperationsverbot aufheben; dann können wir vielleicht
leichter erreichen, was Sie sich jetzt anscheinend auch
vorstellen können.
({15})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch wir erkennen,
wie gut die Perspektiven für begabte junge Menschen in
Deutschland sind, und auch wir sehen, dass viele Betriebe vorbildlich sind, was die Ausbildung angeht, dass
sie sich wirklich ins Zeug legen, um auch schwächeren
Jugendlichen Chancen zu geben. All denen, die sich so
vorbildlich für die Ausbildung dieser Jugendlichen engagieren, gebührt an dieser Stelle unser herzlicher Dank.
({16})
Aber, liebe Koalition, es geht um nicht mehr und
nicht weniger als um die Zukunftschancen unserer Jugendlichen und damit auch um die Zukunft unseres Landes.
({17})
- Ja, jetzt wird es konkret. - Gerade diejenigen, die es
nicht allein schaffen, brauchen unsere Hilfe; die anderen
machen selbst ihren Weg. Sie brauchen Anerkennung für
das, was sie können, Hilfe bei dem, was sie anpacken,
und auch die Sicherheit, beim Scheitern nicht fallen gelassen zu werden. Genau diese Garantie meinen wir
Grüne, wenn wir von Ausbildung sprechen. Von unserer
Seite liegt schon lange ein fundiertes Reformkonzept
vor, das wir heute mit unserem Antrag wieder ansprechen.
Ich bitte Sie jetzt nicht um Ihre Zustimmung zu unserem Antrag; das wäre illusorisch. Ich bin jetzt am Ende
meiner Rede angelangt; aber denken Sie nicht, dass es
das von grüner Seite war! Denn - um einen Ihrer berühmtesten Parteikollegen zu zitieren -: „Wenn die anderen glauben, man ist am Ende, so muss man erst richtig anfangen“, sagte Herr Adenauer.
Vielen Dank.
({18})
Nächster Redner ist der Kollege Albert Rupprecht für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Lieber Kollege Spiering, ich teile in
Gänze Ihre Begeisterung für das berufliche Bildungssystem. Es ist weltweit wertgeschätzt, wir werden darum
beneidet. Topqualität bei Produkten, Spitzenprodukte
aus Deutschland sind nur möglich, weil wir topausgebildete Gesellen, Meister und Fachkräfte haben.
({0})
Das ist etwas, worauf wir stolz sein können, und das gilt
es zu erhalten.
Trotzdem sage ich explizit dazu: Ich teile nicht die
Beschreibung und auch nicht den Großteil der Instrumente, die die Linken und die Grünen vorschlagen. Mir
geht es jetzt um einen vollkommen anderen Aspekt, der
eigentlich bis dato auch von der Opposition nicht thematisiert wurde: Ich habe ein Stück weit die Sorge, dass wir
im Augenblick den Ast absägen, auf dem wir sitzen. Ich
möchte das begründen mit den Zahlen, die uns seit wenigen Wochen vorliegen: Im Jahr 2000 hat ein Drittel der
jungen Menschen studiert. Derzeit studiert die Hälfte
bzw. beginnt mit dem Studium. Wir wollten das auch,
und diese Entwicklung war auch ein Stück weit notwendig. Nach der Prognose der KMK vom 8. Mai dieses
Jahres werden 2020 - das heißt, in nur sechs Jahren aber zwei Drittel eines Jahrgangs an die Hochschulen
gehen. Wenn das Realität wird, dann besteht in der Tat
die Gefahr, dass das berufliche Bildungssystem ein
Stück weit kollabiert. Deswegen müssen wir uns über
den richtigen Mix Gedanken machen.
Wenn es so kommt, wie die Prognosen besagen, dann
erleben wir erstens, dass Deutschland die Meister, die
Gesellen und die Fachkräfte ausgehen. Das DIW prognostiziert für 2020 1,4 Millionen fehlende Facharbeiter
allein im Bereich der MINT-Berufe. Wir alle wissen,
dass diese Prognosen immer unter Annahmen gemacht
werden, aber das sollte und muss uns wachrütteln.
Wir haben die Expansion an den Hochschulen in den
vergangenen Jahren gewollt, und sie war auch richtig.
Ich finde aber, dass jetzt das richtige Maß verloren geht
und dass das Ganze kippt.
Wenn tatsächlich zwei Drittel eines Jahrgangs an die
Hochschulen gingen, dann wäre zweitens die Konsequenz nicht nur, dass uns Facharbeiter fehlen würden,
sondern auch, dass noch mehr junge Menschen frustriert
würden. Bereits heute stellen wir nämlich fest, dass - das
ist doch die Realität an den Hochschulen - viele Studenten überfordert sind. 35 Prozent der Studierenden brechen ihr Studium ab oder wechseln das Fach. Jeder
Vierte verlässt die Universität ohne Abschluss.
({1})
Die Zahl der Studierenden, die sagen, dass sie überfordert sind und Prüfungsangst haben, nimmt zu. Selbst
diejenigen, die das Studium schaffen, sind zunehmend
frustriert.
({2})
Es ist doch nicht so, wie es manche formulieren, beispielsweise Dr. Schleicher, der sagt: Werde Akademiker,
dann hast du eine goldene Zukunft. - Auch hier ist die
Situation natürlich viel differenzierter.
Wenn ein Architekt mit 30 Jahren eine Tätigkeit ausführt, die eigentlich auch ein 17-jähriger technischer
Zeichner ausführen könnte, und wenn er dafür auch kein
Architektengehalt, sondern das Gehalt eines technischen
Zeichners bekommt, dann stimmt hier etwas nicht.
({3})
Studieren mag für viele ein Königsweg sein, aber
nicht für alle. Die Wirklichkeit ist differenzierter. Ich bin
der festen Überzeugung, dass wir uns ernsthaft Gedanken darüber machen und auch thematisieren müssen, ob
die berufliche Ausbildung für viele junge Menschen
nicht der deutlich bessere Entwicklungsweg wäre.
({4})
Wenn es sich wirklich so entwickeln sollte, wie die
KMK prognostiziert, dann würden wir drittens auch die
Hochschulen massiv überfordern. Wenn zwei Drittel eines Jahrgangs studieren, dann werden die Hochschulen
am Ende, wie es Professor Lenzen formuliert hat, wie es
aber auch das EFI-Gutachten und der Wissenschaftsrat
zum Ausdruck bringen, mehr Berufsschule als Universitäten im Sinne von Humboldt sein.
({5})
Es stellt sich die Frage: Wie sehen wir die Hochschulen? Ich bin der Meinung, wir wollen an den Hochschulen nach wie vor eine exzellente akademische Ausbildung für junge akademisch und intellektuell begabte
Menschen. Genauso wollen wir parallel dazu im Bereich
der beruflichen Bildung eine exzellente Ausbildung zum
Gesellen, zum Meister und zur Fachkraft für praktisch
begabte junge Menschen ermöglichen.
Herr Kollege Rupprecht, darf der Kollege Gehring Ihnen eine Zwischenfrage stellen?
Gerne.
Herr Rupprecht, Sie formulieren Ihre Thesen ja schon
seit mehreren Wochen und Monaten, und Sie haben auch
in einer Pressemitteilung geschrieben, der gesellschaftliche Grenznutzen der Akademisierung sei überschritten
und der Studienwunsch des Einzelnen dürfe nicht mehr
allein maßgeblich sein. Wir als Grüne halten überhaupt
nichts davon, die akademische und die berufliche Bildung gegeneinander auszuspielen;
({0})
denn wir brauchen Meister und Master und nicht Meister
statt Master, wie Sie es formulieren.
({1})
Ich würde jetzt einfach einmal gerne wissen, welche
Konsequenz Sie aus dem, was Sie jetzt gerade und in
den Pressemitteilungen verkünden, ziehen. Wollen Sie
damit den jungen Menschen in einer freiheitlichen Gesellschaft ernsthaft vorschreiben, was sie künftig machen, ob sie studieren oder sich beruflich ausbilden lassen? Wollen Sie hier eine neue CSU-Planwirtschaft
betreiben und die NC deutlich nach oben treiben? Was
heißt das denn in der Konsequenz, wenn Sie vor einer
Akademisierungswelle warnen? Man muss doch beide
Bereiche attraktiv halten und darf hier jetzt nicht das
Studium schlechtreden. Was ist also Ihre Konsequenz?
NC für alle und Planwirtschaft durch die CSU?
Kollege Gehring, wir sind in zwei Punkten beieinander. Erstens sind wir darin beieinander, dass wir für jeden jungen Menschen das richtige Angebot brauchen.
Wenn zwei Drittel der jungen Menschen an die Hochschulen gehen, dann bin ich der festen Überzeugung,
dass sich viele in einer dualen beruflichen Ausbildung
besser entwickeln könnten.
Zweitens sind wir in der Aussage beieinander, dass
wir den richtigen Mix brauchen; das meine auch ich.
Aber ich sage noch einmal: Im Jahr 2000 hat sich ein
Drittel der jungen Menschen an den Hochschulen eingeschrieben, in sechs Jahren sollen es zwei Drittel sein; das
Verhältnis hat sich also umgekehrt. Glauben Sie ernsthaft, dass das der richtige Mix ist, was die Zukunftsaufgaben in Deutschland betrifft, Stichwort „Fachkräftebedarf“?
({0})
Zu den Instrumenten komme ich jetzt ohnehin. Deshalb möchte ich nun in meiner Rede fortfahren.
Dass zwei Drittel der jungen Menschen studieren,
kann nicht unsere Vision für die Hochschulen sein. Das
sage nicht nur ich, und es sagen auch nicht nur wenige
Experten, sondern darüber wird im Augenblick breit diskutiert. Der Wissenschaftsrat hat sich dazu positioniert,
und auch im EFI-Gutachten wird ausführlich ausgeführt,
dass wir einen vernünftigen Mix von beruflicher und
akademischer Bildung brauchen.
Was müssen wir machen? Erstens. Wir müssen all das
umsetzen, was Ministerin Wanka formuliert hat. Sie hat
eine Vielzahl an Maßnahmen ausgeführt. Sie hat formuliert, dass wir berufliche Bildung zum Schwerpunkt in
dieser Legislatur machen und sie aufwerten wollen.
Ich nenne einmal die Stichpunkte - ich sage explizit,
dass diese Punkte für uns als Unionsfraktion in den Koalitionsverhandlungen ein außerordentlich großes Anliegen waren -:
Wir werden den Ausbildungspakt zur Allianz für
Aus- und Weiterbildung weiterentwickeln.
Wir werden eine Ausbildungsgarantie beschließen.
Das wird nicht einfach auf politischer Ebene geschehen,
sondern das wird in der Allianz mit den Akteuren besprochen werden.
Wir werden die Bildungsketten und die assistierte
Ausbildung erheblich ausbauen.
Wir werden die Durchlässigkeit des Systems erhöhen,
und zwar in beide Richtungen.
Darüber hinaus werden wir viele andere Maßnahmen
ergreifen; Ministerin Wanka hat die Vielzahl der Maßnahmen angesprochen. Das wird substanziell etwas kosten und entsprechend finanziell ausgestattet werden.
Natürlich müssen wir uns anschauen, ob die Anreize
fair gesetzt sind. Wenn der Student kostenlos studieren kann, weil das der Wunsch der Bevölkerung ist
- der zu akzeptieren ist -, aber der Meister im Schnitt
10 000 Euro zahlt, dann ist der Anreiz nicht wirklich fair
gesetzt.
({1})
Wir wissen, dass das ein Kraftakt ist, aber man muss darüber nachdenken, wenn man von Wettbewerbschancen
und von Attraktivität redet.
Zweitens. Wir werden den vernünftigen Mix nicht nur
durch eine Aufwertung der beruflichen Bildung erreichen, sondern es stellt sich auch die Frage, was das für
die Hochschulen, die zweite Säule, heißt. Ich maße mir
jetzt nicht an, auf der Basis der KMK-Prognose vom
Mai dieses Jahres schon alle Instrumente herunterbeten
zu können. Ich verweise aber auf die Stellungnahme des
Wissenschaftsrates. Das ist doch eine ernstzunehmende
Institution. In der Stellungnahme des Wissenschaftsrates
heißt es, dass „eine indirekte Steuerung der Ausbildungsentscheidungen von Schulabgängern über die Bereitstellung von Studienplatzkapazitäten unvermeidbar“
sei. Das ist also nicht nur die Meinung von Albert
Rupprecht, sondern auch die des Wissenschaftsrates.
Herr Kollege Gehring, es würde mich außerordentlich
wundern, wenn die Grünen ab heute die Positionen und
Stellungnahmen des Wissenschaftsrates in Bausch und
Bogen verdammen würden.
({2})
Man muss darüber doch zumindest ernsthaft nachdenken. Wenn Professor Marquardt sagt, man diskutiere im
Augenblick die Instrumente, dann wissen wir alle, dass
jedes Instrument seine Vor- und Nachteile hat. Aber darüber zu diskutieren, ist unabdingbar.
Der Wissenschaftsrat hat angekündigt, diese Einschätzung, diese Positionierung im Hinblick auf die Instrumente in den nächsten Wochen und Monaten zu präzisieren. Wir müssen uns die Zeit nehmen, das abzuwarten
und dann diese Vorschläge ernsthaft zu debattieren. Ich
glaube beispielsweise, dass die Finanzierung des Hochschulpaktes - Ministerin Wanka hat dazu bereits etwas
gesagt - von der Zahl der Studienanfänger abhängt. Es
geht auch darum, dass die Qualität an den Hochschulen
erhöht wird, dass die Zahl der Abschlüsse steigt, dass
wir die Abbrecherquoten senken. Deswegen muss natürlich auch dieses Thema Bestandteil des Hochschulpaktes
sein. Wir können nicht einfach sagen: Wir machen weiter wie bisher, ohne auf die Qualität zu achten. Wir überweisen das Geld, und damit hat es sich. - Im Wissen um
die Prognosen muss auch der Hochschulpakt entsprechende Elemente beinhalten und vernünftige Antworten
auf die sich stellenden Fragen geben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte es abschließend so auf den Punkt bringen: Die große Wertschätzung der dualen beruflichen Bildung, bei der wir
uns in diesem Hause, glaube ich, alle einig sind, bedeutet
in der Konsequenz, dass wir auch in die Zukunft schauen
müssen. Die Prognosen der KMK müssen uns wachrütteln. Wenn wir das System, um das uns die Welt beneidet, auch in Zukunft aufrechterhalten und stabilisieren
wollen, dann braucht es viele Einzelmaßnahmen. Aber
es braucht auch vernünftige und kluge Grundsatzentscheidungen.
Danke schön.
({3})
Das Wort erhält nun die Kollegin Sabine
Zimmermann für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Spiering, erst einmal zu Ihnen: Ich weiß,
wovon ich rede. Ich bin seit 20 Jahren Vorsitzende des
Berufsbildungsausschusses der IHK Chemnitz und der
Handwerkskammer Chemnitz. Das sage ich Ihnen, damit
Sie nicht davon ausgehen müssen, wir wüssten nicht,
wovon wir reden.
Ihre Sichtweise ist natürlich die der Berufsschullehrer
als eine Säule der dualen Ausbildung. Das ist zwar richtig, aber dazu gehört noch ein bisschen mehr. Sie wissen,
dass auch die Unternehmen und die Kammern dazugehören. Sie alle muss man im Blick haben und nicht nur
die Sicht der Berufsschullehrer.
Ich muss Ihnen auch sagen: Es gibt noch große Unterschiede zwischen Ost und West. Wir schieben im Osten
immer noch eine ziemliche Bugwelle vor uns her, nämlich die Altbewerber aus den vorhergehenden Entlassjahren, die immer noch in sogenannten Warteschleifen
sind. Deswegen hat meine Kollegin durchaus zu Recht
gesagt, dass sie teilweise ziemlich lange in solchen Warteschleifen bleiben. Dazu hat übrigens Frau Ministerin
Wanka überhaupt nichts gesagt.
Meine Damen und Herren, Sie alle wissen, dass Auszubildende ein Berichtsheft zu führen haben. In diesem
dokumentieren sie die wichtigen Dinge ihrer Ausbildung. Wenn sie wesentliche Inhalte vergessen oder Nebensächlichkeiten zu sehr in den Vordergrund stellen,
dann gibt es von den Ausbildern die Rückmeldung: Neu
schreiben!
Ich kann diesen Auszubildenden nur raten, sich kein
Beispiel an der Bundesregierung zu nehmen. Sie nimmt
alles in den Bericht auf, was die berufliche Ausbildung
in Deutschland in einem richtig schönen Licht erschei3008
Sabine Zimmermann ({0})
nen lässt, aber die zentralen Fragen wie die hohe Zahl
unversorgter Bewerber, die Qualität der Ausbildung und
die Perspektiven nach der Ausbildung werden weitestgehend ausgeblendet. Ich finde, das ist ein starkes Stück;
denn in allen diesen Fällen gibt es erheblichen Handlungsbedarf. Auch hier bleibt eigentlich nur das Urteil:
Neu schreiben oder wenigstens nächstes Mal besser machen!
({1})
Wenn Sie wirklich wissen wollen, was in der Ausbildung leider alles möglich ist, besuchen Sie doch das
Onlineforum „Dr. Azubi“ auf der Internetseite des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Hier suchen Auszubildende Rat und Hilfe. Schauen Sie sich diese Meldungen
dort einmal an!
Janek, ein Auszubildender, schreibt:
Ich mache in einem Gartencenter meine Ausbildung zum Kaufmann im Einzelhandel. Da nun sozusagen Saison ist, verlangt mein Arbeitgeber, dass
ich bis zu 10 und möglicherweise sogar 11 Stunden
am Tag und 6 Tage die Woche für die nächsten Wochen arbeiten muss, ohne freien Tag. Ist das rechtens? Eigentlich bin ich nur noch zum Essen und
Schlafen zu Hause, was deutlich an meiner Substanz zehrt … Zum Lernen ist keine Zeit mehr da.
Das ist die Realität, meine Damen und Herren.
Sabrina, eine Auszubildende, schreibt:
Ich bin im dritten Lehrjahr als Hotelfachfrau und
habe in 32 Tagen Prüfung. Habe noch 32 Tage Urlaubsanspruch … Ich habe meinen Chef gefragt,
wann ich dann meinen Resturlaub nehmen kann, er
meinte, das geht nicht, es ist viel zu tun und er habe
wenig Personal. Ich weiß nicht, was mit meinem
Resturlaub wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das sind keine Einzelfälle. Es gibt eine Fülle von Problemen in der Ausbildung selbst. Nach dem Ausbildungsreport des DGB
macht ein Drittel aller Auszubildenden regelmäßig Überstunden. Sie wissen, dass Auszubildende keine Überstunden machen dürfen, erst recht nicht, wenn sie unter
18 Jahre alt sind. 10 Prozent üben ausbildungsfremde
Tätigkeiten aus, also das sogenannte Hofkehren oder
auch Kopieren. 33 Prozent besitzen noch nicht einmal
einen Ausbildungsplan.
Was sagt die Bundesregierung dazu, dass Auszubildende als billige Arbeitskräfte missbraucht werden und
ihnen eine fachgerechte und umfassende Ausbildung
einfach vorenthalten wird? Nichts findet sich dazu im
Berufsbildungsbericht. Wenn es insgesamt diese Mängel
bei der Ausbildungsqualität und beim Jugendarbeitsschutz gibt, kann sich die Bundesregierung nicht einfach
davonstehlen und den Ländern und Kammern die Schuld
in die Schuhe schieben. Arbeitgeber können nicht über
einen angeblichen Fachkräftemangel klagen, wenn es
solche gravierenden Ausbildungsmängel gibt. Nicht zuletzt deswegen werden Ausbildungsplätze oft nicht besetzt oder Ausbildungsverträge aufgelöst.
Wir müssen uns fragen: Wie wirksam sind denn die
derzeitigen Kontrollen? Im Jahr 2011 gab es in den Betrieben gerade einmal 3 400 Kontrollen zum Jugendarbeitsschutz. Das ist nicht viel im Vergleich zu 1,4 Millionen Ausbildungsverhältnissen. Es gibt offensichtlich
Reformbedarf. Aber davon will unsere Regierung nichts
wissen.
Ein zweiter Punkt, der im Berufsbildungsbericht der
Bundesregierung fehlt, ist die Frage der Perspektive
nach der Ausbildung. Im dualen System geht ein Drittel
der Auszubildenden nach der Ausbildung in die Arbeitslosigkeit. Diejenigen, die übernommen werden, haben
oft nur befristete Verträge. Deshalb ist auch hier die politische Botschaft klar: Befristungen sind einzudämmen,
und unbefristete Übernahmen sollten eigentlich die Regel werden.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Großen Koalition, gute Politik beginnt mit einer kritischen und schonungslosen Analyse der Ausgangssituation. Oder um es
für die Sozialdemokraten unter Ihnen mit Ferdinand
Lassalle zu sagen: „Alle große politische Aktion besteht im Aussprechen dessen, was ist, und beginnt damit.“ Was dieser Bericht alles nicht ausspricht, lässt leider nichts Gutes für Ihre Politik im Bereich der
Ausbildung erahnen. Das ist keine gute Botschaft für unsere Jugend, aber für uns als Linke Anlass genug für den
Appell, umso nachhaltiger für das Recht auf gute Ausbildung weiterhin zu streiten.
Danke schön.
({3})
Für die Bundesregierung hat nun die Staatsministerin
Frau Özoğuz das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Tim Schultheiß und Hakan Yilmaz bewerben sich für
eine Ausbildung als Kfz-Mechatroniker. Beide sind
Jahrgang 1996. Beide sind in Deutschland geboren.
Beide haben Schulzeugnisse mit einem Notendurchschnitt von 2,0. Doch etwas Gravierendes unterscheidet
diese beiden: Hakan hat deutlich schlechtere Chancen
als Tim, zum Bewerbungsgespräch für den Ausbildungsplatz eingeladen zu werden. Hakan muss 50 Prozent
mehr Bewerbungen schreiben. Allein diese Tatsache ist
für uns nicht hinnehmbar.
({0})
Dieses Ergebnis stammt aus der aktuellen repräsentativen Studie „Diskriminierung am Ausbildungsmarkt“
des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration. Jugendliche mit bestimmten Zuwanderungsgeschichten haben bereits in der ersten Bewerbungsphase schlechtere Chancen auf einen Ausbildungsplatz, und
das trotz gleicher bzw. identischer Qualifikation. Wie wir
wissen, ist das nur die Spitze. Negativen Einfluss können
auch neudeutsche Namen, das Geschlecht und manchmal
sogar die Schule, die man besucht hat, ausüben; das alles
wird in der Studie aufgezeigt.
Die Situation auf dem Ausbildungsmarkt zeigt uns,
dass bei denjenigen, die eine Zuwanderungsgeschichte
haben, noch sehr viel zu tun ist; denn laut Berufsbildungsbericht 2014 beginnen nur halb so viele Menschen
mit ausländischer Staatsangehörigkeit - nur für diese
Gruppe liegen Zahlen vor; das ist aber nur die Hälfte
derjenigen mit Migrationshintergrund - eine Ausbildung
wie junge Deutsche. Wir haben hier ein Verhältnis von
29 Prozent zu 59 Prozent zu verzeichnen, obwohl ein
gleich großes Interesse an einer Berufsausbildung festzustellen ist und - ich glaube, das wissen viele nicht obwohl Eltern mit Migrationshintergrund höhere Bildungserwartungen an ihre Kinder haben als Eltern ohne
Migrationshintergrund.
Für alle Jugendlichen kommt erschwerend hinzu
- das wurde unter anderem schon von der Bundesministerin genannt -, dass es ein Rekordtief bei neu abgeschlossenen Ausbildungsverträgen gibt. Frau Hein, wir
sind uns einig, dass das heutige Übergangssystem eher
zu einer Art Paternoster geworden ist, in dem die Jugendlichen hoch- und herunterfahren, aber aus dem sie
nicht herauskommen. Dieser Zustand wurde bereits benannt und muss verändert werden, wenn wir eine ordentliche Ausbildung für Jugendliche wollen.
({1})
Das ist im Übrigen auch der Grund, warum ich mir
als Integrationsbeauftragte der Bundesregierung das
Thema Ausbildung als Schwerpunkt für das Jahr 2014
gesetzt habe. Ich habe mich sehr gefreut, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel auch sofort zugesagt hat, den
Integrationsgipfel Ende des Jahres zum Thema Ausbildung tagen zu lassen, damit wir dort wirklich alle Ergebnisse zusammenfassen können.
({2})
Ich denke, dass wir vor allen Dingen vier zentrale Ziele
verfolgen müssen. Erstens geht es darum, die Ausbildungsbeteiligung von Jugendlichen zu erhöhen. Wir müssen immer auch bedenken, dass nicht alle einen sogenannten Migrationshintergrund haben. Aber bestimmte Namen wirken
offenbar anders als andere. Damit die Ausbildungsbeteiligung erhöht werden kann, müssen zweitens mehr Unternehmen ausbilden.
Drittens brauchen wir offensichtlich mehr interkulturelle Sensibilität bei der Bewerberauswahl; denn wer
zum Beispiel zusätzlich zum Deutschen eine weitere
Sprache spricht oder sich in anderen Kulturkreisen auskennt, verfügt über wertvolle weitere Qualifikationen.
Das sollte anerkannt werden, anstatt Bewerber mit fremd
klingenden Namen sofort auszusortieren.
({3})
Das bringt mich zum vierten Punkt. Auch auf dem
Ausbildungsmarkt können wir einiges gegen Diskriminierung tun. Es gibt eine Idee, die durch den Raum geistert - das ist nicht die einzige gute Idee -, und zwar die
der anonymen Bewerbung. Anonyme Bewerbungsverfahren können zumindest dazu beitragen, dass man im
ersten Angang nicht aussortiert wird, weil sich zunächst
einmal ein anderes Bild darstellt. Wir haben Unternehmer - ich hatte neulich das Vergnügen, jemanden aus
Baden-Württemberg zu hören, und es gibt das Beispiel
der Stadt Celle -, die das einfach einmal ausprobiert haben und sagen, dass sie plötzlich eine ganz andere Mischung bei den Bewerbungsgesprächen als vorher vorfinden, als sie schon im ersten Angang wussten, wie die
Bewerber aussehen, heißen usw. Offensichtlich ist das
ein ganz vernünftiges Verfahren, und das sollten wir deswegen auch unterstützen.
({4})
Mir machen einige Beispiele, die neu sind, durchaus
Mut. Das eine brauche ich gar nicht weiter auszuführen;
Rainer Spiering hat es erwähnt. Ich meine die Jugendberufsagentur in Hamburg. Wir haben letzte Woche auf der
Bundeskonferenz aller Integrationsbeauftragten aus Bund,
Ländern und Kommunen über dieses Modell gesprochen.
Es ist natürlich einfacher in Stadtstaaten, die Arbeitsagenturen, die Behörden und die Bezirksämter miteinander zu vernetzen, vor Ort an den Schulen präsent zu sein und Jugendliche immer wieder frühzeitig zu informieren. Ich finde an
diesem Modell besonders interessant, dass es Jugendliche
sind - ich konnte das selber erleben -, die sagen: Wieso
fragt plötzlich jemand nach mir? Ihr habt euch doch bis
heute nicht für mich interessiert. - Es ist schon wirklich
spannend, wenn man das zu hören bekommt.
({5})
Wichtig ist auch, sich immer wieder bewusst zu machen - das ist schon gesagt worden -: Es lässt sich vieles
machen, wenn der politische Wille da ist. Es sind natürlich
schwierige Mechanismen, die da funktionieren müssen,
und das ist in Flächenländern schwieriger. Ich möchte aber
auch ein gutes Beispiel für ein Flächenland nennen. In Baden-Württemberg gibt es das Projekt carpo für die assistierte Ausbildung. In diesem Rahmen wird an circa
20 Standorten jungen Menschen mit besonderem Förderbedarf eine betriebliche Ausbildung ermöglicht. Dieses Projekt hilft bei der Suche nach geeigneten Ausbildungsstellen,
bereitet darauf vor - wir wissen, dass das manchmal eine
wichtige Zeit für junge Leute ist - und hilft auch bei Fragen
zur Wohnung, Kinderbetreuung etc. Dass 85 Prozent der
Teilnehmer dank dieses Projekts offensichtlich den Übergang in Arbeit oder eine betriebliche Ausbildung schaffen, ist ein Erfolg. Wir sollten uns auf die Dinge konzentrieren, die uns so gute Zahlen bescheren.
({6})
Ich bin Bildungsministerin Wanka sehr dankbar, dass
sie diese Weiterentwicklung zur Allianz mit anderen gemeinsam vorantreibt. Ich denke, es muss uns in dieser
Allianz für Aus- und Weiterbildung auch gelingen, die
vorhandenen Instrumente zu verzahnen, um am Ende zu
Aydan Özoğuz, Staatsministerin bei der BundeskanzlerinStaatsministerin Aydan Özoğuz
einer Art Ausbildungsgarantie zu kommen. Das ist das
Ziel für uns alle. Wir wollen kein Kind ohne Ausbildung
lassen.
({7})
Ein allerletzter Punkt. Bei aller Freude über die aktuellen Zahlen der OECD zur Fachkräftezuwanderung,
die am Anfang genannt wurden, möchte ich eines deutlich sagen: Bei dem Ruf der Wirtschaft nach Fachkräften
- ich habe dies immer unterstützt; wir brauchen Zuwanderung in unser Land, also bitte nicht falsch verstehen dürfen wir niemals außer Acht lassen, dass wir auch erhebliche Potenziale im Inland haben und dass es eine
zentrale Aufgabe ist, diese zu unterstützen und auszubilden.
Danke.
({8})
Brigitte Pothmer ist die nächste Rednerin für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau
Ministerin Wanka, Sie haben die Herausforderungen, die
sich aus dem Berufsbildungsbericht 2014 ergeben, richtig beschrieben. Es ist eigentlich schade, Herr Spiering,
dass Sie dahinter sehr weit zurückgefallen sind. Diese
Form von Gesundbeten hilft uns wirklich nicht weiter.
Politik beginnt mit der Betrachtung von Wirklichkeit.
({0})
Die Wirklichkeit, die Sie beschrieben haben, lässt sich
jedenfalls im Berufsbildungsbericht nicht erkennen.
({1})
Frau Wanka, es ist richtig, dass Sie die Herausforderungen beschrieben haben. Sie haben viele Fragen gestellt. Ich erinnere Sie aber daran: Sie sind an der Regierung. Sie dürfen nicht nur Fragen stellen, Sie dürfen
nicht nur Herausforderungen beschreiben, sondern Sie
müssen auch Antworten geben.
({2})
Sie müssen uns sagen, was die Regierung tun will, damit
sich die von Ihnen beschriebene Situation verbessert.
Keine Antwort haben Sie insbesondere auf die Probleme der Gruppe von 1,4 Millionen jungen Menschen
zwischen 20 und 29 Jahren, die keine Ausbildung haben.
Frau Wanka, diese Gruppe ist nicht kleiner geworden trotz bester wirtschaftlicher Entwicklung, trotz Fachkräftemangels. An der Größe dieser Gruppe hat sich
nichts geändert.
({3})
Sie haben viel zu lange darauf gesetzt, dass der wirtschaftliche Aufschwung und der Fachkräftemangel dieses Problem lösen werden. Das ist nicht der Fall. Ich
sage Ihnen: Wenn 15 Prozent einer Alterskohorte keine
Ausbildung haben, nicht in das System integriert sind,
dann ist das nicht nur ein Drama für die betroffenen jungen Menschen, dann ist das auch ein Drama für die Gesellschaft, insbesondere vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung.
Ich will Sie daran erinnern, wie die Situation ist: Eine
immer kleinere Kohorte junger Menschen muss eine immer größere Kohorte älterer Menschen unterstützen.
Wenn fast ein Fünftel der jungen Menschen daran nicht
mitwirken kann, sondern selber auch noch alimentiert
werden muss, dann überfordert das die Gesellschaft in
hohem Maße. Deswegen haben wir da dringenden Handlungsbedarf.
({4})
Ich sage Ihnen: Auch diese jungen Menschen brauchen eine abgeschlossene Berufsausbildung.
({5})
Wenn diese Berufsausbildung aus unterschiedlichsten
Gründen nicht im dualen System stattfinden kann, dann
müssen wir ihnen eben ein anderes Angebot machen,
aber auf jeden Fall ein berufsqualifizierendes Angebot.
Darauf kommt es an.
({6})
Wir haben Ihnen mit unserem Konzept DualPlus ein
ausgereiftes Papier auf den Tisch gelegt. Mit DualPlus
wollen wir das duale System - das sage ich hier noch
einmal ausdrücklich - nicht ersetzen, sondern ergänzen,
weil es dringend eine Ergänzung braucht. Das zeigt die
Zahl von 1,4 Millionen Jugendlichen, die keine Ausbildung haben.
({7})
Das Übergangssystem ist - Frau Ministerin Wanka,
ich frage mich wirklich, wie lange wir darüber eigentlich
schon reden - ineffizient und teuer. Dieses Übergangssystem wollen wir in eine Ausbildung mit System, und
zwar mit sehr hohen betrieblichen Anteilen, überführen.
Wir wollen eine Ausbildung nach dem dualen Prinzip
außerhalb des dualen Systems. Damit können wir das
Recht auf Ausbildung wirklich umsetzen. Das ist eine
Ausbildungsplatzgarantie.
Ich finde schon interessant, dass in der Rede von Frau
Wanka die in der Koalitionsvereinbarung beschriebene
Ausbildungsplatzgarantie gar nicht mehr vorkam. Irgendwann soll am Ende so etwas wie eine Ausbildungsplatzgarantie zustande kommen. Dafür können sich die
1,4 Millionen Jugendlichen nun wirklich nichts kaufen.
({8})
Wir brauchen keine weiteren Einzelmaßnahmen, Herr
Rupprecht. Wir brauchen keine weiteren Warteschleifen.
Wir brauchen eine qualifizierende Ausbildung für alle
Aydan Özoğuz, Staatsministerin bei der BundeskanzlerinStaatsministerin Aydan Özoğuz
Jugendlichen. Davon profitieren die jungen Menschen,
davon profitieren die Betriebe, davon profitieren Staat
und Gesellschaft, weil sich jede Investition in Bildung
x-fach auszahlt.
Ich danke Ihnen.
({9})
Lena Strothmann erhält nun das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In meiner
beruflichen Laufbahn als Schneidermeisterin, als Handwerksmeisterin, habe ich über 50 junge Menschen ausgebildet.
({0})
Viele von ihnen sind heute erfolgreich, sind selbstständig, haben die Meisterprüfung gemacht und haben junge
Menschen ausgebildet.
({1})
Mir liegt die duale Ausbildung sehr am Herzen, weil sie
ein Erfolgsrezept ist. Und, meine Damen und Herren:
Die duale Ausbildung ist die Grundlage für Generationen von Fachkräften in unseren Betrieben: im Handwerk, im Mittelstand und auch in der Industrie.
Wenn wir weiterhin in unserem Land erfolgreich sein
wollen, wenn wir unseren Wohlstand in Zukunft erhalten
wollen, dann brauchen wir dringend leistungsstarken
Nachwuchs. Das geht im Übrigen nicht nur die Wirtschaft an; das geht auch die Verbraucher an. Stellen Sie
sich vor: In einem harten Winter fällt Ihre Heizung aus,
bei einem starken Sturm wird Ihr Dach beschädigt, oder
Sie haben einen Wasserrohrbruch - und keiner kommt.
Das klingt jetzt vielleicht etwas dramatisch, aber im
Handwerk ist der Mangel an Fachkräften schon deutlich
spürbar, und das wird sich in Zukunft noch verstärken,
wenn es uns nicht gelingt, mehr junge Menschen für die
duale Ausbildung zu gewinnen.
Die Zahl der Neuverträge ist in den letzten Jahren
ständig gesunken; das haben wir gehört. Jetzt haben wir
im Vergleich zum Vorjahr ein Minus von 20 000 Verträgen. Die Zahlen im Handwerk sind zwar besser, weil die
Ausbildungsbereitschaft unserer Betriebe immer noch
hoch ist; das Problem ist aber, dass wir aus demografischen Gründen immer weniger Schulabgänger haben.
Zudem - wir haben es gehört - gibt es einen Trend zu
höherer Bildung, gepusht noch durch Brüssel und die
OECD. Viele streben das Abitur und ein Studium an,
und im Ergebnis bleiben immer weniger junge Menschen für die duale Ausbildung übrig. Das ist eine dramatische Entwicklung, meine Damen und Herren, die
sich in den nächsten Jahren auch noch verstärken wird.
Hier müssen wir ansetzen. Hier müssen wir umsteuern.
Was ist zu tun? Natürlich muss sich die Wirtschaft
noch intensiver um ihren Nachwuchs kümmern; schließlich steht die Existenz unserer Betriebe auf dem Spiel.
Aber hier ist nicht nur die Wirtschaft gefordert, meine
Damen und Herren, sondern wir alle sind gefordert. Wir
müssen umdenken. Die Gesellschaft muss umdenken.
Für viele Schulabgänger und Eltern ist die duale Ausbildung nur noch zweite Wahl. Über 50 Prozent der jungen Menschen eines Jahrgangs streben ein Hochschulstudium an - mit steigender Tendenz. Gerade dadurch
fehlen uns im Handwerk und in der gewerblich-technischen Wirtschaft geeignete Auszubildende, während die
Unis gleichzeitig unter dem großen Andrang stöhnen.
Dabei ist der akademische Berufsweg nicht immer
der Königsweg, und vor allem - auch das muss einmal
gesagt werden - schützt er nicht unbedingt vor schlechter Bezahlung.
({2})
Eine Erhebung der Universität Duisburg-Essen hat gezeigt, dass 688 000 Akademiker in unserem Land zu den
Geringverdienern gehören, meine Damen und Herren.
Ein Elektromeister im Handwerk zum Beispiel oder ein
Schneidermeister in meinem Betrieb verdient wesentlich
mehr als junge Juristen.
Professor Nida-Rümelin, Inhaber des Lehrstuhls für
Philosophie und Politische Theorie der Uni München,
hat es auf den Punkt gebracht. Er spricht davon, dass uns
ein Akademisierungswahn gepackt hat, und er hat recht.
Allein die hohe Zahl der Studienabbrecher in technischen Studiengängen zeigt, dass es sinnvoll sein kann,
zunächst einmal eine handwerkliche Ausbildung zu machen. Frau Ministerin Wanka hat ebenfalls recht mit ihrer Initiative, Studienabbrecher für eine Lehre im Handwerk zu gewinnen.
({3})
Im Handwerk haben junge Menschen wirklich beste
Chancen; viele wissen es nur noch nicht. Das Handwerk
bietet über 130 Ausbildungsberufe. Das Handwerk ist
innovativ. Das Handwerk ist kreativ, und das Handwerk
ist vor allen Dingen Hightech. Für jeden ist etwas dabei.
({4})
Es gibt viele individuelle Karrieremöglichkeiten: eine
Ausbildung, ein Studium, ein duales Studium oder die
Gründung eines eigenen Unternehmens. Leider setzen
sich immer noch zu wenige junge Menschen, Eltern und
Lehrer mit den einzelnen Berufsbildern und den sich dadurch bietenden Chancen auseinander. An dieser Stelle
muss die Berufsorientierung mehr leisten, vor allen Dingen in den Gymnasien. Die duale Ausbildung muss stärker in den Vordergrund rücken, und zwar auch in unseren Köpfen. In den Nachbarstaaten beneidet man uns um
unser System. Hierzulande haben aber viele die Bedeutung der dualen Ausbildung noch nicht erkannt. Deswegen brauchen wir einen gesellschaftlichen Konsens.
Berufliche und akademische Bildung sind auf dem
Papier gleich; das haben wir in den letzten Jahren erreicht. Zu unseren Hochqualifizierten gehören nicht nur
Akademiker, sondern auch Techniker und Meister. Das
ist bei vielen Eltern, Lehrern und Schülern aber noch
nicht angekommen. Deshalb muss die Wirtschaft an dieser Stelle mehr aufklären und vor allen Dingen auch
mehr werben.
({5})
Zur dualen Ausbildung gehört auch der Meisterbrief.
Das muss auch Brüssel begreifen. Die Kommission
empfiehlt den Krisenländern auf der einen Seite das
duale System, um die Jugendarbeitslosigkeit zu bekämpfen. Auf der anderen Seite will sie aber den Meistervorbehalt als Voraussetzung zum Berufszugang abschaffen.
Wir in Deutschland haben nach dem Inkrafttreten der
Handwerksnovelle 2003 negative Erfahrungen mit solchen Ansätzen gemacht. Nachdem 53 Handwerksberufe
zulassungsfrei wurden, gab es zwar viele Existenzgründer; das waren aber meist nur Einmannbetriebe. Eine
Studie des Instituts für Handwerk und Mittelstand belegt, dass fünf Jahre nach ihrer Gründung 60 Prozent der
Betriebe nicht mehr am Markt waren. Das Schlimmste
ist aber: Sie bilden nicht aus. So etwas darf sich in unserem Land nicht wiederholen. Ich sage: Wer den Meisterbrief angreift, legt gleichzeitig die Axt an ein funktionierendes und erfolgreiches Ausbildungssystem.
({6})
Frau Kollegin, Sie denken bitte an die Zeit, ja?
Ich komme zu meinem letzten Satz. - Das duale System funktioniert nur mit dem Meisterbrief. Ein bisschen
Meisterbrief gibt es nicht.
Herzlichen Dank.
({0})
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Willi Brase
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist gut, dass wir die
Struktur, die Bedeutung und die Perspektiven der dualen
Ausbildung intensiv diskutieren. Es ist auch sicherlich
richtig, dass wir uns mit Blick auf die eine oder andere
Zahl in Erinnerung rufen, was noch alles zu machen ist.
Ich habe mir die Anträge der beiden Oppositionsfraktionen angeschaut und stimme Frau Wanka zu, dass darin
an der einen oder anderen Stelle durchaus Lesenswertes
zu finden ist.
({0})
Wenn wir aber wünschen, dass die jungen Menschen
in Deutschland nicht nur alle den Weg des Abiturs und
des Studiums gehen wollen, sondern sich auch für den
Weg der dualen Ausbildung entscheiden, dann müssen
wir vor allem über Qualität und Weiterentwicklung sprechen.
({1})
Nur wenn die jungen Menschen begreifen, dass beide
Bildungswege gleiche Chancen, gleiche Lebensperspektiven und gute Arbeitsbedingungen bieten, dann werden
sie sich in Zukunft anders entscheiden, als sie sich heute
entscheiden.
({2})
In Bezug auf die Qualität gibt es viele Untersuchungen. Ich habe eine herausgesucht, die sich mit der Frage
beschäftigt, wie es eigentlich in den Betrieben läuft. Es
wurde festgestellt, dass in mitbestimmten Betrieben, in
denen also das Betriebsverfassungsgesetz gilt und in denen es Betriebsräte gibt, die Ausbildung ein Stück weit
intensiver und qualitativ hochwertiger ist und dass die
Jugendlichen nach der Ausbildung öfter übernommen
werden und teilweise auch besser verdienen. Das ist der
Arbeit der Betriebsrätinnen und Betriebsräte zu verdanken; denn sie haben nach dem Betriebsverfassungsgesetz
den Auftrag, die Ausbildung mit zu kontrollieren, zu unterstützen und nach vorne zu bringen. Denjenigen, die
sich tagtäglich für die jungen Leute einsetzen, gehört unser Dank.
({3})
Wir werden darüber reden müssen, wie wir die Beruflichkeit bzw. die berufliche Bildung weiterentwickeln.
Was ist das Konzept der Beruflichkeit? Was sind moderne Berufe? Müssen wir nicht wieder Kernberufe ein
Stück weit stärker in den Mittelpunkt stellen? Die Diskussion darüber gibt es dort, wo sie hingehört, im Hauptausschuss des Bundesinstituts für Berufsbildung. Dort
werden die entsprechenden ordnungspolitischen Regelungen vorbereitet. Danach werden sie gemeinsam vom
Bundesministerium für Bildung und Forschung und vom
Wirtschaftsministerium verordnet. Der Weg führt wieder
in Richtung Berufsfamilie.
Die Zeit spricht dafür, dass wir die Ausbildungsordnung modernisieren. Entsprechende Bemühungen haben
wir in den letzten Jahren vorangetrieben. Die Perspektive
ist, weniger spezialisierte Einzelberufe und mehr Kernberufe zu haben. Damit steigen auch die Chancen für die
jungen Leute, sehr geehrte Damen und Herren.
({4})
Mir ist wichtig, noch einmal darauf hinzuweisen, dass
dieses vor allem im Konsens, in Übereinstimmung der
Sozialpartner passiert; denn die Akzeptanz der dualen
Ausbildung lebt doch davon, dass Menschen in Betrieben und Verwaltungen unseres Landes positiv dazu stehen. Wissen Sie eigentlich, wie viele Menschen sich tagWilli Brase
täglich, wöchentlich, monatlich und jährlich in diesem
Bereich ehrenamtlich engagieren? Die Deutsche Handwerks Zeitung hat für mein Bundesland Nordrhein-Westfalen den Wert dieses Engagements - nur bezogen auf
das Handwerk - berechnet. Das Ehrenamt ist Millionen
Euro wert. Man spricht davon, dass allein in NordrheinWestfalen die Arbeit der Prüfungsausschussmitglieder
und Arbeitsgruppenmitglieder, die Prüfungsordnungen
vorbereiten und diskutieren, 5 Millionen Euro wert ist.
Wenn man das auf das Bundesgebiet hochrechnet und
den Gegenwert der Arbeit des DIHK sowie der anderen
Kammern hinzurechnet, geht es um fast dreistellige Millionensummen. Ich sage an dieser Stelle den Ehrenamtlern in den Prüfungsausschüssen, im Bereich des DIHK,
in den Handwerkskammern und in den anderen Kammern ein ganz großes Dankeschön.
({5})
Wir werden überlegen müssen, wie wir in noch stärkerem Maße die Durchlässigkeit zwischen den beiden
großen Systemen hinbekommen. In der dualen Ausbildung wird im Arbeitsprozess gelernt. Das wird theoretisch durch die Berufskollegs ergänzt. Das heißt für uns:
Auf der einen Seite wollen wir den betrieblichen Teil
stärken; auf der anderen Seite müssen wir aber auch von
den Ländern fordern, dass die Situation der Berufskollegs, lieber Rainer Spiering, ein Stück weit verbessert
wird.
Ist es nicht richtig, auch zu fordern, dass sich die Ausbildung der Berufsschullehrer in unserem Lande wieder
stärker an wissenschaftlichen Kriterien orientiert? Der
Abbau von Lehrstühlen ist für die Qualitätsentwicklung
der dualen Ausbildung nicht gut. Die Universitäten müssen weiterhin beachten, dass jemand, der aus dem dualen
Ausbildungssystem zu ihnen kommt, eine andere Erfahrung des Lernens gemacht hat als jemand, der über den
rein schulischen Weg zur Hochschule kommt. Das hat
nicht nur etwas mit der Brückenfunktion, sondern auch
mit dem Selbstverständnis der Hochschulen zu tun. Dieses Selbstverständnis fordere ich ein.
Meine Damen und Herren, der Wissenschaftsrat hat
Empfehlungen formuliert und herausgegeben. Er stellt
fest, wie wichtig es ist, die jungen Leute in den Schulen
frühzeitig über Strukturen, Berufe, Verdienstmöglichkeiten, spätere Arbeitsbedingungen, Weiterqualifizierung
und Aufstiegschancen zu informieren. Wir haben dieses
aufgegriffen, Frau Pothmer, und schon sehr viel Konkretes gemacht, indem wir beispielsweise den entsprechenden Titel um 10 Millionen Euro erhöht haben. Das ist
genau richtig. Alle Diskussionen hier im Hause in den
letzten zehn Jahren hatten immer wieder die Frage zum
Gegenstand, wie wir der Berufsorientierung zu mehr Beachtung in den Schulen verhelfen können. Diese Koalition unternimmt hier etwas, meine sehr geehrten Damen
und Herren.
({6})
Ich möchte noch zwei Punkte ansprechen. Wenn es
um Ausbildung geht, geht es nicht nur um das duale
Ausbildungssystem. Es gibt sehr viele junge Leute, die
nach Landesrecht ausgebildet werden. Wir führen in unserer Gesellschaft eine Diskussion über die Verbesserung der Betreuung im Bereich der Pflege. Wir brauchen
hier eine stärkere Ausbildungsleistung. Wir brauchen die
dreijährige Pflegeausbildung. Wir wollen und müssen
sie ein Stück weit reformieren, da wir mehr junge Menschen für eine dreijährige Pflegeausbildung gewinnen
wollen. Diese Ausbildung muss für junge Menschen
kostenfrei sein. Ich möchte das eine oder andere Bundesland auffordern, an dieser Stelle aktiv zu werden. Es geht
nicht an, dass sozusagen noch Schulgeld bezahlt werden
muss; das gehört in das letzte Jahrhundert.
({7})
Wenn wir das System der dualen Ausbildung weiter
vorantreiben wollen - und das wollen wir -, dann sollten
wir auch begreifen, dass die duale Ausbildung ein Stück
weit die Innovationskraft der Unternehmen bzw. Betriebe stärkt. Die duale Ausbildung hat zuerst eine wirtschaftliche Komponente, einen betriebswirtschaftlichen
Nutzen. Es geht um die einzelbetriebliche Sicherung der
Fachkräfte. Es geht darum, immer wieder neues Wissen
zu erwerben und neue Erkenntnisse zu gewinnen. Sie ist
Teil der betrieblichen Personalplanung. Sie ist im Prinzip keine sozialpolitische Veranstaltung, sondern hat
eine betriebswirtschaftliche Ausrichtung.
Deshalb fordere ich die Unternehmen im eigenen Interesse auf, gemeinsam mit uns in vorausschauender
Politik mehr Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen. Wenn wir den Fachkräftenachwuchs, die Fachkräftesicherung auf den Weg bringen wollen, brauchen wir
- so sagt das Bundesinstitut für Berufsbildung - jährlich
600 000 neu eingetragene Ausbildungsverhältnisse. Hier
gibt es noch eine Menge Luft nach oben. Es muss noch
eine Menge gemacht werden. Deshalb werden wir die
Allianz für Aus- und Weiterbildung gut vorbereiten.
({8})
Wir werden eine ehrliche Betrachtung vornehmen, uns
reale Ziele setzen und sie konkret umsetzen - und dies
nach dem Motto „Weniger ankündigen, dafür aber stark
liefern“.
Ich danke für Ihr Zuhören.
({9})
Das Wort hat nun der Kollege Thomas Feist für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Es ist schön, dass wir über die Debatte zum
Berufsbildungsbericht hinaus zu grundsätzlichen Fragen
gekommen sind; denn diese grundsätzlichen Fragen
müssen wir klären. Auch mein Vorredner, der Kollege
Brase, hat es angesprochen: Wie können wir die Gleich3014
wertigkeit von beruflicher und akademischer Bildung
herstellen? Die Ministerin hat in ihrer Einführungsrede
gesagt: Wir müssen die Attraktivität beruflicher Bildung
stärken. - Da gebe ich ihr recht. Ich halte es allerdings
für den verkehrten Weg, zu sagen, dass wir eine Stärkung der Attraktivität der beruflichen Bildung erreichen,
indem wir die akademische Bildung schlechtreden.
({0})
Das sage ich als Heizungsmonteur und promovierter
Musikwissenschaftler aus ganz persönlichem Interesse;
beides ist etwas wert. Es ist ja nicht so, dass man durch
eine neue Qualifikation die bereits erworbene Qualifikation abgibt. Es wurde vorhin gefragt: Was passiert, wenn
die Heizung am Wochenende defekt ist? Ich kann mir da
zum Teil auch selber helfen.
({1})
- Zum Teil. Ich will die Wirtschaft vor Ort nicht außen
vor lassen.
Aber mir ist dies auf jeden Fall lieber, als in einer Telefonhotline von einem Psychologen betreut zu werden.
Deswegen müssen wir mehr für die berufliche Bildung
und deren Attraktivität tun. Der Antrag, den wir heute
eingebracht haben, weist dazu genau den richtigen Weg.
({2})
Wie schaffen wir das? Es gibt vier Themen, die wir
bearbeiten müssen: Das eine ist die Berufsorientierung,
und zwar für alle Schüler. Berufsorientierung heißt für
mich auch Studienorientierung. Frau Kollegin Pothmer,
Sie haben es vorhin angesprochen: 1,4 Millionen junge
Menschen sind ohne Abschluss. Sie haben vergessen, zu
erwähnen - neben der Tatsache, dass die Hälfte in Beschäftigung ist -, dass ein Großteil davon von den Hochschulen kommt, und zwar ohne Abschluss. Deswegen ist
es wichtig, dass wir an den Gymnasien eine Berufs- und
Studienorientierung durchführen und nicht einfach sagen: Studiere erst mal etwas, und dann schauen wir, was
kommt. - Das ist der richtige Weg; den werden wir beschreiten.
({3})
Das Zweite, das ich ansprechen möchte, ist das Übergangssystem. Ich kann in den allgemeinen Tenor, dass
das Übergangssystem schlecht ist, nicht einstimmen. Sie
sagen damit auch, dass die vielen engagierten Menschen,
die sich den Schwächsten der Gesellschaft widmen und
das in einer aufopferungsvollen Tätigkeit tun, diesen Job
umsonst machen. Das kann und will ich so nicht stehen
lassen.
({4})
Es gibt natürlich das Phänomen - Frau Hein, Sie haben es angesprochen -, dass Jugendliche acht bis neun
Jahre im Ausbildungs- und Übergangssystem verharren.
Ich will Ihnen einmal etwas sagen: Ich habe selber in
diesem Bereich als Ausbilder gearbeitet, das heißt, ich
spreche aus der Innensicht, und neben sehr guten Einrichtungen im Übergangssystem gibt es auch welche, die
daraus ein ganz gutes Geschäftsmodell gemacht haben
und Kundenbindung betreiben.
({5})
Deswegen positionieren wir uns in unserem Antrag dazu
und sagen: Wir müssen hier unterscheiden; wir müssen
das Übergangssystem so gestalten, dass von Anfang an
das Ziel einer vollwertigen dualen Ausbildung für jeden
verfolgt wird.
({6})
Wenn wir in dieser Legislaturperiode etwas für die
berufliche Bildung tun wollen, dann müssen wir uns
auch mit Themen beschäftigen, die letzten Endes etwas
mit Geld zu tun haben. Man muss auf jeden Fall einmal
darüber diskutieren, ob die Summen, die der Bund pro
Studienanfänger bereitstellt - egal ob er sein Studium
vollendet, egal wie lange das Studium dauert -, in einem
angemessenen Verhältnis zu dem stehen, was wir für
junge Berufsanfänger tun. Natürlich kommen die jungen
Berufsanfänger - das hat mein Vorredner, Kollege Brase,
schon gesagt - in erster Linie der Wirtschaft zugute; aber
die Ausbildungsleistung selbst ist Millionen, wenn nicht
gar Milliarden wert. Insofern gilt den Unternehmen, die
ausbilden, unser Dank.
({7})
Im Bereich der Gleichwertigkeit der Bildungsabschlüsse haben wir in der Bildungspolitik schon viel erreicht: Wir haben einen deutschen Qualifikationsrahmen,
und wir haben im Zusammenhang mit dem europäischen
Qualifikationsrahmen dafür gekämpft, dass hochwertige
Abschlüsse in Lehrberufen wie dem des Technikers oder
auch weiterführende Qualifikationen wie der Titel des
Meisters mit dem Bachelor gleichgesetzt wurden. Das ist
etwas, was wir stärker betonen müssen.
Daraus folgt für mich aber die Frage: Warum ist ein
Bachelorstudium generell kostenfrei, und welcher Systematik folgt es, dass ein Meister sein Studium selbst bezahlen muss? Ich verstehe das nicht, und ich denke, auch
hier sollten wir etwas ändern.
({8})
- Wollen Sie etwas fragen?
({9})
Bitte.
Sie haben die Gerechtigkeitslücke angesprochen, die
sich daraus ergibt, dass das Studium kostenfrei ist, während die Meister ihre Ausbildung selber bezahlen müssen. Jetzt frage ich Sie, in welche Richtung Sie die
Gerechtigkeitslücke schließen wollen: in Richtung der
Einführung von Kosten für das Studium oder in Richtung der Einführung von Kostenfreiheit für die Meisterausbildung?
({0})
Das ist eine sehr gute Frage, Frau Kollegin.
({0})
- Wow! Da werde ich ja richtig rot. - Ich möchte nicht in
die Richtung gehen, die meine Kollegin Hein von den
Linken vorhin in ihrer Rede vorgegeben hat. Sie können
es nachlesen: Frau Kollegin Hein hat sich indirekt für
Studiengebühren ausgesprochen; das fand ich schon sehr
bemerkenswert.
({1})
- Ja, Frau Sitte, da haben Sie nicht aufgepasst, da haben
Sie die Rede nicht kontrolliert. ({2})
Mir geht es darum, dass ein Meisterstudium aus meiner
Sicht kostenfrei sein muss; das ist mein Ansatz. Im Hinblick auf die Bildungsgerechtigkeit halte ich die Systematik, die momentan vorherrscht, für schief - ich erkläre
es noch einmal -: Das Bachelorstudium ist generell kostenfrei, das Meisterstudium nicht. Wenn ich versuchen
wollte, mit Ihnen auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen, dann würde ich nicht das sagen, was die OECD sagt,
nämlich dass wir für ein sozial gerechtes Studiensystem
nachgelagerte Studiengebühren brauchen - O-Ton Professor Schleicher erst vor zwei Tagen -, sondern würde
dafür plädieren, zu sagen: Ein Meisterstudium sollte
kostenfrei sein.
({3})
- Das sagen wir auch den Haushältern.
Herr Kollege, jetzt gibt es noch 15 Sekunden für das
Finale.
Recht vielen Dank, Herr Präsident. - In 15 Sekunden
werde ich die großen Anstrengungen, die wir in unserem
Antrag beschrieben haben, nicht weiter ausführen können. Aber eines ist mir noch ganz wichtig: Wir müssen
etwas für die Berufsschullehrer tun, die in den Ländern
leider oft das fünfte Rad am Wagen sind. Das heißt auch,
dass wir die akademische Ebene der Ausbildung von Berufslehrern stärken müssen. Dafür werden wir uns starkmachen.
Recht vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Ernst Dieter
Rossmann für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Kollege Feist hat an die sehr kluge Eingangsbemerkung
unserer Ministerin über die Gleichwertigkeit von beruflicher und akademischer Bildung angeknüpft. Wenn wir
diese Linie halten, dann wächst das auch zusammen.
({0})
Ich möchte eine weitere Bemerkung der Ministerin
aufgreifen - um auf Frau Pothmer einzugehen. Die
Ministerin war so ehrlich, zu sagen: Es ist nicht alles
Gold, was glänzt.
({1})
Ich finde, man muss trotz aller Empörung akzeptieren,
dass eine differenzierte, durchaus selbstkritische Betrachtung stattgefunden hat, wenn es darum geht: Wo
gibt es noch Lücken und Bedarfe? In welchen Bereichen
muss es noch Entwicklung geben?
({2})
Ein Aspekt ist zu ergänzen: Uns liegt nicht nur ein exzellenter Berufsbildungsbericht vor, sondern implizit
auch ein Weiterbildungsbericht. Ich möchte die Verbindung von beruflicher Erstausbildung und Weiterbildung
in die Debatte einbringen. Herr Kollege Rupprecht hat
heute sehr offen und auch gegen den Mainstream angesprochen, was ihn umtreibt und wo er sich Sorgen
macht. Ich finde dies gut, wo heute einmal mehr reihenweise Abgeordnete der Koalition gesprochen haben,
weil so eine offene Debatte zustande kommt. Aber, Herr
Kollege Rupprecht, besteht eine Stärkung des dualen
Systems nicht auch darin, das Weiterbildungssystem zu
verbessern?
({3})
Es ist wichtig, dass die jungen Menschen wahrnehmen,
dass sie nach der beruflichen Erstausbildung durch eine
ihnen alle Perspektiven eröffnende Weiterbildung bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Genauso
wichtig wie die Aufwertung der beruflichen Erstausbil3016
dung ist zwar eine bessere Bezahlung, zum Beispiel
- Herr Rupprecht, Sie haben darauf hingewiesen - die
eines erfahrenen Zeichners im Vergleich zu der eines
jungen Architekten, und die Verbesserung der Qualität
der Arbeit, die Kollege Brase angesprochen hat. Aber
auch die berufliche Weiterbildung muss in den Bereich
Ausbildung integriert werden.
Ich will Ihnen hierfür drei Gründe nennen:
Erstens. Damit stärken wir die Qualität unseres dualen Bildungswesens.
Zweitens. Weiterbildung ist im Übrigen ein Dach, unter das manche kriechen können, die sich sonst schämen
würden, weil sie keine abgeschlossene Schulausbildung
oder keine abgeschlossene Berufsausbildung haben,
({4})
indem Sie später ihre zweite oder dritte Chance nutzen.
Denn sie tun sich leichter, wenn sie sagen können: „Ich
bilde mich weiter“, statt zu sagen: „Ich hole jetzt meine
Schulzeit nach“, und das mit 35.
Drittens. Wir brauchen Weiterbildung, um die Fachkräfteoffensive zu unterlegen; denn es geht nicht nur um
Menschen, die eine gute Erstausbildung haben. Vielmehr
müssen sich alle, die eine berufliche Tätigkeit ausüben,
weiter qualifizieren - im eigenen Interesse, aber auch im
ökonomischen Interesse. Deshalb muss die Weiterbildung gestärkt werden.
Herr Kollege Schummer, wir haben uns bei den
Koalitionsverhandlungen mit Augenzwinkern darüber
verständigen können, dass aus der Allianz für die Ausbildung eine Allianz für Aus- und Weiterbildung werden
muss. In Bezug auf die berufliche Ausbildung ist das im
Koalitionsvertrag klar hinterlegt, in Bezug auf die
Weiterbildung muss hier jedoch noch nachgearbeitet
werden.
Ich will versuchen, vier Linien aufzuzeigen, wie dies
aussehen könnte:
Erstens. Jeder Allianz für Weiterbildung muss eine
Grundbildungsinitiative hinzugefügt werden. Sosehr wir
uns freuen, dass die Gewerkschaften bereit sind, der Allianz für Aus- und Weiterbildung beizutreten, so sehr
sollten wir ein gemeinsames Interesse daran haben, dass
die Wirtschaft in die Alpha-Initiative dieser Bundesregierung einsteigt.
({5})
Die Wirtschaft kann nicht außen vor bleiben angesichts
der Tatsache, dass 60 Prozent der Menschen mit Leseund Schreibschwächen es trotzdem schaffen, in einem
Berufsverhältnis zu stehen. Das muss doch eine Herausforderung für die IHK bis hin zu den Unternehmensverbänden sein, bei der gemeinschaftlichen Aktion „Grundbildung für alle sichern“ mitzumachen.
({6})
Zweitens. Frau Özoğuz sprach darüber, welche Potenziale wir haben, wenn eine zweite oder dritte Chance besteht, sich im Berufsleben zu qualifizieren. Das sind
wirklich große Zahlen. Wir nennen immer die Zahl der
1,4 bis 1,5 Millionen Menschen unter 30 Jahren, die
keine abgeschlossene Berufsausbildung haben. Bezogen
auf die Gesamtberufsbiografie, also in der Perspektive
bis 67, haben 5 bis 5,5 Millionen Menschen keine abgeschlossene Berufsausbildung.
({7})
Diese Menschen müssen sich auch im Alter von 40 oder
50 im Berufsleben bewähren, und sie wollen sich auch
bewähren. Deshalb muss es Aufgabe der Allianz sein,
dauerhaft und konstant die Weiterbildungsfähigkeit, die
Weiterbildungsaufgeschlossenheit zu fördern.
({8})
Drittens. Frau Strothmann, ich finde es sehr gut, dass
Sie die Erste waren, die das Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz, eine legendäre Erweiterung unseres Leistungsbereiches in der Bildungsförderung, genannt haben.
Herr Kollege Feist, ich kann nur sagen: Ja, wir stimmen
Ihnen vollkommen zu. Wenn wir es schaffen, zusätzliche
Mittel im Haushalt zu mobilisieren, sodass der Betrag für
diejenigen gesenkt werden könnte, die sonst 10 000 Euro
und mehr für eine Aufstiegsfortbildung bezahlen müssen, dann wäre das ein echtes Pfund.
({9})
Es wäre auch gut, wenn wir es schaffen, das Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz parallel zum BAföG
in Richtung Weiterbildungsförderungsgesetz zu entwickeln. Verschiedenste Regierungen haben in diesem
Bereich Maßnahmen ergriffen. Wir haben eine Weiterbildungsprämie eingeführt, und wir haben ein Aufstiegsstipendium. Da ist Musik drin. Das kann durch diese Allianz befördert werden.
Viertens. Wir brauchen generell nicht nur ein Recht
auf drei Jahre Erstausbildung, sondern - so formuliere
ich das immer gerne - auch ein Recht auf drei Jahre Weiterbildung. Zwei mal drei - darauf müssen die Arbeitnehmer einen Anspruch haben. So können wir berufliche
Erstausbildung und Weiterbildung miteinander verknüpfen. Wenn Sie angesichts der Forderung nach einer dreijährigen Weiterbildung erschrecken, sage ich: Umgerechnet auf eine Berufsbiografie sind das zwei Wochen
Lernen, zwei Wochen Weiterbildung pro Jahr. Ist das
wirklich zu viel? Oder ist das nicht eher zu wenig?
Herr Kollege.
Ich glaube, das ist das Mindeste, was wir brauchen.
Noch eine Schlussbemerkung, weil wir auch in die
Zukunft denken müssen: Frau Hein, es geht nicht um die
Forderung nach einem Bundesbildungsgesetz. Es geht
um diese Überlegung: Im letzten Jahrhundert haben wir
über die Schaffung des Sozialgesetzbuches große gesellDr. Ernst Dieter Rossmann
schaftliche Fortschritte gemacht. Wir müssen uns fragen,
ob dieses Jahrhundert so etwas wie ein Bildungsgesetzbuch braucht. BAföG, Meister-BAföG, Fernunterrichtswesen, all das wird zusammenkommen.
Das können wir im Einzelnen jetzt nicht mehr erörtern.
Herr Präsident, darauf werden sich weitere Reden in
der Zukunft beziehen.
Danke.
({0})
Ich erteile das Wort der Kollegin Uda Heller für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Zuerst die gute Nachricht: Es gibt
noch Schüler, die sich um ihre berufliche Zukunft Gedanken machen und darüber, welcher Beruf ihren Interessen und Neigungen entspricht. - Diese Überschrift
konnte ich vorige Woche in der Zeitung meiner Heimatstadt lesen. Sie stammt also nicht von mir.
Ich denke, diese Jugendlichen hat es immer gegeben;
nur waren ihre Chancen auf einen Ausbildungsplatz geringer, da die Bewerberzahl das Angebot deutlich überstieg. Doch der Ausbildungsmarkt hat sich verändert.
Die Waage zwischen Ausbildungsangeboten und Ausbildungsplatzsuchenden ist fast ausgeglichen. Demgegenüber stehen die vielfältigen Probleme, die heute alle
schon angesprochen wurden: Jugendliche in Übergangsmaßnahmen, zu hohe Abbrecherquoten usw. Ich denke,
wir müssen mit einem vernetzten Vorgehen gemeinsam
unserem Ziel näherkommen, dem Ziel, Jugendliche in
duale Ausbildung zu bringen und ihnen Perspektiven für
ihre Zukunft aufzuzeigen. Hier wäre eine Verständigung
in der Kultusministerkonferenz über Maßnahmen, die
sich in den Schulgesetzgebungen der Länder widerspiegeln müssen, sehr hilfreich.
Unter dem Titel „Weiterentwicklung des ‚Übergangssystems Schule/Ausbildung/Beruf‘“ hat der Landtag von
Sachsen-Anhalt im März 2014 einen Antrag verabschiedet. Einer der Aufträge ist die Erfassung von bundeseinheitlichen und landesspezifischen Projekten, Maßnahmen und Programmen, die im Land Anwendung finden.
Ich denke, dieser Antrag ist dringend notwendig, da
viele Programme unabgestimmt parallel laufen. Wir
müssen die Nutzhaftigkeit dieser Projekte beurteilen und
daraus unsere Schlüsse ziehen.
Die Angebote an den Schnittstellen zwischen Schule
und Berufsausbildung sind sehr vielfältig und werden
von den verschiedensten Ministerien koordiniert. Ein
wichtiger Schlüssel zum Erfolg ist hierbei eine flächendeckende, stärker systematisierte und mit mehr Verbindlichkeit versehene Berufsorientierung. Diese beginnt in
den Schulen. Dafür müssen die Lehrerinnen und Lehrer
- das wurde vorhin schon gesagt - durch Fort- und Weiterbildungen befähigt werden, und es muss ihnen die für
diese spezielle Aufgabe nötige Zeit eingeräumt werden.
Ich denke, es ist auch ein Problem, wenn der Auftrag
nicht konkret formuliert wird; denn dann kann ich ihn
nicht so ausführen, wie ich das gerne möchte und wie es
vielleicht notwendig wäre.
Dem praxisbezogenen Lernen und der Zusammenarbeit von Schule und Wirtschaft müssen ein größerer Stellenwert eingeräumt werden;
({0})
denn zielgerichtete und flächendeckende Praktika führen
zur Senkung der viel zu hohen Abbrecherquoten in der
dualen, aber auch in der akademischen Ausbildung. Daher muss nach meiner Überzeugung die Berufsorientierung auch an Gymnasien ein fester Bestandteil werden.
Der Landkreis, aus dem ich komme, hat seit 1990 die
höchste Arbeitslosigkeit in Sachsen-Anhalt. Es gab und
gibt immer noch Handlungsbedarf, sowohl in der beruflichen Ausbildung als auch in der Fachkräftesicherung.
Daher war die Bewerbung um das Bundesprogramm
„Perspektive Berufsabschluss“ folgerichtig. Ich durfte
drei Jahre lang diese Maßnahme leiten und kann mir aufgrund meiner praktischen Erfahrungen ein Urteil darüber
bilden, ob sie sinnvoll war oder nicht.
Der wichtige erste Schritt war, Transparenz bei Angebot und Nachfrage herzustellen. Aber auch die Zusammenarbeit und Kooperation beispielsweise mit der
Agentur für Arbeit, dem Jobcenter, den Schulen und berufsbildenden Schulen, den Kammern und der Wirtschaft mussten verbessert und koordiniert werden. Wir
erzielten erste Erfolge durch die Abstimmung der Entscheidungsträger im Bildungsbereich, die Steigerung der
Transparenz regionaler Hilfsangebote und die Verbesserung der Eltern- und Lehrerinformation. Es zeigte sich,
dass eine Bildungskooperation zielführend ist. So entschloss sich mein Landkreis, dieses Projekt zu verstetigen, und gründete ein sogenanntes Bildungsbüro als Anlaufstelle.
Ich will damit sagen, dass Berufsorientierungsprogramme des Bundes nach Abschluss durchaus nicht in
der Schublade verschwinden, Frau Ministerin, sondern
Wegbereiter für eine sinnvolle Verstetigung sein können.
Eine landesweite Ausdehnung des regionalen Übergangsmanagements auf alle Landkreise ist vom Kultusministerium des Landes Sachsen-Anhalt vorgesehen.
Die Jugendberufsagenturen könnten ähnlich gestaltet
werden. Ich denke, der Name ist dabei nicht das Wichtigste, sondern die Ausgestaltung und vor allem die kooperative Zusammenarbeit in diesem Bereich.
({1})
Es ist natürlich auch wichtig, Schwachstellen in diesem Projekt zu identifizieren und aufzuzeigen. Man
kann Dinge nur verändern - auch das wurde schon gesagt -, wenn man die Ursachen kennt. Es ist wichtig,
Statistiken aussagekräftig zu gestalten. Wenn ich nicht
zeitnah weiß, wie viele Schüler die Schule verlassen und
mit welchem Abschluss, kann ich ihre späteren Wege
nicht nachvollziehen. So fallen immer wieder viele Jugendliche durch das Netz bzw. in die sogenannten Warteschleifen. Als versorgt wird zum Beispiel auch jemand
benannt, der in eine Ersatzmaßnahme eingegliedert wird.
Die Schüler, die sich bei keiner Agentur als „zu vermitteln“ melden, fallen gänzlich durch das Raster. Auch
diese gibt es. Sie fangen zum Beispiel bei einem Onkel
eine Lehre an oder machen eben gar nichts.
Diese Statistiken müssen ausgewertet und die hohen
Lösungsquoten von Ausbildungsverträgen analysiert
werden. Dadurch können wir die Probleme am Ausbildungsmarkt erkennen, aber auch, ob unsere jungen Leute
überhaupt eine Ausbildung wollen. Dieser Aspekt ist
meiner Meinung nach heute zu kurz gekommen. Ich
habe in einer Berufsschule gearbeitet. Bei einem Schüler
mit 300 Fehlstunden wussten wir zum Beispiel nicht,
wie wir diesen Schüler zu einem Abschluss bringen. Ich
denke, auch dieses Thema sollten wir nicht außen vor
lassen. Wir müssen überlegen, wie wir die Motivation
auf beiden Seiten stärken.
({2})
In allen vorliegenden Anträgen finden sich gute Ansätze. Lassen Sie uns die Probleme gemeinsam angehen.
({3})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Sven Volmering für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Pep Guardiola hat beim FC Barcelona mit dem
Konzept des ständigen Ballbesitzes eine Spielidee entwickelt, die zu vielen Triumphen führte. Mit der Zeit haben
Mitbewerber natürlich darauf reagiert. Sie haben Teile
dieses Systems in ihre eigene Spielweise integriert und
neue Konzepte entgegengesetzt. Da man sich in Barcelona zu lange auf den alten Erfolgen ausruhte, hat sich
die Mannschaft nicht weiterentwickelt und diese Saison
zum ersten Mal seit Jahren ohne großen Titel abgeschlossen.
Die heutige Debatte zeigt, dass wir in Deutschland
vor einer vergleichbaren Herausforderung stehen. Unser
duales Ausbildungssystem ist Spitzenklasse. Unser
Champions-League-Erfolg ist die europaweit niedrigste
Jugendarbeitslosigkeit. Aber im Gegensatz zum FC Barcelona ruhen sich CDU/CSU und SPD nicht auf den Erfolgen aus. Vielmehr machen wir uns mit unserem Antrag auf den Weg, die im Berufsbildungsbericht 2014
angesprochenen Probleme und Herausforderungen anzugehen.
({0})
Wir setzen dabei nicht, wie die Linke, auf Spielkonzepte aus den 70er-Jahren. Ihre Forderung nach einer
Ausbildungsplatzumlage ist kontraproduktiv. Sie erreicht das Gegenteil von dem, was Sie erreichen wollen.
Die Umlage schafft keine Ausbildungsplätze. Sie zerstört Zukunftsperspektiven. Deshalb lehnen CDU und
CSU diesen Dinosaurier politischer Forderungen ab.
({1})
Meine Damen und Herren, ich bin optimistisch, dass
wir unsere erfolgreiche Politik fortsetzen werden. Wir
haben nämlich, um in der Fußballersprache zu bleiben,
ein enorm gutes, nachwachsendes Spielerpotenzial. Jugendstudien zeigen, dass die jungen Menschen in
Deutschland keine Null-Bock-Mentalität haben, sondern
leistungsbereit sind und im Beruf erfolgreich sein wollen. Die Aufstiegschancen werden von der großen Mehrheit der Jugendlichen in Deutschland optimistisch gesehen.
Wenn man allerdings fragt, was wir im Bereich der
Berufsbildung besser machen können, sind sich Wirtschaft und Jugend einig. Der DIHK hat 15 000 Unternehmen befragt, was eigentlich die größten Ausbildungshemmnisse sind. Die Hälfte hat dabei angegeben,
dass viele Schulabgänger unklare Berufsvorstellungen
haben. Wenn sich drei Viertel der Gymnasiasten und
50 Prozent der Real- und Hauptschüler weiterhin unzureichend auf die Berufswahl vorbereitet fühlen, dann stehen wir natürlich in der Pflicht. Wir müssen jungen
Menschen eine Orientierungshilfe im Hinblick auf ihre
Potenziale, Fähigkeiten, Schwächen und Stärken geben,
damit ihnen die Berufswahl leichterfällt.
({2})
Entscheidend ist, dass wir dies für alle Jugendlichen
flächendeckend, zielgruppengerecht, zum richtigen Zeitpunkt, nämlich bereits während der Schulzeit, und an allen Schulformen tun. Meine Vorredner haben bereits darauf hingewiesen; ich möchte daher auf einen anderen
Aspekt eingehen.
Wir diskutieren viel über Chancen und Risiken der digitalen Revolution. Einerseits loben wir die enormen Potenziale der Industrie 4.0. Andererseits verfallen wir, in
Teilen auch berechtigt, vor dem Hintergrund von NSA
und Cyberkriminalität in einen unglaublichen Pessimismus. Sigmar Gabriel hat letzten Freitag in der FAZ einen
lesenswerten Beitrag dazu verfasst.
({3})
Was er jedoch völlig ausblendet, ist die Bedeutung der
digitalen Bildung.
Zunächst: Im Bereich der digitalen Wirtschaft liegt
ein enormes Wachstumspotenzial, welches dauerhaft
neue Ausbildungs- und Berufsperspektiven schafft.
({4})
Der Branchenverband BITKOM hat letzte Woche mitgeteilt, dass die Zahl der registrierten Ausbildungsverträge
um knapp 3 Prozent gesteigert werden konnte. Es gibt
39 000 offene Stellen in dieser Branche. BITKOM weist
darauf hin, dass eine Berufsausbildung in diesem Bereich beste Chancen bietet, einen sicheren Arbeitsplatz
zu bekommen, und zwar nicht nur im Rahmen der dualen Ausbildung, sondern das gilt durchaus auch für
Leute, die ein Hochschulstudium abgebrochen haben.
({5})
Auch in vielen anderen Berufsfeldern sind das Internet und die damit verbundenen Programme und digitalen
Endgeräte selbstverständliche Begleiter geworden. An
dieser Stelle kommt die Qualitätsoffensive Lehrerbildung ins Spiel. Wollen wir die gesellschaftliche und
wirtschaftliche Realität mit ihren Chancen und Möglichkeiten in der Schule abbilden, müssen wir bei der Lehreraus- und -fortbildung an allen Schulen eine stärkere
Verankerung von Kompetenzen im Bereich der digitalen
Mediennutzung schaffen. Die Medienkompetenz junger
Menschen muss allumfassend gestärkt werden. Denn auf
dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt wird es immer
wichtiger - dies gilt für alle Branchen -, in diesem Bereich gut geschulte junge Menschen zu beschäftigen.
Die Grünen haben gerade kritisiert, wir hätten keine
innovativen Ideen. Das ist nicht der Fall. So ist zum Beispiel das im Koalitionsvertrag angekündigte „Modellprojekt Freiwilliges Soziales Jahr Digital“ ebenso eine
innovative Idee wie die geplante Einführung von Profilschulen IT/Digital mit dem Schwerpunkt Informatik.
Das sind nur zwei von vielen Möglichkeiten, vor dem
Hintergrund des Fachkräftemangels das Interesse an attraktiven Jobs zu wecken, für die man nicht unbedingt
ein Studium braucht.
({6})
- Frau Esken, vielen Dank.
Das Förderprogramm „Digitale Medien in der beruflichen Aus- und Weiterbildung“ des Bundesbildungsministeriums ist ebenfalls ein richtiger Schritt. Über
160 initiierte Einzel- und Verbundvorhaben zeigen, wie
wichtig die Thematik für Unternehmen und Berufsbildungsinstitutionen ist.
Meine Damen und Herren, uns eint das Ziel, dass wir
allen jungen Menschen gute Zukunftsperspektiven bieten wollen. Über die Konzepte, wie wir dieses Ziel erreichen können, sind wir uns teilweise uneinig. Aber wie
im Fußball hat auch in der Politik der Wettbewerb - in
diesem Fall der Wettbewerb der Ideen - seinen Reiz. In
diesem Sinne freue ich mich sehr auf die intensive Fortführung der Debatte im Ausschuss.
Vielen herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({7})
Lieber Kollege Volmering, ich gratuliere Ihnen herzlich zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag.
({0})
Ich bin Ihnen besonders verbunden, weil Sie freiwillig im Rahmen der vorgesehenen Redezeit zu Ende gekommen sind, obwohl die Uhr immer noch irrtümlich
scheinbar über zwei Minuten anzeigte.
({1})
Ich führe das auf den verzweifelten Versuch von Anhän-
gern des FC Bayern München zurück, Ihnen noch zu-
sätzliche Redezeit für die Erwähnung dieses bedeuten-
den Vereins einzuräumen, nachdem ein anderer,
spanischer Verein ausdrücklich gewürdigt wurde.
Wir sind damit am Ende dieses Tagesordnungspunk-
tes.
Ich weise Sie darauf hin, dass es interfraktionell den
Vorschlag gibt, die Vorlagen auf den Drucksachen 18/1180,
18/1451, 18/1454 und 18/1456 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie
damit einverstanden? - Das sieht ganz so aus. Dann kön-
nen wir so verfahren.
Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 4 a
bis 4 d:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Katharina Dröge, Bärbel Höhn, Britta
Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für ein starkes Primat der Politik - Für fairen Handel ohne Demokratie-Outsourcing
Drucksache 18/1457
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({2})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Katharina Dröge, Katja Keul, Bärbel Höhn, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Für fairen Handel ohne Klageprivilegien für
Konzerne
Drucksache 18/1458
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thomas
Nord, Klaus Ernst, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Die Verhandlungen zum EU-USA-Freihandelsabkommen TTIP stoppen
Drucksache 18/1093
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Präsident Dr. Norbert Lammert
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Ernst, Thomas Nord, Susanna Karawanskij, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Vertragstext zum Freihandelsabkommen der
EU mit Kanada sofort vorlegen
Drucksache 18/1455
Auch hierzu soll es nach den Vereinbarungen der
Fraktionen eine 96-minütige Aussprache geben. - Das
ist offenkundig unstreitig; also können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Anton Hofreiter für die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! In den letzten Wochen und Monaten hat die
öffentliche Debatte über das sogenannte Freihandelsabkommen, das Abkommen zwischen der Europäischen
Union und den Vereinigten Staaten von Amerika, stark
zugenommen. Das ist auch richtig so; denn diese wichtigen Entscheidungen dürfen nicht hinter dem Rücken der
Bürgerinnen und Bürger getroffen werden.
({0})
Aber die Debatte wird massiv erschwert; denn die Verhandlungen finden alles andere als transparent statt. Dies
beklagen plötzlich viele: Martin Schulz, Wirtschaftsminister Gabriel, auch der Kollege Ferber von der CSU.
Über dieses Ausmaß an Heuchelei bin ich mehr als verblüfft; denn Union und SPD haben mit ihren Mehrheiten
dafür gesorgt, dass ein größeres Maß an Transparenz
verhindert wird.
({1})
Die Bürgerinnen und Bürger fürchten, dass diese
Heimlichtuerei einen Zweck erfüllt, und mit diesen Befürchtungen liegen sie genau richtig; denn wer den Inhalt
des Verhandlungsmandates kennt, der sieht, dass es nicht
den Interessen der Menschen, nicht dem Verbraucherschutz
und dem Umweltschutz dient, sondern ausschließlich den
kurzfristigen Profitinteressen einiger weniger Großkonzerne.
({2})
Dabei beunruhigt mich weniger das vielzitierte Chlorhühnchen. Guter Verbraucherschutz in der EU, schlechter Verbraucherschutz in den USA - das ist doch etwas
zu schlicht. Hochproblematisch stattdessen ist das sogenannte Investitionsschutzabkommen.
({3})
Wir haben bereits eine Reihe solcher Abkommen und
haben Unmengen schlechter Erfahrungen damit gemacht. Lassen Sie mich nur einige Beispiele nennen:
Philip Morris verklagt Australien und Uruguay auf Schadensersatz - nur weil sie Warnhinweise auf Zigarettenschachteln drucken. Der Ölkonzern Lone Pine verklagt
Kanada auf Schadensersatz, weil die Provinz Quebec die
Hochrisikotechnologie Fracking verbieten will. Und
Vattenfall verklagt die Bundesrepublik Deutschland auf
3,5 Milliarden Euro Schadensersatz, nur weil wir aus der
Hochrisikotechnologie Atomkraft aussteigen wollen. Der Bundestag darf einem Abkommen, das solche Klagemöglichkeiten erweitert und vertieft, auf keinen Fall
zustimmen!
({4})
Investitionsschutzabkommen unterlaufen den Rechtsstaat; denn sie ersetzen öffentliche Gerichte, insbesondere die Verwaltungsgerichtsbarkeit, durch eine Hinterzimmerjustiz. Es ist doch absurd: Mag irgendjemand von der
CDU vielleicht behaupten, dass Deutschland kein Rechtsstaat ist, sodass wir das benötigen, oder dass die USA kein
Rechtsstaat sind? Wollen Sie vielleicht, dass demokratisch
beschlossene Gesetze durch Schattengerichte und Konzernjustiz unterlaufen werden können? Will irgendjemand, dass
uns Lone Pine, Philip Morris oder Vattenfall die Politik diktieren? Wollen Sie das etwa, Kollegen von der SPD und der
CDU/CSU? Die Bürgerinnen und Bürger wollen das sicher
nicht, und wir wollen das auch nicht.
({5})
Deshalb noch einmal: Der Bundestag darf einem Abkommen, das diese Klagemöglichkeiten erweitert und
vertieft, auf keinen Fall zustimmen.
({6})
Martin Schulz und Wirtschaftsminister Gabriel waren
im Bündnis mit Frau Merkel noch vor wenigen Wochen
die Cheflobbyisten für TTIP. Jetzt stehen wir aber kurz
vor der Europawahl, und vor einer Europawahl passiert
immer das Gleiche:
({7})
Plötzlich will es keiner mehr gewesen sein. Plötzlich
liegt die Verantwortung nicht mehr bei Deutschland,
nicht mehr bei der deutschen Regierung und auch nicht
mehr bei den deutschen Abgeordneten, sondern sie diffundiert irgendwie unnachvollziehbar nach Brüssel.
({8})
Dabei war es doch die Regierung Merkel, die dieses Verhandlungsmandat im Europäischen Rat durchgesetzt hat,
({9})
und dabei waren es doch auch die sozialdemokratischen
Europaabgeordneten, die jede Gelegenheit haben verstreichen lassen, die Kritik im Europäischen Parlament
wirksam werden zu lassen.
({10})
Jetzt, kurz vor der Europawahl, sehen wir ein besonders billiges Wahlkampfmanöver von Herrn Gabriel: Er
richtet einen sogenannten Beirat ein. Einen solchen Beirat gibt es auf europäischer Ebene auch schon. Die
NGOs sagen, es gebe keine Informationen, keinen Einfluss, nichts. Das ist genau das gleiche Muster wie immer: Billige Wahlkampfmanöver vor der Wahl, und nach
der Wahl ist Herr Gabriel der noch bessere Genosse aller
Bosse, wie er es bereits beim Erneuerbare-Energien-Gesetz bewiesen hat.
({11})
Selbst die Wirtschaft erwartet von Ihrem Abkommen
nichts. 85 Prozent des Mittelstandes, also der kleineren
und mittleren Unternehmen, erwarten von dem Abkommen nichts. Circa 800 Millionen Menschen leben in den
USA und der Europäischen Union. In diesen Wirtschaftsräumen wird fast die Hälfte der globalen Wirtschaftsleistung erwirtschaftet. Internationale Abkommen
zwischen diesen Wirtschaftsräumen könnten globale
Standards setzen, zum Beispiel im Bereich der Finanzmarktregulierung.
Was wir aber nicht brauchen, ist dieses Abkommen,
das Umweltstandards und Verbraucherschutzstandards
senkt und eine Konzernjustiz einführt. Dieses Abkommen lehnen wir ab.
({12})
Wir brauchen stattdessen internationale Klimaschutzabkommen, internationale Umweltstandards und verbindliche internationale Sozialstandards. Völlig anders,
als Frau Merkel bekannt gibt, die eine Sozialunion und
selbst Sozialstandards auf europäischer Ebene ablehnt,
({13})
brauchen wir nicht nur auf europäischer Ebene Sozialstandards, sondern endlich auch auf internationaler
Ebene.
({14})
Das sind Abkommen, für die es sich lohnt, zu streiten.
Das sind Abkommen, die Europa populär machen würden. Das sind Abkommen, die die Arbeit im Deutschen
Bundestag populär machen würden. Machen wir uns
deshalb endlich an diese sinnvolle Arbeit!
Vielen Dank.
({15})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, als nächster Redner
hat der Kollege Joachim Pfeiffer das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn man dem Kollegen Hofreiter zugehört hat und die
Anträge liest, die heute vorgelegt wurden,
({0})
dann muss man leider feststellen: Zur Sache wird überhaupt nichts gesagt.
({1})
Vielmehr wird hier ein Wahlkampfgetöse veranstaltet.
Es wird auf Emotionen abgehoben. Es werden Ängste
geschürt, die wirklich abwegig sind.
({2})
Es wird ein Popanz aufgebaut, was Vertraulichkeit und
angebliche Geheimhaltung anbelangt. Das ist geradezu
abwegig.
({3})
Die EU-Kommission verhandelt für Europa. Wir stehen am Beginn eines Verhandlungsprozesses. Wir sind
gerade in der fünften Verhandlungsrunde. Sie aber glauben schon zu wissen, was dabei herauskommt.
({4})
Dann frage ich mich: Wo waren Sie denn, als die Chefunterhändler sowohl der Europäischen Union als auch
der USA mehrfach in den Ausschüssen des Deutschen
Bundestages und in den Arbeitsgruppen zugegen waren,
in denen alle Themen angesprochen wurden, um die es
geht und die verhandelt wurden? Wo ist da die Geheimhaltung? Das müssen Sie mir schon einmal erklären.
({5})
Jegliche Verhandlungsposition der EU ist ins Internet
eingestellt und nachlesbar, vorher und nachher. Wo ist da
die Geheimhaltung? Das müssen Sie mir schon einmal
erklären.
({6})
Herr Kollege Ernst möchte Ihnen eine Frage stellen.
Lassen Sie sie zu?
({0})
Ja.
Herr Pfeiffer, Sie tun ja so, als sei das, wovon wir reden, völlig aus der Luft gegriffen. Ist Ihnen denn bekannt, dass im Rahmen von CETA, also dem fast identischen Abkommen, das mit Kanada geschlossen werden
soll, eigentlich letzte Woche über die Texte final hätte
verhandelt werden sollen? Dieses Abkommen ist also im
Prinzip fertig. Ist Ihnen auch bekannt, dass die Paraphierung offensichtlich auf Druck des deutschen Wirtschaftsministeriums erst einmal nicht durchgeführt wurde und
es deshalb noch kein fertiges CETA-Abkommen gibt?
Sie tun so, als würde das Abkommen erst irgendwann
kommen und sei noch lang nicht fertig. Wenn das
CETA-Abkommen geschlossen wird und dies offensichtlich die Blaupause für TTIP ist, dann können Sie
hier doch bitte schön nicht so tun, als gebe es hier gar
nichts und wir wären alle neben der Spur.
({0})
Lieber Kollege Ernst, ich kann auch anhand Ihres
Beitrags nicht erkennen, wo hier Geheimniskrämerei
vorherrschen sollte.
({0})
Ganz im Gegenteil: Es werden Freihandelsabkommen
verhandelt. Die EU hat ein Abkommen mit Südkorea
ausgehandelt, das ist in Kraft getreten. Es werden Freihandelsabkommen mit Kanada, mit Japan, mit den
ASEAN-Staaten und anderen mehr verhandelt.
Was ist das Ergebnis bisheriger Freihandelsabkommen? Freihandelsabkommen sind Wohlstandsmehrer.
({1})
Jedes Freihandelsabkommen, das wir bisher abgeschlossen haben, hat für alle Beteiligten zu mehr Wohlstand
geführt.
({2})
Ihre Genossen in Kuba und Nordkorea sind keine Teilnehmer der Globalisierung.
({3})
Mit diesen Ländern haben wir kein Freihandelsabkommen geschlossen. Deshalb geht es den Menschen dort
schlechter als uns in Europa und den anderen beteiligten
Staaten.
({4})
Herr Kollege Pfeiffer, die Frau Kollegin Höhn möchte
Ihnen eine Frage stellen.
Neuer Versuch mit Frau Höhn, beim Kollegen Ernst
hat es nicht geklappt. Bitte schön.
Herr Pfeiffer, Sie haben eben gesagt, zum TTIP-Abkommen liege noch gar nichts vor. Was aber vorliegt,
sind die Texte zu dem CETA-Abkommen, insbesondere
auch die Texte zu den privaten Schiedsverfahren, zu den
Geheimgerichten, wie sie der SPD-Spitzenkandidat
Schulz immer nennt. Genau diese Texte sind aber jetzt
im Rahmen der TTIP-Konsultationen in die Verhandlungen eingebracht worden. Von daher ist in der Tat das
CETA-Abkommen die Blaupause für das TTIP-Abkommen.
({0})
Ist Ihnen bekannt, dass in einem solchen Schiedsgerichtsverfahren zum Beispiel Vattenfall aufgrund von anderen, schon früher abgeschlossenen Verträgen die Bundesregierung auf 3,7 Milliarden Euro verklagt hat und
dass ein anderes Unternehmen, das in Libyen 5 Millionen Dollar im Tourismusbereich investiert hat und vor
das Schiedsgericht gezogen ist, nicht nur diese 5 Millionen Dollar ersetzt bekommen hat, sondern 30 Millionen
Dollar zugesprochen bekam, weil sein Ruf ruiniert war,
sowie 900 Millionen Dollar für entgangene Gewinne?
Halten Sie solche Verfahren, die absolut unfair sind und
nur der Investitionssicherheit für Unternehmen und nicht
auch allgemeinen Interessen dienen, für gerechtfertigt,
und unterstützen Sie diese Verfahren?
({1})
Genau über diese Fragen wird jetzt verhandelt. Sie
sprechen den Investitionsschutz an. Wer ist denn Erfinder des Investitionsschutzes, Frau Höhn?
({0})
Deutschland ist Erfinder des Investitionsschutzes, und
Deutschland hat über 130 Investitionsschutzabkommen
mit anderen Ländern abgeschlossen.
Was ist das Ziel von Investitionsschutzabkommen?
Wenn Investitionen nicht geschützt sind, sind erfolgreiches Wirtschaften und dementsprechend Investitionen
nicht möglich. Deshalb ist das Ziel, dass Investitionen in
anderen Ländern entsprechend geschützt werden. Das
gibt es schon seit 50 Jahren. Es wird sich jetzt im weiteren Verfahren mit der EU und den USA zeigen, ob Investitionsschutzklauseln oder Schiedsgerichtshöfe notwendig sind oder ob wir zu anderen Lösungen kommen
können. Ich kann per se nichts Negatives an solchen Verfahren erkennen, ganz im Gegenteil: Dann können internationale Schiedsgerichte streitige Fragen entsprechend
entscheiden.
({1})
Woher nehmen Sie das Recht, zu sagen: „Wir wissen
alles besser“ oder „Das amerikanische Rechtssystem ist
nicht dafür geeignet“? Solche Fragen werden doch jetzt
verhandelt. Wir sind jetzt in der fünften Verhandlungsrunde, und es ist einmal darüber gesprochen worden.
Wir, die EU und die USA, haben ein ambitioniertes Ziel,
nämlich bis Ende nächsten Jahres zum Ziel zu kommen.
Wir sind am Anfang der Verhandlungen, aber Sie wollen
schon wissen, wie sie ausgehen. Ich kann nicht erkennen, wo das Problem liegt.
({2})
Lassen Sie uns jetzt aber zur Sache kommen, nämlich
zu der Frage, um was es denn wirklich geht.
({3})
Kollege Hofreiter hat zumindest einen richtigen Satz gesagt: Wir schaffen den weltgrößten Binnenmarkt mit
800 Millionen Menschen, der 50 Prozent des Weltbruttoinlandsproduktes und ein Drittel des Welthandels ausmacht. - Das ist richtig. Deshalb haben gerade wir Deutsche ein originäres Interesse an dem Abkommen. Wir
haben einen Exportanteil von über 50 Prozent. Insbesondere unsere mittelständischen Unternehmen sind deshalb
auf Investitionsschutz in anderen Ländern und Planungssicherheit angewiesen. Dieses Abkommen schafft Wachstum in Europa und in den USA.
({4})
Ein solches Abkommen führt zu mehr Wachstum in
einer Größenordnung von pro Jahr 120 Milliarden Euro
in Europa und 95 Milliarden Euro in den USA.
({5})
Es geht um 400 000 zusätzliche Arbeitsplätze, die wir
gerade in den Krisenländern Europas dringend benötigen
und die dort Wohlstand und Beschäftigung schaffen.
