Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle
herzlich. Bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten,
haben wir noch einige Wahlen durchzuführen. Davor
würde ich gerne die Gelegenheit nutzen, den Kolleginnen und Kollegen, die während unserer parlamentarischen Osterpause besondere Geburtstage gefeiert haben,
noch einmal herzlich zu diesem Ereignis zu gratulieren:
Der Kollege Dr. h. c. Gernot Erler hat seinen 70. Geburtstag gefeiert. Der Kollege Dr. h. c. Hans Michelbach
sowie der Kollege Rüdiger Veit haben ihren 65. Geburtstag gefeiert. Ihren 60. Geburtstag begingen die Kollegin Dagmar Wöhrl sowie die Kollegen Thomas
Oppermann und Ewald Schurer. Allen Genannten und
denjenigen, die nicht ganz so auffällige Geburtstage
während der Osterpause hatten, möchte ich auch auf diesem Wege noch einmal herzlich gratulieren und alles
Gute für das neue Lebensjahr wünschen.
({0})
Was die notwendigen Wahlen angeht, schlägt die
SPD-Fraktion für den Wahlprüfungsausschuss vor, die
Kollegin Gabriele Fograscher für den Kollegen
Michael Hartmann und den Kollegen Florian Post für
den Kollegen Christian Flisek als ordentliche Mitglieder
zu wählen. Sind Sie damit einverstanden? - Das sieht
ganz danach aus. Damit sind die Kollegin Fograscher
und der Kollege Post als ordentliche Mitglieder dieses
Ausschusses gewählt.
Die CDU/CSU-Fraktion schlägt vor, für die Kollegin
Andrea Lindholz die Kollegin Dr. Astrid Freudenstein
als neue Schriftführerin zu wählen. - Auch dazu kann
ich keinen Widerspruch erkennen. Dann ist die Kollegin
Dr. Freudenstein als Schriftführerin gewählt.
Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunkteliste
aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und
SPD
Zur aktuellen Lage in der Ukraine
({1})
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Beate Walter-Rosenheimer, Kerstin
Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Jugendarbeitslosigkeit in Europa bekämpfen - Stopp des Programms MobiPro-EU sofort aufheben
Drucksache 18/1343
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Annalena Baerbock, Marieluise Beck ({3}),
Dr. Franziska Brantner, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Hilfe für die Flüchtlinge aus Syrien - Unterstützung für die Nachbarstaaten
Drucksache 18/1335
ZP 4 Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren
({4})
Unterrichtung durch die Bundesregierung
Stadtentwicklungsbericht 2012
Drucksache 17/14450
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit ({5})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
ZP 5 Weitere abschließende Beratung ohne Aussprache
({6})
Präsident Dr. Norbert Lammert
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gerhard Schick, Manuel Sarrazin, Kerstin
Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
zu dem Vorschlag für eine Verordnung des
Europäischen Parlaments und des Rates zur
Festlegung einheitlicher Vorschriften und eines einheitlichen Verfahrens für die Abwicklung von Kreditinstituten und bestimmten
Wertpapierfirmen im Rahmen eines einheitlichen Abwicklungsmechanismus und eines
einheitlichen Bankenabwicklungsfonds sowie
zur Änderung der Verordnung ({7}) Nr. 1093/
2010 des Europäischen Parlaments und des
Rates
KOM({8}) 520 endg.; Ratsdok. 12315/1/13
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes
Für einen europäischen Bankenabwicklungsmechanismus und Bankenabwicklungsfonds
Drucksache 18/1340
ZP 6 Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE
Ergebnisse des Treffens von Bundeskanzlerin
Dr. Angela Merkel mit US-Präsident Barack
Obama
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl, Jürgen Trittin, Agnieszka Brugger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kündigung bilateraler Kooperationen im Bereich der Nutzung atomarer Technologien
Drucksache 18/1336
ZP 8 Vereinbarte Debatte
zum Europäischen Tag zur Gleichstellung von
Menschen mit Behinderung
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van
Aken, Wolfgang Gehrcke, Christine Buchholz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Für ein generelles Verbot des Exports von
Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern
Drucksache 18/1348
ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Agnieszka Brugger, Katja Keul, Dr. Frithjof
Schmidt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Echte Transparenz und parlamentarische Beteiligung bei Rüstungsexportentscheidungen
herstellen
Drucksache 18/1360
ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Friedrich
Ostendorff, Harald Ebner, Peter Meiwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Den Umgang mit Nährstoffen an die Umwelt
anpassen
Drucksache 18/1338
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft ({9})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
ZP 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Kirsten Tackmann, Caren Lay, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Wasserqualität für die Zukunft sichern Düngerecht novellieren
Drucksache 18/1332
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft ({10})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Außerdem werden die Tagesordnungspunkte 6 b, 8
und 10 abgesetzt. Darüber hinaus kommt es zu den in
der Zusatzpunkteliste dargestellten weiteren Änderungen des Ablaufs.
Schließlich mache ich auf mehrere nachträgliche
Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunkteliste aufmerksam:
Der am 14. Februar 2014 ({11}) überwiesene
nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({12}) zur
Mitberatung überwiesen werden:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen
Drucksache 18/407
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({13})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Der am 20. März 2014 ({14}) überwiesene
nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Innenausschuss ({15}) zur Mitberatung überwiesen
werden:
Erste Beratung des von den Fraktionen der
CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Sukzessivadoption durch Lebenspartner
Drucksache 18/841
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({16})
Präsident Dr. Norbert Lammert
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Der am 4. April 2014 ({17}) überwiesene
nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Ausschuss für
Tourismus ({18}) zur Mitberatung überwiesen werden:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Corinna
Rüffer, Kerstin Andreae, Markus Kurth, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Fünf Jahre UN-Behindertenrechtskonvention - Sofortprogramm für Barrierefreiheit
und gegen Diskriminierung
Drucksache 18/977
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({19})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Tourismus
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? -
Das ist offensichtlich der Fall.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b
auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur grundlegenden Reform des Erneuerbare-EnergienGesetzes und zur Änderung weiterer Bestimmungen des Energiewirtschaftsrechts
Drucksache 18/1304
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({20})
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Eva
Bulling-Schröter, Caren Lay, Ralph Lenkert,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Ökostromförderung gerecht und bürgernah
Drucksache 18/1331
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({21})
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. - Dazu höre ich
keine Einwände. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
der Bundesminister für Wirtschaft und Energie, Sigmar
Gabriel.
({22})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Mit der Reform des Erneuerbare-EnergienGesetzes wollen wir sicherstellen, dass die Energiewende weiter vorankommt. Bei den Ausbaupfaden für
Windenergie und Photovoltaik wird die Höhe nicht etwa,
wie gelegentlich öffentlich behauptet, verringert, sondern verstetigt, und sie werden sogar weiter ausgebaut.
Der Ausbaupfad der Photovoltaik bleibt wie bisher.
Beim Ausbaupfad für Windenergie an Land legen wir
mit ebenfalls 2,5 Gigawatt pro Jahr den höchsten Wert
als Ziel fest, den wir in den letzten zehn Jahren nur ein
einziges Mal erreicht haben. Damit werden die beiden
kostengünstigsten Formen der erneuerbaren Energien
die Energiewende weiterhin tragen.
Beim Ausbaupfad für die eher kostenintensive Biomasse erfolgt eine Festlegung auf die Verwendung von
Reststoffen und auf 100 Megawatt pro Jahr. Bei Offshorewind wollen wir durch einen Ausbaupfad von
6,5 Gigawatt bis 2020 die Größenordnung erreichen, die
wir brauchen, um eine echte Industrialisierung voranzutreiben und damit deutliche Kostensenkungen auch in
diesem Feld der Produktion erneuerbarer Energien zu erreichen. Die Stahl- und Werftindustrie im Norden und
Osten Deutschlands, aber auch der Maschinenbau und
die Elektrotechnik im Westen und im Süden der Republik werden davon profitieren.
Ich nenne diese ambitionierten Ausbauziele so detailliert, um zu zeigen, dass niemand Sorge haben muss, die
Energiewende würde ausgebremst oder die Ausbauziele
der erneuerbaren Energien würden insgesamt begrenzt,
im Gegenteil.
({0})
- Herr Krischer, ich sage dies insbesondere wegen Ihnen. Hören Sie einfach einmal zu.
({1})
Herr Krischer, bei Kenntnis der Grundrechenarten
muss man Folgendes erkennen: Zehn Jahre lang ist nur
einmal die Leistung von 2,5 Gigawatt an Land erreicht
worden, und jetzt liegt ein Gesetzentwurf vor, in dem
vorgesehen ist, dass man diese 2,5 Gigawatt jedes Jahr
erreicht. Angesichts dessen ist es bei Kenntnis der
Grundrechenarten relativ schwer, öffentlich zu behaupten, man würde den Ausbau der Windenergie an Land
ausbremsen.
({2})
Aber umgekehrt gilt auch: Dort, wo nach 20 Jahren
Förderung die Kosten nicht gesunken, sondern gestiegen
sind, fahren wir den Ausbau deutlich zurück. Dort, wo
wir Überförderungen der Windenergie sehen - auch dies
ist zum Teil bei sehr guten Standorten der Fall -, bauen
wir die Überförderung ab. Beides gehört zusammen:
({3})
Ausbau der kostengünstigen Energieträger und Abbau
der kostenintensiven Energieträger und der Überförderung - nur durch diese Kombination machen wir die
Energiewende erfolgreich, sicher und bezahlbar.
Heute haben die erneuerbaren Energien am Strommarkt einen Anteil am Stromverbrauch von etwa 25 Prozent. Wir wollen 2025 einen Anteil der erneuerbaren
Energien am Nettostromverbrauch von 40 bis 45 Prozent
haben, bis 2035 sogar von 55 bis 60 Prozent. Deutschland wird Vorreiter für eine Energiepolitik bleiben, die
uns mittel- und langfristig übrigens auch unabhängiger
vom Import konventioneller Energieträger machen wird.
Wir setzen die Energiewende damit unbeirrt fort, aber
wir sichern auch ihre Voraussetzungen. Diese lauten:
Bezahlbarkeit und Sicherheit in der Versorgung. Nur
wenn wir diese beiden Voraussetzungen gewährleisten,
wird die Energiewende dauerhaft die Unterstützung der
Bürgerinnen und Bürger behalten.
Ich will mich an dieser Stelle ausdrücklich bei all denen bedanken, die sich dieser Herausforderung gerade in
den letzten Wochen und Monaten intensiv gestellt haben.
Das gilt auch für die Länder, meine Damen und Herren.
Trotz mancher Änderungsvorschläge im Detail, die sicher auch in den Beratungen im Deutschen Bundestag
und im Bundesrat auftauchen werden - über sie muss
noch diskutiert und es muss entschieden werden -, findet
der jetzt vorgelegte Gesetzentwurf nach intensiver Beratung in Zielrichtung und Ausrichtung die Zustimmung
aller Ministerpräsidenten der Bundesländer. Das gilt ausdrücklich auch für den Weg in die Marktintegration und
in die Ausschreibungen ab 2017. Niemand - darauf lege
ich Wert - muss Angst davor haben, dass auf diesem
Weg Bürgerwindparks oder Energiegenossenschaften
keine Chance auf Teilnahme mehr erhalten.
({4})
Im Gegenteil: Wir werden einen gesonderten Gesetzentwurf in den Bundestag einbringen, mit dem wir diese
Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger nachhaltig sichern werden, meine Damen und Herren.
({5})
Die Zustimmung der Länder zu diesem Gesetzentwurf, jedenfalls in Zielrichtung und Ausrichtung, ist
auch deshalb so wichtig, weil das Wichtigste für die
Energiewende natürlich Planbarkeit und Berechenbarkeit sind. Wir müssen in eine Situation kommen, in der
auch bei wechselnden Regierungsmehrheiten in Bund
und Ländern nicht wieder Richtungswechsel herbeigeführt und veränderte Rahmenbedingungen für die Energiewende erzeugt werden.
Meine Damen und Herren, als der Beschluss fiel, erneuerbare Energien mit garantierten Abnahmepreisen zu
fördern, waren Windräder und Photovoltaikkraftwerke
erst eine Nischentechnologie. Heute sind die Erneuerbaren auf dem Weg zur Leittechnologie. Genau deshalb
müssen wir das Erneuerbare-Energien-Gesetz jetzt ändern. Es ist ein Unterschied, ob ein Gesetz eine Nischentechnologie fördern soll oder ob es eine Technologie fördern soll, die sozusagen zum veritablen Bestandteil, zum
Leitbestandteil des Strommarktes werden soll.
Vieles ist durch den Ausbau der Erneuerbaren in großem Stil verbessert worden. Seit es das EEG gibt, konnten vor allen Dingen die Kosten der Stromerzeugung in
den Bereichen Windenergie und Photovoltaik drastisch
gesenkt werden. Aber diese rasche Entwicklung hat auch
ihren Preis, und zwar im doppelten Sinn: Neben sinkenden Kosten pro Anlage gibt es steigende Systemkosten
der Energiewende. Diese gilt es in den nächsten Wochen
und Monaten zu stabilisieren. Denn der Ausbau der erneuerbaren Energien ist vor allen Dingen in systematischer Hinsicht eine Herausforderung. Es ist falsch, „Je
schneller, desto besser“ zum Motto der Energiewende zu
erklären. Das Motto muss lauten: „Je systematischer,
desto besser“ und „Je planvoller, desto besser“. Das
muss das Ziel der Energiewende sein.
({6})
Für diese systematische Einbindung fehlt es zurzeit
immer noch an vielem: Es fehlt an Netzen und Speichern. Es fehlt die Klärung der Verbindung zwischen erneuerbaren Energien und fossilen Kraftwerksparks. Es
fehlt an einem neuen Strommarktdesign. Es fehlt an europäischer Einbettung. Es fehlt natürlich auch an einem
funktionierenden Emissionshandel. All diese Aufgaben
müssen in den nächsten Monaten angegangen werden.
Das, was wir jetzt vorliegen haben, ist nur ein erster
Baustein. Die systematische Einbindung ist aber die Voraussetzung für den Erfolg der Energiewende.
Eine Bemerkung noch zum Emissionshandel. Natürlich ist es eigentlich unfassbar, dass wir viel Geld für die
Förderung der erneuerbaren Energien ausgeben und
gleichzeitig seit zwei Jahren steigende CO2-Emissionen
in Deutschland und Europa zu verzeichnen haben.
({7})
- Herr Krischer, ich bin dankbar für jeden Zwischenruf
von Ihnen, weil er zur Belebung solcher Reden hilfreich
ist.
({8})
Aber es ist eben nicht so, wie Sie behaupten. Das
Schlimme ist, Herr Krischer: Sie wissen das ganz genau.
In einer aufgeklärten Debatte darf man nicht das Gegenteil dessen, was man selber genau weiß, öffentlich erklären.
({9})
Ich meine das nicht persönlich. Es ist aber gut, dass man
angesichts solcher Zwischenrufe die Sachverhalte erläutern kann. Wie Sie wissen, ist das Problem, dass der europäische Emissionshandel zerstört ist. Es ist diese
Bundesregierung, die sich in Europa darum bemüht,
Bündnispartner zu gewinnen, um den Emissionshandel
endlich wieder in Gang zu bekommen. Sie sollten uns
dafür loben und uns nicht öffentlich kritisieren!
({10})
Meine Damen und Herren, in den letzten Wochen ist
viel darüber debattiert worden, ob es richtig ist, die deutsche Industrie von den Kosten der Energiewende in TeiBundesminister Sigmar Gabriel
len zu befreien. Immer wieder wird dabei der Versuch
unternommen, die Interessen der Verbraucherinnen und
Verbraucher gegen die Interessen am Erhalt industrieller
Arbeitsplätze auszuspielen. Auch gestern in der Fragestunde im Deutschen Bundestag ist das wieder in Teilen
der Fall gewesen. Ich glaube, dass der Versuch, Verbraucher gegen industrielle Arbeitsplätze auszuspielen,
grundfalsch ist, meine Damen und Herren, grundfalsch.
({11})
Zunächst muss man einmal mit der Mär aufräumen,
die deutsche Industrie würde keinen Beitrag zur Umstellung auf erneuerbare Energien leisten. Der Beitrag der
deutschen Industrie zur EEG-Umlage umfasst mehr als
7 Milliarden Euro. Wenn Sie Dienstleistungen, Handel
und Gewerbe dazuzählen, sind es insgesamt mehr als
12 Milliarden Euro. Das ist mehr als die Hälfte der Kosten, die wir beim Ausbau der erneuerbaren Energien zu
bewältigen haben.
In Wahrheit geht es um ungefähr 2 000 Industrieunternehmen mit entsprechender internationaler Handelsintensität, deren Energieintensität dazu führt, dass
drastisch steigende EEG-Umlage-Kosten für sie im Hinblick auf ihre internationale Konkurrenzfähigkeit zu einem massiven Wettbewerbsnachteil würden. Natürlich
könnten wir einen Dreipersonenhaushalt bei den Stromkosten um 40 bis 45 Euro pro Jahr entlasten, wenn wir
auch diesen 2 000 Unternehmen sämtliche Ausnahmen
streichen würden. - Übrigens: Wenn man das machte,
wovon Herr Krischer behauptet, ich hätte das versprochen, dann betrüge die Entlastung gerade einmal 1 Milliarde Euro, dann würde ein Dreipersonenhaushalt nicht
einmal 10 Euro im Jahr sparen. - Der Preis dafür wäre
allerdings der Verlust von Hunderttausenden industriellen Arbeitsplätzen in diesem Land.
({12})
Es ist doch keine Erfindung von Industrielobbyisten,
dass die Strompreise in den USA halb so hoch sind wie
in Europa und in Deutschland. Es ist doch keine Erfindung von Industrielobbyisten, dass, wenn wir uns nicht
in der Europäischen Union dafür eingesetzt hätten, diese
Ausnahmen beizubehalten, mittelständische Unternehmen mit 200, 300, 400 Beschäftigten auf einmal statt einer halben Million Euro EEG-Umlage 1,5 Millionen
Euro, manche sogar 6 Millionen Euro zu tragen hätten.
Sie wären unmittelbar in die Insolvenz marschiert. Deswegen ist es richtig, dass wir uns für diese Ausnahmen
eingesetzt haben, meine Damen und Herren.
({13})
Wer Verbraucher gegen industrielle Wertschöpfung
ausspielt, der macht beide zum Verlierer; denn gerade
die Tatsache, dass wir eine mittelständische industrielle
Wertschöpfung haben, ist doch der Grund, warum wir
besser aus der Krise herausgekommen sind als andere.
Noch etwas: Wir wollten mit der Energiewende
Nachahmer erzeugen. Wir wollten doch nicht Klimaschutz in Deutschland machen, sondern wir wollten andere dafür gewinnen, dass sie mitmachen. Das werden
die aber nur dann tun, wenn wir mit der Energiewende
den industriellen Erfolg unseres Landes nicht beschädigen. Wir werden doch kein Entwicklungsland dazu bringen, seinen Industrialisierungspfad nachhaltig mit erneuerbaren Energien zu gestalten, wenn das Land, das am
stärksten industrialisiert ist in Europa, seine Industrie dabei beschädigt.
({14})
Niemand würde uns folgen, meine Damen und Herren,
niemand.
Gestern hat das Kabinett deshalb die Besondere Ausgleichsregelung für stromintensive Unternehmen beschlossen. Weil auch dazu wirklich viele falsche Aussagen getroffen wurden, zum Beispiel, wir würden die
Pelzindustrie oder den Braunkohletagebau oder Urananreicherungsanlagen fördern, will ich dazu einmal ein
paar Bemerkungen machen: Entweder gehört ein Unternehmen zu den 68 Branchen auf der Liste, die die EUKommission veröffentlicht hat; dann hat es die Möglichkeit, beim BAFA einen Antrag zu stellen, um eine Befreiung zu erhalten. Das heißt aber noch nicht, dass dieser Antrag genehmigungsfähig ist - dazu muss das
Unternehmen nachweisen, dass das Verhältnis Stromkosten zur Bruttowertschöpfung mindestens 16 bzw.
17 Prozent ausmacht. Deswegen wird das zitierte Unternehmen der Pelzindustrie oder auch die Urananreicherungsanlage in Zukunft genauso wenig wie in der Vergangenheit eine Ausnahme genehmigt bekommen. In
der Vergangenheit gab es in Deutschland übrigens überhaupt keine Bedingungen dafür; das gesamte produzierende Gewerbe konnte Anträge stellen. Jetzt reduzieren
wir das auf eine ausgewiesene Liste von Branchen. Aber
es ist einfach - seien Sie mir nicht böse! - entweder
mangelnder Kenntnisstand
({15})
oder absichtliche Desinformation, wenn öffentlich erklärt wird, jeder, der auf der Liste steht, würde eine Ausnahme genehmigt bekommen. Ich finde, es ist ganz einfach: Statt das öffentlich zu behaupten, kann der, der
eine Frage hat, uns einfach einmal anrufen. Aber ich
gebe zu: Die nächste Pressemitteilung wird dann schwieriger.
({16})
Die zweite Möglichkeit ist: Man gehört zwar nicht zu
diesen 68 Branchen, steht aber auf einer zweiten Branchenliste, die die EU-Kommission veröffentlicht hat.
Um auf dieser zweiten Branchenliste zu erscheinen, ist
nur eine Handelsintensität von mehr als 4 Prozent erforderlich. Nach unserer Besonderen Ausgleichsregelung
kann ein Unternehmen demgegenüber nur dann einen
entsprechenden Antrag stellen, wenn es eine Stromkostenintensität von mehr als 20 Prozent aufweist.
({17})
- Das habe ich Ihnen gestern erklärt: Aus diesem Grund
gibt es die Verordnungsermächtigung in dem Gesetzentwurf. Sie müssen die Vorlagen natürlich lesen, bevor Sie
Pressemitteilungen herausgeben.
({18})
Ich will nur darauf hinweisen, dass die Stromkostenintensität und die Handelsintensität der Branche Voraussetzungen dafür sind, dass man eine Ausnahmegenehmigung erhält.
Noch etwas war und ist uns wichtig: In der Vergangenheit haben Unternehmen, zum Beispiel Schlachthöfe,
damit begonnen, ihre Arbeitnehmer auszugliedern und
sie in finsterste Werkvertragsverhältnisse zu bringen.
Dadurch haben sie ihre Bruttowertschöpfung künstlich
reduziert, um in den Genuss der Besonderen Ausgleichsregelung zu kommen.
Wir haben in der EU durchsetzen können, dass wir
die Wertschöpfung durch Leiharbeiter, Werkvertragsarbeitnehmer und andere mit zur Bruttowertschöpfung
zählen können, damit wir mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz nicht einen Anreiz dafür setzen, aus fairen
Beschäftigungsverhältnissen zu fliehen. Das wird mit
dieser Besonderen Ausgleichsregelung endlich geändert.
({19})
Aus den genannten Gründen ist es falsch, zu behaupten, dass sich bereits aus dem Erscheinen einer Branche
auf der Liste automatisch der Anspruch auf eine Ermäßigung hinsichtlich der EEG-Umlage ergibt.
Der vorliegende Entwurf des EEG orientiert sich eben
nicht an Einzelinteressen, sondern zielt auf einen breiten
Konsens über das übergeordnete Interesse unseres Landes ab. Meine Bitte ist, dass wir den Versuch unternehmen - und ich bin mir sicher, wir können das schaffen -,
den Gesetzentwurf noch vor der Sommerpause nicht nur
hier, sondern auch im Bundesrat zu Ende zu beraten,
weil das die Voraussetzung dafür ist, dass wir die Energiewende ohne weitere Konflikte mit der Europäischen
Union, aber auch ohne Konflikte in Bezug auf Planungsunsicherheit fortsetzen und die erneuerbaren Energien
erfolgreich ausbauen können.
Ich sage aber auch: Das hier ist nur der erste Baustein
dessen, was wir in dieser Legislaturperiode gemeinsam
schaffen müssen. Es gibt noch viel mehr zu tun. Ich bin
mir sicher, dass wir den gefundenen Konsens über den
Ausstieg aus der Atomenergie auch hinsichtlich der
Frage finden müssen, wie wir erneuerbare Energien,
Netzintegration, Speicher, Kapazitätsmärkte und anderes
miteinander organisieren können. Nur wenn wir bei der
Energiewende einen breiten gesellschaftlichen Konsens
erreichen, erreichen wir auch Planbarkeit und Sicherheit,
und das ist die wichtigste Voraussetzung.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({20})
Das Wort erhält nun die Kollegin Caren Lay für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Minister Gabriel, ich muss mich über die
Aussagen, die Sie heute zu den Industrierabatten gemacht haben, schon wundern. Vor ein paar Monaten - im
Dezember; das ist ja noch nicht so lange her - wurden
Sie noch mit völlig anderen Aussagen zitiert.
({0})
Dort hieß es:
Man kann die Ausnahmeregelungen
- gemeint waren die Industrierabatte deutlich reduzieren, das haben wir auch schon im
Wahlkampf gesagt, dass das sein muss. Das, was
früher FDP und CDU da gemacht hatten, war viel
zu groß.
({1})
Das ist offenbar lange her und längst vergessen; denn
in der Zwischenzeit haben Sie sich damit gebrüstet, dass
Sie die ganze Zeit mit viel Tamtam nach Brüssel gereist
sind und die Anzahl der zu befreienden Unternehmen
und Branchen ausgeweitet haben.
({2})
Am Ende haben Sie dann auch noch einen zum Teil unbefristeten Bestandsschutz für diejenigen Branchen
durchgesetzt, die von CDU und FDP damals befreit wurden. Wissen Sie, das ist unlogisch. Ich finde es ein Stück
weit unfair, sich von diesen ehemaligen Zielen so mir
nichts, dir nichts zu verabschieden.
({3})
Dann sagen Sie hier: Die Verbraucher sollen sich
nicht als Verlierer fühlen. - Schön wäre es! Wo sind
denn bitte schön die Fakten, die diese Aussage unterlegen? Es bleibt doch auch bei dem, was Sie jetzt verhandelt haben, dabei, dass im Endeffekt die Rentnerin und
der Student für Wiesenhof und die Steinkohleindustrie
die Stromrechnung mitbezahlen. Dann sagen Sie auch
noch: Das ist gut für den Wirtschaftsstandort Deutschland. - Ich frage Sie: Finden Sie das sozial gerecht? Ich
jedenfalls nicht.
({4})
Kommen wir zu Ihren wirtschaftspolitischen Aussagen. Auch bei dem, was jetzt im Rahmen der Industrierabatte verhandelt wurde, bleibt es prinzipiell möglich,
dass der Bäcker an der Ecke für die Großbäckerei mit einem deutlich höheren Stromverbrauch die Stromrechnung mitbezahlt. Das ist doch wirtschaftspolitischer Unsinn. So kann es doch nun wirklich nicht gehen.
({5})
Die Frage ist natürlich: Was kostet das Ganze? Sie
stellen sich hier hin und sagen: Diese 40 bzw. jetzt schon
45 Euro im Jahr sind für eine durchschnittliche Familie
eine erträgliche Summe, um die Industriestandorte in
Deutschland zu subventionieren. - Wissen Sie, ich finde,
das ist eine ganz schön zynische Haltung gegenüber all
denjenigen Leuten, für die 45 Euro eine Menge Geld
sind. Vielleicht sollten Sie das als Sozialdemokrat einmal mitbedenken.
({6})
Es kann sein, Herr Minister, dass Ihnen diese 45 Euro
nichts ausmachen. Aber Sie glauben doch nicht im Ernst,
dass diese Zwangskollekte für die deutsche Industrie auf
Kosten der Stromzahler nur annähernd eine Mehrheit in
der Bevölkerung finden würde. Wenn dieser Gesetzentwurf durch eine Volksabstimmung legitimiert werden
müsste, dann würde er abgelehnt. Ich finde, das sollte
auch der Deutsche Bundestag tun.
({7})
Wissen Sie, die Öffentlichkeit diskutiert jetzt seit über
einem Jahr, genauer gesagt: seit anderthalb Jahren, über
die Reform der Ökostromförderung. Diverse Reisen
nach Brüssel, Einladung der Kanzlerin von sämtlichen
Ministerpräsidenten waren die Folge. Was ist am Ende
dabei herausgekommen? Außer Spesen nichts gewesen!
Die Verbraucher schauen weiterhin in die Röhre, und die
Energiewende wird dabei abgewürgt. Dafür hat sich der
ganze Aufwand wirklich nicht gelohnt.
({8})
Sie sagen, Sie wollen den erneuerbaren Energien gar
nicht an den Kragen gehen. Schön wäre es! Stichwort
Arbeitsplätze: Die Branche der erneuerbaren Energien
ist eine der zukunftsfähigsten Branchen in Deutschland.
Hier sind über 400 000 Arbeitsplätze entstanden. In den
letzten Jahren sind aber im Bereich der erneuerbaren
Energien schon 10 000 Arbeitsplätze weggefallen, insbesondere in der Solarbranche und in Ostdeutschland.
Experten gehen jetzt davon aus, dass mit Ihrem Gesetzentwurf die ganze Sache noch schlimmer wird und dass
gerade im Bereich der erneuerbaren Energien Arbeitsplätze in Gefahr sind. Ich hätte mir schon gewünscht,
dass Sie dazu wenigstens einen einzigen Satz gesagt hätten.
({9})
Wir als Linke wollen Ökologisches und Soziales zusammendenken. Wir sagen: Wir brauchen die Energiewende, und wir wollen der Energiewende ein Sozialsiegel aufdrücken. Wir gehen nicht all denjenigen auf den
Leim, die sagen: Die Erneuerbaren machen den Strom
teurer. - Diese Menschen haben in Wirklichkeit nur die
Profitinteressen der Kohle- und Atomlobby und die der
Großindustrie im Hinterkopf. Das machen wir als Linke
nicht mit.
({10})
- Es wäre ein Leichtes und auch möglich, die Stromkosten für die Verbraucherinnen und Verbraucher zu senken;
Herr Heil, vielen Dank für Ihren Zwischenruf. Die SPD
hatte gemeinsam mit uns im Wahlkampf den einen oder
anderen klugen Vorschlag eingebracht. Nehmen wir zum
Beispiel die Senkung der Stromsteuer. Was ist denn daraus geworden? Nichts ist daraus geworden. Auf diesem
Gebiet haben Sie keine einzige soziale Flankierung
durchsetzen können. Ich finde, das ist für eine sozialdemokratische Politik ganz schön beschämend.
({11})
Wenn wir jetzt hier über die große Belastung der Industrie lamentieren, dann sagen Sie doch auch wenigstens ein einziges Wort zu den über 320 000 Haushalten
im Jahr - Tendenz steigend -, denen der Strom abgestellt
wird. Dazu habe ich vom Minister und auch von der Koalition kein einziges Wort gehört. Ich finde es schlimm,
dass den Menschen der Strom abgestellt wird und Sie
diese im Dunkeln sitzen lassen. Das muss endlich ein
Ende haben.
({12})
Es gibt viele andere Möglichkeiten, die Stromkosten
zu reduzieren und die Energiewende trotzdem nicht zu
gefährden. Wir als Linke haben ein ganzes Paket dazu
vorgelegt. Neben der Senkung der Stromsteuer wollen
wir die Strompreisaufsicht wieder einführen. Auch das
hatte die SPD noch im Wahlkampf gefordert. Heute haben Sie kein Wort dazu gesagt.
Oder greifen Sie einen klugen Vorschlag von Klaus
Töpfer, Ilse Aigner und auch von der Linken auf, einen
Energiewendefonds einzurichten und mit einem Haushaltszuschuss und einer zeitlichen Streckung der Investitionszuschüsse für die Erneuerbaren zu mehr sozialer
Gerechtigkeit beizutragen. Auch das wäre eine kluge
Idee.
({13})
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.
Auch wir als Linke wollen die Industrierabatte nicht
komplett abschaffen.
({14})
Auch uns liegen natürlich die Arbeitsplätze in der Industrie am Herzen. Aber so, wie Sie es vorschlagen, geht es
nicht. Die Vergabe muss an klare Kriterien gebunden
sein, und die Rabatte müssen deutlich reduziert werden.
Das haben Sie noch vor ein paar Wochen gefordert. Ich
würde mir sehr wünschen, dass Sie sich in der Debatte
und bei der Gesetzesberatung wieder daran erinnern
können. So, wie Sie es vorgeschlagen haben, geht es jedenfalls nicht.
({15})
Michael Fuchs ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Minister,
ich bin der Meinung, dass wir auf einem guten Weg sind,
das EEG so zu reformieren, dass es am Ende des Tages
Akzeptanz in der Bevölkerung findet. Das ist unsere
Aufgabe. Aber dabei muss auch die Akzeptanz der Unternehmen gewahrt bleiben. Es kann nicht sein - wie es
gerade von der Linken gefordert wurde -, dass man Unternehmen wissentlich und willentlich kaputtmacht;
({0})
denn sie können in Deutschland nicht mehr arbeiten,
wenn sie Strompreise nach linkem Muster zu bezahlen
haben.
Wer das fordert, der weiß genau, dass er in Deutschland diverse Grundstoffindustrien kaputtmacht. Wenn
sie kaputt sind, dann gehen Wertschöpfungsketten kaputt, und dann haben wir - das gilt auch für Herrn
Krischer - am Ende des Tages nichts gewonnen.
({1})
Wir haben ein EEG, das sehr, sehr teuer ist. Wir fördern in diesem Jahr die erneuerbaren Energien mit
23,8 Milliarden Euro. Auf 20 Jahre gerechnet sind wir
nahe an einer halben Billion Euro Fördermittel. Das
zeigt doch, wie sehr Deutschland bereit ist, in die Förderung einzusteigen. Die 23,8 Milliarden Euro entsprechen
in etwa der Größenordnung des Verkehrsetats von
Minister Dobrindt. Wenn wir in dem Bereich etwas mehr
Geld für die Straßen hätten, dann würde es uns vermutlich etwas besser gehen.
({2})
Meine Damen und Herren, dieses Fördersystem muss
eingeschränkt, verbessert und gedeckelt werden. Das ist
in diesem Gesetzentwurf angelegt. Wir werden das eine
oder andere im Gesetzgebungsverfahren noch intensiv
diskutieren müssen. Aber ich bin davon überzeugt, dass
wir das hinbekommen.
Wir nehmen 5,1 Milliarden Euro aus der Umlage heraus, damit uns die energieintensive Industrie nicht aus
Deutschland flüchtet. In einem Punkt bin ich mit Ihnen,
Herr Minister, nicht ganz einer Meinung. Ich war vor einigen Tagen in Washington auf einem Kongress. Die
Amerikaner haben ein Fünftel unserer Stromkosten in
den Bereichen, wo sie Schiefergas ausbeuten. Das ist gefährlich. Die Amerikaner betreiben eine Reindustrialisierungspolitik, und sie wollen gerade energieintensive
Unternehmen anlocken, in den USA zu produzieren.
Wenn diese bei uns wegfallen, gehen ganze Wertschöpfungsketten von A bis Z kaputt. Das trifft nicht nur den
Stahlproduzenten, sondern auch den Stahlverarbeiter,
den Oberflächenbeschichter sowie das Transportunternehmen, das die Güter hin- und herfährt. Das wissen wir
alle, und deswegen wird das verhindert. Deswegen ist es
auch völlig in Ordnung, dass wir diese Unternehmen befreien.
Machen wir uns doch bitte nichts vor: Ohne diese Unternehmen käme es zu einem drastischen Anstieg der
EEG-Umlage, weil dann wesentlich weniger industrieller Strom abgenommen würde. Dementsprechend müssten die anderen höhere Beträge zahlen. Das ist nun einmal nicht zu ändern.
Es trifft auch nicht zu - wie Sie es behaupten -, dass
die Großverbraucher komplett geschont werden. Der
Entwurf der Bundesregierung sieht vor, dass wir zum
Beispiel die Mindestumlage verändern. Wir haben dann
eine doppelt so hohe Mindestumlage für die Großverbraucher. Das ist eine sehr spürbare Maßnahme. Wir haben dazu auch entsprechende Anrufe aus allen Branchen
bekommen.
Im EEG-Gesetzentwurf formulieren wir nun etwas
- das ist wichtig -, was bislang für die erneuerbaren
Energien fast Drohworte sind. Wir erwarten Eigenverantwortung, und wir wollen auch Wettbewerb. In Zukunft muss Wettbewerb herrschen. Das bedeutet Direktvermarktung und Ausschreibung. Beides sieht der
Gesetzentwurf vor. Wir werden das intensiv begleiten.
Wir müssen die Mentalität „Produce and forget“ beenden. Es kann nicht sein, dass jemand ein Produkt erzeugt
- in diesem Fall Strom - und nicht dafür verantwortlich
ist, dass es vermarktet wird.
({3})
Ich habe über 23 Jahre ein Unternehmen geführt. Ich
hätte es sehr gerne gesehen, wenn ich meine Produkte
einfach auf den Hof hätte stellen und sagen können: Seht
zu, wie ihr damit klarkommt! - Wenn man sich um den
Vertrieb überhaupt nicht kümmern muss, ist das sehr angenehm. Aber das kann so nicht weitergehen. Das müssen wir verändern; das ist unser Ziel. Das wird durch Direktvermarktung und Ausschreibungsregeln noch in
dieser Legislaturperiode umgesetzt werden. Das sind natürlich für die Erneuerbaren böse Worte. Aber das muss
so sein. Wir wollen die Erneuerbaren nicht abwürgen, im
Gegenteil.
({4})
Der Bundesminister hat eben die Ausbaufrage völlig zu
Recht angesprochen. Einen geplanten jährlichen Zubau
von jeweils 2 500 Megawatt im Wind- und Solarbereich
kann man wahrlich nicht als Abwürgen bezeichnen.
Deswegen sollten Sie das auch nicht behaupten.
In einem Punkt bin ich mit dem Gesetzentwurf nicht
ganz zufrieden. Das ist der Offshorebereich. Das wird
besonders teuer. Da sollten wir sehr vorsichtig sein; denn
wir können nicht mehr im bisherigen Stil weitermachen.
Wie ich bereits zu Beginn meiner Rede erwähnt habe,
geben wir bereits 500 Milliarden Euro aus. Jede Anlage,
die hinzukommt, verteuert das Ganze noch einmal.
In Deutschland darf es auch nicht 16 Energiewenden
geben. Es darf nicht dazu kommen, dass jedes Bundesland sein eigenes Spielchen spielt. Rheinland-Pfalz will
in 15 Jahren mithilfe der erneuerbaren Energien energieautark sein. Mir ist es unerklärlich, wie das in einem
Bundesland wie Rheinland-Pfalz möglich sein soll.
Ohne jegliche Absicherung durch andere Energieträger
energieautark zu werden, dürfte ziemlich schwierig sein.
Deswegen finde ich es richtig, dass die Bundesregierung
in die Speicherforschung investiert. Gerade die erneuerbaren Energien benötigen Speicher. Wenn es keine entsprechenden kostengünstigen Speichermedien gibt, wird
Autarkie allein mit Erneuerbaren nicht funktionieren.
Ich will noch etwas zu den Windkraftanlagen sagen.
Hören Sie gut zu, Herr Krischer! Nach heutigen Fördersätzen wird eine 3-Megawatt-Anlage - das entspricht
dem Standard, der heute onshore gebaut wird - mit
6,5 Millionen Euro über eine Laufzeit von 20 Jahren gefördert. 500 Megawatt kosten gemäß heutigen Fördersätzen 1 Milliarde Euro Fördermittel. Der von uns vorgesehene Zubau von 2,5 Gigawatt pro Jahr kostet bei einer
20-jährigen Laufzeit dementsprechend 5 Milliarden Euro
Fördermittel. Das sind gewaltige Belastungen, die wir
der Bevölkerung, aber auch den Unternehmen aufbürden. Das wollen und akzeptieren wir auch. Aber mehr
kann und darf es nicht sein, weil es sonst nicht mehr zu
tragen ist. Wie Sie wissen, werden sich die laufenden
Förderungen frühestens im Jahr 2025 deutlich reduzieren, weil erst dann teure Anlagen der Vergangenheit aus
der Förderung fallen.
Wir müssen außerdem dafür sorgen, dass alle Maßnahmen betreffend die Steigerung der Effizienz und den
Netzausbau so beschleunigt werden, dass weiterhin Anlagen aufgebaut werden können. Ohne einen vernünftigen Netzausbau funktioniert das Ganze überhaupt nicht.
Ich halte es deshalb für sehr wichtig, dass wir begleitend
die Verfahren für den Netzausbau beschleunigen; denn
wenn keine Netze vorhanden sind, können wir den
Strom beispielsweise nicht von Nord nach Süd transportieren und in den Verteilnetzen nicht für ein sinnvolles
Hin und Her sorgen. Aber dazu müssen auch die Erneuerbaren - so steht es auch im Koalitionsvertrag - ihren
Beitrag leisten. Es ist nicht einzusehen, dass ausschließlich die Stromkunden den Netzausbau bezahlen, während die Betreiber von Erneuerbare-Energien-Anlagen
nichts dazu beitragen müssen; denn Letztere sind diejenigen - wenn man vom Verursacherprinzip ausgeht -,
die uns im Wesentlichen dazu zwingen, einen teuren
Netzausbau vorzunehmen.
TenneT hat vor einigen Tagen errechnet, dass allein
der Netzausbau im Bereich der Übertragungsnetze
23 Milliarden Euro kosten wird. Das muss noch umgelegt werden; ich möchte, dass alle, die einspeisen, daran
beteiligt werden. Das haben wir im Koalitionsvertrag so
vereinbart. Herr Minister, wir sollten an die Gesetzgebung in diesem Bereich so schnell wie möglich herangehen.
Das Einspeisemanagement muss geregelt werden,
und wir müssen dafür sorgen, dass wir die Ziele, die wir
uns beim Ausbau der erneuerbaren Energien gesetzt haben, sicher erreichen; dies muss aber auch so kostengünstig und kosteneffizient geschehen, wie es notwendig
ist, und schließt Wettbewerbsfähigkeit und EU-Konformität ein. Ich bin Ihnen sehr dankbar dafür, dass Sie es
zusammen mit der Bundeskanzlerin geschafft haben, die
EU-Konformität herzustellen, sodass wir in Zukunft
keine Angst mehr haben müssen, dass unsere Besondere
Ausgleichsregelung in irgendeiner Weise gefährdet ist.
Danke schön.
({5})
Das Wort hat nun der Kollege Oliver Krischer, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Bundesminister Gabriel, es ist schon erstaunlich,
wie breitbeinig Sie sich hier hinstellen und so tun, als
ginge mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien alles
so weiter wie bisher, als würde diese Erfolgsgeschichte
weiterlaufen. Ein Blick auf die Fakten Ihres eigenen Gesetzentwurfs zeigt etwas anderes. Sie reduzieren das
Ausbautempo der erneuerbaren Energien um die Hälfte,
und zwar nicht um die Hälfte gegenüber grünen Zielen,
sondern um die Hälfte gegenüber Zielen der schwarzgelben Bundesregierung. Das ist wahrlich ein Armutszeugnis.
({0})
Sie machen damit das EEG zu einem Bestandsschutzinstrument für die Kohleindustrie, für die fossile Energieerzeugung.
({1})
Sie machen damit aus der Energiewende, die wir in
Deutschland einmal hatten, eine Braunkohlewende. Dagegen werden wir uns wehren.
({2})
Herr Gabriel, besonders dreist ist es, dass Sie sich hier
hinstellen und sagen, bei der Windenergie werde in Zukunft noch etwas laufen. Es ist richtig, dass bei der
Windenergie in Zukunft noch etwas passieren wird, aber
das passiert nur, weil grün regierte Bundesländer sich
dafür eingesetzt und das durchgesetzt haben. Wären Ihre
ursprünglichen Vorschläge zum Tragen gekommen,
dann würde südlich von Hannover keine einzige Windkraftanlage mehr gebaut werden; dann hätten Sie auch
das noch kaputtgemacht.
({3})
Was Sie kaputtmachen, ist die Biogaserzeugung.
Diese stellen Sie komplett ein. Sie beenden die Technologieentwicklung, wobei sie eine Chance wäre, eine residuale, eine flexible Energieerzeugung zum Ausgleich
von Wind- und Sonnenenergie zu bekommen. Das beenden Sie. Es ist unverantwortlich, dass man eine Technik,
die in Deutschland entstanden ist, so beendet.
({4})
Genauso trifft es die Photovoltaik. Nur, Sie haben
nicht den Mut, das zu sagen. Sie schreiben in den Gesetzentwurf einen Zubau von 2 500 Megawatt - das haben Sie eben auch gesagt -, aber auch da zeigt ein Blick
auf die Fakten etwas anderes. Wir haben im Moment
schon, unter dem gültigen EEG, einen Zubau bei Photovoltaik, der gegen null geht. Das zeigen die Zahlen der
Bundesnetzagentur. Sie verschlechtern die Bedingungen
vor allen Dingen mit der absurden Eigenstromregelung,
sodass wir mit Ausnahme des Kleinsegments in Zukunft
null Photovoltaikstrom mehr haben. Es ist absurd, die
neben der Windenergie kostengünstigste Form der
Energieerzeugung, nämlich die aus Sonne, abzuwürgen.
Das ist Unsinn. Das ist absurd. Aber das ist das Ergebnis
Ihrer Politik.
({5})
Der ganz besondere Klopper in diesem Gesetzentwurf
ist die Eigenstromregelung. Wenn in Zukunft ein mittelständisches Unternehmen oder ein Privathaushalt mit einem Blockheizkraftwerk effizient Energie erzeugen und
damit zur Energiewende beitragen will und das mit einer
Photovoltaikanlage kombiniert, dann zahlen diese eine
EEG-Umlage von 50 Prozent auf den selbst verbrauchten Strom.
({6})
Das führt dazu, dass diese ganzen Projekte am Ende unwirtschaftlich werden. Herr Fuchs, Sie wollen das nicht,
aber eigentlich haben Sie einen Koalitionsvertrag unterschrieben, in dem steht, dass wir genau das voranbringen
wollen. Wir fördern das über das Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz. Diese Förderung schlägt sich eins zu eins in
der EEG-Umlage nieder, sodass das Ganze zu einem
Nullsummenspiel wird. Damit einher geht zusätzliche
Bürokratie. Das alles ist Unsinn. Die positive Entwicklung wird somit abgewürgt.
({7})
Es wird noch schlimmer. Wenn es wenigstens eine
Gleichbehandlung gäbe! Aber derjenige, der erneuerbare
Energien erzeugt - vielleicht sieht er ein Braunkohlekraftwerk, wenn er aus dem Fenster schaut -, muss zur
Kenntnis nehmen, dass das, was für die dezentrale KraftWärme-Kopplung und für die Photovoltaik gilt, für Kohlekraftwerke nicht gilt: Sämtliche Kohlekraftwerke sind
von der Eigenverbrauchsumlage ausgenommen; sie zahlen auf ihren Eigenstromverbrauch also keine EEG-Umlage. Das ist eine himmelschreiende Ungerechtigkeit.
({8})
Ich fordere Sie auf, das zu beenden und an dieser
Stelle wenigstens Kostengerechtigkeit herzustellen. Das
würde auch dem Mittelstand und denjenigen, die sich da
engagieren wollen, etwas bringen. Bisher hatte ich die
Hoffnung, dass sich wenigstens die Union für diesen Bereich engagiert. Aber an dieser Stelle tun Sie überhaupt
nichts.
({9})
Meine Damen und Herren, kommen wir zur Besonderen Ausgleichsregelung. Sie haben uns gestern einen Gesetzentwurf vorgelegt. Dafür haben Sie vier Wochen länger als geplant gebraucht. Ihre sonstigen Pläne liegen
schon ein bisschen länger vor. Ich bin einmal gespannt,
wie Sie die Verabschiedung Ihres Gesetzentwurfes verfahrenstechnisch, also im Hinblick auf die Beratungen
im Bundesrat, zustande bringen wollen. Aber das sehen
wir dann.
({10})
Es ist völlig unstrittig - ich finde es absurd, dass das
hier immer wieder infrage gestellt wird -, dass die
Grundstoffindustrie - Metallerzeugung, Chemie und Papier - eine Befreiung von der EEG-Umlage braucht. Darum geht es nicht. Aber Sie müssen mir schon erklären,
warum Firmen, die Fantasieschmuck herstellen, oder,
um das andere Extrembeispiel zu nehmen, die deutsche
Panzerindustrie neuerdings in der Liste der von der
EEG-Umlage zu befreienden Unternehmen auftauchen.
Wollen Sie, dass die deutsche Panzerindustrie in SaudiArabien konkurrenzfähig ist, oder worum geht es dabei?
({11})
Sie schaffen mit dieser Liste ein bürokratisches
Monster unglaublicher Art. Das führt in der Tat zu Beschäftigung: zur Beschäftigung bei Beratern und Rechtsanwälten, bei Gerichten. Das wird dazu führen, dass jeder sein Schlupfloch sucht, um am Ende in den Genuss
des Privilegs der Befreiung zu kommen.
Das zeigt aktuell schon das Beispiel Vattenfall: Dieses Unternehmen, das Braunkohletagebau betreibt, steht
zwar nicht mehr in der Liste der von der EEG-Umlage
zu befreienden Unternehmen. Jetzt plötzlich wollen Sie
aber, dass Vattenfall vom Eigenstromprivileg profitiert.
Aha, da staunen wir. So läuft das also in Zukunft. Durch
die von Ihnen geplante Regelung wird jeder sein
Schlupfloch finden. Bezüglich Ihres Versprechens, dass
die Kosten um 1 Milliarde Euro gesenkt werden, dass
die privaten Verbraucher entlastet werden, haben wir
gestern gehört: Das war ein großes Missverständnis. Sie
gestehen ein: Die privaten Verbraucher werden mit Milliardenbeträgen zusätzlich belastet. Das ist das Ergebnis
Ihrer Politik.
({12})
Wenn wir schon über Arbeitsplätze reden, dann müssen wir endlich auch einmal über die Arbeitsplätze in der
Erneuerbare-Energien-Branche reden.
({13})
Da stellen Sie Zehntausende von Arbeitsplätzen infrage.
Ich verweise darauf, dass dort 400 000 Arbeitsplätze geschaffen worden sind. Dazu höre ich überhaupt nichts
von Ihnen. Man kann den Eindruck haben: Bei Ihnen ist
ein Arbeitsplatz nur dann ein guter Arbeitsplatz, wenn
der IG BCE-Organisationsgrad in dem jeweiligen Betrieb besonders hoch ist.
({14})
In manchen Bereichen interessieren Sie sich nullkommanull für die Arbeitsplätze. Das darf an dieser Stelle überhaupt nicht sein.
Ich sage Ihnen: Gehen Sie einmal in den Kreis Borken im Münsterland. Da gibt es drei innovative Unternehmen im Bereich Blockheizkraftwerke, Biogas, Photovoltaik. Sie beschäftigen in einer ländlichen Region
tausend Menschen. Dort weiß man am Ende des Jahres
nicht mehr, ob man noch eine Chance hat. Man hat vielleicht noch eine Chance im Ausland. Ich bedauere, dass
Herr Gabriel sich da nicht einmal blicken lässt, dass er
da nicht einmal Gesicht zeigt und seine Politik erklärt.
Herr Gabriel, da gehen Sie nicht hin, darum drücken Sie
sich herum.
({15})
Herr Kollege.
Herr Präsident, ich komme zum Schluss.
Gut.
Wir haben Ihnen einen großen Konsens angeboten.
Der Bundesrat hat in den letzten Tagen über 200 Änderungsanträge zu diesem Gesetzentwurf gestellt. Insofern
kann es ja wohl nicht sein, dass es da einen Konsens
gibt. Wir sagen: Dieser Gesetzentwurf ist ein Anschlag
auf die Energiewende. Er ist ein Anschlag auf die Arbeitsplätze. Er ist ein Anschlag auf den Klimaschutz.
Dieses Abwürgen der Energiewende werden wir in dieser Form nicht mittragen. Sie sollten sich aufraffen und
das EEG wieder zu einem Gesetz machen, das von einer
breiten parlamentarischen Mehrheit getragen wird.
Wenn ich die Äußerungen von Herrn Fuchs richtig verstanden habe, dann wird es am Ende sogar noch schlimmer, und das werden wir nicht mittragen. Das kann ich
Ihnen sehr deutlich sagen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Ehrentribüne hat der Präsident des Staatsrates des Sultanats
Oman, Herr Dr. al-Manthari, mit seiner Delegation
Platz genommen. Ich möchte ihn im Namen aller Kolleginnen und Kollegen des Hauses ganz herzlich bei uns
begrüßen.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident, Sie haben in den vergangenen Tagen sehr intensive Gespräche mit vielen
Kolleginnen und Kollegen hier im Haus und darüber hinaus geführt. Wir wünschen Ihnen für Ihren Aufenthalt
in Deutschland, für die politische und wirtschaftliche
Entwicklung Ihres Landes, insbesondere aber für die
weitere parlamentarische Arbeit alles Gute und danken
Ihnen für Ihr Interesse an unserer Arbeit.
Der nächste Redner in der Debatte ist der Kollege
Hubertus Heil.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die grundlegende EEG-Reform, die wir heute in der
ersten Lesung miteinander beraten, hat zum Ziel, dass
wir die Energiewende tatsächlich wieder vom Kopf auf
die Füße stellen. Die polemischen Einlassungen der Opposition haben ein bisschen vernebelt, worum es wirklich geht.
({0})
Wir können einmal ganz ruhig und sachlich, Herr
Krischer, miteinander über das reden, was heute vorliegt.
Es geht im Kern um drei Dinge:
Zum einen geht es tatsächlich darum, dass wir dafür
sorgen, dass Grundstoffindustrien, dass energieintensive
Unternehmen, die im internationalen Wettbewerb stehen, auch weiterhin in Deutschland produzieren können.
Jetzt sage ich Ihnen einmal eines, Herr Krischer und
Frau Lay: Einem deutschen Bundeswirtschaftsminister
vorzuwerfen, dass er sich für zukunftsfähige industrielle
Arbeitsplätze in Deutschland einsetzt, ist ungefähr genauso schlau, wie Greenpeace vorzuwerfen, dass man
sich für die Rettung der Wale einsetzt; das ist ziemlicher
Unsinn.
({1})
Ich will Ihnen einmal eines sagen: Diese polemische
Art und Weise, mit der Sie das Ganze zu diffamieren
versuchen, indem Sie zum Beispiel die Liste der Europäischen Kommission zitieren und im gleichen Atemzug
Hubertus Heil ({2})
verschweigen, dass es nicht darum geht, ganze Branchen
zu befreien,
({3})
sondern darum, Branchen antragsberechtigt zu machen,
damit Unternehmen, die nach objektiven Kriterien im internationalen Wettbewerb stehen und gleichzeitig energieintensiv sind, das Leben nicht schwer gemacht wird,
finde ich nicht redlich. Deshalb, Herr Krischer: Mehr
Kretschmann und weniger Krischer in der Energiepolitik
der Grünen, das wäre eine gute Idee.
({4})
In diesem Zusammenhang, Frau Lay, erzähle ich Ihnen einmal etwas aus meiner Heimat. Es gibt ein Elektrostahlwerk in meiner Heimatstadt Peine. Der Betriebsrat besteht im Wesentlichen aus ordentlichen IGMetallern,
({5})
die meisten davon Sozialdemokraten, einer ist von der
Linkspartei, und einer ist übrigens von den Grünen. Dieses Unternehmen ist ein Elektrostahlwerk, das vom physikalischen Prozess her alle Möglichkeiten der Energieeffizienz ausschöpfen kann, aber sehr viel Energie
verbraucht, um Schrott einzuschmelzen und daraus
Stahlträger zu machen, die dann exportiert werden. Das
ist ein Stück Kreislaufwirtschaft. Wenn wir dieses Unternehmen so einbeziehen würden, wie Sie das verlangen,
dann ist klar, was mit den 780 Arbeitsplätzen in meiner
Heimatstadt passieren würde - das kann ich Ihnen sagen -:
Die wären weg.
Deshalb ist meine herzliche Bitte: Falls Sie noch Betriebsräte kennen, die in Grundstoffindustrien arbeiten,
und mit denen sprechen würden oder falls Sie sich einmal mit dem, wie ich finde, sehr klugen Wirtschaftsminister von Brandenburg, einem Mitglied Ihrer Partei,
in der Energiepolitik in Verbindung setzen könnten,
wäre ich Ihnen sehr dankbar. Die könnten zur Aufklärung beitragen.
({6})
Ich glaube, dass die Linkspartei ein gestörtes Verhältnis
zu industriellen Arbeitsplätzen in Deutschland hat. Das
ist ihr Problem. Das darf nicht unseres werden.
({7})
Ich bin der Bundesregierung - namentlich dem Bundeswirtschaftsminister, aber auch der Kanzlerin - sehr
dankbar, dass sie etwas hinbekommen hat, mit dem viele
schon fast nicht mehr gerechnet haben, nämlich eine
Verständigung mit der Europäischen Kommission, dass
wir an dieser Stelle eine EU-konforme Regelung bekommen, übrigens keine, die die Wirtschaft nicht in die Finanzierung der Energiewende einbezieht. Auch das ist
vorhin vorgetragen worden: Es wird eine Erhöhung der
Mindestumlage geben, und zwar für alle, und es ist so,
dass die deutsche Wirtschaft insgesamt ihren Beitrag
leistet.
Ich sage noch einmal: Wer Arbeitsplätze im industriellen und mittelständisch produzierenden Bereich gegen Verbraucher und Familien ausspielt, der macht ein
schäbiges Spiel.
({8})
Das ist in der Sache vollkommen ungerechtfertigt. Ich
sage Ihnen auch: Zum Gelingen der Energiewende werden wir die Grundstoffindustrien in Deutschland brauchen. Windräder brauchen Stahl. Energieeffizienz
braucht chemische Produkte, und wir wollen, dass die in
Deutschland produziert werden, meine Damen und Herren.
({9})
- Ganz deutlich Sie! - Herr Krischer, ich weiß nicht, was
mit Ihnen passiert ist. Sie sind wirklich ein kundiger
Mensch. Seit Sie aber in der Opposition gegen diese
Bundesregierung - gegen diesen Bundesminister für
Wirtschaft und Energie - zu Felde ziehen müssen, haben
Sie jegliches Maß und jegliche Mitte in der Debatte verloren.
({10})
Es scheint Ihnen eher um grüne Profilierung in Ihrer Partei zu gehen und nicht mehr um die Sache. Das ist
schade. Es mag bei den Grünen welche geben, die sich
im parlamentarischen Verfahren konstruktiv auf diese
Debatten einlassen. Ich würde mir das sehr wünschen;
denn wir müssen raus aus diesen Grabenkampfdiskussionen der Vergangenheit.
Wir sind doch miteinander der Meinung, dass wir die
Energiewende zum Erfolg führen müssen. Wir haben
ehrgeizige Klimaschutzziele. Wir wollen raus aus der
Atomkraft. Jetzt geht es um die Frage, wie wir diesen
Weg miteinander planbar, berechenbar und kosteneffizient gestalten. Kein vernünftiger Mensch in diesem Haus
stellt die Energiewende mehr infrage. Diejenigen aber,
die für die Energiewende sind, müssen heute zu Reformen bereit sein.
({11})
Es geht nicht mehr um die Markteinführung von Erneuerbaren, sondern um die Marktdurchdringung mit Erneuerbaren. Deshalb kann man nicht zulassen, dass
Überförderung stattfindet. Daher ist das zweite Ziel dieser Reform mehr Kosteneffizienz beim Ausbau der erneuerbaren Energien. Wir setzen mit einer vernünftigen,
planbaren Förderung und klaren Ausbauphasen, mit Systemintegration auf die kostengünstigsten Erneuerbaren.
Hubertus Heil ({12})
Das sollten Sie unterstützen und nicht diffamieren,
meine Damen und Herren.
({13})
Herr Kollege Heil, darf die Kollegin Lay Ihnen eine
Zwischenfrage stellen?
Sehr gerne. Bitte schön.
Frau Lay.
Vielen herzlichen Dank für das Gestatten dieser Zwischenfrage. - Sie haben mir und auch dem Kollegen von
den Grünen vorgeworfen und im Grunde suggeriert, als
würde vor allen Dingen die Fraktion Die Linke die Industrierabatte komplett abschaffen wollen. Ich frage Sie,
ob Sie zur Kenntnis nehmen wollen, dass nach unserem
Konzept der Reduzierung der Industrierabatte - das haben übrigens die SPD im Wahlkampf und der Minister
vor vier Monaten im Fernsehen gefordert - beispielsweise Stahl Peine - diese Firma haben Sie zitiert; das gilt
aber auch für andere Unternehmen der Stahl- und der
Chemieindustrie - weiterhin privilegiert werden würde.
Auch wir wollen diese Arbeitsplätze nicht gefährden.
Als Linke können wir aber eine massenhafte Zunahme
der Zahl der Branchen, die prinzipiell von Industrierabatten profitieren könnten, nicht mitmachen. Nehmen
Sie zur Kenntnis, dass auch wir weiterhin Ausnahmeregelungen für die Stahlindustrie und für die Chemieindustrie vorsehen.
({0})
Sehr geehrte Frau Lay, ich nehme zur Kenntnis, dass,
wenn Sie das so vertreten - was ich begrüße -, offensichtlich Ihre Polemik gegen die Ausnahmen mit dem
gerade Gesagten nicht ganz zusammenpasst. An dieser
Stelle will ich Ihnen sagen: Von Ausweitung kann doch
gar keine Rede sein. Das Volumen bleibt erhalten. Wir
gehen nach objektivierbaren Kriterien wie internationaler Wettbewerb, Handelsintensität und Energieintensität
vor.
Wir sind gemeinsam der Meinung, dass wir Trittbrettfahrer nicht gebrauchen können. Gemeinsam sind wir
der Meinung, dass es vernünftig ist, dass sich Unternehmen nicht aus der Solidarität der EEG-Umlage ausklinken können, indem sie beispielsweise massiv in Leiharbeit ausweichen. Genau das regelt dieses Gesetz.
Wenn das, was Sie beschreiben, wirklich Ihr Konzept
ist, würde ich es gerne zur Kenntnis nehmen; aber Sie
können doch nicht im gleichen Atemzug - das bezieht
sich auf die Rede, die Sie vorhin gehalten haben - gegen
die Tatsache zu Felde ziehen, dass wir solche Ausnahmen mit einem bestimmten Volumen haben.
Das, was der Bundesminister gemacht hat, will ich Ihnen vorrechnen. Ich will Ihnen sagen, was es bedeuten
würde, wenn man die komplette EEG-Umlagebefreiung
für energieintensive Betriebe verschwinden lassen
würde.
({0})
Dabei geht es um 40 Euro für einen dreiköpfigen Haushalt bzw. um etwa 4 Euro pro Monat. Der Preis wäre,
dass diese industriellen Arbeitsplätze in energieintensiven Betrieben im Rahmen der Konkurrenz verschwinden
würden. Sie müssen sich schon entscheiden: Stimmt Ihr
Konzept, oder stimmt die Polemik, die Sie hier vorhin
von diesem Pult aus vorgetragen haben?
({1})
Meine Damen und Herren, es gibt also nur Ausnahmetatbestände für diejenigen, die sie brauchen - nicht
für diejenigen, die sie missbrauchen. Dafür haben wir
jetzt objektivierbare Kriterien. Wir haben eine Verständigung mit der Europäischen Kommission.
Erstens. Das wird das beihilferechtliche Verfahren zu
Ende bringen, und es wird dazu führen, dass wir Rechtsund Planungssicherheit auch für die Unternehmen - dabei geht es um Arbeitsplätze - haben, die ab 1. Januar
2015 Befreiung beantragen können. Nicht jeder, der die
Befreiung beantragt, wird sie auch bekommen. Deshalb
ist es richtig, nicht Branchen zu nennen, sondern die Situation von einzelnen Unternehmen zu betrachten.
Zweitens. Wir schaffen die Voraussetzungen dafür,
kosteneffizienter auszubauen; aber wir werden ausbauen, Herr Krischer. Von Ausbremsen kann überhaupt
keine Rede sein.
({2})
Wir haben jetzt 25 Prozent erneuerbare Energien, und
wir werden 45 Prozent erreichen. Dafür ist es aber notwendig, nicht nur Kosteneffizienz zu schaffen, sondern
den Ausbau der Netze zeitlich stärker mit dem Ausbau
der erneuerbaren Energien zu synchronisieren. Darum
geht es. Es geht um Systemintegration. Wir wollen keinen Wegwerfstrom produzieren, sondern Strom, der tatsächlich gebraucht wird.
({3})
Dazu brauchen wir diese Verlässlichkeit.
Drittens. Es geht darum, für die gesamte deutsche
Wirtschaft im Hinblick auf die Erneuerbaren endlich
Planungs-, Rechts- und Investitionssicherheit zu schaffen. Die vielen Auseinandersetzungen der letzten Jahre
haben doch in weiten Teilen der deutschen Wirtschaft,
was die Erneuerbaren angeht, vor allem eines ausgelöst:
entweder so etwas wie Schlussverkaufsmentalität - noch
einmal ordentlich Druck machen - oder in anderen Pha2708
Hubertus Heil ({4})
sen das krasse Gegenteil, nämlich Investitionsattentismus. Mit dieser grundlegenden Reform schaffen wir die
Möglichkeit, dass jeder sich darauf einstellen kann, wohin die Reise geht, und zwar über den Zeitraum des jetzigen EEG hinaus bis zu einem neuen Marktdesign mit anderen Mechanismen, die planbar sind und die in diesem
Übergangszeitraum auch berechenbar sind.
Wir haben uns in Deutschland vorgenommen, unter
den Bedingungen eines hochindustrialisierten Landes
eine doppelte Energiewende zu schaffen, mit sehr ehrgeizigen Klimaschutzzielen, mit dem Ausstieg aus der
Atomkraft. Ich bin als Anhänger dieser Energiewende
der festen Überzeugung, dass wir damit langfristig Riesenchancen für Deutschland eröffnen - ökologisch,
sozial; im Übrigen auch wirtschaftlich -, weil wir angesichts der wachsenden Weltbevölkerung und des wachsenden Energiehungers auf der Welt Exporteur für gute
und saubere Lösungen im Bereich der Energieversorgung sein können, bei Erneuerbaren, bei Systemen, bei
Energieeffizienz.
Herr Kollege.
Aber dafür müssen wir die Referenz im eigenen Land
hinbekommen. Wir müssen in Deutschland die Energiewende schaffen, damit wir diese Technologien zukünftig
auch exportieren können. Mit diesem ersten Schritt einer
grundlegenden EEG-Reform, die wir im parlamentarischen Verfahren jetzt auf den Weg bringen, leisten wir
dazu unseren Beitrag.
Herzlichen Dank.
({0})
Eva Bulling-Schröter ist die nächste Rednerin für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrter Minister Gabriel, viele
aus den Reihen der Linken, der Grünen, aber auch der
SPD und sogar der CDU sind vor zwei Jahren auf die
Straße gegangen gegen die EEG-Reform von FDPMinister Rösler, der die erneuerbaren Energien bekämpft
hat. Jetzt haben Sie, Herr Gabriel, das Ministerium übernommen. Viele haben gedacht: Der wird das sehr gut
machen mit der Energiewende;
({0})
denn der Gabriel war ja ehemaliger Umweltminister.
({1})
Weit gefehlt! Sie, Herr Gabriel, schicken die erneuerbaren Energien ins Nirwana. Grund dafür sind vor allem
die von Ihnen ab 2017 geplanten Ausschreibungen.
Dann soll Schluss sein mit festen Preisen für die Anbieter erneuerbarer Energien. Stattdessen möchten Sie einen
Preiskampf zwischen den Erneuerbaren um die Vergütungssätze. Die Anbieter erneuerbarer Energien feilschen und unterbieten sich dann wie auf dem Basar, der
billigste Dumpinganbieter gewinnt. Dreimal darf man
raten, wer in der Lage sein wird, diese Dumpingpreise
anzubieten. Richtig, es sind die Großinvestoren. Damit
rollen Sie den Energieriesen den roten Teppich aus und
brechen der Bürgerenergie das Genick.
({2})
Da wollen wir nicht hin.
({3})
Es gibt ja schon ganz viele Erfahrungen aus dem Ausland mit Ausschreibungen, die dazu geführt haben, dass
Projekte nicht stattgefunden haben und nicht realisiert
werden konnten, dass Firmen pleitegegangen sind. Eine
Energiegenossenschaft kann sich das gar nicht leisten.
Ich persönlich kenne einen Mittelständler, der bei einer
Ausschreibung in Südafrika mitgemacht hat. Das Projekt
liegt seit drei Jahren auf Eis, und es ist nicht absehbar, ob
da überhaupt etwas passiert. Die Gefahr besteht, dass die
Erneuerbaren schlimme Rückschläge erleiden. Das können wir uns nicht leisten, schon allein im Hinblick auf
den Klimaschutz. Es geht aber auch um regionale Wertschöpfung und um Arbeitsplätze.
({4})
Wenn dann immer behauptet wird, die EU würde das
alles vorschreiben: Das ist einfach nicht richtig; denn die
EU lässt den Mitgliedstaaten ausdrücklich den Raum,
diese Regelung flexibel zu handhaben. Mit den Ausschreibungen schreiben Sie in dieses Gesetz quasi seine
eigene Abschaffung hinein; denn die festen Preise sind
- oder muss man sagen: „waren“? - das Rückgrat des
EEG.
Wir Linken haben eine Kleine Anfrage zu Erfahrungen und Plänen der Ausschreibung gestellt. Bitte lesen
Sie die Anfrage. Die Antworten sind einfach toll: Man
prüft, man weiß noch nichts, man hat noch keine Erfahrungen. - Das ist so, als wenn man sich in ein Auto setzt
und erst hinterher die Bremsen prüft. Da kann ich nur sagen: Gute Fahrt, Herr Minister!
Natürlich entfaltet das neue EEG auch schon vor
2017 eine Wirkung - das hören wir bei vielen Podiumsdiskussionen; da sind Sie alle dabei -: durch Ausbaukorridore, Deckelungen und Einschnitte vielfältiger Art. Die
Investoren sind doch nicht blöd: Sie rechnen das durch
und sagen dann: Das rechnet sich nicht mehr; wir machen es nicht.
Die Pflicht zur Direktvermarktung könnte den geltenden Vorrang für Erneuerbare in der Realität sogar umkehren. Das ist eben kein Gesetz mehr für regenerative
Energien, sondern quasi gegen sie; denn die regenerativen Energien müssen dann mit den fossilen Energien
konkurrieren. Wir alle wissen: Bei den regenerativen
Energien sind alle Kosten mit eingerechnet, bei den fossilen und atomaren eben nicht. Wenn man die Kosten bei
diesen Energien ähnlich der EEG-Umlage beziffern
müsste, dann würden Kohlestrom oder Atomstrom
10 Cent pro Kilowattstunde mehr kosten. Das bezahlen
aber die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler.
({5})
Die ganze Reform ging mit einer Strompreisdebatte
einher, die von Anfang an eine Farce war. Die mantraartigen Beteuerungen, die Energiewende sei zu teuer, haben nichts mit der wahren Entwicklung der Preise von
Wind- und Solarenergie zu tun. Die Preise sind heute
nicht mehr hoch; sie wurden wirklich nach unten gedrückt. Sie haben die Höhe der EEG-Umlage zu einer
Art Teufelszeug hochstilisiert. Dabei hatten wir 2013,
wie die Bundesnetzagentur gerade berichtete, den niedrigsten Börsenstrompreis seit 2004. Warum sagen Sie
den Verbraucherinnen und Verbrauchern nicht die ganze
Wahrheit, nämlich weshalb dieser unglaublich niedrige
Börsenpreis nicht an sie weitergegeben wird - es wäre
doch logisch, dass sie auch davon profitieren -, wohl
aber die damit einhergehende hohe EEG-Umlage? Warum sorgen Sie nicht dafür, dass auch die normalen
Leute von den niedrigen Börsenpreisen profitieren und
nicht nur die Industrie, die im Grunde doppelt kassiert?
Ich habe Sie gestern zum Merit-Order-Effekt gefragt.
Dabei geht es darum, dass die Preise an der Börse immer
niedriger werden, sie werden bald bei 3 Cent pro Kilowattstunde liegen. Auch dies ist ein Gewinn für die Industrie.
Es wird uns ja permanent vorgeworfen: Die Linke
will die Arbeitsplätze vernichten. - Bevor ich in den
Bundestag kam, war ich Schlosserin und Betriebsrätin,
({6})
und nach acht Jahren im Bundestag war ich es zwischendurch noch einmal. Ich kenne die Probleme der Kolleginnen und Kollegen besser als vielleicht viele in diesem
Saal.
