Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle zu unserer heutigen Plenarsitzung. Wir
werden heute neben anderen Punkten auch über die EUOsterweiterung debattieren und damit an die größte Erweiterung in der Geschichte der EU erinnern, die vor
zehn Jahren, am 1. Mai 2004, vollzogen wurde. Sie hatte
damals zum Ergebnis, dass mit zehn weiteren Staaten
74 Millionen Einwohner zu dieser Europäischen Union
hinzukamen. Ich sage das deswegen, weil es uns Gelegenheit gibt, in diesen Wochen mit täglichen Krisenmeldungen in und um die Ukraine uns selbst und der Öffentlichkeit in Erinnerung zu rufen und ins Bewusstsein zu
heben, welche Veränderungen in Europa möglich gewesen sind und möglich bleiben müssen und dass es für
Krisen Lösungen gibt und geben muss.
Mit Blick auf die andere große Krise, der auf den Finanzmärkten, sage ich: Wir wissen, dass wir sie sicher
nicht ein für alle Mal hinter uns haben. Es lässt sich aber
festhalten - darüber debattieren wir heute nicht -, dass
mit Portugal ein weiteres Land in diesen Tagen aus dem
Rettungsschirm, den wir als Solidarleistung errichtet haben, aussteigen kann und sich selber wieder an den Finanzmärkten finanzieren wird. Dazu möchte ich all denjenigen, die in Portugal dafür über Monate hinweg große
Opfer gebracht haben, herzlich gratulieren. Wir sollten
dies gemeinsam als Ermutigung für unsere Anstrengungen begreifen.
({0})
Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, die Unterrichtung der Bundesregierung zum Stadtentwicklungsbericht 2012 auf der Drucksache 17/14450 dem Ausschuss Digitale Agenda zur Mitberatung zu
überweisen. Wenn es dazu nicht spontanen Diskussionsbedarf gibt, dann würde ich das gerne als einvernehmlichen Beschluss zu Protokoll geben. - Das gelingt ganz
offenkundig. Dann ist das so vereinbart.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Weiterentwicklung der Finanzstruktur und der
Qualität in der gesetzlichen Krankenversicherung
({1})
Drucksache 18/1307
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({2})
Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
Dazu haben sich die Fraktionen auf eine Aussprache
von 96 Minuten verständigt. - Auch dazu stelle ich Einvernehmen fest. Also können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Bundesminister für Gesundheit, Hermann Gröhe.
({3})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen! Meine Herren! Eine solide Finanzierung
und hohe Versorgungsqualität sind die tragenden Säulen
eines gut funktionierenden solidarischen Gesundheitswesens. Wir können in Deutschland feststellen: Wir haben eine sehr gute medizinische Versorgung, ja, eine
Versorgung, um die uns nicht wenige Länder beneiden.
Wir wollen, dass dies so bleibt.
Mit dem heute vorgelegten „Gesetz zur Weiterentwicklung der Finanzstruktur und der Qualität in der
gesetzlichen Krankenversicherung“ legen wir einen Regelungsentwurf vor, der die solidarische Finanzierung
unseres Gesundheitswesens zukunftsfest macht und die
Qualität der Gesundheitsversorgung nachhaltig sichert.
Wir tragen einer nachhaltigen Finanzierung Rechnung,
indem wir den allgemeinen Beitragssatz von 15,5 Prozent auf 14,6 Prozent absenken und den Beitragssatz der
Arbeitgeber weiterhin bei 7,3 Prozent festschreiben. Damit vermeiden wir zusätzliche Belastungen durch höhere
Lohnnebenkosten. Denn wir möchten Wachstum weiter
fördern. Wir wollen, dass die Menschen in Lohn und
Brot bleiben. Wir wollen, dass sie gute, sichere Arbeits2868
plätze haben. Denn eine gute wirtschaftliche Entwicklung und sichere, gut bezahlte Arbeitsplätze sind wesentliche Grundlagen eines nachhaltigen, solidarischen
Gesundheitswesens.
({0})
Wir stärken mit diesem Gesetz außerdem die Beitragsautonomie der gesetzlichen Krankenkassen und den
Wettbewerb untereinander. Künftig haben die Kassen die
Möglichkeit, einen einkommensabhängigen Zusatzbeitrag zu erheben. In ihn fließt künftig der schon 2004 beschlossene und seit 2005 erhobene mitgliederbezogene
Beitragsanteil von 0,9 Prozentpunkten mit ein. Die Höhe
dieses Zusatzbeitrages kann dann jede Kasse - abhängig
von ihrem Finanzbedarf - eigenverantwortlich festlegen.
Das zeigt bereits Wirkung: Einige Krankenkassen haben
bereits angekündigt, im nächsten Jahr einen Zusatzbeitrag erheben zu wollen, der unter 0,9 Prozent liegt. Ja,
wir können davon ausgehen, dass ungefähr 20 Millionen
Mitglieder im Jahr 2015 von einem niedrigeren Beitrag
profitieren könnten. Wir erwarten, dass die Krankenkassen auch in den kommenden Jahren im Wettbewerb um
Qualität und Beiträge - ich unterstreiche: um Qualität
und Beiträge - versuchen werden, die kassenspezifischen Beiträge möglichst gering zu halten, möglichst effizient zu wirtschaften und Qualität, die die Mitglieder
überzeugt, anzubieten. Deswegen ist es gut, dass unser
Gesetz die Finanzstruktur, aber auch die Weiterentwicklung der Qualität in unserem Gesundheitswesen zum Inhalt hat.
Bei der Qualitätssicherung geht es um die Schaffung
verlässlicher Strukturen, die die hohe Qualität in unserem Gesundheitswesen nachhaltig sichern. Dazu starten
wir eine Qualitätsoffensive, die einen wichtigen Ankerpunkt im neuen Qualitätsinstitut haben wird; denn trotz
unseres gut entwickelten Systems der Qualitätssicherung
brauchen wir - das ist unsere Überzeugung - ein solches
neues, unabhängiges Qualitätsinstitut.
({1})
Mit Blick auf den demografischen Wandel wissen wir
doch bereits heute, dass unsere bestehenden Strukturen
der Qualitätssicherung den zukünftigen Anforderungen
vermutlich nicht mehr genügen werden.
Das neue Institut soll dauerhaft und kontinuierlich mit
der Ermittlung und Weiterentwicklung der Versorgungsqualität befasst sein und dem Gemeinsamen Bundesausschuss bei der Qualitätssicherung helfen. Die höhere
Zahl älterer Menschen und die damit verbundene höhere
Zahl von Mehrfacherkrankungen und Fällen der Pflegebedürftigkeit werden künftig höhere Anforderungen an
die Behandlungsqualität nach sich ziehen. So wird beispielsweise die notwendige bessere Verzahnung von ambulanten und stationären Versorgungsstrukturen auch
eine darauf ausgerichtete Qualitätssicherung erforderlich
machen. Gerade ältere Menschen, die häufig an mehreren Krankheiten leiden, sind besonders auf eine qualitativ hochwertige, aufeinander abgestimmte Behandlung
angewiesen. Manche von ihnen sind nicht mehr in der
Lage, selbst Behandlungsabläufe kritisch zu hinterfragen
und aufmerksam mitzuverfolgen. Ein funktionierendes
Ineinandergreifen der Versorgungsabläufe bedeutet, dass
diese Patienten keine unnötigen, aber alle erforderlichen,
notwendigen Untersuchungen erhalten. Dazu bedarf es
einer angemessenen, die Versorgungsqualität in den
Blick nehmenden Qualitätskontrolle.
Ein Schwerpunkt der Arbeit des Instituts wird daher
die Entwicklung von belastbaren Kriterien und die Zulieferung von Datengrundlagen zur Messung und Bewertung der Versorgungsqualität in unserem Lande sein.
Denn nur wenn wir relevante und verlässliche Informationen über den Stand der medizinischen Versorgung erhalten, können Defizite erkannt und die Behandlung der
Patientinnen und Patienten gezielt verbessert werden.
Neu ist außerdem, dass wir dem Merkmal „Qualität“
im Hinblick auf unsere ambulanten Versorgungsstrukturen, aber auch bei der Steuerung, etwa bei der Krankenhausplanung oder der Vergütung bestimmter Leistungen,
mehr Gewicht geben wollen. Gerade bei der Krankenhausplanung müssen wir stärker berücksichtigen, dass
viele Behandlungen heute ambulant durchgeführt werden können, die noch vor einigen Jahren ausschließlich
stationär durchgeführt wurden. Deshalb wird Qualität
nicht nur ein Gestaltungsmaßstab für alle Bereiche der
stationären Versorgung sein, sondern auch bei der Sicherstellung der ambulanten Versorgungsstrukturen vor
Ort eine maßgebliche Rolle spielen müssen.
({2})
Das Qualitätsinstitut soll Vorschläge für beide Versorgungsbereiche erarbeiten, die dann wiederum dem Gemeinsamen Bundesausschuss als verlässliche Entscheidungsgrundlage für eine sachgerechte und rechtssichere
Umsetzung von Qualitätssicherungsmaßnahmen in den
Bereichen „ambulant“ und „stationär“ dienen. Zugleich
wollen wir auch mit Unterstützung des neuen Qualitätsinstituts bei Krankenhäusern für geeignete Leistungen
Vergütungszu- und -abschläge für eine besonders gute
oder weniger gute Versorgung einführen. Für Kliniken
sollen sich zusätzliche Anstrengungen für eine möglichst
hohe Qualität stärker als bisher lohnen.
Meine Damen, meine Herren, gute Qualität muss
auch sichtbar gemacht werden.
({3})
Transparenz - dies schließt eine Verfügbarkeit von zuverlässigen Informationen ein - ist eine wirksame Methode der Qualitätssicherung, Anreize für ein stärkeres
Bemühen um gute, qualitativ hochwertige Versorgung
zu setzen. Transparenz ist auch eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass sich die Menschen selbstbewusst für
die geeigneten Leistungserbringer entscheiden, denen
sie ihre gute und sichere Gesundheitsversorgung anvertrauen wollen.
Menschen interessieren sich für entsprechende Informationen. Die Berichte über die Qualität erbrachter
Krankenhausleistungen und die verschiedenen Rankings
zeigen das große öffentliche Interesse an dieser Thematik. Dem folgt allerdings regelmäßig ein Streit darüber,
ob denn die richtigen Kriterien angewandt werden. GeBundesminister Hermann Gröhe
nau das wiederum zeigt, dass es richtig ist, wenn wir uns
darauf verständigen, was geeignete Parameter der Qualitätsbewertung in der Gesundheitsversorgung sind. Konkret heißt das übrigens, dass auch die Qualitätsberichte
unserer Krankenhäuser präziser und verständlicher werden müssen.
({4})
Das neue Qualitätsinstitut soll daher auf Basis der
Qualitätsberichte für wichtige, vom Gemeinsamen Bundesausschuss auszuwählende Versorgungsbereiche und
Behandlungen Übersichten über die Versorgungsqualität im Internet veröffentlichen. Damit erhalten die Patientinnen und Patienten zuverlässige Informationen, die
es ihnen ermöglichen, bei der Wahl der Klinik eine sachgerechte, qualitätsorientierte Entscheidung zu treffen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, erlauben Sie
mir, dass ich zum Schluss noch ein Thema anspreche,
das bislang nicht im Gesetzentwurf enthalten ist. Ich
schlage den Regierungsfraktionen vor, dass wir dieses
Gesetzgebungsverfahren nutzen, um ein Thema anzupacken, das uns in den letzten Wochen wiederholt, und
zwar in allen Fraktionen, beschäftigt hat: die Situation
der Hebammen und der Geburtshilfe in unserem Land.
Der starke Anstieg der Prämien der Berufshaftpflichtversicherungen in diesem Bereich und der drohende Ausstieg einiger Versicherungsunternehmen hatte zu großer
Verunsicherung in dieser in ihrer Leistung unverzichtbaren Berufsgruppe geführt.
Letzte Woche habe ich den Abschlussbericht der interministeriellen Arbeitsgruppe „Versorgung mit Hebammenhilfe“, die seinerzeit eingerichtet wurde, veröffentlicht. An ihm haben neben verschiedenen Ressorts
der Bundesregierung, Vertreterinnen und Vertreter der
Hebammen, die Selbstverwaltung der Sozialversicherungen sowie der privaten Versicherungswirtschaft mitgewirkt.
Unser Ziel war es, die Spirale immer höherer Haftpflichtprämien zu durchbrechen, ohne die Familien im
Stich zu lassen, wenn diese infolge eines Behandlungsfehlers bei der Geburt mit dem Schicksal eines schwerbehinderten Kindes klarkommen müssen und dafür
selbstverständlich eine angemessene, auch finanzielle
Unterstützung verdient haben. Ich habe daher ein Maßnahmenpaket vorgeschlagen, mit dem auf die zu klärenden Fragen sehr kurzfristig greifende Antworten gegeben
werden sollen, die wir in das Gesetzgebungsverfahren
einbringen wollen, das aber auch mittelfristige Schritte
enthält.
Im Kern geht es um vier Bereiche: kurzfristige Verbesserungen im Bereich der Vergütung, Qualitätssicherung in der Geburtshilfe, eine Verbesserung der Datenlage sowie tragfähige, dauerhafte Lösungen im Bereich
der Haftpflichtversicherungsbeiträge. Gerade in dem
letztgenannten Bereich - Sie wissen, ich schlage einen
Regressverzicht der Kranken- und Pflegeversicherung
vor - bedarf es sicher zügig vorzunehmender weiterer
Beratungen. Unter anderem im Gesundheitsausschuss
werden wir dazu Gelegenheit haben.
Was jetzt schon getan werden kann, werden wir umgehend mithilfe der Selbstverwaltung umsetzen. Ich
nenne das Stichwort „Datengrundlage“. Ich habe die Voraussetzungen dafür eingeleitet, dass ab 2015 eine genauere Erfassung der Geburten nach Einrichtungen, in
denen entbunden werden soll, erfolgt; denn es hat sich in
den Gesprächen gezeigt, dass die Datenlage auf diesem
Gebiet unzureichend ist.
Wir werden die Qualität stärken. Einen entsprechenden
Auftrag werden wir dem IQWiG erteilen. Wir erwarten,
dass die Verhandlungen zwischen den Hebammenverbänden und dem GKV-Spitzenverband zur Qualitätssicherung
zügig, bis zum Jahresende, abgeschlossen werden. Ich
bin dafür, einen solchen Stichtag ausdrücklich ins Gesetz
aufzunehmen.
Schließlich wollen wir alsbald die Voraussetzungen
für einen dauerhaften Sicherstellungszuschlag schaffen,
der gewährleistet, dass auch bei Geburtshilfe mit geringen Geburtenzahlen eine ausreichende Vergütung erfolgt.
Dies alles ist geeignet, um eine flächendeckende Versorgung in der Geburtshilfe sicherzustellen. Deswegen
sollten wir diese Schritte, die in der Arbeitsgruppe weitgehend Konsens waren, zügig umsetzen. Ich glaube, wir
leisten damit einen wichtigen Beitrag zur Sicherstellung
der Geburtshilfe in unserem Land.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort erhält nun der Kollege Harald Weinberg für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Ich beschränke mich in meiner Rede erst einmal auf den Finanzierungsaspekt.
({0})
Meine Kollegin Vogler wird sich nachher mit dem
Thema Qualitätsinstitut etwas intensiver auseinandersetzen.
Zu Anfang meiner Rede muss ich auf die Kürzung
des Bundeszuschusses zur gesetzlichen Krankenversicherung eingehen. Wir sind zwar nicht in der Haushaltsdebatte, aber es gibt natürlich einen Zusammenhang
zwischen der Kürzung und dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf. Zum Zwecke der Haushaltssanierung soll
der Bundeszuschuss in diesem Jahr um 3,5 Milliarden Euro gekürzt werden, im nächsten Jahr um 2,5 Milliarden Euro, insgesamt also um 6 Milliarden Euro. Das
müsste sogar in der Welt von Herrn Lauterbach gelten,
auch wenn dort immer wieder, sagen wir einmal, unkonventionelle Sichtweisen vorhanden sind.
Minister Gröhe formuliert in dieser Frage klarer und
nennt Kürzungen auch Kürzungen. Er sagt, diese Kürzungen seien zur Konsolidierung des Haushalts notwendig, und sie seien durch die Rücklagen im Gesundheitsfonds gedeckt. Aus diesem Grund werde es derzeit keine
Beitragssteigerungen geben. Das ist richtig, aber es ist
nicht die ganze Wahrheit. Das Abschmelzen der Rücklagen im Gesundheitsfonds zum Zwecke der Haushaltssanierung beschleunigt aufseiten der Kassen die Notwendigkeit, Zusatzbeiträge zu erheben. Das rechnet
Ihnen auch der Bundesrechnungshof vor. Er kommt zu
dem Schluss - ich zitiere -:
Erzielte der Gesundheitsfonds in den Jahren 2014
und 2015 jedoch keine Überschüsse,
- was sehr wahrscheinlich ist würde Ende 2015 bei der vorgesehenen Kürzung
des Bundeszuschusses 2014 und 2015 die gesetzlich vorgeschriebene Mindestliquiditätsreserve …
unterschritten.
Das sagt der Bundesrechnungshof. Ferner sagt er:
Der Bundesrechnungshof empfiehlt deshalb, die
Finanzsituation des Gesundheitsfonds spätestens ab
Mai 2015 dahingehend noch genauer zu beobachten, um gegebenenfalls frühzeitig gegensteuern zu
können. Optionen wären,
- sagt er ferner den für 2016 geplanten Bundeszuschuss weiter
anzuheben oder die Zuweisungen an die Krankenkassen so weit zu reduzieren, dass es zu keiner längerfristigen Unterschreitung der Mindestliquiditätsreserve kommt.
Das Erste ist unwahrscheinlich. Der Bundeszuschuss
wird 2016 nicht angehoben. Daher tritt das Zweite in
Kraft. Das heißt, ab 2015 steht die Gefahr im Raum, dass
die Zuweisungen an die Krankenkassen reduziert werden und Zusatzbeiträge schon dann notwendig werden.
Jetzt zur paritätischen Finanzierung, der hälftigen Beitragserhebung bei Arbeitnehmern und Arbeitgebern, einem wesentlichen Merkmal unseres solidarischen Krankenkassensystems, das jetzt weiter geschliffen wird. Mit
dem Sonderbeitrag von 0,9 Prozent wurde bereits unter
Rot-Grün unter Ulla Schmidt mit dem Ausstieg aus der
Parität begonnen. Schwarz-Gelb tastete das nicht an, sondern verschärfte es sogar durch die kleine Kopfpauschale.
Nur um die Dimensionen, über die wir hier sprechen, einmal deutlich zu machen: Seit 2005 zahlen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer jährlich 9 bis 10 Milliarden
Euro mehr an Beiträgen an die Krankenkassen als die
Arbeitgeberseite. Das sind in diesen neun Jahren zwischen 80 und 90 Milliarden Euro. Zuzahlungen, Aufzahlungen usw. sind dabei noch nicht mitgerechnet. Das ist
eine gewaltige Summe, und aus unserer Sicht ist dies
völlig inakzeptabel.
({1})
Wir wollen zurück zur paritätischen Finanzierung.
Das war ja auch einmal sozialdemokratische Position,
scheint es aber nicht mehr zu sein. Denn an dieser Stelle
wird gar nichts korrigiert. Der Arbeitgeberbeitrag bleibt
eingefroren. Alle künftigen Ausgabensteigerungen werden künftig von den Beitragszahlern auf der Arbeitnehmerseite durch Zusatzbeiträge gezahlt.
Nur am Rande: Das führt auch in den Selbstverwaltungsorganen zu ganz merkwürdigen Situationen. Wir
werden in den paritätisch besetzten Selbstverwaltungsorganen der Krankenkassen erleben, dass die Arbeitgeberseite über die Einführung von Zusatzbeiträgen, die sie
selber überhaupt nicht betreffen, mit entscheidet. Auch
so kann man Selbstverwaltungsstrukturen delegitimieren
und die Krise, die es dort zu einem Teil schon gibt, weiter verschärfen.
Jetzt zur Finanzentwicklung und Prognose; gerade
wurde schon darauf hingewiesen. Die Bundesregierung
hat gesagt, 20 Millionen von - die Gesamtzahl der Beitragszahler wird immer vergessen - rund 50 Millionen
Beitragszahlern würden ab 2015 weniger Beitrag als
heute zahlen müssen. Diese Prognose ist aus meiner
Sicht verhältnismäßig fragwürdig. Nach meiner Kenntnis haben bisher erst sieben Kassen gesagt, dass sie die
Beiträge senken werden, und diese sieben Kassen - darunter ist nur eine große Kasse - haben weniger als
9 Millionen Mitglieder und rund 12 Millionen Versicherte, mitversicherte Personen usw. Die Versichertenzahl ist immer etwas größer. Das sind aber lange keine
20 Millionen Mitglieder. Diese Kassen haben also angekündigt, dass sie den Beitragssatz voraussichtlich senken
werden. Die einzige große Kasse darunter, die Techniker, wird in dem Zuge auf die Auszahlung von Bonuszahlungen, die sie derzeit vornimmt, verzichten. Im
Prinzip ist es am Ende ein Nullsummenspiel.
Wie die Bundesregierung auf die 20 Millionen
kommt, bleibt ihr Geheimnis, aber selbst diese 20 Millionen sind nur eine Minderheit. Bezeichnenderweise
sieht sich die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die
Kleine Anfrage, die wir gestellt haben, nur in der Lage,
eine Prognose, dazu noch eine fragwürdige, über die
Zahl der Begünstigten abzugeben. Wir haben auch gefragt, für welche Gruppen die Beiträge gleich bleiben
oder eventuell sogar höher werden. Da sah sich die Bundesregierung in ihrer Antwort außerstande, eine Prognose abzugeben. Im Prinzip gibt man also nur Prognosen ab, um positive Überschriften in den Zeitungen zu
generieren. Auf Prognosen, die zu kritischen Überschriften in den Zeitungen führen, verzichtet man.
Auf den Bundesrechnungshof habe ich bereits verwiesen. Er sieht ab 2015 Probleme beim Fonds. Aber
auch die Antworten auf unsere Kleine Anfrage zeigen,
dass es recht schnell für alle Versicherten deutlich teurer
werden kann. In den letzten zehn Jahren stiegen die Ausgaben in der gesetzlichen Krankenversicherung im Jahresdurchschnitt um 3,7 Prozent. Die beitragspflichtigen
Einkommen, also Löhne und Rente, stiegen im gleichen
Zeitraum nur um 2 Prozent. Das bedeutet jedes Jahr ein
Loch von 1,7 Prozentpunkten. Das entspricht in etwa
4 Milliarden Euro.
Das ist der Grund, warum der Beitragssatz insgesamt
auf 15,5 Prozent angehoben werden musste. Sämtliche
Experten nehmen an, dass sich diese Entwicklung in den
nächsten Jahren fortsetzen wird. In dieser Situation
beschließen Sie, dass künftig weder Arbeitgeber noch
Gutverdiener noch privat Krankenversicherte noch Kapitaleinkünfte dazu herangezogen werden, das auszufinanzieren. Die gesetzlich Krankenversicherten müssen
die Zeche allein zahlen. Deshalb werden die Zusatzbeiträge schnell kommen, befürchten wir.
Am Ende bleibt, dass die kleine Kopfpauschale, die
durch Schwarz-Gelb eingeführt wurde, nun durch einen
relativen Zusatzbeitrag ersetzt wird. Das war sozusagen
der große Sieg der Sozialdemokratie in den Koalitionsverhandlungen. Dabei wird es aber teurer für die Versicherten. Daher kann dieser große Sieg schnell zu einem
Pyrrhussieg für die SPD werden. Wir bleiben bei unserer
Alternative. Unsere Alternative ist eine solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung, in die alle einzahlen
und in der die Parität völlig wiederhergestellt wird.
Vielen Dank.
({2})
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Karl
Lauterbach das Wort.
({0})
Herr Präsident! Herr Minister! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Zunächst einmal muss man feststellen, dass diese Große Koalition im Bereich Gesundheit
relativ geräuschlos zuverlässig Arbeit macht, die in allererster Linie den Bürgern, den Patienten und den Versicherten zugutekommt. Dafür und auch für die gute Zusammenarbeit möchte ich bei dieser Gelegenheit Herrn
Gröhe meinen ausdrücklichen Dank, auch im Namen unserer Fraktion, aussprechen.
({0})
Ich verzichte auf Vergleiche mit anderen Ministern und
komme sofort zum Inhalt dieses Gesetzes.
({1})
Ich kann mit Ehrlichkeit behaupten: Es ist ein gutes
Gesetz. Es ist ein Gesetz, das die Solidarität in unserem
Gesundheitssystem stärkt.
({2})
Es ist richtig, Herr Weinberg, wenn man sagt, dass diese
Lösung ausbaufähig ist. Aber haben Sie doch die Größe,
zuzugeben, dass einiges erreicht wurde.
({3})
Es ist doch damals von uns gemeinsam gefordert worden
- ich erinnere die Grünen daran, und ich erinnere Sie
von der Linken daran -, dass die kleine Kopfpauschale
weg muss,
({4})
weil sie Rentner, Geringverdiener und Familien belastet.
Das haben wir doch gemeinsam gefordert. Erinnern Sie
sich nicht daran? Jetzt kommt Ihnen nicht ein einziges
Wort der Anerkennung über die Lippen, dass wir diese
Kopfpauschale beerdigen konnten. Das finde ich unfair.
({5})
Sie würdigen auch mit keinem Wort, dass wir zum
Beispiel bei Arbeitslosengeldempfängern, bei Empfängern von Arbeitslosengeld I und II, diesen von Ihnen gegeißelten einkommensabhängigen Zusatzbeitrag gar
nicht erheben. Arbeitslose müssen ihn nicht bezahlen.
Sie sind doch normalerweise die Partei, die uns vorwirft,
dass wir für die Arbeitslosen zu wenig machen - fast immer zu Unrecht.
({6})
Bringen Sie doch die Größe auf, zu sagen, dass Arbeitslose diesen Zusatzbeitrag nicht zahlen müssen. Sagen
Sie: Zumindest das erkennen wir an, weil das im Vergleich zu der Situation, die wir jetzt haben, ein Ausbau
der Solidarität ist.
({7})
Sie haben vorgetragen, dass wir den Bundeszuschuss
kürzen. Es ist richtig, dass wir den Bundeszuschuss vorübergehend kürzen, und zwar deshalb, weil er derzeit
nicht gebraucht wird.
({8})
Überlegen Sie doch selbst: Ein Bundeszuschuss, der derzeit höher ist, als er gebraucht wird, bringt so gut wie
keine Zinsen, derweil wir das Geld für Investitionen in
Bildung und Infrastruktur und für familiäre Projekte unbedingt benötigen. Ich frage Sie: Welchen Sinn macht
es, den Bundeszuschuss jetzt in dieser Höhe zu belassen,
wenn er doch höher ist, als wir ihn benötigen, derweil
das Geld an anderer Stelle dringend gebraucht wird? Ich
kann es Ihnen sagen: Das macht keinen Sinn.
({9})
Sie vergessen auch, zu erwähnen, dass wir den Bundeszuschuss für das Jahr 2017 über die langfristige Pla2872
nung hinaus sogar um eine halbe Milliarde Euro erhöhen. Sie haben auf der Grundlage von vollkommen
unnachvollziehbaren Prognosen darüber spekuliert, was
im nächsten Jahr passiert. Gehen Sie doch auf das ein,
was sicher ist, nicht auf Spekulationen. Gehen Sie darauf
ein, dass sicher ist - das haben wir gesagt -, dass der
Bundeszuschuss ab 2017 im Vergleich zur ursprünglichen Planung sogar um eine halbe Milliarde Euro höher
sein wird.
({10})
Das wäre ehrlich gewesen, und das ist eine Leistung,
meine Damen und Herren.
({11})
- Nein, das ist keine Mengenlehre. Sie können, wenn Sie
wollen, eine Zwischenfrage stellen; dazu ermuntere ich
Sie.
({12})
Ich kann auf jeden Fall gut genug rechnen, um zu wissen, dass der Bundeszuschuss für 2017 im Vergleich zur
mittelfristigen Finanzplanung von Herrn Schäuble durch
die Änderungen, die wir jetzt vorgenommen haben, um
eine halbe Milliarde Euro erhöht wird. Das ist fest.
({13})
Wenn Sie das bestreiten, dann stellen Sie eine Zwischenfrage. Aber das hat nichts mit Rechnen zu tun, sondern
das hat mit Ehrlichkeit, mit Redlichkeit zu tun.
({14})
Sie vergessen auch, zu erwähnen: Wir führen beim
Risikostrukturausgleich einen vollständigen Einkommensausgleich durch. Das ist doch eine Stärkung all jener Krankenkassen, die einkommensschwache Rentner
und Geringverdiener versichern. Sie müssen doch zugeben: Das ist eine Stärkung der Solidarität. Davon profitieren diejenigen, die in Krankenkassen versichert sind,
die wenig Beitragseinnahmen haben. Auch das ist eine
Stärkung der Solidarität; das können Sie nicht abstreiten.
Herr Kollege Lauterbach, der Kollege Weinberg ist
Ihrer Ermunterung prompt gefolgt und hat sich nun zu
einer überraschenden Zwischenfrage gemeldet.
({0})
Wollen Sie die zulassen?
Das kann ich jetzt nicht ablehnen. Ich nehme die
Frage sehr gerne an.
Bitte schön.
Herr Kollege Lauterbach, das haben Sie sich jetzt ein
Stück weit selbst zuzuschreiben. Jetzt nur einmal ganz
kurz für mich zum Nachvollziehen - vielleicht bin ich ja
in der Tat auf die falsche Schule gegangen
({0})
und kann nicht rechnen -: Eine Kürzung um 3,5 Milliarden Euro und danach eine Kürzung um 2,5 Milliarden
Euro ergibt erst einmal eine Kürzung um 6 Milliarden
Euro. Im Jahr 2015 soll dann eine halbe Milliarde obendrauf kommen. Dann sind immer noch 5,5 Milliarden
Euro weg. - Stimmt das, oder stimmt das nicht?
({1})
Das stimmt schlicht und ergreifend deshalb nicht,
weil nach der ursprünglichen Planung für 2017 im Vergleich zu heute eine Veränderung um 4 Milliarden Euro
vorgesehen war. Jetzt sind es 4,5 Milliarden Euro. Das
ist eine halbe Milliarde mehr. Ich erkläre es Ihnen noch
einmal: Ich vergleiche einfach das, was 2017 absolut geflossen wäre,
({0})
mit dem, was nach der jetzigen Planung 2017 absolut
fließen wird. Das ist eine halbe Milliarde mehr; daran
können Sie nichts ändern. So einfach ist das, meine sehr
verehrten Damen und Herren.
({1})
Relevant sind doch nicht die Zwischenschritte, sondern
das Gesamtergebnis, und das Gesamtergebnis ist: eine
halbe Milliarde mehr - da können Sie so lange rechnen,
wie Sie möchten.
({2})
Ich komme zum Qualitätsinstitut. 95 Prozent der
Leistungen, die derzeit in unserer gesetzlichen Krankenversicherung erbracht werden, sind weder neu noch steht
deren Erstattung infrage; sie werden somit durch die
Qualitätsanforderungen des IQWiG, die sich auf die Erstattungsfähigkeit neuer Leistungen beschränken, nicht
erfasst. Für diese 95 Prozent der Leistungen gilt: Sie entscheiden über die Qualität unseres Gesundheitssystems.
Derweil ist richtig, was Minister Gröhe sagte: Obwohl die Qualität gut ist, haben wir auch große Defizite.
Das räumen wir ein. Das Qualitätsinstitut ist ein QuanDr. Karl Lauterbach
tensprung bei der Verbesserung der Qualität der Versorgung in Deutschland, von dem alle profitieren werden.
Wir werden durch dieses Qualitätsinstitut, durch die Zusammenführung der Daten, erstmalig wissen: Wie gut ist
welches Krankenhaus? Wie gut ist welche medizinische
Leistung? Wie lange hält welcher Eingriff? Gibt es regionale Unterschiede? - Wenn man ehrlich ist, muss
man zugeben: All dies weiß man derzeit in vielen Bereichen nicht. Auf der Grundlage dieser Daten können wir
dann auch die Vergütung steuern und durch einen neu
gegründeten Innovationsfonds innovative Projekte fördern. Das ist ein echter Schritt nach vorn, das ist ein
Quantensprung für die Versorgungsqualität in Deutschland.
Ich hoffe, wenigstens Ihre Nachrednerin, Frau Vogler,
wird dies würdigen, anders als Sie, der Sie nicht die
Größe hatten, die Stärkung der Solidarität hier zu begrüßen.
Vielen Dank.
({3})
Die Kollegin Klein-Schmeink ist nun für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen nächste Rednerin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist selten, dass ein Hauptverhandler eines Koalitionsvertrages
im Bereich der Gesundheitspolitik so um Anerkennung
gebettelt hat, wie ich das heute Morgen hier gehört habe.
({0})
Es scheint ja ein großer Bedarf an Bestätigung vorzuliegen.
Wir jedenfalls sehen uns nicht in der Lage, genau dieses zu tun; denn wir reden heute über etwas ganz anderes. Es ist überhaupt eine erstaunliche Debatte bisher:
Bisher ist nämlich der Kern des Gesetzentwurfs, über
den wir heute hier diskutieren, nämlich eine neue
Finanzstruktur für die gesetzliche Krankenversicherung,
in keinster Weise so gewürdigt worden, wie es nötig
wäre. Es handelt sich um nicht weniger als einen Systemwechsel in die Richtung, dass in Zukunft ausschließlich die Versicherten den Kostenanstieg im Gesundheitswesen tragen sollen. Das ist zutiefst ungerecht, das ist
zutiefst unrational gedacht, und das wird Folgen haben,
die sich in der Zukunft nachhaltig bemerkbar machen
werden.
({1})
Der Minister hat in kurzen Worten, aber doch sehr
deutlich davon gesprochen, wir hätten es mit einer üppigen Beitragssenkung für viele Versicherte, mit einer paritätischen Aufteilung der Versichertenbeiträge zwischen
Arbeitgeber und Arbeitnehmer und mit einem Quantensprung in Sachen Qualität zu tun. Nichts davon wird so
kommen, wie es hier gesagt wird, weil es in der eigentlichen Sache darum geht, den Arbeitgeberbeitrag auf dem
jetzigen Stand einzufrieren
({2})
und sämtliche Kosten im Gesundheitswesen den Versicherten aufzuladen.
({3})
Das ist ein grandioses Scheitern der SPD, die vor der
Wahl noch die gleichen Forderungen hatte, die wir als
Opposition, als Grüne und als Linke, haben, nämlich für
eine gerechte und nachhaltige Finanzierung im Gesundheitswesen zu sorgen.
({4})
Schauen wir uns einmal an, welche Folgen ein Zusatzbeitragssatz hat, der von den Kassen individuell erhoben werden kann: Es wird weiterhin einen starken
Preiswettbewerb geben. Dieser Wettbewerb wird nicht
dazu führen, dass die Kassen gute Leistungen für die
Versicherten anbieten, nein, die Kassen werden auf jeden
Cent schauen und die Leistungen für die Versicherten bis
an die Grenze dessen, was gesetzlich erlaubt ist, herunterschrauben und eindämmen, so wie sie es schon in der
Vergangenheit getan haben.
Das haben wir in den nächsten zwei Jahren zu erwarten, weil jede Kasse vermeiden wird, in diesem starken
Wettbewerb mit Zusatzbeitragssätzen konkurrieren zu
müssen. Das ist nicht nur ein Vergehen an den Versicherten, sondern das hat auch für die Patienten langfristige
Folgen, die wir dringend vermeiden müssen.
({5})
Dieser Weg wurde bereits von Schwarz-Gelb eingeschlagen; das muss man zugestehen. Insofern hat die
Verhandlungskraft der SPD vielleicht nicht ausgereicht,
um das zu stoppen. Gleichwohl muss hier benannt werden, dass das ein Fehler und ein Raubbau an der Solidarität im gesetzlichen Gesundheitswesen ist.
({6})
Es ist zu Recht auch darauf hingewiesen worden, dass
die Arbeitgeber in den Tarifverhandlungen und in den
Aufsichts- und Verwaltungsräten der Krankenkassen in
Zukunft nicht mehr für einen nur moderaten Anstieg der
Beitragssätze sorgen werden. Nein, sie werden entscheiden können, ohne die Kosten zu tragen. Als Arbeitgeber
vertreten sie gleichzeitig die Kostentreiber in der Gesundheitswirtschaft. Auch das ist ein Raubbau an der
bisher gut bewährten Praxis im solidarischen System der
Gesundheitsversorgung hier in Deutschland.
({7})
Es wird in großen Schritten zu Beitragssteigerungen
kommen, auch wenn es jetzt bei einigen Kassen - wahrscheinlich werden es sieben sein; andere sprechen vielleicht von mehr - für ein Jahr zu einer Senkung kommt.
Bei sehr vielen Kassen werden wir aber schon jetzt eine
sehr starke Beitragssteigerung erleben.
Diese Steigerungen werden nur von den Versicherten
zu zahlen sein und gleichzeitig erneut, wie vor zwei Jahren, zu einer großen Mitgliederwanderung und großen
Verwerfungen zwischen den Krankenkassen führen.
Diese Krankenkassen werden dann mit sich selber beschäftigt sein, statt damit, die Versorgung zu verbessern
und zu einer Versorgerkasse zu werden, die sich insbesondere um die alten Menschen und die Familien vor Ort
kümmert, ihnen eine gute Beratung anbietet und gute
Versorgungsverträge auf den Weg bringt.
All dies wird in den nächsten zwei bis drei Jahren
nicht geschehen, sondern die Kassen werden mit sich
selber beschäftigt sein. Das ist ein gravierender gesundheitspolitischer Fehler, der an dieser Stelle auch benannt
sein muss.
({8})
Während die SPD und die Versicherten die Verlierer
in diesem ganzen Spiel sind, ist die Union der einzige
Gewinner. Sie wird nämlich mit den Folgen dieses völlig
verfehlten Zusatzbeitrags nicht mehr konfrontiert, da sie
den Sozialausgleich, dieses Bürokratiemonster, stillschweigend begraben kann. Gleichzeitig kann sie den
Arbeitgebern ein großes Versprechen machen: Ihr werdet in Zukunft nicht mehr belastet. Jetzt werden die Versicherten die Kosten zu tragen haben. - Das ist ein falsches Signal. Sie denken zu kurzfristig und überlegen
dabei nicht, wie wir es schaffen können, für die Zukunft
ein leistungsfähiges, ein patientengerechtes und versichertengerechtes Gesundheitswesen aufzubauen; ein Gesundheitswesen, das solidarisch und stabil finanziert ist
und mit dem gleichzeitig dafür gesorgt wird, dass die
Lasten gerecht und solidarisch verteilt sind.
({9})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Jens Spahn für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jenseits der Dinge, die wir in der Sache regeln, ist es schon
ein Wert an sich, dass es dieser Koalition aus CDU/CSU
und SPD gelungen ist, das Problem, das die Gesundheitspolitik im Grunde in den letzten 10 bis 15 Jahren geprägt
hat, nämlich der jahrelange intensive Streit darüber, wie
die zukünftige Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung aussehen soll, verbindlich und in einem guten Kompromiss miteinander zu lösen. Mit dem jetzt
vorliegenden Gesetzentwurf regeln wir diese Finanzfragen gründlich und haben dadurch tatsächlich Zeit, uns
drei Jahre lang intensiv mit Fragen der Versorgung zu
beschäftigen, also: Wie erleben Patienten den Versorgungsalltag in Deutschland?
({0})
Das, was die Menschen eigentlich interessiert, sind
nicht unsere abstrakten Debatten über die Finanzierung
- auch diese sind wichtig -, sondern die Menschen vor
Ort interessieren sich vor allem für Antworten auf folgende Fragen: Habe ich noch einen Hausarzt vor Ort,
wenn ich ihn brauche? Wie weit entfernt ist das nächste
Krankenhaus? Wie steht es mit der Qualität des Krankenhauses, mit Infektionen und anderen Dingen? Wir
wollen die Versorgung der Menschen in dieser Legislatur in den Mittelpunkt stellen. Dafür ist dieser Kompromiss zur Finanzierung eine gute Basis.
({1})
Was tun wir? Ja, es stimmt: Wir als CDU/CSU haben
uns im Kompromiss von den pauschalen Zusatzbeiträgen verabschieden müssen. Bei einem Kompromiss ist
es nun einmal so, dass sich beide Seiten aufeinander zubewegen. Aber eines war uns immer ganz wichtig: dass
es einen Wettbewerb zwischen den Krankenkassen auch
in Zukunft gibt und dass die Vielfalt der Kassen erhalten
bleibt. Bei diesem Wettbewerb geht es um verschiedene
Faktoren. Ein Faktor dabei ist der Service.
In Veranstaltungen zu diesem Thema vor Ort hören
wir oft die Frage: Warum gibt es so viele Krankenkassen, brauchen wir eigentlich 130 Krankenkassen in
Deutschland? - Ich sage dazu: Ja, wir brauchen viele
Krankenkassen. Wenn es nur eine einzige Krankenkasse
gäbe, warum sollten die Mitarbeiter dieser Krankenkasse
überhaupt den Hörer abheben, wenn jemand anruft, um
eine Frage zu stellen? Schließlich kann ja niemand
wechseln. - Wir brauchen den Wettbewerb, um einen
guten Service, ein gutes Angebot sowie Sicherheit in der
Versorgung für die Versicherten zu gewährleisten. Deswegen ist es uns ganz wichtig, dass der Wettbewerb zwischen den Kassen und damit auch die Vielfalt im Sinne
der Versicherten erhalten bleibt.
({2})
Dieser Wettbewerb soll sich natürlich auch im Preis
widerspiegeln; denn natürlich hat der Preis im Wettbewerb eine wichtige Signalwirkung. Bei dem Preis geht
es in diesem Fall um prozentuale Unterschiede. Bei der
einen Kasse wird man 0,3 oder 0,5 Prozentpunkte vom
Lohn zusätzlich zahlen müssen, bei einer anderen Kasse
0,9 oder 1,1 Prozentpunkte, wie auch immer die Spanne
am Ende sein wird.
Dann kann ich als Versicherter für mich überlegen: Ist
die Kasse, für die ich mich entscheiden möchte, im
Preis-Leistungs-Verhältnis, in der Frage der Versorgungsangebote oder der zusätzlichen Satzungsleistungen, auch in der Frage der Geschäftsstellenstruktur - ist jemand erreichbar, oder genügt mir das Internetangebot? -,
für mich die richtige? Ich kann für mich als Versicherter
überlegen: Ist mir meine Kasse diesen Zusatzbeitrag
wert oder nicht? Wenn nicht, dann kann ich zu einer anderen Kasse wechseln. Dieser Wettbewerb im Preis ist
jedenfalls uns wichtig, weil er die Versicherten in die
Lage versetzt, für sich das Beste auszusuchen. Das ist
das Entscheidende.
({3})
Sie haben die Festschreibung des Arbeitgeberbeitrages kritisiert, Frau Kollegin Klein-Schmeink, was ich
nicht verstehen kann. Ich will darauf hinweisen, dass die
Unterscheidung zwischen Arbeitgeberbeitrag und Arbeitnehmerbeitrag - das wurde richtigerweise gemacht,
das kritisiere ich nicht - erstmalig unter Rot-Grün eingeführt worden ist.