({6})
Insofern ist ein solches Freihandelsabkommen,
({7})
wie gesagt, ein Wohlstandsmehrer. Gerade wir in
Deutschland profitieren doch von solchen Freihandelsabkommen.
({8})
Lassen Sie uns anhand von ein paar Beispielen darstellen, um was es geht. Es geht zum Beispiel um
Zollabbau. Jetzt sagen Sie sicherlich: Dabei geht es nicht
um viel. Die durchschnittlichen Industriezölle betragen
nur 4 Prozent. Aber bei einem täglichen Handelsvolumen von über 2 Milliarden Euro geht es allein im Bereich der Automobilindustrie um über 1 Milliarde USDollar pro Jahr an Zöllen, die damit eingespart werden
können. Das bedeutet beispielsweise bei einem Mercedes-Pkw, dass dadurch ein Wettbewerbsnachteil im hohen vierstelligen Bereich ausgeglichen wird. Das heißt,
es beflügelt unsere Exporte und die Wettbewerbsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland.
({9})
Nehmen Sie das Beispiel Standards. Es geht nicht darum, die Standards zu senken, was wieder behauptet
worden ist.
({10})
Es geht vielmehr darum, dass gleichwertige Standards,
zum Beispiel bei Zulassungsverfahren, gegenseitig anerkannt werden.
Wir haben als Union gestern ein Gespräch mit dem
neuen VDMA-Präsidenten geführt, der selber mittelständischer Unternehmer ist. Er hat an einem konkreten
Beispiel dargelegt, dass seine Maschinen einen Kostenaufschlag von 18 Prozent erfahren, weil er dieselben
Maschinen sowohl in Europa als auch in den USA zertifizieren lassen muss. Das stellt überhaupt keinen Mehrwert, sondern nur ein außertarifäres Handelshemmnis
dar und erhöht die Kosten. Solche Kosten sollen in Zukunft durch das Freihandelsabkommen mit den USA gesenkt werden. Die gegenseitige Anerkennung von Standards eröffnet insbesondere dem deutschen Mittelstand
riesige Chancen und verschafft ihm riesige Wettbewerbsvorteile in den USA.
Nehmen Sie das öffentliche Beschaffungswesen, die
Buy-American-Klausel in den USA oder den Tankerauftrag, der zuerst Airbus erteilt wurde, dann aber rückgängig gemacht wurde, als Beispiele. Sie machen deutlich,
dass die Beschaffungsprozesse bislang weder transparent noch nachvollziehbar und aus unserer Sicht auch
nicht gerecht ablaufen. So etwas soll in Zukunft im gegenseitigen Interesse geregelt werden. Im Ergebnis werden beide Seiten Vorteile haben, wenn niemand mehr bei
den Beschaffungsprozessen des jeweils anderen benachteiligt wird. Auch dies ist eine Chance, den Mehrwert zu
steigern.
({11})
- Das sind die Fakten, über die wir reden. Es geht nicht
um eine angebliche Absenkung von Standards.
({12})
Wo werden denn Standards abgesenkt? Herr Ernst, Sie
sind doch angeblich Gewerkschafter. Fragen Sie doch
einmal Ihre Kollegen aus Skandinavien. Diese sind an
der Spitze der Bewegung pro TTIP,
({13})
weil sie die Chance sehen, dass unsere Standards weltweit verankert werden. Die Gewerkschaften in Skandinavien sind alle für dieses Freihandelsabkommen. Gehen Sie bei diesen einmal in die Lehre, Herr Ernst! Dann
können wir darüber sprechen, ob es Sinn macht oder
nicht.
({14})
Herr Pfeiffer, der Kollege Dehm wünscht, eine Zwischenfrage zu stellen.
({0})
In Ordnung.
Herr Kollege, alles, was Sie jetzt aufgeführt haben,
wurde zum Beispiel in Bezug auf Südafrika gelöst, ohne
dass Freihandelsabkommen abgeschlossen wurden. Vieles lässt sich vereinheitlichen und vereinfachen, zum
Beispiel Zertifizierungsverfahren oder Doppelbesteuerungsabkommen, alles ohne ein Freihandelsabkommen
abzuschließen, das die zivilisatorischen und sozialen
Standards systematisch senkt und die Tarife und Standards reduziert, also die Menschen um das bringt, was
sie errungen haben.
({0})
Dies alles darf nicht Gegenstand eines Freihandelsabkommens sein. Ich bitte Sie einfach, Birnen nicht mit
Äpfeln zu vergleichen.
({1})
Sie müssen mir schon einmal erklären, wo Standards
durch Freihandelsabkommen gesenkt wurden; das würde
mich interessieren.
({0})
Worum geht es denn? Ich habe vorhin auf die Bedeutung
und das Ausmaß dieses Freihandelsabkommens hingewiesen: 50 Prozent des Weltbruttoinlandsprodukts und
800 Millionen Menschen. Was ist denn die Alternative?
Ich habe gerade gesagt, mit wem wir noch über Freihandelsabkommen verhandeln. Auch die USA verhandeln
über weitere Freihandelsabkommen, zum Beispiel TPP,
Trans-Pacific Partnership. Die entscheidende Frage lautet, ob es uns zusammen mit den USA gelingt, unsere
Standards im Arbeitnehmerschutz, im Umweltschutz, im
Datenschutz und im Verbraucherschutz gegenseitig anzuerkennen und damit die Chance zu eröffnen, dass sie
weltweit zum Standard werden, oder ob andere Staaten
aus Asien wie China zusammen mit den USA die Standards setzen. Das ist die Frage, vor der wir stehen. Es
geht darum, ob wir in der Welt mitgestalten oder nicht.
({1})
Wir werden in der Welt nicht mitgestalten, wenn wir uns,
wie Sie fordern, verabschieden und die Verhandlungen
über TTIP beenden. Das ist an Absurdität nicht zu überbieten.
({2})
Frau Künast, Sie haben das Chlorhühnchen als Thema
immer ganz oben auf der Agenda stehen, während Herr
Hofreiter mittlerweile die Fahne etwas eingerollt hat. Ich
will erläutern, worum es bei dem Chlorhühnchen eigentlich geht. Auch da wird ein Popanz aufgebaut und so getan, als stehe der Weltuntergang beim Verbraucherschutz
unmittelbar bevor. Um was geht es? Die Hühnchen werden in den USA nicht mit Chlor oder was weiß ich gefüttert, sondern sie werden in Chlor getaucht, um sie zu
desinfizieren.
({3})
Wir in Europa haben andere Verfahren. Der amerikanische Verbraucher wundert sich zum Teil schon sehr, was
in Europa so in die Pfanne kommt, ohne desinfiziert zu
werden.
({4})
Die haben eine ganz andere Sicht der Dinge. Im Moment
gibt es ein Verfahren bei der WTO, in dem es darum
geht, ob die Chlorhühnchen nach Europa importiert werden können oder nicht. Alle Gutachten der Europäischen
Union kommen zu dem eindeutigen Ergebnis, dass die
gechlorten Hühnchen nicht giftig sind und es keinerlei
Grund gibt, sie nicht nach Europa zu importieren.
({5})
Was wird das Ergebnis des WTO-Verfahrens sein? Das
Ergebnis wird sein, dass ungekennzeichnet und unbegrenzt Chlorhühnchen nach Europa kommen.
({6})
Über TTIP haben wir umgekehrt die Chance - das
muss doch in Ihrem Interesse sein -, zu einer Kennzeichnungspflicht zu kommen oder über Kontingente zu sprechen. Darüber wird jetzt verhandelt. Unterstützen Sie
uns doch in den Verhandlungen, damit wir zu einer
Kennzeichnungspflicht kommen.
Ich fühle mich in der Angelegenheit sehr fatal an die
Diskussion erinnert, die wir vor 25 Jahren über das Reinheitsgebot des deutschen Bieres geführt haben. Als der
europäische Binnenmarkt verabredet wurde, war man in
Deutschland auch der Meinung, der Untergang des
Abendlandes und des Reinheitsgebotes des deutschen
Bieres stünden nicht nur in Bayern, sondern in ganz
Deutschland unmittelbar bevor. Was ist das Ergebnis der
Entwicklung? Heute trinken wir in Deutschland immer
noch zu über 95 Prozent Bier, das nach dem Reinheitsgebot gebraut wurde. Das ist ein anerkannter Qualitätsstandard. Der Konsument kann selbst entscheiden, welches
Bier er trinkt. Entgegen anderslautender Befürchtungen
ist auch noch keiner beim Trinken von Heineken-Bier in
der Hotelbar geschädigt worden.
({7})
- Zumindest nicht, wenn er das Bier in angemessenen
Mengen getrunken hat. Am Reinheitsgebot wird es mit
Sicherheit nicht liegen. - Genauso wenig wird das bei
den Chlorhühnchen der Fall sein. Deshalb geht es darum, entsprechende Standards zu setzen, wobei am
Markt jeder Verbraucher entscheiden kann, was er konsumiert.
({8})
- Dass strafrechtliche Aspekte auch im Freihandelsabkommen behandelt werden, glaube ich nicht, Herr
Hofreiter; insofern müssen Sie keine Befürchtungen haben, dass in dieser Angelegenheit irgendetwas anbrennt.
Ich möchte zusammenfassen. Es gibt viele offene Fragen, die in dem Verhandlungsprozess zu klären sind.
Deshalb müssen wir verhandeln und das Abkommen zu
einer Win-win-Situation für alle Beteiligten machen, insbesondere für uns in Deutschland, für den deutschen
Mittelstand, für die deutsche Wirtschaft und für den
deutschen Verbraucher. Wenn wir uns dem verweigern
und nicht verhandeln, dann werden, wie gesagt, die
Standards von anderen in der Welt gesetzt. Das Ergebnis
wird sein, dass wir weder in Deutschland noch in Europa
in diesen Fragen weltweit eine Rolle spielen.
Ich frage Sie: Wollen Sie das? Ich glaube nicht, dass
Sie es wollen. Deshalb lassen Sie uns die Gelegenheit,
die wir auch als nationales Parlament haben, nutzen,
uns in den Verhandlungsprozess einzubringen, uns zu
informieren und unsere Positionen deutlich zu machen,
damit diese in den Verhandlungen berücksichtigt und
umgesetzt werden. Dann haben wir die Chance, mit
dem weltgrößten Binnenmarkt Wachstum zu schaffen,
den Menschen zu nützen und durch Freihandel und Investitionsschutz als Wohlstandsmehrer in der Zukunft
Zeichen zu setzen.
Vielen Dank.
({9})
Als nächster Redner hat der Kollege Ernst das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Pfeiffer, ich habe wahrgenommen - das
steht heute auch in der Frankfurter Rundschau -: Herr
De Gucht hat den Regierungen Europas empfohlen, in
dieser Debatte zurückhaltend zu sein. Auch ich kann Ihnen das nur empfehlen; sonst wird es nie etwas mit TTIP.
Wenn Sie dazu reden, dann erweisen Sie sich eher einen
Bärendienst.
({0})
Worum geht es in dieser Debatte? Es geht um eine
Vereinheitlichung der Handelsräume von Europa, den
USA und Kanada. Es soll zu mehr Beschäftigung kommen. Ich kann jeden nur bitten, sich die entsprechenden
Prognosen genau anzusehen.
({1})
Die Berechnungsgrundlage dafür, dass es zu 400 000 Beschäftigten mehr kommt, ist, dass den USA und Kanada
der EU beitreten - was mit der Realität ja wohl nichts zu
tun hat. Nichttarifäre Handelshemmnisse sollen abgebaut, und Regeln, die den Handel behindern, sollen beseitigt werden. Herr Gabriel hat bemerkenswerterweise
davon gesprochen, es sei doch ganz schlimm, dass die
Autos in Amerika rote Blinker hätten, die Autos in
Deutschland dagegen gelbe. Bisher haben wir trotzdem
Autos in Amerika verkauft und die Amerikaner bei uns.
An der Farbe der Blinker scheitert es also nicht, ob man
im jeweils anderen Land Autos verkauft. Übrigens:
Wenn die Blinker schwarz wären, wäre es auch nicht so
gut.
Ich kann nur sagen: Keiner ist dagegen, dass es da zu
Angleichungen kommt. Es ist auch keiner dagegen, dass
es einheitliche Stecker oder Ähnliches gibt. Aber können
Sie mir die Frage beantworten: Warum sind die Verhandlungen über dieses Abkommen geheim, wenn es wirklich nur darum geht?
({2})
Zu dem, was ich eben angesprochen habe, sagt jeder:
Das ist doch okay; das machen wir einfach. - Dafür können wir übrigens auch durch Verhandlungen sorgen, die
mit einem Investorenschutz überhaupt nichts zu tun haben.
Meine Damen und Herren, worum geht es wirklich?
Warum erfährt die Öffentlichkeit nicht, was das Verhandlungsmandat eigentlich bedeutet? Warum ist es so,
dass, wenn man der Frankfurter Rundschau von heute
glaubt, nicht einmal die Bundesregierung ausreichend
informiert ist, was in CETA, also dem Freihandelsab3026
kommen zwischen EU und Kanada, steht, einem Abkommen, das die Blaupause für das Freihandelsabkommen mit den USA wird? Warum wird nicht einmal die
Bundesregierung über den Verhandlungsstand informiert?
Die Frankfurter Rundschau beruft sich dabei auf geheime Dokumente des Wirtschaftsministeriums. Darin
steht, so die FR: „Aus Sicht der Bundesregierung ist eine
Übermittlung der endgültigen Textfassung“ - das bezieht sich auf CETA - an die EU-Mitgliedstaaten „überfällig“.
Wenn die Bundesregierung diesen Text hätte, dann
bräuchte sie nicht um seine Übermittlung zu bitten.
({3})
Also, erzählen Sie doch nichts von Geheimhaltung, Herr
Pfeiffer. Wollen Sie uns hier veräppeln? Lesen Sie doch
wenigstens einmal die Presse! Dann wissen Sie, was in
diesem Land los ist.
({4})
Das alles riecht langsam nach Skandal.
Die Europäische Union und die EU-Kommission sind
kein Selbstzweck. Selbst die Frage, ob wir in der Bundesrepublik Deutschland überhaupt mitreden dürfen, ob
das, was diesem Parlament vorgelegt wird, hier entschieden wird oder nicht, ob die Bundesregierung mitzureden
hat oder nicht, ist offen. Die Europäische Kommission
geht zum Europäischen Gerichtshof, um klären zu lassen, ob die einzelnen Staaten überhaupt mitreden können, wenn das Abkommen fertig ist. Wo sind wir denn
kurz vor der Europawahl? Die Europäische Union ist
kein Selbstzweck, sondern muss den Bürgern dienen und
darf nicht der Lobby einiger Großunternehmen erliegen!
({5})
In einer Veranstaltung mit Herrn Froman, Herrn De
Gucht und unserem Wirtschaftsminister, die vor kurzem
stattgefunden hat, hat eine Vertreterin einer NGO,
Maritta Strasser, darauf hingewiesen, dass sie bereits
470 000 Unterschriften gegen TTIP gesammelt habe.
({6})
- Ja. Toll. - Daraufhin hat Herr De Gucht mit einer Arroganz, die ich auch von Ihnen gerade wahrnehme, gefragt, was das soll. Er sagte, er verhandle für 500 Millionen Europäer. Recht so! Der Unterschied ist allerdings:
Von den 500 Millionen Europäern hat er wahrscheinlich
keinen einzigen gefragt. Die 470 000 Menschen, die gegen TTIP unterschrieben haben, wurden zuvor allerdings
sehr wohl gefragt - und sie haben recht!
({7})
Worum geht es in diesem Abkommen wirklich? Nicht
um Chlorhühnchen. Das zu behaupten, ist doch ein Ablenkungsmanöver.
({8})
Es geht darum, dass eine eigene Schiedsgerichtsbarkeit
gegründet werden soll. Durch diese Schiedsgerichtsbarkeit außerhalb aller rechtsstaatlichen Prinzipien sollen
Unternehmen letztendlich die Möglichkeit haben, Staaten zu verklagen, ohne vor Gericht gehen zu müssen,
wenn sie der Auffassung sind, dass nationale Gesetze die
Rentabilität ihrer Investitionen behindern. Das ist der
Kern von TTIP.
Heribert Prantl, nicht unbedingt verdächtigt, Mitglied
meiner Partei zu sein, schreibt von einem internationalen
Supergrundrecht, das geschaffen werden soll. Käme es
dazu, würde das bedeuten - ich zitiere Prantl -:
Die ungestörte Investitionsausübung ist gewährleistet. Kein Großinvestor darf gegen seine Interessen
zum Umweltschutz, Kündigungsschutz, Datenschutz, Verbraucherschutz und zu sozialer Verantwortung gezwungen werden.
Darum geht es. Dass Sie da mitmachen, dass Sie sich
selbst an der Aushöhlung rechtsstaatlicher Prinzipien beteiligen wollen, ist eigentlich unvorstellbar.
({9})
Prantl kommt zu dem Schluss:
Geld schlägt die demokratische Verfassung; das ist
der Mechanismus dieses Investitionsschutzes.
Meine Damen und Herren, über die Klagen vor Privatgerichten werden letztendlich die Staaten zur Kasse
gebeten, und darum geht es.
Es wird ja gesagt: Es soll ein Recht geben, das dafür
sorgen kann, dass man als Investor nicht ungerecht behandelt wird. - Warum braucht man dann ein Geheimgericht? Warum geht man dann nicht zu einem ordentlichen Gericht? Oder vertrauen Sie der deutschen
Gerichtsbarkeit nicht mehr?
({10})
Oder vertraut der Amerikaner der deutschen Gerichtsbarkeit nicht?
({11})
Oder vertrauen Sie den Amerikanern nicht?
({12})
Auf Nichtvertrauen kann man keine Abkommen schließen. Deshalb brauchen wir diesen Unsinn nicht, meine
Damen und Herren.
({13})
- Der Unterschied, mein Herr, ist der, dass es, als diese
Schiedsverfahren eingeführt worden sind, um Staaten
ging, in denen Investitionen tatsächlich unsicher waren.
Es ging um den Schutz der Investoren vor Enteignung.
Jetzt geht es darum, dass den Unternehmen, die das wollen, die Gewinne gesichert werden, egal wie sie investiert haben. Darum geht es. Schauen Sie sich die Verfahren an, die schon laufen!
({14})
Noch ein paar Bemerkungen zu den gleichen Standards. Herr Pfeiffer, wo leben Sie denn? Sie sagen: „Alles soll so bleiben, wie es ist; alles wird gegenseitig anerkannt“, deshalb frage ich Sie: Ist Ihnen bekannt, dass
zum Beispiel in deutschen Kosmetika über 1 000 Stoffe
verboten sind, während es in den Vereinigten Staaten nur
acht sind? Das haben übrigens die Amerikaner gesagt.
Die hoffen, dass wir unsere Regelungen behalten, weil
sie Angst haben, dass sie sonst ihre schlechten Regelungen nicht mehr wegbekommen. Das ist der Punkt!
Sie sagen: „Es wird nichts schlechter“, deshalb frage
ich Sie: Sind Sie denn der Auffassung, dass Amerika
zum Beispiel die Standards der Internationalen Arbeitsorganisation in Genf, der ILO, als gleiche Grundlage für
alle anerkennt? Ich habe im Wirtschaftsausschuss den
amerikanischen Vertreter in den Verhandlungen gefragt,
ob denn die USA bereit sind, die Grundstandards für Arbeit anzuerkennen. Darauf hat er geantwortet, das könne
er sich überhaupt nicht vorstellen. Auf welcher Grundlage wollen wir denn vereinheitlichen? Das kann im Ergebnis, wenn man eins und eins zusammenzählt, nur
schlechter werden.
Deshalb sage ich Ihnen: Die Geheimhaltung hat einen
Sinn: Die Bürgerinnen und Bürger Europas sollen nicht
merken, was Sie da eigentlich treiben. Deshalb ist eine
Kernforderung: Veröffentlichung aller Papiere. Das richtet sich auch an den deutschen Minister, meine Damen
und Herren.
({15})
- Es geht nicht um das Internet. Ich möchte die offizielle
Position zu dem, was da verhandelt wurde,
({16})
nicht irgendwelche Internetdinge.
({17})
Ich sage Ihnen zum Schluss: So wie Sie das anlegen,
mit der Geheimhalterei, die Sie verteidigen - vom
Chlorhühnchen wollte ich gar nicht reden -, werden Sie
dafür sorgen, dass die Bürgerinnen und Bürger Europas
aufstehen und sich den Rechtsstaat von Ihnen nicht nehmen lassen.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({18})
Als nächster Redner hat der Kollege Wolfgang
Tiefensee von der SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Um das Freihandelsabkommen EU/USA, TTIP, ist ein Streit entbrannt, nicht nur hier im Plenum.
({0})
Es gibt zwei Lager, zwei extreme Lager. Das eine Lager
sagt - das scheint auch aus Ihren Anträgen heraus -: Wir
lehnen Verhandlungen ab bzw. wir verlangen, dass sie
abgebrochen werden.
({1})
Das zweite Lager sagt: Wir wollen TTIP. Wir wollen ein
Freihandelsabkommen um jeden Preis. Was darin steht,
ist egal. - Beide Positionen sind extrem.
Die SPD spricht sich für ein kritisches, aber substanzielles Verhandeln
({2})
mit den USA aus - auf der Ebene der EU.
({3})
Die SPD setzt sich also dafür ein, dass wir den Versuch
unternehmen, diese beiden Wirtschaftsräume mit einem
Freihandelsabkommen noch stärker zu verschränken.
Die Verhandlungen finden unter denkbar schwierigen
Ausgangsbedingungen statt. Wir haben auf der einen
Seite die Erfahrung mit ACTA. Wir haben auf der anderen Seite die Erfahrung mit der NSA und den Unwillen
der USA, ein No-Spy-Abkommen abzuschließen. Wir
haben in der Öffentlichkeit eine Diskussion, in der gesagt wird, dass die Verhandlungen mangelnde Transparenz
hätten. Eine Riesenbewegung - Campact, 450 000 Unterschriften - stellt sich gegen Verhandlungen auf. Ich begrüße es, dass sich die Öffentlichkeit mit diesem Thema
beschäftigt und dass wir heute im Parlament die Gelegenheit haben, öffentlich darüber zu diskutieren.
({4})
Auch wenn die Ausgangsbedingungen schlecht sind,
lohnt es sich meiner Ansicht nach, in die Verhandlungen
zu gehen und Sondierungsgespräche zu führen. Das
lohnt sich aber nur dann, wenn ganz klar ist, was wir
nicht wollen, und wenn klar ist, was wir wollen.
({5})
Ich möchte nun darlegen, was wir nicht wollen:
Erstens. Wir wollen nicht, dass die Verhandlungen im
Hinterzimmer stattfinden. Erst die Sozialdemokraten
und andere haben auf europäischer Ebene dafür gesorgt,
dass die Verhandlungskommission in der EU überhaupt
Dokumente transparent gemacht hat.
({6})
Wie kann es sein, dass man, nachdem man die Erfahrungen mit ACTA gemacht hat, dies nicht von vornherein
tut? Das hat die Öffentlichkeit verunsichert.
Zweitens. Es wird mit der SPD kein Abkommen geben, wenn nicht ein sogenanntes gemischtes Verfahren
zur Anwendung kommt. Für die Damen und Herren auf
der Tribüne: Das besagt genau das, was Herr Ernst gefordert hat, nämlich, dass der Deutsche Bundestag und
alle anderen nationalen Parlamente an den Abstimmungen beteiligt werden. Ist dies nicht der Fall, wird es
keine Zustimmung der Sozialdemokraten geben.
({7})
Drittens. Wir ziehen ganz klare rote Linien, was die
Standards angeht. Das betrifft unter anderem den Gesundheitsbereich und die Lebensmittel, beispielsweise
das Chlorhühnchen.
({8})
Wir werden im Rahmen von TTIP keinen Standard in
der EU oder in Deutschland verringern.
({9})
Herr Ernst, ich glaube, Sie waren dabei, als der Verhandlungsführer der EU, Herr Bercero, bei uns war. Wir
haben damals die Frage nach den ILO-Arbeitsnormen,
den internationalen Standards, gestellt. Wir wissen, dass
die USA bisher erst zwei von zwölf Kapiteln ratifiziert
haben. Da wurde gesagt: Wir können es nicht zur Vorbedingung machen, dass die ILO-Normen ratifiziert werden. Die SPD wird es aber zur Bedingung machen, dass
ein Kapitel im Rahmen der TTIP-Verhandlungen in den
Vertrag einfließt, das zur Anerkennung der ILO-Arbeitsnormen in den USA führt.
({10})
Herr Tiefensee, lassen Sie eine Frage von Herrn
Liebich zu?
Bitte.
Vielen Dank, Herr Tiefensee, dass Sie die Frage zulassen. - Wie bewerten Sie denn den Vorschlag des SPDVorsitzenden Sigmar Gabriel, dass das Freihandelsabkommen nur unterzeichnet werden darf, wenn der USGeheimdienst NSA seine Spionage auf deutschem Boden beendet?
Vielen Dank für die Frage. Das ist genau der Punkt.
Es gelingt offensichtlich nicht. Es ist anscheinend selbst
zwischen befreundeten Partnern nicht möglich, ein dringend notwendiges No-Spy-Abkommen abzuschließen.
Es dauert noch wesentlich länger, als wir glauben.
Die TTIP-Verhandlungen für die Aufnahme eines entsprechenden Kapitels nutzen oder in Parallelverhandlungen die Unterzeichnung eines No-Spy-ähnlichen Abkommens erreichen zu wollen, das dem Vorschlag von
Sigmar Gabriel gerecht wird, ist aller Ehren wert. Diese
Verhandlungen müssen geführt werden. Wir haben die
Riesenchance, das zu tun.
({0})
Noch einmal: Die ILO-Arbeitsnormen müssen sowohl in Europa als auch in den USA Standard sein.
Es gibt noch eine zweite Nachfrage, und zwar vom
Kollegen Ebner.
Das habe ich gesehen. Bitte schön.
Danke, Frau Präsidentin. - Herr Tiefensee, Sie sagten,
mit der SPD werden im Rahmen der TTIP-Verhandlungen keine Standards abgesenkt. Ich möchte Sie fragen:
Wie bewerten Sie denn die Tatsache, dass bereits jetzt im
Vorfeld des Abkommens die geltenden Standards bzw.
beabsichtigten Regulationen der EU im Bereich der Umwelt und der Gesundheit reihenweise abgesenkt werden?
Ich nenne da nur die Milchsäurebehandlung von
Schlachtkörpern bei Rindern, die bislang heiß umstritten
war und nun erlaubt wurde. Ich nenne den Wegfall der
Kennzeichnungspflicht für gentechnisch veränderten
Honig. Ich nenne auch das In-der-Schublade-Verschwinden einer EU-Richtlinie zum Vorgehen gegen Endokrin,
also gegen hormonell hochwirksame Pestizide, die dringend notwendig gewesen wäre. Auch nenne ich den derzeitigen Entwurf der EU-Ökoverordnung, aus dem mir
nichts, dir nichts jeder Grenzwert für gentechnisch veränderte Organismen herausgestrichen wurde. Das alles
geschah in vorauseilendem Gehorsam. Wenn wir schon
vorher die Standards absenken, haben Sie am Ende
recht, wenn Sie sagen: Bei TTIP senken wir nichts ab.
Wie bewerten Sie das?
({0})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Was für eine absurde
Sichtweise!
({0})
Die EU verhandelt auf unterschiedlichsten Feldern
über Richtlinien, Verordnungen und Gesetze. Sie wollen
jetzt mit Ihrer Frage suggerieren, dass während dieser
Sondierungsgespräche - das sind übrigens keine
Verhandlungen - all die Gesetze, Verordnungen und Verlautbarungen der EU etwas mit diesen Verhandlungen es ist wichtig, dass die Öffentlichkeit weiß, dass wir frühestens Ende 2015, Anfang 2016 in die Endkurve kommen werden - zu tun haben, und deshalb müssten wir sie
ablehnen. Was für ein Unsinn! Kümmern Sie sich gemeinsam mit uns darum, dass in der EU die Standards
gleich bleiben oder erhöht werden und dass es auf allen
Feldern - ob Gesundheitsschutz, Arbeitsschutz oder sozialer Bereich - Verbesserungen gibt. Das ist unsere
Aufgabe - und nicht, eine unsinnige Verknüpfung mit
laufenden Sondierungsgesprächen herzustellen.
({1})
Jetzt noch eine rote Linie.
Herr Tiefensee, Entschuldigung, es gibt noch zwei
Wünsche nach einer Zwischenfrage.
Ich habe Verständnis dafür.
Frau Hänsel und Herr Ernst möchten eine Zwischenfrage stellen. - Ich habe eine Bitte an die Kolleginnen
und Kollegen. Wir haben jetzt schon eine Tagesordnung
bis 0.30 Uhr. Ich bitte Sie, das ein wenig im Auge zu
behalten. Die Debatte, die wir führen, ist - keine Frage wichtig und auch notwendig, trotzdem bitte ich Sie, die
Tagesordnung im Auge zu behalten. - Frau Hänsel.
Danke schön, Frau Präsidentin. - Ich muss Ihnen
diese Nachfrage stellen, Herr Tiefensee, weil Sie selbst
nämlich in dem Gespräch mit Herrn Bercero, auf das Sie
sich beziehen, gesagt haben, es gäbe kein Junktim
zwischen TTIP-Verhandlungen und einem No-SpyAbkommen. Da frage ich mich doch: Wie kommen Sie
denn jetzt zu einer anderen Erkenntnis? Stehen Sie
eigentlich - auch mit Blick auf die Diskussion im
Wahlkampf - so unter Druck, dass Sie nun plötzlich mit
anderen Aussagen hier an die Öffentlichkeit gehen, was
TTIP und die Frage des No-Spy-Abkommens betrifft?
Zweitens möchte ich Sie etwas in Bezug auf die ILOKonventionen fragen. Da haben wir auch schon Erfahrungen. Wir haben so viele Erfahrungen mit Freihandelsabkommen: Im Rahmen des NAFTA-Abkommens zwischen Mexiko, den USA und Kanada wurde genau das
- nämlich Einhaltung der ILO-Konventionen bzw. aller
internationalen Arbeitsstandards - vereinbart. In einem
Nebenabkommen wurde aber festgehalten, dass man den
jeweiligen Rechtszustand des einzelnen Staates anerkennt. Damit waren die ILO-Normen, die großartig bestätigt wurden, plötzlich unterlaufen. Was war die
Folge? Für US-Konzerne und auch für kanadische Konzerne, die sich in den USA niedergelassen haben, war es
möglich, sämtliche ILO-Standards in Kanada - was
Arbeitsbedingungen, Arbeitsschutz usw. angeht - zu
zerschlagen. Weil wir schon zahlreiche Erfahrungen mit
Freihandelsabkommen haben, finde ich, dass es mehr als
blauäugig ist, hier solche Dinge zu erzählen. Es ist eine
Täuschung der Bevölkerung.
({0})
Frau Hänsel, ich bin enttäuscht darüber, dass Sie diese
Bühne nutzen, mich in Bezug auf die Befragung Herrn
Berceros falsch zu zitieren. Das ist nicht in Ordnung!
({0})
Wir müssen aufpassen, dass wir auch unter Abgeordneten fair bleiben. - Das weise ich ganz entschieden
zurück. Ich habe definitiv gesagt: Es gibt kein Junktim:
No-Spy-Abkommen Voraussetzung für TTIP. Im
gleichen Atemzug habe ich gesagt: Die SPD wird aber
keinem Abkommen zustimmen, welches nicht ein
Datenschutzkapitel beinhaltet, das unter anderem den
Vorschlag von Sigmar Gabriel und anderen aufgreift. Sie
verkürzen das hier und unterstellen mir sogar, ich hätte
meine Meinung geändert. Sie wissen, dass die Gespräche seit Wochen und Monaten laufen. - Das war der
erste Punkt.
Der zweite Punkt ist: Erfahrung hin oder her - wir
werden gleich auf das Investorenschutzabkommen zu
sprechen kommen -, wir sind in neuen Sondierungsgesprächen über ein Freihandelsabkommen, das möglicherweise zustande kommt. Dieses Freihandelsabkommen soll eine Art Blaupause sein für einen globalen
Handel im 21. Jahrhundert. Die Abkommen der Vorzeit,
unter anderem das berühmte mit Pakistan mit der ersten
Investorenschutzklausel, liegen weit zurück. Wir werden
dafür sorgen, dass Normen, auch die ILO-Arbeitsnorm,
in Deutschland, der EU oder wo auch immer nicht abgesenkt werden auf dem Wege von TTIP. Das wird nicht
möglich sein. Wenn es in irgendeiner Weise möglich
wäre, wird es mit der SPD ein solches Abkommen nicht
geben.
({1})
Es gibt immer noch die Bitte von Herrn Ernst, eine
Zwischenfrage zu stellen.
Herr Tiefensee, danke, dass Sie die Frage zulassen. Ich bin Ihnen dankbar für die klare Position, dass die
SPD nicht zustimmen wird. Ich nehme das mit Freude
zur Kenntnis. Ich nehme das auch ernst. Aber ich frage
mich, ob es überhaupt notwendig ist. Wenn es so sein
sollte, dass sich die Europäische Kommission bei der
Frage durchsetzt, dass es sich überhaupt nicht um ein gemischtes Abkommen handelt, dann frage ich Sie: Schätzen Sie die Macht der SPD so stark ein, dass ihr Einfluss
unterhalb der Ebene der parlamentarischen Abstimmung, die es dann nicht gibt - mit uns und den Grünen
hätten Sie vermutlich eine Mehrheit zur Ablehnung -,
reicht, um das fertige Abkommen, auf das Sie und wir
gar keinen Einfluss mehr haben, noch zu verhindern,
oder müssen wir zu anderen Maßnahmen kommen? Ich
freue mich, dass Sie dies so sagen, aber ich weiß nicht,
ob es so klappt.
Zu einem anderen Punkt: zu CETA. Wird die SPD
auch CETA verhindern, wenn es eine Klausel zum
Investorenschutz geben wird, wie es sich derzeit abzeichnet?
Zwei Vorbemerkungen zum gemischten Verfahren.
Ich bin dankbar für Ihre Frage. Sie haben vorhin sehr
laut und sehr theatralisch gefragt: Wie kann es sein, dass
der Europäische Gerichtshof angerufen wird? Wenn man
Europa ein bisschen kennt, weiß man: Nur der Europäische Gerichtshof kann entscheiden, ob es ein gemischtes
Verfahren ist.
({0})
Der zweite Punkt ist: Selbst für den Fall, dass es kein
gemischtes Abkommen gäbe - wir wollen das -, kann
eine Bundesregierung nie ohne ein Parlament entscheiden, weil der Europäische Rat, das heißt die Regierungschefs, ausschließlich mit einem Mandat ihrer Parlamente
abstimmen dürfen. Also in Bildern gesprochen: Frau
Merkel ist Bundeskanzlerin. Wenn das Thema noch bis
zur Legislaturperiode 2017 auf der Tagesordnung steht,
dann kann sie unmöglich nach Brüssel reisen und einem
Abkommen zustimmen, wenn das nationale Parlament
nicht zugestimmt hat. Das als Vorbemerkung.
Dennoch sagen wir: Wir wollen ein gemischtes
Verfahren. Warum? Es ist notwendig, dass die Parlamente beteiligt werden, um deutlich zu machen, dass es
eine Aufgabe und ein Thema von nationaler Bedeutung
ist. Aus diesem Grunde verlangen wir ein gemischtes
Verfahren. Das wird auch so kommen.
({1})
- CETA ist jetzt auf dem Tisch.
Ich bin sicher, dass wir all das, was wir jetzt in breiter
Öffentlichkeit zu TTIP diskutieren, auch auf CETA
übertragen werden, in welcher Form auch immer. Die
Verhandlungen sind von der Öffentlichkeit nicht so stark
beachtet worden, deshalb denke ich, dass es eine Harmonisierung sowohl der Beschlussfassung über CETA als
auch möglicherweise über TTIP geben wird.
Jetzt zum Investorenschutz. Der Investorenschutz
- sprich: die Klausel, die Investoren und Staaten in einem Schiedsgerichtsverfahren verbindet - ist zwischen
den USA und der EU nicht nötig. Das Europäische
Parlament mit seiner sozialdemokratischen Fraktion hat
eindeutig gesagt: Wir werden einem Abkommen mit
einer Investorenschutzklausel nicht zustimmen. Die
brauchen wir nicht. Im Übrigen wissen Sie durch Äußerungen von Herrn Gabriel und Frau Zypries, dass
Deutschland auf europäischer Ebene eine solche Klausel
nicht will. Deutschland ist einer der wenigen Nationalstaaten innerhalb der EU, die dafür kein Verhandlungsmandat erteilen wollten; leider sind wir überstimmt worden. Wir werden das bei der Bewertung des Ergebnisses
berücksichtigen.
Herr Tiefensee, die Kollegin Höhn bittet um eine
Zwischenfrage.
Frau Höhn, bitte.
Ich mache es total kurz und bitte auch um eine total
kurze Antwort. In der Tat haben Sie eben gesagt: Einer
Investitionsschutzklausel werden Sie nicht zustimmen,
weil Sie sie für falsch halten; auch Ihr Spitzenkandidat
für die Europawahl hält sie für falsch, die Umweltministerin hält sie für falsch, der Wirtschaftsminister hält sie
für falsch. Im CETA-Abkommen ist aber eine solche
Investitionsschutzklausel enthalten. Unternehmen, die in
den USA ihren Hauptsitz haben, können über Tochterfirmen in Kanada auf Grundlage des CETA-Abkommens
klagen. Deshalb die Frage: Gilt die Aussage, dass Sie gegen jede Investitionsschutzklausel sind, auch für das
CETA-Abkommen? Werden Sie gegen das CETA-Abkommen stimmen, wenn es eine solche Investitionsschutzklausel enthält, ja oder nein?
Ich will und kann das allein deshalb nicht mit einem
klaren Ja oder Nein beantworten,
({0})
weil wir jetzt in einer Phase der Harmonisierung der beiden Verhandlungen sind, wobei die Verhandlungen über
CETA wesentlich weiter fortgeschritten sind. Im Zusammenhang mit dem Investorenschutz denkt man bei den
Verhandlungen über CETA darüber nach, ähnlich wie
bei der WTO eine Kammer einzurichten, also eine
besondere, neue Art von Schiedsgericht. Man muss sich
diesen Vorschlag anschauen.
Sie wissen vielleicht - es könnte Ihrer Information
dienen -, dass wir uns im Zusammenhang mit dem Investorenschutz im völkerrechtlichen Bereich und nicht
im nationalstaatlichen Bereich befinden. Das heißt, es
war interessant, bei den Verhandlungen über CETA darüber zu diskutieren: Gibt es möglicherweise eine
Harmonisierung zwischen dem Verfahren, das in der
WTO angestrebt wird, und dem Verfahren, das wir bei
dem Abkommen zwischen Kanada und Europa brauWolfgang Tiefensee
chen? Diese Diskussion ist - so meine Kenntnis - nicht
abgeschlossen. Wenn das Abkommen eine Kammer vorsieht, die keinen Sinn und keinen Wert hat, oder man
hier gar in das bekannte Verfahren einmündet, dass ein
Schiedsgericht entscheiden soll, dessen Zusammensetzung nicht klar ist, dann gehe ich davon aus, dass wir
von der SPD auf europäischer Ebene nicht zustimmen
können.
({1})
Schließlich möchte ich ein paar rote Linien ansprechen. Es muss sich keiner Sorgen machen, dass unsere
Regeln für öffentliche Ausschreibungen ausgehöhlt werden. Es gibt in den Kommunen eine große Sorge, dass in
einem entsprechenden Kapitel des Abkommens dafür
gesorgt werden könnte, dass die öffentliche Daseinsvorsorge, die in Deutschland und Europa ganz anders
gestaltet ist als in den USA, einen Schaden erleiden
könnte. Auch da gibt es für uns eine rote Linie.
Das Gleiche gilt für - ich höre auch hier immer wieder von den Sorgen - die Buchpreisbindung. Ich habe
unlängst bei der Eröffnung der Leipziger Buchmesse gehört, wie der Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen
Buchhandels dringend darum gebeten hat, dieses hohe
Gut in Deutschland zu schützen. Ich verrate kein Geheimnis, wenn ich sage, dass wir sowohl bei der öffentlichen Daseinsvorsorge als auch bei unserem Bankensystem und der Frage unserer dualen Berufsausbildung
vielleicht nicht so sehr mit den USA zu kämpfen haben,
sondern zunächst einmal auf der europäischen Ebene.
({2})
Deutschland wird dafür sorgen, dass diese Standards weder auf der europäischen Ebene, durch die Hintertür,
noch über TTIP abgesenkt werden.
Summa summarum, meine sehr verehrten Damen und
Herren: Wir gehören weder zu dem Lager, das eine
strikte Ablehnung des Abkommens fordert, noch zu dem
Lager, das eine Annahme fordert, egal was drinsteht. Wir
wollen den Weg gehen, etwas für die beiden Handelsräume zu tun, indem wir nichttarifäre Handelshemmnisse abbauen, Normen und Standards vereinheitlichen
und zur Schaffung von Arbeitsplätzen und zu einer höheren Wertschöpfung beitragen, damit - falls die Verhandlungen erfolgreich sind - beide Wirtschaftsräume
und indirekt alle Menschen in diesen Räumen einen Nutzen daraus ziehen. Lassen Sie uns in die Sondierungen,
in die Verhandlungen gehen, lassen Sie uns gründlich
verhandeln, sehr kritisch, aber nicht prinzipiell ablehnend.
Vielen Dank.
({3})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Katharina
Dröge von Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrter Herr Pfeiffer, nachdem Sie hier
geredet haben, habe ich mich gefragt, ob ich meine Rede
komplett neu schreiben soll.
({0})
Ich dachte vorher, dass es zumindest einige Grundaspekte in Bezug auf die Verhandlungen über TTIP und
CETA gibt, über die wir uns als Parlamentarier einig
sind. Nach Ihrer Rede muss ich daran zweifeln.
Da ist zum einen das Thema Transparenz. Bislang
hatte ich wahrgenommen, dass wir uns hier im Parlament einig sind, dass die mangelnde Transparenz noch
verbessert werden könnte. Ich dachte, zumindest das ist
eine Grunderkenntnis, die wir Parlamentarier miteinander teilen.
({1})
Wenn selbst Ihre Bundesregierung in einer Antwort auf
eine Kleine Anfrage von uns sagt, dass sie die amerikanischen Verhandlungsdokumente nicht kennt und dass
sie das bei der Europäischen Kommission kritisch angemerkt hat, dann frage ich Sie: Wissen Sie mehr als die
Bundesregierung? Vielleicht reden Sie einmal mit der
Bundesregierung. Für die Verhandlungen ist es sicherlich hilfreich, wenn sie mehr weiß.
({2})
Selbst die Bundesregierung kritisiert, dass die Verhandlungen nicht so transparent ablaufen, wie sie eigentlich
ablaufen sollten.
Das zweite Thema, Standardabsenkungen. Während
die Kommission und die Minister der Bundesregierung
überall herumlaufen und erzählen: „Mit TTIP wird es
keine Standardabsenkungen geben“, halten Sie hier ein
flammendes Plädoyer für die Einführung des Chlorhühnchens?
({3})
Ich finde das absurd. Ihnen ist schon klar, dass das
Chlorhühnchen in der EU momentan nicht zugelassen
ist?
Nach Ihrer Rede, die ich wirklich erfrischend ehrlich
und offenbarend finde, können wir uns eigentlich nur darin bestätigt fühlen, noch kritischer auf das Thema gegenseitige Anerkennung von Standards im Zuge der Verhandlungen über TTIP und CETA zu schauen.
({4})
Wir alle kennen die Drahtberichte der EU-Kommission über die Themen „gegenseitige Anerkennung von
Standards“ und „Harmonisierung von Standards“. Es ist
absolut nicht garantiert, dass das europäische Vorsorge3032
prinzip nicht infrage gestellt wird. Da müssen wir als
Parlament sehr genau hinschauen.
({5})
Zum Thema Investitionsschutz. Nach dem, was Herr
Gabriel in letzter Zeit öffentlich dazu gesagt hat, hatte
ich gedacht, dass auch hierzu im Parlament vielleicht im
Grundsatz Einigkeit bestehen würde. Nach Ihrer Rede
zweifle ich, ehrlich gesagt, ein bisschen daran. Ich hatte
gedacht - wenn man davon ausgeht, dass sich Herr
Gabriel in der Regierung durchsetzt -, dass wir am Ende
auch mit Ihnen als Regierung Einigkeit beim Thema Investitionsschutz hätten.
Deswegen haben wir heute einen Antrag eingebracht;
wir beantragen, dass heute von diesem Parlament und
auch von dieser Bundesregierung das unmissverständliche Signal ausgeht, dass es bei TTIP und CETA keine
außergerichtlichen Schiedsverfahren geben wird.
({6})
Es wäre enorm viel gewesen, wenn wir uns heute darauf
hätten verständigen können. Denn das ist eine zentrale
Frage, die die Menschen in diesem Land zu Recht an den
TTIP-Verhandlungen kritisieren. Angesichts der vielen
Probleme, die es schon jetzt in bestehenden Schiedsverfahren auf internationaler Ebene gibt, angesichts einer
Vielzahl von Klagen von Konzernen gegen sinnvolle
staatliche Regulierungsvorhaben, angesichts der grundsätzlichen rechtspolitischen Bedenken gegen solche
nichtstaatlichen Schiedsverfahren, angesichts der Probleme mit mangelnder Transparenz, der Doppelrolle von
Anwälten und Richtern
({7})
oder der fallabhängigen Bezahlung und angesichts der
vielen offenen Rechtsbegriffe, wie es sie bereits im
CETA-Investitionsschutzkapitel gibt und worauf die
Kommission keine Antwort gibt - angesichts all dessen
und vor dem Hintergrund, dass wir hier in der EU, in
Kanada und in den USA ausreichend entwickelte
Rechtssysteme haben, wäre es notwendig, dass dieses
Parlament das klare Zeichen setzt, dass es solche Sonderklageprivilegien in TTIP und CETA nicht geben
wird.
({8})
Nach der Rede von Herrn Tiefensee, der sich sehr kritisch zum Thema Schiedsverfahren geäußert hat, bin ich
doch ein bisschen verwundert, dass Sie unserem Wunsch
nach direkter Abstimmung unseres Antrags nicht nachgekommen sind und ihn einfach gegen unseren Willen in
die Ausschüsse verweisen und damit die Diskussion darüber bequemerweise auf die Zeit nach der Europawahl
verschieben wollen.
({9})
Wir haben es Ihnen mit unserem Antrag wirklich
leicht gemacht. Was steht in unserem Antrag drin, außer
Zitaten von Herrn Gabriel und von Frau Hendricks? Da
ist es doch nicht schwierig für Sie, zuzustimmen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD und CDU/
CSU, ich kann sogar noch irgendwie verstehen, dass Sie
ein Problem damit haben, einem Antrag der Opposition
zuzustimmen. Sie hätten aber auch einen eigenen Antrag
einbringen können, um deutlich zu machen, wie Sie zum
Thema Schiedsgerichtsverfahren in TTIP und CETA stehen.
({10})
Liebe Kollegin, ich muss Sie trotz Ihrer leidenschaftlichen Rede bitten, zum Schluss zu kommen.
Ich komme zum Schluss. Die anderen Redner haben
so viele Fragen gestellt bekommen.
({0})
Ich möchte noch auf das Fehlen von Stellungnahmen
im Konsultationsverfahren eingehen. Sie haben es wahrscheinlich alle mitbekommen: Die EU führt zurzeit ein
Konsultationsverfahren zum Thema TTIP und CETA
durch. Ich frage Sie: Wo ist die Stellungnahme der SPD?
Wo ist die Stellungnahme der CDU/CSU? Wie sehen Sie
das? Wie werden Sie sich beim Thema CETA verhalten,
wenn das Investitionsschutzkapitel so bleibt?
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich
möchte an Sie als Parlamentarier appellieren. Wir alle
werden, wenn TTIP und CETA in der Form beschlossen
werden, wie sie jetzt verhandelt werden, den Menschen
in ein paar Jahren erklären müssen, warum wir als Parlamentarier zugelassen haben, dass wir unsere Rechte auf
Gesetzgebung und Regulierung abgegeben haben, dass
wir unsere Verantwortung an intransparente Regulierungsräte abgegeben haben.
Frau Dröge, Sie müssen zum Schluss kommen. Sie
haben jetzt anderthalb Minuten überzogen. Ich bitte Sie,
jetzt zum Schluss zu kommen.
({0})
Das ist jetzt der letzte Satz.
Wir Parlamentarier sollten mit den Parlamentariern
des Europaparlaments gemeinsam und solidarisch dafür
eintreten, dass wir unsere Rechte als Parlament nicht an
in Hinterzimmern verhandelnde Schiedsgerichte abgeben. Wir sollten dafür kämpfen, dass die Entscheidungen
dort getroffen werden, wo sie in einer Demokratie getroffen werden sollten, nämlich in den Parlamenten.
({0})
Als Nächster hat der Kollege Andreas Lämmel das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Frau Dröge, wir hätten gerne mitgeklatscht, aber Ihre Rede bot wirklich keinen Anlass, Sie
dafür zu unterstützen. Das muss man einmal sagen.
({0})
Ich bin heute wieder meiner eigenen politischen Naivität aufgesessen: Ich hatte gedacht, dass wir heute die
Debatte über die vorliegenden Anträge dazu nutzen,
hier, im Deutschen Bundestag, konstruktiv über das
Thema TTIP und Freihandelsabkommen zu diskutieren.
({1})
Aber das war eine völlige Fehleinschätzung. Der Kollege Hofreiter hat von der ersten Minute an klar aufgezeigt, worum es ihm geht: um Wahlkampf.
({2})
Frau Dröge, auch Sie haben das gesagt. Sie wollen Ihren
Antrag, über den Sie kaum gesprochen haben, unbedingt
heute zur Abstimmung bringen.
({3})
Wenn die Grünen und die Linken solche Debatten nur
für Schaufensterdiskussionen nutzen, dann stellt sich die
Frage
({4})
- Herr Ernst, bleiben Sie doch ruhig; auch Sie regen sich
immer so schnell auf -,
({5})
wie die europäische Öffentlichkeit das deutsche Parlament wahrnehmen wird. Das britische Oberhaus hat eine
konstruktive Diskussion über dieses Thema geführt. Die
Finnen haben schon über das Thema TTIP konstruktiv
diskutiert. Heute wird das die französische Nationalversammlung machen. Aber von Deutschland geht für die
Beobachter ein Signal aus, das einfach nur verheerend
sein kann.
({6})
Kommen wir zur Sache zurück. Um was geht es eigentlich? Es geht darum, den freien Welthandel weiterhin zu gestalten. Der freie Handel von Waren und
Dienstleistungen ist doch ein unheimlicher Fortschritt
der modernen Gesellschaften. Genau das hat dazu geführt, dass das Wohlstandsniveau weltweit gestiegen ist.
Gerade Deutschland braucht den freien Verkehr von Waren und Dienstleistungen. Darum geht es. Die Welthandelsorganisation, die sich weltweit darum bemüht, Handelsbarrieren abzubauen - ich habe nicht gehört, dass
jemand von Ihnen deswegen einen großen Aufstand
macht -, hat mittlerweile 160 Mitglieder, die sich dem
Ziel des freien Welthandels verschrieben haben.
({7})
- Herr Ernst, dass Sie das nicht wollen, ist klar. Wenn es
nach den Linken ginge, wäre Deutschland eine einsame
Insel im globalen Meer. Sie hätten noch Beziehungen zu
Kuba und zu Korea. Sie würden aus der NATO austreten.
({8})
Wenn Sie Politik für dieses Landes machen könnten,
wäre Deutschland völlig isoliert.
({9})
Das wollen wir aber nicht, und dazu wird es auch nicht
kommen.
Nun haben sich die zwei größten Wirtschaftsräume
der Welt, Europa und Amerika, aufgemacht, um über ein
Freihandelsabkommen zu diskutieren. Damit wollen sie
der Welt zeigen, dass diese beiden größten Wirtschaftsräume in der Lage sind, Handelsbarrieren, die nach wie
vor existieren, abzubauen. Dabei geht es auf der einen
Seite um die tarifären Handelsbarrieren, das heißt um
Zölle - sie spielen aber im Handel zwischen Amerika
und Europa keine große Rolle mehr -, und auf der anderen Seite um den großen Bereich der sogenannten nichttarifären Handelsbarrieren. Das sind die Sachverhalte,
die den Handel zwischen den USA und Europa blockieren. Bei diesen nichttarifären Handelsbarrieren muss
man auch immer sehen: Natürlich haben auch die Amerikaner in den letzten Jahrzehnten immer wieder versucht, über eigene Standards, über Beschränkungen des
Marktes protektionistische Hürden aufzubauen, um ihren Markt abzuschotten. Das hat auch Europa getan. Das
machen die Chinesen noch viel extremer, von den Russen, die Sie heutzutage ja am meisten lieben, ganz zu
schweigen.
({10})
Jetzt geht es darum, darüber zu sprechen, diese nichttarifären Handelshemmnisse abzubauen. Das ist doch
erst einmal ein grundvernünftiges Anliegen. Das Geschrei, das jetzt veranstaltet wird, zum Beispiel heute in
dieser Debatte, hat kaum einen rationalen Kern. Sie haben diese Debatte heute praktisch genutzt - warum Sie
das zu diesem Zeitpunkt machen, habe ich verstanden -,
um vor der Europawahl Ihre Ansichten noch einmal in
die Welt zu posaunen.
({11})
Man muss auch sehen: Der Austausch zwischen den
USA und Europa betrifft nicht bloß den Handel, sondern
auch Investitionen. Die Amerikaner haben allein im letzten Jahr in Europa 170 Milliarden Euro investiert. Das
war schon einmal mehr: Zum Beispiel im Jahr 2007 betrug dieses Investitionsvolumen 240 Milliarden Euro.
Auf der anderen Seite haben die Europäer in den USA
im letzten Jahr 98 Milliarden Euro investiert. Auch das
war schon einmal mehr: 2007 waren es 236 Milliarden
Euro. Das heißt, zum einen geht es um Investitionen,
zum anderen geht es um den Austausch von Waren und
Dienstleistungen.
Die Veranstaltung, die im Bundeswirtschaftsministerium vor einiger Zeit stattgefunden hat, hat dies noch
einmal deutlich aufgezeigt. Herr Ernst verschwand dort
ja nach dem ersten Teil; er war weg, als es um die Details ging. Diese haben Sie nicht mehr interessiert. Das
ist klar: Sie wollen sich da ja auch nicht näher einarbeiten, sondern nur Ihre plakativen Reden halten.
({12})
Bei dieser Veranstaltung ging es glasklar darum - jeder,
der dabei gewesen ist, hat das mitbekommen -, dass vor
allen Dingen kleine und mittlere Unternehmen ein hohes
Interesse daran haben, dass diese nichttarifären Handelshemmnisse abgebaut werden.
({13})
Die großen Unternehmen sind in der Lage - sie sind
auch finanzstark -, sich auf dem amerikanischen Markt
zu etablieren, dort verschiedene Zulassungsverfahren zu
durchlaufen und, und, und. Aber die kleinen und mittleren Unternehmen sind dazu nicht in der Lage.
({14})
Sie sind personell nicht dazu in der Lage, und sie haben
auch nicht so viel Geld, das sie investieren müssten, um
dort in den Markt einzutreten. Darum geht es im Wesentlichen: Chancen im Handel auch für kleine und mittlere
Unternehmen zu eröffnen.
Herr Kollege Lämmel, es gibt zwei Wünsche zu Zwischenfragen. Lassen Sie diese zu?
Wissen Sie, ich muss heute Abend noch über die
Spielzeugrichtlinie sprechen, und ich wollte dies gern
vor Mitternacht machen,
({0})
deswegen wäre es mir ganz recht, wenn wir jetzt die Diskussion weiterführen.
Dass diese Verhandlungen natürlich nicht einfach
werden würden, war doch ganz logisch. Da treffen zwei
gleichberechtigte große Wirtschaftsräume aufeinander.
Bei früheren Freihandelsabkommen, den sogenannten
FTAs, hat meistens eine große Macht mit einem kleineren Land ein Abkommen geschlossen. Hier verhandeln
zwei gleichberechtigte Wirtschaftsräume, aber auch
zwei verschiedene Kulturkreise miteinander. Der Staatsaufbau, die Gesetze sind in Amerika ganz anders als zum
Beispiel in Europa.
({1})
Deswegen war natürlich von vornherein für alle klar,
dass die Dinge nicht einfach sind.
({2})
Anstatt als Parlament diese Verhandlungen konstruktiv zu begleiten und klarzumachen, was wir wollen
- Kollege Tiefensee hat ja von einigen roten Linien gesprochen -, versuchen Sie hier - die Linken wie immer
mit Verboten; auch die Grünen sind nicht sehr weit
davon entfernt -, die Verhandlungen in den Dreck zu
ziehen und in der Öffentlichkeit mieszumachen. Ihre
Aufgabe als Parlamentarier wäre eigentlich, die Öffentlichkeit über Chancen und Risiken aufzuklären. Aber Sie
haben offensichtlich nur eine Sache im Kopf: das Negative, das Sie immer verbreiten.
({3})
Bei der Veranstaltung im Bundeswirtschaftsministerium trat eine Dame auf und sagte, dass sie bereits
450 000 Unterschriften gegen TTIP gesammelt hat. Das
ist einfach lächerlich. Es gibt noch kein Abkommen,
über das man jetzt abstimmen kann. Das wissen Sie ganz
genau. Wenn man von vornherein Unterschriften gegen
ein Abkommen sammelt, geht es gar nicht mehr darum,
über das Abkommen zu diskutieren, sondern darum,
dass man es überhaupt nicht will. Das muss man aber
auch klar sagen; denn dann wissen wir, woran wir sind.
({4})
Ich möchte deutlich machen: Die SPD-Fraktion steht
bei den roten Linien natürlich nicht allein, wie Herr
Tiefensee es teilweise gesagt hat,
({5})
sondern die CDU/CSU-Fraktion hat hier überhaupt
keine andere Meinung.
({6})
Meine Damen und Herren, die USA oder die Europäische Kommission mögen im Verhandlungsprozess verschiedene Dinge vielleicht unterschätzt haben; das mag
sein. Wichtig ist doch, dass man aus Fehlern lernt und
dass das Verfahren, das vielleicht ein bisschen schwierig
angelaufen ist, jetzt in neue Bahnen gelenkt wird. Darum
muss es uns gehen.
({7})
Es muss von einer Debatte wie der heutigen das Zeichen
ausgehen, dass das deutsche Parlament grundsätzlich
hinter solchen Verhandlungen steht, aber dass das deutsche Parlament auch klare Vorstellungen davon hat, was
wir wollen und was wir nicht wollen. Das kann ich in Ihren Beiträgen heute leider überhaupt nicht erkennen.
({8})
- Zu Ihren Anträgen, Herr Ernst, haben Sie ja gar nicht
erst gesprochen,
({9})
weil das sinnlos gewesen wäre; das wissen Sie natürlich
selber. Deswegen finde ich, dass diese Debatte heute leider vertane Zeit ist.
({10})
Wir sollten dieses Thema aber weiterhin beraten. Dafür
bietet die Diskussion im Wirtschaftsausschuss eine gute
Basis.
Vielen Dank.
({11})
Als nächster Redner hat der Kollege Alexander
Ulrich von der Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Um das einmal zusammenzufassen: Sie, Herr Lämmel,
haben am wenigsten über das gesprochen, worum es
heute geht.
({0})
Sie haben darauf hingewiesen, wie in anderen Parlamenten über dieses Thema debattiert worden ist. Ich will es
Ihnen noch einmal sagen: Durch die Anträge von uns
und von den Grünen findet heute überhaupt erst eine Debatte im Bundestag statt. Sie wollten diese Debatte doch
überhaupt nicht!
({1})
Heute ist wieder einmal klar geworden, worum es bei
TTIP und CETA geht, insbesondere durch das, was Herr
Pfeiffer gesagt hat; dankbarer kann man dafür nicht sein.
({2})
Es haben allein in Deutschland schon über 700 000 Menschen dafür unterschrieben, dass TTIP und CETA gestoppt werden sollen. Nach der Rede wie der von Herrn
Pfeiffer werden es wahrscheinlich noch deutlich mehr
werden; denn jetzt ist klar, was geplant ist.
({3})
TTIP und CETA sind ein Angriff auf unsere Lebensweise, auf unsere Standards, auf unsere Demokratie und
die Rechtsstaatlichkeit. Es ist ganz toll, dass vor der
Europawahl jedem im Land klar wird, dass diese Bundesregierung dafür die Hand reicht; das gilt insbesondere
für CDU und CSU.
({4})
Herr Pfeiffer sagte, dass das zu Wohlstand und Arbeitsplätzen führen wird und dass wir davon einiges erwarten können.
({5})
Wir mussten uns da noch nicht einmal selber bemühen.
Es gibt nämlich Gutachten der EU-Kommission.
({6})
Diese besagen, dass es im EU-Raum ein „gigantisches“
Wachstum von 0,5 Prozent geben wird,
({7})
in den USA von 0,4 Prozent ({8})
aber nicht im Jahr, sondern bis Ende 2027. Das heißt, wir
reden über ein Wachstum von jährlich weniger als
0,04 Prozent in der EU. Dafür gefährden wir unsere Lebensweise.
Nur darum geht es:
({9})
Es geht darum, dass die Finanzwirtschaft und die Großkonzerne Geschäfte machen können. Dafür reichen Sie
die Hand, und dafür opfern Sie sogar die Rechtsstaatlichkeit. Das wird Ihnen von der Union noch auf die
Füße fallen.
({10})
Um einmal klarzumachen, was das im Hinblick auf
das Wachstum bedeutet, zitiere ich den IG-Metall-Vorsitzenden Detlef Wetzel. Er hat in einem Interview gesagt:
({11})
Da spielt ja das Wetter eine größere Rolle für die
Beschäftigungswirkung als das Freihandelsabkommen.
({12})
Er fügte hinzu:
Die Prognosen sind äußerst unsicher, die vorhergesagten Wirkungen mikroskopisch - und vor allem
würden sie ungleich teuer erkauft.
Recht hat er. Deshalb muss TTIP gestoppt werden.
({13})
Um was geht es? Hier wird ja so getan, als würden
wir nur Ängste schüren.
({14})
Wir reden doch über Beispiele, die es gibt. Es gibt zum
Beispiel eine Firma namens Veolia. Sie klagt in Ägypten, weil der ägyptische Staat den Mindestlohn erhöht
hat; das ist ein solches Beispiel. Oder - das muss man
sich einmal vorstellen -: In Quebec, in Kanada, gab es
einen Volksentscheid mit dem Ergebnis, dass man Fracking ablehnt. Jetzt klagt diese Firma gegen den kanadischen Staat wegen möglicherweise entgangener Gewinne. Wollen wir so etwas, wollen wir wirklich jeden
sozialen Fortschritt in Zukunft verhindern, indem wir
uns in die Hände von Großkonzernen begeben? Das
kann doch in einer Demokratie nicht möglich sein!
({15})
Herr Tiefensee, wenn Sie sich hier so deutlich aussprechen, dann müssen Sie sich aber bei CETA auf den
Weg machen; denn dieses Abkommen ist ausverhandelt.
Da steht das alles drin, was heute hier diskutiert worden
ist. Wenn CETA abgeschlossen wird, ist das eine Blaupause; dann können wir bei TTIP möglicherweise gar
nichts mehr verhindern, weil auch amerikanische Konzerne über Tochterfirmen in Kanada dieses Abkommen
nutzen können. Das ist doch genau die Gefahr. Darum ist
es bei CETA nicht fünf vor zwölf, sondern fünf nach
zwölf.
({16})
Wie gesagt: Die IG Metall lehnt das ab. Der DGB hat
das letzte Woche auf seinem Bundeskongress abgelehnt.
Kirchliche Organisationen - die Diakonie, Brot für die
Welt - sagen Nein. Attac, der BUND, über 50 NGOs,
alle sagen Nein zu diesen Verhandlungen. Wenn Sie hier
heute eine Sofortabstimmung über die Anträge der Linken und der Grünen verhindern, sagen Sie all diesen
Gruppen: Wir wollen eure Interessen den Interessen der
Großkonzerne opfern. - Wir stehen auf der Seite der außerparlamentarischen Bewegung und sagen: TTIP und
CETA müssen gestoppt werden.
Vielen Dank.
({17})
Als nächster Redner hat der Kollege Klaus Barthel
von der SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Kollege Ulrich, es mag schon sein, dass viele Elemente,
die jetzt diskutiert werden im Zusammenhang mit CETA
und TTIP, unsere Lebensweise gefährden; aber ich
möchte im Verlauf meiner Rede darstellen, dass wir gerade dann, wenn wir nichts tun, wenn wir keine Anstrengungen unternehmen, den internationalen Handel neu zu
regeln, unsere Lebensweise erst recht gefährden.
Tatsache ist doch, dass - anders als viele Romantiker,
die heute herumlaufen, es behaupten - erst die Ausweitung des internationalen Handels, die internationale Arbeitsteilung und Wertschöpfungsketten über die ganze
Welt Arbeit, Einkommen und Wohlstand ermöglicht haben und nicht das Klein-Klein hinter den Zollschranken
des Feudalismus im Mittelalter.
({0})
Natürlich müssen wir im gleichen Atemzug auch sagen, dass die Realität des jetzigen Freihandelsmodells
zeigt, dass freier Handel nicht automatisch guter Handel
und fairer Handel ist und dass sich daraus nicht die Weltwirtschaft ergibt, die wir uns alle vorstellen. Wir sehen
das an den Krisen, ausgelöst auf den Finanzmärkten
durch die Deregulierungspolitik. Wir sehen das an dem
Dumpingwettbewerb, dass kurzfristig im Moment derjenige auf dem Weltmarkt gewinnt, der den geringsten
Umweltschutz, den schwächsten Verbraucherschutz, den
ungeregeltsten Wettbewerb, die niedrigsten Löhne, die
schwächsten Sozialsysteme und die niedrigste Kapitalbesteuerung hat; das ist die jetzige Realität der freien
Märkte.
Wir erleben - auch das ist richtig - das erfolgreiche
Bestreben von internationalen Konzernen und Finanzinvestoren, sich gesetzlichen Regelungen und politischen
Entscheidungen der Nationalstaaten zu entziehen und
durch Ausnutzen des Standortwettbewerbs auf internationaler Ebene sich selbst systematisch über das geltende
Recht zu stellen. Das beginnt damit, dass sich die
Amazons und Googles in aller Welt der Besteuerung ihrer Gewinne und auch der Umsatzbesteuerung entziehen, und soll demnächst gipfeln in dem sogenannten Investorenschutz; da sind ja Beispiele genannt worden.
Die Krönung ist, wie man jetzt wieder lesen konnte,
Vattenfall, die machen das gleich doppelt: Auf der einen
Seite verklagen sie die Bundesrepublik Deutschland wegen des Atomausstiegs; gleichzeitig versucht man sich
durch intelligente Umstrukturierung des Unternehmens
auch noch der Haftung für den Atommüll und der Lasten, die sich aus der Nutzung der Kernenergie ergeben
haben, zu entziehen.
({1})
Daran kann man schon sehen, dass es beim Investorenschutz Probleme gibt.
In der Tat wären CETA und TTIP Neuland für die Europäische Union. Für uns als Sozialdemokratinnen und
Sozialdemokraten - das hat Kollege Tiefensee deutlich
gemacht - ist klar: Wir wollen keinen Investorenschutz à
la CETA oder wie manche in den USA sich das vorstellen.
Jetzt sind wir beim Thema Transparenz, liebe Kollegen von den Grünen und den Linken. Auch wir beklagen
die mangelnde Transparenz,
({2})
aber wenn Sie mich fragen, wie wir und unsere Bundesregierung eigentlich dazu stehen, dann kann ich Ihnen
nur raten: Lesen Sie wenigstens das, was überall nachzulesen und damit transparent ist.
({3})
Es gibt zum Beispiel eine wunderschöne Broschüre
zu der schon erwähnten Veranstaltung im Bundeswirtschaftsministerium. In seinem Vorwort schrieb der Bundeswirtschaftsminister - das können alle nachlesen; das
ist ganz transparent -:
({4})
Spezielle Investitionsschutzvorschriften sind in einem Abkommen zwischen den USA und der EU
nicht erforderlich, da beide Partner hinreichenden
Rechtsschutz … gewähren.
({5})
Er schreibt weiter:
Prinzipiell ist auszuschließen, dass das demokratische Recht, allgemeine Regelungen zum Schutz
von Gemeinwohlzielen zu schaffen, gefährdet,
ausgehebelt oder umgangen wird oder dass ein
Marktzugang, der solchen Regeln widerspricht, einklagbar wird. Nur dann ist ein Abkommen zustimmungsfähig.
({6})
Hier steht also alles zur Position der Bundesregierung, und Sie haben die Bundesregierung in den letzten
Wochen und Monaten ja auch mit vielen Fragen - Kleinen und Großen Anfragen sowie einzelnen Fragen - zugepflastert.
Dasselbe kann man auch bezüglich CETA nachlesen,
und zwar in einer Antwort von Staatssekretär Kapferer
am 25. März 2014 auf eine Frage des Abgeordneten
Ulrich. Ich will das jetzt aber nicht vorlesen, weil ich
nicht so viel Zeit habe.
({7})
Das heißt, wir wollen diese Verhandlungen zum einen
nutzen, um das auszuschließen, und zum anderen, um in
eine neue Phase der internationalen Handelspolitik zu
kommen. Kollege Ernst, das gilt zum Beispiel auch in
Bezug auf die Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsrechte.
In der Tat kann es Freihandel zwischen Wirtschaftsräumen und Staaten nicht geben, wenn eine Seite die
ILO-Kernarbeitsnormen nicht vollständig ratifiziert hat
oder nicht anwendet. Das kommt für uns nicht infrage.
({8})
Das bloße Anerkennen jeweiliger Standards reicht dabei aber natürlich nicht aus, weil es hier keinen Wettbewerbsvorteil für denjenigen geben darf, der selbst zum
Beispiel die Gewerkschaftsfreiheit einschränkt und die
Koalitionsfreiheit nicht anerkennt. Mit solchen Dumpingprozessen würden nämlich Verlagerungen aus deutschen Industrie- und Dienstleistungsstandorten in den
Niedriglohnbereich USA in Gang gesetzt werden, wo
die Zölle dann entfallen. Das muss völlig klar sein.
({9})
Wir sind durch das Beispiel VW gewarnt. Ein wohlwollender Konzern hatte versucht, Gewerkschaften und
Mitbestimmung zu ermöglichen, aber er wurde durch die
Politik eines Bundesstaates in den USA und die örtliche
Politik dort daran gehindert, die massiv Stimmung und
Druck gegen Gewerkschaften und Tarifverträge gemacht
haben. So etwas geht nicht.
({10})
Wir sind auch durch das Vorgehen von T-Mobile USA
gewarnt, einer Tochter der Deutschen Telekom, die meint,
es sei bei Verkaufsgesprächen ein gutes Argument, dass
im Unternehmen keine Gewerkschaften vertreten sind,
weil man dann mehr Geld für das Unternehmen erhält.
Mit solchen Wirtschaftsräumen und Unternehmensstrategien wollen wir nichts zu tun haben, sondern im Gegenteil: Diese wollen wir verbessern.
({11})
Wir sorgen nicht mit Mindestlöhnen, mit der Stärkung
des Tarifsystems, mit der Allgemeinverbindlichkeit und
mit hochgelobter Mitbestimmung für Ordnung auf dem
Arbeitsmarkt, um dann Freihandelsabkommen mit Räumen abzuschließen, die genau das unterlaufen und unsere Standards indirekt aushöhlen. Das kann nicht das
Ziel der Politik sein.
Wir wollen jetzt zusammen mit den Gewerkschaften
in den USA und in der Bundesrepublik ausloten, ob es
Wege hin zu einer neuen und besseren Politik in all diesen Hinsichten gibt - auch in Bezug auf die Verbraucherstandards, die Arbeitsrechte usw. -; denn eines muss
auch allen klar sein, die heute sagen, das alles würden sie
von Hause aus nicht wollen und TTIP, CETA usw. sei
Blödsinn: Wenn wir keine neue Handelspolitik einleiten,
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
- uns nicht anstrengen, liebe Frau Präsidentin, den
Handel auf internationaler Ebene neu aufzustellen, und
solche Verhandlungen nicht wenigstens einmal versuchen, dann wird sich in unserem Sinne erst recht nichts
ändern, sondern dann werden die Dumping-Prozesse, die
ich am Anfang beschrieben habe, unter der Überschrift
„Globalisierung“ weitergehen.
Diese Globalisierung müssen und wollen wir gestalten, und ich hoffe auf unser aller Unterstützung.
({0})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Barbara
Lanzinger von der CDU/CSU das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Es
stimmt: Kaum ein Thema wird derzeit so kontrovers und
so aufgeladen diskutiert wie das TTIP. Ich sage bewusst:
aufgeladen. Dazu tragen auch die Reden der Kollegen
Hofreiter und Ulrich bei. Sie schüren eher Ängste, anstatt zu versuchen, das Ganze aufzuklären.
({0})
Ich habe eines gelernt - lassen Sie mich das hier anmerken -: Wer schreit, hat meistens nicht recht.
({1})
Zahlreiche Demonstranten gehen zu diesem Thema
auf die Straße. Binnen kürzester Zeit kamen mehrere
Hunderttausend Unterschriften gegen das Abkommen
zusammen; das stimmt.
({2})
Glauben Sie uns: Auch wir nehmen diese Bedenken
ernst,
({3})
nicht nur Sie.
({4})
- Jetzt schreien Sie schon wieder.
({5})
Ernst nehmen wir aber auch die Potenziale: Freier Handel enthält die Chance auf mehr Wohlstand. Das Abkommen ist ein wichtiges Instrument für mehr Wachstum
und Beschäftigung in Europa. Es ist deshalb durchaus
begrüßenswert. Aber - auch das sage ich ganz deutlich wir brauchen klare, nachvollziehbare, transparente und
verständliche Regeln.
Wir befinden uns noch am Anfang der Verhandlungen. So ist es noch nicht möglich, bereits heute alle Details beurteilen zu können. Jedoch ist es möglich und
notwendig - da gebe ich vielen recht -, grundsätzliche
Kriterien zu benennen und einzufordern. Wir müssen das
Abkommen als Chance begreifen, die Vor- und Nachteile abzuwägen und alle damit verbundenen Risiken zu
benennen, um diese zum frühestmöglichen Zeitpunkt
ausschließen zu können. Ein wichtiger Punkt muss sein,
dass das Abkommen unserem Anspruch an Qualität und
unseren Anforderungen an ein hohes Schutzniveau
standhält.
Deutschland hat einen unschlagbaren Vorteil im globalen Wettbewerb: einen starken Mittelstand, im Ausland bewundert und geschätzt. Der „German Mittelstand“ gilt als Jobmotor Nummer eins, als Treiber für
Innovationen und als ein Rezept für den Erfolg der deutschen Wirtschaft. Ich denke, dagegen können Sie nichts
sagen. Herr Hofreiter - hören Sie mir bitte zu, ich habe
Ihnen gerade auch zugehört -, ich weiß nicht, woher Sie
Ihre Zahlen nehmen, dass der Mittelstand dieses Abkommen ablehnt.
({6})
Ich habe andere Zahlen. Nach den Zahlen des DIHK von
Anfang Mai dieses Jahres sind 60 Prozent für dieses Abkommen.
({7})
Über 99 Prozent der deutschen Unternehmen sind
Mittelständler. Das sind über 3,6 Millionen vielfältige
und dynamische Unternehmen, die mehr als 60 Prozent
aller Jobs in Deutschland stellen und in unterschiedliBarbara Lanzinger
chen Branchen mit unterschiedlichen Produkten und
Dienstleistungen tätig sind. Deutsche Produkte werden
im Ausland sehr gerne gekauft, weil sie hohe Qualitätsstandards aufweisen. Zudem bringen vor allem unsere
KMU, die kleinen und mittelständischen Unternehmen,
die international tätig sind, weitaus mehr neue Produkte
auf den Markt als die ausschließlich in der Heimat tätigen Unternehmen. Deshalb ist es besonders wichtig, die
internationalen Aktivitäten unseres Mittelstands weiter
zu fördern und auszubauen.
({8})
Das TTIP schafft wirtschaftliche Chancen für Europa
und besonders für Bayern - das sage ich ganz deutlich mit seiner mittelständisch geprägten, exportstarken Wirtschaft. Insbesondere die kleinen und mittelständischen
Unternehmen würden von einem tiefgreifenden Abkommen profitieren und dadurch wirksame Unterstützung
bei der Internationalisierung erhalten. Es gilt, bei den
Verhandlungen sicherzustellen, dass es zu keiner Absenkung der bewährten Qualitätsstandards und des europäischen Schutzniveaus kommt. Wo „Made in Germany“
draufsteht, muss auch „Made in Germany“ drin sein.
Aber ich möchte der Fairness halber auch festhalten:
Nicht nur wir haben hohe Standards, auch die Amerikaner haben hohe Standards.
({9})
Es gilt, beides miteinander zu verknüpfen. Wir können
nicht immer so tun, als ob wir die besten wären. Es gilt
vielmehr, diese Standards zusammenzuführen.
({10})
Für die Wirtschaft ist es wichtig, nichttarifäre Handelshemmnisse abzubauen sowie regulatorische Vorschriften zu harmonisieren und gegenseitig anzuerkennen. Die Abschaffung der Zölle alleine reicht nicht aus.
Für die vielen exportorientierten und mittelständischen Unternehmen stellen gerade die doppelten Zulassungs-, Zertifizierungs- und Normungsprozesse große
Handelsbarrieren und Hürden vor allem beim Markteintritt dar. So führen beispielsweise doppelte Prüfungsverfahren zu erhöhten Kosten und einem bürokratischen
Aufwand. Ein gutes Beispiel hierfür hat der Präsident
des DIHK angeführt: Aktuell haben die USA und die EU
unterschiedliche Zertifizierungsstandards für Schweißnähte in Druckbehältern. Obwohl die Produkt- und Sicherheitsstandards der Behälter gleich sind - Sie kennen
sie vielleicht; ich spreche das jetzt einmal an; Sie haben
heute keine Beispiele genannt -, werden die Zertifikate
nicht gegenseitig anerkannt. Dadurch muss ein und dieselbe Schweißnaht zweifach zertifiziert werden. Das
muss man sich einmal vorstellen. Das bedeutet erhebliche Zusatzkosten, ohne dass dadurch ein Mehrwert für
die Verbraucher erzielt wird. Wir brauchen die Anerkennung unterschiedlicher Verfahren, die zum gleichen Ergebnis führen. Notwendig ist auch die Harmonisierung
der Standards, die Anerkennung gleichwertiger Standards und die Abschaffung doppelter bzw. vergleichbarer Zusatzverfahren.
Gerade für Bayern sind die USA nicht nur der wichtigste Exportmarkt, sondern zugleich auch ein wichtiger
Investitionsstandort. Die Beseitigung von Zöllen und nichttarifären Handelshemmnissen ist wichtig. Beispielsweise
zahlt die deutsche Automobilwirtschaft jährlich für ihre Exporte in die USA über 1 Milliarde Euro an Zöllen. Aus diesen Gründen begrüßen wir auch ganz besonders das im
TTIP enthaltene Sonderkapitel für KMU mit speziellen Regeln, damit zukünftig der deutsche Mittelstand unter erleichterten Bedingungen im transatlantischen Handel aktiv werden kann. Ich denke, das ist sehr wichtig.
Neben den ökonomischen Effekten hat das Freihandelsabkommen aber auch ein hohes politisches und strategisches Potenzial. Es kann der Weltwirtschaft neue Impulse verleihen. Es wird die Nachfrage nach Rohstoffen,
Bauteilen und anderen Vorleistungen erhöhen, die von
anderen Ländern produziert werden. Es kann Vorreiter
für die Entwicklung globaler technischer Standards sein
und die Führungsfähigkeit der transatlantischen Partner
unter Beweis stellen.
TTIP ist für uns auch ein Vorreiter für unsere hohen
Schutzstandards. Es wurden schon alle Stichworte genannt, zum Beispiel die kommunale Daseinsvorsorge,
der Verbraucher-, Umwelt- und Gesundheitsschutz und
die Landwirtschaft. Ich muss nicht alles wiederholen,
möchte aber ergänzen, dass dazu auch unser gut durchdachtes, ausgewogenes und sehr strengen Kriterien unterliegendes europäisches Patentsystem gehört, wie der
Präsident des Europäischen Patentamts zu Recht festgestellt hat. Dazu sage ich ganz klar: Finger weg!
Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung zum Investitionsschutz einschließlich der Beilegung von InvestorStaat-Streitigkeiten. Hierfür brauchen wir neue Ansätze;
das ist schon angesprochen worden. Eine unvereinbare
Paralleljustiz ist nicht sinnvoll. Wir haben sowohl in der
EU als auch in den USA gut entwickelte, funktionierende und verlässliche Rechtssysteme. Unsere nationale
Gesetzgebung darf im Zuge des Freihandelsabkommens
nicht durch internationale Schiedsgerichte ausgehebelt
werden.
({11})
Unbestreitbar bestehen bei einem solchen Abkommen
über den Atlantik Interessengegensätze sowohl zwischen
als auch innerhalb der Länder. Interessen der Unternehmen stehen den Interessen von Bürgerinnen und Bürgern
und Verbrauchern gegenüber. Jedoch bringen uns diese
hoch emotionalen und überhitzten Debatten gar nichts.
Sie schüren nur Ängste. Notwendig sind sachliche und
inhaltlich richtige Diskussionen. Wir brauchen eine genaue Abwägung statt einseitiger Vorurteile und oftmals
auch unhaltbarer Vorwürfe, die Ängste schüren.
Wir sagen Ja zu einem ausgewogenen Abkommen.
Ausgewogen heißt: strikte Prämisse unserer in Europa
hohen Schutzmechanismen, keine Vereinheitlichung auf
den kleinsten Nenner, sondern ein Abstimmen auf unsere Traditionen und bewährten Normen. Ausgewogen
heißt auch: absolute Transparenz in den Verhandlungen.
Allerdings ist dabei ein gewisser Grad an Vertraulichkeit
notwendig.
({12})
TTIP darf nicht heißen, dass vorrangig die Interessen der
Großunternehmen oder der USA unterstützt werden. Wir
müssen vielmehr deutlich machen, welche Chancen ein
Freihandelsabkommen für unsere heimische Wirtschaft
und unsere Verbraucherinnen und Verbraucher hat.
Es ist erfreulich, dass die EU-Kommission mit der öffentlichen Konsultationsphase beim Investitionsschutz
begonnen hat; dieser Teil ist ausgeklammert. Das ist ein
Schritt in die richtige Richtung. Ein Stopp der Verhandlungen, wie ihn die Linke fordert, ist der falsche Weg.
Damit würden wir die Vorteile - Herr Kollege Lämmel
hat bereits darauf hingewiesen -,
({13})
die ein Freihandelsabkommen bietet, frühzeitig verspielen. Die inhaltlichen Verhandlungen haben erst begonnen. Wir sollten daher abwarten, welche Ergebnisse in
den nächsten Monaten während der Verhandlungen und
in den öffentlichen Konsultationen gefunden werden,
und zwar unter Beteiligung der nationalen Parlamente.
Die EU-Kommission verhandelt; das stimmt. Aber wir
sollten uns einbringen. Das tun wir auch. Die Bundesregierung vertritt gegenüber der Kommission, dass sowohl
der Bundestag als auch der Bundesrat, sofern die Länder
betroffen sind, die Möglichkeit zur Mitwirkung in Form
eines Ratifizierungsgesetzes erhalten.
Zum Schluss. Das TTIP-Abkommen stellt für uns
alle, vor allem für unseren Mittelstand, eine große
Chance dar. Nur wenn wir gemeinsam daran arbeiten
und offen über die Regeln diskutieren, können wir es
zum Erfolg führen. Das ist aber nicht möglich, wenn
man sich gegenseitig lächerlich macht und die Argumente der anderen Seite überhaupt nicht ernst nimmt.
Danke schön.
({14})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Claudia
Tausend von der SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Sehr
geehrte Damen und Herren! Ich freue mich außerordentlich, dass wir heute Gelegenheit haben, uns mit dem
Freihandels- und Investitionsschutzabkommen auseinanderzusetzen; denn das Thema beherrscht die Öffentlichkeit und die Schlagzeilen. Nicht alles, was wir in der
Presse lesen und was wir auf den Veranstaltungen in unseren Wahlkreisen erleben, trifft den Kern der Debatte
richtig.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion
und von Bündnis 90/Die Grünen, noch lieber wäre mir
gewesen, diese Debatte in der nächsten Sitzungswoche
in 14 Tagen zu führen.
({0})
Das hätte manches entspannt und mit Sicherheit auch
den sachgerechten Umgang mit diesem Thema befördert.
({1})
Ich finde die Debatte zwar sehr lebhaft, interessant und
auch sehr zünftig, wie ich als Bayerin sagen darf. Aber
ich glaube, dass unsere Aufgabe als Mitglieder des Bundestages in der Aufklärung sowie der sachgerechten Information und Beratung besteht.
Ich glaube nicht, dass uns die Zeit davongelaufen
wäre. Die Kollegin Lanzinger hat nicht als Einzige betont, dass wir am Anfang der Diskussionen stehen. Wir
werden mehrere Verhandlungsrunden vor uns haben.
Dass in der laufenden Verhandlungsrunde - genauso wie
in den Verhandlungsrunden in den nächsten Monaten nicht sehr viel passieren wird, dürfen wir vermuten.
Schließlich findet in wenigen Tagen die Europawahl
statt. Danach muss sich die Kommission neu bilden. Wir
wissen noch nicht, wer neuer zuständiger Kommissar
wird. Gleichzeitig finden in den USA Midterm Elections
statt. Wir stehen also überhaupt nicht unter Zeitdruck,
sondern können uns alle Zeit der Welt lassen, um die
komplexe Materie gründlich zu beleuchten.
({2})
Kollegin Höhn, viele Menschen haben Angst vor
TTIP. Wir nehmen das absolut ernst. Die 480 000 Unterschriften von Campact - das ist die Zahl, die mir bekannt
ist - werden wir zu würdigen haben und in unseren
Überlegungen berücksichtigen müssen. Wer in seinem
Wahlkreis unterwegs ist, hört quasi live, wie groß die
Angst ist, wie viele vermeintliche oder tatsächliche Gefahren von TTIP ausgehen.
({3})
Das öffentliche Bewusstsein zeigt: Das Frühwarnsystem
hat funktioniert. Es wurde reagiert, auch von der EUKommission durch das Konsultationsverfahren für das
Investitionsschutzabkommen. Unabhängig davon, wie
man zu diesem Thema steht - der Kollege Tiefensee hat
sich dazu ausführlich geäußert -, begrüße ich, dass auch
die Kommission lernfähig war und erkannt hat, dass
mehr Transparenz zwingend erforderlich ist, um Klarheit
in der Öffentlichkeit zu schaffen und so überhaupt erst
Zustimmung zum weiteren Vorgehen und zum Ergebnis
zu ermöglichen.
({4})
Auch wenn sich schon die Kollegin Lanzinger in diesem
Punkt verdient gemacht hat, möchte ich versuchen, zu erklären, worum es bei TTIP eigentlich geht. Es geht wirklich nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen,
um die Einfuhr des Chlorhuhns oder des Chlorhähnchens, es geht auch nicht um den Marktzugang für das
Genfood oder für das Hormonfleisch. Sie können es mir
glauben oder nicht, aber in der offiziellen Information
der EU-Kommission ist zu lesen - ich zitiere -:
Fracking, Chlorhühnchen und Genfood sind in der
EU verboten oder streng reguliert. Das wird auch
ein Freihandelsabkommen nicht ändern. Nur Regierungen oder Parlamente können entscheiden, Gesetzgebung zu ändern. Die Europäische Union wird
unsere hohen EU-Standards nicht zur Verhandlung
stellen. … Alle EU-Staaten werden weiterhin selbst
regulieren können. Beispiel Hormonfleisch, das in
der EU streng verboten ist …
Ich denke, man sollte weniger Misstrauen walten lassen,
sondern diese Auskünfte der Europäischen Kommission
ernst nehmen.
Worum geht es dann? Es geht auch - das wurde schon
ausführlich dargestellt - um den Abbau von Zollschranken und in zweiter Linie um den Abbau von technischen
Handelshemmnissen, von nichttarifären Handelshemmnissen, von Doppeltests, von doppelten Zulassungs- und
Prüfverfahren. Jetzt komme auch ich zum Thema Mittelstand. Was will der Mittelstand? Den Mittelstand, Herr
Kollege Ernst, nehmen auch wir in Bayern sehr ernst.
Der will nicht seine Bäckersemmel - das haben Sie mir
vorhin zugeflüstert - exportieren. Es gibt auch Zulieferer
zu exportorientierten Industrieunternehmen, Automobilkonzernen etc. Ich kenne Umfragen, nach denen etwa
zwischen 60 und 80 Prozent der Mittelständler - ich
hatte gestern ein Gespräch mit unserer IHK - TTIP begrüßen, weil sie sich erhoffen, ihre Exportchancen zu
verbessern.
({5})
Ich muss zum Schluss kommen.
({6})
Ich begrüße ausdrücklich die Initiative des Bundeswirtschaftsministers, die Zivilgesellschaft einzubinden.
({7})
Gestern hat er einen Beirat gegründet. Dazu gehören der
BDI, der Außenhandelsverband, der DGB, der Deutsche
Städtetag, die Verbraucherzentrale, der Naturschutzring
und der Bund Naturschutz. Das ist der richtige Weg, um
mit den Bedenken der Zivilgesellschaft umzugehen. Die
roten Linien sind ausführlich dargestellt worden. Aber
lassen Sie mich bitte noch einen Punkt herausgreifen. Es
ist mir als langjähriger Kommunalpolitikerin ein besonderes Anliegen, die öffentliche Daseinsvorsorge auf
Dauer zu sichern.
({8})
Wir hatten das Thema Wasser zweimal im Feuer vonseiten der Kommission, einmal mit der Konzessionsrichtlinie und zuvor mit der Dienstleistungsrichtlinie. Ich
schließe mich auch hier komplett der Forderung des
Deutschen Städtetags unter seinem Vorsitzenden Dr. Uli
Maly an: Die öffentliche Daseinsvorsorge muss ohne
Wenn und Aber erhalten bleiben.
({9})
Die Wasserversorgung, die Abwasserentsorgung, die sozialen Dienstleistungen, der ÖPNV, Abfallwirtschaft,
Kultur und Bildung gehören dazu. Deswegen bin ich
ausdrücklich für eine Positivliste, was bedeutet, dass nur
über die Dinge, die ausdrücklich im Verhandlungsmandat stehen, tatsächlich verhandelt wird.
({10})
Ich komme zum Schluss. Es ist mehrfach dargestellt
worden: Die SPD nimmt das Thema Risiken ernst, sieht
aber durchaus auch Chancen. Wir begleiten die Verhandlungen kritisch, führen den Dialog mit der Zivilgesellschaft und sagen klipp und klar: Ein Freihandelsabkommen und Investitionsschutzabkommen um jeden Preis
wird es mit uns nicht geben.
Ich bedanke mich für das Zuhören.
({11})
Herzlichen Glückwunsch zu Ihrer ersten Rede, Frau
Tausend, in dieser lebhaften Debatte.
({0})
Jetzt hat der Kollege Matthias Heider von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir sind bereits in der Schlussrunde unserer Debatte, in
der stellenweise sehr emotional vorgetragen wurde. Aber
das scheint mir doch an dem bevorstehenden Wochenende zu liegen. Ich freue mich, dass ich Gelegenheit
habe, auf die wichtigsten Punkte unserer Debatte einzugehen.
Mit der EU und den USA stehen sich heute die beiden
wichtigsten und größten Binnenmärkte dieser Erde gegenüber. Die Geschichte, die einst im 16. Jahrhundert
mit dem Import von Baumwolle, von Erdnüssen, von
Kartoffelpflanzen aus Amerika und umgekehrt mit dem
Export von Karotten, Rindern, Hühnern, aber auch von
Werkzeugen und Schiffen nach Amerika begann, geht
auch heute noch, viele Jahrhunderte danach, weiter.
Heute stellen die Vereinigten Staaten und die EU füreinander die wichtigsten Handelspartner dar.
In früheren Jahrhunderten waren es eher Portugal und
Spanien, heute ist es Deutschland innerhalb der EU, das
die meisten Exporte in die USA erreicht. Im Jahr 2012
wurden aus Deutschland Waren im Wert von 87 Milliarden Euro nach Amerika ausgeführt. Das entspricht fast
30 Prozent der EU-Exporte in die USA. Wichtigste Exportgüter waren Fahrzeuge und Fahrzeugteile mit 28 Pro3042
zent. Auf dem zweiten Platz lagen Maschinen mit
17 Prozent, und auf Platz drei pharmazeutische Erzeugnisse mit rund 10 Prozent. An diesen Zahlen kann man
die Bedeutung eines Freihandelsabkommens für Deutschland und die Europäische Union erkennen. Das Ziel der
Verhandlungen muss sein, ein innovations- und ein investitionsfreundliches Klima zu erzeugen.
({0})
Bei dem geplanten Freihandelsabkommen geht es zunächst um den Abbau von Zöllen und von nichttarifären
Handelshemmnissen. Zwar sind die Zölle bereits relativ
niedrig; jedoch kann jede noch so kleine Senkung des
Zolltarifs Impulse geben. Wenn mehrere Millionen Euro
an Einsparungen zusammenkommen, dann ist das ein
Impuls für den gesamten Handelsraum.
Besonders werden europäische und deutsche Unternehmen von dem Abbau der nichttarifären Handelshemmnisse profitieren. Damit meine ich nicht die von
den Linken immer wieder ins Feld geführten Großkonzerne; vielmehr werden es vor allem die kleinen und
mittleren Unternehmens sein, die sich keine großen Exportabteilungen und keine teuren Apparate leisten können.
({1})
Diese wagen derzeit den Schritt über den Atlantik deshalb nicht, weil die unterschiedlichen Standards, Regulierungen und Zulassungsverfahren hohe Hürden im
Handel bedeuten. Der damit verbundene bürokratische
Aufwand ist nicht so einfach zu erledigen.
Doppelte Produktzulassungen, Testverfahren und Konformitätsprüfungen erhöhen bei der Einfuhr in die EU
laut der Studie eines niederländischen Instituts die Zulassungskosten bereits um durchschnittlich 21 Prozent.
Bei Nahrungsmitteln sind es sogar 57 Prozent, bei Kosmetika 35 Prozent und bei Fahrzeugen 26 Prozent Mehrkosten. Durch solch ein Freihandelsabkommen haben
wir die Chance, Standards und Zertifizierungsverfahren
auf ein gleich hohes Schutzniveau zu bringen.
Beispiele für die unterschiedlichen Regelungen sind
heute schon genannt worden. Selbst dem Kollegen Ernst
ist aufgefallen, dass die Fahrzeuge in den USA mit roten
Blinkergläsern fahren müssen, während die in der EU
mit orangefarbenen unterwegs sind. Deutsche Autobauer
müssen Sonderanstrengungen für den amerikanischen
Markt erbringen, obwohl die orangefarbenen Blinkergläser genauso sicher sind wie diejenigen, die dort verwandt
werden. - Es gibt weitere Beispiele: Nebelschlussleuchten sind in den USA nicht obligatorisch. Seitenspiegel
müssen dort nicht einklappbar sein. Sondersignale von
Einsatzfahrzeugen sind anders. Will man das ändern,
muss man über das Schutzniveau sprechen und ein Angleichungsverfahren festlegen. Man darf das aber nicht
in Bausch und Bogen verurteilen, wie Sie es heute in Ihren Reden und mit Ihren Anträgen tun.
Die Beispiele lassen sich fortsetzen; es geht um Medikamente, Kosmetika und chemische Substanzen. Hier
helfen nur der Abgleich in Verhandlungen und das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung der gelisteten Stoffe.
({2})
Mit der Diskussion um die Angleichung von Standards sind in der Bevölkerung Ängste entstanden, dass,
wie Sie kundtun, Verbraucher- und Umweltstandards,
also geltendes Recht in der Europäischen Union, abgesenkt würden. Ich kann deshalb die Sorgen der Bürger
gut verstehen. Jedoch basieren diese Sorgen keineswegs
auf guten Informationen; vielmehr haben Sie gezielte
Fehlinformationen unter die Bevölkerung gebracht.
({3})
Eine Senkung von Standards durch dieses Freihandelsabkommen wird es nicht geben; das hat EU-Handelskommissar De Gucht in Gesprächen mit diesem Parlament in der vorletzten Woche klipp und klar gesagt.