({7})
Sie glauben doch nicht, dass wir Arbeitsplätze vernichten wollen.
({8})
Lesen Sie doch einmal, was der Handel schreibt. Auch
der Handel möchte Vergünstigungen und spricht in dem
Zusammenhang über Arbeitsplätze. Ferner: Was ist mit
den Zehntausenden Arbeitsplätzen im Bereich der regenerativen Energien?
Zum Schluss. Es ist eine scheinheilige Debatte.
({9})
Wer hat denn Leiharbeit eingeführt? Wer hat denn Dumpinglöhne eingeführt? Wer hat denn ermöglicht, dass in
Fleischereien Vertragsfirmen billig arbeiten? Das waren
doch nicht wir.
({10})
Verlagerungen von Betrieben geschehen nicht nur wegen
Strompreisen, sondern wegen ganz anderer Dinge. Wir
sind nicht diejenigen, die Arbeitsplätze vernichten wollen. Wir wollen Gerechtigkeit, wir wollen soziale Gerechtigkeit.
Frau Kollegin.
Ich will nicht, dass es so weit kommt, dass das Verhängen von Stromsperren an der Tagesordnung ist - so
wie in meiner Heimatstadt, in der man jüngst einem
Menschen den Strom gesperrt hat, der auf ein Atemgerät
angewiesen ist. So geht das nicht.
({0})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege
Joachim Pfeiffer das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn man sich diese Debatte so anhört, ist es notwendig, sich klarzumachen, worum es eigentlich geht. Wenn
man die Linken und die Grünen hier hört, dann könnte
man meinen, das EEG und die Förderung der erneuerbaren Energien wären ein Selbstzweck oder eine Ersatzreligion und das wäre ein Wert an sich.
({0})
Es ist kein Wert an sich, vielmehr ist das EEG Mittel
zum Zweck. Es ist ein Mittel zur Erreichung unserer
energiepolitischen Ziele.
({1})
Die energiepolitischen Ziele sind in diesem Hause mit
großer Mehrheit verabschiedet worden: nämlich dass wir
- das ist heute, außer vom Bundeswirtschaftsminister,
von keinem erwähnt worden - im Bereich der Energieeffizienz endlich vorankommen, Energie einsparen. Wir
wollen bis 2050 50 Prozent Primärenergie einsparen.
({2})
Deshalb geht es nicht nur um den Strom, über den wir
heute schwerpunktmäßig diskutieren, sondern es geht
darum, dass wir im Gebäudesektor - nicht nur im Neubau, sondern vor allem im Bestand - die entsprechenden
Potenziale heben. Wenn dieses nicht gelingt, werden wir
bei der Energieeinsparung und beim Umbau der Energieversorgung scheitern.
({3})
Es geht auch darum, im Bereich des Verkehrs die notwendigen Schritte einzuleiten; das steht heute allerdings
nicht im Mittelpunkt der Debatte. Schließlich geht es in
der Tat auch darum, den Ausbau der erneuerbaren Energien im Strombereich voranzubringen. Wir wollen, dass
2050 von dem Rest an Energie, der dann noch verbraucht wird - wenn die Energieeinsparung gelingt -,
der überwiegende Teil aus Erneuerbaren gewonnen wird.
Was die Mengen anbelangt, sind wir weitaus erfolgreicher als ursprünglich gedacht. In der Vergangenheit sind
die Ausbauziele regelmäßig weit überschritten worden:
bei der Photovoltaik 2009 und 2010, bei Windenergie
- das ist vorhin angesprochen worden -, bei der Biomasse und darüber hinaus. Leider besteht aber das Problem, dass dieser mengenmäßige Erfolg uns jetzt kostenmäßig vor die Füße fällt bzw. wir einen Kostenrucksack
zu tragen haben. Denn es ist in der Vergangenheit beim
schnelleren Ausbau und bei der schnelleren Senkung der
Kosten für erneuerbare Energien nicht gelungen, die
Vergütungssätze genauso schnell zu senken, wie es notwendig wäre, um eine Überforderung zu vermeiden. Das
ist das Problem, vor dem wir heute, im Jahr 2014, stehen. Wir haben bereits über 120 Milliarden Euro für die
Förderung erneuerbarer Energien und die Energieerzeugung ausgegeben. Nach heutigem Stand sind, selbst
wenn wir die Förderung erneuerbarer Energien sofort
beenden würden, in den nächsten 20 Jahren noch einmal
280 bis 300 Milliarden Euro - die heute schon zugesagt
sind - über die Umlage von den Stromverbrauchern abzutragen.
Deshalb reformieren wir das EEG heute in erster Lesung und diskutieren es in den nächsten Wochen im Parlament. Auch hier gilt selbstverständlich das Struck’sche
Gesetz: Kein Gesetz wird den Bundestag so verlassen,
wie es ihn erreicht hat.
({4})
Es gibt eine Reihe von Stellschrauben, bei denen
Nachbesserungsbedarf besteht. Damit werden wir uns in
der Koalition intensiv auseinandersetzen. Wir laden Sie
auch gerne ein, uns darin zu unterstützen.
Um was geht es bei dieser Reform, über die wir heute
sprechen? Ein Baustein des Marathons des Umbaus der
Energieversorgung ist, das EEG europafest zu machen.
Über uns schwebt das Damoklesschwert eines Beihilfeverfahrens aus Europa. Was ist, wenn wir nicht bis zur
Sommerpause die Besondere Ausgleichsregelung, auch
das Grünstromprivileg, reformieren? Für über 1 Million
Arbeitsplätze und Tausende Unternehmen besteht Planungsunsicherheit, weil sie nicht wissen, wie es mit Investitionen und Arbeitsplätzen in den nächsten Jahren
vorangeht. In einer gemeinsamen Kraftanstrengung ist
es in und mit Brüssel gelungen, Europa zu überzeugen,
sodass wir jetzt für ganz Europa - nicht nur für Deutschland - Umwelt- und Beihilfeleitlinien haben, die in den
nächsten fünf, zehn Jahren Planungssicherheit für Investitionen und Arbeitsplätze in Deutschland gewährleisten.
Damit können wir in Deutschland die Wertschöpfungsketten in der Grundstoffindustrie - bei Chemie, bei
Stahl, bei Alu und bei Kupfer - entsprechend sichern.
Auch das ist angeklungen: Nur wenn wir in Deutschland diese Wertschöpfungsketten erhalten, werden in
Deutschland Windräder gebaut; denn hier wird kein
Windrad gebaut ohne diese Grundstoffindustrie. Es fährt
auch kein Hochgeschwindigkeitszug in Deutschland
ohne diese Grundstoffindustrien.
({5})
Und es wird kein einziges deutsches hochwertiges Auto
gebaut und exportiert, wenn wir nicht diese Wertschöpfungsketten in Deutschland erhalten.
({6})
Deshalb werden wir jetzt mit der Besonderen Ausgleichsregelung an dieser Stelle langfristige Planungssicherheit schaffen.
Wenn Sie jetzt zum wiederholten Male behaupten,
dass diese Entlastungen - der Bundeswirtschaftsminister
hat die absoluten Zahlen genannt; ich will sie an anderer
Stelle aufgreifen - an den Steigerungen bei der EEGUmlage schuld wären, dann erzählen Sie wider besseres
Wissen etwas Falsches. Wir haben in Deutschland in diesem Jahr eine EEG-Umlage von 6,3 Cent pro Kilowattstunde.
({7})
Wenn wir alle Ausnahmen im Bereich des EEG streichen würden, hätten wir eine vielleicht um 1,2 oder
1,3 Cent geringere Umlage. Das heißt, die EEG-Umlage
betrüge dann immer noch 5 Cent. Damit wird klar und
deutlich, dass die energieintensiven Unternehmen bei
der gesamten Entwicklung nicht Täter, sondern Opfer
sind und insofern nicht für die hohe Umlage verantwortlich gemacht werden können - ganz im Gegenteil. Im
Übrigen ist es eine Milchmädchenrechnung: Wenn diese
energieintensiven Unternehmen weg wären, in die Insolvenz gehen müssten, verlagert würden, dann wären nicht
nur die Arbeitsplätze und die Wertschöpfungsketten
weg, sondern dann müssten die Verbliebenen in zwei,
drei Jahren die Kosten tragen, die ich gerade dargelegt
habe und die für 20 Jahre festgeschrieben sind.
({8})
Dann wäre es für den Einzelnen noch teurer, als es jetzt
schon ist. Das kann ja wohl nicht Ihr Ernst sein; das kann
von keinem hier in diesem Saal so gewollt sein.
({9})
Es geht nicht nur um die Frage der Europafestigkeit;
es geht um die erneuerbaren Energien insgesamt, die nun
wahrlich keine Nische mehr sind. Als man 1990, 1991
das Stromeinspeisungsgesetz auf den Weg gebracht
hat, hat man gesagt: Wir wollen das mal mit 50 Millionen D-Mark pro Jahr fördern. - Dann hat man dieses GeDr. Joachim Pfeiffer
setz 2000 in das EEG überführt und gesagt: Spätestens
2008, 2009 ist das EEG nicht mehr notwendig; dann ist
die Technologieförderung so weit, dass die erneuerbaren
Energien auf eigenen Beinen stehen können. - Jetzt hat
manches ein bisschen länger gedauert; aber wir sind in
der Vergangenheit auch manches zu langsam angegangen. Deshalb haben wir heute eben diesen Kostenrucksack, den ich angesprochen habe.
Wir haben heute die Situation, dass der Börsenpreis,
über den hier fabuliert wird, nur noch eine Restgröße ist,
weil die Erneuerbaren von der Börse unabhängig sind:
Sie bekommen eine feste Vergütung, die ein Vielfaches
des Börsenpreises beträgt, unabhängig davon, ob der
Strom gebraucht wird oder nicht. Wir haben die Situation, dass all die Photovoltaik, die im Moment in
Deutschland installiert ist, Kosten von ungefähr 40 Cent
pro Kilowattstunde verursacht; das ist mehr als das
Zehnfache des Börsenpreises. Deshalb müssen die Anlagen zur Gewinnung erneuerbarer Energien, die jetzt, wo
es darum geht, den Anteil der Erneuerbaren an der
Stromversorgung von 25 auf 30 bis 40 Prozent zu steigern, installiert werden, dann auch an den Markt gebracht werden. Deshalb wollen wir eine Direktvermarktung. Deshalb wollen wir, dass die Börse entsprechende
Knappheitssignale aussenden kann und so die richtigen
Anreize gesetzt werden, im Übrigen auch im Hinblick
auf Emissionen. Solche Anreize werden im Moment natürlich überhaupt nicht gesetzt, weil die Börse nur noch
eine Restgröße ist.
Wir müssen den Ausbau der Erneuerbaren, der in der
Vergangenheit bei der Erzeugung mengenmäßig erfolgreich war, dringend mit dem Ausbau der Netze im
Onshore- und Offshorebereich synchronisieren. Dieses
Jahr wird ein Vergütungsvolumen von 900 Millionen
Euro allein auf Strom entfallen, der in Offshoreanlagen
erzeugt wird, aber gar nicht an Land kommt, weil keine
Leitungen vorhanden sind. Wir werden Hunderte von
Millionen Euro bezahlen, weil Strom aus Onshorewindkraftanlagen in Norddeutschland nicht in die Verbrauchszentren im Süden transportiert werden kann,
weil es nicht die entsprechenden Leitungen gibt. Das
heißt, da haben wir in der Vergangenheit Fehler gemacht. Peter Altmaier hat schon im letzten Jahr darauf
hingewiesen, dass der Ausbau der erneuerbaren Energien mit dem Ausbau der Netze zu synchronisieren ist.
Herr Kollege Pfeiffer.
Wir wollen jetzt mit dieser Reform diese Dinge angehen.
Aber dabei wird es nicht bleiben: Wir werden uns bereits
im Herbst über andere Fragen unterhalten müssen - über
KWK, über Energieeffizienz und auch über das zukünftige
Marktdesign -, um diesen Umbau voranzutreiben.
Herr Kollege Pfeiffer!
Dann werde ich Gelegenheit haben, hier im Plenum
daran anzuknüpfen. - Vielen Dank, Herr Präsident.
Ich hoffe, wir haben jetzt gute Beratungen. Ich lade
Sie wirklich ein, sich konstruktiv und nicht nur polemisch daran zu beteiligen.
({0})
Die Kollegin Julia Verlinden wird diese Einladung
jetzt sicher gleich aufgreifen. Jedenfalls ist sie die
nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Wir sollten uns noch einmal in Erinnerung rufen, warum wir das Projekt Energiewende eigentlich begonnen haben. Als die rot-grüne Bundesregierung im Jahr 2000 das Erneuerbare-Energien-Gesetz
eingeführt hat, da wollten wir den Ausstieg aus der
Atomenergie, wir wollten den Umstieg auf eine klimaneutrale Energieversorgung und eine Entmonopolisierung der Stromerzeugung.
({0})
14 Jahre später haben wir schon ein gutes Stück des
Weges geschafft, und wir können noch weiter gehen.
Diesen Erfolg, den wir bisher erreicht haben, haben wir
den engagierten Bürgerinnen und Bürgern zu verdanken;
denn sie waren es, die trotz der Widerstände der großen
Energiekonzerne, die trotz schwarz-gelber Sabotageversuche und die trotz Ihrer großkoalitionären Bremsmanöver in die Energiewende investiert haben.
({1})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Anzahl
der Energiegenossenschaften und der Bürgerenergieprojekte in Deutschland wächst stetig. Allein Privatpersonen und Landwirte haben bisher fast die Hälfte der Investitionen in die erneuerbaren Energien im Strommarkt
getätigt. Die vier großen Energiekonzerne hingegen hatten gerade einmal einen Anteil von 5 Prozent. Nun frage
ich Sie, liebe Bundesregierung: Wer bringt hier eigentlich die Energiewende voran? Sie sind das im Augenblick offenbar nicht.
({2})
Die treibende Kraft hinter der Energiewende ist die
große gesellschaftliche Unterstützung. Gleichzeitig ist
diese Beteiligungsmöglichkeit der Bürgerinnen und Bürger wichtig für die Akzeptanz des Projekts Energiewende. Aber genau dieser Bürgerenergiewende wirft die
Bundesregierung nun Knüppel zwischen die Beine.
Die verpflichtende Direktvermarktung für Anlagen
über 100 kW Leistung führt zu höheren Kreditzinsen
bei den Banken und errichtet damit eine Hürde für
Bürgerenergieprojekte. Die Belastung des Eigenverbrauchs bei Erneuerbare-Energien-Anlagen und die dro2712
henden Ausschreibungen bergen ebenfalls die Gefahr,
die Bürgerenergiewende abzuwürgen. Sie fördern die
Großen und bremsen die Kleinen. Herr Gabriel, Sie tun
damit genau das Gegenteil dessen, was ich mir unter einer Demokratisierung und Entmonopolisierung der
Energieversorgung vorstelle.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und
von der Union, lassen Sie uns doch jetzt im Gesetzgebungsprozess Verbesserungen für diese investitionsbereiten Menschen verankern, damit die Bürgerenergiewende
weitergeht, damit die Atomkraftwerke abgeschaltet werden, damit weniger Kohle verfeuert wird und damit wir
unsere überlebensnotwendigen Klimaziele erreichen.
({4})
Abschließend möchte ich noch betonen, dass es bei
der Energiewende nicht ausschließlich um den Ausbau
der erneuerbaren Energien geht; Herr Pfeiffer hat das gerade angesprochen. Herr Pfeiffer hat richtigerweise gesagt:
Für ein Gelingen der Energiewende sind Energieeffizienz
und Energieeinsparung eine unabdingbare Voraussetzung. - In Ihren Sonntagsreden, liebe Kollegen von der
Union und der SPD, erzählen Sie alle immer, wie wichtig die Energieeffizienz ist. Aber bisher habe ich keine
einzige politische Aktivität in dieser Richtung von der
Bundesregierung wahrgenommen - keine einzige! -,
und das macht mich langsam echt wütend.
({5})
Es geht nicht nur darum, zu reden, sondern auch darum, zu handeln; das wissen Sie. Ich möchte Sie daran
erinnern, dass bis Juni die Umsetzung der europäischen
Energieeffizienzrichtlinie ansteht. Herr Gabriel, Sie
müssen eine Energieeinsparung von rund 2000 Petajoule
nach Brüssel melden. Bisher hat Ihr Ministerium nicht
den blassesten Schimmer,
({6})
mit welchen politischen Maßnahmen Sie diese EU-Anforderungen überhaupt erreichen sollen. Das ist ein
Skandal!
({7})
Herr Gabriel, Sie haben mir eben vorgeworfen, ich
hätte nicht genau nachgelesen. Vielleicht werfen Sie
noch einmal einen Blick in die Publikationen Ihres eigenen Hauses. Als Sie noch Umweltminister waren, da haben Sie die Themen Ressourcen und Energieeffizienz
ganz nach vorne gestellt. Es wäre schön, wenn Sie diese
jetzt als Energieminister umsetzen würden.
({8})
Gerade jetzt, wo die Diskussion über die Energieversorgungssicherheit und über unsere Erdgaslieferungen
aus Russland angesichts der Ukraine-Krise Tempo aufnimmt: Wie wichtig wäre es da, dass die Bundesregierung jetzt in Gebäudesanierung investiert! Die Unternehmen, die hochwertige Effizienztechnik bereitstellen, die
in Forschung und Entwicklung investiert haben, die also
Effizienz produzieren, und das Handwerk stehen bereit.
Sie sitzen in den Startlöchern.
({9})
Liebe Bundesregierung, nur durch Energieeinsparung machen wir uns unabhängiger von Energieimporten
und sparen gleichzeitig Heizkosten ein. Wachen Sie endlich auf!
({10})
Nächster Redner für die CDU/CSU ist der Kollege
Andreas Lenz.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute in erster Lesung einen Gesetzentwurf zur Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes. Wir wollen
und wir werden damit den Ausbau der erneuerbaren
Energien weiter voranbringen.
Ziel der Reform ist auch, die Dynamik in der Kostenentwicklung zu begrenzen. Dabei gilt es einmal mehr
festzuhalten, dass die Energiewende zum Nulltarif eine
Illusion ist. Die Kosten, die das Gesetz aus der Vergangenheit bedingt, werden zumindest mittelfristig weiterhin anfallen. Die Umsetzung der Energiewende lässt
sich eben nicht per Knopfdruck bewerkstelligen. Die
Energiewende ist vielmehr eine Generationenaufgabe.
Auch deshalb darf es keine Denkverbote geben. Der
Vorschlag, die Lasten der Energiewende über einen längeren Zeitraum zu strecken, ist nach wie vor diskussionswürdig.
Im Rahmen der Energiewende gilt es, riesige Infrastrukturprojekte zu stemmen, die Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft zu erhalten sowie die Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Dabei soll der Strom
bezahlbar bleiben. Auch deshalb dürfen wir das Ziel der
weitgehenden Marktfähigkeit der erneuerbaren Energien
nicht aus dem Blickfeld verlieren;
({0})
denn die Energiewende kann nur gelingen, wenn die Bevölkerung hinter ihr steht. Die Bevölkerung steht nach
wie vor hinter der Energiewende. Über 80 Prozent der
Menschen in unserem Land halten sie für richtig.
Wenn man die Medienberichte von Anfang April
noch im Kopf hat, könnte man glauben, dass es eigentlich nichts mehr zu beraten gäbe, da sich Bund und Länder weitgehend einig seien.
({1})
Es ist jedoch unsere Pflicht als Parlament, notwendige
und sinnvolle Änderungen herbeizuführen.
({2})
Im Übrigen haben die Länder eine Fülle von Änderungsanträgen eingebracht - Sie haben es gerade gesagt -, die
es zu prüfen gilt.
({3})
Es gilt, verantwortungsbewusst und gewissenhaft an den
entsprechenden Stellschrauben zu drehen. Das werden
wir machen. Dabei geht es gar nicht zwangsläufig darum, durch die Änderungen die Kosten zu erhöhen.
({4})
Es geht vielmehr darum, ein handwerklich sauberes Gesetz zu beschließen. Gerade deshalb werden wir jetzt im
parlamentarischen Verfahren mit ganzer Kraft an Nachbesserungen des Kabinettsbeschlusses arbeiten.
({5})
Gerade im Bereich der Biomasse konnte man tatsächlich den Eindruck gewinnen, hier wolle man einer ganzen Branche den Garaus machen.
({6})
Das ist Gott sei Dank, auch weil die CSU darauf hingewirkt hat, nicht passiert. Es bedarf jedoch noch weiterer
Nachbesserungen. Eine Studie des Fraunhofer-Instituts,
die jüngst veröffentlicht wurde, bestätigt beispielsweise
die positive Wirkung von Biogas auf den Strommarkt.
Biomasse kann als flexibler Energieträger einen wertvollen Beitrag zur Systemstabilität leisten. Sie ist vielfältig
nutzbar, als Wärme-, Strom- und Kraftstofflieferant.
Gerade der Bestandsschutz muss uns als Land mit hohen Standards bei der Rechtssicherheit wichtig sein.
Hier ist auch die Kanzlerin beim Wort zu nehmen.
({7})
Alle Bürgerinnen und Bürger müssen sich auf vom Staat
getroffene Entscheidungen verlassen können. Deshalb
müssen wir im parlamentarischen Verfahren ins Detail
gehen. An einigen Stellen droht der Bestandsschutz
nämlich ausgehöhlt zu werden. Beispielsweise muss die
momentan geplante Definition der Höchstbemessungsleistung für Biomasseanlagen angepasst werden. Eine
Festsetzung der Höchstbemessungsleistung nach den im
aktuellen Kabinettsbeschluss enthaltenen Vorgaben
würde für viele Biogasbetriebe den finanziellen Ruin bedeuten. Hier sind Existenzen in Gefahr.
({8})
Auch die vorgesehene Abschaffung der bewährten
Einsatzstoffvergütungsklassen bei der Biomasse gleicht
einem Kahlschlag. Wir halten es zudem für erforderlich,
die Vergütungsklasse gerade für Holz zu erhalten. Die
Holzvergasung bzw. -verstromung hat sich durch neue
innovative Verfahren in den letzten Jahren sehr positiv
entwickelt. Die Vergütungsklasse für Holz ist sinnvoll
und notwendig.
({9})
Der CSU-Landesgruppe ist es ein großes Anliegen,
dass die Biomasse auch künftig ihren festen Platz im
Energiemix behält. Für den Eigenverbrauch haben wir
uns auf weitgehenden Bestandsschutz geeinigt. Kritisch
zu sehen ist jedoch die Einbeziehung von Neuanlagen.
({10})
Dies macht systematisch keinen Sinn, da gerade der Eigenverbrauch netzentlastend wirkt.
({11})
Aus unserer Sicht wäre es die beste Lösung, für neue
Anlagen zur Eigenstromerzeugung eine leistungsabhängige Netzanschlussgebühr zu veranschlagen. Auch hinsichtlich der Stichtagsregelung besteht Handlungsbedarf.
Hier wurden im guten Glauben und im Vertrauen auf bestehende Regelungen teilweise erhebliche Investitionen
geleistet, die jetzt im Feuer stehen.
Apropos Feuer: Die Wasserkraft ist eine verlässliche
heimische Energiequelle. Nun wissen wir, dass die Wasserkraft im Norden der Republik eine eher untergeordnete Rolle spielt. Trotzdem sollten wir uns auch hier an
den Koalitionsvertrag halten, in dem zur Wasserkraft
steht:
Die bestehenden gesetzlichen Regeln haben sich
bewährt und werden fortgeführt.
({12})
Hier muss am Gesetzentwurf nachgebessert werden.
Die Besondere Ausgleichsregelung für energie- und
handelsintensive Unternehmen bleibt weitestgehend bestehen. Wenn es die Ausnahmen für die Industrie nicht
gäbe, würde ein privater Haushalt zwar etwa 45 Euro
weniger Stromkosten pro Jahr haben; wegen der zu erwartenden Wohlstandsverluste würde das real verfügbare Einkommen eines Haushalts jedoch um circa
400 Euro pro Jahr sinken. Es geht bei der Besonderen
Ausgleichsregelung darum, den Industriestandort
Deutschland langfristig zu erhalten.
Auf dem Weg in ein neues Energiezeitalter ist diese
Reform des EEG nur ein erster Schritt. Wir müssen uns
bei den nächsten Schritten um die Kapazitätsmärkte
kümmern. Wir brauchen weitere Forschung hinsichtlich
der Speichertechnologien und des Lastenmanagements.
Wir müssen den Netzausbau und damit verbunden die
weitere Integration der regenerativen Energien voranbringen. Dabei kommt es darauf an, die Bürgerinnen und
Bürger ernsthaft einzubeziehen. Abstandsflächen und
Erdverkabelung können hier Optionen sein. Auch die
Schaffung eines funktionierenden CO2-Marktes und eine
engere europäische Koordinierung sind geboten.
Ich wünsche uns gute Beratungen mit - das ist viel
wichtiger - guten Ergebnissen.
Herzlichen Dank.
({13})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Dirk Becker für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Mit den beiden vorherigen Rednern bzw. der Rednerin
und dem Redner hat die Debatte eine Wendung bekommen. Ja, wir reden über das EEG, über Inhalte. Herr
Dr. Lenz hat gerade im Namen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion die Meinungsfindungsrunde der Koalition
eröffnet und einige Ideen genannt, über die auch bei uns
diskutiert wird.
({0})
- Ja, Oliver Krischer, ein versteinertes Gesicht gab es
auch bei mir heute. Deine Rede hatte daran einen großen
Anteil.
Ich will eines sehr deutlich sagen: Frau Verlinden, ich
finde, Sie haben wirklich mit der gebotenen Sachlichkeit
auch inhaltlich debattiert. Das war im Vergleich zu den
Reden, die ich zuvor gehört habe, wohltuend. Lieber
Oliver, dir muss ich sehr deutlich sagen: Wir kennen uns
nun schon seit vielen Jahren, und wir haben viele energiepolitische Gespräche hier im Deutschen Bundestag
geführt. Ich verstehe, dass Opposition Kritik übt. Diese
darf auch einmal kräftig sein, aber muss auf richtigen
Fakten beruhen
({1})
und nicht auf falschen Zitaten und Behauptungen, die
nicht stimmen.
({2})
- Ganz ruhig, ich komme noch darauf. Im Gegensatz zu
euch habe ich etwas mitgebracht, in dem etwas dazu
steht. - Es ist sehr gefährlich, ausschließlich aus parteipolitischem Kalkül zu versuchen, die Bundesregierung
sowie CDU/CSU und SPD hier mit Dingen, die nicht
stimmen, vorzuführen.
({3})
Denn Sie gehen das große Risiko ein, dass Sie mit Ihren
Behauptungen, zu denen ich jetzt komme, auch die Akzeptanz für die Energiewende beschädigen. Das muss
ich Ihnen deutlich sagen.
({4})
Ich gebe zu: Die Regelungen der Besonderen Ausgleichsregelung sind hochkompliziert und nicht einfach.
Man muss sie sich vielleicht dreimal durchlesen, bis man
sie versteht.
({5})
Ich will Folgendes feststellen: Die Möglichkeiten zur
Ausnahme von der EEG-Umlage werden durch diese
EEG-Novelle teils drastisch eingeschränkt. Der Minister
hat das eben umfassend dargestellt; Sie haben es aber
nicht verstanden. Daher will ich einige Punkte noch einmal deutlich machen:
({6})
Früher waren alle Gewerbebranchen antragsberechtigt,
heute sind es nur 219 Branchen. Dazu kam es nicht nach
dem Gutdünken des Ministers und der Regierung, sondern dies ist eine Regelung - Frau Lay, das müssen Sie
hinnehmen; ich hinterfrage langsam Ihre Europatauglichkeit -, die die EU für alle EU-Mitgliedstaaten getroffen hat. Das ist keine Lex Deutschland.
({7})
Es ist falsch, zu behaupten, dass für die Panzerindustrie
und für den Kunstschmuck Ausnahmen gelten würden;
denn in diesen Bereichen liegt keine ausreichende Stromintensität vor.
({8})
Sie müssen sich vielleicht noch einmal mit den Fragen
auseinandersetzen: Was heißt „Anteil an der Bruttowertschöpfung“? Was heißt „Handelsintensität“?“ Und was
heißt „Stromintensität“?
({9})
Wenn man das nicht versteht, sollte man damit aber auch
keine polemische Politik betreiben.
({10})
Ich will eines, auch mit Blick auf Frau Lay, sagen:
Gerade die Linken kritisieren das, was wir in diesem Bereich für die deutsche Industrie gemacht haben; ich habe
in der gestrigen Debatte einen Satz dazu gesagt. Lassen
Sie uns einmal folgendes Szenario durchspielen: Der
Bundeswirtschaftsminister hätte den Erfolg, den er hatte,
nicht gehabt, und wir hätten heute den Stand umzusetzen, den Almunia vor acht Wochen umsetzen wollte.
Dann wären die Linken die erste Partei, die mit 200 Leuten vor dem Reichstag stehen und dem Minister totales
Versagen vorwerfen würde, weil er sich nicht um die Industrie und die Menschen gekümmert hat.
({11})
Dieser Minister sorgt dafür, dass diese Arbeitsplätze in
Deutschland erhalten bleiben.
({12})
Nun, Herr Lenz, will ich auf ein paar Punkte zu sprechen kommen, die Sie erwähnt haben. Das EEG, über
das wir heute diskutieren - es ist von den Grünen und
von anderen beschrieben worden -, wandelt sich von einem Markteinführungsinstrument hin zu einem Instrument der Marktdurchdringung der erneuerbaren Energien. Wir befinden uns auf einem Weg, auf dem wir
unser Land energiepolitisch wieder in die volle Souveränität führen und die Abhängigkeit von Kohle und Öl immer weiter minimieren wollen. Es ist übrigens ganz
wichtig, in der Kostendebatte darauf hinzuweisen: Die
Energiewende kostet Geld - Herr Dr. Lenz hat das gesagt -, und sie wird auch in Zukunft Geld kosten. Aber
auch der Import von Kohle und Öl kostet Geld. Dieses
Geld fließt ab; das andere Geld bleibt im Land. Wichtig
ist daher, nicht nur die Kostenaspekte zu betonen, sondern auch die volkswirtschaftlichen bzw. energiewirtschaftlichen Aspekte durch das EEG zu stärken.
Ich will ganz kurz, Herr Dr. Lenz, noch ein paar
Punkte ansprechen. Ja, wir müssen darauf achten, dass
wir die vorgesehenen Regelungen im Hinblick auf die
Technologien so scharf stellen, dass sie wirken, dass der
Zubau im Bereich Biomasse im Rahmen der Szenarien
tatsächlich erfolgen kann. Wir werden, was die Ausschreibungen betrifft - der Minister ist darauf zu sprechen gekommen -, nicht nur im Blick haben müssen,
dass die Bürgerprojekte auch in Zukunft durchgeführt
werden können, sondern ganz wichtig ist auch die Feststellung: Ausschreibungen sind kein Selbstzweck.
Herr Kollege!
Ich komme sofort zum Schluss. - Sie müssen kosteneffizient sein, dürfen also nicht zu gestiegenen Kosten
führen.
Wir sind uns all dieser Punkte bewusst. Wir werden
im weiteren Verfahren auch die Opposition zu einer
sachlichen Debatte über die Inhalte einladen und - da
bin ich sicher - ein Instrument verabschieden, das die
Energiewende auch weiterhin zum Erfolg führt.
Herzlichen Dank.
({0})
Herr Krischer, ich habe Ihre Wortmeldung gesehen.
Aber nach ständiger Übung können wir Kurzinterventionen nach Ablauf der Redezeit des jeweiligen Redners
aus hoffentlich allgemein nachvollziehbaren Gründen
nicht zulassen.
Nächster Redner ist der Kollege Thomas Bareiß.
({0})
- Wenn jemand den unbändigen Wunsch hat, zusätzliche
Bemerkungen zu machen, empfiehlt es sich, sich zu einem frühen Zeitpunkt und nicht kurz vor Ende der Veranstaltung anzumelden.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine
Herren! Nachdem wir jetzt ziemlich am Ende der Debatte sind und schon vieles gesagt ist, möchte ich zu Beginn meiner Rede doch noch einmal darauf eingehen, in
welchem Umfeld und in welchem Rahmen wir die EEGNovelle dieses Jahr bestreiten.
Der Zubau bei den erneuerbaren Energien war so rasant, wie keine Partei in den letzten Jahren vorhergesehen hat. Gerade unter der CDU/CSU-geführten Bundesregierung haben wir bei den erneuerbaren Energien in
den letzten Jahren jedes Jahr Rekordzubauraten vermelden können. Deutschlands Stromerzeugung durch erneuerbare Energien hat heute einen Anteil von 24 Prozent so viel wie kein anderes Industrieland in der Welt.
Auf der anderen Seite konnten wir trotz Planungsbeschleunigungsgesetzen im Netzbereich nicht die Infrastruktur, die notwendig ist, Schritt für Schritt mit zubauen. Auch haben wir trotz erheblicher Investitionen
und Forschungsaufwendungen im Bereich der Speichertechnologien leider nicht die Erfolge gehabt, die wir uns
gewünscht haben. Das führt dazu, dass wir beim Ausbau
der erneuerbaren Energien erhebliche Probleme erleben.
Die Entwicklung hat gezeigt, dass die Kostenfrage jetzt
an einem ganz kritischen Punkt ist; denn die Verbrauchspreise liegen im Schnitt bei circa 28 Cent je Kilowattstunde, und der Industriestrompreis liegt bei über
10 Cent je Kilowattstunde. Nach den neuesten Zahlen
von Eurostat, die vor wenigen Tagen veröffentlicht worden sind, haben wir nach Zypern und Italien die höchsten Industriestrompreise in ganz Europa.
({0})
Beim EEG besteht deshalb dringend Handlungsbedarf.
({1})
Wir müssen beim Zubau nachsteuern. Wir müssen sogar,
lieber Herr Krischer, in manchen Bereichen bremsend
einwirken, wie wir es in den letzten Jahren im PV-Bereich leider viel zu spät gemacht haben; aber wir haben
es gemacht, und es hat auch funktioniert. Wir müssen
den Zubau so gestalten, dass die Infrastruktur mithalten
kann. Auch das wird ein ganz wichtiger Baustein sein.
Wir müssen die Förderung der erneuerbaren Energien so
gestalten, dass sie kosteneffizient zu erzielen ist. Das
heißt beispielsweise, dass wir Windräder dort bauen
müssen, wo auch Wind vorhanden ist, und nicht in einem Schwarzwaldtal, wo Windräder nichts zu suchen
haben. Zudem müssen wir die erneuerbaren Energien
- darauf ging Herr Becker gerade ein - in den Wettbewerb auf dem Markt überführen. Das EEG muss vom
Markteinführungsinstrument zu einem Marktinstrument
ausgebaut werden. Wir wollen mit dem EEG nicht nur
auf Umwelt- und Klimaschutz setzen, sondern in Zukunft vor allem auch Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit zur obersten Maxime des EEG machen.
Was machen wir konkret? Da möchte ich einige
Punkte aufgreifen, die meine Vorredner genannt haben.
Wir definieren erstmals einen verbindlichen Ausbaupfad
für die erneuerbaren Energien, der sowohl nach unten als
auch nach oben für die Politik der nächsten Jahre gelten
muss. Diesen Ausbaupfad, der technologiespezifisch definiert worden ist für Wind, Wasserkraft, Biomasse und
Solarenergie, werden wir auf den Mechanismen, die wir
die letzten Jahre entwickelt haben, aufbauen. Ich nenne
hier nur den Deckel, der im Solarbereich funktioniert
hat; wir werden ihn auch in anderen Bereichen, beispielsweise bei Wind onshore, implementieren. Ich
glaube, das wird ein richtiger Schritt sein, um die Ausbauziele im Bereich Wind zu erzielen, ohne dass über
Gebühr, aber auch nicht zu wenig zugebaut wird. Damit
schaffen wir Planungssicherheit. Wir schaffen für die Investoren die richtigen Anreize. Der Netzausbau kann
sich darauf einstellen, wo und wann entsprechende Ausbauziele bewirkt werden. Wir schaffen auch Planungssicherheit für den konventionellen Kraftwerkspark, der
auch die nächsten Jahrzehnte noch gebraucht wird, um
die Stromversorgungssicherheit in Deutschland zu gewährleisten.
Wir wollen die erneuerbaren Energien Schritt für
Schritt - ich sage auch hier: sehr moderat - in den Markt
überführen. Wir wollen eine stufenweise Direktvermarktung, Jahr für Jahr, von Großanlagen bis zu Kleinanlagen. Die Sorge, die hier teilweise von der Opposition
zum Ausdruck gebracht wurde, kann ich nicht ganz
nachvollziehen; denn wir haben gerade in der jetzigen
Gesetzesnovelle in vielerlei Punkten noch einmal erhebliche Risiken abgedeckt. Wir haben die erneuerbaren
Energien in vielerlei Hinsicht weich gebettet. Ich nenne
nur als Stichworte die Ausfallvermarktung und die gleitende Marktprämie. Ich glaube - das sage ich sehr offen -, dass wir auch über diese Punkte noch einmal intensiv reden müssen; wir müssen schauen, ob wir hier
nicht für noch mehr Markt sorgen können.
({2})
Trauen wir den erneuerbaren Energien doch etwas zu!
({3})
Ich bin davon überzeugt, dass wir schon heute in vielen Bereichen weiter sind, als die Grünen glauben. Die
Direktvermarktung wird schon heute von vielen praktiziert. Das Marktprämienmodell, das von Peter Altmaier
und Norbert Röttgen damals entwickelt wurde, funktioniert und wird in vielen Bereichen übernommen.
({4})
Bei 80 bis 90 Prozent der Windenergieanlagen wird
diese Marktprämie genutzt.
({5})
Deswegen kann man sie auch in den Markt überführen.
Ich denke, hier könnten wir über eine Direktvermarktung mehr tun. Wir sollten noch mutiger sein, als wir es
jetzt mit dem Gesetzentwurf sind.
Das Ausschreibungsmodell ist ein weiterer Punkt, mit
dem wir Markt möglich machen. Es wird in den nächsten Jahren einen Paradigmenwechsel einleiten und das
EEG auf eine neue Stufe bringen. Wir werden uns in den
nächsten zwei Jahren sehr viel Zeit dafür nehmen. Wir
brauchen Testphasen, die wir in dem Gesetzentwurf
schon klar definiert haben, indem wir sagen: Wir wollen
versuchen, ob dieses Modell im Bereich der Photovoltaik-Freiflächenanlagen, einem Nischenmarkt, funktioniert. Ich könnte mir auch vorstellen, es noch in anderen
Bereichen zu testen, zum Beispiel im Onshorebereich.
Ich glaube, wir müssen hier wirklich viele Erfahrungen
sammeln. Im Ausland kam es teilweise zu Fehlern; es
wurde aber auch viel Gutes gemacht. Diese Erfahrungen
müssen wir in unser Modell implementieren und so ein
Modell ausgestalten, das kosteneffizient und wettbewerblich orientiert ist. Dies schreibt ja auch das EU-Beihilfeverfahren vor, und wir sind aufgefordert, hier voranzugehen. Ich bin der Auffassung, dass ab 2017 nicht der
Deutsche Bundestag, sondern der Markt, im Wettbewerb
durch Angebot und Nachfrage, die Preise für erneuerbare Energien definieren sollte. Dort gehört es nämlich
hin.
({6})
Herr Becker und Herr Lenz haben schon verschiedene
Handlungsbedarfe angesprochen. Auch ich möchte zwei
aufgreifen, die mir wichtig sind, nämlich die Themen Eigenverbrauch und Verbraucherschutz. Ich will aber noch
einmal deutlich sagen: Die Abstimmung mit den Ländern im Vorfeld war sicherlich richtig. Es ist nämlich
notwendig, dass wir eine breite Akzeptanz für diese Novelle erreichen.
({7})
Es ist aber auch wichtig, dass wir hier im Parlament
Handlungsfelder definieren, in denen wir uns einbringen. Deshalb gilt auch hier das Struck’sche Gesetz: Kein
Gesetz kommt so aus dem Parlament heraus, wie es eingebracht worden ist.
Wir wollen über den Bereich Eigenstrom noch einmal
intensiv diskutieren. Die entsprechenden Vorschläge
sind gegenüber dem, was hier ursprünglich vorgesehen
war, noch einmal verbessert worden. Das war auch notwendig; denn ich glaube weiterhin, dass das Modell, das
jetzt im Gesetzentwurf steht, sehr bürokratisch, oftmals
nicht praxisnah und vor Ort auch nicht umsetzbar ist. Ich
glaube auch, dass wir aufpassen müssen, dass wie bei
der Besonderen Ausgleichsregelung, die uns in Brüssel
ein Verfahren eingebracht hat, nicht neue Tatbestände
für eine wettbewerbliche Verzerrung entstehen. Deshalb
sollten wir auch hier mit Ziel und Augenmaß vorgehen.
Ich halte auch die rechtliche Grundlage für sehr fragwürdig. Ich glaube, dass wir auch das noch einmal genauestens prüfen müssen. Ich könnte mir auch hier vorstellen, mehr zu tun
({8})
und für eine stärkere Verantwortlichkeit und Solidarisierung in Bezug auf die Netze zu sorgen. Wie gesagt: Ich
glaube, dass wir hierüber vielleicht im Parlament einen
Konsens finden.
Zum Thema Vertrauensschutz. Ich glaube, auch hierfür brauchen wir einen Ansatz, der dem Koalitionsvertrag gerecht wird, in dem wir klar und deutlich gesagt
haben:
Altanlagen genießen Bestandsschutz. Der Vertrauensschutz im Hinblick auf getätigte und in der Realisierung befindliche Investitionen ist entsprechend
zu gewähren.
Ich glaube, der Stichtag ist ein ganz wichtiger Punkt,
über den wir diskutieren müssen. Wir müssen sehen,
dass Biogasanlagen und auch Windparks andere Vorlaufphasen haben als eine Solardachanlage. Deshalb gilt hier
auch für mich als Wirtschaftspolitiker die erste Priorität
der Gewährleistung von Investitions- und Vertrauensschutz.
({9})
Es gibt viele Punkte, die wir angehen müssen. Die
Menschen und die Investoren warten darauf, dass wir
jetzt zügig vorangehen. Deshalb: Packen wir es an!
Herzlichen Dank.
({10})
Letzter Redner zu diesem Debattenpunkt ist der Kollege Alois Gerig für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Als letzter Redner
habe ich jetzt die Möglichkeit, diese Debatte aus meiner
Sicht zusammenzufassen.
Bereits in der letzten Legislaturperiode ist klar geworden, dass es einer Reform des EEG bedarf, um die Energiewende, deren Gelingen sich die Große Koalition
- das haben wir heute sehr deutlich gehört - sehr wohl
auf die Fahne geschrieben hat, nicht zu gefährden. Da
geht es um die Bezahlbarkeit für die Bürger und um die
Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen. Sprich: Es
geht um die Balance zwischen dem Ausbau der erneuerbaren Energie und der Strompreisentwicklung und damit
verbunden auch um die Akzeptanz bei der Bevölkerung.
Im vorliegenden Entwurf zur Reform des EEG sind
viele richtige und wichtige Punkte enthalten. Glücklicherweise wurde seit dem ersten Entwurf schon einiges
korrigiert. Aber als Berichterstatter für Energie in der
AG „Ernährung und Landwirtschaft“ möchte ich in enger Abstimmung mit meinen Kollegen doch noch den einen oder anderen Änderungsvorschlag ins parlamentarische Verfahren einbringen.
Worum geht es uns? Wir alle wollen den Ausstieg aus
der Kernenergie und den Umstieg auf klimafreundliche
erneuerbare Energien, mittelfristig möglichst ohne EEG,
mit voller Marktintegration. Für mich steht aber auch
fest: Die Energiewende kann nur mit dem ländlichen
Raum gelingen. Dort sind die Ressourcen in Feld und
Wald für Bioenergie, die Dächer für Solaranlagen und
die Standorte für die Windkraftanlagen. Damit diese
Energiewende ein Erfolg wird, müssen wir also auch die
Weichen für den ländlichen Raum richtig stellen: Durch
dezentrale Energieerzeugung und -nutzung braucht es
nur kurze Wege, und der Netzausbau kann auf das notwendige Maß beschränkt werden. Windkraftanlagen
dürfen nicht gegen den Willen der Bürger gebaut werden. Nach meiner Ansicht kann man auf neue Freiflächen-PV-Anlagen entlang von Autobahnen und Bahntrassen künftig sogar verzichten.
Akzeptanz für die Energiewende erreichen wir am
besten durch Transparenz, insbesondere Verlässlichkeit.
Wir erreichen sie auch durch Bürgerbeteiligung. Dies
gilt besonders für die strukturschwachen ländlichen Regionen. Diesbezüglich ist in den vergangenen Jahren
- da werden Sie mir recht geben - sehr viel geschehen.
Auch durch politische Unterstützung wurden Bioenergieregionen geschaffen. Allein in Baden-Württemberg
sind 140 Energiegenossenschaften mit über 25 000 Mitgliedern gegründet worden; dort warten alle auf positive
Signale aus Berlin. Da werden gemeinsam Wind-, Solarund Biomasseanlagen betrieben. Es gibt Genossenschaften für Nahwärmenetze und mittlerweile auch gemeinsame Mieterstromprojekte. All diese Menschen glauben
an die Energiewende, auch zum Wohle des Klimaschutzes - heute und in Zukunft noch mehr - und einer positiven Zukunft unseres Planeten im Sinne der Enkel und
Urenkel.
Erreicht haben wir diese Entwicklung durch ein Netzwerk der Regionen, der Kommunen und der Landkreise,
die sich die Erneuerbaren und die Energieeffizienz - darum geht es, und ich bin froh, dass dieses Thema heute
des Öfteren angesprochen wurde - auf die Fahnen geschrieben haben. Deshalb brauchen wir eine EEG-Novelle mit Augenmaß, die das Engagement der Bürgerinnen und Bürger für diese Wende weiter fördert. Statt nur
auf den Ausbau der Erneuerbaren zu setzen, müssen wir
auch nach Wegen suchen, wie wir das Engagement noch
stärker auf den Wärmemarkt - auch das wurde hier sehr
deutlich gesagt - und insbesondere auf die Energieeffizienz ausrichten.
Nach dem jetzigen Entwurf des EEG sehe ich insbesondere bei den Vorschlägen für die Biomasse noch Korrekturbedarf. Ich freue mich, dass ich diesbezüglich
nicht alleine dastehe. Gewiss wurden in der Vergangenheit Fehler gemacht, sodass es punktuell in Deutschland
zu einer Überfrachtung mit Biogasanlagen und damit zu
Akzeptanzproblemen gekommen ist. Aber ich verweise
auf die erfolgte Korrektur in unserem EEG 2012, die
schließlich dazu geführt hat, dass seitdem nur noch sehr
wenige neue Biogasanlagen zugebaut wurden. Hersteller
von Biogas- und Biomasseanlagen für feste Brennstoffe
beginnen sich derzeit - das ist eine erfreuliche Entwicklung - auf den internationalen Märkten zu etablieren.
Die Branche spricht von einem Exportanteil von derzeit
30 bis 40 Prozent. Wenn wir das jetzt durch überzogene
politische Forderungen zerstören - dazu würde der jetzige Entwurf führen -, dann hätte das fatale Folgen für
die ganze Branche, aber auch für die Außenwirkung innerhalb und außerhalb der Grenzen Deutschlands.
Die Bioenergie liefert derzeit zwei Drittel der erneuerbaren Energien. Die Branche beschäftigt nach eigenen
Angaben 380 000 Menschen. Die Bioenergie liefert einen wichtigen Beitrag zur Stromerzeugung. Durch die
Speichermöglichkeit ist sie in der Lage, flexibel Regelund Spitzenstrom zu liefern, und ist damit bei einer weiteren Zunahme von fluktuierendem Solar- und Windstrom das wichtigste Standbein für eine dezentrale Energieversorgung, die wir zumindest so lange brauchen, bis
wir das Netz von Nord nach Süd ausgebaut haben.
Wir müssen die Vereinbarungen im Koalitionsvertrag
zum vollen Bestands- und Vertrauensschutz - das gilt
auch, wie schon erwähnt, für Stichtage und die Höchstbemessungsleistung - bei der Umsetzung zu 100 Prozent
ernst nehmen, ebenso wie die Aussage, dass wir zukünftig überwiegend, also nicht ausschließlich, Rest- und
Abfallstoffe für die Biogasproduktion einsetzen werden.
Darum bitte ich in der Debatte. Ich bin überzeugt: Mit
einem vernünftigen Zubau - natürlich müssen wir das
Ausbautempo reduzieren, ohne die Branche abzuwürgen schaffen wir diese Wende.
({0})
Meine Damen und Herren, die Große Koalition ist
fest entschlossen, die Energiewende zu einem Erfolg für
unser Land zu machen. Aber eines ist klar: Nur wenn wir
einen vernünftigen Dreiklang aus Klimaschutz, Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit hinbekommen, wird
in unserer Gesellschaft die Akzeptanz für die Energiewende erhalten. Lassen Sie uns in diesem Sinne gemeinsam an einer Bürger-Energiewende arbeiten. Ich bin fest
davon überzeugt: Nach sicherlich intensiven Debatten in
den kommenden Wochen werden wir Ende Juni ein gutes Gesetz für unser Land beschließen.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 18/1304 und 18/1331 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich
der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Bevor ich den Tagesordnungspunkt 5 aufrufe, möchte
ich Sie darauf aufmerksam machen, dass wir im Laufe
des Nachmittages voraussichtlich drei namentliche Abstimmungen durchführen werden, die auch in den Übersichten für die Tagesordnung angekündigt worden sind.
Dabei wird es für die letzte der voraussichtlich drei namentlichen Abstimmungen eine Änderung im Zeitablauf geben, auf die sich die Fraktionen verständigt
haben: Die namentliche Abstimmung zum Tagesordnungspunkt 11 - Mehr Transparenz bei Rüstungsexportentscheidungen sicherstellen - soll um einen Tagesordnungspunkt vorgezogen werden, um die Kollision mit
anderen Terminen am späteren Nachmittag bzw. frühen
Abend vermeiden zu helfen. Das wird natürlich in geeigneter Weise in die Büros kommuniziert, und wir werden
bei den nächsten namentlichen Abstimmungen noch einmal darauf aufmerksam machen. Aber wenn Sie das
bitte für Ihre Zeitplanung schon einmal berücksichtigen!
Nun rufe ich den Tagesordnungspunkt 5 und den Zusatzpunkt 2 auf:
5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Zimmermann ({0}), Wolfgang Gehrcke,
Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Kürzungspolitik beenden - Soziale Errungenschaften verteidigen - Soziales Europa schaffen
Drucksache 18/1116
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Beate Walter-Rosenheimer, Kerstin
Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Jugendarbeitslosigkeit in Europa bekämpfen Stopp des Programms MobiPro-EU sofort
aufheben
Drucksache 18/1343
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Präsident Dr. Norbert Lammert
Für diese Debatte ist nach einer interfraktionellen
Vereinbarung wiederum eine Aussprachezeit von 96 Minuten vorgesehen. - Das findet offensichtlich allgemeine
Zustimmung. Also können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
die Kollegin Sabine Zimmermann für die Fraktion Die
Linke.
({3})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Bundesregierung wird nicht müde, das
Erfolgsmodell Europa zu preisen. So sagte kürzlich
Staatsminister Roth: „Europa gilt nach wie vor als einzigartiges Erfolgsmodell.“ Frau Merkel meint sogar, das
europäische Wirtschafts- und Sozialmodell gründe auf
der individuellen Würde des einzelnen Menschen. Da
frage ich mich doch wirklich: Was ist das für ein Sozialmodell, das zulässt, dass 125 Millionen Menschen in Armut und sozialer Ausgrenzung leben?
({0})
Wie sieht es denn aus mit der individuellen Würde dieser
Menschen? Wollen Sie ernsthaft zum Modell erheben,
dass die Arbeitslosigkeit in vielen Ländern dramatisch
zugenommen hat, dass sich die Langzeitarbeitslosigkeit
oft verdoppelt oder verdreifacht hat, dass in Spanien,
Griechenland oder Italien die Hälfte der jungen Menschen keinen Job hat? Nein, das ist nicht das Europa, das
unsere Bevölkerung in Deutschland will.
({1})
Junge Menschen in Europa geben jedenfalls eine ganz
klare Antwort. Ausgerechnet in einer Umfrage des Europäischen Parlaments haben sechs von zehn jungen Menschen auf die Frage: „Haben Sie das Gefühl, in Ihrem
Land durch die Wirtschaftskrise an den Rand gedrängt
und vom wirtschaftlichen und sozialen Leben ausgeschlossen zu sein?“, mit Ja geantwortet. Das muss Ihnen
doch zu denken geben. Aber Beispiele gibt es auch bei
uns. In den 90er-Jahren waren unsere Truckfahrer im internationalen Fernverkehr mit mehr als 5 000 DM Spitzenverdiener. Heute müssen mehr als 80 000 Truckfahrer ihren kärglichen Lohn mit Hartz IV aufbessern. Das
ist nicht die Politik, die die Menschen wollen. Hier muss
sich ganz deutlich etwas ändern.
({2})
Es geht nicht nur um eine gewaltige Absenkung der
Verdienste. Es geht auch um eine dramatische Verschlechterung der Arbeits- und Lebensbedingungen in
Europa. Diese müssen verbessert werden. Am vergangenen Samstag sind die deutschen Truckfahrer auf die
Straße gegangen, um für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen und gegen Lohndumping zu demonstrieren.
({3})
Sie haben ein beeindruckendes Zeichen für Europa gesetzt; denn sie haben Solidarität mit den Kollegen gezeigt, die unter noch schlechteren Arbeitsbedingungen,
zu noch mieseren Löhnen und windigen Vertragsbedingungen arbeiten müssen. 400 Euro im Monat, Lkw, bei
denen auf nahezu jedes Extra, das Komfort oder Sicherheit erhöhen könnte, verzichtet wird, monatelange
Abwesenheit von den Familien, Verträge ohne soziale
Absicherung, das sind die Bedingungen, unter denen
tschechische Fahrer leben müssen. Das kann es doch
nicht sein.
({4})
Dennoch sagen diese Menschen Ja zu Europa und europäischer Solidarität. Aber sie sagen Nein zu einem Europa des Lohndumpings und des Sozialabbaus.
({5})
Europa wird nur eine Chance haben, wenn es eine
breite Zustimmung in der Bevölkerung gibt. Diese gibt
es nur, wenn viele Bürgerinnen und Bürger das Gefühl
haben, dass Europa ihre Lebensqualität verbessert. Freiheit, offene Grenzen und Frieden stellen einen gewaltigen Fortschritt dar. Aber die Menschen erwarten auch
ein Leben in wirtschaftlicher und sozialer Sicherheit.
Das ist das Europa, das die Menschen in Deutschland
und in Europa wollen.
({6})
Europa darf nicht nur wenigen nutzen, deren Reichtum immer weiter wächst. In Europa gab es im letzten
Jahr 766 Dollarmilliardäre. Deren Vermögen ist in Euro
umgerechnet auf etwa 1,5 Billionen angewachsen. Das
entzieht sich jedweder Vorstellungskraft. Das ist mehr
als das Doppelte von dem, was die europäischen Steuerzahler für die Bankenrettung als Bürgschaft hinterlegt
haben. Das, meine Damen und Herren, ist Ihre Politik,
die Politik der Bundesregierung.
Für eine Krise, die sie nicht zu verantworten hat, wird
die Bevölkerung in Geiselhaft genommen. Löhne werden gesenkt, Arbeitnehmerrechte und der Sozialstaat abgebaut. Statt in Wachstum und in Beschäftigung zu investieren, wird gekürzt. Die Wirtschaft schrumpft, und
die Schulden steigen. So gibt es zwei Europas, die derzeit zueinander im Gegensatz stehen. Das eine ist das
Europa der Wirtschaft, der Vermögenden und der Lobbyisten, das andere ist ein soziales Europa, ein Europa,
welches die Menschen wollen.
Die Linke will diese europäische Kürzungspolitik beenden. Wir fordern stattdessen ein EU-weit koordiniertes
Investitionsprogramm, mit dem Arbeitsplätze geschaffen, die Wirtschaft ökologisch umgebaut und Bildung,
Gesundheitsversorgung und öffentliche Infrastruktur
ausgebaut werden.
({7})
Dumpingkonkurrenz bei den Löhnen darf es nicht geben. Wir brauchen eine europaweite Millionärsabgabe,
um gerade die Krisenverursacher und -gewinner in die
Verantwortung zu nehmen. Meine Damen und Herren,
auch Sie kommen nicht an der Wahrheit vorbei: Wer ein
soziales Europa will, muss es den Reichen nehmen.
Danke schön.
({8})
Als nächstem Redner erteile ich dem Kollegen Mark
Helfrich, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Lassen Sie mich zu Beginn eines in
aller Deutlichkeit sagen: Europa ist eine weltweit einzigartige Erfolgsgeschichte. Das lassen wir uns auch nicht
durch einen solchen Antrag wie den, der heute vorliegt,
kaputtmachen.
({0})
Unsere Europäische Union, die auf dem Konzept der
sozialen Marktwirtschaft beruht, ermöglicht es ihren
Bürgern, ihr Leben nach ihren eigenen Wünschen und
Vorstellungen zu gestalten. Im EU-Vertrag ist festgeschrieben, dass ein hoher Beschäftigungsgrad, sozialer
Zusammenhalt, ein angemessener Sozialschutz und die
Bekämpfung sozialer Ausgrenzung bei der Gestaltung
und der Umsetzung der EU-Politik in allen Bereichen
berücksichtigt werden müssen. Wir arbeiten für ein Europa, das den Menschen Chancen für ihr berufliches und
soziales Wohlergehen eröffnet, und das schon seit 1951.
({1})
Wir befinden uns bereits jetzt auf einem sehr hohen
Wohlstandsniveau. Obwohl nur 7 Prozent der Weltbevölkerung in der Europäischen Union leben,
({2})
produzieren wir 25 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts. Ja, ich spreche zuerst über das BIP, weil alles,
was Sie unter sozialen Errungenschaften subsumieren,
zunächst erwirtschaftet werden muss. Ich werde nicht
müde, auf diesen Zusammenhang, der eigentlich ganz
simpel ist, von Ihnen aber immer wieder geleugnet wird,
hinzuweisen.
({3})
Während Sie, meine Damen und Herren der Linken,
behaupten, dass die sozialen Errungenschaften auf breiter Front zunichtegemacht werden, muss ich an dieser
Stelle sagen, dass die Wirtschafts- und Währungsunion
unser heutiges ausgesprochen hohes Sozialniveau erst
ermöglicht hat und dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union heute 50 Prozent aller Sozialleistungen der
Welt auf sich vereinen. Ich wiederhole das gerne: 7 Prozent der Weltbevölkerung erhalten 50 Prozent aller Sozialleistungen.
Weil Sie in Ihrem Antrag die EU mehr oder minder
als Verschwörung marktradikaler Kräfte porträtieren,
würde ich gerne auf ein paar Punkte eingehen und darlegen, wie wir in diese schwierige Situation gekommen
sind. Es ist eine völlig verantwortungslose Finanz- und
Verschuldungspolitik gewesen, die diese Situation, die
Sie hier zu Recht als bedrohlich und bedrückend beschreiben, herbeigeführt hat. Wir haben im Laufe der
Krise verschiedene Weiterentwicklungen der Instrumente erlebt, die dazu führen sollen, dass sich diese
Dinge nicht wiederholen und damit auch in Zukunft von
derartigen Entwicklungen kein Risiko mehr für soziale
Errungenschaften in Europa drohen kann. Da sind wir
auch beieinander.
Es ist letztlich dem Konzept der Wirtschafts- und
Währungsunion zu verdanken, dass einige Krisenländer
- Spanien, Irland, Portugal - aus dem Hilfsprogramm
bereits herauskommen konnten und damit als Gesellschaft, als Staat das, was wir uns alle gemeinsam wünschen, auch in Zukunft leisten können.
Wir alle wissen, dass das Wohlstandsgefälle in der
Europäischen Union eine ganz wesentliche Ursache für
die Armutswanderung innerhalb der EU ist. Wir wollen
nicht, dass Menschen ihr Land verlassen müssen, weil
sie dort keine Perspektive sehen. Auch deswegen sind
wir der Meinung, dass durch die Mitgliedstaaten soziale
Errungenschaften, ein Niveau der sozialen Sicherung
vor Ort nachhaltig gewährleistet werden müssen. Ich
sage an dieser Stelle aber auch ganz deutlich: Ich bin der
festen Überzeugung, dass Sozialpolitik noch sehr lange
Aufgabe der Mitgliedstaaten und nicht der EU bleiben
wird.
({4})
Die EU setzt soziale Mindeststandards; das ist richtig
so.
({5})
Sie hat mit dem Europäischen Sozialfonds seit langem
ein Instrument, um auf soziale Lagen in Europa einwirken zu können. Der Europäische Sozialfonds ist bereits
vor mehr als 50 Jahren geschaffen worden. Es geht darum, Unterschiede bei Wohlstand und Lebensstandard
zwischen den Mitgliedstaaten und den einzelnen Regionen zu verringern. Es geht um die Verbesserung der Beschäftigungs- und Bildungschancen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten
Sabine Zimmermann?
Ich würde gerne weiter ausführen.
Also nicht. Dann führen Sie bitte weiter aus.
({0})
Es werden unter anderem Maßnahmen in den Bereichen Fort- und Weiterbildung, Unterstützung von
Beschäftigten und Unternehmen bei Umstrukturierungsmaßnahmen, Bekämpfung des vorzeitigen Schulabbruchs und praktische Hilfen für arbeitslose Jugendliche sowie Integration benachteiligter Menschen in den
Arbeitsmarkt gefördert.
Zwischen 2007 und 2013 sind insgesamt 76 Milliarden Euro aufgewendet worden. Diese Geschichte wird
fortgeführt. In der nächsten Periode, 2014 bis 2020, fließen 80 Milliarden Euro aus dem ESF und weitere
3,2 Milliarden Euro für Jugendinitiativen. Auch da sieht
man, dass es einen Ausbau und nicht einen Abbau gibt.
Diese Mittel kommen insbesondere den Regionen überproportional zugute - das ist auch richtig so -, die unter
dem EU-Durchschnitt liegen, was ihre wirtschaftliche
und soziale Entwicklung betrifft.
Ein weiterer Meilenstein bei der Überwindung der
Staatsschuldenkrise ist die Wachstumsstrategie „Europa
2020“. Sie hat - wie sollte es anders sein? - soziale
Kernziele in den Bereichen Beschäftigung und Bildung,
soziale Inklusion und Bekämpfung von Armut. 20 Millionen Menschen sollen bis 2020 aus der Armut herausgeführt werden, und es soll eine Beschäftigungsquote
von 75 Prozent der Menschen im erwerbsfähigen Alter
erreicht werden. Um diese beiden Hauptziele zu unterfüttern, gibt es eine Reihe von Initiativen; Sie alle wissen
das. „Jugend in Bewegung“ ist ein entsprechendes Instrument; die „Agenda für neue Kompetenzen und neue
Beschäftigungsmöglichkeiten“ ist ein weiteres.
Bei all dem ist uns bewusst, dass die Chancen auf Arbeit in Europa noch ungleich verteilt sind. Deutschland
hat eine sehr niedrige Jugendarbeitslosigkeit, ganz anders als viele andere Länder in der Europäischen Union.
Dort stehen junge Menschen vor gigantischen Herausforderungen; das ist völlig klar. Weil das so ist, ist auch
auf Drängen der Bundesrepublik vereinbart worden,
dass man 6 Milliarden Euro zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit in der EU zur Verfügung stellt. Ich
finde das sehr beeindruckend. Auch ich weiß, dass es in
der Umsetzung in den Mitgliedstaaten durchaus noch
Anlaufschwierigkeiten und Defizite gibt. Aber das Ziel
und auch die Bereitschaft, das Ganze zu unterfüttern,
sind ganz klar gegeben.
Das soll nicht heißen, dass wir nicht weiterhin auf die
bewährten Maßnahmen aus dem Europäischen Sozialfonds zurückgreifen können, um benachteiligten Jugendlichen entsprechend Hilfe gewähren zu können.
Sie kennen EURIS, ein Kooperationsnetzwerk der öffentlichen Arbeitsvermittlungen aller EU-Staaten. Bereits
in den Anfängen dieser Kooperation sind 50 000 Stellen
pro Jahr für junge Europäerinnen und Europäer vermittelt worden. Ich glaube, auch das ist ein Zeichen, dass
sich Europa dieser Aufgabe stellt.
({0})
Dann möchte ich das Thema „Jugend in Beschäftigung bringen“ ansprechen, auch unter dem Stichwort
„Jugendgarantie“ bekannt. Mitgliedstaaten werden verpflichtet, Schulabgängern unter 25 Jahren nach Verlassen
der Schule innerhalb von vier Monaten einen Ausbildungsplatz zuzuweisen bzw. eine weitere Bildungsmaßnahme zu
gewähren oder eine Praktikumsstelle zu vermitteln, damit
in Europa nicht eine verlorene Generation groß wird, was
wir nicht wollen. Insofern ist auch dieser Baustein richtig.
In diesem Zusammenhang können wir als Deutsche
froh sein, dass wir das duale Ausbildungssystem haben.
Das ist behutsam angepasst sicherlich auch ein Erfolgsmodell für die Europäische Union. Nur so können dann
auch die Probleme in den jeweiligen Mitgliedstaaten angegangen werden.
Nichtsdestotrotz stellen wir uns mit dem Programm
MobiPro-EU der Verpflichtung, hier in Deutschland
Plätze für Auszubildende und junge Berufstätige zur
Verfügung zu stellen. Die in Aussicht stehende Mittelverdreifachung - das sage ich zu den Kolleginnen und
Kollegen der Grünen - ist, anders als das in dem Antrag
dargestellt wird, durchaus vorbildlich. Ich glaube, dass
die Bundesregierung dort die Zeichen der Zeit erkannt
hat.
Apropos „Zeichen der Zeit“:
({0})
Wenn Sie einen kurzen Blick auf Ihre Uhr werfen würfen!
Ich komme zum Ende. - Sehr geehrte Damen und
Herren der Linken, Sie sehen also: Es gibt bereits zahlreiche realisierte, realisierbare und erfolgversprechende
Maßnahmen zur Förderung und Unterstützung von Jugendlichen sowie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Europa. Dies ist Ausdruck eines sozial gestalteten und wirtschaftlich starken Europas, dessen Einstehen
für seine sozialen Errungenschaften Sie auch vor dem
Hintergrund der herannahenden Europawahl bitte nicht
in Abrede stellen sollten.
Danke schön.
({0})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der
Kollegin Brigitte Pothmer, Bündnis 90/Die Grünen.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Helfrich, Sie haben das Problem der Jugendarbeitslosigkeit in Europa
angesprochen. In der Tat: Dieses Problem ist wirklich
sehr signifikant. 5,5 Millionen junge Leute in Europa
sind weder in Ausbildung noch in Arbeit. In einigen
Ländern ist es besonders dramatisch; da sind über 50
Prozent aller Jugendlichen weder in Ausbildung noch in
Arbeit.
Deswegen hat es in der vergangenen Legislaturperiode diverse Gipfel gegeben. Die Kanzlerin sprach von
einer verlorenen Generation, der man Unterstützung anbieten müsse. Das Programm, das einen Beitrag dazu
leisten sollte, war MobiPro.
Nun hatte MobiPro, wie man sich denken kann, erhebliche Anlaufschwierigkeiten. Bis so etwas in ganz
Europa bekannt wird, dauert es natürlich eine Weile.
Aber jetzt läuft das Programm. Genau in dem Moment,
in dem sich die Jugendlichen entschieden haben, dieses
Angebot anzunehmen,
({0})
wird das Programm wegen Überfüllung geschlossen.
({1})
Es gibt einen Antragsstopp zum 8. April dieses Jahres.
Alles, was danach kommt, wird auf das nächste Jahr vertröstet. Ich frage Sie: Was haben Sie sich eigentlich gedacht? Sie haben ein Programm ins Schaufenster gestellt
und wundern sich, dass dieses Programm jetzt auch gekauft wird. Das wollen Sie nicht.
Ich will Ihnen einmal etwas zu der Dimension sagen:
Von 5,5 Millionen jugendlichen Arbeitslosen haben sich
9 000 für das Programm beworben. Frau von der Leyen
hat damals gesagt: Das ist gelebte Solidarität. - Diese
gelebte Solidarität ist bei Ihnen bereits bei 9 000 Jugendlichen überfordert. Im kommenden Jahr wird das Programm auf 2 000 Jugendliche gedeckelt. Das ist weniger
als ein Tropfen auf den heißen Stein im Kampf gegen die
Jugendarbeitslosigkeit; das ist aber auch weniger als ein
Tropfen auf den heißen Stein im Kampf gegen den Fachkräftemangel.
({2})
MobiPro ist aber keine mildtätige Geste, sondern auch
ein Beitrag zur Bekämpfung des Fachkräftemangels. Sie
von der CDU haben einen TV-Spot. In dem TV-Spot sagen Sie: Deutschland sollte in Europa eine Vorbildfunktion einnehmen. - Diese Vorbildfunktion sollten Sie
auch in der Bundesregierung einnehmen.
Danke schön.
Ich muss zur allgemeinen Entspannung beitragen.
Bleiben Sie bitte entspannt: Bei einer Kurzintervention
darf man durchaus einen kleinen Redebeitrag halten. Sie
unterscheidet sich von einer Zwischenfrage. Dies war
ein kleiner Redebeitrag. Der Kollege darf darauf antworten, er muss es aber nicht. Mögen Sie?
Frau Pothmer, das ist ein kleines Déjà-vu, Sie haben
schon einmal einen ähnlichen Vortrag im Rahmen einer
Zwischenfrage gehalten, als ich kürzlich hier im Plenum
gesprochen habe.
Ich kenne kein Schaufenster, in dem Waren ausgestellt sind, die ungefähr 100 Millionen Euro schwer sind.
({0})
Ich finde beeindruckend, was hier geleistet wird. Wir
sind beieinander, dass wir es möglichst vielen Menschen
anbieten und zur Verfügung stellen sollen, weil es ein
ganz tolles Projekt ist. Die Nachfrage nach dieser Möglichkeit ist unbestritten. Ich wundere mich, dass Sie immer einen Anlass finden, dieses eigentlich tolle Projekt
kaputtzureden. Irgendwie kann ich das nicht nachvollziehen.
({1})
Als Nächstem erteile ich das Wort dem Kollegen
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
gerade vom Kollegen Helfrich gehaltene Rede stand
eher unter dem Motto „Ein Betriebswirt liest Verwaltungsvorschriften vor“, als dass eine soziale Vision von
Europa darin erkennbar gewesen wäre.
({0})
Die ist aber dringend notwendig.
Sie haben etwas vernachlässigt. Natürlich ist es so,
dass Sozialleistungen erwirtschaftet werden müssen.
Umgekehrt ist es aber auch so, dass Sozialpolitik und damit soziale Gerechtigkeit und soziale Sicherung überhaupt eine Voraussetzung für wirtschaftliche Entwicklung ist, die dazu führt, dass überhaupt genügend da ist,
damit finanziert werden kann. Das ist eine typische Errungenschaft der sozialen Marktwirtschaft. Sie haben
das völlig vernachlässigt. Das muss aber im Sinne der
Vision eines sozialen Europas unbedingt mitgedacht
werden.
Solch eine Vision - auch konkrete Schritte dahin - sind
unbedingt notwendig; denn wir brauchen ein starkes Europa. Das sieht man jetzt bei der Ukraine-Krise, bei der es
wichtig ist, dass Europa mit einer Stimme redet. Man
sieht das bei vielen globalen Problemen, die wir haben:
beim Klimawandel, bei der Frage der globalen Gerechtigkeit und bei der Frage der Demokratie in der Welt.
Wer, wenn nicht Europa, soll denn da in der Welt Vorbild
sein? Das geht nur, wenn wir ein zusammenwachsendes
und ein solidarisches Europa haben, damit es da mit einer Stimme sprechen und gemeinsam Vorbild sein kann.
({1})
Die Realität ist aber eine ganz andere. Wir erleben,
dass die Zustimmung zur EU europaweit sinkt. In den
Krisenländern sinkt sie aufgrund der beschriebenen Situation. Da stimme ich der Kollegin Zimmermann, was
die Beschreibung der Situation anbelangt, zu. Es gibt
massiv hohe Arbeitslosigkeit insbesondere bei der Jugend. In Griechenland gibt es steigende Säuglingssterblichkeit und teilweise verheerende gesundheitliche Situationen. Das ist eine Folge der Krisenpolitik, wie sie
insbesondere die CDU-geführte Regierung in den letzten
Jahren immer wieder eingefordert hat. Das bringt uns
überhaupt nicht weiter.