({4})
Sie haben damals gesagt: Die Arbeitnehmer sollen
0,9 Beitragssatzpunkte mehr zahlen. Das sind die
0,9 Punkte, die wir jetzt in den Mittelpunkt des Wettbewerbs um den Preis stellen. Viele werden in diesem ersten Schritt - der Minister hat darauf hingewiesen - weniger zahlen. Sie haben das damals eingeführt, und Ulla
Schmidt hat das verteidigt. Wir haben das in der Sache
unterstützt, weil damit dafür gesorgt wird, dass die steigenden Gesundheitskosten in einer älter werdenden Gesellschaft von den Arbeitskosten entkoppelt werden. Ja,
wir wissen: In einer älter werdenden Gesellschaft mit
medizinischem Fortschritt wird Gesundheit teurer werden. Aber Gesundheit darf in Deutschland nicht automatisch Arbeit teurer machen, sonst verlieren wir den Wettbewerb mit anderen Regionen in der Welt.
Außerdem können wir dann auch die Gesundheitsdebatten nicht richtig führen. Wenn wir in der Gesundheitsdebatte immer erst danach fragen, was bei den Lohnnebenkosten mit Blick auf die Wettbewerbsfähigkeit
passiert, dann tritt die Frage, was in der Gesundheitspolitik eigentlich notwendig wäre, dahinter zurück. Deswegen ist die Entkoppelung richtig. Sie haben sie damals
vorgenommen. Heute wollen Sie nichts davon wissen.
Diesen Reflex kennen wir bei der Opposition. Aber sie
bleibt richtig, weil sie die Gesundheitskosten von den
Arbeitskosten entkoppelt.
({5})
Im Übrigen habe ich ein zweites intellektuelles Problem mit dem, was Sie eben vorgetragen haben, Frau
Kollegin Klein-Schmeink. Sie haben eben zum Thema
Wettbewerb beim Beitragssatz ausgeführt, was alles
Schlimmes passiert, wenn die Kassen miteinander im
Preiswettbewerb stehen und es unterschiedliche Beitragssätze gibt.
Eines verstehe ich dabei nicht. Wenn ich das Konzept
der Grünen einigermaßen richtig kenne, dann sieht auch
Ihr Konzept vor, dass es unterschiedliche Beitragssätze
der Kassen gibt und dass sie miteinander im Wettbewerb
stehen.
({6})
Das ist eine gewisse intellektuelle Herausforderung:
Wenn Schwarz-Rot den Wettbewerb bei Preisen und
Beitragssätzen einführt, dann ist er schlecht. Wenn die
Grünen das in ihrem Programm haben, dann ist es gut.
Das ist wie damals bei Jürgen Trittin: Ein Castortransport, den andere genehmigen, ist schlimm. Aber wenn
Herr Trittin ihn selber genehmigen muss, dann ist er gut.
Diese Logik in der Argumentation werden Sie, glaube
ich, in der Öffentlichkeit nicht lange durchhalten.
({7})
Ein zweiter wichtiger Bereich jenseits der Finanzierungsdebatte ist die Frage der Qualität. Darauf ist schon
hingewiesen worden. Wir wollen in dieser Legislaturperiode - dafür schafft das Finanzierungsgesetz die Basis,
weil es die gemeinsamen Vereinbarungen umsetzt - den
Fokus auf die Versorgung richten. Voraussetzung dafür
ist - jenseits dessen, was heute schon an guter Qualität
im deutschen Gesundheitswesen geleistet wird - Transparenz über das, was geleistet wird.
Wenn sich zum Beispiel jemand im Krankenhaus einer Knie- oder Hüftoperation unterzogen hatte und nach
der Entlassung aus dem Krankenhaus einen Orthopäden
zur ambulanten Behandlung aufsuchen muss, weil es zu
einer Komplikation gekommen ist, dann wissen wir
heute nicht, dass es sich um ein und denselben Patienten
handelt. Wie wollen Sie aber die Qualität einer Knieoperation messen, wenn Sie gar nicht nachvollziehen können, was nach der Operation passiert ist?
Deswegen ist es richtig, dass wir, natürlich anonymisiert, am Ende alle Daten zusammenführen - die Abrechnungsdaten und die Risikostrukturausgleichsdaten
sind schließlich vorhanden -, um zu erkennen, wie gut
die Versorgung in Deutschland bzw. das einzelne Haus
ist und an welcher Stelle noch Verbesserungen nötig
sind. Deswegen ist das, was wir heute auf den Weg bringen, ein großer Schritt zur Transparenz im Gesundheitswesen.
Dazu gehört auch die Frage: Wie verknüpfen wir das
mit der Vergütung und mit den Strukturen? Transparenz
zu schaffen, ist schließlich kein Wert an sich, auch wenn
sie wichtig ist. Die Transparenz soll es im Übrigen auch
ermöglichen, dass sich der einzelne versicherte Patient
bei einer planbaren Operation, ob am Knie, an der Hüfte
oder in anderen Bereichen - idealerweise online oder
auch durch eine entsprechende Beratung -, informieren
kann, welches Haus wie gut ist und wo er sich gut behandeln lassen kann. Es geht also auch um die Stärkung
der Position des Patienten bzw. Versicherten.
Aber wir wollen das in ersten Schritten auch mit der
Vergütung verknüpfen, indem wir prüfen, wo wir auch
bei der Bezahlung von Krankenhäusern Anreize setzen
können, damit diejenigen, die gut sind, mehr Operationen durchführen als die, die schlecht bewertet sind.
Diese sollten im Zweifel in Zukunft weniger oder auch
gar keine Operationen mehr durchführen.
Es geht also erstens darum, in der Vergütung Anreize
zu schaffen, und zweitens sollten wir auch zum Thema
Struktur eine Debatte darüber führen, wer welches Angebot vorhalten soll und wer in welchem Bereich wie gut
aufgestellt ist. Insofern ist das Qualitätsinstitut, das wir
in unseren Gesetzentwurf aufgenommen haben, tatsächlich, wie der Kollege es formuliert hat, ein Quantensprung in der Versorgungsdebatte, weil erstmalig die
vorhandenen Daten zusammengeführt und uns ermöglicht wird, Qualität mit System in alle Bereiche des Gesundheitswesens hineinzubringen. Das dient vor allem
den Patientinnen und Patienten in Deutschland. Ich
glaube, das ist ein großer Schritt in dem, was wir hier
tun, den man auch einmal anerkennen kann.
({8})
Dass das auch die Basis für Strukturdebatten sein
muss, sage ich auch in dem Wissen, dass wir diese Debatte zwar auf einer sehr guten finanziellen Basis der gesetzlichen Krankenversicherung führen. Wir haben im
Gesundheitsfonds und bei den einzelnen Kassen Rücklagen in nie geahnter Höhe. Das hat viel mit früheren Reformen und Änderungen auch in der christlich-liberalen
Koalition zu tun, vor allem aber auch mit der guten Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Aber wir sollten uns
auch bewusst machen, dass diese gute Situation nicht per
se dauerhaft so anhält. Wir haben, ohne dass wir ein Gesetz ändern, Kostensteigerungen in Höhe von gut 8 Milliarden Euro pro Jahr in der gesetzlichen Krankenversicherung zu verzeichnen. Wir haben noch 2000
135 Milliarden Euro in der gesetzlichen Krankenversicherung ausgegeben. 2014 werden es 200 Milliarden
Euro sein. Es gab also enorme Ausgabensteigerungen in
den letzten Jahren, und diese setzen sich fort.
Wir wollen - dafür brauchen wir eine vernünftige Datengrundlage und eine ehrliche Debatte vor allem zwischen Bund und Ländern, etwa wenn es um die Krankenhäuser geht - von den Spargesetzen alter Art - hier etwas
wegschneiden, da etwas herausnehmen und hier etwas
prozentual kürzen - wegkommen. Wir wollen Strukturdebatten darüber führen, wie wir das Gesundheitssystem
in Deutschland effizienter gestalten können. Wir wollen
mit den Ländern darüber reden, wie in Zukunft die Krankenhausfinanzierung und die Krankenhausstrukturen
aussehen sollen. Wir müssen die Zusammenarbeit zwischen ambulanter und stationärer Versorgung stärker in
den Fokus rücken.
Uns müssen letztendlich grundsätzliche Strukturveränderungen gelingen, wie wir es bereits mit dem Arzneimittelmarkt-Neuordnungsgesetz geschafft haben. Das ist
kein Spargesetz alter Art. Vielmehr hat es erstmalig die
Grundstruktur verändert, Qualität befördert und Geld gespart. Auf Basis dessen, was wir mit dem Qualitätsinstitut schaffen, wollen wir das in anderen Bereichen fortsetzen. Damit ist dieses Gesetz ein guter Start in diese
Legislaturperiode.
({9})
Das Wort erhält nun die Kollegin Kathrin Vogler für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Wir
haben heute schon einiges über Qualität gehört. Vor allem beim Minister habe ich mich gefragt, woher er die
ganzen geschmeidigen, schönen Worthülsen nimmt. Ich
möchte nun etwas konkreter werden und deutlich machen, worum es eigentlich geht.
({0})
Herr Kollege, kennen Sie das Buch Keimzelle Krankenhaus?
({1})
Darin schildert der WAZ-Reporter Klaus Brandt eine umfangreiche Recherche in nordrhein-westfälischen Krankenhäusern. Der Befund ist einigermaßen erschreckend.
Immer mehr Menschen infizieren sich im Krankenhaus
mit multiresistenten Erregern. Allein in Duisburg starben im Jahr 2012 25 Menschen am gefürchteten MRSAKeim. Anderswo sieht es nicht wesentlich besser aus,
wie wir alle wissen. Immer wieder erhielt der Journalist
deutliche Hinweise darauf, welches die Ursachen sind.
Die nötigen Hygienemaßnahmen sind sehr wohl bekannt. Aber unter dem Druck der Arbeitsverdichtung hat
das Personal immer weniger Zeit und Möglichkeit, diese
auch einzuhalten. Überbelegte Stationen, viel zu wenige
Pflegekräfte und externe Reinigungsdienste, die unter
irrsinnigen Akkordvorgaben arbeiten - wer wundert sich
da noch über Hygienemängel? Im letzten Jahr rechnete
uns die Gewerkschaft Verdi vor, dass in deutschen Krankenhäusern 162 000 Vollzeitkräfte fehlen. Das ist doch
ein Skandal. Das ist der Kern aller Qualitätsprobleme.
({2})
Warum ist das so? Sie alle gemeinsam haben in den
letzten Jahrzehnten die Krankenhäuser systematisch zu
Unternehmen gemacht, in denen die Wirtschaftlichkeit
im Vordergrund steht. Wirtschaftlichkeit ist das oberste
Gebot. Gleichzeitig haben CDU/CSU, SPD und auch
Grüne in den Ländern, in denen sie regieren, mit Schuldenbremsen und Spardiktaten dafür gesorgt, dass die
notwendigen Investitionen in die Krankenhäuser unterblieben sind, zum Beispiel bei uns in Nordrhein-Westfalen. So sparen die Krankenhäuser, wo es geht. Das ist in
der Regel beim Personal. Genau das gefährdet die PaKathrin Vogler
tientinnen und Patienten. Deswegen fordert die Linke
seit Jahren ein Bundesprogramm, das dazu dient, den
Ländern zu helfen und diesen gefährlichen bzw. lebensgefährlichen Investitionsstau in den Krankenhäusern
endlich zu beheben, leider ohne Unterstützung der anderen Fraktionen in diesem Haus.
({3})
Welche Medizin verordnen Sie von der Großen Koalition nun diesem kranken Gesundheitswesen? Sie wollen
ein Qualitätsinstitut gründen, das in Zukunft Behandlungsqualität in den Krankenhäusern misst und die Ergebnisse allgemeinverständlich für die Patientinnen und
Patienten kommuniziert. Daran ist erst einmal nichts
Falsches. Gegen ein solches Institut ist überhaupt nichts
einzuwenden. Aber es ist kein Quantensprung - um dem
Kollegen Lauterbach zu widersprechen. Bei uns im
Münsterland weiß jeder Landwirt: Vom Wiegen allein
wird die Sau nicht fett.
Das Projekt DSDS, Deutschland sucht das Superkrankenhaus, ist nämlich laut Koalitionsvertrag nur der erste
Schritt. In einem zweiten Schritt - das haben Sie, Herr
Spahn, Herr Gröhe, gerade gesagt - wollen Sie dann
diese Messergebnisse zum Maßstab der Finanzierung
der Krankenhäuser machen. Das bedeutet, dass die Häuser, in denen der wirtschaftliche Druck schon am meisten auf die Qualität durchgeschlagen hat, hinterher noch
weniger Geld bekommen. Ob das dazu führt, dass diese
Krankenhäuser besser werden, muss man, glaube ich,
bezweifeln. Nein, das führt zu weiterem Bettenabbau, zu
noch mehr Klinikschließungen und am Ende zu einem
noch höheren Druck in den verbleibenden Häusern. Es
kann sogar ein Anreiz dafür werden - das finde ich besonders gefährlich -, dass sich die Häuser speziell um
Patientinnen und Patienten mit unkomplizierten Erkrankungen bemühen, die dann hinterher mehr Qualitätspunkte versprechen. Das wäre wirklich eine Gefahr für
die Patientinnen und Patienten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union und
der SPD, wenn Sie wirklich mehr Qualität im Krankenhaus wollen, dann kommen Sie einfach nicht darum herum, Geld dafür in die Hand zu nehmen, und zwar nicht
nur 14 Millionen Euro für ein Qualitätsinstitut. Die
Krankenhäuser brauchen mehr Geld für Investitionen,
sie brauchen mehr Geld für Personal, für bessere Arbeitsbedingungen, für höhere Löhne, für die Rücknahme
von Privatisierung und Outsourcing. Das ist nämlich die
Voraussetzung für höhere Qualität. Dafür wird sich auch
die Linke einsetzen.
({4})
Das Wort hat nun die Kollegin Sabine Dittmar für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden
wichtige Regelungen hin zu einer nachhaltigeren Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung, aber
auch zur Weiterentwicklung des Morbi-RSA und zur
Qualitätssicherung getroffen.
Es ist allgemein bekannt, dass wir Sozialdemokraten
eine nachhaltige, solidarische Finanzierung der GKV im
Sinne einer Bürgerversicherung anstreben. Allerdings
sind in einer Koalition nun einmal Kompromisse notwendig, und wir stehen zu den im Koalitionsvertrag getroffenen Vereinbarungen. Somit ist es in der Tat so, dass
das jetzt vereinbarte Finanzierungskonstrukt mit einer
primären Parität und einem Beibehalten des Einfrierens
der Arbeitgeberbeiträge sicherlich nicht die Erfüllung
sozialdemokratischer Vorstellungen ist. Aber ich sage
hier auch in aller Deutlichkeit: Diese Regelungen sind
ein ganzes Stück weit gerechter und ein ganzes Stück
weit besser als die Regelungen unter Schwarz-Gelb.
({0})
Der vorgelegte Entwurf zum GKV-Finanzstrukturund Qualitäts-Weiterentwicklungsgesetz schafft nämlich vor allem eines: Eventuell notwendige kassenindividuelle Zusatzbeiträge werden zukünftig prozentual einkommensabhängig erhoben und sind somit ein Stück
weit gerechter als diese unsägliche, unsoziale und verwaltungsaufwendige Kopfpauschale.
Frau Kollegin, lassen Sie eine Zwischenfrage zu?
Ja, gerne. Geht das von meiner Redezeit ab?
Nein, um Gottes willen, solange sich das in halbwegs
überschaubarem Rahmen hält.
({0})
Bitte sehr.
Danke schön, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. Sie haben gerade gesagt, dass der neue Zusatzbeitrag gerechter sei als der alte und Sie damit den Sozialausgleich
und das aufwendige Verfahren einsparen. Gleichwohl
bleibt ein großes Problem; denn Sie haben es versäumt,
im Koalitionsvertrag überhaupt eine Belastungsgrenze
einzuziehen. Das heißt, in Zukunft wird der gesamte
Kostenanstieg im Gesundheitswesen tatsächlich von den
Versicherten zu tragen sein. Eine Regelung für den Fall,
dass die Belastungsgrenze von 2 Prozent überschritten
wird, die immerhin gerade für die kleinen Einkommen
selbst beim schwarz-gelben Zusatzbeitrag mitgedacht
war, haben Sie in Ihrem faulen Kompromiss nicht vorgesehen.
Wie denken Sie denn die Belastung für die Versicherten in beispielsweise zwei Jahren - dann wird es so weit
sein - einschränken zu können, um das Ganze gerecht zu
gestalten?
Frau Kollegin, hätten Sie mich weiterreden lassen,
dann hätten Sie schon noch eine Antwort auf Ihre Frage
erhalten. Ich kann die Antwort auch im Vorgriff geben.
Es ist richtig, was Sie eben dargestellt haben, aber diese
Vereinbarung wurde für diese Legislaturperiode getroffen. Ich kann Ihnen sagen: Wir Sozialdemokraten werden einen ganz genauen Blick darauf werfen, wie sich
die Beiträge, aber auch die Ausgaben entwickeln; denn
es kann in der Tat nicht sein, dass dauerhaft die Mehrbelastungen alleine von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu tragen sind.
({0})
- Ich habe Ihnen ganz klar gesagt, dass Kompromisse
eingegangen worden sind und dass wir zu den Vereinbarungen im Koalitionsvertrag stehen. Ich räume ein, dass
das nicht alles unseren Vorstellungen entspricht.
({1})
- Nein, die gibt es nicht, Herr Kollege.
Ist Ihre Frage so weit beantwortet, Frau KleinSchmeink?
({2})
- Gut, wunderbar.
({3})
Dann kann ich in meiner Rede fortfahren.
Wie ich Ihnen gerade gesagt habe, werden wir die
Entwicklung der Zusatzbeiträge wirklich genau beobachten; denn diese Problematik ist auch uns bekannt.
Ich möchte in meinem heutigen Redebeitrag eigentlich auf einen Aspekt eingehen, der auch ein wesentlicher Bestandteil dieses Gesetzentwurfs ist und ganz
massiv auf die Finanzausstattung der einzelnen Krankenkassen einwirkt, aber in der bisherigen Debatte noch
überhaupt keinen Widerhall gefunden hat: die Weiterentwicklung des Morbi-RSA. Das ist in der Tat eine sehr
trockene Materie. Ich kann verstehen, dass die Öffentlichkeit sie nicht mit Leidenschaft diskutiert. Ich muss
sagen: In der Fachwelt wird dieser Aspekt sehr kritisch
gesehen.
Seit 2009, mit Einführung des Gesundheitsfonds, gibt
es, wie wir wissen, auch eine Zuweisung auf Grundlage
der Morbidität, und das ist auch gut so. Denn das hat im
Ergebnis zu einer wesentlich verbesserten Zielgenauigkeit der Zuweisungen geführt und die Deckungsquoten
bei den standardisierten Leistungsausgaben der Krankenkassen wirklich deutlich verbessert.
Gleichwohl kommt der Evaluationsbericht des Wissenschaftlichen Beirates zur Weiterentwicklung des Risikostrukturausgleichs zu dem Ergebnis, dass es bei den
Ausgaben für im Berichtsjahr Verstorbene, also der Annualisierung, bei den Zuweisungen für Auslandsversicherte und vor allem bei den Zuweisungen für Krankengeld erheblichen Handlungsbedarf gibt.
Die Annualisierung hat nun das Landessozialgericht
Nordrhein-Westfalen durch ein rechtskräftiges Urteil abgearbeitet. Hier haben wir Rechtssicherheit. Gesetzgeberischen Handlungsbedarf haben wir noch bei den Zuweisungen für Auslandsversicherte und für Krankengeld.
Ich sage in aller Deutlichkeit: Ich halte die im Gesetzentwurf geregelte Vorgehensweise wirklich für sachgerecht.
Wir schaffen Übergangsregelungen und geben gleichzeitig ein wissenschaftliches Gutachten in Auftrag, das den
weiteren Forschungsbedarf abdeckt.
Schwierig gestalten sich diese Übergangsregelungen
allerdings bei der Gemengelage um die Krankengeldzuweisungen. Denn dieses Krankengeld ist der einzige
Leistungsbereich im Risikostrukturausgleich, bei dem es
sich nicht um eine einkommensunabhängige Sachleistung handelt, sondern um eine reine Lohnersatzleistung.
Die Krankenkassen haben somit zwei Risiken: einmal
die Höhe des Einkommens des Versicherten, auf die sie
keinen Einfluss nehmen können, und zum anderen die
Morbidität und die daraus resultierende Krankengeldbezugsdauer, welche man allerdings schon durch Management steuern kann.
Tatsache ist, dass die Deckungsquoten in diesem Bereich erheblich - zwischen 60 und 150 Prozent - variieren. Interessant dabei ist: Diese Unterschiede gibt es
nicht nur in einer einzelnen Kassengruppe, sondern sie
ziehen sich quer durch die verschiedenen Krankenkassen, den einzelnen AOKs, BKKs und Ersatzkassen. Man
hat mittlerweile zig Modelle durchgerechnet, um hier zu
genaueren Ergebnissen zu kommen. Keine Berechnung
war von Erfolg gekrönt. Deshalb ist uns empfohlen worden, weiterzuforschen und bis dahin die bisherigen Verfahrensweise beizubehalten.
Wir halten es für sachgerecht, bereits im vorliegenden
Gesetzentwurf eine Übergangsregelung zu verankern,
durch die die aktuelle Spreizung reduziert werden kann.
Künftig wird die Hälfte der Zuweisungen auf Grundlage
der tatsächlichen Aufwendungen für das Krankengeld
geleistet. Die restlichen 50 Prozent der Zuwendungen erfolgen nach dem bisherigen standardisierten Verfahren.
Das hat zur Konsequenz, dass sowohl die Überdeckungen als auch die Unterdeckungen halbiert werden.
Diese Maßnahme führt allerdings in der Fachwelt zu
sehr kontroversen Diskussionen; denn gerade Krankenkassen mit hohem durchschnittlichen Grundlohn der
Versicherten oder auch Krankenkassen, die durch die
Annualisierung benachteiligt sind, fordern hier eine stärkere Berücksichtigung der Grundlohnkomponente. Ich
kann dazu nur feststellen, dass der genannte Wissenschaftliche Beirat diverse Modelle unter BerücksichtiSabine Dittmar
gung eines sogenannten Grundlohnkorrekturfaktors ausgewertet hat und zu dem Ergebnis kam, dass auch diese
in keiner Weise zielgenauer sind. Im Gegenteil, es
kommt teilweise zu nicht akzeptablen und auch nicht
vermittelbaren Verwerfungen, indem bei manchen Krankenkassen Überdeckungen weiter ausgedehnt werden
und sich bei anderen die Unterdeckung verschärft. Ich
denke, Kolleginnen und Kollegen, das kann nicht in unserem Sinne sein und das kann auch nicht der Zweck einer Übergangsregelung sein. Insofern muss ich heute
klar sagen, dass ich auf Grundlage der aktuell vorliegenden Fakten zum jetzigen Zeitpunkt keinen triftigen Anhaltspunkt sehe, Veränderungen beim Morbi-RSA vorzunehmen.
Allerdings sage ich auch: Wenn im Laufe des parlamentarischen Verfahrens Ideen entwickelt werden, die
aufzeigen, wie wir Zuweisungen zielgenauer gestalten
können, ohne gleichzeitig die unerwünschten Ausschläge nach oben und unten zu haben, sind diese sicherlich diskussionswürdig. Deshalb sehe ich mit sehr großer
Spannung und Neugierde der Diskussion auf der Expertenanhörung am 21. Mai entgegen und freue mich auf
weitergehende Erkenntnisse.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({4})
Harald Terpe ist der nächste Redner für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Ich bekam mit auf den Weg,
dass ich jetzt mit Lob beginnen soll. Lassen Sie mich
deswegen meine Ausführungen mit drei Bemerkungen
zur Finanzierung beginnen:
Ich halte die These von der nachhaltigen Finanzierung für gewagt, wenn man gleichzeitig einräumt, dass
es vielleicht für die nächsten vier Jahre eine Lösung sein
könnte. Das ist natürlich nicht nachhaltig,
({0})
insbesondere dann nicht, wenn die Finanzierung des Risikos der Kostenentwicklung allein bei den Versicherten
bleibt ({1})
und das so lange, wie die das überhaupt tragen können.
Deswegen war unser Vorschlag, zu fragen, ob wir die
Arbeitskosten nicht auch dadurch entlasten können, dass
wir die Finanzierung in der Gesellschaft gerechter verteilen. Erster Punkt.
({2})
Zweiter Punkt. Wir müssen mit der Vorstellung aufräumen, die hier suggeriert wird, nämlich dass es eine
Beitragssatzsenkung geben wird. Natürlich wird der Beitragssatz geringer, aber man muss gleichzeitig ganz klar
sagen: Die Belastung der Versicherten wird mindestens
gleich bleiben und in Zukunft natürlich steigen.
Der dritte Punkt, den ich noch aufgreifen will, ist:
Wenn wir auf die Steuerfinanzierung versicherungsfremder Leistungen auch nur partiell verzichten, dann ist das
noch schwerwiegender und ungerechter als eine Steuererhöhung; das muss man klar so sagen.
({3})
Der Kollege Lauterbach hat ja gesagt: Wir nehmen Leistungen aus dem Gesundheitsfonds, um wichtige Strukturinvestitionen in Bildung, Kinderbetreuung usw. zu
finanzieren. - Sie trauen sich nicht, zu sagen: „Wir brauchen Steuern, um das zu machen“, sondern versuchen,
das über den Umweg der Beitragszahlungen der Versicherten zu finanzieren. Mit den Versicherten kommt
dann aber nur eine kleinere Gruppe der Gesellschaft dafür auf.
({4})
Ich hatte mir eigentlich vorgenommen - dafür bietet
der Gesetzentwurf auch Ansatzpunkte -, zu dem wichtigen Thema der Qualitätssicherung zu sprechen.
Darf vorher der Kollege Lauterbach eine Zwischenfrage stellen?
Gern.
Bitte sehr.
Nur ganz kurz. - Aber Sie können sich doch noch erinnern, dass ich darum gebeten habe, zu verstehen, dass
wir die Zuweisungen zum Gesundheitsfonds kürzen,
also Geld, das dort derzeit nicht gebraucht wird, nehmen, damit es für Bildung oder für Infrastruktur - das
waren meine Beispiele - eingesetzt werden kann. Ich
habe im Gegensatz zu dem, wie Sie mich zitiert haben,
nicht über Leistungen gesprochen. Ich bin ja gerade so
zitiert worden, als wenn ich gesagt hätte, wir wollten
Leistungen kürzen. Sie können doch nicht abstreiten,
dass ich genau das Gegenteil gesagt habe. Das wird im
Übrigen das in circa einer Stunde vorliegende Protokoll
ausweisen.
Wir können uns jetzt sicherlich darüber unterhalten,
ob ich Sie direkt angesprochen habe im Hinblick auf das,
was Sie gesagt haben. Ich habe nur auf den Fakt hingewiesen, dass dann, wenn man dem Gesundheitsfonds
anteilig Steuergeld entzieht, durch das sozusagen versicherungsfremde Leistungen finanziert werden, diese
Leistungen durch Versichertenbeiträge finanziert werden. Sie können doch nicht verhehlen, dass der Gesundheitsfonds auch deswegen so voll ist, weil man sich mit
Versichertenbeiträgen vollgesogen hat. Es wurde ja ein
gesetzlicher Einheitsbeitrag erhoben, der plötzlich auf
15,5 Prozent hochgezogen wurde. Deswegen ist der
Fonds voll. Das sind natürlich Versichertenbeiträge, und
die gehören dahin. Genauso gehören natürlich in den
Fonds Steuergelder, mit denen vollständig versicherungsfremde Leistungen finanziert werden müssen.
({0})
Wenn man Letzteres nicht macht, dann finanziert man
auf einem Umweg versicherungsfremde Leistungen mit
Versichertenbeiträgen. Das führt dann zu den Folgen, die
ich genannt habe.
({1})
Nun zurück zur Qualität. Ich möchte am Anfang darauf hinweisen, dass unsere Pflegekräfte, Praxisassistentinnen und -assistenten, Ärztinnen und Ärzte tagtäglich
bei ihrer Arbeit eine hohe Leistungsqualität erbringen.
Das verdient unsere Achtung; das wird auch von den Patienten hochgeschätzt.
({2})
Das muss man zunächst erst einmal festhalten.
Wir alle wissen aber, dass die Qualität eines Ergebnisses nicht nur von der Qualitätsbereitschaft der Beschäftigten abhängt, sondern auch von den Verhältnissen und
Strukturen im System, hier im Gesundheitssystem. Arbeitsverdichtung infolge von Personalabbau zum Beispiel oder auch Ermüdung infolge zu langer Arbeitszeiten etwa stellt natürlich die Qualität infrage bzw. ist ein
Risiko für die Qualität.
Deshalb gab es in der Vergangenheit eine Reihe von
freiwilligen und auch von verpflichtenden Qualitätsmaßnahmen. Ich weise darauf hin, dass die Kliniken auf
Tumorkonferenzen bzw. Fallkonferenzen versuchen,
Qualität zu sichern. Desweiteren werden Zertifizierungsverfahren angewandt und Qualitätsberichte angefertigt.
Vor diesem Hintergrund stellt sich natürlich die Frage:
Brauchen wir jetzt ein Institut? Und brauchen wir dieses
Institut? Unsere Antwort ist klar: Ja, wir brauchen ein
Institut,
({3})
weil es damit nämlich zu einer Weiterentwicklung der
bisherigen Qualitätsmaßnahmen kommt, indem Informationen gebündelt werden.
Ich sage ausdrücklich: Das, was im Gesetzestext vorgeschlagen wird, dass nämlich die Versorgungsqualität
möglichst als ein sektorenübergreifendes Qualitätsinstrument entwickelt werden soll, ist vollkommen richtig.
Auch die einrichtungsübergreifende Zusammenstellung
von Informationen ist richtig. Vor allen Dingen ist richtig, dass sie verständlich dargestellt werden müssen, damit auch die Patienten davon profitieren.
({4})
Im Nachhinein würde dann auch die Arbeit honoriert
werden, die sich die Kliniken mit den Qualitätsberichten
gemacht haben. Im Grunde genommen finden diese
Qualitätsberichte insgesamt bisher ja kaum Eingang in
unsere Qualitätsbemühungen.
({5})
Es ist aber natürlich nicht nur Lob angebracht, sondern es muss auch gefragt werden, ob wir im parlamentarischen Verfahren noch zusätzliche Bedingungen
schaffen können. Die Frage des Zugriffs auf Krankenkassendaten ist geregelt. Auf diese wird auch ausdrücklich im Gesetz Bezug genommen. Es ist aber zu fragen,
wo die ambulanten Daten herkommen sollen und ob da
die KV-Daten nicht auch eine Rolle spielen müssen, um
gerade diese sektorenübergreifende Qualitätssicherung
zu organisieren.
({6})
- Das steht aber so nicht im Gesetz. Vielleicht müsste
das noch einmal betont werden.
({7})
Ich denke, es ist auch sehr wichtig, dass die Patienten
bzw. die Patientenverbände beteiligt werden, indem auch
sie die Möglichkeit bekommen, Aufträge auszulösen.
Wir sind aber auch der Meinung, dass sie im Stiftungsbeirat bzw. in den Gremien eine stärkere Verankerung
finden müssen.
({8})
Lassen Sie mich zum Schluss noch sagen: Wir werden sicherlich eine Qualitätsentwicklung über Strukturqualität und Prozessqualität hin zu Ergebnisqualität erleben. Wenn wir aber die Ergebnisqualität als Maßstab
dieses Qualitätswettbewerbs nehmen, dann liegt angesichts dessen, was da bisher systematisch erfasst wird,
noch ein sehr weiter Weg vor uns. Wir sollten die Zwischenzeit nutzen, gerade diesen Prozess voranzutreiben
und mögliche Geburtsfehler im parlamentarischen Verfahren noch zu beheben.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Ich erteile jetzt das Wort dem Kollegen Erich
Irlstorfer für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Besucherinnen und Besucher auf der Tribüne! Wir besprechen heute den Entwurf der Bundesregierung zum sogenannten GKV-FQWG, also zum GKVFinanzstruktur- und Qualitäts-Weiterentwicklungsgesetz.
Entgegen den Erwartungen vieler Beobachter konnte
in den Koalitionsverhandlungen im Bereich Gesundheit
schon recht früh Einigkeit erzielt werden. Ein wesentliches Element des Koalitionsvertrages ist die Antwort auf
die Frage, wie die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung in Zukunft ausgestaltet werden soll.
Mit dem heute diskutierten Entwurf der Bundesregierung werden die Verhandlungsergebnisse des Koalitionsvertrages konkretisiert. Ich denke, dass sich an der sachlichen Arbeit dieser Koalition in einer so wichtigen
Frage zeigt, dass wir in dieser Koalition in der Gesundheitspolitik sehr gut aufgestellt sind und wir mit einer
zügigen und sachgerechten Umsetzung des Koalitionsvertrages nicht nur hinsichtlich der Finanzierung der
GKV, sondern auch in anderen Bereichen rechnen können.
Lassen Sie mich nun auf das GKV-Finanzstrukturund Qualitäts-Weiterentwicklungsgesetz zu sprechen
kommen. Wie der Name schon sagt, baut das Gesetz auf
zwei Säulen auf, die zusammen gedacht werden sollen,
ja sogar gedacht werden müssen: erstens der Entwicklung des Finanzierungssystems, zweitens der weiteren
Ausrichtung unseres Gesundheitssystems auf die Qualität der Versorgung.
Im heute debattierten Gesetzesvorhaben geht es um
einen ausgewogenen Preis- und Qualitätswettbewerb
unter den Kassen. Damit wollen wir eine finanzierbare
und qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung in
Deutschland gewährleisten. Wie Sie wissen, ist das Gesundheitswesen, gerade auch im Bereich der Finanzierung, hochkomplex. Ich möchte deshalb die wesentlichen Verbesserungen im Bereich der Finanzierung, die
wir mit diesem Gesetz anstreben, unterstreichen.
Die bisherige Situation, dass viele Krankenkassen
aufgrund ihrer Rücklagen darauf verzichten konnten,
Zusatzbeiträge zu erheben, hat in meinen Augen zu einer
überzogenen Ausprägung des Preiswettbewerbs geführt.
Es ist notwendig, dass die Zusatzbeiträge tatsächlich erhoben werden. Der allgemeine, paritätisch finanzierte
Beitragssatz wird bei 14,6 Prozent festgesetzt, und der
Arbeitgeberanteil bleibt bei 7,3 Prozent gesetzlich festgeschrieben. Die Entkoppelung der Lohnzusatzkosten
von den Gesundheitsausgaben bleibt somit bestehen.
Der Preiswettbewerb wird auf der Ebene der Höhe
des Zusatzbeitrags geführt, und kommt damit weg von
der Frage, ob überhaupt ein Zusatzbeitrag erhoben wird.
Die Krankenkassenmitglieder haben dann das Recht, unkompliziert in eine günstigere Krankenkasse zu wechseln. Dafür erhalten sie ein Sonderkündigungsrecht.
({0})
Wir rechnen damit, dass die damit einhergehende
Stärkung der Beitragsautonomie der Krankenkassen in
2015 für viele Bürgerinnen und Bürger zu Entlastungen
führen wird. Das Bundesministerium für Gesundheit
geht davon aus, dass etwa 20 Millionen Mitglieder bei
Krankenkassen versichert sind, die in 2015 mit einem
Zusatzbeitrag von unter 0,9 Prozent auskommen könnten.
({1})
Die Einkommensumverteilung bei den Zusatzbeiträgen wird künftig innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung organisiert. Ein Sozialausgleich und damit
verbundene Mehrbelastungen des Bundeshaushalts werden nicht mehr erforderlich sein. Ich erwähnte bereits,
dass Finanzierungsaufgaben und -fragen im Gesundheitswesen hochkomplex sind. Aus diesem Grunde ist es
wichtig, dass wir die praktischen Entwicklungen im Finanzierungssystem stets beobachten und gegebenenfalls,
wenn notwendig, natürlich auch korrigieren.
Herr Kollege, darf die Kollegin Vogler Ihnen eine
Zwischenfrage stellen?
Bitte.
Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. - Nachdem Sie gerade noch einmal die
Zahl von 20 Millionen Versicherten wiederholt haben,
die angeblich in Kürze einen geringeren Beitrag zahlen,
als sie das jetzt tun, würde ich gerne wissen, woher - abgesehen von der Website des Bundesministeriums - Sie
diese Informationen haben und mit welchem Hintergrund Sie diese Informationen hier verbreiten. Wie gesagt: Wir wissen es noch nicht. Wir haben keine erhärteten Zahlen. Nach unserer Information haben erst sieben
Kassen angekündigt, einen Zusatzbeitrag unterhalb des
jetzigen Satzes von 0,9 Prozent zu erheben. Von daher
frage ich mich, wie Sie auf diese optimistische Schätzung kommen, zumal ja dann im Gesundheitsfonds die
Mittel, die durch die Haushaltskürzungen von Herrn
Schäuble wegfallen, fehlen werden.
Das ist mit Sicherheit eine optimistische Prognose; da
gebe ich Ihnen recht. Ich gehe aber davon aus, dass sich
auch andere Kassen noch beteiligen werden. Deshalb,
glaube ich, ist diese Prognose mit Sicherheit realistisch.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte jetzt
aber auf das Thema Qualität zu sprechen kommen, das
natürlich oft in einem gewissen Spannungsverhältnis zur
Wirtschaftlichkeit des Gesundheitswesens steht.
Ähnliches gilt natürlich für den vorhin schon erwähnten Morbi-RSA. Mit diesem Gesetzentwurf streben wir
eine Verbesserung der Zielgenauigkeit der Zuweisungen
in den Bereichen des Krankengelds und der Auslandsversicherungen an. Der Finanzausgleich wies bisher
technische Ungenauigkeiten auf, die im Rahmen einer
zukunftsorientierten und nachhaltigen Gesundheitspolitik dieser Koalition korrigiert werden. Mit diesem Gesetzentwurf wird eine ausgezeichnete Weiterentwicklung der Finanzierung der GKV angegangen und
ermöglicht.
Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich
komme nun auf die zweite Säule des GKV-FQWG zu
sprechen. Es umfasst als wesentlichen Teil auch den Bereich der Qualitätssicherung. Im Gesetzentwurf ist dementsprechend auch ein Abschnitt vorhanden, nach dem
ein Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im
Gesundheitswesen etabliert werden soll. Durch den
heute diskutierten Gesetzentwurf erhält dieses so wichtige Thema der Qualität nun endlich die Aufmerksamkeit und den Stellenwert, die ihm in meinen Augen
schon lange zustehen.
Einen der Schwerpunkte des Koalitionsvertrages bildet die Verbesserung der Qualität in der medizinischen
Versorgung. Zur Stärkung der Qualitätssicherung der
Gesundheitsversorgung soll der Gemeinsame Bundesausschuss verpflichtet werden, ein fachlich unabhängiges wissenschaftliches Institut für Qualitätssicherung
und Transparenz im Gesundheitswesen zu gründen.
Die Aufgabe des Instituts soll es sein, sich wissenschaftlich mit der Ermittlung und Weiterentwicklung der
Versorgungsqualität zu befassen. Es soll dem Gemeinsamen Bundesausschuss die notwendigen Entscheidungsgrundlagen für die von ihm zu gestaltenden Maßnahmen
der Qualitätssicherung liefern. Darüber hinaus sollen die
Ergebnisse der Qualitätssicherungsmaßnahmen in geeigneter Weise und in einer für die Allgemeinheit - ich
glaube, das ist wichtig - verständlichen Form veröffentlicht werden. Dadurch werden eine wissenschaftliche
Grundlage für die Qualitätssicherung und mehr Transparenz im Gesundheitswesen geschaffen.
Im Mittelpunkt soll hier vor allem die Qualitätssicherung im ambulanten wie auch im stationären Bereich stehen. Unbestritten leisten die Krankenhäuser mit ihren
Beschäftigten einen unverzichtbaren Beitrag zu einer
qualitativ hochwertigen medizinischen Versorgung der
Menschen hier in unserem Land. Die Krankenhäuser
sind damit eine tragende Säule des deutschen Gesundheitswesens. Die Hilfspakete zu ihrer finanziellen Unterstützung in der letzten Legislaturperiode lassen erkennen,
dass seitens der Unionsparteien einer soliden Krankenhausversorgung schon immer ein hoher Stellenwert beigemessen wurde. Daher ist es aus meiner Sicht nur richtig und wichtig, diesen Weg weiterzugehen und unser
Gesundheitssystem auf diesem Gebiet weiterzuentwickeln.
({1})
Die DRG-Fallpauschalen, die im Jahr 2003 in
Deutschland eingeführt wurden, haben zu mehr Wirtschaftlichkeit im Krankenhaussektor beigetragen. Dies
ist grundsätzlich eine Entwicklung, die zu begrüßen ist.
Wir müssen uns aber zugleich die Frage stellen, wie wir
in einigen Fällen - ich betone hier bewusst „in einigen“
und sage nicht „in allen“ - mit dem Spagat zwischen
Wirtschaftlichkeit und Qualität der medizinischen Behandlung umgehen. Daher ist es auch wichtig, Anreize
für eine in gleichen Maßen wirtschaftliche sowie qualitätsorientierte Versorgung zu setzen. Dies sollte jedoch
nicht darüber hinwegtäuschen, dass bereits heute Maßnahmen zur Qualitätssicherung existieren, die allerdings
weiter ausgebaut werden müssen. Für Krankenhäuser
gilt beispielsweise seit 2005 gesetzlich verpflichtend,
dass die gesammelten Qualitätsdaten in entsprechenden
Berichten veröffentlicht werden müssen, die den Versicherten und Patienten als Orientierungshilfe dienen sollen.
Ein weiterer Schritt in diese Richtung ist die künftige
Schaffung des genannten Qualitätsinstituts durch den
Gemeinsamen Bundesausschuss. Dieses Institut soll nun
dafür sorgen, dass die Qualität im Gesundheitswesen
endlich messbar und vergleichbar wird. Das System der
Qualitätsmessung muss transparent sein, und seine Umsetzung darf nicht an Interessen verschiedener Akteure
sowie an irgendwelchen sonstigen Rahmenbedingungen
scheitern.
Selbstverständlich muss sich gute Qualität - und
diese wollen wir - auch für Krankenhäuser lohnen.
({2})
So muss in Zukunft aus meiner Sicht ein Anreizsystem geschaffen werden, das qualitativ gute Häuser
stärkt. Zugleich müssen wir aber auch sicherstellen, dass
die Diagnose- und Therapiefreiheit nicht eingeschränkt
wird. Es ist notwendig, dass auch in Zukunft jeder medizinische Vorgang individuell auf den Patienten abgestimmt ist und er nach bestem Wissen und Gewissen des
versorgenden Arztes behandelt wird. Eine freie Arztund Krankenhauswahl muss auch in Zukunft gewährleistet bleiben. Dieses sind die Grundvoraussetzungen für
ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen dem Patienten
und seinem behandelnden Arzt.
Sehr geehrte Damen und Herren, ich bin mir sicher,
dass der vorliegende Gesetzentwurf neben den wichtigen
Reformen im Bereich der GKV-Finanzierung auch einen
wichtigen und richtigen Schritt in die Richtung einer
qualitativ besseren Versorgung darstellt.
In diesem Sinne: Herzlichen Dank.
({3})
Nun hat die Kollegin Kühn-Mengel für die SPDFraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte noch einiges ausführen zum Institut
für Qualitätssicherung und Transparenz. Dadurch wird
meiner Meinung nach die Versorgungslandschaft in
Deutschland in erheblicher Weise beeinflusst und zumindest langfristig verbessert. Ich danke dem Kollegen
Terpe für seine Aussagen hierzu und auch überhaupt für
seine ausgewogene Kommentierung des Gesetzentwurfs.
({0})
Die westfälische Weisheit, Frau Vogler, von der Sau,
die vom Wiegen nicht fett wird, hat mich in den zurückliegenden Minuten beschäftigt, und ich kann dieser
Weisheit bedingungslos zustimmen.
({1})
Ich will zunächst betonen, dass wir sehr viel Geld im
System haben. Wir sprechen nicht über ein System, bei
dem es an allen Ecken und Enden knapp ist. Wir haben
viel Geld im System, aber es kommt nicht immer dazu,
dass am Ende auch Qualität gegeben ist. Ich sage: Die
Nichtqualität kostet auch.