Insofern bin ich dem Bundeswirtschaftsminister ausgesprochen dankbar, dass er in seinem Haus einen Beirat
installiert hat, der die Kommunikation all dieser Informationen verbessern wird.
Berechtigte Fragen zu dem Abkommen gibt es natürlich, zum Beispiel zum Investitionsschutz. Das Thema
muss sehr sorgfältig behandelt werden; denn kein Investitionsabkommen ist wie das andere. Viele Abkommen,
die abgeschlossen worden sind - es sind 120, 130 an der
Zahl, die für Deutschland gelten -, haben eine völlig andere Geschäftsgrundlage. Da muss man etwas differenzieren.
Es muss klar sein, dass ein Investitionsschutz nur für
solche Sektoren gelten kann, wo ein besonderes Bedürfnis besteht und wo die Verhandlungspartner ein beidseitiges besonderes Interesse daran haben. Auch das brauchen wir bei dem Rechtsstandard, der in den USA und in
Deutschland vorherrscht, sicherlich nicht in Zweifel zu
ziehen.
Leider wird in Deutschland über wirklich konstruktive Verbesserungsvorschläge wenig gesprochen.
({4})
Schon in den Einladungen für Veranstaltungen wird
wahllos auf das Freihandelsabkommen eingedroschen.
Schauen Sie sich diese Einladung hier einmal an: „TTIP:
Angriff auf Demokratie, Löhne, Soziales und Umwelt“.
Da steckt alles drin, was man braucht, um möglichst
große Verunsicherung in der Bevölkerung zu verursachen.
({5})
Es geht Ihnen gar nicht um Impulse für den Binnenmarkt. Es geht Ihnen mit Ihren Anträgen gar nicht um
Beschäftigung. Es geht Ihnen auch gar nicht um Innovationen.
({6})
Sie suchen eine Trägerrakete für Ihre gesellschaftspolitischen Botschaften. Das ist Ihr Ziel, das Sie hier im Bundestag kurz vor einem Wahlwochenende verfolgen.
({7})
Sie rühren sich einen Cocktail aus Themen mit hohen
Aufmerksamkeitswerten in der Bevölkerung zusammen
und garnieren das auch noch mit dem Vorwurf der Geheimniskrämerei von Regierungsstellen.
({8})
Sie sind sich auch nicht zu schade, das in einem Atemzug mit dem NSA-Skandal, dem Abhören unserer Bundeskanzlerin und der Mordserie des NSU in Verbindung
zu bringen. Glauben Sie nicht? Schauen Sie einmal auf
die Website Ihres Kollegen Troost! Da werden Sie fündig werden.
Aufmerksamkeit kriegen, Angst machen, Agitation
betreiben - und das unter der Überschrift „TTIP“, das
hat schon bei der Bundestagswahl nicht funktioniert. Ich
hoffe im Interesse der Bürger dieses Landes, meine Damen und Herren, dass das auch bei der Europawahl am
kommenden Wochenende nicht funktionieren wird.
({9})
Man kann von Glück sagen, dass diese Botschaften nicht
alle Bürger erreichen. Nach einer Meinungsumfrage eines Instituts zusammen mit der Bertelsmann-Stiftung
({10})
sind 53 Prozent der Amerikaner und der Deutschen der
Auffassung, dass das Abkommen grundsätzlich eine
gute Sache ist. Nur 25 Prozent der Bevölkerung sind
skeptisch. Sie wollen uns heute hier genau das Gegenteil
glauben machen. Das ist eine asymmetrische Mobilisierung. So nennt man das.
({11})
Lassen Sie mich abschließend auf die positiven
Aspekte des Abkommens zurückkommen. Wir wollen
einen Mehrwert für die Bürger und die Unternehmen generieren. Unabhängige Studien haben gezeigt, dass das
Abkommen im europäischen Markt über die Jahre ein
Wirtschaftswachstum im Wert von bis zu 120 Milliarden
Euro erbringen kann. Das ist ein kostenloses Konjunkturpaket. Das müssten Sie doch eigentlich gut finden.
({12})
Ich glaube - jedenfalls bei uns ist das so -, unser Finanzminister wird das gut finden.
Wir schaffen zahlreiche Arbeitsplätze. Wir erleichtern
dem deutschen Mittelstand, vor allem kleinen und mittleren Unternehmen, den Zugang zum amerikanischen
Markt. Nicht jedes Unternehmen hatte bisher diese
Chance. Wir setzen gemeinsame Standards als große
Binnenmärkte in einer Handelswelt, die immer komplexer wird und deren Volumen mehr zu den Schwellenländern driftet. Ich glaube, Produkte mit der Bezeichnung
„Gemeinsamer EU/US-Standard“ wären ein Vorbild für
diese Länder, und das wäre auch ein Impuls für das globale Wachstum.
({13})
Ich bin davon überzeugt, dass wir am Ende der Verhandlungen über ein ausgewogenes Abkommen abstimmen können. Für den Abstimmungsprozess hat der
Kollege Tiefensee gerade schon deutliche Hinweise gegeben. Ob es sich um ein gemischtes oder ein anderes
Abkommen handelt, das kann man erst am Ende der Verhandlungen bei einem Vertragsdokument feststellen.
({14})
Bei den meisten Abkommen - die meisten Abkommen
waren auch gemischt - haben hinterher die Mitgliedstaaten in ihren parlamentarischen Verfahren zugestimmt. So
gehört sich das, meine Damen und Herren. Ich glaube,
wir haben keinen Grund, von diesem Verfahren abzuweichen. Die CDU/CSU befürwortet das.
({15})
Wir als Parlament haben die Möglichkeit, selbst über
das Abkommen zu entscheiden. Die Mehrheit dieses
Hauses wird sich dabei von vernünftigen Argumenten
leiten lassen. Das passt zu einem freiheitlichen Binnenmarkt, zu einem starken Rechtsraum, so wie er in den
USA und in der EU vorliegt. Wenn das Verhandlungsergebnis vorliegt, dann werden wir es uns in aller Ruhe ansehen und uns unsere endgültige Meinung dazu bilden.
Einige gute Gründe dafür habe ich Ihnen aus Sicht der
CDU heute bereits genannt.
Herzlichen Dank.
({16})
Als nächster Redner hat der Kollege Sascha Raabe
von der SPD das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Warum verhandeln wir eigentlich ein
Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA,
wenn wir uns im Rahmen der Welthandelsorganisation,
der WTO, doch eigentlich vorgenommen hatten, einen
multilateralen, weltweit gültigen Abschluss zu Fragen
des gerechten und fairen Handels zu erarbeiten?
Leider ist es so, dass die sogenannte Doha-Entwicklungsrunde, die sich insbesondere zum Ziel gesetzt hatte,
die Marktzugänge für Entwicklungsländer zu verbessern, an die Wand gefahren wurde, vor allem von der
Europäischen Union und den USA, und gescheitert ist.
Die Frage der Agrarsubventionen ist dort nie richtig angegangen worden. Man hat die Märkte in Afrika und in
vielen Entwicklungsländern durch Dumping zerstört.
Bis heute leisten die USA noch Baumwollsubventionen,
was westafrikanische Bauern schädigt. Jetzt, nachdem
man die WTO-Runde an die Wand gefahren hat, sagt
man: Die WTO taugt nichts. Jetzt müssen wir ein bilaterales Abkommen schließen. - Das ist eigentlich sehr
schade. Ich bin allerdings jemand, der sagt: Jetzt müssen
wir schauen, welche Chancen die bilateralen Abkommen, die weltweit immer häufiger geschlossen werden,
bieten. Das gilt übrigens sowohl für Entwicklungsländer
als auch für Arbeiter in Deutschland und weltweit.
Eine Chance, die ein bilaterales Abkommen zwischen
der EU und den USA bietet, ist, dass man sich nun mit
der Frage der Sozialstandards und der Kernarbeitsnormen beschäftigt. Ich bin in diesem Bereich seit über elf
Jahren tätig und weiß, dass eine Beschäftigung mit diesem Thema in der WTO sehr schwer durchsetzbar ist.
Das liegt daran, dass die Regierungen der Entwicklungsländer Angst haben, dass es sich dabei um ein Mittel zu
Protektionismus handelt. Ich sage dazu: Wir machen
keine Handelsabkommen für Regierungen und Eliten,
sondern für alle Menschen, die hart arbeiten. Es muss
deshalb in Deutschland und weltweit so sein, dass jeder
Arbeiter von seiner Hände Arbeit leben kann. Ich bitte
Sie deshalb alle um Unterstützung.
({0})
Das Abkommen zwischen der EU und den USA ist
deshalb so wichtig und auch weltweit bedeutsam, weil,
wenn wir hier über die Hälfte des weltweiten Bruttoinlandsprodukts und über ein Drittel des weltweiten Handelsvolumens verhandeln, das natürlich Standards setzt,
die dann auch für andere Handelsabkommen, zum Beispiel solche, die die EU derzeit mit Indien und anderen
Entwicklungs- und Schwellenländern verhandelt, von Bedeutung sind. Wir können den USA daher nicht durchgehen lassen, dass sie bisher nur zwei von acht ILO-Kernarbeitsnormen ratifiziert haben.
({1})
Die Kernarbeitsnormen - das sollten diejenigen, die
sich damit nicht im Detail auskennen, wissen - haben
den Charakter von universellen Menschenrechten. Das
sind nicht irgendwelche deutschen Arbeitsrechte, die wir
dort eins zu eins umsetzen wollen. Das sind selbstverständliche Menschenrechte, zu deren Einhaltung sich
fast alle auf der ganzen Welt verpflichtet haben.
Als vor zwei Wochen der EU-Handelskommissar
Karel De Gucht und der US-Handelsbeauftragte Michael
Froman in Berlin waren, habe ich Herrn De Gucht gefragt: Fordert denn die EU von den USA ganz konkret,
dass diese acht ILO-Kernarbeitsnormen umgesetzt werden? Er hat mir geantwortet: Wissen Sie, Herr Raabe,
wir dürfen da als EU gar nicht so mit dem erhobenen
Zeigefinger agieren; denn selbst einige EU-Mitgliedstaaten hätten, so Herr De Gucht, die ILO-Kernarbeitsnormen noch nicht ratifiziert. - Das war eine klare Falschaussage vom EU-Handelskommissar.
({2})
Denn alle 28 Mitgliedstaaten der EU haben alle acht
ILO-Kernarbeitsnormen unterzeichnet. Es erschüttert mich
schon, dass ein EU-Handelskommissar, der sich mit diesem Thema eigentlich auskennen und es leidenschaftlich
verfolgen müsste, nicht weiß, wovon er redet. Das macht
mir schon Angst, und insbesondere auch - Herr Heider,
da muss ich Sie in der Tat korrigieren -, mit welcher Arroganz er mit den Sorgen und Ängsten der Bürger umgeht.
({3})
Auch wenn noch nicht komplett feststeht, wie das Abkommen aussehen wird, muss man es ernst nehmen,
wenn sich Bürgerinnen und Bürger in der CampactKampagne dagegen aussprechen. Es geht nicht an, zu sagen: Das sind die Interessen von 500 000 Menschen, ich
vertrete 500 Millionen EU-Bürger. - Wer hat den De
Gucht denn gewählt? Er vertritt gar niemanden; er ist
überhaupt nicht gewählt worden. Deshalb hoffe ich - darüber würde ich mich freuen -, wenn Martin Schulz als
Kommissionspräsident als Allererstes diesem arroganten
EU-Handelskommissar den Stuhl vor die Tür setzt.
({4})
Wir müssen wissen, dass selbst Somalia und Myanmar mit drei ratifizierten ILO-Kernarbeitsnormen noch
besser dastehen als die USA. Wenn wir nicht darauf
drängen, dass diese Kernarbeitsnormen umgesetzt werden - das haben auch der Kollege Klaus Barthel und andere gesagt -, führt das bei Wegfall der Zölle dazu, dass
zum Beispiel Opel und andere Autohersteller eventuell
dazu verleitet werden, Teile der Produktion von Rüsselsheim und anderen deutschen Produktionsstandorten in
die USA zu verlegen. Die werden sich sagen: Wir müssen uns dann nicht mehr mit Gewerkschaften und Betriebsräten herumärgern.
({5})
Das können wir im Interesse der deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht zulassen. Wir wollen
nicht, dass Menschen, die in den Autofabriken hart arbeiten, unter Druck geraten. Wir wollen aber auch nicht,
dass uns dann die Inder und andere sagen: Wieso fordert
ihr immer nur von Entwicklungs- und Schwellenländern
die Einhaltung der Kernarbeitsnormen ein, fordert das
aber nicht einmal von den USA ein?
({6})
Deswegen sage ich: Menschenrechte sind überall gültig. Sie gelten auch für die USA.
({7})
Wir können nur dann einem Abkommen zustimmen,
wenn diese Kernarbeitsnormen in ihm verbindlich verankert sind, meine sehr verehrten Damen und Herren!
({8})
Es reicht auch nicht, wenn es nur in einem Kapitel
„Wolkenkuckucksheim“ bzw. in einer Absichtserklärung
in dem Sinne: „Wir wünschen uns, dass alle Partner das
umsetzen“, enthalten ist. Vielmehr muss das auch im
Zuge eines allgemeinen Streitbeilegungsmechanismus
hinterlegt werden, damit Beschwerden überprüft werden
können. Am Ende sollte auch die Sanktion drohen, solch
ein Abkommen auszusetzen. Dann werden sich auch die
US-Unternehmen genau überlegen, ob sie nicht lieber einen Betriebsrat zulassen, statt Milliardenverluste zu haben. Ich glaube, dass das auch fair ist. Die Wirtschaft
wird von diesem Abkommen profitieren. Auch die Arbeitnehmer auf beiden Seiten des Atlantik können profitieren - aber eben nur dann, wenn es fair und gerecht ist.
Die SPD wird nicht zur Verfügung stehen, wenn nicht
auch die Arbeitnehmerrechte in den USA auf den entsprechenden internationalen Stand gebracht werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte
zum Schluss noch auf ein weiteres Thema zu sprechen
kommen, nämlich auf die Auswirkungen eines solchen
Abkommens auf die Länder, die dort nicht begünstigt
sind. Herr Heider hat hier die Bertelsmann-Studie zitiert.
Darin heißt es leider auch:
Die großen Verlierer einer Eliminierung der Zölle
sind Entwicklungsländer. Diese verlieren … dramatisch an Marktanteilen
durch das neue Abkommen. Es trifft besonders die armen Länder. In afrikanischen Ländern können teils ProKopf-Einkommensverluste von bis zu 4 Prozent drohen.
Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass die Entwicklungsländer in der Lage sind, auch ihre Produkte möglichst zoll- und barrierefrei in diesen neuen Markt zu
liefern. Es ist ganz wichtig, dass sie keine Verluste erleiden.
Neben dem Abbau der Zölle gehört natürlich dazu
- dies ist für die Weiterentwicklung der Entwicklungsländer wichtig -, dass wir den Entwicklungsländern dabei helfen, diesen Handel auch betreiben zu können. Im
Augenblick haben die LDCs - die ärmsten Entwicklungsländer - zwar zollfreien Zugang, nur können sie
ihn kaum nutzen, weil sie weder Fabriken noch Häfen
oder Straßen haben, um ihre Waren in die EU zu liefern.
Deswegen - meine Kollegen aus der SPD haben das
schon oft gehört - ist es wichtig, dass wir auch unsere internationalen Verpflichtungen erfüllen und für die Entwicklungshilfe endlich 0,7 Prozent unseres Bruttonationaleinkommens ausgeben,
({9})
damit alle Entwicklungsländer die Chance haben, an einem fairen Handel teilzunehmen, und allen Menschen
auf der Welt, in Deutschland wie auch in Afrika, gedient
ist. In diesem Sinne sage ich im Hinblick auf die nächsten Haushaltsberatungen: Lassen Sie uns die Mittel dafür
kräftig erhöhen, und lassen Sie uns ein faires Handelsabkommen zwischen der EU und den USA abschließen.
Vielen Dank.
({10})
Vielen Dank. - Das war der letzte Redner in dieser
Debatte. Wir kommen jetzt zu einer Reihe von Abstimmungen.
Zunächst Tagesordnungspunkte 4 a und 4 c: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den
Drucksachen 18/1457 und 18/1093 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen jetzt zum Tagesordnungspunkt 4 b, zum
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/1458. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
wünscht Abstimmung über ihren Antrag in der Sache.
Die Fraktionen der CDU/CSU und der SPD wünschen
Überweisung, und zwar zur federführenden Beratung an
den Ausschuss für Wirtschaft und Energie und zur Mitberatung an den Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz, an den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau
und Reaktorsicherheit sowie an den Ausschuss für die
Angelegenheiten der Europäischen Union.
Wir stimmen nach ständiger Übung zunächst über den
Antrag auf Ausschussüberweisung ab. Ich frage deshalb:
Wer stimmt für die beantragte Überweisung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist die
Überweisung mit den Stimmen der CDU/CSU und der
SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen
und Die Linke so beschlossen. Damit stimmen wir heute
über den Antrag auf Drucksache 18/1458 nicht in der Sache ab.
Tagesordnungspunkt 4 d: Wir kommen zum Antrag
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/1455. Die
Fraktion Die Linke wünscht Abstimmung in der Sache.
Die Fraktionen der CDU/CSU und der SPD wünschen
Überweisung an dieselben Ausschüsse wie bei der Vorlage auf Drucksache 18/1457.
Wir stimmen nach ständiger Übung zuerst über den
Antrag auf Ausschussüberweisung ab. Ich frage deshalb:
Wer stimmt für die beantragte Überweisung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist die
Überweisung mit den Stimmen der CDU/CSU und den
Stimmen der SPD so beschlossen. Deshalb stimmen wir
heute über den Antrag auf Drucksache 18/1455 nicht in
der Sache ab.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung des Berichts des Petitionsausschusses
Bitten und Beschwerden an den Deutschen
Bundestag - Die Tätigkeit des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages im Jahr
Drucksache 18/1300
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Vorsitzende des Petitionsausschusses, die Kollegin Kersten
Steinke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich freue mich, dass wir heute fast in der
Kernzeit unseren Jahresbericht vorstellen können - ich
hoffe, das nächste Mal wird die Debatte in der Kernzeit
stattfinden -; deshalb mein herzliches Dankeschön an
die parlamentarischen Geschäftsführer aller Fraktionen!
Das Berichtsjahr 2013 war in mehrfacher Hinsicht
ungewöhnlich.
Zum Ersten ist unser Bericht - bezogen auf die Tätigkeit der Abgeordneten - eigentlich ein Halbjahresbericht; denn die Sommerpause und die Bundestagswahl
sowie die darauffolgenden Sondierungs- und Koalitionsgespräche bescherten uns eine unfreiwillige und ungewohnt lange Auszeit. Ein knappes halbes Jahr gab es
keine parlamentarische Beratung von Petitionen. Dies
hat sich in einigen Fällen auch auf die Bearbeitungszeit
von Petitionen ausgewirkt. Ich bitte deshalb die vielen
Bürgerinnen und Bürger, die die Weiterführung bzw. den
Abschluss ihres jeweiligen Petitionsverfahren in dieser
Zeit anfragten, um Verständnis.
Zum Zweiten wird die jetzige Debatte weitgehend
von Ausschussmitgliedern bestritten, die im Berichtsjahr
noch gar nicht Mitglied des Bundestages, geschweige
denn Mitglied des Petitionsausschusses waren.
Zum Dritten wurde mit einem Anteil von 45 Prozent
an den Gesamteingaben ein neuer Spitzenwert seit 2005
bei der Eingabe von Petitionen auf elektronischem Weg
erreicht.
Zwei Zahlen prägten die Arbeit des Petitionsschusses
im Jahre 2013 in besonderer Weise. Die erste Zahl ist die
der Gesamteingaben. 14 800 Petitionen wurden im Berichtsjahr eingereicht. Die Zahl der Eingaben ist zwar im
Vergleich zu den Vorjahren leicht rückläufig, aber dafür
stieg die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger über
Unterschriften und Mitzeichnungen im Internet, wie man
an der zweiten wichtigen und beeindruckenden Zahl erkennen kann: Über 1,6 Millionen Bürgerinnen und Bürger haben sich bis Ende 2013 auf der Internetseite des
Petitionsausschusses angemeldet, um Petitionen auf
elektronischem Weg einzureichen, um öffentliche Petitionen mitzudiskutieren oder mitzuzeichnen. 426 veröffentlichte Petitionen im Jahr 2013 wurden von über
500 000 Bürgerinnen und Bürgern durch ihre Mitzeichnung unterstützt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, 2 bis 3 Millionen
Seitenaufrufe pro Monat zeigen das rege Interesse der
Bevölkerung an diesem Angebot des Petitionsausschusses. Unser Internetportal ist damit klarer Spitzenreiter
unter den Internetangeboten des Deutschen Bundestages; und darauf sind wir auch ein bisschen stolz.
({0})
All die genannten Zahlen zeigen: Der Petitionsausschuss hat in der Bevölkerung einen hohen Stellenwert,
und die Bürgerinnen und Bürger haben Vertrauen in unsere Arbeit. Genau dieses Vertrauen gilt es jährlich und
täglich aufs Neue zu rechtfertigen.
Wie in den Jahren zuvor, entfiel der größte Teil der
Eingaben, etwa 20 Prozent, also 3 076 Vorgänge, auf das
Ressort Arbeit und Soziales. Hier ging es vorrangig um
Beruf und Einkommen und um gerechte Renten. Der
Themenblock „Grundsicherung für Arbeitsuchende nach
dem SGB II“ war 2013 mit 1 464 Eingaben das Schwergewicht in diesem Bereich. Immer wieder stellt die Rentenanpassung ein großes Thema bei den Petitionen dar,
so auch 2013. Die Bürgerinnen und Bürger kritisieren
dabei die geringe und vor allem die unterschiedliche
Rentenanpassung in den östlichen und westlichen Bundesländern.
Auf dem zweiten Platz der Bundesressorts folgt das
Bundesministerium der Justiz mit 1 879 Eingaben bzw.
circa 13 Prozent der Gesamteingaben. Hier ging es unter
anderem um das Sorgerecht für nichteheliche Kinder
oder um Probleme beim Abschluss von Verträgen im Internet und deren Folgen wie missbräuchliche Abmahnungen sowie illegale Downloads.
Trotz der kurzen Parlamentszeit hat der Petitionsausschuss im Jahr 2013 16-mal getagt und 18 Berichterstattergespräche mit einzelnen Ministerien geführt, um
Lösungen für schwierige Fälle zu finden. Hier wurden
beispielsweise Visaangelegenheiten, die Sicherheit im
Straßenverkehr und die Auslagerung von Dienstleistungen durch Behörden thematisiert.
Hervorzuheben sind weiterhin die drei öffentlichen
Sitzungen, in denen zehn Petitionen zur Einzelberatung
aufgerufen wurden. Themen waren unter anderem die
Petition zur Verbesserung der Rahmenbedingungen in
der Altenpflege mit 108 146 Unterstützerinnen und Unterstützern, die Petition zu bezahlbarem Strom für alle
Verbraucher mit fast 48 000 Unterschriften, die Petition
zur Verpflichtung der Internetanbieter zur Netzneutralität mit fast 77 000 Unterschriften und die Petition zur
Abschaffung der Luftverkehrsteuer mit fast 150 000 Unterstützerinnen und Unterstützern. Die zuletzt genannte
Petition ist übrigens die am häufigsten mitgezeichnete
öffentliche Petition im vergangenen Jahr. Dieser folgt an
zweiter Stelle die Petition zur Abschaffung der Hartz-IVSanktionen mit über 91 000 Mitzeichnungen.
({1})
Zu folgenden Petitionen führte der Ausschuss drei
Ortstermine durch: Besprochen wurden gemeinsam mit
den Petenten und den Vertretern der zuständigen Verwaltungen vor Ort der Schienenlärm und die Streckenführung der Bahn in Coswig, Bad Oeynhausen und
Hameln sowie die Koordinierung mehrerer Großprojekte
der Infrastruktur und Energieversorgung in der Region
der Gemeinde Birkenwerder und der Stadt Hohen
Neuendorf.
Trotz dieser beeindruckenden Zahlen und Fakten
sieht sich der Ausschuss seit einiger Zeit in einer Konkurrenzsituation: Sogenannte Petitionsplattformen schießen wie Pilze aus dem Boden. Ich sage hier aber ganz
deutlich: Nicht überall, wo Petition draufsteht, ist Artikel 17 des Grundgesetzes drin. Nur bei uns können sich
die Bürgerinnen und Bürger darauf verlassen, dass ihr
Anliegen gemäß Artikel 17 Grundgesetz behandelt wird,
es also eine Dreifachgarantie gibt: Die Petition wird entgegengenommen, geprüft und beschieden. Ich bin der
festen Überzeugung: Besonders das Instrument der
öffentlichen Petitionen kann helfen, dem scheinbar steigenden Desinteresse an Politik entgegenzuwirken.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei all den Möglichkeiten, die das Petitionsrecht in Verbindung mit dem
Internet bringt, dürfen wir eines nicht vergessen: die privaten Sorgen und Nöte des einzelnen Bürgers, quasi das
Kerngeschäft des Petitionsausschusses und damit auch
der Hauptanteil unserer Arbeit. All die persönlichen
Bitten und Beschwerden, etwa wegen einer falsch berechneten Rente, eines nicht finanzierten Rollstuhls oder
eines abgelehnten Besuchervisums, beziehen sich auf
Probleme, die für den Einzelnen, der sich an uns wendet,
existenziell sein können. Die Bearbeitung dieser Eingaben eignet sich nicht für Diskussionsforen und öffentliche Beratungen. Doch auch diese Beschwerden zeigen,
wo Politik nicht funktioniert, und werden von uns sehr
ernst genommen und gründlich bearbeitet.
Der Petitionsausschuss wird täglich mit vielen Einzelschicksalen konfrontiert, bei denen Bürgerinnen und
Bürger zwischen die Mühlsteine der Bürokratie geraten
sind und nicht mehr ohne fremde Hilfe herauskommen.
Hier ein Beispiel: Kürzlich erst hat sich ein ehemaliger
Petent gemeldet und dem Ausschuss nach der positiven
Erledigung seiner Eingabe gedankt. Er hatte sich im
Namen seiner 92-jährigen erblindeten Mutter an uns gewandt, deren Ehemann bei einem Arbeitsunfall bei der
Deutschen Reichsbahn verstarb. In der DDR erhielt sie
eine Hinterbliebenenrente, doch der Bezug endete, da sie
bereits 1988 nach West-Berlin übersiedelte und ihr die
Staatsbürgerschaft der DDR aberkannt wurde. Anträge
auf eine Unfall-Hinterbliebenenrente wurden daraufhin
trotz eines sehr geringen Einkommens wiederholt abgelehnt. Durch die Petition ihres Sohnes stellte die Unfallkasse des Bundes ihren Witwenrentenanspruch jedoch
rückwirkend für die letzten vier Jahre fest. Solche Fälle
sind eine große Motivation für uns Abgeordnete im
Petitionsausschuss, zeigen sie doch, dass wir den Bürgerinnen und Bürgern helfen können, zu ihrem Recht zu
kommen.
({2})
Sehr geehrte Damen und Herren, unser Petitionsausschuss wird in diesem Jahr 65. Ich weiß, man sieht es
uns nicht an, aber es ist so.
({3})
Am 14. Oktober 1949 kam er das erste Mal zu seiner
Konstituierung zusammen, um sich, fußend auf Artikel 17 Grundgesetz, künftig der Bitten und Beschwerden
der Bevölkerung anzunehmen. Seitdem gibt es ein demokratisches Petitionsrecht, das im Laufe der Jahre immer wieder Verbesserungen erfuhr.
Doch das war nicht immer so. Es gab auch die Vorgängerin der Petition. Bittschriften oder Bittbriefe gab es
schon in der frühen Neuzeit seit dem 13. Jahrhundert,
man nannte sie Supplik. Diese konnte man bis ins
19. Jahrhundert an eine höher gestellte Institution oder
einen Landesherren stellen. Damals mussten die Suppliken mit großem Respekt und vielen Unterwürfigkeitsformeln als alleruntertänigste Bitte aufgesetzt werden. Es
ist gut, dass das heute nicht mehr so ist.
({4})
Bürgerinnen und Bürger können sich heute demokratisch und ganz bequem von zu Hause aus politisch einmischen.
Ich bin davon überzeugt: Die Mitglieder des Petitionsausschusses und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschussdienstes werden auch weiterhin alles
dafür tun, dass dies so bleibt bzw. immer weiter verbessert wird.
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen
und Kollegen, auch in diesem Jahr möchte ich mich besonders bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des
Petitionsausschussdienstes unter Leitung von Herrn
Dr. Schotten recht herzlich bedanken und den Wunsch
und die Hoffnung äußern, dass die Zusammenarbeit weiterhin so gut bleibt. Herzlichen Dank!
({5})
Ein spezieller Dank geht an unseren Ausschusssekretär,
Herrn Finger, der mich seit 2005 bei meiner Arbeit begleitet und unterstützt. Herzlichen Dank, Herr Finger!
({6})
Mein Dank geht auch - das ist nicht ungewöhnlich - an
meinen Stellvertreter, Herrn Storjohann, mit dem ich seit
2005 sehr gut zusammenarbeite. Herzlichen Dank, Herr
Storjohann. Ich glaube, wir sind ein gutes Team.
({7})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, für das kommende Jahr erhoffe ich mir von den Mitgliedern unseres
Parlaments, des Petitionsausschusses und des Petitionsausschussdienstes weiterhin eine konstruktive Zusammenarbeit, um unsere Bemühungen für die Bürgerinnen
und Bürger noch effektiver gestalten zu können. Unseren
neuen Ausschusskolleginnen und -kollegen möchte ich
sagen: Schön, dass Sie sich für den Petitionsausschuss
entschieden haben! Sie werden es nicht bereuen. Denn
eine Lebensweisheit besagt: Der Pessimist sieht in jeder
Aufgabe ein Problem. Der Optimist sieht in jedem Pro3048
blem eine Aufgabe. - Wir vom Petitionsausschuss sind
Optimisten und sehen in der Lösung der vielen Probleme
unserer Petentinnen und Petenten unsere Aufgabe. Ich
freue mich, diese gemeinsam mit Ihnen lösen zu können.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Vielen Dank. - Nächster Redner in der Debatte ist der
Kollege Günter Baumann, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Eine Petentin aus Thüringen schreibt dem
Petitionsausschuss des Bundestages einen Brief - ich
zitiere -:
… ich bedanke mich für die umfangreiche Antwort
bezüglich meiner Anfrage. Ich möchte Ihnen auch
mitteilen, dass die Berufsgenossenschaft meine
Witwenrente bereits korrigiert und neu berechnet
hat.
Die Petentin hatte sich an unseren Ausschuss gewandt
und hat geklagt, dass bei der Berechnung ihrer Rente, die
sich aus verschiedenen Renten zusammensetzt, eine
Fehlberechnung vorgenommen worden ist. Wir haben
eine aufsichtsrechtliche Prüfung vorgenommen und feststellen müssen: Da ist ein Fehler unterlaufen. Daraufhin
wurde ihre Rente korrigiert. Das Positive ist: Gleichzeitig wurden die Berufsgenossenschaften vom Bundesversicherungsamt angewiesen, vergleichbare Fälle ebenfalls zu prüfen. Der Nebeneffekt war also, dass eine
Vielzahl von Bürgerinnen und Bürgern ebenfalls einen
Bescheid über eine höhere Rente bekommen haben. Es
wurde also von Amts wegen korrigiert.
Meine Damen und Herren, auch solche Dankschreiben wie das gerade genannte tun den Abgeordneten, die
jeden Tag einen Stoß Ordner auf dem Tisch haben, gut.
Wir haben das freudig zur Kenntnis genommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir können in
Deutschland auf unser Petitionswesen, das im Grundgesetz verankert ist, stolz sein. Das System funktioniert,
und es wird von den Bürgerinnen und Bürgern angenommen. Die relativ konstante Zahl an Petitionen - in den
letzten sechs, sieben Jahren waren es zwischen 15 000
und 18 000 Petitionen - zeigt, dass die Bürgerinnen und
Bürger mit ihren Bitten und Beschwerden zu uns kommen, und das, obwohl es in unserem Land sowohl bei
den Behörden wie auch in der privaten Wirtschaft ständig mehr Beauftragte und Ombudsmänner gibt. Allein
im Bund haben wir noch 18 Beauftragte - sie haben alle
ihre Aufgaben; wir stehen also nicht in Konkurrenz zueinander -, aber viele Bürgerinnen und Bürger kommen
mit ihren Problemen zu uns, weil sie wissen, dass wir
eine direkte Verbindung zur Gesetzgebung haben. Wir
alle, die wir im Petitionsausschuss arbeiten, sind in mindestens einem Fachausschuss. Wir können daher viele
Probleme in die Fachausschüsse mitnehmen, was ein absoluter Vorteil ist.
Wir haben seit Jahren - das ist eine wichtige Zahl;
viele Zahlen hat die Vorsitzende bereits genannt, diese
möchte ich aber noch nennen - eine Erfolgsquote von
etwa 40 Prozent. Das heißt, in 40 Prozent der Fälle können wir den Bürgern, die eine Petition eingereicht haben,
helfen, egal in welcher Form. Das ist sehr positiv.
An dieser Stelle möchte auch ich mich ganz herzlich
bedanken, zunächst bei den Abgeordneten im Ausschuss. Ich denke, wir haben eine sehr kollegiale Zusammenarbeit. Das funktioniert ziemlich gut. Im Mittelpunkt
unserer Arbeit sollte das Problem des jeweiligen Bürgers
bzw. der jeweiligen Bürgerin stehen. Wir sollten noch
mehr darauf achten, parteipolitische Zusammenhänge in
die zweite Reihe zu schieben. Es geht hier um die
Probleme. Ich denke, wir sind diesbezüglich auf einem
guten Weg; aber vielleicht können wir manches noch
verbessern.
Ein besonderer Dank geht an den Ausschussdienst;
die Vorsitzende hat diesen Dank schon formuliert. Ohne
die Fachkompetenz der im Ausschussdienst Tätigen wären wir nicht handlungsfähig. Diese Zuarbeit brauchen
wir einfach. Sie ist ganz wichtig.
({0})
Mein Dank gilt auch all denen, die mitgeholfen haben,
dass wir am heutigen Tage relativ zeitig diskutieren dürfen. Leider kann ich die Personen nicht genau benennen.
In den letzten Jahren fand diese Debatte in der Regel
ziemlich spät am Abend statt. Deswegen danke ich all
denen, die dabei mitgeholfen haben.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, 45 Prozent der Petitionen werden inzwischen per E-Mail eingereicht. Wir
haben das System der öffentlichen Petitionen. Wenn in
vier Wochen 50 000 Unterschriften eingehen - sie kennen das -, beraten wir eine Petition öffentlich. Im letzten
Jahr haben wir - die Vorsitzende hat es schon gesagt - in
drei Sitzungen zehn Petitionen öffentlich behandelt.
Das Entscheidende ist, dass wir alle Petitionen gleich
behandeln, dass wir keinen Unterschied machen. Die Petitionen von gut vernetzten Gruppen in unserem Land,
die es schaffen, uns in wenigen Tagen Zehntausende
Unterschriften zu präsentieren, dürfen wir nicht anders
behandeln als die Petition der Bürgerin, die mit einem
Anliegen bezüglich ihrer Rente, ihrem Rollstuhl oder einem anderen Anliegen kommt. Jede Petition muss für
uns eindeutig gleich sein. Ich bitte, dass wir im Ausschuss gemeinsam darauf hinwirken. Wir wollen der
Ausschuss für die Bitten und Beschwerden des Bürgers
bzw. der Bürgerin sein, also des kleinen Mannes bzw.
der kleinen Frau. Für die Menschen, die mit ihren
Problemen an verschiedenen anderen Stellen im Land
vielleicht schon gescheitert sind und dann zu uns kommen, sind wir eigentlich da.
Wir sind stolz darauf, dass unser Ausschuss bestimmte Rechte hat, die andere Ausschüsse in dieser
Form nicht haben. Ein Recht sind die Berichterstattergespräche. Es ist ganz wichtig, dass wir mit der Arbeitsebene eines Ministeriums in Kontakt kommen, dass wir
in Gesprächen über die Petitionen diskutieren und die
Sachlage konkret hinterfragen können. Es ist wichtig,
dass wir Informationen bekommen, die für uns wichtig
sind. So können wir Petitionen oft schneller bearbeiten
und dem Petenten helfen. Ein Beispiel: In einer Petition
hat sich eine Bundespolizistin darüber beschwert, dass
die Kinderbetreuungskosten während eines Lehrgangs,
den sie machen musste, der für einen Laufbahnwechsel
notwendig war, nicht erstattet wurden. Wir haben im Gespräch relativ schnell klären können, dass das ein Fehler
war. Das musste korrigiert werden. So konnten wir der
Frau helfen. Das ist ein positives Beispiel.
Ein zweites Sonderrecht, von dem wir sehr gerne Gebrauch machen, sind die Ortstermine. Diese Ortstermine
haben zwei gute Aspekte:
Der eine Aspekt ist, dass wir Werbung für uns machen. Wenn wir in eine Region kommen, ist die Presse
immer stark vertreten. Die Bürgerinnen und Bürger nehmen uns zur Kenntnis. Sie sehen, dass es uns gibt. Die
Werbung ist ganz, ganz wichtig.
Der zweite Aspekt ist: Wir können vor Ort direkt mit
den Petenten und allen Beteiligten, die etwas mit dem
Thema zu tun haben, diskutieren und uns das Problem
vor Ort anschauen. Im letzten Jahr hatten wir einen Termin an der Eisenbahnstrecke Dresden-Berlin; es ging
- das ist schon erwähnt worden - um Lärmschutz. Das
war ein sehr guter Termin, weil alle an einem Tisch saßen: die Bürgerinitiative, Politiker der kommunalen
Ebene, Politiker des Landes und Vertreter der Bahn. Wir
haben uns die Strecke angeschaut und gesagt, dass dort
wirklich etwas getan werden muss. Nach längerer Beratung
haben wir auch einen Beschluss gefasst, in dem wir ganz
konkret festgelegt haben, dass die Bundesregierung dort etwas tun muss, und zwar bei der Priorisierung der Strecke
im Lärmsanierungsprogramm und bei der Beschleunigung
der Umrüstung der Güterwagen. Außerdem soll an einer
ganz bestimmten Stelle - dort steht ein Krankenhaus - eine
Lärmschutzwand errichtet werden. Das Spannende ist, dass
die Bundesregierung uns ein Jahr nach unserem Beschluss
antworten muss. Im Juli erwarten wir eine Antwort, wie
weit man mit der Umsetzung der einzelnen Maßnahmen
vorangekommen ist. Das ist also ein gutes Beispiel.
({2})
Ganz kurz zum Schluss noch. Es gibt manchmal sehr
schwierige Fälle, bei denen wir nicht so richtig vorankommen. Bei diesen Fällen sind wir im Ausschuss einer
Meinung: Wir wollen etwas tun. Oft wissen wir aber
nicht, wie. In manchen Fällen vertreten auch die Ministerien die Auffassung, dass sie da gar nichts tun wollen.
Wir bleiben dann einfach hartnäckig. Ich möchte zwei
Themen nennen, ohne im Detail darauf einzugehen: Das
Thema Fremdrentner ist noch offen, genauso das Thema
DDR-Antennengemeinschaften. Diese Probleme wollen
wir gerne lösen. Wir können manchmal ganz schön hartnäckig sein und lange an einem Thema dranbleiben, um
im Interesse der Bürgerinnen und Bürger etwas zu erreichen. Wir wollen in diesem Sinne weiterhin für unsere
Menschen arbeiten.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist die Kollegin
Kerstin Kassner, Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Die Debatte an dieser Stelle ist wichtig.
Im Petitionsausschuss arbeiten wir im Interesse der Bürgerinnen und Bürger zusammen. Das wird von jedem
von uns im Petitionsausschuss verlangt. Diesem Anspruch wollen wir auch gerecht werden.
Ich habe am Zustandekommen dieses Berichtes, wie
unsere Vorsitzende sagte, keinen Anteil. Ich bin eine von
den Neuen. Ich bin mit Optimismus und Elan in diese
Aufgabe gestartet. Denn meine Erfahrungen, die ich in
meiner früheren Tätigkeit als Landrätin gesammelt habe,
haben mir gezeigt, dass es immer gut ist, wenn man sich
um die Sorgen und Nöte der Bürgerinnen und Bürger
kümmert, schnell die Ursache des Unbehagens angeht
und versucht, möglichst unbürokratisch und im Interesse
der Bürgerinnen und Bürger zu helfen. Die Arbeit im Petitionsausschuss habe ich als Möglichkeit gesehen, weiterhin auf diese Art und Weise tätig zu sein.
Nach etwa fünf Monaten dort habe ich festgestellt:
Oh, es ist wirklich viel Arbeit. Im Überschwang meiner
Gefühle habe ich einmal meinen Mitarbeiterinnen gesagt, ich würde so lange da bleiben, bis die letzte Petition abgearbeitet ist, und erst dann wieder nach Rügen
fahren. Da haben sie mich gefragt, ob ich die nächsten
vier Jahre hierbleiben will. Ich habe mir das also dann
noch einmal überlegt.
Wir arbeiten so gut, so schnell, aber auch so beharrlich, wie wir können, an den Petitionen. Sie sind sehr
umfangreich und bilden das gesamte Spektrum der Arbeit in Behörden, aber auch im ganz normalen Leben ab.
Man bräuchte eigentlich viel öfter die Unterstützung der
Fachpolitiker, die uns helfen, die Beschwerden inhaltlich
richtig zu bearbeiten. Vielleicht gibt es eine Möglichkeit,
die Fachpolitiker noch mehr einzubeziehen. Denn mittlerweile stellen wir 26 Mitglieder des Petitionsausschusses, davon sechs von der Opposition, die wir ja alle Petitionen bearbeiten müssen, fest: Das ist schon ein hartes
Brot. Da haben wir ganz schön zu tun. Man muss sich
wirklich ins Zeug legen, um das zu schaffen.
Wichtig ist auch, dass man die Bürger mit einbeziehen kann. Deshalb möchte ich dem Ältestenrat ganz
herzlich danken, dass wir hier und heute über dieses
Thema sprechen können. Nutzen Sie, liebe Zuhörerinnen
und Zuhörer, diese Möglichkeit, wenn Sie Sorgen und
Probleme haben. Wir sind gern für Sie da. Wir werden
versuchen, in Ihrem Interesse zu handeln, auch wenn
manches nicht gleich erledigt werden kann.
Viele Dinge, die auf unseren Tisch kommen, sind eine
Art Seismograf der Politik. Man erkennt, wo die Sorgen
und Nöte der Menschen in unserem Land sind. Etwa
25 Prozent der Petitionen, die auf unseren Tisch kommen, betreffen soziale Probleme. Dadurch merkt man,
dass in unserer Republik noch so manches zu verändern
ist.
({0})
Die Petitionen betreffen immer wieder die Probleme,
mit denen wir uns schon beschäftigt haben: Hartz IV, die
Arbeitsverwaltung und die Rentenproblematik. Kollege
Baumann hat einen ganz speziellen Fall erwähnt, aber es
gibt viele Fälle von Ungerechtigkeit bei der Rentenüberleitung im Zuge der deutschen Einheit. Hier haben wir
noch sehr viel zu tun, um zu erreichen, dass es wirklich
gerecht zugeht.
({1})
Dem wollen wir uns natürlich mit ganzer Kraft widmen.
Ich möchte an dieser Stelle den Dank an unsere Mitarbeiter und natürlich vor allem an die Mitarbeiter des
Ausschussdienstes erneuern. Es ist wirklich grandios,
was die Kollegen da leisten. Vielen Dank!
({2})
Mir haben auch öffentliche Diskussionen sehr gut gefallen; das sollten wir öfter machen. Deshalb rege ich an,
über das Quorum von 50 000 Petenten nachzudenken.
Vielleicht sollte man es doch etwas herabsetzen, weil die
Befassung mit diesen Anliegen uns allen einen Erkenntnisgewinn verschafft. Ich würde mir auch wünschen,
dass über Massenpetitionen tatsächlich hier im Parlament diskutiert wird. Sie sind es einfach wert, auf den
Tisch des Hohen Hauses zu kommen.
({3})
Liebe Bürgerinnen und Bürger, Sie sollten diese Möglichkeit nutzen, wenn Sie denken, dass Ihnen auf diese
Art und Weise Gerechtigkeit und Hilfe zuteilwerden.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist der Kollege Udo
Schiefner, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Als sich vor der Bundestagswahl abzeichnete, dass ich erstmals diesem Parlament
angehören könnte, haben mich erfahrene Kolleginnen
und Kollegen - ich verrate allerdings nicht, wer - vor
dem Petitionsausschuss gewarnt.
({0})
Eine außergewöhnlich große Arbeitsbelastung und verwirrend viele Themen kämen auf mich zu. Mir wurde
geraten, mich als Parlamentsneuling zunächst einmal auf
einen Fachausschuss zu konzentrieren. Darauf konzentriere ich mich - keine Sorge -; aber ich bin richtig froh,
meinem Wunsch entsprechend auch im Petitionsausschuss mitarbeiten zu können. Die ersten Monate in diesem Ausschuss belegen, dass dies eine ganz wichtige
Arbeit im Parlament ist. Ich bereue meine Entscheidung
keine Minute.
({1})
Jede Bürgerin und jeder Bürger hat das Recht, sich
mit seiner Sorge an den Bundestag zu wenden. Häufig
sind ganz konkrete individuelle Probleme zu lösen. Oft
führen Petitionen aber auch dazu, dass ein Gesetz auf
den Prüfstand gestellt werden muss; das gilt auch für
Durchführungsbestimmungen und Verordnungen. In den
Petitionen geht es immer wieder auch um die Nebenwirkungen der Gesetze, die wir hier beschließen, die aber
womöglich erst in der Praxis deutlich werden. Durch die
Petitionen erfahren wir, wo politische Entscheidungen
oder ihre Umsetzung nicht immer rundlaufen und wo es
ganz klar Nachbesserungsbedarf gibt.
Dabei ist es kein Zufall, dass sich ein Fünftel aller Petitionen um den Bereich Arbeit und Soziales dreht. Dort
sind die Menschen hautnah betroffen, und dort ist die
Gesetzeslage am komplexesten. Oft geht es um persönliche Belange. Es geht um die falsch berechnete Rente
oder den nicht finanzierten Rollstuhl. Aber ebenso treibt
die Menschen Grundsätzliches um wie Rentenregelungen, Verbraucherschutz oder auch Verkehrsthemen.
Mit eindrucksvollen Zahlen - unsere Ausschussvorsitzende, Kollegin Steinke, hat sie gerade genannt - belegt der Jahresbericht, wie engagiert die Bürgerinnen
und Bürger in unserem Land sind. Das wird deutlich,
wenn wir auf die Zahl der in 2013 eingereichten Petitionen blicken. Der Petitionsausschuss ist damit für mich
einer der wichtigsten Ausschüsse dieses Hauses.
({2})
Ich möchte unterstreichen: Die Petition ist zentrales Instrument unserer lebendigen Demokratie. Darauf können
wir stolz sein. Ich bin dankbar, dass unsere Verfassungsmütter und -väter Artikel 17 ins Gesundgesetz geschrieben haben, meine Damen und Herren.
({3})
Neben den Petitionen Einzelner gewinnen öffentliche
Sammelpetitionen eine immer größere Bedeutung; auch
dies wurde schon erwähnt. Ich finde, sie beflügeln die
öffentliche Debatte. Oft - meines Erachtens aber noch
nicht oft genug - werden diese Petitionen in öffentlichen
Anhörungen verhandelt. Im vergangenen Jahr fanden
zehn öffentliche Anhörungen statt. In diesem Jahr konnten wir bereits zwei öffentliche Anhörungen erleben.
Bürgerinnen und Bürger konnten ihre Anliegen persönlich vorbringen, auf Nachfragen antworten und wurden
von Regierungsvertretern angehört. Näher dran sein,
finde ich, kann man nicht. Wir brauchen diese Nähe für
unsere Arbeit im Ausschuss, aber auch im Plenum, gerne
auch häufiger als zehnmal im Jahr.
({4})
Darum sollten wir die Verfahrensgrundsätze des Petitionsausschusses offen diskutieren, beispielsweise mit
Blick auf die Mitzeichnungsfristen oder das erforderliche Quorum für öffentliche Anhörungen. So könnten wir
mehr Petitionen, die auch für die Öffentlichkeit wichtig
sind, Raum bieten und auch ihre Wahrnehmung im parlamentarischen Alltag erhöhen.
Ich wiederhole es gerne noch einmal: Petitionen zeigen uns auf, wenn Gesetze in der Lebensrealität der
Menschen nicht so funktionieren, wie wir uns das vorgestellt haben. Das liegt nicht daran, dass wir im Bundestag uns nicht alle Mühe gäben, das Richtige zu tun. Ob
das richtig Gedachte auch in der Praxis funktioniert, dies
wird erst deutlich durch die vielen Rückmeldungen aus
der Bevölkerung.
Meine Damen und Herren, sehr geehrte Frau Steinke,
liebe Kolleginnen und Kollegen des Petitionsausschusses, zu den erfreulichsten Erfahrungen meiner bisherigen
Arbeit hier im Bundestag gehört - dies kann ich abschließend sagen - die gute und engagierte Atmosphäre
im Petitionsausschuss. Quer durch die Fraktionen beraten wir sachlich und kollegial die Anliegen der Petentinnen und Petenten. Doch ohne die umfangreiche Zuarbeit
des Ausschussdienstes - dies wurde schon mehrmals erwähnt - hätten wir tatsächlich keine Chance, die Flut
von Petitionen zu bewältigen. Auch darum herzlichen
Dank an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschussdienstes!
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Vielen Dank. - Herr Kollege Schiefner, Sie sind nicht
nur das erste Mal in dieses Parlament gewählt worden,
sondern das war auch Ihre erste Rede. Herzlichen Glückwunsch dazu!
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Corinna Rüffer,
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Als Neuabgeordnete bin auch ich beeindruckt
von der Arbeitsleistung und den Erfolgen des Petitionsausschusses. Dafür meinen Respekt und meinen Glückwunsch an die Mitglieder der letzten Wahlperiode!
Mehr noch bin ich beeindruckt vom Engagement der
Bürgerinnen und Bürger. Sie haben dafür gesorgt, dass
das Portal des Petitionsausschusses mit mehr als 33 000
Klicks pro Tag und 1,6 Millionen Nutzerinnen und Nutzern Spitzenreiter unter den Internetangeboten des Bundestages ist und zu den wichtigsten Formen der politischen Aktivität in den neuen Medien zählt.
Meine Vorgänger haben mir die Mitgliedschaft im Petitionsausschuss damit interessant gemacht, dass man
immer mitten im Leben und sehr nah bei den Bürgern
sei. Außerdem sei die Atmosphäre eine ganz besonders
gute, da man - anders als in anderen Ausschüssen - weniger an der parteipolitischen Auseinandersetzung als an
der gemeinsamen Lösung von Problemen orientiert sei.
Das stimmt. Nur zu viel Arbeit dürfe man nicht fürchten;
denn der Petitionsausschuss sei traditionell der fleißigste
Ausschuss.
({0})
Das haben auch andere Redner gesagt. Nach zehn Ausschusssitzungen kann ich Ihnen sagen: Ich glaube, das
stimmt, und da stimmen alle Ausschussmitglieder zu.
Der Petitionsausschuss ist ein ganz hervorragender
Ausschuss. Es macht mir ebenso wie den Kolleginnen
und Kollegen meiner Fraktion, aber offensichtlich auch
den Kolleginnen und Kollegen der anderen Fraktionen
riesigen Spaß, hier für die Anliegen der Bürgerinnen und
Bürger einzutreten.
Zunächst aber gilt mein ausdrücklicher Dank den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschussdienstes. Sie
hatten im Berichtszeitraum eine wahre Herkulesaufgabe
zu bewältigen: Nicht nur, dass sie die massenhaften Petitionen wie gewohnt gewissenhaft und kompetent bearbeitet haben, sie mussten zu Beginn der Wahlperiode
auch ein quasi führerloses Schiff steuern. Denn SPD und
Union haben Monate für die Regierungsbildung benötigt
und so auch die Einsetzung der Fachausschüsse lange
verhindert.
In dieser außergewöhnlichen Situation zeigte sich die
ganze Qualität der hervorragenden Mannschaft im Ausschussdienst. Sie, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
dort hinten, haben das Grundrecht in Artikel 17 des Grundgesetzes vor dem Schiffbruch bewahrt. Vielen Dank dafür!
({1})
Diese bedenkliche Situation, dass das Petitionsrecht
durch die Handlungsunfähigkeit der Regierungskoalition
monatelang blockiert war, darf sich nicht wiederholen.
({2})
Darum begrüßt meine Fraktion ausdrücklich den Vorschlag, den Petitionsausschuss quasi als ständigen Ausschuss nach dem Ende einer Wahlperiode bis zur Neubesetzung der Parlamentsausschüsse fortbestehen zu lassen.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, als ich mich für den
Petitionsausschuss entschieden hatte, bekam ich vielfach
zu hören, der Ausschuss sei in Wahrheit nicht ernst zu
nehmen und nur ein Feigenblatt des Parlamentes, um
Versäumnisse zu verdecken und aufkommenden Protest
zu lähmen. Ich sage: Das Gegenteil ich richtig. Der Petitionsausschuss ist Alarmglocke statt Beruhigungspille.
Das Petitionsrecht ist eines der bedeutendsten Instrumente politischer Innovationen, bürgerschaftlichen Engagements und demokratischer Mitwirkung. Kein anderes Parlamentsgremium ist so nah an den Sorgen und
Nöten der Bürgerinnen und Bürger. Ob Vorratsdatenspeicherung, Hebammen, Asyl für Edward Snowden,
ALG II oder Hospizversorgung: Es gibt keine Gesetzeslücke, die die Menschen stört, kein Thema, das die Öffentlichkeit bewegt, und keine Ungerechtigkeit, die die
Bürgerinnen und Bürger erzürnt, die nicht ihr Echo im
Petitionsausschuss fänden. Spätestens seit der von RotGrün durchgeführten Reform des Petitionsrechtes fühlen
sich auch viele Bürgerinnen und Bürger von dieser Partizipationsmöglichkeit angesprochen,
({4})
die eine eher kritische und skeptische Grundhaltung gegenüber der Politik zeigen.
Mein Fazit lautet darum: Der Petitionsausschuss ist
das Lorbeerblatt und nicht das Feigenblatt des Parlamentes.
({5})
Doch wer sich auf seinen Lorbeeren ausruht, der trägt sie
an der falschen Stelle.
({6})
Dem Vertrauen in die Gestaltungskraft von Parlament
und Politik kann der Petitionsausschuss nur gerecht werden, wenn das Parlament selbst den Petitionsausschuss
nicht als Kummerkasten, sondern als Labor und Werkstatt für Fortschritt und Verbesserung begreift. Darum
müssen wir auch in dieser Wahlperiode mit Nachdruck
an einer Fortentwicklung des Petitionsrechts arbeiten,
damit die Bitten und Beschwerden der Bürgerinnen und
Bürger mehr als bisher in die Entscheidungsfindung des
Parlamentes einfließen.
Grundsätzlich sollten alle Petitionen öffentlich beraten werden, es sei denn, der Petent wünscht das nicht
oder private oder datenschutzrechtliche Belange stehen
dem entgegen. Heute ist es aber Praxis, dass selbst öffentliche Petitionen nichtöffentlich beraten und beschieden werden. Das ist vollkommen absurd und nicht vermittelbar.
Mit einer Stärkung des Petitionsrechts könnten wir
auch die repräsentative und die teilnehmende Demokratie auf neuartige Weise kombinieren. Darum sollten wir
das Instrument der öffentlichen Petitionen zu einer wirklich offenen Petition weiterentwickeln: Petitionen sollten
nicht nur, wie bisher, auf dem Portal des Ausschusses
diskutiert und mitgezeichnet, sondern auch gemeinsam
erarbeitet und eingereicht werden können. Diese Bitten
zur Gesetzgebung sollten dann auch in den Fachausschüssen des Parlamentes und hier im Plenum angemessen beraten werden.
Partizipation findet aber nicht nur über das Internet
statt. Deshalb brauchen wir im Petitionsrecht erweiterte
Zugangsformen und Zugangspforten für diejenigen, die
sich nicht im Netz bewegen wollen oder können, zum
Beispiel Menschen mit geringem Einkommen oder niedrigem Bildungsniveau oder auch alte Menschen. Wir
sollten zum Beispiel über Bürgerbüros vor Ort und andere Möglichkeiten der Hilfestellung und nichtelektronischen Einreichung von Petitionen nachdenken. Zudem
müssen wir auch die Menschen gewinnen, die sich bisher zu wenig eingemischt haben, zum Beispiel Erwerbslose, Frauen sowie Migrantinnen und Migranten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, für mich und meine
Fraktion ist natürlich jede Petition gleich viel wert, ganz
gleich, ob sie von einer Person, von 100 Personen, von
1 000 Personen oder sogar von Hunderttausenden eingereicht wird.
({7})
- Danke, Herr Baumann. - Die Hilfe im Einzelfall, das
Aufdecken und Beseitigen von eklatanten Ungerechtigkeiten oder Willkür ist nämlich unser Kerngeschäft.
Einer meiner Vorgänger, Josef Winkler, hat es einmal
so formuliert: Im Petitionsausschuss sind wir das
Sprachrohr der Leisen, die Muskeln der Schwachen. Doch in Zeiten, in denen nur wenige Oppositionsabgeordnete einer großen Mehrheit von Abgeordneten der
Großen Koalition gegenüberstehen, ist es eine besondere
Herausforderung, den Bürgerinnen und Bürgern mit ihren Anliegen zu ihrem Recht zu verhelfen.
({8})
Schon in den ersten Ausschusssitzungen dieser Wahlperiode wurde deutlich, dass die Mitglieder der Regierungsmehrheit kein großes Interesse daran hatten, ihre
eigene Regierung zu kritisieren - naturgemäß.
({9})
Aber seien Sie versichert, dass wir Sie es spüren lassen
werden, dass wir im Ausschuss zwar wenige, aber dafür
umso besser sind.
({10})
Morgen begehen wir in diesem Hause den 65. Geburtstag des Grundgesetzes. Seit über 60 Jahren ist also
auch das Petitionsrecht wertvoller Teil unserer demokratischen Verfasstheit. Der Petitionsausschuss ist seitdem
aus der passiven Rolle des Kummerkastens und Warners
herausgewachsen. Er hat sich bewegt und bewegt dadurch die Menschen in diesem Land. Er ist durch die
vielen Petitionen wahrscheinlich auch ein bisschen
weise geworden. Doch: „Was nützt mir meine Weisheit,
wenn die Dummheit regiert?“ So heißt es in einem alten
jüdischen Sprichwort. Vielleicht würde heute die Antwort lauten: Schreib doch eine Petition und ändere es. In diesem Sinne lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, dass uns die Petitionen schlaumachen und unser
Land weise regiert wird.
Vielen Dank.
({11})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist der Kollege Paul
Lehrieder, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich
darf jetzt im neunten Jahr im Petitionsausschuss des
Deutschen Bundestages mitwirken.
({0})
- Das habe ich nicht deswegen gesagt, um Applaus zu bekommen, lieber Kollege Storjohann, aber es tut trotzdem
gut; keine Frage. - Es ist richtig, was viele Redner bereits
ausgeführt haben: Der Petitionsausschuss ist sicher sehr
arbeitsintensiv. Es ist aber der Ausschuss - die Erfahrung
durfte ich die letzten Jahre machen -, in dem man die Sorgen und Nöte unserer Mitmenschen, ob groß, ob klein, ob
von Einzelnen oder von Gruppen, tatsächlich aus nächster
Nähe mitbekommt. Ich kenne eine sehr wichtige Partei in
Bayern, die auf ihre Plakate schreibt: „näher am Menschen“. Der Petitionsausschuss ist näher am Menschen.
({1})
Ich darf die Gelegenheit nutzen, mich für die CSU
beim Ausschusssekretariat sehr herzlich zu bedanken.
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Sekretariats
machen einen tollen Job. Sie arbeiten uns die Akten hervorragend zu. Wenn man weiß, dass der Petitionsausschuss im Laufe eines Jahres immerhin die stolze Anzahl
von 14 800 Petitionen, mithin 60 Petitionen pro Tag,
werktäglich gerechnet, bearbeiten muss, dann sieht man,
was die Damen und Herren in unserem Sekretariat tatsächlich alles leisten müssen. Herzlichen Dank dafür!
({2})
Ich darf auch die Gelegenheit nutzen, mich bei unserer Vorsitzenden, Frau Steinke, für die im Wesentlichen
sehr objektive und überparteiliche Leitung des Ausschusses sehr herzlich zu bedanken. Frau Steinke, da
müssen Sie jetzt durch, dass Sie von der CSU einmal gelobt werden. Es macht Spaß, mit Ihnen zusammenzuarbeiten.
({3})
Bedanken darf ich mich auch bei den Geschäftsführern der Fraktionen, dass es uns heuer gelungen ist, den
Petitionsbericht zu so prominenter Zeit im Plenum debattieren zu dürfen. Das war nicht in jedem Jahr so. Lieber Max Straubinger, liebe Geschäftsführer der anderen
Fraktionen, herzlichen Dank dafür! Ich bitte darum, das
weiter so zu handhaben.
({4})
Das Jahr 2013 war für den Petitionsausschuss des
Deutschen Bundestages - hierauf wurde schon hingewiesen - ein ungewöhnliches Jahr. Die Bundestagswahl
nach der parlamentarischen Sommerpause und die darauf folgenden Sondierungs- und Koalitionsgespräche
brachten für die Abgeordneten des Petitionsausschusses
eine unfreiwillige und ungewohnt lange Pause mit sich.
Zwar haben wir in dieser Zeit dennoch, ebenso wie der
Ausschussdienst, zahlreiche Petitionen bearbeitet. Allerdings konnten wir aufgrund der fehlenden Sitzungen
keine Petitionen abschließend beraten. Nichtsdestotrotz
waren wir bemüht, so viele Eingaben wie möglich abzuarbeiten, und so war das Jahr 2013 für alle Beteiligten
ein besonders arbeitsreiches Jahr.
Eine Besonderheit des Petitionsrechts ist nämlich,
dass der Petitionsausschuss nicht der sogenannten Diskontinuität unterliegt. Das Diskontinuitätsprinzip des
Deutschen Bundestages bedeutet die sachliche, organisatorische und personelle Nichtfortsetzung nach Ablauf einer Wahlperiode. Jedes Gesetzgebungsverfahren endet
mit der Wahlperiode. Alle Gesetzesvorlagen beispielsweise, die vom alten Bundestag nicht beschlossen wurden, müssen erneut eingebracht und neu verhandelt werden. Das gilt aber nicht für die Behandlung von
Petitionen. Es ist gut, dass man die Arbeit nicht doppelt
machen muss, sondern da weiterarbeiten kann, wo man
in der letzten Wahlperiode aufgehört hat. Als sich der
Petitionsausschuss mit Beginn der 18. Wahlperiode neu
zusammengesetzt hat, wurden die Anliegen der Bürgerinnen und Bürger, die sich an den Petitionsausschuss
gewandt haben, weiter bearbeitet. Das heißt, kein Anliegen eines Bürgers geht verloren; alle Anliegen werden
bearbeitet.
Die besondere Bedeutung des Petitionsausschusses
zeigt sich nicht nur in der verfassungsrechtlichen Verankerung in den Artikeln 17 und 45 c unseres Grundgesetzes, sondern auch in der Zahl der Eingaben, die den
Deutschen Bundestag jedes Jahr erreichen. 14 800 Petenten, 60 Petitionen pro Tag - ich habe schon darauf
hingewiesen -, sind ein stolzes Ergebnis. Das heißt aber
auch, dass die Bürger sich trauen und das JedermannGrundrecht, das jedem unabhängig von der Staatsangehörigkeit zusteht, von vielen Menschen in Anspruch genommen wird.
Auch im Berichtsjahr 2013 lag der Fokus der Eingaben auf dem Bereich des Bundesministeriums für Arbeit
und Soziales, für das ich bereits in den letzten Jahren Bericht erstatten durfte. Wie schon in den Vorjahren gingen
hierzu die meisten Eingaben ein. Die 3 067 Eingaben
machten rund 20 Prozent und damit den größten Anteil
an der Gesamtzahl aller eingereichten Petitionen aus.
Nicht nur die Eingaben in diesem Bereich waren rekordverdächtig: Mit über 41 Millionen Menschen waren
auch noch nie so viele Menschen in Lohn und Brot wie
2013.
Der Großteil der Eingaben im Bereich Arbeit und Soziales betraf, wie auch in den Jahren zuvor, die Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II, das sogenannte Hartz IV, gefolgt vom Bereich der gesetzlichen
Rentenversicherung. Ich gehe davon aus, dass uns auch
in Zukunft die eine oder andere Eingabe dazu erreichen
wird.
Auch im Jahr 2013 erreichten den Petitionsausschuss
zahlreiche Eingaben, die sich mit der Gesellschaft für
musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte, GEMA, beschäftigten. Wir haben uns
letztes Jahr - daran darf ich in diesem Zusammenhang
erinnern - auch mit der Petition zur Künstlersozialkasse
befasst.
Ich will abschließend an alle Fraktionen meinen Dank
richten. Am meisten Spaß macht es uns, wenn es uns wie
bei einigen Petitionen gestern Vormittag gelingt, einstimmig eine Empfehlung auf den Weg zu bringen und
wir fraktionsübergreifend sagen: Diesem Mann oder dieser Frau muss geholfen werden. Dass wir uns zusammenraufen und einen einstimmigen Beschluss fassen,
kommt nicht in jedem Ausschuss in der Häufigkeit vor
wie im Petitionsausschuss. Herzlichen Dank dafür! Ich
wünsche Ihnen alles Gute und uns weiterhin eine gute
Zusammenarbeit.
Danke schön.
({5})
Danke schön. - Das Wort hat jetzt Birgit Wöllert,
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch ich gehöre zu den neuen Bundestagsabgeordneten.
Es ist natürlich schwierig, die Arbeit von Menschen zu
beurteilen, die vorher hier gearbeitet haben.
Als ich gefragt wurde, ob ich im Petitionsausschuss
mitarbeiten würde, bin ich etwas zusammengezuckt.
Denn ganz überraschend ist es für mich nicht, dass das
viel Arbeit bedeutet. Ich habe fast eine ganze Legislaturperiode im Petitionsausschuss des Brandenburger Landtags gearbeitet und weiß daher auch, dass man in einem
solchen Ausschuss einen guten Überblick über die Probleme bekommt, die es im Land gibt. Das ist auch eine
gute Qualifikation für die eigene politische Arbeit. Das
ist übrigens auch der Arbeit des Ausschussdienstes zu
verdanken, weil er die Abgeordneten fachlich sehr gut in
die Lage versetzt, sich ein Urteil zu bilden, auch wenn
sie dem Votum dann nicht immer folgen. Also auch von
mir ein herzliches Dankeschön für diese fleißige Arbeit!
Ich beziehe gleich alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
unserer Büros und natürlich auch unsere Referentinnen
und Referenten in meinen Dank mit ein.
({0})
Mein Fachgebiet ist die Gesundheitspolitik. Die Gesundheitspolitik nimmt im Ranking der Petitionen des
vergangenen Jahres Platz fünf ein. Das bedeutet: Auch
in diesem Politikbereich gibt es in diesem Land viel zu
tun. Es gibt eine Reihe von Problemen, die ich konkret
ansprechen möchte.
So mutet es zum Beispiel schon fast zynisch an, wenn
Krankenkassen einem Menschen den Zugang zu seinem
Arbeitsplatz im eigenen Haus oder in seinen Garten verweigern, weil sie die Kosten für das geeignete Hilfsmittel zur Überwindung einiger Treppenstufen nicht übernehmen. Es geht auch nicht an, dass den Patientinnen
und Patienten, deren Mobilität eingeschränkt ist, die aus
Altersgründen Fachärztinnen und Fachärzte kaum erreichen können oder die dafür große Strecken überwinden
müssen, die Fahrtkosten nicht erstattet werden. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir ihnen den Weg zu gesundheitlichen Leistungen erleichtern können.
({1})
Gerade in meinem Bundesland Brandenburg ist das in
der Fläche ein großes Problem. Dass mein Bundesland
nach Berlin - Berlin liegt ja mitten in Brandenburg ({2})
bei der Anzahl der Petitionen im Verhältnis zur Bevölkerungszahl auf Platz zwei liegt, hat vielleicht auch damit
zu tun, dass die Menschen dort am meisten ihr demokratisches Recht wahrnehmen und versuchen, auch mithilfe
von Petitionen zu ihrem Recht zu kommen.
In diesem Zusammenhang möchte ich auf die öffentlichen Petitionen verweisen. Ich halte diese Petitionen für
ein sehr gutes Mittel, um die Menschen demokratisch zu
beteiligen. Das zeigt nicht zuletzt die Petition zur Hebammenproblematik. Wir werden am 23. Juni öffentlich
darüber sprechen. Diese Petition hat viele motiviert, sich
mit dieser Problematik auseinanderzusetzen.
Ich freue mich weiterhin auf die Arbeit im Petitionsausschuss.
Danke schön.
({3})
Vielen Dank. - Es spricht jetzt Markus Paschke, SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der
Mensch muss im Mittelpunkt stehen. Das ist meine politische Leitidee. Wie wichtig das ist, wird mir bei meiner
politischen Arbeit im Petitionsausschuss des Deutschen
Bundestages immer wieder deutlich; denn dort wird man
direkt mit den Problemen der Menschen konfrontiert.
Als neuer Abgeordneter habe ich in den vergangenen
Monaten erfahren, welch großes Potenzial ein solches
Petitionssystem besitzt.
Erlauben Sie mir, Ihnen dies an einem Beispiel aus
dem Jahresbericht des Petitionsausschusses deutlich zu
machen. Eine 60-jährige Frau hatte sich an den Petitionsausschuss gewandt. Sie berichtete, dass sie seit dem
16. Lebensjahr ununterbrochen als Krankenschwester
gearbeitet hat. Nach den Berechnungen der Rentenversicherung wird die Rentenhöhe voraussichtlich etwas über
472 Euro betragen, was nicht zuletzt auch auf die niedrige Entlohnung von Krankenschwestern zurückzuführen ist. Diese Frau hat nie über die finanziellen Mittel
verfügt, Rücklagen zu bilden oder private Vorsorge zu
betreiben.
Der Petitionsausschuss sah aufgrund der Schilderungen der Krankenschwester die Notwendigkeit, für Geringverdienende im Alter etwas zu tun. Er unterstützt
deshalb das grundlegende Anliegen für eine höhere Rentenleistung für Geringverdienende.
Im Koalitionsvertrag, den CDU/CSU und SPD geschlossen haben, wurde die solidarische Lebensleistungsrente vereinbart. Diese Rente soll nach bisherigen
Überlegungen die Lebensleistung derjenigen honorieren,
die bei Erreichen der Regelaltersgrenze 35 Jahre Beiträge gezahlt und dennoch im Alter weniger als 30 Rentenentgeltpunkt erreicht haben.
Die Einführung der solidarischen Lebensleistungsrente ist noch in dieser Legislaturperiode geplant.
({0})
Die Petition der Krankenschwester hat einen wichtigen
Beitrag zu diesem politischen Beschluss geleistet. Aber
nicht nur dieser von mir erwähnte Fall macht deutlich,
wie wichtig es ist, dass wir immer genau hinschauen,
wenn es darum geht, Beschlüsse im Petitionsausschuss
zu fällen; denn unsere Entscheidungen wirken sich häufig direkt auf das Leben der Menschen aus.
Eine weitere Frage, die wir Abgeordnete uns immer
wieder stellen müssen, lautet: Wie erreichen wir mehr
Bürgerbeteiligung? Meine Erfahrungen nach einem halben Jahr Zugehörigkeit zum Deutschen Bundestag zeigen: Mit dem Petitionsausschuss und dem Petitionsrecht
kann man etwas sichtbar politisch bewegen, ja sogar etwas verändern. Das beweist auch eindrucksvoll der vorliegende Bericht. Deshalb unterstützen wir nicht nur das
Engagement der Bürgerinnen und Bürger, sondern wir
nehmen auch ihre Sorgen und Nöte ernst. An diesem
Anspruch müssen wir uns als Abgeordnete immer wieder messen lassen.
Nicht selten werden wir durch die Probleme der Menschen, die sich an uns wenden, auf Gesetzeslücken und
Ungerechtigkeiten aufmerksam; denn hinter den meisten
Petitionen verbirgt sich nicht nur ein Einzelschicksal.
Deshalb setzen wir uns als SPD-Bundestagsfraktion
- auch ich persönlich - für ein starkes und bürgerfreundliches Petitionsrecht ein, egal ob es um private Probleme
oder um öffentlich-politische Belange geht; denn bei all
unserem politischen Denken und Handeln muss der
Mensch immer im Mittelpunkt stehen.
Jede Petition bedarf der Vorbereitung und der Recherche. Wie viele meiner Vorrednerinnen und Vorredner
möchte auch ich mich ganz ausdrücklich bei allen Beteiligten in den Petitionsverfahren und ganz besonders bei
den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschussdienstes für ihre Arbeit bedanken.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({1})
Herzlichen Dank. - Nächste Rednerin ist Antje
Lezius, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich
bin eine neue Abgeordnete. Als ich in den Bundestag
einzog, habe ich mir natürlich Gedanken über die Mitarbeit in den Fachausschüssen gemacht. Ich möchte hier
ganz offen gestehen: Der Petitionsausschuss kam mir dabei nicht in den Sinn. Als ich nach einer Mitarbeit in
ebendiesem Gremium gefragt wurde, war ich entsprechend überrascht.
Dienstälteste Kollegen lobten mir gegenüber die Vielseitigkeit der Arbeit, ganz besonders für die neuen Abgeordneten. Der Blick in den Jahresbericht zeigte mir,
dass Vielseitigkeit noch untertrieben ist. Ich möchte fast
sagen: Die Themenvielfalt des Petitionsausschusses ist
allumfassend. Das macht nicht unwesentlich den Reiz
der Mitarbeit in diesem Ausschuss aus. Die Themen reichen von persönlichen Beschwerden über Verwaltungshandeln, Umweltschutz, Arbeits- und Sozialrecht bis hin
zu politischen Forderungen und Anregungen zu den unterschiedlichsten Bereichen - insgesamt eine gewaltige
Menge an Themen, in denen entsprechendes Fachwissen
gefragt ist. Nicht umsonst ist der Petitionsausschuss der
Ausschuss des Deutschen Bundestages mit den meisten
Mitarbeitern im Ausschussdienst, die die Petitionen betreuen, bearbeiten und aufbereiten.
An dieser Stelle möchte ich wie meine Vorredner und
Vorrednerinnen den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen
des Ausschussdienstes meinen persönlichen Dank und
großes Lob aussprechen. Sie erledigen ihre Arbeit hervorragend.
({0})
Viele Petitionen können ein guter Anstoß für uns als
Gesetzgeber sein, manche haben einen ernsten persönlichen Hintergrund, anderes mutet auf den ersten Blick etwas skurril an, wie zum Beispiel die Forderung, das Tragen von Jogginghosen in der Öffentlichkeit zu verbieten.
Jedem, der sich Gedanken macht, wie unser Land besser
werden kann, jedem, der sich die Mühe macht, dies aufzuschreiben und einzureichen, sei hier einmal gedankt.
Dabei ist es egal, ob wir diesen Gedanken zustimmen
oder nicht. Wichtig ist, dass die Menschen sich beteiligen und an der politischen Arbeit aktiv teilhaben; denn
was unserem Land am wenigsten hilft, ist Teilnahmslosigkeit.
Die Politik, der häufiger vorgeworfen wird, sich abgehoben in einem Raumschiff abzuspielen, trifft im Petitionsausschuss direkt auf das Volk. Im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit des Petitionsausschusses habe ich
diesen auf einem Stand des Deutschen Bundestages auf
dem Maimarkt in Mannheim vertreten dürfen. Das war
eine sehr gute Erfahrung. Die Menschen kamen mit ihren Fragen und Anliegen zu mir. Die Resonanz war dabei äußerst positiv, weil die Leute merkten, dass sie vom
Petitionsausschuss ernst genommen werden. Dafür wollen wir als Ausschuss weiter arbeiten.
Mir als neue Abgeordnete im Petitionsausschuss sind
die teilweise sehr langen Bearbeitungszeiten einzelner
Petitionen aufgefallen. Dies liegt zum einen natürlich an
der großen Menge der Eingaben, wie wir eben schon gehört haben; zum anderen erfordert aber auch die gebotene Sorgfalt bei der Bearbeitung ihre Zeit. Dafür haben
wir in der Öffentlichkeit nicht immer mit Verständnis zu
rechnen, aber es ist eben häufig auch nicht vermeidbar.
Meinen Respekt möchte ich gegenüber den Ausschussmitgliedern der Opposition ausdrücken; denn diese haben schließlich bei viel weniger Abgeordneten das gleiche Arbeitspensum an Petitionen zu erledigen wie wir
Abgeordneten der Koalition.
Der Begriff Petition ist zurzeit in aller Munde, und es
ist gut so, dass die Bürger und Bürgerinnen sich ihrer
Rechte immer mehr bewusst werden, Hilfe auch ersuchen und sich einmischen. Davon lebt unsere demokratische Gesellschaft.
Leider müssen wir aber auch feststellen, dass nicht jedem Betroffenen klar ist, was eine Petition eigentlich ist
und was eben keine ist. Im Internet findet sich mittlerweile eine Vielzahl von Möglichkeiten, Petitionen einzureichen, die gar keine sind. Mit diesen Onlinepetitionen
vergeuden die Menschen Zeit und Energie, die sie besser
in eine offizielle Petition an die zuständige Stelle investieren könnten. Die Öffentlichkeitsarbeit des Ausschusses und auch der einzelnen Fraktionen klären hier auf.
Ich wünsche mir, dass dies in Zukunft noch mehr fruchtet; schließlich soll der Bürger sein Recht auf Petitionen
auch wahrnehmen können, wenn er dies wünscht. Dafür
werden meine Kolleginnen und Kollegen aus diesem
Ausschuss und ich weiterhin mit Tatkraft, Freude und
natürlich heißen Diskussionen arbeiten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich freue mich auf
die weitere Zusammenarbeit.
Danke schön.
({1})
Vielen Dank. - Das Wort erhält jetzt die Kollegin
Annette Sawade, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Vorsitzende Steinke! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Schiefner, noch einmal herzlichen Glückwunsch zur ersten Rede! Liebe Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter des Ausschussdienstes! Liebe Bürgerinnen
und Bürger auf den Besuchertribünen! Ich vergesse Sie,
die Bürgerinnen und Bürger auf den Besuchertribünen,
in meiner Anrede nicht; denn es geht heute um den direkten Kontakt der Bürgerinnen und Bürger zu uns Abgeordneten.
Kürzlich war ich wieder mit einer Besuchergruppe
aus meinem Wahlkreis auf der Dachterrasse des Reichstagsgebäudes. Wenn man dort oben steht und herunterschaut, sieht man ein Kunstwerk, das von außen nicht
sichtbar ist. Viele von uns kennen es; sie haben sich dort
beteiligt. Es ist der Schriftzug „Der Bevölkerung“ von
Hans Haacke, umgeben von Erde aus fast allen Wahlkreisen unserer Republik.
Daran denke ich oft, wenn ich das Besondere des Petitionsverfahrens im Deutschen Bundestag erkläre; denn
glücklicherweise reicht „der Bevölkerung“ der reine Besuch dieses Hauses nicht aus. Nein, sie nimmt ihr Recht
der Petition aktiv wahr. Der Petitionsausschuss steht „der
Bevölkerung“ als Ansprechpartner und Unterstützer ihrer Anliegen zur Verfügung.
„2013 war für den Petitionsausschuss ein ungewöhnliches Jahr …“ Das sind die ersten Worte des Berichts
über die Tätigkeit des Ausschusses. Es wurde vorhin
schon erwähnt: Mit Beginn der parlamentarischen Sommerpause 2013 ruhte die Arbeit der Abgeordneten bis
zur ersten Sitzung des Petitionsausschusses am 15. Januar dieses Jahres. Die Gründe dafür sind bekannt. Erst
nach Unterzeichnung des Koalitionsvertrages wurden
die Beratungen im Ausschuss mit teilweise neuer Besetzung wieder aufgenommen. Aber die uns vorliegenden
Zahlen beweisen es: Die Arbeit der Kolleginnen und
Kollegen des Ausschussdienstes pausierte nicht. Sie haben im letzten Jahr erneut eine enorme Arbeit geleistet.
An dieser Stelle meinen herzlichen Dank!
({0})
Die Vorsitzende und meine Vorredner haben schon einige Zahlen genannt. Eine möchte ich noch nennen:
14 800 Petitionen wurden allein 2013 eingereicht. Das
sind im Schnitt 41 Petitionen pro Tag. Hinzu kamen öffentliche Anhörungen.
Das Besondere am Petitionsrecht ist - auch das wurde
schon erwähnt -, dass die Petitionen die Wahlperiode,
die Legislatur, überdauern - manchmal wirklich sehr
lange. Das haben gerade wir, die wir neu in diesen Ausschuss eingetreten sind, gemerkt. Im Artikel 17 des
Grundgesetzes findet das Petitionsrecht seine verfassungsrechtliche Grundlage: Jedem ist das Recht gegeben, Bitten oder Beschwerden beim Deutschen Bundestag einzureichen.
Doch was heißt „Jedem“? Es sind alle Bürgerinnen
und Bürger gleich welcher Staatsbürgerschaft, Konfession oder Religion, ebenso Vereine, Bürgerinitiativen
oder Interessengruppen. Auch wenn die Aufzählung
nicht annähernd vollständig ist, macht sie deutlich, dass
wir es mit ganz verschiedenen Anspruchsgruppen oder
auch Einzelpersonen zu tun haben. Welche Form der
politischen Partizipation in unserem Land ist so offen für
alle Menschen mit ihren unterschiedlichsten Anliegen?
Petitionen tragen dazu bei, bestehende Gesetze, Ausführungsbestimmungen, Übersehenes und Ungerechtigkeiten zu überdenken, zu korrigieren und vor allem zu
neuer Qualität zu bringen, ganz im Sinne von Hans
Haacke, dass aus der aus den Wahlkreisen zusammengetragenen Erde etwas Neues wachsen soll. Ja, der Petitionsausschuss dient „der Bevölkerung“.
Wir müssen den Menschen in unserem Land dankbar
sein für ihre Petitionen, weil sie neben den ganz persönlichen Anliegen, die auch für uns manchmal sehr bewegend sind, auf Missstände, auf eine vergessene Kultur,
auf falsch umgesetzte Regelungen hinweisen. Aber viele
Menschen empfinden, dass die Sprache der Politik und
der Verwaltung manchmal schwierig und in Teilen nicht
verständlich ist - und sie haben recht. Denn, liebe Kolleginnen und Kollegen, Sprache ist eine, wenn nicht sogar
die Voraussetzung, um Teilhabe in demokratische Gesellschaften zu sichern. Sprache ist die Voraussetzung
dafür, zu verstehen. Ein Recht der Petentinnen und Petenten ist auch, dies einzufordern. Wir alle im Petitionsausschuss stehen deshalb vor der Herausforderung, komplexe Sachverhalte verständlich darzustellen, aber auch
auf die Einzelprobleme einzugehen.
Ich selbst fühle mich dem Petitionsausschuss in besonderem Maße dankbar verbunden, hat er mir nach
meiner Ausreise aus der ehemaligen DDR im Jahr 1982
doch geholfen, in der Bundesrepublik beruflich Fuß fassen zu können. Das ist für mich ein Grund mehr, hier im
Petitionsausschuss mitzuarbeiten. Ich bin sehr froh darüber, dass die SPD das Thema Fremdrenten am Kochen
hält, und ich hoffe, dass wir in absehbarer Zeit hier zu einem guten Ergebnis kommen können.
({1})
Ich komme zum Schluss. - Sehr geehrte Frau Vorsitzende, liebe Kolleginnen und Kollegen aus den Fraktionen und vom Ausschussdienst, ich bedanke mich für den
guten Einstieg und für die ersten Wochen der guten Zusammenarbeit. Ich freue mich auf die künftigen Beratungen und wünsche mir, dass sich der Ausschuss auch
weiterhin durch seine hohe Kollegialität - das wurde ja
erwähnt - auszeichnet, und zwar zum Wohle unserer Petentinnen und Petenten.
Herzlichen Dank.
({2})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist die Kollegin
Christel Voßbeck-Kayser, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die aktive Teilhabe an der Gestaltung der gesetzlichen
Rahmenbedingungen ist in Deutschland Realität, und sie
wird auch gelebt. Auch ich als Neuling hier im Parlament habe mich bewusst für den Petitionsausschuss entschieden. In keinem anderen Ausschuss ist man so dicht
an den Sorgen und Nöten der Bürger dran. Gerade als
neue Abgeordnete lernt man sehr gut kennen, welche
Aufgaben welches Ministerium beschäftigen. Man hat
außerdem die Möglichkeit, den Bürgern und Bürgerinnen zu helfen.
Dass alle Eingaben, egal ob es Bitten oder Beschwerden sind, gelesen und sachgerecht bearbeitet werden, ist
selbstverständlich. Ebenso selbstverständlich ist, dass jeder Bürger auch eine Antwort erhält.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Zahl von
14 800 eingereichten Petitionen im letzten Jahr, 60 pro
Werktag - das wurde schon mehrfach erwähnt -, zeigt,
dass die Bürger von dieser Möglichkeit der direkten Demokratie Gebrauch machen. Aber sie zeigt für mich
auch - auf diesen Aspekt möchte ich jetzt etwas näher
eingehen -, wie Bürger sich direkt an politischen Entscheidungsprozessen beteiligen können.
Die Ideen, die Bürger mit ihrer Petition an uns herantragen, werden ernst genommen und aufgenommen.
Beispiel: Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung; umgangssprachlich auch „der gelbe Schein“ genannt. Ein Bürger brachte in seiner Eingabe vor: Warum ist es nicht
möglich, im Zeitalter der elektronischen Lohnsteuerkarte und des biometrischen Personalausweises die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung auf dem elektronischen
Weg vom Hausarzt zur Krankenkasse und zum Arbeitgeber versenden zu lassen? Das Bundesgesundheitsministerium antwortete: Grundsätzlich geht das, wenn der
Versicherte einwilligt; das ist aus Datenschutzgründen
erforderlich. - Das Bundesgesundheitsministerium hat
weiter geantwortet, dass die technische Infrastruktur im
Gesundheitswesen dies auch möglich macht. Und was
soll ich Ihnen sagen? Einstimmig, also parteiübergreifend, hat der Petitionsausschuss beschlossen: Wir geben
dieses Anliegen an den Gesundheitsausschuss. - Er
kümmert sich jetzt um die Umsetzung dieser Idee eines
Bürgers.
({0})
Was machen Petitionen deutlich? Petitionen machen
deutlich, wie Bürger an unserer politischen Arbeit auf
Bundesebene teilhaben können, wie sie mit ihren Anliegen, mit ihren Anregungen und auch mit ihren Aufforderungen Denkanstöße in politische Entscheidungsprozesse hineingeben und sie somit auch direkt beeinflussen
können. Diese Form der Demokratie ist ein hohes Gut.
Dessen sollten wir uns heute, wo wir über den Jahresbericht sprechen, auch einmal bewusst werden.
Es gibt viele Länder, wo diese Form der Demokratie
alles andere als selbstverständlich ist; wir haben in den
Aktuellen Stunden schon oft darüber gesprochen; ich erwähne in diesem Zusammenhang die Ukraine und auch
- das ist heute besonders aktuell - Thailand. Deshalb:
Die konstruktive und bürgernahe politische Arbeit über
Parteigrenzen hinweg ist eine ganz wertvolle Arbeit in
unserem demokratischen System und auch für unser demokratisches System.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen und liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschussdienstes - Sie sitzen etwas versteckt da hinten -, ich freue mich auf
unsere weitere, immer sachorientiert geprägte Arbeit in
diesem Ausschuss.
Vielen Dank.
({2})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Stefan Schwartze,
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Sehr
geehrte Parlamentarische Staatssekretäre, Sie beschäftigen wir noch viel öfter als die Minister. Liebe Gabriele
Lösekrug-Möller, Sie sind lange Mitstreiterin im Petitionsausschuss gewesen. Der Parlamentarische Staatssekretär Ole Schröder - er ist leider schon weg - nimmt
seine Aufgabe für das Innenministerium mit besonderer
Entschlossenheit wahr. Ihnen allen einen herzlichen
Dank!
Das Petitionsjahr 2013 war ein verkürztes Arbeitsjahr.
Die letzte Sitzung fand Anfang September 2013 statt.
Dann kam die Bundestagswahl. Die Konstituierung des
Bundestages brauchte aus gutem Grund etwas länger. Es
waren schließlich fast alle Fraktionen an den Gesprächen
beteiligt. Der Petitionsausschuss tagte von September
bis Januar leider nicht. Für die Petitionsarbeit bedeutete
dieser Zustand, dass Petitionen zwar beim Bundestag
eingingen, aber nicht parlamentarisch geprüft werden
konnten. Die Menschen mussten auf die Bearbeitung ihrer Anliegen mehrere Monate warten. So eine lange
Pause entspricht nicht dem Petitionswesen, wie es die
SPD gern hätte.
Wir alle sind gefordert, hier Lösungen zu finden. Es
gibt bereits ein Gremium beim Bundestag, das auch nach
Bundestagswahlen so lange fortbesteht, bis sich ein
neues konstituiert hat. Ich spreche vom Parlamentarischen Kontrollgremium. Ich könnte mir eine ähnliche
Lösung auch für den Petitionsausschuss vorstellen, damit das im Grundgesetz verankerte Recht auf Bitte und
Beschwerde wirklich stets ohne Unterbrechung wahrgenommen werden kann. Es gäbe noch einen anderen Ansatz: Wir konstituieren den Ausschuss ganz einfach in
der ersten Plenarsitzung nach den Wahlen. Das wäre ein
gutes Zeichen für mehr Bürgernähe und für die Wahrung
der Grundrechte. Ich glaube, darüber können wir reden.
({0})
Es ist gut, dass wir dieses Thema auf die Tagesordnung der Konferenz der Petitionsausschüsse des Bundes
und der Länder, die im September stattfindet, gesetzt haben. Ich bin fest überzeugt, dass wir alle hier im Hause
eine gemeinsame Lösung finden werden, die rechtlich
sicher und bürgerfreundlich ist.
Das Besondere an Petitionen an den Bundestag ist,
dass sie den Gesetzgeber direkt erreichen. Über die Auswahl der Themen entscheiden dabei nicht die Abgeordneten, sondern die Menschen selbst. Nur Petitionen bieten einen direkten Zugang zum Parlament, der mit dem
Beratungsgebot verbunden ist. Es war zudem richtig und
wichtig, öffentliche Petitionen beim Bundestag einzuführen. Die damit neu eingeführten öffentlichen Beratungen des Petitionsausschusses sind gar nicht mehr
wegzudenken. Eine erfolgreiche Petition gelingt übrigens nicht nur organisierten Gruppen, sondern auch immer wieder Einzelpersonen.
({1})
Eines ist sehr wichtig, zu betonen: Es geht um Petitionen beim Deutschen Bundestag. Es existieren inzwischen mehrere privatrechtliche Plattformen, auf denen
ebenfalls Petitionen eingereicht werden können. Diese
Plattformen erwecken den Eindruck, dass auch dort eingereichte Petitionen den Gesetzgeber direkt erreichen
und eine parlamentarische Beratung des Anliegens stattfindet. Genau das geschieht aber nicht. All diese Plattformen sind zwar Mittel der Bürgerbeteiligung. Wer jedoch erreichen will, dass der Gesetzgeber handelt, muss
sich direkt an den Bundestag wenden. Wir müssen so gut
sein, dass diese privatrechtlichen Portale überflüssig
werden. Wir sind das Original.
({2})
Seit 2009 bin ich nun im Petitionsausschuss. Für mich
stand fest: Ich bleibe in diesem Ausschuss. Nirgendwo
sonst gibt es eine solche Vielfalt an Themen, und nirStefan Schwartze
gendwo sonst hat man einen solchen direkten Kontakt zu
den Menschen.
Besonders gefreut hat mich eine Entscheidung in einem Bereich, der uns schon einige Zeit beschäftigt hat.
Wir im neu zusammengesetzten Petitionsausschuss haben gemeinsam - über alle Fraktionsgrenzen hinweg eine Petition unterstützt, nach der die Arbeitssituation
der vom Bundestag ausgegliederten Mitarbeiter verbessert werden soll.
({3})
Wir wollen sie zurück ins Haus holen. Lassen Sie uns
alle gemeinsam auch zügig an der Umsetzung arbeiten.
({4})
Ich wünsche mir auch, dass wir unsere Bürgernähe
noch deutlicher beweisen, indem wir die Zahl der Ortstermine erhöhen. Das ist - ich weiß das - eine große Herausforderung auch für den Ausschussdienst.
Ich möchte den Kolleginnen und Kollegen aller Fraktionen aus dem neuen und aus dem alten Petitionsausschuss danken. Danken möchte ich ganz besonders den
Mitarbeiterinnen des Ausschussdienstes, die heute hier
sitzen.
({5})
Danken möchte ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in unseren Abgeordnetenbüros. Ohne deren wertvolle Arbeit ginge das hier gar nicht.
({6})
Ganz besonders danken möchte ich den Petentinnen und
Petenten; denn ohne sie wüssten wir oft gar nicht, wo der
Schuh drückt.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({7})
Vielen Dank. - Letzter Redner in der Debatte ist der
Kollege Gero Storjohann, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Selbstverständlich schließe ich mich vorab dem Dank
der Vorredner an; damit habe ich auch das erledigt.
Ich möchte darauf hinweisen, dass ich aus voller
Überzeugung bereits seit zwölf Jahren Mitglied des Petitionsausschusses bin.
({0})
Günter Baumann werden wir nie erreichen; er macht das
noch länger.
Ich möchte kurz auf Dinge eingehen, die hier angesprochen worden sind. Kollegin Rüffer hatte die Weiterentwicklung des Petitionswesens angesprochen, was ihr
ein besonderes Anliegen ist. Darüber haben wir in der
letzten Legislaturperiode intensiv diskutiert. Es ist immer die Frage, inwieweit wir Einzelanliegen würdigen,
inwieweit wir Kampagnen aufgreifen und wo wir in besonderem Maße unsere Arbeitskraft hineinstecken.
Es ist hier schon gesagt worden, dass gerade die kleinen Oppositionsfraktionen durchaus eine starke Arbeitsbelastung haben. Insoweit stellt sich die Frage, wie wir
das alles noch schaffen können. Allein das Ansinnen,
mehr Ortstermine durchzuführen, bedeutet, dass alle
Mitglieder - und nicht nur die der großen Fraktionen vor Ort sein müssen. Insofern sollten wir uns auf das,
was wirklich wichtig ist, konzentrieren, und das sollten
wir auch gut machen. Bei Ortsterminen haben wir gute
Ergebnisse erzielt, weil wir gemeinsam gehandelt haben.
Wir nehmen alle Vorschläge auf und prüfen sie. Ich
glaube aber, wir werden nicht so weit kommen, wie Sie
sich das wünschen, weil die damit verbundene Arbeitsbelastung das einfach nicht zulassen wird.
Ich möchte noch darauf hinweisen, dass in erster
Linie die Abgeordnetenbüros, was die Bearbeitung persönlicher Angelegenheiten angeht, die Anlaufstation für
die Bürger sind. Es ist nicht nur der Petitionsausschuss,
es sind nicht nur die Onlineplattformen, sondern auch in
den Abgeordnetenbüros wird eine wertvolle Arbeit geleistet. Das möchte ich in Erinnerung rufen.
({1})
Kollegin Rüffer, Sie haben gesagt, dass Sie der Meinung sind, dass wir als Petitionsausschuss so etwas wie
eine Beißhemmung gegenüber der Regierung haben
bzw. dass die Mehrheitsfraktionen nicht in der Lage
sind, mit der Regierung kritisch umzugehen. Nun ist der
Kollege Schröder gerade nicht anwesend. Der erzählt
immer etwas anderes, nämlich beispielsweise, dass wir
sehr hartnäckig sind, gerade wenn es um Asylanträge
geht.
Des Weiteren verweise ich auf das, was die Kollegin
Sawade hier zur Fremdrente gesagt hat. Dieses Problem
kenne ich seit 2002. Mein erstes Bürgergespräch bezog
sich auf die Regelung der Fremdrente. Wir als Ausschuss bemühen uns - wir sind sozusagen der Stachel im
Fleisch der Regierung -, hier eine Lösung herbeizuführen. Egal welche Regierung wir hatten, ob es nun eine
schwarz-rote oder eine schwarz-grüne war, - ({2})
- Entschuldigung!