({2})
- Wir haben dem zugestimmt, Herr Kollege, weil wir gesagt haben: Wir müssen den Ländern helfen. Auch das
gehört zu einem solidarischen Europa. Denn die Alternative, nicht zu helfen, wäre sogar noch schlechter gewesen als die jetzige Situation. Das hätte sie völlig in den
Ruin getrieben.
Mit den Hilfspaketen wurde Zeit gekauft. Diese Zeit
ist nicht genutzt worden. Wir hätten sie dringend notwendig gehabt, um eine Krisenpolitik zu fahren, die
mehr soziale Gerechtigkeit schafft und auch die Reichen
mit in die Pflicht nimmt. So wäre ein Schuh daraus geworden. Dagegenzustimmen, so wie Sie das gemacht haben, wäre der völlig falsche Weg gewesen. Zur Solidarität in Europa gehört dazu, dass man mit den
Krisenländern solidarisch ist.
({3})
Aber auch in den reicheren Ländern nimmt die Zustimmung zur EU ab, weil es hier die Vorstellung gibt
- die auch von Linken und anderen geschürt wird -,
dass viel Geld für Bankenrettung verschwendet würde
und bei uns nicht mehr genügend Geld für Sozialleistungen zur Bekämpfung von Armut zur Verfügung
stünde.
Wenn man sich die Situation in Deutschland anschaut, erkennt man, dass die Armut auf einem hohen
Niveau verharrt. Die Altersarmut steigt, die Armut von
Erwerbstätigen steigt, und die Armut von Kindern ist
nach wie vor auf einem skandalös hohen Niveau. Das
müssen wir ändern.
Wir brauchen in ganz Europa, dass die „starken
Schultern“ in allen Ländern mit den Schwachen in allen
Ländern solidarisch sind. Das ist eine Vision von Europa, wie wir sie eigentlich haben müssten.
({4})
Die EU ist dabei gar nicht so schlecht, wie sie von der
Linken immer gemacht wird. Sozialpolitische Ziele gibt
es spätestens seit dem Gipfel von Lissabon 2000. Seitdem gibt es jährlich eine einheitliche Armutsberichterstattung auf der Basis gemeinsamer Indikatoren. Die
Mitgliedstaaten müssen darlegen, was sie zur Bekämpfung der Armut unternehmen. Das ist durch den Lissabon-Vertrag noch einmal gestärkt worden, in dem die sozialpolitischen Ziele ausdrücklich benannt sind. Herr
Kollege Helfrich hat auf die Strategie „Europa 2020“
hingewiesen, aber ein wesentliches Ziel komplett vergessen, nämlich das Ziel der Armutsreduktion, das zum
ersten Mal ein quantitatives Ziel ist. Danach soll die
Zahl der Armen in Europa um 10 Prozent reduziert werden.
Was hat die schwarz-gelbe Bundesregierung seinerzeit gemacht? Sie hat gesagt: Die Kriterien der EU gefallen uns nicht. Wir suchen uns ein neues Kriterium aus,
an dem wir das festmachen. - Wo kommen wir denn hin,
wenn sich jedes Land seine eigenen Kriterien aussucht
und sagt: „Wir halten uns nicht daran“? Es ist wichtig,
dass wir an dieser Stelle europäische Kriterien haben.
Ich fordere die Regierung auf: Halten Sie sich an die in
der EU vereinbarten Indikatoren, und sichern Sie zu,
dass Deutschland seinen Beitrag zur Reduzierung von
Armut leisten wird!
({5})
Was ist nötig, und welche Möglichkeiten hat die
Union? Es ist richtig, es gibt auf europäischer Ebene
keine sozialpolitischen Kompetenzen im engeren Sinne,
aber es gibt die Möglichkeit, Zielsetzungen zu vereinbaren. Es gibt die Offene Methode der Koordinierung. Es
gibt die Möglichkeit, soziale und andere Mindeststandards zu setzen. Es wäre wichtig, solche Mindeststandards zu formulieren, auch was die Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern angeht. Man könnte
auf europäischer Ebene vereinbaren, dass in allen Ländern Grundsicherungssysteme eingeführt werden, die es
in einigen Ländern nicht gibt, zum Beispiel in Griechenland. Die haben nicht einmal so etwas wie Hartz IV. Man
könnte vereinbaren, dass alle Menschen Zugang zur sozialen Sicherung haben, dass es Netze der sozialen Sicherung ohne Lücken gibt. Das sind Zielvereinbarungen,
die durchaus möglich wären.
Im Rahmen der Krisenpolitik wäre der Effekt noch
stärker. Man hätte den Griechen sagen können: Wir helfen nur unter der Bedingung, dass ein Grundsicherungssystem eingeführt wird,
({6})
wir helfen nur unter der Bedingung, dass arbeitsrechtliche Standards eingeführt und sogar verbessert werden.
Wir hätten helfen können unter der Bedingung, dass die
gesundheitlichen Mindeststandards eingehalten werden.
Wir hätten nicht zuletzt auch zur Bedingung machen
müssen, dass sich die Reichen an der Finanzierung der
Krise und der Hilfen durch eine höhere Besteuerung beteiligen. Das alles hätte man machen können.
({7})
Wir als Grüne wollen aber noch weiter gehen. Wir
wollen, dass im Rahmen der Diskussion über mehr wirtschafts- und finanzpolitische Kompetenzen der EU auch
über sozialpolitische Kompetenzen der EU geredet wird.
({8})
Es ist notwendig, dass man Finanz-, Wirtschafts- und
Sozialpolitik auf europäischer Ebene stärker koordiniert.
Deswegen wollen wir einen Europäischen Konvent, bei
dem - auch das ist wichtig - öffentlich diskutiert wird,
was dort passiert; denn wir wollen ein demokratisches
Europa, in dem die Menschen mitbestimmen können,
welche Kompetenzen in den Bereichen Wirtschaft, Finanzen und Soziales auf EU-Ebene angesiedelt werden
sollen.
Wir Grüne wollen ein ökologischeres, demokratischeres und sozialeres Europa. Ich finde, es lohnt sich für uns
alle, gemeinsam dafür zu kämpfen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({9})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Kollegin Dagmar Schmidt, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu Beginn möchte ich
einen doppelten Dank an die Partei Die Linke aussprechen. Erstens möchte ich mich dafür bedanken und ich
bin froh, dass ich ein paar Dinge, die Ihre Partei in den
letzten Wochen und Monaten an europafeindlichen Äußerungen verlautbart hat, in Ihrem Antrag nicht lesen
musste, und dass sich offensichtlich diejenigen durchgesetzt haben, die die EU für ein demokratisches Reformprojekt halten und daran mitwirken und Verantwortung
übernehmen wollen. Das ist gut so.
({0})
Zweitens möchte ich mich dafür bedanken, dass Sie
uns mit Ihrem Antrag die Chance geben, über das soziale
und demokratische Europa zu reden, ein soziales und demokratisches Europa, das seit fast 100 Jahren Vision und
programmatisches Ziel der SPD ist. Ich möchte zwei für
uns wichtige Wegmarken benennen.
Die SPD hat bereits 1925 in ihrem Heidelberger Programm zwischen zwei Weltkriegen und in großer Weitsicht die Schaffung der europäischen Wirtschaftseinheit
und der Vereinigten Staaten von Europa gefordert - im
Wissen um die Grenzen des Nationalstaates und des nationalstaatlichen Handelns und im Wissen um die gemeinsamen Interessen der Arbeiterinnen und Arbeiter
diesseits und jenseits deutscher Grenzen.
Kanzler Willy Brandt hat in seiner Regierungserklärung 1969 mit den Worten „Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein und werden im Inneren und nach außen“ nicht nur einen Maßstab für deutsche Politik
gesetzt, sondern auch
({1})
- alles ganz geblieben? ({2})
und gerade beim Fortschreiten der europäischen Integration einen Maßstab für europäische Politik: Wir Europäerinnen und Europäer wollen gute Nachbarn werden im Inneren und nach außen.
Sehr geehrte Damen und Herren, Europa ist nicht nur
ein Friedensprojekt - es war schon immer auch ein Projekt, gemeinsam und solidarisch den Wohlstand zu sichern. Sozialer Fortschritt - das hat die SPD in ihrer
150-jährigen Geschichte leidvoll erfahren müssen kommt nicht von heute auf morgen und erst recht nicht
von allein. Die soziale Integration Europas ist ein Prozess, ist ein Weg, auf dem schon viel erreicht wurde,
aber vor allem noch vieles zu erledigen ist.
Nichts zeigt das deutlicher als die Folgen der Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise und die mit ihnen einhergehende zunehmende Abwendung von Europa. Das soziale
Europa, das Europa der sozialen Marktwirtschaft gelingt
nur, wenn wir gemeinsam die Ursachen der Krise bekämpfen. Die Armut steigt, während auf den Finanzmärkten wieder die Champagnerkorken knallen und sogenannte Ramschanleihen im Euro-Raum schon wieder
ein Volumen von 90 Milliarden Euro erreichen und damit einen neuen Rekord erzielen. Aber für Bankentrennung, für Finanztransaktionsteuer, für Bankenunion und
Finanzmärkte, die der Realwirtschaft dienen, für einen
gemeinsamen Rahmen für gerechte Steuern, für die Beendigung von Steuerdumping und dafür, das Land der
Gewinne auch zu einem Land der Steuereinnahmen zu
machen, dafür kann man am 25. Mai sein Kreuz machen.
({3})
Das soziale Europa gelingt nur, wenn wir gemeinsam
Arbeitslosigkeit bekämpfen und in Arbeit in Europa investieren. Jeder zehnte Europäer ist arbeitslos, jeder
vierte Jugendliche und in Ländern wie Griechenland,
Spanien und Kroatien mehr als jeder zweite. Ein sozial
gespaltenes Europa wollen wir nicht. Deswegen gilt es,
einiges in Ordnung zu bringen. Das betrifft existenzsichernde Mindestlöhne in allen europäischen Ländern,
gleiche Lohn- und Arbeitsbedingungen am gleichen Ort,
starke Arbeitnehmerrechte, starke europäische Gewerkschaften und fairen Wettbewerb statt Sozialdumping,
gute Ausbildung und Perspektiven für junge Menschen.
Alles das kann man umsetzen, wenn der politische Wille
und die politische Mehrheit dafür da sind.
({4})
Das soziale Europa gelingt nur mit einer starken europäischen Wirtschaft, die gute und sichere Arbeitsplätze
schafft. Dafür braucht es Investitionen in Forschung,
Bildung, Infrastruktur und einen starken Mittelstand. Allein in meinem Wahlkreis, dem Lahn-Dill-Kreis in Mittelhessen, machen die Exporte nach Europa 1 Milliarde
Euro Industrieumsatz aus. Das sind 5 000 Arbeitsplätze,
die direkt an der Kaufkraft in den EU-Staaten, der Wirtschaftskraft in unseren Nachbarländern und den Vorteilen des Binnenmarktes hängen. Da fällt die Überzeugungsarbeit für Europa leichter.
Aber wir müssen die sozialen Rahmenbedingungen
dafür schaffen, dass alle Menschen in Europa eine Perspektive auf Wohlstand haben und die Chancen einer europäischen Integration auch für sich erkennen. Wer die
Menschen auf dem Weg nach Europa mitnehmen
möchte, der muss das soziale Europa bauen. Denn das
Friedensprojekt und der starke Binnenmarkt brauchen
das soziale Fundament und das solidarische Handeln,
um zukunftsfähig zu sein. In diesem Sinne wollen wir
gute Nachbarn sein - im Inneren und nach außen.
({5})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort Kollegen
Dr. Martin Pätzold, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion setzt
sich für ein soziales Europa ein, ein Europa, in dem
junge Menschen Perspektiven haben, sich frei zu entfalten, und in dem älteren Menschen nach ihrem Berufsleben soziale Mindeststandards garantiert werden. Die
Bundesrepublik Deutschland ist dabei mit ihren Errungenschaften durch die soziale Marktwirtschaft ein Vorbild in der Europäischen Union. Unsere sozialen Standards sollten das Richtmaß für die Entwicklung eines
sozialen Europas sein, auch wenn uns klar sein sollte,
dass noch viele Jahre und Jahrzehnte vergehen werden,
bis dies in allen Staaten der Europäischen Union erreicht
werden kann.
Wir sollten so ehrlich sein und uns eingestehen, dass
dieser Prozess Zeit braucht. Bei der europäischen Idee
geht es nicht nur um Freiheit und Frieden, sondern auch
um wirtschaftlichen Wohlstand in der Breite. Für mich
persönlich ist die Idee der Europäischen Union der
Hauptgrund gewesen, warum ich mit 18 Jahren in die
CDU eingetreten bin.
({0})
- Da sollte man Applaus von der eigenen Fraktion bekommen.
Ich selber vereine europäische Wurzeln in meiner
Person. Ich bin im Ausland geboren und dort einige
Jahre aufgewachsen. Mein Vater war Auslandsjournalist,
und meine Mutter ist nicht in Deutschland geboren. Für
mich ist damit das Projekt Europa nicht abstrakt, sondern sehr konkret. Deswegen kämpfe ich so sehr für die
Europäische Union und für ein soziales Europa.
({1})
Heute leben über 500 Millionen Menschen in den
Mitgliedstaaten der Europäischen Union auf einer Fläche von rund 4,3 Millionen Quadratkilometern. Sie alle
wünschen sich für ihre eigene Zukunft und die Zukunft
der nachfolgenden Generationen ein Leben in Frieden
und sozialer Sicherheit.
Auf der einen Seite ist die Europäische Union in den
Jahrzehnten seit ihrer Gründung immer stärker zusammengewachsen, auf der anderen Seite gab es Herausforderungen für das Zusammenwachsen. Die unterschiedlichen
Kulturen und Traditionen der europäischen Nationen repräsentieren den großen Reichtum der Europäischen
Union. Doch sie stellen auch eine permanente Herausforderung dar, gemeinsame Regeln und Standards im Zusammenleben der Völker zu finden. Die Unterschiede in den
Traditionen, den politischen Systemen, aber auch die ökonomischen Möglichkeiten und Gegebenheiten werden
neben der Wirtschafts- und Finanzpolitik gerade in der
Sozialpolitik deutlich.
Soziale Sicherung war und ist in den einzelnen Ländern von der wirtschaftlichen Situation abhängig. Daher
ist es ein Ziel der Europäischen Union, die unterschiedlichen Systeme aufeinander abzustimmen und zu modernisieren. Die Sozialpolitik gewinnt in einem Europa, das
das Zusammenwachsen als wichtige Errungenschaft betrachtet, immer mehr an Bedeutung. Sie prägt und bestimmt alle anderen Politikfelder und trägt so auch entscheidend zum Gelingen unserer Zukunft bei. Gerade
durch die Erweiterung der Europäischen Union von
2004 und 2007 und den Beitritt Kroatiens 2013 hat das
Zusammenwachsen Europas neue Akzente bekommen.
Europa ist ein politisches Gebilde, das einstige Gegensätze miteinander versöhnt, alte Fronten verschwinden
lässt und ein neues Gefüge schafft. Die Länder Europas
profitieren voneinander und sind stark voneinander abhängig.
Das soziale Europa musste viele Brüche und Umbrüche erleben, um sich auf Frieden und Freiheit zu besinnen. Ich bin davon überzeugt, dass es dabei nicht nur um
Freiheit gehen darf, sondern dass wir uns als Bundesrepublik Deutschland dafür einsetzen müssen, dass materieller Wohlstand in der Breite möglich wird. Europa
kennt heute noch kein einheitliches Sozialmodell. Die
Lissabon-Agenda sieht vor, dass die Sozialpolitik weiterentwickelt wird.
Der Europäischen Sozialfonds wurde gegründet - das
hat mein Kollege Helfrich schon angesprochen -, um
Fördergelder für Umschulungen, Fortbildungen und zur
Förderung von beruflicher Mobilität gemeinsam zu erreichen. Man wollte erreichen, dass alle Menschen, die
arbeiten konnten und wollten, Arbeit finden und damit
zu einem wirtschaftlichen Ausgleich unter den Regionen
in Europa beitragen. Bis heute werden Vorhaben gefördert, die den Zugang zu Ausbildungen verbessern, neue
Beschäftigungsmöglichkeiten schaffen, Existenzgründer unterstützen, öffentliche Dienste verbessern und benachteiligten Menschen beim beruflichen Einstieg oder
Wiedereinstieg helfen. In festen Zeiträumen werden die
Richtlinien des Europäischen Sozialfonds an die aktuellen Notwendigkeiten angepasst.
Die Chancen und Möglichkeiten für Jugendliche sind
im wahrsten Sinne des Wortes grenzenlos. Verschiedene
EU-Programme zum lebenslangen Lernen und zum Bereich Jugend in Aktion machen es möglich, dass Berufspraktika oder das Studieren im EU-Ausland jedem offenstehen. Die EU-Jugendstrategie sieht vor, dass wir
dies nachhaltig gestalten und damit auf Dauer Erfolg erzielen können. Sie zielt dabei auf die Förderung der sozialen und beruflichen Eingliederung Jugendlicher, die
Förderung der persönlichen Entfaltung, des sozialen Zusammenhalts und des gesellschaftlichen Engagements
ab.
Trotz dieses Engagements ist die Arbeitslosigkeit in
den 28 Mitgliedstaaten dramatisch hoch. Wir müssen der
Linken recht geben. An diesem Thema arbeiten wir. Die
Wirtschafts- und Finanzkrise war ein Grund für die deutliche Verschlechterung auf dem Arbeitsmarkt. Aber auch
hier haben wir politisch reagiert: Im Februar 2013 wurde
die Beschäftigungsinitiative für junge Menschen im Al2726
ter von 15 bis 24 Jahren im Europäischen Rat angenommen. Hierbei sollen mit 6 Milliarden Euro Regionen gestärkt werden, in denen die Jugendarbeitslosigkeit mit
mehr als 25 Prozent am größten ist. Dabei geht es auch
darum, langfristige Beschäftigung zu schaffen und keine
verlorene Generation in Europa zu haben. Die Bundesregierung will Ansätze des erfolgreichen Konzepts der dualen Ausbildung exportieren und den Ländern damit helfen, ihre Strukturdefizite auszugleichen und damit
nachhaltige Strukturen vor Ort zu schaffen.
Die Bundesrepublik Deutschland und die Europäische Union stehen vor großen Herausforderungen. Uns
geht es darum, ein soziales Europa zu schaffen. Am 25.
Mai haben die Bürgerinnen und Bürger in Europa die
Möglichkeit, für dieses soziale Europa zu stimmen. Ich
glaube, in der Bundesrepublik Deutschland geht es vor
allen Dingen darum, dass die Bürgerinnen und Bürger
die Möglichkeit nutzen, demokratische Parteien zu stärken. Das ist wichtig, damit wir das soziale Europa weiterentwickeln können. Meine Fraktion wird sich im
Deutschen Bundestag weiterhin dafür einsetzen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Als Nächstem erteile ich dem Kollegen Harald
Weinberg, Fraktion Die Linke, das Wort.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Meine Damen und Herren! In der EUGrundrechtecharta, Artikel 35 - Gesundheitsschutz -,
heißt es:
Jede Person hat das Recht auf Zugang zur Gesundheitsvorsorge und auf ärztliche Versorgung nach
Maßgabe der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften
und Gepflogenheiten. Bei der Festlegung und
Durchführung aller Politiken und Maßnahmen der
Union wird ein hohes Gesundheitsschutzniveau sichergestellt.
Das ist in Europa nicht gegeben - im Gegenteil.
Nehmen wir das Beispiel Griechenland. Die Kürzungspolitik der Troika hat zu einem faktischen Zusammenbruch der Gesundheitsversorgung in Griechenland
geführt. In der Troikavereinbarung wird unter anderem
vorgeschrieben, dass der griechische Krankenversicherungsträger die Zahl der Ärzte zweimal um 10 Prozent
reduzieren muss. Wegen dieser Vorgabe wurden im Februar 2014 alle 350 öffentlichen Polikliniken vorläufig
geschlossen. Ohne jedwede gesundheitswissenschaftliche Expertise wurde festgelegt, dass die öffentlichen Gesundheitsausgaben auf 6 Prozent des Bruttoinlandsproduktes gesenkt werden müssen; mittlerweile sind die
Ausgaben weiter gesunken, weil das Bruttoinlandsprodukt weiter sinkt.
Der damalige griechische Gesundheitsminister sagte
2011, dass die Kürzungen im Gesundheitssystem nicht
mit dem Skalpell, sondern mit dem Schlachtermesser
vorgenommen würden, übrigens unter aktiver Beteiligung der deutschen Bundesregierung und des deutschen
Bundesgesundheitsministeriums. Es gibt mittlerweile
eine Fülle an wissenschaftlichen Untersuchungen zu den
Auswirkungen der Kürzungsdiktate auf den Gesundheitszustand der griechischen Bevölkerung. Die Ergebnisse sind eindeutig und verheerend. Ein Buch von zwei
Public-Health-Wissenschaftlern, das gerade auf Deutsch
erschienen ist, trägt dann auch bezeichnenderweise den
Titel Sparprogramme töten, und das ist bitterernst gemeint.
Einige Beispiele: Die Zahl der HIV-Neuinfektionen
unter Drogenabhängigen ist von 9 im Jahre 2008 auf 484
im Jahre 2012 gestiegen, weil keine sauberen Spritzen
mehr kostenlos ausgegeben werden. Die Zahl der Neuinfektionen mit Tuberkulose hat sich nach 2012 binnen eines Jahres verdoppelt. Die Säuglingssterblichkeit ist
zwischen 2008 und 2010 um 43 Prozent angestiegen.
Circa 30 Prozent der griechischen Bevölkerung sind
nicht mehr krankenversichert, haben keinen Zugang zu
einer Gesundheitsversorgung. Zur Notfallversorgung aller Menschen, auch der Nichtversicherten, sagte der aktuelle griechische Gesundheitsminister im Februar 2014,
dass alle Patienten in dringlichen Fällen eine Behandlung erhalten würden, aber eine Krebserkrankung stuft
er nur im Endstadium als dringlich ein.
Was wir also in Griechenland dringend brauchen, ist
die Wiederherstellung einer medizinischen Grundversorgung.
({0})
Stattdessen wird jedoch unter Federführung des BMG
eine Reformagenda aufgelegt, die diese Grundversorgung nicht wirklich in den Blick nimmt, sondern Versatzstücke der deutschen Gesundheitsreform auf Griechenland überstülpt, beispielweise die Einführung des
DRG-Vergütungssystems im Krankenhausbereich. Das
ist für mich nichts anderes als der Versuch, in Griechenland infrastrukturell ein Gewerbegebiet zu erschließen.
Die deutschen Krankenhauskonzerne, Asklepios vorweg, sind bereits auf Einkaufstour und versuchen, griechische Kliniken aufzukaufen. Das kann und soll nicht
sein.
Wenn wir ein soziales Europa wollen, dann müssen
wir es den Reichen und der Troika nehmen.
({1})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Kollegen Michael Gerdes, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die heutige Debatte liefert den Anstoß, über das Thema „soziaMichael Gerdes
les Europa“ zu reden. Tatsächlich mussten wir in den
letzten Jahren bei europapolitischen Diskussionen sehr
häufig, vielleicht zu häufig, über Finanzmärkte, Banken
oder Ratingagenturen streiten. Wirtschafts- und Währungspolitik allein bringt uns aber nicht das Europa, das
wir uns wünschen.
Wir Sozialdemokraten wollen ein Europa, in dem soziale Gerechtigkeit und Zusammenhalt die Basis für
wirtschaftlichen Erfolg sind. Um die soziale Spaltung
Europas zu verhindern, brauchen wir insgesamt mehr
Beschäftigung, speziell in Süd- und Osteuropa.
Gerade die junge Generation braucht unsere Aufmerksamkeit und Unterstützung.
({0})
Junge Menschen brauchen eine Chance, damit sie nicht
das Vertrauen in sich selbst und in das europäische Projekt verlieren. MobiPro-EU ist da nur ein Projekt; ein
gutes im Übrigen.
({1})
Arbeit und das damit verbundene Einkommen bedeuten - hier wie überall - Teilhabe. Wir müssen allen Jugendlichen eine Perspektive bieten, damit sie eine selbstbestimmte Zukunft in Europa erleben. Sie brauchen eine
Chance auf Ausbildung. Deshalb stehen wir als SPD zur
europäischen Jugendgarantie, die jedem arbeitslosen Jugendlichen unter 25 Jahren binnen vier Monaten ein Angebot für einen Job, eine Ausbildung oder ein Praktikum
macht. Bei ihrer Umsetzung brauchen wir dringend
mehr Entschlossenheit. Gut ausgebildete junge Menschen haben in ganz Europa gute Perspektiven.
Mehr Arbeitsplätze können dann entstehen, wenn wir
arbeitsmarktrelevante Ideen und Maßnahmen europaweit besser koordinieren. Die Europäische Beschäftigungsstrategie ist ein Anfang. Die europäischen Arbeitsmarktzahlen zeigen allerdings, dass wir besser werden
müssen. Dazu sind Investitionen in Bildung und in die
Qualifizierung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern notwendig.
Gezielte Weiterbildung ist nur ein erstes Stichwort,
wenn es darum geht, die Menschen auf die moderne Arbeitswelt vorzubereiten.
({2})
Gute Beschäftigung beginnt viel früher, nämlich mit guter Schulbildung, besseren Übergängen zwischen Schule
und Beruf, und sie geht weiter mit einer soliden Berufsausbildung, die Theorie und Praxis miteinander verbindet.
Die Vergleichbarkeit und gegenseitige Anerkennung
der Berufsbilder in der EU sind auch noch nicht komplett vollzogen. Viele Zuwanderer sind gut ausgebildet,
können aber in ihrem eigentlichen Beruf nicht arbeiten,
weil ihre Ausbildung in Europa nicht anerkannt wird.
Das schadet uns allen. Wenn wir dem Facharbeiter- und
Fachkräftemangel vorbeugen wollen, müssen wir bei der
Anerkennung schneller sein. Es ist nicht richtig, wenn in
Deutschland Fachkräfte unterhalb ihrer Qualifikation als
billige Hilfskräfte verheizt werden, während wir gleichzeitig über Fachkräftemangel diskutieren.
({3})
Auch Innovationen und eine funktionierende Infrastruktur fallen nicht vom Himmel. Beides muss ausreichend
finanziert werden, um mehr Jobs zu schaffen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Grundsatz
„Gute Arbeit“ soll nicht nur hier in Deutschland gelten,
sondern in ganz Europa. Dabei geht es mir um grundlegende Errungenschaften wie den Kündigungsschutz, die
Tarifautonomie oder die Maxime „Gleiche Löhne für
gleiche Arbeit“. Selbstverständlich sollte gute Arbeit
überall in Europa existenzsichernd sein.
({4})
Gute Arbeit heißt aber auch: möglichst gleiche Standards in der Arbeitswelt. Das betrifft den Arbeitsschutz,
die Unfallversicherung und die Sozialversicherungssysteme gleichermaßen. Eine Vereinheitlichung der Standards darf aber nicht die Absenkung unseres Niveaus bedeuten. Wir wollen ein Europa mit einheitlichen Regeln.
Deshalb geht es nicht ohne Mitbestimmung. Starke Betriebsräte und Gewerkschaften sind kein Hindernis für
den Arbeitsmarkt. Im Gegenteil: Mitbestimmung heißt
mitdenken, anpacken, Verantwortung übernehmen. All
das kann dabei helfen, die gewünschte Wettbewerbsfähigkeit aufrechtzuerhalten. Insofern spricht nichts dagegen, die Regeln für Mitbestimmung in Unternehmen europäischer Rechtsform auszuweiten.
({5})
Der Vergleich mit anderen Ländern zeigt: Uns geht es
in Deutschland recht gut, die Erwerbstätigkeit ist hoch,
und es wird viel exportiert. Leider profitieren aber nicht
alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vom Wachstum. Es gibt zu viele Menschen mit geringen Löhnen
und Minijobs. Sorgen bereiten uns zudem die Langzeitarbeitslosen.
Gut also, dass der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn kommt. Der Gesetzentwurf von Ministerin
Andrea Nahles wird dafür sorgen, dass über 4 Millionen
Beschäftigte in Deutschland bald mehr Geld in der Lohntüte haben werden. Darüber hinaus ist ein europäischer
Pakt für Mindestlöhne wünschenswert, damit Lohn- und
Sozialdumping europaweit bekämpft werden können.
({6})
Mindestens genauso wichtig wie der Mindestlohn
sind gute Tarifabschlüsse, an die sich alle halten. Das Tarifpaket der Großen Koalition wird die Tarifflucht mancher Branchen beenden. Das ist gute und gerechte Beschäftigungspolitik. Wir machen unsere Hausaufgaben.
Damit leisten wir unseren Beitrag zu einem sozialen Europa.
Herzlichen Dank. Glück auf!
({7})
Als nächste Rednerin rufe ich Annalena Baerbock,
Bündnis 90/Die Grünen, auf.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Europa muss sozialer werden - dieser Spruch eint alle, von tiefrot bis tiefschwarz. Das sieht
man heute hier, in dieser Debatte. Das sieht man auch an
den Wahlplakaten. Das Schöne an dem Spruch ist, dass
man hinter der Forderung nach einem sozialen Europa
die nationalen Defizite wunderbar verstecken kann.
({0})
Ich finde es etwas schade, dass die Linke in ihrem Antrag nicht stärker dieses Dilemma aufgegriffen hat, dass
die EU in den Kernbereichen der Sozialpolitik keine
Kompetenz hat und in diesen Bereichen deswegen nicht
aktiv werden kann. Liebe Linke, das ist nicht so, weil die
EU neoliberal und böse ist, sondern das ist so, weil sich
die Mitgliedstaaten bei ihrer Gründung 1951 darauf verständigt haben. Als man das mit dem Lissabon-Vertrag
ein Stück weit ändern wollte - Artikel 3 des EU-Vertrages -, haben ausgerechnet Sie dagegen gestimmt.
({1})
Es ist ja auch viel einfacher, alles in einen Topf zu
werfen und zu sagen: Die böse, unsoziale EU ist schuld.
In Ihrem Antrag gehen Sie zumindest etwas differenziert
vor, in Ihrem Wahlkampfvideo aber leider nicht. Da werfen Sie der unsozialen EU auch noch vor, dass die Krankenschwestern in Deutschland so schlecht bezahlt werden und wir hier keine Kitaplätze haben. Daran ist die
EU nun aber wirklich nicht schuld.
({2})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage oder
Zwischenbemerkung von Frau Zimmermann?
Ja.
Bitte schön.
Vielen Dank, Frau Kollegin, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. Ich möchte Sie etwas fragen, da Sie gesagt haben, das Soziale könne nicht europaweit geregelt
werden. Es geht hier nicht darum, dass wir die gleiche
Rente für alle Menschen in Europa fordern. Es geht zum
Beispiel darum: Was erzähle ich den Truckfahrern, die
hier Briefkastenfirmen aufmachen, die Scheinselbstständigkeit fördern? Wie kann dafür gesorgt werden, dass sie
innerhalb von Europa ordentliche Arbeitsbedingungen
haben? Ist es nicht das Mindeste, dass sie ordentliche
Löhne, dass sie gleiche und faire Arbeitsbedingungen
verlangen können? Das ist doch eine Frage von Europa
und keine Frage der einzelnen Staaten.
({0})
Erzählen Sie diesen Leuten einmal, dass es ein Problem ist, dass sich die deutsche Bundesregierung jahrelang gegen die Entsenderichtlinie gesperrt hat. Da sich
Deutschland als eines von ganz wenigen Ländern jahrelang gegen einen nationalen Mindestlohn, gegen einen
gesetzlichen Mindestlohn gesperrt hat, hat die Entsenderichtlinie nicht gegriffen. Deswegen gibt es Schlupflöcher. Erzählen Sie diesen Truckfahrern, die hier, wie Sie
selbst gesagt haben, Briefkastenfirmen aufmachen,
({0})
dass keine Briefkastenfirmen aufgemacht werden sollen,
dass das in der Europäischen Union zu unterbinden ist.
({1})
- Nein, seine Firmen sollen das verändern. Dafür müssen sich die Regierungen einsetzen, auch die Bundesregierung. Sie müssen die Schuldigen benennen, die sich
immer gegen die Richtlinie aussprechen. Aber Sie können doch nicht sagen - das machen Sie auch in Ihrem
Antrag -, dass die Arbeitszeit in Europa unrechtmäßig
gestaltet wird, und einfach verschweigen, dass sich die
deutsche Bundesregierung jahrzehntelang verweigert hat
und stattdessen für Opt-out-Regelungen für Deutschland
gesorgt hat. Sie müssen doch differenzieren. Sie sagen
nur: Die EU ist unsozial.
({2})
Im Umkehrschluss bedeutet das: Das Nationale ist sozial. So einfach ist die Welt aber nun einmal nicht.
({3})
Jetzt komme ich zu Ihrem Wahlkampfvideo zurück.
Ich rege mich so sehr darüber auf, weil Ihre Europapolitiker es eigentlich besser wissen. Man kann die Leute
doch nicht für blöd verkaufen. Aber was machen Sie in
Ihrem Video? Zu Ihren ganzen schönen Forderungen,
die Sie an die EU haben, egal ob die EU die Kompetenz
dafür hat oder nicht, lassen Sie auch noch den Vorsitzenden Ihrer Bundestagsfraktion sprechen, als wenn der für
die Europawahl am 25. Mai 2014 antreten würde. Insofern unterscheiden Sie sich keinen Millimeter von der
CDU, die im Wahlkampf Frau Merkel plakatiert.
({4})
- Darauf bin ich definitiv nicht neidisch. - Das befördert
eben diese Politikverdrossenheit. Die Leute wollen sich
nicht für dumm verkaufen lassen, wenn sie am 25. Mai
wählen gehen. Sie wissen, dass sie eben nicht Merkel
wählen können und auch nicht den Kollegen Gysi, sondern diejenigen, die für das Europaparlament antreten.
({5})
Wir müssen darüber reden - da gibt es ja Differenzen
in diesem Haus; das wurde bei dem Beitrag der CDU gerade noch einmal deutlich -, ob wir dazu bereit sind, auf
die europäische Ebene mehr Kompetenz im sozialen Bereich zu verlagern, um eben ein Schleifen durch die Hintertür über die Binnenmarktregeln zu verhindern. Sie,
liebe CDU, haben ganz klar gesagt, dass Sie das nicht
wollen. Ich finde es sehr schade, dass Sie das nicht wollen. Wir sagen sehr deutlich: Wir können unsere Lehren
aus der Wirtschafts- und Finanzkrise nur ziehen, wenn
wir bereit sind, verstärkt über soziale Mindeststandards
auf europäischer Ebene zu reden.
({6})
Das Dramatische ist ja: Wenn wir die EU zusammenhalten wollen, müssen wir dazu beitragen, dass sie ein
soziales Gesicht bekommt - da sind wir ganz bei Ihnen,
liebe Linke -, aber dann müssen wir auch Kompetenzübertragung zulassen. Dann müssen Sie auch für Vertragsänderungen offen sein und können das nicht immer
einfach pauschal ablehnen.
({7})
Wichtig ist für uns: Wer Europa sozialer machen will,
muss in bestimmten Fällen sofort einen Nothilfefonds
auflegen, wie zum Beispiel in Griechenland, wenn die
Gesundheitsversorgung kollabiert. Das haben wir in
Form des Globalisierungsfonds auch geschafft, wenn
Unternehmen plötzlich aus einem Land abwandern. Wer
Europa sozialer machen will, muss europäische Mindeststandards einführen, nicht nur im Arbeitsrecht, sondern auch bei den Sicherheitsleistungen. Wir brauchen
da intelligente Korridorlösungen. Wer Europa sozialer
machen will, muss eine soziale Wirtschaftsklausel im
EU-Recht einführen. Wer Europa sozialer machen will,
muss auch über stabile makroökonomische Kontexte reden. Da können Sie sich nicht verweigern. Wir müssen
in der Wirtschaftsunion vorankommen, und auch die
Frage einer Basisarbeitslosenversicherung darf dann
kein Tabuthema mehr sein.
({8})
- Ich rede über ein soziales Europa. Wenn Sie das nicht
kennen, tut mir das leid.
Wer das Integrationsprojekt Europa nicht gefährden
will, darf auch Europas Jugend nicht vergessen. Es ist
katastrophal, wenn jeder vierte junge Mensch in Europa
ohne Ausbildung oder Arbeit ist. Es ist eine Schande,
wenn wir für die von allen Parteien und Fraktionen propagierte Jugendgarantie nur 137 Euro pro Jugendlichem
zur Verfügung stellen, ein Hektar Fläche für Landwirtschaft in der Europäischen Union aber 300 Euro bekommt und dafür auch noch eine fehlgeleitete Agrarpolitik manifestiert wird. Das erklären Sie einmal den
Jugendlichen in Europa.
({9})
Die Redezeit, Frau Kollegin.
Wenn wir das Integrationsprojekt - das ist mein letzter Satz - nicht gefährden wollen - da komme ich auf
Frau Pothmer zurück -, dann müssen wir bei MobiProEU, wenn Sie alle das Programm so gut finden, jetzt aktiv werden.
({0})
Dann müssen Sie jetzt unseren Antrag dazu unterstützen.
Es kann doch nicht sein, dass die Jugendlichen, die wieder ein bisschen Hoffnung in die Solidarität Europas gesetzt haben, hier in Deutschland sind und Anfang des
Jahres Anträge gestellt haben
({1})
- jetzt hören Sie doch einmal zu -, jetzt kein Geld erhalten. Dadurch verlieren sie die Hoffnung in Europa wieder. Solange bei MobiPro-EU nicht nachgebuttert wird wir haben noch Haushaltsverhandlungen, da können Sie
das tun -, solange wir unseren eigenen Anforderungen
hier nicht gerecht werden, sollten wir nicht über ein verstärkt soziales Europa reden.
Herzlichen Dank.
({2})
Der letzte Satz ist so lang geraten, dass die Kollegin
ihre Redezeit stark überzogen hat. - Kollege Ulrich von
den Linken möchte eine Kurzintervention machen. Bitte.
Kollegin Baerbock, eigentlich will ich Ihnen nicht erklären, dass es Ihre Aufgabe als Teil der Opposition
wäre, die Bundesregierung zu kritisieren und nicht die
Linken, die einen vernünftigen Antrag in den Bundestag
eingebracht haben. Aber auch Opposition muss als neue
Abgeordnete gelernt werden.
Ein bisschen schwierig ist, wenn Sie hier eine künstliche Trennung zwischen der Arbeit der Bundesregierung,
der politischen Ausrichtung der Bundesregierung und
dem, was die EU-Kommission macht, vornehmen. Es ist
doch eindeutig, dass die Bundesregierung wesentlich
dazu beigetragen hat, dass die Troika diese unsoziale
Kürzungspolitik in den Programmländern umgesetzt hat.
Aber dass die Bürger nicht trennen, was die EU-Kommission in der Troika und vorher die Bundesregierung
macht, ist doch klar. Da kann man keine künstliche Trennung vornehmen.
Würden Sie sagen, dass das, was die Bundesregierung
in Brüssel und Straßburg durchgesetzt hat, zu einem unsozialeren Europa beigetragen hat? Würden Sie mir auch
recht geben, wenn ich sage, dass Sie diesem Kürzungsprogramm hier im Bundestag zugestimmt haben?
({0})
Wollen Sie reagieren?
({0})
Natürlich hat es Auswirkungen der Austeritätspolitik
in Europa gegeben. Wir alle haben sie bisher kritisiert;
auch Teile der derzeitigen Bundesregierung kritisieren
sie. Aber Sie müssen zwischen der Frage „Was sagt die
Troika?“ und der Frage „Was wird dann umgesetzt?“
unterscheiden. Sie können nicht einfach sagen: An allem, was im Süden Europas jetzt schlecht läuft, ist die
EU, die Troika oder die Austeritätspolitik schuld. - Die
Probleme mit dem Gesundheitssystem in Griechenland
sind dramatisch; das habe ich in meinem Redebeitrag ja
auch angesprochen. Da müssen wir stärker aktiv werden.
Aber es gab in Griechenland schon vorher Probleme mit
dem Gesundheitssystem - es hat auch vorher nicht funktioniert -,
({0})
und es gab auch vorher schon Probleme mit der Rentenversicherung.
Es hilft nichts, wenn wir einseitig sagen: „Daran sind
die Troika und die Austeritätspolitik schuld“, die Mitgliedstaaten aber sagen können: Wir sind fein raus; wir
haben hier keine Verantwortung. - Mein Appell ist: Wir
müssen ganz klar benennen, wo jede Regierung eines
Mitgliedstaates Verantwortung trägt. Auch die Bundesregierung trägt Verantwortung dafür, dass sie nur auf
Austerität und nicht auf eine stärkere Solidarität im
Rahmen der EU und nicht auf ein stärkeres soziales
Bewusstsein gesetzt hat; das gilt auch im Hinblick auf
einige Maßnahmen im Rahmen der Troika. Auch das
haben wir immer kritisiert.
Wir haben allerdings differenziert, auch bei unserer
Zustimmung im Deutschen Bundestag. Es ist eben nicht
so, dass man einfach sagen kann: Wir sind mit der Maßnahme XY nicht einverstanden, wir sind nicht damit einverstanden, dass es Kürzungen im Gesundheitsbereich
gibt, und deswegen lehnen wir alle weiteren Hilfsprogramme und -pakete komplett ab, auch unter der
Maßgabe, dass Griechenland dann ganz schnell bankrott
gewesen wäre.
({1})
Als nächster Rednerin erteile ich der Kollegin
Christel Voßbeck-Kayser, CDU/CSU-Fraktion, das
Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Kurz vor der Europawahl bringt die Fraktion Die Linke
einen Antrag zum Thema „soziales Europa“ ein - ein
Schelm, wer Böses dabei denkt. Denn ein soziales
Europa war und ist immer Grundlage der Europäischen
Union gewesen.
Ein soziales Europa bedeutet auch ein stabiles
Europa, nämlich ein Europa mit soliden Finanzen und
harter Währung. Dies sind Voraussetzungen für sichere
Arbeitsplätze und dauerhaften Wohlstand.
Ein soziales Europa ist auch ein Europa der Chancen:
gute Bildung in ganz Europa und Bildungsabschlüsse,
die EU-weit anerkannt werden; Schüler, Schülerinnen,
Auszubildende, Studierende können überall in Europa
lernen und arbeiten.
Ein soziales Europa ist auch ein gefestigtes Europa, in
dem schwächere Länder gestärkt werden, um wettbewerbsfähiger zu werden.
Und: Ein soziales Europa ist auch ein zukunftsfähiges
Europa. Europäische Fördergelder werden nicht mehr
nur nach Himmelsrichtung, sondern nach festen Kriterien vergeben. So können die Regionen bei der Bewältigung des Bevölkerungswandels unterstützt werden. Zu
einem zukunftsfähigen Europa gehört auch ein gutes
Miteinander von Jung und Alt.
Dies alles ist Europa. Dieses Europa wird seit Jahrzehnten durch verschiedene Programme unterstützt.
({0})
Dabei gilt für uns in der Union immer der Grundsatz
„Hilfe zur Selbsthilfe“. Unterstützung gibt es nur, wenn
die betroffenen Staaten Reformen durchführen und ihre
Finanzen in Ordnung bringen. Irland und Portugal sind
gute Beispiele, die zeigen, dass diese Form der Hilfe der
richtige Weg ist.
({1})
In Ihrem Antrag erwähnen Sie, Kollegen und Kolleginnen der Fraktion Die Linke, die durchaus hohe
Arbeitslosigkeit in unseren europäischen Nachbarländern. Sie unterlassen es aber, zu erwähnen, dass die Zahlen der Arbeitslosigkeit und auch der Jugendarbeitslosigkeit in Europa aktuell sinken. Die Arbeitslosenquote in
der EU ist im März dieses Jahres im Vergleich zum
Vorjahr von 10,9 auf 10,5 Prozent gesunken. Die Jugendarbeitslosenquote in der EU ist im gleichen Zeitraum von 23,5 auf aktuell 22,8 Prozent zurückgegangen.
Ich denke, diese Zahlen zeigen einen positiven Trend,
der Ihnen dem Anschein nach entgangen ist.
({2})
Sie erwähnen in Ihrem Antrag auch Kroatien, ein
Land mit einer Jugendarbeitslosigkeit in Höhe von
49,2 Prozent. Ja, diese traurige Zahl ist richtig. Sie unterlassen es aber auch hier, zu erwähnen, dass Kroatien erst
seit dem letzten Jahr, genau erst seit Juli 2013, Mitglied
der EU ist. Diese Jugendarbeitslosigkeit ist ja nicht erst
durch die Mitgliedschaft entstanden. Dies ist eine verfälschte Darstellung von Tatsachen.
({3})
Richtig ist folgender Zusammenhang: Das Wirtschaftswachstum in Europa liegt in diesem Jahr bei
1,2 Prozent. Länder wie Irland und Portugal, die ich
eben schon genannt habe, profitieren hiervon, sie haben
nämlich ein Wachstum zu verzeichnen. Was positives
Wachstum bedeutet, das haben wir hier bei uns in
Deutschland erlebt: Es führt zu mehr Beschäftigung und
damit zur Reduzierung der Zahl der Arbeitslosen. Auch
die aktuellen Zahlen aus Portugal und Irland belegen das
doch - vergleichen wir es mit den Zahlen vom Vorjahr -:
Portugal hatte 2013 eine Arbeitslosenquote von
17,4 Prozent und liegt jetzt bei 15,2 Prozent. Irland hatte
im Vorjahr eine Arbeitslosenquote von 13,7 Prozent und
liegt jetzt bei 11,8 Prozent. Dies ist auch der Grund,
warum beide Länder es selbstständig geschafft haben,
den Rettungsschirm zu verlassen. Das zeigt, dass wir mit
dieser Politik auf dem richtigen Weg sind.
({4})
Deshalb sind die in Ihrem Antrag getroffenen Aussagen,
liebe Kollegen und Kolleginnen der Fraktion Die Linke,
nicht zutreffend.
Ich darf auch daran erinnern, dass im März 2010 ein
Treffen der Staats- und Regierungschefs der EU stattgefunden hat, auf dem die Strategie „Europa 2020“ beschlossen wurde. Ich will jetzt nicht näher auf die Kernziele eingehen; aber mit diesem Programm, das jetzt für
die nächsten sieben Jahre gilt, werden mehr als 80 Milliarden Euro für diese Kernziele und damit für die Menschen in ganz Europa zur Verfügung gestellt. Von diesen
80 Milliarden Euro gehen mindestens 20 Prozent der
Mittel in die soziale Eingliederung. Ich finde, besser
kann man ein soziales Europa nicht beschreiben.
({5})
Ich darf auch daran erinnern, dass jetzt die achte Förderperiode des Europäischen Sozialfonds - das ist schon
mehrfach erwähnt worden; das erste Mal ging er 1958 an
den Start - beginnt. Der Europäische Sozialfonds, liebe
Kollegen und Kolleginnen, hat sich mit seinen Schwerpunkten immer an den aktuellen sozialen und wirtschaftlichen Notwendigkeiten der Mitgliedstaaten und ihrer
Menschen orientiert.
All diese von mir genannten Maßnahmen beschreiben
sehr wohl ein soziales Europa. Wir müssen den eingesetzten europäischen Mitteln aber auch Zeit geben, um
zu wirken. Der positive Trend bei Wachstum und Beschäftigung bestätigt das.
Sie können eines mitnehmen, Kollegen und Kolleginnen der Fraktion Die Linke: Die Bundesregierung unter
unserer Kanzlerin Angela Merkel wird sich auch weiterhin selbstverständlich für „Europa 2020“ und damit für
ein soziales Europa einsetzen.
({6})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort Alexander
Ulrich, Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei
manchen Vorrednern müssen wir mal wieder anfangen
ein bisschen zu sortieren.
({0})
Nach einer von den Finanzmärkten verursachten Wirtschaftskrise rutschte die Europäische Union ab in eine
soziale Krise. Der Grund dafür war eine völlig verfehlte
Politik in der Krise. Frau Baerbock, daran trägt natürlich
die Bundeskanzlerin, Angela Merkel, eine Hauptschuld.
Natürlich ist das so.
({1})
Nicht die Verursacher der Krise wurden zur Rechenschaft gezogen, nein, die Bürgerinnen und Bürger in Europa mussten die Zeche zahlen für die perverse Zockerei
auf den Finanzmärkten. Diese unsoziale, zum Teil menschenverachtende Politik
({2})
wurde und wird von der Troika in den Programmländern
undemokratisch durchgesetzt - mit großer Unterstützung
der Bundesregierung, Frau Baerbock,
({3})
ob es die schwarz-gelbe Bundesregierung war mit großer
Unterstützung der SPD oder die schwarz-rote jetzt mit
großer Unterstützung der Grünen. Sie alle hier sind mitverantwortlich für Massenarbeitslosigkeit, Perspektiv2732
losigkeit vieler Millionen Jugendlicher in Europa und
Massenarmut.
Der Kurs der Bundesregierung und ihre Kürzungspolitik bedrohen Europa. Noch nie ist es wirtschaftlich
erfolgreich gewesen, sich aus einer Krise herauszusparen. Fast 20 Millionen Menschen sind in den Ländern
der Euro-Zone erwerbslos. Das ist ein Anstieg um
70 Prozent seit 2007.
Wenn wir die soziale Lage in Europa beurteilen, dann
dürfen wir aber nicht nur in die anderen Länder schauen.
Auch in Deutschland verschlechtert sich diese rasant.
Wie der Paritätische Wohlfahrtsverband gerade in seinem Jahresgutachten feststellte, ist jeder siebte Bürger
armutsgefährdet bzw. arm.
Herr Kollege, Kollege Sarrazin fragt, ob er eine Zwischenfrage stellen darf.
Herr Sarrazin immer.
({0})
Verehrter Kollege Ulrich, ich würde Ihnen gerne die
Frage stellen, ob Sie mir skizzieren können, wie aus Ihrer Sicht die Leistungen des griechischen Staates für
Rentner, Krankenhäuser, Bedienstete, Uniformträger,
Pensionäre und Lehrer ausgesehen hätten, wenn die
Europäische Union mit Zustimmung des Deutschen
Bundestages Griechenland keine Kredithilfen in Höhe
von insgesamt 200 bis 250 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt hätte,
({0})
und ob Sie glauben, dass ein griechischer Staat, der an
den Märkten keine Schulden aufnehmen kann, ohne
Kredithilfen überhaupt noch in der Lage gewesen wäre,
seine sozialen Leistungen zu erbringen.
({1})
Herr Sarrazin, vielen Dank für die Frage; denn damit
kann ich auch Herrn Strengmann-Kuhn antworten, der in
seiner Rede ja auch auf das Abstimmungsverhalten im
Bundestag eingegangen ist.
Es ist nun einmal so: Die Troika wusste sehr wohl,
wie man Löhne, Renten usw. in Griechenland kürzt, sie
wusste aber nicht, dass dort offensichtlich ein immenser
Reichtum vorhanden ist. In Griechenland gibt es nämlich einen unheimlichen privaten Reichtum. Die Reichen
sind aber ungeschoren davongekommen. Da hätte man
herangehen müssen. Das wäre notwendig gewesen, um
den Staatshaushalt in Ordnung zu bringen.
({0})
Das haben die Grünen aber nicht verstanden.
({1})
Ihre Solidarität gilt den Finanzjongleuren, der Finanzindustrie und den Großkonzernen. Unsere Solidarität gilt
den Menschen in Griechenland, und deshalb haben wir
mit Nein gestimmt. - Vielen Dank.
({2})
Der Paritätische Wohlfahrtsverband hat also festgestellt, dass auch in Deutschland jeder Siebte in Armut
lebt bzw. arm ist, dass jeder vierte Beschäftigte für
Dumpinglöhne arbeitet bzw. in einem prekären Beschäftigungsverhältnis steht und Altersarmut auch in
Deutschland für viele Menschen ein immer größeres
Problem wird. Dagegen tut diese Bundesregierung rein
gar nichts - auch nicht mit dem Rentenpaket.
({3})
Das europäische Sozialmodell, ein ganz wesentlicher
Faktor für die Stabilität des europäischen Hauses, wird
von der EU-Kommission und der deutschen Bundesregierung massiv beschädigt.
Wie sieht die Beteiligung der Krisenverursacher an
der Bewältigung der Krise aus? Wo ist der Beitrag der
Vermögenden und Spitzenverdiener? Das reichste 1 Prozent der Gesellschaft besitzt fast 40 Prozent des gesamten Vermögens. Das Vermögen der Millionäre in Europa
übersteigt mit 14 Billionen Euro die gesamte Staatsverschuldung bei weitem. Hier müsste man endlich herangehen.
({4})
Stattdessen wird die Kluft zwischen Arm und Reich in
Deutschland und in Europa immer größer. Wo sind die
Aktivitäten der Bundesregierung? Nichts! Nada! Von der
CDU/CSU erwartet ja schon niemand mehr Aktivitäten
für ein soziales Europa, aber für die SPD sollte das S in
ihrem Namen doch noch irgendeine Bedeutung und
Aktualität haben.
Weil die Zerstörung des europäischen Sozialmodells
einigen offenbar immer noch nicht weit genug geht, soll
jetzt ein Handelsabkommen TTIP mit den USA verhandelt werden. Das ist ein weiterer Angriff auf die Arbeitnehmerrechte, die Gesundheit, die öffentlichen Leistungen, den Umweltschutz und die Demokratie. TTIP muss
gestoppt werden!
({5})
Das ist nicht unser Europa und nicht das Europa, das
die Bürgerinnen und Bürger wollen. Ein Europa der
Banken und Konzerne muss scheitern. Die Konkurrenz
um die niedrigsten Löhne und Sozialleistungen in Europa schadet allen - auch den Menschen in Deutschland.
Daher ist es notwendig, dass die unsoziale Kürzungspolitik sofort beendet wird und die Troikakürzungspakete zurückgenommen werden. Wir brauchen eine
Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von
oben nach unten durch mehr Steuergerechtigkeit.
({6})
Wir brauchen ein europaweites Investitionsprogramm
zur Schaffung von guter Arbeit und zur Umsetzung eines
sozial-ökologischen Umbaus. Wir brauchen einen europaweiten Mindestlohn in Höhe von 60 Prozent des nationalen Durchschnittseinkommens sowie ein gemeinsames
Vorgehen in der EU gegen Armut durch soziale Mindeststandards.
Herr Präsident, ich komme zum Schluss. - Die intransparenten Verhandlungen mit den USA zu TTIP
müssen sofort beendet werden.
({7})
Die Linke will weder ein Zurück zu den Nationalstaaten
noch eine EU der Banken und Konzerne. Wir wollen ein
soziales, solidarisches, demokratisches und friedliches
Europa, ein Europa der Menschen. Dafür streiten wir
konsequent, nicht nur bei den Europawahlen. Wer ein
soziales Europa will, muss den Reichen etwas nehmen.
Vielen Dank.
({8})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort Waltraud
Wolff, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! In einer Zitatedatenbank stieß ich bei der Suche nach dem Wort „Kritik“ auf den ehemaligen britischen Premier Benjamin
Disraeli. Ich kannte den Mann nicht, aber ich fand zwei
ganz spannende Zitate von ihm. Das erste lautet: „Es ist
leichter, Kritik zu üben, als recht zu haben.“ Das zweite
heißt: „Es ist viel einfacher, Kritik zu üben, als etwas
anzuerkennen.“ - Wenn man nicht wüsste, dass Disraeli
im 19. Jahrhundert gelebt hat, könnte man meinen, er
kommentiert den Antrag der Linken.
({0})
Dazu passt auch, dass der Kollege Ulrich die Frage des
Kollegen Sarrazin überhaupt nicht beantwortet hat. Sie
ist nämlich von den Linken gar nicht zu beantworten.
({1})
Beim Lesen des Antrags der Linken „Kürzungspolitik
beenden - Soziale Errungenschaften verteidigen - Soziales Europa schaffen“ entsteht der Eindruck, dass die
EU für Sozialdumping verantwortlich sei und diese Politik von der Troika ausgelöst worden sei.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, man kann die Politik der Troika kritisieren, keine Frage.
({2})
Fakt ist, dass wir eine Finanz- und Schuldenkrise hatten
- die Schuldigen dafür sind ja wohl anderswo zu suchen -,
({3})
auf die die Troika erst reagiert hat.
({4})
Fakt ist, dass ein Land mit einem übergroßen öffentlichen Sektor, das dazu keine oder kaum Steuereinnahmen
generiert, selber ein dickes hausgemachtes Problem hat.
Das ist so.
Natürlich kann man die Frage stellen, ob die Maßnahmen zur Bekämpfung der Krise in Europa richtig gewählt sind. Wir sagen: Konsolidierung ist notwendig.
Mindestens genauso notwendig ist es aber, auch konjunkturelle Anreize zu setzen. Sie haben in einem recht:
Arbeitsmarktpolitische Aktivitäten - das finde ich
auch - dürfen sich nicht nur auf die Mobilität von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern beschränken. Natürlich brauchen wir Wachstumsperspektiven und Zukunftsinvestitionen. Natürlich müssen wir gerade jetzt
jungen Menschen helfen, einen Einstieg in Arbeit zu finden. Wir brauchen beides. Darum finde ich es ziemlich
mies, dass manche Kollegen sich hier hinstellen und
diese beiden Dinge gegeneinander ausspielen.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Europäische
Sozialfonds ESF hat in der letzten Förderperiode von
2007 bis 2013 9,4 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt. Gefördert wurden insbesondere die Eingliederung
benachteiligter Menschen in den Arbeitsmarkt und auch
Weiterbildungsmaßnahmen. 490 Programme wurden davon finanziert. Zur Förderung von sprachgestützten
Kursen, die berufsbezogen eingeführt wurden, hat das
Bundesministerium für Arbeit und Soziales die Mittel
wiederholt aufgestockt, gerade weil die Nachfrage so
groß gewesen ist. Das ist ganz konkrete Hilfe für die
Menschen, die eine Arbeit suchen.
({6})
Gerade in den südeuropäischen Ländern ist der ESF
ein ganz wichtiger Baustein der Arbeitsmarktpolitik.
Über 15 Millionen Menschen in Europa werden jedes
Jahr mit 10 Milliarden Euro aus dem ESF unterstützt.
Dabei steht natürlich die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit für uns im Fokus; das ist überhaupt keine
Waltraud Wolff ({7})
Frage. Wir haben Regionen in Europa - das ist schon gesagt worden - mit mehr als 25 Prozent Jugendarbeitslosigkeit. Deswegen werden in der nächsten Förderperiode
mindestens 6,4 Milliarden Euro für die Jugendbeschäftigungsinitiative eingesetzt. 3 Milliarden Euro dafür kommen aus den Mitteln des ESF. Um auch ganz schnell helfen zu können, werden die Mittel direkt von Beginn der
Förderperiode an zur Verfügung stehen. Das ist Hilfe,
die bei den Menschen ankommt. Deshalb sollte man
Europa nicht immer nur herunterreden und alles
schlechtmachen.
({8})
Meine Damen und Herren, die SPD hat immer für ein
soziales Europa gestanden, und Europa hat auch eine soziale Dimension. Der Europäische Sozialfonds ist ein
ganz kleines Beispiel dafür.
Natürlich kann Europa noch besser werden. Wir alle
wollen es verbessern, und wir wollen auch, dass das soziale Netz enger gestrickt wird. Ein soziales Europa und
wirtschaftliche Dynamik sind keine Gegensätze. Das soziale Europa ist vielmehr die Voraussetzung für einen
guten wirtschaftlichen Erfolg.
({9})
Davon bin ich zutiefst überzeugt, und dafür treten wir
Sozialdemokraten auch bei den Europawahlen am
25. Mai an.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bedanke mich
für Ihre Aufmerksamkeit und mache Platz für die
nächste Rednerin.
({10})
Das ist sehr sympathisch, zumal es schon auf eine
leichte Überziehung der Redezeit hinausgelaufen war.
Als nächster Rednerin erteile ich der Kollegin Antje
Lezius, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beschäftigen uns heute angesichts des vorliegenden Antrags der Kollegen von den Linken mit einem großen
Projekt, dem der europäischen Integration. Europa - das
ist die seit über 60 Jahren erfolgreiche Idee einer Friedensordnung auf europäischem Boden, und das kann
man gerade im Hinblick auf die Situation in der Ukraine
und am heutigen 8. Mai, dem Jahrestag des Kriegsendes,
nicht oft genug betonen.
({0})
Und es ist noch mehr: Nach dem Ende des Zweiten
Weltkrieges ist es uns durch die europäische Integration
gelungen, in allen Politikfeldern Kooperation unter den
Mitgliedstaaten herzustellen und den ursprünglich als
Wirtschaftsgemeinschaft gemeinten Zusammenschluss
auch politisch voranzubringen. Wer heutzutage in der
EU jung ist, hat keine Grenzen mehr erlebt, kennt nur
den Euro als Zahlungsmittel und lebt mit wesentlichen
Freiheiten, die für viele von uns selbstverständlich geworden sind. Darüber wird oft vergessen, dass der Integrationsprozess mühsam war und auch aktuell in Gefahr
ist, von Populisten von rechts und links infrage gestellt
zu werden. Das, meine Damen und Herren, ist sehr
schade.
Ihr Antrag, werte Kollegen, bezieht sich auf eine
ganze Reihe von Dingen, die Sie wahrscheinlich an
Europa nicht schätzen. Sie glauben sich in Ihrer Hoffnung auf sozialen Fortschritt und Zusammenarbeit enttäuscht. Aber die Realität sieht anders aus.
({1})
Wir leben in einem Europa der Solidarität. Seit dem Beginn der Euro-Krise versuchen die europäischen Staaten
gemeinsam, diese zu meistern. Dies gelingt auch, trotz
der linken Unheilsprophezeihungen. Mithilfe einer umfassenden Gesamtstrategie wurde versucht, nicht nur
Mechanismen zur Krisenbewältigung zu implementieren, sondern auch Krisen durch präventive Maßnahmen
zu vermeiden.
Deutschland hat als wirtschaftlich starker Mitgliedstaat und Stabilitätsanker eine besondere Verantwortung
und wird auch in Zukunft alle Möglichkeiten nutzen, um
ein politisch und wirtschaftlich starkes und sozial gerechtes Europa zu schaffen. Wir sind uns klar darüber,
dass immer noch einige Mitgliedstaaten unsere Hilfe benötigen, und wir leisten diese Hilfe, weil wir an Europa
glauben.
({2})
Aber auch das muss gesagt werden: Die betroffenen
Staaten müssen zunächst selbst versuchen, ihre Finanzen
durch eigene Anstrengungen wieder in Ordnung zu bringen. Das gebietet allein die Fairness gegenüber der Gemeinschaft.
({3})
Damit ist nicht zuletzt gemeint, dass beispielsweise im
Falle Griechenlands der Staat effizienter gestaltet und
zum Beispiel - darin gebe ich Ihnen recht - auch Steuerhinterziehung effektiv bekämpft werden muss. Dies ist
im ureigenen Interesse gerade der Bevölkerung; denn
wenn der Staat mehr einnimmt, kann er auch mehr ausgeben, zum Beispiel für die öffentliche Daseinsfürsorge.
Das ist keine Frage der Anwendung von Marktmechanismen, sondern von Bürgersinn.
Deutschland hat seinen Weg durch die Euro-Krise gefunden. Auch wir haben unseren Bürgern viel abverlangt. Aber das hat sich gelohnt; denn heute verzeichnen
wir Rekordbeschäftigung. Gleichzeitig haben wir mit
5,1 Prozent bzw. 2,9 Millionen Erwerbslosen im April
2014 die niedrigste Arbeitslosigkeit seit der Wiedervereinigung
({4})
und europaweit mit 7,4 Prozent die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit. Sie sehen hier mehr als deutlich, wie
sich vernünftige Politik mit Augenmaß letzten Endes
auszahlt.
({5})
Auch in der aktuellen Debatte über den Mindestlohn
können wir von anderen Ländern lernen, wie es nicht
geht. Von überzogenen Löhnen, die Unternehmen nicht
leisten können, profitiert am Ende niemand. In Frankreich liegt die Arbeitslosenquote aktuell doppelt so hoch
wie bei uns, die Jugendarbeitslosigkeit bei sage und
schreibe 25 Prozent.
Die kluge deutsche Arbeitsmarktpolitik der vergangenen Jahre hat erkannt, dass gerade Berufsanfänger nicht
unbedingt von einem Mindestlohn profitieren, zum Beispiel weil es ihnen an Berufserfahrung fehlt. Das hat damit zu tun, dass sich Unternehmer genau ausrechnen
müssen, wie produktiv ein Arbeitsplatz sein muss, damit
er sich lohnt. Wenn diese dann feststellen, dass er sich
nicht lohnt, dann wird er eben nicht besetzt. Deswegen
wollen wir beim Mindestlohn eine Mindestaltersgrenze
einziehen, weil die jungen Leute eine Ausbildung machen sollen, anstatt sich von hohen Stundenlöhnen einer
sofort aufgenommenen Arbeit verführen zu lassen. Wir
wissen schließlich, dass Qualifikation besser vor Arbeitslosigkeit schützt, und Arbeit schützt am besten vor
Armut.
({6})
Die Strategie „Europa 2020“ der Europäischen Union
setzt darauf, bis Ende des Jahrzehnts so viele Menschen
wie möglich in Arbeit zu bringen. Hierzu gibt es ein
Bündel an Maßnahmen, die sich unter anderem mit den
Bereichen Beschäftigung, Bildung und soziale Inklusion
befassen. Die dafür vorgesehenen Mittel des Europäischen Sozialfonds sind dabei darauf ausgelegt,
verschiedene Projekte zu koordinieren und damit Beschäftigung zu fördern. Allein Deutschland stehen zwischen 2014 und 2020 etwa 6,3 Milliarden Euro zur Verfügung, davon allein 1,3 Milliarden Euro für soziale
Integration und Armutsbekämpfung. Europaweit beträgt
diese Summe rund 10 Milliarden Euro, die aus nationalen Mitteln noch aufgestockt wird.
Allerdings wird bemängelt, dass es auf nationaler
Ebene häufig problematisch ist, die Mittel auch in vollem Umfang abzurufen, zum Beispiel in Bulgarien und
Rumänien, wo es massive Probleme in der öffentlichen
Verwaltung gibt. Im Falle Rumäniens wurden nur bis zu
30 Prozent der zur Verfügung stehenden Mittel abgerufen. Hier müssen wir ansetzen und Hilfestellung leisten,
damit Gelder auch dort ankommen, wo sie benötigt werden.
Maßnahmen, die aus Mitteln des ESF finanziert werden, richten sich daher ausdrücklich auch an die Systeme
der beruflichen Bildung und haben die Verbesserung öffentlicher Dienstleistungen zum Ziel. Auch direkte
Angebote wie Qualifizierungsmaßnahmen und die Unterstützung von Jugendlichen beim Übergang von der
Schule in das Berufsleben werden gefördert. Die Bundesagentur für Arbeit plant weiterhin, den Ausbau einer
Beratungsstruktur zur beruflichen Orientierung in denjenigen Ländern voranzubringen, die hier Nachholbedarf
haben. So fördern wir aktiv den Abbau der Jugendarbeitslosigkeit.
({7})
Neben guter Arbeitsmarktpolitik haben wir in
Deutschland das europaweit vorbildlichste System der
dualen Ausbildung. Nirgendwo sonst gibt es einen Ansatz, der akademische und praktische Ausbildung in den
Betrieben verbindet. Damit auch Jugendliche aus anderen europäischen Staaten diese Art der Ausbildung kennenlernen können, gibt es das Programm MobiPro; die
Kollegen von den Grünen haben bereits darauf hingewiesen. Es fördert Jugendliche, die einen Blick über den
Tellerrand werfen möchten. Wir freuen uns darüber, dass
dieses Angebot so gut angenommen wird. Wir werden
uns im Laufe der aktuellen Haushaltsberatungen bemühen, den jungen Leuten so gut wie möglich gerecht zu
werden. Ministerin Nahles hat hier bereits positive Signale gegenüber dem Fachausschuss gegeben, wofür ich
dankbar bin.
({8})
Gemeinsam wollen wir versuchen, das Vertrauen der
Bürger in die europäischen Institutionen wiederherzustellen. Frieden, Freiheit und Stabilität sind die Grundwerte dieses europäischen Einigungswerkes. Gerade am
8. Mai sollten wir alle dankbar sein und daran denken,
dass sich dieses Europa auch ganz anders hätte entwickeln können, auch Sie, liebe Kollegen von der Linken.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort
Dr. Matthias Bartke, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir Sozialdemokraten glauben nicht, dass die europäische Krisenpolitik
der letzten Jahre alternativlos war. Nur, eines muss man
schon sagen: Der Kurs zeigt jetzt erste positive Veränderungen. Griechenland hat im vergangenen Jahr zum ersten Mal in seiner Geschichte einen Leistungsüberschuss
von 1,25 Milliarden Euro erwirtschaftet.
({0})
Auch im Krisenland Spanien ist ein Silberstreif am
Horizont sichtbar. Die Produktivität erhöht sich, und der
Export ist in den vergangenen drei Jahren um 20 Prozent
gestiegen. Frau Voßbeck-Kayser hat auf die positiven
Entwicklungen in Irland und Portugal hingewiesen. Es
wäre daher aberwitzig, diese Politik genau in dem Moment umzukehren, in dem sie erste Früchte trägt.
({1})
Genau das aber fordert der Antrag der Linkspartei.
Die Anträge der Linken und der Grünen, vor allem
der der Grünen, benennen jedoch zu Recht ein Thema,
das uns alle besorgt: die Situation der Jugendlichen in
den Krisenländern. In elf Ländern der EU liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei über 25 Prozent. In Griechenland und Spanien liegt sie sogar bei über 50 Prozent. Das
ist nicht nur ökonomisch betrachtet eine Katastrophe,
sondern auch in politischer und pädagogischer Hinsicht.
Die meisten betroffenen Jugendlichen verbinden mit Europa nicht mehr die Werte Chancengerechtigkeit,
Gleichberechtigung und Toleranz; sie verbinden mit Europa eher Perspektivlosigkeit, Enge und Chancenungerechtigkeit. Da müssen wir gegensteuern.
({2})
Und das tun wir auch. Die Bundesregierung geht mit ihrem Sonderprogramm MobiPro-EU den richtigen Weg.
({3})
MobiPro-EU bietet europäischen Jugendlichen eine
Perspektive in Deutschland. Es war schon klar, dass dieses Programm attraktiv für Jugendliche in anderen EULändern sein könnte. Dass wir aber insbesondere in den
letzten Monaten mit Anträgen fast überrannt wurden, haben wir nicht erwartet. Bundesarbeitsministerin Andrea
Nahles hat gestern im A-und-S-Ausschuss beeindruckend dargelegt, wie bemüht alle Seiten sind, dem großen Ansturm auf das Programm gerecht zu werden. Das
Ergebnis ist beeindruckend. Der Förderansatz allein für
das laufende Jahr 2014 wurde in unterschiedlichen
Schritten und durch unterschiedliche Maßnahmen in einem Kraftakt von ursprünglich 33 Millionen Euro auf
fast 100 Millionen Euro aufgestockt.
({4})
Das ist eine Verdreifachung. Es wurde verabredet, dass
alle Anträge, die bis zum 8. April eingereicht wurden,
ohne Wartezeit beschieden werden. Das ist ein finanzieller Kraftakt, der in diesen Zeiten seinesgleichen sucht.
Die Haushälter müssen diesen Regelungen zwar noch
zustimmen, aber ich bin mir ganz sicher, dass sie das
auch tun werden.
({5})
Eines ist aber natürlich auch klar: Das Problem der
Jugendarbeitslosigkeit in Europa kann nicht in Deutschland gelöst werden. Das sagt auch der Antrag der Grünen durchaus zutreffend. Frau Pothmer, zu Ihrer Langintervention möchte ich Ihnen aber ganz grundsätzlich
sagen: Wenn in einem Programm die Mittel ausgegeben
sind, dann kann man nicht einfach noch mehr ausgeben,
jedenfalls nicht, wenn man verantwortliche Finanzpolitik macht.