({2})
In vielen Krankenhäusern wurde die Zahl der Ärzte
und Ärztinnen aufgestockt und die Zahl der Pflegekräfte
abgebaut.
({3})
Es gibt viele Krankenhäuser - auch das ist eine Wahrheit -, die Überschüsse erwirtschaften, diese aber lieber
auszahlen, als in Qualität und Personal zu investieren.
Sie finden für alles eine Weisheit und eine Wahrheit. Das
ist das Problem.
Das geplante Institut wird nicht nur Patienteninformationen und Patientenkompetenz stärken. Es wird auch
nicht nur die in § 137 a SGB V bereits vorgegebenen
Aufgaben wahrnehmen, nämlich Indikatoren und entsprechende Instrumente für die Messung von Qualität zu
suchen und zu entwickeln. Es wird auch neue Aufgaben
bekommen: den Krankenhausvergleich im Internet, die
Qualitätsmessung und die Qualitätsdarstellung der ambulanten und vor allem der stationären Versorgung auf
der Basis von Sozialdaten. Natürlich kann man neben
den Daten der Krankenkassen auch die der Kassenärztlichen Vereinigungen nehmen. Das ist auch vorgesehen.
Es wird des Weiteren eine öffentliche Bewertung von
Zertifizierungen und Qualitätsaussagen geben. Das halte
ich für sehr wichtig. Was da zum Teil an den Wänden
hängt, ist den Rahmen nicht wert. Sowohl ich als auch
die Kolleginnen und Kollegen wissen, welches Krankenhaus in der jeweils eigenen Region gut ist und für welches sich Patienten und Patientinnen bei Operationen
entscheiden sollten. Das wissen aber noch längst nicht
alle Nutzer und Nutzerinnen des Systems. Deswegen
wird das Qualitätsinstitut diese Informationen in verständlicher Sprache - dies ist ein wichtiger Punkt für Patienten und Patientinnen - veröffentlichen.
Natürlich, Kollege Terpe, ist es wichtig, Vertreter von
Patientenorganisationen, denen wir viel zu verdanken
haben, im Vorstand und im Stiftungsbeirat zu verankern.
Ich meine, bei der Beauftragung und bei bestimmten
Aufträgen sollte dieses Experten- und Expertinnenwissen genutzt werden.
({4})
- Ich mache immer zu wenig Pausen für den Applaus,
sagt mein Büro.
({5})
- Danke.
Das Ganze hat eine Vorgeschichte. Wir hatten strukturierte Behandlungsprogramme, die zum ersten Mal die
Qualität und das Miteinander von ambulanter und stationärer Behandlung gegen enormen Widerstand definiert
haben. Wir hatten die BQS, die uns Zahlen zu den Auffälligkeiten in der Endoprothetik, bei Bypassoperationen
und bei Krebsoperationen gegeben hat. Wir hatten als
dritte Bank - sie ist in Sachen Qualität unentbehrlich die Unterstützung der Selbsthilfe, des Patientenbeauftragten sowie des Aktionsbündnisses Patientensicherheit, das deutlich gemacht hat, dass zum Beispiel Seitenverwechslungen selten vorkommen, aber es trotzdem zu
ein paar Hundert dieser extremen Fälle kommt. Sie haben Prozeduren für Operationen entwickelt. All das ist
ganz wichtig.
Wenn das WIdO zum Beispiel deutlich macht, dass es
in der Krankenhauslandschaft 1 Prozent Behandlungsfehler gibt, dann sagen manche: 1 Prozent ist wenig. In
Zahlen ausgedrückt sind das 190 000 Fälle, und diese
Zahl finde ich dann schon beeindruckend. Es gibt
Schicksalhaftes, es gibt Vermeidbares, es gibt Unnötiges, das im Krankenhaus passiert. Darüber muss man reden. Man muss sichere Daten gewinnen und nach ihrer
Auswertung die Landschaft verändern. Ich sage noch
einmal: Das hat nicht nur mit der Menge des Geldes,
sondern auch mit der Verteilung des Geldes zu tun. Damit will ich nicht sagen, dass man nicht hier und da aufstocken muss.
Die Zahlen von WIdO und anderen Instituten, denen
wir viel zu verdanken haben und deren Wissen man nutzen muss, sind schon erschreckend, zum Beispiel die
Auffälligkeiten bei der Versorgung mit Herzschrittmachern, aber auch bei den Hüftoperationen, bei denen es
bei 7,4 Prozent der Patienten der AOK 2012 zu Komplikationen oder Revisionen kam. In Zahlen heißt das: Es
handelte sich um 11 000 Patienten, und 6 000 mussten
neu operiert werden. Ich finde, dass das eine beeindruckende Zahl ist. Ich könnte diese Reihe fortsetzen.
Warum ist die Zahl der Operationen zwischen 2005
und 2011 überhaupt so sehr gestiegen, nämlich um mehr
als ein Viertel, von gut 12 Millionen Operationen im
Jahr 2005 auf über 15 Millionen Operationen im Jahr
2011? Im gleichen Zeitraum, 2005 bis 2011, gab es eine
Verdoppelung der Zahl der Wirbelsäulenoperationen.
Das ist doch nicht nur mit der Demografie zu erklären;
da kann man den Eindruck haben, dass nicht in allen
Krankenhäusern nur aufgrund medizinischer Erkenntnisse operiert wird.
Ich erinnere auch an eine kleine, aber doch sehr nette
Studie, die es vor vielen Jahren einmal gab: Sie stellte
dar, dass es unter den Frauen von Anwälten und von
Ärzten weniger Gallenblasenoperationen gibt. Ich war
damals sehr beeindruckt.
({6})
Es ist wichtig, dass wir die Daten aus dem ambulanten Bereich -
Ein sicher hochinteressanter Aspekt, Frau Kollegin,
der aber nicht mehr im Einzelnen entfaltet werden kann.
Ich komme zum Schluss. - Wir müssen die Patientensouveränität und die Patientenkompetenz stärken, auch
bei der UPD. Wir werden dafür sorgen, dass dieses Erfolgsprojekt unterstützt wird.
Ich danke Ihnen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben jetzt fast
genau das Ende der vereinbarten Debattenzeit erreicht,
aber es gibt noch drei Redner. Deswegen bitte ich um
Nachsicht, dass ich keine Zwischenfragen mehr zulassen
möchte.
Der nächste Redner ist der Kollege Dietrich Monstadt
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren!
Wenn man über das GKV-Finanzstruktur- und QualitätsWeiterentwicklungsgesetz debattiert, muss man sich in
Erinnerung rufen, woher wir kommen: Ich sitze seit
2009 im Deutschen Bundestag. Eine der ersten schwierigen Situationen als Abgeordneter im Gesundheitsausschuss war, dass uns für das Jahr 2010 ein Defizit von
circa 10 Milliarden Euro in der GKV bevorstand. Aktuell können wir dagegen - Herr Minister Gröhe und einige andere Vorredner haben darauf hingewiesen - auf
ein solides, ausfinanziertes und sich auf große Reserven
stützendes Gesundheitssystem zurückgreifen.
Die aktuellen Zahlen besagen, meine Damen und
Herren, dass die Liquiditätsreserven des Gesundheitsfonds auf 13,6 Milliarden Euro angewachsen sind und
sich die der Krankenkassen auf circa 18 Milliarden Euro
addieren; das sind insgesamt über 30 Milliarden Euro.
Das bedeutet im Vergleich zu den Prognosen des Jahres
2009 eine Differenz von mehr als 40 Milliarden Euro.
Dies ist allein darauf zurückzuführen, dass die Union mit
ihren Partnern richtige Politik gemacht hat, sowohl in
Form der strukturellen Änderungen im Gesundheitssystem als auch durch eine hervorragende Wirtschaftspolitik, die zu weniger Arbeitslosen, höheren Steuereinnahmen und einer höheren Beschäftigung geführt hat.
({0})
In diesem Jahr werden voraussichtlich 42,1 Millionen
Menschen einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Das sind
so viele Beschäftigte wie nie zuvor. Die kluge Politik der
CDU/CSU-geführten Bundesregierung mit Angela Merkel
an der Spitze hat Deutschland auf diese Erfolgsspur gebracht, auf die wir mit Recht stolz sein können.
({1})
Wir verfügen über ein hervorragendes solidarisches
Gesundheitssystem, um das uns viele beneiden. Nicht
nur heute, sondern vor allem auch in Zukunft muss die
Versorgung von qualitativ hochwertigen und an den Bedürfnissen der Patientinnen und Patienten ausgerichteten
Leistungen sichergestellt werden. Mit dem heute zu beratenden Gesetzentwurf wird die erfolgreiche Politik gerade in diesem Bereich fortgesetzt.
Wir wollen - im Gegensatz zu Ihnen, meine Damen
und Herren von der Opposition - auch mit diesem Gesetzgebungsverfahren Arbeit und Wachstum weiter fördern und neue Arbeitsplätze schaffen und sichern.
({2})
Dazu müssen die Gesundheits- von den Arbeitskosten
getrennt werden. Wir können nicht permanent - wie Sie
das gerne täten, Herr Kollege Weinberg - grenzenlos an
der Beitragsschraube drehen.
({3})
Mit dem GKV-Finanzierungskonzept kann künftig
jede Kasse einen einkommensabhängigen Zusatzbeitrag
erheben. Die Versicherten erhalten damit ein klares Preissignal. Die Krankenkassen stehen jetzt in der Pflicht, im
Wettbewerb um Versicherte eine qualitativ gute Versorgung anzubieten. Durch effizientes Wirtschaften müssen
die Kassen ihre Zusatzbeiträge so gering wie möglich
halten, um Versicherte nicht an Mitbewerber zu verlieren.
Der vorliegende Gesetzentwurf bringt uns einen großen Schritt weiter in Richtung Bürokratieabbau: durch
Abschaffung des Sozialausgleichs, durch Abführung der
Zusatzbeiträge im Quellenabzug, durch Wegfall der
Prüfung von Jobcentern und Kassen, ob eine Familienversicherung durchzuführen ist, und durch Wegfall der
aufwendigen Berechnung des Kranken- und Pflegeversicherungsbeitrages. Dadurch wird sich der Verwaltungsaufwand für viele Beteiligte erheblich reduzieren.
Meine Damen und Herren, mit dem Gesetz wollen
wir auch die Transparenz und Qualität der medizinischen Versorgung weiter in den Mittelpunkt rücken. Patientinnen und Patienten müssen sich darauf verlassen
können, dass sowohl ambulant als auch stationär eine
hohe Qualität der Behandlung gewährleistet wird.
Durch die Verabschiedung des Patientenrechtegesetzes im Februar 2013 haben wir es geschafft, viele Patientinnen und Patienten zu sensibilisieren und zu motivieren, ihre eigenen Rechte besser wahrzunehmen, vor
allen Dingen dann, wenn die Behandlung nicht so ausgefallen ist, wie man es selbst erwartet hätte oder nach objektiven Kriterien hätte erwarten dürfen.
Wir brauchen aber auch verlässliche Kriterien, an denen sich die Qualität von Therapien und Diagnosen messen lässt. Diese Kriterien sollen künftig durch ein neues
Qualitätsinstitut entwickelt werden, um auf dieser Basis
vorhandene Defizite erkennen und beseitigen zu können.
Von daher ist die Einrichtung dieses Qualitätsinstitutes
die logische Weiterentwicklung der besseren und umfassenderen Ausgestaltung der Rechte für Patientinnen und
Patienten. Damit wäre es erstmalig möglich, dass alle
notwendigen Daten zur Qualitätssicherung zusammengeführt, ausgewertet und veröffentlicht werden können.
Wenn wir es dann noch schaffen, die Leistung in guter
Qualität auch besser zu bezahlen, können wir einen entscheidenden Schritt weiterkommen.
Wir stehen für ein gerechtes, soziales, stabiles, wettbewerbliches und transparentes Gesundheitssystem. Wir
setzen auf eine weiterhin qualitativ hochwertige Versorgung und effizientes Wirtschaften der Kassen. Mit dem
GKV-Finanzierungsgesetz können wir den Herausforderungen in Form von demografischer Alterung, medizinisch-technischem Fortschritt und wachsenden Kosten
begegnen und gleichzeitig allen Versicherten den Zugang zu hochwertigen Leistungen erhalten. Ich werbe
deshalb um Ihre Zustimmung.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort erhält nun die Kollegin Hilde Mattheis für
die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte zu Beginn meiner Ausführungen auf die Darstellung des Herrn Minister Gröhe eingehen. Bei diesem
Thema stimmen wir ihm sicherlich alle zu, egal wo in
diesem Haus wir sitzen. Ich verweise auf die Debatten,
die wir darüber in den letzten Monaten in unseren Wahlkreisbüros geführt haben, und die zahlreichen Briefe, die
wir dazu auf unseren Schreibtischen vorgefunden haben.
Es geht um die Hebammen.
Ich glaube, dass viel erreicht ist, wenn wir das hinbekommen, was der Herr Minister in seiner Rede heute
ausgeführt hat. In diesem Gesetz wollen wir an drei
Punkten festschreiben, dass wir eine Lösung für die Hebammen anstreben, und hinsichtlich des vierten Punktes,
der durchaus umstritten ist, nehmen wir uns eine Prüfung
vor. Ich glaube, das ist ein wichtiger Schritt, um einer
Berufsgruppe zu helfen, die zwar zahlenmäßig sehr klein
ist, die aber sehr stark auftritt und im öffentlichen, gesellschaftlichen Bewusstsein verankert ist. Vor allen
Dingen sichern wir damit die Wahlfreiheit der Frauen
während der Schwangerschaft und hinsichtlich der Geburtssituation. Dabei hoffen wir sehr auf Ihre Unterstützung.
({0})
Damit meine ich Sie von den Linken und Sie von den
Grünen.
({1})
Wir nähern uns einer optimalen Lösung an. Keiner
von uns in diesem Haus sagt: Ich habe die optimale Lösung. Wir streben diese Lösung an, und in drei Punkten
bekommen wir das ja auch hin. Ich verweise dazu auf
die Qualitätsstandards und auf die Datensammlung. Das
ist meine Überleitung zu dem Gesetzentwurf - GKVFQWG -, den wir heute in erster Lesung beraten. Ich
will die Position der SPD dazu gerne zusammenfassend
noch einmal darstellen.
Zunächst möchte ich aber feststellen, dass man dieser
Koalition Untätigkeit wirklich nicht vorwerfen kann. Innerhalb weniger Monate haben wir einen zweiten Gesetzentwurf vorgelegt, der im Prinzip eine wichtige
Grundlage für die weiteren Vorhaben schafft, auf die wir
uns in dieser Koalition verständigt haben. Ich glaube,
man sollte nichts vermischen, sondern ganz pragmatisch
und fachlich argumentieren und den Blick auf das richten, was wir hier vorlegen.
({2})
Es geht um das Qualitätsinstitut, Frau Klein-Schmeink.
In diesem Zusammenhang darf man nicht unterschlagen
- damit spreche ich insbesondere Sie, Frau Vogler, an -,
dass wir in der Koalition vereinbart haben, dass es im
nächsten Schritt auch um die Krankenhausfinanzierung
geht. Dafür brauchen wir aber eine ordentliche Grundlage. Wir haben eine Menge Daten - das wissen wir; das
hat meine Kollegin Kühn-Mengel ausgeführt -, aber die
müssen gebündelt, vernetzt und ausgewertet werden.
Dabei wünsche ich mir eine inhaltliche, fachliche, positive Begleitung durch die Opposition. Es wäre schön,
wenn die Oppositionsfraktion Die Linke nicht reflexhaft
immer alles ablehnen würde; denn es geht darum, die
Krankenhausfinanzierung so zu gestalten, dass gute
Qualität belohnt und schlechte Qualität nicht belohnt
wird. Ich hoffe sehr, dass wir diese Diskussion gemeinsam gestalten können.
({3})
Das Qualitätsinstitut ist für uns also eine wichtige
Grundlage für weitere Gesetzgebungsvorhaben.
Gerne gehe ich auch auf die Wettbewerbsfähigkeit in
unserem System ein. Wer Wettbewerbsfähigkeit will,
muss für eine ungefähr gleiche Ausgangsposition, für einigermaßen gleiche Augenhöhe sorgen. Durch den finanziellen Ausgleich beim Krankengeld - dazu hat Frau
Dittmar ausgeführt - sorgen wir dafür, dass die Ausgangsposition für einen Wettbewerb einigermaßen gleich
ist.
({4})
Ich hoffe sehr, dass dadurch diejenigen, die jetzt bevorzugt sind, von ihrem Vorteil etwas verlieren und diejenigen, die benachteiligt sind, von dieser Benachteiligung
ein Stück weit wegkommen. Ich bitte an diesem Punkt
um Ihre Unterstützung. Vielen Dank.
({5})
Ich komme zum Thema Finanzierung. Beim Thema
Finanzierung hat man gesagt, die SPD sei diejenige, die
sich verstecken müsse bzw. wenig erreicht habe.
({6})
Ich will hier jetzt nichts aus Hinter-den-Kulissen-Gesprächen ausplaudern, aber ich habe den Eindruck, dass
sich Herr Spahn da immer anders anhört. Ich bitte Sie,
sich das genau anzuschauen. Nicht alles gefällt uns, Frau
Klein-Schmeink. In manchen Punkten wünschen wir uns
mehr, zum Beispiel eine Verstetigung des Steuerzuschusses. Sie wissen: Unsere Idee der Bürgerversicherung ist eine Idee, die uns trägt.
({7})
Davon gehen wir nicht ab. Das können Sie in jeder Debatte standardmäßig von mir hören. Die Idee einer Bürgerversicherung ist die Idee der SPD, und diese Bürgerversicherung wollen wir.
({8})
Ich frage Sie, was gerechter ist: eine Pauschale oder
ein einkommensabhängiger Beitrag? Ich hätte ganz
gerne Ihre Antwort darauf. Ich glaube, die Antwort fällt
unisono aus: der einkommensabhängige Beitrag.
({9})
Ich glaube, dass wir im Gesetzgebungsverfahren
- das soll mein Schlusswort sein - über viele der Punkte,
die wir hier jetzt vorgelegt haben, noch einmal heftig debattieren werden. Ich bin sicher, dass unsere Argumente
auch Sie überzeugen können, dass wir hier einen wichtigen Schritt hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit machen.
Ich sage nicht, dass es ein riesiger Schritt ist, aber es ist
ein Schritt.
Ich gehe davon aus, dass das Gesetzgebungsverfahren
nach dem guten alten Struck’schen Gesetz laufen wird:
Kein Gesetz kommt so aus dem Parlament, wie es hineingegangen ist. An dem einen oder anderen Punkt - ich
nenne da gerne die UPD - möchten wir noch einmal
nachlegen. Ich wünsche mir eine breite Unterstützung
dafür.
({10})
Denn es geht uns um die Sache: um Qualität in einem
Versorgungssystem, das allen zugänglich ist.
Ich danke fürs Zuhören.
({11})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Thomas Stritzl für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Mit der Vorlage des Gesetzentwurfes hat
unser Bundesgesundheitsminister zwei Dinge auf den
Weg gebracht: Er macht das GKV-System a) im Bereich
der Finanzierung zukunftssicherer und b) im Rahmen
der neutral bewerteten Qualität auch für die Versicherten
- darauf kommt es ja an - nachvollziehbarer und ein
Stück vertrauenswürdiger. Es ist der zweite Gesetzentwurf der Regierung aus diesem Haus. Das will ich dazu
sagen; denn ab und zu kann man lesen - teilweise gibt es
diese verfehlte Kritik auch aus der Opposition -, in dieser Regierung passiere nichts. Hier passiert, glaube ich,
mehr, als andere sich wünschen.
({0})
- Ich bedanke mich für Ihre Zustimmung. - Der gesetzliche Beitrag wird um 0,9 Prozentpunkte auf 14,6 Prozent
gesenkt. Das sind immerhin 10,4 Milliarden Euro. Das
ist ein erheblicher Gestaltungsspielraum, der sich natürlich in der einen oder anderen Situation durch Zusatzbeiträge wieder anders darstellen wird. Das werden wir im
Herbst sehen, wenn der Schätzerkreis den durchschnittlichen Wert für Zusatzbeiträge ermitteln wird. Das ist für
mich übrigens kein Momentum - das möchte ich sehr
klar sagen -, um die Diskussion über die Bürgerversicherung wieder neu aufzuziehen. Denn allein dadurch,
dass Sie versuchen, neue Finanzquellen zu entdecken,
werden Sie den Grundlagen der GKV, Qualität und
Finanzierbarkeit, nicht gerecht.
({1})
Ich will darauf hinweisen, dass wir das System nur
werden erhalten können, wenn es möglich wird, mit einer florierenden Wirtschaft die Beiträge zu erwirtschaften, die wir später verteilen wollen. Es wird leicht
vergessen, dass dies offensichtlich nicht der Fall ist.
Manchen Vorschlägen sollte daher nicht gefolgt werden.
Mir ist vorhin auch schon bei den Linken aufgefallen,
dass sie nur die Frage der Finanzierung in den Vordergrund gestellt und gesagt haben, es sei nicht hinreichend
paritätisch finanziert. Das kann ich nicht erkennen. Immerhin werden die 14,6 Prozent zu gleichen Teilen von
Arbeitgebern und Arbeitnehmern finanziert. Ich glaube,
das ist ein wichtiger Punkt.
Die Frage der Zusatzfinanzierung ist eine Frage des
Wettbewerbs, in den wir die Kassen bewusst stellen wollen. Auf der einen Seite geht es um die Finanzierung, das
heißt die Kostenlast, und auf der anderen Seite um einen
Abgleich und eine Bewertung der Qualität, die man einkauft.
({2})
Das, glaube ich, dürfen wir demjenigen, den wir gut versichern wollen, dem wir gute medizinische Leistungen
garantieren wollen, doch nicht nehmen. Er muss sich
doch ein Urteil darüber bilden können dürfen, zu welchem Preis er sich wo versichern will. Insofern halte ich
auch diese Systematik im Ergebnis für sachgerecht. Sie
schützt - darauf hat der Minister hingewiesen - im Übrigen auch die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Ohne diese Wettbewerbsfähigkeit im internationalen Bereich wäre vieles in unserem Land, wie Herr
Spahn gesagt hat, gar nicht leistbar. Insofern, glaube ich,
ist auch hier bei der Kritik Augenmaß angebracht.
({3})
Lassen Sie mich etwas zu einem Kritikpunkt sagen,
den ich vorhin gehört habe. Es hieß gewissermaßen, an
Kliniken werde nicht hinreichend gute Arbeit geleistet.
Das wurde dann mit dem Kostendruck in den Kliniken
begründet. Seitens der Linken wurde vorhin mit Begriffen wie „Outsourcing“ hantiert. Ich glaube nicht, dass
Sie den Menschen, die bei Firmen arbeiten, die ihre
Dienstleistungen in Krankenhäusern erbringen, zum
Beispiel Reinigungskräften, gerecht werden, wenn Sie
sagen: Weil diese Menschen dorthin outgesourct wurden, leisten sie schlechtere Arbeit. - Ich glaube, man
sollte dankbar sein, dass die Damen und Herren, die in
Krankenhäusern arbeiten, egal in welchem Rechtsverhältnis sie zum Krankenhaus stehen, gute bzw. ihre bestmögliche Leistung erbringen. Ich denke, dass man auch
das einmal sagen darf.
({4})
Die Wirtschaftlichkeit schadet insofern nicht grundsätzlich der Qualität. Aber sie muss natürlich immer
auch ein Stück an ihr gemessen werden. Insofern sind
wir, glaube ich, gefordert - das ist das, was der Minister
gesagt hat -, im Rahmen einer neutralen Bewertung die
Leistungen bzw. den Output von Krankenhäusern zu bewerten. Die Ergebnisse dieser Bewertung müssen wir
dann allerdings auch so kundtun, dass derjenige, auf den
wir abzielen - sprich: der Konsument der Krankenhausleistung -, sie verstehen kann, will sagen: Wir müssen
sie den Versicherten in verständlichem Deutsch und in
allgemein verfügbarer Form zugänglich machen, damit
sie im Vorfeld einer teilweise existenziellen Entscheidung für sich entscheiden können, welches Leistungsangebot sie wo in Anspruch nehmen wollen.
Wenn man sich den Gesetzentwurf des Hauses, den
uns der Minister heute vorgelegt hat, ansieht, dann kann
man, glaube ich, sagen: Er sichert die Zukunftsfähigkeit
eines von uns gewünschten Systems, er sichert die
Finanzierbarkeit bzw. stärkt sie, und er gibt einen besseren Einblick in das Werte- bzw. Bewertungssystem, gibt
also Auskunft über die Qualität. Das sind zwei wichtige
Faktoren, die für die Zukunft dieses Systems von besonderer Bedeutung sind, auch deshalb, weil sie in der Versicherungslandschaft den mündigen Bürger in den Mittelpunkt stellen. Deshalb halte ich den Gesetzentwurf für
einen gelungenen Wurf. Dafür möchte ich dem Hause
ganz herzlich danken.
Vielen Dank.
({5})
Herr Kollege, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten
Rede im Deutschen Bundestag und verbinde das mit allen guten Wünschen für die weitere parlamentarische
Arbeit.
({0})
Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell
wird die Überweisung des Gesetzentwurfes auf der
Drucksache 18/1307 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu andere
Vorschläge? - Die kann ich nicht erkennen. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Vereinbarte Debatte
10 Jahre „EU-Osterweiterung“
Auch hier ist interfraktionell eine Aussprachezeit von
96 Minuten vorgesehen. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch, sodass wir so verfahren können.
({1})
Präsident Dr. Norbert Lammert
- Sobald die unvermeidlichen Fluchtbewegungen zu einem geordneten Ende gekommen sind, eröffne ich die
Aussprache.
Ich erteile das Wort dem Bundesminister des Auswärtigen, dem ich an dieser Stelle - unabhängig von dem
Tagesordnungspunkt, zu dem er heute Stellung nehmen
soll und wird - sicher im Namen des ganzen Hauses für
seine Bemühungen auf einer anderen Baustelle herzlich
danken und unseren Respekt zum Ausdruck bringen
möchte.
({2})
Herr Präsident, dafür ganz herzlichen Dank!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist kein Zufall:
Heute auf den Tag genau vor 64 Jahren hielt der französische Außenminister Robert Schuman eine wegweisende Rede über das Zusammenwachsen der europäischen Interessen, eine Rede über die Vision eines
vereinten Europas. Wahrscheinlich kam das den Menschen zu dieser Zeit sehr weit weg vor. Damals, nur fünf
Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, steckte
die Welt schon wieder in einem neuen Konflikt, im Kalten Krieg, und in der Not der Nachkriegszeit konnten
viele am eigenen Leib den Riss erfahren, der durch dieses Europa ging. Die Berlin-Blockade lag gerade erst ein
Jahr zurück. Der Westen Deutschlands ächzte unter dem
Zustrom von Millionen von Menschen aus den Ostgebieten. Im Osten erlebte man die Ausplünderung der Industrielandschaft. Wer in Europa mag damals, vor 64 Jahren, den Worten Schumans von der Vereinigung der
europäischen Nationen wirklich Hoffnung geschenkt haben?
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, so viel oder
wenig Hoffnung die Menschen damals hatten: Schumans
Hoffnung auf Europa ist uns gut bekommen. Wenn wir
heute zurückschauen, dann sehen wir: Nicht nur Schumans Hoffnung ist zum Leben erwacht, sondern auch die
Hoffnung ganz vieler Europäer auf ein Leben in Freiheit
und Frieden - für die, die damals nicht daran glauben
konnten oder nicht daran glauben durften.
Nicht einmal 30 Jahre nach Schumans Rede haben
wir diese Hoffnung wieder gesehen: in den Augen der
friedlichen Revolutionäre auf dem Prager Wenzelsplatz
oder den Danziger Werften. Wieder waren es mutige
Menschen, die möglich machten, wovon niemand zu
träumen gewagt hätte, die in Leipzig, in Berlin, in Rostock oder anderswo stückweise den Eisernen Vorhang
niederrissen und damit die Wiedervereinigung unseres
Kontinents erst möglich machten.
Diese historische Chance hat Europa, haben die Europäer miteinander ergriffen. Heute vor zehn Jahren, am
1. Mai 2004, überwand Europa jene Spaltung, die nicht
nur unseren Kontinent, sondern auch Millionen von Familiengeschichten jahrzehntelang geprägt hatte. Hätte
man nach zwei Weltkriegen und nach Jahrzehnten von
Spaltung und Misstrauen damit eigentlich noch rechnen
dürfen? Rational vielleicht nicht; doch die Hoffnung behielt am Ende recht, das Verbindende behielt die Oberhand über das Trennende. Das in Erinnerung zu rufen,
gerade in diesen Tagen, ist wichtig. Ich finde, dieser Gedanke kann uns Mut machen. Mit Blick auf die Leistung
derjenigen, die die europäische Wiedervereinigung möglich gemacht haben, darf ich gerade sagen: Wir dürfen
mit Blick auf den Mut dieser Vorgänger nicht resignieren
in der aktuellen Situation.
({0})
Vor zehn Jahren ist die Europäische Union nicht nur
größer geworden, sondern sie hat durch die Osterweiterung auch vieles hinzugewonnen: an Erfahrung, an Geschichte, an politischem Gewicht. Aber vor allem ist
Europa reicher geworden: reicher an Sprache, reicher an
Kultur, reicher an Ideen und auch an Lebensperspektiven. Deshalb sage ich: Diese Osterweiterung ist in vielerlei Hinsicht eine Erfolgsgeschichte. Dazu könnte man
eine ganze Reihe von Zahlen und Statistiken vortragen.
Ich könnte Ihnen berichten, dass zum Beispiel in Ungarn, Tschechien, der Slowakei und Polen die Kaufkraft
seit 2004 stetig gestiegen ist. Sie lag damals - Sie erinnern sich - bei weniger als der Hälfte des EU-Durchschnitts. Ich könnte Ihnen von Lettland berichten, das
am Anfang dieses Jahres den Euro gerade erst eingeführt
hat und heute mit 4 Prozent Wirtschaftswachstum Spitzenreiter in Europa ist. Ich könnte mit Blick auf unser eigenes Land zu all denjenigen, die vor zehn Jahren Horrorszenarien an die Wand gemalt haben, sagen, dass laut
DIHK Hunderttausende von neuen Jobs - manche sprechen sogar von bis zu 1 Million - in Deutschland durch
die Osterweiterung entstanden sind.
Aber es geht natürlich nicht nur um Zahlen. An einem
Tag wie heute sollten wir anerkennen, welche menschlichen Leistungen hinter diesem Erfolg stecken, wie viel
Kraft, wie viel Mut, wie viel Umstellung, wie viel Neuausrichtung - politisch-wirtschaftlich wie im Alltagsleben der Familien.
Dieser beharrliche gesellschaftliche Umbau in den
neuen Mitgliedstaaten von 2004, die politischen Veränderungen und auch die Rückschläge: Ich glaube, das ist
für Europa ein ganz unverzichtbarer Erfahrungsschatz,
gerade heute, wo es darum geht, Wahlen in der Ukraine
zu ermöglichen und das Land mit den Mitteln, die uns
zur Verfügung stehen, auf einen stabilen Weg zurückzuführen. Hier werden wir den Erfahrungsschatz dieser
osteuropäischen Länder, die die Umstellungen nach
2004 bewältigt haben, ganz dringend brauchen.
Das sage ich, obwohl ich weiß - wir haben erst kürzlich hier im Hohen Hause darüber debattiert -, dass dieser zehnte Jahrestag in Europa in verdammt schwierige
Zeiten fällt. Ich glaube zwar, dass wir den Tiefpunkt der
europäischen wirtschaftlichen Krise überwunden haben,
aber wir spüren ja miteinander, dass die politische Krise
im Innersten Europas weiterhin nagt. Das ist das eine.
Noch auffälliger ist aber: In der Außenpolitik sind wir
mit der schwersten Krise seit dem Ende des Kalten Krieges konfrontiert.
Das Vertrauen - ebenso wie die Zustimmung - in
Robert Schuman und seine Visionen hat ohne Zweifel einen Dämpfer erlitten - jedenfalls in der Wahrnehmung
ganz vieler.
In diesem Wahljahr 2014 - gerade im Augenblick werden die großen Problemstellungen der Europäischen
Union wie unter einem Brennglas sichtbar: Wie kann
Europas Wirtschaft wieder wachsen? Wie bekämpfen
wir die schockierend hohe Jugendarbeitslosigkeit? Wie
wird dieses Europa demokratischer und transparenter?
Wie sichern wir, dass Europa gerade in einer Phase der
außenpolitischen Herausforderungen tatsächlich zusammensteht?
Ich glaube, wir können gerade auch mit Blick auf die
letzten vier Jahre, die uns in diesem Haus unendlich
viele und auch kritische Debatten beschert haben, sagen:
Dieses europäische Haus steht fest und auch fester, als
viele geglaubt haben. Es hat sogar einigen schweren Unwettern getrotzt, auch wenn ich sage: Dieses europäische
Haus wird auf Sicht weiterhin eine Baustelle bleiben.
Nur einmal umgekehrt gefragt: Wie stünde dieses Europa heute eigentlich da, wenn wir in der ökonomischen
Krise nicht zusammengehalten hätten?
({1})
Wie stünden wir eigentlich da - das müssen wir uns in
Deutschland selbstkritisch fragen -, wenn wir dem Rat
derjenigen gefolgt wären, die quasi im Wochenabstand
vorgeschlagen haben, uns mal eben von dem einen oder
anderen südeuropäischen Land zu trennen? Würden wir
heute, da der Frieden in Europa bedroht ist, eigentlich
mit derselben Geschlossenheit auftreten können, wenn
wir damals dem Rat gefolgt wären und falsch gehandelt
hätten?
Heute, da totgeglaubte Geister im Osten Europas wiederauferstehen, muss Europa im Innersten zusammenstehen. Das gilt auch und gerade für die Beitrittsländer,
die von uns erwarten können, dass wir in Solidarität zu
ihnen stehen. Sie sind nämlich am 1. Mai 2004 einer Solidargemeinschaft und keiner bloßen Schönwetterunion
beigetreten.
({2})
Gemeinschaft heißt aber auch, dass wir nicht einfach
über Herausforderungen hinwegsehen dürfen, wenn es
sie gibt, und die gibt es. Wenn etwa in einzelnen Ländern
die Unabhängigkeit der Justiz und die Pressefreiheit gefährdet sind oder die Korruption nach unserer Wahrnehmung nicht ausreichend bekämpft wird, dann dürfen wir
eben nicht einfach wegsehen. Hier müssen wir verlangen
dürfen, dass Arbeiten erledigt werden, die noch nicht erledigt wurden. Wir müssen das auch verlangen, selbst
wenn wir wissen, dass das gelegentlich schwerfällt. Wir
können aber sagen: Unsere Partner in Osteuropa, die solche dringenden Reformen anpacken, können sich unserer Unterstützung sicher sein.
28 Mitgliedstaaten, 24 Sprachen in Europa, 500 Millionen Menschen: Wer einmal einen Ministerrat in Brüssel miterlebt hat, der weiß, wie viel institutionelle Arbeit
und auch Erneuerungsarbeit hier noch vor uns liegen.
Nur - um auf Schuman zurückzukommen -: Er hat
vor 64 Jahren gesagt:
Der Friede der Welt
- und der in Europa kann nicht gewahrt werden ohne schöpferische Anstrengungen, die der Größe der Bedrohung entsprechen.
Ich glaube, jeder spürt, dass wir jetzt vor enormen Anstrengungen stehen, um den Frieden zu bewahren und
die erneute Spaltung Europas zu verhindern.
Gerade deshalb sage ich, dass sich in einer solchen
Phase des manchmal rastlosen Krisenmanagements auch
an einem solchen Tag vielleicht die seltene Gelegenheit
ergibt, ein paar Sekunden innezuhalten und nachzudenken. Wenn wir das tun und für einen Augenblick auf diesen Tag von Schumans Rede zurückschauen, dann wissen wir miteinander: Die schöpferischen Anstrengungen,
die er verlangt hat, auch von uns heute, sind jeder Mühe
wert.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank, Frank-Walter Steinmeier. - Guten Morgen von meiner Seite aus, liebe Kolleginnen und Kollegen! - Der nächste Redner in der Debatte ist Wolfgang
Gehrcke für die Linke.
({0})
Dann kann ich mir ja Zeit nehmen. - Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Auch ich
denke, man muss zurückblicken, wenn man bestimmen
will, was erreicht worden ist, und wenn man feststellen
will, wo die Defizite liegen.
Mein Rückblick beginnt nicht nur wegen des heutigen
Datums am 8. und 9. Mai 1945. Das war der entscheidende Punkt: dass mit dem Faschismus in Deutschland
und mit dem europäischen Faschismus gebrochen worden ist. Das ist der Ausgangspunkt, an dem klar war:
Dieses Land muss neues Vertrauen erwerben. Das kann
man nur erwerben, indem man kategorisch auch mit der
eigenen Geschichte ins Gericht geht.
Ich bitte darum, von diesem Ausgangspunkt aus einige Dinge zu überlegen. Die einfache Botschaft, die zu
dem gehören müsste, was der Außenminister hier für unser Land und für Europa vorgetragen hat, heißt für mich:
Nie wieder Krieg und nie wieder Faschismus! Das
möchte ich in der europäischen Entwicklung durchgesetzt sehen.
({0})
Wenn man das will, muss man auch Spaltungen in Europa überwinden, dann muss man eine andere Art und
Weise der Zusammenarbeit erreichen.
Ich bitte sehr darum - das sage ich mit Blick auf die
Kollegen der CDU-Fraktion -: Lassen Sie uns auch dem
Ehrenmal der damaligen Sowjetunion und dem heutigen
Russland in unserer Nähe, das an den Akt der Befreiung
erinnert, diesen Respekt entgegenbringen. Ich bitte Sie
sehr: Hände weg von diesem Ehrenmal! Hier geht es
auch um die Symbolik.
({1})
Ich sage Ihnen: Die Panzer, die zu diesem Ehrenmal
gehören, waren die Panzer, die Deutschland, das deutsche Volk, vom Faschismus befreit haben. Das anzuerkennen, gebietet ein Mindestmaß an Respekt. 27 Millionen Sowjetbürger sind in diesem Krieg umgekommen auf verschiedene Art und Weise. 6 Millionen Jüdinnen
und Juden sind industriell vernichtet worden. Wenn man
sich diese Zahlen vergegenwärtigt, kommt man zu einer
Beurteilung, die vielleicht etwas quer zu dem liegt, was
heute so oft gesagt wird.
Ich will Ihnen ein kleines Zitat von Arno Lustiger
vorlesen, für mich einer der wichtigsten jüdischen Intellektuellen und Schriftsteller. Er hat in einem Buch - ein
großes Werk -, in dem er Stalin kritisiert, am Ende geschrieben:
… unerlässlich, der Millionen sowjetischer Soldaten zu gedenken, die im Kampf gegen Hitlerdeutschland gefallen sind oder in der Gefangenschaft ermordet wurden. Ohne ihr Opfer wäre die
Welt verloren; sie haben uns vor der Herrschaft des
mörderischen Nazismus gerettet.
Ich finde, die Panzer dieses Ehrenmals sind Symbole für
diese Aussage von Arno Lustiger, von der ich möchte,
dass wir sie uns selber aneignen.
Wenn das der Ausgangspunkt ist, dann muss man
auch dazusagen: Das Ziel war, die Spaltung Europas zu
überwinden. Meine Einschätzung ist, dass Europa nach
wie vor tief gespalten ist, vielleicht sogar tiefer denn je:
in Ost und West, sozial gespalten, militärisch tief gespalten.
Im Verbund mit der Europäischen Union - darüber
sprachen Sie nicht, Herr Außenminister - kam leider die
NATO. Die Friedensdividende, die möglich gewesen
wäre, ist nicht eingebracht worden. Die NATO steht
heute an den Grenzen Russlands. All das kann die Spaltung nicht überwinden; es ist vielmehr Ausdruck von
Spaltung.
Spaltungen müssen überwunden werden, in Europa
und weltweit. Ich sage das sehr bewusst - auch das
fehlte mir in Ihrer Rede -: Wenn man Spaltungen überwinden will, dann darf Europa keine Festung werden
wollen, sondern dann muss Europa sich der Welt gegenüber öffnen. Ich finde es nach wie vor völlig unerträglich, dass Europa sich als Festung gegen andere Teile der
Welt geriert.
Wäre es nicht ein Anlass, Herr Außenminister, einen
solchen Appell „Spaltung überwinden, Festung Europa
abbauen!“ im deutschen Parlament aufzugreifen? Ich
möchte, dass Menschen in Not in dieses Land, nach Europa kommen können, ohne die Gefahr einer Mittelmeerüberquerung auf sich nehmen zu müssen.
({2})
Ich möchte, dass soziale Spaltungen durch Umverteilung überwunden werden, und zwar von oben nach unten statt umgekehrt. Ich möchte Umverteilung zwischen
den Regionen, und ich möchte, dass militärische Spaltungen durch Abrüstung überwunden werden. Dazu gehört auch, nach wie vor daran zu arbeiten, Militärbündnisse zu überwinden.
({3})
Abrüstung kann man erreichen, auch heute in Europa.
Ich will Ihnen kurz einen Gedanken von Michael
Gorbatschow vortragen. Sie haben vom gemeinsamen
Haus Europa gesprochen, ohne den Namen Gorbatschow
zu erwähnen. Gorbatschow hat 1988 in einer Rede zum
gemeinsamen Haus Europa gesagt:
Wir sehen in der Zukunft ein Europa, in dem West
und Ost keine Waffen mehr gegeneinander richten,
sondern im Gegenteil einen früher nie dagewesenen
Nutzen aus dem Austausch von Waren und Werten,
Fachkenntnissen, Menschen und Ideen ziehen, die
es gelernt haben, trotz aller Unterschiede einander
nicht als Gegner, sondern als Partner zu betrachten.
Gilt das nicht auch heute im Verhältnis dieses Teils Europa zum anderen Teil Europas, nämlich zu Russland
und anderen Ländern, diese nicht als Gegner zu betrachten?
({4})
All das hat die Osterweiterung der Europäischen
Union aus meiner Sicht nicht eingebracht. Daran ist zu
arbeiten.
Im Gegenteil: Neoliberale Zerstörung in Europa hat
die soziale Lage schwieriger und teilweise aussichtslos
gemacht. Ich möchte auch im Namen der Linken sagen,
dass wir daran arbeiten, Europa vom Kopf auf die Füße
zu stellen. Das würde für mich unter anderem bedeuten,
wenn man den Gedanken des gemeinsamen Hauses Europa weiterverfolgt, heute die Arbeit an einer europäischen Verfassung wieder aufzunehmen,
({5})
die Friedfertigkeit statt Aufrüstung festschreibt, Antifaschismus für ganz Europa verbindlich vorschreibt und
sich an Abrüstung und sozialer Gerechtigkeit orientiert.
Wäre das nicht eine Aufgabe, die dem angemessen
ist, was hier debattiert worden ist, Europa vom Kopf auf
die Füße zu stellen? Sie wissen, dass die Verträge von
Lissabon und Maastricht nur unter unendlichen Schwierigkeiten geändert werden können.
Wir müssen feststellen, dass mit einer gestärkten Europäischen Union zugleich das Gesellschaftsmodell Kapitalismus in ganz Europa durchgesetzt worden ist.
({6})
Werfen Sie einen Blick in unser Grundgesetz! Es ist vorbildlich in dieser Frage. Das Grundgesetz hält die wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnung offen. Um das
zur Freude der CDU/CSU ein bisschen zugespitzt zu sagen: Ich bin für eine Revolution mit dem Grundgesetz
statt gegen das Grundgesetz, weil das Grundgesetz eine
grundlegende wirtschaftliche und gesellschaftliche Umgestaltung möglich macht. Wäre es nicht ein Impuls für
Europa, sich eine solche Verfassung zu geben, dass Europa umgestaltet werden kann?