Egal welche Farbe die Regierung hatte, egal welcher
Staatssekretär uns gegenüber saß, es gab nie eine Lösung. Wir sind uns im Ausschuss einig: Wir drängen
beim Fremdrentengesetz weiter auf eine Lösung. Das erwarten wir auch.
Ich möchte einen Aspekt herausstellen, den man normalerweise im Parlament nicht so hervorhebt: Das ist
unsere internationale Zusammenarbeit. Der Petitionsaus3060
schuss ist weltweit so etwas wie ein Unikum. Es gibt
nicht viele Petitionsausschüsse; denn weltweit hat sich
das Ombudsmannsystem durchgesetzt. Wir verstehen
unsere Arbeit auch dahin gehend, dass wir junge Demokratien unterstützen und sie bei kritischen Auseinandersetzungen mit Regierungshandeln stärken. Aus diesem
Grund haben wir den Kontakt zum IOI und zum EOI,
dem Internationalen und dem Europäischen Ombudsmann-Institut, intensiviert. Das Internationale Ombudsmann-Institut hat seinen Sitz in Wien. Eine Delegation
des Ausschusses besuchte Wien und Bratislava.
Wir haben auch - oh Wunder! - die Mongolei besucht. Die Eingeweihten wissen, dass die Mongolei eine
Verfassung hat, die sich aus der deutschen Verfassung
ableitet. Im Jahr 2007 hat eine Delegation des dortigen
Parlaments eine Hospitation bei unserem Petitionsausschuss gemacht. Man hat sich angeschaut, wie Petitionen
im Deutschen Bundestag bearbeitet werden. Im Jahr
2012 hat das mongolische Parlament einen Petitionsausschuss eingerichtet. Bei diesen Besuchen wurde immer
wieder deutlich gemacht: Bitte helft uns, wir müssen
mehr Selbstbewusstsein entwickeln, wie wir mit Petitionen umgehen. - Das haben wir gemacht. Wir haben dort
ein kleines Seminar abgehalten.
Als Petitionsausschuss gewähren wir gerne international Hilfestellung. Deshalb: Petitionsarbeit macht
Spaß. Für die Bürger ist es eine gute Sache. Im Ausschuss macht es Freude, mit vielen Kollegen, die guten
Willens sind, fraktionsübergreifend zu arbeiten. Herzlichen Dank für die Zusammenarbeit. Es war wieder einmal ein gutes Arbeitsjahr für den Petitionsausschuss.
({3})
Vielen Dank. - Vielen Dank auch an alle für diese
Debatte. Ich glaube, alle, die Gelegenheit hatten, dieser
Debatte zu folgen, sind davon überzeugt, dass die Sor-
gen und Nöte der Bürgerinnen und Bürger bei Ihnen im
Ausschuss gut aufgehoben sind und dass Sie alle daran
arbeiten, Lösungen für jedes einzelne Problem zu finden.
Ich schließe die Aussprache.
Jetzt kommt eine ganze Reihe von Abstimmungen.
Ich bitte um Konzentration.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a bis 23 c sowie
Zusatzpunkt 3 auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Rindfleischetikettierungsgesetzes
und des Legehennenbetriebsregistergesetzes
Drucksache 18/1286
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft ({0})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Kirsten Tackmann, Caren Lay, Karin Binder,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Keine Privatisierung von Ackerland und Wäldern durch die Bodenverwertungs- und -verwaltungs GmbH
Drucksache 18/1366
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz,
Bau und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über bislang
geprüfte Optionen zur Steigerung von Attraktivität und Wettbewerbsfähigkeit sowie über
Maßnahmen zur stärkeren Berücksichtigung
von Öffentlich-Privaten Partnerschaften als
Beschaffungsvariante der öffentlichen Hand
Drucksache 17/13749
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({2})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz,
Bau und Reaktorsicherheit
Ausschuss Digitale Agenda
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Oliver
Krischer, Jürgen Trittin, Annalena Baerbock,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Europäische Energieunion - Unabhängigkeit
durch Effizienz, Einsparung und erneuerbare
Energien schaffen
Drucksache 18/1461
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz,
Bau und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a bis 24 k auf.
Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen,
zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 24 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung der Verordnung ({4})
Nr. 1215/2012 sowie zur Änderung sonstiger
Vorschriften
Drucksache 18/823
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz
({5})
Drucksache 18/1492
Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/1492, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 18/823 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen von CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und
SPD bei Stimmenthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit bei gleichem Stimmenverhältnis angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Vorschlag für eine Verordnung des
Rates zur Ausdehnung der Anwendung der
Verordnung ({6}) Nr. …/2013 über ein Aktionsprogramm in den Bereichen Austausch,
Unterstützung und Ausbildung zum Schutz
des Euro gegen Geldfälschung ({7}) auf die nicht teilnehmenden
Mitgliedstaaten
Drucksache 18/1225
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({8})
Drucksache 18/1473
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/1473, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/1225
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer ist
dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist
damit in zweiter Beratung bei Enthaltung der Fraktion
Die Linke angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und
Bündnis 90/Die Grünen bei Stimmenthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkte 24 c bis 24 k. Wir kommen zu
den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 24 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({9})
Sammelübersicht 45 zu Petitionen
Drucksache 18/1350
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 45 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({10})
Sammelübersicht 46 zu Petitionen
Drucksache 18/1351
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 46 ist mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD bei Enthaltung der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke
angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({11})
Sammelübersicht 47 zu Petitionen
Drucksache 18/1352
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 47 ist mit den Stimmen
des gesamten Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({12})
Sammelübersicht 48 zu Petitionen
Drucksache 18/1353
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 48 ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und Linken gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({13})
Sammelübersicht 49 zu Petitionen
Drucksache 18/1354
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 49 ist mit den Stimmen von CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und SPD
gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14})
Sammelübersicht 50 zu Petitionen
Drucksache 18/1355
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 50 ist gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15})
Sammelübersicht 51 zu Petitionen
Drucksache 18/1356
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 51 ist mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen von
Bündnis 90/Die Grünen und Linken angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16})
Sammelübersicht 52 zu Petitionen
Drucksache 18/1357
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 52 ist mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der
Fraktion Die Linke bei Enthaltung von Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17})
Sammelübersicht 53 zu Petitionen
Drucksache 18/1358
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 53 ist mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen von
Bündnis 90/Die Grünen und der Linken angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE
Rüstungsexportgenehmigungen der Großen
Koalition
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Inge Höger,
Fraktion Die Linke.
({18})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
möchte meinen Beitrag heute mit einer positiven Nachricht beginnen. Am Sonntag hat sich die Mehrheit der
Bevölkerung in der Schweiz gegen den Kauf von
Kampfflugzeugen ausgesprochen.
({0})
Das ist ein großartiger Sieg über die Rüstungslobby.
({1})
Ich gratuliere insbesondere der „Gruppe für eine
Schweiz ohne Armee“ zu diesem Erfolg.
({2})
Ich hoffe, dass dieses Beispiel Schule macht und die
todbringenden Geschäfte mit der Waffe der Vergangenheit angehören werden, egal ob es sich um Inlandsaufträge oder um Importe oder Exporte handelt.
({3})
Schließlich geht es bei Rüstungsgeschäften nicht um
eine x-beliebige Handelsware. Das Geschäft mit Waffen
ist das Geschäft mit dem Tod. Es muss umgehend beendet werden.
({4})
Es ist beschämend, dass Deutschland schon seit einigen Jahren der drittgrößte Rüstungsexporteur der Welt
ist. Rechnet man die Rüstungsexporte aller EU-Staaten
zusammen, dann stellt man fest: Die Friedensnobelpreisträgerin EU ist zugleich Rüstungsexportweltmeisterin.
Wie wir wissen, findet jede Waffe ihren Krieg. Trotzdem boomt das Geschäft mit dem Tod. Noch im Wahlkampf tat die SPD so, als wäre sie zwar nicht generell
gegen Rüstungsexporte, aber zumindest gegen Exporte
in Krisenregionen. Die aktuellen Informationen über
den Umfang der Rüstungsgeschäfte in den ersten vier
Monaten dieses Jahres zeigen, dass Deutschland weiter
in Krisengebiete liefert.
Die Tendenzen, die wir aus den ersten Monaten der
Praxis von Rüstungsexporten der Großen Koalition ablesen können, sind erschreckend. Zwar hat die deutsche
Rüstungsindustrie weniger in NATO- und EU-Staaten
geliefert - hier hat die Wirtschaftskrise den Spielraum
für militärische Beschaffungen ziemlich eingeschränkt -,
aber die Exporte in Drittstaaten, oft an autoritäre, menschenverachtende Regime, haben deutlich zugenommen.
Das kann nur das Ergebnis eindeutiger politischer Vorgaben sein.
Inzwischen machen die Waffenexporte in Drittstaaten
weit mehr als die Hälfte aller Exporte aus. Sie sind nicht
mehr die Ausnahme, sie sind ganz offensichtlich die
Regel. Eine solche Zunahme der Waffenlieferungen an
Länder wie Saudi-Arabien, Algerien, Brunei und Singapur ist kein Zufall. Ich nenne das Heuchelei: vorne nach
Frieden rufen und hinten Waffen liefern.
Für diese Politik gibt es Verantwortliche, ganz besonders auch an der Spitze des Wirtschaftsministeriums.
Minister Gabriel ist wenig glaubwürdig, wenn er die
Verantwortung für Entscheidungen, die in seinem Ministerium in diesem Jahr getroffen wurden, auf die Vorgängerregierung schiebt. Sollte es die von ihm angeführten
„rechtlich verbindlichen Exportzusagen“ tatsächlich geben, dann wäre der Genehmigungsvorgang nur noch
eine Farce. Das kann nicht sein. Ich fordere deshalb das
Ministerium auf, dem Bundestag mitzuteilen, welche
dieser verbindlichen Zusagen wann und von wem getroffen wurden.
({5})
Als Parlamentarierin drängt sich mir jedoch der
Anschein auf, dass es weder mit der angekündigten restriktiven Politik bei den Waffengeschäften noch mit der
versprochenen Transparenz besonders weit her ist. Auf
meine wiederholten Fragen danach, inwieweit der Export des hochmodernen Gefechtsübungszentrums nach
Russland bereits durchgeführt wurde, erhielt ich jeweils
nur ausweichende Antworten.
Herr Gabriel, im März hat Ihr Ministerium öffentlich
mitteilen lassen, dass Sie in der gegenwärtigen Lage die
Ausfuhr des Zentrums nach Russland für nicht vertretbar
halten. Ich bin der Ansicht, dass die Ausfuhr eines
Übungszentrums, das Armeen auf den Kampf gegen
Menschen in einer Stadt vorbereitet, grundsätzlich nicht
vertretbar ist.
Leider musste ich dann den Medien entnehmen, dass
Ihre späte Einsicht zu spät kam. Laut Geschäftsbericht
von Rheinmetall wurden alle wesentlichen Bestandteile
bereits geliefert. Rheinmetall hat den 100-MillionenAuftrag bereits im letzten Jahr nahezu abgeschlossen,
auch das Geld ist inzwischen geflossen. Sie haben mit
viel Tamtam so getan, als versuchten Sie, einen Zug zu
stoppen; dabei war der längst abgefahren. Sie können
sich Ihre Aussagen über eine restriktive Rüstungsexportpolitik also sparen.
Das ständige Versteckspiel um die Rüstungsdeals hat
System. Das Geschäft mit dem Tod funktioniert am besten im Verborgenen. Der Waffenhandelsexperte Andrew
Feinstein geht davon aus, dass Rüstungsexporte und
Transparenz nicht zusammenpassen. Nach seinen Recherchen entfallen 40 Prozent der weltweiten Korruption
auf Rüstungsgeschäfte. Können wir wirklich davon ausgehen, dass der dritte Platz der deutschen Rüstungsindustrie ohne Korruption zustande kam? Ist der Fall der
zwei gut vernetzten ehemaligen SPD-Abgeordneten, gegen die nun wegen dubioser Beraterhonorare in Millionenhöhe bei Waffengeschäften in Griechenland ermittelt
wird, wirklich eine Ausnahme?
Die Linke fordert ein Verbot aller Rüstungsexporte
und den Ausstieg aus der Waffenproduktion.
({6})
Nur so gelingt ein Einstieg in eine wirkliche Friedenspolitik.
({7})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist der Kollege
Dr. Joachim Pfeiffer, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir debattieren über das Thema Rüstungsexporte inzwischen in fast jeder Sitzungswoche.
({0})
Ich will noch einmal versuchen, Ihnen zu erläutern, welche Motivation hinter Rüstungsexporten steckt; ich
hoffe, dass es diesbezüglich einen großen Konsens in
diesem Hause gibt. Rüstungsexporte sind kein Selbstzweck. Sie finden nicht im luftleeren Raum statt. Ihnen
liegen auch keine wirtschaftlichen Erwägungen zugrunde. Wenn Sie sich den vergleichsweise geringen Anteil der Rüstungsexporte am Gesamtexport vor Augen
führen, wissen Sie, dass sie unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten in der Tat zu vernachlässigen sind.
({1})
- Ja, genau, es sind politische Erwägungen.
Rüstungsexporte - ich sage das in aller Klarheit und
Deutlichkeit für unsere Fraktion - sind ein legitimes,
sinnvolles, notwendiges Instrument der Außen- und Sicherheitspolitik.
({2})
Die Rüstungsexportpolitik dient auch dazu, unsere Kernkompetenzen und Fähigkeiten im technologischen Bereich zu sichern und zu erhalten. Sie dient dazu, uns
nicht von anderen abhängig zu machen.
({3})
Lassen Sie mich versuchen, das Ganze an zwei, drei
Beispielen zu erläutern. Wenn Sie sagen, dass man nicht
in Krisengebiete liefern soll, dann ist das aus meiner
Sicht scheinheilig, verlogen
({4})
und unlogisch. Genau, das ist unlogisch, Herr Trittin.
({5})
Wenn ich Minensuchgeräte liefere, dann muss ich sie
dorthin liefern, wo es Minen gibt, wo Minen zu suchen
und zu beseitigen sind, und nicht dorthin, wo es keine
Minen gibt. Also muss ich sie in Krisengebiete oder ehemalige Krisengebiete liefern.
({6})
Jetzt kommen wir zu den Kleinwaffen und zu anderen
Dingen. Nehmen wir das Beispiel Mali.
({7})
Mali ist mehr oder weniger ein Failed State. Mali ist
nicht einem Bürgerkrieg zum Opfer gefallen, vielmehr
konnte der Staat sein Gewaltmonopol nicht aufrechterhalten. Die Franzosen haben interveniert, mit mehr oder
weniger offener Unterstützung durch uns. Jetzt sagen
wir: Wir wollen gemeinsam Mali aufbauen; wir wollen,
dass die Regierung das Gewaltmonopol durchsetzen
kann; wir wollen die malischen Sicherheitskräfte ausbilden, damit sie diesem Auftrag nachkommen können.
Dazu muss ich sagen: Wenn man dies international
beschließt, können wir in Deutschland doch nicht sagen,
dass wir die Instrumente, die notwendig sind, damit das
Gewaltmonopol in Mali durchgesetzt werden kann - hier
geht es auch um Kleinwaffen -, nicht liefern. Es ist
scheinheilig und verlogen, wenn man einerseits über
Menschenrechte spricht, andererseits aber, wenn es darum geht, die Menschenrechte international durchzusetzen, sagt: Nach mir die Sintflut! Wasch mir den Pelz,
aber mach mich nicht nass! - Das halte ich für unverantwortlich. Das ist nicht unsere Außen- und Sicherheitspolitik.
({8})
- Genau. Jetzt komme ich zu Saudi-Arabien. Da ist es
nicht anders. Wie ist die Situation dort? Saudi-Arabien
ist, ob uns das gefällt oder nicht, seit Jahrzehnten ein
verlässlicher Verbündeter des Westens, ein Stabilitätsanker im Mittleren Osten,
({9})
der dafür sorgt, dass Bürgerkriege wie in Syrien, im Jemen und im Iran eine gewisse abschreckende Wirkung
haben.
({10})
- Das mag Ihnen jetzt gefallen oder nicht. Das ist aber
die Politik, die wir als Bundesrepublik Deutschland international vertreten. Das war auch zur Zeit der rot-grünen Regierung so. Sie von der Linken haben Gott sei
Dank nie Regierungsverantwortung getragen und werden sie hoffentlich auch nie tragen.
Wenn wir sagen, dass Saudi-Arabien ein Stabilitätsanker ist, dann müssen wir es auch mit den Instrumenten
ausstatten, die es braucht, um seine Küsten zu schützen.
({11})
Ich versuche dies einmal anhand eines aktuellen Beispiels zu erläutern, und zwar anhand des Schützenpanzers kanadischer Bauart. Dies ist eine multinationale Angelegenheit. Heute sind Rüstungsprojekte ja nicht mehr
nur Projekte einzelner Staaten. Die Kanadier wollen einen Schützenpanzer dorthin liefern, und es gibt deutsche
Zulieferungen zu diesem Panzer. Vor zwei Jahren wurden die deutschen Zulieferer ausgewählt, weil sie die
beste Technologie bei optronischen Systemen haben.
Diese Zulieferungen machen nur einen kleinen Anteil
von 5 Prozent aus.
Insgesamt ist dies eine Entscheidung der westlichen
Allianz, der westlichen Verbündeten, der europäischen
Staaten, der Europäischen Union, der USA und auch Kanadas. Was würde passieren, wenn wir die Genehmigung
nicht erteilen? Was wäre dann die Folge? Die Folge wäre
nicht, dass der Panzer nicht nach Saudi-Arabien geliefert
wird. Natürlich würde er geliefert, aber ohne deutsche
Technologie.
Noch viel schlimmer ist: Die deutsche Technologie
würde dann von solchen internationalen Projekten ausgeschlossen,
({12})
weil die Deutschen keine verlässlichen Verbündeten
mehr wären. „German free“ würde dann dort die Runde
machen. Ich will nicht, dass wir uns aus internationalen
Projekten zurückziehen müssen und wir keine verlässlichen Verbündeten mehr sind.
({13})
Deshalb bin ich ganz klar der Meinung, dass wir dazu
stehen und die Instrumente liefern müssen.
Wenn wir dies in diesem Fall nicht machen würden,
wären wir auch bei anderen Projekten nicht mehr dabei.
Dann würden Sie in zehn Jahren beklagen, dass wir in
Deutschland nicht mehr in der Lage sind, unsere Verteidigungs- und Sicherheitsfähigkeiten aufrechtzuerhalten.
Wir würden uns dann von anderen abhängig machen.
Wollen wir diese Fähigkeiten dann aus China, aus Russland oder auch aus den USA importieren? Ich will das
nicht. Ich will eine europäische Lösung. Deshalb brauchen wir eine europäische Außen- und Sicherheitspolitik. Diese muss selbstverständlich von einheitlichen
Rüstungsexportbedingungen flankiert werden. So wie
wir es im Dual-Use-Bereich bereits geregelt haben, müssen wir es auch im Bereich der Kriegswaffen tun.
Herr Kollege Pfeiffer.
Das ist ein legitimes Instrument. Das müssen wir erläutern und vertreten.
Herr Kollege Pfeiffer.
Wir dürfen uns nicht wegducken nach dem Motto:
Das geht uns nichts an. Wenn wir uns nicht beteiligen,
wird alles gut auf der Welt. - Die Welt ist leider kein
Hort des Friedens.
({0})
Wir leisten unseren Beitrag dazu, dass sie ein Hort des
Friedens wird. Dazu dienen auch deutsche Rüstungsexporte.
({1})
Vielen Dank. - Ich darf noch einmal daran erinnern,
dass die vereinbarte Redezeit bei Aktuellen Stunden fünf
Minuten beträgt und nicht sechs Minuten, nicht sechseinhalb oder fünfeinhalb Minuten. Ich bitte die folgenden Rednerinnen und Redner, darauf zu achten.
Die nächste Rednerin ist die Kollegin Agnieszka
Brugger, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibt
kaum einen Bereich in der deutschen Politik, wo das,
was eine Bundesregierung immer wieder beteuert und
erklärt, so sehr von dem abweicht, was sie wirklich tut,
wie bei den Rüstungsexporten.
({0})
Ich kann Ihnen von grüner Seite aus eines versprechen:
Wir werden uns nicht von Ihren Sonntagsreden einlullen
lassen, und wir lassen uns auch nicht von der Selbstgefälligkeit der Großen Koalition entmutigen, sondern wir
werden Ihnen im Bereich der Rüstungsexporte und Waffengeschäfte sehr gründlich auf die Finger schauen und
immer wieder Licht ins Dunkel bringen.
({1})
In ihrem Koalitionsvertrag schreiben Union und SPD,
dass sie sich natürlich zu einer restriktiven deutschen
Rüstungsexportpolitik bekennen, dass sie die deutschen
Rüstungsexportrichtlinien als verbindlich und handlungsleitend für ihre Entscheidungen betrachten. Es wäre
schön, wenn es so wäre.
Wir können gern einmal ganz konkret einen Blick in
die Rüstungsexportrichtlinien werfen. Dort stehen sehr
gute Formulierungen. Dort steht zum Beispiel bezüglich
Kriegswaffenlieferungen an Drittstaaten, dass Exporte in
Staaten, die nicht Mitglieder der EU oder der NATO
sind, eigentlich nicht genehmigt werden dürfen und nur
genehmigt werden können, wenn besondere außen- und
sicherheitspolitische Gründe dafür sprechen. Weiter steht
in den Richtlinien: „Beschäftigungspolitische Gründe dürfen keine ausschlaggebende Rolle spielen.“ Die Menschenrechtslage im Empfängerstaat ist als entscheidendes Kriterium in den Richtlinien verankert.
Wenn wir jetzt diese guten Grundsätze einmal mit der
Realität und den Zahlen abgleichen, ergibt sich ein ziemlich hässliches Bild und zeigt sich eine riesige Lücke.
Die Rüstungsexporte an Drittstaaten haben sich in den
letzten Jahren von der Finanzsumme her fast verdoppelt,
die Tendenz ist steigend. Der aktuellste uns vorliegende
Rüstungsexportbericht aus dem Jahr 2012 besagt, dass
55 Prozent der deutschen Rüstungsexporte an Drittstaaten gegangen sind. Ich kann da nur sagen: Solche Exporte sind offensichtlich nicht mehr die Ausnahme, sondern sind zu einer sehr bedenklichen Regel geworden.
({2})
Meine Damen und Herren, die ersten Zahlen für
2013, die wir bisher gesehen haben, sind noch krasser.
Unter Kanzlerin Merkel hat Schwarz-Gelb eine richtige
Rüstungsexportoffensive gestartet. Aber auch die Große
Koalition ist in ihren ersten Monaten kaum besser. Von
Januar bis April dieses Jahres - das konnten wir jüngst
nachlesen - sind noch mehr Waffen in Länder geliefert
worden, die nicht Mitglied der NATO und nicht Mitglied
der EU sind, als unter Schwarz-Gelb im entsprechenden
Vorjahreszeitraum. Auch das spricht natürlich Bände.
Wirtschaftsminister Gabriel sagt: Das waren alles
meine bösen Vorgänger; das geht auf deren Konto. Auch an dieser Stelle schauen wir als Grüne ganz genau
hin. Ich muss Ihnen sagen: Auch das lassen wir Ihnen
nicht durchgehen. Die Bundesregierung vertritt ja neuerdings die Position, dass positiv beschiedene Voranfragen
keinerlei Rechtsverbindlichkeit haben; diesen Teil können Sie ja dann schon einmal komplett zurücknehmen.
Aber ich muss Ihnen auch sagen: Auch endgültig erteilte
Genehmigungen kann man wiederrufen, und Verträge
kann man kündigen, wenn man das tun möchte.
({3})
Wenn Ihr Engagement für Frieden und Sicherheit und
das Engagement von Herrn Gabriel mehr sind als schöne
Pressestatements, dann lassen Sie Ihren Worten doch
einfach Taten folgen, und nehmen Sie einen Großteil
dieser Rüstungsexporte einfach wieder vom Tisch.
({4})
Meine Damen und Herren von der SPD, Ihnen wird
nicht mehr lange die Möglichkeit bleiben, sich hinter
schwarz-gelben Waffengeschäften zu verstecken. Denn
irgendwann müssen auch Sie einmal sagen, was eigentlich aus Ihrer Wahlkampfforderung, die Panzerlieferung
nach Saudi-Arabien zu stoppen, geworden ist.
({5})
Aber ich will nicht immer nur die SPD kritisieren;
denn bei Ihnen stimmt ja wenigstens die Rhetorik.
({6})
Bei der Union ist es noch schlimmer; Sie haben das hier
sehr klar offenbart. Auch Ihre Kanzlerin ist in diesem
Punkt sehr deutlich bzw. eben nicht deutlich.
({7})
Sie spricht von der Ertüchtigung von Partnerstaaten.
Herr Pfeiffer, ich muss Sie enttäuschen: Sie meint damit
nicht die Lieferung von Minensuchgeräten an SaudiArabien, sondern sie meint Waffenlieferungen an den
Machthaber in einem Land, in dem Menschenrechte mit
Füßen getreten werden,
({8})
das im Nachbarland friedliche Proteste mit Panzern niedergeschlagen hat und das dazu beiträgt, dass der Konflikt in Syrien noch blutiger wird.
({9})
Das ist die Wahrheit. Das, was Sie hier erzählt haben
- es würde um Minensuchgeräte gehen -, ist nicht die
Wahrheit.
({10})
Auch der Kollege Otte, der verteidigungspolitische
Sprecher der Unionsfraktion, macht keinen Hehl aus seinen Überzeugungen. Er befindet sich dabei im offenen
Widerspruch zu den deutschen Rüstungsexportrichtlinien. Er argumentiert mit dem Arbeitsplatzerhalt. Ich
kann Ihnen an dieser Stelle sagen: Für mich kann der
Profit eines einzelnen Unternehmens nicht rechtfertigen,
dass man in einem Land zu Menschenrechtsverletzungen
beiträgt.
({11})
Meine Damen und Herren, kehren Sie diesen zynischen Trend der letzten Jahre, immer mehr Rüstungsgüter und Waffen an Drittstaaten zu liefern, sehr schnell
um! Es ist einfach brandgefährlich, Waffen an autokratische Regime zu liefern. Es ist auch sicherheitspolitisch
irrsinnig. Am Ende riskiert man, dass man sich im Fall
des Falles auch an Verbrechen mitschuldig macht.
Ich habe ein zweites Versprechen für Sie - auch hier
wird es in den nächsten Jahren nicht bequem -: Wir
Grüne werden nicht müde werden, weiter für einen radikalen Kurswechsel zu kämpfen:
({12})
für eine Rückkehr zu einer wertegeleiteten Außenpolitik
und eine Abkehr von einer Wirtschaftspolitik, die Frieden und Sicherheit, Stabilität und Menschenrechte auf
der Welt gefährdet.
Vielen Dank.
({13})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist der Kollege
Rainer Arnold, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist inzwischen schon ein Ritual bei den Linken: vor
jeder Wahl ein vermeintlicher Skandal.
({0})
Was bietet sich da mehr an, als jedes Mal über Rüstungsexporte zu reden? Es ist klar: Das ist für Sie einfach. Sie
wollen keine bündnisfähigen deutschen Streitkräfte,
keine Rüstungswirtschaft und - Überraschung! - logischerweise auch keine Exporte. Eine differenzierte außenpolitische Debatte mit Ihnen zu führen, ist leider nicht
möglich. Was Sie machen, ist Gedöns und Schwarz-WeißMalerei.
({1})
Ich halte es da mit Willy Brandt, den Sie sonst gern
missbräuchlich zitieren. Er sagte zu Recht:
Ich glaube nicht, dass diejenigen Recht haben, die
meinen, Politik besteht darin, zwischen Schwarz
und Weiß zu wählen. Man muss sich auch häufig
zwischen den verschiedenen Schattierungen des
Grau hindurchfinden.
({2})
Genau so ist Politik, insbesondere die Außen- und
Sicherheitspolitik. Nur schwarz und weiß zu sehen, ist
einfach. Es gibt selbstverständlich Länder, in die wir exportieren können, weil sie NATO-Staaten oder NATOgleichgestellte Länder sind. Es gibt aber auch eine Reihe
von Ländern, bei denen völlig ausgeschlossen ist, dass
wir dorthin exportieren.
({3})
Dazwischen gibt es einen Graubereich. Es ist unsere
Verantwortung, in diesem grauen Bereich genauer zu
schauen, ob die Rüstungsexportrichtlinien stringent eingehalten werden,
({4})
aber auch jeweils zu prüfen: Gibt es nicht auch sicherheitspolitische Interessen, die zu einer Entscheidung
führen? Zum Beispiel ist die Lieferung von Booten für
den Küstenschutz anders zu bewerten als die Lieferung
eines Waffensystems, mit dem der Staat die eigene Bevölkerung direkt unterdrücken könnte. Diese Differenzierung muss auch in Zukunft möglich sein.
({5})
Wir haben entsprechende Rüstungsexportrichtlinien
- übrigens unter Rot-Grün - geschaffen, und wir werden
jetzt diese Richtlinien noch einmal weiterentwickeln.
Allein dass die Bundesregierung unmittelbar nach Entscheidungen berichten muss, wird dazu führen, dass die
Einhaltung der Richtlinien auch stringenter erfolgt.
({6})
Die Bundesregierung ist in der Pflicht, zu berichten, das
heißt auch, zu erklären und zu begründen. Frau Kollegin
Höger, Sie sagen die Unwahrheit, wenn Sie sagen, Rüstungsexporte geschähen im Verborgenen. - Das war schon
bisher nicht im Verborgenen;
({7})
die Information kam nur viel zu spät. Zukünftig wird innerhalb von 14 Tagen informiert - wie es in einer gewachsenen Demokratie mit ihren Regeln für Transparenz angemessen ist.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, mit
den Forderungen, die Sie erheben, bedienen Sie Ihre
Stammwählerklientel. Das ist aber nur ein kleiner Teil
unserer Gesellschaft. Die Mehrheit in Deutschland will
Streitkräfte, und die Mehrheit in Deutschland will auch,
dass die Streitkräfte gut und vernünftig ausgestattet sind.
In unserem Koalitionsvertrag steht, dass eine stringente Einhaltung der Rüstungsexportrichtlinien für uns
verbindlich ist. Ebenso haben wir aber auch eine Verantwortung - aus nationalen Sicherheitsinteressen - für unsere Rüstungswirtschaft. Die Ingenieure und die guten
Facharbeiter dort müssen sich nicht entschuldigen oder
rechtfertigen für das, was sie tun; wir brauchen sie. Wir
müssen gemeinsam mit der Wirtschaft auch darüber nachdenken, wie man auf einer geringeren Basis - sie wird in
Zukunft nicht mehr so hoch sein - die Fähigkeiten bewahren kann. Dabei geht es nicht um einfache Arbeitsplätze,
und es geht auch nicht um ökonomische Interessen - es
geht um nationale Sicherheitsinteressen. Wollen wir wirklich - auch angesichts der aktuellen Debatte über Spionage/NSA - im Bereich von Aufklärungssystemen, im
Bereich von Kommunikationselektronik, auch im Rüstungsbereich am Ende so abhängig werden von den Vereinigten Staaten, wie wir es heute im Bereich Internet
sind? Hat das noch etwas mit nationaler Souveränität zu
tun? - Deshalb ist es richtig, dass wir uns unserer Verantwortung für die Rüstungswirtschaft stellen.
({9})
Wir wollen nicht zum Einkäufer von US-Produkten
werden. Konsequent einzuhalten, dass keine Waffensysteme, die zur Unterdrückung der eigenen Bevölkerung
genutzt werden können, in dubiose Staaten geliefert werden, gleichzeitig aber in Absprache mit der Rüstungswirtschaft für eine Grundauslastung zu sorgen, dies in
die Balance zu bringen, ist Aufgabe verantwortungsvoller Politik.
Wenn ich einen Strich darunter ziehe - auch an die
Frau Kollegin Brugger gerichtet -, muss ich sagen: Es
wird in den nächsten Jahren häufiger als in den vergangenen vier Jahren auch Ablehnungen von beantragten
Exporten geben.
({10})
- Herr Kollege Pfeiffer, wenn Sie jetzt hier diesen Zuruf
machen entgegen dem, was wir im Koalitionsvertrag
formuliert haben - dass die Exportrichtlinien stringent
einzuhalten sind -, dann ist das Ihr Bier und Ihre Entscheidung. Wir lassen uns als Sozialdemokraten von Ihrem Zuruf hier nicht mit in Haftung nehmen.
({11})
Wir werden Wert darauf legen, dass die Rüstungsexportrichtlinien stringent eingehalten werden; das ist die eine
Seite.
({12})
Die andere Seite ist: Es wird natürlich auch in Zukunft Genehmigungen für Exporte geben. Das Neue
wird sein: Die Bundesregierung kann sich nicht mehr
hinter dem geheim tagenden Bundessicherheitsrat verstecken, sondern muss gegenüber dem Parlament erklären und begründen, wo die sicherheitspolitischen Interessen liegen. Damit das hier auch gesagt wird: Das ist
Aufgabe der gesamten Bundesregierung, aller derjenigen, die im Bundessicherheitsrat sind, und das beginnt
bei der Verantwortlichen für den Bundessicherheitsrat,
nämlich bei der Bundeskanzlerin. Alle gemeinsam sind
zukünftig in der Erklärungspflicht.
Recht herzlichen Dank.
({13})
Die Kollegin Julia Bartz hat für die CSU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der Export ist ein wesentlicher Faktor für unseren Wohlstand.
({0})
Das war aber nicht immer so. Gerade meine Heimat,
Bayern, war nach dem Krieg ein wirtschaftlich schwaches und industriell rückständiges Agrarland. Der wirtschaftliche Aufstieg Bayerns war eng mit der Politik von
Franz Josef Strauß und insbesondere auch mit der Ansiedlung von Unternehmen aus dem Bereich der Luftund Raumfahrt sowie der Wehrtechnik verknüpft. Mit
Ariane und Airbus ist es gelungen, Hand in Hand mit
dem ehemaligen Erzfeind Frankreich einen Technologie3068
konzern zu schaffen, dessen Flugzeuge mit denen der
Amerikaner in Wettbewerb treten konnten. Dies war
nicht nur ein industriepolitischer, sondern auch ein friedenspolitischer Meilenstein in der Geschichte Europas.
({1})
Noch gibt es in vielen Regionen Deutschlands solche
Zentren der Hochtechnologie. An ihnen hängen Zigtausende Arbeitsplätze; derzeit sind es 80 000. Ein Vergleich zwischen dem Wegfall dieser Arbeitsplätze und
dem Einzelschicksal der Schlecker-Frauen, nach dem
Motto: „Kann wegfallen, Pech gehabt“, wird weder den
außen- und sicherheitspolitischen noch den lokalen Auswirkungen gerecht.
({2})
Zum Export von Rüstungsgütern haben Ihre eigenen
Kollegen im Wolgaster Stadtrat schlüssig erklärt, warum
der - wörtlich - „Mega-Auftrag“ so wichtig ist. Ihre
Kollegen erkennen den Bau von 100 Patrouillenbooten
für Saudi-Arabien als Bereicherung für die Region an.
Der Export bringe - ich zitiere aus der Pressemitteilung
Ihrer Kollegen eine Perspektive für viele Familien in Wolgast und
Umgebung. … Auszubildende haben … wieder
eine Zukunft. Es lohnt sich, hierzubleiben.
({3})
So viel zur regionalen Auswirkung von Rüstungsexporten.
Aber auch bei globaler Betrachtung liegt es in unserem Interesse als einer der größten Handelsnationen der
Welt, weiterhin Rüstungsgüter herzustellen und auch zu
exportieren.
Natürlich ist jede Entscheidung über einen Rüstungsexport eine delikate politische Entscheidung, aber auch
eine wichtige, die sowohl außen- und sicherheitspolitische als auch industriepolitische Fragen betrifft. Diesen
Fragen sollten wir uns stellen.
Welche Industriepolitik wollen wir im Rüstungsbereich? Bleiben wir bei Saudi-Arabien. Wenn wir dieses
Land in unserer Außenpolitik trotz aller menschenrechtlichen Bedenken mit guten Gründen als stabilisierende
Kraft in der Region betrachten,
({4})
dann empfiehlt es sich, auch einen guten Kontakt dorthin
zu pflegen. Wenn von dort Wünsche nach bestimmten
Waffensystemen geäußert werden, dann müssen wir
diese in der Gesamtschau unserer Außen- und Sicherheitspolitik betrachten, wie dies offensichtlich auch die
ehemalige rot-grüne Regierung unter Gerhard Schröder
mit Außenminister Joschka Fischer getan hat,
({5})
bevor sie den Export von Tausenden Scharfschützengewehren nach Saudi-Arabien genehmigt hat.
({6})
Lassen Sie uns in dieser Debatte bitte ehrlich bleiben.
Wenn wir keine Rüstungsexporte wollen, dann müssen
wir auch den 80 000 Beschäftigten der Rüstungsbranche
sagen: Verlasst unser Land. - Unsere Partner im Ausland
rollen ihnen den roten Teppich aus; denn dort gibt es weniger bis gar keine Bedenken in Bezug auf Rüstungsexporte. Unsere Nachbar- und Partnerländer haben sogar
ganz im Gegenteil ein großes Interesse daran, unsere
qualitativ hochwertigen Produkte der deutschen Wehrtechnik zu bekommen.
Wir sollten uns also genau überlegen, was wir außenund sicherheitspolitisch, aber auch industriepolitisch
wollen - das sage ich in Richtung des Bundeswirtschaftsministeriums -: Wollen wir wirklich einen unwiderruflichen Abfluss von Kompetenz und hochqualifizierten Arbeitskräften? Wollen wir uns wieder von der
Lieferung anderer Nationen abhängig machen? Wollen
wir einen Industriezweig, den wir uns mühsam über
Jahrzehnte aufgebaut haben, abschaffen?
({7})
Wollen wir unsere technologische Spitzenstellung in diesem sicherheitsrelevanten Bereich aufgeben?
({8})
Oder wollen wir auch zukünftig in der Lage sein, modernstes Material und bestes Gerät zum Schutz unserer
Soldatinnen und Soldaten zu entwickeln?
Vielen Dank.
({9})
Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Jan van
Aken das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
glaube, das Zitat des Tages kommt von Herrn Pfeiffer
von der CDU/CSU. Er hat gerade wörtlich gesagt:
Die Welt ist … kein Hort des Friedens. Wir leisten
unseren Beitrag dazu …
Recht hat er.
({0})
Wir leisten leider unseren Beitrag dazu: mit den milliardenschweren deutschen Rüstungsexporten.
Noch nie hat Deutschland so viele Waffen exportiert
wie unter der Kanzlerin Merkel. Frau Merkel ist die
Waffenkanzlerin.
({1})
Aber sie ist wenigstens ehrlich. Die SPD dagegen ist unehrlich. Herr Arnold hat sich hier gerade hingestellt und
gesagt: Wir haben beschlossen - das haben wir auch -,
dass innerhalb von 14 Tagen über solche Beschlüsse im
Bundessicherheitsrat informiert wird.
({2})
Wissen Sie, wann der Bundessicherheitsrat das letzte
Mal getagt hat?
({3})
Vor 15 Tagen. Haben Sie gestern eine Information bekommen? Ich habe sie nicht bekommen und Sie auch
nicht.
({4})
Sie geben hier zwar immer Versprechen ab, aber Sie halten sie nie.
({5})
Das ist seit vier Monaten das Problem mit Herrn Gabriel.
({6})
Ich persönlich habe ein halbes Dutzend Mal mit
Herrn Gabriel das Problem gehabt, dass er in der Öffentlichkeit irgendetwas sagt und hinterher praktisch genau
das Gegenteil macht. Ich will Ihnen nur einmal drei Beispiele nennen.
Erstes Beispiel. Herr Gabriel hat mir am 30. Januar
2014 in aller Öffentlichkeit versprochen - ich zitiere -:
({7})
Sie, Herr van Aken, bekommen „jede Information, die
zu erteilen ich bei der geltenden Rechtslage in der Lage
bin“. Was passiert? Gar nichts! Drei Monate lang gab es
keine Informationen über Rüstungsexporte. Wir mussten
erst mit einer Klage drohen. Herr Lammert - vielen
Dank noch einmal an ihn - hat ihn schriftlich darauf hingewiesen, dass das, was er tut, verfassungswidrig ist.
Erst nach drei langen Monaten und viel Druck hat er die
Zahlen endlich herausgerückt. Sein Versprechen hier
war alles nur Gerede.
({8})
Zweites Beispiel. Im Wahlkampf hat er gesagt: Rüstungsexporte in Länder, in denen Menschenrechte massiv verletzt werden, lehnen wir ab. - Das können Sie
auch heute noch bei abgeordetenwatch.de nachlesen.
Was macht er, gerade Minister geworden, am 21. Januar
2014? Er genehmigt eine Bürgschaft in Höhe von
1,4 Milliarden Euro für über 100 Patrouillenboote und
andere Schiffe für Saudi-Arabien. Was ist denn das, bitte
sehr? Das ist doch ein Rüstungsexport, wie er gesagt hat,
in ein Land, das Menschenrechte massiv verletzt. Im
Wahlkampf das eine sagen und dann, sobald er Minister
ist, genau das Gegenteil tun, das ist eine Sauerei.
({9})
Drittes Beispiel. In der Bild-Zeitung vom Sonntag
war ein Interview mit Gabriel zu lesen. Da sagt er wörtlich: „Deutschland muss seine Waffenexporte sehr restriktiv handhaben …“ - Richtig! Was lese ich am gleichen Tag, also am letzten Sonntag, im Spiegel? Unter
Sigmar Gabriel wurden in den ersten vier Monaten dieses Jahres bereits Rüstungsexporte für 1,1 Milliarden
Euro genehmigt. - Das ist nicht restriktiv, das ist ausufernd. Gerade den Export von Waffen in Drittländer hat
er sogar gesteigert. Gabriel hat mehr Rüstungsexporte in
Drittländer genehmigt als die Vorgängerregierung.
({10})
Es ist so peinlich, wenn Sie jetzt hier behaupten, das
seien alles noch Entscheidungen der Vorgängerregierung. Frau Brugger hat gesagt: Lesen Sie § 7 Absatz 1
des Kriegswaffenkontrollgesetzes. Da steht ausdrücklich
- ich zitiere -: „Die Genehmigung kann jederzeit widerrufen werden.“ - Herr Gabriel hätte das also tun können,
er hat sich aber nicht getraut. Es war seine Entscheidung.
Es spricht auch Bände, dass er heute nicht hier sitzt,
({11})
weil er genau weiß, dass er in der Öffentlichkeit immer
das Gegenteil von dem sagt, was er macht.
({12})
Ich muss ehrlich sagen: Ich vermute, niemand hier im
Bundestag, außer Herrn Pfeiffer, vermisst die FDP, ich
ganz besonders nicht. Aber ich finde es ganz unlauter
von Herrn Gabriel, dass er jetzt die Verantwortung für
seine eigenen Rüstungsexportentscheidungen Herrn
Rösler in die Schuhe schiebt. So funktioniert das nicht.
({13})
Mein Eindruck von der SPD und von Herrn Gabriel
ist: Immer, wenn irgendwo eine Fernsehkamera in der
Nähe ist, ist er der totale Kritiker von allen Waffenexporten. Kaum ist die Kamera aus, winkt er alle Rüstungsexporte durch, auch nach Saudi-Arabien, auch an Menschenrechtsverletzer. Dafür sind Sie mitverantwortlich.
({14})
Ich wünsche mir ganz ernsthaft, dass ich mich irre.
Sie haben dazwischengerufen: Das ist perfide! Das ist
eine Unterstellung! - Ich lasse mich gern überzeugen,
dass Sie die Exporte von Kleinwaffen tatsächlich verbieten lassen wollen.
({15})
Ich lasse mich gern davon überzeugen, dass Sie wirklich
keine Waffenfabriken mehr exportieren wollen. Aber
dann tun Sie es endlich. Das ist überaus notwendig; denn
unter dieser Kanzlerin, mit der Sie gerade koalieren,
wurden im letzten Jahr zum Beispiel Kleinwaffen für
135 Millionen Euro in alle Welt exportiert. 135 Millionen Euro! Wenn ich mir vorstelle, dass jetzt in dieser
Minute irgendwo in Syrien, in Libyen oder Mali ein
Mensch mit einer deutschen Waffe erschossen wird,
dann finde ich das grauenvoll.
({16})
Das ist wahrscheinlich der Moment, wo die Damen
und Herren von der CDU/CSU wieder aufstöhnen und
einfordern, man möge doch diese Debatte nicht so emotional führen.
({17})
Doch, ich finde, sie muss emotional geführt werden. Es
geht hier nicht um Kühlschränke. Es geht hier auch nicht
um Nähmaschinen. Es geht um Waffen! Es geht um Tod,
um Vergewaltigung, um Vertreibung und um Krieg und
um nichts anderes! Eine solche Debatte führe ich emotional.
({18})
Ich kann nicht kalt bleiben, wenn ich mir vorstelle, wie
viele Tausende und Zehntausende Menschen in den
nächsten Jahren von den Waffen getötet werden, die Sie
heute exportieren. Ich finde es beschämend, dass solche
Pfeiffer wie Sie von der CDU überhaupt keine Emotionen mehr zeigen, wenn mit Ihren Exporten gemordet
wird.
Ich danke Ihnen.
({19})
Der Kollege Hubertus Heil hat für die SPD-Fraktion
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ich finde, das Thema Rüstungsexporte verdient
weder Naivität noch Zynismus, und ich sage das hier in
unterschiedliche Richtungen. Sie sollten sich die Fähigkeit aneignen, in einer Demokratie zu differenzieren,
Herr van Aken. Ich habe mich so echauffiert, weil Sie
Herrn Gabriel angegriffen haben, weil er heute nicht anwesend ist. Er ist krank.
({0})
Das passiert schon einmal im Leben. Das zu skandalisieren, sagt auch etwas über Ihren Charakter, finde ich.
({1})
Aber dabei bleibt es nicht stehen. Es geht nicht nur
um die Frage: fehlende Differenzierung oder Naivität?
Vor allem geht es nicht an, mit Desinformation oder Irreführung zu arbeiten.
({2})
Das will ich anhand von ein paar Punkten belegen, Herr
van Aken.
Tatsache ist: Deutschland ist ein Standort für Wehrund Sicherheitstechnik. Tatsache ist auch: 80 000 Menschen - das ist schon erwähnt worden - arbeiten in dieser Industrie, die sehr stark exportabhängig ist.
({3})
- Hören Sie einfach einen Moment zu, bevor Sie sich so
ausgiebig ausbrüllen!
Es ist uns aber nicht egal, wohin Kriegswaffen exportiert werden. Das ist der Unterschied. Sie fordern auf
Wahlplakaten - das ist Ihre Position und an Schlichtheit
nicht zu überbieten -: „Rüstungs-Exporte verbieten! Die
Linke.“
({4})
- Das habe ich gerufen, weil ich es unverschämt finde,
wie Sie mit der Krankheit eines Ministers umgehen. Sie
sollten sich schämen, solche Reden zu halten.
({5})
Ihnen ist die kurzfristige Pointe wichtiger als die Wahrheit, Herr van Aken. Sie sagen - das sind sachliche Unterschiede -, Sie wollen Exporte verbieten. Wir sagen:
Wir wollen Exporte nicht verbieten, sondern wir wollen,
dass restriktiv entschieden wird, wohin exportiert wird.
Hubertus Heil ({6})
({7})
Die neue Bundesregierung liefert ein Instrument, das
der deutschen Öffentlichkeit und diesem Parlament helfen wird, eine restriktivere Rüstungsexportpolitik zu betreiben.
({8})
Das sage ich, weil Sie an dieser Stelle die Tatsachen bewusst verdreht haben, Herr van Aken. Es ist jemandem,
der schließlich nicht ganz blöd ist, aus meiner Sicht nicht
als Naivität anzurechnen, sondern es ist tatsächlich perfide, wenn Sie so tun, als würden wir uns nicht an das
halten, was wir als Bundestag beschlossen haben.
Der Deutsche Bundestag hat am 8. Mai einen Beschluss gefasst. Das heißt, die 14-Tage-Frist läuft noch.
Sie wissen, dass für die erstmalige Anwendung der
Transparenzregeln die Geschäftsordnung des Bundessicherheitsrates geändert wird. Das passiert gerade. Wir
werden also in den nächsten Tagen das bekommen, was
wir gefordert und durchgesetzt haben, nämlich dass statt
Geheimdokumenten und Geheimniskrämerei dieses Parlaments nach Rüstungsexportentscheidungen eine Dokumentation erfolgt.
Danach kann man ernsthafte Debatten darüber führen,
ob Rüstungsexportrichtlinien eingehalten oder verletzt
wurden. Ihnen geht es aber nicht darum, ob Rüstungsexportrichtlinien eingehalten oder verletzt werden. Ihr
Geschäftsmodell ist die Skandalisierung. Mit unserer
Transparenz werden wir das kaputtmachen. Vielleicht
sind Sie deshalb so sauer.
({9})
Ich will auf die Frage eingehen, die Sie in den Raum
gestellt haben: Ja, es ist richtig, dass Rüstungsexporte
stattgefunden haben, und zwar aufgrund von völkerrechtlichen Verträgen, die die Vorgängerregierung abgeschlossen hat. Um einen Posten zu nennen, den Sie auch
kennen: Der größte Posten, um den es geht, sind Exportgenehmigungen mit einem Volumen von über 191 Millionen Euro für Exporte nach Singapur. Dabei handelt es
sich um eine Bundeswehrabgabe. Das sind völkerrechtliche Verträge, aus denen man nicht einfach aussteigen
kann.
Aber ich sage auch - Kollege Arnold hat das angedeutet; darin unterscheiden wir uns, Herr Pfeiffer, falls
es Ihnen nicht passt -: Für uns ist Rüstungsexportpolitik
keine Wirtschaftspolitik, sondern Sicherheitspolitik.
Deshalb werden wir in puncto Transparenz den Druck
auf Entscheidungsträger, wer auch immer eine Bundesregierung stellen wird, für eine restriktive Exportpolitik
verstärken. Das wird mutmaßlich dazu führen, dass dieses Land weniger exportieren wird als in den letzten Jahren.
Sie können das anhand von Zahlen nachvollziehen. In
den ersten Monaten dieses Jahres - auch das verschweigen Sie wider besseres Wissens, Herr van Aken - haben
weniger Rüstungsexporte als im Vorjahr stattgefunden.
Das werden Ihnen die Berichte deutlich machen.
({10})
- Ja, wir werden über die Drittländer differenziert reden
müssen. Es gibt welche, in die Exporte nicht möglich
sind, und andere, in die exportiert werden kann, weil es
dort ein stabiles System gibt und die Menschenrechte
nicht verletzt werden.
({11})
Es gibt zudem sicherheitspolitische Interessen. Ich sage
Ihnen an dieser Stelle: Es ist schon ein Unterschied, ob
Sie Panzer oder Patrouillenboote in ein Land exportieren. Panzer lassen sich möglicherweise gegen die Bevölkerung einsetzen. Deshalb haben wir das bei der Vorgängerregierung zu Recht kritisiert. Bei Patrouillenbooten
geht es zum Beispiel um den Schutz von Küsten und
Bohrinseln.
Sie geben die Fähigkeit zur Differenzierung auf, nur
weil Sie sich davon billige Vorteile im Wahlkampf versprechen. Ihnen geht diese Fähigkeit ab. Das ist nicht gut
für die Demokratie. Deshalb sind Sie nicht politikfähig.
Mit den Grünen streite ich mich gerne darüber, ob die
Richtlinien, die wir gemeinsam erarbeitet haben, eingehalten werden oder nicht. Darüber können wir demnächst auf der Basis von Fakten und mehr Transparenz
in diesem Haus strittig diskutieren. Aber ich habe eine
Differenzierung bei den Grünen festgestellt. Sie sind
nicht für ein Verbot von Rüstungsexporten. Jedenfalls
habe ich nichts Entsprechendes gelesen. Aber Sie sprechen sich für ein solches Verbot aus. Eine Differenzierung ist Ihnen völlig egal. Sie versuchen, Sozialdemokraten in Regierungsverantwortung als Feindbild zu
kultivieren. Aber das wird Ihnen nicht gelingen.
Es geht um die Verantwortung für die Sicherheit nicht
nur in diesem Land, sondern auf der ganzen Welt. Dazu
trägt auch die restriktive Handhabung unserer Richtlinien bei. Wir werden mit noch nie da gewesener Transparenz dafür sorgen, dass wir nicht in Länder exportieren werden, in denen die Bevölkerung unterdrückt wird.
Hier geht es um Leben und Tod. Als Wirtschaftspolitiker
sage ich ganz bewusst: Das ist nicht eine rein ökonomische, sondern eine ethische Frage. Die Fähigkeit zur Differenzierung wünsche ich Ihnen und allen anderen in
diesem Haus. Das ist in einer tatsächlich schwierigen Situation angemessen. Ich bin froh, dass der Kollege
Arnold darauf hingewiesen hat, dass das Leben nicht nur
schwarz oder weiß, sondern manchmal auch grau ist.
Das werden wir mit mehr Transparenz ausleuchten.
Herzlichen Dank.
({12})
Die Kollegin Katja Keul hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zunächst einmal zum aktuellen Anlass für
diese Debatte. Nach eigenen Angaben hat Wirtschaftsminister Gabriel seit dem 1. Januar 2014 für über 1 Milliarde Euro Rüstungsexporte genehmigt. Über 50 Prozent dieser Genehmigungen wurden für Exporte an
Staaten außerhalb von NATO und EU erteilt, an sogenannte Drittstaaten, an die nach den Grundsätzen der
Bundesregierung eigentlich gar nicht geliefert werden
dürfte. Diesen Trend haben wir seit Jahren gemeinsam
mit der SPD-Fraktion immer wieder kritisiert, während
die Union es einfach geleugnet hat.
Jetzt beruft sich Herr Gabriel darauf, dass er wegen
rechtlich verbindlicher Exportzusagen aus den vorangegangenen Jahren nicht anders konnte. Was genau meint
er damit eigentlich? Die von uns vermuteten Vorbescheide sollen es angeblich nicht sein; denn diese seien
ja so unverbindlich, dass man das Parlament darüber gar
nicht informieren müsse, so jedenfalls die Verteidigungslinie der Bundesregierung vor dem Bundesverfassungsgericht, wo die Kollegen Ströbele und Roth mit
mir ihre parlamentarischen Auskunftsrechte einklagen.
In Karlsruhe ließ diese Regierung verlauten, Vorbescheide seien unbedingt geheim zu halten, weil die Willensbildung der Regierung damit gar nicht abgeschlossen sei. Aha! Das dürfte gerade die Industrievertreter
ziemlich überrascht haben, die sich seit jeher auf die
Vorbescheide verlassen und noch nie enttäuscht wurden.
Aber darum soll es jetzt angeblich nicht gehen. Stattdessen soll es sich um Bestätigungen von Genehmigungen
aus früheren Jahren handeln. Also bitte! Ein bisschen
ernster könnten Sie die Opposition schon nehmen. Was
wir hier machen, unterliegt zwar dem Diskontinuitätsprinzip. Aber nur weil Bundestagswahlen waren, brauchen nicht alle Exportgenehmigungen neu bestätigt zu
werden.
Könnte es eventuell sein, dass es hier um das zeitliche
Auseinanderklaffen von Genehmigungen nach dem
Kriegswaffenkontrollgesetz und dem Außenwirtschaftsgesetz geht? Das wiederum hieße, dass Sie uns seit Jahren die abschließenden Genehmigungen nach dem
Kriegswaffenkontrollgesetz in den Exportberichten unterschlagen hätten und die Berichte also noch weniger
aussagekräftig waren, als wir es ohnehin beklagt haben.
({0})
Ich wundere mich schon die ganze Zeit, wo die
1,8 Milliarden Euro für die Leopard-Panzer an Katar
geblieben sind, die Anfang letzten Jahres genehmigt
wurden. Diese tauchen in Ihren Antworten zu 2013 komischerweise gar nicht auf. Wenn ich mir die Erklärungsversuche von Herrn Gabriel in der Presse dazu ansehe, dann habe ich den Eindruck: Der Minister selbst
hat es noch nicht so richtig durchdrungen. Das ist dann
wirklich der Gipfel der Intransparenz, wenn der Minister
selbst nicht mehr durchblickt.
({1})
Wir zählen also eins und eins zusammen und stellen
fest: Die Regierung entscheidet verbindlich über einen
Waffenexport, indem sie eine Kriegswaffenkontrollgenehmigung erteilt. Wann sie aber diese Genehmigung
veröffentlicht, kann sie selbst steuern, indem sie die Genehmigung nach dem Außenwirtschaftsgesetz, die letztlich reine Formsache ist, willkürlich in andere Jahreszeiträume legt. Mit Transparenz hat das nun wirklich gar
nichts mehr zu tun.
Wenn mich aber nicht alles täuscht, dann ist heute ein
historischer Tag; denn heute sind 14 Tage seit der ersten
Sitzung des Bundessicherheitsrates vergangen, und wir
erwarten die groß versprochene und angekündigte Mitteilung über die in dieser Sitzung erteilten Genehmigungen. Von irgendwelchen Differenzierungen zwischen
diversen Genehmigungsgrundlagen war bei Ihrem großartigen Beschluss aus der letzten Sitzungswoche nicht
die Rede. Ich lese Ihnen diesen vor, in dem die Bundesregierung aufgefordert wird - Zitat -: „den Deutschen
Bundestag über abschließende Genehmigungsentscheidungen des Bundessicherheitsrates unverzüglich …,
spätestens zwei Wochen nach Tagung des Bundessicherheitsrates zu unterrichten“.
({2})
Jede abschließende Genehmigungsentscheidung!
({3})
- Wir nehmen Sie beim Wort, Herr Heil.
Wo wir schon bei Ihren Ankündigungen sind: Die
Ausfuhrkontrolle in Bezug auf Überwachungstechnologie ist in der Tat überfällig. Nachdem die Vorgängerregierung nicht nur unsere grünen Anträge hier im Bundestag, sondern auch die Initiativen im Europäischen
Parlament ausgebremst hatte, haben sich nun zahlreiche
Staaten im Rahmen des Wassenaar-Abkommens auf die
Aufnahme dieser Technologie in die entsprechende Verbotsliste geeinigt. Mit anderen Worten: Deutschland
kommt ohnehin nicht umhin, hier tätig zu werden. Der
Versuch, sich als Vorreiter zu zelebrieren, ist auch hier
nicht wirklich gelungen.
Manchmal läuft es auch wirklich doof, Herr Heil. Gerade jetzt, da Sie zwangsweise Exportgenehmigungen
von über 1 Milliarde Euro bestätigen müssen, kommt
auch noch heraus, dass zwei ehemalige SPD-Abgeordnete 5 Millionen Euro vom deutschen Panzerhersteller
Krauss-Maffei Wegmann erhalten haben, weil sie sich so
gut in Südosteuropa auskennen.
({4})
Die haben das mit der parlamentarischen Kontrolle offensichtlich etwas missverstanden.
({5})
- Nein, ich hatte Sie nur angesprochen, weil Sie gerade
in ein Gespräch vertieft waren, und ich wollte nicht, dass
Sie die Pointe verpassen.
({6})
Was nützt es, Griechenland wegen Korruption anzuprangern, wenn genau diese Korruption von deutschen
Waffenherstellern genutzt wurde und Griechenland noch
2010 neben Portugal größter Abnehmer deutscher Rüstungsgüter gewesen ist?
({7})
Das war zu einem Zeitpunkt, als wir hier im Bundestag
schon über erste Rettungspakete diskutiert haben. Das
macht die deutschen Ratgeber in Europa nicht glaubwürdiger.
Ich sage Ihnen, was gegen Korruption wirklich hilft:
Transparenz, und zwar hier und in Griechenland. Haben
Sie endlich den Mut, Ihre Entscheidungen auf den Tisch
zu legen und uns gegenüber zu begründen. Dann haben
wir endlich die Gelegenheit, Sie davon zu überzeugen,
dass Ihre Begründung nicht trägt. Am Ende werden wir
uns dann hoffentlich doch noch einig: Deutsche Kriegswaffen haben in Drittstaaten nichts zu suchen.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat der Kollege Helmut Nowak für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Export von Sicherheits- und Verteidigungsdingen
({0})
- auch - ist in Deutschland nicht verboten, er ist aber
streng reglementiert. Beides ist absolut richtig.
Im Vergleich zu anderen Ländern, auch und gerade im
transatlantischen Bündnis, haben wir uns für klar definierte Hürden bei der Genehmigung und bei der Kontrolle von Rüstungsexporten ausgesprochen. Dazu
wurde heute schon sehr viel erzählt; seit vielen Wochen
geht das so. Klar ist aber auch, dass die Existenz einer
wirksamen Landesverteidigung essenziell für die nationale Souveränität eines Staates ist.
({1})
Hierzu gehören auch das Vorhalten und die Weiterentwicklung technologischer Fähigkeiten. Wo die Fähigkeiten und das Potenzial zu wirksamer Verteidigung fehlen,
entwickelt sich schnell ein machtpolitisches Vakuum,
und das könnte durchaus Begehrlichkeiten wecken. Das
tut es offenbar auch. Wer vor dieser Tatsache die Augen
verschließt, dem sei gerade in diesen Tagen dringend angeraten, einmal einen Blick auf unsere Freunde und
Nachbarn in Osteuropa zu richten.
Aber einmal angenommen, wir würden uns dem Ansinnen der Linken tatsächlich anschließen und sämtliche
Rüstungsexporte verbieten: Was würde das bringen? Ich
bin mir sicher: Es würde kein Krieg dadurch verhindert
werden. Möglicherweise gäbe es eher mehr Kriege. Die
Folge wäre lediglich, dass unsere Exporte dann von anderen Ländern übernommen würden, deren Kontrollen
möglicherweise geringer sind als bei uns. Deutsche Rüstungsexporte, insbesondere in Drittländer, unterliegen
der restriktivsten Genehmigungspraxis, die bis hin zum
letztendlichen Verbleib der Rüstungsgüter, also die Zeit
nach der Nutzung, alles penibel und transparent regelt.
Ein generelles Exportverbot würde lediglich einen riesigen Verlust an wirksamer Kontrolle mit sich bringen,
aber unsere Sicherheit ganz klar nicht erhöhen.
Bis vor wenigen Wochen hatten wir hier in Mitteleuropa eine bewaffnete Auseinandersetzung unter Nachbarn
in unserer Nähe noch für kaum denkbar gehalten. Wir
wurden eines Besseren - oder besser: eines Schlechteren belehrt. Kann man also Ländern, insbesondere NATOMitgliedern, verwehren, ihre Landesgrenzen auch mit
deutscher Technologie zu sichern und das Leben und das
Hab und Gut der eigenen Bevölkerung zu schützen? Ist es
darüber hinaus redlich, beispielsweise Soldaten anderer
Nationen auszubilden, ihnen unsere Werte zu vermitteln,
wenn man sich anschließend aber weigert, sie mit den
Waffen auszurüsten, die sie brauchen, um sich entsprechend zu verhalten? Ich denke da an Afghanistan und an
Afrika, wo wir mittlerweile sehr engagiert sind.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die negativen Folgen
eines generellen Verbotes von Rüstungsexporten träfen
- darüber sollten wir uns, glaube ich, im Klaren sein - uns
in erster Linie selbst. Zum einen haben wir als Deutsche
ein vitales Interesse daran, dass beispielsweise die für uns
so wichtigen internationalen See- und Handelswege gesichert und geschützt werden. Wir haben natürlich auch ein
Interesse daran, dass der Terrorismus bekämpft wird. Das
heißt, dass wir Staaten, die sich zur Terrorismusbekämpfung bekennen, dazu aus eigener Kraft aber nicht in der
Lage sind, mit Waffen beliefern müssen. Zum anderen benötigen wir den Export von Rüstungsgütern, um unsere
eigene Rüstungs- und Verteidigungsindustrie, die nach
wie vor zu den leistungsfähigsten der Welt gehört, auf diesem Niveau zu halten. Auch das ist letztendlich ein Ausdruck der von mir erwähnten Souveränität.
Ein generelles Ausfuhrverbot deutscher Sicherheitsprodukte würde in vielen Fällen das Ende von Entwicklung und Produktion von Sicherheitsgütern in Deutschland bedeuten. Als Ergebnis stünde der Verlust von
Zehntausenden von Arbeitsplätzen fest, wie hier heute
schon mehrfach gesagt wurde. Viel bedeutender allerdings wäre, dass unser Land damit vollständig abhängig
von Importen wird und dass wir damit die Kontrolle über
unsere eigene nationale Sicherheit verlieren würden. Das
kann nicht das Ziel einer verantwortungsvollen Außen3074
und Sicherheitspolitik sein. Es ist jedenfalls nicht das
Ziel der Großen Koalition.
({2})
Die deutsche Rüstungsexportpolitik war immer eine
Politik der Selbstbeschränkung. Diese Standards europaweit, bündnisweit und letztendlich international durchzusetzen, das sollte das Ziel unserer Politik sein, aber
doch nicht ein Verbot von Exporten, welches unsere auf
Transparenz und Nachvollziehbarkeit aufbauende Politik konterkarieren, ganze Industriebereiche und deren
Arbeitsplätze vernichten würde und am Ende uns selbst
in eine fatale Abhängigkeit brächte. Daher ein klares Ja
zu der klugen und verantwortungsvollen Rüstungsexportpolitik aller Bundesregierungen seit Bestehen der
Republik und ein klares Nein zu dem Ansinnen der Linken.
Ich danke Ihnen.
({3})
Kollege Nowak, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Ich denke, ich spreche im Namen des
gesamten Hauses, wenn ich Ihnen alles Gute für die weitere Arbeit hier im Bundestag wünsche.
({0})
Das Wort hat der Kollege Klaus Barthel für die SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! In einem Teil der Medien,
aber auch in dieser Debatte gibt es die Tendenz, Politik
dadurch schlechtzumachen, dass man alles mit allem vermischt, dass man versucht, Glaubwürdigkeit systematisch
zu untergraben, Unterschiede zu nivellieren und damit so
zu tun, als wären alle gleich, nach dem Motto „Hau drauf!
Am besten geht man nicht zur Wahl“. Ihnen von den Linken sage ich: Von dieser Art von Politik werden auch Sie
nicht profitieren. Denn das, was Sie als Alternative anbieten - einen sofortigen Waffenexportstopp -, lässt sich
nicht von heute auf morgen umsetzen; das weiß jedes
Kind. Hören Sie deswegen auf, hier auf diese Art und
Weise zu diskutieren.
({0})
Wir lesen - Ähnliches hörten wir auch in dieser Debatte -: „SPD-Politiker kassierten bei Panzer-Deal“, „Und
dann hat die SPD noch ihren ganz eigenen Rüstungsskandal …“ - Das wird sowohl in den Reden der Linken als
auch in den Zeitungen vermischt - das muss man sich einmal vorstellen - mit der Debatte über mehr Transparenz
bei Rüstungsexporten heute und mit dem, was Sigmar
Gabriel als Vizekanzler und Wirtschaftsminister an Umsteuerung in Rüstungsfragen durchzuführen versucht. Es
ist unglaublich, was hier passiert. Man muss sich einmal
überlegen, worum es da geht. Ich bin der Letzte, der irgendwelche Machenschaften rechtfertigt. Es ist so: Die
beiden, um die es geht, haben diesem Haus bis 1990 bzw.
1994 angehört. Das ist 20 Jahre und mehr her. Es heißt immer „SPD-Politiker“. Ab diesem Zeitpunkt waren sie
keine SPD-Politiker mehr, sondern höchstens Ex-SPDPolitiker.
({1})
Ihre Geschäfte haben drei Jahre, vier Jahre, fünf Jahre
später angefangen, und die Kohle haben sie noch später
gekriegt. Das heißt, sie hatten zu dem Zeitpunkt kein
Mandat von dieser Partei, kein Mandat im Deutschen
Bundestag. Ich frage mich: Was hat das, verdammt noch
mal, mit dieser Diskussion über Rüstungsexporte heute
zu tun?
({2})
Allein schon dass Sie heute diese Aktuelle Stunde
machen können, beruht doch darauf,
({3})
dass sich etwas geändert hat. Wann hatten wir es denn
schon einmal, dass eine Bundesregierung vier Monate
nach ihrer Amtsaufnahme Beschlüsse über mehr Transparenz in diesem Bereich gefasst hat und Sie solche Antworten bekommen, auf denen Sie Ihre Debatte überhaupt erst aufbauen können? Das konnten Sie bisher
noch nie.
({4})
Allein das ist schon Ausdruck von Veränderung.
Zeitnahe Unterrichtung, mehr Transparenz: Der erste
Rüstungsexportbericht kommt im Juni und nicht erst im
nächsten Jahr. Es wird Halbjahresberichte geben usw.
usf. Wir können heute darüber diskutieren, dass wir in
den nächsten Tagen sehen werden, was wirklich passiert.
Alle, die sich mit Rüstungsexporten beschäftigen,
wissen ganz genau, welche Vorläufe und Nachläufe es
gibt und dass man nicht nach vier Monaten beurteilen
kann, ob sich in der Rüstungsexportpolitik einer Bundesregierung etwas geändert hat; das ist doch absolut lächerlich.
({5})
Wie oft haben wir uns denn, liebe Kollegen von den
Grünen, von den Schwarz-Gelben anhören müssen, dass
die Exporte noch auf Schröder und die Grünen zurückgehen? So kann man hier nicht diskutieren. Man muss
dafür kämpfen, dass die Rüstungsexportrichtlinien wirklich eingehalten werden.
Dass wir dazu zurückkehren, sie ernst nehmen, hat
der Bundeswirtschaftsminister zugesagt. Dass das nicht
Teil der Wirtschaftspolitik ist, hat der Bundeswirtschaftsminister zugesagt. Insofern, liebe Kollegin Bartz,
argumentieren Sie hier an der Sache und an den Grundlagen der Entscheidung vorbei, auf die wir uns gemeinsam beziehen. Er hat gesagt: Die Spähsoftware, die
Überwachungstechnologie muss einbezogen werden
- lange eine gemeinsame Forderung -, und wir wollen
das bei den Kleinwaffen und Gewehren in Zukunft viel
genauer und restriktiver handhaben. Ich sage dazu: Wir
müssen auch bei dem Thema Endverbleibskontrolle etwas tun; das ist klar; wir nehmen das sehr ernst.
Ich zitiere wieder die Presse: Gabriel blockiert Rüstungsexporte. Die Kollegen Fuchs und Hahn warnen vor
Nachteilen für die deutschen Unternehmen. Die Kollegen Pfeiffer und Uhl sehen keine Notwendigkeit, die
Rüstungsexporte noch sanfter anzufassen. Frau Bartz hat
dann noch mit Franz Josef Strauß angefangen. Es hieß,
Saudi-Arabien sei ein Stabilitätsanker und zu beliefern.
Vom verteidigungspolitischen Sprecher der CDU/CSU
hören wir, es gehe darum, linke Strömungen in der SPD
zu beruhigen; das sei ein Riesenschaden für die Außenpolitik. Wenn Sie - bei diesen Äußerungen! - so tun, als
hätte sich in der neuen Koalition nichts geändert und als
würde sich nichts ändern, dann leben Sie nicht auf dieser
Welt.
({6})
Also: Wir folgen nicht irgendwelchen linken Strömungen, sondern der Mehrheit der Bevölkerung, die weniger Rüstungsexporte will. Die Korrektur ist da. Die
Diskussion ist heute ganz anders möglich als früher. Sie
können sicher sein, dass wir Sozialdemokraten in dieser
Debatte für mehr Hellgrau sorgen werden.
({7})
Der Kollege Henning Otte hat für die CDU/CSUFraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man muss bei
dieser Debatte leider wirklich sagen: Man muss bei der
Fraktion Die Linke offensichtlich mal wieder bei Adam
und Eva anfangen: „Rüstung“ kommt von „Ausrüstung“.
So wie ein Handwerker einen Hammer und einen Nagel
braucht, so brauchen Soldaten und Polizisten Waffen,
um sich schützen bzw. wehren zu können, wenn sie angegriffen werden. Wenn Sie ihnen diese verweigern wollen, dann müssen Sie das sagen. Aber wer sich von
Brandanschlägen linksextremistischer Kräfte gegen
Bundeswehreinrichtungen nicht distanziert, von dem
kann man in dieser Hinsicht nichts erwarten. Sie offenbaren sich hier, meine Damen und Herren.
({0})
Anlässlich der Internationalen Luft- und Raumfahrtausstellung gab es gestern einen Empfang, bei dem der
brandenburgische Ministerpräsident, Herr Dr. Woidke,
dargestellt hat, dass Deutschland ohne Bundeswehr und
ohne NATO heute nicht so gut dastehen würde. Wenn
man sich einmal anschaut, welche Hochtechnologieprodukte dort ausgestellt werden, dann stellt man fest, dass
diese ein Beweis für Know-how und Kompetenz auf
Spitzenniveau sind. Bundeswehr, NATO, Frieden in Europa und Spitzentechnologie haben etwas miteinander zu
tun. Das alles wollen wir als Union nicht aufgeben. Deswegen sagen wir: Wir müssen ermöglichen, dass Soldaten auch die notwendige Ausrüstung bekommen, weil
das Ausdruck von Stabilität und Sicherheit ist.
({1})
Mittlerweile ist es doch schon so, dass mittelständische Betriebe ihre Optik- und Aufklärungsprodukte
nicht mehr einbauen können. Dadurch sind 85 000 Arbeitsplätze gefährdet, unmittelbar sogar noch einmal
200 000. Deswegen ist es gut, dass unsere Technologien
auch in der Welt gefragt sind. Das ist ein Ausdruck von
Kompetenz.
Viel wichtiger, liebe Kolleginnen und Kollegen, aber
ist es, dass wir diese Ausrüstungskompetenz auch erhalten, um sie weiterhin unseren Sicherheitskräften zur Verfügung zu stellen. Ja, wir haben eine stabile Lage in Europa, und wir reduzieren die Streitkräfte. Dadurch
werden weniger Rüstungsgüter abgenommen. Um aber
eine Grundauslastung zu erhalten, müssen wir es den
Unternehmen ermöglichen, sich andere Märkte zu erschließen. Das ist doch Ausdruck von sozialer Marktwirtschaft. Sie wollen dort Planwirtschaft an der Realität
vorbei. Ich sage als verteidigungspolitischer Sprecher:
Wir brauchen eine Rüstungstechnologie, weil sie Ausdruck einer nationalen Sicherheitsvorsorge zum Schutz
unseres Landes, unserer Soldatinnen und Soldaten und
auch unserer Polizisten ist.
({2})
Wenn wir jetzt Anfragen aus den baltischen Staaten
oder aus Polen bekommen, weil man sich dort Sorgen
um die Sicherheit macht, dann sind wir in einer Partnerschaft offen dafür und sagen: Wenn wir Güter haben, die
euch helfen, dann stellen wir diese auch zur
Verfügung. - Lassen Sie mich noch einmal sagen, dass
in Artikel 26 Absatz 2 des Grundgesetzes ganz klar geregelt ist, dass Waffen „nur mit Genehmigung der Bundesregierung hergestellt, befördert oder in Verkehr gebracht
werden“ dürfen. Diesbezüglich wenden wir die unter
Rot-Grün 2005 eingeführten Richtlinien an. Der Rüstungsexportbericht erscheint jetzt mindestens zweimal
jährlich. Handfeuerwaffen werden jetzt mit einer unauslöschbaren Kennzeichnung versehen.
Ich sage auch - da gebe ich dem Kollegen Arnold
recht -: Wir brauchen eine eigene wehrtechnische Industrie. Wir haben schon bei den Browsern und bei der Softwareentwicklung den Anschluss verloren, die jetzt in
den USA bzw. in Asien entwickelt werden. Wohin das
führen kann, sehen wir beim Thema NSA: dass nämlich
andere Systeme sich aufschalten, womöglich sogar unsere Systeme lahmlegen. Ich sage noch einmal: Wir
brauchen auch aus einem nationalen Sicherheitsbewusstsein eine eigene Ausrüstungsindustrie. Dafür stehen wir.
({3})
Export sichert auch Einflussmöglichkeiten, um mitzubestimmen, wo etwas wie geregelt wird. Ich sage auch
einmal: Der Fall der Berliner Mauer vor 25 Jahren und
der Wegfall des Eisernen Vorhangs waren erst einmal
Ausdruck einer zivilen, friedlichen Bewegung der Men3076
schen. Das Ganze ist aber auch deswegen möglich gewesen, weil sich zwei Systeme gegenüberstanden, die sich
nicht angegriffen hätten, weil es ein ausgewogenes Sicherheits- und Kräfteverhältnis gab.
Ich stelle fest, dass die Fraktion Die Linke hier wieder
einmal einen Tanz vollzieht, dass Menschen beunruhigt
und verängstigt werden, dass man versucht, Sicherheitslagen zu destabilisieren - und das nur aus einem Grund:
Sie wollen sich die Existenz einer gewissen Wählerklientel erhalten, um Ihre Existenz zu sichern. Das ist beschämend! Das ist peinlich! Das hat sich heute wieder
einmal offenbart!
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin
Iris Gleicke.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und
Kollegen! Lassen Sie mich gleich zu Beginn festhalten:
Rüstungsexporte sind kein Mittel der Wirtschaftspolitik.
Sie sind Instrument der Sicherheitspolitik. In einem demokratischen Land dürfen sie nicht mit dem Schleier der
Geheimhaltung verdeckt werden.
({0})
Tatsache ist erstens: Noch nie hat eine Bundesregierung so transparent und offen Auskunft über den Export
von Rüstungsgütern gegeben wie diese.
Tatsache ist zweitens: Diese Bundesregierung legt bei
Rüstungsexporten an sogenannte Drittstaaten - also
Staaten außerhalb von EU und NATO sowie gleichgestellte Staaten - sehr strenge Maßstäbe an. Der Export
von Kriegswaffen wird nicht genehmigt, es sei denn,
dass im Einzelfall besondere außen- oder sicherheitspolitische Interessen für eine Genehmigung sprechen.
Ein Anspruch auf Genehmigung besteht nicht.
Es gelten die strengen, im Jahr 2000 von Rot-Grün
eingeführten politischen Grundsätze für den Export von
Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern. Das heißt,
wir werden auch dann keine Genehmigungen für zweifelhafte Geschäfte erteilen, wenn damit der Verlust von
Arbeitsplätzen verbunden sein könnte; denn bei Rüstungsexporten geht es um Leben und Tod.
Tatsache ist drittens: Erstmalig legt eine Bundesregierung strenge Maßstäbe auch für den Export von Überwachungstechnologie an; denn im Internetzeitalter werden
Menschen nicht nur mit Gewehren und Panzern unterdrückt. Dafür hat Bundesminister Gabriel - national und
auf europäischer Ebene - Vorschläge gemacht.
Meine Damen und Herren, wir meinen es ernst mit
der Transparenz. Wir legen Entscheidungen des Bundessicherheitsrates und seines vorbereitenden Ausschusses
der Staatssekretäre offen. Dieses Parlament wird von uns
über abschließende Genehmigungsentscheidungen zeitnah unterrichtet.
({1})
Derzeit ändert das Bundeskanzleramt dazu die Geschäftsordnung des Bundessicherheitsrates, um den
Bundestag innerhalb von zwei Wochen zu informieren.
Ferner wird der Rüstungsexportbericht bereits vor der
Sommerpause erscheinen. Wir werden diesen Bericht
voraussichtlich am 11. Juni vorlegen. Darüber hinaus
werden wir zusätzlich zu dem Jahresbericht bereits im
laufenden Jahr - in der zweiten Jahreshälfte - über die
Zahlen des ersten Halbjahres berichten.
Im Übrigen nimmt die Bundesregierung zu zahlreichen aktuellen Fragen der Rüstungsexportkontrolle, die
aus dem parlamentarischen Raum kommen, regelmäßig
sehr präzise und umfassend Stellung. Ein solches Maß
an Transparenz, meine Damen und Herren, ist ein
Novum in der Geschichte dieses Landes.
({2})
Wir legen alles offen, was wir genehmigt haben; aber
wir können mit Rücksicht auf die legitimen Interessen
der betroffenen Firmen auch in Zukunft nicht darüber
reden, was wir abgelehnt haben. Wir müssen damit
leben, dass es auch in Zukunft nur die Schlagzeile
„Gabriel genehmigt“ geben wird - und nie die Schlagzeile „Gabriel lehnt ab“. Weiter müssen wir damit leben,
dass die Opposition immer wieder versuchen wird, das
auszuschlachten.
Ich will hier aber etwas klarstellen. In den ersten vier
Monaten des Jahres 2014 hat Deutschland im Vergleich
zum Vorjahr ein Viertel weniger Rüstungsgüter exportiert. Insbesondere die Exporte in Entwicklungsländer
sind stark zurückgegangen. Weiter wissen Sie so gut wie
ich, dass der ganz überwiegende Teil der erteilten Genehmigungen für die Ausfuhr in die aufgeführten Drittländer auf Entscheidungen früherer Bundesregierungen
aus den vergangenen Jahren zurückgeht. Eine neue Bundesregierung findet deshalb zum Teil rechtlich bindende
Entscheidungen vor.
Ein ganz wesentlicher Anteil der gesamten Ausfuhrsumme der ersten Monate in 2014 in Drittstaaten
- 300 Millionen Euro - war schon 2013 rechtlich
bindend beschlossen. Der weitaus größte Einzelposten
betrifft eine Genehmigung für den Export von Panzern
nach Singapur. Egal wie man in der Sache über dieses
Projekt denkt, eines haben wir zur Kenntnis zu nehmen:
Es handelt sich dabei um eine Bundeswehrabgabe. Hierfür wurde vor Jahren zwischen Deutschland und Singapur ein völkerrechtlich bindender Vertrag geschlossen.
Weitere Beispiele für eine bereits existierende Rechtsverbindlichkeit sind die im November 2013 erteilte und
bis zum Oktober 2014 gültige Genehmigung nach dem
Kriegswaffenkontrollgesetz zur Ausfuhr eines Patrouillenbootes nach Brunei mit einem Genehmigungswert
von circa 96 Millionen Euro und die im November 2012
erteilte und bis Ende 2015 gültige Genehmigung zur
Ausfuhr von Lenkflugkörpern nach Saudi-Arabien mit
einem Genehmigungswert von circa 21 Millionen Euro.
In beiden Fällen lag eine bindende Genehmigung nach
dem Kriegswaffenkontrollgesetz vor.
({3})
Das heißt, Exporte von über 300 Millionen Euro waren
rechtlich zwingend.
({4})
Voranfragen zählen hierzu ausdrücklich nicht. Zur
Frage, ob positiv beschiedene Voranfragen rechtlich binden, hat sich die Bundesregierung im verfassungsrechtlichen Verfahren zum Auskunftsrecht von Abgeordneten
ausführlich geäußert. Ein einklagbarer Rechtsanspruch
auf Erteilung einer Genehmigung nach einer positiv
beschiedenen Voranfrage besteht in der Tat nicht. Aber
natürlich kann eine neue Bundesregierung positiv beschiedene Voranfragen nicht einfach ignorieren. Es gibt
eine politische Bindung und es gibt rechtliche Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, um von einer Voranfrage
absehen zu können.
Damit ist der weitaus überwiegende Teil des Volumens bereits verbindlich von der alten Bundesregierung
zugesagt worden, nämlich Exporte in Drittstaaten im
Wert von 460 Millionen Euro von 650 Millionen Euro.
Das sind über zwei Drittel.
Meine Damen und Herren, Sigmar Gabriel hat immer wieder deutlich gemacht, dass Waffenhandel kein
Mittel der Wirtschaftspolitik ist. Bei allen neuen Entscheidungen, die der Minister zu verantworten hat,
wird er dafür sorgen, dass Deutschland damit deutlich
vorsichtiger umgeht. Die Entscheidungen der letzten
Jahre kann er aber nicht rückgängig machen. Deshalb
wird es in diesem und auch im nächsten Jahr noch Exporte geben. Nicht jede Lieferung von Rüstungsgütern
ist politisch abzulehnen. Ein international vertrauenswürdiges Deutschland steht zu seiner Verantwortung
für die internationale Sicherheit. Es wird auch in Zukunft Einzelfallentscheidungen geben. Insgesamt aber
gilt: Wir steigern die Transparenz, und wir handeln restriktiver. Das sind die Tatsachen. Wenn Sie diese Tatsachen auch in Zukunft ignorieren wollen, kann ich Ihnen
auch nicht helfen.
({5})
Das Wort hat der Kollege Andreas Lämmel für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Frau Gleicke, den Linken ging es überhaupt nicht darum,
sich das anzuhören. Die Linken hatten überhaupt gar
kein Interesse an sachlicher Aufklärung. Es geht darum,
diese Themen ständig zu skandalisieren, um sie einer bestimmten Klientel immer sachgerecht zu liefern.
Herr van Aken, ich habe es Ihnen schon fünfmal erklärt.
({0})
Sehen Sie sich einmal die Geschichte Ihrer Partei an. Mit
den Waffen, die die SED bis vor 25 Jahren über die Welt
verstreut hat - ohne Rüstungskontrollbericht, ohne Parlament, ohne jegliche Kontrolle -, werden heute noch
Leute getötet. Das sollten Sie in Ihrer Partei aufarbeiten
und dazu Stellung nehmen. Ich habe noch in der Schule
gelernt, dass es gerechte und ungerechte Kriege gibt und
wir die gerechten Kriege unterstützen müssen. Ihnen
geht es nicht um sachliche Aufklärung und sachliche
Diskussion, sondern es geht Ihnen nur darum, eine bestimmte Klientel an Wählern zu befriedigen. Das ist die
Ideologie Ihrer Partei. Sie wissen ganz genau, dass die
Themen „Verbot von Exporten“ oder „Auslaufen der
Produktion“ völliger Unfug sind. Man könnte fast vermuten, Sie seien der verlängerte Arm von Putin oder von
anderen und
({1})
wollten sozusagen die deutsche Wehrindustrie stilllegen,
um die russische Wehrindustrie zu stärken. Es ist eine
Illusion, zu glauben, dass das Volumen der in der Welt
gehandelten Rüstungsgüter geringer würde, wenn wir in
Deutschland nicht mehr produzieren würden und keine
Rüstungsexporte genehmigen würden. Es würden nur
andere die Geschäfte übernehmen. Sie glauben doch
nicht, dass Putin in Russland Rüstungskontrollberichte
abgibt! Sie glauben doch nicht, dass in China Rüstungskontrollberichte abgegeben werden! Sie glauben doch
nicht, dass die Parlamente in anderen Ländern so ausführlich wie in Deutschland über das unterrichtet werden, was die Regierung tut! Ihre Scheinheiligkeit dreht
einem wirklich den Magen um. Außerdem gehen Ihre
Behauptungen immer knapp an der Lüge vorbei.
({2})
Meine Damen und Herren, ich komme zu einem letzten Punkt. Wir haben gestern im Wirtschaftsausschuss
die Änderung der Außenwirtschaftsverordnung behandelt. Die Verordnung zeigt ganz deutlich, wie genau in
Deutschland gearbeitet wird, wenn es um Rüstungsexporte geht. Ich weiß schon, wie groß das Geschrei in
einem halben Jahr sein wird, wenn die Bundesregierung
wieder die Zahlen veröffentlicht und dann plötzlich
Rüstungsexporte zum Beispiel in die Zentralafrikanische
Republik oder nach Somalia auf der Liste stehen. Damit
Sie einmal sehen, dass es, wie der Kollege Arnold sagte,
nicht nur schwarz und weiß gibt, sondern auch grau
- Sie haben sich das nicht angeschaut, Herr van Aken,
weil es Ihnen zu mühselig ist, solche Verordnungen
durchzulesen -,
({3})
möchte ich einmal sagen, worum es im Falle Somalias
geht:
… Güter, die ausschließlich zur Unterstützung der
Mission der Afrikanischen Union in Somalia …
oder zur Nutzung durch diese bestimmt sind,
… Güter, die ausschließlich zur Nutzung durch
Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen oder internationale, regionale und subregionale Organisationen bestimmt sind,
… Schutzkleidung, einschließlich Körperschutzwesten und Militärhelme, die vom Personal der
Vereinten Nationen, von Medienvertretern und humanitären Helfern und Entwicklungshelfern … zur
eigenen Verwendung … ausgeführt wird …
Jetzt kommt das Thema Kleinwaffen, das hier immer
eine ganz besondere Rolle spielt. Im Falle der Zentralafrikanischen Republik geht es um
… Kleinwaffen und dazugehörige Güter, die ausschließlich zur Verwendung durch internationale
Patrouillen bestimmt sind, die in dem DreistaatenSchutzgebiet Sangha-Fluss für Sicherheit sorgen,
um gegen Wilderei, den Elfenbein- und Waffenschmuggel … vorzugehen …
Wissen Sie, genau diese Dinge werden natürlich im
Rüstungskontrollbericht auftauchen. Insofern ist es nur
Teil der Ideologie, die Sie hier verbreiten, dass all die
Güter, deren Export Deutschland genehmigt, Rüstungsgüter sind, deren Export man verbieten müsste. Sie müssen schon etwas genauer argumentieren und hinschauen,
wenn es darum geht, die Rüstungsexporte Deutschlands
zu beurteilen. Aber das kann man von Ihnen nicht erwarten; das erwarte ich von Ihnen auch in der nächsten Zeit
nicht. Die Transparenz, die jetzt hergestellt wird, werden
Sie vielfach für Debatten hier im Deutschen Bundestag
nutzen, die immer den gleichen Tenor haben werden.
Dann können wir uns wieder darüber austauschen.
({4})
Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
- Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter
deutscher Streitkräfte an der EU-geführten
Operation Atalanta zur Bekämpfung der Piraterie vor der Küste Somalias auf Grundlage
des Seerechtsübereinkommens der Vereinten
Nationen ({1}) von 1982 und der Resolutionen 1814 ({2}) vom 15. Mai 2008, 1816
({3}) vom 2. Juni 2008, 1838 ({4}) vom
7. Oktober 2008, 1846 ({5}) vom 2. Dezember 2008, 1851 ({6}) vom 16. Dezember
2008, 1897 ({7}) vom 30. November 2009,
1950 ({8}) vom 23. November 2010, 2020
({9}) vom 22. November 2011, 2077 ({10})
vom 21. November 2012, 2125 ({11}) vom
18. November 2013 und nachfolgender Resolutionen des Sicherheitsrates der VN in Verbindung mit der Gemeinsamen Aktion 2008/
851/GASP des Rates der Europäischen Union
({12}) vom 10. November 2008, dem Beschluss
2009/907/GASP des Rates der EU vom 8. Dezember 2009, dem Beschluss 2010/437/GASP
des Rates der EU vom 30. Juli 2010, dem Beschluss 2010/766/GASP des Rates der EU vom
7. Dezember 2010 und dem Beschluss 2012/
174/GASP des Rates der EU vom 23. März
Drucksachen 18/1282, 18/1486
- Bericht des Haushaltsausschusses ({13})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Drucksache 18/1487
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor. Über die Beschlussempfehlung werden wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Der Kollege Niels Annen
hat für die SPD-Fraktion das Wort.
({14})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Meine verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Ich bitte Sie, dem Mandat,
über das wir jetzt reden, zuzustimmen.
In vielen Regionen der Welt sind wir heute mit anhaltender Instabilität konfrontiert. Somalia ist dabei - man
muss es wahrscheinlich so formulieren - zu einem traurigen Synonym für Staatszerfall, für das Scheitern von
Staaten geworden. Die internationale Gemeinschaft,
liebe Kolleginnen und Kollegen, stellt das vor enorme
Herausforderungen, auch deshalb, weil sie gefordert ist,
Teile staatlicher Aufgaben quasi treuhänderisch zu übernehmen.
Was in unserer Diskussion abstrakt klingt, ist dagegen für die betroffenen Menschen sehr konkret, und es
ist mit dramatischen Folgen verbunden. Denn ohne
staatliche Strukturen und ein staatliches Gewaltmonopol gibt es keine Sicherheit und keine Entwicklung. An
deren Stelle tritt die Herrschaft von Clans, von organisierter Kriminalität und, wie wir alle leider wissen,
auch von immer mehr terroristischen Organisationen,
von gut organisierten extremistischen politischen Kräften. Für die Grundversorgung der Bevölkerung fühlt sich
dann schnell niemand mehr verantwortlich. Das können
wir in Somalia seit vielen Jahren beobachten. Zudem:
Die Folgen eines Staatszerfalls bleiben nicht auf das jeweilige Land beschränkt. Somalia ist auch ein Symbol
dafür, dass sich die Unregierbarkeit einiger Landstriche
auf die gesamte Region ausweiten kann. Die internationale Gemeinschaft ist dann natürlich noch stärker gefordert. Deswegen engagieren wir uns seit Ende 2008 unter
Beteiligung der Bundeswehr in der Operation Atalanta.
Ich will die Dimension deutlich machen, um die es
hier geht. Auch heute noch sind über 2,5 Millionen Menschen in Somalia auf akute Nothilfe durch die internationale Gemeinschaft angewiesen. Diese Hilfe erfolgt überNiels Annen
wiegend auf dem Seeweg. Die Operation Atalanta gilt
primär dem Schutz der Nahrungsmittelversorgung für
Somalia, die mit Schiffen des Welternährungsprogramms durchgeführt wird.
Ja, Atalanta hat auch noch eine andere Funktion: Sie
schützt auch die zivile Schifffahrt; denn durch das Seegebiet vor Somalia, das ist allgemein bekannt, geht eine
der wichtigsten internationalen Handelsrouten. Sie verbindet Europa, die arabische Halbinsel und Asien. Diese
Route ist für unsere Wirtschaft von zentraler Bedeutung.
Auch deswegen ist die Fortsetzung von Atalanta in unserem eigenen nationalen Interesse.
Für die somalische Bevölkerung ist die Versorgung
mit Lebensmitteln keine Frage des Interesses, sondern
eine existenzielle Frage. Deswegen ist es eine gute
Nachricht, dass seit dem Beginn der Operation Atalanta
alle Schiffe des Welternährungsprogramms der UN sicher nach Somalia eskortiert wurden. Wurde im Jahr
2009 noch von 117 Piratenangriffen berichtet und wurden 46 Entführungen von Handelsschiffen registriert, so
ist die Zahl der Angriffe im Jahre 2013 auf drei gesunken. Glücklicherweise können wir berichten: Entführungen haben nicht mehr stattgefunden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt aber noch einen weiteren Aspekt, den wir trotz dieser guten Zahlen
vom Horn von Afrika nicht vergessen dürfen. Weiterhin
befinden sich Seeleute in der Gewalt von Piraten, die
Lösegelder erpressen wollen, und zwar - wir wissen das
aus Medienberichten - unter inakzeptablen humanitären
Bedingungen. Das ist ein Fall für die internationale
Strafverfolgung.
Die Anzahl der Piratenangriffe ist auf einen Tiefstand
gesunken. Der Golf von Aden ist durch die Operation
Atalanta erheblich sicherer geworden. Zu diesem Ergebnis haben nicht zuletzt der bessere Schutz der Handelsschiffe sowie eine bessere Koordinierung beigetragen.
Ich möchte trotzdem offen sagen: Natürlich ist das Problem Piraterie damit nicht beseitigt. Wir sind uns auch
bewusst, dass der Erfolg an der einen Stelle zu Verdrängungen hin zu einer anderen Stelle führt und dass wir inzwischen weitere Piraterieschwerpunkte haben: am Golf
von Guinea, am Golf von Bengalen oder an der Straße
von Malakka. Das bereitet uns große Sorge. Auch terroristische Angriffe, wie wir sie im Suezkanal erlebt haben, verdienen unsere Aufmerksamkeit.
Ich denke, uns allen hier ist klar, dass wir trotz der Erfolge von Atalanta noch weit von einer Stabilisierung
von ganz Somalia entfernt sind. Auch deswegen engagieren wir uns mit der Trainingsmission für die somalische Armee und in der europäischen Initiative zur Stärkung regionaler maritimer Fähigkeiten. Ich finde es
richtig, dass darüber und auch über die Frage, ob wir die
unterschiedlichen Instrumente noch besser verzahnen
können, auf europäischer Ebene eine Debatte geführt
wird, die zu einem neuen Mandat führen soll. Meine
Fraktion jedenfalls wird sich an dieser Debatte beteiligen
und die Diskussion aufmerksam verfolgen.
Lassen Sie mich zum Schluss eines sagen: Trotz aller
Schwierigkeiten gibt es auch hoffnungsvolle Zeichen in
Somalia; denn in einigen Teilen des Landes haben sich
durchaus funktionsfähige staatsähnliche Einheiten gebildet, zum Teil geschah das sogar unter Anwendung demokratischer Prinzipien. Diese Entwicklung sollten wir
weiterhin unterstützen. Die Operation Atalanta wird
nicht alle Probleme lösen, aber sie trägt dazu bei, dass
ein Umfeld geschaffen wird, in dem sich Somalia in Zukunft hoffentlich demokratisch entwickeln kann.