({6})
Sie sollten daher anerkennen, dass die Bundesregierung große Anstrengungen geleistet hat, der enormen
Nachfrage nachzukommen. Bis April dieses Jahres
haben 9 000 junge Menschen insgesamt über 42 000 Anträge gestellt. Niemand, der einen Antrag vor dem 8. April gestellt hat, muss warten. Alle werden bedient. Diejenigen, die danach kommen, wussten um den Mittelstopp.
Herr Kollege, die von Ihnen eben angesprochene Frau
Kollegin Pothmer würde gerne etwas sagen. Darf sie das
jetzt?
Aber gerne.
Bitte.
Herr Kollege, wir sind uns beide einig, dass das Programm MobiPro durchaus ein richtiger Ansatz ist. Es
war doch zu erwarten, dass es eine gewisse Zeit braucht,
bis dieses Programm bekannt wird und dann auch angenommen werden kann. Finden Sie es vor dem Hintergrund, dass das Programm jetzt endlich ans Laufen
kommt, richtig, dass wir jetzt, am Erfolgspunkt, das Programm stoppen und bis zum Jahr 2015 nichts machen?
({0})
Glauben Sie wirklich, dass dieses Stop-and-go funktionieren kann? Nennen Sie mir einen Bildungsträger, der
bereit ist, eine Infrastruktur an Räumlichkeiten und an
Personal vorzuhalten, wenn er noch nicht einmal weiß,
ob er 2015 wieder zum Zuge kommen kann. Ein erheblicher Teil dieser Bildungsträger hat Kooperationsverträge
mit den Bildungsträgern vor Ort geschlossen. Am Ende
geht es um 2 000 Personen in ganz Europa. Glauben Sie
wirklich, dass eine entsprechende Infrastruktur überhaupt aufgebaut werden kann, wenn es immer wieder
dieses Stop-and-go gibt?
Frau Pothmer, Sie sagen das jetzt zum dritten Mal:
gestern im Ausschuss, eben in Ihrer Langintervention
und jetzt noch einmal. Dadurch wird es aber nicht besser.
({0})
Ich bin am 22. September 2013 zum Bundestagsabgeordneten dieser Legislaturperiode gewählt worden. Frau
Nahles ist erst seit kurzem Ministerin. Ich kann nur sagen, dass es mich sehr beeindruckt hat, wie flexibel dieses Ministerium mit den großen Anforderungen umgeht.
Dass diese Entwicklung absehbar ist, wussten Sie natürlich ganz genau; im Nachhinein ist man ja immer
schlauer. Ich kann nur sagen: Wir können natürlich nur
auf die aktuellen Situationen reagieren.
({1})
Wenn Sie sich in Ihrem Antrag bezüglich MobiProEU ausschließlich auf die Förderpause beziehen, dann
finde ich das schlicht peinlich; denn MobiPro-EU ist das
einzige Programm seiner Art in ganz Europa - das nehmen Sie bitte zur Kenntnis -, mit dem Fördermittel eines
Staates ausschließlich dafür eingesetzt werden, Jugendliche anderer Staaten zu fördern. Ich finde das großartig,
und ich lasse mir das von Ihnen auch nicht schlechtreden.
({2})
Wichtig sind nicht nur der arbeitsmarktpolitische und
der sozialpolitische Nutzen dieses Programms, sondern
auch sein europäischer und völkerverbindender Geist.
Junge Menschen, die in fremden Ländern gelebt haben,
sind immun gegen Fremdenhass und Aggression.
({3})
Daran heute, am 8. Mai 2014, 69 Jahre nach Ende des
Zweiten Weltkrieges, zu erinnern, ist mir wichtig.
({4})
Ich selber war als junger Mensch ein Jahr im Schüleraustausch in den USA; das ist über 30 Jahre her. Bei allem Hader, den man fürwahr häufig mit der Politik der
USA haben kann, ist mir bis heute eines geblieben: ein
großes Herz und ein großes Verständnis für die Menschen in diesem tollen Land. Ich bin mir ganz sicher,
dass es den Teilnehmern von MobiPro-EU aus ganz Europa genauso mit Deutschland gehen wird.
Ich danke Ihnen.
({5})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort Tobias
Zech, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Portugal:
Ausstieg in voller Fahrt“. Noch vor drei Jahren hätten
wir mit dieser Schlagzeile etwas anderes assoziiert. Wir
hätten damit assoziiert, dass ein Land aufgegeben wird.
Wir hätten damit assoziiert, dass ein Land vielleicht die
Euro-Zone verlassen muss. Der Titel, den ich Ihnen gerade präsentiert habe, stammt aber von gestern, 7. Mai
2014, Zeit. „Ausstieg in voller Fahrt“ bezeichnet den
Ausstieg aus dem EU-Rettungsschirm. Nach Irland und
Spanien steht auch Portugal wieder auf eigenen Beinen.
n-tv sagt: „Portugal stellt sich wieder in den Wind“. Der
Rückenwind, den wir all diesen Ländern wünschen, wird
auch die anderen betroffenen Länder wieder auf festen
Boden stellen.
Damit ist die Krise garantiert noch nicht überwunden.
Aber der Ausstieg Portugals zeigt ganz deutlich, dass
wir auf dem richtigen Weg sind,
({0})
auf einem Weg, den die europäischen Länder vor allem
auf der Basis einer stringenten Haushaltsdisziplin einschlagen konnten. Heute haben Investoren wieder Vertrauen in das Land. Das portugiesische Haushaltsdefizit
konnte auf 4,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts halbiert werden. Das Wichtigste: Die Portugiesen konnten
ihre Glaubwürdigkeit und auch ihr Selbstvertrauen zurückgewinnen. Auch wenn Portugal weiterhin extrem
sparen muss, zeigt sich, dass die durchgeführten Maßnahmen, so bitter sie im Einzelnen sind, richtig und
wichtig sind.
Liebe Kollegen von der Linken, Sie kritisieren in Ihrem Antrag, dass es kein soziales Europa mehr gibt.
Stimmt das denn? Der Sparkurs verlangte den Menschen
zwar Entbehrungen ab, aber diese Entbehrungen waren
und sind weiterhin notwendig. Wir können nicht so tun,
als hätte es diese Krise nicht gegeben.
Wir diskutieren in etwa acht Minuten über ein ganz
wichtiges Thema, nämlich darüber, wie wir mit den
Flüchtlingen aus Syrien umgehen. Europa hat einen Zustrom an Flüchtlingen zu verkraften. Wir sind für die
Welt eine Insel der sozialen Gerechtigkeit, eine Insel der
Sicherheit und eine Insel der Demokratie. Das lassen wir
uns von Ihrem Antrag nicht kaputtreden.
({1})
Ich denke, das kann man heute, am 8. Mai - der Kollege
Bartke hat es betont -, noch einmal unterstreichen.
Wir haben - jetzt muss ich mich leider wiederholen,
aber es ist wichtig - drei große Projekte in Europa, die
wir auch als Deutschland unterstützen, nämlich den Europäischen Sozialfonds, MobiPro-EU und EURES.
Der Europäische Sozialfonds ist ein Fonds, in den alle
einzahlen, um die Mittel denjenigen, die es am dringendsten brauchen, egal in welchem Land, auszuzahlen.
Mehr als 10 Milliarden Euro jährlich stellt die EU zur
Verfügung. Das sind mehr als 10 Prozent des Gesamthaushalts. Dazu kommen noch Gelder der Mitgliedstaaten. Damit wird jährlich 10 Millionen Menschen europaweit geholfen.
Der frühverrentete polnische Arbeitnehmer, wegen einer missglückten Hüftoperation mit Anfang 40 entlassen, wird im Rahmen eines ESF-Programms umgeschult. Der spanische Mechaniker, der kurz vor der
Insolvenz steht, wird unterstützt. Ebenso profitiert die
griechische Mutter, die nach der Elternzeit erst nach einigen Schulungen den Wiedereinstieg ins Berufsleben
findet. Der ESF greift also genau dort ein, wo die EU gebraucht wird: bei den Menschen, am Arbeitsplatz, in der
Bildung, in der Familie.
Auch hier gibt es natürlich noch Verbesserungsbedarf,
wenn es darum geht, die Mittel vollständig auszuschöp2738
fen, vor allem in bestimmten Ländern; ich denke da an
Rumänien, wo wir langsam in einen Verbesserungsprozess eintreten. Aber wir haben schon viel erreicht und
werden natürlich mit Nachdruck weiter daran arbeiten.
Nächstes Beispiel: EURES. Das EURES-Netz bietet
Informationen, Beratung, Vermittlung für Arbeitskräfte
und Arbeitgeber, die vom Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machen möchten. EURES hat derzeit ein Netz
von mehr als 850 - 850! - Beratern, die in täglichem
Kontakt mit Arbeitsuchenden und Arbeitgebern in ganz
Europa stehen.
Ihre Kritik geht dahin, dass Sie diese Projekte für unterfinanziert halten. Sie sehen sie als unverbindlich an
und meinen, dass sie lediglich die Mobilität fördern.
Man kann einmal darauf hinweisen, dass 3,1 Prozent der
EU-Arbeitnehmer in einem anderen Land arbeiten. Angesichts von 3,1 Prozent kann, glaube ich, ein bisschen
Förderung von Mobilität nicht schaden. Aber - das ist
mir wichtig und ist auch für die CDU/CSU wichtig was wir damit nicht fördern wollen - das haben wir nicht
vor, und das tun wir auch nicht -, ist ein Braindrain auf
der europäischen Fachkräfteebene. Es geht nicht an,
Fachkräfte aus ihren Heimatländern abzuziehen. Ein Abziehen wäre viel zu kurzfristig gedacht und würde uns in
einigen Jahren mit immensen Kosten belasten. Es ist uns
daher daran gelegen, die Nationen aus sich heraus wiederaufzubauen.
Dafür ist zum einen der Europäische Sozialfonds da,
der die Menschen in ihren Heimatländern unterstützt.
Zum anderen bietet EURES die Möglichkeit, wenigstens
einige Jahre Berufserfahrung in einem anderen Land zu
sammeln. Die wenigsten verlassen ihre Heimat, ihre Familie, ihre Umgebung, ihre Sprache, ihre Sozialisation
gern; viele tun es aber, nutzen die Chancen, um dann
weitergebildet und motiviert in ihr Heimatland zurückzukehren.
MobiPro-EU - darüber wurde heute schon mehrmals
gesprochen - ist ein Beispiel für das soziale Europa. Es
ist ein exklusives Programm, das in Deutschland einzigartig ist. MobiPro-EU ist das Angebot, eine hervorragende Ausbildung zu absolvieren. Es ist ein wichtiger
Schritt, anderen europäischen Ländern unsere duale
Ausbildung näherzubringen. Gerade für die Länder, in
denen es das duale Ausbildungssystem gar nicht gibt, ist
das eine Riesenchance.
Was die Finanzierung angeht - das haben wir heute
gehört -, werden alle Anträge bis zum 8. April noch abgearbeitet. Wir haben heuer die Mittel in einem Kraftakt
verdreifacht. Das muss ich schon noch einmal sagen:
Hätte das Programm nicht gegriffen, dann hätten wir uns
heute von Ihnen anhören müssen, dass wir falsche Mittel
oder falsche Methoden gewählt haben, etwas gefördert
haben, was niemanden interessiert. Jetzt haben wir einen
Erfolg, und dann lassen Sie uns diesen Erfolg doch bitte
auch einmal so benennen und das nicht schon wieder
schlechtreden, wenn wir gemeinsam diesen Kraftakt mit
der Verdreifachung der Mittel heuer geschafft haben.
({2})
Welche Möglichkeiten schafft dieses soziale Europa?
Europäische Jugendliche können die Chance nutzen, ein
anderes Land kennenzulernen, sich über Kulturen auszutauschen, eine neue Sprache zu erlernen und sich hier
ausbilden zu lassen - MobiPro-EU -, oder sie können
die Chance nutzen, im Ausland zu arbeiten und Berufserfahrung zu sammeln - EURES -, oder sie können Förderungsmaßnahmen im eigenen Land wahrnehmen ESF.
Liebe Kollegen, wir sind damit sicher nicht am Ende
unserer Maßnahmen. Aber wir leben mitten in einem sozialen Europa mit einigen hervorragenden sozialen Errungenschaften. Wir müssen natürlich noch viel tun. Insbesondere die hohe Jugendarbeitslosigkeit in den
südeuropäischen Ländern bringt eine Situation mit sich,
die sich keiner von uns wünscht. Wir dürfen aber auch
nicht vergessen, dass die Euro-Krise noch nicht lange
her ist, viele Länder noch mittendrin stecken und wir
Zeit brauchen, um uns wieder auf einem hohen Niveau
einzupendeln. Das müssen wir mit aller Kraft gemeinsam vorantreiben.
Es gilt, jungen Menschen eine Zukunft zu bieten. Daran arbeiten wir in der EU schon sehr aktiv. Ein Beispiel:
die Jugendgarantie. Damit soll gewährleistet werden,
dass allen Europäern unter 25 Jahren binnen vier Monaten nach Erhalt ihres Abschlusses bzw. nach Verlust ihres Arbeitsplatzes ein neuer Job oder eine Ausbildung
angeboten wird.
Das soll jedoch nicht, wie Sie es vorschlagen, geschehen, indem wir einen EU-weiten Mindestlohn festlegen.
Viele europäische Länder haben bereits den Mindestlohn, und wir werden ihn heuer auch in Deutschland
einführen. Diese Länder haben ihn nach ihren Möglichkeiten festgelegt. Einen einheitlichen Standard zu definieren, indem wir ein 60-Prozent-Minimum festlegen,
schafft ein erneutes Ungleichgewicht in Bezug auf die
Leistungsfähigkeit der Länder.
Bleiben wir aber bei den geplanten Maßnahmen. Im
April hat das EU-Parlament ein Paket von Maßnahmen
angenommen, mit dem sichergestellt werden soll, dass
künftig die Banken das Risiko für ihr Scheitern tragen
und nicht der Steuerzahler. Drei Gesetzesvorlagen wurden dafür auf den Weg gebracht. Sie beziehen sich auf
die Restrukturierung und Abwicklung maroder Banken
sowie auf die Erneuerung der Systeme zur Einlagensicherung bis zu 100 000 Euro.
Ich möchte in diesem Zusammenhang auch noch auf
„Europa 2020“ hinweisen. Das ist eine Wachstumsstrategie der EU für eine intelligente, nachhaltige und integrative Wirtschaft in Europa. Diese drei Prioritäten, die sich
gegenseitig verstärken, helfen der EU und den Mitgliedstaaten, ein hohes Maß an Beschäftigung, Produktivität
und sozialem Zusammenhalt zu erreichen. Jeder Mitgliedstaat hat für die Bereiche Beschäftigung, Innovation, Bildung, soziale Integration, Armutsbekämpfung
sowie Klima und Energie seine eigenen nationalen Ziele
festgelegt. Ferner wird diese Strategie durch konkrete
Maßnahmen auf Ebene der EU und der Mitgliedstaaten
untermauert. Dabei geht es vor allem darum, Arbeitsplätze zu schaffen. Arbeitsplätze schaffen die Unternehmen. Daher darf neben all den sozialen Aspekten auch
die Wirtschaft nicht vergessen werden. Die dürfen wir in
diesem Punkt nicht aus dem Blick verlieren.
Was die CDU/CSU bei der Europawahl erreichen
will, haben meine Vorredner schon zur Genüge ausgeführt. Ich glaube, dafür haben wir besten Rückenwind.
Wir werden die positive Bilanz dieser Wahlperiode und
der letzten Wahlperiode in der nächsten nur noch steigern können.
({3})
Vielen Dank.
({4})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Kollegen Norbert Spinrath, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Europa war und ist das
Versprechen auf Frieden. Wir haben eben von mehreren
Rednern gehört, dass das Stichwort „Frieden“ in einem
wichtigen Zusammenhang mit dem heutigen Datum
steht. Europa war und ist ein Versprechen auf Frieden
und Wohlstand. Ich sage aber auch: Um beides muss beständig gerungen werden. Wir dürfen das nicht als gegeben hinnehmen. Es muss - nicht nur bei jeder Wahl, sondern auch bei jeder einzelnen politischen Entscheidung beständig darum gerungen werden.
In Zeiten der Globalisierung kann Wohlstand aber
nicht mehr nur in nationalen Grenzen gesichert werden.
Deutschland als Exportnation hängt in ganz besonderem
Maße vom Wohlergehen und von der wirtschaftlichen
Prosperität seiner Nachbarn ab. Offene Grenzen für
Menschen - also auch für Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer - bedingen gemeinsame Regelungen zur
Sicherung der Rechte der Menschen, die jenseits ihres
Heimatlandes Arbeit suchen und finden.
Wir brauchen ganz klare und gerechte Regeln der
Entlohnung und der Rechte auf Urlaub, Absicherung
und Mitbestimmung. Diese Ziele hat Michael Gerdes
eben sehr deutlich ausgeführt. Dazu gehört aber auch das
Modell eines europäischen Mindestlohns, der sich am
Bruttoinlandsprodukt und am Preisniveau des jeweiligen
Mitgliedstaates orientiert. Die weltweite Finanzkrise hat
auch Europa getroffen. Sie hat Europa auch erschüttert.
Dabei sind bei der Bewältigung der Krise in Irland,
Spanien und Portugal inzwischen Erfolge zu verzeichnen. Selbst Griechenland konnte sich zuletzt wieder an
den Märkten finanzieren. Das zeugt von wiederhergestelltem Vertrauen der Märkte in die Krisenländer und
auch in die Gemeinschaft. Im Falle des Falles wird es
funktionierende Rettungsinstrumente der EU geben.
Allerdings - auch das sage ich in aller Deutlichkeit sind in der Vergangenheit gravierende Fehler gemacht
worden. Die Hilfe erreichte die betroffenen Länder oft
zu spät. Dadurch ist Unsicherheit gewachsen. Spekulationen sind überhaupt erst ermöglicht und der Schaden
enorm vergrößert worden. Im Falle Griechenlands konnten die Spekulanten nur deshalb ihr schändliches Spiel
betreiben und weitere Länder mit in den Strudel ziehen,
weil zu lange gezögert wurde. Das war zum Teil nicht
nur Schuld der Troika aus EZB, EU-Kommission und
Internationalem Währungsfonds. Oft haben auch die Regierungen der betroffenen Länder lieber Renten gekürzt,
als die Steuern erhöht. Ist das ein soziales Europa?
({0})
Die Krise hat genau die Länder getroffen, die strukturell schwach und damit anfällig waren. Die Hilfe für Krisenländer - das muss die Lehre sein - muss immer zwei
Dimensionen haben: erstens das sofortige Wiederherstellen von Vertrauen bzw. - für den Fall, dass das nicht
gelingt - einen Ersatz für die Marktkredite und zweitens
mittel- und langfristig die Beseitigung der strukturellen
Schwächen der Volkswirtschaft, um die heimische Wirtschaft wieder auf feste Füße zu stellen und damit eben
auch die Arbeitsplätze zu sichern.
Die einseitige und schnelle Kürzung der Ausgaben
dagegen führte zu einer noch tieferen Rezession; denn
nun kamen zu den Ausfällen der öffentlichen Ausgaben
auch noch die Schwächen der Wirtschaft hinzu. Die
reine Fixierung auf eine schnelle Konsolidierung der öffentlichen Haushalte war ein Fehler. Damit wurde der
Sozialstaat an die Grenzen der Handlungsfähigkeit gebracht. Diese Fehler haben zu massiven Verwerfungen
geführt und müssen nun mühsam repariert werden.
Ich glaube, auch an diesem Punkt ist erkennbar, dass
sich seit der letzten Bundestagswahl etwas geändert hat.
Wir haben deutlich gemacht und deutlich in den Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD hineingeschrieben, dass wir nicht nur eine Haushaltskonsolidierung
brauchen, sondern daneben auch zwingend auf Programme für Wachstum und Beschäftigung setzen müssen, um der sozialen Dimension gerecht zu werden. Wir
brauchen kluge Steuerungsinstrumente statt reiner Sparpolitik. Wir brauchen effektive nationale Steuersysteme,
um auch Unternehmen und vermögende Privatleute mit
einem Beitrag an den Kosten beteiligen zu können. Wir
brauchen Maßnahmen für Wachstum und Beschäftigung,
die, wie ich schon sagte, gleichberechtigt neben der
Haushaltskonsolidierung stehen. Wir müssen, wenn wir
das soziale Europa ernst nehmen, die durch die Sparpolitik entstehenden Belastungen gleichmäßig verteilen, damit diese nicht einseitig von den sogenannten kleinen
Leuten getragen werden müssen.
({1})
Schlimmer noch wirkt das verloren gegangene Vertrauen gerade unter den Jüngeren. Sie sind eben nicht
diejenigen, die für die Krise verantwortlich sind, aber sie
sind die Leidtragenden dieser Krise. Deshalb müssen wir
ihnen Zukunft geben.
({2})
In den Krisenländern ist die Arbeitslosigkeit, insbesondere unter den Jugendlichen, inakzeptabel hoch, in
einigen Ländern liegt sie nahe bei oder über 50 Prozent.
Die in der Beschäftigungsinitiative eingeplanten 6 Milliarden Euro für den Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit müssen deshalb jetzt schnell eingesetzt werden.
Die auf europäischer Ebene vereinbarte Jugendgarantie
muss jetzt zügig in den einzelnen Ländern umgesetzt
werden. Das Ziel muss sein, jedem Jugendlichen eine
Ausbildung und einen Arbeitsplatz zu garantieren.
({3})
Auch Deutschland - darauf ist heute schon mehrfach
hingewiesen worden - leistet seinen Beitrag. Viele arbeitslose, aber bereits gut ausgebildete junge Menschen
sollen durch das Programm MobiPro-EU eine Chance
bekommen, in Deutschland zu arbeiten. Matthias Bartke
hat dazu eben sehr eindrucksvoll ausgeführt. Ich sage:
Die Nachfrage zeigt, dass dieses Programm richtig ist
und gebraucht wird. Ich sage aber auch klar - ich denke,
da bin ich mir dann mit dem Kollegen Zech von der
Union einig -: Es darf nicht sein, dass wir unseren teilweise auch selbstverschuldeten Fachkräftemangel allein
mit jungen Menschen aus den Krisenländern lösen und
dass wir dort einen Braindrain auslösen, der mittel- und
langfristig den wieder in Gang gebrachten Konjunkturmotor abwürgt, weil im Herkunftsland die dringend benötigten Fachkräfte fehlen.
({4})
Nach wie vor ist der soziale Bereich eine nationale
Domäne, aber der gemeinsame Binnenmarkt macht an
den nationalen Grenzen nicht halt. Deshalb brauchen wir
gemeinsame Prinzipen und Kriterien zur Bekämpfung
von Lohn- und Sozialdumping. Das sage ich ganz bewusst im Deutschen Bundestag; denn gerade in Deutschland sind uns diese Vokabeln leider nicht fremd.
({5})
Grenzüberschreitende wirtschaftliche Aktivitäten erfordern auch grenzüberschreitende Arbeitnehmerrechte.
Es helfen nur klare Regeln und effiziente Kontrollen.
Wir brauchen das Prinzip „gleicher Lohn und gleiche
Arbeitsbedingungen für gleiche Arbeit am gleichen
Ort“, das hat Dagmar Schmidt eben sehr deutlich gesagt.
Wir müssen die Entsenderichtlinie auch in ihrer veränderten Form weiter stärken, um den zunehmenden Missbrauch von Entsendungen, Werkverträgen und Subunternehmeraufträgen einzudämmen. Es gibt noch so viele
Schlupflöcher, die auch in der neuen Version zu stopfen
sind. Das sollten wir jetzt zügig angehen.
Wir haben bereits eine Menge von Details im Koalitionsvertrag vereinbart, in welcher Hinsicht Europa sozial werden muss. Die soziale Dimension mit grenzüberschreitenden Arbeitnehmerrechten, national definierten
Mindestlöhnen und sozialen Grundrechten muss gleichrangig neben die Marktfreiheiten des Binnenmarktes gestellt werden. Sozialpolitik muss stärker koordiniert werden. Die Gewährleistung sozialer Rechte und Standards
und verbindliche sozialpolitische Ziele gehören dazu.
Ich denke, die Zukunft eines Europas der Bürgerinnen
und Bürger hat nur dann eine Chance, wenn die Bürgerinnen und Bürger dieses Europa und die europäische
Idee für sich begreifen und sich damit identifizieren. Damit alle Menschen etwas von Europa haben, muss Europa sozialer, demokratischer und auch solidarischer
werden. Die Menschen müssen erkennen können, dass
sie etwas von Europa haben.
Ein soziales Europa ist der Motor für unsere Wirtschaft und damit für den Arbeitsmarkt in Deutschland;
dass beides zusammengehört, hat Waltraud Wolff eben
sehr eindrucksvoll festgestellt. Ein soziales Europa verteilt die Belastungen aus der Sparpolitik gleichmäßig
und nicht nur einseitig auf die sogenannten kleinen
Leute. Auch diejenigen müssen an den Kosten beteiligt
werden, die sie verursacht haben. Ein soziales Europa
stellt zur Lösung von Krisen Maßnahmen für Wachstum
und Beschäftigung gleichberechtigt neben die Haushaltskonsolidierung, lässt die Menschen in sozialer Sicherheit leben und sichert damit sozialen Frieden.
Herr Kollege, die Zeit!
Liebe Kolleginnen und Kollegen - das ist mein
Schlusssatz; herzlichen Dank, Herr Präsident -, nur dort,
wo sozialer Frieden herrscht, kann wirtschaftlicher
Wohlstand wachsen. Ich will weiter für ein soziales Europa arbeiten, für ein Europa der Bürgerinnen und Bürger, das nicht nur Banken rettet.
Danke.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/1116 und 18/1343 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 a sowie den Zu-
satzpunkt 3 auf:
6 a) Beratung des Antrags der Fraktionen der
CDU/CSU und SPD
Hilfe für die Flüchtlinge aus Syrien - Unterstützung für die Nachbarstaaten
Drucksache 18/1333
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Annalena Baerbock, Marieluise Beck ({0}),
Dr. Franziska Brantner, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Hilfe für die Flüchtlinge aus Syrien - Unterstützung für die Nachbarstaaten
Drucksache 18/1335
Vizepräsident Peter Hintze
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich erteile als erstem Redner das Wort Bundesminister Dr. Gerd Müller.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Wartet nicht länger! Handelt! Handelt jetzt, um das
Massaker in Syrien zu beenden!
Das waren die Worte von Ban Ki-moon schon vor zwei
Jahren. Leider hat dieser Appell auch am heutigen Tag
nichts an Aktualität verloren; denn die Situation in und
um Syrien hat sich seither leider dramatisch verschlechtert.
Deshalb bin ich allen Bundestagsfraktionen sehr
dankbar für diese Debatte. Wir müssen Öffentlichkeit
schaffen. Wir dürfen die Menschen in Syrien nicht alleine lassen.
({0})
Die Scheinwerfer der Weltöffentlichkeit müssen auf diesen Krieg, die größte humanitäre Katastrophe der letzten
Jahrzehnte, gerichtet werden. Diese Bundestagssitzung
leistet einen Beitrag dazu.
Wer stoppt Assad? Das ist die politische Frage. Die
Weltvölkergemeinschaft, die UN, die USA, Russland,
Europa, Deutschland, wir alle müssen einen erneuten,
auch politischen Vorstoß unternehmen, um die Kampfhandlungen in Syrien zu stoppen.
({1})
Das Elend in Syrien ist gewaltig: 150 000 Tote in zwei
Jahren - man muss sich diese unglaubliche Zahl einmal
vorstellen -, Folter, Giftgas, Streubomben. 10 Millionen Flüchtlinge in einem Land mit 22 Millionen Einwohnern. Das heißt, jeder zweite Syrer ist im eigenen
Lande oder außerhalb des Landes auf der Flucht.
4,5 Millionen Syrer sind in den Nachbarländern als
Flüchtlinge registriert und untergekommen.
Im Libanon, in diesem kleinen Land - die Ausschussvorsitzende Frau Wöhrl war mit einer Delegation in den
vergangenen Tagen dort -, gibt es 1 Million Flüchtlinge.
Das muss man sich einmal vorstellen. Dort sitzen zum
Beispiel in vielen Schulen mehr syrische Flüchtlingskinder in den Schulbänken als einheimische Schülerinnen
und Schüler; Gott sei Dank werden sie in den dortigen
Schulen offen aufgenommen. Es kommt hier zu einer
vollkommenen Überlastung der Infrastruktur.
Die Türkei - Frau Roth, unsere Vizepräsidentin, war
dort in mehreren Regionen unterwegs und wird darüber
in ihrer Rede berichten - leistet Großartiges. Wir danken
der türkischen Regierung an dieser Stelle für den großartigen humanitären Einsatz.
({2})
1,2 Millionen Flüchtlinge gibt es in Jordanien. Als ich
dort vor wenigen Wochen ein Flüchtlingslager besucht
habe, hat mich am meisten eine Stadt nahe der syrischen
Grenze beeindruckt. Diese Stadt mit 60 000 Einwohnern
hat in den letzten zwei Jahren - das muss man sich einmal vorstellen - 120 000 syrische Flüchtlinge aufgenommen, das Doppelte der Einwohnerzahl, und zwar
ohne Zelte, einfach in den vorhandenen Häusern und
Strukturen. Ich habe eine Bauernfamilie besucht: einfach, arm, mit fünf Kindern und 20 Ziegen. Der Bauer
hat seinen Ziegenstall ausgeräumt. In diesem Stall lebt
eine syrische Flüchtlingsfamilie mit fünf Kindern: ein
Baby auf dem Arm, der 16-Jährige verwundet, ihm fehlt
ein Fuß. - Das ist die Situation in Jordanien. Ich muss
sagen: Großer Respekt! Auf der jordanischen Seite erlebt man Helden, die mit Offenheit und Solidarität den
syrischen Flüchtlingen begegnen.
({3})
Die Menschen vor Ort sind großartig und leisten Herausragendes.
Zur Lage in Syrien möchte ich ein paar Fakten nennen. Die Situation im Lande selber ist unsäglich. Die
Bilder der Fernsehkameras, die bei uns, die in Politik
und Öffentlichkeit, die in der Gesellschaft Betroffenheit
schaffen, fehlen - fast hätte ich gesagt: leider. Die Lage
in Syrien ist dramatisch. Es gibt eine hohe Zahl von Binnenvertriebenen, und die Bevölkerung in den umkämpften Gebieten wird als Geisel des Regimes genommen:
ohne Essen, ohne Strom, ohne Wasser. Bis zu 1 Million
Menschen sind ohne Zugang zu humanitären Hilfsorganisationen. Das gab es in den letzten 40 Jahren in
Bürgerkriegsverhältnissen nicht. Kein Zugang zu humanitärer Hilfe, keine humanitären Korridore - das ist
Völkermord im eigenen Land.
({4})
Die UN, Europa und wir dürfen nicht nachlassen, dies
anzuprangern. Wir müssen natürlich nach politischen
Lösungen suchen. Es müssen wieder alle an den Verhandlungstisch, um die Gespräche in Genf - Genf II,
Genf III - erneut aufzunehmen und fortzusetzen. Die
Bundesregierung hat seit Beginn der Krise mehr als eine
halbe Milliarde Euro an Hilfsleistungen erbracht. Das sei
auch der deutschen Öffentlichkeit gesagt: Meine Damen
und Herren, Zuhörinnen und Zuhörer, durch Entwicklungsarbeit, humanitäre Hilfe des Auswärtigen Amtes
und des Entwicklungsministeriums retten wir Tausende
von Menschen vor Tod, vor Elend und vor Hunger. Das
BMZ, unser Ministerium, hat mit der Einrichtung der
Sonderinitiative „Fluchtursachen bekämpfen - Flüchtlinge reintegrieren“ reagiert. Ich danke den Haushalts2742
politikern. Wir sind mit entsprechenden Haushaltsmitteln versorgt worden. Wir werden unsere Unterstützung
weiter verstärken. Wir helfen vor Ort.
Meine Damen und Herren, natürlich ist auch die Bevölkerung aufgerufen, zu spenden. Leider ist die Spendenbereitschaft in der Gesellschaft für Syrien nicht sehr
groß. Das Elend dort ist groß. Die Menschen dort brauchen die Hilfe unserer Bevölkerung. Ich unterstütze hier
den Spenden- und Unterstützungsaufruf unserer Hilfsorganisationen.
({5})
Mein besonderer Dank gilt allen Mitarbeitern der Organisationen, die in Syrien unter Einsatz ihres Lebens tätig sind. Ich kann nicht alle aufzählen. Aber ich nenne
beispielhaft die Kirchen, die politischen Stiftungen, die
Welthungerhilfe - ich selber habe UNICEF vor Ort gesehen -, das Rote Kreuz, die Malteser, Ärzte ohne Grenzen, SOS-Kinderdörfer. Alle Helfer der internationalen
Hilfsorganisationen sind unter Einsatz ihres Lebens in
Syrien.
Wir schaffen auch vonseiten der deutschen Politik
über die humanitäre Hilfe hinaus Perspektiven. Ich habe
gestern - das war für mich interessant und sehr überraschend - die ehemalige Präsidentin des Deutschen
Bundestages, Frau Professor Süssmuth, getroffen. Der
Deutsche Volkshochschul-Verband hat Bildungszentren
in Jordanien eingerichtet. Dort werden junge syrische
Flüchtlinge ausgebildet. Wir müssen auch an die Zeit danach denken; denn sie müssen wieder zurück. Zur Reintegration und zum Wiederaufbau des Landes wird das
BMZ zusammen mit der Deutsch-Jordanischen Hochschule in Amman, in Grenznähe zu Syrien, einen eigenen Studienzweig für syrische Jugendliche - Techniker-,
Handwerkerausbildung - einrichten.
({6})
Ich denke aber - das sage ich angesichts der Dramatik
des Problems vor der Haustüre Europas, 300 Kilometer
von Zypern entfernt, ganz bewusst -, die EU muss mehr
leisten.
({7})
Sie bringen das in Ihren Anträgen zum Ausdruck. Dies
betrifft die Mitgliedstaaten bei der Aufnahme syrischer
Flüchtlinge. Die Bereitschaft dazu ist in einigen Staaten
Europas beschämend gering. Ich frage in Richtung der
Europäischen Kommission: Wo bleibt die Reaktion aus
Brüssel? - Wir brauchen einen Sonderrat zur Lage der
Flüchtlinge aus Syrien.
({8})
Ihn einzurichten, wurde bisher verweigert. Wir brauchen
ein europäisches Sonderprogramm zur Unterstützung
der Anrainerländer, für humanitäre Hilfe und Krisenbewältigung. Meine Damen und Herren, wo können EUGelder sinnvoller eingesetzt werden als hier, im Rahmen
einer Initiative der Europäischen Union für Syrien?
({9})
Was die Europäische Union hier geleistet hat, ist nicht
ausreichend. Umso wichtiger ist diese Debatte, weil wir
damit Initiativen anstoßen und dazu beitragen, dass sich
die Öffentlichkeit für dieses Thema nicht nur interessiert, sondern dafür gewonnen werden kann.
Ich bedanke mich bei Ihnen. Herzlichen Dank.
({10})
Herzlichen Dank, Herr Bundesminister. - Nächste
Rednerin ist die Kollegin Ulla Jelpke, Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist
keine Frage: Es ist gut und richtig, dass die Bundesrepublik schon einiges getan hat, um syrische Flüchtlinge
hier in Deutschland zu unterstützen; es wurde im Antrag
der Koalition ausführlich dargelegt. Wichtig ist aber,
was nicht im Antrag steht und worüber der Antrag
schweigt: Er schweigt darüber, dass es keine sicheren
Wege für Flüchtlinge in die EU gibt. Er schweigt leider
auch darüber, dass es eine Beteiligung Deutschlands an
der Abschottung der Grenzen Europas gibt. Und er
schweigt darüber, welche tödlichen Folgen in diesem
Zusammenhang auch für syrische Flüchtlinge zu beklagen sind. Deswegen sagt die Linke eindeutig: Wir sind
es den Opfern und ihren Familien schuldig, hierüber
nicht zu schweigen.
({0})
Denn man kann nicht Grenzen abschotten und dann so
tun, als ob man humanitäre Politik macht.
({1})
Meine Damen und Herren, die ungefährlichste
Fluchtroute für syrische Flüchtlinge führt über Land,
über die Türkei nach Griechenland. Durch Zäune und
Stacheldraht wurde dieser Weg unpassierbar gemacht.
Wer den Fluchtweg über die Ägäis sucht, gerät in Gefahr, vom griechischen Grenzschutz brutal zurückgewiesen zu werden oder zu ertrinken. In dieser Woche sind
wieder 24 Opfer zu beklagen, Bootsflüchtlinge in der
Ägäis. Auch das gehört zur europäischen Abschottungspolitik, und das ist nicht hinnehmbar.
({2})
Meine Damen und Herren, da ihnen der Weg über
Griechenland versperrt wurde, mussten syrische Flüchtlinge in Richtung Bulgarien ausweichen. 2013 kamen
11 000 Asylsuchende, über die Hälfte von ihnen Syrer,
nach Bulgarien; das waren zehnmal mehr als in den JahUlla Jelpke
ren zuvor. Diese Menschen wurden in provisorischen
Aufnahmelagern in Käfige gesperrt. Sie mussten hungern, sie wurden misshandelt, und sie wurden gedemütigt. Trotz dieser Zustände schiebt Deutschland Flüchtlinge nach Bulgarien ab, weil Bulgarien formal für die
Asylverfahren zuständig ist. Dieser Umgang mit schutzsuchenden Menschen ist schlicht menschenverachtend.
({3})
Seit März 2014 haben sich die Verhältnisse im bulgarischen Asylsystem zwar verbessert - die Aufnahmelager sind lange nicht mehr so überfüllt -; aber das liegt
keineswegs daran, dass die Politik humaner geworden
ist. Nein, im Gegenteil: Im November 2013 wurde die
Grenze zu Bulgarien für Flüchtlinge schlichtweg dichtgemacht. 1 500 Polizisten wurden dorthin verlegt, und
die Grenze wurde auf einer Länge von 33 Kilometern
mit einem Zaun versehen. Dementsprechend werden die
Flüchtlinge in die Türkei zurückgeschickt. Es ist nicht
hinnehmbar, dass Europa es zulässt, dass Zäune gebaut
werden.
({4})
Die Flüchtlinge, die nach Bulgarien und damit nach
Europa wollen, werden mit Kameras und Sensoren überwacht. Herr Minister Müller, auch das wird mit EU-Geldern finanziert. Ich bitte Sie: Lesen Sie die Berichte von
Amnesty International, von Human Rights Watch oder
von vielen Flüchtlingsorganisationen, die zeigen, wie
brutal dort mit Flüchtlingen umgegangen wird. Gegen
diesen Skandal muss die Bundesregierung ihre Stimme
erheben.
({5})
Wir werden uns bei der Abstimmung über die Anträge enthalten, weil es nicht ausreicht, sich ausschließlich damit zu brüsten, was man alles schon getan hat;
was wir überhaupt nicht bezweifeln. Die Bundesrepublik
kann und muss tatsächlich noch mehr tun.
({6})
In den Anträgen wird zwar formuliert, dass der Druck
auf die europäischen Staaten, syrische Flüchtlinge aufzunehmen, erhöht werden soll, aber das bedeutet nicht,
dass das auch umgesetzt wird. Hier muss Politik gemacht werden. Man kann nicht auf der einen Seite im
Grunde genommen gegen Flüchtlinge aufrüsten - ich
nenne nur EUROSUR, die vielen Maßnahmen, die ergriffen worden sind, um Frontex aufzurüsten, und anderes mehr -, und auf der anderen Seite sagen: Es muss unbedingt humanitäre Hilfe geleistet werden.
Seien Sie konsequent in Ihrer Flüchtlingspolitik! Wir
versuchen es auch. Die Linke hat einen eigenen Antrag
vorbereitet, über den wir im Innenausschuss noch diskutieren werden. So, wie die Politik der Bundesregierung
gegenwärtig gestaltet wird, kann es nicht weitergehen.
Man kann nicht repressiv und gleichzeitig human sein.
Danke schön.
({7})
Nächster Redner ist für die Sozialdemokraten der
Kollege Niels Annen.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident! - Vor einigen Tagen
habe ich das Flüchtlingslager al-Zaatari in Jordanien besucht. Die Größe des Flüchtlingslagers sagt etwas über
die Dimension des Konfliktes. Mit über 100 000 Menschen ist al-Zaatari inzwischen die drittgrößte Stadt Jordaniens und das zweitgrößte Flüchtlingslager der Welt.
Wer sich auf ein Gespräch mit den Flüchtlingen einlässt, der - das kann ich Ihnen sagen - braucht gute Nerven; denn dieser Krieg ist eine der größten Tragödien
unserer Zeit, und das nicht nur, weil er bisher über
150 000 Menschen das Leben gekostet hat. Dieser Krieg
hat den Nahen Osten grundlegend verändert.
In Deutschland, liebe Kolleginnen und Kollegen, erinnern wir uns in diesen Tagen daran, dass vor 100 Jahren der Erste Weltkrieg ausgebrochen ist. Gleichzeitig
werden wir Zeuge, wie die von den ehemaligen Kolonialmächten konzipierten nahöstlichen Grenzen - Stichwort „Sykes-Picot-Abkommen“ - zusammenbrechen.
Die Folgen für die Stabilität in der Region, aber auch für
unsere Sicherheit sind unabsehbar.
Ich habe den Eindruck, dass wir uns als Bundesrepublik Deutschland insgesamt zu wenig mit der dramatischen Entwicklung in Syrien auseinandersetzen.
({0})
Im dritten Kriegsjahr müssen wir feststellen: Nicht nur
weite Teile des Landes, auch die Idee, das Konzept Syrien, ist durch diesen Krieg zerstört worden; denn es gibt
heute keine relevante politische oder militärische Kraft
mehr, die um den Erhalt dieses Staates kämpft. Religiöse
und ethnische Entitäten sind an diese Stelle getreten, und
damit wächst die Gefahr weitreichender ethnischer Säuberungen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir erleben einen
Krieg aller gegen alle. Die Opposition kämpft gegen
Assad, führt aber auch gleichzeitig Krieg untereinander.
Selbst Experten, die sich schon seit vielen Jahren mit der
Region beschäftigen, haben Schwierigkeiten, noch
durchzublicken und die Lage sowie die wechselnden
Koalitionen zu analysieren.
Der Krieg ist aber auch ein regionaler Krieg. Präsident Assad kann sich auf die massive Unterstützung des
Iran und der Truppen der Hisbollah verlassen, ohne die
er nicht überleben kann. Zudem schützt ihn - das wissen
wir alle - das russische Veto im Sicherheitsrat. Doch
umgekehrt gilt auch: Ohne die Unterstützung durch die
Golfstaaten und Saudi-Arabien, aber auch Teile der Türkei wäre die Opposition nicht in der Lage, den Kampf
fortzusetzen. Der weltweit eskalierende Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten schlägt sich in aller Härte
auch in Syrien nieder.
Es ist noch gar nicht so lange her, 2012 sagte ein optimistischer amerikanischer Präsident: Unser Ziel ist es,
al-Qaida zu zerstören, und wir sind auf einem guten Weg
dorthin. - Das war die Hoffnung. Doch diese Aussage
hat sich als verfrüht erwiesen; denn al-Qaida ist längst
ein wichtiger Akteur in der Region, ohne dass die deutsche Öffentlichkeit von der Dramatik dieser Situation
ausreichend Kenntnis genommen hätte. Mit al-Nusra
und ISIL bekämpfen sich sogar gleich zwei mit al-Qaida
verbündete Milizen in Syrien, in einem Bürgerkrieg im
Bürgerkrieg.
Um es klar zu sagen: Beenden wir diesen Krieg nicht
so schnell wie möglich, werden auch wir in Deutschland
und Europa mit einem Terrorismusproblem konfrontiert
werden, dessen Ausmaße wir nur erahnen können.
({1})
Etwa 250 deutsche Staatsbürger haben bisher in Syrien
aufseiten der Islamisten gekämpft, und geschätzte 20 haben dabei ihr Leben verloren. Diejenigen, die zurückkehren, tragen den Hass, die Radikalisierung mit sich
und damit natürlich auch eine Gefährdung für unsere Sicherheit.
Unterdessen strömen Millionen von Flüchtlingen unaufhaltsam in die Nachbarländer. Im bereits erwähnten
Camp al-Zaatari ist es unter der Leitung eines deutschen
UNHCR-Mitarbeiters, Herrn Kleinschmidt, gelungen,
die Sicherheitslage im Camp zu verbessern und Prostitution, Schwarzmarkt und Menschenhandel zurückzudrängen. Das UNHCR stellt sich auf eine lange, möglicherweise noch jahrelange Verweildauer der Flüchtlinge ein.
Besonders dramatisch ist die Lage im Libanon. Über
1 Million Flüchtlinge kommen auf nur 4,2 Millionen
Einwohner. Die humanitäre Lage dort ist besonders
schwierig, auch weil es dort im Gegensatz zur Türkei,
die zu Recht gelobt und erwähnt worden ist, und Jordanien keine organisierten Lager gibt. Inzwischen befinden
sich überall im Land Flüchtlinge. Wohnraum ist zum Luxus geworden. Bis zum letzten Kellergewölbe werden
Unterkünfte vermietet - zu horrenden Preisen. Besonders schlimm ist die Lage in den provisorischen Zeltlagern. Ich hatte Gelegenheit, ein Lager in der BekaaEbene zu besuchen. Zudem droht das Land selber in den
Bürgerkrieg hineingezogen zu werden. Während die
Hisbollah in Syrien kämpft, radikalisieren sich sunnitische Kämpfer im Libanon und greifen schiitische Einrichtungen an.
So wie sich die Lage zurzeit darstellt, müssen wir uns
und die deutsche Öffentlichkeit auf einen langen Krieg
einstellen. Und das bedeutet: Wir werden mehr tun müssen, um die Nachbarstaaten und die Vereinten Nationen
in die Lage zu versetzen, damit umzugehen. Und ja, wir
werden auch mehr Flüchtlinge aufnehmen müssen.
({2})
Allein die Aufnahmestelle des UNHCR, die ich in
Beirut besucht habe, registriert jeden Tag 2 000 Flüchtlinge. Das ist eine von vier Aufnahmestellen. Besonders
wichtig scheint mir zu sein, dass wir auch und gerade
den Gemeinden in Jordanien, im Libanon und in der
Türkei, die unter dieser Last zu leiden haben, unter die
Arme greifen, damit es nicht zu weiteren sozialen Spannungen kommt. 9,3 Millionen Menschen in Syrien sind
auf humanitäre Hilfe angewiesen. Deswegen ist es gut,
dass das Auswärtige Amt die Hilfe für das UNHCR aufstockt.
Wir dürfen auch das Flüchtlingswerk für die palästinensischen Flüchtlinge nicht vergessen; denn die erleiden gerade eine doppelte Tragödie; darauf ist schon hingewiesen worden. Das Lager Yarmouk in Damaskus
bietet ein Ausmaß an Zerstörung und Zynismus, das
kaum zu fassen ist.
Doch alle Hilfe, über die wir hier sprechen müssen,
wird nicht ausreichen, wenn es nicht gelingt, wieder einen politischen Prozess zu initiieren. Der UN-Gesandte
Lakhdar Brahimi hat neulich gesagt - ich weiß nicht, ob
Sie das gesehen haben -, dass er jeden Tag, wenn er aufsteht, daran denkt, zurückzutreten. Man kann es ihm
nicht übel nehmen; denn nach dem Scheitern der Genfer
Verhandlungen hat man den Eindruck, dass niemand
mehr auf eine politische Lösung setzt, sondern alle, auch
unsere eigenen Verbündeten, auf eine militärische Lösung setzen. Ich sage deswegen: Die Prioritäten unseres
Außenministers sind richtig: deutscher Beitrag zur Vernichtung von Massenvernichtungswaffen, mehr zur Verbesserung der humanitären Situation in Syrien tun und
den Terrorismus bekämpfen.
Um diesen Krieg zu beenden, müssen wir bereit sein,
mit allen Parteien zu reden, innerhalb und außerhalb Syriens. Die Unterstützung islamistischer Kämpfer aus
dem Ausland wird nicht ohne Konsequenzen bleiben.
Wir haben in Afghanistan schon einmal erlebt, dass sie
die Waffen dann gegen die richten, von denen sie sie bekommen haben.
Diese militärische Logik müssen wir durchbrechen.
Deutschland kann dabei eine Rolle spielen, weil wir
eben keine Milizen bzw. Akteure vor Ort mit Waffen unterstützen und weil wir - das hoffe ich zumindest - davon überzeugt sind, dass es für diesen Konflikt keine militärische Lösung geben kann. Daher müssen wir alles
tun, um die Nachbarländer Syriens zu stabilisieren und
vor allem den Opfern, den Flüchtlingen zu helfen.
Herzlichen Dank.
({3})
Für Bündnis 90/Die Grünen spricht als nächster Redner der Kollege Omid Nouripour.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren heute im Deutschen Bundestag über die Situation
in Syrien und in den Nachbarstaaten. Es ist wichtig, dass
vom Hohen Hause aus auch ein Signal von Respekt und
Solidarität gerade an die Nachbarstaaten ausgeht, die in
diesen Wochen und Tagen Immenses auf sich nehmen.
({0})
Es wäre sehr schön gewesen, wenn wir einen gemeinsamen Antrag hätten stellen können. Der Antrag der Koalition enthält ja auch sehr viele Textteile, die mit unserem Antrag identisch sind. Das liegt daran, dass wir sie
geschrieben haben. Wir helfen gerne, wo es geht. Ich
finde es gerade in dieser Situation wirklich albern, dass
es Reflexe seitens der Koalition gibt, nicht einmal bei einem so basalen Thema der Humanität zusammen mit
den Linken einen Antrag zu machen. Unabhängig davon
will ich Ihnen sagen, warum wir Ihrem Antrag nicht zustimmen und keinen gemeinsamen hinbekommen haben.
Ihr Antrag hört genau da auf, wo es konkret wird. Ja,
Herr Minister, Sie haben völlig recht: Die EU muss mehr
tun, die EU muss mehr Flüchtlinge aufnehmen. Die anderen Staaten müssen mehr tun, müssen mehr Flüchtlinge aufnehmen. Ja, Kollege Annen, es ist richtig:
Deutschland muss mehr tun und auch mehr Flüchtlinge
aufnehmen. Aber genau diese Passagen wollten Sie nicht
in Ihren Antrag aufnehmen. Es reicht nicht, einfach immer nur auf die anderen hinzuweisen. Auch wir müssen
mehr tun, unbenommen davon, dass wir jetzt schon einiges tun.
({1})
Die Lage ist zum Verzweifeln. Nachdem wir erfahren
haben, dass die Vereinten Nationen wegen Syrien den
größten Hilfeaufruf ihrer Geschichte gestartet haben, haben wir dieser Tage Änderungsanträge zum Haushalt gestellt, in denen wir fordern, dass die Mittel für humanitäre Hilfe auf 400 Millionen Euro aufgestockt werden.
Das ist seitens der Koalition abschlägig beschieden
worden. Es gibt 6,5 Millionen Binnenflüchtlinge und
2,5 Millionen Flüchtlinge in den Nachbarstaaten. Es
geht mittlerweile nicht nur um Syrien, sondern um die
Stabilität einer gesamten Region.
Herr Minister, Sie haben auf Ihrer Jordanien-Reise
selbst gesagt, dass man alles dafür tun muss, dass die
Region nicht destabilisiert wird. Wenn man in den Libanon schaut, muss man feststellen, dass es dafür teilweise
leider zu spät ist. Man muss einfach sehen, welch eine
unvorstellbare Solidarität es teilweise von Mensch zu
Mensch gegeben hat. Im Libanon, in der Bekaa-Ebene,
in den engsten Häusern und Räumen haben die Menschen noch Leute aufgenommen. In Flüchtlingslagern
der Palästinenser - Kollege Annen hat zu Recht darauf
hingewiesen, in welch schwieriger Lage diese Flüchtlinge sind, auch im Libanon - sind mittlerweile auch syrische Flüchtlinge aufgenommen worden. Das ist ein
Grad an Solidarität, der hier unvorstellbar erscheint.
Aber diese Menschen brauchen jetzt mehr Hilfe, weil die
Infrastruktur in den Nachbarstaaten - im Libanon sieht
man es am gravierendsten - schlicht komplett überlastet
ist.
Herr Minister, es ist leider nicht so, dass die meisten
Kinder in die Schule gehen können. Die syrischen
Flüchtlingskinder sind meistens, zumindest im Libanon,
nicht in Schulen, und die Spannungen steigen; darauf ist
hingewiesen worden. Das sieht man beispielsweise auch
daran, dass die Visa der Flüchtlinge im Libanon jetzt
häufig nicht verlängert werden. Es gibt schon jetzt auch
im Libanon nahezu täglich Tote. Es gibt Gefechte und
größere Konflikte.
Die politischen Kräfte, die bisher mit unglaublicher
Weitsicht und aufgrund der Erfahrung eines eigenen jahrelangen Bürgerkriegs alles daransetzen, dass im Libanon der Bürgerkrieg nicht Einzug hält, sind am Rande
ihrer Kräfte. Gestern ist eine Präsidentschaftswahl im
Parlament im Libanon zum dritten Mal gescheitert. Natürlich darf man auch die Situation in Jordanien, im Irak
und in der Türkei nicht vergessen. Wasser, Strom, Wohnraum, Schulen und Krankenhäuser - es fehlt mittlerweile
an allem, weil keines dieser Länder mit der notwendigen
Geschwindigkeit so viel Hilfe leisten kann, wie notwendig wäre.
({2})
Weil man nicht vergessen darf, dass trotz dieser humanitären Katastrophen in den Nachbarstaaten die Situation in Syrien selbst deutlich dramatischer ist - sonst
würden die Leute ja nicht fliehen -, weil man sieht, dass
die Zahl der Toten in Syrien dermaßen dramatisch steigt,
dass die UN mittlerweile aufgehört haben, offiziell zu
zählen, ist es notwendig, zu schauen, was man tun kann.
Es ist klar, dass es in einer solchen Situation viele Akteure gibt, aber man muss auch deutlich sagen, dass es
einen Hauptverantwortlichen für die Massaker und für
die humanitäre Katastrophe in Syrien gibt, und das ist
Präsident Assad.
In einer Situation, in der wir nicht wissen, wie wir den
Konflikt in Syrien schnell befrieden können, da uns die
Mittel dazu fehlen und da uns mittlerweile ein Stück
weit auch die Ideen fehlen, müssen wir das tun, was wir
tun können: Wir müssen humanitäre Hilfe leisten, in Syrien und den Nachbarstaaten alles dafür tun, dass das
Leiden der Menschen zumindest gelindert wird, und verhindern, dass der Konflikt die gesamte Region erfasst.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({3})
Für die Bundesregierung spricht nun der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Ole Schröder.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wenn wir heute nach Syrien blicken, dann sind
wir entsetzt: über die Toten durch den Bürgerkrieg, über
Leid und Elend, über die Vertreibung. Die Menschen
verlieren ihre Lebensgrundlage; Existenzen werden zerstört. Mittlerweile sind mindestens 7 Millionen Menschen auf der Flucht, davon rund 4,3 Millionen innerhalb
Syriens. Circa 2,7 Millionen Menschen haben Syrien
verlassen. Sie halten sich zum größten Teil in den Anrainerstaaten, aber auch in Ägypten auf. Die Hälfte von ihnen - das dürfen wir nicht vergessen - sind Kinder.
Es geht darum, dieses unvorstellbare Leid zu mildern.
Hierfür ist zunächst einmal und vor allem Hilfe vor Ort
erforderlich. Es ist notwendig, die Menschen mit dem
Allernötigsten zu versorgen und vor allen Dingen die
Anrainerstaaten dabei zu unterstützen, insbesondere die
medizinische Versorgung, aber auch die Beschulung der
Kinder sicherzustellen. Genau das tut diese Bundesregierung. Seit Ausbruch des Bürgerkriegs geben wir
massive finanzielle Hilfen. Wir sind nach den USA das
zweitgrößte Geberland. Seit 2012 sind über 0,5 Milliarden Euro bereitgestellt worden.
Das THW leistet zudem vor Ort, in den Flüchtlingslagern in Jordanien und im Nordirak, tatkräftig Hilfe, insbesondere bei der Wasseraufbereitung. Mit der Unterstützung vor Ort erreichen wir die Masse der besonders
Hilfsbedürftigen am besten. Der Schwerpunkt der deutschen Flüchtlingshilfe sollte daher auch weiterhin vor
Ort gesetzt werden. Der Einsatz der Mittel ist hier besonders wirkungsvoll, und die meisten Menschen wollen
auch in der Region bleiben.
Natürlich suchen viele Menschen, die auf der Flucht
sind, auch in Deutschland Schutz. Wir stehen diesen
Flüchtlingen offen gegenüber. Seit dem Ausbruch des
Bürgerkriegs 2011 sind 36 000 Menschen aus Syrien
nach Deutschland eingereist, um hier Asyl zu beantragen. In Deutschland leben derzeit 66 000 Syrer. Etwa
1 700 neue Asylanträge kommen jeden Monat hinzu.
Darüber hinaus hat die Bundesregierung im letzten Jahr
für besonders schutzbedürftige Menschen ein Humanitäres Aufnahmeprogramm aufgelegt, um sie aktiv nach
Deutschland zu holen.
Unser Ziel war es, voranzuschreiten und auch andere
Länder zu bewegen, ähnliche Aufnahmeprogramme auf
den Weg zu bringen. Leider finden wir in Europa nur relativ zögerliche Nachahmer. Um das zu ändern, setzen
wir uns im Schulterschluss mit dem UN-Flüchtlingshochkommissar Guterres seit über einem Jahr für die
Einberufung einer Pledging-Konferenz zugunsten syrischer Flüchtlinge ein. Leider ist die Kommission unserer
Bitte, ein sogenanntes Pledging-Verfahren durchzuführen, bisher nicht nachgekommen.
({0})
Meine Damen und Herren, unser Humanitäres Aufnahmeprogramm war anfangs auch für das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen neu. Daher war seine
Umsetzung ausgesprochen schwierig. Anfangs musste
das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, das für
die operative Umsetzung zuständig ist, bis zu zwei Monate auf notwendige Unterlagen der Flüchtlinge warten.
Dann gab es das Problem, dass die libanesischen Sicherheitsbehörden für jeden Flüchtling eine Ausreisegenehmigung verlangt haben, allerdings ohne diese auch
schnell zu erteilen. Das alles hat zu Verzögerungen geführt. Letztlich ist die Aufnahme aus einem solchen Krisengebiet natürlich immer auch mit Sicherheitsrisiken
verbunden. Gerade im Libanon konnten Flüchtlinge
nicht zu den bereitgestellten Charterflugzeugen gebracht
werden, weil es die Sicherheitslage einfach nicht zugelassen hat.
Gleichwohl wird das erste Aufnahmeverfahren noch
im Mai abgeschlossen worden sein. Ich danke allen Mitarbeitern des UNHCR und auch der Caritas, aber auch
den Mitarbeitern des Bundesamtes für Migration und
Flüchtlinge sowie den Mitarbeitern des Auswärtigen
Amtes und des Bundesministeriums des Innern für ihre
tatkräftig geleistete Arbeit.
({1})
Trotz der Herausforderungen und der Schwierigkeiten, die beim ersten Aufnahmeprogramm aufgetreten
sind, haben wir uns entschieden, parallel ein zweites
Aufnahmeprogramm aufzulegen. Wir konzentrieren uns
jetzt nicht nur auf den Libanon, sondern nehmen insbesondere Verwandte von in Deutschland lebenden
Syrern aus allen betroffenen Anrainerstaaten und auch
aus Ägypten auf.
Nachdem die Länder ihre Aufnahmevorschläge an
das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge geschickt
haben, kommen wir nun gut voran. Das Bundesamt für
Migration und Flüchtlinge hat bereits mehr als ein
Drittel der teilnehmenden Personen identifiziert. Über
1 000 Aufnahmebescheide wurden schon an die deutschen Auslandsvertretungen übermittelt, sodass in den
nächsten Wochen mit zahlreichen Einreisen zu rechnen
ist. Mehr als hundert Personen sind bereits über das
zweite Aufnahmeprogramm eingereist.
Darüber hinaus ermöglichen die Bundesländer, dass
hier lebende Syrer ihre Verwandten nach Deutschland
holen können, wenn denn der Lebensunterhalt gesichert
ist. Auch über diesen Weg haben bereits mehr als
4 000 Syrer ein Visum für Deutschland erhalten. Wir
sind uns darüber im Klaren, dass es gerade für das Auswärtige Amt nicht einfach ist, die Situation vor Ort zu
bewältigen; aber dort wird wirklich alles getan, was
möglich ist.
Mit all diesen Maßnahmen ist Deutschland das Land
außerhalb der Krisenregion, das weltweit mit Abstand
die meisten Flüchtlinge aus Syrien aufnimmt. Meine
Damen und Herren, als Vorreiter werden wir uns auch
weiterhin international für die humanitäre Aufnahme
starkmachen. Auch national werden wir bei Erreichen
des Kontingents nicht mit der aktiven Aufnahme aufhören. Wir werden in den nächsten Wochen auch entsprechende Gespräche mit den Ländern führen.
Meine Damen und Herren, wir sollten uns bei aller
Notwendigkeit der Aufnahmeprogramme im Klaren
sein, dass wir die Not des Bürgerkriegs nicht hier in
Deutschland lösen können. Deshalb ist es nach wie vor
notwendig, dass wir unsere Hilfe vor Ort noch intensivieren. Dort erreichen wir die meisten Menschen, dort
können wir diese Not, dieses Elend am ehesten mildern.
Das Wichtigste bleibt natürlich, dass der Friedensprozess vorankommt. Nur wenn wieder Frieden herrscht,
wird es keine Flüchtlinge und keine Not und kein Elend
mehr geben.
({2})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Kollegin Annette Groth, Die Linke.
({0})
Danke. - Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und
Herren! Es wurde schon viel gesagt. Wenn wir über
syrische Flüchtlinge, Menschen in Not reden, möchte ich
ihnen jetzt einmal ein Gesicht geben; sonst ist das immer
so allgemein. Ich denke zum Beispiel an zwei junge
Syrer, Anfang zwanzig, in einem griechischen Polizeigefängnis mitten in Athen, die ich Anfang des Jahres getroffen habe. Sie hatten eine weite, gefährliche Reise
hinter sich gebracht, über die Türkei, und sind dann in
Athen aufgegriffen worden, gefesselt und ins Polizeigefängnis gesteckt worden. Der eine schaute mich nur an
und sagte: Ich dachte, Europa ist demokratisch, hier
herrschen die Menschenrechte, und die Menschenwürde
wird respektiert. - Was sollte ich da sagen? Ich sagte: Ja.
Wir versuchen zu helfen. Es ist nicht richtig, dass Sie
hier gefangen genommen worden sind.
({0})
Das waren nur zwei von sehr vielen, die ich in den
letzten Monaten in griechischen Haftanstalten bzw.
Flüchtlingsgefängnissen gesehen habe.
Ich denke aber auch an eine Syrerin, die mit einem
Deutschen verheiratet ist und jetzt in Syrien, in Damaskus, auf ihr Einreisevisum wartet. Es hat ein paar
Probleme gegeben, da die Heirat nicht nach deutschen
Standards erfolgt ist. Sie haben nämlich in Beirut geheiratet und lebten dann in Dubai. Dieses Land mussten sie
verlassen, nachdem er seine Arbeit verloren hatte. Er
ging zurück nach Deutschland, sie nach Syrien. Er hat
mittlerweile wieder eine Arbeit in Deutschland, und wir
hoffen, dass sie jetzt bald mit einem gültigen Visum einreisen kann.
Ich kenne Hunderte von Fällen - Sie kennen vielleicht auch ein paar -, bei denen es - Herr Schröder hat
es eben gesagt - an Kleinigkeiten fehlt. Eine Familie
hatte zum Beispiel bis auf ein kleines Papier der Krankenversicherung sämtliche Papiere zusammen. Und es
gibt sehr viele Papiere, die man neben einem hohen regelmäßigen Einkommen, einer Krankenversicherung
usw. nachweisen muss. Aufgrund eines kleinen fehlenden Papiers der Krankenversicherung dürfen Menschen
nicht einreisen.
({1})
Ich habe Sie gut gehört, Herr Annen und Herr
Dr. Schröder. Sie haben gesagt, wir müssten mehr
Flüchtlinge aufnehmen. Das ist schön. Ich werde das beobachten und immer wieder einfordern.
Ich habe mich oft gefragt: Was wäre bei uns in
Deutschland eigentlich los, wenn wir in den letzten zwei
Jahren 20 Millionen Flüchtlinge hätten aufnehmen
müssen? Das entspricht nämlich ungefähr der Relation
Bevölkerung/Flüchtlinge im Libanon. Dort ist jeder
Vierte ein Flüchtling. Was wäre auf Rügen oder Sylt los,
wenn jeden Tag - im Sommer besonders - Flüchtlingsboote aus der Türkei anlanden würden?
Vor Lesbos - dort war ich auch - ertrinken jeden Tag
Menschen. Das ist eine Schande! Es ist vor allen Dingen
eine absolute Menschenrechtsverletzung, wenn die
griechische Küstenwache, teilweise unterstützt durch
Frontex, Flüchtlingsboote wieder zurück in türkische
Gewässer schiebt, damit sie bloß nicht in griechischen
Gewässern landen und dort Hilfe benötigen. Das passiert
ständig. Pro Asyl und Amnesty International haben
kürzlich eindrückliche Berichte darüber verfasst. Das ist
eine Schande für Europa!
({2})
Europa muss also etwas tun. Wir müssen helfen und
auch mehr Flüchtlinge aufnehmen. Daneben müssen
auch die dringend notwendigen Finanzzusagen deutlich
erhöht werden. Bei einem Bedarf von mindestens
5,5 Milliarden Euro wurden 1,7 Milliarden Euro bewilligt. Auch das ist eine Schande!
Ich bedanke mich und hoffe, dass diese Debatte bei
uns hängen bleibt und uns verpflichtet, mehr Flüchtlinge
aufzunehmen und die Hürden deutlich zu senken.
Danke.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Achim Post für die
Sozialdemokraten.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Ich will einmal einen Aspekt
aus der Europadebatte aufgreifen, die vor dieser SyrienDebatte stattgefunden hat. Dort haben nämlich viele
Rednerinnen und Redner zu Recht auf den 8. Mai 1945
verwiesen.
An diesem 8. Mai 1945 gab es 500 000 Flüchtlinge
aus Deutschland, die besonders dankbar waren, dass sie
den Naziterror überlebt haben. Zu verdanken haben sie
das 80 Ländern, die sie aufgenommen haben. Wenn
Achim Post ({0})
diese 80 Länder das nicht getan hätten, dann wären die
meisten dieser 500 000 Menschen tot gewesen.
Deshalb ist die Bundesrepublik Deutschland - wir
sind jetzt stark und demokratisch - und sind die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes besonders in der
Pflicht, für Flüchtlinge aus aller Welt - und in diesem
Fall für Flüchtlinge aus Syrien - etwas zu tun.
({1})
Deshalb ist es gut, dass es in dem Antrag der Koalition darum geht, zu fragen: Wie können wir diesen
Flüchtlingen helfen? Wie können wir diesen Flüchtlingen besser helfen? Wie können wir den Nachbarländern
Syriens helfen? Wie können wir diesen Nachbarländern
besser helfen? Am Schluss des Koalitionsantrags stehen
acht konkrete Punkte, die ich alle unterstütze. Ich vermute, auch Sie unterstützen sie alle. Auf einen dieser
Punkte, der von einigen Vorrednern schon angesprochen
wurde, will ich besonders eingehen.
Was macht die Europäische Union? Herr Minister, Sie
haben darauf hingewiesen: Ich kenne keine EUProgramme für Syrien-Flüchtlinge. Ich kenne keine
verbindlichen Vereinbarungen aller EU-Staaten, keine
verbindlichen Zahlen. Deswegen unterstütze ich die
Bemühungen der Bundesregierung, vor allen Dingen die
des Innenministers, der seit Jahr und Tag auf eine EUFlüchtlingskonferenz über Syrien drängt, weil wir nur
dann, wenn es diese Konferenz gibt, darüber reden
können, wie ein faires Verfahren, ein transparentes Verfahren und auch ein demokratisches Verfahren organisiert werden kann.
Es ist gut, wenn Deutschland und Schweden viel tun.
Aber es ist nicht gut, wenn sehr viele sehr wenig oder
gar nichts tun.
({2})
Deshalb brauchen wir eine gesamteuropäische Lösung.
Wenn der jetzige EU-Kommissionspräsident, der nicht
mehr lange im Amt ist, dazu nicht fähig oder willens ist,
dann muss das eine der ersten großen Aufgaben des neu
gewählten EU-Kommissionspräsidenten werden.
({3})
Wir alle wissen - viele haben das betont -: Die syrischen Flüchtlinge bleiben langfristig auf weitere internationale Unterstützung angewiesen. Deshalb ist der
europäische Einsatz richtig, aber es ist auch richtig, dass
sich Bund und Länder langfristig darauf verständigen
und verpflichten müssen, das, was sie bisher geleistet
haben, zu verstetigen und noch mehr als bisher zu tun.
({4})
Ich muss an dieser Stelle sagen: So wie es - sagen wir
einmal - Ungerechtigkeiten zwischen den 28 europäischen Ländern gibt, gibt es sie auch zwischen den
16 deutschen Bundesländern. Es gibt viele Länder, die
viel tun, sehr viele sogar. Ich komme aus NordrheinWestfalen. Ich kann sagen: Mein Bundesland, meine
Ministerpräsidentin, mein Innenminister tun alles, um im
Rahmen des Länderaufnahmeprogramms möglichst vielen Menschen aus Syrien zu helfen. Ein anderes Beispiel
hierfür ist Niedersachsen. Es gibt 15 Länderaufnahmegesetze. Wir haben aber 16 Bundesländer. Ich vertraue
also darauf, dass eine mächtige Landesgruppe - ich
schaue jetzt nach rechts - hier im Deutschen Bundestag
dafür sorgt, dass wir bald 16 Länderaufnahmegesetze
haben; denn nur Bund und Länder gemeinsam können
diese Aufgabe bewältigen.
({5})
Zusammengefasst: Wir alle sind in der Pflicht: jede
einzelne von uns, jeder einzelne von uns, der Bund, die
Länder, die Europäische Union. Ich halte es für ein
Gebot der Solidarität, der Nächstenliebe und der
Menschlichkeit, dass wir unsere Anstrengungen weiter
verstärken.
Schönen Dank.
({6})
Herr Kollege Post, das war Ihre erste Rede hier im
Deutschen Bundestag.
({0})
Ich gratuliere Ihnen dazu und wünsche Ihnen viele weitere Reden hier im Hohen Hause.
Für unsere nächste Rednerin ist es nicht die erste
Rede. Ich erteile das Wort unserer Kollegin Claudia
Roth.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Syrien ist Schauplatz einer humanitären Katastrophe unbeschreiblichen Ausmaßes: entgrenzte Gewalt, totale Zerstörung, Abertausende Tote, darunter sehr viele Kinder,
die Hälfte der syrischen Bevölkerung vertrieben, auf der
Flucht. Es ist ein fast biblischer Exodus von Menschen
wie Sie und ich, die alles verloren haben.
Millionen von ihnen sind in den Nachbarländern gestrandet. In diesen Ländern, die völlig überfordert sind,
führt die humanitäre Katastrophe mehr und mehr zur
politischen Krise, zur Gefahr einer Destabilisierung und
zu einem Flächenbrand in der gesamten Region.
Libanon hat - Niels Annen hat es angesprochen 4,2 Millionen Einwohner, und schon jetzt sind dort über
1 Million syrische Flüchtlinge registriert. Hunderttausende palästinensische Flüchtlinge leben seit Jahrzehnten dort. Sie sind oft die Ärmsten der Armen. Deswegen
Claudia Roth ({0})
haben wir beantragt, die UNRWA besser auszustatten.
Es droht ein Kollaps der gesamten Infrastruktur im Libanon. Ob Bildung oder Gesundheit: Nichts geht mehr.
Wenn aber der Libanon auseinanderbricht, dann ist
auch das Modell eines multireligiösen Zusammenlebens
in einer Gesellschaft gescheitert. Das ist ganz sicher ein
Brandbeschleuniger für Fundamentalismus, Terrorismus
und den vermeintlichen Krieg der Religionen.