({7})
Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Ich habe nicht
den Eindruck, dass Deutschland europäischer, sondern
dass Europa deutscher geworden ist.
({8})
- Regen Sie sich doch nicht so auf! - Ich wünsche mir
ein Deutschland, das europäischer wird, in einer Vielfalt,
die zur Einheit führt. Das ist meine politische Zielrichtung. Das ist meine Wertung, und das ist die Herausforderung.
Herzlichen Dank.
({9})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Nächster Redner ist
Dr. Christoph Bergner für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Kollege Gehrcke, ich bin mir nicht ganz sicher, ob Sie
angesichts des EU-Bildes, das Sie gezeichnet haben,
überhaupt daran gedacht haben, dass Sie über den Friedensnobelpreisträger des Jahres 2012 sprechen.
({0})
Die Europäische Union ist zu Recht Friedensnobelpreisträger des Jahres 2012 geworden, weil es kein vergleichbares Friedens- oder Konsolidierungsprojekt in Europa
in den letzten Jahrhunderten gegeben hat. Bei allen Ihren
Zerrbildern hätten Sie dies ruhig einmal würdigen dürfen.
({1})
Ich möchte die Aussage unseres Bundesaußenministers unterstreichen, dass das, dessen wir nun gedenken
und was am 1. Mai gefeiert wurde, mehr war als eine
Vergrößerung der Europäischen Union. Bereits der Mauerfall bedeutete das Ende der Spaltung Europas und die
friedliche Rückkehr der mittelosteuropäischen Staaten
nach Europa, wohin sie kulturell jahrhundertelang gehörten. Die erste deutsche Universität war die Prager
Karls-Universität. Geistesgrößen und Künstler wie
Kopernikus, Chopin, Jan Hus, Dvořák, Liszt, Celan und
andere sind ebenso Kinder Mitteleuropas wie Luther,
Melanchthon, Rousseau und wen auch immer wir hier
aufzählen wollen.
({2})
Das heißt, für die mittelosteuropäischen Staaten mit
jahrhundertelangem Souveränitätsstreben und kurzer
zwischenkriegszeitlicher Erfüllung der Träume von
Selbstbestimmung bedeutete die Aufnahme in die politische Familie Europas die Überwindung dessen, was Milan Kundera als Die Tragödie Mitteleuropas bezeichnet
hat. Diese Tragödie besteht darin, dass man kulturell zu
einem bestimmten Raum gehört, während man politisch
an einen anderen Raum gekettet ist, dem man sich nicht
zugehörig fühlt. Insoweit ist der Begriff „Osterweiterung“ zu technisch, um zu kennzeichnen, worum es eigentlich geht. Es ist das Ende der Teilungsperiode Europas. Es ist - so dürfen wir vielleicht mit etwas Emphase
sagen - eine Art kulturelle Familienzusammenführung
der europäischen Staaten gewesen.
({3})
Wir sollten im 25. Jahr des Mauerfalls durchaus bekennen, dass die Osterweiterung der Europäischen
Union nicht nur logische Folge, sondern auch inhaltliche
Fortsetzung der friedlichen Revolution im zuvor kommunistischen Teil Europas war; denn es waren die Vordenker dieser friedlichen Revolution, die immer den europäischen Gedanken hochgehalten haben.
({4})
Als Deutscher und ehemaliger DDR-Bürger sage ich:
Das, was wir als nationales Ereignis, als deutsche Einheit feiern, können wir mit gutem Recht als die erste
Etappe der Osterweiterung der EU klassifizieren.
({5})
Die Staaten haben ihre zurückgewonnene Souveränität
und Freiheit genutzt, um dorthin zurückzukehren, wohin
sie sich politisch wie kulturell zugehörig fühlten, und haben mit der zwangsverordneten Brudervolkideologie der
staatssozialistischen Ära gebrochen, die im Grunde genommen ein Herrschaftsinstrument der kommunistischen Ideologie und des sowjetischen Weltmachtstrebens gewesen ist. Diese Erweiterung war zuallererst eine
Entscheidung der Beitrittsstaaten mit Blick auf ihre politische Identifikation.
Nun sollten wir nicht nur abstrakt darüber sprechen.
Der Bundesaußenminister hat zu Recht auf die wirtschaftlichen Erfolge, die sich messen lassen, hingewiesen. Diese können, gemessen an den Sorgen und Bedenken, die gerade in dieser Hinsicht vor zehn Jahren
bestanden, nicht hoch genug geschätzt werden. In
Deutschland fürchteten wir Lohndumping und Billigkonkurrenz sowie eine finanzielle Überforderung der EU
in den Agrar- und Strukturfonds, von den Sorgen um einen Anstieg der Kriminalität ganz zu schweigen. In den
Beitrittsländern fürchtete man strukturellen Anpassungsdruck, Abwanderung qualifizierter Kräfte und vieles andere mehr. Gemessen an diesen Befürchtungen können
wir heute mit gutem Recht von einem Erfolg sprechen.
Mit Ausnahme Tschechiens ist die Zustimmungsrate
der Bevölkerung zur EU in den Mitgliedstaaten nirgends
so hoch wie in den östlichen Beitrittsländern, und das
trotz schwerer Transformationslasten, die man dort tragen musste. Neben den Erfolgen hinsichtlich der wirtschaftlichen Konvergenz sind - unterschiedlich in den
einzelnen Ländern - unübersehbare Fortschritte bei Verwaltung, Rechtsstaatlichkeit und anderem festzustellen.
Ja, es sind beispielhafte Erfolge erzielt worden, die wir
durchaus hervorheben sollten. Dass sich das Handelsvolumen im Zuge des Beitritts erhöht hat, war sicher zu erwarten, aber dass sich in den Beitrittsstaaten in einem
Maße, wie es in Südeuropa gar nicht der Fall war, gesamteuropäische Wertschöpfungsketten entwickeln konnten und diese Länder in gesamteuropäische Wertschöpfungsketten eingebunden wurden, verdient ebenso eine
würdigende Erwähnung wie die geräuschlose Bewältigung der Finanzkrise, beispielsweise in den baltischen
Staaten, obwohl die Probleme dort durchaus nicht geringer waren als andernorts.
({6})
Auch wir in den alten Mitgliedstaaten der EU können
durchaus eine positive Bilanz ziehen. Wir haben einen
Zuwachs an Arbeitsplätzen zu verzeichnen, und die
Wirtschaft hat eine Entwicklung genommen, die sie
durch die europäische Einbindung krisenfester macht
und Fortschritt und Wachstum ermöglicht.
Wir haben - das hat der deutsche Historiker Karl
Schlögel gesagt - eine Verschiebung des Mittelpunkts
Europas in den letzten zehn Jahren erlebt. Der Puls des
politischen Europas schlägt nicht nur in Berlin und Paris,
sondern auch in Warschau, Prag, Tallinn und Budapest.
Ich bin nicht sicher, ob im öffentlichen Bewusstsein und
in den Institutionen in Brüssel und Straßburg diese Mittelpunktverschiebung schon hinreichend wahrgenommen wurde. Ich weiß, dass wir gerade wegen ausstehender Transformationsleistungen den Integrationsprozess
unterstützend und kritisch begleiten müssen, aber ich
wünschte mir manchmal, dass nicht so schnell der schulmeisterliche Zeigefinger erhoben wird, wenn es darum
geht, politische Entwicklungen in den Beitrittsstaaten zu
bewerten.
Ich will ausdrücklich sagen, dass diese Erweiterung
auch eine Bereicherung auf unterschiedlichen Gebieten
für uns gewesen ist. Minister Steinmeier hat Verschiedenes erwähnt. Ich will aus meiner Perspektive noch die
vielfältigere nationalkulturelle Zusammensetzung dieser
Beitrittsstaaten nennen, die eine neue Dimension der
Minderheitenpolitik in Europa aus meiner Sicht zur
Folge hat, die aber auch neue Chancen der Mehrsprachigkeit und der staatenübergreifenden Identitätsbildung mit sich bringt.
Wir können nicht an der Tatsache vorbeigehen, dass
das Jahr des Beitritts 2004 nicht zufällig auch das Jahr
der Orangenen Revolution in der Ukraine war. Wenn damals das Volk gegen die Wahlfälschung Janukowitschs
aufstand, so war sicherlich die europäische Inspiration,
die auch durch den Beitritt der osteuropäischen Staaten
zustande gekommen ist, ein wichtiger Impuls für den
Aufstand. Auch wenn die Orangene Revolution aus meiner Sicht rückblickend deprimierende Resultate brachte,
so sollten wir uns doch darüber klar werden, dass die
Vorbildwirkung der Mitgliedschaft der Beitrittsländer
Osteuropas Erwartungen an uns bei Ländern, die weiter
im Osten sind, geweckt bzw. verstärkt hat.
Leider reicht meine Zeit nicht mehr für weitere Ausführungen über ein weiteres wichtiges Thema.
Genau, Herr Kollege. Bitte denken Sie an die Zeit.
Ich meine den Konflikt zwischen dem Wunsch, europäisch zu sein, und dem Konzept Russlands der eurasischen Gemeinschaft. Ich will nur kurz anreißen, wo für
mich die Scheidelinie zwischen der eurasischen Union
und der EU liegt.
({0})
Wenn ich an der Ostgrenze der Europäischen Union
Schilder nach bekanntem Vorbild aufstellen dürfte,
würde darauf stehen: Sie betreten den hegemoniefreien
Sektor.
({1})
Das genau ist der Punkt, der die Europäische Union auszeichnet: Keiner der Mitgliedstaaten hat den Anspruch
einer hegemonialen Rolle innerhalb der Staatengemeinschaft.
({2})
Keiner der Mitgliedstaaten weigert sich, schwierige Mechanismen mitzutragen, die sich gegen hegemoniales
Denken wenden.
({3})
Dies unterscheidet dieses Staatenbündnis von dem, das
im Osten konzipiert wird und das von der Geburtsstunde
der Idee an einen hegemonialen Gedanken in sich trägt.
({4})
Wenn uns die Werte der Europäischen Union wichtig
sind - auf sie ist unsere Hegemonieverweigerung zurückzuführen -,
({5})
dann sollten wir den Unterschied zwischen beiden Bündnisstrukturen in den schwierigen Debatten, die wir jetzt
mit Russland zu bestehen haben, nicht gering schätzen;
vielmehr sollten wir den Freiheitswillen des ukrainischen Volkes ernst nehmen.
Vielen Dank.
({6})
Danke, Herr Kollege. - Nächster Redner ist für Bündnis 90/Die Grünen Manuel Sarrazin.
Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Als Bilanz der Erweiterung der Europäischen Union von
2004 kann man sagen: Nichts wäre besser ohne die Erweiterung, sondern alles wäre schlechter ohne sie.
({0})
Ich glaube, die Erweiterungsrunde ist einer der größten Schritte der Menschheit im 20. Jahrhundert gewesen,
also am Ende dieses Jahrhunderts. Wenn ich auf meine
persönlichen Erfahrungen damit, über Grenzen zu osteuropäischen Staaten zu reisen, zurückblicke, dann ist
für mich das Schönste, dass es so normal ist. Wie normal
es heutzutage ist, dass wir zusammengehören, das ist das
Schönste. Dass es so normal ist, ist das Besondere. Dass
es so normal ist, wie es immer hätte sein sollen, dass das
etwas Besonderes ist, das müssen wir uns vor Augen
halten.
({1})
Wir haben eine gesellschaftliche, eine politische, eine
ökonomische und übrigens auch eine ökologische Transformation in diesen Staaten gesehen, die bemerkenswert
ist, die Ausdruck einer Erfolgsbilanz ist. Wir haben auch
für diejenigen, die Verlierer dieser Transformation sind,
durch die Erweiterung der Europäischen Union und
durch deren Mittel bessere Effekte, als wir ohne die Europäische Union hätten; schließlich engagiert sich die
Europäische Union in den entsprechenden Ländern sehr
stark im Bereich Soziales, setzt aber auch Standards.
Wenn man die persönlichen Erfahrungen vieler Menschen zusammen betrachtet, dann erkennt man, dass
diese Erweiterung eine Antwort auf den August 1939,
auf den Mai 1945, auf das ganze Jahr 1945, aber auch
auf das Jahr 1914 ist. Wie das Jahr 1914 im Westen mit
der Schuman-Erklärung, die der Herr Minister zitiert hat,
in gewisser Hinsicht überwunden worden ist, so ist das
im Osten mit dem 1. Mai 2004 geschehen. Das sollten
wir uns vor Augen halten.
Ich war im Sommer 2003 über einen Schulaustausch
in einer Schule in Stettin und habe Wahllokale gesehen.
Ich weiß noch, wie die Menschen dort hineinströmten.
Die Wahlbeteiligung damals hat alles übertroffen, was
man für möglich gehalten hatte. Ich bin viele Jahre lang
mit dem Nachtzug von Deutschland nach Polen gefahren. Am Anfang war es so, dass ich nachts viermal geweckt wurde. Irgendwann wurde ich nur noch zweimal
nachts geweckt, weil sich die Grenzer abgesprochen hatten. Heute geht man in Görlitz über die Brücke nach
Polen, und es ist gar nichts Besonderes, es ist etwas Normales.
Ich möchte aber auch sagen: Ich reise auch über die
Grenze zwischen Polen und der Ukraine. Da ist es immer noch nichts Besonderes, wenn man stundenlang mit
ukrainischen Omas in einem Warteraum steht und warten muss. Es ist nicht so, dass Europa an der neuen Ostgrenze der Europäischen Union aufhört.
({2})
Auf eine Stadt wie Lemberg oder auf die Ukraine bezieht sich der Wertekanon Europas genauso wie auf die
Staaten der EU-Osterweiterung.
({3})
Wir müssen, wenn wir über die Geschichte reden,
auch über die Enttäuschungen reden, die nach dem Mai
1945 in vielen Staaten entstanden sind, über die Enttäuschungen, die von Jalta, Teheran und Potsdam ausgingen, aber auch über das Nichteinhalten der von Stalin
damals in Potsdam gegebenen Zusage der Schaffung von
Demokratie und von Rechten zur freien Entscheidung in
den osteuropäischen Staaten. Wenn wir am 9. Mai darüber reden, dürfen wir nicht vergessen, dass diese Erweiterung auch eine Antwort auf die Enttäuschungen der
Zentraleuropäer nach dem Kriegsende ist.
({4})
Wir haben auch Misserfolge; ich möchte sie unbedingt benennen. Das, was wir uns mit der Erweiterung
auf Zypern erhofft haben, ist nicht eingetreten. Dass wir
jetzt, zehn Jahre später, in einer Situation sind, in der
man sich Hoffnung machen kann, dass es doch zu einer
Wiedervereinigung der Insel kommt, ist schön, aber eigentlich war die Idee, mit der Kraft der Erweiterung
auch Zypern einen dauerhaften Frieden zu bringen. Daran müssen wir weiter arbeiten.
Ich glaube, wir müssen uns einer Sache bewusst sein:
Die unglaubliche Transformationskraft, die Europa ausstrahlen konnte, konnte nur freigesetzt werden, weil
1993 in Kopenhagen der Mut und der Wille bestand,
eine Perspektive zu einem Beitritt zur Europäischen
Union auszusprechen. Wir reden heute über die Ukraine
und sehen, was für gewaltige Transformationsherausforderungen dort anstehen. Wir wollen die Transformation
nicht nur im Wirtschaftsbereich in Form einer Freihandelszone, sondern auch eine politische Transformation,
die das Land verändert, demokratisiert und freiheitlicher
macht. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir diese
Transformationsherausforderung nur mit einem ähnlichen Akt von Mut wie 1993 in Kopenhagen erreichen
werden. Deswegen sagen die Grünen in ihrem Europawahlprogramm klar: Die Ukraine braucht eine Beitrittsperspektive zur Europäischen Union.
({5})
Die symbolische Erklärung, dass man zu einem Zeitpunkt, der später liegt, will, dass jemand dazugehört,
wenn er selber möchte, hat Kraft. Das hat Kopenhagen
gezeigt. 1993 wirkte sehr fern, was 2004 geschehen
würde; das dürfen wir nicht vergessen.
Diese Erweiterung hat vieles geschafft. Auch der
deutsche Erfolg, auch die deutsche Widerstandsfähigkeit
in der Euro-Krise ist meiner Ansicht nach nicht zu verstehen ohne die Erweiterung. Vieles von dem, was heute
für uns selbstverständlich ist, hat damit zu tun.
Aber auch wenn es so schön normal ist, müssen wir
uns dessen bewusst sein, dass es viel zu tun gibt. Wir haben die Aufgabe, die Transformation weiterzutreiben,
dort, wo es Rückschritte gibt bei europäischen Werten,
bei Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, darauf hinzuweisen; da hat Herr Steinmeier recht. Wir haben die Aufgabe, die nächsten Schritte in der wirtschaftlichen, in der
gesellschaftlichen Entwicklung zu begleiten und zu gehen. Wir haben die Aufgabe, nicht aufzuhören in dem
Bemühen, einander immer besser zu verstehen. Und wir
haben die Aufgabe, Europa zusammenzuhalten, jetzt in
der Debatte um die Ukraine die EU-28 zusammenzuhalten, nicht zu einer Auseinandersetzung zwischen dem alten und neuen Europa zu kommen, wie das vor einigen
Jahren der Fall war, und vor dem Hintergrund der Krise
und der notwendigen Vertiefung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit in der Euro-Zone am Ende nicht die Erweiterung von 2004 zu riskieren, weil man Staaten, die
auf dem Weg Richtung Euro sind, aussperrt und nur den
kleinen Zirkel der Staaten der Euro-Zone zum Kern erklärt.
Fazit: Die Erweiterung ist das erfolgreiche Transformationsmodell der Europäischen Union. Sie muss dauernd besser gemacht werden. Es muss immer dazugelernt werden, aber nichts kann das schmälern, was
erreicht ist. Die Erweiterung von 2004 ist historische
Gerechtigkeit und nicht Provokation gewesen.
({6})
Ich glaube, Europa ist noch nicht fertig. Wenn wir in
unserer Nachbarschaft Erfolg haben wollen als Soft
Power - als Soft Power, nicht als Hard Power oder als
Militär -, dann werden wir das nur schaffen, wenn wir
beachten, dass die Erweiterung eine der ganz wesentlichen Grundlagen für die Attraktivität der Europäischen
Union ist.
Ich möchte in keiner anderen Europäischen Union leben als in der erweiterten, und ich möchte auch in keiner
anderen Europäischen Union leben als in der, die weiterhin Mut hat, über kommende Erweiterungen zu reden
und an diesen kraftvoll zu arbeiten. Man kann es nach
Goethe, Faust II, vielleicht so formulieren: Europa ist
glücklich, solang es strebt. - Also sollten wir uns noch
etwas auf dem Zettel behalten und nicht vorschnell aufhören.
Danke.
({7})
Danke, Herr Kollege. - Nächster Redner: Maik
Beermann für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Verehrter Kollege Gehrcke von der Fraktion Die Linke,
wir wollen in Europa nicht nur keinen Faschismus, wir
wollen in Europa auch keinen Kommunismus. Auch das
gehört zur Wahrheit.
({0})
Die Einheit Europas war ein Traum weniger. Sie
wurde eine Hoffnung für viele, und sie ist heute eine
Notwendigkeit für alle. Diese Notwendigkeit hatte der
damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer in seiner Regierungserklärung 1954 im Plenum des Deutschen Bundestages für die Einheit Europas skizziert. 50 Jahre später - in der Nacht zum 1. Mai 2004 - war Europa in
Feierlaune. Um Mitternacht wurden die Feuerwerke gezündet. Der Himmel leuchtete in bunten Farben, und die
Menschen reichten sich auf der Oderbrücke zwischen
Frankfurt ({1}) und Slubice die Hände - und mit ihnen
zwei lang getrennte Hälften unseres Kontinents.
Auch in Tschechien, in der Slowakei oder in Ungarn
zogen die Menschen in dieser Nacht in das Haus der Europäischen Union ein. Die feierliche Begrüßung der
zehn neuen Mitglieder der Europäischen Union besiegelte das Ende der Spaltung Europas in Ost und West.
Die Erinnerung daran macht uns auch heute noch Mut.
Das war nicht etwa das Verdienst der Politik, es war die
Errungenschaft derjenigen Menschen im Osten und im
Westen, die sich nicht von ihrem Wunsch abbringen ließen, gemeinsam in Freiheit und in Frieden zu leben.
Gerade die Menschen in den zehn Beitrittsländern
haben die Leidenschaft und den Mut aufgebracht, ihr
politisches System, die Wirtschaft und das Alltagsleben
umzuwälzen. Dabei haben sie schwere Einschnitte hingenommen. Das, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, verdient unseren Respekt.
({2})
Es gab Gewinner, es gab aber auch Verlierer und
Rückschläge. Dennoch: Fehler, die gemacht wurden,
sind für ganz Europa ein unverzichtbarer Erfahrungsschatz. Er kann für die Bewältigung der noch vor uns liegenden Herausforderungen Ansporn sein. Auch deshalb
ist der Beitritt dieser zehn Mitglieder eine Bereicherung
für unsere Europäische Union.
Bei aller Anerkennung für das Erreichte ist der Gipfel
des Erfolges noch lange nicht erreicht. Manchmal denke
ich, wir stehen vielleicht sogar noch am Fuße des Berges. Bei Ländern wie Ungarn, wo es Defizite in der
Wirtschaft bzw. im Staatshaushalt gibt, oder Litauen, das
mit der Abwanderung von vielen jungen und gutausgebildeten Menschen zu kämpfen hat, muss man schon mal
etwas genauer hinschauen.
Sehe ich mir aber die Tschechische Republik an, sehe
ich ein Land, das den Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft relativ reibungslos geschafft hat.
Sehe ich mir Estland an, dann sehe ich ein Land, das
mitten in der Wirtschaftskrise 2011 den Euro als Währung eingeführt hat. Das war ein deutliches Signal.
Estland erfüllte die Beitrittsbedingungen mit einem annähernd ausgeglichenen Staatshaushalt und geringen öffentlichen Schulden.
Sehe ich Polen, das größte und wichtigste Beitrittsland von 2004, sehe ich ein Land, das als einziges der
zehn Beitrittsländer auch in der Krise ein positives
Wachstum hatte und zusätzlich politische Stabilisierung
und gesellschaftlichen Aufbruch erreichte.
Wenn ich all diese kleinen und auch größeren Erfolge
in der EU betrachte, sehe ich, dass wir eben doch nicht
erst am Fuße des Berges stehen. Wir sind schon ein ganzes Stück dem Gipfelkreuz entgegengewandert, liebe
Kolleginnen und Kollegen. Unsere Europäische Union
gilt daher weltweit als einzigartige wirtschaftliche und
politische Erfolgsgeschichte eines freiwilligen Zusammenschlusses von nationalen Staaten. Für Beitrittskandidaten wie die Türkei ist es daher eben nicht ausreichend,
nur die wirtschaftlichen Voraussetzungen zu erfüllen.
Auch die politischen Kriterien - wie demokratische und
rechtsstaatliche Ordnung, die Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und der Schutz von Minderheiten - müssen dort garantiert werden.
({3})
Lassen Sie mich bitte noch etwas zur Krise in der
Ukraine sagen. Gerade in den letzten Wochen, in denen
sich die Ukraine und Russland am Rande von Bürgerkrieg und Krieg bewegten, wurde deutlich, wie existenziell wichtig die Osterweiterung für die Europäische
Union war. Wären Polen und Tschechien nicht stabile
EU-Mitglieder und verlässliche Partner in der NATO,
wären ähnliche Krisen und Konflikte heute auch in diesen Ländern durchaus möglich - direkt an unserer
Grenze. Umso mehr Verständnis sollten wir für unsere
Partner in Warschau und Prag, Tallinn, Riga und Vilnius
zeigen, die angesichts der Ukraine-Krise schlicht Angst
vor dem haben, was sich an ihren Grenzen ereignet. Deshalb ist es für mich auch absolut unverständlich, wie Sie,
meine Damen und Herren von der Fraktion Die Linke,
sich in der Ukraine-Frage verhalten. Sie unterstützen hier
mit Ihrer kruden Argumentation ein außenpolitisches Gebaren Russlands, das definitiv nicht ins 21. Jahrhundert
gehört, sondern finsterer Imperialismus von vorgestern
ist.
({4})
Ein Spruch des bekannten Dichters Wilhelm Busch,
der in meinem Wahlkreis, in Wiedensahl, geboren ist,
lautet:
Toleranz ist gut, aber nicht gegenüber den Intoleranten.
Daher lautet meine Botschaft an
Wir
sind gesprächsbereit. Wir wollen eine friedliche Lösung
unter Berücksichtigung aller Interessen. Wir stehen aber
auch zu unseren Überzeugungen und den Stärken unseres Europas: Frieden, Freiheit, Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit und freie Wahlen. Das Referendum zur Abspaltung der Ostukraine am Sonntag zu verschieben, ist
schon einmal ein hilfreicher Schritt, dem Herr Putin aber
auch Taten folgen lassen muss. Für diese Taten hat er nur
noch wenige Tage Zeit. Unsere Bundeskanzlerin hat
mein höchstes Vertrauen, wenn für sie das gemeinsame
Ziel einer diplomatischen Konfliktlösung in der Ukraine
die höchste Priorität hat. Wenn diese beachtliche Herausforderung jemand meistert, dann ist das unsere Bundeskanzlerin Angela Merkel.
({0})
Auch unserem Bundesaußenminister zolle ich meinen
Respekt für die unermüdliche Arbeit. Er hat Recht mit
dem, was er am Mittwoch hier in der Aktuellen Stunde
im Deutschen Bundestag gesagt hat. Eine diplomatische
Lösung in der Vergangenheit und auch heute sei das erklärte Ziel. Eine Aufgabe dieses Ziels sei definitiv keine
Option. Herr Steinmeier, vielen Dank dafür.
({1})
Wir können nur glaubwürdig sein, wenn wir für unsere Werte einstehen und deren Verletzung im Inneren
ahnden. Wir können gestärkt - davon bin ich überzeugt aus der gegenwärtigen Krise herausgehen, wenn Europa
zusammenhält. Was heute unverändert als Auftrag an die
Europäer und an uns Politiker zu verstehen ist, brachte
Adenauer 1967 bei seiner vorletzten Rede, die er in Madrid hielt, kurz und prägnant, wie es seine Art war, auf
den Punkt: Europa muss geschaffen werden. - Das ist
auch heute noch so.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin nicht nur
Deutscher, sondern auch Europäer. Wir alle, die wir hier
sitzen, sind Europäer. Das bis heute geschaffene Europa
ist doch mittlerweile allgegenwärtig. Es gibt überall Berührungspunkte, von der großen Metropole bis hin zu
meinem kleinen 450-Seelen-Heimatort Wendenborstel
im Wahlkreis Nienburg-Schaumburg.
({2})
Das größte Glück und höchste Gut sind nicht an erster
Stelle die offenen Grenzen, die Freihandelszone und die
gemeinsame Währung, sondern der seit fast 70 Jahren
andauernde Frieden.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({3})
Lieber Herr Kollege, das ganze Haus gratuliert Ihnen
zu Ihrer ersten Rede.
({0})
Ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei Ihrer Arbeit hier im
Bundestag. Es ist gar nicht so schlecht, wenn Sie
Wilhelm Busch als Begleiter dabeihaben. - Sie, Herr
Sarrazin, haben gerade gelacht, als Kollege Beermann
gesagt hat, wo er herkommt. Da gibt es jetzt wunderbaren Spargel.
Wenn die Gratulationscour beendet ist, kann sich
schon einmal Andrej Hunko für die Linke bereithalten.
({1})
- Schauen wir einmal. - Herr Hunko für die Linke, bitte.
({2})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn
wir heute über 10 Jahre EU-Osterweiterung reden,
mischt sich - da bin ich Herrn Steinmeier für seine Rede
durchaus dankbar - auch Nachdenklichkeit in die Bilanz. Es ist keine Jubelveranstaltung. Ich glaube, der
Grund ist ganz einfach, dass an den Ostgrenzen der Europäischen Union, in der Ukraine eine sehr besorgniserregende Entwicklung stattfindet. Diese Nachdenklichkeit ist notwendig. Ich glaube, wir müssen uns auch
einmal fragen, was eigentlich das strategische Ziel, das
Endziel der EU-Osterweiterung ist.
Herr Sarrazin, Sie sagten, die EU sei glücklich, solange sie strebe. Aber wohin strebt sie am Ende? Sollen
eigentlich alle europäischen Staaten - die Ukraine, Georgien, Moldawien - bis auf Russland irgendwann Mitglied der Europäischen Union sein? Oder soll Russland
auch irgendwann Mitglied werden? Oder soll es einen
gemeinsamen Raum geben? All das sind Fragen, die sich
in diesen Tagen natürlich sehr eindringlich stellen.
Ich will zunächst auf die Bilanz der Entwicklung in
den zehn neuen Mitgliedstaaten der Europäischen Union
eingehen. Meine eigene Einschätzung dazu ist gemischt.
Ich sehe durchaus Erfolge. Zum Beispiel ist das durchschnittliche BIP pro Einwohner in diesen Ländern von
65 auf 76 Prozent des Durchschnitts-BIPs in der Europäischen Union angestiegen. Es hat also durchaus eine
Angleichung gegeben. Dies werte ich positiv; denn es
kommt schließlich darauf an, die Spaltung in mehrerlei
Hinsicht zu überwinden, und zwar sowohl die soziale
Spaltung als auch die in Ost und West.
({0})
Die Entwicklungen fallen allerdings durchaus unterschiedlich aus. Ich will zum Beispiel daran erinnern,
dass in Litauen die Auswanderungsrate extrem hoch ist.
Sie ist dort höher als in jedem anderen europäischen
Land. Ich möchte auch an die Umfragezahlen in den
Ländern selbst erinnern: Während 2004 noch 32 Prozent
gesagt haben, dass sie kein Vertrauen in die Europäische
Union haben, ist dieser Wert inzwischen auf 47 Prozent
angestiegen. In Zypern ist er sogar von 17 auf 57 Prozent
angestiegen. Das ist natürlich keine Erfolgsbilanz. Ich
kann die Zyprer allerdings sehr gut verstehen.
Wir müssen uns fragen: Wohin will die Europäische
Union? Wie ist das Verhältnis zu Russland? Diese Fragen stellen sich angesichts der Entwicklung in der
Ukraine natürlich. Folgendes dürfen wir dabei nicht vergessen: Der Ausgangspunkt der jetzigen Krise ist die
Nichtunterzeichnung des EU-Ukraine-Assoziierungsabkommens vom November 2013. Ich hatte im Dezember
letzten Jahres die Gelegenheit, den Erweiterungskommissar Füle zu fragen: Was haben wir von europäischer
Seite eigentlich falsch gemacht? Die Antwort war sehr
ausführlich. Er hat zwei Kernpunkte genannt: Wir haben
zu viele Bedingungen gestellt, und wir haben zu wenig
mit Russland gesprochen. Das ist der Unterschied zu
2004, als zum Beispiel sehr intensiv über die Frage der
russischen Minderheiten im Baltikum gesprochen wurde.
Es muss also viel mehr Kommunikation stattfinden.
Diese hat aber bisher leider nicht stattgefunden.
Seitens der EU hat es einen zweifachen Tabubruch im
Hinblick auf die Ukraine gegeben. Erstens wurde eine
Regierung anerkannt und mit ihr kooperiert, deren Legitimität zumindest umstritten ist. Zweitens sind an dieser
Regierung Faschisten beteiligt. Herr Steinmeier sprach
von tot geglaubten Geistern. Leider sitzen diese in der
Regierung in der Ukraine. Das darf nicht sein. Es darf in
Europa keine Kooperation mit Faschisten geben.
({1})
Nach dem Massaker vom 2. Mai 2014 in Odessa ist es
wichtig, daran zu erinnern, dass am 2. Mai 1933 hier in
Deutschland die Gewerkschaftshäuser von Nazis gestürmt
wurden. Auch in Odessa wurde nun ein Gewerkschaftshaus angezündet. Das Ganze wurde von der Regierung in
der Ukraine toleriert. Das ist völlig inakzeptabel.
({2})
Wir brauchen angesichts der aktuellen Konflikte gerade in diesen Tagen Lösungs- und Deeskalationsstrategien. Diese sind notwendig, um eine grundsätzliche Debatte über eine Neuausrichtung der EU-Ostpolitik zu
führen, die auf Kooperation - auch auf Kooperation mit
Nicht-EU-Mitgliedstaaten wie zum Beispiel Russland und nicht auf Konfrontation setzt. Wir brauchen ein Verständnis von europäischer Integration als Teil einer internationalen Zusammenarbeit und nicht als Blockbildung
gegen andere Teile der Welt, seien es Russland, Afrika,
Indien oder China. Die europäische Integration muss
Teil internationaler Kooperation werden.
Als Letztes will ich sagen: Es wird in Europa nur
dann Frieden geben - Herr Sarrazin, auch Donezk und
Odessa gehören zu Europa -, wenn es eine Kooperation
mit Russland gibt. Wenn wir gegen Russland arbeiten,
wird es keinen Frieden in Europa geben.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({3})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Nächste Rednerin in der
Debatte ist Dr. Dorothee Schlegel für die SPD.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Nacht vor der größten Erweiterung in der Geschichte der EU verbrachte ich in einem Reisebus auf
dem Rückweg von Polen nach Deutschland. Ich kam zurück von einer Vortragsreise an der Universität Rzeszów
in Ostpolen. Ich wünschte mir, dass unser Bus möglichst
gegen Mitternacht an der Grenze sein sollte, um diesen
historischen Moment direkt am Grenzübergang zu erleben.
({0})
Kurz vor der Grenze sah ich viele Menschen mit Leuchtraketen in ihren Gärten sitzen. Das Feiern ist vorhin auch
schon angesprochen worden. Ich habe diese Situation
- auch wenn wir zu meinem Bedauern eine halbe Stunde
vor zwölf die Noch-nicht-EU-Grenze passierten - daher
in bester persönlicher Erinnerung.
Die EU-Osterweiterung von 2004, die wir heute würdigen, kommt in diesem Jahr, in dem sich der Beginn des
Ersten Weltkriegs zum 100. Mal und der Beginn des
Zweiten Weltkriegs zum 75. Mal jährt, zumindest an
Jahren eher bescheiden daher. Aber sie erzählt eine europäische Erfolgsgeschichte. Dieses zehnjährige Jubiläum
geht Hand in Hand mit dem Fall des Eisernen Vorhangs
vor 25 Jahren, dem Ende der jahrzehntelangen Spaltung
unseres Kontinents.
Martin Schulz war es übrigens, der die deutsche Wiedervereinigung als erste Osterweiterung bezeichnet hat.
Meine Generation und die Generationen nach mir wurden im europäischen Frieden geboren. Diesen Frieden
verdanken wir der Idee und dem System Europa, das seit
fast 70 Jahren kriegsverhindernd wirkt. Für viele Menschen heute scheint Europa diesen Impetus verloren zu
haben. Die Zahl der Euroskeptiker wächst vor der Europawahl. In einer Umfrage für den jüngsten ARDDeutschlandTrend gaben 64 Prozent der Befragten an,
sich wenig oder gar nicht für die Wahl am 25. Mai zu interessieren. Viele Menschen lehnen das „sanfte Monster
Brüssel“, so Hans Magnus Enzensberger, zunehmend ab.
Es ist an der Zeit, diese Zweifel in der Bevölkerung ernst
zu nehmen und diesen Strömungen ein europäisches
Narrativ entgegenzusetzen. Es ist auch an der Zeit, die
Identifikation mit der europäischen Idee und vor allem
mit ihrer friedenssichernden Bedeutung zurückzugewinnen. Für mich liegt hier der politische Kernauftrag an
mich als Europapolitikerin.
({1})
Selbstbewusst und im Rückblick auch stolz auf diese
Erfolgsstory, die wir heute erzählen können, müssen wir
die europäische Diskurshoheit zurückerobern. Wir müssen der Idee von Europa, seiner kulturellen Vielfalt und
dem Konzept einer transnationalen Gemeinschaft wieder
mehr Substanz verleihen. Um die europäische Einheit zu
stärken, können und dürfen wir uns nicht mit Neoliberalismus, Renationalisierung und populistischen Vorurteilen abfinden. Es geht, wie gestern ausführlich erörtert,
um ein soziales Europa. Es geht um die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft. Wir sollten Europa auch als kulturelles Projekt begreifen. Es geht um nichts weniger als
um Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Chancengleichheit,
Freizügigkeit, Daten- und Minderheitenschutz. Es geht
um soziale Sicherung, um Bildung und um gelebte Toleranz.
Wir brauchen daher transparente Regularien und eine
breite Informationsbasis, damit die Menschen das Gebilde EU verstehen und verinnerlichen können; denn immer mehr grundlegende Entscheidungen werden auf europäischer Ebene getroffen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich
Goethe zitieren; auch Kollege Sarrazin tat dies. Goethe
skizzierte 1828 die Vision, dass Deutschland eins werde,
dass das Geld gleichen Wert habe, ebenso die Gewichte
und die Maße; der Pass zeichne einen Reisenden, dessen
Koffer ungeöffnet die Grenzen passiere, nicht mehr als
Ausländer aus. Ein solches Land - hier denke ich
200 Jahre weiter und an Europa - braucht viele Mittelpunkte. Darauf hat Herr Dr. Bergner bereits hingewiesen. Eine solche europäische Einheit lebt von der Souveränität der Länder. Wenn es Goethe damals nicht bange
war vor der Einheit Deutschlands, dann sei uns nicht
bange vor der Einheit Europas.
Herzlichen Dank.
({2})
Vielen Dank, Frau Kollegin. Liebe Frau Dr. Dorothee
Schlegel, das ganze Haus gratuliert Ihnen sehr zu Ihrer
ersten Rede hier im Deutschen Bundestag.
({0})
Viel Erfolg für Sie als Europapolitikerin bei der sehr
wichtigen Aufgabe, ein Mehr an Europa auch von
Deutschland aus durchzusetzen!
Wir warten, bis die Gratulationscour beendet ist. Heißt das „Cour“?
({1})
- Warum eigentlich?
({2})
Vizepräsidentin Claudia Roth
- „Gratulationskür“? Nicht „-kur“! „Kur“ ist etwas anderes.
({3})
- Vielen herzlichen Dank. Jetzt werde ich ganz rot.
Annalena Baerbock ist die nächste Rednerin für
Bündnis 90/Die Grünen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Frau
Präsidentin! Nach den ganzen Zitaten von Schuman und
Goethe werfe ich jetzt auch noch ein Zitat in die Runde.
Vaclav Havel hat 1991 bei der Verleihung des Karlspreises in Aachen gesagt, dass es eine „sehr wichtige Tatsache“ sei,
… daß keine zukünftige europäische Ordnung ohne
die europäischen Völker der Sowjetunion denkbar
ist, die ein unteilbarer Bestandteil Europas sind …
Ihr Weg zur Freiheit, Demokratie und einer funktionierenden Wirtschaft ist, wie wir wissen, besonders
kompliziert. Das darf aber nicht Grund dafür sein,
daß wir der Einfachheit halber aufhören, uns für das
Schicksal unserer östlichen Nachbarn zu interessieren. Ganz im Gegenteil: es gibt allen Grund, uns besonders dafür zu interessieren.
({0})
Wir haben es dem Mut unserer europäischen Politiker
zu verdanken, dass 13 Jahre nach diesen Worten von Havel die mittel- und osteuropäischen Staaten und die baltischen Staaten der Europäischen Union beitraten, dass
wir diesen Gänsehautmoment gemeinsam feiern konnten. Auch ich war seinerzeit in Frankfurt/Oder auf der
Brücke, auf der damals noch Grenzkontrollen stattfanden und die man heute einfach überquert. In Frankfurt/
Oder und in Slubice diskutiert man heute darüber, wann
endlich eine gemeinsame Straßenbahn über die Brücke
fährt. Das sind die kleinen Wunder dieser Europäischen
Union, die wir niemals vergessen sollten.
({1})
Es ist aber auch die harte Realität unserer gemeinsamen Europäischen Union, dass uns wiederum zehn Jahre
später - zehn Jahre nach der Osterweiterung - der Satz
von Havel, nach dem wir es uns nicht einfach machen
dürfen, angesichts der Auseinandersetzungen in der
Ukraine spürbar in Erinnerung gerufen wird. Denn heute
gibt es nach wie vor Millionen von Menschen, die nicht
nur auf dem europäischen Kontinent, sondern auch unter
dem Dach des Hauses Europa gemeinsam in Frieden leben wollen. Die momentane Situation in der Ukraine,
aber auch auf dem Balkan - wir haben den Balkan in den
letzten Jahren ja leider absolut vergessen - zeigt, dass
100 Jahre nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs das
Friedensprojekt Europa noch lange nicht abgeschlossen
ist.
Und hier komme ich auf Ihre Frage zurück, Herr Kollege Hunko: Wem steht denn das Haus Europa offen?
Das Haus Europa - da haben wir uns in den Verträgen
der Europäischen Union festgelegt - steht allen europäischen Staaten offen. Der Wert Europas ist eben, dass
man nicht sagen kann: Nein, das eine Land gefällt uns
jetzt nicht mehr; wir wollen es nicht mehr aufnehmen. Das Haus Europa steht mindestens allen 46 europäischen
Staaten des Europarates offen.
({2})
Bei all den Feierlichkeiten, die wir momentan begehen, sollten wir aus meiner Sicht nicht nur darüber nachdenken, was etwa bei der letzten Osterweiterung auch
schiefgelaufen ist, sondern auch darüber, was nach der
ersten Osterweiterung hier bei uns in Deutschland
schiefgelaufen ist. Wir haben das Thema gestern in der
Debatte am Rande angekratzt, aber ich möchte es gerade
hier in diesem Moment noch einmal benennen: Wir müssen uns auch damit auseinandersetzen, dass ausgerechnet das wirtschaftlich stärkste und größte Land Europas
sieben Jahre gebraucht hat, bis es den Menschen umfassende Freizügigkeit gewährte, also nicht nur Reisefreizügigkeit, sondern auch die Freizügigkeit, in der ganzen
Europäischen Union zu arbeiten. Leider hatte gerade die
deutsche Politik nach 2004 nicht den Mut - sondern sie
hat es sich einfach gemacht und sich vor Populismen
weggeduckt - und hat gesagt: Wir sind neben Österreich
das einzige Land, das weiterhin die Arbeitnehmerfreizügigkeit beschränkt. - Das ist kein Ruhmesblatt, darauf
können wir nicht besonders stolz sein.
({3})
Mit dieser Wagenburgmentalität haben wir uns selbst
ins Knie geschossen.
({4})
Durch das Ausreizen der Ausnahmeregelungen bei der
Arbeitnehmerfreizügigkeit haben wir in Grenzregionen
nicht nur den Fachkräftemangel, sondern auch die
Schwarzarbeit befördert. Dann hat es eben nichts mehr
geholfen, dass 2011, also sieben Jahre nach der Osterweiterung, Regionen wie Bayern im Internet darum
geworben haben, dass Fachkräfte aus Polen und der Slowakei, aus Tschechien und Ungarn zu uns kommen;
denn diese Fachkräfte waren vorher schon nach Manchester oder Uppsala gegangen und eben nicht nach
Brandenburg, nach Thüringen oder nach Bayern.
Ich sage das heute so eindringlich, weil es schon mehr
als zynisch ist, dass ausgerechnet in dem Jahr, in dem
wir zehn Jahre Osterweiterung feiern, gewissen politischen Parteien nichts Besseres einfällt, als darüber zu reden, ob denn die Freizügigkeit für die jüngst beigetretenen Länder wie Rumänien und Bulgarien überhaupt
noch aufrechterhalten werden kann. Es gehört zu einer
solch feierlichen Stunde dazu, das zu sagen.