Ich danke für die Aufmerksamkeit und bitte um Zustimmung.
({0})
Der Kollege Jan van Aken hat für die Fraktion Die
Linke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit
sechs Jahren schon setzen Sie auf eine militärische Bekämpfung der Piraterie. Jetzt wollen Sie den Marineeinsatz Atalanta noch einmal verlängern. Sie bieten hier
zwei Argumente an - auch für Sie, Herr Annen -: Erstens, Atalanta sei ein Erfolg gewesen, zweitens, Atalanta
sei Teil eines vernetzten Ansatzes, mit dem Sie zur Stabilisierung in Somalia beitragen. Das höre ich seit Jahren, und das ist seit Jahren falsch.
({0})
Ob die Zahl der Piratenangriffe steigt oder sinkt, jedes
Mal verkünden Sie Erfolg. Aber Sie wissen genauso gut
wie ich, dass Atalanta nichts zur Bekämpfung der Ursachen der Piraterie beiträgt. Jetzt sagen Sie, in den letzten
zwei Jahren ist die Zahl der Piratenangriffe am Horn von
Afrika massiv gesunken. Das ist aber nicht das Verdienst
von Atalanta; das wissen Sie ganz genau. Das liegt vor
allem daran, dass jetzt immer mehr private Sicherheitskräfte auf den Schiffen mitfahren. Mittlerweile sind auf
jedem dritten Schiff, auf 35 Prozent der Schiffe, die
durch das Operationsgebiet von Atalanta fahren, private
Sicherheitskräfte. Wenn Sie mir die Zahl nicht glauben:
Wir haben sie direkt von der Pressestelle von NAVFOR,
also von Atalanta selbst.
Der Krieg gegen die Piraten wird längst privat geführt, von Unternehmen, die sich auf das Geschäft mit
dem Krieg zur See spezialisiert haben und damit mittlerweile jedes Jahr Hunderte von Millionen Euro verdienen. Das Schlimme ist, dass diese Firmen in einem völlig rechtsfreien Raum agieren. Wie brutal die Realität ist,
bekommen wir kaum mit. Es gibt aber ein Video, das mit
der Helmkamera von einem dieser bewaffneten Söldner
auf einem der Schiffe aufgenommen wurde.
({1})
Das müssen Sie sich mal anschauen. Da wird minutenlang auf ein Schiff geballert, das für ein Piratenschiff gehalten wird. Noch lange, nachdem es abgedreht ist, wird
gezielt auf Menschen geschossen. Das ist der Versuch,
gezielt zu töten, ohne jede Kontrolle, in einem völlig
rechtsfreien Raum.
({2})
Das ist im Moment die Realität.
Damit es hier keine Missverständnisse gibt: Das ist
kein Grund, mehr Kriegsschiffe in die Region zu schicken; denn mit Kriegsschiffen können die Piraten schon
mal gar nicht bekämpft werden. Das haben Sie schon
lange erkannt.
({3})
Keine noch so große Kriegsflotte kann die Piraterie
nachhaltig bekämpfen; das sagen Sie ja selbst. Piraterie
ist nur ein Symptom, ein Ausdruck von Armut und
Rechtlosigkeit, den sich skrupellose Geschäftemacher
zunutze machen: auf der einen Seite die Drahtzieher der
Piraterie, auf der anderen Seite die privaten Sicherheitsfirmen. Den Letzteren haben Sie sogar hier im Bundestag einen Freibrief dafür gegeben, indem Sie die Zulassung privater maritimer Sicherheitskräfte erleichtert
haben.
Zum zweiten Punkt, zu Ihrer vernetzten Sicherheit.
Sie reden immer davon, dass sich die Situation in Somalia verbessert habe. Aber Sie wissen, dass genau das Gegenteil der Fall ist. Weder politisch noch ökonomisch hat
sich in Somalia in den letzten Jahren irgendetwas verbessert. Die sogenannte Regierung von Somalia hat in
den letzten Monaten sogar die Kontrolle über große
Teile der Hauptstadt verloren. Schwere Anschläge sind
in Mogadischu an der Tagesordnung. Jetzt droht auch
noch eine katastrophale Hungersnot, und Sie reden von
einer „Verbesserung der Situation“.
Das, was jetzt helfen würde, was seit Jahren helfen
würde, wären Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien. Aber genau das versuchen Sie zu verhindern. Sie
heizen den Konflikt dadurch an, dass Sie eine der beiden
Bürgerkriegsparteien, die sogenannte Regierung, durch
die Ausbildung von Soldaten militärisch unterstützen.
Diese Regierung ist nur eine sogenannte Regierung - das
wissen Sie auch -; denn sie ist nicht demokratisch legitimiert. Sie hat überhaupt keine Kontrolle mehr und übt
überhaupt keine staatlichen Funktionen mehr aus. Das
ist einfach nur eine Bürgerkriegspartei. Sie setzen darauf, dass sie die andere Bürgerkriegspartei militärisch
besiegt. Das klappt aber nicht. Das funktioniert nicht.
Das wissen wir spätestens seit Afghanistan. Einen Konflikt lösen Sie nicht militärisch, sondern nur durch Verhandlungen. Doch das verhindern Sie.
({4})
Seit dem Jahr 2006 haben Sie hier, hat die Bundesregierung mit ihrer militärischen Logik dazu beigetragen,
dass der Konflikt immer weiter eskaliert ist - und das
gemeinsam mit den USA. Ich möchte daran erinnern,
dass die USA auch in Somalia einen völkerrechtswidrigen Drohnenkrieg führen, gesteuert von Basen hier in
Deutschland. Das unterstützen Sie. Sie müssen endlich
aufhören, die gezielten Tötungen der Amerikaner von
deutschem Boden aus zu unterstützen.
({5})
Ich möchte kurz auf die Debatte von eben eingehen,
weil Herr Lämmel die Waffenlieferungen nach Somalia
erwähnt hat. Es ist ein riesiger Fehler gewesen, das Waffenembargo gegen Somalia zu lockern. Denn Sie wissen,
wenn Sie sich informiert haben, genauso gut wie ich,
dass auch die sogenannte Regierung in Somalia in den illegalen Waffenhandel innerhalb Somalias involviert ist.
Wir wissen - die UNO hat es dokumentiert -, dass Waffen, die jetzt dorthin gehen, direkt von der sogenannten
Regierung in Somalia weitergegeben werden, auch an
die Al-Schabab-Milizen. Das passiert mit den Waffen,
die jetzt dorthin geliefert werden. Deswegen sagen wir:
Das Waffenembargo muss sofort wiederhergestellt werden.
({6})
Ihre einzige Antwort auf die Gewalt in Somalia und
vor Somalia ist eine Politik der Waffengewalt. Das werden wir nicht mittragen. Auch dieses Atalanta-Mandat
werden wir ablehnen. Wir werden ferner die Privatisierung der Pirateriebekämpfung ablehnen. Im Übrigen bin
ich der Meinung, dass es nicht nur nicht nach Somalia,
sondern nirgendwohin noch Waffenexporte geben darf.
Ich danke Ihnen.
({7})
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege
Roderich Kiesewetter.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube,
Herr Kollege van Aken, wir befinden uns in völlig unterschiedlichen Veranstaltungen. Sie reden hier über Dinge,
die eigentlich durch das verhindert werden, worüber wir
heute sprechen: Atalanta. Gerade Atalanta verhindert es
ja, dass wir in Somalia dieses Debakel bekommen, über
das Sie gerade sprechen. Wir haben ja diesen vernetzten
Ansatz. Wenn Sie uns hier vorwerfen, dass wir zu einer
militärischen Eskalation beitragen, möchte ich Ihnen ein
paar Fakten entgegenhalten.
Vom Jahr 2010 bis zum Jahr 2012 sind leider über
250 000 Menschen in Somalia verhungert. Daher sind
die Maßnahmen des Welternährungsprogramms absolut
notwendig. Im Jahr 2008 gab es 42 Entführungen von
Schiffen. Deshalb war es richtig, dass sich die Europäische Union im Jahr 2008 entschieden hat, die Operation
Atalanta zum Schutz des Welternährungsprogramms
durchzuführen.
({0})
Seit dem Jahr 2009 sind über 270 Schiffe des Welternährungsprogramms sicher in ihren Zielhäfen angeRoderich Kiesewetter
kommen. Im ersten Quartal dieses Jahres gab es gerade
noch fünf versuchte Überfälle auf Schiffe, die alle abgewehrt werden konnten. Das sind die Fakten.
Kollege Kiesewetter, gestatten Sie eine Frage oder
Bemerkung der Kollegin Hänsel?
Ja, klar. Ich bin untersuchungsausschusserprobt.
Gerne.
Danke schön, Frau Präsidentin. - Herr Kiesewetter,
ich habe eine Nachfrage. Sie haben hier das Jahr 2008
und den Schutz für die Schiffe des World Food Programme erwähnt. Wir haben im Entwicklungsausschuss
noch einmal nachgefragt. Von der Marine haben wir die
Information bekommen, dass es im Jahr 2008 genau einen Angriff auf ein Schiff des World Food Programme
gab. Können Sie das bestätigen? Sie haben ja argumentiert, dass Sie das Mandat in allererster Linie deswegen
brauchen, weil Sie das World Food Programme schützen
müssen.
Sie sehen das etwas eingeschränkt, Frau Hänsel. Ich
versuche, Ihnen da Zusatzinformationen zu geben. Es
gab 42 Überfälle auf Schiffe, unter anderem des World
Food Programme. Allerdings kommt noch etwas hinzu:
Dort verläuft eine der wichtigsten Seefahrtsrouten der
Welt, eine Route, die für die Europäische Union und für
uns Deutsche von zwingender Notwendigkeit ist mit
Blick auf die Verbindungen nach Asien und auf die Arabische Halbinsel. Im Jahr 2008 gab es 42 Entführungen.
Das möchte ich hier festhalten. In diesem Jahr und auch
im letzten Jahr gab es keine Entführung. Es gab nur eine
Reihe versuchter Entführungen. Das ist der Erfolg von
Atalanta. Das muss man festhalten.
({0})
Ich glaube, wir sind uns einig: Eine militärische Lösung allein kann nicht funktionieren. Aber gerade dieser
Sachverhalt zeigt, wie wichtig die militärische Begleitung und Absicherung im vernetzten Handeln ist.
Im Übrigen hat Deutschland seit April auch die militärische Führung der Operation Atalanta inne. Der deutsche Truppenkommandeur führt die Operation. Auch einige unserer Schiffe begleiten die Mission. Zurzeit sind
23 EU-Mitgliedstaaten mit rund 930 Soldaten an der
Mission beteiligt. Ich möchte auch festhalten, welche
Anstrengungen die Europäische Union leistet. Ferner
unterstützt die Europäische Union mit der Mission zur
Stärkung der Fähigkeiten im Küstenschutz und in der
Küstenüberwachung - diese trägt den historischen Namen Nestor - den Aufbau von Fähigkeiten der somalischen Küstensicherung und der Marine.
Des Weiteren bestreitet Deutschland nicht nur 20 Prozent sämtlicher humanitärer EU-Ausgaben, sondern hat
im Rahmen der Not- und Übergangshilfe seit 2008 auch
erhebliche Summen aufgebracht, insbesondere, Herr van
Aken, für Ernährung und sauberes Trinkwasser. Ich
glaube, das alles sind hervorragende Beispiele, die zeigen, wie notwendig vernetztes Handeln ist und wie notwendig die Begleitung dieser zivilen Mission durch militärische Absicherung ist. Meine Fraktion jedenfalls wird
der Fortsetzung dieses Mandats eindeutig zustimmen.
({1})
Ich möchte mich bewusst auch an die Fraktion der
Grünen wenden. Sie verfolgen einen bemerkenswerten
Ansatz und fordern stärkeres vernetztes Handeln. Ich
glaube, wir haben dieses vernetzte Handeln in sehr breit
ausgeprägten Grundzügen; die beiden Missionen der EU
habe ich angesprochen. Wir haben die NATO-Mission
zum Schutz der Ozeane, die Operation Ocean Shield,
AMISOM und UNOSOM. All diese Missionen - hinzu
kommen weitere, teilweise bilaterale Abkommen - können natürlich besser koordiniert werden. Aber dafür,
dass Sie diesen Antrag deswegen ablehnen, weil es noch
keine bessere Vernetzung gibt, möchte ich nachher eine
Erklärung von Ihnen hören.
Des Weiteren wird von der Opposition als Kritikpunkt
angeführt, dass die Ausweitung der Mission Atalanta an
Land zu einer Eskalation beitragen könne. Meine sehr
verehrten Damen und Herren, auch hier Fakten: Im Jahr
2012 gab es im Rahmen von Atalanta einen einzigen
Einsatz an Land, seither keinen mehr. Es ist also eindeutig festzustellen, dass von Atalanta eine abschreckende
Wirkung ausgeht. Ich glaube, die Ausweitung auf den
Küstenschutz bzw. den Küstenrand im Jahr 2012 war
richtig und notwendig. Es war gut, dass wir diese Entscheidung im Bundestag getroffen haben.
({2})
Lassen Sie mich abschließend noch etwas zum vernetzten Ansatz und zum ganzheitlichen Vorgehen sagen.
Die Bundesregierung entwickelt gerade unter starker
Abstützung auf den Bundestag eine Afrikastrategie. In
Afrika gibt es eine Reihe von Staaten, die zu stürzen drohen, die nicht unseren Maßstäben entsprechen. Ich
glaube, dass wir Teilstrategien brauchen, die sich auf
einzelne Länder beziehen. Auch die Erfahrungen, über
die wir verfügen - in den Stiftungen, im Rahmen der Politikberatung, aber auch die persönlichen Erfahrungen
vieler Abgeordneter -, sind für die Entwicklung einer
neuen Afrikastrategie von Bedeutung; das möchte ich
sehr deutlich sagen.
Wenn sich die Bundesrepublik Deutschland stärker
engagieren will, wie Verteidigungsministerin von der
Leyen und Außenminister Steinmeier es auf der Münchner Sicherheitskonferenz angekündigt haben, dann bedarf es einer stärkeren strategischen Ausrichtung. Ich bin
sehr froh, dass wir im Bundestag angesichts der Herausforderungen, die sich uns in der Ukraine, in Syrien und
seit Jahrzehnten insbesondere in Afrika stellen, nunmehr
bereit sind, uns strategisch stärker aufzustellen. Ich bin
darüber sehr froh, weil ich glaube, dass wir als Parlamentarier deutlich machen können, dass sich die Exeku3082
tive auf den Bundestag stützen kann, was strategische
Expertise, aber auch kritisches Nachfragen angeht.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, damit Atalanta weiterhin zum Erfolg beiträgt und Vorschläge für
die weitere Ausgestaltung der Afrikastrategie entwickelt
werden können, bitte ich Sie um Zustimmung zur Fortsetzung des Mandats.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({3})
Die Kollegin Doris Wagner hat nun für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ich will es gar nicht bestreiten, Kollege Kiesewetter: Die
Mission Atalanta ist sehr erfolgreich. Und: Ja, unsere Soldatinnen und Soldaten leisten dort hervorragende Arbeit.
Trotzdem wird sich meine Fraktion bei der Abstimmung
nachher enthalten. Das klingt paradox,
({0})
aber das ist es nicht. Denn mit diesem Mandatstext stellt
sich die Bundesregierung gegen den Geist des Parlamentsbeteiligungsgesetzes. Damit wird sie ihrer Verantwortung gegenüber unseren Soldatinnen und Soldaten
nicht gerecht. Es scheint doch mehr als fraglich, ob wir
mit diesem Mandat wirklich zur nachhaltigen Bekämpfung der Piraterie vor Somalia beitragen.
Ich möchte Sie daran erinnern, dass der Sinn des Parlamentsbeteiligungsgesetzes darin besteht, sicherzustellen, dass der Bundestag verantwortungsvoll darüber entscheidet, wo und wie die Bundeswehr zum Einsatz
kommt. Deshalb verpflichtet das Gesetz die Regierung,
klar zu benennen, mit welchem Auftrag und mit welchen
Mitteln deutsche Streitkräfte in Konflikte eingreifen sollen. Nur auf dieser Grundlage lässt sich wirklich abwägen, ob die Erfolgsaussichten rechtfertigen, dass unsere
Soldatinnen und Soldaten ihr Leben aufs Spiel setzen.
Im Falle der Mission Atalanta befindet die Bundesregierung dies alles nicht mehr für notwendig. Statt klar zu
umreißen, was die deutsche Marine am Horn von Afrika
eigentlich machen soll, speist uns die Bundesregierung
mit dem Verweis ab, man werde einfach weitermachen
wie bisher. Ich möchte Ihnen klar sagen: Diese Nachlässigkeit ist in meinen Augen eine krasse Missachtung
nicht nur des Deutschen Bundestages, sondern auch unserer Soldatinnen und Soldaten.
({1})
Warum insbesondere den Sozialdemokraten an dieser
Intransparenz gelegen ist, hat mein Kollege Omid
Nouripour bereits in der ersten Lesung erörtert: Die SPD
will auf diese Weise verschleiern, dass sie genau dieses
Atalanta-Mandat letztes Jahr noch abgelehnt hat.
Doch auch der Union kommt diese Verschleierungstaktik gelegen; denn genau das ist es ja, was Sie mit der
Kommission zur Überprüfung des Parlamentsbeteiligungsgesetzes eigentlich beabsichtigen: Der Bundestag
soll eben nicht mehr jedes Jahr genau hinsehen und entscheiden können, ob ein bestimmter Bundeswehreinsatz
im Ausland zu verantworten ist oder nicht. Was Sie hier
eigentlich betreiben, ist die schleichende Einführung von
Dauermandaten, die wir einfach durchwinken sollen,
ohne näher nachzufragen und nachzudenken. Aber da
machen wir Grüne nicht mit, meine Damen und Herren.
({2})
Die mangelnde Klarheit des Mandatstextes ist jedoch
nur ein Grund, warum meine Fraktion sich bei dieser
Abstimmung enthalten wird. Der andere Grund liegt darin, dass das Mandat die Bundeswehr nach wie vor dazu
ermächtigt, bis zu einer Tiefe von 2 Kilometern auf das
somalische Festland vorzudringen, um dort, wie es heißt,
gegen logistische Einrichtungen der Piraten vorzugehen.
Die Bundesregierung nimmt billigend in Kauf - das
glaube ich wirklich, Kollege Kiesewetter -, dass die
Bundeswehr durch Operationen an Land auch noch zur
militärischen Eskalation in Somalia beitragen könnte.
Das ist doch nun wirklich das Letzte, was eine verantwortungsvolle Außenpolitik machen sollte.
({3})
Meine Fraktion hat bereits bei der Debatte über die
deutsche Beteiligung an der EU-Ausbildungsmission
EUTM Somalia immer wieder darauf hingewiesen, dass
wir den Einsatz militärischer Mittel in Somalia für gefährlich und vor allem für kontraproduktiv halten, weil
er genau das Gegenteil von dem bewirkt, was wir eigentlich erreichen wollen. Offenbar hat sich diese Erkenntnis, zumindest was die Mission Atalanta anbetrifft, auch
in EU-Regierungskreisen durchgesetzt; denn die beteiligten EU-Staaten haben im ganzen vergangenen Jahr
nicht ein einziges Mal tatsächlich Gebrauch gemacht
von der Möglichkeit, Soldaten am Strand von Somalia
gegen Piraterieinfrastruktur vorgehen zu lassen. Diese
Passage des Mandats ist offenbar vollkommen überflüssig.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, es sollte doch eigentlich unser aller Bestreben sein, eine größtmögliche
Legitimation für Auslandseinsätze herzustellen.
({4})
Nach einer Streichung dieser möglichen Landeinsätze
hätten auch wir Grüne dem Einsatz der Bundeswehr vor
der Küste Somalias wieder zustimmen können. Meine
Damen und Herren auf der Regierungsbank, wir fordern
Sie noch einmal ausdrücklich auf: Setzen Sie sich bei
den Verhandlungen über die Verlängerung des EU-Mandats im Herbst dafür ein, dass die Strandoption aus dem
Mandatstext wieder verschwindet, und sorgen Sie bitte
dafür, dass all die richtigen und wichtigen zivilen Maßnahmen, die die EU bzw. die Bundesregierung in den
vielen strategischen Papieren in jüngster Zeit angekündigt hat, verstärkt auch umgesetzt werden!
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat die Kollegin Julia
Bartz das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Somalia hat sich innerhalb der vergangenen
25 Jahre zu einem akuten Krisenherd entwickelt, der
weit in die Region ausstrahlt. Terrorismus, Piraterie und
Flüchtlingsströme gefährden die Stabilität am Horn von
Afrika. Seit dem endgültigen Staatsverfall 1991 befindet
sich das Land in einem Ausnahmezustand. Terror und
Gewalt gegen die Zivilbevölkerung sind an der Tagesordnung. Mit der Al-Schabab-Miliz ist der internationale
Terrorismus in das Land eingezogen und trägt insbesondere zur Instabilität im gesamten ostafrikanischen Gebiet
bei. Immer wieder werden Anschläge in und um Somalia
herum verübt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, trotz der
Ukraine-Krise und des Syrien-Konflikts müssen wir
weiter auf Afrika schauen. Der Bürgerkrieg in Somalia
ist in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit weit in den
Hintergrund geraten. Wir dürfen uns von der scheinbar
ruhigen Lage am Horn von Afrika aber nicht täuschen
lassen. Von den subversiven Kräften in Somalia geht
nach wie vor eine große Gefahr aus.
Die Bemühungen unserer Partner der Afrikanischen
Union, Sicherheit und Stabilität zu schaffen, sind nur
teilweise von Erfolg gekrönt. Die Binnenflüchtlinge und
die mangelnde Versorgung der Bevölkerung führen letztendlich dazu, dass sich das Land in einer andauernden
humanitären Katastrophe befindet.
In Somalia haben wir es mit einer brisanten Gemengelage zu tun: im Wiederaufbau befindliche staatliche
Strukturen, Terroristen und Clans, Warlords und Piraterie. All das wird begleitet von Hunger und Leid, die den
Alltag der meisten Menschen in Somalia bestimmen.
Die Auswirkungen davon spüren wir weltweit.
2008 wurden 42 Schiffe entführt; einige davon hatten
dringend benötigte Nahrungsmittel für die somalische
Bevölkerung an Bord. Das „maritime Kidnapping“ und
die Überfälle und Angriffe auf Handelsschiffe wurden
eine immer ernstere Bedrohung für die somalische Bevölkerung selbst, aber auch für die internationale Handelsmarine.
Seit 2008 sichern nun gemeinsam mit unseren Partnern deutsche Soldatinnen und Soldaten das Seegebiet
am Horn von Afrika. Schon bei einem ihrer ersten Einsätze haben sie mithilfe eines Kampfhubschraubers die
Kaperung eines ägyptischen Frachters verhindert. Unsere Truppe hat sich im Verlauf der Mission als eine
schlagkräftige und verlässliche Einheit erwiesen, und ich
bin stolz auf unsere Männer und Frauen, die ihren Dienst
am Horn von Afrika leisten.
({0})
Die Vielzahl der Angriffe zeigt, wie zwingend notwendig unser Eingreifen war. Freie Seewege am Horn
von Afrika sind für Deutschland als Handelsnation absolut unerlässlich.
({1})
Außerdem ist Atalanta unabdingbar, um den Korridor
für Hilfslieferungen nach Somalia offenzuhalten.
Durch unseren Einsatz versiegen auch die Einnahmequellen inländischer Terroristen. Jede verhinderte
Schiffsentführung blockiert eine Modernisierung und
Professionalisierung der Piraten und damit auch deren
niederträchtiges Geschäftsmodell. Die jetzt ausbleibenden Millionen, die nun nicht mehr als Lösegeld erpresst
werden, können auch nicht in Waffen und Munition investiert werden.
Die Zahl der Angriffe auf Handelsschiffe hat in den
letzten Jahren deutlich abgenommen: 2010 gab es noch
47 Entführungen und insgesamt 174 Angriffe, 2013 waren es nur noch sieben Angriffe und keine einzige erfolgreiche Entführung. Das ist der Erfolg von Atalanta!
Natürlich wissen wir, dass alleine mit Atalanta kein
Frieden nach Somalia gebracht werden kann und dass
militärische Einsätze alleine nicht reichen, um Armut
und Hungersnöte zu verhindern. Aber wir wissen auch,
dass die Methode „Hans Guck-in-die-Luft“ den Menschen in Somalia nicht helfen wird.
({2})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, militärische
Operationen sollten immer mit einem zivilen Ansatz verbunden werden und stets Ultima Ratio sein. Atalanta
bettet sich deshalb in einen vernetzten Ansatz ein. Im
Zusammenspiel ressortübergreifender Operationen wollen wir die Lage in Somalia und am Horn von Afrika
langfristig stabilisieren.
Im Rahmen von EUTM Somalia legen wir den Grundstein für eine staatliche Sicherheitsstruktur. Mit EUCAP
Nestor bereiten wir den Weg für einen selbstständigen
Küstenschutz. Mit über 300 Millionen Euro beteiligen wir
uns an der humanitären Hilfe in Somalia. Die GIZ ist aktiv, um die Lage der Binnenflüchtlinge zu verbessern, und
nicht zuletzt verzeichnen wir durch unseren erfolgreichen
Beitrag an Atalanta einen stetigen Rückgang von Piratenangriffen.
So kann erfolgreiche Sicherheitspolitik aussehen. Ich
bitte Sie deshalb um Ihre Zustimmung.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({3})
Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Gabi
Weber das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen
und Kolleginnen! Die SPD-Fraktion unterstützt die Verlängerung des Atalanta-Einsatzes und wird dem vorliegenden Mandat zustimmen. Mit Ausnahme der beiden
letzten Male tun wir das seit Beginn des Einsatzes 2008.
Bei den beiden vergangenen Verlängerungen hat die
SPD gegen die damalige Ausweitung des Mandates
gestimmt. Befürchtet wurden damals unerwünschte
Verwicklungen in einen Bürgerkrieg an Land. Unsere
Befürchtungen sind jedoch nicht eingetreten. Unsere damalige parlamentarische Zurückhaltung hat sicher im
Sinne einer Kontrolle der damaligen Bundesregierung
gewirkt und dazu beigetragen, Strandeinsätze auf ein
Minimum zu begrenzen. Echte politische Auseinandersetzungen leben von überzeugenden Argumenten. Wir
sind an dieser Stelle überzeugt worden. So viel zum Vorwurf von vorhin, wir würden unsere Position von damals
verschleiern. Das tun wir nicht.
({0})
Der Atalanta-Einsatz ist allerdings im regionalen
Kontext zu sehen. Im strategischen Rahmen der EU für
das Horn von Afrika engagiert sich Deutschland auf
vielfältige Weise, manche würden sogar sagen: ganzheitlich. Die zivile Mission EUCAP NESTOR unterstützt
mehrere Länder der Küstenregion Ostafrikas beim Aufbau von eigenen maritimen Kapazitäten im Bereich der
Küstenwache und des Küstenschutzes. Im Rahmen der
Trainingsmission EUTM Somalia bildet die Bundeswehr
seit diesem Jahr auch wieder in Mogadischu somalische
Sicherheitskräfte aus. Heute verlängern wir das Mandat
für EU NAVFOR Somalia - Operation Atalanta, das die
genannten Bemühungen von Seeseite unterstützt und für
sichere See- und Handelswege am Horn von Afrika
sorgt. In diesem Zusammenhang danke ich den deutschen Soldatinnen und Soldaten der Marine für ihren
Einsatz, die leider noch allzu oft sehr lange Abwesenheitszeiten von zu Hause hinnehmen müssen, um ihren
Auftrag zu erfüllen.
Um aber tatsächlich von einem ganzheitlichen Ansatz
sprechen zu können, sind weitere Entwicklungsmaßnahmen im Landesinneren notwendig. Hier können und
müssen wir mehr machen als bisher.
({1})
Piraterie fällt nicht vom Himmel. Meist stecken die
Menschen in einer Notsituation, und kriminelle und terroristische Gruppen wie die Schabab-Milizen machen
sich dies zunutze und schicken wehrlose Fischer auf
hochgefährliche Missionen auf See. Die durch Schiffskaperungen erzielten Einnahmen wiederum führen dazu,
das Land weiter zu destabilisieren. Das ist nicht hinnehmbar.
({2})
Wir übernehmen die Verantwortung, für stabile und sichere Verhältnisse zu sorgen.
Der beste Schutz der Handelswege wäre eine Verbesserung der Bedingungen für die Menschen im Land und
an der ostafrikanischen Küste. Ganz richtig: Im Rahmen
von Atalanta können wir nur die Symptome der fragilen
Situation in Somalia bekämpfen. Gegen die Ursachen
hingegen engagieren wir uns entwicklungspolitisch. Das
sollte man allerdings nicht in einem integrierten Mandat
vermischen. Beide Maßnahmen, militärische und entwicklungspolitische, müssen parallel erfolgen. In den
letzten fünf Jahren betrug der deutsche Anteil an der
humanitären Hilfe der EU-Kommission für Somalia
313 Millionen Euro. Sie sind unter anderem an das Rote
Kreuz, den Roten Halbmond und - ganz wichtig humanitäre NGOs geflossen. Auch Nahrungsmittelhilfe
finanzieren wir in nicht unerheblichem Maße: alleine
25 Millionen Euro für kenianische Flüchtlingslager.
Wirklich tiefgreifend kann dieses Engagement nur
sein, wenn somalische zivilgesellschaftliche und staatliche Strukturen gestärkt und wirtschaftliche Perspektiven
für die Menschen geschaffen werden. Der sogenannte
New Deal Compact, der vergangenen September zwischen der somalischen Regierung und internationalen
Geldgebern in Brüssel verabschiedet wurde, verfolgt daher fünf Ziele: erstens, alle Seiten einzubinden, zweitens
Sicherheit und, damit verbunden, drittens Rechtssicherheit für die Bevölkerung herzustellen, viertens Grundlage für ökonomisches Wachstum durch den Ausbau der
Infrastruktur und fünftens - das ist für die Menschen
ganz wichtig - Ausbau von staatlichen Dienstleistungen.
Daran beteiligt sich Deutschland bis 2016 mit 90 Millionen Euro. An dieser Stelle wird deutlich, wie Entwicklungshilfe parallel zu dem, was wir militärisch tun, sinnvoll eingesetzt wird. Damit können wir diesem Staat
wirklich helfen.
({3})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ein umfassender
Ansatz ist der einzige Weg zu einer Lösung, um langfristig Frieden im Land zu erreichen und Somalia effektiv
zu helfen. Diesen Weg wollen wir gehen. Aus diesem
Grund stimmen wir diesem Mandat heute zu.
({4})
Das Wort hat der Kollege Ingo Gädechens für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie um die
notwendige Aufmerksamkeit für den letzten Redebeitrag
in dieser Debatte.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Hätten wir nicht so ein wunderschönes warmes Wetter,
wären wir in einer anderen Jahreszeit, könnten wir
singen: „Alle Jahre wieder“. Es geht erneut um die Verlängerung eines aus meiner Sicht überaus erfolgreichen
Mandats. Es geht um die Fortführung der Mission
Atalanta. Da wir in relativ kurzen Abständen, Jahr für
Jahr, über diese Fortsetzung beraten, ist in der Vergangenheit und auch in der heutigen Debatte sehr viel Richtiges und Wichtiges, aber seitens der Opposition auch erneut viel Falsches gesagt worden. Ich will an dieser
Stelle weder auf Herrn van Aken noch auf Frau Wagner
eingehen; denn der Saal füllt sich, und wir alle wollen
der namentlichen Abstimmung entgegenschreiten.
Der Antrag der Grünen - Sie fordern mehr Evaluierung und die Bekämpfung der Ursachen; das wollen wir
auch - ist eher plakativ. Denn neben dem Schutz der
Schiffe des World Food Programme - es wurde bereits
gesagt: 170 Schiffe haben den Hafen sicher erreicht - ist
das Engagement Deutschlands im Rahmen der EU zur
Unterstützung der Sicherheitsinstitutionen in Somalia
umfassend eingebettet, um auch die zivilgesellschaftlichen und staatlichen Strukturen in Somalia zu stärken,
wo immer es nur geht. Die Bundesregierung fördert seit
Jahren in großem Umfang Maßnahmen der humanitären
Hilfe. Sie beliefen sich in den Jahren 2008 bis 2013 auf
über 313 Millionen Euro. Darüber hinaus wurden
35 Millionen für Hilfsorganisationen - auch sie sind in
der Debatte schon erwähnt worden - und andere NGOs
zur Verfügung gestellt. Deutschland wird damit seiner
Verantwortung in der Welt und erkennbar auch in dieser
notleidenden Region gerecht.
({0})
In einigen Reden wurde den Soldatinnen und Soldaten Dank ausgesprochen. Ich weise in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Deutsche Marine aber derzeit lediglich über elf Fregatten und fünf Korvetten
verfügt, die für den Einsatz am Horn von Afrika geeignet sind. Auch in dieser Debatte möchte ich die überaus
schwierige Situation in der Marine ansprechen. Dabei
geht es nicht nur um Personal, sondern auch um das vorhandene Material, also um die Schiffe, die in den ständigen NATO-Einsatzverbänden in ungeplanten Einsätzen
wie zum Beispiel zum Schutz der „Cape Ray“, aber ganz
besonders im Einsatz UNIFIL und im Atalanta-Mandat
über Gebühr strapaziert werden. Darüber hinaus sorgen
in gewissen Zeiträumen unsere Marineflieger mit den
Seefernaufklärern für ein besseres Lagebild in diesem
sehr groß dimensionierten Seegebiet. Das alles erfordert
Logistik, technische Wartung und auch Betreuung der
Kräfte an Land.
Viele der Außen- und Verteidigungspolitiker haben
die Soldatinnen und Soldaten am Horn von Afrika im
Versorgungshafen Dschibuti besucht. Auch dieser Staat
Dschibuti mit der gleichnamigen Hafenstadt war und ist
ein zunehmend wackeliger afrikanischer Staat. Ich
denke, flankierend haben die Besuche und vor allem die
Gespräche mit den Regierungsvertretern vor Ort geholfen, den Weg für geordnetere Strukturen zu ebnen. Dank
deutscher Hilfe ist es zum Beispiel gelungen, nicht nur
ein flächendeckendes Funknetz, sondern auch eine Organisationsstruktur in die bis dahin relativ verwahrloste
örtliche Polizei zu bringen. Es sind manchmal die kleinen Gesten, Handreichungen und anpackenden Hilfen,
die einem Staat Zuversicht und Selbstbewusstsein geben.
({1})
All das sind gute Synergieeffekte am Rande der Mission
Atalanta, die positiv wirken.
Die Bundesverteidigungsministerin Frau von der
Leyen hat es mehrfach ausgeführt, und auch der Außenminister hat es vorgestern in der Ausschusssitzung gesagt: Die Forderungen vieler Staaten der Welt und die
Appelle an die Bundesrepublik Deutschland sind vielfältig und gehen zumeist über das hinaus, was unser Land
zu leisten in der Lage ist. Es gilt immer wieder in ehrlicher Selbstbestimmung und kritischer Abwägung festzulegen, wo, mit welchen Mitteln, in welchem Umfang
und wie wir in der friedlichen Staatengemeinschaft unseren ganz eigenen Beitrag leisten wollen, ja leisten müssen. Die Staatengemeinschaft erwartet von uns, dass sich
die Bundesrepublik Deutschland weiterhin am AtalantaMandat beteiligt.
Herzlichen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti-
gen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung
auf Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher
Streitkräfte an der EU-geführten Operation Atalanta zur
Bekämpfung der Piraterie vor der Küste Somalias. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/1486, den Antrag der Bundesregierung
auf Drucksache 18/1282 anzunehmen.
Mir liegen inzwischen sechs Erklärungen nach § 31
unserer Geschäftsordnung vor. Diese nehmen wir ent-
sprechend unseren Regeln zu Protokoll.1)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, an dieser Stelle
möchte ich darauf hinweisen, dass wir im Anschluss an
diese namentliche Abstimmung die geheime Wahl des
Präsidenten des Bundesrechnungshofes vornehmen wer-
den. Des Weiteren werden wir danach noch drei nament-
liche Abstimmungen durchführen, eine namentliche
Abstimmung zum Tagesordnungspunkt 8 und zwei na-
mentliche Abstimmungen zum Tagesordnungspunkt 9.
Diese namentlichen Abstimmungen finden in circa zwei
bzw. drei Stunden statt.
Wir stimmen nun über die Beschlussempfehlung na-
mentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schrift-
führer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen und die
Abstimmungsurnen an die entsprechenden Plätze zu
bringen.
1) Anlagen 2 und 3
Vizepräsidentin Petra Pau
Sind alle Schriftführerinnen und Schriftführer an ihrem Platz? - Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung über die Beschlussempfehlung.
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die schon abgestimmt haben, Platz zu nehmen. - Nach dieser namentlichen Abstimmung kommen wir zu einer weiteren
Abstimmung. Erst danach kommen wir zu einer Wahl
mit Wahlscheinen. Wer seinen Wahlausweis übrigens
noch nicht hat, kann sich diesen für den nächsten Tagesordnungspunkt schon einmal aus seinem Abstimmungsfach besorgen.
In jedem Fall werde ich die weitere Abstimmung und
auch die Wahl nicht aufrufen, bevor wir nicht von hier
vorne die Abstimmungsergebnisse bei einfachen Abstimmungen zweifelsfrei feststellen können. Dazu ist es
notwendig, dass Sie sich bitte wieder hinsetzen und uns
den Blick frei machen.
Gibt es noch ein Mitglied des Hauses, das seine
Stimme nicht abgeben konnte? - Das ist nicht der Fall.
Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die im Moment hier vorne keine Aufgabe haben, uns den Blick in
die Fraktionen frei zu machen, damit ich mit der Abstimmung fortfahren kann.
Ich bitte, beim nächsten Mal etwas aufmerksamer zu
sein. Es könnte im Übrigen helfen, wenn der Geräuschpegel insgesamt etwas heruntergeschraubt würde, damit
alle Kolleginnen und Kollegen mitbekommen, dass sie
zur Abstimmung gerufen sind.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 18/1491. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Entschließungsantrag ist gegen die Stimmen
der antragstellenden Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
durch die übrigen Fraktionen abgelehnt, wobei ich bemerke: Wir sind uns hier vorne einig, dass die Hände,
die die Gegenstimmen anzeigten, in der Mehrzahl waren
gegenüber den Händen, die aus der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen erhoben wurden. Wir konnten hier aber keinen einheitlichen Willen von Fraktionen in der Abstimmung feststellen. Ich bitte also darum, die notwendige
Aufmerksamkeit für die folgenden Tagesordnungspunkte aufzubringen. Das gilt wiederum für alle Fraktionen des Hauses.
Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:
Wahl des Präsidenten des Bundesrechnungshofes
Nach § 5 Absatz 1 des Gesetzes über den Bundesrechnungshof wählen der Deutsche Bundestag und der
Bundesrat jeweils ohne Aussprache auf Vorschlag der
Bundesregierung den Präsidenten des Bundesrechnungshofes.
Die Bundesregierung schlägt mit Schreiben vom
16. Mai 2014 vor, Herrn Kay Scheller zum Präsidenten
des Bundesrechnungshofes zu wählen. Herr Scheller hat
auf der Ehrentribüne Platz genommen. Herr Scheller, ich
grüße Sie hiermit herzlich.
({0})
Nun bitte ich um Ihre Aufmerksamkeit für einige
Hinweise zum Wahlverfahren. Die Wahl ist geheim. Zur
Wahl sind die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des
Bundestages, das heißt mindestens 316 Stimmen, erforderlich.
Sie benötigen Ihren Wahlausweis sowie einen Stimmzettel mit Wahlumschlag. Den Stimmzettel mit Umschlag erhalten Sie an den Ausgabetischen neben den
Wahlkabinen. Den Wahlausweis entnehmen Sie bitte, soweit das noch nicht geschehen ist, Ihrem Stimmkartenfach.
Da die Wahl geheim ist, dürfen Sie Ihren Stimmzettel
nur in einer der Wahlkabinen ankreuzen und in den Wahlumschlag legen. Die Schriftführerinnen und Schriftführer
sind verpflichtet, jeden zurückzuweisen, der seinen
Stimmzettel außerhalb der Wahlkabine angekreuzt und in
den Umschlag gelegt hat. Die Wahl kann in diesem Falle
vorschriftsmäßig wiederholt werden.
Gültig sind Stimmzettel mit einem Kreuz bei „Ja“,
„Nein“ oder „Enthalte mich“. Ungültig sind Stimmen
auf nichtamtlichen Stimmzetteln sowie Stimmzettel, die
mehr als ein Kreuz, andere Namen oder Zusätze enthalten.
Bevor Sie den Stimmzettel in eine der aufgestellten
Wahlurnen werfen, übergeben Sie bitte Ihren Wahlausweis einem der Schriftführer an der Wahlurne. Ich weise
darauf hin, dass der Nachweis der Teilnahme an der
Wahl nur durch die Abgabe des Wahlausweises erbracht
wird.
Ich bitte nun die Schriftführerinnen und Schriftführer,
die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind die Plätze
an den Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Ich eröffne die
Wahl.
Haben alle Kolleginnen und Kollegen des Hauses
Ihre Stimme abgegeben?
({1})
Haben jetzt alle Kolleginnen und Kollegen Ihre
Stimme abgegeben? - Ich sehe, das ist der Fall. Ich
schließe damit die Wahl und bitte die Schriftführerinnen
und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das
Ergebnis der Wahl wird Ihnen später bekannt gegeben.1)
Ich gebe Ihnen jetzt das von den Schriftführerinnen
und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentli-
chen Abstimmung zur Fortsetzung der Beteiligung be-
waffneter deutscher Streitkräfte an der EU-geführten
Operation Atalanta bekannt: abgegebene Stimmen 582.
Mit Ja haben gestimmt 461, mit Nein haben gestimmt 70,
Enthaltungen 51. Die Beschlussempfehlung ist damit an-
genommen.
1) Ergebnis Seite 3092 B
Vizepräsidentin Petra Pau
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 579;
davon
ja: 458
nein: 70
enthalten: 51
Ja
CDU/CSU
Stephan Albani
Katrin Albsteiger
Peter Altmaier
Artur Auernhammer
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Maik Beermann
Manfred Behrens ({2})
Veronika Bellmann
Sybille Benning
Dr. André Berghegger
Dr. Christoph Bergner
Ute Bertram
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexandra Dinges-Dierig
Michael Donth
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Hansjörg Durz
Jutta Eckenbach
Hermann Färber
Uwe Feiler
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer ({3})
Axel E. Fischer ({4})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Thorsten Frei
Dr. Astrid Freudenstein
Dr. Hans-Peter Friedrich
({5})
Michael Frieser
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Dr. Peter Gauweiler
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Cemile Giousouf
Josef Göppel
Reinhard Grindel
Ursula Groden-Kranich
Hermann Gröhe
Klaus-Dieter Gröhler
Michael Grosse-Brömer
Astrid Grotelüschen
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Dr. Herlind Gundelach
Fritz Güntzler
Christian Haase
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Mark Hauptmann
Dr. Stefan Heck
Helmut Heiderich
Frank Heinrich ({6})
Mark Helfrich
Jörg Hellmuth
Rudolf Henke
Peter Hintze
Christian Hirte
Dr. Heribert Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Dr. Hendrik Hoppenstedt
Margaret Horb
Bettina Hornhues
Charles M. Huber
Anette Hübinger
Erich Irlstorfer
Thomas Jarzombek
Sylvia Jörrißen
Andreas Jung
Dr. Franz Josef Jung
Xaver Jung
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kanitz
Alois Karl
Anja Karliczek
Bernhard Kaster
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Dr. Georg Kippels
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Markus Koob
Carsten Körber
Hartmut Koschyk
Kordula Kovac
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Dr. Roy Kühne
Günter Lach
Uwe Lagosky
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Silke Launert
Dr. Katja Leikert
Dr. Philipp Lengsfeld
Dr. Andreas Lenz
Philipp Graf Lerchenfeld
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Andrea Lindholz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Wilfried Lorenz
Dr. Claudia Lücking-Michel
Daniela Ludwig
Karin Maag
Yvonne Magwas
Thomas Mahlberg
Dr. Thomas de Maizière
Gisela Manderla
Matern von Marschall
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({7})
Reiner Meier
Dr. Michael Meister
Jan Metzler
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Karsten Möring
Elisabeth Motschmann
Dr. Gerd Müller
Carsten Müller
({8})
Stefan Müller ({9})
Dr. Philipp Murmann
Dr. Andreas Nick
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Wilfried Oellers
Florian Oßner
Dr. Tim Ostermann
Ingrid Pahlmann
Sylvia Pantel
Martin Patzelt
Dr. Martin Pätzold
Ulrich Petzold
Sibylle Pfeiffer
Ronald Pofalla
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Kerstin Radomski
Alexander Radwan
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({10})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Erwin Rüddel
Anita Schäfer ({11})
Dr. Wolfgang Schäuble
Karl Schiewerling
Jana Schimke
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Heiko Schmelzle
Christian Schmidt ({12})
Gabriele Schmidt ({13})
Patrick Schnieder
Nadine Schön ({14})
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Dr. Klaus-Peter Schulze
Uwe Schummer
Armin Schuster ({15})
Christina Schwarzer
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Johannes Singhammer
Tino Sorge
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Dr. Wolfgang Stefinger
Albert Stegemann
Peter Stein
Erika Steinbach
Sebastian Steineke
Johannes Steiniger
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Rita Stockhofe
Stephan Stracke
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Karin Strenz
Thomas Stritzl
Thomas Strobl ({16})
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Astrid Timmermann-Fechter
Vizepräsidentin Petra Pau
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Oswin Veith
Thomas Viesehon
Michael Vietz
Volkmar Vogel ({17})
Christel Voßbeck-Kayser
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Nina Warken
Kai Wegner
Albert Weiler
Marcus Weinberg ({18})
Dr. Anja Weisgerber
Peter Weiß ({19})
Sabine Weiss ({20})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Marian Wendt
Kai Whittaker
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese ({21})
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Oliver Wittke
Dagmar G. Wöhrl
Barbara Woltmann
Tobias Zech
Heinrich Zertik
Emmi Zeulner
Dr. Matthias Zimmer
Gudrun Zollner
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Heike Baehrens
Ulrike Bahr
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Katarina Barley
Dr. Hans-Peter Bartels
Dr. Matthias Bartke
Sören Bartol
Bärbel Bas
Dirk Becker
Lothar Binding ({22})
Burkhard Blienert
Dr. Karl-Heinz Brunner
Martin Burkert
Dr. Lars Castellucci
Petra Crone
Dr. Daniela De Ridder
Dr. Karamba Diaby
Sabine Dittmar
Martin Dörmann
Siegmund Ehrmann
Michaela Engelmeier-Heite
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Saskia Esken
Karin Evers-Meyer
Dr. Fritz Felgentreu
Elke Ferner
Christian Flisek
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Michael Gerdes
Martin Gerster
Ulrike Gottschalck
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Wolfgang Gunkel
Bettina Hagedorn
Rita Hagl-Kehl
Metin Hakverdi
Ulrich Hampel
Sebastian Hartmann
Michael Hartmann
({23})
Dirk Heidenblut
Hubertus Heil ({24})
Gabriela Heinrich
Marcus Held
Wolfgang Hellmich
Dr. Barbara Hendricks
Heidtrud Henn
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Thomas Hitschler
Dr. Eva Högl
Christina Jantz
Frank Junge
Josip Juratovic
Thomas Jurk
Oliver Kaczmarek
Christina Kampmann
Ralf Kapschack
Gabriele Katzmarek
Ulrich Kelber
Marina Kermer
Arno Klare
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe
Birgit Kömpel
Anette Kramme
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Helga Kühn-Mengel
Christine Lambrecht
Christian Lange ({25})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Hiltrud Lotze
Kirsten Lühmann
Dr. Birgit Malecha-Nissen
Caren Marks
Katja Mast
Klaus Mindrup
Susanne Mittag
Bettina Müller
Michelle Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Dietmar Nietan
Ulli Nissen
Mahmut Özdemir ({26})
Markus Paschke
Christian Petry
Detlev Pilger
Sabine Poschmann
Joachim Poß
Florian Post
Achim Post ({27})
Dr. Sascha Raabe
Dr. Simone Raatz
Martin Rabanus
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Andreas Rimkus
Sönke Rix
Dr. Martin Rosemann
Michael Roth ({28})
Susann Rüthrich
Bernd Rützel
Johann Saathoff
Dr. Hans-Joachim
Schabedoth
Axel Schäfer ({29})
Dr. Nina Scheer
Marianne Schieder
Dr. Dorothee Schlegel
Ulla Schmidt ({30})
Matthias Schmidt ({31})
Dagmar Schmidt ({32})
Carsten Schneider ({33})
Ursula Schulte
Rita Schwarzelühr-Sutter
Rainer Spiering
Norbert Spinrath
Svenja Stadler
Martina Stamm-Fibich
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Michael Thews
Carsten Träger
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dirk Vöpel
Bernd Westphal
Andrea Wicklein
Gülistan Yüksel
Stefan Zierke
Dr. Jens Zimmermann
Nein
SPD
Marco Bülow
Petra Hinz ({34})
Cansel Kiziltepe
Hilde Mattheis
René Röspel
Swen Schulz ({35})
Waltraud Wolff
({36})
DIE LINKE
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Klaus Ernst
Diana Golze
Annette Groth
Dr. Gregor Gysi
Dr. André Hahn
Inge Höger
Andrej Hunko
Sigrid Hupach
Ulla Jelpke
Kerstin Kassner
Katja Kipping
Jan Korte
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Cornelia Möhring
Niema Movassat
Thomas Nord
Harald Petzold ({37})
Richard Pitterle
Martina Renner
Michael Schlecht
Dr. Petra Sitte
Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Axel Troost
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Vizepräsidentin Petra Pau
Jörn Wunderlich
Hubertus Zdebel
Pia Zimmermann
({38})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Sylvia Kotting-Uhl
Christian Kühn ({39})
Monika Lazar
Peter Meiwald
Beate Müller-Gemmeke
Lisa Paus
Hans-Christian Ströbele
Enthalten
SPD
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Luise Amtsberg
Kerstin Andreae
Annalena Baerbock
Dr. Franziska Brantner
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Harald Ebner
Dr. Thomas Gambke
Matthias Gastel
Anja Hajduk
Dr. Anton Hofreiter
Dieter Janecek
Uwe Kekeritz
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Tom Koenigs
Oliver Krischer
Stephan Kühn ({40})
Renate Künast
Markus Kurth
Steffi Lemke
Nicole Maisch
Özcan Mutlu
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Cem Özdemir
Tabea Rößner
Claudia Roth ({41})
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Kordula Schulz-Asche
Dr. Wolfgang Strengmann-
Kuhn
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Dr. Julia Verlinden
Dr. Valerie Wilms
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Caren
Lay, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Begrenzung und Vereinheitlichung der Zinssätze für Dispo- und Überziehungskredite
Drucksache 18/807
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({42})
Finanzausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Maisch, Renate Künast, Luise Amtsberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Begrenzung von Dispositions- und Überziehungszinsen
Drucksache 18/1342
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({43})
Finanzausschuss
Ich bitte Sie, dazu Platz zu nehmen. - Danke schön.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Caren Lay,
Fraktion Die Linke.
({44})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Knietief im Dispo ist nicht nur der bekannte Titel des Comeback-Albums der Band Fehlfarben,
({0})
sondern es ist auch traurige Realität für viele Verbraucherinnen und Verbraucher.
Jeder fünfte Deutsche hat sein Konto schon einmal
überzogen. Viele Menschen, die davon betroffen sind,
haben keine Möglichkeit, aus dieser Überschuldungsfalle herauszukommen. Deswegen fordern wir als Linke
zum fünften Mal in diesem Hohen Haus: Eine Begrenzung der Dispozinsen muss endlich her.
({1})
Wer im Dispo steckt, dem kommt es ganz schön teuer
zu stehen. Die Banken verlangen im Schnitt über 11 Prozent, wenn Bürgerinnen und Bürger im Dispo stecken.
Aber ich frage mich zugleich: Was machen eigentlich
die Banken, wenn sie frisches Geld brauchen? Die Banken machen es sich einfach. Die Banken gehen zur Europäischen Zentralbank und bekommen dort ihr frisches
Geld zu einem Schnäppchenpreis. Der Leitzins der Europäischen Zentralbank liegt derzeit bei dem historischen Tief von 0,25 Prozent. Zu diesem Prozentsatz bekommen die Banken ihr Geld.
Schauen wir uns dies einmal näher an. Auf der einen
Seite haben wir 0,25 Prozent Zinssatz für die Banken,
und auf der anderen Seite fast 11,3 Prozent für die Verbraucherinnen und Verbraucher. Das ist eine Gewinnmarge von über 11 Prozent. Man könnte auch sagen: Es
ist Abzocke auf Kosten der Verbraucherinnen und Verbraucher. Wir Linke sagen: Diese Bereicherung der Banken auf Kosten der Bürgerinnen und Bürger muss endlich beendet werden.
({2})
Wir sprechen hier nur von den Durchschnittswerten.
Sehen wir uns die Höchstwerte an, dann wird es nur
noch schlimmer. Bei der Volksbank Feldatal liegen die
Dispozinsen beispielsweise bei 15 Prozent. Oder nehmen wir die Überziehungszinsen: Da liegt der Durchschnittswert bei 16 Prozent, und es gibt Höchstwerte von
22 bis 23 Prozent. Das kann wirklich nicht sein.
Meine Damen und Herren, ich habe es bereits erwähnt: Die hohen Zinsen treffen die Schwächsten, vor
allen Dingen diejenigen Verbraucherinnen und Verbraucher, die keine Chance haben, einen anderen Kredit zu
bekommen. Das sind diejenigen, die vielleicht auf den
letzten Drücker den Strom, die Miete bezahlen müssen,
damit sie nicht aus ihren Wohnungen fliegen. Auch deswegen verstehe ich nicht, dass die Politik es weiterhin
sehenden Auges zulässt, dass die Banken hier Milliardengewinne machen; denn an jedem einzelnen Prozentpunkt des Dispo verdienen die Banken 400 Millionen
Euro jährlich. Da kommt ganz schön was zusammen.
Das kann so einfach nicht sein.
({3})
Das alles hätte längst vermieden werden können. Vor
fünf Jahren hat die Fraktion Die Linke hier zum ersten
Mal einen Antrag zur Deckelung der Dispozinsen eingebracht. Wir haben hier inzwischen vier Initiativen vorgelegt, über die abgestimmt wurde; sie sind allesamt abgelehnt worden, und es ist einfach nichts passiert.
Wir hatten in der letzten Legislatur eine Verbraucherministerin, die immer gesagt hat, dass sie das nicht gut
findet. Dann hat sie die Banken zum Kamingespräch
eingeladen. Da wurde ein bisschen geschimpft, und am
Ende kam eine lasche Selbstverpflichtung heraus, aus
der nichts geworden ist.
Dann gab es einen neuen Hoffnungsträger: Peer
Steinbrück von der SPD. Er hat sich unserer Forderung
im Grunde angeschlossen; das fanden wir sehr gut, das
haben wir begrüßt. Da war vor einem Jahr von „Wucher“
die Rede; es hieß, das müsse gestoppt werden, die Zinssätze müssten gedeckelt werden. Da war gerade wieder
Wahlkampfzeit. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, die Sie
diese Forderung in der letzten Legislatur unterstützt haben, ich frage mich ehrlich gesagt, wer für Sie eigentlich
den Koalitionsvertrag verhandelt hat.
({4})
Es scheint mir so, als habe sich hier die CDU/CSU, die
das schon immer durchweg blockiert hat, komplett
durchgesetzt. Dazu heißt im Koalitionsvertrag ganz lapidar, dass der Dispokredit „nicht zu einer übermäßigen
Belastung“ führen solle, dass es „einen Warnhinweis“
auf dem Kontoauszug gebe solle - einen solchen Warnhinweis gibt es schon heute: Ein fettes Minus ist ja wohl
Warnhinweis genug - und dass dann eine „Beratung“ angeboten werden solle.
({5})
Meine Damen und Herren, das kann doch wirklich nicht
sein. Das ist doch eine lasche Formulierung. Beratung
statt Problemlösung - das ist Unsinn. Ein engagierter
Schutz von Verbraucherinnen und Verbrauchern sieht
nun wirklich anders aus.
Immerhin hat sich die Forderung, die wir von der
Fraktion Die Linke aufgestellt haben, nach und nach
durchgesetzt. Ich freue mich sehr, dass die Verbraucherschutzministerkonferenz in der letzten Woche einen entsprechenden Beschluss gefasst und die Bundesregierung
aufgefordert hat, einen gesetzlichen Deckel einzuziehen.
Es handelte sich übrigens um einen Antrag des rot-rot regierten Landes Brandenburg. Darüber freuen wir Linke
uns natürlich ganz besonders.
({6})
Ich freue mich auch, dass dieser Antrag im Bundesrat
eine Mehrheit gefunden hat.
Die Union hat ja hier, wenn die Einführung eines gesetzlichen Deckels für den Dispo wieder einmal ausgesessen und verhindert wurde, vor allen Dingen immer argumentiert: Na ja, es gibt eine Wahlfreiheit der
Verbraucher; sie sind mündig und können einfach mal
ihr Konto wechseln. - Abgesehen davon, dass es immer
noch kein Recht auf ein Girokonto gibt, ist es sinnvoll,
sich mit den Fakten vor Ort zu beschäftigen. Ich habe bei
mir im Wahlkreis den Versuch gemacht; ich kann Sie nur
auffordern, das auch selbst einmal zu tun. Man findet
vielleicht eine Internetbank, die einen Dispo von etwa
8,5 Prozent gewährt. Aber da muss ich fragen: Für welche Rentnerin ist das denn wirklich eine Lösung? Wer
eine Filialbank haben möchte, wer es gewohnt ist, buchstäblich zur Kasse zu gehen, wer eine direkte Beratung
in Anspruch nehmen will, der kommt auch in meinem
Wahlkreis Bautzen nicht mit Dispozinsen unter
10,95 Prozent davon. Deswegen sage ich: Der Bundestag, der Gesetzgeber muss hier endlich handeln.
({7})
Meine Damen und Herren, die Sie diese Debatte verfolgen: Wenn Sie im Saarland wohnen, haben Sie noch
eine andere Chance. Hier hat nämlich der Landesverband der Linken Unterschriften für ein Bürgerbegehren
gesammelt, damit wenigstens im Saarland endlich die
Dispozinsen gedeckelt werden. Bis zum 22. September
haben Sie noch Zeit, Ihre Unterschrift zu leisten. Darum
möchte ich Sie, liebe Saarländerinnen, liebe Saarländer,
ganz herzlich bitten. Und Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen, bitte ich: Stimmen Sie heute endlich für unseren Antrag!
({8})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Mechthild Heil,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Frau Lay, Unsinn wird trotz ständiger
Wiederholung nicht zur Wahrheit.
({0})
Das, liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition,
gilt auch für Ihre altbekannte Forderung nach einer Deckelung der Dispo- und Überziehungszinsen.
({1})
Sie wiederholen diese Forderungen immer und immer
wieder.
({2})
Sie haben es ja eben gesagt: schon fünfmal. Glauben Sie
wirklich, so ließe sich guter Verbraucherschutz machen?
Ihren Baukasten für Verbraucherschutzkonzepte kennen wir allmählich ganz genau: Sie haben Deckel, Sie
haben Ampeln, Sie haben Bremsen. Medienwirksam
sind diese Schlagworte, das gebe ich zu; aber sie lösen
keines der uns bekannten Probleme.
Ihre Problemanalyse ist genauso vereinfachend und
wirklich mager: Die Leitzinsen sind niedrig, trotzdem
müssen die Kunden Wucherzinsen zahlen.
({3})
Dann der Ruf der Linken nach dem Staat - wir kennen
das -: Der Staat muss deckeln. - Es interessiert Sie nicht,
dass die Höhe der Dispozinsen nur bedingt mit dem Refinanzierungszinssatz für die Banken zu tun hat. Auch
Verwaltungskosten und das Ausfallrisiko spielen für Sie
überhaupt keine Rolle.
({4})
Aber - das müssen Sie einfach zur Kenntnis nehmen -:
Nicht alle Banken sind gleich. Es gibt verschiedene
Bankmodelle, die unterschiedliche Konstruktionen haben - Sie haben es selbst gesagt -: Eine Direktbank hat
im Gegensatz zu einer Bank mit großem Filialnetz vielleicht ganz andere Möglichkeiten, zu finanzieren; denn
sie hat weniger Miet- und Personalkosten. Aber das alles
interessiert Sie nicht!
Frau Kollegin Heil, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Abgeordneten Lay?
Aber gerne.
Vielen lieben Dank, Frau Kollegin, dass Sie die Zwischenfrage gestatten. - Die Zuhörerinnen und Zuhörer
mussten fast den Eindruck gewinnen - so befürchte ich -,
als wollten wir Linke, dass für die Kunden das Gleiche
wie für die Banken gelten muss, nämlich der Leitzins der
Europäischen Zentralbank, der derzeit bei 0,25 Prozent
liegt. Deswegen ist meine Frage: Haben Sie zur Kenntnis genommen, dass wir als Linke nicht fordern, diesen
eins zu eins umzusetzen, sondern vielmehr gefordert haben, dass der Dispozinssatz maximal 5 Prozentpunkte
über diesem Leitzinssatz liegt? Bei diesem Vorschlag der
Linken müsste doch immer noch genügend Geld für die
Verwaltungstätigkeit und auch ein bisschen Geld für die
Gewinne der Banken übrig bleiben. Haben Sie also zur
Kenntnis genommen, dass wir einen durchaus moderaten Vorschlag machen?
Vielen Dank für die Frage. - Sie wiederholen das,
was Sie eben schon einmal gesagt haben: Sie wollen,
dass der Dispozinssatz 5 Prozent über dem Leitzinssatz
liegt. Das ist für mich ein fester Deckel. Sie haben selber
darauf hingewiesen, dass Sie das hier im Bundestag
schon fünfmal gefordert haben, aber deswegen wird es
nicht besser: Es bleibt ein fester Deckel. Zu beweglichen
Lösungen fällt Ihnen nichts ein. Wirkliche Antworten
auf die Probleme geben Sie nicht. - Die Frage ist damit
beantwortet; ich sage Ihnen aber gleich gerne noch etwas
zur Höhe der Zinssätze in meinem Wahlkreis.
({0})
Sie interessieren sich nicht für die wirklichen Probleme. Mit einer Obergrenze scheren Sie alle Banken
über einen Kamm. Das ist - ganz klar - Ihre Meinung.
Das ist sozialistische Politik, das kennt man; aber mit sozialer Marktwirtschaft hat das nichts zu tun. Denn es gibt
auch unter den Banken Wettbewerb, der den Verbrauchern am Ende nutzt. Es gibt zum Beispiel Banken, die
einen sehr günstigen Zinssatz anbieten. Der niedrigste
Dispozinssatz, den ich gefunden habe, beträgt aktuell
4,2 Prozent und liegt somit weit unter dem Deckel, den
Sie hier fordern. Würden wir dem also folgen, was Sie
hier fordern, würden genau die Banken, die jetzt günstiger sind, ihren Dispozinssatz nach oben, an die von Ihnen geforderte Grenze, anpassen.
({1})
Der Deckel schadet also den Verbrauchern. Er nützt ihnen nichts. Der Deckel ist weder zielführend noch verbraucherfreundlich.
({2})
Was Sie vorlegen, ist einfach nicht durchdacht.
Unser Ansatz ist ein komplett anderer. Wir haben und
wir werden die Banken auch in Zukunft nicht aus ihrer
Verantwortung entlassen. Die Banken müssen sehr genau prüfen, ob ihre Zinsen angemessen oder notwendig
sind. Und sie müssen ihre Preise und Zinssätze nicht nur
transparent machen, sondern auch für jeden Kunden
deutlich sichtbar aushängen. Das haben wir schon in der
vergangenen Wahlperiode angeschoben, und es hat Wirkung gezeigt. Einige Banken haben ihre Zinssätze gesenkt, einige haben den höheren Zinssatz für die geduldete Überziehung, die über das eingeräumte Limit
hinausgeht, an den niedrigeren Dispozinssatz angepasst.
Der politische und auch der öffentliche Druck hat also
Bewegung in die Branche gebracht. So macht man das,
und nicht mit einem Deckel, wie Sie das wollen.
Seien Sie doch einmal ehrlich - auch das muss hier
einmal gesagt werden -: Kein einziger Fall von Überschuldung wird gelöst oder auch nur entschärft, indem
wir die Dispozinsen deckeln. Deshalb haben ja auch die
Schuldnerberater aufgeschrien, als einige Banken angekündigt haben, den höheren Zinssatz für die geduldete
Überziehung abzuschaffen; denn damit würde ja auch
eine Schwelle auf dem Weg zur weiteren Überschuldung
abgeschafft.
Genau an dem Punkt müssen wir doch ansetzen,
meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir brauchen
eine gute Schuldnerberatung, und wir brauchen gute Beratung hinsichtlich der Umschuldungsmöglichkeiten,
wenn ein Verbraucher über längere Zeit im Dispo steckt.
Außerdem wollen wir einen Warnhinweis beim Übertritt
in den Dispo einführen.
Am Ende geht es doch nicht um Verbote oder um einen Deckel. Wir wollen den Verbraucher befähigen,
seine Finanzen selbst in die Hand zu nehmen, vielleicht
sogar die Bank zu wechseln, wenn eine andere Bank ein
besseres Angebot macht. Der Kunde, der Verbraucher
kann die Bank zwingen, bessere Angebote zu machen.
Diese Marktmacht, die der Kunde hat, müssen die Verbraucher nutzen. Deshalb setze ich mich auch in dieser
Legislaturperiode besonders für die Stärkung der
Finanzkompetenz ein.
Lassen Sie uns gemeinsam an Lösungen für die wirklichen Ursachen des Problems der Überschuldung arbeiten, anstatt hier Symptomkosmetik zu betreiben.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Bevor ich die nächste
Rednerin aufrufe, gebe ich Ihnen das von den Schriftfüh-
rerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der
Wahl des Präsidenten des Bundesrechnungshofes be-
kannt: abgegebene Stimmen 579. Mit Ja haben gestimmt
538, mit Nein haben gestimmt 25, Enthaltungen 16.1)
Herr Kay Scheller hat damit die erforderliche absolute
Mehrheit erreicht.
Ich spreche Herrn Kay Scheller zu seiner Wahl durch
den Deutschen Bundestag die Glückwünsche des Hauses
aus. Ich werde das Ergebnis der Wahl der Frau Bundeskanzlerin und dem Herrn Präsidenten des Bundesrates
mitteilen.
({0})
Die nächste Rednerin in der Debatte ist Frau Nicole
Maisch, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir brauchen endlich ein Gesetz mit einer Ober-
grenze für Dispo-Zinsen.
1) Anlage 13
…
Nie war Geld für die Banken so billig. Aber die
Kunden … müssen für ihren Dispo-Kredit im
Durchschnitt über zehn Prozent zahlen. Das ist Abzocke!
({0})
Es wundert mich, dass die SPD an dieser Stelle nicht
klatscht; denn das waren nicht meine Worte, sondern die
Worte ihres Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel, die er
der Bild-Zeitung zu Protokoll gegeben hat.
({1})
Auch Ihrem Kanzlerkandidaten, Herrn Steinbrück,
konnten im Bundestagswahlkampf die Worte gar nicht
markig genug sein. Er forderte in Interviews eine Deckelung der Zinsen, um den Wucher der Banken zu begrenzen.
({2})
Legal sollte nur noch ein Aufschlag von maximal 8 Prozentpunkten möglich sein. Das hat er im Wahlkampf
2013 den Journalistinnen und den Journalisten in die Feder diktiert.
Auch der heutige Verbraucherschutzminister Maas
stellte sich als stellvertretender Ministerpräsident des
Saarlandes selbstverständlich hinter eine gesetzliche Begrenzung der Dispozinsen.
({3})
Abzocke, Wucher, gesetzliche Begrenzung - dazu
kann ich nur sagen: gut gebrüllt, rote Löwen! Aber nach
sechs Monaten Großer Koalition sind von den Löwen
nur noch sozialdemokratische Kätzchen übrig geblieben.
({4})
Von der Forderung nach einem gesetzlichen Deckel für
Dispozinsen hat sich die SPD still und leise verabschiedet und schleicht jetzt schnurrend der Union und den
Banken um die Beine.
({5})
Statt klare Kante gegen Marktversagen und Abzocke zu
zeigen, speist Justizminister Maas die Bankkunden mit
Placebos ab. Wir finden es ja schön, wenn in Zukunft auf
dem Überweisungsträger oder den Kontoauszügen steht:
„knietief im Dispo“, aber mal ehrlich: Das wird den
Bankkundinnen und -kunden nicht helfen.
({6})
Die Situation der Bankkunden hat sich nämlich in der
Vergangenheit nicht wesentlich verbessert. Durchschnittlich zahlt man über 11 Prozent Dispozins - meine
Vorrednerin von der Linken hat es angesprochen - und
bis zu 22,5 Prozent für die geduldete Überziehung. Das
ist wirklich Abzocke. Das ist wirklich Wucher. Ich habe
mich gewundert, dass Frau Heil nicht ein bisschen mehr
Mitgefühl mit den Leuten, die im Dispo stecken, aufgebracht hat. Schließlich kommt sie aus der Selbstständigkeit und sollte wissen, dass auch Selbstständige in den
Dispo rutschen, wenn zum Beispiel ihre Auftraggeber
am Ende des Monats noch nicht gezahlt haben. Der
Dispo ist keineswegs nur ein Kredit für die, die mit ihren
Finanzgeschäften zu Hause nicht zurechtkommen, sondern betrifft auch viele Selbstständige. Da ist es besonders übel, wenn die Zinsen so hoch sind.
({7})
Tagesgeldkonto oder Sparbuch bringen kaum noch
Zinsen, aber beim Dispo wird hingelangt, als befänden
wir uns in historischen Hochzinszeiten. Damit sollte
Schluss sein. Das meinen auch die Verbraucherschutzministerinnen und -minister der Länder. Wir fordern Sie
auf: Folgen Sie dem Beschluss der VSMK vom 16. Mai!
Legen Sie einen Gesetzentwurf vor, um Dispozinsen gesetzlich zu begrenzen! Die Vorschläge liegen auf dem
Tisch. Wir fordern Herrn Maas auf, ein entsprechendes
Konzept vorzulegen, so wie er es im Wahlkampf versprochen hat. Es gibt Vorschläge der Linken, und es gibt
Vorschläge der SPD aus der letzten Legislatur.
Wir möchten Ihnen zwei weitere Vorschläge machen:
Sie könnten die bestehende Wuchergrenze in § 138 BGB
präzisieren. Das ist nichts Sozialistisches, Exotisches
oder Ungewöhnliches, sondern ein solches Verfahren ist
der deutschen Rechtsordnung durchaus bekannt. Sie
könnten auch den Verzugszins nach § 288 BGB als Modell für einen gesetzlichen Deckel für Dispositions- und
Überziehungskredite heranziehen.
Ich finde, wir sollten jetzt in ein parlamentarisches
Verfahren einsteigen, das die Verbraucherinteressen auf
der einen Seite und die Risikokosten, die Verwaltungskosten der Banken auf der anderen Seite in einen fairen
Ausgleich bringt. In ein solches Verfahren können wir
einsteigen. Dann müssen die Löwen auch nicht mehr als
Bettvorleger liegen bleiben.
Herzlichen Dank.
({8})
Vielen Dank. - Nächster Redner für die SPD ist der
Kollege Dr. Johannes Fechner.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nach Auskunft der Schufa sind in Deutschland 6,7 Millionen Menschen überschuldet. Auch wenn diese Zahl in
den letzten beiden Jahren erfreulicherweise zurückgegangen ist, haben wir hier als Politiker erheblichen
Handlungsbedarf und müssen uns um die Menschen
kümmern, die in die Schuldenspirale geraten sind.
Die Große Koalition handelt hier. Schon im Koalitionsvertrag haben wir vereinbart, diesen Menschen zu
helfen. Wir haben dort ausdrücklich geregelt - ich
möchte es zitieren -:
Die Inanspruchnahme des Dispositionskredits soll
nicht zu einer übermäßigen Belastung eines Bankkunden führen. Daher sollen die Banken verpflichtet werden, beim Übertritt in den Dispositionskredit
einen Warnhinweis zu geben; bei dauerhafter und
erheblicher Inanspruchnahme sollen sie dem
Kunden eine Beratung über mögliche kostengünstigere Alternativen zum Dispositionskredit anbieten
müssen.
Sie sehen, wir nehmen die Probleme ernst. Wir handeln.
Das sage ich an die Kollegen von der Opposition gerichtet.
({0})
Es ist wichtig, dass die Menschen gewarnt werden
und frühzeitig erkennen, dass sie ihren Kreditrahmen
überschreiten. Schon heute gibt es in der Tat die Pflicht,
auf dem Kontoauszug hierüber zu informieren. Aber wir
wollen noch weitergehen, und zwar auf einem Feld, das
für mich ganz wichtig ist, nämlich auf dem Feld der
Beratung. Denn die Betroffenen sind oft geschäftsunerfahren und haben alle möglichen Probleme, zum Beispiel Arbeitslosigkeit oder Krankheit. Diese Menschen
brauchen Hilfe, weil sie alleine nicht aus der Schuldenspirale herauskommen. Deswegen ist es unser Ziel, die
Banken gesetzlich zu verpflichten, mit ihren Kunden in
eine Beratung einzutreten. Wir wollen detailliert regeln,
dass es eine Beratung hinsichtlich der Finanzsituation
der Kunden gibt, dass ihre Leistungsfähigkeit analysiert
wird und - das ist ganz wichtig - dass es eine Pflicht der
Banken gibt, eine kostengünstigere Alternative zu der
jetzigen Kreditsituation anzubieten. Das sind ganz konkrete Maßnahmen. Wir handeln.
({1})
Es gibt teilweise von einigen Banken die Kritik, dass
diese Beratung mit einem hohen Aufwand und mit
hohen Kosten verbunden wäre. Ich meine, man sollte
sich anschauen, wie günstig sich Banken Geld leihen
können und wie viel Geld sie mit diesem Geschäftsmodell verdienen. Da wird sich Geld für die Beratung
finden lassen. Im Übrigen gibt es schon jetzt viele Banken, die von den Dispozinsen absehen, etwa die SpardaBank in Baden-Württemberg und die ING-DiBa, die
größte europäische Direktbank.
Fazit: Sie sehen, dass wir dieses wichtige Thema bearbeiten. Wir handeln, um die Situation der Betroffenen
zu verbessern. An dieser Stelle möchte ich dem Justizminister für sein großes Engagement bei diesem Thema
ausdrücklich danken. Ich erinnere nur an seinen Meinungsaustausch - ich möchte es einmal so nennen - mit
dem Chef der Deutschen Bank.
({2})
Mit guten Gründen ist die SPD nach wie vor der Meinung - die SPD hat keinen Grund, hier frühere Positionen aufzugeben -, dass wir eine gesetzliche Deckelung
des Dispozinses brauchen. Von einer Kapitulation der
SPD in den Koalitionsverhandlungen, wie ich es hier gehört habe, kann überhaupt keine Rede sein. Wir haben
gar keine Regelung dieser Frage im Koalitionsvertrag.
Nicht zuletzt die Verbraucherschutzministerkonferenz
hat ja letzte Woche beschlossen, dass eine gesetzliche
Dispobremse in Deutschland eingeführt werden soll, übrigens auch mit den Stimmen der unionsgeführten Länder. Da, Frau Heil, möchte ich Ihnen ausdrücklich widersprechen. Die Dispobremse ist kein Unsinn, sondern sie
kann neben der Beratung ein wichtiger Baustein sein,
um die Situation der verschuldeten Menschen zu verbessern. Das möchte ich hier ausdrücklich sagen.
({3})
Ihre Anträge werden wir trotzdem ablehnen. Dafür
gibt es gute Gründe: Ihre Handlungsaufforderung - Sie
fordern die Bundesregierung ja zum Handeln auf - ist
schlicht nicht notwendig.
({4})
Wir haben einen Justizminister und eine Große Koalition, die vorangehen und die Dinge, die ich genannt
habe, auf den Weg bringen. Es geht aber auch um das Inhaltliche: Sie von der Linken sagen überhaupt keinen
Ton zur Beratung. Das ist aber ein ganz wichtiges Feld.
Den Antrag der Grünen halte ich für viel zu unbestimmt. Wenn Sie eine gesetzlich festgelegte Dispogrenze wollen, dann müssen Sie auch sagen, bei wie viel
Prozent sie liegen soll. Dazu sagen Sie aber überhaupt
nichts. Das ist zu schwammig. Dem kann ich deshalb
nicht zustimmen.
Zum Schluss will ich festhalten: Die SPD handelt,
weil wir ganz konkrete Verbesserungen für die überschuldeten Menschen erreichen wollen. Die geplanten
gesetzlichen Beratungspflichten für die Banken sind ein
ganz wichtiger Baustein, um die Situation der verschuldeten Menschen zu verbessern.
Herzlichen Dank.
({5})
Vielen Dank. - Für die CDU/CSU-Fraktion spricht
jetzt Dr. Volker Ullrich.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Hohe Dispound Überziehungszinsen sind in der Tat ein Problem und
ein Ärgernis. Es ist den Verbrauchern manchmal nur
schwerlich zu vermitteln, weshalb sich Banken bei der
Zentralbank zu weniger als 1 Prozent refinanzieren können, die Verbraucher aber Dispo- und Überziehungszinsen im zweistelligen Bereich zahlen müssen. Aber es
darf nicht der Fehler gemacht werden, davon auszugehen, die Differenz sei der Gewinn, den die Banken einstreichen. Vielmehr sei daran erinnert, dass der Zins
auch der Preis für das Risiko und das Entgelt für ein
Filialstruktursystem ist und dass er letzten Endes auch
die Verwaltungskosten der Banken abdeckt, die den Verbrauchern durch Dispositionskredite sehr unbürokratisch
und schnell zu Liquidität verhelfen. Deswegen ist dieses
Thema sehr differenziert, aber, wie ich meine, trotzdem
besonnen zu behandeln.
Es ist für die Verbraucher nicht ganz unproblematisch, wenn sie hohe Dispozinsen zahlen müssen. Denn
gerade für die Menschen in unserer Gesellschaft, die
verschuldet sind und versuchen, sich mithilfe von
Schuldnerberatungen ihrer Verschuldungssituation zu
entledigen, stellt die Höhe dieser Zinsen ein Problem
dar, das es ihnen eher erschwert als erleichtert, aus dieser
Situation herauszukommen. Deswegen meinen wir, dass
hier auch die Banken gefragt sind, einen Beitrag zu leisten, damit das Problem hoher Dispozinsen bei den Verbrauchern nicht überhandnimmt.
({0})
Es sei hier angesprochen, dass unser Staat die Bankwirtschaft in Deutschland in den letzten fünf Jahren,
ohne pauschalisierend wirken zu wollen, nicht unbedingt
sehr stiefmütterlich behandelt hat. Deswegen meine ich,
dass wir von den Banken auch im Rahmen einer Selbstverpflichtung einfordern können,
({1})
bei den Dispozinsen Augenmaß zu bewahren und die
Gesamtsituation der Verbraucher im Auge zu behalten.
Wir meinen, es ist der richtige Weg, dass sich die Banken selbst verpflichten, transparenter zu arbeiten, Aufklärungshinweise zu geben und im Falle der dauerhaften
Inanspruchnahme eines Überziehungskredits Alternativen aufzuzeigen. Ich glaube, in einer Marktwirtschaft
wäre eine solche Selbstverpflichtung, die ohne gesetzlichen Deckel auskommt, ein erster guter Schritt, um den
Verbrauchern einen Weg aus der Schuldenfalle aufzuzeigen und gleichzeitig das System der Marktwirtschaft
aufrechtzuerhalten.
({2})
Ja, ich meine, die Banken haben die Verpflichtung,
die Dispositionszinsen in einem vertretbaren Rahmen zu
ihren Refinanzierungskosten zu halten. Ich glaube, dass
die Banken den Millionen von Verbrauchern gegenüber,
die diese Kredite in Anspruch nehmen - oder in
Anspruch nehmen müssen -, auch eine Verpflichtung
haben, so zu handeln, dass diese Kredite nicht in eine
Abwärts-, in eine Schuldenspirale führen.
Machen wir uns gemeinsam auf den Weg. Lassen Sie
uns die Ergebnisse dieser Selbstverpflichtung abwarten.
Lassen Sie die Banken getreu dem Motto „Mehr Transparenz und Aufklärung“ handeln. Wenn sich keine
Ergebnisse einstellen sollten - was ich persönlich beDr. Volker Ullrich
zweifle -, durch die die Dispositionskreditzinsen langfristig dauerhaft sinken, dann sei es diesem Hause unbenommen, über andere Möglichkeiten nachzudenken.
Aber ich meine, wir sollten die im Koalitionsvertrag angesprochenen guten Regelungen jetzt umsetzen, sie jetzt
ausprobieren und damit insgesamt ein Zeichen setzen,
dass die Balance zwischen den Banken - die die Kredite
vergeben - und dem mündigen Verbraucher - der aus
unserer Sicht die Möglichkeit hat, zwischen Banken zu
wechseln und seine finanziellen Angelegenheiten selbst
in Ordnung zu bringen - mit unserem Vorschlag gut gewahrt ist. Das wird dazu führen, dass die Zinsen für
Dispo- und Überziehungskredite mittelfristig sinken.
Davon haben die Verbraucher etwas. Lassen Sie uns gemeinsam auf diesem Weg weitermachen.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank. - Dennis Rohde ist jetzt der nächste
Redner für die SPD.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir haben heute schon viel über die Folgen von
überhöhten Dispozinsen gehört. Ich glaube allerdings,
dass wir mehr und intensiv auch über die Kernproblematik dahinter sprechen sollten; denn zur Wahrheit gehört:
Es gibt nicht den einen Grund, warum jemand unter die
Dispolinie fällt. Da gibt es die einen, die am Ende des
Monats für zwei bis drei Tage in die roten Zahlen rutschen, und dann gibt es diejenigen, die ein strukturelles
Problem haben, diejenigen, die sich in einer Schuldenspirale befinden, diejenigen, bei denen rote Zahlen nicht
nur ein kurzzeitiges Phänomen sind, sondern wie selbstverständlich zum Leben dazugehören, diejenigen, bei
denen der Schuldenturm immer höher und der Berg an
Verbindlichkeiten immer erdrückender wird, diejenigen,
die nicht nur verschuldet, sondern überschuldet sind.
Wenn man sich die einschlägigen Statistiken ansieht
- ich weiß das aus meiner Tätigkeit in einer Schuldnerberatungsstelle -, erkennt man: Am Anfang dieser Spirale stehen oft Schicksalsschläge, Dinge, auf die man
wenig Einfluss hat. Da ist zum Beispiel der Verlust des
Arbeitsplatzes, der gestern noch sicher schien, insbesondere im Niedriglohnsektor, wo man sich keine Reserven
aufbauen konnte. Da ist der unerwartete Tod des
Lebenspartners, der keine Lebensversicherung hatte, und
plötzlich steht man ohne sein Einkommen da. Da ist der
Ausbruch einer Krankheit, die einem die Existenzgrundlage entzieht. Aber da sind auch falsche Finanzprodukte,
die im Endeffekt nicht halten, was im Vorfeld versprochen wurde.
Wenn sich die Menschen dann - oftmals nach Jahren
in der Schuldenfalle - in eine Beratung begeben, hört
man zu Beginn des Gespräches fast immer dieselben
Sätze: Das war ein unheimlich schwerer Schritt für
mich. Ich habe lange mit mir gerungen. Oder: Ich
schäme mich. - Obwohl das Gros der Menschen wenig
dafür kann, dass sie in die Schuldenfalle geraten sind,
findet in unserer Gesellschaft oftmals eine starke Stigmatisierung statt: Überschuldung wird gleichgesetzt mit
Schuld daran haben. Gerade dieses gesellschaftliche
Problem darf in dieser Debatte nicht unerwähnt bleiben.
({0})
Wir müssen also gerade diejenigen schützen, bei denen
aus Verschuldung schnell Überschuldung wird. Gerade
ihnen müssen wir die Gelegenheit geben, ihren Lebensunterhalt ohne Rückgriff auf riskante Kredite zu bestreiten, die ihnen schaden, anstatt ihnen zu helfen.
Teure Kredite werden überdies häufig von Menschen
genutzt, die über ein unzureichendes Maß an finanzieller
Bildung verfügen. Der Begriff „Informationslücke“ erscheint mir in diesem Zusammenhang reichlich verniedlichend.
({1})
Die Wahrheit ist doch: Viele Produkte im Kredit- und
Bankensystem sind so unübersichtlich geworden, dass
die Verbraucherinnen und Verbraucher sie selbst kaum
verstehen, geschweige denn das Risiko kalkulieren können. Ein Beispiel aus den Vertragsbedingungen einer
Bank für einen Ratenkredit:
Die Bank ist verpflichtet, auf Verlangen des Kunden den zuletzt fällig werdenden Teil der abgetretenen Ansprüche insoweit auf ihn zu übertragen, als
der Umfang der abgetretenen Ansprüche die Höhe
der bestehenden Forderung der Bank um mehr als
20 % übersteigt und sich die Forderung um mindestens 20 % seit Vertragsabschluss bzw. seit der letzten teilweisen Rückübertragung verringert hat.
Ich frage, ob Sie alles verstanden haben.
({2})
Ja, so etwas unterschreiben wir alle, zum Beispiel,
wenn wir per Ratenzahlung einen neuen Fernseher, eine
Couch oder ein Fahrrad kaufen - ganz normale Dinge,
die dank attraktiver Finanzierungsangebote immer öfter
finanziert statt bar bezahlt werden. Wir in der SPD-Bundestagsfraktion sind der Ansicht, dass hier dringend etwas passieren muss, wenn wir es mit dem Schutz vor
Überschuldung ernst meinen.
({3})
In Zukunft soll niemand mehr die Risiken eines für
ihn falschen Finanzproduktes gutgläubig in Kauf nehmen müssen. Es muss verhindert werden, dass der Strudel aus ständiger Disponutzung und hohen anfallenden
Zinsen überhaupt erst beginnt. Im Laufe der Legislatur
werden wir deshalb klug durchdachte Lösungen in den
parlamentarischen Prozess einbringen, um faire Bedingungen für Finanzprodukte zu schaffen und sie für alle
Beteiligten so auszugestalten, dass das geliehene Geld
eine echte Hilfe und nicht der Beginn eines finanziellen
und privaten Desasters ist. Den Rahmen dafür haben die
Bundesminister Maas und Schäuble heute vorgestellt.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Olav Gutting,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Höhe von Dispozinsen und Überziehungskrediten:
Was für ein Thema für die Politik! Das eignet sich hervorragend für Politiker, um hier zu punkten.
({0})
Auf der einen Seite sind raffgierige Banken, auf der anderen Seite sind die armen, unwissenden Verbraucher,
die natürlich schutzwürdig sind. Hier muss sich die Politik ja dazwischenwerfen und schützend vor die Verbraucher stellen.
({1})
Das ist feinster Populismus, meine Damen und Herren.
({2})
Ich halte nichts von einer staatlich verordneten Zinsdeckelung. Natürlich müssen wir Missbrauch aufdecken;
Missbrauch muss bekämpft werden. Es gibt ja auch bereits den § 138 im BGB, der Wuchergeschäfte als nichtig
betrachtet, und § 291 im Strafgesetzbuch, der Wucher in
schweren Fällen mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zehn
Jahren bestraft. Es ist also nicht so, dass hier jeder freie
Bahn hätte.
Herr Kollege Gutting, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Maisch?
Ja, bitte.
Herr Kollege Gutting, danke, dass Sie meine Zwischenfrage zulassen. - Sie sagen: Wer einen Deckel auf
die Dispozinsen fordert, betreibt Populismus. Würden
Sie Populismus auch den Verbraucherschutzministerinnen und -ministern vorwerfen, die ja zu einem Gutteil
auch aus unionsmitregierten Bundesländern kommen?
Sind das also auch Populisten und Populistinnen?
({0})
Wenn Sie mich so fragen, dann sage ich Ja.
({0})
Ich meine, einen Rest Eigenverantwortung müssen
wir den Bürgerinnen und Bürgern schon noch zugestehen.
({1})
Ein Rest Eigenverantwortung ist auch aus Respekt vor
den Menschen notwendig.
({2})
- Ihr nehmt ja alle Leute an die Hand, als wären es
kleine Kinder, die durch die Welt geführt werden müssen. So ist es aber nicht. Es geht auch um Menschenwürde, und dazu gehört, dass man Respekt vor ihren eigenen Entscheidungen hat. Diese Eigenverantwortung
ist uns wichtig.
({3})
Wir verfolgen in der Koalition den richtigen Ansatz:
Die Banken sind verpflichtet, bei Übertritt in den Dispokredit einen Warnhinweis zu geben. Das ist gut und
wichtig; denn manche Leute merken das gar nicht. Bei
dauerhafter und erheblicher Inanspruchnahme von entsprechenden Krediten muss eine Beratung über eine kostengünstigere Alternative stattfinden. - Das setzen wir
um; das ist richtig, aber auch ausreichend.
Es gehört zur Ehrlichkeit in dieser Debatte, zu sagen,
dass es der mündige Verbraucher durchaus in der Hand
hat, welche Zinsen in welcher Höhe er bezahlt. Es gibt
zinsgünstige Angebote am Markt. Kollegin Heil hat das
vorhin schon gesagt, und Namen von Banken wurden
bereits genannt. Namhafte Anbieter verzichten bereits
auf die Erhebung eines Zusatzzinses bei der geduldeten
Überziehung eines Dispositionskredites.
Hier muss man einfach sagen: Der Verbraucher ist
aufgerufen, sich zu informieren und den Wettbewerb
zwischen den Banken, den wir in Deutschland Gott sei
Dank haben, zu seinem Vorteil zu nutzen.
Es gilt aber auch: Wenn Banken für Dispokredite
mehr verlangen als für reguläre Darlehen, dann ist das
völlig in Ordnung. Es geht jetzt nicht darum, die Banken
in Schutz zu nehmen,
({4})
aber Unsinn muss man schon richtigstellen. Es ist eben
ein Unterschied, ob man einen Dispokredit oder ein reguläres Darlehen vergibt. Ein Dispokredit ist kurzfristig
nutzbar, flexibel und ohne Bürokratie zu erhalten. Diesen Nutzungsspielraum für den Verbraucher muss man
sich eben mit einem höheren Zinssatz erkaufen. Es gibt
keine Prüfung der Bonität, keine Bearbeitungszeit. Der
Dispokredit kann sofort in Anspruch genommen werden.
Die Risiken dafür müssen von den Banken abgefedert
werden; das ist doch völlig logisch.
({5})
All das muss man doch einmal zusammen sehen. Auch
die Risikokosten für die Limitüberwachung, das Mahnwesen, das Inkasso, das Vorhalten und die Überwachung, all das ist aufwendig.
Die Rechnung, die Sie hier aufmachen, und die Gewinnspannen, von denen Sie reden, sind - Entschuldigung - einfach Unsinn. Es stimmt einfach nicht, wenn
Sie sagen: 0,25 Prozent Refinanzierungskosten für die
Banken bei 11 Prozent Zinsen für die Bankkunden ergeben 11 Prozent Gewinn. - So funktioniert das nicht.
({6})
Es ist unredlich - das will ich abschließend betonen -,
wenn hier immer wieder der Zinssatz der EZB, der Basiszinssatz, in Verbindung mit den Dispokrediten gebracht wird. Es ist doch so, dass sich vor allem Genossenschaftsbanken und Sparkassen nicht in erster Linie
über die EZB refinanzieren; vielmehr refinanzieren sie
sich über ihr Kundengeschäft, nicht über die Notenbank.
Wenn ein Großteil dieser Kundeneinlagen wegen vereinbarter Fristigkeiten überhaupt nicht an den aktuellen
Märkten hängt, dann verbilligen sich auch nicht die Refinanzierungsmittel für die Bank, wenn die EZB die Zinsen senkt; sie verbilligen sich maximal mit einer erheblichen Zeitverzögerung.
Deswegen ist es unredlich, hier einen Zusammenhang
zwischen der Höhe des Leitzinses der EZB und dem Dispozinssatz herzustellen. Auch deswegen werden wir Ihren Antrag heute ablehnen.
({7})
Vielen Dank. - Letzter Redner in der Debatte ist der
Kollege Dr. Carsten Sieling, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn der
EZB-Zins bei 0,25 Prozent liegt und der Dispozins im
Durchschnitt bei über 11 Prozent liegt - da gibt es noch
weitere Extreme -, dann muss man leider davon reden,
dass der Markt hier nicht mehr funktioniert.
({0})
Das ist Marktversagen, gegen das wir vorgehen müssen.
Diese Situation hat es in der Marktwirtschaft in
Deutschland nicht immer gegeben, sondern sie ist nach
2008 entstanden. 2008/2009 hat es die Entwicklung gegeben, dass die Dispozinsen extrem gestiegen, nach
oben geschossen sind, wodurch diese Entkopplung entstanden ist. In den Jahren vorher war das nicht so: Da
gab es eine vernünftige Spannbreite mit einer Differenz
zwischen 5 und 6 Prozent. Das kann man als Risikoprämie und Kostenanteil werten. Das ist eine vernünftige
Höhe.
({1})
Da müssen wir wieder hinkommen. Es ist unsere Aufgabe, politisch darauf hinzuwirken.
({2})
Es gibt einen Unterschied zur letzten Legislaturperiode. In der letzten Legislaturperiode haben wir alle gemeinsam in diesem Haus mühsam versucht, uns die
Situation zu vergegenwärtigen und sie sich uns klarzumachen. Einige hatten mit Blick auf die Banken schon
Vorschläge gemacht, aber wir waren immer noch in der
Situation, dass wir an die Wirtschaft nur appelliert haben. Ich sage noch einmal: 2008 hat das Ganze angefangen. Wir appellieren seit langem an die Wirtschaft, und
es ist leider nichts passiert.
Jetzt ist die Situation eine andere; denn diese Große
Koalition hat erstmalig in den Koalitionsvertrag hineingeschrieben: Wir schauen nicht mehr zu, sondern wir
wollen handeln. - Wir handeln mit den Maßnahmen, die
dargestellt worden sind: Es wird Warnhinweise geben, es
wird eine Verpflichtung geben, anders zu beraten, und
viele andere Dinge mehr. Das ist eine gute politische
Leistung. Ich finde, darüber könnte sich das ganze Haus
freuen. Auch die Opposition könnte sagen: Diese Maßnahmen schützen die Verbraucherinnen und Verbraucher. - Gut, dass wir das in der Großen Koalition so machen.
({3})
Ich will an dieser Stelle auch deutlich sagen, dass wir
uns das ansehen werden. Wir haben hier die verschiedenen Aspekte gehört. Wir werden überprüfen müssen, ob
diese Maßnahmen greifen. Wir haben im Koalitionsvertrag klar festgelegt: Wir sehen das Problem und wollen
es lösen. Dafür schlagen wir entsprechende Wege vor.
Wenn diese Wege nicht zu dem gewünschten Ergebnis
führen und auch unsere verstärkten Appelle nichts bringen - wir sehen sehr wohl, dass verschiedene Banken
auf diese Appelle reagieren -, wenn das alles nicht
fruchtet, dann werden wir über weitere Maßnahmen
nachdenken müssen. Wir haben uns vorgenommen, eine
Koalition zu sein, die den Markt wieder funktionsfähig
macht, die dazu beiträgt, dass die Wirtschaft funktioniert.
Die Spaltung der Zinssätze zeigt ein Marktversagen.
Dagegen müssen wir vorgehen. Notfalls werden wir das
gesetzlich machen müssen - aber nicht jetzt. Vielmehr
müssen wir schauen, ob unsere guten Hinweise und unsere gute Politik ausreichen. Deshalb sage ich zu den
Verbraucherschutzministern: Es ist richtig, dass Sie da3098
rauf hinweisen. Ich freue mich, dass auch die unionsgeführten Verbraucherministerien den Weg in diese Richtung eingeschlagen haben. Das ist doch ein guter
Anfang. Aber erst einmal machen wir das, was wir in der
Koalition vereinbart haben, und dann werden wir sehen,
ob wir auch gesetzlich handeln müssen. Wenn es sein
muss, tun wir das.
Minister Maas und Minister Schäuble haben, finde
ich, heute gute Eckpunkte zur Verbraucherpolitik vorgelegt, die genau in diese Richtung gehen, meine Damen
und Herren. So etwas ging in der letzten Legislaturperiode nicht. Da konnte auch der Bundesfinanzminister
eine solche Politik nicht angehen, weil wir hier noch
eine Fraktion mehr hatten. Die Wählerinnen und Wähler
haben den Bundestag konsolidiert.