Jordanien ist eines der wasserärmsten Länder weltweit. Einige von uns waren im Lager al-Zaatari, ausgelegt auf 125 000 Menschen. Das ist jetzt schon die drittgrößte Stadt in Jordanien. Der UNHCR-Beauftragte
Kilian Kleinschmidt ist dort faktisch ein Bürgermeister.
Er baut eine Stadt auf, und er schildert eindringlich die
Herausforderungen. Er sagt, es müsse um sehr viel mehr
gehen als um die kurzfristige Aufnahme. Es wird damit
gerechnet, dass die Menschen zehn Jahre dort leben
müssen.
Also muss - auch mit unserer Unterstützung - verhindert werden, dass eine ganze Generation verloren geht.
Deshalb braucht es Erziehung, Schule, Sport und Kultur.
Es braucht so etwas wie Leben in Containern und Zelten,
und es braucht zum Beispiel Städtepartnerschaften wie
mit Amsterdam, das mit dem Lager eine Städtepartnerschaft unterhält und 5 000 Fahrräder geschickt hat.
({1})
Die Türkei hat 1 Million Menschen aufgenommen.
Über 200 000 Menschen werden in Lagern versorgt.
Viele andere prägen zum Beispiel das Stadtbild in Istanbul, übrigens nicht zuletzt viele Christinnen und Christen, die in diesem Krieg zwischen alle Fronten geraten
und voller Angst sind.
Lieber Gerd Müller, bitte vergessen Sie auch den Irak
nicht. In der kurdischen Region im Nordirak sind
350 000 Menschen mit großer Herzlichkeit aufgenommen worden. Sie haben dort das Recht auf Arbeit. Aber
auch diese Region ist an der Grenze ihrer Möglichkeiten
angekommen.
Ich werde die Trauer, die Verzweiflung, Angst und
Hoffnungslosigkeit der Menschen dort nicht vergessen.
Ich werde aber auch das Lachen der Kinder in diesen Lagern nicht vergessen, die doch nach all dem Terror und
Horror, den sie erlebt haben, ein Recht auf Zukunft haben.
({2})
Ja, Deutschland hilft. Gerd Müller hat schon vieles erwähnt. Man kann noch das THW, die Johanniter, das Behandlungszentrum für Folteropfer und die GIZ hinzufügen. Es ist gut, dass Gerd Müller sich als Minister vor
Ort ein Bild gemacht hat. Es war eine wunderbare Geste
und ein Zeichen, dass Präsident Gauck und Frau Schadt
ein Flüchtlingslager besucht haben. Das ist gut. Dennoch: Es reicht vorne und hinten nicht aus, auch wenn es
besser ist als das, was der Rest Europas mit Ausnahme
von Schweden tut.
({3})
Sie haben es sehr diplomatisch ausgedrückt. Ich hatte
das Gefühl, dass Europa jeden Tag aufs Neue erschreckend versagt, sich seiner humanitären Schutzverantwortung völlig verweigert und dadurch auch die Werte,
auf denen Europa basiert, deutlich infrage stellt.
({4})
Wir müssen sehr viel mehr tun und uns auch in Europa für sehr viel mehr einsetzen. Wir brauchen hier bei
uns die Bereitschaft, deutlich mehr Flüchtlinge aufzunehmen. Wir brauchen eine Erleichterung der Familienzusammenführung, mehr Mittel für die Soforthilfe und
eine nachhaltige Unterstützung der Nachbarregionen.
Es ist eine Tragödie, dass die Syrer Opfer eines brutalen Stellvertreterkrieges werden. Von Iran über Russland, Saudi-Arabien, Katar und USA bis zur Türkei: Sie
alle haben ihre Interessen, und die Syrer zahlen dafür mit
ihrem Leben.
Es ist brandgefährlich, dass die Opposition immer
mehr dominiert wird von islamistischen Terrorgruppen.
Besonders entsetzt haben mich die immer lauter werdenden Stimmen, die sagen: Assad ist sehr schlimm. Aber
sind die anderen nicht noch schlimmer? - Als wäre eine
menschenverachtende Diktatur ein Ausbund an Stabilität!
({5})
Auch wenn man es fast nicht aushalten kann: Es gibt
keine militärische Lösung. Deswegen brauchen wir eine
humanitäre Offensive und immer wieder Verhandlungen,
und zwar mit allen. Alle müssen sich an den Tisch setzen
und bereit sein, nicht ihre Interessen, sondern endlich
das Überleben der Menschen in Syrien im Auge zu haben. Es braucht - auch angesichts des Schattens der Ereignisse in der Ukraine - eine engagierte deutsche Politik für die Menschen, für das Ende der Gewalt und für
einen politischen Friedensprozess. Ich hätte mir sehr gewünscht, dass der Deutsche Bundestag in dieser Frage
einen gemeinsamen Antrag auf den Weg bringt. Vergesst
die Syrer nicht; denn Vergessen tötet.
({6})
Für die CDU/CSU spricht nun der Kollege Philipp
Mißfelder.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Zuerst zum Antrag. Liebe Kollegin Roth,
ich glaube, dass die Debatte schon zeigt, dass wir ein gemeinsames Anliegen haben. Es wäre sicherlich schöner
gewesen, wenn wir einen gemeinsamen Antrag verabschiedet hätten. Aber das ist am Ende an Nuancen und
nicht an fundamentalen Unterschieden gescheitert. Das
sollte man an dieser Stelle ruhig einmal erwähnen. Die
Textpassagen sind größtenteils gemeinsam erarbeitet
worden, Kollege Nouripour. Deswegen ähneln sich die
gestellten Anträge so sehr. Wir beide haben ganz zu Beginn darüber gesprochen, ob es nicht einen gemeinsamen Antrag geben könnte. Ich jedenfalls hätte mir einen
solchen Antrag gewünscht. Aber es hat nicht geklappt.
Die Debatte zeigt umso mehr, dass es unser gemeinsames Anliegen ist, den Menschen in Syrien zu helfen.
Ich möchte Kollegin Roth explizit unterstützen, gerade
vor dem Hintergrund des Genf-II-Prozesses, den wir uns
auch im Zusammenhang mit der Ukraine erhoffen und
der hoffentlich erfolgreicher ist als Genf I: Wir suchen
gewissermaßen nach Formaten, die dazu dienen, in Syrien einen politischen Prozess einzuleiten.
Erinnern wir uns. Zu Beginn des Syrien-Konflikts haben fast alle - inklusive meiner Person - hier im Deutschen Bundestag gesagt: Eine Friedenslösung kann es
nur ohne Assad geben. - Wir haben damals aufwendige
Treffen mit den „Friends of Syria“ arrangiert. Ich hatte
damals mit dem ehemaligen Außenminister Westerwelle
die Gelegenheit, engagierte Oppositionelle aus Syrien zu
treffen. Das hat uns die Hoffnung gegeben, dass das
Land nach einem blutigen Bürgerkrieg, der hoffentlich
bald beendet ist, einen Schritt nach vorne geht. Nichts
davon ist eingetreten. Assad ist noch da. Leider müssen
wir die Worte, die wir einst gesprochen haben, beiseiteschieben.
Des Weiteren hat die Opposition nicht die Stärke entfaltet, die wir uns erhofft hatten.
({0})
Diejenigen, die wir stärker unterstützen wollten, haben
größtenteils das Land verlassen. - Frau Jelpke, ich
möchte Ihren Zuruf aufgreifen. Wir haben bei „Friends
of Syria“ zu keinem Zeitpunkt Terroristen unterstützt.
Vielmehr haben wir diejenigen unterstützt, die sich um
eine demokratische Zukunft verdient gemacht haben;
das ist etwas vollkommen anderes. Dass dann von außen
zusätzliche Kräfte in das Land hineingekommen sind
und finanziell unterstützt wurden - und zwar gerade aus
der Golfregion -, hat die Situation erschwert. Daher ist
anzumerken, dass wir zu Beginn des Konflikts von ganz
anderen Voraussetzungen ausgegangen sind, als der Verlauf später gezeigt hat. Das muss man an dieser Stelle
konstatieren.
Herr Kollege Mißfelder, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Jelpke?
Nein. Ich habe ihren Zuruf schon aufgegriffen.
Letzter Punkt dazu. Ich bin der Meinung, dass nur
die Fortsetzung der politischen Gespräche hilfreich ist
und dass es in diesem Konflikt keine militärische Option gibt. Der humanitäre Beitrag ist umso wichtiger,
um die politischen Gespräche zu begleiten. Gerd
Müller hat - ebenso wie Staatssekretär Schröder - dankenswerterweise für die Bundesregierung deutlich gemacht, dass Deutschland dort vorbildlich handelt. Natürlich wünschen wir uns, dass alle anderen europäischen
Länder genauso handeln wie wir. Aber nicht in allen anderen Ländern ist die gleiche Bereitschaft vorhanden wie bei
uns. Da gerade mein Heimatland Nordrhein-Westfalen genannt wurde: Ich bin froh, dass insbesondere die Kommunen, die sich in der Regel in einer schwierigen finanziellen Situation befinden, die Menschen aus Syrien mit
offenen Armen empfangen. Das spricht für die Kultur
unseres Landes, und das sollte auch für andere europäische Länder Vorbild sein.
({0})
Aber der entscheidende Blick, was die Flüchtlingsproblematik angeht, richtet sich - das haben fast alle
Redner schon gesagt - auf die Nachbarländer. Es ist
schon angesprochen worden: Die Türkei leistet Erhebliches. In Jordanien sehen wir eine Situation, bei der man
sich, von außen betrachtet, nur noch wundert, warum es
da noch nicht zu größeren politischen Umwälzungen gekommen ist. Darauf müssen wir unseren politischen Fokus richten.
Auch der Irak ist angesprochen worden. Darauf
möchte ich etwas detaillierter eingehen. In Kurdistan, im
Nordirak, werden die Menschen mit offenen Armen
empfangen. Die Zentralregierung leistet aus meiner
Sicht noch keinen genügenden finanziellen Beitrag, um
den Nordirak stärker zu unterstützen. Der innerirakische
Konflikt, der dort stattfindet, darf nicht auf dem Rücken
der Menschen, vor allem der Christinnen und Christen,
die dort Zuflucht gefunden haben, ausgetragen werden,
weil sich Bagdad weigert, dort wesentlich mehr zu leisten, als es das bisher tut. Deshalb gilt unsere Solidarität
insbesondere der Regionalregierung von Kurdistan.
({1})
Auch Ägypten ist angesprochen worden. Ägypten hat
selber große Schwierigkeiten. Umso bemerkenswerter
ist es, dass sich die Ägypter an unsere Seite gestellt und
uns unterstützt haben.
Wie der Kollege Annen gesagt hat, handelt es sich um
eine der größten Tragödien unserer Zeit. Wir haben bisher kein Mittel gefunden, dieses Töten zu stoppen. Wenn
es auch Signale der Entspannung oder Hoffnungsschimmer an manchen Tagen gibt, so hat sich doch herausgestellt, dass Strukturen von außen aus geopolitischen
Gründen unterstützt worden sind, seitens der Golfstaaten, aber auch insbesondere seitens Russlands, und dass
wir in einer Situation sind, in der sich die Fronten verhärtet haben und der Konflikt in Syrien zu einem Stellvertreterkonflikt geworden ist.
Es besteht die große Gefahr, dass die Terroristen, die
von außen eingesickert sind, und die Islamisten, die jetzt
kampferprobt sind, bei einer Befriedung des Konflikts in
andere Länder zurückkehren, teilweise als Flüchtlinge
getarnt, und zur Destabilisierung der gesamten Region
beitragen. Weiterhin droht sich der Stellvertreterkrieg
auszuweiten.
Vor diesem Hintergrund glaube ich, dass es nicht nur
darum geht, heute die syrischen Flüchtlinge nicht zu vergessen, sondern auch darum, dass wir den Brandherd Syrien insgesamt im Blick behalten. Wir müssen uns einer
Sache bewusst sein: Dieser Konflikt ist noch nicht vorbei. Wir werden in Zukunft noch mehr leisten müssen,
und der politische Weg muss weiter beschritten werden.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({2})
Für die Sozialdemokraten erteile ich nun dem Kollegen Rüdiger Veit das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die heutige Debatte ist bemerkenswert. Ohne
Zensuren verteilen zu wollen, möchte ich sagen, dass
dieser Bundestag selten so einmütig im Ziel, zum Teil
auch so leidenschaftlich und übereinstimmend diskutiert
hat: ein wohltuender Auftakt von Bundesminister Müller
und viele andere engagierte Beiträge.
({0})
Wenn ich jetzt hier noch etwas hinzufüge, dann deshalb, um das Manko des bisherigen Antrags aufzugreifen, das der Kollege Nouripour zu Recht erwähnt hat. Es
fehlt eine klare Aussage in dem Antrag, was wir ganz
konkret für die Aufnahme der syrischen Flüchtlinge in
Deutschland tun sollen. Es wäre wünschenswert gewesen, wenn wir zugleich mit diesem eher außenpolitisch
zentrierten Antrag auch dazu hier hätten eine Aussage
treffen können.
({1})
Es wäre wünschenswert gewesen - wir sollten daran
arbeiten und nicht nachlassen -, dass das ganze Haus in
einem interfraktionellen Antrag auch hierzu etwas sagt,
nicht nur zur Außenpolitik und nicht nur zur Entwicklungspolitik; denn ich erinnere daran: Die Aufnahme
von Flüchtlingen ist eine gesamtstaatliche Aufgabe aller
drei Ebenen: des Bundes, der Länder und der Kommunen. Alle hier vertretenen Parteien sind auch in Landesregierungen vertreten. Wenn wir uns also mit einer
machtvollen Stimme gegenüber allen Landesregierungen Gehör verschaffen wollen, dann tun wir gut daran,
alle politischen Kräfte dieses Hauses zu bündeln. Deswegen appelliere ich an Sie, dass wir auch bei der Frage
der Aufnahme weiterer Flüchtlinge aus Syrien hier an einer gemeinschaftlichen Lösung arbeiten.
({2})
Die ist leider nicht so ganz einfach, sonst hätte sie
vielleicht schon in diesem Antrag stehen können oder
vielleicht Gegenstand eines innenpolitisch geprägten
Antrags sein können. Es gibt Verwerfungen nicht nur innerhalb der Europäischen Union. Darauf ist mehrfach
hingewiesen worden. Was sich die EU an der Stelle leistet, ist, wie Herr Bundesminister Müller gesagt hat, beschämend; ich füge hinzu: Es ist schändlich. Es ist gut
und richtig, dass wir mit gutem Beispiel vorangehen.
Aber es gibt eben auch ein erhebliches Ungleichgewicht in der Bundesrepublik selber. Ganz vorne dabei
mit Landesaufnahmeanordnungen und großzügiger
Handhabung der sogenannten Verpflichtungserklärungen der Verwandten sind etwa Nordrhein-Westfalen,
Niedersachsen und auch Baden-Württemberg. Einzelne
andere Bundesländer liegen mit sehr kleinen Aufnahmezahlen weit hinten. Bayern ist mit einem eigenen Landesaufnahmeprogramm bisher überhaupt nicht beteiligt.
Ich sage das nicht, um zu schimpfen. Ich sage das, um
dafür zu werben, dass auch in diesem Bundesland ein
eigenes Landesaufnahmeprogramm aufgelegt wird.
Dann können Bund und Länder gemeinsam überlegen,
wie sie in einer geschickten Ergänzung und Verteilung
der damit verbundenen Kosten und Lasten zu gemeinsamen Ergebnissen kommen. Im Endeffekt muss es natürlich heißen: Wir - gerade Deutschland, gerade auch
als Vorbild - haben alle Veranlassung, auch historische
Veranlassung, mehr zur Bewältigung dieser humanitären
Katastrophe zu tun. Dazu reichen die bisherigen Zahlen
in keiner Weise aus. Ich will hier bewusst trotzdem keine
anderen konkreten Zahlen in den Raum stellen.
Ich würde mir sehr wünschen, dass es zu mehr Engagement kommt. Ich würde mir auch wünschen, dass wir
zu einer gleichmäßigen Verteilung innerhalb Deutschlands kommen. Der Königsteiner Schlüssel hat sich hierfür schon in bester Weise bewährt. Vor allen Dingen
würde ich mir wünschen, dass die Flüchtlinge, egal ob
sie als Asylbewerber gekommen sind, ob sie über den
Weg einer Landesaufnahmeanordnung oder über das
Bundesprogramm gekommen sind, mit einem einheitlichen Status ausgestattet werden. Es wäre mein Appell,
mein Wunsch, meine Bitte und zugleich meine Einladung, dass wir alle daran gemeinsam arbeiten.
Wir haben das schon einmal geschafft: Wir haben in
einem einstimmigen Beschluss am 28. Juni des letzten
Jahres nach einer Delegationsreise des Innenausschusses
nach Griechenland und in die Türkei, bei der es auch um
diese Flüchtlingsfragen ging, hier eine gemeinsame
Position verabschiedet, die klar besagt hat: Wir verlangen mehr von Europa. Wir unterstützen das Bundesinnenministerium. Wir wollen insgesamt eine höhere Zahl
an Aufnahmen von Flüchtlingen aus Syrien.
Das Problem hat sich seitdem, wohlgemerkt was die
politische Diskussion angeht, nicht verändert und ist
nicht kleiner geworden; das hat auch der heutige Tag
gezeigt. Es ist in seiner menschlichen Dimension ganz
erheblich angewachsen, bis hin zur, wie ich sage, größten humanitären Katastrophe, zumindest in der Zeit, die
ich in der Politik aktiv bin und überblicke. Deswegen
besteht umso mehr Veranlassung, hier zu einer einheitli2752
chen Position zu kommen. Dafür werbe ich auch in
Richtung meines Koalitionspartners, aber auch aller
übrigen Beteiligten. Ich sichere noch einmal meine Unterstützung zu.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({3})
Abschließende Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Andrea Lindholz, CDU/CSU, der ich hiermit das
Wort erteile.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Seit meiner ersten Rede zum Thema Syrien
im März dieses Jahres hat sich die Situation leider kaum
verändert. Nach wie vor überschattet die Eskalation in
der Ukraine die humanitäre Katastrophe in Syrien. In
den deutschen Medien taucht die katastrophale Lage in
dem vom Bürgerkrieg zerstörten Land nur ganz selten
auf.
Der Zerfall des syrischen Staates fordert nach wie vor
täglich neue Todesopfer. Zahllose Menschen werden
verletzt, während 40 Prozent der syrischen Krankenhäuser nicht mehr funktionsfähig sind. 9,3 Millionen Syrer
sind innerhalb und außerhalb ihrer Heimat auf der
Flucht. Sie alle benötigen dringend humanitäre Hilfe.
Deutschland erfüllt seine humanitären Verpflichtungen und hilft massiv. Seit 2012 hat die Bundesregierung
über eine halbe Milliarde Euro für syrische Flüchtlinge
bereitgestellt. Damit gehört Deutschland zu den größten
bilateralen Geldgebern. Hieran wollen wir festhalten,
und wir dürfen da auch nicht nachlassen.
Unser Technisches Hilfswerk liefert praktische Hilfe
in den Flüchtlingslagern in Jordanien und im Nordirak.
Die Mitarbeiter des THW und aller anderen Hilfsorganisationen vor Ort leisten einen unschätzbaren Dienst für
Millionen von Flüchtlingen. Ihnen gebührt unser Dank.
Auch im Asylbereich macht sich das Engagement
bemerkbar. In Deutschland werden inzwischen rund
1 700 neue syrische Asylanträge pro Monat registriert.
Seit 2012 gibt es einen Stopp von Abschiebungen nach
Syrien. In den letzten Jahren sind über 36 000 Syrer nach
Deutschland gekommen. Damit hat sich die syrische Gemeinschaft in Deutschland mehr als verdoppelt. Zusätzlich haben wir zwei Sonderprogramme aufgelegt, mit
denen 10 000 besonders schutzbedürftige Syrer bei uns
Asyl erhalten. Deutschland nimmt damit zwei Drittel aller syrischen Flüchtlinge auf, die außerhalb der Region
Schutz finden.
Bayern, Herr Kollege Post, nimmt im Rahmen des
Bundesprogramms 1 520 Syrer auf. Das sind 15 Prozent
der Gesamtzahl und damit mehr, als jedes andere Bundesland aufnimmt. Staatsminister Herrmann hat bereits
angekündigt, dass Bayern auch weiterhin über das Maß
hinaus Syrer aufnehmen wird und statt auf unflexible
Landesprogramme auf eine Ausweitung des Bundesprogramms setzen will. In Bayern leben 4 600 Syrer.
Das sind 7 Prozent aller Angehörigen der syrischen
Community in Deutschland.
Unsere europäischen Partnerstaaten haben zwar ebenfalls Sonderprogramme aufgelegt. Allerdings kommen
alle EU-Staaten zusammen gerade mal auf ein Kontingent von 3 900 Sonderplätzen. Selbst große Länder wie
Frankreich und Großbritannien stellen nur 500 Plätze bereit. Das, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist
nicht länger hinnehmbar.
Vor diesem Hintergrund bittet die Koalition die Bundesregierung, unsere europäischen Nachbarn aufzufordern, mehr Verantwortung angesichts der humanitären
Katastrophe zu übernehmen. Das gilt sowohl in Bezug
auf die Ausweitung der Sonderkontingente außerhalb
der gewöhnlichen Asylverfahren als auch in Bezug auf
die Hilfe vor Ort in Syrien und den Nachbarstaaten. Hier
müssen insbesondere mehr Gelder für die humanitäre
Unterstützung zur Verfügung gestellt werden. Wir brauchen auf europäischer Ebene - das hatte ich im März
schon gesagt - endlich eine Syrien-Flüchtlingskonferenz. Auch wenn die schrecklichen Bilder der syrischen
Flüchtlingskinder nicht in unseren Medien auftauchen:
Es gibt sie doch. Das Elend ist groß, und Europa darf
hier nicht wegsehen.
({0})
Es kann nicht sein, dass unsere europäischen Partner
die Verantwortung speziell für Syrien und allgemein im
Asylbereich auf Deutschland abwälzen. Im letzten Jahr
wurden fast 30 Prozent aller Asylanträge innerhalb Europas in Deutschland gestellt. Binnen eines Jahres stieg
in Deutschland die Zahl der Asylanträge um 70 Prozent.
Angesichts dieser Zahlen ist es wichtig, dass wir die
im Koalitionsvertrag vereinbarte Beschleunigung der
Asylverfahren zügig umsetzen. Aussichtslose Asylverfahren müssen schneller als bisher abgeschlossen
werden. Wir würden damit zusätzliche Kapazitäten
schaffen, um für syrische Flüchtlinge schnell eine
Lösung zu finden, und wir würden die Situation in den
Kommunen verbessern. Die Kommunen erbringen nämlich die Hauptleistung bei der Aufnahme der Flüchtlinge, was nicht immer ganz einfach ist. Auch ich gehe
davon aus, dass wir weitere Flüchtlinge aus Syrien bei
uns aufnehmen werden und aufnehmen müssen.
Daher wollen wir Serbien, Mazedonien, BosnienHerzegowina, aber auch Albanien und Montenegro zu
sicheren Herkunftsstaaten erklären. Aus diesen Ländern
stammt heute mehr als ein Viertel aller Asylbewerber,
obwohl die Anerkennungsquote für diese Länder seit
Jahren bei quasi 0 Prozent liegt. Diese Länder sind sicher. Serbien bewirbt sich um eine EU-Mitgliedschaft.
Die serbische Regierung bittet selber darum, auch von
Deutschland endlich als sicheres Herkunftsland eingestuft zu werden.
Asyl in Deutschland, meine sehr geehrten Damen und
Herren, kann aber immer nur in begrenztem Umfang
eine Lösung für Flüchtlingskrisen bieten. Angesichts
von 43 Millionen Flüchtlingen weltweit wird der tatsächliche Bedarf an Asyl nie zu decken sein.
Vor diesem Hintergrund ist es richtig, dass wir den
Fokus auf die Unterstützung vor Ort legen, den Menschen direkt vor Ort helfen und für ein Dach über dem
Kopf, für sauberes Trinkwasser, für Essen und für medizinische Versorgung Sorge tragen.
Langfristig wird sich die Situation der syrischen
Flüchtlinge aber nur verbessern, wenn der Krieg in ihrer
Heimat beendet wird. Der Friedensprozess muss daher
mit allem Nachdruck und trotz aller Rückschläge weiterverfolgt werden. Wo die Gespräche enden und wo die
Waffen sprechen, da hat die Politik versagt, und das dürfen wir nicht akzeptieren.
Vielen Dank.
({1})
Vielen Dank, Frau Kollegin Lindholz.
Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über zwei An-
träge mit dem gleichlautenden Titel „Hilfe für die
Flüchtlinge aus Syrien - Unterstützung für die Nachbar-
staaten“.
Zunächst Tagesordnungspunkt 6 a. Abstimmung über
den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf
Drucksache 18/1333. Wer stimmt für diesen Antrag?
- Wer stimmt gegen diesen Antrag? - Wer enthält sich? -
Damit ist dieser Antrag mit den Stimmen der Koalition
gegen die Stimmen der Grünen bei Enthaltung der Lin-
ken angenommen.
Zusatzpunkt 3. Abstimmung über den Antrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/1335.
Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? -
Wer enthält sich? - Damit ist dieser Antrag gegen die
Stimmen der Grünen mit den Stimmen der Koalition bei
Enthaltung der Linken abgelehnt.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 24 a bis h so-
wie den Zusatzpunkt 4 auf:
24 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Abkommen vom 2. Dezember 2010 zwischen
der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten einerseits und Georgien andererseits
über den Gemeinsamen Luftverkehrsraum
({0})
Drucksache 18/1224
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum
Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur
Ausdehnung der Anwendung der Verordnung
({2}) Nr. …/2013 über ein Aktionsprogramm
in den Bereichen Austausch, Unterstützung
und Ausbildung zum Schutz des Euro gegen
Geldfälschung ({3})
auf die nicht teilnehmenden Mitgliedstaaten
Drucksache 18/1225
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({4})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Umsetzung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Sukzessivadoption durch
Lebenspartner
Drucksache 18/1285
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({5})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Einführung einer Länderöffnungsklausel zur
Vorgabe von Mindestabständen zwischen
Windenergieanlagen und zulässigen Nutzungen
Drucksache 18/1310
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit ({6})
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Achten Gesetzes
zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch - Ergänzung personalrechtlicher
Bestimmungen
Drucksache 18/1311
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({7})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Alexander S. Neu, Wolfgang Gehrcke, Jan
van Aken, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Henry-Kissinger-Stiftungsprofessur an der
Universität Bonn verhindern
Drucksache 18/1330
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({8})
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Vizepräsident Johannes Singhammer
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Alexander S. Neu, Wolfgang Gehrcke, Jan
van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Einrichtung einer Nelson-Mandela-Stiftungsprofessur für Friedenspolitik und Völkerrecht
Drucksache 18/1329
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({9})
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
h) Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht zur Umsetzung des Europäischen
Semesters 2013 und der Europa 2020-Strategie unter besonderer Berücksichtigung der
länderspezifischen Empfehlungen
Drucksache 17/14622
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({10})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Haushaltsauschuss
ZP 4 Unterrichtung durch die Bundesregierung
Stadtentwicklungsbericht 2012
Drucksache 17/14450
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit ({11})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten
Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Ich frage, ob Sie damit einverstanden sind.
- Ich sehe keine gegenteiligen Äußerungen. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 25 und Zusatzpunkt 5 auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu
Vorlagen, zu denen ebenfalls keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 25:
Beratung der Ersten Beschlussempfehlung des
Wahlprüfungsausschusses
zu Einsprüchen gegen die Gültigkeit der
Wahl zum 18. Deutschen Bundestag am
22. September 2013
Drucksache 18/1160
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen aller Fraktionen
angenommen.
Zusatzpunkt 5:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gerhard Schick, Manuel Sarrazin, Kerstin
Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
zu dem Vorschlag für eine Verordnung des
Europäischen Parlaments und des Rates zur
Festlegung einheitlicher Vorschriften und eines einheitlichen Verfahrens für die Abwicklung von Kreditinstituten und bestimmten
Wertpapierfirmen im Rahmen eines einheitlichen Abwicklungsmechanismus und eines
einheitlichen Bankenabwicklungsfonds sowie
zur Änderung der Verordnung ({12}) Nr. 1093/
2010 des Europäischen Parlaments und des
Rates
KOM({13}) 520 endg.; Ratsdok. 12315/1/13
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes
Für einen europäischen Bankenabwicklungsmechanismus und Bankenabwicklungsfonds
Drucksache 18/1340
Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Es enthält sich niemand. - Damit ist dieser Antrag gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen mit
den Stimmen der Koalition und der Linken abgelehnt.
Damit kommen wir jetzt zum Zusatzpunkt 6:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE
Ergebnisse des Treffens von Bundeskanzlerin
Dr. Angela Merkel mit US-Präsident Barack
Obama
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Jan Korte das Wort.
({14})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Seit Juni 2013 rollt die große NSA-Überwachungsaffäre. Was passierte seitdem? Am 12. Juni fährt
der damalige Innenminister Friedrich nach Washington,
wird allerdings sofort ohne Ergebnis wieder zurückgeschickt. Am 4. November 2013 fahren die Chefs von
BND und Verfassungsschutz nach Washington. Die
haben zumindest vom Thema Ahnung, haben aber auch
nichts herausgefunden, geschweige denn an dieser
Praxis etwas ändern können.
Dann kommt der damalige Kanzleramtsminister
Ronald Pofalla und erklärt die Affäre für beendet.
Schließlich, nachdem sie doch nicht beendet gewesen
ist, wird vorgeschlagen: Wir machen ein No-SpyJan Korte
Abkommen. Daraus ist nichts geworden. Nun haben
einige fälschlicherweise gehofft, dass, wenn die Bundeskanzlerin zu ihrem guten Kumpel Präsident Obama
fliegt, Klartext gesprochen und sich dann etwas ändern
würde. Das war leider eine große Fehleinschätzung.
Wie reagiert die Bundeskanzlerin auf diesen größten
Datenschutz- und Bürgerrechtsverletzungsskandal der
letzten Jahrzehnte, der im Übrigen ein Dauerangriff auf
unsere Grund- und Freiheitsrechte ist? Sie reagiert mit
völligem Desinteresse, ohne Mut, geschweige denn mit
irgendeiner Konsequenz. Das ist einer Bundeskanzlerin
und einer Bundesregierung bei der Dimension dieses
Skandals nicht angemessen.
({0})
Der Besuch bei Präsident Obama war die letzte
Chance, einmal Klartext zu reden und den USA deutlich
zu sagen: Solange unsere Bevölkerung massenhaft und
ohne einen Grund bespitzelt wird, gehen wir auch diplomatisch einen begrenzten Konflikt ein, weil wir das
nicht hinnehmen. - Diese Chance wurde leider vertan.
Stattdessen steht die Bundeskanzlerin wie ein Wackeldackel neben dem US-Präsidenten und tut gar nichts, sondern glänzt durch völliges Desinteresse. Das kann doch
nicht wirklich wahr sein, wie mit diesen Vorgängen umgegangen wird.
({1})
Es ist im Übrigen ganz interessant, dass einige der
ostdeutschen Genossinnen und Genossen - ich komme
ja aus dem Westen - mir erzählt haben, dass sie diese
Vorgänge an die alten Zeiten erinnern, als noch von der
unverbrüchlichen Freundschaft mit der Sowjetunion gesprochen wurde. Das sind in etwa dieselben Verhaltensweisen, die hier an den Tag gelegt werden. Das kann
auch einmal klar angesagt werden.
({2})
Es ist ebenfalls interessant, einmal zu untersuchen
und über die Frage nachzudenken: Woher kommt denn
diese Unterwürfigkeit? Woher kommt dieses Desinteresse? Woher kommt eigentlich dieses Achselzucken?
Dabei nähern wir uns logischerweise, von der Außenpolitik kommend, direkt der Innenpolitik. Der Kern für
die Unterwürfigkeit ist natürlich, dass diese und die vorherigen Bundesregierungen sowie die deutschen Geheimdienste Komplizen der NSA-Praxis sind. Das ist der
Grund für die Unterwürfigkeit: Man ist Komplize und
Gehilfe. Das gehört abgestellt, wie die Linke findet.
({3})
In diesem Zusammenhang wurde nicht von der Bundesregierung, von der ja in dieser Frage überhaupt gar
nichts zu erwarten ist, sondern verdienstvollerweise von
engagierten und kritischen Journalisten zum Glück sehr
viel aufgedeckt.
Ein zweiter Grund für diese Unterwürfigkeit, für dieses Beschwichtigen und Für-beendet-Erklären ist natürlich auch, dass Deutschland schon lange nicht nur an den
offenen, sondern auch an den geheimen Kriegen der
USA, die von deutschem Boden mit vorbereitet und
durchgeführt werden, aktiv beteiligt ist. Das ist der eigentliche Skandal. Es wäre das Mindeste, damit endlich
aufzuhören.
({4})
Ich habe mich bei unseren Außenpolitikern ein wenig
kundig gemacht. Man kann da logischerweise vielleicht
nicht ganz so deutlich reden, wie ich das jetzt tue - ich
bin ja heute noch sehr zurückhaltend -,
({5})
sondern man muss bestimmte Dinge beachten. Das kann
ich alles verstehen. Aber man hätte in Washington ja zumindest eines tun können, Frau Bundeskanzlerin: Sie
hätten sich zum Beispiel mit Jimmy Carter, dem ehemaligen demokratischen Präsidenten, treffen können, der
zur NSA-Praxis sehr deutlich etwas gesagt hätte. Sie hätten sich symbolisch mit vielen Kongressabgeordneten
treffen können, die im Kongress dafür sorgen wollen,
dass der Datenschutz und die Bürgerrechte eingehalten
werden. All das hätten Sie tun können. Sie hätten deren
Kritik aufnehmen können, wenn Sie selber schon nicht
in der Lage sind, diese Kritik zu formulieren. Auch das
haben Sie leider sträflich vernachlässigt, was wir sehr
bedauern.
({6})
Es wäre wirklich notwendig und anerkennenswert gewesen, wenn Sie sich ein Beispiel an der brasilianischen
Staatspräsidentin Dilma Rousseff genommen hätten. Die
hatte nämlich den Mumm, in Anwesenheit von Präsident
Obama Klartext zu reden und unverblümte Kritik zu äußern. Das ist richtig. Brasilien hat daran gearbeitet, ein
eigenes Verschlüsselungssystem einzuführen. Auch in
dieser Hinsicht bei Merkel und dieser Bundesregierung
totale Fehlanzeige! In Brasilien wurde von der Präsidentin
eine Internetverfassung auf den Weg gebracht, wurden Internetgrundrechte formuliert. Das wäre der richtige Weg
gewesen. Sie hätten die brasilianische Präsidentin in ihrem Engagement gegen diese massenhafte Grundrechtsverletzung unterstützen müssen. Es kam nichts. Sie lassen sie im Regen stehen. Das ist doch nicht hinnehmbar.
Das ist nicht zu fassen.
({7})
Um abzuschließen: Bei der Bundeskanzlerin ist es ja
mittlerweile so, dass sie die normalen irdischen Gefilde
verlassen hat. Sie schwebt schon mehrere Meter über
dem realen Leben und ist in ihrer präsidialen Art kaum
noch ansprechbar für unsere irdischen Probleme hier. Es
geht aber nicht darum, als Bundeskanzlerin einfach Bundeskanzlerin zu sein; vielmehr sind die Bundeskanzlerin
und die Bundesregierung dem Grundgesetz und dem
Schutz der Rechte der Bürgerinnen und Bürger verpflichtet. Dem kommen sie nicht einmal ansatzweise
nach. Deswegen ist eine radikale Umkehr in dieser Politik dringend notwendig, um unsere Grund- und Freiheitsrechte, die unter großen Opfern erkämpft worden
sind, endlich zu schützen. Das ist Ihre Aufgabe. Da haben Sie vollkommen versagt.
({8})
Für die CDU/CSU-Fraktion erteile ich nun das Wort
der Kollegin Elisabeth Motschmann.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Korte, Sie haben das Thema total verfehlt.
({0})
Sie haben eigentlich nur über die NSA geredet, aber Ihre
Aktuelle Stunde hat ein anderes Thema.
({1})
Sie sagten über das Treffen: großer Aufwand und kein
Ergebnis.
({2})
Im Übrigen weise ich, lieber Herr Korte, Ihre Äußerung,
dass wir Komplizen der NSA sind, hier in aller Deutlichkeit zurück.
({3})
Wer die Ergebnisse des Treffens von Bundeskanzlerin
Angela Merkel und US-Präsident Barack Obama - darum geht es in dieser Aktuellen Stunde - bewerten will,
muss sich zunächst den weltpolitischen Hintergrund dieser Reise ansehen. Wir alle blicken in großer Sorge auf
die Ukraine. Die Lage dort ist ernst, sehr ernst. Außenminister Frank-Walter Steinmeier hat gestern in der Aktuellen Stunde sehr deutliche Worte gefunden - ich habe
das genau mitgeschrieben -:
Die Lage … ist furchtbar.
Die Nachrichten sind erschreckend.
Die Ereignisse seien dramatisch, hat er gesagt. Und:
Dann stehen wir auf unserem Kontinent … an der
Schwelle zu einer Konfrontation.
So weit Frank-Walter Steinmeier. Er hat gleichzeitig
aber auch betont, dass es ihm nicht darum geht, Ängste
zu schüren, sondern darum, die Lage ehrlich zu schildern. Auch andere Krisenherde in der Welt sind uns sehr
wohl bekannt: Syrien, Afghanistan und Afrika, wo es
jede Menge Unruhen gibt.
Vor diesem Hintergrund und angesichts dieser Lage
hat die Bundeskanzlerin mit ihrer Reise wichtige Signale
gesetzt: Sie unterstreicht und festigt das Bündnis mit
Amerika. Sie dokumentiert, die transatlantischen Beziehungen sind intakt. Sie betont, dass ungeachtet aller Differenzen - ich komme darauf noch zu sprechen Deutschland und die USA enge Verbündete, ja auch
Freunde bleiben. Das ist das erste Ergebnis dieser Reise.
Diese Signale werden von Barack Obama geteilt. Er hat
gesagt:
Deutschland ist einer unserer engsten Verbündeten
und unserer engsten Freunde.
({4})
Die Linken haben ja noch nie sehr viel von unserem
amerikanischen Bündnispartner gehalten, noch nie.
({5})
Damit isolieren Sie sich in diesem Haus.
Auch das kritische Thema NSA darf doch nicht dazu
führen, dass wir vergessen - ich bitte Sie, darüber einmal
nachzudenken -, was wir diesem Bündnis zu verdanken
haben.
({6})
Ich will Ihnen das in Stichworten sagen - fünf Minuten
Redezeit sind leider sehr kurz -: Frieden und Sicherheit
nach dem Zweiten Weltkrieg, Aufbauhilfe, Marshallplan,
({7})
Unterstützung bei der deutschen Einheit, zuverlässiger
Partner in der NATO, wichtiger Handelspartner. Meine
Damen und Herren, gerade in Krisenzeiten ist die Wertegemeinschaft, die uns verbindet, von ganz großer Bedeutung. Sie ist die Grundlage für Frieden, Freiheit und
Wohlstand in unseren Ländern und in der gesamten
westlichen Welt.
Merkel und Obama haben Einigkeit und Geschlossenheit gegenüber Russland in der Ukraine-Frage gezeigt.
Das ist das zweite wichtige Ergebnis der Reise. Darüber
haben Sie gar nicht geredet.
({8})
Die Kanzlerin und der amerikanische Präsident verurteilen das Vorgehen Putins auf der Krim und in der
Ukraine. Beide sprechen von Völkerrechtsbruch. Beide
bekräftigen die Notwendigkeit weiterer Sanktionen.
Beide sind sich einig, dass man die Ukraine unterstützen
muss, auch mit finanziellen Mitteln. Beide sind sich aber
auch einig, dass alle diplomatischen Möglichkeiten genutzt werden müssen, um die Lage zu deeskalieren. Es
muss eine politische und darf keine militärische Lösung
geben. Darin sind sie sich vollkommen einig. Diese Einigkeit, dieser Schulterschluss bei dem zentralen und
wichtigsten Thema des Treffens ist ein großer Erfolg,
lieber Herr Korte. Diese Einigkeit ist genau das richtige
Signal an den russischen Präsidenten Wladimir Putin.
Ja, es gab auch kritische Themen. Dazu gehört die
Abhöraffäre. Differenzen sind auch unter Freunden
möglich, übrigens auch nötig. Streit gibt es in jeder Familie, auch in der politischen Familie. Die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen zwischen berechtigtem Sicherheitsinteresse und notwendigem Schutz der Privatsphäre
muss gewahrt bleiben. Genau das hat die Bundeskanzlerin auch gesagt.
({9})
Sie hat erneut ein No-Spy-Abkommen gefordert.
({10})
Die Umsetzung dieser Forderung allerdings ist nicht ihre
Sache - sie regiert hier und nicht in Amerika -,
({11})
sondern dies ist die Sache Amerikas und Barack
Obamas.
({12})
Wenn Sie dort hingereist wären, Herr Korte, dann hätten
wir erst recht kein No-Spy-Abkommen.
({13})
Liebe Kollegin Motschmann, Sie denken daran, dass
das Zeitformat der Aktuellen Stunde die fünf Minuten
sind.
Lieber Herr Präsident, heute ist meine fünfte Rede,
heute ist mein fünftes Enkelkind geboren; da reichen
fünf Minuten nicht ganz.
({0})
Das Freihandelsabkommen bleibt ein offener Punkt,
obwohl beide Seiten es grundsätzlich bejahen. Angela
Merkel hat für einen zügigen Abschluss des Abkommens zwischen der EU und den USA geworben.
Meine Damen und Herren, ich schließe und sage ganz
klar: Das Treffen der beiden hat gute Ergebnisse gebracht. Die Freundschaft beider Staaten wurde gefestigt.
Wir können einmal mehr sehen, dass in der Außenpolitik
die Linken alles andere als vernünftig und verantwortungsvoll sind.
Vielen Dank.
({1})
Ich darf an dieser Stelle zur Geburt des Enkelkindes
herzlich gratulieren, Frau Kollegin Motschmann.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Omid Nouripour,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin Merkel hat in Washington die transatlantische
Wertegemeinschaft beschworen. Das finde ich richtig. Es
gibt eine Wertegemeinschaft, die Gemeinsamkeiten hat,
wie zum Beispiel pluralistische Demokratie oder Rechtsstaatlichkeit. In die Außenpolitik übersetzt heißt das,
dass internationale Regelwerke einzuhalten sind. Diese
Wertegemeinschaft ist herausgefordert, heutzutage beispielsweise in Syrien oder in der Ukraine. Die transatlantische Antwort darauf müsste sein, sich auf die gemeinsamen Werte, die wir haben, zurückzubesinnen.
Aber wir müssen feststellen, dass es noch eine weitere
Herausforderung gibt: die lange Liste praktischer Politiken der Vereinigten Staaten von Amerika, die genau diesen Werten nicht entsprechen. Dies bringt sehr viele Fragen mit sich. Frau Merkel ist nicht mit Antworten,
sondern mit leeren Händen zurückgekommen.
Zur NSA wird der Kollege Ströbele nachher mehr sagen. Erlauben Sie mir jetzt nur die Anmerkung, dass es
nicht nur um das Mobiltelefon der Bundeskanzlerin
geht, sondern vielmehr um uns alle, die wir überwacht
werden.
({0})
Die Frau Bundeskanzlerin hat nicht einmal darauf beharrt, Akteneinsicht in ihrem eigenen Fall zu fordern,
oder darauf, dass die Akte vernichtet wird.
({1})
Es gab den Irakkrieg, der dem Völkerrecht nachhaltig
Schaden zugefügt hat. Es gibt den Drohnenkrieg der
Amerikaner in Pakistan, der völkerrechtswidrig ist; er
findet nicht nur dort, sondern auch im Jemen und in Somalia statt. In Pakistan reden wir über 2 500 Tote; Hunderte Kinder sind darunter. Das ist nicht nur ein Völkerrechtsbruch, sondern es ist ein riesengroßer strategischer
Fehler im internationalen Kampf gegen den Terrorismus.
Es gibt Studien noch und nöcher, die belegen, dass dieser
Drohnenkrieg ein großer Helfer für Extremisten ist, um
Menschen anzuwerben.
({2})
Zeugen wie der ehemalige Pilot von Kampfdrohnen
Brandon Bryant sagen glasklar: Das, was die Amerikaner machen, wäre ohne das, was in Deutschland zum
Beispiel in Ramstein passiert, in der Form überhaupt
nicht möglich.
({3})
Die Bundesregierung ist aufgefordert, wenigstens die
richtigen Fragen zu stellen, und natürlich muss sie auch
dafür sorgen, dass das nicht passiert; denn das ist eine indirekte Beteiligung am Völkerrechtsbruch.
Wir haben Guantánamo. Seit fünf Jahren sagt der USPräsident nicht nur, dass Guantánamo geschlossen wer2758
den muss. Er selbst sagt auch, dass „Guantánamo der
moralischen Autorität“ der USA „geschadet hat“. Es
sind immer noch 150 Personen dort. Das hat mit unserem gemeinsamen Verständnis von Rechtsstaatlichkeit
nichts zu tun.
Wir haben die Verhandlungen über das Freihandelsabkommen TTIP. Ja, TTIP ist eine riesengroße Chance,
({4})
für Arbeitsplätze, für die Märkte auf beiden Seiten, wenn
es im Ergebnis dazu führt, dass ökologische und soziale
Standards angehoben werden, und es ein transparentes
Verfahren gibt. Das, was wir bisher haben, wird dem
nicht gerecht. Deshalb brauchen wir einen Neustart bei
TTIP.
({5})
Bei Partnerschaften und Freundschaften können Differenzen bestehen - da hat die Kollegin Motschmann
völlig recht -; aber sie werden nicht beseitigt, wenn man
sie nicht anspricht.
({6})
Wenn es Fragen gibt - noch einmal: wir haben sehr viele
Fragen an die Amerikaner -, dann braucht man Antworten. Aber die Antworten wird man nicht bekommen,
wenn man die Fragen nicht stellt.
({7})
Das ist nicht geschehen. Die Frau Bundeskanzlerin - ich
habe es schwarz auf weiß - beharrt nicht einmal darauf,
dass ihre persönliche NSA-Akte vernichtet wird. Dann
kann man nicht davon sprechen, dass sie nach Amerika
gefahren ist, um eine Aufklärung herbeizuführen. Das ist
schlicht nicht geschehen.
({8})
Jetzt will ich etwas zu den Ausführungen des Kollegen Korte sagen; denn es gibt doch einen kleinen Unterschied zwischen der Sowjetunion damals und den USA
heute. Darin ist auch die Partnerschaft und die Freundschaft zu den Vereinigten Staaten von Amerika begründet, die ich bezeugen würde. Wenn es um die Positionen
geht, die ich gerade benannt habe, gibt es nicht nur in der
amerikanischen Zivilgesellschaft Hunderte und Tausende von Menschen, sondern auch im Kongress zig Abgeordnete, die unsere besten Partnerinnen und Partner
und Verbündeten sind,
({9})
die gemeinsam mit uns dafür kämpfen, dass diese riesige
Überwachungsmaschinerie endlich gezügelt wird, dass
es ein Freihandelsabkommen gibt, das gewissen Standards entspricht, dass Guantánamo geschlossen wird.
Weil wir solche Partner haben, ist es richtig, von einer
Wertegemeinschaft zu sprechen. Diese Wertegemeinschaft wird aber unterspült, wenn wir Double Standards
setzen. Deswegen muss man diese Double Standards gerade in diesen Zeiten klar benennen und gemeinsam versuchen, sie abzuschaffen.
Wir brauchen die Amerikaner. Aber wenn man sich in
der Welt umschaut, dann erkennt man, dass es nicht allzu
viele andere potenzielle Partnerstaaten für die USA gibt,
die so viele Gemeinsamkeiten aufweisen, die dieselben
Werte verfolgen, etwa Rechtsstaatlichkeit und pluralistische Demokratie. Man muss also feststellen: Die Amerikaner brauchen uns genauso. Deshalb ist es ohne Probleme möglich, mit den Amerikanern offen und ehrlich
zu sprechen und die richtigen Fragen zu stellen. Das
muss die Bundesregierung endlich tun.
({10})
Als nächstem Redner erteile ich dem Kollegen
Dr. Rolf Mützenich, SPD, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
besteht kein Zweifel: Die NSA-Affäre hat die Beziehungen zwischen den USA und Deutschland nachhaltig beschädigt. Ich glaube, dass wir dies vonseiten des Deutschen Bundestages schon mehrfach ausreichend
diskutiert und festgestellt haben. Ich muss aus meiner
persönlichen Sicht sagen: Es hat sich auch mein Bild
von Präsident Obama verändert. Ich glaube schon, dass
er zumindest damals, als er vor seiner ersten Amtszeit
als Präsidentschaftskandidat der Demokraten antrat, in
diesem Zusammenhang zumindest gegenüber uns, gegenüber Europa, ein anderes Bild vermittelt hat.
({0})
Auch das gehört zu einer offenen Diskussion dazu, und
deswegen sagen wir es hier.
Wenn Sie hier ehrlich debattieren wollen, müssen Sie
aber auch zur Kenntnis nehmen, dass die Bundeskanzlerin in der gemeinsamen Pressekonferenz mit Präsident
Obama auf die Meinungsunterschiede hingewiesen hat.
Sie hat sehr deutlich gemacht, dass es hier Differenzen
zwischen der Auffassung der Bundesregierung und der
Auffassung der Administration gibt. Sie hat gerade auch
vor amerikanischem Publikum die ernsthaften Versuche
dargestellt - sie sprach über den Cyberdialog und die
Möglichkeiten, die die EU gerade nach der Neuwahl des
Europäischen Parlamentes nutzen sollte -, gemeinsam
mit den USA zu einem anderen Verhalten zu kommen.
Meine Kollegen Saskia Esken und Christian Flisek werden sich in dieser Aktuellen Stunde noch mit diesen Fragen, auch im Hinblick auf den Untersuchungsausschuss,
befassen.
Es war gut, dass sich die Bundeskanzlerin auch mit
Mitgliedern des Kongresses getroffen hat, weil gerade
dort die Kritik am Verhalten der Geheimdienste - spätesDr. Rolf Mützenich
tens zu dem Zeitpunkt, als bekannt wurde, dass auch der
Kongress offensichtlich von Geheimdiensten abgehört
wurde - gewachsen ist. Es wurden letztlich auch Ermutigungen ausgesprochen, da nur so die Voraussetzung dafür geschaffen werden kann, dass sich das Verhalten der
USA verändert.
In der Tat - das wurde schon von einigen angesprochen - war das entscheidende Thema die Ukraine. Niemand in Deutschland hätte es der Bundeskanzlerin abgenommen, wenn sie zu diesem Zeitpunkt dieses Thema
nicht zum Schwerpunkt ihrer Washington-Reise gemacht hätte. Durch die Geschehnisse in der Ukraine
werden die Prinzipien der europäischen Friedensordnung erschüttert. Möglicherweise wird eine Zeitenwende eingeläutet. Deswegen war es richtig, dass das
Thema Ukraine Schwerpunkt der Diskussion war. Wir
brauchen einen vertrauensvollen, aber auch intensiven
Austausch. Möglicherweise gibt es unterschiedliche
Auffassungen, unterschiedliche Sichtweisen; aber das
gibt es zwischen Partnern.
Nebenbei bemerkt: Es war gut, dass die Bundeskanzlerin - zumindest habe ich das gelesen - ebenfalls über
Syrien und die Herausforderungen der iranischen Atomkrise gesprochen hat. Hier wird deutlich: Der Besuch
war nicht nur erwünscht, sondern er war dringend notwendig und fand zum richtigen Zeitpunkt statt, weil wir
in den nächsten Wochen und Monaten wichtige Entscheidungen in diesem Bereich zu treffen haben.
Deutschland ist ein unverzichtbarer Partner für die USA
und insbesondere für die internationale Staatengemeinschaft. Wann, wenn nicht bei einem solchen Arbeitsbesuch, soll das besprochen werden?
Ich bin froh, dass die Bundeskanzlerin keine Schaufensterdiplomatie betreibt und irgendetwas erklärt, was
zum Schluss vielleicht doch nicht eingehalten wird.
Vielmehr widmet sie sich intensiv den Differenzen, aber
letztlich auch den Übereinstimmungen. Das ist verantwortungsvolle Außenpolitik
({1})
und keine Kommentierung, wie der Außenminister in
München zu Recht gesagt hat, von der Außenlinie.
Wir stellen uns der Aufgabe, eine verantwortungsvolle Außenpolitik zu machen, die versucht, mit diplomatischen und zivilen Mitteln, mit Klugheit, aber auch
mit Besonnenheit auf die innenpolitische Diskussion
auch in den USA einzuwirken. Das haben Sie bei Ihrer
Rede zu diesem Thema vollkommen ausgeblendet. Es ist
wichtig, was die Bundeskanzlerin in den USA gesagt
hat. Es gibt nun einmal Differenzen aufgrund anderer
historischer Erfahrungen, zum Beispiel in Bezug auf
Sanktionen. Wir als Deutsche wollen als Verantwortliche
in der Außenpolitik Europas deutlich machen, dass wir
Russland trotz aller Differenzen für eine gemeinsame
europäische Friedensordnung brauchen. Vielleicht ist es
auch nicht schlecht, Präsident Obama zu ermutigen, weiterhin auf den Ausbau der Raketenabwehr, zumindest
der vierten Stufe, zu verzichten. Es wäre gut, wenn wir
die USA überzeugten, den NATO-Russland-Rat als
wichtiges Dialogforum ernst zu nehmen. Insbesondere
für die konventionelle Abrüstung in Europa braucht es
eine konstruktive Haltung der USA. Dafür treten wir Sozialdemokraten ein.
Wir hatten nie zu viel Entspannungspolitik. Wir brauchen sogar mehr Entspannungspolitik, gerade in diesen
Zeiten.
Vielen Dank.
({2})
Nächster Redner für die CDU/CSU ist der Kollege
Thorsten Frei, dem ich hiermit das Wort erteile.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Linke hat
diese Aktuelle Stunde beantragt, um eine Bewertung des
Amerika-Besuches unserer Bundeskanzlerin vorzunehmen. Ich schließe mich der überwiegenden Mehrheit der
bisherigen Redner an und sage: Dieser Besuch war erstens richtig, zweitens ein Erfolg und ist drittens zur richtigen Zeit erfolgt.
({0})
Natürlich ist richtig, dass im vergangenen Jahr die
Massenüberwachung durch die NSA in Deutschland Gesellschaft und Medien erschüttert hat.
({1})
Auch wir sind der Auffassung, dass es mit unseren Maßstäben von Rechtsstaatlichkeit nicht vereinbar ist, massenhaft Daten und Informationen abzugreifen, ohne dass
es dafür irgendeinen Grund oder auch nur irgendeinen
Verdachtsfall gibt. Das haben wir damals gesagt, und das
sagen wir heute. Da reden wir nichts schön. Auch wenn
wir zur Kenntnis zu nehmen haben, dass auch in Amerika eine Debatte darüber in Gang gekommen ist und es
auch dort Widerstände gegen diese gängige Praxis der
Überwachung gegeben hat, ist natürlich festzustellen,
dass die Bewertung des Spannungsverhältnisses zwischen Freiheit und Sicherheit diesseits und jenseits des
Atlantiks unterschiedlich austariert und aufgelöst wird.
Das ist zutreffend.
Ich plädiere dafür, dass wir nicht blauäugig und illusionär an diese Debatte herangehen, sondern uns bewusst
machen, dass es gängige Praxis von Diensten weltweit
ist, Informationen zu beschaffen, um dadurch ein gutes
Stück weit ihrer exekutiven Verantwortung, Sicherheit
für die Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten, eigene
Interessen zu verfolgen, aber auch für Werte einzustehen, nachzukommen. Auch das dürfen wir in dieser Debatte nicht vergessen. Genauso wenig dürfen wir vergessen - auch das ist schon angesprochen worden -, dass es
unter Freunden auch Meinungsverschiedenheiten geben
darf. Die gibt es in diesem Fall. Diese hat die Bundeskanzlerin, auch wenn Sie es negieren, deutlich angesprochen, und zwar nicht erst bei diesem Besuch, sondern
bereits vielfach in den vergangenen Monaten. Ich
glaube, dass gute Partnerschaften und Freundschaften es
aushalten müssen - sie tun es in diesem Falle auch -,
dass man diese unbequemen Wahrheiten und auch die
Kritik anspricht, die berechtigterweise im Raum stehen.
Kluge und verantwortungsvolle Außenpolitik muss
letztlich über den Tag hinaus denken, muss letztlich auch
Verantwortung übernehmen für das, was kommt. Deswegen ist es falsch, aus einer Empörungshaltung heraus
Außenpolitik mit dem Bauch zu machen. Es wäre sehr
viel klüger, den Kopf einzuschalten. Genau das tun die
Bundesregierung und die Bundeskanzlerin ganz persönlich.
({2})
Wer glaubt denn im Ernst, dass die Herausforderungen,
beispielsweise in der Ukraine - sie sind vom Kollegen
Mützenich angesprochen worden -, in Afghanistan, im
Iran, in Syrien oder Nahost nachhaltig ohne die Unterstützung der USA zu lösen sind? Im Gegensatz zu Ihnen
sagen wir: Wir müssen in der Außenpolitik eine größere
Verantwortung, entsprechend unserer wirtschaftlichen
Leistungsfähigkeit und Größe, übernehmen. Man kann
sich nicht vom Acker machen, wenn es schwierig wird
und, wenn die Amerikaner die Aufgabe übernehmen, sie
auch noch kritisieren. Das ist einfach nicht in Ordnung.
Das müssen wir an dieser Stelle deutlich sagen.
Die Verflechtung zwischen den USA und Deutschland, die Nähe zu den USA ergibt sich aus unserer Geschichte, vor allen Dingen aus den vergangenen 70 Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Die
Amerikaner haben uns in besonderer Weise geholfen
und es uns ermöglicht, ein wirtschaftlich prosperierendes und demokratisches Deutschland aufzubauen. Es
sind die Herausforderungen der Zukunft, die uns verbinden und deutlich machen: Es gibt keine Äquidistanz
Deutschlands zu Russland und den USA. Wir lassen es
nicht zu, dass man einen Keil in die westliche Partnerschaft treibt.
({3})
Ich bin sicher, dass wir auch im ökonomischen Bereich eine starke Zusammenarbeit zwischen Deutschland
und der Europäischen Union einerseits und den USA andererseits benötigen. Wir brauchen ein erfolgreiches
Freihandelsabkommen, weil niemand davon so profitiert
wie Deutschland. Wir haben eine Exportquote von
73 Prozent. Die USA sind nach der EU der wichtigste
Exportmarkt für unsere Wirtschaft, das wichtigste Zielland für deutsche Investitionen; vor allen Dingen hängt
jeder vierte Arbeitsplatz in Deutschland vom Export ab.
Wir brauchen das Freihandelsabkommen, weil es zu
mehr Sicherheit, zu mehr Wohlstand, zu mehr Wachstum, zu sinkenden Preisen und zu einer größeren Produktvielfalt führen wird.
Lassen Sie mich zum Ende noch einen Aspekt ansprechen: Es kommt hier nicht in erster Linie auf Euro und
Cent an. Es kommt vor allen Dingen auf die politische
und geostrategische Bedeutung an. Es kommt darauf an,
ob wir nebenanstehen wollen, wenn Standards für Verbraucherschutz, beispielsweise Standards für den Schutz
geistigen Eigentums, Standards für Wettbewerb und Investitionen, gesetzt werden, oder ob wir gemeinsam mit
unseren europäischen Partnern und den USA daran mitarbeiten wollen.
Wenn wir es nicht tun, wenn wir es nicht schaffen,
dann machen das in einigen Jahren andere. Dann sitzen
nicht nur wir Deutsche, sondern wir Europäer am Katzentisch. Das wollen wir nicht. Deshalb ist es richtig,
dass wir uns hier engagieren. Das hat die Bundeskanzlerin gemacht, weil sie Außenpolitik vom langen Ende her
bedenkt. Dieser Besuch war daher richtig und erfolgreich.
Herzlichen Dank.
({4})
Für die Linke spricht jetzt der Kollege Dr. Diether
Dehm.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe
1972 Plakate geklebt, auf denen stand: Deutsche - Wir
können wieder stolz sein auf unser Land! Wir Frankfurter Sozialdemokraten hatten eine Fotokopie mit dem vor
dem Warschauer Mahnmal knieenden Willy Brandt darüber geklebt. Da beugte sich ein deutscher Kanzler,
turmhoch überlegen den Nationalisten und Rassisten und
auch der CDU, die ihn damals verspotteten.
Ihre Verbeugungen in Washington, Frau Bundeskanzlerin, sind ganz anderer Art. Es war nicht nur Ihr Telefon, das abgehört wurde, sondern es war und bleibt eine
Demütigung aller Deutschen und ist und bleibt ein permanenter Rechtsbruch. Hatten Sie denn, als Sie das NoSpy-Abkommen beerdigt haben, vergessen, dass Sie Ihren Amtseid nicht auf eine Fibel der NSA, sondern auf
das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland abgelegt haben? Die USA treten unsere Grundrechte mit Füßen, und Sie lassen sich abhandeln, Edward Snowden in
Deutschland nicht als Zeugen aussagen zu lassen.
({0})
Wenn Sie schon so wenig Selbstrespekt haben, dann
sollten Sie zumindest Respekt vor dem deutschen Recht
haben.
({1})
Erich Kästner schrieb einst:
Nie dürft ihr so tief sinken, von dem Kakao, durch
den man euch zieht, auch noch zu trinken.
Sie trinken ihn, Frau Bundeskanzlerin.
Was haben Sie uns denn aus den USA mitgebracht?
Zum Beispiel, dass diese verdammten Atomraketen aus
Rheinland-Pfalz abgezogen werden? Das wäre einem
souveränen Deutschland angemessen. Die USA wollen
ihre Vormachtstellung gegenüber ihren potenziellen
Konkurrenten Russland und China absichern und deswegen ein Freihandelsabkommen mit der EU. Sie hätten
also mit diesem TTIP ein Druckmittel gehabt; aber Sie
sind in die Knie gegangen. Können Sie hier klar ausschließen, dass der US-Konzern Monsanto, wenn ein
deutscher Imker oder Landrat gegen dessen Genmais
vorgeht, keine Schadenersatzansprüche gegen die Bundesrepublik erheben kann wegen entgangener Gewinne
oder dass der Mindestlohn zu Klagen führt, noch dazu
vor Schiedsrichtern in lächerlichen Hinterzimmern, die
gar keine Gerichte mehr sind, sondern einen Sonderstatus haben? Können Sie das ausschließen? Wenn nicht, ist
Ihr Schweigen auch eine Aussage. Warum dann die
ganze Geheimniskrämerei um das Investorenschutzkapitel des TTIP? Was soll der jetzt bekannt gewordene „Regulierungsrat“ aus Bankern und Konzernlobbyisten, der
nationalen Parlamenten Gesetzesvorhaben verbieten
darf, wenn sie dem Freihandel schaden?
In Wirklichkeit lauern die US-Konzerne darauf, europäische Öko- und Sozialstandards zu ruinieren. Und die
Deutsche Bank lauert darauf, in den USA nicht mehr für
ihre Betrügereien bestraft zu werden. Denn dort ist die
Finanzaufsicht schärfer als in dem Land, in dem die
Bundeskanzlerin den Geburtstag des Oberbanksters
Josef Ackermann im Kanzleramt feiern ließ.
({2})
Viele fragen: Ging es Obama und Ihnen bezüglich der
Ukraine nur darum, wer näher dran ist, wenn die Splitter
fliegen, und wer schneller an Kohle und Stahl oder am
Schiefergas ist? Das ist übrigens eine tolle Vorstellung:
Überall auf der Welt wird gegen Fracking demonstriert,
und in der Ukraine wurde das Fracking von SS-Milizen
der Swoboda-Partei abgesichert.
Heute ist der 8. Mai, den Bundespräsident Weizsäcker
den Tag der Befreiung nannte. Uns wird immer gesagt,
dass wir den amerikanischen GIs dafür dankbar zu sein
haben. Aber es war der amerikanische Literaturnobelpreisträger Ernest Hemingway, der dies um folgenden
Satz ergänzte - ich zitiere -: „Wer den Frieden befürwortet, wird der Roten Armee so viel danken müssen,
wie er in seinem ganzen Leben nicht wird arbeiten können.“
({3})
Ich kenne die richtigen Worte, Deutsche hätten selbst mit
berechtigter Kritik an der israelischen Regierung erst
einmal innezuhalten wegen der 6 Millionen Ermordeten
des Holocausts. Wer aber von Ihnen bessere Beziehungen zur Bild-Zeitung hat als ich, sollte denen einmal
sagen: Haltet inne mit eurem pausenlosen „Russen-Bashing“ - auch wegen der 27 Millionen mit SS und Wehrmacht ermordeten Sowjetmenschen!
({4})
Kann denn bei Springer niemand verstehen, was es für
russische Familien bedeutet, wenn in der Ukraine die
mitregierende Swoboda-Partei - mit Hitlergruß - ihre
Parteihochschule nach Joseph Goebbels benennt? Nach
Joseph Goebbels! Kann niemand verstehen, was das für
diese Menschen bedeutet, nachdem es dort 27 Millionen
Tote gegeben hat?
Die Linke demonstriert heute vom Brandenburger Tor
zum Sowjetischen Ehrenmal, welches die Bild-Zeitung
gerade plattmachen möchte. Wir gedenken auch der vielen Menschen, die letzte Woche im Gewerkschaftshaus
von Odessa bei lebendigem Leibe verbrannt und von Faschisten mit Baseballschlägern wie Vieh totgeschlagen
wurden. Wir denken auch an die Stockholmer Rede von
Willy Brandt mit dem Kernsatz: „Krieg ist nicht mehr
die Ultima Ratio, sondern die Ultima Irratio.“ Willy
Brandt hat auf Knien die deutschen Interessen vertreten - Sie nicht, Frau Bundeskanzlerin.
({5})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Saskia Esken, SPD.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! „Das Internet
gehört der NSA“, so lautete eine Überschrift von vielen,
mit denen die Medien die Enthüllungen von Edward
Snowden kommentierten. Die Ahnung von der Datensammelwut von Geheimdiensten, die wir durch diese
Enthüllungen bisher erhalten haben, hat unser Vertrauen
in die Chancen von Digitalisierung und weltweiter Vernetzung nachhaltig erschüttert. Die Verunsicherung der
Menschen und der Diskurs, der darüber entstanden ist,
betreffen aber nicht nur die Tätigkeit ausländischer Geheimdienste. Wir beschäftigen uns in der Folge auch mit
dem Umgang der großen und kleineren Netzakteure mit
unseren persönlichen Daten, und wir beschäftigen uns
mit Fragen der Datensicherheit, so zum Beispiel mit Verschlüsselungsverfahren, ihrer Anwendbarkeit und Verbreitung. Ich meine, das sind gute und notwendige Diskussionen. Sie beschränken sich nicht auf die Grenzen
unseres Landes, sondern werden weltweit geführt, nicht
nur in Europa, sondern auch in den USA und in anderen
Ländern.
Heute Morgen durfte ich an einem Gespräch mit Vertretern der Regierung von Ruanda teilnehmen, die die
Internetkonferenz re:publica hier in Berlin besuchen. Ich
habe mich gefreut, zu hören, wie klar und deutlich auch
in Ruanda die Chancen des Internets für Bildung und
Emanzipation, für die persönliche und für die wirtschaftliche Entwicklung der Menschen gesehen werden. Internet und Digitalisierung werden also durchaus noch als
Verheißung wahrgenommen.
Doch diese Verheißung hat durch die bekannt gewordene Überwachung einen tiefen Bruch erfahren, der weit
über eine allgemeine Skepsis gegenüber der digitalen
Kommunikation hinausgeht. Nicht nur auf deutscher
Seite ist dabei das Vertrauen in die USA als befreundete
Nation nachhaltig beschädigt worden. Unsere Wahrnehmung wird beherrscht von einer großen Verunsicherung
darüber, welchen Schaden die Überwachung unserer
Kommunikation für die Bürgerinnen und Bürger, aber
auch für die Wirtschaft bedeutet.
Lassen Sie mich das Maß dieser Verunsicherung an
einem Beispiel aus der analogen Welt erläutern. Wenn
Menschen Opfer eines Wohnungseinbruchs werden,
dann fühlen sie sich in ihrem Grundvertrauen in unsere
Gesellschaft nachhaltig verletzt. Dieser Vertrauensverlust ist durch den Ausgleich des Schadens durch die Versicherung nicht zu beheben. Ebenso gilt - auch im Hinblick auf die Verletzung unserer Privatsphäre, unserer
Persönlichkeits- und Freiheitsrechte -: Nicht alle Wunden heilt die Zeit. Es darf also keinesfalls der Fehler begangen werden, Dinge unter den Teppich zu kehren oder
gar etwas für beendet zu erklären, das noch lange nicht
beendet ist. Allen Akteuren sollte bewusst sein: Vertrauen kann man nicht verordnen. Verlorengegangenes
Vertrauen muss aktiv wiederhergestellt werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir begrüßen deshalb - und wir bestärken die Bundeskanzlerin darin -,
dass sie bei ihrem USA-Besuch mit Präsident Obama
vereinbart hat, den notwendigen und vertrauensbildenden Dialog, den sogenannten Cyber-Dialog, fortzusetzen und auszubauen. In diesem Dialog muss es um die
- vielleicht auch unterschiedliche - Bewertung und die
Balance von Privatsphäre, Freiheit und Sicherheit gehen.
Im Ergebnis erwarten wir nicht mehr und nicht weniger,
als darin vertrauen zu können, dass amerikanische Geheimdienste die Grund- und Freiheitsrechte unserer Bürgerinnen und Bürger wahren.
Natürlich gibt es auch eine eigene, eine deutsche und
eine europäische Verpflichtung, uns über unsere Sicherheit und den Schutz unserer Daten, den Schutz unserer
Privatsphäre im Internet Gedanken zu machen. Da geht
es nicht nur um den Schutz vor Nachrichtendiensten,
sondern auch um den Schutz vor Internetkriminalität und
Wirtschaftsspionage. Wir haben schließlich die Aufgabe,
die Menschen und ihre Bürgerrechte in der digitalen
Welt genauso zu schützen wie in der analogen.
Gestern hat der Ausschuss Digitale Agenda, dem ich
angehöre, mit einem Fachgespräch zur IT-Sicherheit einen ersten Beitrag hierzu geleistet. Dass dieses Fachgespräch öffentlich stattfand, ist ein klares Zeichen für die
Bürgerinnen und Bürger: Wir dürfen die Fragen, die die
Privatsphäre der Bevölkerung in diesem hohen Maße betreffen, nicht hinter verschlossenen Türen diskutieren.
Dennoch ist in diesen Fragen ein nationaler Alleingang
nicht notwendig und auch ganz bestimmt nicht förderlich. Vielmehr ist die Zusammenarbeit in der Europäischen Union und mit den USA auszubauen, ohne dabei
deutsche und europäische Standards von Sicherheit und
Datenschutz preiszugeben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, sehr geehrte Damen
und Herren, eine flächendeckende Ausspähung unter
Freunden darf es nicht geben. Wir haben die Grundrechte
unserer Bürgerinnen und Bürger aktiv zu schützen. Die
tiefgreifende Vertrauenskrise, die sich gegenüber dem Internet und gegenüber unseren amerikanischen Partnern
ergeben hat, müssen wir überwinden. Wenn uns das
nicht gelingt, wäre das wirklich ein Schaden für das
Staatswohl. Ich wünsche mir, dass wir in naher Zukunft
nicht mehr befürchten müssen, das Internet gehöre der
NSA. Wir wollen zu Recht wieder sagen dürfen: Das Internet gehört uns.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Für Bündnis 90/Die Grünen erteile ich jetzt das Wort
dem Kollegen Hans-Christian Ströbele.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Vor einiger Zeit habe ich von diesem Platz aus die Bundeskanzlerin - sie saß auf der Regierungsbank - gefragt,
ob sie denn Herrn Snowden auch ein bisschen dankbar
dafür ist, dass er aufgedeckt hat, dass sie abgehört worden ist. Als Folge davon hat sie dann mit dem US-Präsidenten telefoniert, und der hat ihr versichert, jetzt werde
sie nicht mehr abgehört. Das hat sie Edward Snowden zu
verdanken; insofern ist die Frage nach der Dankbarkeit
wohl angebracht.