({5})
Wir müssen den Mut haben und dürfen es uns nicht
nur einfach machen. Wir sollten akzeptieren, dass wir in
Deutschland nicht der Nabel Europas sind, sondern dass
wir ganz viel von unseren europäischen Nachbarn lernen
können. Schauen wir rüber nach Großbritannien, Schweden, Frankreich und in die Niederlande. Was stellen wir
fest? Diese Länder haben kein Problem damit, auch Rumänien und Bulgarien die Arbeitnehmerfreizügigkeit zuzugestehen. Man sagt: Ja, auch ihr könnt von unseren
Sozialleistungen profitieren.
Frau Kollegin.
Es gehört Mut dazu, sich dem Populismus mit guten
Argumenten entgegenzustellen. Wenn wir diesen Mut
haben, wie Schuman, Havel - und Frau Roth,
({0})
ich komme zum Schluss -, dann können wir auch in den
nächsten 20, 30 Jahren wieder diese Gänsehautmomente
gemeinsam auf den Brücken Europas feiern. Dann können wir Europa in all seiner Unperfektheit - das muss
man immer wieder sagen - und mit seinen Stolpersteinen feiern. Zugleich können wir die großartige Idee feiern, Konflikte jenseits gefährlicher Grenzen des Nationalstaats zu lösen.
Herzlichen Dank.
({1})
Danke, Frau Kollegin. - Nächster Redner in der Debatte: Matern von Marschall für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Hunko, Sie haben gesagt, das sei
heute keine Jubelveranstaltung. Das sehen wir etwas anders. Aber ich denke, wir können uns über den Titel des
neuen Buchs von Hans-Gert Pöttering, dem vormaligen
Präsidenten und langjährigen Mitglied des Europäischen
Parlamentes, einig sein: Wir sind zu unserem Glück vereint.
({0})
Die Skepsis, die im Westen gegenüber der Osterweiterung existiert hat, hat sich Gott sei Dank als unbegründet erwiesen, wenngleich - das ist schon gesagt worden - auch in Zukunft noch viel zu tun ist. Ich will aber
eines sagen: Die Menschen dort haben an Recht und
Wohlstand gewonnen, und sie sind selbstverständlich
auch bei uns in Deutschland wie andere Mitbürger aus
der Europäischen Union herzlich willkommen, als Mitbürger und als oft gefragte Arbeitnehmer.
Dieser Beitritt, das wissen wir, war nur möglich, weil
die Menschen in Bedrängnis und Gefahr damals den Mut
zur Freiheit gehabt haben. Eines - Herr Gehrcke, daran
haben Sie tatsächlich zu Recht erinnert - war aber auch
Voraussetzung, nämlich dass Russland den Freiheitswillen dieser Menschen seinerzeit nicht bekämpft, sondern
ihn akzeptiert hat. Ohne diese Voraussetzung wäre die
Entwicklung nicht möglich gewesen. Auch daran denken wir heute dankbar und in Bezug auf den letztgenannten Punkt etwas wehmütig zurück.
({1})
Wir schauen auch noch vorne. Ich sage: Wir werden
auch weiterhin alle Menschen, die im Herzen die Sehnsucht nach der Herrschaft des Rechts, nach Rechtsstaatlichkeit, nach Teilhabe und Gerechtigkeit haben, unterstützen. Wir werden das auf dem Maidan und im GeziPark machen - um das beispielhaft zu sagen -, und das
mit aller Deutlichkeit. Die Europäische Union verpflichtet sich zu diesen Prinzipien, und zwar erstens innerhalb
ihrer eigenen Grenzen, zweitens bei unseren Nachbarn
und drittens auf der ganzen Welt. Für diese Aufgabe
müssen wir die Europäische Union stärken. Das ist die
Aufgabe vor der Wahl zum Europäischen Parlament am
25. Mai.
„Wir sind zu unserem Glück vereint.“ Diese Überzeugung, die ich habe, habe ich bereits ausgesprochen. Jetzt
nenne ich die gegenteilige Ansicht, die von Präsident
Putin, nämlich dass das eine Katastrophe sei. Wir versuchen, diese Perspektive rein historisch zu begreifen.
Aber die Schlussfolgerungen, die Putin und Russland
daraus ziehen, teilen wir natürlich nicht, und zwar nicht
im Geringsten. Wenn Geschichte zur Legitimation eigener Expansionsgelüste eingesetzt wird, wenn man sich
also der Mittel bedient, die uns in die Katastrophe der
beiden Weltkriege des vergangenen Jahrhunderts geführt
haben, dann führt das erneut in die Katastrophe. Doch
diese schrecklichen Katastrophen dürfen sich nicht wiederholen.
({2})
In unserem 21. Jahrhundert muss gelten: Die territoriale Integrität und Souveränität der Staaten ist unverletzlich. Dieses Prinzip muss insbesondere auch für die
Ukraine gelten. In vielen Staaten der Erde leben unterschiedliche Völker, und es ist Aufgabe jedes einzelnen
Staates, das gleichberechtigte Zusammenleben dieser
Völker innerhalb der Grenzen des Staates zu sichern.
Ohne Einhaltung dieser Grundvoraussetzung ist ein Frieden nicht möglich.
Was sich in Russland im Moment ereignet, hat übrigens ein langes Vorspiel. Herr Außenminister, ich denke,
wir haben - leider - lange Jahre ein wenig darüber hinweggesehen. Ich fürchte, wir müssen unsere Hoffnung
auf das Pflänzchen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit
in Russland, die wir lange gehegt haben, revidieren. Wir
müssen diesen Prozess in der Rückschau einer Neube2900
wertung unterziehen und damit auch in der Vorausschau,
was Schlussfolgerungen angeht.
Ich zitiere kurz die Friedenspreisträgerin des Deutschen Buchhandels aus dem Jahr 2013, Swetlana
Alexijewitsch, eine weißrussische Schriftstellerin, die
diesen Friedenspreis in der Paulskirche in Frankfurt erhalten hat. Sie hat viele Stimmen aus Russland zusammengetragen. Diese Stimmen zeigen zerrissene, widersprüchliche, hoffnungslose, mutlose Menschen, auch
fanatisierte und sarkastische Menschen. Eine Stimme
möchte ich zitieren:
Wir reden dauernd
- so heißt es dort vom Leiden … Das ist unser Weg der Erkenntnis.
Die Menschen im Westen leiden nicht so wie wir,
sie haben gegen jeden Pickel eine Medizin. Aber
wir haben im Lager gesessen, und im Krieg war der
Boden mit unseren Leichen übersät, wir haben in
Tschernobyl mit bloßen Händen radioaktiven Graphit eingesammelt … Und nun sitzen wir auf den
Trümmern des Sozialismus.
Und jetzt wird ein Schreckgespenst der Vergangenheit
hervorgeholt. Wiederum wird Geschichte dazu missbraucht, diese hoffnungslosen Menschen durch brachiale
Propaganda, durch aggressiven Nationalismus zu berauschen. Schauen Sie einmal auf die heutige Truppenparade in Moskau, Herr Gehrcke: 11 000 Soldaten, und
Herr Putin ruft diesen Soldaten zu: Wir sind das Siegervolk.
({3})
Ich frage mich, welche Umdeutung hier stattfindet. Damit werden - das ist gefährlich - die Menschen berauscht, und es wird von den Aufgaben im eigenen Land
abgelenkt. Das darf im 21. Jahrhundert doch kein Zukunftsmodell mehr sein.
({4})
Wir müssen uns der eigenen Geschichte stellen, aber in
Verantwortung, und sie im Guten fortschreiben. Wir
können uns nicht mehr einer Ideologie des Darwinismus,
dem Kampf des Stärkeren gegen den Schwachen widmen. Das sollte doch vorbei sein. Wir sollten uns dem
widmen - das ist auch wissenschaftliche Erkenntnis -,
dass die Menschen auf Zusammenarbeit und Anerkennung angewiesen sind; denn das entspricht ihrer Natur.
Dieser Natur - sie zu Zuneigung und Ermutigung zu unterstützen - wollen wir das Wort reden und nicht dem
Kampf des Stärkeren gegen den Schwachen.
Niemand hat gesagt, dass die Europäische Union fehlerfrei ist. Ich bin ganz sicher, wir müssen noch viel tun.
Aber die Stärke der Europäischen Union ist die Voraussetzung für ihr Wirken in der Welt, für ihr Wirken um
Rechtsstaatlichkeit auf der ganzen Erde.
Seien wir also vor der Europawahl ruhig mutig, fragen wir die Kritiker: Was können wir denn eigentlich
leisten, wenn wir in die enge Nationalstaatlichkeit einzelner Staaten, zunehmend schrumpfender Staaten hier
in Westeuropa, zurückfallen? Was können wir alleine
leisten? Können wir Umwelt- und Klimaschutzziele alleine durchsetzen? Können wir uns vielleicht gegen Internetgiganten wie Google besser alleine durchsetzen?
Können wir Freihandelsabkommen besser alleine verhandeln? Können wir Außen- und Sicherheitspolitik besser alleine betreiben? Können wir die Finanzmärkte ganz
alleine in ihre Schranken verweisen? Nein, meine Damen und Herren, das können wir nur gemeinsam, und
das schaffen wir nur gemeinsam in einer starken Europäischen Union, auch wenn es dort Rückschläge und
Notwendigkeiten zur Verbesserung gibt. Wir brauchen
Kraft, Ausdauer und guten Mut für dieses Projekt. Wählen wir also am 25. Mai Europa - zu unserem Glück.
({5})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Ich will Sie informieren. Wir haben herausgefunden, woher das Wort „Cour“
kommt. Es kommt weder von „Kür“ noch von „Kur“,
sondern offensichtlich aus dem Französischen. Es gibt
zwei Bedeutungen: Einmal ist der Hofstaat damit gemeint. Da wir ja nicht mehr sehr monarchisch sind, gehe
ich davon aus, dass das nicht der Bezug ist. Dann gibt es
noch die „cour d'admirateurs“, die Anhängerschaft. Also
seien Sie, sowohl Herr Beermann als auch Frau
Dr. Schlegel, sich sicher: Sie haben eine große Anhängerschaft heute hier im Haus gefunden.
({0})
- Gratulationscour, mit c, o, u, r. - Man lernt hier also
auch etwas, wie Sie sehen, liebe Besucher des Deutschen
Bundestages.
Nächster Redner in dieser sehr schönen und wichtigen Europadebatte ist Dietmar Nietan für die SPD.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Gehrcke hat recht:
({0})
Wenn wir über die Wiedervereinigung Europas sprechen, ist es gut, den 8. Mai 1945 als Ausgangspunkt zu
nehmen, den Untergang des Faschismus, der letztlich so
groß werden konnte, weil sich Staaten, Menschen, Ideologen in einen nicht enden wollenden Nationalismus verstiegen hatten. Deshalb sollte vielleicht die erste Lehre
aus 1945 sein, dass wir all denen, die, um von eigenen
Fehlern abzulenken, dumpfen Nationalismus schüren,
mit aller Klarheit entgegentreten.
({1})
Wenn wir 1945 als Ausgangspunkt nehmen, dann
sollten wir uns daran erinnern, dass sich zumindest ein
Großteil der Deutschen, diejenigen, die im Westen lebten, nach 1945 auf den Weg in die Demokratie, in eine
freie und offene Gesellschaft machen konnten, dass aber
ein anderer Teil der Deutschen und mit ihnen viele Völker Mittel- und Osteuropas weitere 44 Jahre, bis 1989, in
einer Diktatur leben mussten. Auch das gehört dazu,
wenn man an 1945 erinnert.
Es ist der Mut dieser Menschen hinter dem Eisernen
Vorhang gewesen, der das Unglaubliche geschafft hat,
nämlich die friedliche Revolution, die am Ende gezeigt
hat, dass ein noch so perfides Unterdrückungssystem
den Drang der Menschen nach Freiheit nicht für immer
stoppen kann.
({2})
Manchmal erinnere ich mich zurück und frage mich, ob
wir im Westen, also vor dem Eisernen Vorhang, in einer
Zeit, in der die Menschen hinter dem Eisernen Vorhang
ihren Mut zusammengenommen haben, ein nicht allzu
gutes Beispiel waren, weil bei uns vielleicht eher Kleinmut herrschte, weil viele von uns selbst nicht mehr daran
geglaubt haben, dass es eine solche Wiedervereinigung
Europas in absehbarer Zeit gibt. Auch das sollte eine
Lehre sein: Kleinmut ist nicht der richtige Ansatz, um
die Wiedervereinigung Europas voranzutreiben. Frau
Kollegin Baerbock hat es schon angesprochen: Kleinmut
oder Populismus, das sei dahingestellt, herrschte zum
Beispiel auch in der Frage der Öffnung des Arbeitsmarktes. Auch das sollte ein Lehre sein: Es ist nicht die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die in Europa eine Bedrohung
darstellt. Es geht vielmehr um die Frage: Was passiert,
wenn es die Arbeitnehmerfreizügigkeit, aber keine fairen Regeln auf dem Arbeitsmarkt wie zum Beispiel einen Mindestlohn gibt
({3})
oder wenn ganz einfache Prinzipien, zum Beispiel dass
auf dem Arbeitsmarkt gelten muss: „Wer am gleichen
Ort die gleiche Arbeit macht, bekommt den gleichen
Lohn“, nicht gelten?
({4})
Wenn es solche Prinzipien überall in Europa gäbe, dann
müssten die Menschen vor der Arbeitnehmerfreizügigkeit keine Angst haben. Das darf an dieser Stelle schon
gesagt sein: Bei aller Freude über die Erweiterung - innerhalb der Europäischen Union haben wir noch viele
Reformen vor uns, bei denen wir genau diese Dinge beachten müssen und eben nicht dem neoliberalen Zeitgeist frönen dürfen.
Bei einem Prozess wie der europäischen Integration
bzw. Erweiterung gibt es Gewinner und Verlierer. Ich
glaube, an dieser Stelle sollte man bei allem Erfolg auch
daran erinnern, dass viele Menschen in den neuen EULändern - und das nicht aus eigener Schuld - zu den
Verlierern der Transformation gehört haben, weil es bisher noch nicht gelungen ist, die Kluft zwischen Arm und
Reich zu verringern, starke Gewerkschaften zu etablieren und die Regeln auf dem Arbeitsmarkt in allen Mitgliedstaaten so umzusetzen, wie wir uns das wünschen.
Wir sollten auch an die Menschen erinnern, für die diese
Transformation, jedenfalls ökonomisch und sozial, kein
Erfolg war.
Dass wir, die Bundesrepublik Deutschland, zu den
eindeutigen ökonomischen Gewinnern zählen, das muss
ich, glaube ich, an dieser Stelle nicht betonen. Es ärgert
mich deshalb, wenn ich manche Debatten erlebe, in denen so getan wird, als wäre die EU-Osterweiterung für
uns eine Belastung gewesen. Wenn es ein Land gibt, das
der ökonomische Gewinner des Ganzen ist, dann ist es
die Bundesrepublik Deutschland. Vielleicht sollten wir
als Politikerinnen und Politiker lernen, dies den Bürgerinnen und Bürgern etwas öfter zu sagen und zu erklären, statt in Stammtischmanier populistisch mit der
Angst vor Integration und Öffnung des Arbeitsmarktes
zu spielen, wenn es uns vor Wahlen gerade passt.
({5})
Es gibt noch einen anderen Punkt, den ich an dieser
Stelle betonen möchte. Ich habe bei der EU-Osterweiterung manchmal das Gefühl gehabt, dass ich etwas erlebe, was man zumindest in den ersten Jahren nach der
Wiedervereinigung auch in Deutschland erleben konnte:
Ich hatte den Eindruck, dass die alten politischen Eliten
in Westdeutschland und in Westeuropa gar nicht begriffen haben, welch ein Geschenk die Erweiterung ist. Ich
habe sehr oft die Attitüde erlebt, als müssten uns die „armen Brüder und Schwestern aus dem Osten“ dankbar
sein, dass wir sie in die Europäische Union aufgenommen
haben. Ich glaube, eine weitere Lehre aus der Geschichte
sollte sein, dass sich Europa grundlegend verändert hat.
Wir sollten dankbar sein, dass uns die Menschen, die
noch 44 Jahre länger als wir hinter dem Eisernen Vorhang leben mussten, bereichern: mit ihrer Kultur, aber
auch mit ihrem unbedingten Willen zur Freiheit, von
dem wir uns manchmal auch eine Scheibe abschneiden
könnten, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({6})
Bei vielen dieser Menschen handelte es sich um große
Persönlichkeiten - ich nenne Vaclav Havel, Lech
Walesa, Tadeusz Mazowiecki oder auch Alexander
Dubček -, die uns stellvertretend für die Menschen in ihren Ländern bereichert haben. Deshalb sollten wir uns
deutlich vor Augen führen: Die Erweiterung der Europäischen Union war nicht der Anschluss der Ostgebiete,
sondern eine Veränderung. Diese Veränderung sollten
wir wirklich verinnerlichen, und zwar als eine große
Chance, von den Menschen in Mittel- und Osteuropa etwas zu lernen, und wir sollten sie nicht bevormunden.
({7})
Ich möchte zum Schluss meiner Ausführungen sagen:
Ich würde mir wünschen, dass uns die positiven Erfahrungen mit der EU-Erweiterung und die Tatsache, dass
die Menschen in den Transformationsländern zu uns
wollten, weil sie wussten, dass hier die Werte von Demokratie und Freiheit gelebt werden, etwas mehr Mut
geben. Sie können uns nämlich deutlich machen, dass es
Demokratie und Freiheit nicht umsonst gibt, dass man
für sie kämpfen muss und dass man für sie manchmal
- daran sollte man in diesen Tagen denken - auch Opfer
bringen muss.
Herzlichen Dank.
({8})
Vielen Dank, Herr Kollege Nietan. - Nächster Redner: Dr. Bernd Fabritius für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Die EU-Osterweiterung ist zweifelsfrei eine Erfolgsgeschichte. Die unbestreitbar positiven Auswirkungen für die EU, für die
Bundesrepublik und für die neuen Mitgliedstaaten wurden bereits hinlänglich ausgeführt. Dem schließe ich
mich vorbehaltlos an, ohne alles erneut zu wiederholen.
Ausdrücklich, Frau Kollegin Baerbock, schließe ich die
Länder der 2007er-Erweiterung, Rumänien und Bulgarien, mit ein. Die Europäische Union wäre heute politisch und strategisch wesentlich schlechter aufgestellt,
wenn es diese Erweiterungsrunden nicht gegeben hätte.
({0})
Klar: Es gibt noch zu lösende Herausforderungen. Für
die Länder, die Schwierigkeiten haben, stellt gerade die
Europäische Union Instrumente bereit, die ohne eine
Mitgliedschaft nicht zur Verfügung stehen würden.
Diese Länder befinden sich dank der Europäischen
Union auf einem guten Weg.
Der Tag der EU-Osterweiterung, der 1. Mai 2004, war
ein guter Tag für Europa. Er war ein Tag zum Feiern.
Auch der zehnte Jahrestag dieses einmaligen Ereignisses
ist es, wenn auch leider nicht so sorgenfrei wie zu Beginn dieses Kapitels neuerer europäischer Geschichte.
Zur Erweiterungspolitik gehört schon lange auch die
Nachbarschaftspolitik und damit auch der Bereich der
Assoziierungsabkommen, die von manchem schon als
erster Schritt hin zu einer Vollmitgliedschaft in der EU
missverstanden werden. Wir mussten feststellen, dass
das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine anscheinend Anlass bietet, handfeste Konflikte in Europa auszulösen, auch wenn die russische Regierung - die hier als
Aggressor auftritt - als Grund den Schutz ihrer Landsleute in der Ukraine vorschiebt. Nach einem solchen
Bruch kann es kein Weiter-so geben. Die Erweiterungspolitik der Europäischen Union, die Frieden, Sicherheit
und Wohlstand bedeutet, darf aus Anlass der Krise in der
Ukraine nicht nachträglich umgedeutet werden.
({1})
Die falschen Argumente, Herr Kollege Hunko, für eine
solche Umdeutung sind zahlreich: Es wird behauptet,
man hätte wissen müssen, dass sich Russland von der
Erweiterung der EU bzw. der NATO nach Osten „irgendwann bedroht fühlen würde.“ Oder allgemeiner: Man
hätte auf die „russischen Befindlichkeiten“ stärker Rücksicht nehmen müssen. Derartige Argumente deuten die
friedliche Erweiterung der Europäischen Union in einen
aggressiven Akt und in eine Verletzung territorialer Interessen anderer um, und das ist falsch. Sogleich folgt das
Argument, man hätte Moskau zumindest besser in den
Prozess der Osterweiterung einbinden müssen. Dazu
sind zwei Dinge zu sagen:
Erstens ist Russland umfangreich einbezogen worden: Es wurde ein NATO-Russland-Rat gegründet; es
wurde entsprechend dessen Gründungsdokument von
1997 bis heute verfahren. Es wurden keine Kampftruppen dauerhaft in den neuen Mitgliedstaaten stationiert.
Russland wurde in die G 8 integriert.
Zweitens - viel wichtiger - darf trotz aller notwendigen Einbeziehung Russlands ein wichtiger Grundsatz
nicht übersehen werden: Über die Beziehungen zu ihren
Nachbarn verhandelt die EU nicht mit Dritten.
({2})
Ich hätte mir noch vor wenigen Monaten nicht vorstellen
können, dass es erforderlich wird, solche einfachen Wahrheiten, die schon vor Jahrzehnten abgehandelt schienen,
ständig wiederholen zu müssen.
Kollege Krichbaum hat vor wenigen Tagen sehr treffend formuliert: Was in Russland passiert, ist ein Rückfall in Breschnews Zeiten. Aber Breschnew ist tot und
seine Doktrin sollte es ebenfalls sein.
({3})
Europa und die NATO sehen sich durch diese Aggression ihrerseits gezwungen, auch über verteidigungspolitische Maßnahmen nachzudenken, von denen ich hoffte,
dass sie der Vergangenheit angehören. Der NATO-Generalsekretär betont gar, Russland habe seine Verteidigungsausgaben um 30 Prozent erhöht, während einige
europäische Verbündete ihre Verteidigungsausgaben um
40 Prozent gekürzt hätten. Meine Damen und Herren,
ein neues Wettrüsten darf es nicht geben!
({4})
Denn unbestreitbar bleibt: Die EU muss eine politische
Antwort ohne militärische Eskalation auf die neue Situation finden und einer Spaltung Europas, auf die Russland
offenkundig hinarbeitet - einer Spaltung an den Bruchstellen des Balkans -, entgegenwirken. Wie könnte diese
Antwort aussehen? Oder anders: Was für eine Erweiterungspolitik wollen wir? Wir sind mit der europäischen
Erweiterungs-, Partnerschafts- und Assoziierungspolitik
an einem Punkt angelangt, an dem wir erneut nachdenDr. Bernd Fabritius
ken müssen. In unserem Europaplan, meine Damen und
Herren, stellen wir fest, dass die Europäische Union mit
28 Mitgliedstaaten derzeit an der Grenze ihrer Aufnahmefähigkeit angelangt ist. Gerade durch die aktuelle
Krise müssen wir ebenso feststellen, dass wir selten ein
größeres Interesse daran hatten, die Nachbarn der EU an
uns zu binden und so für Stabilität zu sorgen.
Es muss ein Angebot geben, das eine vertiefte, dauerhafte Koexistenz schafft und gegenseitige Interessen
berücksichtigt, ohne zwingend eine sofortige Beitrittsperspektive zu eröffnen. Die bisherige europäische Nachbarschaftspolitik und die Östliche Partnerschaft werden
diesen Anforderungen derzeit nicht umfassend gerecht.
Wir müssen sie weiterentwickeln. Die Nachbarschaftspolitik als Teil der Erweiterungspolitik sollte zum Beispiel die Zivilgesellschaft stärker als bisher in den Fokus
nehmen.
Ich habe in den vergangenen Tagen und Wochen in
Deutschland und in der Ukraine mit betroffenen Menschen sprechen können - mit Ukrainern und mit Russen.
Eine Aussage in diesen Gesprächen fand ich besonders
treffend. Auf den russischen Propagandavorwurf, die
Ukraine habe es in 23 Jahren Unabhängigkeit nicht geschafft, rechtsstaatliche Institutionen aufzubauen, lautete
die treffende Antwort eines Ukrainers: Wir haben etwas
viel Besseres erreicht: Wir haben mitdenkende Bürger
bekommen.
Mündige Bürger, die gegen korrupte und undemokratische Regierungen auf die Straße gehen, sind ebenfalls
ein Garant für Demokratie und eine nachhaltige Stabilität.
({5})
Hier hat Russland offenkundig Nachholbedarf. Die
Ukraine steht gut da, könnte mit entsprechender Nachbarschaftsunterstützung - auch seitens Russlands - und
mit Unterstützung für zivilgesellschaftliche Strukturen
und im Kampf gegen Korruption aber noch wesentlich
besser dastehen.
Wir sollten jedoch nicht den Fehler begehen, Angebote einzuschränken. Dass Nachbarn unserer Nachbarn
eigene Interessen möglicherweise verletzt sehen könnten, darf uns weder in der jetzigen Situation noch in Zukunft dazu verleiten, keine oder schlechtere Angebote zu
unterbreiten. Im Gegenteil: Wir sollten die großartigen
Errungenschaften hervorheben, die dazu führten, dass
sich Länder aus eigenem Willen dazu entschieden haben
und entscheiden, sich unserer europäischen Bündnisfamilie anzunähern und zum Beispiel Assoziierungsabkommen abzuschließen. Partner der EU zu werden, war
2004 attraktiv und ist es auch zehn Jahre später.
Sollte es für die Ukraine oder andere Staaten ein Angebot einer Staatengemeinschaft für multilaterale Abkommen, Freihandelszonen oder Assoziierungsabkommen geben, die diese aus freien Stücken attraktiver als
das Angebot der Europäischen Union einschätzen, dann
steht es ihnen frei, diese anzunehmen. Das ist wohlverstandene Nachbarschaftspolitik.
({6})
Ein Wettbewerb attraktiver Angebote kann und soll bestehen.
({7})
- Selbstverständlich ist beides möglich; das schließen
nur Sie aus, nicht wir.
Nur zur Vermeidung von Missverständnissen: Eigene
nationale Interessen zu verfolgen, ist legitim. Es ist auch
legitim, diese Interessen in Nachbarländern zu verfolgen. Nicht legitim ist allerdings, derartige Interessen
statt durch Wettbewerb mit militärischer Aggression und
medialer Irreführung durchsetzen zu wollen.
({8})
Dabei sind bloße Machtdemonstrationen von Soldaten und Panzern nicht einmal das Schlimmste. Russland
führt einen Medien- und Informationskrieg in der
Ukraine und verfolgt so das Ziel einer Spaltung der dortigen Zivilgesellschaft, was weitaus gefährlicher ist.
({9})
- Ich komme auch auf Sie zurück. - Leider - das habe
ich in Donezk beobachten müssen - hat Russland damit
Erfolg, anscheinend auch in Deutschland.
Was über russische Fernsehsender in der Ostukraine
verbreitet wird, kann getrost als psychologische Kriegsführung bezeichnet werden. Es kann nicht sein, dass
mittlerweile auf allen Kanälen in der Ostukraine russisches Staatsfernsehen läuft, das täglich frei erfundene
Berichte sendet. Es darf auch nicht sein, dass Russland
auch bei uns in Deutschland durch bekannte Methoden
auf die Medienlandschaft und auf die für eine Meinungsbildung relevanten sozialen Netzwerke Einfluss nimmt
und russische Propaganda ins Denken einzuschleusen
versucht. Das ist heimtückisch und hinterhältig.
Herr Kollege.
Ich komme zum Schluss. - Das ist nicht der richtige
Weg und darf nicht Inhalt europäischer Nachbarschaftsbeziehungen sein. Ich fordere Russland an dieser Stelle
auf, in die europäische Wertefamilie zurückzukehren
und lieber Teil als Gegner einer abgestimmten Erweiterungspolitik zu werden.
Danke.
({0})
Vielen Dank, Herr Kollege Fabritius. - Nächster Redner in der Debatte: Josip Juratovic für die SPD.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zehn Jahre nach der EU-Osterweiterung und
fast 25 Jahre nach Zusammenbruch der kommunistischen Diktatur haben wir in der Tat allen Grund zu feiern.
Vor zehn Jahren war die Skepsis allerdings groß. Warum haben wir dann trotz großer Bedenken in der Bevölkerung und im Parlament mehrheitlich für die EU-Osterweiterung gestimmt? Natürlich ging es uns nach
40 Jahren der Teilung Europas in zwei militärisch, alles
vernichtende Maschinerien um Sicherheit und Frieden,
einen Frieden durch europäische Solidarität, der auf der
demokratischen Wertegemeinschaft beruht. Wir waren
überzeugt, dass die Staaten Mitteleuropas die Werte der
EU - das heißt: Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und vor allem auch soziale Gerechtigkeit - teilen und sich mit uns
ernsthaft auf diesen Weg machen wollten. Wir glaubten
daran, dass diese Werte die Grundlage für eine positive
gesellschaftliche, wirtschaftliche und soziale Entwicklung sind. Diese Hoffnung hat sich zu unserer Freude bewahrheitet. Es hat sich gezeigt, dass überall dort, wo die
Demokratie funktioniert, die wirtschaftliche Entwicklung mit großen Schritten voranschreitet und damit Sicherheit und Wohlstand wachsen.
Die EU ist unmissverständlich ein Erfolgsmodell.
70 Jahre Frieden, gesichert durch die drei großen Projekte „gemeinsamer Binnenmarkt“, „gemeinsame innere Sicherheit“ und - trotz einiger Kritiker - „gemeinsame Währung“. Um den Frieden aber dauerhaft zu
sichern, brauchen wir das vierte große Projekt, nämlich
die soziale Sicherheit der Menschen in Europa.
({0})
Diese können wir in Europa aber nur gemeinsam
durch die europäischen Institutionen verwirklichen.
Dazu passt, dass wir in zwei Wochen Europawahlen haben. Das Europäische Parlament ist der höchste Ausdruck der europäischen Demokratie. Leider wird das
Europäische Parlament von Bürgern und - noch schlimmer - von einigen politisch Verantwortlichen nicht
ausreichend ernst genommen. Wenn wir uns den Herausforderungen der Zukunft erfolgreich stellen wollen,
brauchen wir gerade diese demokratischen europäischen
Institutionen anstelle von nationalstaatlichen Egoismen.
Wenn wir wollen, dass Demokratie und Parlamentarismus zehn Jahre nach der EU-Osterweiterung weiterhin
die Attraktivität der EU ausmachen, müssen wir mit gutem Beispiel vorangehen und das Europäische Parlament
stärken.
Kolleginnen und Kollegen, mir ist die europäische
Demokratie auch als Außenpolitiker wichtig. Den Europagedanken und demokratische Werte können wir in der
Ukraine oder auf dem Westbalkan nur vertreten und einfordern, wenn wir sie vorleben. Dazu zählt übrigens
auch, dass wir unsere Versprechen ehrlich und rechtsstaatlich einhalten. Ich denke dabei an unser Versprechen gegenüber den Westbalkanstaaten, sie gemäß dem
Vertrag von Thessaloniki in die EU aufzunehmen und sie
auf dem Weg dorthin zu unterstützen.
({1})
Erlauben Sie mir, aus meiner Erfahrung als ehemaliger Jugoslawe ein paar Worte zu der Krise in der
Ukraine zu sagen. Das Wichtigste für mich als Demokrat
ist es, nicht zuzulassen, dass demokratische Grundwerte
gegen das Völkerrecht auf nationale Selbstbestimmung
ausgespielt werden. Die Prämisse ist: Individuelles
Grundrecht muss vor nationalem Kollektivrecht geschützt werden, wenn wir Nationalismen verhindern
wollen. Außerdem dürfen wir nicht zulassen, dass innenpolitische Schwächen der Akteure als außenpolitisches
Ablenkungsmanöver zum Schaden der Ukraine genutzt
werden.
({2})
Wir dürfen auf keinen Fall zulassen, dass die Kriegsdynamik an die Stelle des diplomatischen Dialogs tritt. Dafür möchte ich dem gesamten Haus danken, der Bundesregierung und vor allem unserem Außenminister für
seine Besonnenheit und Unnachgiebigkeit im unermüdlichen Einsatz für die friedliche Lösung des Konflikts in
der Ukraine.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zehn Jahre nach der
EU-Osterweiterung und zum Ende meiner Rede möchte
ich sagen: Der europäische Gedanke ist mehr als die
heutige Europäische Union. Frieden in Europa kann nur
gesichert werden, wenn es unser Ziel ist, eines Tages
eine gesamteuropäische Union zu schaffen. Die EU-Osterweiterung ist der Beweis, dass diese gesamteuropäische Vision möglich ist.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Der letzte Redner in
dieser Debatte ist Dr. Johann Wadephul für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Kollege Gehrcke, es ist unstreitig, dass die
damalige Sowjetunion einen großen Blutzoll geleistet
hat und dass wir natürlich den sowjetischen Soldaten
ebenso wie den amerikanischen und allen anderen alliierten Soldaten nach wie vor dankbar sein müssen. Die
Rede von Richard von Weizsäcker hat nach wie vor Gültigkeit.
({0})
- Vielen Dank für diesen Zuspruch zu einem wichtigen
CDU-Politiker. - Es ist doch vollkommen klar, dass wir
von einem schrecklichen Regime befreit worden sind,
das einen schrecklichen Krieg in Europa begonnen hat.
Das ist doch völlig unstreitig.
Sie sind aber sozusagen in einem sehr großen historischen Sprung über die nachfolgende Zeit hinweggehüpft.
({1})
- Das war nicht nur behände; es war auch ein bisschen
geschichtsvergessen. Es gab danach einen sowjetischen
Hegemonieanspruch über eine ganze Region. Es gab danach Stalinismus und eine kommunistische Schreckensherrschaft mit der Unterdrückung von Meinungsäußerungen und der Beherrschung anderer Länder. Herr
Gehrcke, ich finde, auch Sie als bekanntlich russophiler
Kollege in diesem Hause müssten anerkennen, dass die
EU-Osterweiterung vor zehn Jahren der große Schlussstrich gewesen ist.
In dem Sinne zitiere ich Johannes Rau, der im polnischen Parlament gesagt hat:
Der Beitritt der neuen Mitgliedstaaten ist aber
wahrlich kein europäischer Gnadenakt. Er ist eine
historische Notwendigkeit.
({2})
Johannes Rau hatte recht. Das heißt aber doch nicht, dass
wir als Europäer irgendetwas gegen Russland machen
wollen. Ich glaube, es ist ein Problem der russischen Perzeption dessen, was in den letzten Jahren geschehen ist,
dass das aus Moskauer Sicht sozusagen als ein Akt der
Einkreisung verstanden worden ist. Es gibt nicht - das
hatten Sie angesprochen, Herr Kollege Hunko - das strategische Ziel der Europäischen Union, einen Hegemonialanspruch durchzusetzen, besonders groß zu sein und
besonders viele Staaten aufzunehmen. Die Europäische
Union ist vielmehr ein freiheitlicher Zusammenschluss
freier Völker. An diesem Zusammenschluss darf kein
Freund und kein Staat gehindert werden, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({3})
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder
-bemerkung?
Nein, die Debatte hat schon lange genug gedauert. Ich
weiß auch, dass viele zum Flieger müssen.
Sie brauchen das gar nicht zu begründen. Also weiter.
Es ist, glaube ich, auch ein wichtiger Punkt für die
Zukunft, dass wir in der Tat durchaus in der Lage sind,
uns mit der Idee anzufreunden und sie auch grundsätzlich zu teilen, dass wir von Wladiwostok bis Lissabon
- ganz profan gesagt - auf einer Scholle Erde leben und
deswegen auch miteinander in Frieden leben sollten und
wollen. Wir können uns auf diesem Fleck Erde, der im
Übrigen recht groß ist, auch einen gemeinsamen Wirtschafts- und Rechtsraum vorstellen. Das ist alles machbar. Aber es ist nicht machbar, wenn man wieder mit nationalistischem und nationalem Gedankengut arbeitet.
Das musste man - darauf ist in der Debatte hingewiesen
worden - bedauerlicherweise bei der letzten großen
Rede von Präsident Putin feststellen. Auch in den russischen Medien greift wieder Nationalismus um sich. Das
ist die falsche Antwort im 21. Jahrhundert. Dem sollten
wir uns alle widersetzen.
({0})
Ich glaube, dass wir von der Euphorie der Erweiterung, die noch in vielen Staaten zu spüren ist - der Außenminister hat völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass
sich immer mehr Staaten dem Euro-Raum anschließen -,
auch im alten Europa einiges mitnehmen können. Ich
sage als jemand, der aus dem nordeuropäischen Bereich
- ich lebe auf Jütland - kommt: Es erfüllt mich schon
mit einiger Sorge, dass wir mit einem freundlichen Desinteresse in Europa zur Kenntnis nehmen müssen
({1})
- die Dänen vielleicht noch nicht so sehr -, dass beispielsweise das Königreich Dänemark zwei oder drei
Opt-outs hat - ein Opt-out betrifft die Einführung des
Euro; das wird einfach so hingenommen -, dass sich nur
Finnland voll und ganz zur EU bekennt, dass Schweden,
das kein Opt-out hat, noch nicht einmal daran denkt, den
Euro einzuführen, und dass Norwegen noch nicht einmal
ernsthaft daran denkt, sein Volk erneut vor die Frage zu
stellen, ob es nicht klug wäre, der Europäischen Union
beizutreten. Ich sage das nur beispielhaft. Man könnte
auch zu Großbritannien einiges sagen. Ich glaube, dass
wir uns ein solches Desinteresse nicht weiter leisten können. Es ist aus meiner Sicht bedauerlich, dass sich solche
Staaten auf diese Art und Weise zurückhalten und nicht
aktiv an Europa beteiligen. Wir müssen sie einladen und
den Schwung der Osterweiterung nutzen, um das alte
EU-Europa neu zu beleben, sowie dafür sorgen, dass
sich diese Staaten zu Europa und zur Europäischen
Union bekennen und dort aktiv mittun.
({2})
Was der Kollege Juratovic gesagt hat, sollte nicht in
Vergessenheit geraten. Es bereitet mir Sorge, dass der
Erweiterungsprozess, der sonst immer vom Gleichschritt
von Vertiefung und Erweiterung geprägt war, auf dem
Balkan nicht vorankommt. Beispiel Mazedonien. Seit
vier Jahren sagt die Europäische Kommission, dass die
Beitrittsverhandlungen begonnen werden können. Aber
Griechenland sagt, dass es solche Verhandlungen wegen
des Namensstreits nicht will. Auch so etwas können wir
nicht einfach nicht beachten oder akzeptieren. Wir müssen dem entgegentreten und sagen: Alle, die für Europa
sind, müssen eine Chance haben, beizutreten.
({3})
Der Westbalkan hat ein entsprechendes Versprechen in
Thessaloniki bekommen. Wir müssen es einhalten.
Wir sollten den Schwung aus der Osterweiterung nutzen, um das alte Europa wieder zu beleben, und auf dem
westlichen Balkan endlich einige Schritte vorankommen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Wadephul. - Das Wort
zu einer Kurzintervention hat Herr Gehrcke.
Herr Wadephul, zuerst einmal will ich mich bei Ihnen
bedanken, dass Sie mich zitiert und sich mit mir auseinandergesetzt haben. Das ist anständiger parlamentarischer Brauch.
Ich will auf Ihre Rede in aller Kürze mit zwei, drei
Bemerkungen antworten. Ich ziehe mich nicht darauf zurück, dass ich wahrscheinlich mehr über und gegen den
Stalinismus geschrieben habe, als viele andere hier im
Hause gelesen haben. Stalinismus ist für mich der Gegensatz zu Sozialismus. Es gibt einen Sozialismus, der
nicht mit Gewalt, sondern mit Überzeugung und Umgestaltung arbeitet sowie Kultur hervorbringt. Ich möchte
nicht, dass wir mit solch einfachen Zerrbildern - ich bin
wahrscheinlich etwas flott in der Geschichte vorangegangen - über bestimmte Auseinandersetzungen hinweggehen.
Ich hätte mich gefreut - das wäre auch glaubwürdiger -,
wenn Sie nach Ihrer richtigen Einleitung hinzugefügt
hätten, dass sich auch Ihre Fraktion für den Erhalt der
sowjetischen Gedenkstätten, die an den 8. Mai und
9. Mai 1945 erinnern, einsetzt. Ich finde es ein schlimmes Zeichen, dass ein Kollege Ihrer Fraktion die unangemessene Petition der Bild-Zeitung signiert und sich
dabei hat abbilden lassen. Dazu haben Sie nichts gesagt.
Es wäre viel glaubwürdiger, wenn Sie beide Seiten ansprechen würden.
({0})
Es wäre sehr viel glaubwürdiger, wenn wir nicht nur
- zu Recht, wie ich finde - den Nationalismus in Russland kritisierten - viele Töne, die ich aus Russland höre,
sind kritikwürdig und müssen kritisiert werden, gerade
wenn man selber in Russland ist und dort agiert; von mir
stammt der Ausdruck „lupenreiner Demokrat“ nicht -,
sondern mit der gleichen Elle auch den Nationalismus in
anderen Staaten zum Beispiel in der Europäischen Union
messen und in gleicher Schärfe zurückweisen würden.
Wir zeigen immer nur auf andere, bevorzugt auf Russland. Das macht uns nicht glaubwürdiger, sondern gibt
anderen die Chance, unsere Kritik zurückzuweisen. Ich
möchte eine entsprechend veränderte Politik.
Ich bitte Ihre Fraktion, darüber nachzudenken, ob sie
sich nicht einen Ruck geben will. Ich will jetzt niemanden auffordern, zu dem Denkmal hinüberzugehen, an
dem heute Kränze niedergelegt werden. Setzen Sie ein
Signal, dass Sie an den 8. Mai 1945 erinnern und an dieser großen Rede des Bundespräsidenten von Weizsäcker
festhalten! Diese Rede des Bundespräsidenten von
Weizsäcker war ein geschichtlicher Sprung, und davon
können sich heute viele eine Scheibe abschneiden.
({1})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Dr. Wadephul.
In aller Kürze: Ich habe ganz klar gesagt, wie ich den
8. Mai 1945 nach wie vor sehe. Das ist doch völlig unstreitig. Ich persönlich setze mich auch nicht dafür ein,
dass dieses Denkmal entfernt wird. Ich kann nur für
meine Person sprechen. Beschlüsse der CDU/CSU-Bundestagsfraktion dazu gibt es nicht. Ich kann uns alle nur
ermutigen, dass wir uns der historischen Vergangenheit
stellen, und Sie beispielsweise einladen, dass auch Sie in
den Verein eintreten, der die Erinnerung an Hohenschönhausen aufrechterhält. Sie sind herzlich willkommen, in
diesen Verein einzutreten.
({0})
Ich bin Mitglied in dem Verein und glaube, dass auch
diese Erinnerung zur deutschen Geschichte gehört. Wenn
wir sehen, welche Missetaten und welche Menschenrechtsverletzungen es in der deutschen Geschichte gegeben hat, dann sollten wir uns gemeinsam dafür einsetzen,
all dieser Taten zu gedenken. Das wäre ein gutes Ziel.
Die Bundeskanzlerin ist vor einigen Jahren - ich weiß
die Jahreszahl nicht mehr ganz genau - bei der Parade in
Moskau gewesen. Ich glaube, das ist ein beispielloser
Akt gewesen. Dafür ist der Bundeskanzlerin noch heute
sehr herzlich zu danken. Wir stehen dazu und sind stolz
darauf, dass wir eine solche Bundeskanzlerin haben.
Gleichermaßen kann man es, um es mit den Worten der
Kanzlerin zu sagen, nur schade finden, dass gerade an
solch einem Tag Präsident Putin es offensichtlich für erforderlich hält, sich auf der Krim zu zeigen. Das zeigt,
dass er eigentlich doch noch nicht die Geschichte richtig
verstanden hat. Darüber sollten vielleicht auch Sie, lieber Herr Kollege Gehrcke, noch einmal nachdenken.