({4})
Das stärkt auch den Verbraucherschutz, meine Damen
und Herren.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({5})
Vielen Dank. - Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/807 und 18/1342 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 c auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung
der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Sukzessivadoption durch Lebenspartner
Drucksache 18/841
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Umsetzung der Entscheidung
des Bundesverfassungsgerichts zur Sukzessivadoption durch Lebenspartner
Drucksache 18/1285
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz
({0})
Drucksache 18/1488
b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Volker Beck ({1}), Monika Lazar,
Ulle Schauws, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung des Lebenspartnerschaftsgesetzes und
anderer Gesetze im Bereich des Adoptionsrechts
Drucksache 18/577 ({2})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz
({3})
Drucksache 18/1488
c) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Volker Beck ({4}), Luise Amtsberg,
Katja Keul, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Europäischen Übereinkommen über die Adoption
von Kindern ({5})
Drucksache 18/842
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz
({6})
Drucksache 18/1488
Zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU
und SPD bzw. der Bundesregierung liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor, über
den wir später namentlich abstimmen werden.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Christian Lange für die Bundesregierung.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur
Verfassungswidrigkeit des Verbots der Sukzessivadoption durch Lebenspartner ist bekannt. Das Urteil muss
bis zum 30. Juni dieses Jahres umgesetzt werden. Deshalb haben wir uns mit dem Gesetzentwurf beeilt.
Bei aller Eile müssen wir aber auch ein ordentliches
Verfahren einhalten. Wir haben mit einer Paralleleinbringung dem Bundesrat die Gelegenheit gegeben, im ersten
Durchgang ebenfalls Stellung zu nehmen. Obwohl es
schon mehrere Anhörungen zur Adoption durch Lebenspartner im Bundestag gegeben hat und auch das
Bundesverfassungsgericht sich in seinem Verfahren
durch Sachverständige hat informieren lassen, haben wir
im Rechtsausschuss nochmals Sachverständige angehört. Das hat zu wichtigen Erkenntnissen geführt.
Die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Recht
und Verbraucherschutz nach der Anhörung lautet: Der
Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen soll unverändert
beschlossen werden. Dieser Gesetzentwurf ist eine Einszu-eins-Umsetzung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Das heißt: Die vom Gericht getroffene
Übergangsregelung, wonach die Adoption des angenommenen Kindes des Lebenspartners möglich ist, wird in
das Gesetz aufgenommen.
Eine Sachverständigenanhörung führt nur selten zu
einem einhelligen Ergebnis. Auch bei der SukzessivParl. Staatssekretär Christian Lange
adoption waren sich die Sachverständigen nicht einig.
Für mich ist das wichtigste Ergebnis der Anhörung: Der
Entwurf ist verfassungsgemäß. Das sehen die Sachverständigen in ihrer ganz überwiegenden Mehrheit so; nur
eine Sachverständige ist anderer Auffassung gewesen.
Sie hat mich nicht überzeugen können. Folgte man der
Auffassung dieser Sachverständigen, so wäre auch die
vom Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil gefundene Übergangslösung verfassungswidrig. Das halten
wir für abwegig.
({0})
Zwar haben die vier angehörten Praktikerinnen, die
die Lebenswirklichkeit von Adoptionen kennen, überwiegend eine weitergehende Umsetzung des Urteils für
sinnvoll gehalten. Die Praktikerinnen plädieren mit einer
Ausnahme für die Zulassung der gemeinsamen Adoption
durch Lebenspartner. Die Praktikerinnen unterscheiden
sich darin von den beiden angehörten Staatsrechtlern,
aber auch sie befürworten die Regelungsvorschläge der
Koalitionsfraktionen jedenfalls als zutreffende Umsetzung des verfassungsgerichtlichen Urteils. Auch dies
war unstrittig.
Ich sehe mich deshalb darin bestätigt, dass der Entwurf der Koalitionsfraktionen eine richtige und wichtige
Lösung vorgibt. Vor allem aber hat sie eine gesellschaftspolitische Dimension, die nicht zu unterschätzen
ist.
Lebenspartnerschaften sind längst in der Mitte der
Gesellschaft angekommen. Das hat die Anhörung noch
einmal bestätigt. Und es entspricht schon lange der Realität, dass Kinder von gleichgeschlechtlichen Paaren
großgezogen werden, was ihnen im Übrigen - darüber
besteht Einigkeit - keinesfalls schadet.
({1})
Das ist in der Sachverständigenanhörung noch einmal
eindrucksvoll bestätigt worden. Vielmehr ist davon auszugehen, dass die behüteten Verhältnisse einer Lebenspartnerschaft das Aufwachsen von Kindern ebenso
fördern können wie die einer Ehe. Maßgeblich sind immer die Verhältnisse im Einzelfall, die von Jugendamt
und Gericht sorgfältig geprüft werden.
Der Koalitionsentwurf zur Zulassung der Sukzessivadoption ist also ein wichtiger Schritt. Das Kind erhält,
wenn auch nacheinander, zwei Eltern und dadurch die
Gewissheit, dass ihm zwei Elternteile zur Seite stehen
und im Fall des Verlusts eines Elternteils der andere Elternteil bleibt. Weil das Verhältnis zwischen dem Kind
und dem bislang allein sozialen Elternteil rechtlich anerkannt wird, wird nicht nur deren Verhältnis, sondern die
ganze Familie gestärkt, gerade auch im Hinblick auf ihre
gesellschaftliche Akzeptanz. Die gesellschaftliche Akzeptanz von Familien, in denen die Eltern gleichen Geschlechts sind, ist sehr wichtig für die Entwicklung und
das Wohlbefinden der Kinder, die in solchen Familien
aufwachsen. Noch immer erleben viele von ihnen Diskriminierung oder Stigmatisierung. Die Sachverständigen schilderten in der Anhörung Beispiele. Das zu
beschließende Gesetz wird dazu beitragen, Stigmatisierungen dieser Kinder entgegenzuwirken.
Mit dem Gesetz sorgen wir dafür, dass auch die betreffenden Kinder das bekommen, was alle Kinder brauchen und verdienen, nämlich Eltern.
Herzlichen Dank.
({2})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist der Kollege
Harald Petzold, Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Staatssekretär, Sie setzen die Widersprüchlichkeit der Argumentation, die durch Herrn Minister
Maas bereits in der ersten Lesung vorgetragen wurde,
leider fort. Ich kann seitens meiner Fraktion nur sagen:
Das, was uns hier vorgelegt wurde, ist eine einzige Enttäuschung vor allen Dingen für die Betroffenen.
({0})
Das betrifft sowohl das Verfahren, das hier angewendet
wurde, als auch den Umgang mit der Anhörung und das
Ergebnis, das uns zur Abstimmung vorliegt.
Sie haben das Verfahren richtig beschrieben. In der
Anhörung, die Sie durchgeführt haben, haben fünf von
sieben Sachverständigen darauf hingewiesen, dass Kinder in gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften genauso gut aufwachsen wie in „normalen“ Familien und
dass damit kein Grund gegeben ist, einer Volladoption
den Weg nicht zu ebnen.
({1})
Trotzdem legen Sie uns heute diesen Gesetzentwurf zur
Abstimmung vor.
Sie haben des Weiteren ein Verfahren gewählt, in dem
die Ausschüsse, ohne dass die Ergebnisse der Anhörung
tatsächlich nachvollziehbar vorgelegen haben, schon beraten und entschieden haben. Sie haben die mitberatenden Ausschüsse erst dann beraten lassen, als der federführende Ausschuss schon entschieden hatte. Das kann
ich seitens meiner Fraktion nur als eine Farce betrachten.
({2})
Zur Anhörung selbst. Sie haben uns mit den Professoren Grzeszick und Uhle zwei Herren als Sachverständige
vorgesetzt, die allen Ernstes versucht haben, uns einzureden, dass eine Adoption von Kindern in gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften nicht dem Kindeswohl dient, weil deren Eltern, also Lesben und Schwule,
in der Gesellschaft noch diskriminiert werden. - Wenn
mir mehr Redezeit zur Verfügung stünde, würde ich
diese Aussage längere Zeit wirken lassen. Denn wenn
Sie das zu Ende denken, dann kommen Sie zu dem
Schluss, dass niemand, der in dieser Gesellschaft noch
Harald Petzold ({3})
diskriminiert wird - das sind leider einige -, das Adoptionsrecht wahrnehmen dürfte. Wo leben wir denn,
meine Damen und Herren von der CDU/CSU?
({4})
Von dieser kruden Argumentation ist es wirklich nur ein
ganz kleiner Schritt hin zu dem Vorschlag des russischen
Präsidenten, Lesben und Schwulen die Kinder gleich
wegzunehmen.
({5})
- Das kann ich Sie zurückfragen.
({6})
Solche Sachverständigen sind eine Peinlichkeit für
eine Partei, die mit dem Hinweis plakatiert, dass sie angeblich gleiche Chancen für alle in Europa möchte. Ich
kann nur hoffen, dass die Wählerinnen und Wähler das
am Wochenende entsprechend quittieren werden.
({7})
- Herr Fraktionsvorsitzender, es kann ja sein, dass Sie
meinen Argumenten keinen Wert beimessen.
({8})
- Herr Kauder, hören Sie doch einmal zu! Vergessen Sie
das Atmen nicht! Sie können sich in einer ruhigen Mi-
nute noch einmal die Vorlage Ihrer eigenen Bundesregie-
rung vornehmen. Dort, Herr Kauder, ist die Stellung-
nahme des Bundesrates angefügt. In der Stellungnahme
steht:
b) Der Bundesrat stellt … fest, dass die vorgese-
hene Gesetzesänderung dem Ziel der völligen
rechtlichen Gleichstellung der eingetragenen Le-
benspartnerschaften … nicht hinreichend Rechnung
trägt, …
c) Der Bundesrat bittet daher, im weiteren Gesetzgebungsverfahren zu prüfen, inwieweit eine weitergehende Gleichbehandlung von eingetragenen Lebenspartnerschaften im Adoptionsrecht erreicht
werden kann.
Ich kann Ihnen nur empfehlen, diese Bitte des Bundesrates tatsächlich ernst zu nehmen und endlich umzusetzen.
({9})
Am vergangenen Dienstagabend lief im Fernsehen
ein bemerkenswerter Film, er ist Oscar-prämiert: The
Kids Are All Right. Ich kann allen empfehlen, sich diesen
Film anzuschauen. Er handelt von einer Regenbogenfamilie. In dem Film ist deutlich zu sehen, dass die Kinder
in dieser Familie aufwachsen wie in allen normalen Familien auch, dass sie vor allen Dingen weder lesbisch
noch schwul werden, dadurch dass sie in einer lesbischen Partnerschaft aufwachsen, und dass dies dem Kindeswohl kein bisschen schadet.
Es mag sein, dass Sie von der Koalition glauben, mit
dem uns heute vorgelegten Gesetz noch einmal Zeit gewonnen zu haben und an alten Zöpfen weiterflechten zu
können. Ich sage Ihnen: Sie halten uns sowieso nicht auf.
We are unstoppable - das ist nicht erst seit letztem Wochenende ein geflügelter Satz geworden. Er wird den
Weg in die Gesellschaft antreten. Ich kann Sie nur auffordern: Sorgen Sie endlich für Gleichstellung, und stellen Sie sich der gesellschaftlichen Realität!
Vielen Dank.
({10})
Nächste Rednerin ist Frau Dr. Sabine SütterlinWaack, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir beschäftigen uns heute in abschließender Beratung
mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Umsetzung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
zur Sukzessivadoption durch Lebenspartner sowie mit
dem Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen, der die
gemeinschaftliche Volladoption durch gleichgeschlechtliche Partnerschaften festschreiben will.
Um drei Dinge gleich vorwegzunehmen: Erstens. Wir
sollten dieses Thema, bei dem es um die schwächsten
Mitglieder unserer Gesellschaft geht, nicht als Vehikel
- das ist eben schon wieder geschehen - für eine Grundsatzdiskussion über die Gleichstellung homosexueller
Paare missbrauchen.
({0})
Zweitens. Wir sollten nicht im Rahmen der jetzt anstehenden Entscheidung eine Diskussion über das Recht
auf ein Kind führen. Dieses Recht gibt es nämlich nicht,
für keinen, und zwar unabhängig von seiner sexuellen
Identität.
({1})
Das Adoptionsrecht ist ein Recht für die Kinder, die aus
unterschiedlichen Gründen nicht bei ihren leiblichen Eltern leben können. Für sie wird eine geeignete Ersatzfamilie gesucht, in der sie möglichst unbeschwert aufwachsen können. Nur für sie müssen wir das Gesetz
ändern.
Drittens. Wir werden den Gesetzentwürfen von Bündnis 90/Die Grünen nicht zustimmen, und zwar aus folgenden Gründen: Auch nach der geltenden Rechtslage
können Kinder schon heute bei gleichgeschlechtlichen
Eltern aufwachsen. Allerdings besitzt nur ein Elternteil
die Elternrechte. Das wollen wir mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf ändern. Die Zahl der Kinder, für die wir
diese Regelung beschließen, ist gering. Ich halte es trotzdem für richtig, dass wir für diese Kinder die bestmögliche rechtliche Situation schaffen. Bei der überwiegenden
Zahl der Adoptionen in homosexuellen Partnerschaften
handelt es sich im Übrigen um Stiefkindadoptionen, also
um die Annahme des leiblichen Kindes des Partners.
Die entscheidenden beiden Fragen, die in diesem Zusammenhang immer wieder gestellt werden, sind folgende: Warum lassen Sie eigentlich die Sukzessivadoption für Gleichgeschlechtliche zu, die gemeinschaftliche
Volladoption aber nicht? Und: Wachsen die Kinder in einer homosexuellen Beziehung genauso gut auf wie in einer heterosexuellen?
({2})
Zunächst zur ersten Frage. Die Sukzessivadoption ist
ein Sonderfall im Rahmen der Adoptionen. Sie ist auch
nicht das, was uns die Opposition immer wieder berichtet, nämlich eine verkappte Volladoption, da sie ja in
zwei Schritten dicht aufeinanderfolgend durchgeführt
werden kann. Ja, diese Möglichkeit gibt es. Sie ist aber
nicht die Regel. Jedenfalls liegt sie nicht der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zugrunde. Dort
handelt es sich im ersten Fall um ein im Jahr 2000 geborenes Kind, das im November 2002 das erste Mal adoptiert wurde. Nach Begründung der eingetragenen Lebenspartnerschaft im Dezember 2002 wollte der
Lebenspartner des Adoptivvaters das Kind adoptieren.
Der zweite Fall betrifft ein 1999 geborenes Kind, das
im Juli 2004, also fünf Jahre später, erstmals adoptiert
wurde und irgendwann nach der im Oktober 2005 begründeten eingetragenen Lebenspartnerschaft von der
Partnerin der Adoptivmutter angenommen werden
sollte. Das Gericht hatte - das ist sehr wichtig - also nur
über zwei echte Sukzessivadoptionen zu entscheiden.
Schon aus dem zeitlichen Ablauf wird der Unterschied zur Volladoption deutlich. Die betroffenen Kinder
hatten schon vor der zweiten gewünschten Adoption
eine soziale und rechtliche Bindung zum Adoptivvater
bzw. zur Adoptivmutter; denn sie lebten schon eine Zeit
lang mit dem ersten Adoptivelternteil zusammen. Sie bekommen durch die Sukzessivadoption einen zweiten Elternteil mit allen Rechten und Pflichten hinzu. Sie geben
allerdings keine Rechte auf. Sie haben nach der Sukzessivadoption mehr Rechte als vorher, nämlich insbesondere Erb- und Unterhaltsrechte, und - auch das ist wichtig - sie fühlen sich mit anderen Kindern gleichwertig.
Sie haben nun ebenfalls zwei rechtliche Elternteile.
Ganz anders ist es hingegen bei der Volladoption.
Dort werden durch die Adoption die bestehenden
Rechtsbeziehungen zu den leiblichen Eltern gekappt.
Die Kinder kommen in eine neue Familie, und zwar belastet mit der Trennung von den leiblichen Eltern.
Jetzt kommen wir zur zweiten Frage. Diese Kinder
müssen Diskriminierungen, die es unstreitig immer noch
gibt, aushalten, Diskriminierungen wegen der von vielen
Menschen immer noch als besonders empfundenen Situation in den sogenannten Regenbogenfamilien. Wir
müssen uns nun fragen, ob diese Diskriminierungen so
schwer wiegen, dass es uns unsere staatliche Wächterfunktion hinsichtlich des Kindeswohls verbietet, Kinder
in eine für sie unbekannte homosexuelle Partnerschaft zu
geben.
({3})
Denn, meine Damen und Herren, wir müssen uns immer
vor Augen halten, dass die Adoption generell ein staatlicher Hoheitsakt ist, der Grundrechtseingriffe beinhaltet.
Jetzt komme ich zu der oft zitierten Studie der Universität Bamberg aus dem Jahr 2009. Genau diese ist bei
Fachleuten umstritten, auch in einer der Stellungnahmen, die das Bundesverfassungsgericht für seine Entscheidung einholte. Der Studie fehlt es an allgemeingültigen Aussagen über männliche gleichgeschlechtliche
Partnerschaften. Sie machten nur 7 Prozent der befragten
Paare aus. Diese Studie hat darüber hinaus weitere empirische Schwächen. Sie lässt keine Entwicklungsaussagen
zu. Kindeswohlaspekte werden nicht aussagefähig untersucht. Sie setzt sich nicht mit kritischen Stimmen auseinander.
({4})
- Dazu kommen wir gleich. - Kurz, diese Studie ist zur
Beantwortung unserer Frage einfach nicht ausreichend
geeignet.
({5})
Genau das wurde auch in der öffentlichen Anhörung
durch zwei Sachverständige bestätigt.
({6})
Sie kritisierten, dass die Frage, welche Folgen das Aufwachsen von Kindern in gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften langfristig hat, nicht ausreichend
wissenschaftlich untersucht worden sei. Die Sachverständigen vermissten in der Studie vor allem Aussagen
zu möglichen Diskriminierungs- und Stigmatisierungserfahrungen der Kinder.
({7})
- Ja, zwei.
Auch wenn die Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften in unserer Gesellschaft zunimmt,
reagieren Teile der Gesellschaft immer noch mit Vorurteilen, Ausgrenzungen und Benachteiligungen gegenüber eingetragenen Lebenspartnerschaften. Nach dieser
Studie sind circa 45 bis 50 Prozent der befragten Kinder
von derartigen Diskriminierungen betroffen. Sie sind
dieser Situation oft relativ schutzlos ausgeliefert.
({8})
Ich möchte noch einen weiteren Aspekt erwähnen.
Das Gericht befasst sich in seiner Entscheidung ausschließlich mit der Sukzessivadoption und verpflichtet
den Gesetzgeber nicht, die gemeinschaftliche Volladoption zuzulassen. Die beiden bereits erwähnten Hochschullehrer, beides übrigens Verfassungsrechtler, haben
während der Anhörung ausdrücklich erwähnt, dass der
Gesetzgeber in dieser Sache Entscheidungsspielraum
hat.
({9})
Weiterhin muss bei der Gesamtbeurteilung berücksichtigt werden, dass es Richtlinien zur Adoption gibt,
die Kriterien festlegen, nach denen Eltern auszuwählen
sind, bei denen möglichst wenig weitere Belastungen zu
erwarten sind. Denn im Großen und Ganzen geht es einzig und allein darum, dem Kind eine problemlose Entwicklung zu ermöglichen, die nur durch den Ausschluss
aller denkbaren Risikofaktoren erreicht werden kann.
Meine Damen und Herren, wir müssen uns vor Augen
halten, dass die staatliche Gemeinschaft in Form von
Adoptionsbehörden und Familiengerichten über einen
wesentlichen Teil der Zukunft der betroffenen Kinder entscheidet. Wir haben mit der Neuregelung der entsprechenden Normen eine große Verantwortung. Diese nehmen wir
wahr. Ich bitte darum - auch die verehrten Kolleginnen
und Kollegen der Opposition -, auch diejenigen, die mit
diesem Thema die vielzitierten Bauchschmerzen haben,
ernst zu nehmen, ihnen ihr Verantwortungsbewusstsein
abzunehmen und sie nicht als Ewiggestrige zu verdammen.
Bedenken muss man auch, dass uns das Bundesverfassungsgericht eine sehr enge zeitliche Vorgabe gesetzt
hat, bei der nicht alle dargestellten Aspekte berücksichtigt werden konnten. Wir haben also noch nicht die notwendige Sicherheit, um der Volladoption zuzustimmen.
Die Empfehlung aus der Sachverständigenanhörung,
eine neue, aussagekräftigere wissenschaftliche Studie als
Entscheidungsgrundlage hinzuzuziehen, werden wir
weiter erörtern.
Danke schön.
({10})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Ulle Schauws,
Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In der Anhörung des Rechtsausschusses am 5. Mai waren die Sachverständigen einhellig der Meinung, dass allein das Kindeswohl Maßstab der Adoption sein darf.
Ich glaube, darüber sind auch wir uns hier alle einig,
liebe Kolleginnen und Kollegen.
Die Mehrheit der von Ihnen, von Union und SPD,
eingeladenen Sachverständigen hat im Rechtsausschuss
aber auch klar gesagt, die sexuelle Orientierung der Eltern sei für die Entwicklung eines Kindes unbedeutend;
entscheidend sei vielmehr die Qualität und Festigkeit einer Partnerschaft.
Und auch das Bundesverfassungsgericht hat in seiner
Entscheidung vom 19. Februar bejaht, dass Lebenspartner gute Eltern sind. Es wies unmissverständlich Bedenken zurück, dass Kindern das Aufwachsen mit gleichgeschlechtlichen Eltern schaden könnte. Es ist vielmehr
- ich zitiere - „davon auszugehen, dass die behüteten
Verhältnisse einer eingetragenen Lebenspartnerschaft
das Aufwachsen von Kindern ebenso fördern können
wie in einer Ehe“.
Wenn also nach der überwiegenden Auffassung das
Kindeswohl bei einer Adoption durch gleichgeschlechtliche Partner nicht gefährdet ist, frage ich mich, warum
nach Ihrem Gesetzentwurf im Ergebnis Ehegatten nur
gemeinschaftlich, aber nicht einzeln, Lebenspartner dagegen nur einzeln, aber nicht gemeinschaftlich ein Kind
adoptieren dürfen.
({0})
Das ist nicht nur völlig absurd und widerspricht dem gesunden Menschenverstand; Sie verstoßen mit Ihrem Gesetzentwurf meines Erachtens und unseres Erachtens
sehr wohl auch gegen die Verfassung, und zwar doppelt:
({1})
Erstens verstoßen Sie gegen Artikel 3 des Grundgesetzes.
Sie benachteiligen adoptierte Kinder in einer Lebenspartnerschaft und die Lebenspartnerinnen und -partner durch
Verweigerung der gemeinschaftlichen Adoption. Zweitens verstoßen Sie gegen Artikel 6 des Grundgesetzes;
denn Sie benachteiligen bei der Ausgestaltung der Sukzessivadoption Ehepaare gegenüber Lebenspartnerschaften, weil Ehegatten anders als Lebenspartner ein Kind
nicht alleine adoptieren dürfen.
Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, zeigt doch eines ganz klar: Der Diskriminierungswille der Union gegenüber Lesben und Schwulen geht so weit, dass Sie für
die Benachteiligung der Lebenspartner an anderer Stelle
Ehen gegenüber Lebenspartnerschaften benachteiligen.
({2})
Meine Damen und Herren, das ist eine Bankrotterklärung der großkoalitionären Rechtspolitik, und der Herr
Bundesjustizminister macht das klaglos mit.
Was bewegt Sie also, diesen mutlosen und nach meiner Auffassung zudem verfassungswidrigen Gesetzentwurf vorzulegen? Wie groß ist die Abneigung bei Ihnen
gegenüber Lesben und Schwulen, dass Sie mit Händen
und Füßen jegliche Form von rechtlicher Gleichstellung
immer wieder abwehren, dass Sie das Bundesverfassungsgericht, das ausdrücklich keinen Unterschied zwischen Ehen und eingetragenen Lebenspartnerschaften in
Bezug auf die Adoption macht, immer wieder ignorieren
und dass Sie die mehrheitlich befürwortende Meinung in
unserer Gesellschaft für gleiche Rechte für Lesben und
Schwule ausblenden?
Ich nenne es mal beim Namen: Es geht hier um Ihre
Angst. Es geht um Ihre Angst, dass Menschen, die ganz
normal lesbisch und schwul lieben und leben und ganz
selbstverständlich Verantwortung für Kinder tragen,
({3})
mit Ehegatten in der traditionellen Ehe auf Augenhöhe
kommen.
({4})
Es geht hier schlicht um Homophobie. Es geht um die
Fortsetzung von Diskriminierung, und die hat in einem
Gesetz nichts zu suchen. Ihr Gesetzentwurf ist gerade
jetzt, wo homophobe Strömungen in ganz Europa Zulauf
haben, durchaus auch politisch brisant. Denn sie halten
damit Türen offen für Vorurteile gegenüber Lesben und
Schwulen.
Ich finde, es ist jetzt an der Zeit, Gleichbehandlung
aktiv zu fördern und ein klares Bekenntnis zu Toleranz
und demokratischen Grundwerten abzugeben. Aber was
tun Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD?
Von Ihrem Versprechen „100 Prozent Gleichstellung nur
mit uns“ sind heute genau 0 Prozent geblieben.
({5})
Wie glaubwürdig sind Ihre Lippenbekenntnisse vom Internationalen Tag gegen Homophobie? Was wollen Sie
beim nächsten CSD denn zu diesem Gesetzentwurf sagen?
Darum appelliere ich an Sie alle: Entscheiden Sie sich
für das Kindeswohl. Entscheiden Sie sich für unser
Grundgesetz und für die dort verankerte Gleichheit aller
Menschen. Sprechen Sie heute Lesben, Schwulen und
ihren Kindern den Respekt aus, den sie verdienen, und
stimmen Sie unserem grünen Gesetzentwurf zu.
Vielen Dank.
({6})
Vielen Dank. - Das Wort hat jetzt Dr. Karl-Heinz
Brunner, SPD.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Positive zuerst: Wir, die Koalition von SPD
und Union, werden die bestehenden Diskriminierungen
von gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften, auch
wenn Sie das nicht glauben, beenden. Wir werden die Regelungen, die gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften schlechterstellen, ebenfalls beseitigen. - So steht es im
Koalitionsvertrag. Das bleibt für uns Sozialdemokraten
das Ziel. Glauben Sie uns: Es war nicht leicht, das zu vereinbaren. Insofern danke ich den Kolleginnen und Kollegen der Union, die dies ermöglicht haben. Ich sage das bewusst auch an die Adresse der Kolleginnen und Kollegen
der CSU, denen das besonders schwergefallen ist.
({0})
Damit steht die Agenda fest: rechtliche Gleichstellung für alle Menschen, egal ob hetero, schwul, bi oder
lesbisch. Niemanden zu diskriminieren oder ungleich zu
behandeln - eine Selbstverständlichkeit im 21. Jahrhundert, über die wir eigentlich nicht diskutieren müssten.
Dies, so sage ich, bringen wir auf den Weg und werden
wir auf der Agenda halten.
Gestatten Sie mir, verehrte Kolleginnen und Kollegen
der Union, Folgendes zu sagen: Bis es so weit kommt,
werden Sie uns dazu schon noch etwas liefern müssen.
Wir wollten bereits zum jetzigen Zeitpunkt eine einfache
Regelung schaffen und das Wort „Ehe“ durch „Lebenspartnerschaft“ ersetzen, um die Volladoption zu ermöglichen. Ich glaube aber, wir kommen noch auf einen
guten Weg, wenn wir uns vernünftig austauschen.
Darum und um die Gleichstellung von Schwulen und
Lesben, von Bi- und Gendermenschen in unserer Gesellschaft geht es heute jedoch nicht. Heute geht es, auch
wenn die Sachverständigen der Anhörung uns überwiegend eine große Lösung vorgeschlagen haben, nur um
die Kinder, nur um die Adoption, genauer um die Sukzessivadoption. Den Kindern - das hat die Anhörung
zweifelsfrei geklärt; das ist der Unterschied zum Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen - ist es herzlich
egal, ob sie ein oder zwei Mütter oder Väter haben. Für
sie zählt allein die Liebe, die Geborgenheit, egal ob von
leiblichen Eltern, Pflegeeltern oder Adoptiveltern.
({1})
Glauben Sie mir, Kolleginnen und Kollegen, Felix
und Lena - nennen wir sie einmal so - machen keinen
Unterschied, von wem sie Trost bekommen, wenn das
Knie aufgeschürft ist. Genau das - Verantwortung, Fürsorge und stabile Familienverhältnisse zugunsten des
Kindeswohls - verlangt unser Bundesverfassungsgericht
zu Recht, bis zum 30. Juni dieses Jahres gesetzlich zu regeln. Das setzen wir jetzt um - nicht weniger, aber leider
auch nicht mehr.
Meine Kolleginnen und Kollegen, der Gesetzentwurf
der Grünen unterstellt gleichzeitig, dass der Gesetzentwurf der Bundesregierung und der Koalition in zwei Fällen verfassungswidrig sei. Ich sage ganz offen: Dem
kann man in keinem Falle zustimmen; denn das Bundes3104
verfassungsgericht selbst kann nicht das, was es im Urteil gefordert hat, für verfassungswidrig erklären. Wir
befassen uns nicht mit der Verfassungswidrigkeit im
Verhalten der Menschen in dieser Gesellschaft, sondern
wir befassen uns nur mit der Sukzessivadoption.
Lassen Sie uns doch alle miteinander den Weg gehen,
die Ungleichbehandlung zu beseitigen - nicht vor Gerichten, sondern hier im Hohen Hause. Wir Sozialdemokraten stehen dazu. Wir wollen die Gleichstellung ohne
Wenn und Aber. Wir werden dabei nicht lockerlassen.
Vielen Dank.
({2})
Nächster Redner ist Dr. Volker Ullrich, CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es sei noch
einmal daran erinnert, dass es bei der heutigen Debatte
um die Verwirklichung von Kindeswohl geht und dass
einzig und allein das Schicksal der Kinder im Mittelpunkt der Debatte zu stehen hat. Natürlich können wir
auch eine Debatte über Toleranz und Gleichstellung führen. Wenn wir aber über Toleranz reden, ist es - das
muss ich ehrlicherweise sagen - schon unerträglich, dass
Sie Toleranz zwar einfordern, dann aber die Gutachten
zweier renommierter Wissenschaftler als peinlich bezeichnen. Das hat mit Toleranz nichts zu tun!
({0})
Mit Toleranz hat es auch nichts zu tun, werte Kollegin
Schauws, dass Sie der Union hier Diskriminierungswillen unterstellen. Wir haben keinen Diskriminierungswillen. Wir haben den Willen, die Rechte von Kindern zu
verbessern und die Eingliederung von Kindern in Familien zu stärken. Das ist unser Wille! Wenn Sie uns Diskriminierungswillen unterstellen, spielen Sie mit der
Angst. Sie verwenden Zitate, die Sie hier besser nicht
vorgetragen hätten.
({1})
In gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften werden Werte gelebt, die für den Zusammenhalt dieser Gesellschaft wichtig sind. Sie geben uns Stabilität. Die gelebte Solidarität ist wichtig und entspricht auch dem
christlichen Menschenbild. Die Frage der Gleichstellung
von gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften eignet sich aber nicht, um über die Adoption zu sprechen;
denn bei der Adoption sind immer auch Dritte, nämlich
Kinder, im Spiel. Es gibt kein Recht auf ein Kind, um
Gleichstellung zu erzwingen, sondern es gibt nur das
Recht des Kindes, in Familien aufzuwachsen, in denen
die Kinder betreut werden.
({2})
Sie dürfen deswegen auch nicht den Fehler machen
- er erschließt sich leicht auch schon bei oberflächlicher
Betrachtung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts -,
dass Sie die Volladoption mit der Sukzessivadoption
gleichsetzen. Das ist nämlich dem Wesen und der Abfolge nach etwas völlig anderes. Bei der Sukzessivadoption hat ein Lebenspartner schon eine rechtliche und
emotionale Beziehung zu dem Kind, die sich verfestigt
hat und tatsächlich gelebt wird. Durch die anschließende
Adoption bekommt das Kind ein Mehr an Rechten und
Möglichkeiten, sich gegen widrigste Lebenslagen abzusichern. Es bekommt Erb- und Unterhaltsrechte sowie das
Recht auf Besuch und Umgang. Wir stärken damit also
ausschließlich die Rechte von Kindern. Deswegen ist es
- da will ich widersprechen - der CSU nicht schwergefallen, dem zuzustimmen. Überall dort, wo die Rechte von
Kindern verbessert werden, fällt es der CSU leicht, zuzustimmen.
({3})
Nur: Die Frage der Volladoption ist davon zu trennen.
Bei der Volladoption besteht nämlich kein rechtliches
und emotionales Band zwischen dem zu adoptierenden
Kind und dem Lebenspartner, sondern diese rechtlichen
und tatsächlichen Bindungen werden neu geknüpft. Deswegen ist das ein völlig neuer juristischer Ansatz.
({4})
Es ist dem Gesetzgeber unbenommen, dass er dort,
wo Ansatzpunkte für eine Differenzierung bestehen,
auch seinen gesetzgeberischen Spielraum wahrnimmt.
Deswegen, meine Damen und Herren, ist es eine richtige
gesetzgeberische Grundsatzentscheidung, zu sagen: Wir
setzen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts getreu
den Vorgaben um. Weiterhin ist uns im Rahmen unseres
Ermessensspielraums unbenommen, zu sagen: Die Vergleichbarkeit zwischen Volladoption und Sukzessivadoption ist eben nicht gegeben. Deswegen kann der Gesetzgeber hier mit Fug und Recht eine Differenzierung
vornehmen.
Ich appelliere an Sie: Stimmen Sie dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zu, weil er ein Mehr für die
Rechte der Kinder bedeutet. Ich bitte Sie, dem Gesetzentwurf zuzustimmen, weil es der richtige Weg ist, die
Sukzessivadoption zuzulassen. Ich bitte Sie auch, alles
andere jetzt nicht zu entscheiden, weil dafür die Grundlage fehlt, weil die Expertise fehlt und weil es im Augenblick nicht notwendig ist. Lassen Sie uns diesem Gesetzentwurf zum Wohle der Kinder zustimmen. Lassen Sie
uns in diesem Sinne tolerant sein und für die Rechte der
Kinder eine gute und tragfähige Lösung schaffen.
Herzlichen Dank.
({5})
Vielen Dank. - Letzter Redner in der Debatte ist der
Kollege Johannes Kahrs, SPD.
({0})
Geschätzte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Frau Kollegin Sütterlin-Waack, Herr Kollege
Ullrich, wir sprechen hier über Gleichstellung. Kinder
sind kein Vehikel zur Gleichstellung, sondern entweder
man ist gleich oder man ist es nicht. Sie haben vollkommen recht: Es gibt kein Recht auf ein Kind - logischerweise. Es geht uns nur darum, dass man gleichbehandelt
wird, dass man sich wie jeder andere um eine Adoption
bewerben kann. Fachlich entscheidet das sowieso das
Jugendamt.
({0})
Es geht hier nur darum, sich wie jeder andere bewerben
zu dürfen. Also geht es bei dieser Frage um Gleichstellung.
In dem diesbezüglichen Urteil des Bundesverfassungsgerichtes steht:
Unterschiede zwischen Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft, welche die ungleiche Ausgestaltung der Adoptionsmöglichkeiten rechtfertigen
könnten, bestehen nicht …
({1})
Ich finde, das kann man sich auf der Zunge zergehen lassen. Das ist eine klare Ansage.
Ich persönlich werde heute dem Gesetzentwurf zustimmen, weil er ein Mehr an Rechten ermöglicht.
Gleichzeitig werde ich dem Änderungsantrag der Grünen zustimmen, weil der Antrag Gleichstellung fordert.
Ich möchte aber darauf hinweisen: Über die Begründung
wird nicht abgestimmt. Denn die Begründung ist latent
grenzwertig.
In der Sache ist es richtig, dass wir alle für Gleichstellung streiten. Meine Freundinnen und Freunde der SPD
werden dem Änderungsantrag nicht zustimmen - einige
werden sich enthalten -, weil wir einen Koalitionsvertrag mit der CDU/CSU abgeschlossen haben. An Verträge hält man sich. In diesem Koalitionsvertrag stehen
Dinge, die wir sehr gut finden. Es gibt aber auch Dinge,
die die CDU/CSU gut findet. In diesem Fall bitte ich
mich zu entschuldigen.
Wenn man sich die Gesetzentwürfe ansieht, dann
stellt man fest: Wir Sozialdemokraten stehen für die
Gleichstellung von Lesben und Schwulen. Wir glauben,
dass es eine Gleichstellung bei der Ehe und auch in der
Frage der Adoption geben muss - Artikel 3 Grundgesetz. Ich persönlich habe seit 1998 zusammen mit vielen
Freunden in der SPD und bei den Grünen die Gleichstellung vorangetrieben, und das Bundesverfassungsgericht
hat in unserem Sinne entschieden.
Auch bei der letzten Großen Koalition haben wir etwas erreicht. Im Kern ist es so, dass es mit der CDU/
CSU nur schrittweise vorangeht. Herr Kauder, als Koalitionspartner ein guter Tipp von mir: Auch in Ihren eigenen Reihen bröckelt es. Räumen Sie das Thema doch
einfach ab!
({2})
Die Gesellschaft hat Sie überholt. Es ist anders. Sie wissen es; Ihre Wähler wissen es. In der Sache wäre es für
alle Beteiligten einfacher. Ich könnte Sie jetzt fragen,
wann Sie sich entschieden haben, heterosexuell zu sein.
Ich habe mich nie entschieden, homosexuell zu sein.
Aber ich bin es, und ich möchte gleichberechtigt sein.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank. - Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die von den Frak-
tionen der CDU/CSU und SPD sowie von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwürfe eines Gesetzes zur
Umsetzung der Entscheidung des Bundesverfassungsge-
richts zur Sukzessivadoption durch Lebenspartner.
Zu diesen Abstimmungen liegen zahlreiche Erklärun-
gen nach § 31 Absatz 1 der Geschäftsordnung vor.1)
Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz emp-
fiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/1488, den Gesetzentwurf der Fraktionen
der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/841 sowie
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Druck-
sache 18/1285 zusammenzuführen und anzunehmen.
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/1494 vor, über
den wir zuerst abstimmen. Wir stimmen nun über den
Änderungsantrag auf Verlangen der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen namentlich ab.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind die Plätze an
den Urnen besetzt? - Oben rechts fehlt noch ein Schrift-
führer oder eine Schriftführerin. - Sind jetzt alle Plätze
besetzt? - Ich eröffne die Abstimmung.
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme noch nicht abgegeben hat? - Haben alle anwe-
senden Mitglieder des Bundestages ihre Stimme abgege-
ben?2) - Das ist der Fall. Ich schließe die Abstimmung
und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit
der Auszählung zu beginnen. Bis zum Vorliegen des Ergebnisses der namentlichen Abstimmung unterbreche
ich die Sitzung.
({0})
1) Anlagen 4, 5 und 6
2) Ergebnis Seite 3106 C
Die unterbrochene Sitzung wird wieder eröffnet. Ich
bitte Sie alle, Platz zu nehmen.
Ich gebe Ihnen das von den Schriftführerinnen und
Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen
Abstimmung über den Änderungsantrag der Abgeordneten Volker Beck, Ulle Schauws, Luise Amtsberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen zu der zweiten Beratung des Gesetzentwurfs der
Bundesregierung - Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
zur Sukzessivadoption durch Lebenspartner - bekannt:
abgegebene Stimmen 563. Mit Ja haben gestimmt 111,
mit Nein haben gestimmt 432, Enthaltungen 20. Der Änderungsantrag ist damit abgelehnt.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 563;
davon
ja: 111
nein: 432
enthalten: 20
Ja
CDU/CSU
Cajus Caesar
SPD
Hilde Mattheis
Frank Schwabe
Christoph Strässer
DIE LINKE
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Klaus Ernst
Diana Golze
Annette Groth
Dr. Gregor Gysi
Dr. André Hahn
Inge Höger
Andrej Hunko
Sigrid Hupach
Ulla Jelpke
Katja Kipping
Jan Korte
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Cornelia Möhring
Niema Movassat
Thomas Nord
Harald Petzold ({0})
Richard Pitterle
Martina Renner
Michael Schlecht
Dr. Petra Sitte
Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Axel Troost
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Jörn Wunderlich
Hubertus Zdebel
Pia Zimmermann
({1})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Luise Amtsberg
Kerstin Andreae
Annalena Baerbock
Katja Dörner
Harald Ebner
Dr. Thomas Gambke
Matthias Gastel
Anja Hajduk
Dr. Anton Hofreiter
Dieter Janecek
Uwe Kekeritz
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Stephan Kühn ({2})
Christian Kühn ({3})
Markus Kurth
Monika Lazar
Steffi Lemke
Nicole Maisch
Peter Meiwald
Beate Müller-Gemmeke
Özcan Mutlu
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Cem Özdemir
Lisa Paus
Tabea Rößner
Claudia Roth ({4})
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Kordula Schulz-Asche
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Dr. Julia Verlinden
Dr. Valerie Wilms
Nein
CDU/CSU
Stephan Albani
Katrin Albsteiger
Artur Auernhammer
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Maik Beermann
Manfred Behrens ({5})
Veronika Bellmann
Sybille Benning
Dr. André Berghegger
Dr. Christoph Bergner
Ute Bertram
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Gitta Connemann
Alexandra Dinges-Dierig
Michael Donth
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Hansjörg Durz
Jutta Eckenbach
Hermann Färber
Uwe Feiler
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer ({6})
Axel E. Fischer ({7})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Thorsten Frei
Dr. Astrid Freudenstein
Dr. Hans-Peter Friedrich
({8})
Michael Frieser
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Dr. Peter Gauweiler
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Cemile Giousouf
Josef Göppel
Reinhard Grindel
Ursula Groden-Kranich
Hermann Gröhe
Klaus-Dieter Gröhler
Michael Grosse-Brömer
Astrid Grotelüschen
Markus Grübel
Manfred Grund
Oliver Grundmann
Monika Grütters
Dr. Herlind Gundelach
Fritz Güntzler
Christian Haase
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Mark Hauptmann
Dr. Stefan Heck
Helmut Heiderich
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Frank Heinrich ({9})
Mark Helfrich
Jörg Hellmuth
Peter Hintze
Christian Hirte
Dr. Heribert Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Dr. Hendrik Hoppenstedt
Margaret Horb
Bettina Hornhues
Charles M. Huber
Anette Hübinger
Erich Irlstorfer
Thomas Jarzombek
Sylvia Jörrißen
Andreas Jung
Dr. Franz Josef Jung
Xaver Jung
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Alois Karl
Anja Karliczek
Bernhard Kaster
Volker Kauder
Dr. Georg Kippels
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Markus Koob
Carsten Körber
Hartmut Koschyk
Kordula Kovac
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Dr. Roy Kühne
Günter Lach
Uwe Lagosky
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Silke Launert
Dr. Katja Leikert
Dr. Andreas Lenz
Philipp Graf Lerchenfeld
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Andrea Lindholz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Wilfried Lorenz
Dr. Claudia Lücking-Michel
Daniela Ludwig
Karin Maag
Yvonne Magwas
Thomas Mahlberg
Gisela Manderla
Matern von Marschall
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({10})
Reiner Meier
Dr. Michael Meister
Jan Metzler
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Karsten Möring
Dr. Gerd Müller
Carsten Müller
({11})
Stefan Müller ({12})
Dr. Philipp Murmann
Dr. Andreas Nick
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Wilfried Oellers
Florian Oßner
Dr. Tim Ostermann
Ingrid Pahlmann
Sylvia Pantel
Martin Patzelt
Ulrich Petzold
Sibylle Pfeiffer
Ronald Pofalla
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Kerstin Radomski
Alexander Radwan
Alois Rainer
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Erwin Rüddel
Anita Schäfer ({13})
Dr. Wolfgang Schäuble
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Heiko Schmelzle
Christian Schmidt ({14})
Gabriele Schmidt ({15})
Patrick Schnieder
Nadine Schön ({16})
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Dr. Klaus-Peter Schulze
Uwe Schummer
Armin Schuster ({17})
Christina Schwarzer
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Johannes Singhammer
Tino Sorge
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Dr. Wolfgang Stefinger
Albert Stegemann
Peter Stein
Erika Steinbach
Sebastian Steineke
Johannes Steiniger
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Rita Stockhofe
Stephan Stracke
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Karin Strenz
Thomas Stritzl
Thomas Strobl ({18})
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Astrid Timmermann-Fechter
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Oswin Veith
Thomas Viesehon
Michael Vietz
Volkmar Vogel ({19})
Christel Voßbeck-Kayser
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Nina Warken
Albert Weiler
Marcus Weinberg ({20})
Dr. Anja Weisgerber
Peter Weiß ({21})
Sabine Weiss ({22})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Marian Wendt
Kai Whittaker
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese ({23})
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Oliver Wittke
Dagmar G. Wöhrl
Barbara Woltmann
Tobias Zech
Heinrich Zertik
Emmi Zeulner
Dr. Matthias Zimmer
Gudrun Zollner
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Heike Baehrens
Ulrike Bahr
Dr. Katarina Barley
Dr. Hans-Peter Bartels
Dr. Matthias Bartke
Sören Bartol
Bärbel Bas
Dirk Becker
Lothar Binding ({24})
Burkhard Blienert
Dr. Karl-Heinz Brunner
Marco Bülow
Martin Burkert
Dr. Lars Castellucci
Petra Crone
Dr. Karamba Diaby
Sabine Dittmar
Siegmund Ehrmann
Michaela Engelmeier-Heite
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Saskia Esken
Karin Evers-Meyer
Dr. Fritz Felgentreu
Elke Ferner
Christian Flisek
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Michael Gerdes
Martin Gerster
Ulrike Gottschalck
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Wolfgang Gunkel
Bettina Hagedorn
Rita Hagl-Kehl
Metin Hakverdi
Ulrich Hampel
Sebastian Hartmann
Michael Hartmann
({25})
Hubertus Heil ({26})
Gabriela Heinrich
Marcus Held
Wolfgang Hellmich
Dr. Barbara Hendricks
Heidtrud Henn
Gustav Herzog
Thomas Hitschler
Dr. Eva Högl
Christina Jantz
Frank Junge
Josip Juratovic
Thomas Jurk
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Oliver Kaczmarek
Christina Kampmann
Ralf Kapschack
Gabriele Katzmarek
Ulrich Kelber
Marina Kermer
Arno Klare
Lars Klingbeil
Daniela Kolbe
Birgit Kömpel
Anette Kramme
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Helga Kühn-Mengel
Christine Lambrecht
Christian Lange ({27})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Hiltrud Lotze
Kirsten Lühmann
Dr. Birgit Malecha-Nissen
Caren Marks
Katja Mast
Klaus Mindrup
Susanne Mittag
Bettina Müller
Michelle Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Dietmar Nietan
Ulli Nissen
Mahmut Özdemir ({28})
Markus Paschke
Sabine Poschmann
Joachim Poß
Florian Post
Achim Post ({29})
Dr. Sascha Raabe
Dr. Simone Raatz
Martin Rabanus
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
Dr. Martin Rosemann
René Röspel
Michael Roth ({30})
Bernd Rützel
Johann Saathoff
Dr. Hans-Joachim
Schabedoth
Axel Schäfer ({31})
Dr. Nina Scheer
Marianne Schieder
Dr. Dorothee Schlegel
Ulla Schmidt ({32})
Matthias Schmidt ({33})
Dagmar Schmidt ({34})
Carsten Schneider ({35})
Ursula Schulte
Swen Schulz ({36})
Ewald Schurer
Rita Schwarzelühr-Sutter
Rainer Spiering
Norbert Spinrath
Svenja Stadler
Martina Stamm-Fibich
Peer Steinbrück
Kerstin Tack
Michael Thews
Carsten Träger
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dirk Vöpel
Bernd Westphal
Gülistan Yüksel
Dr. Jens Zimmermann
Enthalten
CDU/CSU
Dr. Stefan Kaufmann
Dr. Philipp Lengsfeld
SPD
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Daniela De Ridder
Dagmar Freitag
Dirk Heidenblut
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({37})
Cansel Kiziltepe
Dr. Bärbel Kofler
Detlev Pilger
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Andreas Rimkus
Susann Rüthrich
Andrea Wicklein
Waltraud Wolff
({38})
Stefan Zierke
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit
in zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU
und SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der Linken angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen.
Tagesordnungspunkt 8 b. Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Ergänzung des Lebenspartnerschaftsgesetzes
und anderer Gesetze im Bereich des Adoptionsrechts.
Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/1488, den Gesetzentwurf der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/577 ({39})
abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU und
SPD gegen die Stimmen der Fraktionen Die Linke und
Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt. Damit entfällt nach
unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Tagesordnungspunkt 8 c. Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Europäischen Übereinkommen über die Adoption von Kindern. Der Ausschuss für Recht und
Verbraucherschutz empfiehlt unter Buchstabe c seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/1488, den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 18/842 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der
SPD und CDU/CSU gegen die Stimmen von Bündnis 90/
Die Grünen und der Linken abgelehnt. Damit entfällt
nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 sowie Zusatzpunkt 6 auf:
9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald
Ebner, Bärbel Höhn, Steffi Lemke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN sowie der Abgeordneten Dr. Kirsten
Tackmann, Caren Lay, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
zu dem Vorschlag für eine Verordnung des
Europäischen Parlaments und des Rates zur
Änderung der Richtlinie 2001/18/EG betreffend die den Mitgliedstaaten eingeräumte
Möglichkeit, den Anbau von GVO auf ihrem
Hoheitsgebiet zu beschränken oder zu untersagen
KOM({40}) 375 endg.; Ratsdok. 12371/10
Add. 1
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Vorbehalte der Bevölkerung gegenüber der
Agro-Gentechnik anerkennen - Gentechnikfreiheit im Pflanzenbau dauerhaft sichern
Drucksache 18/1453
ZP 6 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD
Grüne Gentechnik - Sorgen und Vorbehalte
der Menschen ernst nehmen, Selbstbestimmung stärken, Wahlfreiheit ermöglichen
Drucksache 18/1450
Über beide Anträge werden wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich bitte die Kollegen, jetzt entweder Platz zu nehmen
oder den Saal zu verlassen, wenn sie zu anderen Sitzungen müssen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist der Kollege Harald Ebner, Bündnis 90/Die Grünen.
({41})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Gestern früh wurden dem Deutschen
Bundestag von den Ökoverbänden über 100 000 Unterschriften übergeben, verbunden mit dem Aufruf, Gentechnikfreiheit in Deutschland und Europa zu sichern.
({0})
Es gibt einen klaren Auftrag der Bevölkerung an die
Politik, die Gentechnikfreiheit zu sichern, das heißt, dafür zu sorgen, dass in Deutschland und möglichst auch in
Europa keine gentechnisch veränderten Pflanzen wachsen.
({1})
Was muss man tun, um dieses Ziel zu erreichen? Man
muss, Herr Kauder, an den Zulassungsverfahren ansetzen. Wir müssen die sozioökonomischen Risiken prüfen.
Wir müssen die langfristigen Risiken prüfen, und wir
müssen eine unabhängige Risikoprüfung sicherstellen.
({2})
Solange das nicht erledigt ist, dürfen keine neuen Gentechnikpflanzen zugelassen werden und so lange brauchen wir uns auch nicht über die nächsten notwendigen
Schritte zu unterhalten.
({3})
All das haben der EU-Umweltministerrat 2008, das
Europaparlament 2011, der Bundesrat im April dieses
Jahres und gestern mit der Übergabe der Unterschriften
noch ein Haufen Menschen in diesem Land gefordert.
Mit entsprechenden Maßnahmen soll das Einfallstor für
die Gentechnik pollenfest verschlossen werden. Genau
das sind die Forderungen, die in unserem gemeinsamen
Antrag mit den Linken gestellt werden. Jetzt versuchen
Sie, die Menschen im Land mit einem dreisten Täuschungsmanöver in die Irre zu führen. Was Sie von der
Großen Koalition in Ihrem Antrag heute fordern, führt
zu mehr Anbauzulassungen und damit zu mehr Gentechnik in Europa und Deutschland.
({4})
Sie reißen für die Gentechnikkonzerne durch Ihre Unterstützung der Zulassung von Merkel-Mais die Tür zur EU
weit auf, und Sie schaffen die Kennzeichnung von Genhonig ab. Das ist das Gegenteil von Transparenz und
Wahlfreiheit, die Sie in Ihrem Antrag versprechen.
({5})
Landwirtschaftsminister Schmidt und die Umweltministerin fordern seit Monaten die Unterstützung des
Vorschlags der griechischen Ratspräsidentschaft zu nationalen Anbauverboten. Verschwiegen wird dabei aber
das Ziel dieses Vorschlags. Nach einer Weisung der
Regierung Merkel an den Umweltrat von 2012 lautet es
nämlich: Die nationalen Anbauverbote sollen den Zulassungsstau für gentechnisch veränderte Pflanzen in Europa beseitigen. - Nach dem Stau kommt die Flut, liebe
Kolleginnen und Kollegen.
({6})
Dieser Vorschlag von Dalli war schon 2010 falsch, er
war 2011 falsch, und er ist es heute noch.
({7})
Was steht darin? Die EU-Mitgliedstaaten müssen als
Bittsteller bei der Industrie auftreten, wenn sie in ihrem
Land keinen Anbau von Genpflanzen haben wollen. Im
neuesten Vorschlag der griechischen Ratspräsidentschaft
ist diese Verknüpfung nach wie vor enthalten: Erst muss
man bei den Herstellern antreten, dann bekommt man
eventuell ein Anbauverbot. Der Block zu den Verhandlungen mit Monsanto und BASF & Co. ist das einzig
Fassbare an diesem Vorschlag. Die Anbauverbote bezüglich Phase II sind so schwammig formuliert und so
widersprüchlich, dass alle von uns befragten Juristen inklusive des Wissenschaftlichen Dienstes große Fragezeichen hinter die Rechtssicherheit setzen. Was Sie wollen,
ist also erstens eine Kungelei mit der Industrie und
zweitens ein Geflecht juristischer Fallstricke, bei denen
niemand vorhersagen kann, liebe Kollegin, ob das Instrument überhaupt funktioniert.
({8})
An die eigentlichen Punkte, die Zulassungsverfahren,
gehen Sie gar nicht heran. Sie holen uns den Trojaner ins
Haus. Das heißt, wenn Sie etwas gegen Einbrüche tun
wollen, machen Sie erst einmal die Haustür bzw. die
Wohnungstür auf,
({9})
und dann befestigen Sie an der Zimmertür einen Zettel,
auf dem steht: Bitte nicht einbrechen.
({10})
Dafür wollen Sie sich jetzt feiern lassen?
In Ihrem Antrag stehen Dinge, die bei der Industrie
die Sektkorken knallen lassen; das kann man klar belegen. Ich habe hier nämlich ein Strategiepapier der europäischen Gentechniklobby vom September 2012. Es ist
ein minutiöses Drehbuch, wie der Gentechnik in Europa
endgültig zum Durchbruch verholfen werden soll. Darin
steht jeder Akt dieses Marionettentheaters, das wir gerade erleben:
Akt eins. Um Druck aufzubauen, soll die Kommission eine Anbauzulassung auf den Weg bringen, damit
die Mitgliedstaaten einem Opt-out zustimmen und kompromissbereiter werden. - Mit dem Merkel-Mais ist das
bereits erfolgt.
Akt zwei. Anbauverbote sollen nur möglich sein,
wenn vorher mit der Industrie verhandelt wurde. - Das
ist erledigt; das steht in Phase I.
({11})
Akt drei. Die Mitgliedstaaten sollen nur dann die
Möglichkeit für Anbauverbote bekommen, wenn sie
nicht gegen weitere EU-Anbauzulassungen stimmen.
({12})
Und: Um die Bundesregierung für Opt-out zu gewinnen
- das steht darin -, sollte die Abschaffung der Kennzeichnungspflicht für Honig mit Gentechnikbestandteilen zügig abgeschlossen werden. - Das ist am 8. Mai
dieses Jahres erfolgt, mit aktiver Unterstützung der Bundesregierung.
Die Große Koalition arbeitet das Drehbuch also brav
ab, und das wollen Sie uns als Ausstieg aus der Gentechnik verkaufen. Ich sehe das eher als eine sozialdemokratische Interpretation von Pinocchio und nicht als die
Interpretation des Koalitionsvertrages. Tun Sie endlich
etwas. Tun Sie endlich etwas Konkretes für die Gentechnikfreiheit. Gehen Sie die lückenhaften EU-Zulassungsverfahren an. Hören Sie auf, die Menschen im Land hinter den Merkel-Mais zu führen. Machen Sie Schluss mit
dem Verwirrspiel. Steigen Sie aus. Stimmen Sie mit uns
für die Gentechnikfreiheit in Deutschland und Europa,
lieber Kollege Gerig. Jetzt kommt es darauf an.
Danke schön.
({13})
Das Wort hat der Bundesminister Christian Schmidt.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es bleibt dabei: Europa ist dem Recht verpflichtet - nicht dem appellativen, sondern dem, was
man an Verfahren entwickelt. Deswegen, lieber Kollege
Ebner, bei allem Respekt: Weder Pinocchio noch sonst
jemand ist hier unterwegs, es geht hier um eine ziemlich
ernsthafte Sache: um die Frage, wie wir die Meinungen
der Bürgerinnen und Bürger, die Interessen, die Sie sehen, in Einklang bringen mit dem Recht in Europa.
({0})
Der Einsatz grüner Gentechnik ist in unserem Land
ein Thema, das die Menschen umtreibt, übrigens sehr
viel mehr als der Einsatz von Gentechnik beispielsweise
bei der Herstellung von Medikamenten. Ich danke deswegen den Koalitionsfraktionen - und auch den Bundesländern - dafür, dass sie das Thema mit ihrem konstruktiven Antrag begleiten und der Regierung damit ein
klarer Auftrag gegeben wird.
Wir müssen die Sorgen vieler Bürgerinnen und Bürger ernst nehmen.
({1})
Sie verbinden mit dem Einsatz dieser modernsten Technik Ungewissheiten für Natur und Umwelt. Die Große
Koalition ist fest entschlossen, in dieser Hinsicht keine
Unklarheiten entstehen zu lassen. Das Meinungsbild in
der Öffentlichkeit ist - Sie haben darauf hingewiesen eindeutig geprägt. Wir hören den Menschen zu. Es ist
der Bundesregierung bewusst, dass es weder in der Gesellschaft noch in der Politik eine Mehrheit für den Einsatz grüner Gentechnik in unserem Lande gibt. Vor allem sorgt die Menschen eines: Sie wollen sicher sein,
dass der genetische Bauplan der bei uns reifenden Pflanzen nicht so umgebaut wird, dass die Statik des Neubaus
nicht trägt.
({2})
Nun findet in Deutschland durch unsere schon jetzt
strenge gesetzliche Regelung zurzeit kein Anbau von
gentechnisch veränderten Pflanzen in der Landwirtschaft
statt. Das Gesetz, das damals von Ministerin Künast in
den Bundestag eingebracht worden ist, wurde von Horst
Seehofer sehr verschärft.
({3})
Seit dieser Zeit, seit Horst Seehofer, gibt es keinen Einsatz von grüner Gentechnik in Deutschland.
({4})
- Kollegin Höhn, ich möchte einfach einmal sagen, dass
wir Vorsorge getroffen haben. Die Rechtslage in
Deutschland ist im Vergleich zu anderen Ländern am
klarsten, es ist klar geregelt, was denjenigen, die gentechnisch veränderte Pflanzen anbauen, durch die verschuldensunabhängige Haftung an Verantwortung auferlegt wird.
Was gehört für mich zu verlässlichen Rahmenbedingungen, die von Dauer sind, die über das, was wir bisher
haben, hinausgehen?
Erstens. Wir brauchen Rechtssicherheit.
Zweitens. Wir brauchen Transparenz für die Verbraucher.
Und drittens. Wir brauchen Perspektiven für eine
Landwirtschaft auf ethischem Fundament.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, am Sonntag stehen
die Wahlen zum Europäischen Parlament an. Die meisten von uns sind deshalb viel im Land unterwegs und
werben für die Wertegemeinschaft Europa. Dabei bekommen wir immer wieder zu hören, dass Brüssel einheitliche Vorgaben für alle mache und dass es ab und zu
notwendig sei, davon abzuweichen. Das war in einem
ersten Versuch im Hinblick auf die Schaffung einer Regelung zu den Anbaubedingungen für gentechnisch veränderte Pflanzen nicht anders. Aber jetzt hat sich das
Blatt gewendet: Was jetzt an Vorschlägen aus Brüssel
vorliegt, stärkt das Selbstbestimmungsrecht der Mitgliedstaaten. Ich sage das, obwohl ich den endgültigen
Vorschlag der griechischen Ratspräsidentschaft noch
nicht kenne; er ist gegenwärtig ja noch in Arbeit. Ich begrüße die Möglichkeit zum sogenannten Opt-out, das
heißt, zur nationalen Regelung, ausdrücklich. Ich begrüße auch ausdrücklich, dass wir davon ausgehen können, dass Koch und Kellner auf der richtigen Seite bleiben, das heißt, dass nicht der Staat, der von der Opt-outRegelung Gebrauch machen will, mit dem Unternehmen, das einen Antrag stellen will, etwa Verhandlungen
führen muss. Das geht so nicht.
({6})
Es geht eigentlich schlicht um den Ansatz, dem
Grundsatz der Subsidiarität hier neue Geltung zu verschaffen. Lassen Sie uns in aller Klarheit festhalten, dass
wir uns hiermit auf bestehende Vorstellungen und Befindlichkeiten zubewegen.
Kollege Schmidt, gestatten Sie eine Bemerkung oder
Frage des Kollegen Ebner?
Kollege Ebner, bitte.
({0})
Herr Minister, Sie haben soeben die richtige Frage angesprochen, wer Koch und wer Kellner ist. Das haben
Sie auch schon gestern im Ausschuss gemacht und gesagt, Sie tragen es auf keinen Fall mit, dass die Staaten
als Bittsteller auftreten müssen.
Liegt Ihnen denn der neue Vorschlag der griechischen
Ratspräsidentschaft vor? Gestern lag er ja wohl noch
nicht vor. Ich habe jetzt ein inoffizielles Exemplar, das
ich Ihnen gerne zukommen lasse. Liegt Ihnen dieser
Text vor, in dem genau dieser Fall noch immer steht?
Welche Exemplare Ihnen vorliegen, lieber Kollege,
weiß ich nicht. Ich kann nur sagen, dass ich über die Verhandlungen, die im Augenblick stattfinden, das eine oder
andere weiß.
(Heiterkeit der Abg. Ute Vogt ({0})
Die Forderung
({1})
- nein, hier spricht der Koch -,
({2})
dass sich der Koch und der Kellner unterscheiden, muss
darin aufgenommen werden. Wer das in Europa noch
nicht geschrieben hat, der kann heute ja auch zuhören
und erfahren, welche Meinung die Bundesregierung zu
diesem Thema hat. Ich denke, Herr Kollege Ebner, wir
sind hier genau der gleichen Meinung.
Im Übrigen bin ich der Meinung, wir sollten uns auf
das Wesentliche konzentrieren.
Ich habe Ihren Antrag gelesen, in dem Sie sehr umfangreiche Ausführungen zur gentechnisch veränderten
Maislinie 1507 gemacht haben. Sie und ich wissen, dass
diese Maislinie in diesem Jahr aus Praktikabilitätsgründen gar nicht mehr angebaut werden kann.
Hinsichtlich der Frage, ob wir im nächsten Jahr Artikel 23 der EU-Freisetzungsrichtlinie, die Schutzklausel,
anwenden sollten: Bei diesem Punkt hätte ich lieber
mehr Rechtssicherheit durch eine nationale gesetzliche
Regelung; denn wir wissen auch aus anderen Ländern,
dass mit der Anwendung der Schutzklausel durchaus
rechtliche Schwierigkeiten verbunden sind. Man möge
nur die französische Rechtsprechung zum Thema
MON810 in den letzten Wochen verfolgen.
({3})
Deswegen: Wir begeben uns nicht auf Nebenkriegsschauplätze, sondern Sie können davon ausgehen, dass
wir eine klare Zielvorgabe haben.
Transparenz für den Verbraucher ist das Weitere, was
wir brauchen. Das „Ohne-Gentechnik“-Siegel haben wir
bereits eingeführt. Daneben müssen wir die Wahlfreiheit
der Kunden sicherstellen. Ich glaube, das ist ein wichtiger Punkt: Der Verbraucher muss wissen, dass er auf in
Deutschland erzeugte Produkte und auf den Pflanzenschutz in Deutschland, aber auch darauf vertrauen kann,
dass er ein Stück Wahlfreiheit behält. - Ich gebe keine
Glaubensbekenntnisse zu dieser Frage ab; die gebe ich
im Gottesdienst in der Kirche ab.
({4})
Ich bin hier Pragmatiker und stelle fest, dass ich die
Wahlfreiheit in Deutschland nur dann für jeden Einzelnen aufrechterhalten kann, wenn ich sicherstelle, dass
bei uns gentechnisch veränderte Organismen nicht angebaut werden. Das ist die zweite Stufe dieser Regelung,
und um dies und nichts anderes geht es.
Es mag sein, dass wir nicht auf den Einsatz der Grünen Gentechnik angewiesen sind. Bezogen auf die Gentechnik mit ihren Risiken und Chancen ist ein SchwarzWeiß-Denken ziemlich kompliziert. Die Vereinten Nationen - also keine NGO und keine Pro-GentechnikGruppe - weisen darauf hin, dass die Weltbevölkerung
bis zum Jahr 2050 auf bis zu 9 Milliarden Menschen
steigen wird. Wir werden 70 Prozent mehr Nahrungsmittel produzieren müssen. Ich bemühe mich gerade gemeinsam mit meinem Kollegen Gerd Müller, Afrikakonzepte zu entwickeln und die Erreichung dieses Ziels mit
Grünen Zentren zu unterstützen.
Wir in Deutschland haben gute Böden, ein gutes
Klima und gutes Saatgut. Eine leistungsstarke und nachhaltige Landwirtschaft sichert ertragreiche Ernten - Jahr
für Jahr. Können wir das auch für Afrika sagen? Wir
müssen uns darüber im Klaren sein, dass wir zwar für
unser Land Entscheidungen treffen können, dass wir uns
aber nicht anmaßen sollten, anderen Ländern, weder in
Europa noch in der Welt, genau zu sagen, was für sie
richtig ist.
({5})
Ich will schon sagen, dass wir darauf achten müssen,
in Forschung und Entwicklung nicht den Anschluss zu
verlieren. Wir verfügen über eine ausgezeichnete Forschungslandschaft, wenngleich ich den Eindruck habe,
dass die meisten deutschen Wissenschaftler im Bereich
der Gentechnik ihren Wohnsitz schon längst in den USA
oder in anderen Ländern dieser Welt, etwa in Brasilien,
genommen haben.
({6})
Wir müssen aber die wissenschaftliche Kompetenz - das
ist das einzig Nachhaltige bei uns - erhalten und pflegen,
wenn wir die internationale Entwicklung eigenständig
zum Wohle des Verbraucherschutzes und des Naturschutzes beeinflussen wollen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Ablehnung Grüner Gentechnik für Deutschland ergibt sich für mich aus
diesen pragmatischen Überlegungen. Wenn sich die Europäische Union, der Ministerrat und die anderen europäischen Institutionen zu einer Opt-out-Regelung entschließen, dann werden wir diese Option wahrnehmen
und dann zügig über die Frage einer Übertragung auf
Deutschland reden.
Ich will hier klar sagen: Um den Anbau von gentechnisch veränderten Pflanzen in Deutschland nicht zuzulassen, sehe ich keinen anderen Weg, als ihn in einer nationalen Gesetzgebung zu untersagen.
({7})
Das ist unser Ziel und nichts anderes.
({8})
Die Kollegin Dr. Kirsten Tackmann hat nun für die
Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Gäste auf den Tribünen! Wir diskutieren über die
Agrogentechnik schon sehr lange und sehr kontrovers.
Ich finde, dieser demokratische Streit hat sich gelohnt,
weil sich Mehrheiten verändert haben. Inzwischen lehnen 80 Prozent der Bevölkerung diese Risikotechnologie
ab. Viele NGOs haben sich sehr darum bemüht und arbeiten weiterhin sehr intensiv daran, dass die Öffentlichkeit über die Gefahren dieser Risikotechnologie aufgeklärt wird, aber auch über die Strategie der Konzerne,
die dahinterstehen und über die der Kollege Ebner schon
gesprochen hat. Ich finde, es ist heute an der Zeit, den
NGOs dafür zu danken.
({0})
Heute geht es in dieser Debatte um einen Aspekt von
vielen, nämlich um die Frage, ob es EU-Mitgliedstaaten
erlaubt sein soll, zugelassene gentechnisch veränderte
Pflanzen auf ihrem Hoheitsgebiet nicht anbauen zu lassen. Bisher ist das - zugegebenermaßen - sehr restriktiv
und rechtsunsicher geregelt. Die Linke will ein gentechnikfreies Europa. Deswegen ist für uns das nationale Anbauverbot nur die zweitbeste Lösung.
In Brüssel wird seit langem über diese Option, das sogenannte Opt-out, diskutiert. Deshalb ist die Debatte zu
den Regeln, nach denen dieses Opt-out gewährt werden
soll, extrem wichtig; denn wo Opt-out draufsteht, ist oft
ein vergiftetes Angebot drin. Ich nenne hier als Beispiel
den aktuellen Entwurf der griechischen Ratspräsidentschaft. Mit diesem Entwurf werden Mitgliedstaaten zu
Bittstellern bei den Konzernen gemacht, so wie das der
Minister gestern im Ausschuss auch schon formuliert
hat. Das ist für uns Linke absolut indiskutabel.
({1})
Uns ist völlig egal, ob die Gespräche direkt abgehalten werden sollen oder ob das Ganze über die EU-Kommission laufen soll. Das wäre ein politischer Kniefall vor
handfesten wirtschaftlichen Interessen. Das kann man in
einer Demokratie nicht zulassen.
({2})
Außerdem sind in diesem Vorschlag die Hürden für
einen Ausstieg aus dem Anbau gentechnisch veränderter
Pflanzen so hoch, dass ich dazu nur sagen kann: Das ist
ein Scheinangebot. Es ist also nicht nur vergiftet, sondern gar kein richtiges Angebot. Auch das ist aus unserer
Sicht nicht verhandelbar.
({3})
Die Bundesregierung wollte bisher gar kein nationales Anbauverbot haben; die Gründe dafür standen im
Gegensatz zu denen der Linken. Sie wollte und will den
Anbau dieser Pflanzen, zumindest in der Union ist das
klar. Aber der öffentliche Proteststurm gegen die Enthaltung der Bundesregierung bei der Abstimmung über die
Anbauzulassung der Maislinie 1507 in Brüssel hat Wirkung gezeigt. Das zeigt übrigens, dass es sich lohnt, sich
zusammenzutun, einig zu sein und sich zu Wort zu melden.
({4})
Aber statt nun konsequent zu handeln, versucht die
Kanzlerin einen Trick. Kollege Ebner hat es schon erläutert. Sie erklärt sich diese Woche bereit, in Brüssel für
ein nationales Anbauverbot zu stimmen. Sie meint aber
das vergiftete Scheinangebot der griechischen Ratspräsidentschaft. Sie tut also aus meiner Sicht nur so, als ob sie
auf die kritischen Stimmen hören würde. Und weil einige Fachleute - aus allen Fraktionen übrigens - das
schon geahnt haben, haben wir uns bereits am 25. April
mit einer gemeinsamen Initiative an alle Kolleginnen
und Kollegen gewandt. Ich danke übrigens allen Kolleginnen und Kollegen, die in dieser Gruppe sehr vertrauensvoll zusammengearbeitet haben.
({5})
Unsere Forderungen lauten in Kurzfassung: die griechische Opt-out-Variante ablehnen, Zulassungsverfahren
deutlich verbessern und sozial-ökonomische Risiken berücksichtigen. Erreicht haben wir damit immerhin, dass
heute dieser Antrag der Koalition vorliegt und wir uns
darüber verständigen können. Man muss auch zugeben:
Der Antrag nimmt einige Gedanken der überfraktionellen Gruppe auf.
({6})
Das will ich als Linke gerne zugestehen.
Aber wichtiger für die Bewertung des Antrags ist,
was nicht darin enthalten ist. Es fehlt nämlich zum Beispiel der Ausschluss einer Bittstellerfunktion der Mitgliedstaaten gegenüber den Konzernen. Ich frage mich,
warum Sie das nicht in den Antrag aufgenommen haben.
Für uns Linke ist das nämlich ein absolutes No-Go.
({7})
Zweitens fehlt die Forderung nach der kritischen
Überarbeitung des Zulassungsverfahrens. Aber nur damit können wir verhindern, dass in Europa gefährliche
Pflanzen zugelassen werden. Deswegen ist es so wichtig,
dass wir auch das angehen, und deshalb müsste es auch
im Antrag gefordert werden.
({8})
Drittens fehlt der Auftrag an die Bundesregierung, in
Brüssel gegen sämtliche Zulassungen gentechnisch veränderter Pflanzen zu stimmen, zumindest solange das
Zulassungsverfahren nicht deutlich verbessert worden
ist.
Dass die SPD trotzdem versucht, diesen Antrag, der
aus meiner Sicht ein Minikompromiss ist, als großen
Wurf und als Durchbruch zu feiern, finde ich sehr bedauerlich. Ich hätte mir eine etwas kritischere Sicht auf die
eigene Rolle gewünscht. Aber ich finde trotzdem: Es ist
ein wichtiger Schritt. Das ist anerkannt. Ich freue mich
und bedanke mich auch noch einmal bei den Grünen,
dass eine gemeinsame Positionierung der Opposition
möglich war.
Allen Kolleginnen und Kollegen aus den Koalitionsfraktionen biete ich heute noch einmal ausdrücklich an,
gemeinsam für unser Ziel weiterzustreiten, nämlich für
ein gentechnikfreies Europa.
({9})
Die Kollegin Elvira Drobinski-Weiß hat für die SPDFraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Minister, es wurde schon angesprochen: Gestern
haben wir Unterschriften von über 100 000 Bürgerinnen
und Bürgern überreicht bekommen, die uns aufgefordert
haben, den Gentechnikanbau zu verhindern.
({0})
Täglich gehen bei uns allen Bürgerbriefe mit der gleichen Aufforderung ein.
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben dazu eine klare Position: Wir lehnen den Anbau von
gentechnisch veränderten Pflanzen ab;
({1})
denn die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger will solche Pflanzen weder auf dem Acker noch auf dem Teller.
Deshalb bin ich froh darüber, dass wir heute zusammen mit den Kollegen von der CDU/CSU einen Antrag
einbringen können,
({2})
mit dem wir die nationalen Möglichkeiten zum Ausstieg
aus dem GVO-Anbau entscheidend verbessern wollen.
Unser Koalitionspartner hat dafür einen weiten Weg gehen müssen. Aber auch wir haben Abstriche machen
müssen. Das Ergebnis kann sich dennoch sehen lassen.
({3})
Ich bitte Sie und euch, liebe Kolleginnen und Kollegen, sich vorurteilsfrei mit diesem Antrag zu befassen,
statt in die übliche Grabenkampfrhetorik zu verfallen.
Anders als manche behaupten, enthält unser Antrag
nämlich keine grundsätzliche Zustimmung zum griechischen Vorschlag. Er ist eine Diskussionsgrundlage, und
wir stellen Bedingungen an seine Ausgestaltung.
Die wichtigsten Punkte dabei sind die Rechtssicherheit bei den Ausstiegsmöglichkeiten und die Erweiterung der Ausstiegsmöglichkeiten in Phase II, das heißt
nach der EU-Zulassung des entsprechenden GVO. Der
Ausstieg soll nämlich jederzeit möglich sein - ich betone: jederzeit -, und es müssen dafür keine neuen Forschungsergebnisse bzw. objektiven Gründe vorgelegt
werden. Das heißt, jederzeit müssen die Mitgliedstaaten
die Möglichkeiten haben, etwa nach einem Regierungswechsel, aus dem Anbau auszusteigen. Bisher wird nämlich nur der jederzeitige Anbaueinstieg offengehalten.
Die Befreiung der Mitgliedstaaten von der Vorlage neuer
Forschungsergebnisse zur Begründung ihres Ausstiegs
aus dem GVO-Anbau soll gewährleisten, dass die Optout-Regelung wirklich eine Erleichterung gegenüber
dem derzeitigen Recht darstellt; denn bereits jetzt können die Mitgliedstaaten gemäß der sogenannten Schutzklausel - wohlgemerkt: in einem sehr schwierigen Verfahren - nach Vorlage neuer Studien aus dem Anbau
aussteigen, wie etwa bei MON 810. Eine Neuregelung
muss also einen Mehrwert bringen. Ich sage ganz deutlich: Das sind die für eine Zustimmung unverzichtbaren
Bedingungen.
Der aktuelle griechische Vorschlag verpflichtet - darauf wurde schon verschiedentlich hingewiesen - die
Mitgliedstaaten, die keinen GVO-Anbau wollen, dazu,
bei den Unternehmen um Ausnahme zu bitten. Man
muss sich das einmal vorstellen: Staaten sollen sich auf
die Ebene von Unternehmen begeben müssen. Ich
denke, das kann keiner von uns wollen; denn dann wäre
die Souveränität eines Staates eindeutig beschädigt.
Dass die EU-Kommission als Verhandler zwischengeschaltet werden soll, ist nur die zweitbeste Lösung.
Wir wollen eine Regelung, die den Einfluss der Unternehmen einschränkt. Das möchte ich insbesondere an
die Adresse meines Kollegen Ebner sagen.
({4})
Wir setzen uns mit unserem Antrag erneut dafür ein,
dass die Mitgliedstaaten in der sogenannten Phase II,
also nach der Zulassung, ohne die Einwilligung von Unternehmen den GVO-Anbau untersagen können. Damit
wäre der für uns Bürgerinnen und Bürger sowie für viele
Umwelt- und Verbraucherverbände kritischste Punkt,
nämlich der gestiegene Einfluss der Unternehmen, entscheidend entschärft und die Souveränität der Mitgliedstaaten gewährleistet.
Einen weiteren für die Verbraucherinnen und Verbraucher wichtigen Punkt - der Minister hat ihn in seiner
Rede schon erwähnt - möchte ich kurz ansprechen. Ich
finde nach wie vor, dass die Kennzeichnungspflicht für
Produkte von Tieren, die mit gentechnisch veränderten
Pflanzen gefüttert wurden, wichtig ist.
({5})
Wir haben uns im Koalitionsvertrag darauf geeinigt
- das möchte ich in Richtung des Koalitionspartners
ganz deutlich formulieren -, uns in Brüssel genau dafür
starkzumachen. Diese Vereinbarung soll nun endlich
umgesetzt werden. Das ist dringend nötig; denn dann
wäre dem, was Sie gesagt haben, Herr Minister, nämlich
dem Recht der Verbraucherinnen und Verbraucher auf
Transparenz und Wahlfreiheit, endlich Rechnung getragen. Bitte lassen Sie uns daran arbeiten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Der Kollege Kees de Vries hat für die Fraktion der
CDU/CSU das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen! Wir stimmen heute über zwei Anträge ab.
Beide betreffen die Grüne Gentechnik. Fangen wir mit
dem Antrag der Grünen und der Linken an. Dieser verwendet sehr viele Worte darauf, dass letztendlich Gentechnik inklusive Forschung in Europa verhindert werden soll.
({0})
Damit koppeln wir uns von einer weltweiten Entwicklung ab
({1})
und begeben uns für die Zukunft in Abhängigkeit von
anderen Ländern, die etwas mehr Mut zeigen. Es ist einfach unsere Pflicht, einen solchen Antrag abzulehnen.
({2})
Kommen wir nun zum Antrag der Fraktionen der
CDU/CSU und SPD. Diesem ist ein langer und intensiver Diskussionsprozess von der fraktionsoffenen Sitzung
bis zur heutigen Vorlage vorausgegangen. Tatsächlich,
wenn ich mir diesen Antrag anschaue, kann auch ich sagen: Es hat sich gelohnt. Es wird aber niemanden verwundern, wenn ich von diesem Kompromiss nicht begeistert bin. Dennoch kann und werde ich ihn voll und
ganz unterstützen, und zwar deshalb, weil dieser Antrag
das Ergebnis eines demokratischen Prozesses ist. Ich bin
froh, in einem Land leben zu dürfen, in dem eine solche
Entscheidung auf so einem Weg zustande kommen kann
und in diesem Fall auch zustande gekommen ist.
({3})
Dennoch sollten wir die Augen nicht davor verschließen, dass diese Diskussion viel zu sehr auf emotionaler
Basis geführt wurde.
({4})
Sechs auch von Deutschland teuer bezahlte EFSA-Studien, die in dem letzten hier diskutierten Fall der Zulassung der Maislinie 1507 eine höchstmögliche Sicherheit
für Gesundheit und Umwelt bewiesen haben, werden
einfach infrage gestellt.
({5})
Hier wurde eine Stellungnahme auf der Grundlage eines
wissenschaftlichen Gutachtens eines für Fragen der Gentechnik zuständigen Expertengremiums abgegeben. Dieses Gremium setzt sich aus unabhängigen wissenschaftlichen Sachverständigen zusammen,
({6})
die von spezialisierten Arbeitsgruppen unterschiedlicher
Fachgebiete, zum Beispiel der Allergologie, Ökologie
oder Toxikologie, unterstützt werden. Wenn von diesen
unabhängigen Wissenschaftlern in mehreren Nachprüfungen festgestellt wird, dass es keine nachteilige Wirkung für Mensch, Tier und Umwelt gibt, dann sollten
wir eigentlich gegenüber diesen Gremien ein gewisses
Maß an Respekt aufbringen.
({7})
Aber ich weiß natürlich auch, dass es politische
Kreise gibt, die kein Interesse haben, in diesem Sinne
aufzuklären. Ich bin beeindruckt, dass es diesen Kreisen
gelungen ist, die Angst vor dem Unbekannten so zu
schüren, dass sogar Teile dieses Hauses dadurch beeinflusst worden sind.
({8})
Ich meine, es wird auf Dauer nicht gut gehen, wenn
Angst der Ratgeber ist.
({9})
- Genau, Herr Ebner, das haben Sie richtig erkannt.
({10})
Wahlfreiheit und Kennzeichnung sind für mich die
entscheidenden Punkte in diesem Antrag. Ich bin der
Meinung, dass das Ziel eine lückenlose und praktikable
Kennzeichnung von allen - ich betone: von allen - GVO
sein soll.
({11})
Der einfache Satz „Mithilfe von Gentechnik produziert“
ist da völlig ausreichend. Das würde zu Klarheit und
Wahrheit beitragen. Ich habe gute Hoffnung, dass auch
unsere Kollegen der Grünen wenigstens diese Transparenzregelung mittragen.
Wir bestätigen mit dem Antrag nicht nur die Aussage
im Koalitionsvertrag, dass wir die Sorgen der Bevölkerung und ihre Vorbehalte ernst nehmen und berücksichtigen, nein, wir sichern zudem im Interesse einer sachlich
und wissenschaftlich fundierten Politik für das Wohl des
Landes und der Menschen die Forschungsfreiheit. Das
ist der entscheidende Unterschied zum Antrag der Grünen.
({12})
Ich spreche mich deshalb so deutlich für Forschungsfreiheit aus, weil ich sicher bin, dass die Forschung in
Deutschland und Europa unabhängig und von sehr hoher
Qualität ist und darum hier erhalten werden muss,
({13})
und weil ich hoffe, dass wir mithilfe dieser Forschung
und einer praktikablen Kennzeichnung die unbegründeten Ängste der Bürgerinnen und Bürger abbauen können.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({14})
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Dr. Matthias
Miersch das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege de Vries, ich will mit Ihnen auch heute
nicht in der Sache diskutieren;
({0})
wir haben da sicherlich ganz unterschiedliche Auffassungen. Aber ich möchte mich bei Ihnen ausdrücklich
dafür bedanken, dass wir trotz der Unterschiede in der
Sache diesen Antrag heute hier gemeinsam verabschieden können.
({1})
Es ist erst ein paar Wochen her, dass ich, ebenfalls an
dieser Stelle, gesagt habe, dass ich es nicht für akzeptabel halte, dass sich eine Bundesregierung bei der Frage,
ob eine gentechnisch veränderte Sorte auf der EU-Ebene
zugelassen wird, enthält. Ich bin nach wie vor dieser
Auffassung.
({2})
Umso besser ist, dass wir als Parlamentarier unsere
Verantwortung in den letzten Wochen wahrgenommen
haben. Jetzt, in einer Phase, in der es um eine sehr zentrale weitere Frage auf europäischer Ebene geht - wie
kann eine nationale Ausstiegsklausel formuliert werden? -,
zeigen wir in diesem Parlament klar Flagge und geben
der Bundesregierung Handreichungen mit auf den Weg.
Das ist ein entscheidendes Signal dieses Parlaments.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, ich
möchte hier eine Sache wirklich sehr deutlich klarstellen. Was ich meine, trifft jeden. Harald Ebner, man sollte
damit sehr vorsichtig umgehen. Von einem Täuschungsmanöver zu sprechen, ist eine Ungeheuerlichkeit für jeden, der sich mit diesem Antrag auseinandergesetzt hat.
({4})
Dahinter steht natürlich, dass Sie überhaupt nicht damit gerechnet haben, dass diese Große Koalition zu diesem Antrag fähig ist.
({5})
Sie schreiben ja selbst in dem von Ihnen gestellten Antrag, eine nationale Opt-out-Klausel werde diese Bundesregierung wahrscheinlich nie verfolgen. Wir sind
weiter. Wir haben die Sprachlosigkeit dieser Bundesregierung durch diesen Antrag beendet, indem wir gesagt
haben: Wir wollen eine nationale Ausstiegsklausel, und
wir wollen sie gerade nicht so wie die griechische Ratspräsidentschaft; vielmehr wollen wir die Souveränitätsrechte des Parlamentes sichern.
({6})
Das muss man schon zur Kenntnis nehmen. Auch
Umweltverbände sagen: Ja, das, was hier gemacht wird,
ist die zweitbeste Lösung. Denn sie wissen, zumindest
wir würden es begrüßen, wenn auf europäischer Ebene
nichts mehr stattfände. - Ich erinnere die Grünen daran,
dass auch Frau Künast die Erfahrung machen musste,
dass das alles auf europäischer Ebene nicht so einfach
ist.
({7})
Ich musste als Anwalt Rechtsgutachten über die Frage
der Verfassungsgemäßheit von gentechnikfreien Regionen auf kommunaler Ebene schreiben. Wir reden jetzt
nicht über gentechnikfreie Regionen auf kommunaler
Ebene, sondern wir reden über nationale Ausstiegsklauseln. Ich finde, das ist viel besser.
({8})
Herr Schmidt, ich bin für Ihre Äußerungen sehr dankbar. Dieser Antrag soll Sie und Barbara Hendricks bei
Ihren Beratungen in Brüssel unterstützen; schließlich
wird in den Schlussverhandlungen dort sicherlich noch
das eine oder andere verhandelt werden müssen. Ich
sage ganz eindeutig: Der Satz, dass ein nationales Parlament jederzeit von einer Ausstiegsklausel Gebrauch machen können muss, ist sehr zentral.
({9})
Es darf eben nicht so sein, dass ein Unternehmen einem
Staat vorschreiben kann, wie er mit dem Thema Grüne
Gentechnik umzugehen hat. Das ist ein sehr zentraler
Punkt. Ich bin dankbar dafür, dass Sie das heute hier so
betont haben.
({10})
Kollege Miersch, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Ebner?
Bitte.
({0})
Kollege Miersch, würden Sie bestreiten, dass es mit
einer Opt-out-Klausel europaweit zu mehr Zulassungen
kommt, wie es in dem von mir eben zitierten Lobbypapier von vielen Spezialisten, auch von den Anbauverbänden und den Umweltverbänden, prognostiziert wird?
Vielen Dank für diese Frage, Herr Kollege Ebner,
weil Sie mir so Gelegenheit geben, bei der knappen Redezeit diesen Zusammenhang doch noch einmal aufzuzeigen.
Ich glaube, Sie haben völlig verkannt, dass wir hier
heute über eine Thematik reden, die gerade in den nächsten Wochen in Brüssel zur Debatte steht. Es geht darum,
ob ein nationales Recht besteht, trotz Zulassung von einer gentechnisch veränderten Sorte im eigenen Land abzusehen. Das ist ein zentrales Moment und ein zentraler
Fortschritt. Das hat mit der Zulassungsfrage an dieser
Stelle überhaupt nichts zu tun, sondern mit der Autonomie des Mitgliedstaats.
({0})
Das hätte etwas damit zu tun, wenn es eine Kooperation mit den antragstellenden Unternehmen gäbe, was
Sie zu Recht kritisiert haben. Aber genau das will das
Parlament nicht. Wir wollen, dass das Souveränitätsrecht
jederzeit gewahrt ist. Deswegen ist das ein zentraler
Punkt, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({1})
Wir als Große Koalition gehen hier heute einen ersten
Schritt zusammen, leider nicht mit Ihnen. Ich bin nach
wie vor der Auffassung, dass das Thema Grüne Gentechnik eines ist, was an ethische Grundsätze geht. Wir
haben heute gerade die erste Sitzung der Endlagersuchkommission gehabt, die wir alle zusammen eingesetzt
haben. Ich wünsche mir, dass es irgendwann dazu
kommt, dass wir auch eine gemeinsame Entscheidung
zum Thema Grüne Gentechnik treffen.
({2})
Ich glaube, dass jetzt jedenfalls die Blockade innerhalb der Bundesregierung aufgelöst ist und dass es,
wenn man den Duktus des Antrags ernst nimmt, bei den
nächsten Zulassungsfragen nicht mehr zu Enthaltungen
kommen wird, sondern zu einem klaren Votum im Sinne
dieses Antrags,
({3})
nämlich zur Ablehnung der Zulassung. Insofern ist das
ein deutliches Signal.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen nun zu zwei namentlichen Abstimmun-
gen.
Tagesordnungspunkt 9. Abstimmung über den ge-
meinsamen Antrag der Fraktionen Bündnis 90/Die Grü-
nen und Die Linke auf Drucksache 18/1453 mit dem Ti-
tel „Vorbehalte der Bevölkerung gegenüber der Agro-
Gentechnik anerkennen - Gentechnikfreiheit im Pflan-
zenbau dauerhaft sichern“. Wir stimmen über den An-
trag auf Verlangen der Fraktionen Bündnis 90/Die Grü-
nen und Die Linke namentlich ab.
Während die Schriftführerinnen und Schriftführer die
vorgesehenen Plätze einnehmen, mache ich Sie darauf
aufmerksam, dass mir mehrere Erklärungen nach § 31
unserer Geschäftsordnung vorliegen. Wir nehmen sie
entsprechend unseren Regeln zu Protokoll.1)
Sind alle Schriftführerinnen und Schriftführer am
vorgesehenen Platz? - Das ist der Fall. Ich eröffne die
erste namentliche Abstimmung.
Gibt es noch ein Mitglied des Hauses, das seine
Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Ich
schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerin-
nen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte um Auf-
merksamkeit. Zusatzpunkt 6. Wir kommen nun zur Ab-
stimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD auf der Drucksache 18/1450 mit dem
Titel „Grüne Gentechnik - Sorgen und Vorbehalte der
Menschen ernst nehmen, Selbstbestimmung stärken,
Wahlfreiheit ermöglichen“. Wir stimmen jetzt über den
Antrag auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und
der SPD namentlich ab.
Sind alle Schriftführerinnen und Schriftführer am
vorgesehenen Platz? - Das ist der Fall. Ich eröffne die
zweite namentliche Abstimmung.
Gibt es noch ein Mitglied des Hauses, welches seine
Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall.
Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftfüh-
rerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu begin-
nen. Die Ergebnisse der beiden Abstimmungen werden
Ihnen später bekannt gegeben.2)
Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der
internationalen Sicherheitspräsenz in Kosovo
auf der Grundlage der Resolution 1244 ({0})
des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
vom 10. Juni 1999 und des Militärisch-Technischen Abkommens zwischen der internationalen Sicherheitspräsenz ({1}) und den
Regierungen der Bundesrepublik Jugoslawien ({2}) und der Republik Serbien vom 9. Juni 1999
Drucksache 18/1415
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({3})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO
1) Anlagen 8, 9, 10
2) Ergebnisse Seiten 3119 D, 3122 A
Vizepräsidentin Petra Pau
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Staatsminister Michael Roth.
Guten Abend, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Die Expertinnen und Experten hier im
Hohen Hause wissen, dass KFOR seit 15 Jahren im Kosovo präsent ist. Da wir in jedem Jahr hier im Bundestag
darüber diskutieren, ob wir das Mandat verlängern, ist
nach einer so langen Zeit sicherlich kritisch zu fragen:
Ist dieser Einsatz noch nötig? Und wenn ja, in welchem
Umfang?
Bevor ich auf die aktuelle Lage im Kosovo zu sprechen komme und den Antrag der Bundesregierung begründe, möchte ich eine kurze Vorbemerkung machen.
Im Kontext der Ukraine-Krise wird der Kosovo immer
wieder als Vergleichsfolie für die völkerrechtswidrige
Annexion der Krim herangezogen. Oftmals geschieht
dies allerdings auf der Basis völlig falscher Fakten und
zweifelhafter Argumente.
Es ist schon sehr verräterisch, dass gerade diejenigen,
die das Eingreifen der internationalen Gemeinschaft im
Kosovo-Krieg und die spätere Unabhängigkeitserklärung des kleinsten Balkanstaates bislang immer abgelehnt haben, beides nun plötzlich zum Präzedenzfall für
ihr eigenes Vorgehen erklären wollen. Ich will daher auf
diese hinkenden Vergleiche gar nicht im Detail eingehen, denn sie verstellen den Blick auf eine ganz andere
Realität auf dem südlichen Balkan.
Die Krim ist eben nicht der Kosovo; denn dort ist es
durch geduldige und hartnäckige Verhandlungsarbeit gelungen, Schritt für Schritt eine weitreichende Annäherung und Verständigung zwischen dem Kosovo und Serbien herbeizuführen. Deshalb sollte uns gerade das
Beispiel des Kosovo bei anderen internationalen Krisenherden, in denen sich Deutschland und die Europäische
Union derzeit engagieren, Mut machen. Denn die hoffnungsvollen Fortschritte der vergangenen Monate zeigen
uns: Auch in einer Region, die seit Jahrzehnten von tiefen ethnischen, religiösen und politischen Gegensätzen
und massiven Auseinandersetzungen geprägt ist, ist eine
friedliche Konfliktlösung möglich. Ein solcher Weg des
politischen Dialogs - das wissen wir alle - ist selten einfach und vor Rückschlägen nicht gefeit. Aber er bietet
doch die realistische Chance, die Spirale der eskalierenden Gewalt dauerhaft zu durchbrechen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, als wir in diesem
Haus vor einem Jahr das letzte Mal über die Zukunft von
KFOR beraten haben, prägte noch sehr vorsichtiger und
abwartender Optimismus unsere Haltung. Damals war
die Tinte unter der Normalisierungsvereinbarung zwischen Serbien und dem Kosovo gerade erst ein paar Wochen trocken. In dieser Phase war nicht mit Sicherheit
abzusehen, ob die praktische Umsetzung dieses doch
sehr ambitionierten Übereinkommens tatsächlich gelingen würde. Heute, ein Jahr später, besteht dagegen kein
Zweifel mehr: Das Abkommen, das im April 2013 geschlossen wurde, war ein echter Durchbruch im Annäherungsprozess. In beiden Ländern wird dieser Weg hin zu
normalen nachbarschaftlichen Beziehungen inzwischen
von einer immer breiteren politischen, vor allem aber
auch von einer gesellschaftlichen Mehrheit getragen.
Die konkreten Fortschritte, die im vergangenen Jahr erzielt wurden, stimmen mich durchaus optimistisch. Das
gilt insbesondere für den Abbau der illegalen Parallelstrukturen im mehrheitlich serbisch bewohnten Nordkosovo und deren Eingliederung in die kosovarische
Staatsverwaltung. Beispielhaft hervorheben möchte ich
die weitgehend abgeschlossene Polizeiintegration.
Knapp 300 vormals beim serbischen Innenministerium
beschäftigte, illegal im Nordkosovo tätige Polizisten gehören mittlerweile zur kosovarischen Polizei. Sie beziehen ihr Gehalt aus Pristina. Über den kosovarisch-serbischen Regionalkommandeur für den Norden sind sie fest
in die Befehlskette der kosovarischen Polizei eingebunden. Ein ebenso großer Fortschritt ist der freie Zugang
des kosovo-albanischen Grenzpersonals zu den Grenzposten im Norden. Was so selbstverständlich klingt, war
lange Zeit völlig undenkbar. Bis zum Dezember 2013
konnten Zöllner und Grenzpolizisten ihre Einsatzorte
ausschließlich in Begleitung der EU-Rechtsstaatlichkeitsmission, EULEX Kosovo, oder nur auf dem Luftweg erreichen.