({0})
Jetzt ist die Bundeskanzlerin in die USA gereist, gestärkt durch ein Gutachten der Bundesregierung, in dem
klargestellt worden ist - keine Angst in den USA, keine
Angst, Herr Obama! -: Herr Snowden wird nicht im
Deutschen Bundestag aussagen; wir haben das gerade
festgelegt. - Da hätte man erwartet, dass die Kanzlerin,
die - das hat sie ja immer wieder betont - auch in Sachen NSA in die USA gefahren ist, dort etwas erreicht,
dass ein bisschen etwas abgegolten wird, dass das also
eine gute Voraussetzung dafür ist, dass sie etwas durchsetzt. Aber schon auf der Pressekonferenz, wo man bewundern konnte, wie sie neben dem US-Präsidenten
stand, kam nichts zur NSA. Sie hat dazu auch nichts mitgebracht. Sie hat nur eine nebulöse Erklärung abgegeben, es gebe natürlich auch zwischen Freunden immer
einmal Meinungsunterschiede.
({1})
Ganz offensichtlich war da nichts. Ich hätte die Bundeskanzlerin gern gefragt, was sie denn eigentlich in
Washington erreicht hat. Hat sie sich wenigstens getraut,
zu sagen: „Lieber Herr Obama, liebe Administration, die
deutsche Bundesregierung hat im Juli vergangenen Jahres einen großen Katalog von Fragen betreffend die NSA
geschickt mit der Bitte, die doch zu beantworten“?
Wahrscheinlich hätte sie antworten müssen: Das habe
ich lieber nicht gemacht. - Jedenfalls gab es da keine
Reaktion. Es gibt auf diese Fragen, mit denen sich ja
auch Minister Friedrich und Minister Pofalla in der Diskussion immer wieder beschäftigt haben - die Fragen
würden bald beantwortet: in vier Wochen, in sechs Wochen, in zwei Monaten -, bis heute keine Antwort. Ganz
offensichtlich traut sich die Bundesregierung nicht,
nachzufragen.
Hier ist angesprochen worden, dass wir mit den USA
eine Wertegemeinschaft haben. Das sehe ich auch so.
US-Präsident Obama hat auf dieser Pressekonferenz
Werte angesprochen. Einen ganz hohen Wert hat er in
seiner Rede dreimal erwähnt: Privacy. Wir in Deutschland sagen „Privatsphäre“ oder „Privatheit“ dazu. Die
müsse geschützt werden, dies sei ein ganz hoher Wert,
den man hochhalte und auch hochhalten wolle.
Warum ist die Bundeskanzlerin eigentlich nicht darauf eingegangen, als er das gesagt hat? Warum hat sie
nicht gesagt: „Herr Obama, Sie haben recht“? „Warum
geben Sie uns Deutschen und der Bevölkerung in der
ganzen Welt“ - zum Beispiel in Brasilien, Mexiko und
Frankreich - „dann nicht die Privacy zurück? Warum tun
Sie nicht etwas in diese Richtung?“
({2})
Das wäre doch eine gute Gelegenheit gewesen, in aller
Freundschaft danach zu fragen.
Nein, die Bundesregierung und ganz speziell die Bundeskanzlerin versagt bei der Verteidigung der gemeinsamen Werte. Sie kann sie nur dadurch verteidigen, dass
sie das in den USA anspricht und von der US-Administration verlangt, dass sie hier etwas tut.
Man könnte das Ganze jetzt abschließen und sagen:
Die Bundesregierung berichtet nicht darüber. Nicht einmal in der Fraktion soll ja darüber berichtet worden sein.
Die Kanzlerin ist auch nicht hier, weil es ja nichts gibt,
was sie berichten könnte. Man könnte jetzt also den Mut
verlieren. Ich verliere den Mut aber nicht. Ich habe nämlich zur Kenntnis genommen, dass gestern der Rechtsausschuss im amerikanischen Repräsentantenhaus mit
32 zu 0 Stimmen einen Gesetzentwurf angenommen hat,
durch den die Tätigkeit der NSA ganz drastisch beschränkt werden soll.
({3})
Das ist der richtige Weg: Wenn die Regierungen nicht
handeln und nichts tun, dann müssen die Parlamente
diese Aufgabe übernehmen. Hier in Deutschland ist das
der Deutsche Bundestag. Deshalb freue ich mich - wir
kommen ja gerade aus dem Untersuchungsausschuss -,
hier mitteilen zu können, dass der Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages einstimmig, also mit
allen Mitgliedern des Ausschusses, beschlossen hat,
Edward Snowden zu hören. Das ist erst einmal ein Erfolg. Daneben ist die Frage, wo und wie er gehört wird,
zumindest offengeblieben, sodass ich sage: Die halbe
Tür auf dem Weg, Edward Snowden anzuhören, ist
schon offen. Das ist der richtige Weg. So müssen wir
weitermachen: erst aufklären und dann die Konsequenzen ziehen.
({4})
Für die Unionsfraktion spricht jetzt der Kollege
Jürgen Hardt.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
eintägige Arbeitsbesuch der Bundeskanzlerin in den
USA, in Washington, erfolgte zum richtigen Zeitpunkt,
und er hatte die richtigen Themen. Er war im Ergebnis
ein großer Erfolg; denn die Prioritätensetzung der Bundeskanzlerin entsprach dem, was auf der weltpolitischen
und auf der transatlantischen Agenda steht, und es gibt
hier eine ganze Reihe von klaren Fortschritten zu verzeichnen.
Ich möchte an erster Stelle sagen, dass angesichts der
Situation, in der wir uns in Europa im Augenblick befinden, die Ukraine-Krise natürlich eine zentrale Rolle gespielt hat. Ich glaube, dass es der Bundeskanzlerin
gelungen ist, dem amerikanischen Präsidenten klarzumachen, dass Europa selbstverständlich bereit ist, gegebenenfalls, wenn es unausweichlich ist, auch einen weiteren Schritt bei den Sanktionen zu gehen und den
eskalierenden Prozess konsequent fortzusetzen. In
Europa gibt es aber natürlich höchst unterschiedliche Situationen in den 28 Mitgliedstaaten der Europäischen
Union. Es gibt eben Länder, die von bestimmten Formen
von Sanktionen in ganz anderer Art und Weise betroffen
wären als andere.
Ich glaube, die Erwartungshaltung der Amerikaner an
die Bundeskanzlerin ist, dass sie aufgrund ihrer natürlichen Rolle, aufgrund des Respekts, den sie bei den Kollegen in der EU genießt, und natürlich auch aufgrund der
besonderen Stellung Deutschlands ein Stück weit die
Aufgabe annimmt, hier eine akzeptable Balance zu finden. Umgekehrt akzeptieren die Amerikaner, dass das,
was wir hier als richtig und möglich vereinbaren, möglichst auch im Gleichklang dies- und jenseits des Atlantiks umgesetzt wird. Ich glaube, das ist das zentrale Ergebnis dieses Besuches.
Die zentrale Forderung, die wir nun an alle Beteiligten stellen - inklusive des russischen Präsidenten -, ist:
Wir wollen, dass die Wahlen in der Ukraine am 25. Mai
2014 möglichst ungehindert, fair und demokratisch
durchgeführt werden können. Danach wird man diese
Wahlen bewerten, und dann wird man weitere Schritte
einleiten müssen. Ich glaube, das ist ein ganz konkretes
und wichtiges Ergebnis.
({0})
Ich finde, es gibt ein solch klares Ergebnis auch beim
Thema NSA. Selbstverständlich hätten wir uns alle gewünscht, dass es vielleicht seitens des Präsidenten in der
Frage der Abhöraktion, bei der das Handy der Kanzlerin
überwacht wurde, ein sichtbares Zeichen der Vertrauensbildung gegeben hätte.
({1})
Aber so etwas kann man nicht erzwingen. Im Übrigen ist
Angela Merkel nicht eine Kanzlerin, die Freunde im
Zweifel öffentlich vorführt, wenn sie mit dem, was diese
gesagt haben, unzufrieden ist. Sie macht das eher hinter
den Kulissen.
Aber ein klares Ergebnis ist, dass sich der amerikanische Präsident in seiner Pressekonferenz im Rosengarten
klar hinter den Cyber-Dialog gestellt hat, dass also nun
das Projekt von Außenminister Kerry und Außenminister Steinmeier, Ende Juni in einen Dialog über die Frage:
„Was ist die richtige Balance zwischen Schutzinteresse
einerseits und persönlichen Freiheitsrechten andererseits?“, einzutreten, die Rückendeckung des amerikanischen Präsidenten und selbstverständlich auch der Bundeskanzlerin hat und dass wir deswegen von diesem
Dialog zu Recht etwas erwarten und abfordern dürfen,
wenngleich das natürlich nicht in wenigen Tagen erfolgen wird.
Ein weiterer Punkt ist für mich, dass bei diesem Besuch auch in Sachen des Transatlantischen Freihandelsund Investitionsabkommens ein wichtiger Schritt gemacht
wurde, den wir in der Vergangenheit vermisst haben: Es
wurde eine offensive Herangehensweise eingeleitet. Die
Kanzlerin hat vor der amerikanischen Handelskammer
eine fulminante Rede gehalten, bei der das Thema TTIP
eine große Rolle gespielt hat. Sie hat auch die schwarz
gekleideten älteren Herren im Saal der Handelskammer
zum Lachen gebracht, als sie gesagt hat: Wenn durch das
TTIP dann auch der Export von Bier von Europa nach
Amerika einfacher wird, dann werden Sie sehen, was Sie
in der Vergangenheit verpasst haben.
Sie hat damit einen Öffentlichkeitsprozess über TTIP
eingeleitet, den wir in Deutschland dringend brauchen.
Herr Gabriel hat am vergangenen Montag diesen Prozess
mit Forman und De Gucht hier in Berlin fortgesetzt. Ich
glaube, wir sollten insgesamt versuchen, dieses Thema
intensiv zu beraten; denn TTIP ist tatsächlich eine große
Chance, hohe Standards im Umweltschutz, im Arbeitnehmerschutz, im Verbraucherschutz und bei der Hygiene durchzusetzen,
({2})
die dann möglicherweise zur Referenz für den gesamten
Welthandel werden können. Diese Chance sollten wir
uns nicht entgehen lassen.
Ich glaube, dass wir nach dem November 2014, wenn
wir eine neue EU-Kommission haben und dann auch die
Midterm Elections in den USA vorbei sind, mit Blick
auf das erste Halbjahr 2015 einen starken Angang mit
der Chance bekommen werden, dieses Abkommen tatsächlich 2015 abzuschließen, was ich mir wünschen
würde. Von daher war es ein ausgesprochen erfolgreicher Besuch. Dementsprechend sind wir froh, dass es so
gelaufen ist.
Danke schön.
({3})
Das Wort hat der Kollege Christian Flisek für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es mag
Zufall sein, dass unsere heutige Debatte genau auf den
Tag der Beendigung des Zweiten Weltkrieges fällt - darauf ist schon hingewiesen worden -, auch wenn man
anlässlich eines solchen Tages zu ganz unterschiedlichen
Schlussfolgerungen kommen kann.
Ein solcher Tag kann Anlass sein, einen kurzen Blick
zurückzuwerfen. Die Siegermächte und allen voran die
Vereinigten Staaten von Amerika haben Deutschland
nach den nationalsozialistischen Massenmorden in
Europa einen Neuanfang ermöglicht. Die europäische
Integration und die transatlantische Allianz bilden seitdem einen Eckpfeiler der deutschen Außenpolitik. Die
Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten als der
Führungsmacht des westlichen Bündnisses war von Anfang an eng, und sie hat der Bundesrepublik Deutschland
unter den Bedingungen des Kalten Krieges eine Entwicklung in Frieden, Freiheit und Wohlstand ermöglicht.
({0})
Nicht zuletzt war die Unterstützung der USA nach der
friedlichen Revolution in der DDR von entscheidender
Bedeutung für die Wiedervereinigung unseres Landes.
({1})
Unsere europäischen Partner blickten damals noch sehr
skeptisch auf ein größeres, wiedervereinigtes Deutschland. Dieses Eintreten für ein einiges und freies Europa
entsprang dem Geiste der atlantischen Wertegemeinschaft von Demokratie und Freiheit.
({2})
Infolge dieser Einheit hat Deutschland seine volle Souveränität erreicht.
({3})
Unsere Interessen bei außenpolitischen Kontroversen
haben vielleicht nicht immer übereingestimmt. Ich
denke dabei an den Irakkrieg. Auch die Entscheidung
zur Intervention in Libyen kann hier genannt werden.
Aber die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Beziehungen sind so eng und die gemeinsam geteilten Werte sind so stark, dass unser Verhältnis bis in
die jüngste Zeit von einem tiefen Grundvertrauen der
Deutschen zu den USA und ihrer politischen Führung
geprägt war.
({4})
Gerade Präsident Obama fand in Deutschland für
seine Außenpolitik immer eine sehr große Zustimmung.
Die Zustimmung war hier in Deutschland immer größer
als in den USA selber. Noch im Frühjahr 2013 lag die
Zustimmung bei knapp 76 Prozent gegenüber knapp
50 Prozent in den Vereinigten Staaten. Bis zum November 2013 sank allerdings die Zustimmung auf 43 ProChristian Flisek
zent, und heute würden 61 Prozent der Deutschen sagen,
allgemein könne man den USA nicht mehr vertrauen.
Der entscheidende Grund, warum dieses Vertrauen
der Deutschen in die USA so erschüttert worden ist, sind
- das ist bereits angesprochen worden - die Enthüllungen über die Überwachungs- und Abhöraktivitäten der
National Security Agency gegenüber deutschen Bürgerinnen und Bürgern. Ins Rollen gebracht wurden diese
Dinge durch die Enthüllungen von Edward Snowden.
Dieses umfassende Ausspähen und Sammeln von Informationen aller Bürgerinnen und Bürger bis hin zu unserer Regierungschefin widerspricht fundamental unserem
Verständnis von grundlegenden Freiheitsrechten, insbesondere dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung und dem Schutz der Privatheit.
({5})
Hinzu kommt aus meiner Sicht noch eine andere tiefgreifende Besorgnis. Unseren US-amerikanischen Partnern stehen bei uns in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik alle Türen offen, auf allen Ebenen. Wenn wir nun
jedoch den Eindruck gewinnen müssen, dass man uns
misstraut bzw. eine vorgeblich der Terrorismusbekämpfung dienende Überwachung auch dazu benutzt wird,
uns bei internationalen Verhandlungen auszuspionieren,
dann berührt dies den Kern unserer Beziehungen und unser Verständnis von Offenheit unter Freunden und gleichberechtigter Partnerschaft.
Präsident Obama hat im Januar bereits einige Veränderungen der NSA-Praxis im Rahmen eines laufenden
Reviews angekündigt. Diese Veränderungen betreffen
jedoch hauptsächlich die Bürgerinnen und Bürger in den
USA.
({6})
Diese Reformen reichen daher nicht aus, um das verloren gegangene Vertrauen wieder zurückzugewinnen. Die
Bundeskanzlerin hat dies auch bei ihrem jüngsten Besuch in Washington zu Recht angesprochen und betont,
dass sie eine grundlegende Diskussion und Verständigung über genau diese Balance von Sicherheitsbedürfnissen und dem Schutz der Privatheit einfordert. Das unterstütze ich ausdrücklich.
({7})
Diese Diskussion kann jedoch nicht alleine auf Regierungsebene geführt werden. Sie muss auch von Vertretern der Wirtschaft, Wissenschaft und insbesondere der
Zivilgesellschaft geführt werden. Vor allen Dingen wir
als Parlamentarier des Deutschen Bundestages müssen
hierzu unseren Beitrag leisten. Wir müssen unsere Auffassung einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung im digitalen Zeitalter öffentlich vertreten und dafür werben,
und dies auch im Dialog mit unseren US-amerikanischen
Kolleginnen und Kollegen. Der von Bundesaußenminister Steinmeier angeregte Cyber-Dialog bietet hierfür
meiner Ansicht nach ein geeignetes Format, das wir mit
Leben füllen müssen. Wir müssen möglichst bald mit
diesem Dialog beginnen. Denn auch in den USA - sie
sind kein Monolith - gibt es unterschiedlichste Sichtweisen auf die nachrichtendienstliche Massenüberwachung.
Meine Damen und Herren, der Kollege Ströbele hat
es bereits angesprochen: Wir haben heute im NSA-Untersuchungsausschuss grundlegende Beschlüsse gefasst.
Wir haben mit den Stimmen aller Mitglieder dieses
Untersuchungsausschusses die Befragung von Edward
Snowden als Zeugen beschlossen, und wir werden in den
nächsten Tagen mit seinem Anwalt das weitere Verfahren klären. Wir werden erste wesentliche Schritte noch
vor der Sommerpause in die Wege leiten können.
Kollege Flisek, achten Sie bitte auf die Zeit.
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum
Schluss noch auf eine Herausforderung blicken. Die große
Aufgabe wird sein, die Rahmenbedingungen für das digitale Zeitalter gemeinsam abzustecken. Wir brauchen gemeinsame Regularien auf völkerrechtlicher Ebene, weil
wir feststellen: Nationale Regelungen und selbst europäisches Recht reichen in ihrer Wirksamkeit nicht mehr
aus. Ihre Wirksamkeit ist beschränkt. Wir werden diesen
Dialog mit unseren amerikanischen Freunden führen
müssen. Dann werden wir auch dafür eintreten müssen,
dass unsere Grundrechte nicht auf einem digitalen globalen Altar geopfert werden.
Ich danke Ihnen.
({0})
Die Ergebnisse dieses Dialogs müssen wir in einer
anderen Debatte vertiefen. Ich bitte wirklich, die Zeichen, die wir sehr moderat geben, wenn es um die Redezeit geht, ernst zu nehmen.
Das Wort hat der Kollege Dr. Andreas Nick für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ohne
das Bündnis mit den Vereinigten Staaten wären die letzten 70 Jahre für unser Land weitaus weniger glücklich
verlaufen. Von der Luftbrücke und dem Marshallplan
über die Jahrzehnte des Ost-West-Konflikts bis zur deutschen Einheit: Die deutsch-amerikanischen Beziehungen
sind eine Erfolgsgeschichte. Zusammen mit unseren
Partnern in der Europäischen Union sind die USA weltweit unser wichtigster Partner und verlässlichster Verbündeter. Dies gilt heute und auch für die Zukunft. Regelmäßige Gespräche und Arbeitsbesuche sind daher die
normalste Sache der Welt, aber auch ein Wert an sich. Es
war daher gut und richtig, dass die Bundeskanzlerin am
2. Mai in Washington mit Präsident Obama zahlreiche
aktuelle Themen offen und ausführlich erörtert hat.
Unstrittig ist: Informationen über tatsächliche oder
mutmaßliche Geheimdienstaktivitäten haben das
deutsch-amerikanische Verhältnis belastet und ohne
Zweifel Vertrauen beschädigt. Aufklärung und Aufarbeitung sind deshalb notwendig. Wir müssen uns auf beiden
Seiten des Atlantiks der Frage stellen, wie wir die Wahrung der bürgerlichen Privatsphäre auch im digitalen
Zeitalter sicherstellen können. Wir brauchen dort wie
hier immer wieder eine Verständigung über die richtige
Balance von Freiheit und Sicherheit in unseren offenen
Gesellschaften. Dieser Diskurs ist notwendig. Für ihn
gilt aber auch, um ein Wort von Heinrich August
Winkler aufzugreifen:
Wenn wir Europäer mit Amerikanern über Fragen
der politischen Kultur und der Werte streiten, dann
über unterschiedliche Auslegungen gemeinsamer
Werte.
Die Diskussion hat aber auch unser aller Bewusstsein
für Verwundbarkeiten gestärkt. Kollegin Esken hat bereits auf das gestrige öffentliche Fachgespräch im Ausschuss Digitale Agenda zu Fragen der IT-Sicherheit hingewiesen. Aber niemand von uns sollte sich täuschen
oder täuschen lassen: Die ungleich größeren Bedrohungen - nicht nur unserer digitalen Kommunikation - kommen aus ganz anderen Richtungen und Regionen. Ob es
um den Schutz vor internationalem Terrorismus geht
oder die Abwehr von Cyber-Kriminalität: Nachrichtendienstliche Zusammenarbeit zur Gefahrenabwehr und
Aufklärung wird auch in Zukunft unverzichtbar sein.
Aber auch vermeintliche Gewissheiten der Friedensordnung in Europa, wie sie in der Charta von Paris 1990
ihren Ausdruck gefunden haben, erscheinen durch das
Verhalten Russlands in der Ukraine plötzlich infrage gestellt. Die existenzielle Bedeutung der Sicherheitspartnerschaft zwischen Europa und Nordamerika in der
NATO für Frieden, Freiheit und Sicherheit wird wieder
deutlicher sichtbar. Es ist deshalb entscheidend, dass wir
auch in dieser Frage immer in enger Abstimmung mit
unseren Partnern in Europa und den USA handeln.
Wir wollen aber nicht nur gemeinsame Gefahren abwehren. Wir wollen auch Chancen nutzen, und zwar
zum gemeinsamen Vorteil. Die Verhandlungen über das
Transatlantische Freihandels- und Investitionsabkommen, TTIP, stellen eine solche enorme Zukunftschance
dar. Es geht um vielfältige Chancen für Wachstum und
Arbeitsplätze gerade auch in kleinen und mittelständischen Unternehmen. Es geht dabei auch um Chancen bei
Sicherheits- und Gesundheitsstandards zum Schutz von
Umwelt, Verbrauchern und Arbeitnehmern. Es geht aber
vor allem auch um langfristige globale Wettbewerbsfähigkeit und die Chance, für die nächste Generation industrieller Produkte gemeinsam weltweite Standards zu
setzen. Diese Chancen dürfen nicht verspielt werden,
auch nicht durch eine Debatte, die teilweise doch mehr
von Panikmache und irreführenden Parolen geprägt ist
als von Sachkenntnis.
({0})
Wo es im Verhältnis zu den USA unterschiedliche Interessen und Standpunkte gibt, werden wir diese selbstverständlich im Dialog und in Verhandlungen mit unseren Partnern klar und in angemessener Weise vertreten.
Genau das hat die Bundeskanzlerin bei ihrem Besuch in
Washington am 2. Mai getan. Aber jeder Versuch - egal
ob innerhalb oder außerhalb dieses Hauses, egal ob von
links außen oder rechts außen -, einen ideologisch motivierten Antiamerikanismus zur Grundlage deutscher
Politik zu machen, wird heute wie in Zukunft auf den
entschiedenen Widerstand meiner Fraktion stoßen.
({1})
Wenn es um die Zukunft und die verantwortliche Gestaltung der deutsch-amerikanischen Beziehungen geht,
kann und darf daher jedermann mit unserer Verlässlichkeit rechnen.
Vielen Dank.
({2})
Die Kollegin Andrea Lindholz hat für die CDU/CSUFraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Von dem genialen Deutsch-Amerikaner
Albert Einstein ist das Zitat überliefert: „Vertrauen und
Loyalität können nur auf der Basis der Gegenseitigkeit
gedeihen.“ Einsteins Vertrauen in Deutschland wurde
durch die Nazis vollständig zerstört. Zeit seines Lebens
konnte er nie wieder Vertrauen und Loyalität zu
Deutschland aufbauen, und er hat alle Annäherungsversuche aus Deutschland rigoros abgelehnt. Menschlich ist
diese Haltung sicherlich verständlich.
Zu unserem Glück zeigte sich die US-Regierung damals nachsichtiger und weitsichtiger als Einstein. Nazideutschland hatte jegliche Basis für gegenseitiges Vertrauen zerstört, und trotzdem ebneten die USA
Deutschland den Weg in die westliche Staaten- und Wertegemeinschaft. Heute ist die transatlantische Partnerschaft in wirtschafts-, gesellschafts- und sicherheitspolitischer Hinsicht von überragender Bedeutung, nicht nur
für Deutschland, sondern für die ganze Welt. Das zeigt
sich aktuell auch in der Ukraine-Krise ganz deutlich.
Wie ich bereits im Februar an dieser Stelle gesagt habe,
kommt es auch und gerade in der Ukraine-Krise entscheidend darauf an, dass die USA und Europa eine gemeinsame Haltung zu Russland finden. Dafür muss
Deutschland eine wichtige Vermittlerfunktion erfüllen.
Mit der Reise nach Washington hat die Bundeskanzlerin
diese Aufgabe erfüllt.
Zweifellos werden die deutsch-amerikanischen Beziehungen gleichzeitig durch das Vorgehen der US-Geheimdienste belastet. Die pauschale Überwachung des
deutschen und europäischen Datenverkehrs durch die
NSA beschädigt die Vertrauensbasis, auf der die transatlantische Partnerschaft ruht. Unsere gemeinsamen demokratischen und rechtsstaatlichen Werte werden mit
der unkontrollierten Überwachung deutscher BürgerinAndrea Lindholz
nen und Bürger durch befreundete Geheimdienste fundamental infrage gestellt.
({0})
Im NSA-Untersuchungsausschuss müssen wir diese
Vorwürfe nun sachlich und umfassend aufklären. Wir
haben heute beschlossen, dass zunächst 27 Zeugen befragt sowie weitere Sachverständige und Gutachter angehört werden. Einer davon ist Edward Snowden. Aber
unser Ausschuss ist mehr als ein Edward-Snowden-Untersuchungsausschuss.
({1})
Die CDU- und CSU-Kollegen haben heute eine klare
Position zur Anhörung von Edward Snowden bezogen.
Aufgrund der Stellungnahme der Bundesregierung wollen wir Edward Snowden nicht in Deutschland anhören
oder befragen, sondern wir überlegen, eine Befragung in
Moskau oder per Videokonferenz durchzuführen. Das
Weitere wird - Herr Kollege Flisek hat es gesagt - mit
dem Anwalt von Herrn Snowden besprochen werden.
({2})
Das langfristige Ziel unserer Aufklärungsarbeit muss
es sein, die Bürgerinnen und Bürger vor der Überwachung im digitalen Zeitalter zu schützen. Die entscheidende Frage dabei ist: Wie erreichen wir dieses Ziel? Im
Gegensatz zur Opposition glaube ich nicht, dass sich
eine tragfähige Lösung ohne die USA finden lässt. Nur
gemeinsam mit den USA werden wir das umsetzen können. Die Dominanz von US-Firmen wie Google, Facebook oder Apple wird sich nicht per Parlamentsbeschluss relativieren lassen.
Die Bundesregierung weigert sich zu Recht, dem
ebenso populistischen wie kurzsichtigen Impuls nachzugeben und infolge des NSA-Skandals die deutsch-amerikanische Freundschaft aufzukündigen oder gar die Arbeit der Nachrichtendienste infrage zu stellen. Selbst
Edward Snowden, der in diesen Tagen so oft genannt
wird, hat die Bedeutung unserer Nachrichtendienste für
unsere Sicherheit und die weltweite Terrorabwehr mehrfach betont.
Die Bundeskanzlerin weiß, dass sie auf internationaler Ebene nur dann etwas für Deutschland bewegen
kann, wenn sie trotz aller Differenzen mit den anderen
Staaten im Gespräch bleibt. Das zeigt sich in der
Ukraine-Krise, und das zeigt sich beim NSA-Skandal.
Ihre Fähigkeit zum unaufgeregten und sachlichen Dialog
zeichnet unsere Kanzlerin aus. Mit dieser deeskalierenden Herangehensweise hat sie für unser Land zum Beispiel auch in der Euro-Krise gute Ergebnisse erzielt. Ich
bin sicher: Wir werden das auch beim NSA-Skandal so
erleben.
({3})
Bei allem Verständnis für den Schock, unter dem die
USA nach dem 11. September 2001 gestanden haben,
müssen wir die USA konsequent an unsere Vorstellungen von Datenschutz erinnern. Wir müssen auch dafür
werben, dass verlorengegangenes Vertrauen zurückgewonnen wird. Auch wenn ich mir etwas mehr gewünscht
hätte im Sinne von gemeinsamen Absprachen, im Sinne
von No-Spy-Abkommen, so ist doch zumindest der vereinbarte Cyber-Dialog eine Möglichkeit, den USA unsere deutschen Erfahrungen mit der staatlichen Überwachung näherzubringen und hier noch mehr von den USA
einzufordern; denn selbst eine alte Demokratie wie die
USA ist nicht vor staatlicher Willkür gefeit.
Oft angesprochen wurde heute auch das Freihandelsabkommen. Ich will auf die Sinnhaftigkeit und den Inhalt dieses Freihandelsabkommens an dieser Stelle gar
nicht eingehen. Wir können die Verhandlungen in diesem Bereich auch dazu nutzen, dessen Inhalt eng mit der
Frage des Datenschutzes aus deutscher Sicht zu koppeln
und hier für eine klare deutsche Handschrift zu sorgen.
Für mich ist ein Freihandelsabkommen ohne klare Regelungen beim Datenschutz nicht denkbar.
Vielen Dank.
({4})
Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter
deutscher Streitkräfte an der EU-geführten
Operation Atalanta zur Bekämpfung der
Piraterie vor der Küste Somalias auf Grundlage des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen ({0}) von 1982 und der Resolutionen 1814 ({1}) vom 15. Mai 2008, 1816
({2}) vom 2. Juni 2008, 1838 ({3}) vom
7. Oktober 2008, 1846 ({4}) vom 2. Dezember 2008, 1851 ({5}) vom 16. Dezember
2008, 1897 ({6}) vom 30. November 2009,
1950 ({7}) vom 23. November 2010, 2020
({8}) vom 22. November 2011, 2077 ({9})
vom 21. November 2012, 2125 ({10}) vom
18. November 2013 und nachfolgender Resolutionen des Sicherheitsrates der VN in Verbindung mit der Gemeinsamen Aktion 2008/
851/GASP des Rates der Europäischen Union
({11}) vom 10. November 2008, dem Beschluss
2009/907/GASP des Rates der EU vom 8. Dezember 2009, dem Beschluss 2010/437/GASP
des Rates der EU vom 30. Juli 2010, dem Beschluss 2010/766/GASP des Rates der EU vom
7. Dezember 2010 und dem Beschluss 2012/
174/GASP des Rates der EU vom 23. März
Drucksache 18/1282
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({12})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Vizepräsidentin Petra Pau
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundesministerin der Verteidigung, Frau Dr. von der Leyen.
({13})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich bin vor zwei Wochen bei unseren Soldatinnen und
Soldaten in Dschibuti gewesen. Ich habe mir angesehen,
was die Frauen und Männer bei Atalanta leisten, welchen Herausforderungen sie sich stellen müssen. Ich
habe ihnen dafür unser aller Dank und unsere Anerkennung überbracht.
Die Operation Atalanta ist ungeheuer erfolgreich. Der
Erfolg lässt sich an zwei nüchternen Zahlen ablesen:
Allein seit 2008 sind 900 000 Tonnen Lebensmittel
durch Schiffe des Welternährungsprogramms nach Somalia gebracht worden, und zwar immer im Geleit durch
Schiffe der Mission Atalanta. Das bedeutet, seit 2008
sind alle Schiffe des Welternährungsprogramms an dem
Hafen angekommen, für den sie bestimmt gewesen sind.
900 000 Tonnen Lebensmittel, die Somalia erreicht haben, sichern Hunderttausenden in Somalia das schiere
Überleben.
Auch eine zweite Zahl spricht Bände. In diesem Jahr
haben sich bislang erst vier Zwischenfälle ereignet, die
eindeutig der Piraterie zuzuordnen sind. 2011, in der
Hochphase, gab es 251 Piratenangriffe. Allein 30 Schiffe
und 900 Menschen waren in der Gewalt der Piraten.
Heute ist kein einziges Schiff mehr in der Hand der Piraten. Ich glaube, auch das spricht für den Erfolg der Mission Atalanta.
({0})
Der Kampf gegen die Piraterie ist eigentlich so alt wie
die Schifffahrt selber. Der - fast romantische - Begriff
„Piraterie“ täuscht über die damit verbundene Aktualität
und die Brutalität hinweg. Piraterie ist ein Verbrechen.
Sie ist organisierte Kriminalität, sie bedeutet Raub, sie
bedeutet Geiselnahme, Lösegelderpressung, sie bedeutet
auch Mord. Noch immer sind etwa 50 Besatzungsmitglieder gekaperter Schiffe in der Hand von Piraten, einige sind in der Geiselhaft verstorben. Deshalb gilt es,
jeden einzelnen Überfall von Piraten auf ein Schiff zu
verhindern.
Unsere Marine beteiligt sich von Anfang an bei Atalanta. Es ist beeindruckend, zu sehen, wie viele Nationen
in dieser Region, am Horn von Afrika, an einem Strang
ziehen und die Operationen begleiten. Ein Soldat in
Dschibuti an Bord der Fregatte „Brandenburg“ hat mir
gesagt - ich zitiere -: „Der Einsatz verändert Afrika.“
Ich denke, er hat etwas ganz Zentrales ausgesprochen.
Wenn man sich anschaut, wie im Kampf gegen die Piraterie vor der Küste Somalias am Horn von Afrika China
und Japan, Deutschland und Indien, die USA und Russland zusammenarbeiten, dann zeigt sich auch, wie hier
der gemeinsame Einsatz gegen die Piraterie tatsächlich
Früchte trägt.
Erst dann, wenn die Piraterie über einen längeren
Zeitraum verschwunden ist, das heißt, wenn die finanzstarken Hintermänner der organisierten Kriminalität kein
attraktives Geschäftsmodell mehr darin sehen, kann die
Region um das Horn von Afrika sich wirtschaftlich entwickeln. Die Chancen für die Region sind da; denn sie
liegt an einem Knoten des Schiffsverkehrs. 20 000 bis
25 000 Schiffe passieren jährlich den Golf von Aden.
Das ist eine große Chance für die Region, aber dafür
braucht es Sicherheit.
({1})
Selbstverständlich müssen auf die Dauer die Staaten
selber für die Sicherheit dort aufkommen können. Ich
glaube, deshalb ist es auch richtig, dass die EU die verschiedenen Maßnahmen dort am Horn von Afrika koordiniert hat: die Marinemission Atalanta, die Ausbildungsmission EUTM Somalia, die Mission zum Aufbau
des regionalen Küstenschutzes und der Seeraumüberwachung EUCAP NESTOR und die vielen bilateralen Beiträge zwischen verschiedenen Nationen und insbesondere Dschibuti. Es ist der Mix an Maßnahmen, der den
Erfolg für diese Region bringt. Deshalb möchte ich Sie
im Namen der Bundesregierung darum bitten, dem Mandat zur Fortsetzung der Beteiligung der Marine an der
Mission Atalanta zuzustimmen.
Vielen Dank.
({2})
Die Kollegin Sevim Dağdelen hat für die Fraktion
Die Linke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Keine Sitzungswoche vergeht, ohne dass wir
hier über neue Auslandseinsätze der Bundeswehr abstimmen.
({0})
„Deutschland will sich stärker auf dem afrikanischen
Kontinent engagieren“, heißt es. Nun werden die Afrikapläne der Bundesregierung und der Bundeswehr konkreter, wie wir kürzlich über die Presse erfahren haben. Sie
planen eine Kooperation mit dem US-Kommando
AFRICOM mit Sitz in Stuttgart. Allein dies zeigt schon,
dass die Bundesregierung hier auf militärische Abenteuer setzt.
Jetzt soll zusammen mit dieser Institution, die per
Drohnenangriff Menschen in Somalia ermordet, Militärpolitik in Afrika gemacht werden. Die Linke wird diese
Kooperation mit Drohnenmördern und MilitärintervenSevim Dağdelen
tionisten niemals gutheißen. Statt mit AFRICOM zu kooperieren, muss man diese Mordeinrichtung auf deutschem Boden endlich dichtmachen.
({1})
Offiziell ist die Mission Atalanta eine Mission zur
Pirateriebekämpfung. Schauen wir uns das einmal an:
Wenn es um Maßnahmen geht, um eine Rückkehr der
somalischen Fischer aus ökonomischen Gründen zur
Piraterie zu verhindern, ist bei der Bundesregierung
schlicht Fehlanzeige. Im heutigen Korrespondentenbericht der dpa zu dieser Frage werden somalische Fischer
mit der Beschwerde zitiert: „Westliche Schiffe fischen
unsere Fischgründe leer.“
({2})
Nichts wird gegen diese illegale Plünderung der Fischgründe vor Somalia unternommen. Die Fischer fangen
immer weniger Fische, sodass absehbar ist, dass sie,
wollen sie ihre Familien nicht erneut Hunger und Elend
aussetzen, zur Piraterie zurückkehren werden.
({3})
Auch hier wäre es wirklich einfach, etwas zu tun, um
eine weitere Ausplünderung der Reichtümer Somalias zu
verhindern und damit die Piraterie auch wirklich zu bekämpfen.
({4})
Es fällt zudem auf, dass die Bundesregierung nichts unternimmt, um die Finanzströme der Hintermänner der
Piraterie lahmzulegen.
({5})
Um es deutlich zu machen: Die Linke verurteilt die
fortgesetzte Ausplünderung der Reichtümer Somalias.
({6})
Sie verurteilt auch den Raubbau an der Natur durch die
westlichen Konzerne, der den Leuten vor Ort die Lebensgrundlagen, die existenziell wichtig sind, nimmt.
Sie verurteilt ebenfalls die Untätigkeit dieser Bundesregierung. Die Bundesregierung unternimmt nichts, aber
auch gar nichts gegen diese Ausplünderung, ja, sie leistet
ihr sogar Vorschub.
({7})
Wenn es Ihnen nicht um die Bekämpfung der Piraterie
zu gehen scheint, wie es offensichtlich der Fall ist: Worum
geht es Ihnen dann eigentlich? In Ihrem Antrag finden
sich einige Hinweise, worum es bei Atalanta wirklich
geht. Atalanta soll eng mit der Militärausbildungsmission für die somalische Regierung - EUTM Somalia verzahnt werden.
({8})
- In der Begründung. Lesen Sie einfach einmal Ihren
Antrag! - Kurz gesagt: Atalanta soll eine entscheidende
Rolle bei der Unterstützung der verbrecherischen somalischen Regierung spielen. Deshalb wurde diese Mission
bereits auf Landoperationen ausgeweitet.
({9})
Als kenianische Truppen ihre völkerrechtswidrigen
Angriffe auf somalischem Boden fortsetzten, wurden sie
dabei bereits von französischen Atalanta-Verbänden unterstützt. Da frage ich mich doch: Soll Somalia eigentlich das neue Afghanistan am Indischen Ozean werden?
Wollen Sie nach dem Scheitern der Bundeswehr und der
NATO in Afghanistan jetzt ein neues militärisches
Abenteuer mit der EU-Militäroperation Atalanta und mit
EUTM Somalia am Indischen Ozean beginnen? Die
Linke sagt unmissverständlich Nein zu dieser Art von
Außenpolitik.
({10})
Wir wollen nicht, dass Deutschland erneut eine Bürgerkriegspartei wird und international bei Bürgerkriegen
mitmischt. Denn das ist es, worum es bei diesen Einsätzen im Kern geht. Alle drei Einsätze der Bundeswehr in
Somalia führen dazu, eine Bürgerkriegspartei zu werden.
Bei internationalen Bürgerkriegen mitzumischen, war
und ist nicht der Auftrag des Grundgesetzes. Deshalb
lehnt die Linke diesen Einsatz ab.
({11})
Eines haben Sie mit Ihrer Mission am Indischen
Ozean schon geschafft: Sie haben den Bürgerkrieg und
auch Ihr eigenes Einsatzgebiet massiv ausgeweitet. Mittlerweile droht ganz Ostafrika in einem neuen Bürgerkrieg zu versinken. Sie tragen hierfür die Mitschuld,
meine Damen und Herren,
({12})
weil Sie politischen Lösungen und Verhandlungslösungen überhaupt keinen Raum geben. Die Linke setzt auf
zivile Alternativen ohne Wenn und Aber. Wir brauchen
kein neues Afghanistan am Indischen Ozean, was Sie
mit diesen Missionen mit befördern.
({13})
Das Wort hat der Staatsminister im Auswärtigen Amt,
Michael Roth.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Seit 2008 hält Somalia nunmehr den traurigen Spitzenplatz im Ranking der sogenannten gescheiterten Staaten,
erstellt von der renommierten Denkfabrik „The Fund for
Peace“. Das führt uns eindrücklich vor Augen: Wir ste2770
hen in Somalia vor einer ausgesprochen schwierigen und
komplexen Aufgabe. Da gibt es nichts zu beschönigen.
Trotz aller Probleme und Schwierigkeiten wäre es
aber verheerend, das Land einfach verloren zu geben
und seinem Schicksal zu überlassen, wie die Kolleginnen und Kollegen von der Linken dies offensichtlich beabsichtigen. Es kann nicht unser außenpolitischer Anspruch sein, anderen Staaten bei ihrem Scheitern tatenlos
zuzuschauen. Vielmehr wird die Bundesregierung auch
weiterhin alles daransetzen, Somalia nach Jahren der Instabilität auf seinem langen und mühseligen Weg zurück
in die Gemeinschaft der handlungsfähigen Staaten zu begleiten.
Nach dem langjährigen Bürgerkrieg und dem weitgehenden Staatszerfall benötigt Somalia unsere Unterstützung vor allem beim Wiederaufbau von Justiz und Verwaltung sowie des Sicherheitssektors. Darum wollen wir
uns ganz besonders kümmern; denn nur wenn Recht und
Ordnung wieder Einzug halten, wird die somalische Bevölkerung mittelfristig auch wieder Vertrauen in den eigenen Staat schöpfen können.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Mandat für die
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher
Streitkräfte an der EU-geführten Operation Atalanta,
über das wir heute hier im Bundestag beraten, ist Teil
dieses umfassenden Ansatzes. Es ist von der Grundüberzeugung getragen: Unser Engagement am Horn von
Afrika und für Afrika insgesamt ist immer dann erfolgreich, wenn unser gesamtes außenpolitisches Instrumentarium abgestimmt zum Einsatz kommt. Dafür müssen
sicherheits-, entwicklungs- und wirtschaftspolitische Aspekte stets zusammen gedacht und eng miteinander verzahnt werden. Die meisten Kolleginnen und Kollegen
hier im Hause sind sich dieser Verantwortung wohl bewusst.
In dieser Frage sind wir uns übrigens mit unseren europäischen Partnern einig.
Die deutsche Afrikapolitik ist auch mit Blick auf unser Engagement am Horn von Afrika fest in den EURahmen eingebettet. Mit ihrem umfassenden Ansatz für
Somalia verfolgt die Europäische Union ebenfalls die
Idee eines integrierten Handelns: politischer Dialog, entwicklungspolitische Maßnahmen, humanitäre Hilfe und
notfalls - das fällt niemandem hier im Hause und auch
der Bundesregierung nicht leicht - eben auch der Einsatz
militärischer Kräfte. In ihrer Gesamtheit leisten diese
Aktivitäten einen entscheidenden Beitrag zu nachhaltiger politischer Stabilität und wirtschaftlicher Entwicklung in der Region.
Neben der militärischen Operation Atalanta ist die
EU am Horn von Afrika bislang mit zwei weiteren
Schwestermissionen unter deutscher Beteiligung engagiert, der militärischen Ausbildungsmission EUTM Somalia und der zivilen Mission EUCAP NESTOR zur
Stärkung regionaler maritimer Fähigkeiten. EUTM Somalia soll die somalischen Sicherheitsorgane durch Ausbildung und Beratung langfristig in die Lage versetzen,
Sicherheit und Stabilität wieder eigenverantwortlich zu
gewährleisten. Auch die zivile Mission EUCAP
NESTOR wird ihren Schwerpunkt zunehmend auf den
Aufbau von Kapazitäten zur Stärkung rechtsstaatlicher
Institutionen in den somalischen Küstengebieten legen,
damit Piratennetzwerke dort nicht mehr ungestraft agieren können.
Die Operation Atalanta zeigt - es ist ein mühseliger
Weg; ich weiß das - mittlerweile erste Erfolge. Seit dem
Beginn der Operation im Jahr 2008 ist der Golf von
Aden, die wichtigste Schifffahrtsroute zwischen Europa,
der arabischen Halbinsel und Asien, deutlich sicherer
geworden. Die durchgängige Anwesenheit von Seestreitkräften zeigt Wirkung. Die Angriffe von Piraten
sind im Jahr 2013 gegenüber den Vorjahren auf einen
historischen Tiefstand zurückgegangen. Noch ist die somalische Übergangsregierung allerdings sehr weit davon
entfernt, die Küsten und anliegenden Seegebiete aus eigener Kraft kontrollieren zu können. Daher können wir
auf den Einsatz im Rahmen der Operation Atalanta vorerst nicht verzichten und wollen sie zunächst bis Ende
Mai 2015 fortführen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das gilt umso mehr,
da die Operation Atalanta auch das leider nach wie vor
dringend benötigte humanitäre Engagement der internationalen Gemeinschaft für die notleidende Bevölkerung
in Somalia absichert. Denn noch immer ist Somalia eines der größten humanitären Krisengebiete weltweit.
Nach Schätzungen der Vereinten Nationen benötigen
derzeit rund 2,7 Millionen Menschen in Somalia akute
Nothilfe. Die humanitäre Hilfe durch Lieferungen des
Welternährungsprogramms und anderer internationaler
Hilfsorganisationen erfolgt fast vollständig auf dem Seeweg. Vor diesem Hintergrund erfüllt die Operation Atalanta auch die wichtige Aufgabe, die Lieferung von Nahrungsmitteln und weiteren wichtigen Hilfsgütern nach
Somalia sicherzustellen. Die an Atalanta beteiligten
Schiffe haben dafür gesorgt, dass alle im Auftrag des
Welternährungsprogramms durchgeführten Schiffstransporte ihre somalischen Zielhäfen sicher erreichen konnten. Auf diese Weise wurden insgesamt mehr als
900 000 Tonnen Nahrungsmittel und andere Hilfsgüter
nach Somalia gebracht. Damit hat die EU-geführte Operation dazu beigetragen, dass in den vergangenen Jahren
Tausende von Menschenleben in Somalia gerettet werden konnten. Vielleicht können Sie diesen Punkt bei Ihren Überlegungen ansatzweise einbeziehen, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion.
({1})
Als eines der größten Geberländer für humanitäre
Hilfe - alleine zwischen 2008 und 2013 flossen deutsche
Hilfsgelder in Höhe von 313 Millionen Euro nach Somalia - hat Deutschland ein besonderes Interesse daran,
dass die Hilfsgüter auch dort ankommen, wo sie am nötigsten gebraucht werden. Darüber hinaus geht es selbstverständlich aber auch darum, Seewege für einen funkStaatsminister Michael Roth
tionierenden Welthandel zu sichern. Auch das ist Teil
unseres europäischen Interesses. Auch diesem Zweck
dienen unsere Bemühungen zur Durchsetzung des internationalen Rechts vor der Küste Somalias. Wir teilen
dieses Interesse mit allen am Seehandel teilhabenden
Nationen. Gerade am Horn von Afrika zeigt sich in der
alltäglichen Zusammenarbeit die verbindende Wirkung
der Meere. Die Marinen der EU- und NATO-Staaten koordinieren ihre Aktivitäten im Seegebiet mit den Marinen Chinas, Russlands, Indiens, Südkoreas und vieler
anderer Länder. Die sich daraus ergebenden Kontakte
und Arbeitsbeziehungen sind ein weiterer, nicht zu unterschätzender Nebeneffekt des gemeinsamen internationalen Engagements am Horn von Afrika. Sie bieten uns die
Möglichkeit, auf einer weiteren Ebene Gesprächskanäle
aufzubauen und offenzuhalten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen - das sage ich in
Richtung meiner eigenen Fraktion -, es gab in den vergangenen Jahren im Deutschen Bundestag durchaus
kontroverse Diskussionen über die Operation Atalanta.
Meine Fraktion hat sich daran beteiligt. Insbesondere
ging es um die Ausweitung des Einsatzgebietes auf das
somalische Festland. Viele hatten damals befürchtet,
dass die EU-Einheiten in einen Einsatz an Land hineingezogen werden könnten. Diese Bedenken haben sich in
der Praxis erfreulicherweise nicht bestätigt. Faktisch ist
diese Option nur ein einziges Mal gezogen worden, auch
weil die Hürden hierfür in den Einsatzregeln bewusst
sehr hoch gesetzt worden sind. Deshalb kann ich uns alle
nur dazu ermuntern, über jeden Militäreinsatz besonders
kritisch zu diskutieren, nachzuprüfen, auch die Regierung in die Pflicht zu nehmen. Da kann manches noch
besser werden. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die damalige kritische Kontroverse dazu beigetragen hat, dass
sich die Bedenken, die von einigen geäußert wurden,
eben nicht erfüllt haben. Dafür mein herzliches Dankeschön.
Derzeit laufen auf EU-Ebene noch Verhandlungen
über die Anpassung der Einsatzbefugnisse der Operation
Atalanta, die bis spätestens August/September 2014 abgeschlossen sein sollen. Die Bundesregierung wird sich
in enger Abstimmung mit ihren europäischen Partnern
um eine möglichst restriktive Regelung der Landeinsätze
bemühen. Ich bin schon jetzt gespannt, welche Vorschläge uns die Kolleginnen und Kollegen aus den zuständigen Ausschüssen unterbreiten werden.
Positiv ist auch, dass mit dem neuen Mandat die personelle Obergrenze von 1 400 auf 1 200 deutsche Soldatinnen und Soldaten reduziert wird. Auch das ist ein Beleg für die ersten Erfolge bei der Eindämmung der
Piraterie vor der somalischen Küste. Wenn sich diese Erfolge weiter verstetigen, gibt es die klare Perspektive einer weiteren Reduzierung der Truppenstärke.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Operation Atalanta hat in der europäischen Öffentlichkeit, bei
unseren internationalen Partnern und im Kreis der seefahrenden Nationen hohes Ansehen. Sie wird als weithin
sichtbarer Leuchtturm einer handlungsfähigen Gemeinsamen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik wahrgenommen. Mit der Sicherung des Zugangs humanitärer Hilfe nach Somalia und dem Schutz des
zivilen Schiffsverkehrs vor Piraterie erbringt sie einen
wertvollen Dienst im Interesse Somalias und des internationalen Rechts. Ich bitte Sie daher im Namen der Bundesregierung um Ihre Unterstützung für unsere fortgesetzte Beteiligung an der Mission Atalanta.
Kritik ist - das will ich zum Schluss noch einmal ausdrücklich unterstreichen - nicht nur erwünscht, Kritik ist
zwingend notwendig. Aber, liebe Kollegin, diese krude
Mischung aus Halbwahrheiten, Populismus und Verschwörungstheorien
({2})
wird der Verantwortung, die wir gemeinsam für unsere
Soldatinnen und Soldaten, für die Sicherheitskräfte und
für diejenigen, die humanitäre Hilfe leisten und zu tragen haben, leider nicht gerecht.
Vielen herzlichen Dank.
({3})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Omid Nouripour das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
muss zugeben: Die bisherige Debatte hat mich ein bisschen verwirrt; denn alle Rednerinnen und Redner haben
von einem Somalia-Einsatz gesprochen. Wir haben damals im Jahr 2008 eine maritime Mission begonnen, die
sich natürlich auch auf die Küstenregion vor Somalia erstreckt - ja, viele der Piraten sind aus Somalia -, aber
das Einsatzgebiet insgesamt ist deutlich größer. Ein anderer Teil der Piraten stammt zum Beispiel aus Jemen
und Oman. Deshalb ist es nicht ganz lauter, wenn man
sich hier hinstellt und sagt: Somalia ist ein armes Land;
wir wollen den Menschen helfen und bekämpfen deshalb
die Piraterie. - Das beschreibt nicht den Einsatz, über
den wir heute sprechen.
Es geht um Symptombekämpfung - um nicht mehr
und nicht weniger. Die Mission als Symptombekämpfung war seit 2008 extrem erfolgreich; das ist überhaupt
nicht zu bestreiten. Die Schiffe, die im Auftrag des
World Food Programmes unterwegs waren, haben diesen
Schutz gebraucht. Im Jahr 2013 gab es meines Wissens
keinen erfolgreichen Piratenangriff mehr. Das ist gut und
richtig so. Dafür möchte ich allen, die daran mitgewirkt
haben, vor Ort für Sicherheit zu sorgen, im Namen meiner Fraktion herzlich danken.
Ich stelle noch einmal die Frage, warum die Bundesregierung nicht einmal bei einer erfolgreichen Mission
bereit ist, eine Evaluation zu treffen. Gerade vor dem
Hintergrund der Debatten, die unser Außenminister und
unsere Verteidigungsministerin Anfang des Jahres mit
angestoßen haben, dass Deutschland mehr Verantwortung übernehmen will, wäre es höchste Zeit, eine Evaluation zu machen. Dass Sie sich bei Afghanistan nicht
trauen, weil es seit Beginn des Einsatzes viele Bundesre2772
gierungen gegeben hat - ich nehme keine aus -, die Fehler gemacht haben, kann man verstehen, wenn man will.
Dass Sie dies aber auch bei einer erfolgreichen Mission
nicht machen, führt nicht unbedingt dazu, dass man aus
den bisherigen Einsätzen lernt.
({0})
Wir haben seit 2008 mehrheitlich diesem Einsatz immer
zugestimmt. 2012 sind bei einer erfolgreichen Mission die
Regeln verändert worden. Es kam eine sogenannte Strandvariante hinzu. Es gab dann die Möglichkeit, an Land zu
wirken. Es gab viel Unverständnis darüber, weil der Strand
eine Breite von 2 Kilometern hatte. Wir haben damals gesagt, dass diese neue Komponente nicht nur unnötig ist,
sondern auch unnötige Risiken und Eskalationsgefahren
mit sich bringt. Wir haben damals einen Einsatz und die
Mission nicht verdammt, wir haben nicht dagegen gestimmt. Wir haben gesagt, dass die Mission erfolgreich
ist, dass wir uns der Eskalationsgefahr entgegenstellen,
und haben uns enthalten. An dieser Eskalationsgefahr
hat sich seitdem im Übrigen nichts verändert.
({1})
Die Sozialdemokratie hat damals mit Nein gestimmt.
Aus den Worten des Herrn Staatsministers habe ich nicht
gehört, was sich an der Realität dieser Mission und dieser zusätzlichen Komponente verändert hat. Das Einzige, das sich verändert hat, ist das Mandat, und zwar
nicht nur die Mandatsobergrenze. Das, was auch von der
Sozialdemokratie abgelehnt wurde, steht expressis verbis nicht mehr im Mandatstext, sondern in einem Querverweis auf das alte Mandat, das die Sozialdemokratie
abgelehnt hat. Stimmen Sie jetzt Ihrer alten Ablehnung
zu, wenn Sie dem Querverweis auf das alte Mandat zustimmen? Stimmen Sie jetzt Ihrer Ablehnung zu, oder
müssen Sie ablehnen, um zuzustimmen? Es ist nicht
mehr nachvollziehbar, was die Sozialdemokratie macht.
Eigentlich ist die Situation viel zu ernst.
Wir reden über ein bitterarmes Land, wenn wir über
Somalia reden. Die Küste Somalias ist nur ein Teil des
Problems. Gestern ist von 22 Hilfsorganisationen ein
Bericht veröffentlicht worden. Sie haben darauf hingewiesen, dass es im Jahre 2011 eine Hungerkatastrophe
ungeahnten Ausmaßes gegeben hat. 250 000 Menschen
sind in Somalia verhungert. Sie sagen, dass eine verheerende Trockenheit im Süden des Landes droht, dass sich
eine solche Katastrophe wiederholen kann. Es wird von
50 000 Kindern gesprochen, die an der Schwelle des Todes seien. Oxfam weist darauf hin, dass es 2011 glasklare Indizien gegeben hat und dass die Weltgemeinschaft damals zugeschaut hat. Es ist höchste Zeit, dass
man die Indizien, die es wieder gibt, zur Kenntnis
nimmt. Es ist höchste Zeit, dass wir auch zur Kenntnis
nehmen, dass die internationale Gemeinschaft nur
12 Prozent der notwendigen Hilfsgelder bisher hat generieren können und dass wir etwas tun müssen. Jenseits
der Debatte um Atalanta, jenseits einer erfolgreichen Bekämpfung der Symptome müssen wir auf Somalia selbst
schauen. Da reichen die Verquickungen, die nicht lauter
sind, nicht aus. Wenn wir etwas für Somalia tun wollen,
dann müssen wir nicht nur auf die politischen Prozesse,
die es in Mogadischu gibt, schauen, sondern auf die massive humanitäre Katastrophe, die derzeit im Süden des
Landes droht. Wir müssen alles daransetzen, dass sich
die Katastrophe, die es vor drei Jahren gab, nicht wiederholt.
({2})
Der Kollege Philipp Mißfelder erhält für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr verehrte Präsidentin! Kollege Nouripour, ich
möchte unseren sozialdemokratischen Koalitionspartner
an dieser Stelle in Schutz nehmen. Als Hinweis für Sie:
Das Abstimmungsverhalten der SPD beim letzten Mal
steht heute nicht zur Debatte, wenn ich in Ihrer Logik
bleiben darf.
({0})
Sie haben sich mit Ihren Querverweisen ziemlich vergaloppiert. Sie haben die SPD aufgefordert, zu ihrem vorherigen Abstimmungsverhalten Stellung zu beziehen.
Staatsminister Roth hat ausführlich dargestellt, welche
kritische Überprüfung es bei dem Mandat gegeben hat.
Ich finde es wirklich kleinkrämerisch, nach den Erklärungen der Bundesregierung durch zwei Regierungsvertreter auf dieser Frage herumzureiten und vor allen Dingen den Kernpunkt außer Acht zu lassen, dass es sich bei
Atalanta um eines der erfolgreichsten Mandate der Bundeswehr
({1})
und gleichzeitig um eines der beliebtesten Mandate in
der Bevölkerung handelt. Denn selten ist so logisch und
so eindeutig zu erkennen, wo die deutschen Interessen
liegen, wo unsere politische Verantwortung liegt und
worin zugleich der unmittelbare Nutzen liegt.
Ich darf daran erinnern - der frühere Verteidigungsminister Franz Josef Jung hat es mir gerade noch mit auf
den Weg gegeben -: 2008 gab es über 200 Attacken von
Piraten. Dieses Mandat ist wirklich eine große Erfolgsgeschichte. Das sollte man an dieser Stelle erst einmal
festhalten.
({2})
Deshalb sollten wir dieses Mandat verlängern. Und deshalb danken wir in dieser Debatte zu Recht den 361
Frauen und Männern, die gerade für uns im Einsatz sind.
Ich bin der Meinung, dass sie hervorragende Arbeit leisten, übrigens in einem nicht einfachen Einsatzgebiet. Es
ist vorhin von einer Eskalation gesprochen worden. Ich
glaube, dass unsere Antwort auf mögliche Eskalationsszenarien die richtige war: Wir haben Stärke demonstriert. Das Ergebnis ist, dass die Situation nicht weiter
eskaliert ist. Keiner von uns kann aber sicher sagen, keiner kann vorher beurteilen, ob es sich in die eine oder in
die andere Richtung entwickelt.
Zu dem Vorwurf, wir hätten keine Evaluation durchgeführt, muss ich sagen: Schon der Parlamentsvorbehalt
und die Debatte am heutigen Tage zeigen, dass wir uns
sehr genau überlegen, welche Mandate wir auf den Weg
bringen und welche nicht. Ich fände es übrigens nicht
gut, wenn es im Parlament gängige Praxis wäre, den Parlamentsvorbehalt, der sich in den Beratungen hier in erster und zweiter Lesung und in einer Ausschussberatung
ausdrückt, so wahrzunehmen, dass wir uns vorher von
der Regierung einen Bericht zuschicken lassen, in dem
steht, was denn aus Sicht der Regierung an einem Mandat gelungen oder weniger gelungen ist. Wir haben es im
Falle Afghanistans so gemacht, um aus dem Einsatz insgesamt Schlüsse ziehen zu können und eine generelle
Rückschau auf den langjährigen Einsatz in Afghanistan
zu ermöglichen.
({3})
Ich finde aber, dass hier der richtige Ort ist, darüber zu
reden, ob ein Mandat erfolgreich war und wir es verlängern sollten oder nicht. Ich komme zu dem Ergebnis:
Dieses Mandat war erfolgreich und wird hoffentlich
auch erfolgreich bleiben. Deshalb plädieren wir dafür,
das Mandat zu verlängern.
({4})
Was Somalia angeht, so gebe ich Ihnen recht - es ist
angesprochen worden -: Natürlich können wir mehr tun.
Natürlich stimmt es, dass wir insgesamt mehr Engagement für Afrika zeigen müssen, politisch, diplomatisch
und in der Entwicklungszusammenarbeit. Selbstverständlich können wir mehr tun, selbstverständlich kann
auch die Europäische Union mehr tun. Trotzdem ist die
Lage in Somalia natürlich besonders schwierig und gefährlich. Deshalb muss man genau hinschauen, wenn es
darum geht, welcher Maßstab der richtige ist, um festzustellen, was in der Somalia-Politik bisher gut oder
schlecht gelaufen ist. Erinnern Sie sich noch daran? Vergangenen Herbst gab es in Brüssel eine Tagung zur
Frage eines New Deal Engagement, und es ist dabei
nicht zu nennenswerten oder greifbaren Ergebnissen gekommen.
Wir müssen eines sehen: Atalanta leistet einen stabilisierenden Beitrag zu einem ganz zentralen humanitären
Akt, nämlich zur Arbeit des World Food Programme.
Denn wenn Atalanta nicht wäre, dann wäre die Lieferung von Nahrungsmitteln nicht möglich. Damit leistet
die Bundeswehr an dieser Stelle einen humanitären Beitrag, den wir aufrechterhalten wollen.
({5})
Zu den Theorien von Frau Dağdelen ist von Staatsminister Roth vorhin schon ausführlich etwas gesagt worden.
({6})
Ich höre sie jedes Jahr, wenn wir das Mandat verlängern.
({7})
Normalerweise ist auch Herr Ströbele ein Kämpfer für
die Theorie, dass die Piraterie aus der Überfischung resultieren würde. Unabhängig davon, dass die soziale
Struktur in Somalia wirklich katastrophal ist, was eine
Ursache der Probleme ist, gibt es überhaupt keinen
Grund, sich nicht kriminellen Akten entgegenzustellen.
Es ist gerade deshalb wichtig, Präsenz zu zeigen und dafür zu sorgen, dass die Möglichkeit einer Rechtsstaatlichkeit überhaupt vorhanden ist. Dazu leistet Atalanta
aus meiner Sicht den richtigen Beitrag.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({8})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Florian Hahn für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die EU-geführte Operation Atalanta soll zum
Schutz der internationalen Seeschifffahrt die vor der
Küste Somalias operierenden Piraten abschrecken und
bekämpfen. Mit der Operation sollen weiterhin Geiselnahmen und Lösegelderpressungen verhindert, das Völkerrecht durchgesetzt und humanitäre Hilfe für die somalische Bevölkerung, zum Beispiel - das ist schon oft
genannt worden - durch das Welternährungsprogramm,
sichergestellt werden.
Seit Beginn der Operation Atalanta ist kein Schiff des
Welternährungsprogrammes mehr angegriffen worden.
Auch die Sicherung der bedeutsamen Handelsroute zwischen Europa, der arabischen Halbinsel und Asien ist für
Deutschland als Exportnation und Importeur von Rohstoffen dauerhaft von besonderem Interesse.
In Osnabrück wurde im April dieses Jahres im ersten
Piratenprozess seit 400 Jahren ein somalischer Pirat in
erster Instanz zu zwölf Jahren Haft verurteilt,
({0})
jetzt wird sich noch der Bundesgerichtshof mit diesem
Fall beschäftigen. Die Umstände dieses Falles machen
deutlich, warum die EU-geführte Operation Atalanta
weiterhin so wichtig ist und warum uns romantische Piratenklischees den Blick auf die grausame Realität nicht
verstellen dürfen.
Im Mai 2010 wird die „Marida Marguerite“, ein mit
Flugbenzin und Speiseöl im Wert von 10 Millionen Euro
beladener brandneuer Tanker einer Reederei aus dem
Emsland von Piraten vor Somalia gekapert. Für die Besatzung folgen acht Monate unvorstellbares Leid und
grausame Quälereien. Die Piraten schlagen und foltern
die Seeleute. Es gibt Scheinhinrichtungen; ein Schuss
geht knapp am Kopf des Kapitäns vorbei. Der Chefingenieur wird stundenlang kopfüber an einer Eisenstange
über die Reling gehängt, die Piraten sperren Kapitän und
Ingenieur nackt bei minus 17 Grad Celsius in die Kühlkammer. Kurz vor Weihnachten 2010 werden aus einem
Flugzeug 5 Millionen Euro Lösegeld über dem Schiff
abgeworfen. Die Kidnapper bestätigen den Empfang per
Fax, unterschrieben mit: „Merry Christmas“. Am 28.
Dezember 2010 geben die Piraten Schiff und Besatzung
dann Gott sei Dank endlich frei.
Der Fall ist grausam, aber leider kein Einzelfall. In
der Vergangenheit wurden Besatzungen im Durchschnitt
bis zu fünf Monate lang gefangen gehalten. So etwas
dürfen Staaten nicht zulassen. Wenn ein Failed State wie
Somalia nicht in der Lage ist, die Piraterie zu unterbinden, muss die Weltgemeinschaft sich überlegen, was sie
unternehmen kann, um solche Verbrechen zu verhindern.
Die Mission EU NAVFOR Atalanta, über deren Verlängerung wir heute wieder einmal beraten, hat maßgeblich dazu beigetragen, dass die Piratenangriffe heute auf
einem Tiefstand angekommen sind. 2013 wurden 20 verdächtige Ereignisse registriert, aber nur 7 Angriffe, die
alle erfolglos blieben. Zum Vergleich: 2011 waren es
noch 176 Angriffe. Das zeigt einmal mehr, wie erfolgreich und gut dieser Einsatz ist.
Das militärische Vorgehen im Rahmen der Operation
Atalanta ist aber nur ein Teil eines umfassenden ressortübergreifenden Ansatzes zur Stabilisierung Somalias
und der gesamten Region. Parallel zu den militärischen
Bemühungen auf See laufen daher Bemühungen der Vereinten Nationen, der Europäischen Union und auch bilateraler Art, Somalia und die Region zu stabilisieren.
Deutschland beteiligt sich umfangreich an humanitärer
Hilfe für Somalia. Wir tragen über den allgemeinen Finanzierungsanteil 20 Prozent der humanitären Hilfe der
EU-Kommission; das waren allein zwischen 2008 und
2013 313 Millionen Euro. Schon bisher stellten das
BMZ und auch das Auswärtige Amt zusätzlich immer
wieder substanzielle Mittel zur Verfügung.
Mir scheint, dass das der richtige Ansatz ist: auf der
einen Seite Bekämpfung der akuten, gegenwärtigen Gefahren der Piraterie auf See durch Abschreckung der Piraten mit militärischen Mittel sowie Bekämpfung des
Hungers und Elends in den Flüchtlingslagern durch humanitäre Hilfe, auf der anderen Seite zugleich zukunftsgerichtete Investitionen in die Stabilisierung der Region
und in den Aufbau staatlicher Strukturen.
In den letzten Debatten und auch heute wurden wieder Befürchtungen geäußert, die Ergänzung des Mandats
um die Möglichkeit der Bekämpfung der Piraterielogistik am Strand aus der Luft führe zu einer Eskalationsgefahr und berge das Risiko ziviler Opfer.
Diese Horrorszenarien haben sich bisher nicht bewahrheitet. Es ist entgegen diesen unrealistischen Vorstellungen bis heute nicht zu Kollateralschäden oder
Übergriffen auf die Zivilbevölkerung gekommen. Keine
Eskalation, deswegen keine Gefahr. Aus meiner Sicht
sollten sich alle nichtdogmatischen Fraktionen in diesem
Haus für den Einsatz im Rahmen des Mandats Atalanta
einsetzen.
Herzlichen Dank.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/1282 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl, Jürgen Trittin, Agnieszka Brugger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kündigung bilateraler Kooperationen im Bereich der Nutzung atomarer Technologien
Drucksache 18/1336 ({0})
Über den Antrag werden wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Die Kollegin Sylvia
Kotting-Uhl für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat
als Erste das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Brasilien baut ein AKW. Brasilien tut das auch mit deutscher Technik; darunter sind auch veraltete Komponenten, die nicht mehr dem Stand von Wissenschaft und
Technik entsprechen. Und Brasilien tut das in einem
Erdbebengebiet.
Die von Deutschland für den Export der deutschen
Komponenten bereitgestellte Hermesbürgschaft hat in
der letzten Legislatur zu heftigen Debatten geführt. Die
SPD wollte mit uns zusammen diese Hermesbürgschaft
verhindern. Die Hermesbürgschaft ist aber nur der unvermeidliche Begleiter des Abkommens zwischen
Deutschland und Brasilien zur Förderung der sogenannten zivilen Atomkraftnutzung, eines Abkommens, geschlossen in der atomaren Euphorie der 70er-Jahre. Es
gibt mehrere dieser Abkommen, alle geschlossen vor
Tschernobyl und Fukushima, heute völlig anachronistisch und aus der Zeit gefallen.
({0})
Das Abkommen mit Brasilien und das Abkommen
mit Indien laufen in diesem Jahr aus. Kündigt man die
Abkommen nicht, werden sie automatisch verlängert.
Das Abkommen mit Indien läuft heute in einer Woche
aus. Diese Abkommen sind keine Petitessen. Wer es mit
dem Atomausstieg im eigenen Land ernst meint, der
kann nicht im Ausland den Ausbau von Atomtechnologie mit Mitteln der Außenwirtschaftsförderung unterstützen.
({1})
Die Begründung des Wirtschaftsministerium, die wir
auf unsere Anfrage, warum das Abkommen mit Brasilien nicht gekündigt wird, bekommen haben, lautet übrigens wie immer, wenn es um Atomkraft und deren Nutzung geht: Sicherheit. Die Sicherheit sei erhöht, wenn
deutsche Atomtechnik mit dabei sei.
({2})
Ich sage Ihnen eines, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Koalition: Mehr Sicherheit für Brasilien gibt es
nur, wenn dieses Atomkraftwerk nicht gebaut wird, egal
mit welcher Technik.
({3})
Deshalb braucht es Kooperationen in den Bereichen erneuerbare Energien und Energieeffizienz und eben nicht
im Bereich der Nukleartechnik.
({4})
Die brasilianische Präsidentin macht übrigens keinen
Hehl daraus, dass es neben der Stromerzeugung durchaus auch um die Beherrschung des Brennstoffkreislaufs
geht.
Schauen wir uns den Atomwaffenstaat Indien an. Er
ist zwar Mitglied der IAEA, ist bis heute aber nicht dem
Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag beigetreten. Indien
importiert also zivile Atomtechnik, ohne die wesentlichen Kontrollmechanismen für das militärische Atomprogramm aufzuweisen. Damit unterstützt das Atomausstiegsland Deutschland nicht nur den Ausbau der
Atomkraftnutzung, sondern auch das Unterlaufen des internationalen Nichtverbreitungsregimes. Eine solche
Politik, liebe Kolleginnen und Kollegen, macht Regierung und Parlament national und international unglaubwürdig.
({5})
Nun stellen sich Enttäuschungen über Verhaltensweisen selbstverständlich unterschiedlich dar. Ich will nicht
verhehlen, dass ich in diesem Fall besonders von den
Genossinnen und Genossen der SPD enttäuscht bin. Alle
Häuser, die in der Frage der Abkommen eine Rolle spielen, sind in SPD-Hand: das Wirtschaftsministerium, das
Umweltministerium und das Auswärtige Amt. In der
letzten Legislaturperiode haben Sie noch mit uns die Beendigung der Förderung der Atomkraft im Ausland gefordert. Nichts davon findet sich im Koalitionsvertrag,
und Ihre Häuser schweigen.
Am 28. März erfuhren wir in der Antwort auf unsere Kleine Anfrage, dass das Abkommen mit Indien
am 15. Mai ausläuft. Am 16. April bekam Umweltministerin Hendricks von Jürgen Trittin und mir einen Brief
mit der Aufforderung, dieses Abkommen jetzt zu kündigen. Keine Reaktion. Deshalb liegt heute unser Antrag
vor. Es geht in diesem Antrag nicht nur um das Abkommen mit Indien, sondern es geht um alles, was in diesen
Gesamtzusammenhang gehört: das Abkommen mit Brasilien, die Hermesleitlinien, die Kooperationen in den
Bereichen Erneuerbare und Energieeffizienz.