Herzlichen Dank.
({1})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Vielen Dank auch an
das ganze Haus. Ich glaube, bei allen Kontroversen, die
wir auch in europäischen Fragen haben, müssten wir unseren Gästen vermittelt haben, dass hier im Haus ein europäischer Geist herrscht und dass wir den Wert Europas
und der Integration sehr hoch einschätzen. Das sage ich
sehr bewusst für das gesamte Haus in Zeiten, in denen
draußen Plakate von Leuten hängen, die dieses Europa
Vizepräsidentin Claudia Roth
an die Wand fahren wollen. Vielen Dank dem ganzen
Haus für diese wichtige europäische Debatte.
({0})
Ich bitte, jetzt wieder die Plätze einzunehmen, wobei
ich alle Redner, die über das Thema Europa gesprochen
haben, einladen möchte, sich auch von der Vorratsdaten-
speicherung ein Bild zu machen. - Ich bitte, Gespräche,
die nichts mit dem nächsten Tagesordnungspunkt zu tun
haben, jetzt zu unterbrechen oder draußen weiterzufüh-
ren.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Keul, Dr. Konstantin von Notz, Luise Amtsberg,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Europäischen Grundrechtsschutz gewährleis-
ten - Nationale Vorratsdatenspeicherung ver-
hindern
Drucksache 18/1339
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz ({1})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Jan Korte,
Dr. Petra Sitte, Dr. André Hahn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Endgültig auf Vorratsdatenspeicherung
verzichten
- zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Konstantin von Notz, Katja Keul, Luise
Amtsberg, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Vorratsdatenspeicherung verhindern
Drucksachen 18/302, 18/381, 18/999
Interfraktionell sind für die Aussprache 38 Minuten
vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin in der Debatte ist Katja Keul, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! In der Tat, es geht gleich weiter mit Europa. Nachdem das Bundesverfassungsgericht bereits 2010
festgestellt hatte, dass die deutsche Umsetzung der
Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung gegen Artikel 10
Grundgesetz, also das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis, verstieß, hat jetzt auch der EuGH entschieden,
dass die Richtlinie selbst einen nicht zu rechtfertigenden
Eingriff in Artikel 7 und 8 der Charta der Grundrechte
der EU darstellt.
Nach Artikel 7 haben die Staaten der EU die Vertraulichkeit der persönlichen Kommunikation zu achten und
nach Artikel 8 die Pflicht, personenbezogene Daten zu
schützen. Beide Grundrechte sieht der EuGH unter anderem dadurch als verletzt an, dass die Vorratsdatenspeicherung auch für Personen gilt, bei denen keinerlei Anhaltspunkt dafür besteht, dass ihr Verhalten in einem
auch nur mittelbaren oder entfernten Zusammenhang mit
Straftaten stehen könnte. Das Gericht kritisiert, dass
nunmehr alle Verkehrsdaten betreffend Telefonnetz, Mobilfunk, Internetzugang, E-Mail und Internettelefonie
auf Vorrat zu speichern seien. Die Vorratsdatenspeicherung gelte somit für alle elektronischen Kommunikationsmittel, deren Nutzung stark verbreitet und im täglichen Leben jedes Einzelnen von wachsender Bedeutung
ist. Außerdem erfasse sie alle Teilnehmer und registrierten Benutzer. Sie führe daher zu einem Eingriff in die
Grundrechte fast der gesamten europäischen Bevölkerung.
({0})
So die Begründung des EuGH.
Damit ist klar: Eine Differenzierung muss nicht erst
beim Zugriff des Staates auf die gespeicherten Daten,
sondern bereits bei der Speicherung selbst erfolgen.
({1})
Das Gericht kritisiert ausdrücklich, dass die Vorratsdatenspeicherung weder auf Daten eines bestimmten Zeitraumes oder eines bestimmten geografischen Gebietes
oder eines bestimmten Personenkreises beschränkt ist.
Was das heißt, dürfte klar sein: das dauerhafte Ende der
Vorratsdatenspeicherung, die gerade dadurch gekennzeichnet ist, dass sie flächendeckend und ohne Anlass
erfolgt. Wenn vorab überprüfbar geregelt wird, wer
wann wieso und warum ins Visier der Speicherung gerät,
ist es eben keine Vorratsdatenspeicherung mehr. Die
Richtlinie ist auch nicht nachzubessern. Sie ist schlicht
nichtig. Nehmen Sie das endlich zur Kenntnis!
({2})
Nicht erst der fehlende Richtervorbehalt beim staatlichen Zugriff auf die gespeicherten Daten ist ein Rechtsverstoß. Der EuGH macht klar: Die undifferenzierte
Speicherung ist eine Grundrechtsverletzung, der staatliche Zugriff auf die Daten ist eine weitere. Er verweist in
diesem Zusammenhang interessanterweise auf frühere
Richtlinien, wonach die Kommunikationsanbieter verpflichtet wurden, sämtliche Daten zu löschen oder zu anonymisieren, sobald sie für die Übertragung einer Nachricht nicht mehr benötigt werden, ausgenommen die zur
Gebührenabrechnung erforderlichen Daten, und das
auch nur, solange sie dafür benötigt werden. Die Vorratsdatenspeicherung wäre damit genau das Gegenteil des
bisherigen EU-Rechts gewesen.
Weil die Richtlinie gegen die Grundrechte verstößt
und nichtig ist, hat die EU-Kommission diese Woche
ihre Klage wegen der mangelnden Umsetzung gegen die
Bundesrepublik Deutschland zurückgezogen. Schon
wieder ein paar Millionen Euro, die Schäuble nicht bezahlen muss; das ist doch eigentlich schön.
({3})
Dennoch verabschieden ausgerechnet heute die Innenexperten der Union die sogenannte Erfurter Erklärung, wonach sie nach wie vor auf eine nationale Vorratsdatenspeicherung bestehen, nach dem Motto „Jetzt erst recht“,
({4})
als ob die nationalen Grundrechte einen geringeren
Schutz bieten würden als die europäischen.
({5})
Ich glaube kaum, dass die Verfassungsrichter in Karlsruhe für eine solche Interpretation zur Verfügung stehen.
({6})
Was ist das eigentlich für ein Rechtsstaatsverständnis?
Sind wir nicht alle an Recht und Gesetz gebunden?
Reicht es nicht, wenn bereits zwei oberste Gerichte das
Vorhaben disqualifiziert haben?
({7})
Regelrecht unanständig finde ich es, wenn von manchen in diesem Zusammenhang der Schutz der Kinder
vor sexuellem Missbrauch instrumentalisiert wird.
({8})
Auch ich bin der Meinung, dass gegen Kinderpornografie mehr getan werden kann und muss. Deswegen prüfen
wir gerade, ob hier noch Strafbarkeitslücken bestehen,
die geschlossen werden sollten. Wir haben aber auch
feststellen müssen, dass in den Kellern der Ermittlungsbehörden Hunderte Festplatten mit Tausenden von Gigabyte an sichergestelltem Material aus Ermittlungsverfahren wegen Kinderpornografie liegen, die mangels
Kapazitäten nicht ausgewertet werden können.
({9})
Vielleicht sollten wir in diesem Zusammenhang wieder
einmal über die Stärkung der chronisch unterfinanzierten
Justizbehörden reden.
({10})
Ich glaube außerdem nicht, dass die anlasslose Speicherung sämtlicher Kommunikationsdaten es einfacher
machen würde, die strafrechtlich relevanten Daten in der
Flut irrelevanter Daten zu identifizieren. Es ist nämlich
ein Irrtum, zu glauben: Mehr bringt mehr.
({11})
Der Größenwahn der NSA hat den Planeten auch nicht
sicherer gemacht, im Gegenteil.
Es ist ein weiterer Irrtum, zu glauben: Wer nichts zu
verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten. Wir fangen
erst ganz langsam an, zu verstehen, welche Macht derjenige über uns hat, der über unsere Daten verfügt. Gerade
da wollen Sie die Provider, die nichts anderes sind als
wirtschaftlich handelnde Akteure, dazu verpflichten,
noch mehr Daten über uns zu speichern?
({12})
Dabei hätte der Staat nicht einmal Einfluss darauf, wo
auf der Welt die Provider diese Daten speichern. Sie
könnten uns vor dem Missbrauch dieser Daten nicht ansatzweise schützen.
({13})
Was unser Leben wirklich sicherer machen würde, ist
ein funktionierender Rechtsstaat, dem die Bürgerinnen
und Bürger vertrauen.
({14})
- Ja, den haben wir, genau. - Nichts gefährdet die Sicherheit mehr als gegenseitiges Misstrauen. Deswegen
funktioniert der Rechtsstaat auch genau andersherum:
erst der überprüfbare Anlass und dann die staatlichen Ermittlungen.
({15})
Und dann das Ende Ihrer Rede!
Ich komme zum Schluss. - Unser Rechtsstaat kennt
keine Ermittlung auf Vorrat und braucht deswegen auch
keine Speicherung auf Vorrat. Lassen Sie uns dieses Kapitel endgültig abschließen!
Vielen Dank.
({0})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Nächster Redner ist
Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU-Fraktion, Augsburg.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 8. April
hat der Europäische Gerichtshof die Richtlinie über die
Vorratsdatenspeicherung für nichtig erklärt. Das ist auch
für uns Anlass, über das Thema besonnen und mit dem
nötigen Respekt zu diskutieren.
Es gilt nach wie vor: Die Speicherung von Verbindungsdaten kann zur Aufklärung schwerster Straftaten
sinnvoll sein, und in manchen Punkten ist sie auch notwendig. Das formulieren nicht allein die Innenminister
vieler Länder, sowohl von der Union als auch von der
SPD, sondern auch besonnene Kriminalbeamte, Vertreter von Sicherheitsbehörden und diejenigen, die sich tagtäglich mit dem Kampf für unsere Freiheit beschäftigen.
({0})
Diese Formulierung wird gewählt, nicht weil es darum
geht, Daten zu sammeln, als Selbstzweck, oder zu überwachen, sondern um die Freiheit zu verteidigen und dem
Rechtsstaat durch den Schutz der Opfer Geltung zu verschaffen.
Ich darf in dem Zusammenhang an die jetzige Rechtslage erinnern: Im Augenblick ist es so, dass der Staat
nach richterlichem Beschluss sehr wohl die Möglichkeit
des Zugriffs auf die Verbindungsdaten hat, es aber vom
Zufall abhängig ist, ob die Verbindungsdaten noch vorhanden sind oder schon gelöscht wurden. Ich meine, eine
rechtsstaatliche Aufklärung kann nicht allein eine Frage
des Glücksspiels sein, ob nämlich die Daten schon gelöscht worden sind, sondern es braucht dazu klare
rechtsstaatliche Regelungen.
Dennoch gilt es, vor dem Hintergrund des Schutzes
der Grundrechte besonnen und sehr überlegt zu handeln.
Gesetzgeberisches Handeln im Kernbereich der Grundrechte verlangt kluges Nachdenken, hohe Sensibilität
und eine umfassende Abwägung. Wir wollen deswegen
vor dem Hintergrund der beiden Urteile kein vorschnelles Handeln, sondern ein klares und kluges Reflektieren
über die Frage: Wie können wir die Feinde unserer Freiheit im Internet am besten bekämpfen, ohne dass wir den
Datenschutz verletzen und ohne dass wir zu sehr in die
Freiheit und die Grundrechte der Bürger eingreifen?
({1})
Da mag eine Mindestspeicherdauer der Daten ein richtiger und gesetzgeberisch notwendiger Ansatz sein. Wir
müssen uns aber auch überlegen, ob andere Formen,
vielleicht sogar modernere Technologien, nicht den gleichen Effekt haben, ohne in gleicher Weise intensiv in die
Grundrechte einzugreifen. Auch dieser Überlegung stellen wir uns, weil wir diese Frage besonnen und nicht mit
Alarmismus angehen. Es ist nämlich nicht redlich, in der
Debatte um die Mindestspeicherfristen immer wieder
eine Parallele zur NSA zu ziehen.
({2})
Dort handelt es sich um die anlasslose Massenüberwachung durch staatliche Stellen, und bei uns geht es um
die Frage, wie staatliche Behörden bei der Bekämpfung
schwerster Straftaten innerhalb einer kurzen Frist auf
Daten, die ohnehin gespeichert sind, zugreifen können.
Wer das vermischt, schürt Angst und arbeitet unredlich.
({3})
Meine Damen und Herren, es ist jetzt klug, die Analyse der beiden Ministerien abzuwarten. Es gibt auch
gute Gründe, darauf zu warten, was nach den Europawahlen vonseiten der Europäischen Union geschieht.
Das Thema Vorratsdatenspeicherung kann zwar auf nationaler Ebene angegangen werden und muss es vielleicht auch. Es ist aber sinnvoll, diese Angelegenheit
auch im europäischen Rahmen zu besprechen, weil wir
in Europa eine gemeinsame Verpflichtung haben, Kriminalität schwerster Art zu analysieren und zu bekämpfen.
Meine Damen und Herren, wir diskutieren heute vor
dem Hintergrund des Schutzes von Grundrechten und
unserer Privatsphäre. Wir dürfen aber nicht vergessen,
dass der Rechtsstaat auch dann verteidigt und unsere
Freiheit gestärkt wird, wenn wir Opfer schützen und die
Täter schwerster Kriminalität nach rechtsstaatlichen
Maßstäben ihrer Strafe zuführen. Das ist unsere Verpflichtung.
Herzlichen Dank.
({4})
Danke, Herr Kollege Ullrich. - Nächster Redner in
der Debatte ist Jan Korte für die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Debatte wird aus folgendem Grund noch interessant
werden: Bei Ihrem Redebeitrag, Herr Ullrich, hat von Ihrem Koalitionspartner nur Burkhard Lischka einmal kurz
und zaghaft geklatscht. Deswegen sind wir natürlich
sehr gespannt darauf, was die heutige Position der Sozialdemokratischen Partei zur Vorratsdatenspeicherung
ist.
({0})
Sie waren sonst immer dafür. Vielleicht sind Sie jetzt dagegen. Dann würden wir Sie unterstützen.
Nun aber zum Thema. Ich kann mich noch gut an
meine allererste Rede hier im Bundestag im Jahre 2005
erinnern. Auch sie galt der Vorratsdatenspeicherung. Sie
war, fand ich, inhaltlich überzeugend und gut. Rhetorisch war sie sehr schlecht. Ich will damit aber sagen:
Seit 2005 haben wir Ihnen als Opposition in wechselnder
Zusammensetzung mehrfach das gesagt, was Sie nun
höchstrichterlich gleich zweimal aufs Butterbrot geschmiert bekommen haben. Das wäre doch in der Tat für
die Konservativen heute Anlass, einmal in sich zu gehen
und darüber nachzudenken, ob sie ihre Position nicht
korrigieren und dem EuGH sowie dem Bundesverfassungsgericht folgen sollten.
({1})
- Das war ein freundlich gemeinter Hinweis, um in einen kritischen Dialog zu treten.
Nach dem Bundesverfassungsgericht hat der Europäische Gerichtshof in der Tat in einer noch viel deutliche2910
ren Art und Weise klar gesagt, dass die Richtlinie zur
Vorratsdatenspeicherung gegen das Grundrecht auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener
Daten verstößt. Das muss man doch zur Kenntnis nehmen. Was machen Sie? Sie stellen sich hin und sagen:
Das ist uns alles völlig schnurzpiepegal, wir machen es
jetzt trotzdem.
({2})
Wir machen das weiter. Mal gucken, was die SPD dazu
macht.
Erstens. Bei der Vorratsdatenspeicherung - das muss
man vielleicht noch einmal in Erinnerung rufen - werden Kommunikationsanbieter dazu verpflichtet, all diese
Verbindungsdaten anlasslos und verdachtsunabhängig
- das ist doch der eigentliche Kern; damit wird der
Rechtsstaat auf den Kopf und nicht auf die Füße gestellt zu speichern. Das ist logischerweise nichts anderes als
ein Generalverdacht gegen alle in Europa und Deutschland lebenden Menschen. Man kann das doch allen Ernstes nicht zulassen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({3})
Zweitens. Ich möchte etwas ansprechen, das in der
Debatte ein wenig unterbelichtet gewesen ist. Viele Journalisten und Journalistenverbände haben jetzt darauf
aufmerksam gemacht, dass die Vorratsdatenspeicherung
ein enormer Anschlag auf die Pressefreiheit ist, weil
nämlich Quellenschutz nicht mehr gewährleistet werden
kann bzw. weil Kontakte von Journalisten zu Whistleblowern - oder was weiß ich zu wem - nachvollzogen
werden können. Auch das gilt es zu beachten.
Drittens. Es gilt - das ist, wie ich finde, auch eine
wichtige Frage - zu beachten, dass beispielsweise all die
anonymen Seelsorge- und Beratungsstellen - diese Institutionen sind für viele Leute in Krisensituationen extrem
wichtig -, die logischerweise maßgeblich über das Telefon arbeiten, gefährdet sind. Im Zweifel wird man nicht
mehr anrufen, weil man nicht weiß, was wann und wo
über einen aufs Tableau kommt. Auch das gilt es, finde
ich, zu beachten.
Viertens. Wir haben schon bei der ersten Lesung der
Anträge der Grünen und der Linken vor einigen Wochen
darauf aufmerksam gemacht - auch das wird von Ihnen
offenbar nicht zur Kenntnis genommen, was einen ein
Stück weit fassungslos macht -, dass die kriminologische Abteilung des Max-Planck-Instituts ohne Interpretationsspielraum nachgewiesen hat, dass es seit dem
Wegfall der Vorratsdatenspeicherung in keiner Hinsicht
eine Schutzlücke gibt. Die gibt es einfach nicht. Das
müssen Sie doch einmal zur Kenntnis nehmen. Abgesehen von der Grundrechtsfrage ist offensichtlich auch
wissenschaftlich nachgewiesen worden, dass man die
Vorratsdatenspeicherung für eine Ermittlung in diesem
Umfang nicht braucht.
({4})
Es ist doch unfassbar, dass Sie das nicht zur Kenntnis
nehmen. Seit 2005 tragen wir Ihnen das vor.
({5})
Sie nehmen das nicht zur Kenntnis und reden so, wie Sie
2005 auch schon geredet haben. Es ist nun wirklich sehr
bedauerlich, dass es dort keinerlei Weiterentwicklung im
Denken gibt.
({6})
Fünftens. Die Gerichte sind nun zum zweiten Mal
deutlich eingeschritten. Ja, der Hinweis ist natürlich
richtig: Das Bundesverfassungsgericht hat nicht gesagt,
dass es per se unzulässig ist.
({7})
Aber es hat auch nicht gesagt: Liebes Parlament, bitte
führt in einer abgespeckten Variante eine Vorratsdatenspeicherung ein.
({8})
Das hat es dezidiert nicht getan.
Wir sind jetzt an einem Punkt - da sind ausnahmsweise Sie einmal gefragt -, an dem man nicht alles, was
juristisch erlaubt und technisch möglich ist, auch machen muss. Damit sind wir beim Kern der parlamentarischen Arbeit. Das müssen Sie jetzt entscheiden.
({9})
Wir als Linke haben als Opposition eine klare Position dazu.
({10})
Die ist von allen möglichen Kreisen - der Justiz, der
Wissenschaft und der Bevölkerung - bestätigt worden.
Es wäre schön, wenn Sie heute den Anträgen, die von
Linken und Grünen vorgelegt wurden, folgen würden;
denn dann könnten wir uns diese mittelaufregenden Debatten in Zukunft sparen und müssten nicht noch weitere
Gerichtsurteile abwarten.
Zusammengefasst: Erstens. Verzichten Sie endlich
auf jegliche Form von Vorratsdatenspeicherung, ob auf
europäischer oder auf nationaler Ebene. Das untergräbt
den Rechtsstaat. Schluss damit!
({11})
Zweitens. Nutzen wir als Parlamentarier - das wäre
eine wirkliche Aufgabe für den Bundestag, weil von der
Bundesregierung dazu natürlich gar nichts zu erwarten
ist - doch das EuGH-Urteil, um einmal in uns zu gehen
und alle Sicherheitsgesetze, die seit 9/11 erlassen worden sind, zu überprüfen.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Das ist natürlich schade. Ich hatte noch ein paar Hinweise für die Koalition. - Nutzen wir das, um alle Gesetze noch einmal auf den Prüfstand zu stellen und zu
schauen: Sind sie verhältnismäßig gewesen? Inwieweit
haben sie den Rechtsstaat beschädigt? Brauchen wir sie
überhaupt? Dazu sind wir auf jeden Fall bereit. Es wäre
schön, wenn man das in den Reihen des Parlaments gemeinsam machen könnte. Wir sind der Auffassung, dass
wir in Europa und Deutschland mit dem EuGH-Urteil
eine Zeitenwende hin zu mehr Datenschutz und Bürgerrechten einleiten sollten. Es wäre schön, wenn Sie dabei
ausnahmsweise einmal mitmachen würden.
Danke.
({0})
Als nächster Redner hat der Kollege Christian Flisek
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! Heute ist Europatag. Der 9. Mai
wird in Europa gefeiert, weil Robert Schuman damals
seinen Plan für eine Vergemeinschaftung der Kohle- und
Stahlindustrie vorlegte. Das geschah vor dem Hintergrund der Erfahrungen, die man im Zweiten Weltkrieg
gemacht hatte. Das, was damals Kohle und Stahl waren,
sind heute, im 21. Jahrhundert, die Daten. Daten sind die
Rohstoffe einer digital vernetzten Wirtschaft. Daten sind
aber auch Objekte des Zugriffs durch Sicherheitsbehörden und Geheimdienste, die sich dafür interessieren, und
das geschieht nicht nur innerhalb nationaler Grenzen,
sondern in einem weltweiten Maßstab.
Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass die Frage nach
der technischen und wirtschaftlichen Zukunft Europas in
einer digitalisierten Welt und des damit einhergehenden
Grundrechtsschutzes ein zutiefst europäisches Thema
ist. Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter. Ich glaube,
dass diese Debatte auch ein zutiefst globales Thema ist.
Deswegen müssen wir diese Debatte um die Vorratsdatenspeicherung auch in einem solchen Kontext diskutieren.
Datenströme in einer globalen Welt kennen keine
Grenzen. Diese Erkenntnis mutet vielleicht banal an. Sie
hat aber weitreichende Konsequenzen für die Beantwortung der Frage, wie wir uns politisch aufstellen müssen,
wenn wir einen effektiven Grundrechtsschutz europäisch
und global gewährleisten wollen.
Ich persönlich begrüße das Urteil des Europäischen
Gerichtshofes vom 8. April 2014 zur Vorratsdatenspeicherung ausdrücklich, weil ich es als einen ganz wichtigen Beitrag zur Ausgestaltung eines europäischen
Grundrechtsschutzes im digitalen Zeitalter halte. Ich begrüße in diesem Zusammenhang ausdrücklich auch das
äußerst besonnene Vorgehen unseres Bundesjustizministers Maas.
({0})
Es war sehr klug, hier keine Schnellschüsse im nationalen Alleingang zu produzieren. Es war sehr klug, abzuwarten und nicht in politischen Aktionismus zu verfallen. Ich betone ausdrücklich: Es ist auch ein Zeichen von
Respekt vor den höchsten Gerichten in Europa, dass wir
in anhängige Verfahren nicht mit irgendwelchen Beschlüssen hineinpfuschen, sondern abwarten, was diese
Gerichte urteilen und sagen. Dieses kluge politische
Handeln gilt es meiner Ansicht nach jetzt fortzusetzen.
Wir alle wissen nach dem Lesen des Urteils: Der
Europäische Gerichtshof hat mit diesem Urteil kein Verbot der Vorratsdatenspeicherung ausgesprochen. Er hat
aber erhebliche Flanken gesetzt. Man muss, glaube ich,
kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass aufgrund dieser Tatsache die Debatte nicht vom Tisch ist.
({1})
- Wir könnten sie heute, glaube ich, nicht beenden. - Es
war sehr unklug, sich im Vorfeld des EuGH-Urteils in
dieser Form zu äußern. Es ist auch sehr unklug, sich im
Vorfeld der Europawahlen und einer neuen Europäischen Kommission mit aktionistischen Anträgen und
durch nationale Alleingänge zu äußern.
({2})
Ich bin davon überzeugt - das meine ich wirklich
ernst -, dass, wenn wir einen wirksamen Beitrag zu einem effektiven Grundrechtsschutz der Bürgerinnen und
Bürger in Europa leisten wollen, wir in dieser Debatte
ideologisch ein wenig abrüsten müssen. Wir müssen auf
der Grundlage dieses Urteils in einen intensiven Dialog
mit unseren europäischen Partnern treten.
Folgendes sage ich an die Adresse von Herrn Kollegen Korte, Frau Kollegin Keul und der Opposition: Wir
müssen uns ein Stück weit ehrlich machen und nicht immer so tun, als würde die Zukunft der digitalisierten
Welt allein hier im deutschen Parlament entschieden
werden.
({3})
Der NSA-Skandal zeigt doch sehr deutlich die Begrenztheit nationaler Regelungen auf.
({4})
Wenn wir mit der Forderung, die Grundrechte auf der
Basis der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes weltweit oder zumindest in Europa effektiv durchzusetzen, wirklich ernst machen wollen, dann müssen wir
in diesen Dialog treten,
({5})
dann müssen wir ein wenig aus den Schützengräben herauskommen. Es ist sehr wichtig, dass wir eine Position
finden, mit der wir konstruktiv in die Verhandlungen auf
europäischer Ebene und gerade mit unseren Partnern in
den USA gehen können.
({6})
Gefragt ist kein holzschnittartiges Schwarz-Weiß,
sondern gefragt ist die Fortsetzung einer klugen Positionierung. Ich bin sehr froh, dass unser Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier den Cyberdialog mit
den Vereinigten Staaten von Amerika vorgeschlagen hat.
Ich halte diesen Dialog
({7})
für ein richtiges und ein konstruktives Format, und zwar
nicht nur auf Regierungsebene. Ich plädiere ausdrücklich dafür, dass wir diesen Dialog auf der Ebene von
Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft
führen.
Herr Flisek, lassen Sie eine Zwischenfrage von Herrn
Janecek zu?
Ja, sehr gerne.
Herr Kollege Flisek, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie
auch die ökonomische Perspektive der Vorratsdatenspeicherung geschildert haben. Am Anfang Ihrer Rede haben Sie zu Recht davon gesprochen, dass wir eine breite
Debatte führen müssen. Wir beide sind Mitglieder des
Wirtschaftsausschusses. Ich stelle Ihnen deshalb die
Frage, ob Sie zur Kenntnis nehmen und wie Sie es beurteilen, dass der Verband der Deutschen Internetwirtschaft, der sich ganz klar positioniert hat, und zwar nicht
aus Grundrechtssicht, gesagt hat: Das Ganze kostet uns
so viel, dass es uns am Ende einfach nicht weiterbringt. Sehen Sie das auch so? Würden Sie das auch so beurteilen? Können Sie bei Ihren Kollegen von der Union, die
ja gern den Mittelstand nach vorn tragen, Überzeugungsarbeit leisten, damit wir diese Position in Zukunft gemeinsam vertreten können?
({0})
Herr Kollege Janecek, das ist eine sehr gute Frage,
um nicht zu sagen: Das ist eine exzellente Frage;
({0})
ich antworte gerne darauf und bin Ihnen dafür sehr dankbar.
Ich denke, die Frage, wie wir damit umgehen, sollten wir
- darauf habe ich hingewiesen - ein wenig entideologisieren. Wenn wir aufgrund von Abwägungen, von Studien, von Evaluierungen, aber auch aufgrund solcher Aspekte, die Sie zu Recht genannt haben - ich meine die
Kosten, die wir im Zweifel zum Beispiel der privaten Internetwirtschaft aufbürden -, zu dem Ergebnis kommen
- ich gehe jetzt davon aus, dass wir innerhalb der Flanken, die der EuGH eingezogen hat, einen verbleibenden
Möglichkeitsraum haben -, dass innerhalb des Möglichkeitsraumes einer weiteren Vorratsdatenspeicherung auf
europäischer Ebene eine solche Regelung gar nicht mehr
erforderlich ist, dann ist dies ein Ergebnis, zu dem wir
aufgrund rationaler Überlegungen und nicht aufgrund einer ideologisierten Debatte, wie wir sie in diesem Hause
seit Jahren führen, gekommen sind. Das würde ich sehr
begrüßen.
({1})
Denn ich glaube eines: Wenn wir die Debatte in der Art
und Weise fortsetzen, wie sie hier zu Beginn wieder geführt wurde, dann leisten wir keinen Beitrag zu einem
wirksamen Grundrechtsschutz. Viele Länder interessieren sich für die Debatte, die wir hier führen, überhaupt
nicht. In Zeiten weltweiter globaler Kommunikation und
Datenströme müssen wir schauen, dass wir auf europäischer - ich sage sogar: auf völkerrechtlicher - Ebene
verbindliche Standards schaffen. Das ist ein konstruktiver Beitrag.
({2})
Meine Damen und Herren, ich appelliere, weil meine
Redezeit zu Ende geht: Lassen Sie uns ein wenig ideologisch abrüsten! Lassen Sie uns dafür sorgen, dass wir
uns innerhalb Europas klug positionieren! Lassen Sie
uns Formate finden wie den Cyberdialog, wo wir in der
Lage sind, unsere Positionen für einen effektiven Grundrechtsschutz deutlich zu machen und zu übermitteln!
Das, meine Damen und Herren, wäre ein Ergebnis dieser
jahrelangen Debatten, mit dem wir Parlamentarier uns
sehen lassen könnten.
Herzlichen Dank.
({3})
Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Sensburg das
Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrter Herr Korte, zu Beginn muss ich
auf Ihre Rede eingehen, obwohl ich Ihrer Rede nicht den
großen Raum geben möchte.
({0})
Sie haben anfangs Ihrer Rede Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag zur Vorratsdatenspeicherung beschrieben und haben sie selbst als sachlich brillant bezeichnet
({1})
- Sie können es noch einmal im Protokoll nachlesen; ich
habe es mir mitgeschrieben ({2})
und rhetorisch nicht so gut. Ich muss ehrlich sagen, rhetorisch haben Sie sich deutlich verbessert, aber sachlich
ist Ihre Rede nicht mehr brillant gewesen, sondern genau
das Gegenteil.
({3})
Besonders geärgert hat mich, dass Sie die Bürgerinnen und Bürger verunsichern. Sie vermischen Verkehrsdaten und sagen, es seien Inhalte. So ist es auf jeden Fall
bei mir angekommen.
({4})
Sie haben das Wort „Inhalte“ nicht benutzt; das ist richtig. Aber Sie haben gesagt, man weiß gar nicht mehr,
was über einen gespeichert wird.
({5})
Es geht um Verkehrsdaten und nicht um die Inhalte. Das
ist der entscheidende Punkt. Es werden eben nicht die
Inhalte von Telefonaten gespeichert, aber es wird immer
wieder der Eindruck erweckt, über die Vorratsdatenspeicherung würden Inhalte, Telefonmitschnitte oder Inhalte
aus E-Mails oder SMS aufgezeichnet. Das ist eben nicht
der Fall. Es war mir wichtig, dies hier noch einmal zu
betonen, damit keine Vermischung stattfindet.
({6})
Die vorliegenden Anträge halte ich für unglücklich,
weil Sie in Ihren Anträgen wollen, dass der Deutsche
Bundestag - Sie schreiben zwar „Bundesregierung“, der
Gesetzgeber ist aber der Deutsche Bundestag; dies nur
als Information - sich auch in Zukunft nicht mit einer
bestimmten Materie befasst. Egal welche Materie das ist,
ich halte den Antrag für mehr als schräg, dem Bundestag
aufzudrängen, sich mit einem Thema nicht mehr zu beschäftigen. Es ist unsere Entscheidung, ob wir uns mit
einer Materie beschäftigen. Wir lassen uns nicht von Ihnen oder der gesamten Opposition davon abhalten. Wir
beschäftigen uns mit einer Materie, wenn wir glauben,
dass sie wichtig ist.
({7})
Lassen Sie mich eine Sache sagen - ich glaube, ich
bin nicht im Verdacht, aufgrund meiner letzten Reden
zur Vorratsdatenspeicherung, die ich gehalten habe,
skeptisch ohne Ende zu sein -: Wir müssen feststellen,
dass die Vorratsdatenspeicherung in ihrer bisherigen
Form vom Tisch ist. Das sage ich ganz deutlich.
({8})
Sowohl das deutsche Gesetz als auch die EU-Richtlinien
sind vom Bundesverfassungsgericht und jetzt vom Europäischen Gerichtshof für nicht verhältnismäßig erklärt
worden. In beiden Entscheidungen haben beide Gerichte
auf die Verhältnismäßigkeit abgestellt. Sie haben sowohl
die EU-Richtlinie als auch - in der vorherigen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts - das Gesetz für
nicht verhältnismäßig und damit im Ergebnis für nichtig
erklärt. Das Bundesverfassungsgericht führt aus - beide
Sätze sind sehr wichtig -:
Zwar ist eine Speicherungspflicht in dem vorgesehenen Umfang nicht von vornherein schlechthin
verfassungswidrig. Es fehlt aber an einer dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechenden Ausgestaltung.
So wörtlich das Bundesverfassungsgericht.
Es sind also massive und tiefgreifende Eingriffe - das
ist richtig -, und es erkennt, dass auf der anderen Seite
der Schutz der Bürgerinnen und Bürger bei der rechtlichen Ausgestaltung nicht hinreichend berücksichtigt
wurde. Wir stellen also fest, dass beide Rechtsgrundlagen - die Richtlinie wie auch das Gesetz - von den Gerichten als die Verhältnismäßigkeit nicht hinreichend berücksichtigend beurteilt worden sind. Wir stellen auf der
anderen Seite fest, dass ein wesentliches Ermittlungsinstrument nicht mehr zur Verfügung steht. Wir können
Spuren nicht mehr nachvollziehen. Spuren nachzuvollziehen, ist ein wesentliches Ermittlungsmerkmal; auch
im Internet. Dieses Merkmal fehlt uns.
Herr Korte, Sie haben gesagt, die Bürgerinnen und
Bürger würden unter Generalverdacht stehen. Erinnern
Sie sich mal 15 Jahre zurück - vielleicht ist es schon
20 Jahre her -, als Sie Ihre Telefonabrechnung von der
Post bekommen haben. Da stand eine Auflistung Ihrer
Telefonate drauf. Wir standen doch nicht alle unter Generalverdacht. Die Verbindungsdaten wurden aufgezeichnet, damit der Verbindungsnachweis für die Abrechnung
aufgestellt werden konnte, und niemand hat sich darüber
aufgeregt. Jetzt möchten wir Vergleichbares nutzen, um
schwerste Kriminalität aufzuklären.
Insofern ist es wichtig, zu lesen, was das Bundesverfassungsgericht und der EuGH in ihren Urteilen ansonsten zu den Instrumenten sagen. Das Bundesverfassungsgericht sagt: Der Gesetzgeber kann mit einer Regelung
zur Vorratsdatenspeicherung
… legitime Zwecke verfolgen, für deren Erreichung eine solche Speicherung im Sinne des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes geeignet und erforderlich ist.
({9})
Der Europäische Gerichtshof schreibt:
Zu der Frage, ob die Vorratsspeicherung der Daten
zur Erreichung des … verfolgten Ziels geeignet ist,
ist festzustellen, dass angesichts der wachsenden
Bedeutung elektronischer Kommunikationsmittel
die nach dieser Richtlinie auf Vorrat zu speichernden Daten den für die Strafverfolgung zuständigen
nationalen Behörden zusätzliche Möglichkeiten zur
Aufklärung schwerer Straftaten bieten und insoweit
daher ein nützliches Mittel für strafrechtliche Ermittlungen darstellen.
({10})
Beide Gerichte sehen es als Möglichkeit an, eine solche Vorratsdatenspeicherung zu installieren, und erkennen an, dass es unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten möglich ist, dies so auszugestalten.
({11})
Beide Gerichte haben uns in die Entscheidungen hineingeschrieben, unter welchen Voraussetzungen es möglich ist. Das Bundesverfassungsgericht schreibt:
Einer solchen Speicherung fehlt es auch in Bezug
auf die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne nicht
von vornherein an einer Rechtfertigungsfähigkeit.
Dies gilt, wenn - das Bundesverfassungsgericht zählt
es auf - das Vier-Augen-Prinzip bei der Datenspeicherung berücksichtigt wird, eine physische Trennung der
Daten von öffentlichen Netzwerken erfolgt, Verschlüsselungstechnologien eingesetzt werden und die Speicherung der Daten revisionssicher protokolliert wird. Das
Bundesverfassungsgericht schreibt uns in die Entscheidung, wie es geht.
Genauso macht es der Europäische Gerichtshof: Er
schreibt eine Vielzahl von Voraussetzungen - maximale
Speicherungsdauer, Differenzierung zwischen den Kommunikationskanälen, aber auch den Adressaten usw. - in
die Entscheidung hinein.
Insofern sollten wir versuchen, eine europarechtskonforme, verfassungskonforme, der Verhältnismäßigkeit
Rechnung tragende Regelung, zum Beispiel in den
§§ 113 a bis 113 c TKG, zu formulieren, die sowohl den
Ermittlungsnotwendigkeiten als auch - da gebe ich Ihnen von der Opposition recht - den berechtigten Interessen der Bürgerinnen und Bürger, was die Angemessenheit des Mittels betrifft, Rechnung trägt. Das können wir
hinbekommen, und Sie können daran mitarbeiten.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Als nächster Redner hat der Kollege Klingbeil das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich will mich bei den Linken und den Grünen bedanken,
dass wir heute wieder eine Möglichkeit haben, hier im
Parlament über die Frage der Vorratsdatenspeicherung
zu diskutieren. Ich halte es für wichtig, dass wir uns als
Deutscher Bundestag nach diesem wegweisenden Urteil
des Europäischen Gerichtshofes intensiv über die Frage
der Datenspeicherung und der Datensicherheit unterhalten und uns auf die Suche nach dem richtigen Weg machen.
Ich will sagen, dass viele seit dem 8. April, als der
Europäische Gerichtshof das Urteil gesprochen hat, dazugelernt haben. Es war für viele hier im Haus Anlass,
die eigene Position zu überdenken. Für viele ist angesichts dessen, was man in den Jahren zuvor nahezu ideologisch vertreten hatte, quasi eine Welt zusammengebrochen.
Ich will an dieser Stelle auch sagen, dass es nicht nur
das Parlament ist, das in den letzten Jahren hochemotional über das Thema der Vorratsdatenspeicherung diskutiert hat: Wir haben erlebt, dass sich viele in der Zivilgesellschaft immer wieder ehrenamtlich für Datenschutz
und gegen die Vorratsdatenspeicherung engagiert haben.
Ich finde, heute ist ein Tag, an dem man diesen Ehrenamtlichen danken kann, die sich immer wieder in die
Debatte eingebracht haben.
({0})
Das, was wir erlebt haben, was wir als Parlament mit
dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes mit auf den
Weg bekommen haben, bedeutet eine tektonische Verschiebung in der Debatte; das muss man so festhalten.
Ich wundere mich schon, wenn ich dann an so mancher
Stelle erlebe, dass die Argumente die gleichen geblieben
sind wie vor dem 8. April. Da kann ich jedem nur raten,
in sich zu gehen und sich zu fragen, ob die Argumente
der Vergangenheit auch die der Zukunft sein können.
Ich will an dieser Stelle ausdrücklich der Bundesregierung und vor allem dem Bundesjustizminister, der
auch anwesend ist, danken für die Positionierung. Es war
ein wichtiger Schritt, dass Heiko Maas in enger Abstimmung mit Thomas de Maizière damals gesagt hat: Wir
setzen das, was im Koalitionsvertrag steht, nicht sofort
um, sondern wir warten das Urteil des Europäischen Gerichtshofes ab und schauen erst dann, wie es weitergeht.
Es war eine kluge Entscheidung, hier keine Schnellschüsse vorzunehmen und das Urteil des Europäischen
Gerichtshofes abzuwarten.
Ich will auch sagen, dass es ebenfalls eine richtige
Entscheidung des Justizministers war, auch wieder in enger Abstimmung mit dem Innenminister, nach dem Urteil zu überlegen: Wie geht es denn weiter? Die Position,
die Heiko Maas in den öffentlichen Raum gestellt hat
und der sich immer mehr anschließen, nämlich zu sagen,
wir wollen keinen nationalen Alleingang, finde ich richtig. Wir als Parlament sollten diese Position unterstützen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({1})
Es ist heute, eigentlich von allen Vorrednern, schon
angesprochen worden: Wir müssen uns nach diesem Urteil Zeit für die Diskussion nehmen. Wir müssen auch einige Dinge zur Kenntnis nehmen. Der Koalitionsvertrag
hat an dieser Stelle keine Grundlage mehr; denn darin
steht: Wir wollen die europäische Richtlinie umsetzen. Diese Richtlinie ist jetzt für nichtig erklärt worden. Die
Frage ist: Wie geht es jetzt weiter?
({2})
An die Kollegen der Grünen gerichtet, sage ich: Ja,
wir brauchen die Debatte auch in Europa. Was ich nicht
will, ist ein europäischer Flickenteppich, wo die einen
das Urteil so interpretieren und die anderen es anders interpretieren. Deswegen müssen wir jetzt die Wahlen zum
Europäischen Parlament abwarten. Wir müssen abwarten, bis sich die neue Kommission konstituiert hat und
müssen dann versuchen, innerhalb der Europäischen
Union einen gemeinsamen Dialog hinzubekommen. Es
kann nicht sein, dass die einen sagen, wir machen keinen
nationalen Alleingang, und die anderen halten an einer
nationalen Umsetzung fest. Wir müssen eine gemeinsame europäische Position entwickeln, wenn es um die
Vorratsdatenspeicherung geht.
({3})
Der Punkt ist: Wir haben jetzt Zeit, darüber zu diskutieren, was Strafermittlungsbehörden eigentlich brauchen. Ich möchte diese Diskussion gern unemotional
und sachlich führen. Aber wir führen sie unter einer veränderten Voraussetzung. Über Jahre haben die Gegner
der Vorratsdatenspeicherung sagen müssen, warum sie
gegen die Vorratsdatenspeicherung sind. Ich finde, jetzt
müssen diejenigen, die für eine Speicherung von Daten
sind, einmal begründen, warum man eigentlich dafür ist.
({4})
Ich freue mich auf die Diskussion. Auch bei mir, als jemand, der das kritisch sieht, gibt es eine große Lernbereitschaft. Ich lasse mich gerne von guten Argumenten
überzeugen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Urteil hat die
Debatte insgesamt verändert. Ich sage es noch einmal:
Wir sollten uns nun Zeit nehmen für eine intensive und
sachliche Diskussion. Der Kollege Flisek hat es angesprochen: Es gibt viele weitere Dinge, die wir im Rahmen dieser Diskussion aufführen sollten.
Ich möchte die Opposition gerne einladen, dass wir
das als Parlament gemeinsam machen. Ich würde mich
freuen, wenn wir die ideologischen Gräben der Vergangenheit überwinden und eine sachliche Debatte im Sinne
Europas führen.
({5})
Herzlichen Dank für Ihre Anträge. Wir lehnen sie heute
trotzdem ab, weil wir erst am Anfang der Debatte stehen
und nicht am Ende.
Vielen Dank.
({6})
Als nächster Redner hat der Kollege Marian Wendt
das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zunächst möchte ich klarstellen, worüber wir
heute überhaupt debattieren. Auch den Anwesenden hier
ist die Begrifflichkeit vielleicht nicht ganz klar geworden. Wir reden nicht über Vorratsdatenspeicherung, sondern nur über die Speicherung von Verbindungsdaten.