Positiv ist auch, dass im Winter 2013 im Kosovo erstmals landesweit Kommunalwahlen nach kosovarischem
Recht stattfinden konnten. Anders als in den Jahren zuvor machten dabei erstmals auch sehr viele Kosovoserben im Norden des Landes von der Möglichkeit Gebrauch, legitime Bürgermeister und Gemeinderäte zu
wählen. Nur in sehr wenigen Wahllokalen gab es Probleme. Dort wurde die Wahl zwei Wochen später ohne
weitere Zwischenfälle wiederholt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese ersten Erfolgsmeldungen verdanken wir vor allem dem Mut und
der Entschlossenheit der Regierungen in Belgrad und
Pristina, endlich die schwierige Lage im Nordkosovo in
den Griff zu bekommen. Die serbischen Bürgerinnen
und Bürger haben den außenpolitischen Kurs ihrer Regierung bei den jüngsten Parlamentswahlen klar bestätigt. Es bleibt aber abzuwarten, ob auch die kosovarischen Wählerinnen und Wähler ihrer Regierung bei den
Neuwahlen Anfang Juni 2014 ein starkes Mandat für
weitere Schritte der Annäherung und der Versöhnung geben werden. Eines, liebe Kolleginnen und Kollegen,
sollten wir nicht aus dem Blick verlieren: Die Fortschritte der vergangenen Monate sind vor allem auch ein
klarer Erfolg für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union. Ohne die unermüdliche Vermittlungsleistung von Catherine Ashton, unserer EU-Außenministerin, wäre dieser Durchbruch
überhaupt nicht möglich gewesen. Die EU bleibt auch
weiterhin in der Verantwortung, den politischen Dialog
zwischen Serbien und dem Kosovo zu begleiten;
({0})
denn unser langfristiges Ziel bleibt ein dauerhaft befriedeter, europäisch eingebundener westlicher Balkan.
In diesem Sinne war es eine kluge Entscheidung, dass
wir die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen mit
Serbien immer auch an konkrete Fortschritte im serbisch-kosovarischen Dialog geknüpft haben. Wir sind
sehr gut beraten, wenn wir diese Konditionalität auch im
weiteren Verlauf der Beitrittsgespräche beibehalten.
Denn eine Reihe von Fragen ist immer noch ungelöst:
Für das Gerichtswesen im Norden müssen zügig praktikable Lösungen gefunden werden. Die serbischen Zivilschutzkräfte im Norden müssen in kosovarische Strukturen aufgenommen werden. Auch die Gründung des
Verbands kosovo-serbischer Gemeinden steht noch aus.
Ebenso muss die kosovarische Regierung weiter hart
daran arbeiten, im eigenen Land für eine gute Regierungsführung zu sorgen. Hier ist noch eine lange Wegstrecke zurückzulegen. Korruption, organisierte Kriminalität, unzureichende Rechtsstaatlichkeit müssen noch
entschlossener bekämpft werden als bislang. Ebenso gilt
es, die Demokratie nachhaltig zu stärken. Daher ist es
gut, dass die EU-Staaten hier ebenfalls unter deutscher
Beteiligung Flagge zeigen und im Rahmen der Rechtsstaatlichkeitsmission EULEX Kosovo den Aufbau von
Polizei, Justiz und Verwaltung im Kosovo aktiv unterstützen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, trotz der
genannten Bewährungsproben haben wir heute, 15 Jahre
nach dem Ende des Kosovo-Kriegs, erfreulicherweise
ein hohes Maß an Stabilität und Sicherheit erreicht. Das
liegt nicht zuletzt am Einsatz der NATO-geführten Operation KFOR, an der sich Deutschland von Beginn an
beteiligt hat. Seit Juni 1999 waren nunmehr bereits über
100 000 deutsche Soldatinnen und Soldaten im Kosovo
stationiert. Ihnen danke ich im Namen der Bundesregierung für ihren Beitrag zu einem friedlichen, demokratischen, rechtsstaatlichen und vor allem auch multiethnischen Kosovo.
Ihr Einsatzgebiet war dabei nicht immer so ruhig und
stabil wie heute. In den vergangenen Jahren ist es uns
gelungen, die KFOR mehr und mehr auf eine Rolle als
Ultima Ratio zu beschränken. Viele Sicherheitsaufgaben, beispielsweise der Schutz von serbischen Denkmälern oder serbisch-orthodoxen Klöstern, werden inzwischen eigenständig von der kosovarischen Polizei
übernommen.
({1})
Die KFOR steht als letzte von insgesamt drei Sicherheitsreihen nur noch für den Fall bereit, dass erneut gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen den Bevölkerungsgruppen ausbrechen sollten. Gerade im Norden
des Landes kommt es vereinzelt leider immer wieder zu
Zwischenfällen, wie zuletzt im Verlauf der Kommunalwahlen im November 2013 in der Stadt Mitrovica. In
diesen Situationen zeigt sich, dass die enge Zusammenarbeit zwischen kosovarischer Polizei, EULEX-Mission
und KFOR-Kräften im Notfall gut funktioniert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, solange die Umsetzung des Normalisierungsprozesses andauert und noch
nicht unumkehrbar abgesichert ist, wäre es voreilig, die
aktuelle internationale Sicherheitsarchitektur im Kosovo
auszudünnen. Die kosovarische Regierung und die lokalen Sicherheitskräfte sind noch nicht in allen Bereichen
voll handlungsfähig. Deshalb wollen wir diesen Stabilisierungseinsatz fortsetzen und mit unserer Beteiligung
an der KFOR-Schutztruppe und der EULEX-Mission
weiterhin Präsenz im Kosovo zeigen. Nur so können wir
den politischen Dialog zwischen Serbien und Kosovo
militärisch absichern und notfalls rasch vor Ort auf veränderte Sicherheitslagen reagieren.
Sollte die Umsetzung der Normalisierungsvereinbarung nachhaltige und belastbare Erfolge zeigen und die
Sicherheitslage weiter stabil bleiben, ist mittelfristig
auch eine weitere deutliche Reduzierung der Truppenstärke denkbar. Die Chance, dass dies gelingt, ist gegenwärtig so groß wie noch nie. Durch die fortgesetzte Beteiligung an KFOR will Deutschland seinen eingegangenen
Verpflichtungen und seiner hervorgehobenen Rolle bei
der Konfliktlösung im Kosovo auch in Zukunft gerecht
werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unsere Ziele bleiben unverändert: Kosovo stabil halten, den Frieden in
der Region sichern. Der Kosovo gehört zu Europa, und
er hat eine Perspektive, Mitglied der Europäischen
Union zu werden. Ich bitte Sie daher im Namen der Bundesregierung um Ihre Unterstützung für die Fortsetzung
des laufenden Mandats.
Vielen herzlichen Dank.
({2})
Bevor wir in der Debatte fortfahren, gebe ich Ihnen
die von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelten Ergebnisse der namentlichen Abstimmungen
bekannt.
Dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und
der Fraktion Die Linke „Vorbehalte der Bevölkerung gegenüber der Agro-Gentechnik anerkennen - Gentechnikfreiheit im Pflanzenbau dauerhaft sichern“ haben bei 568
abgegebenen Stimmen 107 Kolleginnen und Kollegen
zugestimmt, 458 Kolleginnen und Kollegen haben mit
Nein gestimmt, 3 haben sich enthalten. Der Antrag ist
damit abgelehnt.
Vizepräsidentin Petra Pau
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 567;
davon
ja: 107
nein: 457
enthalten: 3
Ja
SPD
Ralf Kapschack
DIE LINKE
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Diana Golze
Annette Groth
Dr. André Hahn
Inge Höger
Andrej Hunko
Sigrid Hupach
Ulla Jelpke
Katja Kipping
Jan Korte
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Cornelia Möhring
Niema Movassat
Thomas Nord
Harald Petzold ({0})
Richard Pitterle
Martina Renner
Michael Schlecht
Dr. Petra Sitte
Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Axel Troost
Kathrin Vogler
Harald Weinberg
Jörn Wunderlich
Hubertus Zdebel
Pia Zimmermann
({1})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Luise Amtsberg
Kerstin Andreae
Annalena Baerbock
Dr. Franziska Brantner
Katja Dörner
Harald Ebner
Dr. Thomas Gambke
Matthias Gastel
Anja Hajduk
Dr. Anton Hofreiter
Dieter Janecek
Uwe Kekeritz
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Stephan Kühn ({2})
Christian Kühn ({3})
Markus Kurth
Monika Lazar
Steffi Lemke
Nicole Maisch
Peter Meiwald
Beate Müller-Gemmeke
Özcan Mutlu
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Cem Özdemir
Lisa Paus
Tabea Rößner
Claudia Roth ({4})
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Kordula Schulz-Asche
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Dr. Julia Verlinden
Nein
CDU/CSU
Stephan Albani
Katrin Albsteiger
Artur Auernhammer
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Maik Beermann
Manfred Behrens ({5})
Veronika Bellmann
Sybille Benning
Dr. André Berghegger
Dr. Christoph Bergner
Ute Bertram
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexandra Dinges-Dierig
Michael Donth
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Hansjörg Durz
Jutta Eckenbach
Hermann Färber
Uwe Feiler
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer ({6})
Axel E. Fischer ({7})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Thorsten Frei
Dr. Astrid Freudenstein
Dr. Hans-Peter Friedrich
({8})
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Cemile Giousouf
Reinhard Grindel
Ursula Groden-Kranich
Hermann Gröhe
Klaus-Dieter Gröhler
Michael Grosse-Brömer
Astrid Grotelüschen
Markus Grübel
Manfred Grund
Oliver Grundmann
Monika Grütters
Dr. Herlind Gundelach
Fritz Güntzler
Christian Haase
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Mark Hauptmann
Dr. Stefan Heck
Helmut Heiderich
Frank Heinrich ({9})
Mark Helfrich
Jörg Hellmuth
Rudolf Henke
Peter Hintze
Christian Hirte
Dr. Heribert Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Dr. Hendrik Hoppenstedt
Margaret Horb
Bettina Hornhues
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Erich Irlstorfer
Thomas Jarzombek
Sylvia Jörrißen
Andreas Jung
Dr. Franz Josef Jung
Xaver Jung
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kanitz
Alois Karl
Anja Karliczek
Bernhard Kaster
Dr. Stefan Kaufmann
Dr. Georg Kippels
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Markus Koob
Carsten Körber
Hartmut Koschyk
Kordula Kovac
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Dr. Roy Kühne
Uwe Lagosky
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Silke Launert
Dr. Katja Leikert
Dr. Philipp Lengsfeld
Dr. Andreas Lenz
Philipp Graf Lerchenfeld
Dr. Ursula von der Leyen
Vizepräsidentin Petra Pau
Matthias Lietz
Andrea Lindholz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Wilfried Lorenz
Dr. Claudia Lücking-Michel
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Karin Maag
Yvonne Magwas
Thomas Mahlberg
Dr. Thomas de Maizière
Gisela Manderla
Matern von Marschall
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({10})
Reiner Meier
Dr. Michael Meister
Jan Metzler
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Karsten Möring
Elisabeth Motschmann
Dr. Gerd Müller
Carsten Müller
({11})
Stefan Müller ({12})
Dr. Philipp Murmann
Dr. Andreas Nick
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Wilfried Oellers
Florian Oßner
Dr. Tim Ostermann
Ingrid Pahlmann
Sylvia Pantel
Martin Patzelt
Dr. Martin Pätzold
Ulrich Petzold
Sibylle Pfeiffer
Ronald Pofalla
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Kerstin Radomski
Alexander Radwan
Alois Rainer
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Erwin Rüddel
Anita Schäfer ({13})
Dr. Wolfgang Schäuble
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Heiko Schmelzle
Christian Schmidt ({14})
Gabriele Schmidt ({15})
Patrick Schnieder
Nadine Schön ({16})
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Dr. Klaus-Peter Schulze
Uwe Schummer
Armin Schuster ({17})
Christina Schwarzer
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Johannes Singhammer
Tino Sorge
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Dr. Wolfgang Stefinger
Albert Stegemann
Peter Stein
Erika Steinbach
Sebastian Steineke
Johannes Steiniger
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Rita Stockhofe
Stephan Stracke
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Karin Strenz
Thomas Stritzl
Thomas Strobl ({18})
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Astrid Timmermann-Fechter
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Oswin Veith
Thomas Viesehon
Michael Vietz
Volkmar Vogel ({19})
Christel Voßbeck-Kayser
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Nina Warken
Kai Wegner
Albert Weiler
Marcus Weinberg ({20})
Dr. Anja Weisgerber
Peter Weiß ({21})
Sabine Weiss ({22})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Marian Wendt
Kai Whittaker
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese ({23})
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Oliver Wittke
Dagmar G. Wöhrl
Barbara Woltmann
Tobias Zech
Heinrich Zertik
Emmi Zeulner
Dr. Matthias Zimmer
Gudrun Zollner
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Heike Baehrens
Ulrike Bahr
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Katarina Barley
Dr. Hans-Peter Bartels
Dr. Matthias Bartke
Sören Bartol
Bärbel Bas
Dirk Becker
Lothar Binding ({24})
Burkhard Blienert
Edelgard Bulmahn
Martin Burkert
Dr. Lars Castellucci
Petra Crone
Dr. Daniela De Ridder
Dr. Karamba Diaby
Sabine Dittmar
Siegmund Ehrmann
Michaela Engelmeier-Heite
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Saskia Esken
Karin Evers-Meyer
Dr. Fritz Felgentreu
Elke Ferner
Christian Flisek
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Michael Gerdes
Martin Gerster
Ulrike Gottschalck
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Wolfgang Gunkel
Bettina Hagedorn
Rita Hagl-Kehl
Metin Hakverdi
Ulrich Hampel
Sebastian Hartmann
Michael Hartmann
({25})
Dirk Heidenblut
Hubertus Heil ({26})
Gabriela Heinrich
Marcus Held
Wolfgang Hellmich
Dr. Barbara Hendricks
Heidtrud Henn
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({27})
Thomas Hitschler
Dr. Eva Högl
Christina Jantz
Frank Junge
Josip Juratovic
Thomas Jurk
Oliver Kaczmarek
Christina Kampmann
Gabriele Katzmarek
Ulrich Kelber
Marina Kermer
Cansel Kiziltepe
Arno Klare
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe
Birgit Kömpel
Anette Kramme
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Helga Kühn-Mengel
Christine Lambrecht
Christian Lange ({28})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Hiltrud Lotze
Kirsten Lühmann
Dr. Birgit Malecha-Nissen
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Klaus Mindrup
Susanne Mittag
Bettina Müller
Michelle Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Dietmar Nietan
Ulli Nissen
Mahmut Özdemir ({29})
Markus Paschke
Christian Petry
Detlev Pilger
Sabine Poschmann
Joachim Poß
Florian Post
Achim Post ({30})
Dr. Sascha Raabe
Dr. Simone Raatz
Martin Rabanus
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Vizepräsidentin Petra Pau
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Andreas Rimkus
Sönke Rix
Dr. Martin Rosemann
René Röspel
Michael Roth ({31})
Susann Rüthrich
Bernd Rützel
Johann Saathoff
Dr. Hans-Joachim
Schabedoth
Axel Schäfer ({32})
Dr. Nina Scheer
Marianne Schieder
Dr. Dorothee Schlegel
Ulla Schmidt ({33})
Matthias Schmidt ({34})
Dagmar Schmidt ({35})
Ursula Schulte
Swen Schulz ({36})
Ewald Schurer
Rita Schwarzelühr-Sutter
Rainer Spiering
Norbert Spinrath
Svenja Stadler
Martina Stamm-Fibich
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Michael Thews
Carsten Träger
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dirk Vöpel
Bernd Westphal
Andrea Wicklein
Waltraud Wolff
({37})
Gülistan Yüksel
Stefan Zierke
Dr. Jens Zimmermann
Enthalten
CDU/CSU
Josef Göppel
Charles M. Huber
SPD
Marco Bülow
({38})
Zum Ergebnis der zweiten namentlichen Abstimmung
über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der
SPD „Grüne Gentechnik - Sorgen und Vorbehalte der
Menschen ernst nehmen, Selbstbestimmung stärken,
Wahlfreiheit ermöglichen“. Hier haben 564 Kolleginnen
und Kollegen ihre Stimme abgegeben. Mit Ja haben
458 Kolleginnen und Kollegen gestimmt, mit Nein 106,
Enthaltungen gab es keine. Der Antrag ist damit angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 565;
davon
ja: 459
nein: 106
Ja
CDU/CSU
Stephan Albani
Katrin Albsteiger
Artur Auernhammer
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Maik Beermann
Manfred Behrens ({39})
Veronika Bellmann
Sybille Benning
Dr. André Berghegger
Dr. Christoph Bergner
Ute Bertram
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexandra Dinges-Dierig
Michael Donth
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Hansjörg Durz
Jutta Eckenbach
Hermann Färber
Uwe Feiler
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer ({40})
Axel E. Fischer ({41})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Thorsten Frei
Dr. Astrid Freudenstein
Dr. Hans-Peter Friedrich
({42})
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Dr. Peter Gauweiler
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Cemile Giousouf
Josef Göppel
Reinhard Grindel
Ursula Groden-Kranich
Hermann Gröhe
Klaus-Dieter Gröhler
Michael Grosse-Brömer
Astrid Grotelüschen
Markus Grübel
Manfred Grund
Oliver Grundmann
Monika Grütters
Dr. Herlind Gundelach
Fritz Güntzler
Christian Haase
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Mark Hauptmann
Dr. Stefan Heck
Helmut Heiderich
Frank Heinrich ({43})
Mark Helfrich
Jörg Hellmuth
Rudolf Henke
Peter Hintze
Christian Hirte
Dr. Heribert Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Dr. Hendrik Hoppenstedt
Margaret Horb
Bettina Hornhues
Charles M. Huber
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Erich Irlstorfer
Thomas Jarzombek
Sylvia Jörrißen
Andreas Jung
Dr. Franz Josef Jung
Xaver Jung
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kanitz
Alois Karl
Anja Karliczek
Bernhard Kaster
Dr. Stefan Kaufmann
Dr. Georg Kippels
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Markus Koob
Carsten Körber
Hartmut Koschyk
Kordula Kovac
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Dr. Roy Kühne
Uwe Lagosky
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Silke Launert
Dr. Katja Leikert
Dr. Philipp Lengsfeld
Dr. Andreas Lenz
Vizepräsidentin Petra Pau
Philipp Graf Lerchenfeld
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Andrea Lindholz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Wilfried Lorenz
Dr. Claudia Lücking-Michel
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Karin Maag
Yvonne Magwas
Thomas Mahlberg
Dr. Thomas de Maizière
Gisela Manderla
Matern von Marschall
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({44})
Reiner Meier
Dr. Michael Meister
Jan Metzler
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Karsten Möring
Elisabeth Motschmann
Dr. Gerd Müller
Carsten Müller
({45})
Stefan Müller ({46})
Dr. Philipp Murmann
Dr. Andreas Nick
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Wilfried Oellers
Florian Oßner
Dr. Tim Ostermann
Ingrid Pahlmann
Sylvia Pantel
Martin Patzelt
Dr. Martin Pätzold
Ulrich Petzold
Sibylle Pfeiffer
Ronald Pofalla
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Kerstin Radomski
Alexander Radwan
Alois Rainer
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Erwin Rüddel
Anita Schäfer ({47})
Dr. Wolfgang Schäuble
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Heiko Schmelzle
Christian Schmidt ({48})
Gabriele Schmidt ({49})
Patrick Schnieder
Nadine Schön ({50})
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Dr. Klaus-Peter Schulze
Uwe Schummer
Armin Schuster ({51})
Christina Schwarzer
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Johannes Singhammer
Tino Sorge
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Dr. Wolfgang Stefinger
Albert Stegemann
Peter Stein
Erika Steinbach
Sebastian Steineke
Johannes Steiniger
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Rita Stockhofe
Stephan Stracke
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Karin Strenz
Thomas Stritzl
Thomas Strobl ({52})
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Astrid Timmermann-Fechter
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Oswin Veith
Thomas Viesehon
Michael Vietz
Volkmar Vogel ({53})
Christel Voßbeck-Kayser
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Nina Warken
Kai Wegner
Albert Weiler
Marcus Weinberg ({54})
Dr. Anja Weisgerber
Peter Weiß ({55})
Sabine Weiss ({56})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Marian Wendt
Kai Whittaker
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese ({57})
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Oliver Wittke
Dagmar G. Wöhrl
Barbara Woltmann
Tobias Zech
Heinrich Zertik
Emmi Zeulner
Dr. Matthias Zimmer
Gudrun Zollner
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Heike Baehrens
Ulrike Bahr
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Katarina Barley
Dr. Hans-Peter Bartels
Dr. Matthias Bartke
Sören Bartol
Bärbel Bas
Dirk Becker
Lothar Binding ({58})
Burkhard Blienert
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Martin Burkert
Dr. Lars Castellucci
Petra Crone
Dr. Daniela De Ridder
Dr. Karamba Diaby
Sabine Dittmar
Siegmund Ehrmann
Michaela Engelmeier-Heite
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Saskia Esken
Karin Evers-Meyer
Dr. Fritz Felgentreu
Elke Ferner
Christian Flisek
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Michael Gerdes
Martin Gerster
Ulrike Gottschalck
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Wolfgang Gunkel
Bettina Hagedorn
Rita Hagl-Kehl
Metin Hakverdi
Ulrich Hampel
Sebastian Hartmann
Dirk Heidenblut
Hubertus Heil ({59})
Gabriela Heinrich
Marcus Held
Wolfgang Hellmich
Dr. Barbara Hendricks
Heidtrud Henn
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({60})
Thomas Hitschler
Christina Jantz
Frank Junge
Josip Juratovic
Thomas Jurk
Oliver Kaczmarek
Christina Kampmann
Ralf Kapschack
Gabriele Katzmarek
Ulrich Kelber
Marina Kermer
Cansel Kiziltepe
Arno Klare
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe
Birgit Kömpel
Anette Kramme
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Helga Kühn-Mengel
Christine Lambrecht
Christian Lange ({61})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Hiltrud Lotze
Kirsten Lühmann
Dr. Birgit Malecha-Nissen
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Klaus Mindrup
Susanne Mittag
Bettina Müller
Michelle Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Dietmar Nietan
Ulli Nissen
Mahmut Özdemir ({62})
Markus Paschke
Christian Petry
Detlev Pilger
Sabine Poschmann
Joachim Poß
Florian Post
Achim Post ({63})
Dr. Sascha Raabe
Dr. Simone Raatz
Martin Rabanus
Mechthild Rawert
Vizepräsidentin Petra Pau
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Andreas Rimkus
Sönke Rix
Dr. Martin Rosemann
René Röspel
Michael Roth ({64})
Susann Rüthrich
Bernd Rützel
Johann Saathoff
Dr. Hans-Joachim
Schabedoth
Axel Schäfer ({65})
Dr. Nina Scheer
Marianne Schieder
Dr. Dorothee Schlegel
Ulla Schmidt ({66})
Matthias Schmidt ({67})
Dagmar Schmidt ({68})
Ursula Schulte
Swen Schulz ({69})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Rita Schwarzelühr-Sutter
Rainer Spiering
Norbert Spinrath
Svenja Stadler
Martina Stamm-Fibich
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Michael Thews
Carsten Träger
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dirk Vöpel
Bernd Westphal
Andrea Wicklein
Waltraud Wolff
({70})
Gülistan Yüksel
Stefan Zierke
Dr. Jens Zimmermann
Nein
DIE LINKE
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Diana Golze
Annette Groth
Dr. Gregor Gysi
Dr. André Hahn
Inge Höger
Andrej Hunko
Sigrid Hupach
Ulla Jelpke
Katja Kipping
Jan Korte
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Cornelia Möhring
Niema Movassat
Thomas Nord
Harald Petzold ({71})
Richard Pitterle
Martina Renner
Michael Schlecht
Dr. Petra Sitte
Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Axel Troost
Kathrin Vogler
Harald Weinberg
Jörn Wunderlich
Hubertus Zdebel
Pia Zimmermann
({72})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Luise Amtsberg
Kerstin Andreae
Annalena Baerbock
Dr. Franziska Brantner
Katja Dörner
Harald Ebner
Dr. Thomas Gambke
Matthias Gastel
Anja Hajduk
Dr. Anton Hofreiter
Dieter Janecek
Uwe Kekeritz
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Stephan Kühn ({73})
Christian Kühn ({74})
Markus Kurth
Monika Lazar
Steffi Lemke
Nicole Maisch
Peter Meiwald
Beate Müller-Gemmeke
Özcan Mutlu
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Cem Özdemir
Lisa Paus
Tabea Rößner
Claudia Roth ({75})
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Kordula Schulz-Asche
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Dr. Julia Verlinden
Wir fahren fort in der Redeliste zum Tagesordnungspunkt 10. Das Wort hat der Kollege Dr. Alexander Neu
für die Fraktion Die Linke.
({76})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen!
Die Linke lehnt wie jedes Jahr den KFOR-Einsatz und
auch die Beteiligung der Bundeswehr ab. Warum? Es ist
unsere Überzeugung, dass der Einsatz militärischer Mittel in der internationalen Politik inakzeptabel ist.
({0})
Es gibt auch noch einen materiellen Grund, warum
wir die sogenannte Friedenstruppe KFOR ablehnen: Sie
ist nämlich faktisch eine Besatzungsarmee.
({1})
Sie sah seit Juni, seitdem sie einmarschiert ist, bei der
Flucht und Vertreibung von über 230 000 Serbinnen und
Serben, Roma und anderen Volksgruppen zu. Selbst die
Grünen haben sich darüber nicht beschwert, obwohl sie
doch sonst immer den Mund aufreißen, wenn es um Vertreibung geht.
({2})
Bis heute gibt es keine signifikante Zahl über die
Rückkehr der Vertriebenen. Noch immer leben mehrere
Zehntausend Menschen in Zentralserbien in Notbehausungen. Das interessiert die Grünen auch nicht.
Die NATO hat die ethnischen Säuberungen im Kosovo nach Juni 1999 nicht nur geduldet, sondern auch
akzeptiert.
({3})
Damit hat die NATO ihren Schutzauftrag gemäß Resolution 1244 verletzt.
({4})
Der tatsächliche, der unterschwellige Auftrag der KFOR
war nämlich ein ganz anderer: nicht die Umsetzung der
UN-Sicherheitsratsresolution 1244, sondern die militärische Absicherung einer zukünftig geplanten Unabhängigkeit des Kosovo. Folgerichtig ist die serbische Provinz des Kosovo seit 15 Jahren von der NATO und
NATO-nahen Staaten besetzt.
({5})
Wie kann das sein? Es existiert zwar eine Resolution
des UN-Sicherheitsrats, aber wir erinnern uns, was 1998/
1999 passiert ist:
({6})
Die NATO hat sich auf die Seite der Kosovo-Albaner gestellt, sie war also nicht nur Konflikt-, sondern auch
Kriegspartei.
({7})
Sie hat den UCK-Separatismus unterstützt und drei Monate Belgrad und Serbien bombardiert, bis Serbien im
Juni 1999 kapitulierte.
({8})
Belgrad hatte nun die Wahl zwischen einer schlechten
und einer schlechteren Option, nämlich die Akzeptanz
der Besetzung des südlichen Teils Serbiens pur oder zumindest unter Kontrolle der Vereinten Nationen.
({9})
Belgrad entschied sich seinerzeit für die letztere Variante
in der Hoffnung, dass die Vereinten Nationen irgendwie
das Treiben der NATO unter Kontrolle bringen könnten,
was aber nicht passiert ist. So mutierte die Kriegspartei
NATO über Nacht zur Friedenstruppe KFOR mit UNMandat.
({10})
Anders ausgedrückt: Der Bock wurde zum Gärtner gemacht. Die Friedenstruppe KFOR kann seitdem im Mäntelchen der UN Realitäten vor Ort schaffen, und sie hat
es auch gemacht: Wir haben die Unabhängigkeit des Kosovo.
({11})
Parallel hintertrieben die OSZE und die UNMIK vor
Ort, vom Westen dominiert, von Anfang an, durch die
Resolution 1244, die territoriale Integrität Serbiens und
haben stattdessen den Pseudostaat Kosovo kreiert.
Ich habe zwei Jahre dort gearbeitet, 2000, 2002 sowie
2004. Ich konnte tagtäglich erleben, wie die serbischen
Staatsstrukturen im Kosovo abgeschafft wurden
({12})
und durch eigenstaatliche Strukturen ersetzt wurden:
zum Beispiel Einführung der D-Mark, später der Einführung des Euro, eigene Identitätspapiere, neue Gesetze,
Nummernschilder - all das, um einen neuen Staat Kosovo als Realität aufzubauen.
Auch heute geht es bei der Verlängerung des KFORMandats nicht um die Sicherheit der Menschen vor Ort,
nein, es geht darum, die militärische Absicherung dieses
illegalen Möchtegern-Staatsgebildes fortzusetzen.
Wir erleben aktuell ein ähnliches Szenario in der
Ukraine, nur mit umgekehrten Vorzeichen; Herr Roth ist
schon darauf eingegangen.
({13})
Separatisten wollen die Unabhängigkeit des Ostens der
Ukraine wie seinerzeit separatistische Kosovo-Albaner,
Slowenen, Kroaten und Bosnier die Unabhängigkeit von
Jugoslawien.
({14})
Seinerzeit waren das in den Augen des Westens Helden,
Freiheitskämpfer und Demokraten. Die Separatisten im
Osten der Ukraine gelten aber als Ganoven und Terroristen, die man auch militärisch bekämpfen darf, wie ich
gestern von Außenminister Steinmeier gelernt habe.
({15})
- Sie haben halt ein anderes Hörvermögen.
({16})
Ihnen fällt Ihre eigene Doppelzüngigkeit, wenn es um
die Frage des Völkerrechts geht, nicht einmal mehr auf.
({17})
Die Frage der Souveränität und des Selbstbestimmungsrechts legen Sie jeweils instrumentell aus. Der Punkt ist
aber, dass internationales Recht entweder für alle gleichermaßen gilt oder für keinen. Alles andere ist Willkür.
({18})
Stoppen Sie die Willkür, akzeptieren Sie das internationale Recht, und leben Sie danach! Die Wiederentdeckung des internationalen Rechts im Kontext der
Ukraine-Krise hat - so nehme ich das zumindest wahr nur einen instrumentellen Charakter. Plötzlich redet man
von Souveränität und von territorialer Integrität, von all
dem, was für Sie im Fall Jugoslawien nie eine Rolle gespielt hat. Daher ist das ein rein instrumenteller Ansatz.
Eine innere Läuterung Ihrerseits kann ich nicht erkennen.
({19})
Ihre Äußerungen folgen lediglich geopolitischen und
geoökonomischen Erwägungen im Kampf um Einflusszonen. Sie wissen, dass das so ist, und die Linke weiß,
dass Sie es wissen.
({20})
Ihre Kanzlerin hat vor Wochen im Rahmen der
Ukraine-Krise Folgendes gesagt:
Das Recht des Stärkeren wird gegen die Stärke des
Rechts gestellt.
Ändern Sie das, meine Damen und Herren von der Regierung, indem Sie endlich damit anfangen, das Völkerrecht umfassend zu respektieren und nicht zu brechen.
({21})
Europa braucht keine militärischen Besetzungen. Europa
braucht keine Annexionen, keine Sezessionen, keine
Ausgrenzungen, keine Aufrüstungen und keine geopolitischen Sandkastenspielchen.
({22})
Was Europa braucht, ist eine europäische Sicherheitsarchitektur im Sinne eines Systems gegenseitiger, kollektiver Sicherheit unter Einschluss Russlands.
({23})
Kollege Neu, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Ich komme zum Ende. - Der KFOR-Einsatz steht
dem aber diametral entgegen. Das ist der Grund, warum
die Linke diese Verlängerung ablehnt.
Danke.
({0})
Das Wort hat der Kollege Philipp Mißfelder für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Herr Neu, Sie haben an der
Reaktion unserer Fraktion gemerkt, wie viel Unverständnis bei uns für Ihre Einlassungen herrscht.
({0})
Die Alternative, es mit dem Völkerrecht an der einen
oder anderen Stelle vielleicht nicht so ernst zu nehmen,
die Sie dazu vorschlagen, stößt wirklich auf Unverständnis. Für die Bundesrepublik Deutschland nehme ich übrigens in Anspruch, dass sie das Völkerrecht in den vergangenen Jahrzehnten durchgehend sehr ernst genommen hat,
was nicht für alle NATO-Partner gilt. Aber zu sagen, dass
man das Völkerrecht entweder komplett durchhalten muss
oder es gleich abschaffen kann, halte ich nun wirklich für
vollkommen grotesk. Wenn das in Sachen Konfliktlösung
Ihre politische Antwort ist, dann könnten wir nach Ihrer
Logik ja gleich die UNO abschaffen.
Das, was Sie gesagt haben, war geprägt von Verschwörungstheorien. Kein einziges Mal kam in Ihrer
Rede der Name Milosevic vor. Doch das gehört zur historischen Wahrheit im Kosovo dazu. Kofi Annan hat damals von der dunklen Wolke des Völkermords, die heraufzieht, gesprochen. Daher ging es nicht nur um die
Frage der territorialen Integrität und nicht nur um die
Frage des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Es ging
vor allem um die Abwendung eines Völkermords. Vor
dem Hintergrund war der KFOR-Einsatz gerechtfertigt,
und heute wird er ja unter einem UNO-Mandat geführt.
({1})
Kollege Mißfelder, gestatten Sie eine Bemerkung
oder Frage des Kollegen Neu? - Bitte.
({0})
Kollege Mißfelder, Sie versuchen wieder einmal, von
Völkermord zu reden. Ich habe mich da noch einmal
schlau gemacht.
({0})
Ich habe mir die Urteile einiger Verwaltungsgerichte
vom Anfang 1999 zur Asylfrage angeschaut.
({1})
Ich zitiere:
„Eine explizit an die albanische Volkszugehörigkeit
anknüpfende politische Verfolgung ist auch im KoDr. Alexander S. Neu
sovo nicht festzustellen. Der Osten des Kosovo ist
von den bewaffneten Konflikten bislang nicht erfaßt, das öffentliche Leben in Städten wie Pristina,
Urosevac, Gnjilane usw. verlief im gesamten Konfliktzeitraum in relativ normalen Bahnen.“ Das
„Vorgehen der Sicherheitskräfte
- der jugoslawischen ({2}) nicht gegen Kosovo-Albaner als ethnisch definierte Gruppe gerichtet, sondern gegen den militärischen Gegner und dessen tatsächliche oder vermutete Unterstützer.“
Das war ein Zitat aus der Auskunft des Auswärtigen
Amtes vom 12. Januar 1999 an das Verwaltungsgericht
Trier.
Weiter, Urteil des Oberverwaltungsgerichts Münster
auf der Grundlage einer Lageanalyse des Auswärtigen
Amtes vom 24. Februar 1999:
Wenn im übrigen der ({3}) Staat auf die
Separatismusbestrebungen mit konsequenter und
harter Durchführung der Gesetze sowie mit antiseparatistischen Maßnahmen reagiert, denen sich ein
Teil der Betroffenen ins Ausland entzieht, ist dies
kein vom ({4}) Staat programmatisch
gesteuerter Vorgang, der auf die Ausgrenzung und
Vertreibung der Minderheit abzielt, sondern im Gegenteil auf ein Sicheinfügen dieses Volkes in den
Staatsverband.
Auch die Ereignisse seit Februar/März 1998 lassen
ein Verfolgungsprogramm wegen albanischer
Volkszugehörigkeit nicht erkennen. Die Maßnahmen der bewaffneten serbischen Kräfte sind in erster Linie auf die Bekämpfung der UCK und deren
vermutete Anhänger und Unterstützer gerichtet.
Das sind die Aussagen des Auswärtigen Amtes von 1998
und 1999, worauf sich wiederum zum Teil deutsche Gerichte in ihren Urteilen bezogen haben.
Also, Völkermord - ja oder nein?
({5})
Herr Neu, ich beantworte Ihre Frage ganz kurz. Ich
glaube, es sprach schon für sich selbst. Sie haben ja auch
an den Reaktionen hier gemerkt, wie grotesk das ist und
wie wahrgenommen wird, was Sie vortragen. Wo waren
Sie zu der Zeit, als in Jugoslawien systematisch Vertreibung und auch Mord stattgefunden haben?
Politiker sind ja gehalten, Gerichte generell nicht zu
kritisieren. Ich weiß, wie hoch Richter in Deutschland
angesehen sind. Ich will auch nicht darüber sprechen, in
welcher geistigen Umnachtung derjenige, der das Urteil
geschrieben hat, zu dem Zeitpunkt gelebt haben muss.
({0})
Ich muss Ihnen wirklich sagen: Das hier als politisches
Instrument zu missbrauchen, ist falsch. Ich bleibe dabei.
Kofi Annan hat von der heraufziehenden Wolke des Völkermords gesprochen. Diese Einschätzung teilen wir.
Deshalb war es richtig, wenn auch umstritten, an dieser
Stelle militärisch einzugreifen.
({1})
Es war ja insbesondere für die damalige Koalition
eine ganz schwierige Entscheidung. Wenn man zurückblickt, merkt man: Es war ein Paradigmenwechsel in der
Nachkriegsgeschichte. Ich bin deshalb auch froh, dass
wir den Parlamentsvorbehalt haben. Dadurch beraten
wir jedes Jahr zu Recht darüber, ob der Einsatz sinnvoll
ist und unter welchen Gegebenheiten dieses Mandat fortgesetzt werden kann. Staatsminister Roth hat ja gesagt:
Die Chance, jetzt die politische Lösung weiter voranzutreiben, ist riesig groß. Diese Chance sollten wir mit allen Möglichkeiten, die wir haben, nutzen.
Dabei spielt Europa die zentrale Rolle. Das war übrigens damals bedauerlicherweise nicht der Fall. Wir haben damals nicht die zentrale Rolle gespielt, sondern die
Amerikaner. Sie haben eigentlich das gemacht, wofür
die Europäische Union zuständig ist, nämlich in ihrer
Nachbarschaft selbst für Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit zu sorgen. Das hat die Europäische Union damals
wirklich auf die miserabelste Art und Weise nicht geschafft.
Heute haben wir die Chance, mit einer gemäßigteren
Regierung in Serbien, auf politische Kräfte in nahezu allen Ländern des früheren Jugoslawiens zuzugehen. Wir
können durch große Gesten das, was geschehen ist, zwar
nicht vergessen machen, aber zumindest können wir versuchen, es politisch zu heilen. Vor dem Hintergrund
glaube ich, dass man die Situation nutzen muss, die sich
gerade ergibt. Wenn KFOR einen Stabilisierungsbeitrag
leistet, ist das gut. Ich freue mich, zu hören, dass es bei
einem Militäreinsatz nicht tagtäglich zu Feuergefechten
kommt, dass nicht tagtäglich Personen schwer verwundet werden, dass es sich vielmehr um die letzte von drei
Verteidigungslinien handelt. Vor dem Hintergrund
glaube ich, dass das ein erfolgreiches Mandat ist.
Ich habe mich auch sehr darüber gefreut, zu hören,
dass man mit Blick auf die Zeit nach Ablauf des jetzt anstehenden Mandats - es ist erneut auf zwölf Monate angelegt - über eine Absenkung der Truppenhöchstgrenze
nachdenkt und intensiv darüber diskutiert. Wir begrüßen
es im Zweifel immer, wenn Soldaten wieder abgezogen
werden, zumal es sich hier um die 15. Einbringung dieses Mandats handelt. Aus unserer Sicht besteht also die
Chance, den politischen Prozess im früheren Jugoslawien weiter zu begleiten. Wir sind mit allen Vertretern
im Gespräch, so schwierig es auch im Einzelfall ist.
Jeder weiß um die Schwierigkeiten auf dem Balkan,
sei es nun in Albanien oder in Serbien selbst; jeder weiß,
wie schwierig es ist, dort staatliche Strukturen zu implementieren. Ich glaube, dass es trotzdem eine große
Chance gibt. Man kann auch eine mögliche Mitgliedschaft zur Europäischen Union als Mittel nutzen. Man
kann die Perspektive dazu als Vehikel einsetzen, um
diese Länder auf den richtigen Weg zu führen. Das sage
ich sicherlich nicht im Namen aller in meiner Fraktion,
aber ich spreche zumindest für den Großteil der Außen3128
politiker und der Europapolitiker in meiner Fraktion, die
ganz bewusst die Beitrittsperspektiven für alle Länder
des früheren Jugoslawiens offenhalten wollen. Aus meiner Sicht ist das der sinnvollste politische Weg, um für
dauerhafte Stabilität und für Frieden in der Region zu
sorgen.
Herzlichen Dank.
({2})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Dr. Tobias Lindner das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute erneut über eine Verlängerung des KFORMandats. Bei einem Mandat, das schon so lange Zeit
läuft, könnte man das Gefühl haben, die Verlängerung
sei eine Gewohnheitsübung, das sei Routine, da werde
sich nichts ändern. Wenn jemand, der sich in so einer
Welt bewegt, seine fünf Minuten Redezeit wie der
Kollege von der Linken für Ausführungen zur völkerrechtlichen Situation nutzt - Ausführungen, die ich, wie
ich sagen will, absolut nicht teile -, könnte ich das noch
verstehen.
Ich will meine fünf Minuten hier nutzen, um darüber
zu sprechen, was sich im Kosovo verändert hat und wo
Chancen liegen. Wenn wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, erneut über die Verlängerung dieses Mandats diskutieren, müssen wir sehen, dass KFOR statt wie anfangs
50 000 Soldatinnen und Soldaten heute nur noch 5 000
Soldatinnen und Soldaten umfasst, dass KFOR nicht
mehr im Mittelpunkt steht, sondern - der Staatsminister
hat von einer dritten Linie gesprochen - einen Rahmen
bietet, der es eines Tages hoffentlich möglich machen
wird, auf diese Mission zu verzichten. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist doch nach so langer Zeit ein erfreuliches Zeichen und ein Fortschritt.
({0})
Wir haben gehört, dass Diplomatie, Entwicklungszusammenarbeit und nicht zuletzt die EULEX-Mission in
den letzten Jahren zu Fortschritten geführt haben. Wir
haben darüber gesprochen, dass wir die Entwicklung
von Strukturen beobachten können, die einen Rahmen
schaffen, der sich selbst tragen kann und der einen erneuten Ausbruch von massiver Gewalt unmöglich
macht. Wir müssen aber genauso, liebe Kolleginnen und
Kollegen, zur Kenntnis nehmen, dass Angehörige von
EULEX immer wieder, gerade im Norden Kosovos, unter Beschuss geraten. Wir müssen zur Kenntnis nehmen,
dass im Spätjahr 2013 ein litauischer EULEX-Zöllner
bei seinem Einsatz ums Leben gekommen ist. Wir müssen, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch zur Kenntnis
nehmen, dass es bei Kommunalwahlen, die in Summe
erfolgreich und gut verlaufen sind, auch zu Gewaltausbrüchen gekommen ist. Wenn wir dies alles zur Kenntnis
nehmen, dann müssen wir heute zu dem Ergebnis kommen, dass nach wie vor, auch im nächsten Jahr, ein
KFOR-Einsatz notwendig sein wird. Für diesen Einsatz,
weil er eben den Rahmen bietet für eine Perspektive in
Richtung Europa, haben Sie die überwiegende Zustimmung meiner Fraktion, meine sehr geehrten Damen und
Herren.
({1})
Ich will noch auf einen anderen Punkt eingehen - der
Kollege Mißfelder hat das schon anklingen lassen -: Wir
führen heute nicht die Diskussion, ob Serbien eines
Tages Vollmitglied der Europäischen Union sein wird.
Wir führen heute auch nicht die Debatte darüber, ob
Verhandlungen über ein Assoziierungsabkommen der
Europäischen Union mit dem Kosovo zum Erfolg führen
werden. Aber wir führen meiner Meinung nach sehr
wohl die Diskussion darüber, dass man diesen beiden
Staaten eine Perspektive bieten und einen Weg aufzeigen
muss: Wenn ihr bereit seid, weitere Schritte in Richtung
EU zu gehen, wenn ihr bereit seid, eure Beziehungen zu
normalisieren, wenn ihr bereit seid, sowohl ganz praktische Schritte der täglichen Zusammenarbeit zu gehen als
auch über grundlegende Fragen zu reden, dann wird
euch eines Tages die Tür zur Europäischen Union offenstehen, dann gibt es einen Weg, dann gibt es ein Angebot
der Europäischen Gemeinschaft unter dem gemeinsamen
Dach Europa.
Ich will für mich ausdrücklich bekräftigen: Diese
offene Tür, dieser Weg ist eine Riesenchance für eine
Zukunft des Kosovos, für eine Zukunft der gesamten
Region von Serbien und Kosovo, für eine friedvolle
Zukunft ohne die KFOR eines Tages. Deswegen unterstützen wir, dass diese Tür offengehalten wird.
({2})
- Ich will, wenn hier über Elan gesprochen wird, zum
Abschluss doch noch eines sagen - auch wenn heute auf
den Tribünen keine Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr sitzen -: Es gab in diesen 15 Jahren, in denen
wir jetzt über Serbien, das Kosovo und KFOR reden,
({3})
viele Debatten, in denen es sich Kolleginnen und Kollegen meiner Fraktion und anderer Fraktionen nicht einfach gemacht haben.
({4})
- Herr Kollege Neu, ich finde es etwas fehl am Platz,
dass Sie, wenn ich davon spreche, dass Menschen hier
^
Gewissensentscheidungen treffen, das mit „Ach Gottchen“ kommentieren.
({5})
Wir als Abgeordnete sind in letzter Konsequenz unserem
Gewissen verantwortlich - gleich, wie wir entscheiden.
Für mich als Parlamentarier ist das das schönste und
höchste Gut, das ich in diesem Amt habe.
Zum Abschluss will ich sagen: Die Soldatinnen und
Soldaten der Bundeswehr haben es, ganz gleich, wie sich
die Kolleginnen und Kollegen hier in diesem Hause entscheiden - auch die Kollegen der Linken -, verdient,
nicht als Besatzungsarmee bezeichnet zu werden;
({6})
denn das, Herr Kollege Neu, wird dem Auftrag, der Mission und auch den Gefahren, denen sich unsere Soldatinnen und Soldaten aussetzen, nicht gerecht.
In diesem Sinne: Mit der Unterstützung unserer Fraktion für diesen Antrag der Bundesregierung gehen wir in
die Ausschussberatungen, und ich kann Ihnen unsere
Zustimmung versichern.
Ich danke Ihnen.
({7})
Das Wort hat der Kollege Florian Hahn für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und
Kollegen! KFOR dient weiterhin der militärischen Absicherung der Friedensregelungen für Kosovo. Im Kosovo
unterstützt die Bundeswehr EULEX, die Rechtsstaatsmission der EU im Kosovo, die Entwicklung eines
hoffentlich irgendwann stabilen, demokratischen und
multiethnischen Kosovo und den Aufbau der geplanten
kosovarischen Sicherheitskräfte.
Der Deutsche Bundestag hat diesem Mandat 1999 das
erste Mal zugestimmt. Seitdem haben wir es 14-mal
verlängert. Etwa 120 000 Soldaten waren seitdem im
Einsatz. Wir müssen auch 26 Tote beklagen.
Im Rahmen des aktuellen Mandats können bis zu
1 850 Soldatinnen und Soldaten eingesetzt werden. In einer besonders kritischen Situation - wir erinnern uns an
die Jahre 2011 und 2012; es war während des Einsatzes
der operativen Reserve - waren circa 1 250 deutsche
Soldatinnen und Soldaten nötig, um dort wieder Ruhe zu
erreichen. Mit Beruhigung der Situation Anfang 2013
wurde das deutsche Kontingent wieder reduziert, und es
beträgt heute knapp über 700 Soldatinnen und Soldaten.
Dies ist im Übrigen die zweitgrößte Mission unserer
Bundeswehr.
Deutschland stellt zurzeit mit der Einsatzkompanie
KFOR, dem Einsatzlazarett und Teilen der schnell verlegbaren operativen Reserve bedeutsame Fähigkeiten für
diese Mission. Ich finde es gut, dass wir Parlamentarier
uns regelmäßig mit den Mandaten insgesamt befassen,
und es ist richtig, sich zu fragen, ob dieses Mandat nach
so langer Zeit wirklich noch erforderlich ist und auch in
Bezug auf den Personalumfang noch den Anforderungen
vor Ort entspricht. Auch die 15. Verlängerung eines
Mandats darf nicht zur Routine werden; sie verlangt unsere volle Aufmerksamkeit.
Man sieht: Im Kosovo hat sich gerade auch im letzten
Jahr viel getan. Die gesamte Entwicklung im Kosovo ist
ein Beispiel dafür, dass die angestrebte Annäherung an
die Europäische Union ein starkes Druckmittel darstellt
und positive Wirkungen erzeugen kann. Ohne die
Aussicht, Verhandlungen über einen Beitritt - im Falle
Serbiens - oder eine Assoziierung - im Falle Kosovos aufzunehmen, wäre es nie zu Fortschritten in den Gesprächen zwischen Serbien und dem Kosovo gekommen.
Serbien muss sich jetzt als frischer EU-Beitrittskandidat erst recht an den angestrebten Zielen messen lassen
und alles in seiner Macht Stehende tun, um eine nachhaltige Stabilisierung im Nordkosovo zu unterstützen. Das
muss auch in den Beitrittsverhandlungen immer wieder
deutlich gemacht werden;
({0})
denn eine Stabilisierung gibt es im Kosovo noch nicht.
({1})
Positiv ist unter anderem zu werten, dass das kosovarische Parlament im April der Verlängerung von EULEX
zugestimmt und für die Bildung eines Kriegsverbrechertribunals votiert hat. Allerdings werden wir auch hier genau schauen müssen, wie es in der Praxis arbeiten wird
und ob wir das, was dort passiert, anerkennen können.
({2})
Insgesamt gibt es noch viel zu tun. Es gibt zwar eine
prinzipielle Einigung auf Grundzüge der Justizstrukturen
im Norden, dies wurde aber noch nicht endgültig besiegelt. Eine effektive Justiz ist aber Voraussetzung, damit
organisierte Kriminalität und Korruption endlich wirksam bekämpft werden können.
({3})
Es fehlt auch an der Etablierung des kosovoserbischen Gemeindeverbandes aus mehrheitlich serbischen Gemeinden. Auch die geplante Umwandlung der
kosovarischen Sicherheitskräfte in reguläre, defensiv
ausgerichtete Streitkräfte musste mit Blick auf die Parlamentsauflösung verschoben werden.
Fazit: Zurzeit ist Kosovo in einer noch immer fragilen
Übergangssituation, in der beides möglich erscheint: der
Weg zum Besseren und eine echte Normalisierung oder
ein erneuter Rückfall in Blockade und Eskalation. Wir
hoffen das Beste, aber bleiben auf das Schlimmste vorbereitet.
Es ist wichtig, alle Möglichkeiten der Reaktion zu behalten. Zu Recht ist im Antrag dargelegt, dass jetzt noch
nicht der Moment ist, Kräfte abzubauen und die Personalobergrenze abzusenken. Wir müssen auf Lageänderungen flexibel und angemessen reagieren können. Im
Sinne des Konzepts der drei Sicherheitslinien bleibt die
internationale Truppenpräsenz von KFOR so lange nötig, bis die Sicherheitsorgane Kosovos, gegebenenfalls
unterstützt durch die EU-Mission EULEX, ein sicheres
und stabiles Umfeld aufrechterhalten können.
Lassen Sie mich zum Schluss ein Wort zum Kollegen
Neu sagen: Das, was Sie hier abgeliefert haben, ist wirklich ein Hohn für alle Opfer von Unterdrückung und
Verfolgung im Kosovo Ende der 80er- und Anfang der
90er-Jahre.
({4})
Sie haben nicht einmal den Namen des Kriegsverbrechers Slobodan Milosevic genannt. Sie sind nicht darauf
eingegangen, dass Albaner im Rahmen eines Apartheidregimes systematisch aus ihren Berufen, aus Universitäten, aus Krankenhäusern gedrängt worden sind, dass
Schulen geschlossen wurden, dass Menschen von den
Verbrecherbanden Milosevics verfolgt wurden und es zu
Massakern und gewaltsamen Entführungen kam.
Hören Sie endlich mit der nationalistischen Propaganda eines alten Serbien auf. Das hat das heutige Serbien nicht verdient.
Danke schön.
({5})
Der Kollege Michael Brand hat für die Unionsfraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn wir heute das KFOR-Mandat verlängern, dann tun
wir das, weil uns alle vernünftigen Beobachter innerhalb
und außerhalb des Kosovos mahnen: Die KFOR ist und
bleibt noch auf absehbare Dauer der wichtigste Stabilitätsanker im noch instabilen Kosovo.
({0})
Die Gespräche mit der Verteidigungsministerin Ende
letzter Woche im Kosovo bei Bundeswehr, KFOR und
auch EULEX haben eines bestätigt: Wir sind dort noch
lange nicht durch.
Ich will einige kritische Anmerkungen zur Entwicklung im Kosovo machen. Als jemand, der die Entwicklung dort seit langem intensiv beobachtet, aber auch
begleitet, muss ich feststellen: Weder Stabilität noch
Rechtsstaat noch stabile staatliche Strukturen, die europäischen Standards entsprechen, sind bisher in einem zufriedenstellenden Ausmaß geschaffen worden.
Wir müssen uns schon kritisch die Frage stellen: Wie
kann es eigentlich sein, dass die mit Abstand größte
Mission, die die EU je auf den Weg gebracht hat, in einem der kleinsten Länder der Welt bis heute so wenig
Wirkung und Erfolge zeigt?
({1})
Die mangelhaften Erfolge, die ich angesprochen
habe, nicht nur der EULEX, sondern auch vieler anderer
internationaler Organisationen, sind zu einem wesentlichen Teil der erkennbaren Weigerung der kosovarischen
Regierung zuzurechnen, ernsthaft gegen Kriminalität
und Korruption vorzugehen. Auch müssen wir uns
eingestehen, dass zu spät erkannt wurde, dass dieses Problem die staatlichen Strukturen erfasst hat und zu durchdringen droht. Das ist keine Banalität. Die einfache Bevölkerung in den Städten und Dörfern trägt schwer an
dieser Entwicklung. Es sind gerade diese Menschen, die
auf KFOR setzen - als Anker für Recht und Gesetz.
Als wir vergangenen Donnerstag mit der Ministerin in
Pristina waren, zeigte die Titelseite der wohl einzigen
unabhängigen kosovarischen Tageszeitung Koha Ditore
eine Grafik aus NATO-Quellen mit der Schlagzeile:
„Die Mafia in der Politik Kosovas“. Diese Grafik aus
- ich betone das - NATO-Quellen zeigte Mitglieder der
Regierung einschließlich des amtierenden Ministerpräsidenten. Für uns mag das schockierend erscheinen - für
die Bevölkerung im Kosovo ist es traurige Erkenntnis
seit Jahren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, was
Ihre Zwischenrufe angeht: Man kann negative und
schlimme Entwicklungen im Kosovo an der Spitze der
Regierung kritisch ansprechen, ohne einseitig Partei zu
ergreifen,
({2})
ohne undifferenziert zu argumentieren und ohne die
Unabhängigkeit dieses Landes infrage zu stellen, und im
Übrigen auch ohne Propaganda. Lieber Herr Neu, das,
was Sie geboten haben, war wirklich die Rhetorik Milosevics. Das hat Serbien heute nicht verdient.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Staaten des
westlichen Balkans behalten die europäische Perspektive, und sie brauchen sie auch. Aber es bleibt bei unserer Linie. Deswegen sind die kritischen Anmerkungen
notwendig: Europa ist eine Wertegemeinschaft. Die EU
ist nicht zum Nulltarif zu haben. Es gibt Kriterien, an die
sich alle halten müssen, die den Weg in die Europäische
Union suchen. Es darf und es wird hierbei keine politischen Rabatte geben.
Die deutsche Position ist glasklar: Wer für Korruption
und Verbrechen steht, dem steht die Tür nach Europa
nicht offen. Wer Korruption unterstützt, der kann nicht
auf unsere Unterstützung setzen. Für EU und NATO gilt
auch: Wer die weitere Ausweitung krimineller Strukturen stoppen will, der muss einen klaren Kurs fahren. Wir
müssen und werden uns und andere vor dem politischen
Krebsgeschwür der Korruption und der Kriminalität
schützen. Für das KFOR-Mandat bedeutet dies: Wer diejenigen schützen und stärken will, die auf einen echten
Rechtsstaat hinarbeiten, der tritt für die Verlängerung
dieses Mandates ein.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei aller Kritik an
den Zuständen in vielen Ländern des westlichen Balkans
darf uns eines nicht passieren: Wir dürfen nicht vergessen, dass die Ursache für all diese Verwerfungen in den
Angriffskriegen des Regimes von Slobodan Milosevic
und Aggressionen gegenüber den Nachbarländern zu suchen sind. - Sie müssen nicht den Kopf schütteln, Herr
Neu. Sie haben ihn nicht einmal erwähnt. Dass Sie ihn
komplett ignorieren, ist unglaublich.
({5})
Wahr ist auch, dass wir auf dem Weg vom Krieg bis
heute vieles erreicht haben und dies auch stabilisieren
können. Manches ist allerdings nicht konsequent genug
angepackt worden.
Kollege Brand, gestatten Sie eine Bemerkung oder
Frage des Kollegen Neu?
Ich glaube, das nützt nichts mehr. Die Zeit will ich
den anderen Kollegen ersparen.
({0})
Wenn ich davon spreche, was nicht konsequent genug
angepackt worden ist, dann meine ich zum Beispiel aktuelle Probleme im Norden wie die Frage der Struktur
mit den serbischen Gemeindeverbänden, die Bewegungsfreiheit von EULEX und die Unabhängigkeit der
Justiz. Auch ein Mangel an Konsequenz hat zu der aktuellen problematischen Lage der inneren und äußeren
Sicherheit auf dem Balkan beigetragen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir stehen wieder
vor Wahlen. In der Republik Kosovo finden in wenigen
Tagen, am 8. Juni, vorgezogene Neuwahlen statt. Das
Ergebnis und die Auswirkungen auf Rechtsstaat, Zusammenarbeit und eine reale europäische Perspektive werden abzuwarten sein. Wer Europa sagt, der muss Europa
auch umsetzen. Dazu zählen Rechtsstaat, Demokratie,
gute Nachbarschaft, Schutz von Minderheiten und andere Kernelemente. Dazu zählt im Übrigen auch, dass
die Regierung für das Volk da ist und nicht dafür, die eigenen Taschen zu füllen.
({1})
Die neue Regierung in Serbien will einen neuen Kurs
einschlagen. Wir setzen darauf, dass dies trotz der neuen
Nähe Serbiens zu Russland - dabei geht es auch um die
Frage der Sanktionen im Zusammenhang mit der
Ukraine - ein Kurs in Richtung EU bleiben wird.
Eines bleibt mit Blick auf Serbien wie auf Kosovo
klar: Wir dürfen die KFOR-Truppen so lange von dort
nicht abziehen, wie wir nicht die sichere Überzeugung
haben, dass wir nach einem Abzug nicht rasch wieder
zurückmüssen, weil die nächste Krise ausbricht. Die
KFOR bleibt Stabilitätsanker nicht nur für den Kosovo,
sondern auch für die Stabilität auf dem Westbalkan. Dass
KFOR dies nicht alleine leisten kann, liegt auf der Hand.
Die Politik ist gefragt. Für die Zukunft brauchen wir für
den Kosovo ein besseres, kohärentes Konzept aus Sicherheitspolitik, wirtschaftlicher Entwicklung und einer
Perspektive in Richtung Europa. Nur so kann der noch
weite Weg gelingen, diese Region, die mehrfach Ausgangspunkt schwerer europäischer Krisen und Kriege
war, dauerhaft zu stabilisieren.
Ich danke der Bundesregierung, insbesondere unserer
Verteidigungsministerin, und vor allem den Soldatinnen
und Soldaten dafür, dass sie einen viel wichtigeren
Dienst tun, als es den allermeisten vielleicht bewusst ist.
Ich sehe, Frau Präsidentin, dass meine Redezeit abgelaufen ist. Zum Schluss will ich noch eines loswerden:
Wenn man über den Balkan spricht, dann will ich die
akute große Flutkatastrophe dort nicht unerwähnt lassen.
Die Schäden in Serbien werden auf über 1 Milliarde
Euro, die in Bosnien-Herzegowina auf über 3 Milliarden
Euro geschätzt. Ich habe heute Gespräche mit Vertretern
von Luftfahrt ohne Grenzen und der Aktion Deutschland
Hilft geführt. Wir brauchen viele Spender und viel Unterstützung, vor allem jetzt bei der Nothilfe.
({2})
Auch beim Räumen der gefährlichen Landminen, die in
die Städte und Dörfer geschwemmt worden sind, sollten
wir rasch und massiv helfen. Wir erkennen, dass die
Helfer und die Bürokratie dort mit dem Ausmaß der Katastrophe völlig überfordert sind. Vieles findet nicht den
Einzug in unsere Nachrichtensendungen und Zeitungen.
Umso mehr sollten wir rasch unterstützen, und zwar in
technischer, organisatorischer und finanzieller Hinsicht.
Wir haben die Kenntnisse, und wir wären auch herzlich
willkommen.
Vielen Dank.
({3})
So wichtig der letzte Abschnitt auch war, der offensichtlich auf Zustimmung bei allen Fraktionen des Hauses gestoßen ist,
({0})
bitte ich trotz alledem, in Zukunft zu berücksichtigen,
dass die Ankündigung des Schlusses einer Rede nicht
den Schlusspunkt ersetzt.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/1415 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Susanna
Karawanskij, Kerstin Kassner, Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Gemeindewirtschaftsteuer einführen - Kommunalfinanzen stärken
Drucksache 18/1094
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Innenausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Susanna Karawanskij für die Fraktion Die Linke.
({2})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Die finanzielle Situation
vieler Kommunen ist katastrophal. Das hohe Niveau der
Aufnahme kurzfristiger Kredite, also von Kassenkrediten, das derzeit bei 48 Milliarden Euro liegt und nur der
Deckung laufender Kosten, aber nicht der Finanzierung
von Investitionen dient, spiegelt die Situation vieler
Kommunen treffend wider. Es besteht dringender
Handlungsbedarf. Das KfW-Kommunalpanel, das vor
wenigen Tagen erschienen ist, zeigt auf, dass der Investitionsstau noch immer riesig ist.
Während manche strukturstarke Kommunen zuletzt
tatsächlich mehr Steuern eingenommen haben, befinden
sich finanzschwache Kommunen in einem Teufelskreis.
Darüber können auch die aktuellen Steuerschätzungen
nicht hinwegtäuschen. Die Kommunen werden in einem
allgemeinen Kürzungswahn gezwungen, immer weiter
ihre Schulden abzubauen, wodurch jedoch die Investitionen komplett brachliegen und die öffentliche Infrastruktur Schritt für Schritt verrottet. Dadurch wird in den
Kommunen jegliches Wirtschaftswachstum abgewürgt.
Höhere Steuereinnahmen bleiben dann aus, und die Verschuldung kann ebenfalls nicht abgebaut werden. Ein
Übriges leistet dann noch die unsägliche Schuldenbremse. Das alles führt zu einem stärkeren Auseinanderdriften von reichen und armen Kommunen, die an der
Wand stehen. Genau das muss ein Ende haben.
({0})
Wir brauchen eine Stärkung der Kommunalfinanzen,
damit nicht nur die Pflichtaufgaben, sondern auch die
freiwilligen Aufgaben der Kommunen erfüllt werden
können. Neben einer Soforthilfe für Kommunen, die wir
als kommunale Investitionspauschale in Höhe von über
3 Milliarden Euro fordern, brauchen die Kommunen
mittelfristig und langfristig stabile und höhere Einnahmen. Zur Stärkung dieser haben wir einen Antrag vorgelegt, der die Weiterentwicklung der Gewerbesteuer zu einer Gemeindewirtschaftsteuer vorsieht. Wir wollen die
Gewerbesteuerumlage an den Bund als Sofortmaßnahme
umgehend einstellen und dann sukzessive den Anteil an
die Länder bis Ende 2019 abschaffen. Damit würde die
Gemeindewirtschaftsteuer vollständig zu einer reinen
Kommunalsteuer. Das ist gut für die kommunalen Haushalte, und das sind wir unseren Kommunen, in denen wir
alle schließlich leben, auch schuldig.
({1})
Gehen wir ins Detail. Drei Aspekte sind uns bei der
Gemeindewirtschaftsteuer wichtig. Zum einen wird die
Last der Gewerbesteuer auf mehr Schultern verteilt;
denn alle unternehmerisch Tätigen mit der Absicht, Gewinn zu erzielen, sollen einbezogen werden. Das betrifft
beispielsweise die Freiberufler. Des Weiteren wollen wir
die Bemessungsgrundlage verbreitern. Dabei berücksichtigen wir auch die Belange von Kleinunternehmerinnen und Kleinunternehmern und Existenzgründern, was
bedeutet, dass die Schuldzinsen von nun an dazugerechnet werden. Mieten und Pachten sind gleichfalls in voller
Höhe zu berücksichtigen. Gewinne und Verluste müssten dann in der Entstehungsperiode zeitnah geltend gemacht werden, damit eine Kleinrechnung von Gewinnen
unterbunden wird; denn wir Linke wollen die Steuerschlupflöcher für Unternehmen nicht öffnen, sondern
schließen.
({2})
Schließlich wollen wir angemessene Freibeträge für
Kleinunternehmerinnen und Kleinunternehmer und
Existenzgründer, um die Steuerbelastung zu mindern
und um vor allen Dingen eine Substanzbesteuerung zu
vermeiden.
Wir brauchen solide Finanzen für die Kommunen.
Ein erster wichtiger Schritt dahin ist die Gemeindewirtschaftsteuer. Geschlossene Büchereien, verrottende
Theater oder auch Schwimmbäder, Straßen als Buckelpisten - das geht alle Bürgerinnen und Bürger an. Wer
sich für die Kommunen einsetzen will, wer sich für die
Menschen in den Kommunen einsetzen will, muss unserem Antrag zustimmen.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Matthias Hauer für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Mit Ihrem Antrag haben Sie von der Linksfraktion ganz tief in die politische Mottenkiste gegriffen.
({0})
Sie präsentieren uns heute einen veralteten Antrag.
({1})
Er ist vier Jahre alt, wurde damals nahezu wortgleich gestellt und aus guten Gründen schon 2010 vom 17. Deutschen Bundestag abgelehnt. Ich sage Ihnen schon einmal
eines voraus: Auch die Neuauflage heute wird scheitern;
denn Ihr Antrag bedeutet nichts anderes als eine massive
Steuererhöhung für den Mittelstand, und das wird es mit
dieser Bundesregierung nicht geben.
({2})
Sie wollen, dass Freiberufler Ihre Gemeindewirtschaftsteuer zahlen; Sie wollen also eine neue Steuer zulasten von Freiberuflern. Sie wollen, dass der Mittelstand durch eine veränderte Bemessungsgrundlage
stärker belastet wird. Sie wollen also höhere Steuern
auch für andere Selbstständige. Ich sage Ihnen sehr deutlich: Wir wollen das nicht. Ihre Pläne führen zu einer
existenzgefährdenden Substanzbesteuerung. Wenn Sie
dem Mittelstand die Luft zum Atmen nehmen, dann
treiben Sie Unternehmen in die Pleite. Sinkende Steuereinnahmen, steigende Arbeitslosigkeit - das ist die Konsequenz Ihres Antrags.
Ihr Antrag ist aber nicht nur inhaltlich falsch, er ist
auch handwerklich schlecht. Sie fordern die Abschaffung der Gewerbesteuerumlage. Davon würden jedoch
die Kommunen profitieren, die ohnehin schon ein hohes
Gewerbesteueraufkommen haben. Gerade den finanzschwachen Kommunen, denen wir alle helfen wollen,
würden Sie mit dieser Maßnahme nicht helfen. Die in
Ihrem Antrag beklagte Ungleichentwicklung zwischen
armen und reichen Kommunen würde sich dadurch sogar noch verstärken.
({3})
Der Bund hat in den vergangenen Jahren massive
Anstrengungen unternommen, um die Finanzkraft aller
Kommunen zu stärken. Die schwarz-gelbe Bundesregierung hat mit der Übernahme der Kosten der Grundsicherung die größte Kommunalentlastung in der Geschichte
der Bundesrepublik Deutschland umgesetzt. Allein im
Zeitraum 2012 bis 2016 ist das eine Entlastung von
knapp 20 Milliarden Euro. Von dieser Übernahme profitieren insbesondere die finanzschwachen Kommunen.
({4})
Diesen Weg der konsequenten Kommunalentlastung
geht die Große Koalition weiter. Beispielsweise wird der
Bund die Kommunen mit dem Bundesteilhabegesetz um
5 Milliarden Euro jährlich entlasten. Bereits vor der Verabschiedung des Gesetzes wird mit einer Entlastung von
jährlich 1 Milliarde Euro begonnen. Insgesamt profitieren die Kommunen allein im Jahr 2014 direkt oder indirekt von den Entlastungen durch den Bund in einer Höhe
von 22,3 Milliarden Euro. Zumindest das hätten Sie von
der Linksfraktion in Ihrem Antrag berücksichtigen müssen.
Wir dürfen eines nicht übersehen: Die Finanzlage der
Kommunen in Deutschland ist sehr unterschiedlich.
Während im letzten Jahr die Kommunen insgesamt
einen positiven Finanzierungssaldo von etwa 1,1 Milliarden Euro aufweisen konnten, stehen einige Kommunen buchstäblich mit dem Rücken zur Wand.
In den Städten Nordrhein-Westfalens ist die Lage besonders dramatisch. Ich betone das; denn ich komme aus
Nordrhein-Westfalen. Die sechs Städte mit der höchsten
Gesamtverschuldung in Deutschland liegen allesamt in
Nordrhein-Westfalen. Fast die Hälfte aller Gemeinden in
Nordrhein-Westfalen, genauer gesagt: 177 von 396 Gemeinden, befindet sich in einer Haushaltsnotlage, Tendenz steigend. Beispielsweise drohte meiner Heimatstadt noch vor einigen Jahren der vollständige Verzehr
des Eigenkapitals. Auch wenn ein breites Parteienbündnis vor Ort mit klugen Entscheidungen dafür gesorgt hat,
dass Essen heute erstmals seit 1982 keine neuen Schulden mehr macht, belasten uns die Altschulden weiterhin
massiv.
Vor allem der zunehmende Anteil der Kassenkredite,
also sozusagen der Dispokredit der Kommunen - Frau
Karawanskij, das haben Sie schon erwähnt -, bereitet mir
große Sorgen. Ein Problem ist, dass diese Kassenkredite
eben nicht an Investitionsausgaben geknüpft sind und dass
eine mögliche Erhöhung der Zinssätze wie ein Damoklesschwert über den Kommunen schwebt. Die Kommunen in
Nordrhein-Westfalen haben - das sei noch erwähnt mehr Kassenkredite aufgenommen als alle anderen Kommunen in allen anderen Bundesländern zusammen.
Es ist auch kein Zufall, dass vor allem Kommunen in
Nordrhein-Westfalen betroffen sind. NRW hat den
höchsten Kommunalisierungsgrad in ganz Deutschland.
Das heißt, nirgendwo anders werden so viele Aufgaben
und damit auch so viele Ausgaben vom Land auf die
Kommunen übertragen. Diesem hohen Kommunalisierungsgrad steht gerade in Nordrhein-Westfalen leider ein
völlig unzureichender kommunaler Finanzausgleich
durch das Land gegenüber. Hier muss das Land endlich
seiner Verantwortung gerecht werden; denn es ist Aufgabe des jeweiligen Bundeslandes, für eine angemessene
finanzielle Ausstattung der Kommunen zu sorgen. So
könnte den notleidenden Kommunen tatsächlich geholfen werden.
({5})
Ich komme nun zum Schluss. Der Bund leistet trotz
der klaren Länderzuständigkeit einen wichtigen Beitrag
zur finanziellen Stärkung der Kommunen. Diesen Weg
muss der Bund weiterhin gehen. Der Antrag der Linksfraktion nutzt den finanzschwachen Kommunen hingegen überhaupt nichts. Er führt stattdessen zur Belastung
des Bundeshaushalts. Er gängelt den Mittelstand mit höheren Steuern. Deshalb gehört dieser Antrag dahin, wo
er herkommt: in die politische Mottenkiste, verbunden
mit der Hoffnung, dass Sie uns diesen Antrag in vier
Jahren nicht erneut vorlegen.
({6})
Vielen Dank.
({7})
Kollege Hauer, das war Ihre erste Rede im Deutschen
Bundestag. Ich wünsche Ihnen im Namen des gesamten
Hauses viel Erfolg für Ihre Arbeit.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Britta Haßelmann für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren Besucherinnen und Besucher! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Es ist gut, wenn wir im Deutschen Bundestag Gelegenheiten finden, uns mit dem Thema Kommunalfinanzen zu befassen. Herr Hauer, viele machen es
sich ein bisschen zu einfach, insbesondere Sie. Ich habe
Ihnen während Ihrer Rede keine Zwischenfrage gestellt,
und ich habe auch nicht dazwischengerufen; denn es war
Ihre erste Rede. Herzlichen Glückwunsch! Aber zu sagen, das sei alles Ländersache, ist ein bisschen zu einfach. Da machen Sie sich einen schlanken Fuß.
Wir, der Bund, haben eine Verantwortung für die
Kommunen. Es gibt viele Bundesleistungsgesetze, für
die der Bund nicht ausreichend finanzielle Verantwortung trägt, was sich in den Kommunen widerspiegelt.
Wir müssten in diesem Parlament längst eine Debatte
darüber führen. Ihre Analyse greift wirklich zu kurz.
({0})
Stichwort „Eingliederungshilfe“: Ein Bundesleistungsgesetz mit einem Bundesteilhabegeld müsste auf
den Weg gebracht werden. Für die Eingliederungshilfe
werden im Moment bundesweit rund 13 Milliarden Euro
ausgegeben. Diese Hilfe wird zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen zu 100 Prozent von den Kommunen finanziert. Auch in vielen anderen Bundesländern ist das
eine kommunale Leistung. Daran sehen wir doch ganz
eindeutig, dass für die in dem entsprechenden Bundesgesetz verankerten Leistungen, die jedem Menschen mit
einer Behinderung zustehen, nicht die Kommunen die finanzielle Verantwortung übernehmen sollten; hier ist
vielmehr der Bund in der Pflicht. Ich finde es ziemlich
abenteuerlich und eigentlich auch ein Stück weit erbärmlich, dass Schwarz-Rot gesagt hat: Ab 2018 entlastet der
Bund die Kommunen um 5 Milliarden Euro. Das war im
Fiskalpakt mit den Ländern anders vereinbart. Allein an
diesem einen Bundesleistungsgesetz zeigt sich ganz
deutlich, wie wichtig die Frage der Verantwortung des
Bundes für die Kommunen ist. Daran gibt es nichts herumzureden.
({1})
Ein zweiter Punkt. Gerade in Bezug auf NordrheinWestfalen wollen wir daran denken, dass wir mehrere
Verfassungsgerichtsurteile haben, die die schwarz-gelbe
Landesregierung leider ausgelöst hat.
({2})
Wir haben allein in den letzten drei Jahren in NordrheinWestfalen - um da einmal für Klarheit zu sorgen - über
300 Millionen Euro zusätzlich an die Kommunen gegeben. Die hatten Sie den Kommunen entzogen. So sieht es
auch republikweit aus.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, es
geht heute um Ihren Antrag. Deshalb will ich zum
Thema Gewerbesteuer auch noch etwas sagen. In der
Tat, auch wir glauben, dass die Weiterentwicklung der
Gewerbesteuer zu einer kommunalen Wirtschaftssteuer
sinnvoll und richtig ist. Es geht hier um die Frage: Wie
können wir Bemessungsgrundlagen verbreitern? Wie
können wir die Einnahmen verstetigen? Richtig und
wichtig ist, darüber zu diskutieren. Das werden wir im
Folgenden im Fachausschuss tun.
Ich glaube, dass der Ansatz mit der Gewerbesteuerumlage ziemlich kompliziert ist. Den teilen wir in der
Sache so nicht. Bei dem Verteilungsmechanismus zwischen Bund, Ländern und Kommunen müssten wir dann
natürlich sehr schnell auch über die Einkommensteuer
reden. Deshalb müssen wir mit sehr großer Vorsicht darangehen.
Insbesondere in Bezug auf die Kommunen mit Kassenkrediten und die notleidenden Kommunen muss man Folgendes sehen: Die Disparität der Kommunen - Herr
Hauer, da hatten Sie recht - ist sehr groß. Es gibt arme
Kommunen, es gibt reiche Kommunen. Es gibt einen
Überschuss von 1,7 Milliarden Euro, der sich aber sehr
ungleichmäßig verteilt. Zeitgleich gibt es eine Steigerung
der Kassenkredite. Das zeigt schon, wie schwierig und
wie unterschiedlich die Lage der Kommunen ist. Ich
glaube, ein Schlüssel bei der Frage der Entlastung der
Kommunen ist das Thema „soziale Kosten“, und zwar
viel eher als das Thema „Weiterentwicklung der Gewerbesteuer“. Darauf müssen wir jetzt auch als Bund den Fokus legen. Wir sind dazu bereit. Wir sind gespannt, wann
Sie endlich bereit sind, die Zusagen an die Kommunen
einzulösen, die Sie in Ihrem Koalitionsvertrag gemacht
haben.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat der Kollege Bernhard Daldrup für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Frau Karawanskij, Sie haben gesagt: Wer etwas
für die Menschen tun will, muss unserem Antrag zustimmen. - Das ist nicht gerade bescheiden. Wir wollen etwas für die Menschen tun. Deswegen werden wir Ihrem
Antrag nicht zustimmen. Ich werde Ihnen auch sagen,
warum das so ist.
Wir haben zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine Reihe
von Befunden und Analysen, die die dramatische Situation vieler Kommunen in Deutschland darstellen und beweisen.
({0})
Sie haben das KfW-Kommunalpanel genannt. Wir haben
die Kommunalfinanzberichte der Spitzenverbände. Wir
haben Kommunalstudien von Ernst & Young, von
Bertelsmann. Kurzum: Es ist durchaus interessant, kurz
vor den Kommunalwahlen in neun Bundesländern das
Thema hier noch einmal aufzugreifen; wir haben jedenfalls nichts dagegen.
Die rasant gestiegenen Sozialausgaben - in 2014 beispielsweise werden es etwa 50 Milliarden Euro sein - setzen die Kommunen unter enormen Druck; das ist zutreffend. Die massive Ausweitung von Kassenkrediten - Frau
Haßelmann hat das angesprochen; Herr Hauer, Sie haben
es auch erwähnt -, nämlich 48 Milliarden Euro zum gegenwärtigen Zeitpunkt zur Finanzierung laufender Ausgaben, ist in der Tat ein Problem, das viele Kommunen in
eine sogenannte Vergeblichkeitsfalle führt. Damit ist gemeint: wachsende Verschuldung trotz größter kommunaler Sparanstrengungen, kein Spielraum für Investitionen.
Das alles ist hier dargestellt worden. Der Investitionsstau
- Sie haben gesehen: er wird etwas geringer - ist mit 128
Milliarden Euro schon noch dramatisch. Dort, wo er abgebaut wird, handelt es sich um einzelne Kommunen,
deren Finanzlage besser ist.
Ich komme damit zu einem Kernproblem der Kommunalfinanzen in der Bundesrepublik Deutschland: Die
Schere zwischen den vermeintlich reichen Kommunen
- es fällt mir immer noch schwer, von „reichen Kommunen“ zu reden - und den tatsächlich armen Kommunen
in der Bundesrepublik Deutschland geht immer weiter
auseinander - in sehr unterschiedlichen Bundesländern
im Übrigen; ich komme auch gern noch auf NordrheinWestfalen zu sprechen. Dieser Sachverhalt muss uns
wichtig sein, weil das nicht nur den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Gleichwertigkeit von Lebensverhältnissen verletzt, weil das nicht nur ein Problem für die institutionelle Garantie der kommunalen Selbstverwaltung
im Grundgesetz ist, sondern - jetzt wende ich mich auch
an andere Fachpolitiker, an Wirtschaftspolitiker beispielsweise - weil das auch für den Wirtschaftsstandort
insgesamt bedrohlich ist.
({1})
Denn es ist nicht nur eine Frage der Nähe zu den Absatzmärkten, sondern auch der technischen, sozialen und
kulturellen Infrastruktur, die heutzutage als Standortfaktor von elementrarer Bedeutung ist. Vor dem Hintergrund, dass die freiwilligen Leistungen immer weiter zusammengestrichen werden und die Attraktivität immer
weiter nachlässt, kann ich Ihnen sagen: Trostlosigkeit in
einer Stadt ist kein Standortfaktor. Insofern sind wir alle
gefordert, uns mit dieser Fragestellung zu befassen.
({2})
Hier wird dann oft über die Verantwortung der Länder
gesprochen. Dem Grunde nach haben wir da wahrscheinlich keinen Dissens. Ich komme auch aus Nordrhein-Westfalen. Herr Hauer, Sie sind nicht so ganz auf
der Höhe der Zeit mit Ihrer Darstellung, was die Fragen
der Wirkungen des Stärkungspaktes angeht. Ich will ja
im Einzelnen gar keine NRW-Debatte führen; aber ich
kann mich noch gut daran erinnern, als die Regierung
den Kommunen beispielsweise die Beteiligung an der
Grunderwerbsteuer komplett gestrichen hat. Das machte
pro Jahr ungefähr 160 Millionen Euro aus. Die Kommunen wurden zur Sanierung des Landeshaushaltes herangezogen. Das machte jährlich ungefähr 140 Millionen
Euro aus. Es gab eine verfassungswidrige Abrechnung
der Einheitslasten. Das machte ungefähr 800 Millionen
Euro aus. Die finanziellen Probleme vieler Kommunen
in Nordrhein-Westfalen haben sich in dieser Zeit dramatisch verschlechtert. Dieser Weg, den seinerzeit die Regierung von Jürgen Rüttgers eingeschlagen hat, ist unter
der Regierung von Hannelore Kraft deutlich verlassen
worden.
({3})
- Herr Brinkhaus, das ist doch die Wahrheit. Meine
Güte, ich will doch gar nicht opponieren.
({4})
Aber die kommunale Finanzlage ist in vielen Städten
immer noch dramatisch. Ich hatte in der letzten kommunalpolitischen Debatte auf eine Reihe anderer Städte aus
Hessen und anderen Ländern hingewiesen. Aber warum
sage ich das eigentlich? Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn mittlerweile acht Bundesländer - acht Bundesländer - kommunale Rettungsschirme aufspannen,
Stärkungspakte beschließen, Entschuldungsfonds einrichten, dann sollten wir uns meines Erachtens dem Problem zuwenden.
({5})
Ich finde, diese Koalition wendet sich dem Problem zu.
Das will ich erläutern.
Erster Punkt. Die Investitionskraft wird gestärkt mit
700 Millionen Euro für die Städtebauförderung und Investitionen in Verkehrsinfrastruktur, Kitas, Bildung,
Hochschulen im Umfang von 11 Milliarden Euro. Das
hilft auch den Kommunen.
Zweiter Punkt. Die Kosten der Grundsicherung im
Alter werden vollständig übernommen. Das ist ein Ergebnis der Verhandlungen im Bundesrat und eine Gemeinschaftsleistung, durch die die Kommunen massiv
von einem großen Teil der Soziallasten befreit werden eine wichtige Geschichte.
({6})
Dritter Punkt. Durch jeweils 1 Milliarde Euro in 2015
und 2016, die wir zielgerichtet am besten in der Erhöhung des Bundesanteils an den Kosten der Unterkunft
eingesetzt sehen, werden auch die Kommunen weiter
entlastet. Das parlamentarische Verfahren im Unterausschuss Kommunales - Herr Liebing hat darauf hingewiesen - steht ja noch bevor.
Vierter Punkt. Ein modernes Bundesleistungsgesetz,
Frau Haßelmann, das auch die Kommunen um 5 Milliarden Euro jährlich entlasten soll, ist ein entscheidender
Schritt. Unser Ziel bleibt es, diese Entlastung auch noch
in 2017 wirksam werden zu lassen.
({7})
Diese Vereinbarungen des Koalitionsvertrages sind
Fortschritte für die Städte und Gemeinden, weil konzeptionell - das unterscheidet uns - die Entlastung der
Kommunen mit den ständig steigenden Sozialausgaben
verknüpft wird. Es geht nicht einfach nur um mehr Geld,
sondern auch um die Fragestellung: Wie kann man
Kommunen entlasten und gleichzeitig das Problem
wachsender Sozialausgaben thematisieren? Das ist ein,
glaube ich, wichtiger und entscheidender Unterschied,
den ich hier ansprechen will. Ich empfehle übrigens die
aktuelle Studie von Hans Eichel und anderen zur Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen, die genau an diese Fragestellung anknüpft. Damit werden wir
uns aber in der Zukunft befassen.
Jetzt will ich noch ein paar Bemerkungen machen, die
Ihren Antrag zur Gewerbesteuer betreffen, Frau
Karawanskij.
Erstens. Die Koalition stellt die Gewerbesteuer nicht
zur Disposition. Das ist eine ganz wichtige Feststellung.
({8})
Zweitens. Sie plädieren in Ihrem Antrag im Kern für
das Kommunalmodell des Städtetages; Herr Hauer hat
darauf hingewiesen. Wir müssen für ein solches Modell,
glaube ich, noch ziemlich viel Überzeugungsarbeit leisten - Sie übrigens auch. Ich bin gestern bei der Anhörung im Tourismusausschuss gewesen. Da ging es um
die gewerbesteuerrechtliche Hinzurechnung für den Hoteleinkauf. Mit Ihrem Antrag wollen Sie diese Möglichkeit sogar noch erweitern. Ich hatte nicht den Eindruck,
dass Ihre Position dort fragend oder fordernd eingebracht worden wäre; ganz im Gegenteil. Erkundigen Sie
sich einmal! Eine Debatte und eine Klärung, die Sie
selbst bei sich herbeiführen müssen, scheint mir da
wichtig zu sein.
({9})
Drittens. Die Gewerbesteuerumlage ist in den 60erJahren eingeführt worden mit der Zielsetzung - ohne es
mit Blick auf die Zeit hier im Detail darzustellen -: Verstetigung der Einnahmen und weniger Konjunkturanfälligkeit. Das waren die Ziele bei der Einführung der Gewerbesteuerumlage. Diese Ziele waren und sind richtig.
({10})
Deswegen ist es völlig falsch, die Gewerbesteuerumlage
abzuschaffen; denn wenn man sie abschafft - das will
ich an dieser Stelle sagen -, schafft man ein flexibles Instrument des Finanzausgleichs zwischen Bund, Ländern
und Kommunen ab, beschädigt damit das Gleichgewicht
des Finanzausgleichs und gefährdet das Interesse von
Bund und Ländern am Erhalt der Gewerbesteuer. Das
sollten Sie nicht voranbringen.
({11})
Weiter potenziert man die Abhängigkeit der Kommunen
von einzelnen starken Gewerbesteuerzahlern.
Besonders problematisch an Ihrem Antrag ist, dass
die Vorteilsnehmer Ihres Vorschlags die reicheren Kommunen wären und nicht die ärmeren. Das heißt mit anderen Worten: Das ist ein Aufruf zum interkommunalen
Gewerbesteuerdumping. Das können Sie nicht wollen!
({12})
Mit anderen Worten: Ihr Antrag geht eigentlich an der
Sache bzw. an dem Ziel, das Sie damit erreichen wollen,
vorbei. Deswegen lehnen wir ihn auch ab.
Herzlichen Dank.
({13})
Danke, Herr Kollege. - Ich darf Sie recht herzlich begrüßen und Ihnen einen schönen Abend wünschen. Jetzt
kommt die letzte Runde. Schauen wir mal!
({0})
- Ja, die letzten zweieinhalb bis fünf Stunden heute
Abend und meine letzte Runde.
Wir sind also noch lange nicht fertig und haben noch
sehr viel spannende Themen auf der Tagesordnung.
Diese Runde wird von Ingbert Liebing von der CDU/
CSU-Fraktion abgeschlossen.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Thema der Gewerbesteuer oder einer Gemeindewirtschaftsteuer ist - darauf hat der Kollege Hauer zu Recht
hingewiesen - überhaupt kein neues Thema. Darüber wird
schon seit über zehn Jahren diskutiert.
({0})
Auch in der vergangenen Wahlperiode haben wir die
Problematik einer hohen Konjunkturanfälligkeit der Gewerbesteuer diskutiert und andere Alternativen in die
Diskussion geworfen, wie wir mehr Stabilität und Kontinuität in die Steuereinnahmen der Kommunen hineinbekommen können.
Wir haben aber feststellen müssen, dass die Vorschläge auch in der kommunalen Familie untereinander
schwer konsensfähig sind. Und wir sind auch schon in
der vergangenen Wahlperiode dem Grundsatz gefolgt,
dass wir bei der Gewerbesteuer keine Veränderungen gegen die Kommunen vornehmen. So ist es bei der Gewerbesteuer geblieben, und damit verbunden auch bei der
Problematik einer hohen Konjunkturanfälligkeit.
Wenn wir uns aber die Entwicklung der Einnahmen
aus der Gewerbesteuer anschauen, müssen wir heute im
Ergebnis feststellen, dass sie Höchststände erreicht. Innerhalb der vergangenen zehn Jahre gab es eine Verdoppelung der kommunalen Steuereinnahmen durch die Gewerbesteuer. Dies ist eine gute Entwicklung.
({1})
Die Tiefststände hatten wir - Frau Haßelmann, daran
darf ich Sie wegen Ihres Rundumschlages von vorhin erinnern - im Übrigen vor zehn Jahren, als Rot-Grün regierte. Das waren Zeiten, als Sie mit in der Regierung
gewesen sind und die Verantwortung dafür getragen haben, dass ein Gesetz über die Grundsicherung im Alter
eingeführt wurde, für dessen Bezahlung Sie die Rechnung an die Kommunen geschickt haben, während Sie
sich quer durch die Republik dafür haben feiern lassen.
({2})
Mit dieser Politik haben wir in der vergangenen Wahlperiode aufgeräumt. Wir haben seitens des Bundes diese
Aufgabe übernommen und die Kommunen in der Größenordnung von 5 Milliarden Euro entlastet. Das war
gute Politik für die Kommunen, die in genauem Gegensatz zu der steht, die Sie zu verantworten haben.
({3})
Da wir bei der Gewerbesteuer eine Entwicklung hin
zu Höchstständen haben - im vergangenen Jahr hatten
die kommunalen Kassen über 32 Milliarden Euro Einnahmen aus der Gewerbesteuer -, verbietet es sich geradezu, eine Diskussion über weitere Erhöhungen bei dieser Steuer zu führen. Nichts anderes ist das, was Sie,
Frau Karawanskij, im Antrag Ihrer Fraktion hier vorgelegt haben.
({4})
Das ist durch die gerade vorgetragenen Erläuterungen des
Kollegen Hauer deutlich geworden. Sie wollen die Bemessungsgrundlage verbreitern und neue Steuerpflichtige
einbeziehen. Das ist nichts anderes als Steuererhöhung.
({5})
Wes Geistes Kind Sie sind, macht Ihr Antrag deutlich,
in dem es heißt, dass der auf den Kommunen lastende
Kürzungsdruck erhöht werde und das den Spielraum einenge, sich zu verschulden.
({6})
Sie beklagen also, dass der Spielraum, sich zu verschulden, enger wird. Des Weiteren haben Sie von der „unsäglichen Schuldenbremse“ gesprochen. Sie reden über
die Schuldenbremse, als sei sie ein Problem.
({7})
Dabei ist nicht die Schuldenbremse das Problem, sondern das Problem ist, dass Sie über Jahrzehnte hinweg
eine falsche Politik und viele andere in der Republik und
auch wir alle miteinander auf Bundesebene eine Politik
der Verschuldung betrieben haben. Aber die Schuldenbremse ist nicht das Problem, sondern Teil der Lösung
dieses Problems. Wir müssen mit der Verschuldungspolitik Schluss machen.
({8})
Wes Geistes Kind Ihr Antrag ist, zeigt sich also daran,
dass Sie an der Politik der Verschuldung festhalten und
Ihnen für die Lösung der Probleme nichts anderes einfällt, als über Schulden zu reden und für höhere Steuern
zu werben. Beides sind die falschen Rezepte zur Lösung
der Probleme, vor denen wir stehen. Nehmen wir das
Beispiel der gestiegenen Gewerbesteuereinnahmen: Die
höheren Steuereinnahmen bei den Kommunen sind doch
nicht durch Steuererhöhungen zustande gekommen, sondern dadurch, dass wir mit kluger Politik wirtschaftliche
Dynamik ausgelöst haben, dass wir eine Konjunktur unter Dampf haben. Dadurch kommen mehr Steuern in die
Kassen. Davon profitieren wir auf Bundesebene, davon
profitieren wir in den Ländern, und davon profitieren
auch die Kommunen.
({9})
Nichts ist so gut für unsere Kommunen wie eine
solide Wirtschaftspolitik, eine stabile Politik, die für
Wachstum und Beschäftigung sorgt und dadurch wieder
für steigende Steuereinnahmen in den Kommunen. Diese
Politik wollen wir fortsetzen.
({10})
Dem widerspricht Ihr Antrag. Deswegen werden wir Ihren Antrag im Ausschuss und in der abschließenden Beratung nicht mittragen.
Vielen Dank.
({11})
Vielen Dank, Herr Kollege.
Vizepräsidentin Claudia Roth
Damit schließe ich die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/1094 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Ich bitte diejenigen, die den nächsten Tagesordnungspunkt nicht mit bestreiten wollen, die Plätze zu wechseln.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung der Direktzahlungen
an Inhaber landwirtschaftlicher Betriebe im
Rahmen von Stützungsregelungen der Gemeinsamen Agrarpolitik ({0})
Drucksachen 18/908, 18/1418
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung und Landwirtschaft
({1})
Drucksache 18/1493
Hierzu liegen drei Änderungsanträge der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen sowie je ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort an
Marlene Mortler für die CDU/CSU-Fraktion.
({2})
Grüß Gott, Frau Präsidentin!
Grüß Gott, Frau Mortler!
Sie haben mich ganz schön überrascht; denn ich
dachte, ich bin wieder die letzte Rednerin. Jetzt bin ich
die erste Rednerin in dieser Debatte.
({0})
Aber, ich glaube, wir kriegen es hin.
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Es gibt leichte
Geburten, es gibt normale Geburten, und es gibt schwere
Geburten.
({1})
Der Abschluss des Direktzahlungen-Durchführungsgesetzes im Rahmen der GAP, der Gemeinsamen Agrarpolitik, gehört für mich in die Kategorie „Schwergeburt
plus zwei Nachgeburten“.
({2})
Aber wir haben es geschafft. Deshalb herzlichen Dank
an alle Geburtshelfer. Dazu gehört unser Minister im
Hintergrund. Dazu gehören alle Kolleginnen und Kollegen der Arbeitsgruppe Agrar, eingeschlossen Franz Josef
Jung als unser Vizefraktionsvorsitzender. Dazu gehören
natürlich auch, lieber Wilhelm, die Kolleginnen und
Kollegen der SPD. Liebe Frau Vogt, jetzt sind wir wieder gut.
({3})
Wir Koalitionäre sind uns einig, dass es anstehende
Gesetze leichter haben sollen. Warum? Es ging und geht
um nichts anderes als das Greening. Dabei war uns allen
von Anfang an klar: Grünland muss Grünland bleiben.
({4})
Über die Details reden diejenigen, die mehr Redezeit haben als ich.
({5})
Tatsache ist erstens: Wir wollten, dass es in den sogenannten umweltsensiblen Gebieten, sprich FFH-Gebieten, Fauna-Flora-Habitat-Gebieten, keinen Grünlandumbruch geben darf, und den wird es auch nicht geben, das
heißt: null Prozent.
({6})
Außerhalb der FFH-Gebiete darf Grasland nur dann umgebrochen werden, so haben wir beschlossen, wenn
gleichzeitig ein Hektar an der gleichen Stelle oder anderswo durch einen anderen Hektar ersetzt, sprich: angesät wird. Liebe Kolleginnen und Kollegen, deshalb noch
einmal: Unter dem Strich muss und wird die Grünlandfläche immer gleich groß bleiben.