Das alles ist nur ein kleiner Teil dessen, was Sie versäumen. Denn wer glaubt, dass sich der Atomausstieg in
einem Abschaltplan erschöpft, der irrt,
({6})
obwohl ich zugeben muss, dass mir selbst der Abschaltplan inzwischen Sorgen macht, wenn ich mir anschaue,
was man von Ihnen zur Energiewende vorgelegt bekommt. Sie kümmern sich nicht um die Risiken grenznaher AKW. Sie lassen zu, dass mit öffentlichen Forschungsgeldern an atomaren Techniken geforscht wird,
zum Teil in Kooperation mit Atomländern wie Frankreich oder auch China. Sie werben nicht für den internationalen Atomausstieg und für die Energiewende, und
Sie lassen zu, dass sich das deutsche Gesicht in der EUKommission, Energiekommissar Oettinger, als Atomlobbyist betätigt. Heute haben Sie die Chance, zu zeigen,
dass Sie zumindest den Zusammenhang zwischen diesen
Abkommen und dem Atomausstieg verstehen.
({7})
Wir sind auch in Euratom gefangen. Wir haben hier
schon oft darüber diskutiert. Uns wird als Begründung
immer genannt: Wir können nicht aus Euratom aussteigen, weil dies ein EU-Vertrag ist. Diese Abkommen sind
keine EU-Verträge. Man kann sie kündigen. Machen Sie
im Sinne von Konsequenz und Glaubwürdigkeit den
Schritt. Sie haben heute die Chance, das zu zeigen. Stimmen Sie, zumindest die Genossinnen und Genossen von
der SPD, unserem Antrag zu, diese antiquierten Abkommen 40 Jahre nach ihrem Zustandekommen heute in einer völlig veränderten Welt endlich zu kündigen.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat die Kollegin Elisabeth Motschmann für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Frau Kotting-Uhl, zunächst möchte ich Ihren
Vorwurf, dass Herr Oettinger ein Atomlobbyist ist, zurückweisen.
({0})
Das kann man ganz sicher so nicht sagen. Die uns von
Ihnen unterstellte Atomeuphorie hat es aus meiner Sicht
auch nie gegeben.
Alle Jahre wieder kommt ein ähnlicher Antrag von
Ihnen zur Kündigung bilateraler Kooperationen im Bereich der Nutzung atomarer Technologien. Das gehört zu
Ihren Lieblingsthemen. Wie bereits in der letzten Legislaturperiode geht es auch heute wieder um die Hermesbürgschaften - Sie haben es eben gesagt - für ein Atomkraftwerk in Brasilien. In Ihrem Antrag heißt es - ich
zitiere -:
Wer zu Hause aus der Atomkraft aussteigt, weil ihre
Risiken zu groß und die hochgefährlichen Hinterlassenschaften nicht verantwortbar sind, kann sie
im Ausland nicht durch gezielte Außenwirtschaftsförderung begünstigen.
So weit Ihr Antrag.
({1})
Das klingt im ersten Moment plausibel und einleuchtend,
({2})
ist es aber nicht. Wer im eigenen Land so etwas beschließt, kann noch lange nicht fordern, dass alle anderen es dann auch tun.
({3})
Sie können es fordern, aber Sie können es nicht erzwingen.
({4})
Bei genauer Betrachtung der Lage in den anderen Ländern - diese haben Sie viel zu wenig betrachtet - können
Sie eine solche Forderung eben nicht aufrechterhalten.
Unsere Regierung hat beschlossen, dass Deutschland
mittelfristig aus der Atomkraft aussteigt. Ich stehe voll
und ganz dahinter, meine Fraktion selbstverständlich
auch.
({5})
Der Fokus liegt auf den erneuerbaren, nachwachsenden
und reproduzierbaren Energien. Dennoch ist uns aber
auch bewusst, dass wir noch nicht ganz aus der Atomenergie aussteigen und noch nicht völlig auf sie verzichten können. Sie bleibt noch für einige Jahre ein Teil
unseres Energiemixes. Fossile Energieträger und Kernenergie sind derzeit noch Bestandteil der Brückentechnologie auf dem Weg in das Zeitalter der erneuerbaren
Energien.
Wir haben allerdings - im Gegensatz zu Ihnen - nie,
zu keinem Zeitpunkt, eine Politik der Angst im Hinblick
auf die Atomenergie betrieben.
({6})
- Ja, das haben Sie gemacht. Ich will Ihnen auch ein Beispiel nennen, ein Beispiel, das ich in wirklich unguter
Erinnerung habe: Claudia Roth hat anlässlich des Fukushima-Jahrestages die 16 000 Toten der Atomkatastrophe beklagt.
({7})
Das waren aber nicht 16 000 Tote der Atomkatastrophe,
sondern des Tsunamis und des Erdbebens. Als die Atomkatastrophe kam, waren diese Menschen bereits tot. So
kann man das nicht machen. Ich finde es einfach nicht in
Ordnung, wenn man hier mit den Ängsten der Menschen
spielt. Genau das tun Sie beim Thema Atomenergie.
({8})
Aber zurück zum Antrag. Sie fordern - wie immer belehrend -,
({9})
dass wir den anderen Ländern vorschreiben sollen, wie
sie zu handeln haben.
({10})
Deutschland hat infolge einer Risiko- und Interessenabwägung für sich entschieden, wie es mit der Kernenergie
in Deutschland weitergehen bzw. nicht weitergehen soll.
Da sind wir ja auch vorbildlich. Wir sind das einzige
Land auf der Welt, das diesen Sonderweg geht.
({11})
Es liegt aber in der souveränen Entscheidung eines jeden
Staates, bei der Ausgestaltung seiner Energiepolitik einen anderen Energiemix zu wählen.
({12})
Eine Bevormundung - das ist immer Ihre Schwäche -,
({13})
in diesem Fall eine Bevormundung anderer Staaten hinsichtlich der Energiepolitik, oder eine mittelbare Einflussnahme liegen nicht im Interesse deutscher Außenpolitik.
Wir mögen es ja gewohnt sein, dass der Strom bei uns
in Deutschland immer fließt; daran haben wir uns gewöhnt. Das ist aber nicht in allen Ländern so.
({14})
Zum Beispiel erwähnen Sie in Ihrem Antrag Brasilien,
ein Land - ganz nebenbei -, das ich sehr gut kenne.
({15})
Ich bin in den Elendsvierteln von Brasilien gewesen und
weiß, wie es den Menschen dort geht;
({16})
auch darüber müssen wir einmal reden. Zum einen gibt
es dort keine flächendeckende Stromversorgung. Zum
anderen leidet dieses südamerikanische Land mit seiner
rasch wachsenden Wirtschaft immer wieder unter stundenlangen Stromausfällen.
Zwei Beispiele will ich nennen. Im Oktober 2012
legte eine Panne den gesamten Norden und Nordosten
des Landes lahm. Im November 2009 waren rund
60 Millionen Menschen in Brasilien von einem MegaBlackout betroffen.
({17})
Das ist Ihnen völlig egal. Uns ist das nicht egal.
Der Weg hin zu einer flächendeckenden und verlässlichen Stromversorgung ist für viele Länder noch weit.
({18})
Nicht nur die ärmsten Länder der Welt, sondern auch
Länder wie China oder Indien, die Sie in Ihrem Antrag
ebenfalls nennen, weisen in ländlichen Regionen noch
erhebliche Mängel bei der Stromversorgung auf;
({19})
das wissen Sie ganz genau, und das brauche ich Ihnen
nicht zu sagen.
({20})
Sie fordern, dass Deutschland den Menschen in diesen
Ländern seine Hilfe bei der Stromversorgung entziehen
soll.
({21})
Genau das wollen wir nicht. Deutschland muss aber
seine internationale Verantwortung annehmen und die
Menschen in diesen Ländern unterstützen.
({22})
- An Ihrer Aufregung sehe ich, dass das, was ich sage,
wohl doch ganz richtig ist, und dass Sie es verstanden
haben.
({23})
- Das mit den Geheimnissen machen wir dann nach der
Rede; sonst geht mir meine Redezeit verloren.
Ihre Forderung, Ländern wie Indien oder Brasilien
Bedingungen zur verstärkten Energieeffizienz oder zur
Minderung der CO2-Emissionen aufzuzwängen, können
wir nicht unterstützen. Es geht immer um Freiwilligkeit.
({24})
- Ganz einfach: Wenn die Hermesbürgschaften zurückgezogen werden, dann können diese Länder ihre Stromversorgung nicht gewährleisten und nicht finanzieren.
({25})
Das finden Sie gut
({26})
und wir schlecht.
Mit Blick auf große Teile dieser Länder gehen solche
Diskussionen an der Realität vorbei, die Sie offenbar
nicht kennen; und das tut mir leid.
({27})
Die Menschen in diesen Ländern brauchen zuallererst
eine flächendeckende Stromversorgung. Die Wirtschaft
in diesen Ländern braucht diese Stromversorgung,
({28})
um sich überhaupt weiterentwickeln zu können. Man
kann die Kraftwerke doch gar nicht von jetzt auf gleich
ersetzen.
Wir können diesen Ländern nicht unsere deutschen
Maßstäbe, Vorstellungen und Wünsche aufzwingen,
auch wenn Sie von den Grünen es immer wieder so
gerne tun.
({29})
Angesichts Ihrer sozialen Einstellung, die ich ja sehr
schätze und die ich auch immer wieder sehe, wundert es
mich etwas, dass Sie gerade das Elend, die Probleme der
Menschen in diesen Ländern nicht sehen und solche Vorschläge machen.
({30})
- Genau das ist der Punkt.
Ich will am Ende noch auf einen Punkt Ihres Antrages
eingehen: Sie behaupten, dass die Bundesrepublik
Deutschland „ihrer außenpolitischen Mitverantwortung
nicht gerecht“ wird und dass unsere Politik „sämtliche
Bemühungen im Bereich der Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen“ untergräbt; Sie haben das ja
eben auch erwähnt. - Deutschland ist sich der besonderen Sensibilität von Nuklearprojekten absolut bewusst.
Das zeigt sich schon bei der Besetzung des Interministeriellen Ausschusses für Exportkreditgarantien. Auch das
sollten Sie einmal erwähnen: Allein daran sind vier Bundesministerien beteiligt: BMWi, BMF, Auswärtiges Amt
und BMZ.
({31})
- Sie meinen, die irrten alle
({32})
und nur Sie hätten immer recht? Nein, haben Sie nicht. Solche Exporte werden strengstens geprüft, und es wird
abgewogen, inwieweit deutsche Hilfen eventuell zweckentfremdet und für den Bau von Waffen eingesetzt werden können, so wie es sich für einen Rechtsstaat gehört.
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. Am Ende
sage ich noch einmal: Die Grünen wollen immer alles
bestimmen, sie wollen uns den Veggie Day aufzwingen,
({33})
um aus Nachhaltigkeitsgründen den Fleischkonsum zu
verringern. Jetzt wollen die Grünen diesen Ländern aufzwingen, dass sie sich aus der Atomenergie verabschieden - wohl wissend, dass sie das in diesem Moment und
von jetzt auf gleich ganz bestimmt nicht können.
Kollegin Motschmann, ich muss Sie jetzt bitten, diesen angeregten Dialog zu beenden.
Ihre Bevormundungspolitik lehnen wir ab.
Vielen Dank.
({0})
Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege
Hubertus Zdebel das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Ich finde, dass die Rede, die Frau Motschmann gerade
gehalten hat, eine sehr lustige Rede war; das trifft insbesondere auf den Vorwurf zu, dass wir als Opposition
beim Thema Atomenergie eine Politik der Angst machen
würden. Wer angesichts von Fukushima und Tschernobyl weiterhin davon redet, dass mit Atompolitik eine
Politik der Angst gemacht werde, der hat überhaupt
nichts verstanden. Das möchte ich hier an dieser Stelle
noch einmal deutlich festhalten.
({0})
Atomausstieg in Deutschland und weitere Atomförderung im Ausland passen nicht zusammen; das ist auch
unsere Meinung. Vor diesem Hintergrund sagen wir vollkommen klar, dass die Abkommen zur Förderung von
Atomenergie - dazu gehören auch die bilateralen AtomHubertus Zdebel
verträge - gekündigt werden müssen, und zwar dringend.
({1})
Vor diesem Hintergrund ist es vollkommen richtig,
jetzt sofort aktiv zu werden. Ich bin der Fraktion der
Grünen auch sehr dankbar für die Kleine Anfrage, die
sie gestellt hat, und für den sich daraus ergebenden Antrag, das deutsch-indische Atomabkommen jetzt sofort
und in nächster Zeit auch das deutsch-brasilianische
Atomabkommen zu beenden. Deswegen sage ich für die
Fraktion der Linken ganz klar: Wir werden den Antrag
der Grünen unterstützen. Wir setzen uns genau für diese
Ziele ein, die in dem Antrag formuliert worden sind.
({2})
Ich sage an dieser Stelle auch, dass ich sehr gespannt
darauf bin, wie sich die SPD in der namentlichen Abstimmung gleich verhalten wird. Auch ich habe nämlich
nicht vergessen, dass sich die SPD in der vergangenen
Legislaturperiode dafür stark gemacht hat, dass Hermesbürgschaften bezüglich des Atomkraftwerks in Brasilien
nicht weiter erteilt werden, und dass in dieser Angelegenheit auch Druck aufgebaut worden ist, ein Druck, der
nicht ganz erfolglos geblieben ist, weil daraufhin nämlich eine Ausweichfinanzierung angestrebt worden ist.
Auch ich bin sehr enttäuscht darüber, wie sich die
SPD jetzt in der Bundesregierung zu diesen ganzen Fragen verhält.
({3})
Deswegen bin ich sehr gespannt darauf, wie das in der
namentlichen Abstimmung gleich aussehen wird.
({4})
Lassen Sie mich an dieser Stelle noch etwas zum
deutsch-brasilianischen Atomabkommen sagen. Ich war
sehr beeindruckt von einem Gespräch, das Anfang April
2014 bei einem Treffen mit renommierten Vertreterinnen
und Vertretern der brasilianischen Zivilgesellschaft auf
Einladung von urgewald hier in Berlin stattfand, an dem
auch meine Kollegin Bulling-Schröter teilgenommen
hat. Dabei war auch Chico Whitaker. Er ist Mitbegründer des Weltsozialforums und bis heute Mitglied im Internationalen Rat des Weltsozialforums. Im Jahre 2006
erhielt er unter anderem auch den Alternativen Nobelpreis.
Es war eine sehr angeregte Debatte mit den Vertretern
von urgewald aus Brasilien. Chico Whitaker sagte bei
der Gelegenheit, dass es keinesfalls ein diplomatischer
Affront wäre, wenn die deutsche Bundesregierung den
bilateralen Atomvertrag zwischen den beiden Ländern
zum Ende des Jahres kündigen würde. Er sagte:
Im Gegenteil: Das wäre eine wichtige Unterstützung Deutschlands für Brasilien. …
({5})
Außerdem wäre es eine sehr wichtige und mehr als
opportune Maßnahme, jetzt, wo wir des 50. Jahrestages des Militärputsches in Brasilien gedenken,
in dieser Angelegenheit aktiv zu werden. Meine Damen
und Herren, Sie sollten nämlich nicht vergessen - für
den Fall, dass Sie es vergessen haben oder nicht wussten,
sage ich es Ihnen noch einmal -, dass dieser Vertrag damals von den brasilianischen Militärs ausgehandelt worden ist. In meinen Augen ist es auch vor diesem Hintergrund - ich zitiere Chico Whitaker - „höchste Zeit, sich
von diesem Relikt einer unheilvollen Kooperation zu
verabschieden.“
({6})
Außerdem hat Herr Whitaker bei der Gelegenheit des
Gesprächs sehr deutlich gesagt - das sollten Sie sich
auch als Koalition noch einmal hinter die Ohren schreiben -:
Wer im eigenen Land aus der Atomkraft „aussteigt“, sollte keine doppelten moralischen Standards anwenden und deswegen auch nicht weiter
den Ausbau der Atomkraft im Ausland unterstützen.
Dieser Aussage können wir Linke uns nur anschließen.
({7})
Ich komme zum Schluss. Die Bundesrepublik ist
nicht nur durch die Abkommen mit Indien und Brasilien
an der Förderung von Atomenergie beteiligt, sondern
Deutschland ist nach wie vor auch Unterzeichner
des Euratom-Vertrages. Wir Linken sagen schon lange:
Euratom verfestigt die Förderung der Atomenergie und
muss aufgelöst werden.
({8})
Auch ein anderer Aspekt ist mir persönlich sehr wichtig. Weil ich aus dem Münsterland komme, möchte ich
bei dieser Gelegenheit auch noch einmal daran erinnern,
dass es nach wie vor die Urananreicherungsanlage in
Gronau gibt, die von der Firma Urenco betrieben wird.
Diese Firma Urenco gibt es nur auf Basis eines trilateralen Vertrages, der in den 70er-Jahren zwischen Deutschland, den Niederlanden und Großbritannien geschlossen
worden ist. Diese Firma soll jetzt privatisiert werden.
Meiner Meinung nach gehört auch dieser trilaterale Vertrag von Almelo - so heißt er nämlich - zwischen diesen
Staaten, der die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der gefährlichen Gaszentrifugentechnik regelt, auf den Prüfstand. Es ist nämlich nicht mit einem unverzüglichen
Atomausstieg vereinbar, dass in Gronau weiterhin Uran
angereichert wird. Sie sollten schleunigst aus dieser
Technologie aussteigen.
In diesem Sinne: Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Die Kollegin Dr. Nina Scheer hat für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Kolleginnen und Kollegen! Es muss klar sein, dass es
keinen Widerspruch zwischen einer nationalen Atomausstiegspolitik und dem internationalen Verhalten bezüglich der sogenannten friedlichen Nutzung von Atomenergie geben darf. Das ist grundsätzlich klar; ich denke,
auch allen hier im Raum Befindlichen.
({0})
Daraus erschließt sich, dass keine in die Zukunft gerichteten, auf neue Investitionen zielenden Vereinbarungen in diesem Bereich geschlossen werden dürfen. In
Ihrem Antrag wird erwähnt - das ist ein richtiger Kritikpunkt -, dass Indien dem Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag bis heute nicht beigetreten ist. Insofern ist es
wichtig und richtig, dass uns dieser Antrag heute vorliegt.
({1})
Was wir aber brauchen - ich finde, dieser Antrag
muss dafür die Tür öffnen -, ist eine öffentliche breite
Bewusstwerdung über den Zusammenhang zwischen der
zivilen und der kriegerischen Nutzung von Atomenergie.
Vor ein paar Monaten gab es auf der europäischen Ebene
Bemühungen, die Möglichkeiten der zivilen Nutzung
von Atomenergie zu erleichtern. Auch europäische Staaten, die selber über Atomwaffen verfügen, haben sich
dafür starkgemacht. Das waren insbesondere Großbritannien und Frankreich. Aber auch Lettland und andere
Zulieferstaaten waren darunter.
Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen der
kriegerischen Nutzung und der friedlichen Nutzung von
Atomenergie. Ein Staat, der Atomenergie nicht zu friedlichen Zwecken nutzt, ist nicht in der Lage, sich ein
Atomwaffenarsenal aufzubauen. Das muss uns bewusst
sein. Insofern ist es wichtig, darauf zu schauen, was dieser wichtige Vertrag der Nuklearen Nichtverbreitung von
uns verlangt. Er verlangt, dass die Zahl der Atomwaffen
reduziert wird, dass diese Waffen abgeschafft werden.
Im Gegenzug versprechen Staaten, die über keine Atomwaffen verfügen, dass sie sich solcher nicht bemächtigen
werden. Aber wir sind heute weit von einer atomwaffenfreien Welt entfernt. Insofern ist es wichtig, auf diese
Verknüpfung hinzuweisen.
Ich erwähne das an dieser Stelle, weil diese Verknüpfung natürlich immer, wenn wir über die zivile Nutzung
von Atomenergie sprechen, mitschwingen muss. Insofern ist das an dieser Stelle ein wichtiger und in der Zukunft ein ganz wesentlicher Faktor. Wir kommen nicht
von der Atomenergie herunter, wenn wir das Problem
mit den Atomwaffen nicht lösen können.
Die SPD-Fraktion hat 2012 den Antrag eingebracht,
dass die Atomverträge zwischen Deutschland und Brasilien sowie zwischen Deutschland und Argentinien in
eine Kooperation dahin gehend überführt werden sollen,
erneuerbare Energien und Energieeffizienz zu fördern
und auszubauen. Einen gleichlautenden Antrag hat die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gestellt.
({2})
Es gab allerdings keinen gleichlautenden Antrag zu
dem Vertrag mit Indien. Auch das ist ein Fakt. Insofern
stelle ich an dieser Stelle fest, dass wir es trotz unserer
Kehrtwende hierzulande, weg von der zivilen Nutzung
der Atomenergie, und zwar nicht erst seit dieser Legislaturperiode, versäumt haben, diese beiden Abkommen,
die seit Jahrzehnten laufen - mit Indien seit 1972 und
mit Brasilien etwas später -, kritisch zu untersuchen
bzw. deutlich zu machen, dass wir daran nicht festhalten
wollen.
Wir haben dabei auch versäumt, genauer hinzuschauen, ob wir aus sicherheitspolitischen Gründen und
aufgrund von Passagen in diesen Verträgen möglicherweise verpflichtet sind, an diesen Verträgen festzuhalten,
und ob es möglich ist, diese Verträge entsprechend weiterzuentwickeln. Auch dazu kam es nicht. Dieses
schwere Versäumnis können und sollten wir im Zuge
entsprechender Anträge nachholen.
Ich denke, ich brauche nicht extra aus der entsprechenden Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage
von Bündnis 90/Die Grünen vom 1. April 2014 zu zitieren, die diese sicherheitspolitischen Fragen aufgreift.
Der vorliegende Antrag enthält im Wesentlichen zwei
Forderungen, nämlich zum einen, die Verträge mit Brasilien und Indien aufzukündigen, und zum anderen, in eine
Förderung einzusteigen. Bezüglich der Förderung kann
man feststellen, dass immerhin schon ein Milliardenprogramm für Indien aufgelegt worden ist. 1 Milliarde Euro
ist dafür vorgesehen.
Bezüglich der Kündigung ist zu sagen: Es ist eine
ernstzunehmende Fragestellung,
({3})
welche Bestimmungen in den Verträgen uns veranlassen
müssen, aus den Verträgen auszusteigen. Es ist aber eine
genauso ernstzunehmende Herausforderung, darauf zu
achten, ob es Passagen gibt, an denen wir festhalten
müssen, und was uns verleiten müsste, solche Verträge
entsprechend weiterzuentwickeln.
({4})
Ich habe im Vorfeld dieser Debatte versucht, zu erreichen, dass wir den Austausch, den wir dringend brauchen, im parlamentarischen Prozess hinbekommen. Ich
habe die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gebeten, von
der namentlichen Abstimmung heute abzusehen und die
Abstimmung zu vertagen. Wir haben uns unter den Fraktionen darüber ausgetauscht. Ich hätte es für richtig beDr. Nina Scheer
funden, solche Fragen in den Ausschüssen zu debattieren.
Kollegin Scheer, ich habe gerade die Uhr angehalten
und muss Sie fragen, ob Sie eine Frage oder Bemerkung
der Kollegin Haßelmann zulassen.
Ja.
Bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin, und vielen Dank auch,
Frau Scheer. - Sie haben darauf hingewiesen, dass Sie
uns gebeten haben, diesen Antrag heute zurückzustellen
und ihn in den Fachausschüssen zu beraten. Ich glaube,
es ist sachlich völlig klar, dass wir das aus einem Grund
nicht tun können. Am 15. Mai steht nämlich die Verlängerung des Atomabkommens zwischen Indien und
Deutschland an. Wenn wir heute Ihrem Anliegen stattgegeben hätten, dann würde als laufendes Geschäft der
Bundesregierung, der Sie als SPD-Fraktion angehören,
der Atomvertrag mit Indien einfach so verlängert werden.
({0})
Da wir als Fraktion wollen, dass dieser Atomvertrag
mit Indien nicht verlängert wird, muss heute über unseren Antrag entschieden werden. Es steht doch der Möglichkeit, über Brasilien oder die Hermesbürgschaften
sehr grundsätzlich zu reden, nichts im Wege, wenn wir
heute diesen Antrag in namentlicher Abstimmung beschließen. Dazu kann sich dann jede und jeder Abgeordnete entsprechend verhalten.
Sie haben als SPD-Fraktion in der letzten Legislaturperiode auch zwei Anträge dazu eingebracht. Deshalb
verstehe ich nicht, warum Sie unsere Argumente nicht
nachvollziehen können.
({1})
Bezüglich Indien - hier wurde das Abkommen mit
Indien mit der Kündigungsfrist zum 15. Mai angesprochen - gab es in den letzten Jahren keine Anträge, in
denen die Kündigung gefordert wurde. Das bezog sich
auf Brasilien.
Mir ist nicht entgangen, dass ein Ablauf der Frist bevorsteht. Wenn ich Ihnen sage, Sie hätten den Antrag
auch früher stellen können, dann nur auf Ihre Nachfrage
hin. Denn ich weiß selber, dass wir alle uns früher damit
hätten befassen können.
Nichtsdestotrotz enthält der Antrag mehrere Punkte.
Das Abkommen mit Indien ist nur ein Punkt von vielen.
({0})
- Wenn es ein sehr wesentlicher wäre, dann frage ich
mich, warum man das nicht etwas sortierter im Vorfeld
behandelt hat. Warum hat man das nicht trennen können? Warum musste man das in einem Paket machen?
Das weckt bei mir den Eindruck - diesen Eindruck teilen, glaube ich, auch viele in unserer Fraktion -, dass wir
etwas vorgeführt werden sollen mit einem Abstimmungsverhalten, was zwar zu Inkongruenzen mit einem
früheren Verhalten führt, aber nur partiell.
({1})
Das ist nicht sachgerecht, und ich finde es auch nicht
fair. Ich finde es nicht sachgerecht im Umgang mit diesen ernstzunehmenden Fragestellungen.
Ich finde es zwar richtig, dass Sie das thematisieren.
Aber in dieser Form sind wir nicht dazu in der Lage, uns
damit sachgerecht auseinanderzusetzen, und haben keine
Möglichkeit, uns darüber parlamentarisch auszutauschen.
({2})
Insofern halte ich meine Kritik aufrecht.
Ich möchte hinzufügen, dass ich einen Blick in die
Verträge geworfen habe. Tatsächlich verlängert sich der
betreffende Vertrag mit Indien automatisch, wenn wir
nicht bis zum 15. Mai gekündigt haben. Aber es gibt jederzeit eine Kündigungsmöglichkeit mit einer Frist von
zwölf Monaten. Angesichts der Tatsache, dass der Vertrag mit Indien aus dem Jahr 1972 stammt, dass wir Zeit
benötigen, um uns mit den infrage stehenden Punkten
auseinanderzusetzen, und in Anbetracht des Umfangs
der Thematik sind zwölf Monate kein Zeitraum, der
nicht zu verkraften wäre. Wenn ich Ihren Antrag lese,
dann komme ich zu dem Schluss, dass es überwiegend
Ihre Absicht ist, dass wir nicht in der Lage sein sollen,
uns damit sachgerecht auseinanderzusetzen und darüber
zu debattieren. Das finde ich schade. Warum geben Sie
uns mit Ihrem Antrag nicht die Möglichkeit eines parlamentarischen Prozesses?
({3})
Das wäre des Parlaments würdig. Ich finde es nicht korrekt, dass uns hier keine entsprechende Möglichkeit gegeben wurde.
({4})
Sie haben nicht zugestimmt, dass das an den Ausschuss
verwiesen und dann dort beraten wird. Wir hatten darüber gesprochen, das mit öffentlichen Anhörungen zu
begleiten. Aber auch dem wurde nicht entsprochen.
Kollegin Scheer, ich habe die Uhr schon wieder angehalten, da es noch einen Frage- bzw. Bemerkungswunsch gibt. Aber bevor wir darüber verhandeln, ob Sie
den zulassen, bitte ich erst einmal alle Kolleginnen und
Kollegen, die erfreulicherweise schon im Plenum des
Vizepräsidentin Petra Pau
Bundestages erschienen sind - wahrscheinlich in froher
Erwartung der demnächst folgenden namentlichen Abstimmung -, sich einen Sitzplatz zu suchen und die
Möglichkeit zu geben, dass wir den Ausführungen der
Kollegin Scheer und derjenigen, mit denen sie jetzt gegebenenfalls in einen direkten Austausch tritt, folgen.
Ich bin fest davon überzeugt, dass für jeden gewählten
Parlamentarier und jede gewählte Parlamentarierin des
18. Deutschen Bundestages ein Sitzplatz existiert. Das
gilt im Übrigen auch für die Mitglieder der Bundesregierung.
Frau Scheer, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Kotting-Uhl?
Ich bin zwar schon fast fertig, aber gut.
Dann hat die Kollegin Kotting-Uhl das Wort.
Frau Scheer, ich möchte Ihnen zuerst einmal danken
für Ihren wirklich differenzierten Umgang mit unserem
Antrag. Das ist sehr wohltuend; denn es gab heute ja
auch schon andere Beiträge.
Ich will Ihnen erklären, warum wir diesen Antrag
jetzt eingebracht haben. Ich habe das bereits in meiner
Rede angerissen, will es aber noch einmal betonen. Wir
haben am 28. März die Antwort auf unsere Kleine Anfrage bekommen und dann realisiert, dass sich das infrage stehende Abkommen verlängert, wenn wir nicht
bis zum 15. Mai - in einer Woche - reagieren. Wir haben
daraufhin sofort einen Brief an die Bundesumweltministerin geschrieben mit der Bitte, dieses Abkommen nun
zu kündigen. Ich habe mir, ehrlich gesagt, reichlich
Hoffnung gemacht - die drei für dieses Abkommen zuständigen Ministerien, Wirtschaftsministerium, Umweltministerium und Auswärtiges Amt, sind in SPD-Hand,
und wir waren uns in der letzten Legislaturperiode mit
der SPD einig darüber, dass die Fortführung solcher Abkommen mit unserem deutschen Atomausstieg im
Grundsatz nicht kongruent ist -, dass es keine großen
Probleme gibt und dass das in die Hand genommen wird.
Erst als keine Reaktion von Frau Hendricks kam, haben
wir diesen Antrag geschrieben. Deswegen ist die Frist
nun so kurz.
Abgesehen davon möchte ich fragen: Was hindert Sie,
wenn Sie und andere Mitglieder der SPD im Kern mit
uns übereinstimmen, daran, Ihrerseits Frau Hendricks,
Herrn Gabriel und Herrn Steinmeier noch einmal zu bitten, die Frist innerhalb von einer Woche wahrzunehmen
und ein deutliches Zeichen zu setzen?
Ich stimme darin überein - ich denke, das teilen viele
meiner Fraktionskollegen -, dass das eine bedeutsame
Frage ist und dass es nicht hinnehmbar ist, dass Teile des
Abkommens darauf zielen, an einer friedlichen Kooperation zur zivilen Nutzung der Kernenergie festzuhalten,
als ob es keinen deutschen Atomausstieg gäbe.
({0})
Das kann so nicht weiterlaufen. Es gibt aber auch Stimmen, die sagen: Das ist nicht das Maßgebliche des Abkommens. Maßgeblich ist, dass wir Teile des Abkommens brauchen, um gewisse Sicherheitsanforderungen
aufrechtzuerhalten. - Eigentlich sind das Äußerungen,
die vor den Doppelpunkt gezogen sind. Wir müssten uns
jetzt damit befassen. Aber genau eine solche Befassung
kann nicht stattfinden, weil wir heute darüber abstimmen.
Wir würden diese Frist, die jetzt ansteht, tatsächlich
verpassen. Das denke auch ich. Aber eine sachgerechte
Auseinandersetzung erfordert das auch. Wir alle hätten
uns früher damit befassen müssen; ich möchte die
Schuld gar nicht bei Ihnen suchen. Da wir das nicht getan haben, sind wir hier und heute an dem Punkt, dass
die Befassung ausgeblieben ist. Uns bleibt nichts anderes übrig, als heute zu entscheiden, dass wir uns erst
noch damit befassen müssen. Wir können nicht von
heute auf morgen für alle über 600 Abgeordneten sprechen. Das ist nicht möglich in dieser Zeit.
({1})
Insofern kann es an dieser Stelle nur dabei bleiben,
dass dieser Antrag in die parlamentarische Beratung
hätte gehen müssen. Davon kann ich nach meiner festen
Überzeugung mit Blick auf die vorliegenden Fragestellungen nicht abrücken. Insofern bitte ich um Ihr Verständnis, dass ich dem nicht folgen kann.
({2})
Eine kurze Bemerkung zu den Äußerungen meiner
Koalitionskollegin Frau Motschmann wollte ich noch
loswerden. Frau Motschmann, ich sehe es nicht so, dass
die Bemühungen, die Energiewende auch weltweit zu einem Erfolg zu führen, sei es durch Förderprogramme,
die wir auflegen, sei es durch Kooperationen, die wir
früher übrigens auch bei der Atomenergie durchaus eingegangen sind, etwas mit Bevormundung zu tun hätten.
Ich finde es grundlegend falsch, zu behaupten, dass die
Bestrebungen nach einer umweltfreundlichen, klimaneutralen und von fossilen Ressourcen unabhängigen Energieversorgung, die wir weltweit in Gang bringen wollen,
und zwar aus der Überzeugung heraus, dass das weltweit
ein Erfordernis ist, etwas mit Bevormundung zu tun haben. Das ist keine Position, der wir zustimmen könnten,
und deshalb weise ich das zurück.
({3})
Abschließend möchte ich mit Blick auf meine vorigen
Ausführungen und meine Einschätzung, dass wir die
parlamentarischen Beratungen über die vorliegenden
Abkommen dringend bräuchten, nur bitten, zur Kenntnis
zu nehmen, dass ein eventuell ablehnendes Abstimmungsverhalten der Mitglieder meiner Fraktion nicht repräsentativ ist und keinen Aufschluss über die Positionierung meiner Fraktion in der Sache geben kann. Das
ist jetzt meine Einschätzung. Das heißt nicht, dass wir
uns enthalten könnten. Auch Sie wissen, was im Koalitionsvertrag steht. Ich kann nicht für alle Fraktionskollegen sprechen im Hinblick darauf, wie sie mit dieser
Frage umgehen. Ich werde den Antrag ablehnen, nicht
weil ich viele Teile daraus nicht mittragen könnte, sondern weil ich es nicht richtig finde, wie an dieser Stelle
mit den betreffenden Fragestellungen umgegangen wird.
Vielen Dank.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte ernsthaft,
in allen Fraktionen jetzt dafür zu sorgen, dass wir die
Beratung bis zur namentlichen Abstimmung in geordneter Weise hier fortsetzen können. Ich bin fest davon
überzeugt, dass der Kollege Lengsfeld sehr stolz darauf
ist, dass er fast vor dem gesamten Hause seine erste
Rede halten kann. Aber ich finde, dazu gehört auch, dass
sich sowohl seine Fraktionskollegen als auch die Kollegen der anderen Fraktionen in die Reihen ihrer Fraktionen begeben und die notwendige Aufmerksamkeit herstellen. Ich werde die Debatte vorher nicht fortsetzen.
({0})
Es ist nicht so, dass wir keine Zeit haben. - Ich verkneife mir jetzt auch alle Bemerkungen über die Vorsitzenden der betroffenen Fraktionen.
({1})
Ich würde gerne Ihrem Kollegen Lengsfeld das Wort
zur ersten Rede geben, Kollege Kauder.
({2})
Dazu versuche ich, die Aufmerksamkeit des gesamten
Hauses auf ihn zu lenken.
({3})
Das gilt natürlich auch für alle anderen, die noch keinen Platz gefunden haben.
({4})
- Ich hatte eigentlich Hilfe erhofft. Wenn schon meine
Autorität nichts gilt, wird doch wohl die Autorität des
Kollegen Kauder in der Union noch etwas gelten.
({5})
Ich gestehe Ihnen, es betrübt mich, dass auch meine
Fraktion meine Mahnung nicht wahrnimmt.
({6})
Ich habe mein Möglichstes getan, Kollege Lengsfeld. Das Wort für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege
Dr. Philipp Lengsfeld.
({7})
Frau Präsidentin, vielen Dank für die nette Einleitung.
Vielen Dank auch für die Unterstützung. - Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen,
liebe Frau Kotting-Uhl, über den von Ihnen vorgelegten
Antrag kann man sicherlich sagen, dass er konsequent
wirkt. Da Deutschland aus der Atomenergie aussteigt,
sollen wir auch mit keinem anderen Land auf der Welt
im Bereich sichere zivile Nutzung der Atomenergie zusammenarbeiten.
({0})
In Ihrem konkreten Antrag geht es um Indien und
Brasilien - das alles ist dargestellt worden - aufgrund
der zur Verlängerung anstehenden Verträge mit diesen
Ländern. Ja, dies sieht konsequent aus. Aber schauen wir
einmal genauer hin. Deutschland besitzt auf dem Feld
der Atomenergie nun einmal eine außerordentliche Expertise; das ist so. Es muss doch in unserem Interesse
sein, dass die brasilianischen und indischen Atomkraftwerke sicher sind.
({1})
Deutschland hat übrigens auch einen exzellenten Ruf
als internationaler Kooperationspartner. Wenn wir also
helfen können, warum sollen wir dann anderen das Feld
überlassen? Reden wir also über Konsequenz, oder reden wir eigentlich über Dogmatismus?
({2})
Sie fordern, dass wir bilaterale Kooperationen mit Indien und Brasilien zur Nutzung atomarer Technologien
einseitig aufkündigen. Ein einseitiger, aus meiner Sicht
sachlich nicht zu vertretender Ausstieg erzeugt aber einen doppelten Schaden. Den größeren Schaden nimmt
- das ist heute hier noch nicht gesagt worden - Deutschland, nehmen wir. Auf einen Schlag zerstören wir aufseiten unserer Partner zwei Dinge, die für eine erfolgreiche
Kooperation unerlässlich sind, und zwar zwei Dinge, für
die Deutschland immer stand und steht: erstens, dass wir
ein verlässlicher Partner sind, und zweitens, dass wir ein
Partner sind, der weiß, was er tut. Dass wir das zerstören,
kann man einfach nicht wollen.
Aber auch für die Kooperationspartner in Indien und
Brasilien ist es verheerend, wenn laufende Kooperationen einfach so holterdiepolter gekündigt werden. Denn
sie müssen die Arbeit neu beginnen, sie müssen sich
neue Partner suchen - ich denke, das ist Ihnen klar -,
und diese neuen Partner bekommen aufgrund des unseriösen Verhaltens Deutschlands einen unzulässigen Wettbewerbsvorteil.
Werden wir einmal ganz konkret. Wer wäre denn der
Gewinner einer solchen Politik? Vielleicht die russische
Atombehörde Rosatom? Deren Vertreter sammeln gerade Expertise im Aufbau von AKWs in Weißrussland
und Nigeria. Wollen Sie wirklich, dass sie die Gewinner
von dieser Art von Politik sind? Das kann doch wirklich
nicht in unserem Interesse sein.
({3})
Wir verärgern damit nicht irgendwelche kleinen Länder, was - ich will da nicht missverstanden werden auch schlimm wäre. Vielmehr verärgern wir zwei Länder
der BRIC-Staaten, also aufstrebende, wirtschaftlich sehr
bedeutende Länder. Mit Indien und Brasilien verärgern
wir nun auch noch gerade genau die BRIC-Staaten, die
Demokratien sind, und zwar Demokratien fast genau wie
die unsrige. Das ist der Kollateralschaden von Ihrer Art
von Politik.
Aber der Irrsinn geht noch weiter; Sie haben es selber
dargestellt. Deutschland hat ja nicht nur mit Indien und
Brasilien Kooperationsverträge zur zivilen Nutzung der
Kernenergie. Sie wollen erst, dass wir die Verträge mit
Indien und Brasilien kündigen, und dann geht es in gnadenloser Konsequenz mit unseren europäischen Partnern
weiter. Da nenne ich einmal Tschechien, die Slowakei,
Finnland, Schweden, Spanien, Ungarn, Bulgarien, Rumänien, und das ist nicht einmal die gesamte Liste. Dann
geht es natürlich weiter - Konsequenz muss sein! - mit
den Verträgen mit der Republik Korea,
({4})
mit China, mit Argentinien, mit den Vereinigten Staaten
von Amerika. Ist das wirklich das, was wir verantworten
können? Ich glaube, nicht.
Die Atomkraft werden Sie damit global nicht eindämmen - das sage ich Ihnen -, auf keinen Fall. Was Ihnen
aber mit Sicherheit gelingen wird, ist, Deutschlands exzellenten Ruf als verlässlicher internationaler Kooperationspartner weltweit gründlich zu beschädigen. Das
kann nicht in unserem Interesse sein.
({5})
Ja, es ist richtig - das zweifelt auch keiner in diesem
Hause an -, dass nach dem Unfall in Fukushima ein
Land kollektiv einen längst beschlossenen Atomausstieg
plötzlich noch einmal beschleunigt hat, und zwar unser
Land, Deutschland; keine Frage. Aber Sie wissen doch,
dass wir das einzige Land auf dieser Welt sind, das diesen Weg in dieser Weise geht.
Nehmen Sie doch bitte einmal zur Kenntnis, dass die
Atomkraft für den Energiemix vieler Länder essenziell
ist, nicht nur für Indien und Brasilien. Das hat übrigens
auch mit CO2-Zielen zu tun. Die sollten wir nicht vergessen; das ist hier auch erwähnt worden. Es ist Deutschland, das von allen Ländern dieser Welt immer ambitioniertere CO2-Reduktionsziele verlangt.
Ich weiß, Sie sagen, dass die Anstrengungen der
Atomkooperation auf den Bereich der erneuerbaren
Energien übertragen werden sollen. Gegen erneuerbare
Energien in Brasilien oder Indien ist absolut nichts einzuwenden; im Gegenteil: Die lokale Energieversorgung
kann dort sicherlich sinnvoll mit einem signifikanten
Beitrag erneuerbarer Energien ergänzt werden. Aber
diese Projekte laufen längst. Deutschland hat zum Beispiel mit Brasilien seit 2008 ein Regierungsabkommen
über die Zusammenarbeit im Energiesektor mit Schwerpunkt auf erneuerbarer Energie und Energieeffizienz.
Diese Sachen gibt es längst.
Erneuerbare Energien und Energieeffizienz sind
wichtig und sollten sich da durchsetzen, wo es sinnvoll
ist, aber aus meiner Sicht mit marktwirtschaftlichen Instrumenten. Was wir ganz sicher nicht nach Indien oder
Brasilien exportieren sollten, sind deutsche Denkverbote
oder eine Energieplanwirtschaft à la EEG; das ist jedenfalls meine persönliche Meinung.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland muss
ein zuverlässiger internationaler Partner bleiben, nicht
nur im Energiesektor, selbstverständlich auch für Indien
und Brasilien - zum beiderseitigen Vorteil. Das ist
konsequente, richtige Politik. Was wir dagegen nicht
brauchen, sind - ich sage das harte Wort noch einmal grüner Dogmatismus und grüne Denk- und Kooperationsverbote.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Kollege Lengsfeld, herzlichen Glückwunsch zur ersten Rede im Deutschen Bundestag.
({0})
Ich verbinde das mit dem Glückwunsch dazu, dass Sie
auch die Redezeit eingehalten haben. Das gelingt den
wenigsten bei ihrem ersten Auftritt in diesem Hause.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/1336
({1}) mit dem Titel „Kündigung bilateraler Kooperatio-
nen im Bereich der Nutzung atomarer Technologien“.
Dazu liegt mit eine Erklärung nach § 31 unserer Ge-
schäftsordnung des Kollegen Bülow vor. Entsprechend
unseren Regeln nehmen wir sie zu Protokoll.1)
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen verlangt na-
mentliche Abstimmung.
Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass wir
heute noch zwei weitere namentliche Abstimmungen
durchführen werden. Die zweite namentliche Abstim-
mung werden wir zum nachfolgenden Tagesordnungs-
punkt 9 - also in circa 45 Minuten - durchführen. Die
dritte namentliche Abstimmung ist zu Tagesordnungs-
punkt 11 - „Mehr Transparenz bei Rüstungsexportent-
scheidungen sicherstellen“ - vorgesehen. Der Tagesord-
nungspunkt 11 soll abweichend von der geplanten
Reihenfolge vorgezogen und mit Zusatzpunkt 8 ge-
tauscht werden. Die dritte namentliche Abstimmung fin-
det in gut zwei Stunden statt.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind alle Schriftfüh-
rerinnen und Schriftführer an ihrem Platz? - Vorne
rechts fehlt noch ein Schriftführer. Ich kann nicht erken-
nen, ob von der Opposition oder von der Koalition. - Ich
frage noch einmal: Sind alle Schriftführerinnen und
1) Anlage 3
Vizepräsidentin Petra Pau
Schriftführer an ihrem Platz? - Das scheint der Fall zu
sein. Ich eröffne die Abstimmung über den Antrag.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme nicht abgegeben hat? - Wenn das nicht der Fall
ist, dann schließe ich die Abstimmung und bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh-
lung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird
Ihnen später bekannt gegeben.1) Schönen Nachmittag!
Ansonsten würde ich Sie aus Respekt vor den Kolleginnen und Kollegen, die jetzt gleich ihre Rede zu einem
sehr wichtigen Thema halten wollen, bitten, die Gespräche außerhalb zu führen, damit wir in der Tagesordnung
fortfahren können. Das gilt auch für den ehemaligen
Schriftführer vorne links, die Kolleginnen und Kollegen
hinten sowie Herrn Kauder und andere.
({0})
- Ja, Herr Kauder.
({1})
- Sie sind theoretisch der bravste Mensch. Vielleicht
sollte ich eine namentliche Abstimmung darüber abhalten.
Wir wollen jetzt fortfahren in unserer Tagesordnung.
({2})
Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 9:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des ArbeitnehmerEntsendegesetzes
Drucksachen 18/910, 18/1283
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({3})
Drucksache 18/1359
Ich möchte darauf hinweisen, dass zur Annahme des
Gesetzentwurfs, über den wir später namentlich abstimmen werden, nach Artikel 87 Absatz 3 des Grundgesetzes die absolute Mehrheit erforderlich ist. Das sind
316 Stimmen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so
beschlossen.
Ich gebe das Wort Bernd Rützel für die SPD.
({4})
Vielen Dank. - Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr
geehrte Damen! Sehr geehrte Herren! Liebe Kolleginnen
1) Ergebnis Seite 2786 D
und Kollegen! Wir beschließen heute die Aufnahme der
Branche „Schlachten und Fleischverarbeitung“ in den
Katalog des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes. Dieser
Entscheidung ging viel voraus. Unerträgliche Zustände
machten unser Eingreifen - denn das ist es - bitter notwendig.
({0})
Viele Arbeitgeber in der Fleischbranche haben ihr
einst ehrbares Handwerk durch sittenwidrige Behandlung der Arbeitskräfte in Verruf gebracht. Für überlange
Arbeitstage von 12, manchmal 15 Stunden am Tag erhalten die häufig ausländischen Arbeitnehmer Armutslöhne, die kaum zum Leben ausreichen, selbst in Massenunterkünften oder Mehrbettzimmern nicht. Die
Arbeitgeber haben jahrelang skrupellos daran gefeilt, ihren Gewinn auf Kosten der Mitarbeiter immer weiter zu
steigern. In diesem Fall kann man sagen: Nicht der Fisch
stinkt vom Kopfe her, sondern das geschlachtete Tier.
Umso erfreuter bin ich heute, dass die Fleischbranche
nun die Skandale hinter sich lassen will. Mit der Einwilligung in den Mindestlohntarifvertrag zeigen die Arbeitgeber ein Einsehen in die Notwendigkeit einer Kursänderung.
({1})
Sicherlich half dabei neben dem Druck aus der Politik
und der Öffentlichkeit auch der von uns angekündigte
gesetzliche Mindestlohn. Immerhin gründete diese Branche dafür erstmals und endlich einen Arbeitgeberverband, der - das sage ich dazu - perspektivisch sicherlich
noch mehr leisten kann und auch mehr leisten muss.
Mit dem Gesetz zur Stärkung der Tarifautonomie möchten wir das Arbeitnehmer-Entsendegesetz zukünftig für
alle Branchen öffnen.
({2})
Die problembeladenen Zustände in der Fleischbranche machen es aber notwendig, hier sofort zu reagieren.
Angesichts des dringenden Handlungsbedarfs ist es deshalb der richtige Weg, die Branche „Schlachten und
Fleischverarbeitung“ nun unverzüglich in den Katalog
des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes aufzunehmen. Mit
dieser Aufnahme ist dann der Weg frei für den Erlass einer Mindestlohnverordnung. Damit gilt der Mindestlohntarifvertrag für die gesamte Fleischbranche - auch
für nichttarifgebundene Betriebe - und für die zahlreichen, meist osteuropäischen Werkvertragsnehmer, die
noch für Niedriglöhne arbeiten. Als letzter Punkt ist mir
besonders wichtig, dass auch die Werkverträge an die
Kette genommen werden.
({3})
Der nun auf der Grundlage des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes bestehende Mindestlohntarifvertrag hat damit
international zwingende Wirkung und gilt für alle inund ausländischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Auf
diese Weise wird es keine Schlupflöcher mehr geben.
({4})
Ab dem 1. Juli dieses Jahres erhalten die Arbeitnehmer in der Fleischbranche mindestens 7,75 Euro pro
Stunde. Das ist für viele eine sehr deutliche Lohnerhöhung. Ich gebe zu, man könnte kritisieren, dass wir in
den ersten neun Monaten des Jahres 2015 unter dem gesetzlichen Mindestlohn bleiben. Aber ab dem 1. Oktober
2015 wird in dieser Branche mit einem Stundenlohn von
8,60 Euro der Mindestlohn schon überschritten.
({5})
Im Jahre 2016 landen wir dann bei 8,75 Euro. Davon
werden viele Tausend Menschen profitieren.
({6})
Ganz besonders wichtig ist uns eine sorgfältige Kontrolle.
({7})
Denn wenn die Einhaltung nicht überprüft wird, dann ist
das beste Gesetz nichts wert. Die Zuständigkeit für die
Überwachung der Mindestlohnanforderungen im Bereich des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes liegt bei den
Zollbehörden. Natürlich werden diese zusätzlichen
Überprüfungen in der Fleischbranche zu einem höheren
Personal- und Sachaufwand führen.
({8})
Wir gehen im Gesetzentwurf von einem zusätzlichen
Bedarf von 42 Arbeitskräften aus. Dies wird in den kommenden Haushaltsverhandlungen auch berücksichtigt
werden müssen.
({9})
Wir sind sehr optimistisch, dass uns auch dies gelingen
wird. Stellen die Zollbehörden bei ihren Kontrollen Verstöße gegen die Mindestlohnbestimmungen fest, dann
drohen Bußgelder von bis zu 500 000 Euro.
Ich will in diesem Zusammenhang noch einen elementaren Punkt ansprechen. Der Generalunternehmer
haftet - auch ohne eigenes Verschulden -, wenn ein Subunternehmer oder Subsubunternehmer seinen Arbeitnehmern nicht den Branchenmindestlohn zahlt. Daher ist es
für die Unternehmer wichtig, sich ihre Subunternehmer
sorgfältig auszusuchen; denn sie können sich nicht aus
ihrer Verantwortung stehlen. Das schafft Sicherheit für
die Beschäftigten.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, das Lohndumping
in der deutschen Fleischbranche hat zu großer Empörung
in unseren Nachbarstaaten geführt. Die Aufnahme in das
Arbeitnehmer-Entsendegesetz ist auch ein Beitrag zu einem fairen und funktionsfähigen Wettbewerb innerhalb
Europas. So erreichen wir Arbeitnehmerfreizügigkeit in
Europa zu fairen Bedingungen.
Ich bin zuversichtlich, dass wir mit der Aufnahme in
das Arbeitnehmer-Entsendegesetz heute eine einigermaßen faire Entlohnung für alle Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer in der Fleischbranche erwirken können.
Vielen Dank.
({10})
Vielen Dank, Herr Kollege.
Ich darf Ihnen das von den Schriftführerinnen und
Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen
Abstimmung über den Antrag „Kündigung bilateraler
Kooperationen im Bereich der Nutzung atomarer Technologien“ bekannt geben: abgegebene Stimmen 577. Mit
Ja haben gestimmt 110 Kolleginnen und Kollegen, mit
Nein haben gestimmt 465, Enthaltungen 2. Der Antrag
ist damit abgelehnt.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 577;
davon
ja: 110
nein: 465
enthalten: 2
Ja
SPD
Marco Bülow
Helga Kühn-Mengel
DIE LINKE
Herbert Behrens
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Klaus Ernst
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Dr. André Hahn
Heike Hänsel
Inge Höger
Andrej Hunko
Sigrid Hupach
Susanna Karawanskij
Kerstin Kassner
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Stefan Liebich
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Niema Movassat
Dr. Alexander S. Neu
Harald Petzold ({0})
Richard Pitterle
Martina Renner
Michael Schlecht
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Azize Tank
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Halina Wawzyniak
Katrin Werner
Birgit Wöllert
Hubertus Zdebel
Pia Zimmermann
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Luise Amtsberg
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({1})
Volker Beck ({2})
Agnieszka Brugger
Vizepräsidentin Claudia Roth
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Katharina Dröge
Harald Ebner
Matthias Gastel
Anja Hajduk
Bärbel Höhn
Dieter Janecek
Uwe Kekeritz
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Tom Koenigs
Oliver Krischer
Stephan Kühn ({3})
Christian Kühn ({4})
Monika Lazar
Steffi Lemke
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Peter Meiwald
Irene Mihalic
Beate Müller-Gemmeke
Özcan Mutlu
Dr. Konstantin von Notz
Friedrich Ostendorff
Cem Özdemir
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({5})
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Ulle Schauws
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Kordula Schulz-Asche
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Doris Wagner
Beate Walter-Rosenheimer
Dr. Valerie Wilms
Nein
CDU/CSU
Stephan Albani
Katrin Albsteiger
Dorothee Bär
Norbert Barthle
Julia Bartz
Günter Baumann
Maik Beermann
Manfred Behrens ({6})
Veronika Bellmann
Sybille Benning
Dr. Christoph Bergner
Ute Bertram
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexandra Dinges-Dierig
Alexander Dobrindt
Michael Donth
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Hansjörg Durz
Dr. Bernd Fabritius
Hermann Färber
Uwe Feiler
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Axel E. Fischer ({7})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Dr. Astrid Freudenstein
Dr. Hans-Peter Friedrich
({8})
Michael Frieser
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Eberhard Gienger
Cemile Giousouf
Josef Göppel
Reinhard Grindel
Ursula Groden-Kranich
Hermann Gröhe
Klaus-Dieter Gröhler
Michael Grosse-Brömer
Astrid Grotelüschen
Markus Grübel
Manfred Grund
Oliver Grundmann
Monika Grütters
Dr. Herlind Gundelach
Olav Gutting
Christian Haase
Dr. Stephan Harbarth
Gerda Hasselfeldt
Matthias Hauer
Mark Hauptmann
Dr. Stefan Heck
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich ({9})
Uda Heller
Jörg Hellmuth
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Christian Hirte
Dr. Heribert Hirte
Robert Hochbaum
Alexander Hoffmann
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Dr. Hendrik Hoppenstedt
Margaret Horb
Bettina Hornhues
Charles M. Huber
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Erich Irlstorfer
Thomas Jarzombek
Sylvia Jörrißen
Andreas Jung
Dr. Franz Josef Jung
Xaver Jung
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kanitz
Alois Karl
Anja Karliczek
Bernhard Kaster
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Dr. Georg Kippels
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Carsten Körber
Kordula Kovac
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Roy Kühne
Günter Lach
Uwe Lagosky
Dr. Karl A. Lamers
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Barbara Lanzinger
Dr. Silke Launert
Paul Lehrieder
Dr. Katja Leikert
Dr. Andreas Lenz
Philipp Graf Lerchenfeld
Antje Lezius
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Wilfried Lorenz
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Karin Maag
Yvonne Magwas
Thomas Mahlberg
Dr. Thomas de Maizière
Gisela Manderla
Matern von Marschall
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({10})
Dr. Michael Meister
Jan Metzler
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Karsten Möring
Marlene Mortler
Carsten Müller
({11})
Stefan Müller ({12})
Dr. Andreas Nick
Michaela Noll
Helmut Nowak
Dr. Georg Nüßlein
Florian Oßner
Henning Otte
Ingrid Pahlmann
Sylvia Pantel
Martin Patzelt
Ulrich Petzold
Sibylle Pfeiffer
Ronald Pofalla
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Kerstin Radomski
Alexander Radwan
Alois Rainer
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({13})
Lothar Riebsamen
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht
Anita Schäfer ({14})
Dr. Wolfgang Schäuble
Vizepräsidentin Claudia Roth
Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Jana Schimke
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Heiko Schmelzle
Christian Schmidt ({15})
Gabriele Schmidt ({16})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({17})
Dr. Kristina Schröder
({18})
Bernhard Schulte-Drüggelte
Dr. Klaus-Peter Schulze
Armin Schuster ({19})
Christina Schwarzer
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Tino Sorge
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Dr. Wolfgang Stefinger
Peter Stein
Erika Steinbach
Sebastian Steineke
Johannes Steiniger
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Rita Stockhofe
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Karin Strenz
Thomas Stritzl
Thomas Strobl ({20})
Michael Stübgen
Dr. Sabine Sütterlin-Waack
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Astrid Timmermann-Fechter
Dr. Hans-Peter Uhl
Dr. Volker Ullrich
Arnold Vaatz
Oswin Veith
Thomas Viesehon
Michael Vietz
Volkmar Vogel ({21})
Sven Volmering
Kees de Vries
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Albert Weiler
Marcus Weinberg ({22})
Dr. Anja Weisgerber
Peter Weiß ({23})
Sabine Weiss ({24})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Marian Wendt
Kai Whittaker
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese ({25})
Elisabeth WinkelmeierBecker
Oliver Wittke
Dagmar G. Wöhrl
Barbara Woltmann
Heinrich Zertik
Emmi Zeulner
Dr. Matthias Zimmer
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heike Baehrens
Ulrike Bahr
Dr. Katarina Barley
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({26})
Burkhard Blienert
Willi Brase
Dr. Karl-Heinz Brunner
Edelgard Bulmahn
Martin Burkert
Dr. Lars Castellucci
Petra Crone
Bernhard Daldrup
Dr. Daniela De Ridder
Dr. Karamba Diaby
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Siegmund Ehrmann
Michaela Engelmeier-Heite
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Dr. Johannes Fechner
Elke Ferner
Christian Flisek
Dr. Edgar Franke
Ulrich Freese
Dagmar Freitag
Martin Gerster
Iris Gleicke
Ulrike Gottschalck
Kerstin Griese
Uli Grötsch
Wolfgang Gunkel
Bettina Hagedorn
Metin Hakverdi
Ulrich Hampel
Sebastian Hartmann
Michael Hartmann
({27})
Dirk Heidenblut
Hubertus Heil ({28})
Gabriela Heinrich
Wolfgang Hellmich
Heidtrud Henn
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({29})
Thomas Hitschler
Dr. Eva Högl
Matthias Ilgen
Christina Jantz
Josip Juratovic
Thomas Jurk
Johannes Kahrs
Christina Kampmann
Ralf Kapschack
Gabriele Katzmarek
Ulrich Kelber
Marina Kermer
Cansel Kiziltepe
Arno Klare
Lars Klingbeil
Daniela Kolbe
Birgit Kömpel
Anette Kramme
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Christine Lambrecht
Christian Lange ({30})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Dr. Birgit Malecha-Nissen
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Dr. Matthias Miersch
Susanne Mittag
Bettina Müller
Michelle Müntefering
Andrea Nahles
Ulli Nissen
Mahmut Özdemir ({31})
Christian Petry
Jeannine Pflugradt
Detlev Pilger
Sabine Poschmann
Florian Post
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Dr. Simone Raatz
Martin Rabanus
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Andreas Rimkus
Sönke Rix
Dennis Rohde
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({32})
Susann Rüthrich
Johann Saathoff
Annette Sawade
Marianne Schieder
Udo Schiefner
Dr. Dorothee Schlegel
Ulla Schmidt ({33})
Matthias Schmidt ({34})
Dagmar Schmidt ({35})
Carsten Schneider ({36})
Ursula Schulte
Swen Schulz ({37})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Stefan Schwartze
Andreas Schwarz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Rainer Spiering
Svenja Stadler
Martina Stamm-Fibich
Sonja Steffen
Claudia Tausend
Michael Thews
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Carsten Träger
Ute Vogt
Dirk Vöpel
Gabi Weber
Andrea Wicklein
Dirk Wiese
({38})
Gülistan Yüksel
Dagmar Ziegler
Stefan Zierke
Dr. Jens Zimmermann
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
Enthalten
SPD
Dr. Bärbel Kofler
Dr. Hans-Joachim
Schabedoth
Vizepräsidentin Claudia Roth
Nächste Rednerin ist jetzt Jutta Krellmann für die
Linken.
({39})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Noch nie wurde so viel über die Fleischindustrie geredet wie in den letzten Monaten und Jahren.
Beispielsweise stand im April ein Artikel in der Frankfurter Rundschau mit der bezeichnenden Überschrift
„Im Schweinesystem“. Es ging dabei vor allem um
Arbeitskräfte aus Osteuropa, Bulgarien und Rumänien,
die in deutschen Schlachthöfen arbeiten. 60 Stunden
schwere Arbeit pro Woche waren keine Seltenheit, und
das für einen Hungerlohn von 4,76 Euro pro Stunde.
Davon gehen bis zu 300 Euro für ein Bett in einer überfüllten Bruchbude weg. Oft müssen noch Zwangsabgaben für den Transport zur Arbeit, das Werkzeug und die
Arbeitskleidung gezahlt werden. Das sind nahezu mafiöse Strukturen - und das mitten in Deutschland. Urlaub
gibt es nicht. Dafür gibt es bei Krankheit die Kündigung.
Das ist pure Ausbeutung. Diese Zustände sind ein Skandal.
({0})
Sie erinnern an die schlimmen Arbeitsbedingungen in
der Fleischindustrie in Chicago im Jahre 1900, wie sie
Upton Sinclair in seinem Roman Der Dschungel
beschrieben hat. Damals ging es um Einwanderer aus
Litauen. Heute geht es um Menschen aus Osteuropa, die
in Deutschland arbeiten. Damals und heute ist das für die
Arbeitgeber ein sehr lukratives Geschäft. Große Fleischproduzenten wie Tönnies in Niedersachsen und NRW
verdienen sich auf dem Rücken der Arbeitnehmer dumm
und dämlich. Sie können sich dadurch sogar teure Bundesligaklubs zu Werbezwecken leisten.
Die Verantwortung für diese Ausbeutung tragen dabei
nicht nur die Arbeitgeber, sondern auch der Gesetzgeber.
Politiker aller Regierungsparteien seit Rot-Grün haben
den Arbeitsmarkt dereguliert und dafür gesorgt, dass
Unternehmen heute leicht mit Leiharbeit oder Werkverträgen gesetzliche und tarifliche Standards unterlaufen
können. Undurchsichtige Subunternehmerketten und
Werkverträge sind gerade in der Fleischindustrie ein riesiges Problem. Es wird höchste Zeit, dass dagegen etwas
unternommen wird.
({1})
Ein Mindestlohn ist überfällig und ein Schritt zur
Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie. Die Linke ist für die Ausweitung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes auf alle Branchen, weil damit
leichter Branchenmindestlöhne festgelegt werden können. Die Voraussetzung dafür muss aber sein, dass die
Branchenmindestlöhne höher sind als der gesetzliche
Mindestlohn.
({2})
Das ist beim Mindestlohn für die Fleischindustrie leider
nicht der Fall. Es ist schon gesagt worden, dass er im
nächsten Jahr für neun Monate niedriger sein wird als
der gesetzliche Mindestlohn, der ab 1. Januar gelten soll.
So geht das nicht.
Ein Tarifvertrag muss bessere Bedingungen enthalten
und nicht gesetzliche Regelungen unterbieten. Die
Arbeitgeber in der Fleischindustrie haben jahrelang
Tarifverträge verhindert und damit wirklich schlimme
Arbeitsbedingungen geschaffen. Sie haben jede Möglichkeit und jedes Schlupfloch genutzt, das der Gesetzgeber ihnen ermöglicht hat. Die gleichen Arbeitgeber
nutzen jetzt die Möglichkeit, den gesetzlichen Mindestlohn per Tarifvertrag bis Ende 2016 zu unterschreiten.
Mir kann keiner erzählen, dass das der Wunsch der
Gewerkschaft NGG war. Es war die Situation, dass sie
einen Tarifvertrag haben mussten und wollten. Am Ende
mussten sie unterschreiben.
Sie tragen die Verantwortung dafür, dass die Beschäftigten in der Fleischindustrie im nächsten Jahr weniger
als den gesetzlichen Mindestlohn erhalten; denn Sie
bieten den Arbeitgebern durch die Regelungen im Gesetzentwurf für den Mindestlohn ein neues Schlupfloch.
Damit muss einfach Schluss sein.
({3})
Streichen Sie die Ausnahmen im Gesetzentwurf für den
allgemeinen Mindestlohn. Der gesetzliche Mindestlohn
darf kein löchriger Flickenteppich werden. Er muss eine
Schutzfunktion für alle Beschäftigten haben.
({4})
Der Tarifvertrag der NGG gilt heute schon. Heute
geht es um die Aufnahme der Fleischbranche in das
Arbeitnehmer-Entsendegesetz. Das ist ein Schritt in die
richtige Richtung. Die Beschäftigten werden ab dem
1. Juli im Verhältnis deutlich mehr Geld bekommen.
Deshalb und damit die Branche überhaupt in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz aufgenommen wird, wird die
Linke diesem Gesetzentwurf zustimmen; damit wird es
auf den Weg gebracht.
({5})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Nächster Redner in der
Debatte ist Wilfried Oellers für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Heute beraten und beschließen wir das Erste Gesetz
zur Änderung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes, mit
dem die Fleischindustrie als weitere und damit 14. Branche in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz aufgenommen
werden soll.
Dieses Änderungsgesetz ist der Beweis dafür, dass
der Staat entschlossen gegen Missstände in unserem
Land vorgeht. Denn was fanden wir vor? Medien berichteten über menschenunwürdige Bedingungen für Arbeitnehmer in der Fleischindustrie. Die Rede war von Dumpinglöhnen und miserablen Arbeitsbedingungen, die in
keinster Weise zu tolerieren sind. Die Bevölkerung war
zu Recht schockiert und empört. Karl Schiewerling
schilderte die Gesamtsituation im Rahmen der ersten Lesung.
Gemäß dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hat
man in der letzten Legislaturperiode nicht sofort gesetzliche Regelungen erlassen. Vielmehr hat man den
Arbeitgebern die Möglichkeit eröffnet, die Angelegenheit in Zusammenarbeit mit den Arbeitnehmern zu bereinigen. Andernfalls wären gesetzliche Regelungen die
Folge gewesen. Die Arbeitgeber gründeten auf diesen
Druck hin einen Arbeitgeberverband und traten mit der
Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten in Tarifverhandlungen ein.
Die erfreuliche Nachricht erfuhren wir dann am
13. Januar 2014: Die Tarifvertragsparteien hatten sich
auf einen Tarifvertrag verständigt und einen bundeseinheitlichen Mindestlohn vereinbart. Bei Zustimmung
zum hier vorliegenden Gesetzesentwurf gilt für die
Fleischindustrie ab dem 1. Juli 2014 ein bundeseinheitlicher Mindestlohn von 7,75 Euro. Nach einer Anhebung
des Mindestlohns zum 1. Dezember 2014 auf 8 Euro und
einer weiteren Anhebung zum 1. Oktober 2015 auf
8,60 Euro erreicht der Mindestlohn zum 1. Dezember
2016 einen Betrag von 8,75 Euro. Wohlgemerkt: Das gilt
auch für die in Rede stehenden Werkverträge, was besonders hervorzuheben ist.
({0})
Um jedoch eine bundesweite Wirkung des Tarifvertrages zu erreichen, ist eine Aufnahme des Tarifvertrages in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz zwingend
erforderlich. Auch wenn an den geregelten Lohnstufen
Kritik geübt wird, so ist hier jedoch hervorzuheben, dass
diese Mindestlöhne von den Tarifvertragsparteien
vereinbart worden sind. Auch wenn der Mindestlohn
von 8,50 Euro, so wie er im Koalitionsvertrag vereinbart
ist, nicht schon zum 1. Januar 2015 erreicht wird, sondern erst später, so ist doch hervorzuheben, dass es sich
hier um eine tarifvertragliche Vereinbarung handelt.
Jeder, der dem hier vorliegenden Gesetzentwurf nicht
zustimmt, akzeptiert damit nicht die Vereinbarung der
Tarifvertragsparteien und missachtet zudem den Grundsatz der Tarifautonomie.
Da die Union die Vereinbarung der Tarifvertragsparteien und ihren Wunsch auf Aufnahme in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz respektiert, werden wir dem
Gesetzentwurf zustimmen. Damit stimmen wir für die
Beseitigung von unwürdigen Arbeitsbedingungen in der
Fleischindustrie, für die Schaffung eines tarifvertraglichen Systems und damit für geordnete Arbeitsbedingungen in der Fleischbranche.
({1})
Die Tarifautonomie wird hierdurch ebenfalls gestärkt.
({2})
Schließlich dient dieser Tarifvertrag auch dazu, einen
fairen und funktionierenden Wettbewerb zu gewährleisten. Denn auch wenn die gesamte Branche und selbst die
Landwirtschaft, die nun gar nichts mit den Missständen
zu tun hatte und zu Unrecht damit in Zusammenhang
gebracht wurde, unter Generalverdacht gerieten, ist
festzuhalten, dass nicht in der gesamten Fleischbranche
unwürdige Arbeitsbedingungen herrschten. Viele Unternehmer in dieser Branche zahlten ihren Mitarbeitern
schon vorher vernünftige Löhne. Diejenigen, die das
nicht taten, erlangten dadurch zu Unrecht einen Wettbewerbsvorteil. Das ist jetzt nicht mehr möglich.
({3})
Der im Frühjahr 2013 eingeleitete Prozess kommt
somit zu seinem verdienten Erfolg und kann nun weiterentwickelt werden. Die Union hat sich hierfür massiv
eingesetzt und damit maßgeblich dafür gesorgt, dass die
Missstände in der Fleischindustrie beseitigt werden.
({4})
Wie gesagt: Die Union stimmt dem Antrag daher zu. Der
Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass wir den Änderungsanträgen ebenfalls zustimmen, die lediglich berichtigenden und klarstellenden Charakter haben.
Abschließend sei Folgendes erwähnt: Die Stellungnahme des Bundesrates vom 11. April 2014 zum Gesetzentwurf ist insoweit interessant, als die Haftungsregelung für Unternehmer nach § 14 des ArbeitnehmerEntsendegesetzes infrage gestellt wird. Hiernach haftet
der Generalunternehmer verschuldensunabhängig für die
Zahlung der Löhne des von ihm beauftragten Subunternehmers, wenn dieser die Löhne an seine Arbeitnehmer
nicht gezahlt hat.
Der Bundesrat weist nach meiner Auffassung zu
Recht darauf hin, dass nach dieser Vorschrift die Gefahr
besteht, dass ein redlicher Generalunternehmer, der seinen Zahlungsverpflichtungen gegenüber dem von ihm
beauftragten Subunternehmer nachgekommen ist und
den Subunternehmer sorgfältig ausgesucht hat, in die
Situation kommt, zweimal zahlen zu müssen, obwohl er
sich vertragstreu und korrekt verhalten hat.
Auch wenn die vom Bundesrat vorgeschlagene
Lösung der Schaffung eines Hilfsfonds zu Recht abzulehnen ist, da dies für Missbrauch durch unredliche
Unternehmer gegenüber den redlichen Unternehmern
Tür und Tor öffnen würde, so ist es nach meiner Auffassung geboten, eine Lösung für diese Problemstellung zu
erarbeiten.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Das Wort hat für Bündnis 90/Die Grünen Friedrich Ostendorff.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das dänische Fleischunternehmen Danish Crown bietet
neuerdings Rundgänge in einem gläsernen Schlachthof
in Horsens an, für Auszubildende, Studenten, gar für
Schulklassen und Familien. Aus vier Metern Höhe kann
jeder wirklich jeden Prozessschritt beobachten: das
Entladen und Treiben der Tiere, die Betäubung, das Entbluten, das Zerlegen und schließlich das Verpacken der
fertigen Produkte. Alles wirkt sauber und hygienisch,
doch selbst durch doppelglasige Fenster dringt oftmals
ein unangenehmer warmer fleischiger Geruch zu den Interessierten.