Wir sprechen darüber, ob IP-Adressen oder Telefonnummern - wer wann wo angerufen hat - gespeichert werden,
({0})
und das nicht durch staatliche Behörden, wie oft unterstellt wird. Nein, wir haben weder im Bundestag noch im
Kanzleramt oder beim BKA Server stehen, auf denen die
Telekommunikationsdaten gespeichert und genutzt werden. Das möchte ich ganz klar vorneweg stellen.
({1})
Die Debatte über die Verbindungsdatenspeicherung
haben wir in dieser Wahlperiode bereits zweimal geführt, das ist die dritte Debatte dazu. Auch nach den Urteilen des Europäischen Gerichtshofes und des Bundesverfassungsgerichts bleibt ganz klar zu sagen: Die
Verbindungsdatenspeicherung ist grundsätzlich ein geeignetes und sinnvolles Mittel, um schwere Straftaten zu
verhindern und aufzuklären. Sie dient dem Gemeinwohl. - Das steht schwarz auf weiß in beiden Urteilen.
Karlsruhe hat klipp und klar gesagt: Grundsätzlich ist die
Verbindungsdatenspeicherung mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung vereinbar. Sie ist nicht per se
verfassungswidrig. - Diese Botschaften müssen auch die
Oppositionsparteien anerkennen.
({2})
Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen von Notz zu?
Gern.
Das ist nett. Vielen Dank, Herr Kollege. - Sie verweisen
zu Recht auf beide Entscheidungen. In der Entscheidung
des Bundesverfassungsgerichts taucht ein Schlüsselbe2916
griff auf, der Begriff der Überwachungsgesamtrechnung.
Diese Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht
vor der NSA-Affäre getroffen, im Hinblick auf SWIFT,
PNR und andere Dinge. Wie schaut das Bundesverfassungsgericht Ihrer Meinung nach, so vom Bauchgefühl
her, jetzt auf die Überwachungsgesamtrechnung, jetzt,
wo wir wissen, dass praktisch alle Kommunikationsdaten im Internet komplett gespeichert wurden und weiterhin gespeichert werden? Was denken Sie, wie würde das
Bundesverfassungsgericht heute die Frage der Überwachungsgesamtrechnung bewerten?
Ich denke, Herr Kollege, dass das Bundesverfassungsgericht heute genauso urteilen würde wie 2010;
denn am Sachverhalt hat sich nichts verändert. Verbindungsdaten, Telefonnummern, Ort und Zeit, wurden bereits vor 10 bzw. 15 Jahren gespeichert. Damit hat man
nicht erst vor zwei Jahren angefangen. Der Kollege
Sensburg hat das an einem Beispiel eindrücklich erklärt.
Wir alle haben sicherlich schon einmal eine Telefonrechnung erhalten, in der am Ende eine Verbindungsübersicht enthalten war. Das sind die Verbindungsdaten, über
die wir hier sprechen. Wir sprechen nicht über Inhalte,
die möglicherweise beim NSA-Skandal eine Rolle gespielt haben. Nein, wir sprechen nur über die Frage:
Wann hat man eventuell jemanden angerufen? Dabei
geht es nicht um den Inhalt, sondern nur um die Frage,
ob Kommunikation stattgefunden hat. Darum geht es.
Deswegen, denke ich, würde das Bundesverfassungsgericht nicht anders urteilen, als es geurteilt hat, auch weil
das Grundgesetz diesbezüglich seit dieser Zeit nicht geändert wurde.
Auf zwei Punkte möchte ich noch eingehen. Die Ausgangssituation wurde bereits beschrieben. Für mich ist
es ganz wichtig, dass wir die Verbindungsdatenspeicherung nicht nur zur Ermittlung bei schweren Straftaten
brauchen, sondern wir brauchen sie auch zur Gefahrenabwehr. Die Polizei, das Bundeskriminalamt, der Richterbund und die Innenminister der Bundesländer haben
einheitlich entschieden: Wir brauchen dieses wichtige
Instrument. Ich möchte ein Beispiel nennen; denn es
geht nicht immer nur um Terroranschläge, die vielleicht
weit weg zu sein scheinen, sondern auch um ganz praktische Dinge. Nehmen wir folgendes Beispiel: Die Eltern
haben am Donnerstagabend mit ihrem pubertierenden
Mädchen oder Jungen einen Streit. Am Freitag kommt
das Kind nicht nach Hause. Das ist ein Fall, der in
Deutschland sehr häufig auftritt. Das muss man ganz
eindeutig sagen. Das ist kein an den Haaren herbeigezogenes Beispiel, sondern das passiert. Die Frage ist jetzt:
Ist das Kind nicht nach Hause gekommen, weil es den
Streit aussitzen möchte und vielleicht zur besten Freundin gegangen ist, oder wurde es vielleicht doch entführt?
Um diesen Sachverhalt aufzuklären, ruft die Polizei
beim Telekommunikationsunternehmen an und fragt
nach: Wer wurde zuletzt angerufen, und wo befindet sich
eventuell das Handy? Das alles geschieht im Einvernehmen mit dem zuständigen Ermittlungsrichter. Dann ist es
dem guten Willen bzw. dem Zufall überlassen, ob die
Polizei eine Auskunft erhält. Die Telekom speichert
diese Verbindungsdaten nämlich von sich aus, aber
Vodafone zum Beispiel nicht. Wir können es doch nicht
dem Zufall überlassen, ob Straftaten aufgeklärt werden
und eine Gefahrenabwehr stattfindet. Das kann doch
nicht davon abhängen, ob das jeweilige Telefonunternehmen diese Daten gespeichert hat. Deswegen brauchen wir einen ganz konkreten rechtlichen Rahmen, der
verfassungsgemäß ist; das haben wir ganz klar gesagt.
Das Bundesverfassungsgericht und der EuGH haben uns
dazu entsprechende Aufträge und Auflagen gegeben.
Diese werden wir jetzt umsetzen.
Damit komme ich zum zweiten Punkt. Es ist richtig,
dass wir das Problem in Europa lösen müssen. Gemeinsam mit unseren Partnern müssen wir jetzt schauen, wie
wir das machen können. Ich bin Herrn Bundesinnenminister Thomas de Maizière dankbar, dass er Anfang
Juni auf der Innenministerkonferenz in Athen dazu die
Initiative ergreifen wird. Er wird die Punkte, die uns
wichtig sind, dort vorbringen und für eine europäische
Lösung werben. Es muss ganz klar sein: Einerseits müssen wir Straftaten effektiv verhindern, und wir müssen
andererseits die Bedingungen des Europäischen Gerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichtes einhalten. Dabei geht es um Datensicherheit, Verhältnismäßigkeit und angemessene Speicherfristen. Dies müssen wir
zielgenau umsetzen. Wir werden einen ausgewogenen
Kompromiss ermöglichen.
Wir müssen uns alle bewusst sein, da wir für die Sicherheit die Verantwortung tragen, dass es hierbei nicht
um etwas Banales geht. Es geht hier, wie gesagt, um
schwerste Eingriffe. Wir werden uns für eine gute Lösung einsetzen.
Ich fasse also zusammen: Wir brauchen Mindestspeicherfristen, die nach wie vor dazu da sind, Straftaten zu
verhindern und aufzuklären. Wir brauchen auf europäischer Ebene schnell eine verfassungsmäßige und mehrheitsfähige Regelung zum Wohle der Bürgerinnen und
Bürger. Die uns vorliegenden Anträge der Grünen und
Linken werden dem nicht gerecht. Deswegen werden
wir sie ablehnen.
Vielen Dank.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die
Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/
1339 mit dem Titel „Europäischen Grundrechtsschutz
gewährleisten - Nationale Vorratsdatenspeicherung verhindern“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Das sind
Bündnis 90/Die Grünen und die Fraktion der Linken.
Wer stimmt dagegen? - Das sind die CDU/CSU und die
SPD. Wer enthält sich? - Niemand. Damit ist dieser Antrag abgelehnt worden durch die Stimmen der Koalition.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 20 b. Abstimmungen über die Beschlussfassung des Ausschusses für
Recht und Verbraucherschutz auf Drucksache 18/999.
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/302 mit dem Titel
„Endgültig auf Vorratsdatenspeicherung verzichten“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind
die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? - Das ist
die gesamte Opposition. Wer enthält sich? - Damit ist
diese Beschlussempfehlung angenommen worden mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/381
mit dem Titel „Vorratsdatenspeicherung verhindern“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wiederum die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? Wiederum die gesamte Opposition. Wer enthält sich? Damit ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen
der Koalition angenommen worden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme jetzt
zum Tagesordnungspunkt 21:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Gesetzes zur Zahlbarmachung
von Renten aus Beschäftigungen in einem
Ghetto
Drucksache 18/1308
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe als erster Rednerin der Staatssekretärin Frau Lösekrug-Möller das Wort.
({1})
Wir alle können uns heute nicht mehr vorstellen, was
es hieß, unter unmenschlichen Bedingungen in einem
Ghetto der Nationalsozialisten zu arbeiten. Doch es gibt
immer noch Zehntausende, die dieses harte Schicksal erleiden mussten und die lange auf eine Rente … im
Geiste der Regelung von 2002 warten mussten.
So Andrea Nahles, als der Gesetzentwurf, den ich Ihnen heute vorstellen darf, das Kabinett passierte.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ja, diese Menschen haben
unsägliches Leid erlitten und sind heute hochbetagt. Im
Koalitionsvertrag haben SPD und Union deshalb in gemeinsamer Verantwortung für die Überlebenden des
Holocaust festgelegt, dass dem berechtigten Interesse
der Holocaustüberlebenden an einer angemessenen Entschädigung für die Arbeit, die sie im Ghetto geleistet haben, Rechnung getragen wird. Mit dem vorliegenden
Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto, kurz Ghettorentengesetz, sorgen
wir dafür, dass diese Menschen einen vollständigen sozialversicherungsrechtlichen Ausgleich für ihre Arbeit
im Ghetto erhalten.
({0})
Die bisherige Regelung wurde von vielen Betroffenen
als Unrecht empfunden,
({1})
denn viele Ghettorenten wurden nicht vom frühestmöglichen Beginn ab Juli 1997 gezahlt. Wie Sie wissen, liegt
der Grund darin, dass viele Ghettorenten erst nachträglich, nach einer Änderung der Rechtsprechung im Jahr
2009, bewilligt wurden. Wegen der im Sozialrecht geltenden Zahlungsausschlussfrist wurden die Ghettorenten
nur für vier Jahre rückwirkend gezahlt, also in der Regel
ab Januar 2005. Mit dem heute vorgelegten Gesetzentwurf ändern wir das. Danach entfällt die bisherige Vierjahresfrist, werden alle Renten auf Antrag der Berechtigten vom Juli 1997 an neu festgestellt und gezahlt und
entscheiden die Menschen selbst, ob sie eine Nachzahlung der Rente ohne die bisherigen Zuschläge wünschen
oder ob sie stattdessen die bisherige Rente mit Zuschlägen, jedoch ohne weitere Nachzahlung behalten möchten. Momentan gehen aus aller Welt jeden Monat noch
rund 300 Anträge auf die sogenannte Ghettorente ein.
Auch diese neu eingehenden Anträge können in Zukunft
ab Juli 1997 bewilligt werden.
Meine Damen und Herren, die meisten Betroffenen
ziehen eine tatsächliche Sozialversicherungsrente als
Anerkennung für die von ihnen geleistete Arbeit im
Ghetto einer einmaligen Entschädigungszahlung vor.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf entsprechen wir
diesem Anliegen. Menschen, die im Ghetto gearbeitet
haben, taten dies vor allem, um nicht zu verhungern und
um der Deportation, also dem sicheren Tod, zu entgehen.
Wir können das große Leid, das sie unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft erlitten haben, niemals
gutmachen; das ist unbestritten. Aber wir können uns dafür einsetzen, dieses Leid nicht zu vergessen und es anzuerkennen. Das vorliegende Gesetz leistet einen kleinen, aber wichtigen Beitrag dazu.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie daher
seitens der Bundesregierung um zügige und wohlwollende Beratung und schließlich um Ihre Zustimmung,
damit alle ehemaligen Ghettobeschäftigten jetzt schnell
zu ihrem Recht kommen und ihre Rente ab Juli 1997 erhalten.
Vielen Dank.
({3})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Jelpke das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es wird
in der Tat höchste Zeit für diesen Gesetzentwurf, der Ungerechtigkeiten beim Umgang mit früheren Ghettobewohnern und -bewohnerinnen endlich beendet. Die Umsetzung dieses Ghettorentengesetzes ist wahrlich kein
Ruhmesblatt gewesen. Erst hatte man den Überlebenden
eine Rente zugesagt, dann hat man 90 Prozent aller Anträge abgelehnt. Wie demütigend muss es für die Betroffenen gewesen sein, sich von deutschen Beamtinnen und
Beamten und von der Rentenkasse den Vorwurf anhören
zu müssen, sie seien gar nicht in einem Ghetto gewesen
oder sie hätten dort nicht „freiwillig“ gearbeitet?
Erst 2009 hat das Bundessozialgericht eine Neuüberprüfung angeordnet, in deren Folge wenigstens die
Hälfte der Anträge doch noch bewilligt wurde. Prompt
kam die nächste Ungerechtigkeit: Obwohl versprochen
war, dass die Rente ab 1997 auszuzahlen ist, flossen die
Gelder erst mit Wirkung ab 2005. Das ist nicht nur eine
gefühlte Ungerechtigkeit, wie es in der Gesetzesbegründung heißt.
({0})
Für viele Überlebende geht es sehr praktisch darum, dass
ihnen Tausende von Euro verlorengegangen sind, zum
Beispiel einem 90-Jährigen, der Anspruch auf 8 000
Euro Nachzahlung hätte. Dass ihm bisher vorgerechnet
wurde, er werde diese Summe durch den höheren Rentenzuschlag bis zu seinem 98. Geburtstag ausgeglichen
haben, ist einfach absurd gewesen. Deswegen ist es richtig, diese Nachzahlungen jetzt zu ermöglichen.
({1})
Richtig ist ebenfalls, jetzt auch solche Ghettos zu berücksichtigen, die nicht direkt von den Nazis kontrolliert
worden waren, sondern von ihren Komplizen und Komplizinnen, etwa in der Slowakei und in Rumänien. Auch
das Ghetto in Schanghai konnte ja nur eingerichtet werden, weil die Nazis mit ihrer Vernichtungspolitik Juden
und Jüdinnen dazu zwangen, zu fliehen. Dieses Unrecht
so weit wie möglich wiedergutzumachen, gehört zur
deutschen Verantwortung. Ich bin angenehm überrascht
davon, dass der Entwurf von Ministerin Nahles dieser
Verantwortung in einem so weitreichenden Umfang
nachkommt.
({2})
Zur Selbstzufriedenheit, meine Damen und Herren, gibt
es trotzdem keinen Grund. Ich möchte daran erinnern,
dass die jetzige Lösung für Tausende von Betroffenen zu
spät kommt. Rund 7 000 Menschen haben schon die
Neuüberprüfung der Anträge 2009 nicht mehr erlebt.
Vorstöße der Linken, der SPD und der Grünen, die in
eine ähnliche Richtung zielten wie der jetzt vorliegende
Gesetzentwurf, wurden vor einem Jahr mit Stimmen der
Union und der FDP abgeblockt. Seither sind wieder einige Hundert Betroffene gestorben.
Ich möchte die Gelegenheit nutzen, mich bei den Holocaustüberlebenden ausdrücklich für ihre Kraft zu bedanken, beharrlich ihr Recht einzufordern. Das gilt auch
für Historiker und mutige Richter, denen es zu verdanken ist, dass das Bundessozialgericht in seinem Beschluss von 2009 die Ablehnungspraxis kritisch beurteilt
hat.
({3})
Ich möchte an dieser Stelle namentlich den Sozialrichter
Jan-Robert von Renesse nennen, der schon früh erkannt
hatte, dass die Formulare der Rentenkassen dem Schicksal der NS-Opfer nicht gerecht wurden, und deswegen
persönliche Anhörungen auch in Israel durchführte. Dafür wurde er von seinen Vorgesetzten zusammengestaucht, gemobbt und von diesen Fällen abgezogen. Gedankt wurde ihm nur von den Überlebenden. Wir, die
Linke, möchten uns diesem Dank ausdrücklich anschließen
({4})
und das Justizministerium in NRW auffordern, die Schikanen gegen Richter Renesse endlich einzustellen.
({5})
Zum Schluss möchte ich noch einen Appell an die
Bundesregierung richten: Vergessen Sie nicht die Überlebenden der polnischen Ghettos! Es wird gern übersehen, dass in Polen lebende Betroffene bisher keinen Cent
an Renten erhalten haben. Das liegt an zugegebenermaßen komplizierten Regelungen des deutsch-polnischen
Sozialversicherungsabkommens, was aber kein Grund
sein kann, dieses spezielle Unrecht einfach hinzunehmen.
({6})
Ministerin Nahles war dieser Tage in Polen und hat leider wieder keine Lösung mitgebracht, nur die Ankündigung, dass weitere Gespräche geführt werden. Frau
Nahles - sie ist heute nicht da; aber die Staatssekretärin
kann das sicherlich übermitteln -, das reicht nicht. Wir
denken, dieser Punkt darf nicht auf die lange Bank geschoben werden; sonst lebt kein Betroffener mehr.
Wenn es darum geht, Gerechtigkeit für NS-Opfer herzustellen, haben wir schon viel zu viel Zeit verloren.
Deshalb ist es gut und richtig, dass wir uns heute, was
den hier vorgelegten Gesetzentwurf betrifft, einig sind.
Ich hoffe auch, dass er so schnell wie möglich verabschiedet wird, damit die Renten endlich ausgezahlt werden.
Herzlichen Dank.
({7})
Als nächster Redner hat der Kollege Weiß das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist in der Tat unvorstellbar für uns, für die heute
lebende Generation, was das Leben in Ghettos, in die die
Nazidiktatur und ihre Helfershelfer Menschen gepfercht
haben, wirklich bedeutet hat. Deswegen möchte ich noch
einmal daran erinnern, dass vor zwei Jahren, am 27. Januar 2012, Marcel Reich-Ranicki von dieser Stelle aus
uns allen mit seiner Rede einen sehr beeindruckenden
und tiefen Einblick in die Situation des Warschauer
Ghettos damals gegeben hat.
Dass wir im Deutschen Bundestag 2002 ein Gesetz
beschlossen haben, mit dem wir den Menschen, die im
Ghetto einer Arbeit nachgingen, um zu überleben, einen
eigenen Rentenanspruch zugesprochen haben, war, wie
ich finde, eine richtige, gute und nicht nur symbolträchtige Entscheidung. Ich glaube, wir können gemeinsam
ein Stück stolz darauf sein, dass wir das geschafft haben.
Ja, die Menschen, die im Ghetto einer Arbeit nachgingen, erhalten einen eigenen Rentenanspruch: Das war
die Entscheidung des Bundestages. Sie war richtig, gut
und wegweisend.
({0})
Auf das, was anschließend geschehen ist, können wir
nicht wahnsinnig stolz sein; das ist richtig. Die Deutsche
Rentenversicherung hat die Bestimmungen des Ghettorentengesetzes in der Praxis nämlich so eng ausgelegt,
dass rund 90 Prozent der Anträge abgelehnt worden
sind. Ich will ganz klar sagen: Es war 2002 nicht die Absicht der deutschen Parlamentarier, ein Gesetz zu verabschieden, bei dem 90 Prozent der Betroffenen anschließend gar keine Leistung bekommen, weil die meisten
Anträge durch die Behörden abgelehnt werden.
({1})
Die damalige rot-grüne-Bundesregierung, die ich als
CDU-Abgeordneter nicht unbedingt verteidigen muss
- in diesem Fall tue ich das aber gerne -, hat damals übrigens schnell reagiert, indem sie eine eigene Entschädigungsleistung in Höhe von 2 000 Euro eingeführt hat,
die jeder, dessen Antrag abgelehnt wurde, beantragen
konnte und auch unbürokratisch und schnell erhalten
hat. Um das deutlich zu machen: Es gab anschließend
also kein Nichtstun, sondern es ist schnell reagiert worden.
Dann kam im Jahr 2009 - das ist schon erwähnt worden - die wegweisende Entscheidung des Bundessozialgerichts, mit der die Möglichkeit eröffnet wurde, dieses
Gesetz praxisnäher umzusetzen und wesentlich mehr
Anträge zu genehmigen. Deswegen richte ich noch einmal einen Dank für diese wegweisende Entscheidung an
die damaligen Sozialrechtler, mit der sie unser Gesetz so
zur Anwendung gebracht haben, wie es eigentlich gedacht war.
({2})
Im deutschen Sozialrecht gibt es aber eine Bestimmung, die für alle Sozialleistungen gilt, nämlich dass
man eine Sozialleistung nur vier Jahre rückwirkend genehmigt bekommen kann. Das führt im Fall der Bezieher
einer Ghettorente ab 2005 allerdings dazu, dass deren
monatliche Rente wesentlich höher ist - um bis zu
45 Prozent höher - als die Rente, die ab dem Jahr 1997
monatlich ausgezahlt wird.
Man ging davon aus, dass das, was einem entgangen
ist, weil der ursprüngliche Rentenantrag nicht genehmigt
wurde, durch diesen höheren monatlichen Zahlbetrag
der Rente ungefähr ausgeglichen wird. In vielen Gesprächen mit Betroffenen haben wir allerdings feststellen
müssen, dass das subjektive Gerechtigkeitsbefinden
trotzdem massiv gestört ist,
({3})
weil sich die Betroffenen fragen: Warum bekommt der
eine die Rente rückwirkend ab 1997 ausgezahlt und ich
erst ab 2005?
Wir haben dann darüber diskutiert, ob man denjenigen, die erst ab 2005 eine Rente erhalten, für den Zeitraum von 1997 bis 2005 nicht einfach einen Einmalbetrag als Entschädigung zahlen könnte. Wir haben das
sehr ernsthaft erwogen, aber feststellen müssen, dass die
Betroffenen auch mit einer solchen Regelung nicht zufrieden gewesen wären, sondern das nach wie vor als relativ ungerecht empfunden hätten.
Deswegen bin ich froh, dass wir jetzt eine klare Regelung treffen. Mit der Änderung machen wir Folgendes
möglich: Derjenige, der damit einverstanden ist, dass er
erst ab 2005 diese Rente bekommt - dafür erhält er aber
einen höheren monatlichen Zahlbetrag -, kann dabei
bleiben. Wer dagegen eine Neuberechnung seiner Rente
möchte, die dann rückwirkend ab 1997 ausgezahlt wird
- dafür erhält er aber einen niedrigeren monatlichen
Zahlbetrag -, der kann diese Lösung wählen.
Ich glaube, damit kann jeder Betroffene für sich persönlich eine Entscheidung treffen, und ich hoffe, dass
das subjektive Ungerechtigkeitsempfinden, das mit der
bisherigen Praxis verbunden ist, damit der Vergangenheit angehört. Das ist ein wichtiger Schritt, um dem Gerechtigkeitsempfinden der Betroffenen nach ihrem
schweren Schicksal, das sie erlebt haben, ein Stück weit
zu entsprechen.
Wir eröffnen die Möglichkeit, Anträge jetzt oder auch
erst in Zukunft zu stellen. Diejenigen, die bislang zum
Beispiel aufgrund der Befürchtung, bei der bisherigen
Genehmigungspraxis ohnehin keine Chance zu haben,
keinen Antrag gestellt haben, sollten jetzt den Mut auf2920
Peter Weiß ({4})
bringen - dazu möchte ich sie auch ausdrücklich auffordern -, einen Antrag auf eine Ghettorente zu stellen,
wenn die Voraussetzungen bei ihnen vorliegen.
Bei selbstkritischer Betrachtung - so müssen wir sagen - hat es viel zu lange gedauert, bis bei der Auslegung dieses Gesetzes die Erkenntnis Platz gegriffen hat,
dass eine Ghettobeschäftigung nicht mit den Maßstäben
eines allgemeinen versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses klassischer Art gemessen werden
kann.
Ich glaube, dass wir jetzt insgesamt eine Regelung
treffen, die dem Gerechtigkeitsempfinden der Menschen
tatsächlich entspricht und mit der dafür gesorgt wird,
dass jeder für sich selbst ermessen kann, mit welcher Regelung er gerne seine Ghettorente beantragt und mit welcher finanziellen Regelung er glaubt, besser zu fahren.
Logischerweise spielt auch die Frage, wie hoch der
Zahlbetrag ist, eine große Rolle, auch wenn es, ehrlich
gesagt, mehr um geringe Rentenansprüche geht. Es sind
keine Riesensummen, die da monatlich ausbezahlt werden.
({5})
Ich finde, dass man bei einer solchen Debatte auch
auf Folgendes hinweisen sollte. Der finanzielle Beitrag
einer Ghettorente ist nur der eine Aspekt. Der andere Aspekt ist ein eher moralischer. Ich darf seit einigen Jahren
Präsident des Maximilian-Kolbe-Werks sein, einer Institution, die aus der katholischen Versöhnungsarbeit heraus entstanden ist. Dieses Werk steht mit den heute
noch unter uns lebenden Menschen, die einst von den
Nazis in KZs, Ghettos oder in Lager verbracht worden
waren, im Dialog und gewährt ihnen Hilfe.
Für mich ist beeindruckend: Dass die Frauen und
Männer, die sich nach den schrecklichen Erfahrungen in
der Nazidiktatur einstmals geschworen hatten, nie mehr
deutschen Boden zu betreten, nie mehr die deutsche
Sprache zu benutzen, die zusammengezuckt sind, wenn
irgendwo Deutsch gesprochen worden ist, weil sie sich
dadurch automatisch an die Nazischergen erinnert fühlten, heute - hochbetagt! - bereit sind, nach Deutschland
zu kommen, an Universitäten und Schulen als Zeitzeugen für Gespräche zur Verfügung zu stehen und ihre
Gastgeber in Deutschland als „unsere Freunde“ bezeichnen, ist für mich das eigentliche Wunder der Aussöhnung. Für dieses Wunder der Aussöhnung können wir
Deutsche nur dankbar sein.
Vielen Dank.
({6})
Als nächster Redner hat der Kollege Beck das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
möchte zunächst mit einem Dank an die Kolleginnen
und Kollegen von der SPD dafür beginnen, dass sie
durchgesetzt haben, dass dieses wirklich ungute Kapitel
jetzt hoffentlich ein gutes Ende findet. Wir als Opposition haben in der letzten Wahlperiode wiederholt gemeinsam gefordert, dass der gesetzgeberische Wille, der
2002 zu dem Ghettorentengesetz geführt hat, endlich
von Verwaltung, Gerichten und Gesetzgeber umgesetzt
wird.
Wir hatten von Anfang an gesagt, man solle die Leistungen rückwirkend ab 1997 bekommen. Durch die
skandalöse Rechtspraxis sowohl der zuständigen Behörden als auch einiger Sozialgerichte wurde das gemacht,
was leider paradigmatisch für die Praxis und Geschichte
des deutschen Entschädigungsrechts steht: Man hat mit
den Opfern immer gerechtet, hat Opfergruppen herausargumentiert, hat Leistungen gekürzt, hat Verfolgungsschicksale nicht in ihrer vollen Dimension wahrhaben
wollen und nicht anerkannt. Das ist im Praxisvollzug
dieses Gesetzes auch passiert.
Wie kann ein Sozialgericht auf die Idee kommen,
dass die Arbeit in einem Ghetto quasi die gleichen rechtlichen Strukturen haben soll wie ein Normalarbeitsverhältnis in der Bundesrepublik Deutschland? Natürlich
waren das Zwangsverhältnisse. Niemand war freiwillig
im Ghetto. Natürlich war es aus der Not geboren, dass
die Menschen dort gearbeitet haben: um eine Suppe
mehr zu haben, um ein paar Zloty zu bekommen, um
sich etwas zu essen kaufen zu können oder um die Masse
zu erhöhen, über die der Judenrat verfügen konnte, um
für die Menschen zu sorgen.
Natürlich war das nicht freiwillig in unserem Sinne,
auch wenn es zum Teil freie Entscheidungen waren.
Dass man das rückblickend nicht erkannt hat, halte ich
für einen Skandal.
({0})
Für einen Skandal halte ich auch, dass man oftmals nach
Aktenlage entschieden und einfach Formalien zur
Grundlage der Entscheidungen gemacht hat.
Ich finde, in diesem Zusammenhang gebührt dem Sozialrichter von Renesse, der auch bei den Anhörungen
des Parlamentes zugegen war, großer Dank. Er hat gesagt: Nein, ich höre mir das Lebensschicksal der Menschen an, das will ich kennen, statt mich nur auf die Formulare zu stützen, die die Menschen in ihrer Dimension
nicht voll durchschaut haben.
({1})
Ich hoffe, dass ihm für sein Engagement in dieser Hinsicht noch Recht widerfährt.
Es ist gut, dass wir heute die Gesetzgebung korrigieren und in Rechnung stellen, dass das Bundessozialgericht eine neue Praxis vorgegeben hat, sodass diejenigen,
Volker Beck ({2})
die Opfer einer falschen Rechtsprechung waren, im Ergebnis nicht weniger Leistungen bekommen als diejenigen, denen der Anspruch von Anfang an gewährt wurde.
Ich möchte aber auf ein Problem aufmerksam machen, das der Gesetzentwurf der Bundesregierung noch
enthält und eine bestimmte Personengruppe betrifft. In
der Begründung des Gesetzentwurfes heißt es zu Recht:
Um Ungleichbehandlungen unter den Berechtigten
zu vermeiden, können künftig auch diejenigen, die
zum Beispiel wegen befürchteter Aussichtslosigkeit
angesichts der jahrelangen restriktiven Bewilligungspraxis einen Antrag auf eine Rente nach dem
ZRBG nicht innerhalb der bisher geltenden Antragsfrist … gestellt … haben,
einen Antrag stellen. - Das ist richtig. Manche dieser
Antragsteller, die wussten, dass sie, weil sie kein Gehalt,
sondern nur Lebensmittelmarken bekommen haben,
nach bisheriger Praxis keinen Anspruch hatten, können
den Antrag nicht mehr stellen, weil sie inzwischen verstorben sind bzw. vor 2009 verstorben waren.
Die Hinterbliebenen dieser Ghettorentenberechtigten, die oftmals selber auch NS-Verfolgte sind, aber womöglich nicht im Ghetto waren, sondern gleich von ihrem Wohnort in ein KZ verschleppt worden sind,
erhalten jetzt nach dem Ghettorentengesetz Leistungen
in Form der Hinterbliebenenrente nur ab dem Todestag
des Ghettorentenberechtigten. Damit leiden sie mit darunter, dass jemand in dem Wissen, dass er keinen Anspruch hat, auf Antragstellung verzichtet hat, weil er sich
von einer deutschen Behörde nicht auch noch diese Ablehnung schriftlich geben lassen wollte.
Ich finde - das sage ich auch an meine konservativen
Freunde von der CDU gerichtet -, wenn wir den Schutz
der Ehe ernst nehmen, dann müssen wir auch daran festhalten, dass die Ehe eine Wirtschaftsgemeinschaft ist.
Die Hinterbliebenen stehen heute unter Umständen ökonomisch schlechter da - im Zweifelsfall macht das
7 000 Euro aus -, als wenn ihr verstorbener Ehegatte
oder seine verstorbene Ehegattin den Antrag gestellt
hätte. Es geht wahrscheinlich um wenige Menschen.
Lassen Sie uns diese kleine Ungerechtigkeit im Gesetzgebungsverfahren im Ausschuss noch bereinigen. Ich
hoffe, wir kriegen das gemeinsam hin.
({3})
Meine Damen und Herren, ich möchte mich zum
Schluss dafür bedanken, dass wir heute so weit gekommen sind. Angesichts dessen, dass heute der 9. Mai ist,
dass man in Russland, in der Ukraine und in Weißrussland heute des Waffenstillstandes, der Kapitulation
({4})
und der Befreiung Deutschlands durch die Rote Armee
gedenkt, möchte ich aber auch daran erinnern, dass wir,
wie ich denke, noch ein offenes Kapitel in der Erinnerungspolitik haben, und zwar in der Frage der Entschädigung bzw. der humanitären Gesten gegenüber den sowjetischen Kriegsgefangenen. Sie waren die zweitgrößte
Opfergruppe nach den Juden. Millionen von Soldaten
sind in den Russenlagern ausgehungert, zu Tode gequält
und umgebracht worden. Es gibt keinen Ort, an dem wir
dieses Unrechts und der Opfer gedenken, die oftmals,
wenn sie überlebt haben, unter Stalin als angebliche Kollaborateure weiter gelitten haben. Demgegenüber hat
Deutschland bis heute keine Geste des humanitären Ausgleichs angeboten.
Ich finde, wir sollten uns in dieser Legislaturperiode,
solange noch betroffene Menschen leben, auch diesem
Kapitel widmen. Ich glaube, gerade in der aktuellen Situation wäre es ein gutes Signal an die Völker der ehemaligen Sowjetunion, dass wir ihnen dankbar sind, dass
sie uns vom Hitlerfaschismus und von den Nationalsozialisten befreit haben und dass Konflikte, die wir außenpolitisch an anderer Stelle haben, nichts damit zu tun haben, dass wir ihnen diesen Dank auch in Zukunft
schulden.
({5})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Kerstin Griese
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte mich erst einmal sehr herzlich bedanken für
die große Ernsthaftigkeit, mit der die Debatte hier geführt wird. Ich denke, das ist der Sache angemessen.
Auch die Tatsache, dass wir schon heute Morgen in einem interfraktionellen Berichterstattergespräch mit allen
vier Fraktionen über dieses Thema beraten haben, zeigt,
dass, wie wir hier heute ja auch erleben, sehr große Einmütigkeit herrscht, und lässt hoffen, dass wir endlich zu
einem guten Ergebnis kommen. Vielen Dank dafür an
alle Fraktionen.
Vielen Dank auch an Ministerin Andrea Nahles und
an Sie, liebe Frau Staatssekretärin; denn es war eine der
ersten Amtshandlungen unserer Ministerin, dass sie versucht hat, für dieses seit langem schwelende und schwierige Thema eine im Sinne der Betroffenen bessere Lösung zu finden. Das war dringend nötig. Ich bedaure,
dass es so spät kommt. Daher ist es wichtig, dass wir das
jetzt so schnell wie möglich beschließen.
Wir sprechen über die Änderung des Ghettorentengesetzes, ein Gesetz, das wir 2002 mit der Intention beschlossen hatten - das wurde bereits gesagt -, dass den
Menschen, die in Ghettos unter schlimmen Umständen
arbeiten mussten, ein kleines Stück Gerechtigkeit
- wenn man überhaupt davon sprechen kann - widerfährt und dass entsprechende Auszahlungen rückwirkend ab 1997 möglich werden.
Wie wir schon gehört haben, wurden in der Praxis zuerst etwa 90 Prozent der Anträge, die oft von Menschen,
die sehr alt und krank waren, gestellt wurden, nicht be2922
willigt. Die Betroffenen haben das als einen Schlag ins
Gesicht empfunden. Das hat dazu geführt, dass 2009 das
Bundessozialgericht die bisherige strikte Auslegung revidiert hat und danach etwa 50 Prozent der Fälle, die zuvor abgelehnt wurden, anerkannt wurden. Allerdings
- das war das Problem dabei, das wir nun gesetzlich lösen wollen - erfolgte die Rentenauszahlung für die nun
anerkannten Anträge nur für vier Jahre rückwirkend,
also erst ab 2005 und nicht schon ab 1997, wie es der
Gesetzgeber wollte. Das bedeutete für viele Menschen,
die oft krank sind, in Armut leben und deren Situation
schwierig ist, eine echte Enttäuschung. Zwar wurden
dann Zuschläge zum Ausgleich geleistet, aber diese auf
vier Jahre begrenzte Nachzahlung wurde von den Betroffenen als großes Unrecht empfunden. Das wollen wir
nun ändern.
Ich will einen Vertreter der Menschen, über die wir
hier sprechen, zu Wort kommen lassen. In der letzten Legislaturperiode gab es eine Anhörung im Deutschen
Bundestag. Uri Chanoch, Jahrgang 1928, geboren in Litauen, ist dort zu Wort gekommen. Er hat in einem
Ghetto bei Kovno leben und arbeiten müssen. Er war danach in einem Außenlager des KZ Dachau inhaftiert. Er
hat im Dezember 2012 bei dieser Anhörung im Bundestag Folgendes gesagt - ich zitiere mit Erlaubnis der Frau
Präsidentin -:
Was wir und eigentlich alle Überlebenden wollen,
ist nicht viel, wirklich nicht viel. Die Ghetto-Insassen waren, die sollen die Rente ab 1997 bekommen,
und das ist einfach… Ich bin jetzt 85, ich war 17 bei
der Befreiung. Schauen Sie, nicht alle haben Anträge gestellt, bis heute wollen nicht alle mit
Deutschland etwas zu tun haben, aber diejenigen,
die noch existieren, haben in der Mehrheit Probleme… Wir haben alle Probleme, ein Überlebender ist nie heraus von dort, das ist normal. Jeder
Einzelne hat einen Tick, hat schlechte Träume,
schluckt Pillen, trotzdem haben sie geholfen und
das Land aufgebaut, trotz alledem.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, für die jüdischen
Frauen und Männer, die in Ghettos unter der Herrschaft
der Nationalsozialisten leben mussten, war Arbeit im
wahrsten Sinne des Wortes lebensnotwendig, überlebensnotwendig. Sie mussten arbeiten, um zu überleben;
denn wer arbeitete, bekam etwas zu essen. Wer arbeitete,
wurde nicht so schnell in ein KZ weitergeschickt.
Während der NS-Herrschaft wurden über 1 000 Ghettos im deutschen Besatzungs- und Herrschaftsgebiet errichtet. Allein in Polen waren es rund 600. Die Ghettos
waren Durchgangsstationen auf dem Weg in die Vernichtungslager. Sie waren aber auch Arbeitskräftereservoir und Produktionsstätten für die deutsche Rüstungsindustrie. Dass für die Arbeit der in Ghettos lebenden
Juden tatsächlich damals Rentenbeiträge abgeführt wurden, zeigt, wie erschreckend technokratisch und zugleich
zutiefst unmenschlich das System des NS-Regimes
agierte. Es war ja überhaupt nie vorgesehen, den in
Ghettos Beschäftigten für ihre gezahlten Sozialabgaben
tatsächlich später Renten zu zahlen. Schließlich war die
totale Ermordung aller Juden geplant.
Ich habe viel mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen gesprochen, die mich sehr beeindruckt haben; ich war oft
in Israel. Ich weiß, dass die hohen Ablehnungszahlen der
Anträge auf Renten für in Ghettos geleistete Arbeit dort
intensiv wahrgenommen wurden.
Deshalb ist es gut und wichtig, dass mit der jetzt vorgelegten Änderung die Vierjahresfrist ausgeschlossen
wird und alle Antragsteller ihre Rente rückwirkend ab
1997 bekommen. Wir werden eine Optionsmöglichkeit
einführen, sodass auch jeder bzw. jede individuell entscheiden kann, welche Möglichkeit für ihn oder sie besser ist. Das Verfahren soll so unbürokratisch und verständlich wie möglich mit einem Anschreiben der
Rentenversicherung in der Sprache des Landes, in dem
die Betroffenen leben, durchgeführt werden, damit diese
sehr alten Menschen eine individuelle Entscheidung treffen können.
Auch die generelle Streichung der Antragsfrist, die
bisher der 30. Juni 2003 war, ist wichtig; denn es wird
weiter möglich sein, Rentenanträge zu stellen. Es gibt
heute immer noch Menschen, die sich jetzt erst trauen,
einen solchen Antrag zu stellen, bzw. jetzt erst von der
Möglichkeit erfahren, einen solchen Antrag zu stellen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin optimistisch, dass wir mit diesen Änderungen den berechtigten
Anliegen der ehemaligen Ghettoarbeiterinnen und -arbeiter nach einer Rente entsprechen können. Diese Menschen haben es verdient, von uns, vom Parlament, von
Deutschland mit Respekt und mit Demut behandelt zu
werden. Diese unsere Geschichte, das menschenunwürdige Leben und die abscheulichen Gräueltaten, die Jüdinnen und Juden in den Ghettos und in den KZs unter
deutscher Aufsicht erlitten haben, diese Geschichte verpflichtet uns zu besonderer Aufmerksamkeit und Verantwortung den Überlebenden gegenüber.
Uri Chanoch, den ich zu Beginn zitierte, ist 1946 nach
Israel ausgewandert. Bis heute spricht er vor Schülerinnen und Schülern über seine Erlebnisse, zuletzt noch im
Februar dieses Jahres in Dachau. Ich habe tiefen Respekt
davor, dass ein Mensch mit dieser Lebensgeschichte
nach Deutschland zurückkehrt und mit Jugendlichen diskutiert.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Gesetzentwurf
liegt uns vor, und ich wünsche mir sehr, dass wir ihm
nach intensiver, aber rascher Beratung alle zustimmen
können. Das wäre ein sehr gutes Zeichen. Für fast
40 000 Menschen, etwa die Hälfte von ihnen in Israel,
viele in den USA, in Ungarn, in Kanada und in der ganzen Welt, würde das eine sofortige, ganz konkrete Verbesserung ihres beschwerlichen Alltags bedeuten. Aber
wir müssen auch wissen, dass täglich Menschen sterben,
die solche Rentenanträge gestellt haben und die nicht
mehr erleben, dass wir dieses Gesetz verändern und dass
sie Renten aus Deutschland bekommen. Ich bedaure es,
dass diese Änderung erst jetzt, 2014, kommt. Aber sie
kommt, und das ist wichtig.
Vielen Dank.
({1})
Als nächster Redner hat der Kollege Stephan Stracke
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Heute, fast auf den Tag genau 69 Jahre nach der
Kapitulation von Hitlerdeutschland, bringen wir eine
zentrale Änderung für Menschen auf den Weg, die von
den Nationalsozialisten in Ghettos gesperrt worden sind
und dort unter unmenschlichen Lebensbedingungen gearbeitet haben. Bereits 2002 haben wir den politischen
Willen erklärt, den Betroffenen einen Anspruch auf eine
gesetzliche Rente ab dem 1. Juli 1997 zu öffnen.
Wir stehen zu unserer historischen Verantwortung für
die Überlebenden des Holocaust, und wir wollen den berechtigten Interessen der betroffenen Menschen nach einer angemessenen Würdigung ihrer unter unmenschlichen Bedingungen in einem Ghetto geleisteten Arbeit
Rechnung tragen. Das haben wir, CDU/CSU und SPD,
im Koalitionsvertrag verabredet, und das setzen wir nun
um.
Ich freue mich über den breiten Konsens in dieser
Frage.
({0})
Wir haben bereits 2002 den Anspruch auf eine gesetzliche Rente aus einer Beschäftigung in einem Ghetto einstimmig beschlossen. Auch heute zeichnet sich gleichfalls eine breite Zustimmung in diesem Hohen Hause ab.
Das ist sehr erfreulich, und dafür bedanke ich mich.
({1})
Mit den Änderungen ermöglichen wir es allen Berechtigten, ihre gesetzliche Rente, die auf Beschäftigungszeiten in einem Ghetto beruht, rückwirkend vom
1. Juli 1997 an zu beziehen. Wir setzen das um, was der
Gesetzgeber bereits 2002 ursprünglich gewollt hat. Die
Hemmnisse und Hindernisse, die sich in der Praxis bei
der Umsetzung dieses Gesetzes aufgetan haben, insbesondere auf der Rechtsprechung des BSG beruhend, beseitigen wir. Jeder Berechtigte hat nun die Möglichkeit,
sich so zu stellen, als hätte er seit dem 1. Juli 1997 Rente
bezogen. Das war unsere ursprüngliche gesetzgeberische
Absicht. Wir sorgen nun dafür, dass das Verfahren besser
gangbar wird.