Zweitens: ökologische Vorrangflächen. Ich freue
mich sehr über den Kompromiss, den wir auch hier erzielt haben. Warum? Weil wir wollten, dass das Greening nicht nur auf dem Papier, sondern auch in der Praxis funktioniert.
({7})
Was spricht gegen die Verwendung von Wirtschaftsdünger bei Zwischenfrüchten? Nichts. Was spricht gegen die
Düngung von Eiweißpflanzen und einen Pflanzenschutz
nach guter fachlicher Praxis? Nichts.
({8})
Denn wenn der Bauer sät, dann will er nicht nur ernten;
er weiß auch, dass Eiweißpflanzen Stickstoff binden,
dass sie die einheimische Eiweißversorgung verbessern,
dass sie zusätzlich Bienenweiden bilden. Wir werden
also mit der Annahme des heute vorliegenden Gesetzentwurfs einen Mehrwert für Ökologie und Praxis beschließen.
({9})
Mit diesem Gesetz, liebe Kolleginnen und Kollegen,
werden außerdem kleinere Betriebe und Junglandwirte
besser gefördert; auch das muss man im Gesamtzusammenhang sehen. Wir verstehen Umweltschutz in und mit
diesem Gesetz nicht als Gegensatz, sondern als festen
Bestandteil einer zukunftsfähigen Landwirtschaft.
({10})
Das heißt, wir erreichen Umweltschutz und Biodiversität
im gelebten landwirtschaftlichen Alltag.
({11})
In diesem Sinne freue ich mich über unseren gemeinsamen Abschluss.
({12})
Es können neue Taten folgen, liebe Kolleginnen und
Kollegen. Abschließend ein herzliches Dankeschön. Ich weiß nicht, ob es an Ihnen liegt, sehr geehrte Frau
Präsidentin, aber ich bin schon wieder vor Ende meiner
Redezeit fertig.
({13})
Ja, aber so viel früher nicht. Nächstes Mal kriegen Sie
dann 11 Sekunden mehr Redezeit. Vielen Dank, Frau
Mortler.
Nächste Rednerin in der Debatte ist Dr. Kirsten
Tackmann für die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Gäste auf den Tribünen! Bis 2020 werden EUGelder in Höhe von 5 Milliarden Euro unseren Agrarbetrieben zur Verfügung gestellt. Das ist sehr viel Geld.
Der Entscheidungsrahmen ist bereits in Brüssel festgelegt worden. Am Anfang dieser Debatten schien es tatsächlich so, als ob ein Paradigmenwechsel gelänge,
nämlich eine Förderung nach dem Prinzip: öffentliches
Geld für öffentliche Leistungen.
({0})
Aber letzten Endes ist es sozusagen im Rohr krepiert.
Es war erstens gewollt, dass über die Förderung soziale Ziele erreicht werden,
({1})
nämlich Beschäftigungsförderung, gute Bezahlung und
gute Arbeitsbedingungen. Zweitens sollte eine naturverträglichere Flächenbewirtschaftung erreicht werden. Am
Ende steht nun ein weicher Kompromiss, der zwar in die
richtige Richtung geht, aber nicht weit genug.
Heute geht es um die Gestaltungsspielräume, die
Brüssel Deutschland gelassen hat. Leider hat sich die
Koalition die vielen guten Ansätze aus Brüssel entweder
nicht zunutze gemacht oder sogar ihre Umsetzung vereitelt. Ich will das anhand von drei Punkten konkret nachweisen:
Nach den EU-Vorgaben können die Mitgliedstaaten
Betriebe mit vielen Beschäftigten unterstützen; das war
eine zentrale Forderung der Linken. Es geht dabei nicht
um ein Rundum-sorglos-Paket für ineffiziente Betriebe,
sondern darum, dass zum Beispiel Betriebe mit Tierhaltung mehr Leute beschäftigen als Ackerbaubetriebe. Als
Tierärztin will ich, dass Tierhaltungen durch ausreichend
gut bezahltes und gut qualifiziertes Personal betreut werden; denn auch das trägt zur Tiergesundheit bei.
({2})
Mehr Personal ist zwar schlecht für die Betriebskosten,
aber gut für die ländlichen Räume und für die Finanzetats in Bund, Ländern und Kommunen. Wir alle wollen
doch keine Betriebe, deren Geschäftsführer einmal in
der Woche vorbeischaut, um zu prüfen, ob der Lohnunternehmer seine Arbeit geleistet hat.
Die Kritik an solchen Großbetrieben ist völlig nachvollziehbar. Aber gerade deshalb wäre die Berücksichtigung der Personalkosten bei den Fördermitteln so wichtig gewesen. Das hätte großen Agrargesellschaften mit
wenigen und schlecht bezahlten Beschäftigten zwar sehr
weh getan, aber Genossenschaften mit vielen Beschäftigten und Tierhaltung zumindest nicht geschadet. Stattdessen werden jetzt die ersten 46 Hektar höher gefördert.
Ich gönne den kleinen Betrieben jede Unterstützung,
keine Frage, aber Studien zeigen, dass dieses Geld eher
eine Sterbehilfe ist; denn die Probleme der kleinen Betriebe werden dadurch nicht gelöst. Dafür werden aber
9 Prozent der Fördermittel von Ostdeutschland nach
Südwestdeutschland umverteilt. Das finde ich falsch,
und das nehme ich als Brandenburgerin auch persönlich.
({3})
Zweites Beispiel für Fehlentscheidungen: Weidetierhalter, insbesondere von Schafen und Ziegen, bekommen am Markt schon lange keine kostendeckenden
Preise mehr. Immer mehr Betriebe müssen deshalb aufgeben, obwohl doch gerade sie dem Bild, das die
Menschen von guter Landwirtschaft haben, am besten
entsprechen. Außerdem sind Schafe und Ziegen die besten Grünlandnutzer, die besten Landschaftspfleger und
die besten Deichbefestiger; wir brauchen sie also. Aber
dafür, damit sie weiterexistieren können, brauchen die
Schäfereien auch ihre Mutterschafprämie zurück. Ja, das
wäre eine Abweichung vom Prinzip der Flächenförderung, aber an der Stelle wäre diese Ausnahme gerechtfertigt. Wir sollten das unbedingt so regeln.
({4})
Drittes Beispiel für Fehlentscheidungen: Ich habe nie
verstanden, warum ökologische Vorrangflächen nicht als
Chance verstanden wurden.
({5})
Auf diesen 5 Prozent der Betriebsfläche kann man viel
Gutes tun, was auch die Akzeptanz in der Gesellschaft
erhöht: zum Beispiel Hecken anlegen oder Pufferstreifen
an Wäldern, Feldern und Gewässern wild-, bienen- und
insektenfreundlich gestalten.
({6})
Natürlich soll das Erntegut auch als Tierfutter oder für
Biogasanlagen genutzt werden können. Aber die
Konservativen haben das erst ganz blockiert und dann
die Regelungen so aufgeweicht, dass ein ökologischer
Vorrang mehr als fraglich erscheint.
({7})
Mein Fazit ist deshalb: ein paar Schritte in die richtige
Richtung, aber viele vergebene Chancen. Deshalb ist
Enthaltung der Linken bei der Abstimmung eigentlich
schon zu viel des Lobes.
Vielen Dank.
({8})
Vielen Dank, Frau Kollegin Tackmann. - Nächster
Redner in der Debatte ist für die SPD Dr. Wilhelm
Priesmeier.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin Mortler, ich als Tierarzt weiß mit schweren Geburten
umzugehen. Insofern stelle ich fest: Das, was da „geboren“ worden ist, ist gesund, kräftig und lebensfähig. Darüber freue ich mich. So soll das sein.
({0})
Ich erinnere auch daran, dass wir Sozialdemokraten
am 11. Juni letzten Jahres einen Antrag mit dem Titel
„Grünland effektiv schützen“ eingebracht haben. Gefordert haben wir darin, „ein striktes nationales Grünlandumbruchverbot als Greening-Anforderung durchzusetzen“. Ich betone in diesem Zusammenhang:
Sozialdemokraten reden nicht nur und bringen schlaue
Anträge ein, sondern sie liefern auch, und das ist uns gelungen.
({1})
Wir haben damit einen ganz wesentlichen Beitrag zum
Klima- und Umweltschutz geleistet.
Auf die Rolle, die Grünland spielt, und seine Wichtigkeit braucht man nicht in allen Einzelheiten einzugehen.
Wir wissen ja um die CO2-Bindung in solchen Flächen.
Wir wissen auch um den Artenreichtum des Grünlandes.
Keine Fläche ist so artenreich wie das Grünland. Das
kann man mit Ackerland nicht erreichen. Demzufolge ist
uns das Grünland natürlich besonders wichtig. Wir wissen auch um die Bedeutung von Grünland als Produktionsfaktor für die Milchviehhaltung. Aus diesem
Grunde muss man bestimmten Regionen wie etwa solchen, in denen Vogelschutzgebiete etabliert sind und die
dadurch ein Problem mit der Milchviehhaltung bekommen hätten, kleinere Zugeständnisse machen und dafür
sorgen, dass das Grünland auch in Zukunft dort als Futtergrundlage für die dort ansässigen Betriebe seine
Funktion erfüllen kann. Das haben wir gewährleistet.
({2})
Ich verweise darauf, dass dort in Zukunft jeglicher Umbruch bzw. jegliche Umwandlung ausgeschlossen ist.
Wenn aus betrieblichen Gründen an anderen Stellen
die eine oder andere Fläche umgelegt wird, dann erfolgt
ein entsprechender Ausgleich dafür. Ich erinnere aber
auch an die absolut geschützten Grünlandbereiche.
700 000 Hektar in den FFH-Gebieten, den Fauna-FloraHabitat-Gebieten - dabei handelt es sich um ganz besonders schützenswerte Pflanzengesellschaften auf diesen
Grünlandflächen -, werden richtigerweise vollständig
unter Umbruchverbot gestellt. Wir folgen da den Vorgaben der EU. Das ist nach meiner Einschätzung eine auch
für die Zukunft taugliche Kulisse.
Man muss aber auch berücksichtigen, dass wir in den
letzten 20 Jahren 650 000 Hektar Grünland verloren haben.
({3})
Zum Vergleich: Das entspricht fast der landwirtschaftlichen Nutzfläche von Rheinland-Pfalz. Diese Fläche ist
in irgendeiner Form verloren gegangen.
({4})
Das ist unbestritten so. Dieser Verlust kam schleichend,
nicht über Nacht. Insofern verdeutlicht dieses Geschehen den Handlungsdruck, der hier gegeben war.
({5})
Ich glaube, dass wir in diesem Zusammenhang zumindest einen weiteren Schritt in die richtige Richtung
unternommen haben. Ich fordere schon seit vielen Jahren Maßnahmen nach dem Prinzip „öffentliches Geld für
öffentliche Güter“. Insofern habe ich das Copyright auf
diese Formulierung. Ich stelle es Ihnen aber gerne zur
Verfügung.
({6})
Jährlich schichten wir nun 4,5 Prozent der Direktzahlungen aus der ersten in die zweite Säule um. Auch das ist
wichtig. Das war ein Kompromiss, um den auf der Sonderkonferenz der Agrarminister im November hart gerungen werden musste.
({7})
- Wenn da noch ein bisschen mehr drin gewesen wäre,
hätte ich mich gefreut. Manchmal ist der Spatz in der
Hand aber besser als die dicke, fette Taube bei Friedrich
Ostendorff auf dem Dach.
({8})
Auch für ihn ist es schwierig, sie einzufangen. Das dauert zumindest. Insofern habe ich das erst einmal so angenommen. Wir müssen ja sehen, dass dieses Gesetzeswerk für die Überprüfung eine Frist bis etwa 2017
vorsieht. Wir wissen ja alle, dass auf der europäischen
Ebene fast immer Folgendes gilt: Nach der Reform
kommt erst einmal die Halbzeitbetrachtung und dann
wieder eine neue Reform. - Ich bin deshalb hoffungsfroh, dass wir mittels der gebotenen Maßnahmen 2017
das eine oder andere korrigieren können.
Es ist aber, wie ich glaube, schon wichtig, dass etwa
230 Millionen Euro jährlich, also insgesamt über
1,1 Milliarden Euro, die in die zweite Säule verbracht
werden, für die Betriebe zur Verfügung stehen, die in besonderer Weise richtungsweisend sind, sich also etwa an
Tierschutzstandards oder ökologischen Standards orientieren bzw. für bestimmte Strukturen, die wir fördern
wollen, von besonderer Wichtigkeit sind. Die Umschichtung eröffnet solche Möglichkeiten. Das ist im Übrigen
nicht kofinanziert. Das entlastet die Bundesländer. Wir
wissen alle, wie es um manche Bundesländer bestellt ist.
Daher ist es, glaube ich, ganz wichtig, dass wir das so
machen.
Dem System der Direktzahlungen, wie wir es kennen,
ist nach meiner Einschätzung - hoffentlich - keine allzu
lange Zukunft mehr beschieden. Ich glaube, dieses
System ist mehr als nur reformbedürftig. Denn die Zielsetzung dieses Systems müssen wir im Verhältnis zu den
eingesetzten finanziellen Ressourcen sehen; alle europäischen Steuerzahler, die deutschen im Besonderen,
müssen natürlich die Grundlage für die Transferleistungen, die aus den Brüsseler Kassen wieder zurückkommen, zunächst in Form von Steuerzahlungen aufbringen.
Da muss man natürlich auch nach Nachhaltigkeit fragen;
da muss man sich ernsthaft fragen, ob Anspruch und
Wirklichkeit deckungsgleich sind. Ich glaube, das ist
nicht so.
({9})
Wir müssen uns über die Strukturen Gedanken machen. Wir müssen uns darüber Gedanken machen, wie
wir mit den Strukturen im ländlichen Raum umgehen
wollen. Das Fazit kann nur lauten: Wenn wir in Europa
und vor allen Dingen in Deutschland mittlerweile eine
sehr wettbewerbsfähige Landwirtschaft haben, dann
muss man nicht große, wettbewerbsfähige und ertragsstarke Betriebe unter dem Gesichtspunkt der Einkommensstützung mit erheblichen Prämien zusätzlich fördern. Das gilt - das ist meine Einschätzung - vor allen
Dingen für bestimmte Ackerbaustandorte. Vielmehr
muss man schauen: Welche Strukturen will ich, und was
ist vor Ort angemessen? Ein Betrieb in Bayern ist anders
strukturiert als woanders, und bei Grenzertragsstandorten in bestimmten Regionen werden wir auf Unterstützung nicht verzichten können.
Im Grundsatz muss aber diese Gießkannenpolitik, wie
wir sie aus den letzten Jahrzehnten kennen, ein Ende
haben. Dafür wollen wir und will ich als Sozialdemokrat
eintreten. Das wird auch die Option für die nächsten vier
Jahre sein. Ich werde immer wieder einmal den Finger in
die Wunde legen, damit wir die Orientierung nicht
verlieren. Das Ziel werden wir in dieser Koalition nicht
erreichen können, aber ich glaube, nach dieser Koalition
kommt mit Sicherheit eine andere Koalition, und vielleicht sind dort bessere Chancen für die Erreichung dieses Zieles gegeben.
({10})
In dem Sinne: Vielen Dank für das Zuhören und noch
einmal vielen Dank für die Kooperationsbereitschaft.
Vor allen Dingen danke ich dem Kollegen Holzenkamp.
Manche Sachen waren nicht immer ganz einfach, aber
ich glaube, das bekommen wir alles wieder auf die
Reihe.
({11})
Danke, Herr Kollege. - Nächster Redner Friedrich
Ostendorff für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit welcher gesellschaftlichen Legitimation kann die Politik in
Zukunft weiterhin jährlich rund 5 Milliarden Euro an die
deutsche Landwirtschaft ausschütten? Unter dieser
Überschrift haben wir seit 2009 über die Zukunft der
Gemeinsamen Agrarpolitik diskutiert. Die Antwort war
eindeutig: öffentliches Geld nur noch für öffentliche
Leistungen.
300 Euro pauschal pro Hektar, das heißt: Wer schon
viel hat, dem wird noch mehr gegeben, und zwar ohne
Gegenleistung. Das kann es nicht mehr sein!
({0})
Stattdessen muss den Zahlungen ein Mehrwert an Ökologie, Verbraucher- und Tierschutz gegenüberstehen.
Diese Forderung der Zivilgesellschaft ist in keiner Weise
unanständig, sondern eine schlichte Selbstverständlichkeit. EU-Agrarkommissar Ciolos hat daraus einen
Reformansatz entwickelt, den wir Grüne weithin teilen:
das sogenannte Greening. Agrarstaatssekretär Bleser hat
noch am Montag überheblich das Greening als den
Geburtsfehler der Reform bezeichnet. Das Greening,
meine Damen und Herren, ist doch kein Geburtsfehler
der Reform, sondern ein kluges Angebot der Gesellschaft an die Landwirtschaft gewesen, die 5 Milliarden
Euro im Jahr für die Zukunft festzuschreiben.
Der Bauernverband und seine Truppen in den Parlamenten haben das Greening von Anfang an so bekämpft,
verwässert und durchlöchert, bis feststand, dass die
5 Milliarden Euro weiter als bedingungslose Subvention
gezahlt werden.
({1})
Das Ergebnis liegt uns heute vor. CDU/CSU und SPD
schlagen als Flächennutzung im Umweltinteresse allen
Ernstes vor: Der Landwirt baut Mais mit Untersaat an,
düngt diese Untersaat, die sogenannte ökologische Vorrangfläche - Frau Mortler hat es uns gerade vorgetragen nach der Maisernte mit Gülle, spritzt die Untersaat im
Frühjahr mit dem Totalherbizid Roundup tot
({2})
und baut dann wieder Mais an. Dafür soll der Landwirt
weiterhin 300 Euro pro Hektar von der Gesellschaft bekommen! Was glauben Sie denn, wie lange das noch
gutgeht?
({3})
Für wie dumm, meine Damen und Herren von der Großen Koalition, halten Sie denn die Bürgerinnen und Bürger? Warum sollte die Gesellschaft bereit sein, dafür
Steuergelder zu zahlen? Das erklären Sie uns bitte heute
ausdrücklich.
All das wird auch noch von der SPD mitgetragen,
einer SPD, die noch 2010 die Neuqualifikation aller
Agrarzahlungen besonders durch Wilhelm Priesmeier
immer wieder gefordert hat. Nichts davon, Wilhelm
Priesmeier, habt ihr umgesetzt! Nichts, liebe Sozialdemokraten!
({4})
Jetzt vergießt ihr Sozialdemokraten Krokodilstränen, als
wärt ihr gar nicht Teil der Großen Koalition, als wärt ihr
gar nicht dabei gewesen, als hättet ihr dieses Gesetz
nicht mit verhandelt. Das ist die Botschaft, die wir heute
wieder empfangen haben.
Dieser Gesetzentwurf ist so schlecht, dass ihn sogar
der Deutsche Jagdverband, dem ja niemand unterstellen
würde, der grünen Politik sehr nahe zu stehen, scharf
ablehnt. Scheinbar einzig der Intervention vernunftbegabter SPD-Umweltpolitiker ist es zu verdanken, dass
nicht auch noch der Grünlandschutz geopfert wurde und
2014 zum Jahr des Grünlandumbruchs würde.
({5})
Dieser positive Aspekt kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, liebe Freundinnen und Freunde, dass dieser Gesetzentwurf nur ein Ziel verfolgt: Er soll verhindern, dass auch nur ein einziger Acker in Deutschland
pestizidfrei wird. Das ist Ihnen vollumfänglich gelungen, meine Damen und Herren. Die großen Ackerbaubetriebe im Osten und die Pestizidindustrie werden es Ihnen danken. Verlierer sind nicht nur die Biodiversität
- welch Pikanterie: ausgerechnet heute, am Internationalen Tag der biologischen Vielfalt, beschließen wir das -,
sondern auch die vielen bäuerlichen Betriebe, insbesondere die Betriebe in Bayern.
Meine Damen und Herren, Sie haben eine historische
Chance für die Gemeinsame Agrarpolitik vertan. Es gab
wie noch bei keiner Reform - ich glaube, dass ich das
nach Jahrzehnten in der Szene gut beurteilen kann - die
Bereitschaft der Gesellschaft, eine reformierte Gemeinsame Agrarpolitik nach dem Prinzip „Öffentliche Gelder
für öffentliche Leistungen“ mitzutragen. Die Öffentlichkeit hatte ihre Hand ausgestreckt - Sie haben diese Hand
ausgeschlagen. Ich weiß nicht, ob es diese Bereitschaft
2020 wieder geben wird.
({6})
Danke, Herr Kollege Ostendorff. - Der letzte Redner
in dieser Debatte: Franz-Josef Holzenkamp für die CDU/
CSU.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir verabschieden heute das DirektzahlungenDurchführungsgesetz und schaffen endlich Verlässlichkeit und Planungssicherheit für die Bauern, und zwar
von jetzt bis 2020.
Wir haben ein gutes Ergebnis erzielt, und zwar für die
Landwirtschaft, aber, meine Damen und Herren von den
Grünen, auch für den Naturschutz. Wir machen es uns
nicht so einfach, in Form von rückwärtsgewandter Politik wieder auf Flächenstilllegungen zu verfallen.
({0})
Nein, wir schaffen intelligente Lösungen nach dem
Motto „Schützen durch Nützen“. Das ist vernünftige
Politik - alles andere ist vollkommener Unsinn.
({1})
Wir wollen eine praxisnahe Gestaltung der Umsetzung;
das ist jetzt gewährleistet. Wir wollen möglichst wenig
Gängelung. Ich sage noch einmal: Das ist wahrscheinlich der Unterschied, meine Damen und Herren der Grünen, zwischen Ihnen und uns.
({2})
Da wird auch ein bisschen die unterschiedliche Geisteshaltung deutlich: Sie predigen nur von Verboten, von
Bevormundung. Schon vor Jahren sprachen Sie von
Feldspionen. Wir haben Zutrauen zu den Menschen und
bringen Menschen in Verantwortung. Ich denke, das ist
die richtige Politik.
({3})
Deshalb gestalten wir die Umsetzung praxisnah ohne
Gängelung.
({4})
Und wir kommen einer ethischen Verantwortung
nach, nämlich der ethischen Verantwortung Deutschlands, als Gunstregion in der Welt auch der Ernährung
der Menschen in der Welt nachzukommen, und das ist
richtig.
({5})
Um was geht es konkret? Wilhelm Priesmeier hat auf
den Beschluss der Agrarministerkonferenz vom November letzten Jahres hingewiesen, dass wir umschichten,
4,5 Prozent; das sind jährlich 230 Millionen Euro mehr
für den ländlichen Raum und für Umweltschutz. Das
muss man, Herr Ostendorff, auch dazusagen, wenn man
alles in Bausch und Bogen kritisiert. Wir machen eine
Angleichung der Prämien zu einer Basisprämie. Wir führen einen bundeseinheitlichen Zuschlag ein, ganz bewusst für kleinere Betriebe. Wir wollen, dass kleinere
Betriebe - Betriebe bis 46 Hektar - bessergestellt werden.
({6})
Das war ein großer gemeinschaftlicher Konsens, und darüber können wir uns glücklich schätzen.
Des Weiteren geht es - das wurde schon ein paarmal
angesprochen - um das Greening, um den Grünlanderhalt. Was vorhin behauptet wurde, ist schlichtweg die
Unwahrheit.
({7})
Eines, Wilhelm, war uns gemeinsam immer klar: Vorhandenes Grünland muss erhalten bleiben. Aber wir
wollen es so gestalten, dass man auch wirtschaften kann,
({8})
dass Bauern auch Futterqualitäten mit ihrem Grünland
erreichen können. Deshalb haben wir die Grünlandkulisse für die Definition des sensiblen Grünlandes reduziert von den gesamten Natura-2000-Gebieten auf die
FFH-Gebiete. Hätten wir das so gelassen, dürften - man
muss sich das einmal vorstellen! - 1,2 Millionen Hektar
in Deutschland nicht einmal gepflügt werden, nur um
wieder Gras anzusäen. Dann wäre keine vernünftige Futterqualität mehr gewährleistet gewesen. Deshalb haben
wir an dieser Stelle genau das Richtige gemacht.
({9})
Für die Grünlandflächen, die darüber hinausgehen, gilt
ein einzelbetriebliches Autorisierungsverfahren, das
heißt, Umwandlung nur gegen Neuanlage von Grünland.
Das Ergebnis ist, wie meine Vorrednerin Marlene
Mortler schon sagte: Bei uns bleibt Grünland Grünland. Das ist richtig und gut so.
({10})
Zu den ökologischen Vorrangflächen: Es gibt einen
Maßnahmenkatalog; Sie haben entsprechende Beispiele
angeführt. All diese Maßnahmen können wir nutzen. Es
ist nicht richtig, das infrage zu stellen.
Die Entscheidung für Zwischenfrüchte war gut. Wir
machen hier zusätzliche Auflagen: keine Pflanzenschutzmittel, kein mineralischer Stickstoffdünger, keine Klärschlammausbringung, spätester Aussaattermin 1. Oktober und mindestens zwei Kulturpflanzenarten. Das sind
hohe Auflagen. Außerdem sehen wir einen Anrechnungsfaktor von 0,3 vor; das heißt, wir verdreifachen sozusagen
die ökologischen Vorrangflächen. Ist das denn keine ökologische Leistung? Das ist eine!
({11})
Im Zusammenhang mit den Leguminosen wird von
Pestiziden geredet. Man benutzt immer sehr bewusst ein
solches Vokabular.
({12})
Ich spreche lieber von Pflanzenschutz; wir wollen keine
Pest verbreiten.
Wir sind uns eigentlich darin einig, mehr Eiweißpflanzen in Deutschland haben zu wollen. Warum haben
wir sie nicht? Weil die Wettbewerbsfähigkeit nicht gewährleistet ist! Wir haben jetzt zwar die notwendigen
ökologischen Vorrangflächen und könnten sie für Leguminosen nutzen; aber wenn dort zur Ernte ein Mähdrescher durchfahren soll, dann brauchen wir etwas Pflanzenschutz. Ansonsten funktioniert das nicht; sonst käme
nur noch ein Häcksler da durch, und das kann ja wohl
keine Lösung sein. Deshalb entspricht dieses Vorgehen
auch unserer Eiweißpflanzenstrategie, und es bringt uns
ökologisch einen großen Schritt weiter.
({13})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen der Linken,
ich bin sehr angetan, dass Sie sich enthalten. Damit hätte
ich gar nicht gerechnet.
({14})
Wir haben eben einfach einen guten Gesetzentwurf vorgelegt, bei dem man sich zumindest enthalten kann, aber
eigentlich zustimmen muss. Wir haben bei diesem Gesetzentwurf nur Gewinner: den Naturschutz und die
Bauern.
({15})
Ich bedanke mich bei allen, die geholfen haben, und
werbe um Ihre Zustimmung.
Herzlichen Dank.
({16})
Vielen Dank, Herr Kollege.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur
Durchführung der Direktzahlungen an Inhaber landwirtschaftlicher Betriebe im Rahmen von Stützungsregelungen der Gemeinsamen Agrarpolitik.
Der Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/1493, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksachen 18/908 und 18/1418 in der Ausschussfassung anzunehmen.
Hierzu liegen drei Änderungsanträge der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor, über die wir jetzt zuerst abstimmen.
Änderungsantrag auf Drucksache 18/1502. Wer stimmt
für diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Der Änderungsantrag ist bei Zustimmung von Bündnis 90/Die Grünen, Ablehnung von CDU/
CSU und SPD und Enthaltung der Linkspartei abgelehnt.
Änderungsantrag auf Drucksache 18/1503. Wer
stimmt für diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Änderungsantrag
abgelehnt. Zugestimmt haben Bündnis 90/Die Grünen
und die Linke, abgelehnt haben CDU/CSU und SPD.
Änderungsantrag auf Drucksache 18/1504. Wer
stimmt für diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Änderungsantrag ist bei
Zustimmung von Bündnis 90/Die Grünen, Ablehnung
von CDU/CSU und SPD und Enthaltung der Linkspartei
abgelehnt.
({0})
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD, abgelehnt hat Bündnis 90/Die Grünen, und enthalten hat sich
die Linkspartei.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben.
- Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist angenommen mit den Stimmen von CDU/
CSU- und SPD-Fraktion, Ablehnung von Bündnis 90/
Die Grünen, Enthaltung der Linkspartei.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Entschließungsanträge. Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 18/1499. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Zugestimmt haben die Fraktion Die Linke und
Bündnis 90/Die Grünen, abgelehnt haben CDU/CSU
und SPD. Damit ist der Entschließungsantrag abgelehnt.
Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 18/1505. Wer stimmt für diesen
Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt. Zustimmung von Bündnis 90/Die Grünen, Ablehnung von
CDU/CSU, SPD und der Linken.
Jetzt mache ich eine Ankündigung für die Kolleginnen und Kollegen und die Gäste hier im Hohen Hause
darüber, was wir heute noch debattieren. Debattiert werden jetzt noch der Zusatzpunkt 7 - darin geht es um die
Einsetzung eines Untersuchungsausschusses - und der
Tagesordnungspunkt 17: Einsetzung einer Kommission
zur sprachlichen Bereinigung des Strafrechts von NSNormen. Die anderen Punkte werden zu Protokoll gegeben bzw. sind abgesetzt worden. Ich glaube, das wurde
nicht allen vermittelt.
Ich rufe den Zusatzpunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Irene
Mihalic, Dr. Konstantin von Notz, Luise
Amtsberg, Volker Beck ({1}), Frank Tempel,
Jan Korte, Ulla Jelpke, Martina Renner und weiterer Abgeordneter
Einsetzung eines Untersuchungsausschusses
Drucksache 18/1475
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Vizepräsidentin Claudia Roth
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Irene
Mihalic für Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Drei Monate und vier Sondersitzungen
im Innenausschuss haben leider weder Transparenz noch
Aufklärung in dieser Sache gebracht. Das Gegenteil ist
der Fall: Die Umstände der langwierigen Bearbeitung im
BKA von kinderpornografischen Daten aus Kanada und
die Informationsweitergaben zu den Ermittlungen sind
immer undurchsichtiger geworden. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition - das ist für mich, das
muss ich Ihnen ganz ehrlich sagen, eine sehr herbe Enttäuschung -, handeln leider nach der Devise: Obstruktion statt Aufklärung.
({0})
Einzig der Vorsitzende des Innenausschusses war bei
Ihnen wirklich die große Ausnahme. Aber da, wo er seinen Aufklärungswillen offensiv bekundet hat, haben Sie
sogar versucht, ihn auf Linie zu bringen.
({1})
Diese Haltung lässt mich ernsthaft an Ihrem Parlamentsverständnis zweifeln.
({2})
Aber das ist dieselbe Haltung, die Sie nach der letzten
Sondersitzung vor die Kameras hat treten lassen, wo Sie
trotz massiver Ungereimtheiten und vieler offener Fragen sinngemäß sagten: Alles ist gut, alles ist aufgeklärt.
Wir können zur Tagesordnung übergehen, alles gar kein
Problem.
Damit sagen Sie im Grunde, dass Sie kein Problem
darin sehen, falls bestimmte Informationen möglicherweise da angekommen sind, wo sie nicht hingehören und
wo sie Schaden anrichten können. Dabei ist doch mehr
als deutlich geworden, dass nicht nur die berechtigten
Geheimnisträger von diesen Vorgängen gewusst haben.
Die Informationen zu den Ermittlungen gegen Sebastian
Edathy waren quasi Streuwissen in der damaligen Bundesregierung und bei den Koalitionsverhandlungen.
Trotzdem scheint es Ihnen völlig egal zu sein, ob und
von wem Sebastian Edathy möglicherweise vor diesen
Ermittlungen gewarnt wurde.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, so geht es nicht.
Hier geht es nicht mehr nur um Geheimnisverrat; hier
steht Strafvereitelung im Raum, und das muss aufgeklärt
werden.
({3})
Mit Ihrer Haltung sagen Sie auch, dass Sie kein Problem
bei der damaligen Bundesregierung sehen, und das, obwohl vieles darauf hindeutet, dass die Rolle des Innenministeriums gerade in Bezug auf den BKA-Beamten,
der auch auf der Kundenliste stand, zumindest unglücklich gewesen ist.
Offenbar haben Sie auch kein Problem damit, dass
kinderpornografisches Material über zwei Jahre in BKAComputern lagert, bevor erkennbar etwas passiert und
strafrechtliche Schritte eingeleitet werden. Sieben geschlagene Monate lang sind die Dateien überhaupt nicht
angerührt worden. Angesichts der damit verbundenen
schwerwiegenden Straftaten ist das ein skandalöser Vorgang.
({4})
Da muss man sich doch fragen: Wo sind die organisatorischen Mängel? Ist das Personal richtig eingesetzt?
Wie sind die Abläufe? Was muss sich konkret ändern?
Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen, das können
wir so nicht einfach hinnehmen. Wir wollen, nein wir
müssen das aufklären. Wir hatten von Anfang an das
Ziel, diese ganze Angelegenheit so schnell und so gründlich wie irgend möglich aufzuklären, um das Vertrauen
ins BKA, in die Politik und nicht zuletzt in den Rechtsstaat wiederherzustellen. Wir haben das im Innenausschuss wirklich versucht.
Man kann uns weiß Gott nicht vorwerfen, dass wir
uns nicht bemüht hätten, diesen ganzen Vorgang so
schnell und so gründlich wie möglich im Innenausschuss
aufzuklären. Aber es hat sich gezeigt, dass der Innenausschuss nicht das richtige Gremium ist, um in dieser
Frage Klarheit zu schaffen. Es gab weder die Möglichkeit, Einzelbefragungen durchzuführen, noch konnten
Unterlagen beigezogen werden.
Deshalb brauchen wir jetzt diesen Untersuchungsausschuss, in dem wir aber auch nach genau derselben
Devise vorgehen wollen, die wir von Anfang an hatten:
schnell und gründlich aufklären. Daher bitte ich Sie noch
einmal, genau zu prüfen, ob Sie die parlamentarische
Untersuchung in dieser Sache weiter ablehnen.
Unser Antrag liegt vor. Grüne und Linke können den
Untersuchungsausschuss aufgrund der Minderheitenrechte gemeinsam durchsetzen, und das werden wir auch
tun.
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, es wäre gut, wenn auch Sie - das ist meine ganz
herzliche Bitte an Sie - endlich in den Aufklärungsmodus umschalten und konstruktiv mitarbeiten würden.
({5})
Vielen Dank.
({6})
Vielen Dank, Irene Mihalic. - Nächster Redner für
die CDU/CSU-Fraktion ist Armin Schuster.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Mihalic,
über Sie als ehemalige Polizeibeamtin - wir sind Berufskollegen - bin ich manchmal verwundert. Wie Sie es fertigbringen, Tatsachen seit Monaten zu verdrehen, ist
wirklich einzigartig. Dass Sie aber jetzt auch noch damit
werben, Sie würden beim BKA versuchen, Vertrauen
herzustellen, stellt die Dinge nun wirklich auf den Kopf.
({0})
Sie tun genau das Gegenteil, Entschuldigung.
Meine Damen und Herren, ich will gleich zur Beruhigung beitragen. Ihren Wunsch auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zum Fall Edathy - mich stört
schon Ihre Formulierung - kann man nachvollziehen
- wenn auch vielleicht nicht verstehen -, aber nur so
lange, bis man Ihren Antrag gelesen hat. Er ist nicht nur
inhaltlich tendenziell verengt auf das BKA, sondern
auch in Teilen juristisch nicht einwandfrei formuliert
und, was den fehlenden Untersuchungszeitraum oder die
nicht zulässige Zahl der vorgeschlagenen Untersuchungsausschussmitglieder angeht, auch formell nicht
ordnungsgemäß.
Der Antrag ist alles in allem eigentlich gar nicht behandlungsfähig. Aber die gute Nachricht vorweg: Auch
wenn Sie es nicht gut zu Papier bringen können, respektieren wir natürlich Ihre parlamentarischen Rechte. Wir
spüren, was Sie denken,
({1})
und werden nicht gegen die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses stimmen. Wir erwarten allerdings in
den Beratungen im Ausschuss einige Korrekturen und
Ergänzungen im Untersuchungsauftrag. Wir debattieren
nicht über einen Untersuchungsausschuss zum Fall BKA
oder eines BKA-Beamten; wir diskutieren über die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses im Fall Edathy.
Das ist ein gewaltiger Unterschied.
({2})
Im Innenausschuss hat das BKA mit den unmittelbar
involvierten Mitarbeitern bereits die meisten der in Ihrem Antrag gestellten Fragen erschöpfend beantwortet.
Selbst wenn es noch Restfragen gibt - ich denke dabei
auch an den Beamten aus den eigenen Reihen des BKA -,
rechtfertigt das alleine aber nicht die Einsetzung eines
Untersuchungsausschusses. Wir hätten das im Innenausschuss wunderbar weiter klären können.
({3})
Meine Fraktion und ich hegen an den Darstellungen
von BKA-Chef Ziercke und seinen Mitarbeitern im Gegensatz zu Ihnen nicht die geringsten Zweifel.
({4})
Um langwierigen Wiederholungen im Untersuchungsausschuss vorzubeugen, wollen wir Ihnen ein paar
Punkte in den Untersuchungsauftrag hineinschreiben,
die Sie ursprünglich angekündigt hatten und die nun
merkwürdigerweise keine Erwähnung mehr finden oder
nur noch sehr zaghaft auftauchen.
Ein Beispiel. In Ihrem Antrag heißt es, der Untersuchungsausschuss solle „den Gang und die Gründe für die
lange Dauer des Verfahrens“ - das ist übrigens eine Wertung - „in Deutschland beim Bundeskriminalamt, auch
im Zusammenwirken mit Stellen der Länder“ aufklären.
Die zuständigen Strafverfolgungsbehörden in diesem
Land sind die Staatsanwaltschaften in den Ländern, und
es ist nicht das BKA. Das Zitat zeigt, dass Sie im Prinzip
alles verdreht haben.
Die für den Fall Edathy zuständige niedersächsische
Staatsanwaltschaft wird in Ihrem Antrag doch allzu
künstlich ausgespart. Finden Sie nicht auch?
({5})
Wenn in diesem Fall über die Dauer von Ermittlungen
gesprochen werden soll, dann spielt Niedersachsen eine
zentrale, wenn nicht die zentrale Rolle. Wir sollten uns
also angesichts dieses Falles ganz allgemein mit Fragen
der Informationspolitik und Öffentlichkeitsarbeit von
Staatsanwaltschaften auseinandersetzen. So hatte der
Beschuldigte in dem zu untersuchenden Fall angeblich
zu einem sehr frühen Zeitpunkt Kenntnis von den
Ermittlungen der Staatsanwaltschaft, genauso wie die
Medien.
Mit der Formulierung „lange Dauer“ nehmen Sie in
Ihrem Antrag eine unzulässige Wertung vor. Aber ich
finde es trotzdem gut, dass wir uns damit befassen. Das
gibt den Sicherheitsbehörden im Untersuchungsausschuss endlich die Chance, öffentlich darzulegen, wie
stark schwankend Kinderpornografiefälle auftreten, welches Ausmaß solche Fälle annehmen, wie viele Fälle
wann gleichzeitig bearbeitet werden und - das finde ich
ganz besonders interessant; das werden wir aufklären welchen Einfluss fehlende Mindestspeicherfristen auf
Prioritätensetzungen haben, wenn mehrere Fälle anstehen. Ich bin sehr gespannt auf die Expertenmeinungen.
({6})
Wir haben auch ein großes Interesse daran - das fällt
in Ihrem Antrag quasi aus -, zu klären, wie unterschiedlich Ermittlungsbehörden bei nicht eindeutig strafbaren
kinderpornografischen Bildern vorgehen. Ich darf daran
erinnern, dass es bei der Einschätzung solcher Bilder
eine Grauzone gibt. Ich bin nicht sicher, ob wir in
Deutschland eine einheitliche Anwendung geltenden
Rechts, also die Funktionsfähigkeit der Justiz, auf einem
garantierten Standard überhaupt gewährleisten können.
Das zu hinterfragen und von Experten belegen zu lassen,
finde ich sehr spannend.
Ich habe Ihnen alle Fehler erspart. Ich könnte noch
unendlich fortfahren.
Nein.
Ich weiß, Frau Präsidentin. Ich komme zum Ende.
Wir werden zusammen mit Ihnen etwas Gutes aus
Ihrem Antrag machen; da bin ich mir ganz sicher. Deshalb hat die Union auch nicht die Vorstellung, dass dieser Untersuchungsausschuss seinen Untersuchungsauftrag in fünf bis zehn Sitzungen erfüllen kann. Das ist ein
Trugschluss. Ich weiß nicht, was Sie sich dabei gedacht
haben. Wenn wir schon einen Untersuchungsausschuss
einsetzen, dann machen wir es richtig. Sie können sich
auf eine intensive Zusammenarbeit mit uns freuen.
Danke schön.
({0})
Vielen Dank, Herr Kollege Schuster. - Nach Frau
Mihalic und Herrn Schuster kommt jetzt mit Frank
Tempel für die Linke der dritte ehemalige Polizeibeamte, und es kommen noch weitere. Das ist sicherlich
eine wichtige Information für die Gäste.
Frank Tempel für die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Ebenso wie die Grünen fordert die Linke einen Untersuchungsausschuss zur Klärung von Fragen,
die sich in den Bereichen des Innenministeriums, des
Parlaments und des Bundeskriminalamts rund um ein
mögliches Strafverfahren gegen den ehemaligen Abgeordneten Sebastian Edathy ergeben haben. Auch als
Nachhilfe für Herrn Schuster finde ich es wichtig, noch
einmal klarzustellen, worum es grundsätzlich geht. Eines
der wichtigsten Prinzipien in unserem Rechtsstaat ist das
Prinzip der Gewaltenteilung. Exekutive, Legislative und
Judikative wurden ganz klare Aufgaben zugeteilt. Ich
bin ein strenger Verfechter der Aufgabentrennung. Das
heißt, ob ein Herr Edathy oder ein ehemaliger Minister
Friedrich strafrechtlich verurteilt werden müssen, ist Sache der Gerichte und nicht unsere Sache.
Es geht in dem vorliegenden Antrag nicht um Herrn
Edathy oder Herrn Friedrich - es handelt sich nicht um
einen Edathy-Untersuchungsausschuss -, sondern um
bestimmte Aufgaben. Es ist die Aufgabe der Legislative,
also die von uns Parlamentariern, die Exekutive, zum
Beispiel das Bundeskriminalamt, zu kontrollieren. Diese
Kontrolle ist eine Pflicht und hat ganz sicher nichts mit
Misstrauen oder Vertrauen zu tun. Es ist vielmehr eine
Pflichtaufgabe des Parlaments, die Exekutive zu kontrollieren; das wissen Sie.
({0})
Wenn bei uns selbst oder in der Öffentlichkeit der
Eindruck entsteht, dass es Fehler in der Exekutive gab,
haben wir die Pflicht, diesen Fehlern nachzugehen, ganz
gleich, ob es um menschliche Fehler ging oder um strukturelle Fehler. Wenn also konkret der Eindruck entstanden ist, dass im Zusammenhang mit den strafrechtlichen
Ermittlungen gegen einen namhaften Politiker oder
gegen einen höheren BKA-Beamten etwas falsch lief,
besteht ein hohes öffentliches Interesse an der Aufklärung. Transparenz ist wichtig, damit der Bürger Vertrauen in staatliche Institutionen hat. Deswegen haben
wir, wie gesagt, in bereits vier Innenausschusssitzungen
versucht, den wichtigsten Fragen nachzugehen,
({1})
zum Beispiel: Warum informiert ein Innenminister
Unbefugte über staatsanwaltschaftliche Ermittlungen,
obwohl er das nach der Regelung über Geheimnisverrat
eben nicht darf? Welchen Weg haben diese Informationen durch die SPD-Reihen genommen? Ist Herr Edathy
nun vorher informiert worden oder nicht? Das sind
Fragen, die in der Öffentlichkeit stehen. Man braucht
bloß die Zeitungen aufzuschlagen. Da wird das gefragt.
Ich unterstelle der SPD das nicht, aber diese Frage steht
in der Öffentlichkeit, und wir haben die Aufgabe, dem
nachzugehen. Dafür bekommen wir sehr hohe Diäten,
und wir sollten uns ein bisschen anstrengen.
({2})
Es wurden aber in diesen Sitzungen immer neue Fragen aufgeworfen, wesentlich mehr neue Fragen, als wir
Antworten bekommen haben. Wir haben einen BKAChef erlebt, der sich permanent von Anfang an in eine
Verteidigungshaltung begeben hat und beispielsweise
auf die Frage des Ausschussvorsitzenden in der dritten
und vierten Sitzung - bei einem völlig neuen Fakt -,
warum er das nicht schon in der ersten Sitzung gesagt
habe, geantwortet hat: weil er das nicht gefragt worden
sei. Aktive und transparente Mitarbeit sieht völlig anders
aus.
Ich als Kriminalist kenne das Verhalten von Beschuldigten, die immer nur das zugeben, was gerade sowieso
offensichtlich ist.
({3})
- Hören Sie doch einfach zu! - Der BKA-Chef ist eben
nicht als Beschuldigter in den Innenausschuss eingeladen worden, sondern als Behördenleiter. Darauf ist er
mehrfach, von Dr. Notz zum Beispiel, hingewiesen worden. Er hat es aber nie verstanden. Er hat sich immer in
der Verteidigerposition gesehen, und Sie haben sich in
jeder Innenausschusssitzung als sein Anwalt aufgespielt.
Das ist der Unterschied zum Aufklärungswillen, und das
hat die Kollegin von den Grünen angesprochen.
Der Untersuchungsausschuss soll Fehler aufzeigen,
menschliche und strukturelle, und er soll aufzeigen,
welche Lösungsansätze wir haben, um solche Fehler in
Zukunft zu vermeiden. Wenn alles richtig war, Herr
Schuster, dann kann der Untersuchungsausschuss auch
zu diesem Schluss kommen. Das haben wir nie in
Abrede gestellt. Wir wollen fair und transparent zur Aufklärung beitragen. Auch dass alles richtig war, ist letztendlich möglich. Wenn dem so ist, muss auch das geklärt
werden, damit die Zweifel in der Öffentlichkeit wirklich
ausgeräumt werden.
Wenn Sie zu diesem Sachverhalt die Medienberichterstattung verfolgen und die Zeitung aufschlagen, dann
werden Sie feststellen, dass die Fragen eben nicht beantwortet sind. Deshalb fordern auch wir den Untersuchungsausschuss. Wir werden diesen Untersuchungsausschuss sehr fair betreiben, aber uns auf die Aufgaben
konzentrieren, für die wir zuständig sind. Für die Staatsanwaltschaft ist das Landesparlament zuständig, nicht
wir. Auch in dieser Hinsicht sollten Sie Nachhilfeunterricht nehmen.
Danke schön.
({4})
Vielen Dank, Herr Kollege Tempel. - Nächster
Redner in der Debatte ist Uli Grötsch, auch ehemaliger
Polizeibeamter, für die SPD-Fraktion.
({0})
Der vierte Polizeibeamte in der Reihe. - Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass nun nach monatelanger Ankündigung gestern der Antrag der Opposition zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses im
Zusammenhang mit der Operation „Selm“ des Bundeskriminalamtes eingebracht worden ist. Wie schon mehrfach betont, ist aus unserer Sicht ein Untersuchungsausschuss in diesem Fall das falsche Mittel zur
Sachverhaltsaufklärung.
Wir haben uns im Innenausschuss in vier Sitzungen
eingehend, ausführlich, umfassend und nach meiner
Meinung in wirklich erschöpfender Art und Weise mit
den relevanten Fragen beschäftigt und dafür zahlreiche
Personen aus Bundes- und Landesbehörden und sogar
Mitglieder der Bundesregierung angehört. Inwieweit das
in dieser Art und Weise notwendig war und ob nicht einzelne Mitglieder des Innenausschusses sogar über das
Ziel hinausgeschossen sind, darüber gehen die Meinungen wohl auseinander.
Offenbar gehen sie auch darüber auseinander, lieber
Kollege Tempel, welche Rolle der Präsident des Bundeskriminalamts bei den Befragungen im Innenausschuss
gespielt hat. Wir haben ihn völlig anders wahrgenommen als Sie. Wir haben klare Antworten auf unsere Fragen bekommen. Wir haben keinen Zweifel an der Darstellung des Präsidenten des Bundeskriminalamtes.
Sofern Detailfragen offengeblieben sein sollten, hätten wir sie, wie eingangs schon erwähnt, zeitnah und
erschöpfend in einer oder zwei weiteren Sitzungen des
Innenausschusses klären können. Stattdessen setzt die
Opposition auf das eher schwerfällige und vor allem
langwierige Instrument eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses. Das Problem dabei ist, dass man
nicht einfach auf den Erkenntnissen des Innenausschusses aufbauen kann, sondern dass wir in einem solchen
Untersuchungsausschuss mit der förmlichen Beweiserhebung ganz von vorn anfangen müssen. Ob das Parlament seine Ressourcen hier effektiv und sinnvoll einsetzt, halte ich für fraglich.
Wie Kollege Schuster schon angedeutet hat, halte ich
es für sehr optimistisch, dass der Ausschuss in den von
den Initiatoren anvisierten vier oder fünf Sitzungen seine
Arbeit abschließen kann. Welches politische Ziel mit
diesem Ausschuss verfolgt werden soll, bleibt für mich
und wohl auch für Teile der Opposition ebenfalls nach
wie vor ein Rätsel.
Ich möchte an dieser Stelle ganz deutlich sagen: Wir
sind keine Ermittlungsbehörde. Ich glaube nicht, dass es
Aufgabe des Deutschen Bundestages und seiner Mitglieder ist, staatliches Handeln permanent zu kontrollieren.
Herr Grötsch, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder
eine Zwischenbemerkung des Kollegen Tempel?
Selbstverständlich.
Bitte, Herr Tempel.
Danke schön. - Wir haben im Innenausschuss regelmäßig recht aktiv Kommunikation betrieben und eine
recht angenehme Zusammenarbeit gepflegt. Dabei haben wir immer wieder das Signal bekommen, dass die
Regierungskoalition eher auf einen sehr straffen, sehr
kurz geführten Untersuchungsausschuss setzt, wenn er
schon kommen muss.
Jetzt wird uns hier von beiden Regierungsfraktionen
gesagt, dass eine solche kurze Dauer völlig unrealistisch
ist. Sollen wir die Redebeiträge der beiden Vertreter der
Regierungsfraktionen, insbesondere Ihren, also so verstehen, dass wir den Untersuchungsauftrag wesentlich
gründlicher und intensiver ausüben sollen? Das können
wir bei den Fragestellungen sehr gerne berücksichtigen.
Kann ich Ihre Aussage so verstehen, dass die Untersuchungen noch gründlicher und intensiver, also nicht bloß
in vier bis sechs Sitzungen, erfolgen sollen? Das nähmen
wir gerne auf. Ich möchte das mit Blick auf das Protokoll hier bloß klargestellt wissen.
({0})
Herr Kollege, ich habe gerade schon darauf hingewiesen, dass ich in Zweifel ziehe, dass die Ressourcen des
Parlaments und seiner Mitglieder in diesem Untersuchungsausschuss sinnvoll angelegt sind. Genauso wie
Herr Schuster glaube ich, dass sich im Zuge der Sitzungen des Untersuchungsausschusses noch viele offene
Fragen ergeben werden und dass dieser Untersuchungsausschuss eine ganz eigene Dynamik entwickeln kann.
Ganz ohne Frage ist auch uns daran gelegen, dass wir
die Untersuchungsausschusssitzungen kurz, möglichst
schmerzlos und sehr effektiv gestalten. Aber ich kann
mir durchaus vorstellen, dass sich im Zuge der Tätigkeit
des Ausschusses noch Fragen ergeben, die in diesem
Ausschuss geklärt werden müssen.
({0})
- Ja, das ist absolut in unserem Interesse; keine Angst.
({1})
Wie gesagt, welches politische Ziel mit diesem Ausschuss verfolgt werden soll, erschließt sich uns zunächst
nicht. Gerade wurde schon darauf hingewiesen, dass
man durchaus die Frage stellen darf, ob die Ressourcen
beim Bundeskriminalamt richtig eingesetzt sind. Ich
glaube schon, dass das so ist; daran habe ich überhaupt
keinen Zweifel.
Eine Frage, die man in diesem Zusammenhang aber
auch stellen darf, ist, ob dort genug Personal vorhanden
ist oder ob manches nicht schlichtweg daran scheitert,
dass dort einfach zu wenig Personal vorhanden ist, um
bestimmte Fälle schneller zu bearbeiten, als dies im Fall
der Operation „Selm“ geschehen ist.
({2})
Sie, die Oppositionsfraktionen, haben lange über der
Formulierung des Antrags auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses gebrütet. Gebracht hat es offenbar
nicht viel. Wir debattieren heute einen Antrag, der - der
Kollege von der Union hat schon darauf hingewiesen einige handwerkliche Schwächen hat. Das sind keine
Lappalien; denn die Verfassungsmäßigkeit eines solchen
Antrages liegt in der Gesamtverantwortung des Parlaments.
({3})
Aber, wie ebenfalls schon erwähnt, die handwerklichen Fehler können behoben werden, wenn die Opposition bereit ist, in einigen Punkten nachzubessern. Daran
haben wir keinen Zweifel. Deshalb beantragen wir heute
die Überweisung dieses Antrags in den Geschäftsordnungsausschuss.
Lassen Sie mich ein paar Aspekte benennen, die mir
besonders wichtig sind:
Bereits die von der Opposition beantragte Größe des
Ausschusses von sechs Mitgliedern lässt sich kaum mit
dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Spiegelbildlichkeit der Ausschussgröße vereinbaren. Die Opposition würde bei dieser Ausschussgröße ein Drittel der
Mitglieder des Ausschusses stellen, obwohl sie im Plenum nur über etwa ein Viertel der Sitze verfügt. Das geht
unserer Meinung nach so nicht.
Darüber hinaus ist insbesondere der Teil des Untersuchungsauftrags problematisch, mit dem ein Disziplinarund Strafverfahren gegen einen einzelnen BKA-Beamten zum zentralen Untersuchungsgegenstand werden
soll. Ich habe große Zweifel, ob hier überhaupt ein besonderes öffentliches Interesse an der Aufklärung dieses
bereits abgeschlossenen Einzelfalls besteht.
Aber entscheidend ist ein grundsätzlicher Gedanke:
Wollen wir uns als Parlament wirklich zum Oberkontrolleur einzelner disziplinarischer oder strafrechtlicher
Entscheidungen aufschwingen? Es dürfte auch für die
Öffentlichkeit kaum nachvollziehbar sein, warum hier
eine öffentliche parlamentarische Befassung in einem
Untersuchungsausschuss erforderlich ist. Hier steht zudem ein möglicher Eingriff in den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Unabhängigkeit der Richter im
Raum, wenn die richterliche Entscheidung zum Strafbefehl gegen einen Beamten Gegenstand der Untersuchung
werden soll.
Meine Bauchschmerzen nehmen noch mehr zu, wenn
ich an die Persönlichkeitsrechte des schon genannten
Beamten denke. Wir vermissen eine besondere Rechtfertigung dafür, warum wir einen einzelnen Beamten einer
solch intensiven parlamentarischen Kontrolle und medialen Aufmerksamkeit unterwerfen wollen. Es war ja eine
private Verfehlung und keine dienstliche Verfehlung,
und der Beamte war kein Staatssekretär oder Minister,
({4})
sondern ein Beamter einer Bundesbehörde. Wollen wir
wirklich die privaten Verfehlungen eines einzelnen
Beamten zum öffentlichen Spektakel machen, liebe Kolleginnen und Kollegen?
({5})
Wohin soll ein solches Vorgehen führen? Wenn überhaupt, dann müssen wir diesen Untersuchungsabschnitt
klar begrenzen auf die mögliche Beteiligung der politischen Leitungsebene beim Umgang mit diesem Vorgang.
Weiterhin beinhaltet der Antragstext eine Vielzahl
von Behauptungen und Wertungen, wie schon erwähnt
wurde, obwohl erst untersucht werden soll, ob das
wirklich so war, wie Sie das in Ihrem Antrag darstellen.
Einige der Formulierungen verstoßen eindeutig gegen
das sogenannte Antizipationsverbot. Auch diese Probleme müssen im Geschäftsordnungsausschuss erst noch
geklärt werden.
Schließlich lässt mich der Antragstext mit zu vielen
Fragen zurück, weil er an vielen Stellen einfach unbestimmt und unklar ist. Ein Untersuchungsauftrag muss
schon aus rechtsstaatlichen Gründen inhaltlich bestimmt
sein. Er darf nicht von vornherein Fragen über den
Umfang des Untersuchungsgegenstandes aufwerfen.
Ich hoffe, dass wir diese Fragen im Geschäftsordnungsausschuss sachorientiert und zügig klären können,
sodass einer baldigen Einsetzung des Untersuchungsausschusses dann nichts mehr im Weg steht. Auch wenn wir
diesen Untersuchungsausschuss für das falsche Instrument halten, so soll er doch auf der Basis eines rechtssicheren Einsetzungsbeschlusses seine Arbeit aufnehmen.
Vielen Dank.
({6})
Danke schön, Herr Kollege. - Nächster Redner in dieser Debatte: Dr. Stephan Harbarth für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Das Grundgesetz sieht nicht vor, dass 127 Abgeordnete
des Deutschen Bundestags einen Untersuchungsausschuss einrichten können. Diese Möglichkeit besteht,
weil die Regierungskoalition aus CDU/CSU und Sozialdemokraten die institutionellen Voraussetzungen dafür
geschaffen hat.
({0})
Da muss ich Ihnen schon sehr klar sagen: Wenn Sie von
den Grünen sich heute hier so aufführen
({1})
und erklären, es sei eine Regierungskoalition, die - Zitat
- Obstruktion statt Aufklärung betreibe,
({2})
wenn Sie hier erklären - Zitat -, Sie hätten Zweifel an
unserem Parlamentsverständnis, dann stellt das die
Dinge auf den Kopf.
({3})
Ich habe Verständnis dafür, dass man, wenn man als
zwei Fraktionen 16 Prozent der Bevölkerung hinter sich
weiß, versucht, hier einen starken Auftritt zu machen.
Aber nach dem, was wir Ihnen an Minderheitenrechten
eingeräumt haben, ist es ungehörig,
({4})
uns ein eingeschränktes Parlamentsverständnis vorzuwerfen. Das gehört sich nicht.
({5})
Ich habe auch mit Interesse zur Kenntnis genommen,
dass es Ihnen darum geht, das Vertrauen in polizeiliche
Strukturen wiederherzustellen. Das Vertrauen in polizeiliche Strukturen herzustellen, war nicht immer Kernprogrammatik grüner Politik.
({6})
Ich habe das deshalb mit großem Interesse zur Kenntnis
genommen, und wir werden Sie daran messen. Wir werden schauen, ob es Ihnen tatsächlich um Aufklärung
geht oder ob es Ihnen darum geht, Polizisten zu diffamieren und zu diskreditieren.
({7})
Für Letzteres stehen wir mit Sicherheit nicht zur Verfügung.
({8})
Wir sind der festen Überzeugung, dass der Untersuchungsgegenstand grundsätzlich zulässig ist. Es gibt
aber in der konkreten Ausgestaltung eine Reihe von
Punkten, bei denen wir Diskussionsbedarf im Geschäftsordnungsausschuss sehen. Das gilt zunächst für die
Frage - das ist vorhin angeklungen -, wie groß eigentlich der Untersuchungsausschuss sein soll. In der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages ist geregelt,
dass 8 oder 16 Mitglieder möglich sind. Für einen Untersuchungsausschuss aus 6 Mitgliedern stehen wir nicht
zur Verfügung, auch deshalb nicht, weil es nicht sein
kann, dass zwei Fraktionen mit 127 Abgeordneten in
diesem Untersuchungsausschuss genauso viele Mitglieder stellen wie eine Fraktion mit 311 Abgeordneten. Das
spiegelt die parlamentarische Zusammensetzung nicht
wider. Deshalb werden wir das so auch nicht mitmachen.
Wir haben noch eine Reihe von Zweifeln hinsichtlich
der Bestimmtheit einzelner Punkte des Untersuchungsauftrags. Wir haben an einigen Stellen noch Zweifel, ob
die Grundrechte betroffener Personen hinreichend gewahrt sind. Wir werden aber nach meiner Überzeugung
das alles im Geschäftsordnungsausschuss einer vernünftigen Lösung zuführen können.
Das gilt auch für die Frage, wie wir diesen Untersuchungsausschuss im Spannungsverhältnis von Parlament
und Rechtsprechung ausgestalten. Die Vorgänge, um die
es hier geht, sind zugleich Gegenstand staatsanwaltschaftlicher, möglicherweise auch gerichtlicher und
disziplinarischer Untersuchungen. Dieses schwierige
Spannungsverhältnis, das sich hier zwischen verschiedenen Staatsgewalten auftut, werden wir im Einzelnen
noch auszutarieren haben.
Ich sage Ihnen klar: Sie können diesen Untersuchungsausschuss haben. Wir werden allerdings sicherstellen, dass sich der Untersuchungsausschuss des Themas dann in der ganzen Breite annimmt. Wenn Sie
glauben, Vorgänge auf Länderebene, wie die im rot-grün
regierten Niedersachsen, hier ausklammern zu können,
indem Sie sie in Ihrem Untersuchungsauftrag bestenfalls
ganz marginal ansprechen, dann werden Sie erleben,
dass das mit uns nicht geht. Wenn wir uns die Dinge anschauen, dann werden wir sie uns gesamthaft anschauen,
dann werden wir uns auch die Dinge im rot-grün regierten Niedersachsen anschauen und fragen: Was ist dort
auf Verwaltungsebene möglicherweise schiefgelaufen?
Was ist dort auf Regierungsebene möglicherweise
schiefgelaufen? Dass man einen Teil skandalisiert und
versucht, über den anderen Teil den Mantel des Schweigens zu legen, wird mit uns nicht funktionieren.
({9})
Ich kann Ihnen schon jetzt sagen: Die Menschen haben an diesem Untersuchungsgegenstand vielleicht ein
Interesse. Aber in einem bin ich mir ganz sicher: Die
Menschen haben ein viel größeres Interesse daran, das
dahinterliegende Sachproblem zu lösen, nämlich den
Umgang mit Kinderpornografie. Ich wünsche mir auch
von den Fraktionen der Antragsteller, dass sie dann,
wenn es darum geht, in diesem Haus taugliche Instrumente zu entwickeln, die gleiche Begeisterung und den
gleichen Einsatz zeigen, den sie hier im Hinblick auf den
Untersuchungsgegenstand erkennen lassen. Damit ist
diesem Land möglicherweise noch mehr gedient als allein mit diesem Untersuchungsausschuss.
Herzlichen Dank.
({10})
Danke, Herr Kollege. - Ich glaube, dass das ganze
Haus Interesse an der Verfolgung von Kinderpornografie
hat. Daran braucht man, glaube ich, keine Zweifel zu
hegen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/1475 an den Ausschuss für Wahlprüfung,
Immunität und Geschäftsordnung vorgeschlagen. Das
wird eine lebendige Auseinandersetzung im Ausschuss.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({0})
gemäß § 56a GO-BT
Technikfolgenabschätzung ({1})
Postdienste und moderne Informations- und
Kommunikationstechnologien
Drucksache 18/582
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({2})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz,
Bau und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss Digitale Agenda
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sollen die
Reden zu Protokoll gehen.1) - Ich höre keinen Wider-
spruch. Dann ist das so beschlossen.
1) Anlage 12
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin
Binder, Caren Lay, Jan Korte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Schutz von Kindern vor Schadstoffen in
Spielzeugen wirksam durchsetzen
Drucksache 18/1367
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({3})
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft ({4})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Federführung strittig
Auch hier sollen nach einer interfraktionellen Verein-
barung die Reden der Kolleginnen und Kollegen zu Pro-
tokoll gegeben werden.2) - Ich höre keinen Widerspruch.
Dann ist das so beschlossen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/1367 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist
allerdings strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und der
SPD wünschen die Federführung beim Ausschuss für
Wirtschaft und Energie. Die Fraktion Die Linke wünscht
die Federführung beim Ausschuss für Ernährung und
Landwirtschaft.
Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungsvor-
schlag der Fraktion Die Linke, Federführung beim Aus-
schusses für Ernährung und Landwirtschaft. Wer stimmt
für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dage-
gen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Überweisungs-
vorschlag bei Zustimmung von der Linken und vom
Bündnis 90/Die Grünen und Gegenstimmen der CDU/
CSU- und der SPD-Fraktion abgelehnt.
Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvor-
schlag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD, Fe-
derführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Energie.
Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dieser Überwei-
sungsvorschlag ist angenommen. CDU/CSU und die
SPD haben dafür gestimmt, Bündnis 90/Die Grünen hat
dagegen gestimmt. Die Linke hat sich enthalten. Damit
ist der Ausschuss für Wirtschaft und Energie federfüh-
rend.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich teile Ihnen mit,
dass sich die Fraktionen verständigt haben, den Tages-
ordnungspunkt 13 - es handelt sich hierbei um die Bera-
tung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
mit dem Titel „Mehr Anerkennung für Peacekeeper in
internationalen Friedenseinsätzen“ - von der Tagesord-
nung abzusetzen. Sind Sie mit dieser Vereinbarung ein-
2) Anlage 11
Vizepräsidentin Claudia Roth
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Halina
Wawzyniak, Jan Korte, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Einsetzung einer Unabhängigen Kommission
zur sprachlichen Bereinigung des Strafrechts
von NS-Normen, insbesondere von Gesinnungsmerkmalen
Drucksache 18/865
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({5})
Innenausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort Halina
Wawzyniak von der Linken.
({6})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wir debattieren den Antrag der Linken auf Einsetzung einer Unabhängigen Kommission zur sprachlichen Bereinigung des Strafrechts von NS-Normen, insbesondere von Gesinnungsmerkmalen. Unseren Antrag
verstehen wir als Ergänzung und - aufgepasst! - damit
als Unterstützung des Vorhabens des Bundesministers
für Justiz und Verbraucherschutz, eine Expertenrunde
zur Vorbereitung der Strafrechtsreform der Paragrafen
zu Mord und Totschlag einzurichten. Wir finden es ausgesprochen richtig und gut, dass der Bundesminister hier
die Initiative der schleswig-holsteinischen Ministerin für
Justiz, Kultur und Europa aufgegriffen hat.
({0})
- Richtig, da kann auch die SPD klatschen.
Aus der Antwort auf mehrere schriftliche Anfragen
wissen wir, dass die Expertengruppe noch vor der Sommerpause ihre Arbeit aufnehmen soll und gesetzgeberische Schritte noch in dieser Legislaturperiode ergriffen
werden sollen.
({1})
Auch das finden wir richtig und auch begrüßenswert.
({2})
Wir wissen auch, dass in der Expertenrunde Vertreterinnen und Vertreter aus Wissenschaft und Praxis der
Fachdisziplinen ausgewählt wurden, die bei der komplexen Regelungsmaterie berücksichtigt werden sollen. Wir
wissen ebenfalls, dass diese Expertinnen und Experten
aus der Rechtswissenschaft und der Rechtsanwendung und hier insbesondere aus der Kriminologie und Forensik - kommen sollen. Wir wissen aber nicht, ob Historikerinnen und Historiker mitarbeiten und ob die Mitarbeit
der Länder gesichert ist. Wir sehen in unserem Antrag
explizit vor, dass auch Historikerinnen und Historiker an
der Kommission beteiligt werden sollen. Vielleicht können Sie sich auch noch für diese Idee erwärmen.
Worin liegt eigentlich das Problem? Das Problem
liegt darin, dass insbesondere die Mordmerkmale „niedrige Beweggründe“, aber auch „Heimtücke“ Gesinnungsmerkmale sind, die aus der NS-Zeit stammen und
seitdem so im Strafgesetzbuch stehen. Die geltende Fassung des Mordparagrafen geht auf das Jahr 1941 zurück.
Nicht nur Heimtücke und niedrige Beweggründe stellen das in Deutschland geltende Tatstrafrecht infrage. Es
handelt sich mindestens bei ihnen um Tatbestandsformulierungen, die tätertypische Verhaltensweisen unter
Strafe stellen und nicht die Tatbegehung an sich. Es handelt sich um mit Wertungen versehene Tatbestandsmerkmale. Das sorgt dafür, dass die sittlich-moralische Wertung von Richterinnen und Richtern zur Grundlage einer
Verurteilung gemacht wird. Solche Gesinnungsmerkmale, wie wir sie nicht nur bei Mord finden, werfen auch
prozessuale Probleme auf. Ich verweise auf das Recht zu
schweigen nach § 136 StPO.
Das alles ist in der juristischen Wissenschaft seit langem weitgehend unumstritten. Für eine Reformierung
der Straftatbestände Mord und Totschlag ist es höchste
Zeit. Wir glauben aber, dass, wenn schon eine solche Expertenrunde eingerichtet wird, nicht bei Mord und Totschlag stehen geblieben werden sollte. Auch in anderen
Straftatbeständen finden sich Gesinnungsmerkmale. Ich
weise auf die Verwerflichkeitsklausel bei der Nötigung
hin:
Rechtswidrig ist die Tat, wenn die Anwendung der
Gewalt oder die Androhung des Übels zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist.
Auch hier entscheidet die sittlich-moralische Wertung
von Richterinnen und Richtern über die Strafbarkeit.
Gesinnungsmerkmale finden wir aber auch beim
Straftatbestand der „Misshandlung Schutzbefohlener“
mit den Merkmalen „roh“ und „böswillig“ oder bei der
schweren Körperverletzung mit dem Merkmal „hinterlistig“. Wir sind der Überzeugung: Wenn eine Expertenkommission eingerichtet wird, sollte sie sich auch dieser
Straftatbestände annehmen. Ich weiß, der härteste Brocken ist die Frage von Mord und Totschlag, auch weil es
Folgefragen gibt, wie zum Beispiel die Frage nach der
lebenslangen Freiheitsstrafe.
Wir wünschen der Expertengruppe viel Erfolg und
bitten Sie dennoch, zu überlegen, ob man die Expertengruppe so, wie wir es vorgeschlagen haben, erweitern
kann.
({3})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Nächster Redner für
die CDU/CSU-Fraktion ist Ansgar Heveling.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Uhrzeit, zu der wir heute den Antrag der Fraktion
Die Linke mit dem Titel „Einsetzung einer Unabhängigen Kommission zur sprachlichen Bereinigung des
Strafrechts von NS-Normen, insbesondere von Gesinnungsmerkmalen“ beraten, ist geradezu sinnfällig. Es ist
gleichsam eine Mondscheindebatte. Zuallererst ist sie
das, weil der Bundesminister der Justiz und für Verbraucherschutz gerade in dieser Woche eine eigenständige
Kommission eingesetzt hat, die sich für ihn mit der
Frage der Notwendigkeit einer Überarbeitung der Tötungsdelikte im Strafrecht befassen soll.
Bei der Einsetzung dieser Kommission hat Bundesminister Maas dezidiert darauf abgestellt, dass die Regelung von Mord und Totschlag zur Zeit des Nationalsozialismus Eingang in das Strafgesetzbuch gefunden hat.
Diese Regelung soll besonders im Fokus der Arbeit der
Kommission stehen.
({0})
Mithin haben wir eine Kommission, die, so hat es Bundesjustizminister Maas gegenüber der Presse artikuliert,
die Aufgabe haben soll, eine fundierte Grundlage für die
parlamentarische Diskussion zu schaffen. Einer weiteren
Kommission bedarf es also nicht; einer Ergänzung
ebenso wenig.
({1})
Das Ansinnen der Fraktion Die Linke ist damit in der
Sache ziemlich überflüssig;
({2})
es sei denn, es geht den Linken einzig und allein darum,
die Unabhängigkeit der von Bundesminister Maas eingesetzten Kommission infrage stellen zu wollen. Wenn die
Linke von Unabhängigkeit spricht, scheint immer Vorsicht geboten zu sein; denn meistens geht es dann geradezu um unverhohlene Lenkung an demokratisch legitimierten Institutionen vorbei. Aber vermutlich ist das
jene Form von Dialektik, die ich niemals verstehen
werde. Auch das lässt sich der Maas-Kommission nicht
ernsthaft unterstellen. So sind beispielsweise Wissenschaftler und Vertreter der Richterschaft Mitglieder der
Kommission. Es sind mithin Persönlichkeiten, deren Arbeit sogar grundgesetzlich als frei und unabhängig geschützt ist.
({3})
In der Sache, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, macht der vorliegende Antrag damit auf ganzer Linie keinen Sinn, zumal es nur Camouflage ist, wenn darin von „sprachlicher Bereinigung“ gesprochen wird.
Darum geht es - das zeigt schon der Rest des Antragstitels - überhaupt nicht. Denn es geht bei dem Antrag natürlich um die inhaltliche Veränderung von Strafrechtsnormen und nicht nur um semantische Bereinigungen.
Darüber aber, meine lieben Kolleginnen und Kollegen,
müssen wir sehr viel breiter diskutieren, als wir das
heute Abend nach 22 Uhr tun können.
({4})
Die Erkenntnisse der jetzt vom Bundesjustizminister
eingesetzten Kommission können dafür sicherlich eine
gute Grundlage sein.
Wir müssen uns aber gleichzeitig auch die Frage stellen, ob eine Reform des Strafgesetzbuches und insbesondere des Bereichs der Tötungsdelikte wirklich so vordringlich ist. Zunächst einmal ist es sicherlich richtig,
dass eine Reihe von Merkmalen des § 211 StGB ihre
Grundlage in einer Strafrechtslehre haben, die nicht unserem heutigen Strafrechtsverständnis des Tatstrafrechts
entspricht. Zutreffend ist auch, dass die heutige Fassung
der §§ 211 und 212 im Wesentlichen auf einem Gesetz
aus dem Jahr 1941 beruht, sodass es sich in zeitlicher
Hinsicht tatsächlich um eine Vorschrift aus der Zeit des
Nationalsozialismus handelt.
Die zugrundeliegende Strafrechtslehre ist indessen
viel älter und in Europa andernorts durchaus sogar bis
heute verbreitet. Die Konzeption der Mordmerkmale beruht auf Überlegungen des Schweizer Rechtswissenschaftlers Carl Stooss, und die Merkmale stammen im
Wesentlichen vom Ende des 19. Jahrhunderts. Bis heute
begegnen sie einem im Übrigen im französischen Code
pénal.
({5})
Das, meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen,
zeigt jedenfalls, dass das Ziel einer Bereinigung von
Formulierungen aus der NS-Zeit als Begründung für
eine Reform allein wohl nicht ausreichen kann.
Es stellt sich aber im Weiteren auch die Frage, ob eine
Änderung der Strafvorschriften wirklich erforderlich ist.
Denn bei aller rechtswissenschaftlichen Diskussion im
Einzelnen müssen wir auch feststellen, dass die Rechtsprechung unter der Geltung des Grundgesetzes zu ausgewogenen Ergebnissen kommt und die Gerichte für
sämtliche Rechtsprobleme akzeptable Lösungen erarbeitet haben.
({6})
So ist beispielsweise bei Mordfällen, in denen das Täterverschulden so viel geringer ist, dass die Verhängung der
lebenslangen Freiheitsstrafe das verfassungsrechtliche
Gebot schuldangemessenen Strafens missachten würde,
anerkannt, dass von lebenslanger Freiheitsstrafe abgesehen und auf eine zeitige Freiheitsstrafe erkannt werden
kann; das ist die sogenannte Rechtsfolgenlösung. Das
heißt, der Einzelfallgerechtigkeit wird Genüge getan.
Jede in Erwägung zu ziehende Reform wird sich also
daran messen lassen müssen, ob sie bessere Ergebnisse
liefern kann als die heutige Praxis der Rechtsprechung.
({7})
Für uns als CDU/CSU ist bei jedweder Überlegung klar,
dass ein Festhalten an der lebenslangen Freiheitsstrafe
und der Unverjährbarkeit von Mord auf jeden Fall essenziell ist.
Vielen Dank.
({8})
Danke, Herr Kollege. - Nächster Redner in der Debatte ist Hans-Christian Ströbele für Bündnis 90/Die
Grünen.
Gute Nacht, Frau Präsidentin!
({0})
Wir sind wirklich spät dran, und zwar in jeder Hinsicht;
denn fast 70 Jahre nach Ende des Nationalsozialismus ist
es eigentlich an der Zeit, das Strafgesetzbuch daraufhin
zu überprüfen, wo es noch Überbleibsel aus der NS-Zeit
gibt und warum.
({1})
Dafür gibt es sicherlich viele Gründe. Dabei geht es
nicht nur um den Mordparagrafen,
({2})
sondern da gibt es noch ein paar andere.
Es ist schon darauf hingewiesen worden: Beim
Straftatbestand der Nötigung hat sich die Rechtsprechung jahrzehntelang darum gekümmert, wie man es
neu definieren, wie man den Begriff „verwerflich“ auslegen kann. Sie kam dabei eigentlich immer wieder zu
sehr seltsamen Ergebnissen. Das hat vielleicht auch den
Grund, dass § 240 Absatz 2 StGB ursprünglich bei den
Nazis die Formulierung „das gesunde Volksempfinden“
enthielt; anstatt „verwerflich“ stand da „das gesunde
Volksempfinden“. Wissen Sie, wann das geändert worden ist? 1953. Da gab es die Bundesrepublik Deutschland schon seit vier Jahren, und da hat man dazu gefunden, das zu ändern.
Ich verhehle nicht, dass ich mich angesichts der Debatte, die wir nicht nur heute Abend führen und die vom
neuen Justizminister in Gang gesetzt worden ist - damit
beschäftigen sich jetzt schon der Strafverteidigertag und
der Deutsche Anwaltverein auf seiner Tagung; all das ist
gut und richtig -, schon frage: Warum hat das so lange
gedauert?
Ich sehe die Schuld auch bei mir. Seit über 45 Jahren
bin ich mit diesem Strafgesetzbuch in der Hand als
Anwalt tätig und bin bis zu dem Zeitpunkt, an dem diese
Diskussion aufkam, nie auf die Idee gekommen - das
muss ich gestehen -, wenn wir uns mit dem Mordparagrafen herumgeärgert haben, zu überlegen, woher beispielsweise der Begriff „Heimtücke“ kommt oder wann
er eingeführt worden ist.
({3})
Es wurde nie die Initiative ergriffen - leider auch nicht
unter Rot-Grün -, das zu ändern.
Ganze Generationen von Juristen sind damit groß geworden. Sie alle haben gewusst, woher das alles kommt,
aber sie haben es nie geändert. Deshalb ist es gut und
richtig, dass wir die Änderung angehen. Wir unterstützen sowohl den Justizminister als auch die Initiative von
den Linken, die fordert, nicht nur den Mordparagrafen
zu ändern, sondern auch das ganze Strafgesetzbuch zu
überprüfen und die entsprechenden Änderungen herbeizuführen.
({4})
Ich finde, das ist nicht nur eine Sache für eine Expertenkommission. Das ist mir viel zu wenig. Letztlich ist
es die Aufgabe dieses Deutschen Bundestages. Natürlich
sollten wir uns beraten und gute Vorschläge vorlegen
lassen. Vor allen Dingen müssen wir uns überlegen, welche Konsequenzen das nach sich zieht. Wir müssen uns
fragen: Was hat es zur Folge, wenn wir dieses oder jenes
ändern? Wer wird in Zukunft bestraft? Derjenige, der
derzeit nicht bestraft wird? Und wer wird in Zukunft
nicht bestraft? Derjenige, der derzeit vielleicht bestraft
wird? Das alles muss man berücksichtigen.
Wir brauchen viel Sachverstand. Wir brauchen Richter, auch Richter vom Bundesgerichtshof, die sich nicht
nur mit § 240 - Nötigung -, sondern auch mit § 211
viele Jahrzehnte herumgeärgert haben und in einer sehr
freien, fast verfassungswidrigen Auslegung ganz neue
Tatbestände für den § 211 geschaffen haben. Wir müssen
uns beraten lassen, damit vernünftige Änderungen auf
den Weg gebracht werden können.
Wir arbeiten gerne mit. Bei uns in der Fraktion hat die
Diskussion angefangen. Wir haben auch schon erste eigene Vorschläge. Ich bin gespannt, wann die Vorschläge
nicht nur vom Justizministerium, sondern auch von den
anderen Fraktionen kommen. Lassen Sie uns die Änderungen dann im Konsens vollenden. So kommen wir zu
einem vernünftigen Ergebnis.
Der Maßstab jetzt sollte sein, die Tatbestandsmerkmale objektiv zu formulieren, also ohne die Gesinnung
in den Tatbestand einfließen zu lassen. Natürlich ist die
Gesinnung bei der Schuldzumessung für die Tat im
subjektiven Teil von erheblicher Bedeutung, aber in den
objektiven Tatbestand gehört sie nicht hinein.
Lassen Sie uns neue Ansätze finden; wir sind gerne
dabei. Wir übernehmen auch den Vorschlag, dass sich
die Bereinigung nicht nur auf § 211 - Mord - konzentrieren sollte.
Es lohnt sich, über dieses Thema zu dieser späten
Abendstunde zu diskutieren. Ein bisschen haben wir
dazu beigetragen, dass das Thema angegangen wird. Wir
arbeiten hoffentlich gemeinsam daran weiter und können
vielleicht noch in diesem Jahr, zumindest in dieser
Legislaturperiode, die dringend notwendige Änderung
beschließen.
({5})
Vielen Dank, Christian Ströbele. - Nächster Redner in
der Debatte Dirk Wiese für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Aufarbeitung der NS-Zeit in Justiz und Justizverwaltung ist der Bundesregierung und allen Parteien
hier im Plenum ein großes Anliegen. Sie ist viel zu lange
liegen geblieben, und es erfüllt uns heute mit Scham,
dass NS-Juristen nach 1945 weiter richten, lehren oder
gar Gesetzestexte verfassen durften.
Zur Aufklärung und Aufarbeitung dieser Vergangenheit hat die Bundesregierung deshalb in der letzten
Wahlperiode eine unabhängige wissenschaftliche Kommission beim Bundesministerium der Justiz eingesetzt,
die unsere volle Unterstützung hat.
Gegenstand der Untersuchung des Rosenburg-Projektes ist vor allem der Umgang des BMJ mit der NS-Vergangenheit in den 50er- und 60er-Jahren. Dem Namen
„Rosenburg-Projekt“ liegt der damalige Amtssitz des
Ministeriums auf der Bonner Rosenburg zugrunde. Als
Vorbild dieser Aufarbeitung dienen die Untersuchungen
der NS-Geschichte des Auswärtigen Amtes.
Bundesminister Heiko Maas hat an diesem Dienstag
eine weitere wichtige unabhängige Kommission eingesetzt, die das Ziel hat, die Tötungsdelikte im Strafgesetzbuch zu reformieren. Diese Reform ist aus meiner Sicht
längst überfällig.
({0})
Sie wurde bereits seit vielen Jahren angemahnt. Wir
brauchen aus meiner Sicht eine breite Diskussion darüber. Grund für den Reformbedarf sind historische wie
auch praktische Gründe bei der Anwendung der
Tötungsdelikte, die ich kurz erläutern möchte. Mord und
Totschlag entsprechen so, wie sie in den §§ 211 und 212
des Strafgesetzbuchs definiert sind, nicht der grundlegenden Systematik des StGB; denn diese Delikte sind
täterbezogen und nicht tatbezogen. Konkret heißt das,
dass der geltende Mordparagraf nicht beschreibt, wann
eine Tat ein Mord ist, sondern er beschreibt durch die
Formulierung einen Menschentypus, der aufgrund von
moralisch aufgeladenen Gesinnungsmerkmalen wie dem
der niedrigen Beweggründe oder dem der Heimtücke ein
Mörder ist.
Diese täterbezogene Systematik entspringt dem Gedankengut der Nationalsozialisten. So verwundert es
auch nicht, dass einer der furchtbarsten NS-Juristen
jener Zeit, Roland Freisler, berüchtigt als Präsident des
sogenannten Volksgerichtshofs, in seiner davorliegenden
Zeit als Staatssekretär im Reichsjustizministerium an der
Gesetzgebung maßgeblich beteiligt war. Seiner Feder
entstammt die Struktur des § 211 StGB mit der einleitenden Formulierung: „Mörder ist …“, sowie das Tatbestandsmerkmal der niedrigen Beweggründe.
Nach Vorstellung der Nationalsozialisten hatte die
Strafe - damals Tod durch Erhängen statt der heutigen
lebenslangen Freiheitsstrafe - auch den Zweck - ich zitiere -, „durch Ausmerzung ungeeigneter Elemente die
rassenmäßige Zusammensetzung des Volkes zu ändern“
- Zitate Ende. Nach der Auffassung von Freisler und der
Nationalsozialisten war die Aufgabe des Richters im
Verfahren, nur noch zu bestimmen, welcher Tätertyp
„den Strang verdient“. Das verdeutlicht: Hier zeigt sich
die Willkür, die den damaligen Gerichtsverfahren anhaftete, ja die damals geradezu gewollt war.
Neben diesen rechtshistorischen und systematischen
Gründen gibt es aber auch eine Vielzahl von Problemen
in der Anwendung der Tötungsdelikte. Lassen Sie mich
dies vielleicht an zwei Beispielen verdeutlichen, die in
der Praxis aus meiner Sicht sehr viele Probleme bereiten:
Erstens, das sogenannte Haustyrannendilemma. Ein
Ehemann, der seine Frau regelmäßig verprügelt und eines Tages sogar totschlägt, kommt bisher womöglich mit
Totschlag davon, also mit einer mehrjährigen Freiheitsstrafe, wenn er bei Begehung der Tat kein Mordmerkmal
verwirklicht hat. Die Ehefrau, die jahrelang unter der
ehelichen Gewalt gelitten hat und eines Tages die ständige Prügelei und die Demütigungen durch ihren Mann
nicht mehr aushält und ihn im Schlaf umbringt, bekommt automatisch lebenslänglich, da die Tötung eines
Schlafenden als heimtückisch gilt und damit immer als
Mord geahndet werden muss. Dass die körperlich unterlegene Ehefrau gegen den viel stärkeren Ehemann vielleicht keine andere Chance hatte, als ihn im Schlaf zu töten, dass Heimtücke also die einzige Möglichkeit der
schwächeren Person sein kann, bleibt in diesem Sinne
juristisch völlig unberücksichtigt.
Um diese Ungerechtigkeit zu beseitigen, hat ein
Landgericht - das war eine mutige Entscheidung - in genau einem solchen Fall die Strafe der Frau wegen außergewöhnlicher Umstände gemildert. Das entspricht zwar
dem allgemeinen Gerechtigkeitsempfinden, ist aber ein
Milderungsgrund, der so nirgendwo im Gesetz zu finden
ist und nur auf richterlicher Rechtsfortbildung basiert.
Als zweites Beispiel für praktische Probleme in der
Anwendung der Tötungsdelikte sei hier der Fall genannt,
dass ein Mann seine Ehefrau tötet, weil sie ihn verlassen
hat, und sich nun die rechtliche Frage stellt, ob das
Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe in diesem
Fall erfüllt ist oder vielleicht nicht. Die Rechtsprechung
differenziert hier danach, ob aus Verzweiflung oder Wut
getötet wurde, und hält die Wut im Gegensatz zur reinen
Verzweiflung für einen niederen Beweggrund. Unabhängig davon, ob diese Differenzierung tauglich ist, bleibt
festzustellen, dass auch diese Abgrenzung so nicht dem
Gesetzestext zu entnehmen ist und ebenfalls auf richterlicher Rechtsfortbildung basiert. Aber gerade bei den
höchsten Rechtsgütern, die hier betroffen sind, muss das
Recht in den Gesetzestexten aus meiner Sicht präzise
normiert sein.
({1})
Kurzum: Es ist aus meiner Sicht die Aufgabe des Gesetzgebers, die Grenzen strafbaren Verhaltens scharf zu
bestimmen, und die Aufgabe der Justiz, die Gesetze
einzelfallgerecht anzuwenden. Deshalb sind wir der
Auffassung, dass hier der Gesetzgeber handeln sollte,
um die Konstruktionsfehler endlich zu beseitigen und
Rechtsklarheit zu schaffen, damit keine juristischen Verrenkungen an der Grenze der richterlichen Rechtsfortbildung mehr nötig sind, um zu Ergebnissen zu kommen,
die auch dem Gerechtigkeitsbedürfnis der Allgemeinheit
entsprechen.
Unser Ziel ist es deshalb, die Tötungsdelikte im Strafgesetzbuch noch in dieser Legislaturperiode zu reformieren. Der Bundesminister der Justiz hat deshalb eine
Expertenkommission eingesetzt, um eine fundierte Diskussionsgrundlage für die parlamentarische Diskussion
zu schaffen. Die Gruppe hat diesen Dienstag ihre Arbeit
aufgenommen und besteht aus Fachleuten des Ministeriums sowie aus Praktikern und Wissenschaftlern, aber
auch aus Vertretern der Polizei. Ich bin mir sicher, dass
wir in diesem Hause bald einen gelungenen Entwurf
beraten werden, und ich freue mich auf die fraktionsübergreifende parlamentarische Diskussion hierzu.
Was den Antrag der Kolleginnen und Kollegen von
der Linken angeht, kann ich nur eines sagen: Wir teilen
das Ziel der Bereinigung des Strafgesetzbuchs im Hinblick auf Vorschriften aus der NS-Vergangenheit; keine
Frage. Nur, in der konkreten Vorgehensweise wählen wir
an dieser Stelle einen anderen Weg. Denn wir wollen
jetzt erst einmal die zwei bereits eingesetzten Kommissionen ihre Arbeit machen lassen. Die Neugestaltung der
Tötungsdelikte muss in Ruhe angegangen werden, sie
muss gut durchdacht sein. Momentan sollten diese beiden Kommissionen erst einmal ihre Arbeit machen, dann
kann man möglicherweise über Weiteres nachdenken.
Aber jetzt sind wir erst einmal an dem Punkt, dass diese
beiden Kommissionen ihre Arbeit erledigen müssen. Ich
glaube, da sind wir auf einem guten Weg. Das hat die
Einsetzung am Dienstag gezeigt.
Vielen Dank.
({2})
Vielen Dank, Herr Kollege Wiese. - Letzter Redner in
der Debatte Alexander Hoffmann für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich zu vorgerückter
Stunde drei Gesichtspunkte der heutigen Debatte nochmals zusammenfassen. Der erste ist schon angeklungen:
Justizminister Maas hat bereits eine Expertenkommission eingesetzt, die sich mit dem Reformbedarf der
Tötungsdelikte beschäftigen soll.
({0})
- Ganz kurz, Frau Wawzyniak. - Sie setzt sich aus
Strafrechtsprofessoren, aus Experten der forensischen
Psychiatrie und aus Praktikern aus Justiz, Polizei und der
Anwaltschaft zusammen. In einem Jahr sollen erste Ergebnisse vorliegen. Am 20. Mai, also in dieser Woche,
hat die Kommission zum ersten Mal getagt.
Nun hat diese Kommission natürlich vornehmlich die
Tötungsdelikte im Fokus. Insoweit geht der vorliegende
Antrag über diese Zielsetzung hinaus, als er auf Gesinnungsmerkmale auch in anderen Straftatbeständen ausgeweitet ist. Dennoch erachte ich diese Vorgehensweise
nicht als zielführend. Denn dringender Reformbedarf
wird, wie wir wissen, von Experten in erster Linie bei
den Tötungsdelikten angemahnt. Nur wenn es hier gelingt, zu einem praxisgerechten und neuen Ansatz zu
kommen, können wir nach diesem ersten Schritt den
zweiten machen.
Warum ist diese Überlegung angezeigt? Damit
möchte ich zu meinem zweiten Gesichtspunkt kommen.
Wenn man sich mit der Idee der Reform der Tötungsdelikte beschäftigt, stößt man schnell darauf, dass Professor Albin Eser schon 1980 auf dem Deutschen Juristentag einen Vortrag dazu gehalten und dringenden
Handlungsbedarf angemahnt hat.
({1})
Die Argumente, die damals vorgebracht wurden, sind
dieselben wie heute. Sie wurden heute bereits dargestellt
und sind uns allesamt bekannt.
Die Kernfrage ist doch: Wie könnte denn überhaupt
eine praxisgerechte Neuregelung aussehen? Genau das
ist der Grund, warum es bis heute zu keiner tragfähigen
Reform gekommen ist. Ich darf deshalb an dieser Stelle
vor einer Reform nur der Reform wegen warnen. Bereits
das Bundesverfassungsgericht hat im 45. Band seiner
Entscheidungssammlung formuliert - ich zitiere wörtlich -:
Eine allseits befriedigende Neuregelung zu finden,
wird angesichts der Vielfalt der Probleme eine
schwierige Aufgabe für den Gesetzgeber sein.
Obwohl es bis heute weit über ein Dutzend Reformvorschläge gibt, konnte noch keiner überzeugen.
Hier nur eine kleine Auswahl an Fragen, die wir,
wenn wir uns auf den Weg zur Reform begeben, beantworten müssen, etwa: Wollen wir die absolute Strafandrohung „lebenslang“ für Fälle des Mordes tatsächlich
zur Disposition stellen? Dieselbe Frage betrifft die Verjährung. Erzeugen wir nicht in jedem Fall einfach nur
eine Scheinlösung? Ich will Ihnen sagen, warum das so
ist. Zur Konkretisierung der Tat müsste man statt heute
auf der Tatbestandsseite zukünftig ähnliche Kriterien auf
der Rechtsfolgenseite bei der Strafzumessung formulieren. Die Schwierigkeiten, die die Rechtsprechung heute
bei der Frage der Bestimmtheit, bei der Frage der Konkretisierung hat, wären genau dieselben. Die für mich
wichtigste Frage bei so gewichtigen Rechtsgütern lautet:
Sind wir tatsächlich bereit, die nach einer Reform
zwangsläufig auftretende Unsicherheit in Kauf zu nehmen?
Ich komme zum dritten und letzten Gesichtspunkt. Im
vorliegenden Antrag klingt an einer Stelle durchaus die
Kritik durch, dass sich gerade bezüglich der Gesinnungsmerkmale in den letzten Jahrzehnten Richterrecht
entwickelt hat. Das kann ich und das möchte ich - auch
im Interesse der deutschen Justiz - so heute nicht stehen
lassen; denn die Rechtsprechung der letzten Jahrzehnte
vermochte durchaus die Ecken und Kanten des § 211
StGB auf vorbildliche Art und Weise auszuschleifen.
({2})
Die Rechtsprechung hat - das belegen zahlreiche Grundsatzentscheidungen - Wege gefunden, dem Gerechtigkeitsbedürfnis des Einzelfalls gerecht zu werden; denken
Sie nur - das ist heute schon zitiert worden - an den berühmten Haustyrannenmord. In ihrem Umgang mit früherem Nazistrafrecht steht die Rechtsprechung für mich,
liebe Kolleginnen und Kollegen, symbolisch für unseren
Umgang mit der NS-Vergangenheit: Ohne dass wir es
uns leicht gemacht haben, haben wir gelernt, damit umzugehen, haben gelernt, sensibel zu sein. Es ist uns vor
allem gelungen, dem Rechtsstaat und der Demokratie
damit zu voller Blüte zu verhelfen.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank, Herr Kollege Hoffmann.
Als Nichtjuristin möchte ich mich wirklich von Herzen bei allen Kolleginnen und Kollegen bedanken. Das
war eine sehr spannende Debatte. Es war mucksmäuschenstill. Ich habe sehr viel gelernt, und ich wünsche Ihnen allen viel Erfolg bei diesem sehr wichtigen Anliegen. Vielen herzlichen Dank! Ich habe selten um diese
Uhrzeit eine so spannende Diskussion erlebt.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/865 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Damit sind wir am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen
Bundestages auf morgen, Freitag, den 23. Mai 2014, ein.
Ich möchte Sie explizit auf unsere Sitzung um 9 Uhr
hinweisen - sie hat vielleicht auch etwas mit der Diskussion heute Abend im Mondschein zu tun -: Morgen um
9 Uhr findet hier im Plenarsaal, wie Sie wissen, die Sonderveranstaltung zu 65 Jahre Grundgesetz statt. Ich
würde Sie einladen und bitten, dass Sie zu dieser Sonderveranstaltung kommen. Ich möchte Sie auch anregen,
sich eine ganz besondere Ausstellung zum Thema
„65 Jahre Grundgesetz“ anzuschauen: Im Forum vor
dem Paul-Löbe-Haus ist heute Abend die Interpretation
der Grundrechte von Markus Lüpertz eröffnet worden.
Ich kann diese sehr spannende Ausstellung nur empfehlen.
Die Plenarsitzung fängt morgen um 10.30 Uhr an.
Ich wünsche Ihnen noch einen sehr schönen Abend.
In Bayern würde man jetzt in den Biergarten gehen. Genießen Sie den schönen Abend. Aber bitte um 9 Uhr
morgen wieder da sein!
({0})
Die Sitzung ist geschlossen.