Wir schaffen ein gesetzliches Wahlrecht. Die Menschen können künftig frei wählen, ob sie eine Nachzahlung ihrer Rente rückwirkend ab 1997 verbunden mit einer niedrigeren laufenden Monatsrente wünschen oder
ob sie ihren bisherigen Rentenbeitrag gemäß der Regelung von 2009 behalten möchten. Sie können selbst entscheiden, was in ihrer individuellen Lebenssituation das
Bessere ist. Das schafft Gerechtigkeit. Deshalb tun wir
es.
Wir erweitern im Übrigen auch den Kreis der Berechtigten. Bisher war es so, dass das betreffende Ghetto in
einem Gebiet liegen musste, das vom Deutschen Reich
besetzt oder eingegliedert war. Jetzt weiten wir die vorhandene Regelung auf den Einflussbereich des nationalsozialistischen Deutschen Reiches aus. Dadurch kommen beispielsweise Betroffene aus der Slowakei oder
Rumänien zur Gruppe der Bezugsberechtigten hinzu.
Das ist sachgerecht und sinnvoll.
Wir reden über besondere Lebenssachverhalte. Besondere Lebenssachverhalte bedürfen auch besonderer
Einzelfallentscheidungen. Deshalb stellen wir mit diesem Gesetzentwurf fest: Die im Sozialrecht allgemein
geltende vierjährige Rückwirkungsfrist werden wir nicht
anwenden. Diese Frist ist es, die uns hier in der Praxis
die meisten Probleme gemacht hat; meine Vorredner haben intensiv darauf hingewiesen. Deshalb ändern wir es.
In der Praxis gab es ein weiteres Hemmnis, nämlich die
Einhaltung der Antragsfrist bis zum 30. Juni 2003. Auch
diese Frist fällt nun. Dies führt dazu, dass entsprechende
Ungleichbehandlungen beseitigt werden.
Das macht deutlich: Die rechtssystematischen Argumente der Vergangenheit sind nicht falsch gewesen. Wir
geben bei der Güterabwägung jetzt nur dem Argument
der Einzelfallgerechtigkeit den Vorzug. Das bedeutet
zweierlei:
Zum einen muss jeder Betroffene wissen, dass seine
laufende Rente gekürzt wird, wenn er von der Nachzahlungsmöglichkeit Gebrauch macht. Denn eins geht nicht:
Nachzahlung und Weiterbezug des durch den Zuschlag
erhöhten laufenden Rentenbetrags. Es gäbe ansonsten
eine Ungleichbehandlung gegenüber denjenigen, die bereits seit Juli 1997 eine Rente beziehen. Gleiche Sachverhalte gleich zu behandeln, das ist sinnvoll, und daran
halten wir fest.
Ein Zweites. Mit diesem Gesetzentwurf ist keine Präzedenzwirkung für andere Fallgruppen verbunden. Wir
machen eine einmalige Ausnahme von der Rechtssystematik im Sozialrecht. Das betrifft insbesondere die vierjährige Rückwirkungsfrist. Bei dieser einmaligen Ausnahme bleibt es auch.
Das Unrecht, das den Betroffenen angetan wurde,
kann nicht wiedergutgemacht werden. Wir können aber
dafür sorgen, dass die tagtäglich weniger werdenden
überlebenden Ghettobeschäftigten schnell von den zusätzlichen Möglichkeiten, die dieser Gesetzentwurf bietet, tatsächlich Gebrauch machen können. Nur das wird
dem besonderen Verfolgungsschicksal der hochbetagten
Berechtigten gerecht. Deshalb streben wir eine zügige
Umsetzung der gesetzlichen Änderungen im Deutschen
Bundestag an. Der Bundesrat hat hier bereits, wie die
Diskussion im Herbst 2013 gezeigt hat, seine Unterstützung signalisiert. Ich gehe davon aus, dass dieses Gesetz
im Sommer im Bundesgesetzblatt steht.
Eine rasche gesetzgeberische Umsetzung ist das eine.
Zugleich werden wir sicherstellen, dass die Rentenversicherungsträger die Betroffenen über ihr Wahlrecht und
seine Auswirkungen umfassend informieren. Denn was
nützt die beste Gesetzgebung in diesem Bereich, wenn
sie die Berechtigten nicht erreicht oder sie sie nicht kennen? Deshalb ist es sinnvoll, dass die Rentenversicherung hier in einfacher und verständlicher Weise über die
zusätzlichen Möglichkeiten informiert, und zwar in der
Landessprache. Ich fände es gut, wenn beispielsweise
unsere Botschaften oder unsere Konsulate entsprechend
ausgebildetes Fachpersonal vor Ort hätten, sodass Nachfragen nicht auf dem Schriftwege geklärt werden müssten, sondern durch eine persönliche Ansprache vor Ort
beantwortet werden können.
Uns ist wichtig: Die Renten müssen schnell und unbürokratisch bei den Menschen selbst ankommen. Deswegen finden sich in diesem Gesetzentwurf Regelungen,
die klarstellen, dass diese Renten nicht an die Rechtsanwälte fließen, sondern tatsächlich an die Betroffenen.
Auch das ist gut. Es geht um knapp 40 000 Berechtigte.
Mit der heutigen Einbringung dieses Gesetzentwurfs machen wir einen ersten Schritt dahin, dass diese 40 000 Berechtigten ihre Renten tatsächlich schnell und unbürokratisch erhalten.
Herzlichen Dank.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die
Aussprache und hoffe, dass das eintritt, was alle ausdrücklich unterstrichen haben, nämlich dass wir diesen
Gesetzentwurf zügig beraten und das dann auch wirklich
zu einem guten Ende führen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr
Drucksache 18/1309
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Hier sind nach einer interfraktionellen Vereinbarung
für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne dann auch die Aussprache. Als erster Redner hat Staatssekretär Christian Lange das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr wollen wir endlich die im Jahr 2011 neu
gefasste Richtlinie zur Bekämpfung von Zahlungsverzug
im Geschäftsverkehr umsetzen.
({0})
Die Zeit drängt; denn die Umsetzungsfrist für die Richtlinie ist bereits seit über einem Jahr abgelaufen, und die
EU-Kommission hat bereits ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet.
Ziel unseres Entwurfs ist - im Einklang mit den Anforderungen der Richtlinie - eine bessere Zahlungsdisziplin im Geschäftsverkehr. Wir wollen insbesondere den
Mittelstand davor schützen, dass er durch vertragliche
Zahlungs- oder Überprüfungsfristen den Zahlungsschuldnern praktisch einen kostenlosen Kredit einräumen muss. Betroffen sind neben vielen anderen auch das
Handwerk und das Baugewerbe, wie wir aus der intensiven Diskussion der vergangenen Wochen wissen. Gerade für diese Unternehmen ist Zeit ein entscheidender
Faktor: Können sie wegen langer Zahlungsziele oder
verspäteter Zahlungen ihre eigenen Zahlungsverpflichtungen nicht erfüllen, droht ihnen im schlimmsten Falle
Insolvenz. Dies gilt es zu verhindern, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({1})
Um dieses Ziel zu erreichen, beschränkt der Entwurf
vor allem das Recht, vertraglich Zahlungs-, Abnahmeund Überprüfungsfristen zu vereinbaren. Dabei ist, wie
die Diskussion auch in der vergangenen Legislaturperiode ergeben hat, ein stärkerer Schutz dort erforderlich, wo übermäßig lange Zahlungsziele mittels Allgemeiner Geschäftsbedingungen vereinbart werden. Daher
ist vorgesehen, dass Allgemeine Geschäftsbedingungen,
in denen sich ein Schuldner vorbehält, erst nach mehr als
30 Tagen zu zahlen, im Zweifel unwirksam sind. Die
Richtlinie sieht eine solche 30-Tage-Frist zwar nur für
öffentliche Auftraggeber als Zahlungsschuldner vor. Anders als von manchen befürchtet, bedeutet die Erstreckung dieser Regelung auf Unternehmen aber keineswegs eine dramatische Verschärfung der geltenden
Rechtslage. Denn schon heute orientiert sich die Rechtsprechung bei der Beurteilung der Wirksamkeit solcher
Klauseln an einer 30-Tage-Frist. Auch Überprüfungsund Abnahmefristen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen werden stärker beschränkt: Solche Fristen sind
im Zweifel unangemessen, wenn sie mehr als 15 Tage
betragen.
Eine größere Vertragsfreiheit verbleibt den Parteien
freilich dort, wo sie sich individualvertraglich auf Zahlungs-, Überprüfungs- oder Abnahmefristen einigen.
Hier gilt in Übereinstimmung mit der Richtlinie Folgendes:
Lässt sich ein Unternehmer eine Zahlungsfrist von
mehr als 60 Tagen einräumen, so ist diese Vereinbarung
nur wirksam, wenn sie, wie es im Entwurf steht, „ausdrücklich getroffen“ und „nicht grob unbillig“ ist. Dieselben Wirksamkeitsanforderungen gelten, wenn sich
Unternehmer oder öffentliche Auftraggeber Überprüfungs- und Abnahmefristen von mehr als 30 Tagen einräumen lassen.
Im Hinblick auf vereinbarte Zahlungsfristen gelten,
wenn der Zahlungsschuldner ein öffentlicher Auftraggeber ist, wie bereits erwähnt, strengere Anforderungen.
Eine Frist von mehr als 30 Tagen ist dann nur wirksam,
wenn sie „ausdrücklich getroffen“ und „sachlich gerechtfertigt“ ist. Eine Zahlungsfrist von mehr als 60 Tagen ist in jedem Fall unwirksam.
Abgesehen von dieser Höchstfrist bedeutet die Beschränkung der Vertragsfreiheit, wie aufgezeigt, nicht,
dass die Vereinbarung längerer Fristen nun generell verboten wäre. Für sie müssen aber künftig besondere
Gründe vorliegen. So stellen wir sicher, dass schwächere
Vertragspartner nicht so leicht übervorteilt werden.
Um zu gewährleisten, dass die neuen Regelungen
auch wirklich eingehalten werden, wird Unternehmensverbänden künftig das Recht zugestanden, Ansprüche
auf Unterlassung von gesetzwidrigen AGB oder entsprechenden Geschäftspraktiken gerichtlich geltend zu machen. Dies kommt vor allem kleinen und mittleren Unternehmen zugute. Sie werden mit der Durchsetzung
ihrer Ansprüche nicht alleingelassen.
Der Entwurf sieht schließlich verstärkte Rechtsfolgen
für den Zahlungsverzug vor. So wird zum einen der gesetzliche Verzugszins um 1 Prozentpunkt auf 9 Prozentpunkte über dem Basiszinssatz erhöht. Zum anderen
wird bei Verzug des Zahlungsschuldners ein Anspruch
auf eine Pauschale von 40 Euro eingeführt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es wird
häufig gefragt, wie es denn dazu kommt, dass schlechte
Zahlungsmoral oft bei großen Unternehmen oder öffentlichen Auftraggebern auftritt. Die Gründe für eine
schlechte Zahlungsmoral - das wissen wir - sind vielfältig und lassen sich nicht pauschal Unternehmen bestimmter Größe oder dem öffentlichen bzw. privaten
Sektor zuordnen.
Die Europäische Kommission geht davon aus, dass
vor allem die Marktstruktur, insbesondere die Marktmacht des Zahlungsschuldners und die Angst des Gläubigers vor einer Beeinträchtigung der Geschäftsbeziehungen wesentliche Ursachen sind. Man darf aber auch
nicht die gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen
außer Acht lassen, insbesondere nicht eine Konjunkturabschwächung, fehlende Finanzmittel und Haushaltszwänge sowie unzureichende interne Organisation von
Gläubigern und Schuldnern; denn auch das hat Einfluss
auf die Zahlungsmoral. Deshalb will ich es an dieser
Stelle nicht verschweigen.
Meine Damen und Herren, weil das so ist, wollen wir
diese neuen Regelungen jetzt so schnell wie möglich in
Kraft setzen und auch für bestehende Dauerschuldverhältnisse gelten lassen; Letzteres allerdings nur, sofern
die Leistung, für die ein Zahlungsziel vereinbart wurde,
nach dem Juni 2015 erbracht wurde. Ich gehe davon aus,
dass diese Übergangsfrist ausreichen wird, um bestehende Rahmenverträge anzupassen.
Ich bin also davon überzeugt, meine Damen und Herren, dass der nun vorliegende Entwurf eine ausgewogene
Lösung der verschiedenen Interessen bereithält. Ich
hoffe daher, dass auch in Deutschland bald Regeln gelten werden, die im Geschäftsverkehr für einen fairen
Ausgleich zwischen Schuldnern und Gläubigern von
Entgeltforderungen sorgen.
Herzlichen Dank.
({2})
Als nächster Redner hat der Kollege Richard Pitterle
von der Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Liebe Besucher! Mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf soll der Zahlungsverzug im
Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen bekämpft werden. Künftig sollen Vereinbarungen über Zahlungstermine eine bestimmte Frist nicht überschreiten dürfen.
Das Zahlen von Rechnungen kann dann nicht mehr bis
zum Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben werden. Das
sollte auch und vor allem kleinen und mittleren Unternehmen helfen. Die Fraktion Die Linke begrüßt dieses
Ziel ausdrücklich. In der Regel ist es nämlich so, dass
bei den Verhandlungen darüber, wann eine bestimmte
Leistung zu bezahlen ist, das kleine Unternehmen der
Marktmacht des großen Unternehmens ausgeliefert ist.
Ich will Ihnen das an einem Beispiel verdeutlichen.
Der kleine Handwerker oder der kleine Zulieferer, der
mit einem Großabnehmer Geschäfte macht, ist häufig
auf Folgeaufträge angewiesen und will es sich daher mit
seinem größeren Geschäftspartner nicht verscherzen.
Das heißt, dass er bei den Verhandlungen über Zahlungsfristen eher einknicken wird und natürlich der größere
Geschäftspartner seine Überlegenheit voll ausspielen
kann.
Das Schlimme ist, dass gerade kleine und mittlere
Unternehmen oft wenig bis gar keine finanziellen Polster
haben, um lange auf Zahlungseingänge warten zu können. Der Malermeister von nebenan zum Beispiel kann
auf diese Weise im schlimmsten Fall in die Pleite getrieben werden. Hingegen dürfte es den größeren Unternehmen in der Regel nichts ausmachen, auf die Belange der
kleineren einzugehen. In der Realität sieht es jedoch oft
anders aus. Hier muss den kleinen und mittleren Unternehmen daher der Rücken gestärkt werden.
({0})
Zurück zum Gesetzentwurf. Meine Damen und Herren von der Bundesregierung, der ganz große Wurf ist
Ihnen hier leider nicht gelungen. Jetzt mögen Sie zwar
sagen, dass Sie hier wenig Spielraum hatten, da dem
Entwurf eine EU-Richtlinie zugrunde liegt, die zwingend in nationales Recht umzusetzen ist.
Dennoch wäre hier Luft nach oben gewesen. In der dem
Entwurf zugrundeliegenden EU-Richtlinie heißt es in
Artikel 12 nämlich - ich zitiere -: Die Mitgliedstaaten
können Vorschriften beibehalten oder erlassen, die für
den Gläubiger günstiger sind als die zur Erfüllung dieser
Richtlinie notwendigen Maßnahmen.
Das hätten Sie, meine Damen und Herren von der
Bundesregierung, beherzigen sollen. In der nun schon
länger andauernden Diskussion um den vorliegenden
Entwurf ist bereits mehrfach die Befürchtung geäußert
worden, die nunmehr festzulegenden Höchstfristen
könnten das bisherige Leitbild im deutschen Zivilrecht
verdrängen. Bisher ist nach § 271 BGB nämlich grundsätzlich sofort nach Erhalt der Leistung zu zahlen, auch
wenn abweichende Vereinbarungen getroffen werden
können. Wenn nun aber, wie durch Ihren Entwurf vorgesehen, auf einmal die Höchstfrist von 60 Tagen ausdrücklich im Gesetz genannt ist, so liegt es durchaus
nahe, dass dann diese Höchstfrist auch gern als Richtwert genommen wird und der Gläubiger entsprechend
lange auf sein Geld warten muss. Hier hätten Sie sich
dazu durchringen müssen, über die EU-Richtlinie hinauszugehen und kürzere Fristen festzulegen.
({1})
Meine Damen und Herren von der Bundesregierung,
auch darüber hinaus schwächelt Ihr Entwurf. Er ist nämlich unübersichtlich und mit Detailregelungen überfrachtet. Zwar will ich Ihnen zugestehen, dass bereits die zugrundeliegende EU-Richtlinie nicht gerade als leichte
Bettlektüre bezeichnet werden kann. Aber dennoch:
Eine übersichtlichere Umsetzung in das deutsche Zivilrecht wäre angebracht gewesen. Wer sich im Recht der
Schuldverhältnisse auskennt, weiß, dass hier eine ohnehin umfangreiche und komplizierte Regelungsmaterie
vorliegt. Diese wird durch die im Entwurf vorgesehenen
Änderungen nicht gerade übersichtlicher gestaltet. Auslegungsschwierigkeiten und entsprechende Differenzen
scheinen jetzt schon vorprogrammiert. Versetzen Sie
sich nun bitte wieder in die Lage des kleinen Unternehmers, also zum Beispiel des Malermeisters von nebenan.
Dieser wird mit höchster Wahrscheinlichkeit keine eigene Rechtsabteilung haben, die ihm bei den Vertragsverhandlungen mit Rat und Tat zur Seite steht und ihn
durch die Niederungen des Bürgerlichen Gesetzbuches
führt.
Meine Damen und Herren von der Bundesregierung,
an anderer Stelle betonen Sie gern die Bedeutung des
Mittelstands. Seien Sie konsequent, und zeigen Sie dies
auch durch entsprechende Verbesserungen des vorliegenden Entwurfs. Kleine und mittlere Unternehmen dürfen von der Politik nicht im Stich gelassen werden. Setzen Sie sich also für deren Belange ein. Die Linke wird
das jedenfalls weiterhin tun.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, als nächster Redner
hat der Kollege Dr. Harbarth das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir befassen
uns heute in der ersten Lesung mit dem Gesetzentwurf
zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr. Dieses Gesetz hat uns bereits in der 17. Legislaturperiode intensiv beschäftigt. Wir haben das Thema in der
letzten Legislaturperiode auch in den parlamentarischen
Gremien und in Sachverständigenanhörungen ausführlich diskutiert. Wir haben im parlamentarischen Bereich
auch eine Reihe von Ideen entwickelt. Deshalb freuen
wir uns sehr, dass in dem Entwurf, der uns jetzt vorliegt,
auf viele dieser Ideen, die im parlamentarischen Raum
entwickelt wurden, zurückgegriffen wurde.
Warum ist der Kampf gegen Zahlungsverzug so wichtig? Er ist deshalb so wichtig, weil eine in die Zukunft
hinausgeschobene Handlung dem etwas nimmt, dem das
Geld eigentlich zusteht, nämlich dem Gläubiger. Aber
der Schutz des Gläubigers ist kein Selbstzweck, sondern
der Schutz ist deshalb so wichtig, weil die Folgewirkungen oft dramatisch sind, gerade für mittelständische Unternehmen, für Unternehmen, die eine dünne Liquiditätsdecke haben, für Unternehmen, die angeschlagen sind,
für Unternehmen, die sich in schwierigen Zeiten befinden. Wir wollen, dass eine Kultur rechtzeitiger Zahlung
in Deutschland und europaweit etabliert wird.
Wir haben gesehen, wie gerade mittelständische Unternehmen und Handwerksbetriebe sich viele Sorgen um
dieses Thema machen. Das gilt für die Baubranche und
auch für viele andere Sparten, wo etwa dann, wenn eine
große Rechnung vom Schuldner nicht rechtzeitig bezahlt
wird, ein Unternehmen oder ein kleiner Betrieb ins
Straucheln kommen kann, was durchaus existenzielle
Gefahren bergen kann.
Für uns ist es wichtig, dass dieses Thema auf europäischer Ebene angegangen wird. Das ist für uns deshalb
wichtig, weil die üblichen Zahlungsrhythmen in Europa
weit auseinanderlaufen. Wir haben heute viel grenzüberschreitenden Geschäftsverkehr. Für viele mittelständische Unternehmen ist es heute genauso normal, in ein
benachbartes europäisches Land zu liefern, wie in einen
anderen Teil unseres Landes zu liefern. Die Zeitpunkte
der Zahlungseingänge sind in Europa aber sehr unterschiedlich. Untersuchungen von Euler Hermes aus dem
Jahr 2012 zufolge warten Gläubiger in Deutschland im
Schnitt 24 bis 30 Tage auf den Zahlungseingang. In
Frankreich und Belgien sind es im Schnitt bereits
61 Tage. Nach Feststellung der Europäischen Kommission muss ein Lieferant EU-weit durchschnittlich
65 Tage warten, bis die öffentliche Hand Rechnungen
begleicht. Besondere Probleme gibt es in Südeuropa. In
Italien zahlt die öffentliche Hand durchschnittlich erst
nach 135 Tagen, in Griechenland erst nach 160 Tagen.
Private Unternehmen zahlen demgegenüber durchschnittlich nach 52 Tagen.
Wenn man sich ansieht, wie sehr das auseinandergeht,
dann ist zweierlei klar: Es ist wichtig, für die öffentliche
Hand besonders strikte Vorgaben vorzusehen, und es ist
wichtig, einen europaweiten Ansatz zu wählen. Das ist
durch die Zahlungsverzugsrichtlinie auf europäischer
Ebene geschehen. Wir als Deutscher Bundestag haben
uns in der vergangenen Legislaturperiode in einer fraktionsübergreifenden, einstimmig beschlossenen Stellungnahme zum ersten Entwurf dieser Richtlinie sehr
klar positioniert. Der erste Entwurf enthielt noch eine
Vielzahl von Mängeln. Darin waren einige kuriose
Dinge enthalten, die mit unseren Rechtstraditionen, insbesondere aber mit Gerechtigkeit und Billigkeit nicht in
Einklang zu bringen gewesen wären. Wir haben uns sehr
gefreut, dass die klare und laute Stimme, mit der wir
fraktionsübergreifend vorgetragen haben, in Europa gehört wurde.
Wir haben es in der letzten Legislaturperiode trotz intensiver Beratungen nicht mehr geschafft, das Gesetz zu
verabschieden. Ich freue mich deshalb, dass wir uns
gleich zu Beginn der neuen Legislaturperiode dieses
wichtigen Themas annehmen. Hinsichtlich des Inhalts
darf ich zur Vermeidung von Wiederholungen auf das
verweisen, was Herr Staatssekretär Lange zum Entwurf
ausgeführt hat. Wichtig ist, dass im Geschäftsverkehr
der Spielraum, die Zahlungsziele ganz weit nach hinten
zu schieben, eingeengt wird. Grundsätzlich wird es nur
noch unter strengen Voraussetzungen möglich sein, in
Individualvereinbarungen längere Zahlungsziele als
60 Tage vorzusehen. Bei der öffentlichen Hand wird es
nur unter strengen Voraussetzungen möglich sein, längere Zahlungsziele als 30 Tage vorzusehen. In Allgemeinen Geschäftsbedingungen wird die generelle Vorgabe
30 Tage lauten. Davon kann nur abgewichen werden
- die Formulierung lautet ja „im Zweifel“ -, wenn aus
den Besonderheiten der jeweiligen Geschäftsbeziehung
etwas anderes resultiert.
Entschuldigung, Herr Kollege, Sie müssen zum
Schluss kommen.
Frau Präsidentin, ich möchte Sie ungerne korrigieren,
aber mir waren zehn Minuten Redezeit zugeteilt. In Ihr
Gerät waren nur fünf Minuten einprogrammiert. Ich
kann Ihnen aber schon jetzt versichern, die zehn Minuten nicht auszuschöpfen.
({0})
Herr Kollege, auch eine Präsidentin ist durchaus bereit, es anzuerkennen, wenn sie nicht recht hat. Sie haben
recht: Es sind zehn Minuten. Die Programmierung habe
ich leider nicht kontrolliert.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. Kein Problem. Ein
freier Abgeordneter verteidigt seine Rechte.
({0})
Wir freuen uns, dass es im Juni eine Sachverständigenanhörung geben wird. Da werden wir über einzelne
Bereiche vielleicht noch einmal diskutieren müssen. Wir
werden auch diskutieren müssen, ob vielleicht in bestimmten Geschäftsbeziehungen irgendwelche praktischen Probleme zutage treten, die im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens noch nicht gesehen wurden. Wir
sind der festen Überzeugung, dass das, was auf dem
Tisch liegt, ein sehr guter Entwurf ist. Es ist vor allen
Dingen ein mittelstandsfreundlicher Entwurf, der dazu
beitragen wird, die Stabilität mittelständischer Unternehmen insgesamt, gerade auch in schlechten Zeiten, sicherzustellen.
In dem Bewusstsein, die zehn Minuten nicht ausgeschöpft zu haben, danke ich sehr herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt kommen wir
zur nächsten Rednerin. Das ist Katja Keul von den Grünen. Hier sind fünf Minuten Redezeit einprogrammiert;
es steht auch auf meinem Zettel.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll die
EU-Richtlinie vom 16. Februar 2011 zur Bekämpfung
von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr umgesetzt
werden. Kritische Stimmen haben nicht ganz zu Unrecht
angemerkt, dass es eigentlich nicht um die Bekämpfung,
sondern um die Beschleunigung von Zahlungsverzug
geht. Das angestrebte Ziel ist aber so oder so ein berechtigtes.
Lange Zahlungsfristen und verzögerte Abnahmen im
Baurecht sind gerade für kleinere Unternehmer und
Handwerker ein ernstzunehmendes wirtschaftliches Risiko. Da nützt es auch nichts, den Wortlaut des § 271
BGB zu loben und zu preisen, der besagt, dass die Leistung im Zweifelsfall sofort verlangt werden kann. Die
Praxis sieht anders aus. Für die Abnahme im Baurecht
gibt es bisher überhaupt keine Frist.
Dennoch sind die Befürchtungen nachvollziehbar,
dass eine ausdrückliche Regelung, die vom Regelfall abweichende Zahlungsfristen auf maximal 60 Tage beschränkt, gerade dazu führen könnte, dass vermehrt solche Vereinbarungen geschlossen werden. Es ist ein
Dilemma: Indem man die Vertragsfreiheit einschränken
will, bringt man manche Vertragspartner möglicherweise
erst darauf, von dieser Vertragsfreiheit maximalen Gebrauch zu machen. Umso wichtiger ist, dass man dann
klare Regeln schafft, wie die unterschiedlichen Fristen
zusammenwirken: die Zahlungsfrist, die Abnahmefrist
und die Verzugsfristen. Das ist meines Erachtens noch
nicht gut gelungen. Soll zusätzlich zur Abnahmefrist von
30 Tagen noch eine weitere Frist von 60 Tagen bis zur
Fälligkeit möglich sein? Das kann ja wohl nicht gemeint
sein. Wer ein Werk abnimmt, hat damit auch die Berechtigung, die Gegenleistung prüfen zu können. Es sollte
also klargestellt werden, dass die Abnahmefrist auf die
weitere Zahlungsfrist anzurechnen ist.
Auch das Verhältnis zum Verzugseintritt ist nicht
wirklich eindeutig. In § 286 BGB, der den Verzug regelt,
steht nur eine kryptische Verweisung. Besser wäre es,
ausdrücklich klarzustellen, dass mit Ablauf einer nach
§ 271 a BGB vereinbarten Zahlungsfrist auch zeitgleich
der Verzug eintritt.
Mich irritiert ernsthaft die Tatsache, dass die Vertragspartner einerseits völlig frei bleiben sollen, Ratenzahlungen mit unbegrenzter Laufzeit zu vereinbaren,
was zweifellos sinnvoll sein kann, dabei aber andererseits niemals auf Verzugszinsen verzichten dürfen. So jedenfalls liest sich der Entwurf es neuen § 288 Absatz 6
BGB:
Eine … Vereinbarung, die den Anspruch des Gläubigers einer Entgeltforderung auf Verzugszinsen
ausschließt, ist unwirksam.
Wie soll ich als Gläubigerin sonst meinen finanziell
angeschlagenen Schuldner zur pünktlichen Ratenzahlung motivieren, vom insolventen Schuldner ganz zu
schweigen? Das scheint mir doch etwas über das Ziel hinausgeschossen zu sein.
({0})
Auch bei den Verbandsklagen bin ich mir nicht sicher,
ob im Hinblick auf individuelle Vertragsabsprachen
nicht etwas zu weit gegriffen wurde. Nach der deutschen
Systematik sind Verbandsklagen bislang nur dort möglich, wo eine Individualklage mangels subjektiver
Rechtsverletzung nicht möglich ist oder - wie beim Verbraucherschutz - eine Vielzahl gleichgelagerter Fälle betroffen ist. Wenn aber nur eine individuelle Vereinbarung
zwischen zwei Beteiligten unwirksam ist, die sonst niemanden betrifft, fragt sich, warum dann ein Dritter, also
ein Verband, klagen können soll. Hier gibt es offensichtlich auch Zweifel, ob die Richtlinie das in dieser weiten
Form überhaupt verlangt. Diesen Zweifeln sollten wir
noch einmal nachgehen.
Systematisch unschön, wenn auch nicht weltbewegend, ist die Regelung in § 308 BGB zu den Allgemeinen Geschäftsbedingungen. Diese Norm gilt nach § 310
BGB bislang ausdrücklich nur für Verbraucher und soll
jetzt um eine Nummer ergänzt werden, die ausgerechnet
den Geschäftsverkehr und damit gerade keine Verbraucher betrifft. Dadurch müssen dann wieder Ausnahmen
in den Verweisungen eingeführt werden, was das Gesetz
nicht gerade klarer macht. Das müsste doch auch eleganter zu lösen sein.
Nachvollziehbar finde ich auch den Wunsch aus der
Praxis, nicht immer neue Begrifflichkeiten ins BGB einzuführen. Brauchen wir jetzt wirklich einen „groben
Nachteil“, oder tut es nicht auch die altbewährte „grobe
Unbilligkeit“? Ich habe registriert, dass auch der Staatssekretär in seiner Rede von „grob unbillig“ gesprochen
hat; das würde meinem Anliegen schon entgegenkommen. Soll das Wort „ausdrücklich“ wirklich auch mündliche Vereinbarungen erfassen, oder sollten wir es nicht
lieber auf Schriftliches beschränken? Und bevor alle anfangen, zu grübeln, was genau eine „Zahlungsaufstellung“ ist, könnten wir es doch einfach wie immer „Zahlungsaufforderung“ nennen.
Jenseits dieser technischen Feinheiten bleibt die entscheidende Frage, ob die deutsche Umsetzung der Richtlinie auch wirklich die angestrebte Wirkung erzielt, nämlich den Zahlungsverkehr zu beschleunigen. Daran habe
ich erhebliche Zweifel. Wenn wir schon wieder zusätzliche Normen in das BGB einfügen, dann doch bitte welche, die auch funktionieren. Ich hoffe, dass die Beratungen im Ausschuss dazu etwas beitragen können.
Vielen Dank.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, als nächster Redner
hat der Kollege Dirk Wiese von der SPD das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Das Handwerk und der Mittelstand in
Deutschland verstehen sich zu Recht als „die Wirtschaftsmacht von nebenan“. Hier arbeiten täglich Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, hier wird
ausgebildet, gerade im Handwerk, dem Ausbilder der
Nation, wo zudem - das muss man an dieser Stelle anmerken - jedes Jahr eine Meisterfeier stattfindet. Das
schafft nicht einmal der FC Bayern München - vom Pokalsieg am 17. Mai an dieser Stelle ganz zu schweigen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Handwerk und
der Mittelstand sind für die deutsche Wirtschaft von immenser Bedeutung. Sie sind sozusagen das Fundament
unserer Volkswirtschaft. Um es anders zu formulieren:
Wenn der Mittelstand das Rückgrat der deutschen Wirtschaft ist, dann ist das Handwerk das zentrale Nervensystem. Umso wichtiger ist es für die Politik, für gute
wirtschaftliche und rechtliche Rahmenbedingungen in
unserem Land zu sorgen.
Aktuell ist eines der größten Probleme der Betriebe,
dass sie oft viel zu lang finanziell in Vorleistung treten
müssen. Rechnungen werden meist erst spät bezahlt. Für
Unternehmer und Selbstständige birgt das ein großes Risiko; denn sie laufen Gefahr, ihre eigenen Rechnungen
und ihre Angestellten nicht mehr bezahlen zu können.
Aufgrund fehlender Liquidität müssen sie dann Insolvenz anmelden, und das, obwohl sie auf dem Papier eigentlich ein deutliches Plus verzeichnen müssten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nachdem die letzte,
schwarz-gelbe Bundesregierung einen Gesetzentwurf
vorgelegt hat, der die parlamentarischen Hürden Gott sei
Dank genauso wenig überwunden hat wie die FDP die
Fünfprozenthürde, legen wir heute einen wesentlich verbesserten Gesetzentwurf vor, der auf der einen Seite die
Interessen von Mittelstand und Handwerk schützt und
auf der anderen Seite durchaus auch von der Industrie
und dem Handel begrüßt werden könnte. Schließlich
möchten auch diese sofort das Geld vom Kunden erhalten und nicht monatelang darauf warten. Um es am Beispiel des Handels deutlich zu machen: Ich kann im Supermarkt an der Kasse, nachdem ich die Ware
eingepackt habe, auch nicht einfach sagen: Ich komme
in 90 Tagen wieder und bezahle dann. - Ich glaube, das
wäre das letzte Mal, dass ich in diesem Supermarkt einkaufen dürfte. An dieser Stelle müssen wir ansetzen.
Kurzum: Die Selbstverständlichkeit der unverzüglichen Bezahlung muss auch im allgemeinen Wirtschaftsleben wieder deutlich ins Bewusstsein gerückt werden.
Denn es kann aus meiner Sicht nicht sein, dass Konzerne, die mit enormen Summen operieren, mit jedem
Tag ihrer Säumigkeit auch noch einen zusätzlichen Zinsgewinn einfahren. Das geht nicht.
({0})
Der Zentralverband des Deutschen Handwerks begrüßt diese „mittelstandsfreundliche Gesetzgebung“ und
unterstreicht, dass die Bundesregierung „mit ihrem
Gesetzentwurf ein deutliches Zeichen zur Bekämpfung
von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr“ setzt und
„schlechter Zahlungsmoral und unverhältnismäßig langen Zahlungsfristen … so künftig ein wirksamer Riegel
vorgeschoben“ wird.
({1})
Dieses Lob des Zentralverbands des Deutschen Handwerks freut uns Sozialdemokraten natürlich ganz besonders; schließlich wurde die SPD 1863 von einem Handwerksmeister gegründet.
({2})
Lassen Sie mich ergänzend zu Staatssekretär
Christian Lange kurz zwei Punkte aufgreifen. Der Entwurf sieht vor, dass im Geschäftsverkehr grundsätzlich
Zahlungsfristen von maximal 60 Tagen vereinbart werden können. Eine längere Frist ist nur noch dann zulässig, wenn sie von den Vertragsparteien ausdrücklich vereinbart wird und für den Gläubiger nicht grob nachteilig
ist. Denn wer Rechnungen nicht bezahlt, gefährdet mittelbar die Arbeitsplätze in den kleinen und mittleren Unternehmen. Das ist sozial ungerecht, und das geht nicht.
Da die öffentliche Hand gerade bei der Zahlungsmoral eine Vorbildfunktion einnehmen muss, haben wir für
den Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und öffentlichen Auftraggebern eine wesentlich strengere Regelung festgesetzt: In diesen Fällen beträgt die Zahlungsfrist künftig grundsätzlich 30 Tage. An dieser Stelle
möchte ich einen Mann aus der Praxis, Willy Hesse, Präsident des Westdeutschen Handwerkskammertages,
wohnhaft im Sauerland, zitieren, der mit Blick auf öffentliche Auftraggeber sagte: „Vier Monate auf das Geld
warten, das ist vor allem in Großstädten keine Seltenheit.“ Das geht aus meiner Sicht nicht. Das müssen und
wollen wir ändern. Aus meiner Sicht muss die öffentliche Hand hier eine Vorbildfunktion einnehmen; da gebe
ich Ihnen vollkommen recht, Herr Dr. Harbarth.
({3})
Der zweite Punkt. Vertragsklauseln, welche Verzugszinsen ausschließen, werden zukünftig als grob nachteilig und deshalb als unwirksam anzusehen sein. Diese
Änderung im AGB-Recht ist richtig. Die neue Regelung,
die wir in § 308 BGB vornehmen, schützt die jeweils
schwächere Vertragspartei; es ist eine richtige Regelung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich
zum Schluss kommen. Sie sehen: Die rot-schwarze Bundesregierung legt ein wirksames Instrument vor, um die
Zahlungsmoral im Geschäftsverkehr zu verbessern.
({4})
Kurzum: Sozialdemokraten und Wirtschaft - das passt.
Davon verstehen wir etwas. Wir stärken das Handwerk
und den deutschen Mittelstand.
Vielen Dank und allen ein schönes Wochenende.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, als nächste Rednerin hat die Kollegin Dr. Launert das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Bekämpfung des Zahlungsverzuges im Geschäftsverkehr
wird nun endlich die Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates der EU umgesetzt.
Es handelt sich beim Thema „Bekämpfung des Zahlungsverzugs“ nicht nur um ein europäisches Anliegen
zur Förderung des grenzübergreifenden Handels, wie es
so schön in der Richtlinie heißt, sondern es geht um ein
nationales Anliegen. Warum? Ganz klar - es wurde
mehrfach schon angedeutet -: Wenn der Unternehmer
Forderungen hat, diese aber nicht geltend machen kann
und deshalb nicht in der Lage ist, innerhalb der nächsten
30 Tage seine eigenen fälligen Verbindlichkeiten aus seinen liquiden Mitteln zu zahlen, dann muss er Insolvenz
anmelden. Der Unternehmer kann nichts dafür: Einige
seiner Kunden zahlen nicht, und er ist von heute auf
morgen ein Kunde des Insolvenzgerichts.
Das trifft besonders hart die kleinen und mittelständischen Unternehmen; das wurde schon mehrfach betont.
Oft schaffen sie es, sich zu retten, allerdings oft durch
teure Kredite. Das bedeutet: zusätzliche Belastungen
durch die Kredite, durch die Zinsen, zusätzliche Belastungen durch die Kosten der Eintreibung, durch Mahngebühren, Kosten des Inkassounternehmens oder sogar
für einen Anwalt. Das führt zu Wettbewerbsverzerrungen. Das hat das Europäische Parlament zu Recht erkannt und die richtigen Maßnahmen eingeleitet. Ich verstehe deshalb nicht, Frau Keul, wieso Sie das Vorhaben
infrage stellen und fragen, ob das überhaupt ein geeignetes Instrumentarium ist.
Es ist nicht einzusehen, wieso ein kleiner Handwerksbetrieb bei der Hinausschiebung der Abnahme kostenlose oder billige „Gläubigerkredite“ gewähren muss,
also letztlich denen, die die Marktmacht haben, das Geld
schenken muss.
Ich freue mich, dass wir endlich etwas für den Mittelstand auf den Weg bringen. Die einzelnen Punkte des
Reformvorhabens wurden bereits vorgetragen. Die
grundsätzliche Höchstfrist beläuft sich auf 60 Tage bei
Individualvereinbarungen. Ich sehe nicht das von Herrn
Pitterle und Frau Keul angesprochene Problem, dass sich
dadurch die Zahlungsmoral verschlechtert.
({0})
Ganz im Gegenteil: Wenn ich eine Höchstfrist für Vereinbarungen festlege, dann begrenze ich doch etwas. Am
Gesetz selbst ändert sich doch nichts. Es gilt nach wie
vor § 271 BGB. Diejenigen, die schon zuvor eine Individualvereinbarung getroffen haben, treffen sie auch jetzt.
Diejenigen, die zuvor keine getroffen haben, treffen sie
auch jetzt nicht.
Es gibt eine erhebliche Begrenzung im Bereich der
formularmäßigen Vereinbarung im AGB-Bereich, und
zwar zu Recht, weil dort in besonderem Maße das Überund Unterordnungsverhältnis zum Ausdruck kommt.
Aus der Praxis kann ich Ihnen sagen: Kein Mensch liest
das. Da hier ein besonderer Schutz erforderlich ist, legen
wir eine grundsätzliche Höchstfrist von 30 Tagen fest.
Man hat sich Zeit genommen, die Interessen abgewogen und eine praxistaugliche Lösung gefunden, die letztlich allen Seiten gerecht wird. Diese Höchstfristen - es
handelt sich nicht um eine Festschreibung von Fristen,
sondern um eine Begrenzung bei Vereinbarungen - ermöglichen eine Orientierung für die Rechtsprechung und
helfen kleinen Unternehmen, ohne Rechtsbeistand auf
Zahlungsverzug bzw. die Situation, dass der Schuldner
nicht zahlt, schneller zu reagieren. Man braucht nicht
viel Geld für einen Anwalt auszugeben; denn was eine
Frist von 30 Tagen bedeutet, versteht eigentlich jeder
Unternehmer.
Ich freue mich auch über die Begrenzung bei der
Überprüfungs- und Abnahmefrist. Im AGB-Bereich
liegt sie meistens bei 15 Tagen.
Ebenso freue ich mich über die nun geltende Pauschale, auch wenn sie manchem lächerlich erscheinen
mag. Aber bislang muss jeder Schaden konkret nachgewiesen werden, um einen Schadenersatzanspruch - dieser Schutz existiert ja schon jetzt - geltend machen zu
können. Ich finde eine Pauschale von 40 Euro praxistauglich. Wir haben das in vielen anderen Bereichen
auch, zum Beispiel bei unserer Aufwandspauschale.
Man muss nicht alles im Detail nachweisen, sondern es
gibt eine Pauschale von 40 Euro. Das mag manchen ein
bisschen disziplinieren und führt zu einer Erleichterung.
Ich hoffe, dass sich dadurch auch einige Gerichtsverfahren erübrigen. Es ist wirklich unglaublich, wegen welch
kleiner Beträge solche Verfahren oft geführt werden.
Der vorletzte Punkt, den ich ansprechen möchte, sind
die Verzugszinsen. Ich glaube, es wurde noch nicht erwähnt, dass wir den Verzugszins von 8 auf 9 Prozentpunkte über dem Basiszinssatz erhöhen. Außerdem wird
es in Zukunft nicht mehr möglich sein, den gesetzlich
festgeschriebenen Verzugszins auszuschließen. Das ist
toll. Das ist etwas Gutes für den Mittelstand.
Zum Thema Verbandsklage. Frau Keul, ich weiß gar
nicht, warum Sie das schlecht finden, wenn Sie doch für
den kleinen Unternehmer sind.
({1})
Für den kleinen Unternehmer ist es doch gut, wenn er
selbst keinen Prozess gegen einen großen, starken Konzern führen muss, sondern die Möglichkeit hat, das zu
verlagern. Dadurch spart er Geld und Zeit. Außerdem
zerstört er so vielleicht nicht seine Geschäftsbeziehung
zu dem großen, marktmächtigen Unternehmer.
Ich freue mich, dass wir das endlich machen. Ich
wünsche mir, dass wir das möglichst schnell durchsetzen, und zwar ohne viel Parteipolemik und ohne die Suche nach nicht so ganz perfekten Formulierungen. Lassen Sie uns das Thema anpacken und die Sache
durchziehen. Das ist echte Mittelstandspolitik.
Vielen Dank.
({2})
Sehr geehrte Damen und Herren, ich schließe die
Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/1309 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist diese Überweisung so beschlossen.
Ich bitte Sie, noch einen Augenblick zu warten. Wir
müssen noch eine andere wichtige Handlung vornehmen. Um auch der Form Genüge zu tun, müssen wir die
Überweisung des Gesetzentwurfs eines Ersten Gesetzes
zur Änderung des Gesetzes zur Zahlbarmachung von
Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto beschließen. Hier wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf
Drucksache 18/1308 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist
auch diese Überweisung so beschlossen.
Damit sind wir am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 21. Mai 2014, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen ein
schönes Wochenende.