Die Arbeiterinnen und Arbeiter dort, wie auch in allen
anderen Schlachthöfen, leisten harte Arbeit. Nicht nur
die Arbeit an sich ist anstrengend und ermüdend. Auch
durch die tägliche Konfrontation mit dem tausendfachen
Töten von Tieren unterscheidet sich diese Tätigkeit doch
sehr von anderen Berufen und trägt eine hohe emotionale Belastung in sich.
Endlich ist nun nach langen Mühen auch für Arbeiterinnen und Arbeiter in deutschen Schlachthöfen ein
Mindestlohn vereinbart worden. Dieser wird nun in das
Arbeitnehmer-Entsendegesetz übernommen. Dieser
erste Schritt ist und war lange überfällig und wird von
uns schon lange gefordert; denn allzu oft ist die Realität
in den Schlachthöfen: 13 Stunden Arbeit bei 4 Euro
Stundenlohn. Das müssten wir endlich ändern.
({0})
Deshalb unterstützten wir Grünen den Gesetzentwurf der
Bundesregierung.
({1})
Doch worauf es nun ankommt, meine Damen und
Herren, ist die Umsetzung: Der Mindestlohn muss bei
den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ankommen.
Entscheidend ist, dass sie ihren Lohn vor Ort auch erhalten. Denn in der Realität ist es so - Sie haben darauf
hingewiesen -, dass der Subunternehmer den Lohn erhält, bei dem die bulgarischen und rumänischen Arbeiterinnen und Arbeiter angestellt sind. Deshalb: Keine
profitorientierte Ausnutzung der Übergangsregelung!
Kein Umschiffen des Mindestlohns durch den weiteren
Missbrauch von Werkverträgen, Scheinverträgen oder
was es alles gibt! Es kann nicht sein, dass länger angestellte Beschäftigte aus Rumänien oder Bulgarien zwar
besser entlohnt werden, dass neu eingestellte Arbeiterinnen und Arbeiter jedoch wieder mit einem wesentlich
geringeren Stundenlohn ausgebeutet werden, so geschehen in meinem Wahlkreis im Münsterland. Das ist menschenunwürdig und beschämend.
({2})
Im Koalitionsvertrag hat die Bundesregierung zugesagt, gesetzeswidrige Werkverträge zu verhindern. Sie
erklären auch überall: Schluss mit Scheinselbstständigkeiten. Tun Sie endlich etwas, liebe Kolleginnen und
Kollegen. Der heute vorliegende Gesetzentwurf ist ein
Anfang, ein guter Anfang sogar, doch er wird nicht ausreichen, um die Missstände im Niedriglohnsektor gänzlich zu beseitigen.
({3})
Für effektive Kontrollen braucht man mehr Personal.
Herr Rützel, Sie haben richtigerweise selbst darauf hingewiesen. Sie sagten, dass 42 Stellen gebraucht werden.
Ja, ich frage mich nur: Warum stehen sie nicht im Haushalt? Das bedarf noch viel Anstrengung. Wir fordern Sie
ausdrücklich auf, nachzubessern und Geld für die entsprechenden Stellen im Haushalt bereitzustellen.
({4})
Natürlich müssen auch die Kommunen endlich ihrer
Pflicht nachkommen und den Zustand der Unterkünfte
der Beschäftigten überwachen. Hier gibt es eklatante
Missstände, zum Beispiel die Unterbringung in baufälligen Baracken. Die Kollegen und ich haben gesehen, dass
vier Männer in kleinsten Zimmern mit zwei Betten leben. Das sind unwürdige Zustände. Diese Unterbringung
ist völlig indiskutabel. Die Kommunen sind gefordert,
endlich ihrer Pflicht nachzukommen. Wenn wir in
Europa so respektlos mit Menschen umgehen, wie können wir dann erwarten, dass diese Menschen in den
Schlachthöfen respektvoll mit den Tieren umgehen?
Profitgier ohne Rücksicht auf Verluste schadet den Menschen, sie schadet den Tieren, und sie schadet unserem
Land, Deutschland, als einem Land, in dem gute Arbeit,
wie wir es uns am 1. Mai erzählt haben, gut bezahlt
wird. Lasst uns das endlich tun!
({5})
Das dänische Unternehmen Danish Crown zeigt
Selbstvertrauen. Ein gläserner Schlachthof demonstriert
die Überzeugung, dass dort nichts passiert, was nicht gesehen werden darf. In Dänemark gibt es für die Schlachthofmitarbeiter Tarifverträge. Das erhöht die Schlachtkosten für Danish Crown um bis zu 100 Prozent
gegenüber deutschen Unternehmen; Namen wurden hier
gerade genannt. Das führt dazu, dass Danish Crown auch
in Deutschland Schlachthöfe betreiben muss, weil in
Deutschland eben ein niedrigerer Lohn bezahlt wird.
Sind die deutschen Schlachthöfe auch so weit, dass dort
nichts passiert, was nicht gesehen werden darf? Ich
hoffe, wir kommen dahin. Lasst uns das gemeinsam in
Angriff nehmen, damit wir auch unsere Schlachthöfe
zeigen können, damit wir zeigen können, wie die Menschen dort arbeiten, damit wir auch die Unterbringung
der Menschen, die aus anderen europäischen Ländern zu
uns kommen und diese Arbeit verrichten, zeigen können
und sagen können: Das ist menschenwürdig.
({6})
Vielen Dank, Kollege Ostendorff. - Das Wort hat für
die SPD-Fraktion Gabriele Groneberg.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Heute
ist für mich ein toller Tag; das muss ich sagen. Das Bohren dicker Bretter in Berlin hat sich wirklich mal gelohnt.
({0})
Seit Jahren setze ich mich zusammen mit engagierten
Menschen aus meiner Region und hier im Haus intensiv
dafür ein, den Missbrauch von Werkverträgen in der
Fleischindustrie aufzudecken und Maßnahmen zu entwickeln, um diesen menschenunwürdigen Umgang zu beenden. Lange hat es gedauert, aber heute ist es endlich so
weit. Das ist ein guter Tag für die rund 100 000 Beschäftigten in der Fleischbranche, von denen allein 20 000 in
Niedersachsen arbeiten.
Bereits seit 2003 kämpfen wir gegen Lohndumping in
der Fleischindustrie. Ich erinnere mich ganz besonders
gut an eine Veranstaltung in meinem Wahlkreis 2005, die
wir in der Hoffnung durchgeführt haben, eine schnelle
Lösung dieses Problems hinzubekommen. Doch das war
schwieriger, als wir gedacht haben. In der Folgezeit
brachten Razzien und Kontrollen in unserer Region, aber
natürlich auch bundesweit - wir stehen mit diesem Problem in dieser Republik ja nicht alleine da - unmenschliche und illegale Arbeitsbedingungen vor allem osteuropäischer Billiglöhner zutage.
Worum geht es hier eigentlich? In einer wirtschaftlich
starken Region, in unserem wirtschaftlich gut aufgestellten Land gibt es Menschen - das ist heute mehrfach erwähnt worden -, die mindestens 10 bis 15 Stunden täglich, sechs Tage die Woche, im Monat mindestens
26 Tage in der Fleischindustrie arbeiten. Sie schlachten,
sie zerlegen, sie verpacken. Das alles tun sie für einen
Stundenlohn von 3 bis 6 Euro; in großen Teilen sind es
noch weniger. Krankheitstage und Urlaub werden nicht
bezahlt.
Die Menschen, die unter diesen Bedingungen arbeiten, kommen überwiegend aus Ungarn, Bulgarien, Rumänien und Litauen. Sie werden mit falschen Versprechungen angeworben und in ehemaligen Geschäfts- und
Wohnhäusern untergebracht, die auf dem normalen
Markt gar nicht mehr vermietet werden können.
({1})
Sie leben dort mit vier bis fünf Personen in kleinen Räumen, es gibt ein Bad auf dem Flur für alle, und die hygienischen Verhältnisse sind jenseits aller Diskussionen.
Für diese miesen Verhältnisse müssen sie Wuchermieten
zahlen.
Die Arbeit dieser Menschen wird so billig abgerechnet, dass es sich lohnt, Schweine aus Dänemark zur
Schlachtung nach Deutschland zu bringen. Deutschland,
ein Billiglohnland? Um es ganz klar zu sagen: Es geht
hier um Missbrauch. Es geht um die fragwürdige Ausnutzung von Rechtsräumen, vor allen Dingen durch Subunternehmen mit oder ohne Wissen der Generalunternehmer, bis hin zu massiven Bedrohungen derjenigen,
die diese Missstände anprangern und in der Vergangenheit klar benannt haben.
Vor rund zwei Jahren ist bei uns in der Region der
Knoten geplatzt. Es hat - so möchte ich es beschreiben einen Aufstand der Anständigen gegeben, und es hat
sich einiges getan. Ja, auch einige Unternehmen der
Fleischbranche haben erkannt, dass diese Missstände
gleichzeitig große Imageschäden für ihre Unternehmen
bedeuten, und sie haben ein großes Interesse an Regelungen, die anständigen Unternehmen Wettbewerbsgleichheit sichern. Leih- und Werkvertragsarbeiter sowie
aus dem europäischen Ausland stammende Beschäftigte
aus Werkvertragsunternehmen müssen den gleichen
Lohn wie die festangestellten Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen bekommen. Anständige Löhne für harte
körperliche Arbeit!
Mein besonderer Dank gilt Andrea Nahles. Sie hat
2008 meinen Wahlkreis besucht, und wir haben die Situation mit betroffenen Gewerkschaftern und vielen Interessierten ausführlich erläutert. Sie ist diejenige, die
jetzt als zuständige Ministerin diesen Gesetzentwurf
vorlegt. Wir gehen davon aus, dass es jetzt ordentliche
Löhne in der Fleischindustrie und wirksame Sanktionen beim Missbrauch geben wird. Richtig, Kollege
Ostendorff, wir müssen dafür sorgen, dass dieser Lohn
in der Tat bei den Beschäftigten ankommt. Das ist ganz,
ganz wichtig.
({2})
Die SPD war hier treibende Kraft. Das ist sicherlich
unstrittig. Wir haben das im Wahlkampf versprochen,
und dies ist jetzt - der GroKo sei Dank - in der Umsetzung. Wenn alles nach Plan läuft, wird dieses Gesetz
Ende Juni in Kraft treten. Lieber Kollege Schiewerling,
damit sind wir endlich einmal auf einem gemeinsamen
Nenner. Das freut mich ganz besonders.
({3})
Wir haben weitere Gesetzentwürfe gegen den Missbrauch auf dem Arbeitsmarkt in der Beratung. Heute
Morgen zum Beispiel hat unser Wirtschaftsminister
Sigmar Gabriel ausdrücklich darauf hingewiesen, dass
wir ein weiteres Schlupfloch für Unternehmen stopfen
werden. Es darf nicht sein, dass Unternehmer über den
Einsatz von Werkvertragsnehmern und Leiharbeitern die
Möglichkeit haben, sich der Zahlung der EEG-Umlage
zu entziehen. Wie ist denn das möglich? Letztendlich ist
es in unserem Interesse, diese Umgehungstatbestände
nicht mehr zu ermöglichen.
Einige Unternehmer mit entsprechender krimineller
Energie finden vielleicht trotzdem einen Weg. Holzauge
sei wachsam, kann ich da nur sagen. Ich finde, es ist
nach wie vor eine Schande, dass ein Land wie Deutschland, welches wirtschaftlich so gut dasteht, im Vergleich
zu Nachbarländern ein Billiglohnland ist. Das müssen
wir unbedingt ändern.
({4})
Ein wichtiger und richtiger Schritt ist Anfang Januar
geschehen, als sich die Tarifvertragsparteien in der
Fleischindustrie auf einen Tarifvertrag geeinigt haben.
Dieser wird den Mindestlohnstandard, den wir hier auch
noch vereinbaren werden, erreichen. Selbst wenn es etwas später ist, ist das ein großer Fortschritt.
Frau Kollegin.
Ja, ich komme zum Schluss. Sehr geehrte Frau Präsidentin, gestatten Sie mir noch ein paar Sätze. Wenn man
so lange an etwas gearbeitet hat, ist die Erleichterung so
groß.
Es tut mir leid, aber das ist kein Argument.
Ich werde mich jetzt auf einen letzten Aspekt beschränken. - Strenge und regelmäßige Kontrollen durch
Behörden der Zollverwaltung gehören natürlich dazu.
Auch darauf ist hier schon eingegangen worden.
Ich fasse zusammen: Versprochen und gehalten, das
ist die Handschrift der SPD in dieser Koalition.
({0})
Wir wollen keine Dumpinglöhne. Ich bin erleichtert und
bitte alle Kolleginnen und Kollegen, heute gemeinschaftlich in diesem Haus diesem Gesetzentwurf zuzustimmen.
Danke schön.
({1})
Danke, Frau Kollegin. Es gibt Irritationen, ob es jetzt
doch einen gemeinsamen Nenner in der Großen Koalition gibt. Aber das kann ja der nächste Redner erklären.
Ich rufe Albert Stegemann auf.
({0})
Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ein
nicht ganz unbedeutender Fraktionsvorsitzender in diesem Hohen Hause wird immer wieder gerne mit folgenden Worten zitiert: „Politik beginnt mit dem Betrachten
der Wirklichkeit.“
({0})
Unter diesem Motto habe ich mich vor etwa drei Wochen auf den Weg gemacht und mit den Beamten der
Finanzkontrolle Schwarzarbeit des Hauptzollamtes
Osnabrück an einer Kontrolle der Arbeitsverhältnisse in
einem großen norddeutschen Schlachtunternehmen teilgenommen. Wissen Sie: Die dort gemachten Beobachtungen sind so zahlreich, dass fünf Minuten Redezeit
einfach nicht ausreichen, um Ihnen diese Eindrücke auch
nur ansatzweise zu schildern.
({1})
Gestatten Sie mir deshalb das Arbeiten mit folgendem
Bild: Wie wir alle wissen, hat jede Medaille zwei Seiten,
redensartlich eine gute und eine schlechte. Es wirkten in
der Vergangenheit unterschiedliche Einflüsse auf die
Fleischbranche ein, die, wie bei einer Medaille eben
auch, besagte Seiten mit sich bringen. Auf die einzelnen
Einflüsse möchte ich im Folgenden eingehen.
Einfluss Nummer eins: der Wert von Lebensmitteln.
In kaum einem anderen Land der Welt ist es für Menschen so günstig, sich mit Lebensmitteln zu versorgen.
({2})
Im Vergleich zu vergangenen Jahrzehnten müssen wir
einen immer geringeren Anteil des Einkommens für die
Waren des täglichen Bedarfs ausgeben; das ist die gute
Seite der Medaille. Auf der anderen Seite sorgen aber
auch die preisbewussten Verbraucher für einen knallharten Wettbewerb im Handel, der weltweit ebenfalls seinesgleichen sucht.
({3})
Discounter befördern die Suche nach immer neuen
Schnäppchen, indem sie den Preisdruck an die Produzenten weitergeben. Dies hat den Kostendruck in der
Fleischbranche befeuert.
Einfluss Nummer zwei: wirtschaftliche Zwänge in einer globalisierten Welt. Kein Land auf dieser Welt hat
von den offenen Märkten derart profitiert wie die Bundesrepublik Deutschland. Mit technischen Neuerungen
sind Unternehmen Vorreiter, verkaufen erfolgreich ihre
Produkte, sichern den hiesigen Wohlstand auch durch
hohe Exporte. Wettbewerb ist allerdings nie nur einsei2794
tig. Der Transport spielt für die Warenpreise kaum mehr
eine Rolle. So steht die Fleischbranche einer harten Konkurrenz von günstigen Fleischimporten aus aller Welt
gegenüber. Also: Der Druck im Kostenkessel steigt und
hat damit folgende Einflüsse voll durchschlagen lassen.
({4})
Einfluss Nummer drei: Maßnahmen zur Flexibilisierung des Arbeitsmarktes. Kein Land in Europa ist so gut
durch die Krise gekommen wie Deutschland. Das hat
viel mit unserem flexiblen Arbeitsmarkt und dem partnerschaftlichen Verhältnis von Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu tun. Die funktionierende Sozialpartnerschaft
hat viele Menschen in Arbeit gebracht und gehalten.
Nicht umsonst ist das Beschäftigungsniveau so hoch wie
nie zuvor. Die Kehrseite gilt aber auch hier: Diese Partnerschaft, diese Erfolgsgeschichte endet dort, wo die flexiblen Arbeitsmarktinstrumente bis an die Grenzen des
Vertretbaren ausgereizt werden. In der fleischverarbeitenden Industrie ist der Lohnkostenanteil in der Produktion sehr hoch. Deshalb hat es hier diese extremen Auswüchse gegeben.
Vor diesem Hintergrund möchte ich mich herzlich bei
der ehemaligen Bundesarbeitsministerin Ursula von der
Leyen bedanken. Unter ihrer Führung hat es die letzte
Regierung geschafft, die Tarifvertragsparteien an einen
Tisch zu holen. Dies hat sicherlich auch mit dem politischen Druck unter anderem der Kirchen zu tun. Auch ihnen sei an dieser Stelle gedankt.
({5})
Hier hat die Gesellschaft ihre Verantwortung wahrgenommen. Demokratie funktioniert also.
Bleibt noch Einfluss Nummer vier, nämlich die Arbeitnehmerfreizügigkeit in Europa. In der Europäischen
Union gibt es keine Grenzen mehr. Dies bietet Chancen
nicht nur für junge Menschen, obwohl gerade sie im Moment das Sinnbild für ein zusammenwachsendes Europa
mit einem gemeinsamen Arbeitsmarkt sind. Die Suche
nach einem Arbeitsplatz fernab von der eigenen Heimat
verknüpfen sie mit vielen Hoffnungen. So weit die gute
Seite der Medaille.
Wir mussten in der Vergangenheit aber feststellen:
Solche Hoffnungen wurden ausgenutzt. Einzelne Unternehmen sind vom Irrglauben ausgegangen, sich in einem
rechtsfreien Raum nach Wildwestmanier bewegen zu
können. Durch Werkverträge, die mit aus dem europäischen Ausland stammenden Vertragsfirmen abgeschlossen wurden, haben sie vorhandene Mindestlöhne umgangen. Einziges Ziel war es, die Lohnkosten zu senken.
Dies war aber definitiv nie die originäre Intention der
Arbeitnehmerfreizügigkeit.
({6})
Das jetzt zu beschließende Gesetz schiebt solchem
Handeln einen Riegel vor. Durch die Aufnahme der
Fleischindustrie in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz
gilt dann der bereits beschlossene Mindestlohn auch für
aus dem Ausland entsandte Arbeitnehmer.
Meine Damen, meine Herren, heute ist ein guter Tag
für die Fleischbranche. Dieser Wirtschaftszweig ist viel
gescholten. Ein ursprünglicher Grund liegt im knallharten Wettbewerb. Dieser hätte jedoch nie so weit führen
dürfen, dass die Menschenwürde, wie in der Vergangenheit viel zu oft geschehen, dem Schlachtermesser zum
Opfer fällt. Ich hoffe sehr, dass wir heute einen Beitrag
dazu leisten, dass die Fleischbranche uns in der Zukunft,
ab heute, die gute Seite der Medaille zeigt.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank, Herr Kollege.
Jetzt würden wir natürlich alle sehr gern wissen, wer
der nicht ganz unbedeutende Fraktionsvorsitzende ist;
aber vielleicht kann uns Herr Kauder das ja sagen.
({0})
Nächster und letzter Redner in dieser Debatte: Tobias
Zech für die CSU/CDU-Fraktion.
({1})
Ich möchte die Kolleginnen und Kollegen, die gekommen sind, um sich an der Abstimmung zu beteiligen,
bitten, sich an dieser Debatte zuhörend zu beteiligen. Es
lohnt sich nämlich wirklich sehr.
({2})
Bitte, Herr Zech.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Heute
ist ein guter Tag …“, so begannen Anfang April fast alle
Reden, die in der ersten Lesung über die Aufnahme der
Fleischindustrie in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz
gehalten wurden. In der Tat: Heute ist ein guter Tag. Es
geht heute für manche Arbeitnehmer in der Fleischindustrie sprichwörtlich um die Wurscht.
Aber es geht nicht nur um heute, es geht auch um die
Umsetzung des Gesetzes, das heute beschlossen werden
soll, es geht darum, dass wir aus einem guten Tag eine
noch bessere Zukunft machen. Lassen Sie mich daher einen positiven Blick in die Zukunft richten. Die Erfahrungen mit dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz sind gut: Die
Branchenmindestlöhne haben nicht nur zu Beschäftigungsgewinnen geführt, sondern auch zu mehr Fairness
im Wettbewerb der Unternehmen beigetragen.
Diese Vorteile kommen nun auch endlich bei den Arbeitnehmern in der Fleischindustrie an. Dabei geht es
zum einen darum, den Arbeitnehmern einen gerechten
Lohn zu garantieren. Ein angemessener Lohn für die
harte körperliche Arbeit ist das absolute Minimum. Es
müssen aber auch alle anderen Umstände gewährleistet
werden, um den Menschen ein Leben und ein Arbeiten
in Würde zu ermöglichen. Nur wenn auch die äußeren
Rahmenbedingungen stimmen, kann man diese körperlich harte Arbeit bewältigen und hygienische Umstände
für Mensch und Tier und für die Produkte garantieren.
Daher geht es auch um bezahlte Überstunden, um Urlaub, Höchstarbeitszeiten und Mindestruhezeiten, Bedingungen für die Überlassung von Arbeitskräften, Sicherheit, Gesundheitsschutz und Hygiene am Arbeitsplatz
sowie last, but not least Nichtdiskriminierungsbestimmungen.
Eine Branche mit über 170 000 Arbeitnehmern soll
nun davon profitieren dürfen. Für viele Arbeitgeber ist
die Gewährleistung solcher Rahmenbedingungen eine
Selbstverständlichkeit. Im Hinblick auf diejenigen, für
die sie es bisher nicht waren, ist es unsere Aufgabe, sie
zu einer Selbstverständlichkeit zu machen. Dieser Industrie wird somit ein Rechtsrahmen gesetzt werden, der für
einen fairen Wettbewerb sorgen kann, national wie international.
National, weil wir nicht vergessen dürfen: Wir sind
hier das gesetzgebende Organ. Es gab immer wieder
Rechtsstreite, in denen auf Werkvertragsbasis ausgebeutete Beschäftigte erfolgreich eine Festanstellung eingeklagt haben. Sie konnten nachweisen, dass es sich um
Scheinwerkverträge handelte. Es darf aber nicht Aufgabe der Gerichte sein, durch Rechtsprechung Gesetze
zu schaffen, wo wir keine Ordnung hergestellt haben.
Zudem beschreiten zu wenige den Weg der Gerichtsbarkeit und müssen folglich mit den katastrophalen Umständen leben, gerade bei den schwarzen Schafen, die es
wie in allen Industriezweigen auch in der Fleischindustrie gibt. Deshalb ist es so wichtig, dass wir diesen
Schritt gehen und diesen Menschen nun einen deutlich
besseren Schutz bieten - präventiv und nicht lediglich
erst im Vollzug.
Aber auch international ist dieser Schritt wichtig, da
nur bei entsprechendem Schutz aller europäischen Arbeitnehmer die Vision der Arbeitnehmerfreizügigkeit
weiter verfolgt werden kann. Damit garantieren wir
einen guten Standard an Arbeitnehmerrechten und erweitern so die Möglichkeiten für freie Arbeitnehmerwanderung und -zuwanderung und Wechsel innerhalb
der Europäischen Union.
({0})
In der Umsetzung bestehen zwei essenzielle Schwerpunkte. Zum einen - das haben wir heute schon mehrmals diskutiert - geht es um die Kontrolle. Es bringt kein
noch so guter Wille etwas, wenn es an der Umsetzung
und an der Kontrolle scheitert.
({1})
Mit der Aufnahme der Arbeitnehmer in der Fleischindustrie ist unsere Arbeit also nicht getan, sondern wir
müssen die Aufsichtsbehörden tatkräftig unterstützen
und alle Möglichkeiten der Kontrollen ermöglichen.
({2})
Erst wenn diese einen effektiven Druck auf die Arbeitgeber ausüben können, erfüllt das Arbeitnehmer-Entsendegesetz auch seine Zwecke.
Zum anderen geht es um die Generalunternehmerhaftung nach § 14 Arbeitnehmer-Entsendegesetz. Dazu sei
zunächst gesagt, dass diese nicht neu ist und mit der
Aufnahme der Fleischindustrie auch nicht geändert wird.
Zudem ist diese Regelung verfassungskonform und konform mit dem Europarecht.
Wir können diese Problematik nicht auf dem Rücken
der Arbeitnehmer austragen, die wir gerade schützen
wollen. Damit würden wir Gefahr laufen, neue Lücken
aufzureißen, die zu erneutem Missbrauch führen könnten.
Es liegt in der Macht des Unternehmens und der Unternehmer, sich die Subunternehmen aussuchen zu können und dabei auf Zuverlässigkeit und entsprechende
Mindestmaßstäbe zu achten. Die Unternehmen haben
dabei mehr Möglichkeiten der Kontrolle als die Arbeitnehmer, und diese Kontrolle soll gerade genutzt werden,
um Subunternehmer genauer unter die Lupe zu nehmen.
Nur so können die schwarzen Schafe vom Markt verdrängt werden, die Arbeitnehmer mit falschen Versprechungen locken und ausbeuten.
({3})
Dennoch verstehe ich die Bedenken der Unternehmen, die Doppelzahlungen befürchten, ohne sich vollständig absichern zu können. Die Einführung eines
Hilfsfonds erachte ich jedoch nicht für sinnvoll. Dieser
würde zu einer höheren Belastung für die Gemeinschaft
und zu einem erheblichen Verwaltungsaufwand führen.
Vor allem aber würden damit auch diejenigen Unternehmen zur Kasse gebeten werden, die zuverlässige Nachunternehmer gewissenhaft auswählen und sich somit
schützen, und gerade das ist ja auch das Ziel des Gesetzes.
Dennoch sollten gerade die Konstellation des Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses näher beleuchtet
und weitere Lösungsvorschläge bedacht werden. Diese
Thematik werden wir insbesondere auch im Zusammenhang mit § 13 des Mindestlohngesetzes noch genauer
betrachten müssen.
Nichtsdestotrotz ist heute ein guter Tag für die Arbeitnehmer in der fleischverarbeitenden Industrie. Wir treffen heute eine gute und zukunftsfähige Entscheidung.
Wir sollten aber auch weiterhin weitere Branchen sensibel und aufmerksam im Blick behalten und diesen
Schutz gegebenenfalls ausweiten.
Herzlichen Dank.
({4})
Vielen Dank, Herr Kollege Zech.
Ich schließe die Aussprache.
Vizepräsidentin Claudia Roth
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes.
({0})
Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/1359,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksa-
chen 18/910 und 18/1283 in der Ausschussfassung anzu-
nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? -
Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung ange-
nommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Nach Artikel 87 Absatz 3 des
Grundgesetzes ist zur Annahme des Gesetzentwurfes die
absolute Mehrheit der Mitglieder des Deutschen Bun-
destages - das sind 316 Stimmen - erforderlich.
Wir stimmen nun namentlich über den Gesetzentwurf
ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. Kann mir irgendje-
mand ein Zeichen geben, ob alle Urnen besetzt sind? -
Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung über den
Gesetzentwurf.
Ich frage, ob ein Mitglied des Hauses anwesend ist,
das seine Stimme noch nicht abgegeben hat? - Das ist
nicht der Fall. Damit schließe ich die Abstimmung und
bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der
Auszählung zu beginnen. Wie immer wird Ihnen das Er-
gebnis später bekannt gegeben.1)
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die nicht an
der Debatte teilnehmen wollen, sich entweder zu setzen
und zuzuhören oder den Raum zu verlassen. Das gilt für
alle Seiten des Hauses.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Matthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann
({1}), Katja Kipping, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Abschaffung der Zwangsverrentung von
SGB-II-Leistungsberechtigten
Drucksache 18/589
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Interfraktionell sind für die Aussprache 38 Minuten
vorgesehen. - Es gibt keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache. Matthias Birkwald beginnt für die Linke die Debatte.
({3})
1) Ergebnis Seite 2797 D
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Hartz IV ist und bleibt Armut per Gesetz. Das gilt für
alle Langzeitarbeitslosen, aber ganz besonders für die älteren Arbeitslosen, die unbedingt arbeiten wollen, denen
aber niemand mehr einen Job gibt. Warum? § 12 a im
Sozialgesetzbuch II verpflichtet die Jobcenter, Hartz-IVBeziehende ab ihrem 63. Geburtstag in eine vorgezogene Altersrente zu schicken, auch wenn diese mit horrenden Abschlägen verbunden ist, und zwar gegen den
Willen der Betroffenen. Das darf nicht sein. Darum sagt
die Linke: Die Zwangsverrentungen müssen abgeschafft
werden.
({0})
Viele Menschen rufen wegen der Zwangsverrentung
in meinem Büro an. Sie sind wütend, komplett verunsichert oder einfach nur enttäuscht. Ich schildere Ihnen das
Beispiel einer Betroffenen, einer Verkäuferin aus Frankfurt. Sie wurde vor drei Jahren entlassen und ist am Ende
ihres Erwerbslebens in Hartz IV gerutscht. Im August
wird sie 63 Jahre alt, und sie hat stolze 44 Beitragsjahre
vorzuweisen.
Sie sieht im Fernsehen die Berichte über die abschlagsfreie Rente ab 63, und sie hört, wie die CDU/
CSU und die Arbeitgeber vor Frühverrentungen warnen.
Sie will aber arbeiten. Nun hat sie vom Jobcenter einen
Brief bekommen. Kein Arbeitsangebot, nein: Sie soll im
August die vorgezogene Altersrente mit Abschlägen beantragen. Wenn sie das nicht tut, dann stellt das Jobcenter den Rentenantrag für sie, auch gegen ihren Willen.
Dem Jobcenter ist es dabei völlig egal, wie hoch oder
wie niedrig ihre Rente sein wird.
Meine Damen und Herren, versetzen Sie sich bitte
einmal in die Lage der erwerbslosen Verkäuferin aus
Frankfurt. Sie versteht die Welt nicht mehr. Sie dachte zu
Recht: Ob und wann ich einen Rentenantrag stelle, kann
ich doch wohl selbst entscheiden. - Von wegen: Das darf
sie seit 2008 nach dem Willen von CDU/CSU und SPD
nicht. Das ist ein massiver und unverschämter Eingriff in
die Freiheitsrechte. Damit muss endlich Schluss sein.
Die Zwangsverrentung muss unbedingt abgeschafft werden.
({1})
Was heißt die Zwangsrente für die arbeitslose Frankfurterin? Das heißt, dass ihre Rente bis zu ihrem Lebensende um 8,7 Prozent Abschläge gekürzt werden wird.
Bei ihrer Rente von 900 Euro im Monat sind das fast
80 Euro jeden Monat. Sie hofft jetzt darauf, wieder einen
Job zu finden. Doch das Jobcenter unterstützt sie dabei
schon lange nicht mehr und hat sie aus der Arbeitslosenstatistik gestrichen. Das übrigens zum Thema geschönte
Statistik.
Das alles ist unerträglich. Es hat nichts, aber auch rein
gar nichts mit der Lebensleistung dieser Frau zu tun.
Deshalb sage ich: Die Zwangsverrentung muss beendet
werden.
({2})
Aber es kommt noch schlimmer. Schwarz-Rot sind
nämlich 8,7 Prozent Abschläge noch nicht genug. Im
Gesetz ist nämlich eingebaut, dass die Kürzungen von
Jahrgang zu Jahrgang drastischer werden. Wer das Pech
hat, 1964 oder später geboren worden zu sein, bekommt
dann ab 2027 die Rente um sage und schreibe 14,4 Prozent gekürzt. Das wären bei 900 Euro Rentenanspruch
130 Euro.
Am allerschlimmsten trifft es jene Hartz-IV-Betroffenen, die durch die Abschläge nur auf eine Minirente
kommen. Sie werden nämlich bis zu ihrem offiziellen
Renteneintrittsalter auf Sozialhilfe angewiesen sein. Erst
danach können sie die Grundsicherung im Alter beantragen. Sozialhilfe bedeutet im Unterschied zur Grundsicherung: Es gibt keinen Cent, bis der Spargroschen bis
auf 2 600 Euro aufgebraucht ist. Dann gibt es ein bisschen Geld, und dieses bisschen Geld holt sich der Staat
bei den Kindern wieder.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Großen Koalition, ich bin sehr gespannt, wie Sie das alles gleich in
Ihren Reden rechtfertigen werden.
({3})
Sie haben die entwürdigende Zwangsverrentung im Jahr
2008 eingeführt. Wir Linken haben Sie gefragt, wie viele
Menschen davon aktuell betroffen sind. Die Bundesregierung hat uns geantwortet. Was hat sie gesagt? Sie hat
geantwortet: Wir wissen es nicht.
Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen
lassen. Sie schicken die Menschen in die Zwangsrente
und wissen nicht einmal, wie viele Horrorbriefe die Jobcenter jeden Tag verschicken.
Das darf doch alles nicht wahr sein!
({4})
Nach unseren Schätzungen sind in diesem Jahr circa
65 000 ältere Hartz-IV-Betroffene von der Zwangsverrentung bedroht. Wir empfehlen allen Betroffenen: Legen Sie Widerspruch ein, und beantragen Sie gleichzeitig beim Sozialgericht die aufschiebende Wirkung für
Ihren Widerspruch; denn je länger Sie das Verfahren verzögern, desto geringer sind später Ihre Abschläge.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD,
einerseits schicken Sie Erwerbslose in die Zwangsrente,
und andererseits verwehren Sie diesen Menschen den
Zugang zu Ihrer neuen abschlagsfreien Rente ab 63 bzw.
65; denn für diese soll ja nur der Bezug von Arbeitslosengeld I bei der Berechnung der 45 Jahre zählen,
Hartz-IV-Zeiten aber nicht. Das ist ungerecht. Wenn
Hartz-IV-Zeiten mitzählten, dann könnte unsere Frankfurterin im August abschlagsfrei in Rente gehen. Ich
frage noch einmal hier im Plenum: Was unterscheidet
eine Verkäuferin, die einmal vier Jahre am Stück arbeitslos war, von einem Gerüstbauer, der viermal ein Jahr arbeitslos war? Ich sage: Die haben doch dieselbe Lebensleistung, oder etwa nicht?
({5})
Denken Sie an Ihre Redezeit.
Also, liebe Bundesregierung, schaffen Sie die
Zwangsverrentung sofort ab, und zwar ein für alle Mal!
Das fordern alle Erwerbsloseninitiativen. Das fordert die
Linke. Das fordern auch der DGB, die Sozialverbände,
der Deutsche Städte- und Gemeindetag sowie der Deutsche Landkreistag.
Und ich fordere Sie auf, zum Ende Ihrer Rede zu
kommen.
Ja, Frau Präsidentin, ich komme sofort zum letzten
Satz. - Hören Sie im Interesse der Betroffenen auf diesen guten Ratschlag!
Danke schön.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das passiert nicht so
oft, ist aber, glaube ich, ein gutes Signal. Ich gebe das
von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte
Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den
Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes bekannt: abgegebene Stimmen 577. Mit Ja haben gestimmt 577 Kolleginnen und
Kollegen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 577;
davon
ja: 577
Ja
CDU/CSU
Stephan Albani
Katrin Albsteiger
Peter Altmaier
Dorothee Bär
Norbert Barthle
Julia Bartz
Günter Baumann
Maik Beermann
Manfred Behrens ({0})
Veronika Bellmann
Sybille Benning
Dr. Christoph Bergner
Ute Bertram
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Vizepräsidentin Claudia Roth
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexandra Dinges-Dierig
Alexander Dobrindt
Michael Donth
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Hansjörg Durz
Dr. Bernd Fabritius
Hermann Färber
Uwe Feiler
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Axel E. Fischer ({1})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Dr. Astrid Freudenstein
Dr. Hans-Peter Friedrich
({2})
Michael Frieser
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Eberhard Gienger
Cemile Giousouf
Josef Göppel
Reinhard Grindel
Ursula Groden-Kranich
Hermann Gröhe
Klaus-Dieter Gröhler
Michael Grosse-Brömer
Astrid Grotelüschen
Markus Grübel
Manfred Grund
Oliver Grundmann
Monika Grütters
Dr. Herlind Gundelach
Olav Gutting
Christian Haase
Dr. Stephan Harbarth
Gerda Hasselfeldt
Matthias Hauer
Mark Hauptmann
Dr. Stefan Heck
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich ({3})
Uda Heller
Jörg Hellmuth
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Christian Hirte
Dr. Heribert Hirte
Robert Hochbaum
Alexander Hoffmann
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Dr. Hendrik Hoppenstedt
Margaret Horb
Bettina Hornhues
Charles M. Huber
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Erich Irlstorfer
Thomas Jarzombek
Sylvia Jörrißen
Andreas Jung
Xaver Jung
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kanitz
Alois Karl
Anja Karliczek
Bernhard Kaster
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Dr. Georg Kippels
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Carsten Körber
Kordula Kovac
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Roy Kühne
Günter Lach
Uwe Lagosky
Dr. Karl A. Lamers
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Barbara Lanzinger
Dr. Silke Launert
Paul Lehrieder
Dr. Katja Leikert
Dr. Andreas Lenz
Philipp Graf Lerchenfeld
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Wilfried Lorenz
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Karin Maag
Yvonne Magwas
Thomas Mahlberg
Dr. Thomas de Maizière
Gisela Manderla
Matern von Marschall
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({4})
Dr. Michael Meister
Jan Metzler
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Karsten Möring
Marlene Mortler
Carsten Müller
({5})
Stefan Müller ({6})
Dr. Andreas Nick
Michaela Noll
Helmut Nowak
Dr. Georg Nüßlein
Florian Oßner
Henning Otte
Ingrid Pahlmann
Sylvia Pantel
Martin Patzelt
Ulrich Petzold
Sibylle Pfeiffer
Ronald Pofalla
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Kerstin Radomski
Alexander Radwan
Alois Rainer
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({7})
Lothar Riebsamen
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht
Anita Schäfer ({8})
Dr. Wolfgang Schäuble
Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Jana Schimke
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Heiko Schmelzle
Christian Schmidt ({9})
Gabriele Schmidt ({10})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({11})
Dr. Kristina Schröder
({12})
Bernhard Schulte-Drüggelte
Dr. Klaus-Peter Schulze
Armin Schuster ({13})
Christina Schwarzer
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Tino Sorge
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Dr. Wolfgang Stefinger
Peter Stein
Erika Steinbach
Sebastian Steineke
Johannes Steiniger
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Rita Stockhofe
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Karin Strenz
Thomas Stritzl
Thomas Strobl ({14})
Michael Stübgen
Dr. Sabine Sütterlin-Waack
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Astrid Timmermann-Fechter
Dr. Hans-Peter Uhl
Dr. Volker Ullrich
Arnold Vaatz
Oswin Veith
Thomas Viesehon
Michael Vietz
Sven Volmering
Kees de Vries
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Albert Weiler
Marcus Weinberg ({15})
Dr. Anja Weisgerber
Peter Weiß ({16})
Sabine Weiss ({17})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Marian Wendt
Kai Whittaker
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese ({18})
Elisabeth WinkelmeierBecker
Oliver Wittke
Vizepräsidentin Claudia Roth
Dagmar G. Wöhrl
Barbara Woltmann
Heinrich Zertik
Emmi Zeulner
Dr. Matthias Zimmer
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heike Baehrens
Ulrike Bahr
Dr. Katarina Barley
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({19})
Burkhard Blienert
Willi Brase
Dr. Karl-Heinz Brunner
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Martin Burkert
Dr. Lars Castellucci
Petra Crone
Bernhard Daldrup
Dr. Daniela De Ridder
Dr. Karamba Diaby
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Siegmund Ehrmann
Michaela Engelmeier-Heite
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Dr. Johannes Fechner
Elke Ferner
Christian Flisek
Dr. Edgar Franke
Ulrich Freese
Dagmar Freitag
Martin Gerster
Iris Gleicke
Ulrike Gottschalck
Kerstin Griese
Uli Grötsch
Wolfgang Gunkel
Bettina Hagedorn
Metin Hakverdi
Ulrich Hampel
Sebastian Hartmann
Michael Hartmann
({20})
Dirk Heidenblut
Hubertus Heil ({21})
Gabriela Heinrich
Wolfgang Hellmich
Heidtrud Henn
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({22})
Thomas Hitschler
Dr. Eva Högl
Matthias Ilgen
Christina Jantz
Josip Juratovic
Thomas Jurk
Johannes Kahrs
Christina Kampmann
Ralf Kapschack
Gabriele Katzmarek
Ulrich Kelber
Marina Kermer
Cansel Kiziltepe
Arno Klare
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe
Birgit Kömpel
Anette Kramme
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Helga Kühn-Mengel
Christine Lambrecht
Christian Lange ({23})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Dr. Birgit Malecha-Nissen
Caren Marks
Katja Mast
Dr. Matthias Miersch
Susanne Mittag
Bettina Müller
Michelle Müntefering
Andrea Nahles
Ulli Nissen
Mahmut Özdemir ({24})
Aydan Özoğuz
Christian Petry
Jeannine Pflugradt
Detlev Pilger
Sabine Poschmann
Florian Post
Achim Post ({25})
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Dr. Simone Raatz
Martin Rabanus
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Andreas Rimkus
Sönke Rix
Dennis Rohde
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({26})
Susann Rüthrich
Johann Saathoff
Annette Sawade
Dr. Hans-Joachim
Schabedoth
Marianne Schieder
Udo Schiefner
Dr. Dorothee Schlegel
Ulla Schmidt ({27})
Matthias Schmidt ({28})
Dagmar Schmidt ({29})
Carsten Schneider ({30})
Ursula Schulte
Swen Schulz ({31})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Stefan Schwartze
Andreas Schwarz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Rainer Spiering
Svenja Stadler
Martina Stamm-Fibich
Sonja Steffen
Claudia Tausend
Michael Thews
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Carsten Träger
Ute Vogt
Dirk Vöpel
Gabi Weber
Andrea Wicklein
Dirk Wiese
({32})
Gülistan Yüksel
Dagmar Ziegler
Stefan Zierke
Dr. Jens Zimmermann
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
DIE LINKE
Matthias W. Birkwald
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Klaus Ernst
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Dr. André Hahn
Heike Hänsel
Inge Höger
Andrej Hunko
Sigrid Hupach
Susanna Karawanskij
Kerstin Kassner
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Stefan Liebich
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Niema Movassat
Dr. Alexander S. Neu
Thomas Nord
Harald Petzold ({33})
Richard Pitterle
Martina Renner
Michael Schlecht
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Azize Tank
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Halina Wawzyniak
Katrin Werner
Birgit Wöllert
Hubertus Zdebel
Pia Zimmermann
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Luise Amtsberg
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({34})
Volker Beck ({35})
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Katharina Dröge
Harald Ebner
Matthias Gastel
Anja Hajduk
Bärbel Höhn
Dieter Janecek
Uwe Kekeritz
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Tom Koenigs
Oliver Krischer
Stephan Kühn ({36})
Christian Kühn ({37})
Renate Künast
Monika Lazar
Steffi Lemke
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Peter Meiwald
Vizepräsidentin Claudia Roth
Irene Mihalic
Beate Müller-Gemmeke
Özcan Mutlu
Dr. Konstantin von Notz
Friedrich Ostendorff
Cem Özdemir
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({38})
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Ulle Schauws
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Kordula Schulz-Asche
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Doris Wagner
Beate Walter-Rosenheimer
Dr. Valerie Wilms
({39})
Das ist nicht nur ein guter Tag für die Fleischindustrie,
wie manche gesagt haben, oder für die Verbraucherinnen
und Verbraucher, sondern auch für das Parlament, das in
dieser Frage eine solche Mehrheit zustande gebracht hat.
Vielen Dank.
Nächste Rednerin in der laufenden Debatte ist
Christel Voßbeck-Kayser für die CDU/CSU.
({40})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nun darf ich hier und heute zum zweiten Mal zu Ihnen
sprechen, wieder zu einem Antrag der Fraktion Die
Linke.
({0})
- Ich auch. - Heute Mittag war es das soziale Europa,
das es zu verteidigen galt. Nun ist es das soziale
Deutschland, das es zu retten gilt. Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Die Linke, Ihre Anträge haben einzig
und allein ein Ziel: sich hier vor der Europawahl wichtig
zu machen.
({1})
Eigentlich sind wir uns doch einig darüber, dass in
unserem deutschen Sozialstaat das Prinzip der Solidarität und der Subsidiarität gilt. Zwei Punkte möchte ich
dazu festhalten. Erstens. Unsere Sozialgesetzgebung unterliegt dem Prinzip des Förderns und des Forderns.
Zweitens. Die Grundsicherung für Arbeitsuchende ist
ein nachrangiges Fürsorgesystem.
({2})
Die Regelung des SGB II, über die wir nun sprechen,
gilt seit dem 1. Januar 2005 und wurde bis heute mehrfach überarbeitet und angepasst. Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Die Linke, ich bin neu hier in diesem
Hause.
({3})
Aber ich weiß trotzdem, dass an der Vereinfachung von
Rechtsvorschriften im SGB II bereits seit der letzten Legislaturperiode eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe arbeitet.
({4})
Die Akteure, die hier neben Bund und Ländern tätig
sind, sind die Bundesagentur für Arbeit, die kommunalen Spitzenverbände sowie der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge. Zusätzlich gehören Vertreter des Bundessozialgerichts und weitere Experten aus
Wissenschaft und Praxis dazu. Diese Arbeitsgruppe arbeitet auf rein fachlicher Basis. Für mich ist das so, als
wenn Sie, Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Die
Linke, mit Ihrem Antrag die laufende Arbeit dieser
Bund-Länder-Arbeitsgruppe torpedieren. Sie versagen in
meinen Augen damit den Beteiligten dieser Gruppe Anerkennung und Wertschätzung für ihre Tätigkeit.
({5})
Ich glaube, uns allen hier ist bewusst, dass unser Leben einem stetigen Prozess gesellschaftlicher Veränderungen unterliegt. Die demografische Entwicklung und
die Einführung neuer Technologien gehen einher mit
Veränderungen in der Arbeitswelt und in unseren Lebenswirklichkeiten.
({6})
Deshalb müssen und werden wir darüber nachdenken,
wie wir diese Strukturen neu gestalten und anpassen, damit sie den zukünftigen Anforderungen gerecht werden
können.
({7})
Zum politischen Selbstverständnis meiner Partei gehört es, sich für die Belange von sozial Schwachen und
sozial Benachteiligten einzusetzen. Deshalb nehmen wir
die Diskussionsbeiträge und die Anregungen dieser
Bund-Länder-Gruppe sehr ernst. Ich darf Ihnen hier eines versichern: Unser Ansatz ist es, Lösungen zu erarbeiten, die von einer breiten Mehrheit getragen werden.
Ich kann Ihnen weiter versichern, dass diese Koalition,
CDU, CSU und SPD, stark genug ist, um Sachverhalte
wie diesen mit dem richtigen Augenmerk zu klären.
({8})
Die CDU gilt - auch das darf ich Ihnen versichern in ihrer Arbeitsweise als sorgfältig. Wir erlauben uns bei
einem so wichtigen Thema keine Schnellschüsse. Wir
wägen die verschiedenen Gesichtspunkte sorgfältig ab.
Deshalb kann ich nur sagen: Diesen Antrag lehnen wir
hier und heute ab.
({9})
Vielen Dank, Frau Kollegin.
Ich habe vor lauter Freude über die Einstimmigkeit
bei der namentlichen Abstimmung über den Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des ArbeitnehmerEntsendegesetzes einen formalen Akt vergessen. Also:
Zur Annahme des Gesetzentwurfs ist gemäß Artikel 87
Absatz 3 Grundgesetz die absolute Mehrheit - das sind
316 Ja-Stimmen - erforderlich. Der Gesetzentwurf hat
die erforderliche Mehrheit erreicht und ist damit angenommen.
({0})
Nächster Redner: Markus Kurth für Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Geschichte des Sozialgesetzbuchs II ab 2006, also
ab der vergangenen Großen Koalition bis heute, ist leider auch eine Geschichte fortgesetzter Diskriminierung.
Es ist eine Geschichte der Diskriminierung von Leistungsbeziehenden in verschiedenen Bereichen: So hat
Schwarz-Gelb in der vergangenen Legislaturperiode
zum Beispiel beim Thema Regelsatz mal eben beschlossen, dass Ausgaben von Arbeitslosengeld-II-Beziehenden für Alkohol nicht vorzukommen haben.
({0})
Eine weitere Diskriminierung bedeutet die Einführung
des Bildungs- und Teilhabepakets als Sachleistung wegen der Unterstellung, dass Eltern das Geld eher vertrinken und verrauchen, als es bei ihren Kindern ankommen
zu lassen.
({1})
Eine Diskriminierung gibt es auch jetzt bei der Einführung der abschlagsfreien Rente mit 63, bei der Zeiten der
Langzeitarbeitslosigkeit nicht angerechnet werden.
Eine weitere Diskriminierung erfolgt bei den Rentenansprüchen. Wir erinnern uns: Im Jahr 2007 hat die damalige Große Koalition die Rentenansprüche für SGBII-Beziehende locker um die Hälfte mit der Begründung
gekürzt, sie seien ohnehin so niedrig. Dann hat SchwarzGelb nachgesetzt und das Ganze auf null gebracht. Das
ist der Hintergrund, vor dem wir die ebenfalls 2007 von
der damaligen Großen Koalition eingeführte Zwangsrente bewerten müssen. Der Bezug von Arbeitslosengeld II bedeutet mit Blick auf die Rentenanwartschaften
wegen der jetzt gar nicht mehr gezahlten Beiträge ohnehin schon einen erheblichen Einbruch und in den meisten Fällen ein erhebliches Absenken der zu erwartenden
Rente.
In dieser Situation kommt nun zusätzlich die vom
Kollegen Birkwald zutreffend und mit dem Beispiel, wie
ich finde, auch eindrucksvoll beschriebene Zwangsverrentung, die dazu führen kann, dass die Person im Alter
von 63 in die Sozialhilfe rutscht. Ich finde, dieser Aspekt
ist in dem vorliegenden Antrag gut herausgearbeitet
worden. Es wird gezeigt, was das für die geschützten
Vermögenswerte und damit für die Altersvorsorge bedeutet.
({2})
Mit der Einführung des Sozialgesetzbuches II wurden
besondere Schonbeträge für die private Altersvorsorge,
für Lebensversicherungen eingeführt, für die RiesterRente sowieso. Diese Beträge müssen vom 63. bis zum
67. Lebensjahr eingesetzt werden. Das heißt, der vom
Gesetzgeber damit ursprünglich verbundene Sinn wird
hier ad absurdum geführt, und das ist ein Skandal.
({3})
Ich kann Sie wirklich nur auffordern, diese 2007 getroffene diskriminierende Regelung endlich abzuschaffen
und auch die anderen diskriminierenden Punkte im Sozialgesetzbuch II anzugehen.
Ich habe eben vergessen, aufzuzählen, dass auch beim
Rechtsschutz Diskriminierung vorhanden ist. In allen
anderen Bereichen der Sozialversicherung gilt, wenn
Bescheide fehlerhaft sind und von einem Gericht aufgehoben worden sind, eine Rückwirkung von vier Jahren;
für vier Jahre müssen die zu Unrecht vorenthaltenen
Leistungen nachgezahlt werden. Beim SGB II haben Sie
- das war auch Schwarz-Gelb - diese Rückwirkungsfrist
einfach mal auf ein Jahr verkürzt. Ich finde in der Gesamtschau - davon ist die Zwangsverrentung ein Bestandteil -: Hier werden sozialleistungsbeziehende Menschen von Ihnen tatsächlich zu Menschen zweiter Klasse
gemacht.
({4})
Das sollten Sie jetzt wirklich nicht fortsetzen.
({5})
Ich frage mich auch, wie das mit der von Ihnen geplanten sogenannten abschlagsfreien Rente mit 63 und
mit dem zumindest verbal vor sich hergetragenen Credo
zusammenpasst, dass man die Menschen länger im Arbeitsleben halten will. Fakt ist doch, dass man noch nicht
einmal ab dem 63., sondern schon ab dem 60. Lebensjahr oder mit Ende 50 vom Jobcenter im Grunde genommen keine wirklich tragfähigen Angebote mehr erhält,
um in den ersten Arbeitsmarkt zurückzufinden.
({6})
Man darf an dieser Stelle nicht kürzen, sondern man
muss investieren, auch in ältere Beschäftigte, um Akzeptanz und Vertrauen herzustellen.
({7})
Vor diesem Hintergrund ist dieser Antrag, der sich,
wie ich finde, im Unterschied zu manchen anderen Anträgen der Fraktion Die Linke argumentativ sehr klar auf
diesen Sachverhalt konzentriert - das ist wohltuend -,
einer, den wir im Ausschuss wirklich gründlich erörtern
sollten. Sie sollten - egal von welcher Fraktion der Antrag nun kommt - wirklich noch einmal in sich gehen,
damit wir diese Praxis endlich beenden können.
Vielen Dank.
({8})
Vielen Dank, Markus Kurth. - Nächster Redner in der
Debatte: Markus Paschke für die SPD.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das
Wesentliche, das, was hängen bleibt, ist bekanntlich der
Anfang und das Ende einer Rede. Deswegen lassen Sie
mich gleich zu Beginn festhalten: Menschen vorzeitig in
Rente zu schicken, widerspricht klar den Zielen dieser
Bundesregierung, wie Sie aus vielen Beiträgen der CDU,
der CSU und der SPD wissen.
({0})
Im Gegenteil: Wir wollen, dass ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer genauso ihre Chance auf
dem Arbeitsmarkt haben wie die jüngeren Kolleginnen
und Kollegen; das ist das Ziel der Bundesregierung. Dafür ist es notwendig, dass wir in den Betrieben Voraussetzungen für altersgerechte Arbeitsplätze schaffen. Dafür ist es aber auch notwendig, dass die Arbeitgeber
nicht nur über den Mangel an Fachkräften reden; vielmehr müssen sie den erfahrenen Fachkräften auch wirklich eine Chance geben,
({1})
auch wenn sie Ende 50, Anfang 60 sind.
Es ist in den letzten Jahren schon einiges in Bewegung geraten; aber die Zahlen zeigen: Da ist noch viel
Luft nach oben. Hier sind die Arbeitgeber klar in der
Verantwortung. Ältere Arbeitnehmer sind keine Bürde
und auch keine unternehmerische Belastung. Im Gegenteil, mit ihrer Erfahrung sind sie ein Gewinn für das Unternehmen. Wir brauchen endlich ein Umdenken in unserer Gesellschaft,
({2})
ein Umdenken dahin, dass man die Leistungsfähigkeit
nicht am Alter festmacht, sondern den Menschen mit
seinen individuellen Fähigkeiten in den Mittelpunkt
stellt.
({3})
Die Beschäftigungssituation älterer Menschen ist
nach wie vor unbefriedigend; denn weniger als ein Drittel der 60- bis 65-Jährigen geht einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nach. An dieser Stelle
sollten wir uns vielleicht noch einmal klarmachen: Über
wen reden wir hier? Wir reden über ganz viele unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Lebensläufen.
Wir reden auf der einen Seite über ältere Arbeitnehmer, die vielleicht 30 oder 35 Jahre in einem Betrieb gearbeitet haben und dann mit Ende 50 durch eine Insolvenz unverschuldet arbeitslos wurden. Häufig sind das
Fachkräfte, die allein aufgrund ihres Alters oder weil sie
in einer Branche gearbeitet haben, die überproportional
stark vom Strukturwandel betroffen war, keine Chance
mehr auf dem Arbeitsmarkt erhalten haben. Spätestens
nach 24 Monaten erhielten sie dann Arbeitslosengeld II.
Viele von ihnen haben sich einen Rentenanspruch erarbeitet, der über der Grundsicherung liegt, wenn sie die
Rente ohne Abschläge beziehen können.
Es gibt aber auf der anderen Seite auch Menschen, für
die es keine finanziellen Nachteile bringt, wenn sie vorzeitig in Rente gehen. Ich kenne mehrere Betroffene, die
aufgrund von Krankheit, Unfällen oder anderen einschneidenden Lebensereignissen unregelmäßige Erwerbsbiografien hatten oder die mit niedrigsten Löhnen
vorliebnehmen mussten. Deren Rente wird sie niemals
unabhängig von der Grundsicherung im Alter machen.
({4})
Viele von ihnen sind froh, wenn sie sich nicht mehr den
Regeln der Jobcenter unterwerfen müssen und in Rente
gehen können.
({5})
Ich habe den Kontakt zu den Menschen, und ich rede
ständig mit den Menschen. Deswegen kann ich Ihnen sagen: Auch das und nicht nur die Variante, die Sie, Herr
Birkwald, beschrieben haben, wird an mich herangetragen.
Aber neben den beiden Beispielen, die ich gebracht
habe, gibt es - dazwischen, rechts und links, oben und
unten - ganz viele andere Einzelschicksale. Was wir
nicht wollen, ist, eine Ungerechtigkeit zu beseitigen und
neue Ungerechtigkeiten zu schaffen.
({6})
Deshalb ist Eile, wie in Ihrem Antrag gefordert, nach
meiner Ansicht völlig fehl am Platze.
Lassen Sie mich an dieser Stelle einige Anmerkungen
zu dem vorliegenden Antrag machen. Seit Anfang 2008
- das haben Sie richtig festgestellt - können Arbeitslosengeld-II-Bezieherinnen und -Bezieher, die das 63. Lebensjahr erreicht haben, vom Jobcenter aufgefordert
werden, einen Rentenantrag zu stellen. Tun sie dies trotz
mehrfacher Aufforderung nicht, so ist das Jobcenter berechtigt, den Antrag selbst zu stellen. - Bis hierhin fasst
Ihr Antrag, verehrte Kolleginnen und Kollegen der Linken, den Sachstand nach § 12 a SGB II korrekt zusammen.
Allerdings verschweigen Sie in diesem Zusammenhang auch Maßgebliches. Die Grundsicherung für Arbeitsuchende ist ein sogenanntes nachrangiges Fürsorgesystem. Hilfe bekommt, wer hilfebedürftig ist. Das ist,
glaube ich, vom Grundsatz her auch richtig. Hilfebedürftig ist, wer seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend selbst sichern kann. Zur Sicherung des Lebensunterhalts werden daher vorrangig eigenes Einkommen
oder Vermögen herangezogen. Das beinhaltet grundsätzlich natürlich die Verpflichtung, mögliches Einkommen
auch zu erzielen. Dazu gehören Versicherungsleistungen
wie zum Beispiel die Rente. - Das ist erst einmal der
Grundsatz.
Meine Damen und Herren, Sie wissen: Von jedem
Grundsatz gibt es Ausnahmen. Es gibt auch Ausnahmen
vom Grundsatz der Nachrangigkeit dieser Fürsorgeleistung. In § 12 a steht noch viel mehr, und das verschweigen Sie in Ihrem Antrag leider auch. Die Ausnahmen
lauten, erstens, dass niemand vor dem 63. Lebensjahr
gezwungen werden kann, vorzeitig Rente zu beantragen,
({7})
zweitens, dass auch derjenige, der arbeitet und aufstockende Leistungen bezieht, keine Rente beantragen
muss.
({8})
Drittens gilt das auch für diejenigen, die innerhalb der
nächsten Monate eine abschlagsfreie Rente beziehen
können. Auch die werden nicht aufgefordert, vorzeitig
Rente zu beantragen.
({9})
Viertens. Auch diejenigen, die glaubhaft machen können, dass sie demnächst ein Beschäftigungsverhältnis
aufnehmen, müssen nicht in Rente gehen. Das alles relativiert die Zahl 65 000,
({10})
die Sie genannt haben und die ich aus meiner Erfahrung
- ich war Mitglied im Beirat eines Jobcenters - auch
grundsätzlich bezweifle; denn so viele Fälle dieser Art
gab es da nicht. In den meisten Fällen - so kenne ich das
aus dem Jobcenter, bei dem ich im Beirat war - erfolgten
diese Aufforderungen nach Absprache mit den Betroffenen.
({11})
Diese Ausnahmen - das sage ich auch - stellen zum
Teil sicher, dass keine wahllose und unzumutbare Verschiebung von einer Sozialleistung in die andere stattfindet. Ich sage ganz bewusst: zum Teil. Denn natürlich
muss man an dieser Stelle - da haben Sie recht - genau
hinschauen. Derzeit wird bei den Aufforderungen der
Jobcenter, Rente zu beantragen, zum Beispiel nicht die
Höhe des Rentenanspruchs - die Höhe der Abzüge - berücksichtigt, der dadurch entstehen würde. Auch persönliche Lebenslagen bleiben unberücksichtigt.
Das alles kann zur Folge haben, dass Betroffene aufgrund der Rentenabschläge bei vorzeitigem Rentenbezug dauerhaft auf Fürsorgeleistungen angewiesen sind.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist wirklich ein Problem.
({12})
Denn es ist weder im Sinne der Betroffenen noch im
Sinne des Staates, wenn hier eine Bedürftigkeit neu geschaffen wird - und diese dann auch noch im wahrsten
Sinne des Wortes lebenslang. Bis zum Erreichen der Altersgrenze - das haben Sie richtig dargestellt - bestünde
Anspruch auf Sozialhilfe und danach auf Grundsicherung im Alter. Diese Gefahr gilt es zu bannen. Ich
glaube, wir sind uns in der Regierungskoalition einig,
dass wir da konstruktiv an Lösungen arbeiten werden.
({13})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, hier muss mit Augenmaß und Präzision gearbeitet werden. Wir wollen
nicht - ich sagte es bereits - eine Ungerechtigkeit beseitigen und zehn neue schaffen. Es gibt viele Dinge, die in
diesem Zusammenhang abzuwägen sind. Viele unterschiedliche Lebensverläufe sind zu berücksichtigen.
Aber das Ziel ist klar: Wir wollen, dass möglichst wenige Menschen von Transferleistungen abhängig sind.
Das ist im Interesse der betroffenen Menschen, und das
ist auch im Interesse der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler.
({14})
Deshalb arbeitet diese Bundesregierung auch aktiv an
Lösungen auf vielen Ebenen. Deshalb haben wir das
Rentenpaket mit der Möglichkeit auf den Weg gebracht,
ab 63 abschlagsfrei in Rente zu gehen.
({15})
Das wird nicht allen, aber vielen Betroffenen helfen, Abschläge von ihrer Rente zu vermeiden.
({16})
Herr Kollege Paschke, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder Bemerkung von Herrn Birkwald?
Aber gerne.
Gut.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. Vielen Dank, Herr
Kollege, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. - Sie haben eben die Rente ab 63 und das Rentenpaket angesprochen. Ich gehe davon aus, dass Sie die Unbilligkeitsverordnung kennen, in der Situationen benannt werden,
wann der betreffende Paragraf nicht angewandt werden
darf. Inhaltlich haben Sie schon ein paar genannt.
Sie haben eben auch schon erwähnt, dass, wenn jemand eine abschlagsfreie Rente in Aussicht hat, die
Zwangsverrentungsregelung nicht gilt. So weit, so gut.
Wenn die Rente ab 63, wie sie im Entwurf des Rentenpakets bisher vorgesehen ist, kommt, wird in Zukunft jemand, der 1954 geboren ist - er kann dann nämlich im
Alter von 63 Jahren und vier Monaten abschlagsfrei in
Rente gehen -, wegen eines Monats, den sie oder er
nicht schafft, in die Zwangsverrentung geschickt werden.
Ich weiß nicht, ob Ihnen das bewusst ist. Die Abschläge betragen dann übrigens schon 9,6 Prozent - und
das auch ein ganzes Leben lang. Dieses Beispiel, das ich
jetzt angeführt habe, gilt für den Jahrgang ’54, gleichermaßen aber auch für andere Jahrgänge. Deswegen sage
ich: Nehmen Sie den Namen der Unbilligkeitsverordnung ernst. Diese Zwangsverrentung ist unbillig.
Schaffen Sie sie einfach ab! Ich kann nicht erkennen,
wo Sie neue Ungerechtigkeiten schaffen, wenn die Erwerbslosen, die arbeiten wollen, so lange Arbeitslosengeld - in dem Fall dann Arbeitslosengeld II - bekommen
statt der Rente, wie sie es für sich entscheiden. Lassen
Sie den Menschen ihr Selbstbestimmungsrecht, damit
sie selber entscheiden können, wann sie in die Rente gehen wollen und wann nicht! Sagen Sie mir einen Grund,
der dagegen spräche!
Danke schön.
({0})
Herr Birkwald, ich habe schon in meinem Beitrag
deutlich gemacht, dass wir das Problem durchaus sehen.
Ich hatte gerade angefangen, einige Punkte aufzuzählen
- der erste war die Rente mit 63; ich werde gleich noch
einige mehr erwähnen -, die zeigen sollen, wo wir das
Thema anpacken. Die Rente mit 63 wird für viele der
Betroffenen dazu führen, dass sie keine abschlagsfreie
Rente bekommen. Ich habe in meinem Beitrag gesagt,
dass ich ganz optimistisch bin - das hat Frau VoßbeckKayser ja auch schon gesagt -, dass wir eine gute Regelung finden werden, die alle diese Dinge berücksichtigt.
Ich bin aber nicht dafür, dass wir das so, wie in Ihrem
Antrag, hopplahopp machen, sondern ich glaube, wir
sollten schon präzise und gut arbeiten. Sie können uns
vertrauen. Wir kriegen da schon etwas hin.
({0})
Ich hatte gerade angefangen, an einem Beispiel zu
erläutern, was wir tun, um die Situation der Menschen zu
verbessern. Das war die Möglichkeit, mit 63 abschlagsfrei in Rente zu gehen. Aber das ist ja nicht alles. Wir
haben erhebliche Verbesserungen bei der Erwerbsminderungsrente auf den Weg gebracht. Wir führen den Mindestlohn ein und erleichtern die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen.
({1})
Wir werden den Missbrauch bei Leiharbeit und Werkverträgen bekämpfen.
({2})
Wir werden ein Gesetz für eine solidarische Lebensleistungsrente auf den Weg bringen. Sie sehen: Wir haben
schon viel auf den Weg gebracht, und wir haben auch
noch vieles vor, viele Schritte zu mehr Gerechtigkeit und
zu einer echten Perspektive für viele Menschen. Deshalb
sage ich: An dieser Stelle ist Eile völlig fehl am Platze.
Um eine verlässliche und nachhaltige Regelung zu erarbeiten, braucht es Besonnenheit und ein verantwortungsvolles Vorgehen.
Und das Ende Ihrer Rede.
Ich komme jetzt zum Schluss. Erst denken, dann handeln und reden, das haben mir meine Eltern beigebracht,
ein Satz, der, glaube ich, in allen politischen Zusammenhängen seine Gültigkeit hat. In diesem Sinne - davon bin
ich überzeugt - werden wir gemeinsam mit unserem
Koalitionspartner eine vernünftige Regelung finden, wie
wir zukünftig Ungerechtigkeiten vermeiden.
Vielen Dank.
({0})
Danke, Herr Kollege. - Nächste Rednerin ist Jutta
Eckenbach für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die Beschäftigungssituation älterer Menschen
hat sich in den letzten Jahren in der Bundesrepublik
Deutschland deutlich verbessert. Sowohl der Fachkräftemangel als auch die gute Konjunkturlage fördern die
gute Entwicklung. All das haben wir auch schon zum
Jahreswirtschaftsbericht gehört. Ich möchte es an dieser
Stelle aber gerne noch einmal unterstreichen.
Die Arbeitslosigkeit bei den unter 50-Jährigen ist
gesunken, die Beschäftigungsquote ist gestiegen. Die
Arbeitslosenquote bei den über 55-Jährigen ist in den
letzten zehn Jahren um 10 Prozent zurückgegangen. Das
ist gut, wenn auch im Vergleich - das haben die Vorredner ja schon ausgeführt - mit dem allgemeinen Rückgang etwas geringer. Die Erwerbsbeteiligung steigt seit
Jahren an. Zwischen 2002 und 2012 ist die Quote bei
den 55- bis 59-Jährigen um gut die Hälfte gestiegen. Bei
den 60- bis 64-Jährigen hat sich die Quote seit 2002 auf
49,6 Prozent fast verdoppelt. Besonders möchte ich hier
hervorheben, dass der Anteil der Frauen in diesem Fall
stetig gestiegen ist. - Das sind für mich gute Entwicklungen. Aber solange die tatsächliche Beschäftigungsquote Älterer immer noch deutlich niedriger liegt als die
allgemeine Gesamtquote, können wir natürlich noch
nicht zufrieden sein.
Noch ist die Lage auf dem Arbeitsmarkt leider nicht
so, dass ältere Beschäftigte schnell wieder eine neue
Beschäftigung finden. Ältere haben zwar ein geringeres
Risiko, arbeitslos zu werden. Aber sie haben auch
schlechtere Chancen als Jüngere, wieder in Beschäftigung zu kommen. Da es leider immer noch knapp 1 Million Ältere in Deutschland gibt, die arbeitslos sind, haben wir im Koalitionsvertrag festgehalten:
Die Erwerbstätigen- und die Beschäftigungsquote
der über 50-Jährigen steigt seit einem Jahrzehnt
kontinuierlich an. Deutschland ist bei der Beschäftigung Älterer mittlerweile Vizeeuropameister
hinter Schweden. Diese Erfolgsgeschichte der
steigenden Beteiligung Älterer am Erwerbsleben
wollen wir fortschreiben. Unser Ziel ist eine
moderne und wettbewerbsfähige Gesellschaft des
langen Lebens und Arbeitens.
Wir müssen also noch intensiver bei Unternehmen werben - das hat der Kollege Paschke gerade gesagt - und
auch weiterhin sinnvolle, öffentlich geförderte Unterstützung leisten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregierung hat dafür bereits 2007 richtige Maßnahmen auf den
Weg gebracht. Das Ziel war und ist, die berufliche Wiedereingliederung und Integration älterer Arbeitnehmer
zu verbessern. Das ist uns auch gelungen. Beispielhaft
nenne ich hier die Eingliederungszuschüsse im SGB III,
also den Zuschuss zum Arbeitsentgelt. Das ist unserer
Meinung nach ein wirklich gutes Instrument, das wir mit
der Instrumentenreform 2012 noch zielgenauer und effektiver gestaltet haben. Für ältere Arbeitnehmer ab dem
50. Lebensjahr haben wir die Förderdauer auf bis zu
36 Monate verlängert. Auch für die behinderten Menschen in diesem Land haben wir deutliche Verbesserungen erreicht. Darüber hinaus brauchen wir natürlich auch
weiterhin spezielle Förderprogramme. Hier nenne ich als
Beispiel das Programm „Perspektive 50plus“, das im
Jahre 2015 ausläuft. Damit konnten etliche langzeitarbeitslose Frauen und Männer zwischen 50 und 64 Jahren
wieder in den allgemeinen Arbeitsmarkt zurückfinden.
Insgesamt sind wir mit all unseren Maßnahmen, den
aktuellen und denjenigen, die wir neu entwickeln
werden, auf dem richtigen Weg. Unser Ziel ist es, ältere
Arbeitnehmer nicht in die Rente zu führen, sondern in
den ersten Arbeitsmarkt zu bringen.
({0})
Aus diesem Grund haben wir 2008 die auslaufende 58erRegelung ersetzt. Ich brauche an dieser Stelle nichts
dazu zu sagen; denn das wurde heute schon in einigen
Reden erwähnt.
Auf einen Punkt möchte ich aber gerne noch eingehen. Die Linken sprechen immer wieder von Zwangsverrentung.
({1})
Das ist ein vollkommen irreführender Begriff. Sie unterstellen damit eine absichtliche Benachteiligung.
({2})
Das ist es aber nicht.
({3})
Man muss unterscheiden zwischen persönlich erworbenen Ansprüchen, beispielsweise in der Rentenversicherung, und Leistungen der Allgemeinheit bei Hilfebedürftigkeit, zum Beispiel nach dem SGB II. Bei der
Sozialhilfe - damit komme ich zum Schluss -, die eine
nachrangige Hilfe ist, wird es mit uns keine Veränderung
geben.
({4})
Wir müssen an dieser Stelle beachten, dass die beiden
Systeme unterschiedlich finanziert werden. Man kann
aus ideologischen Gründen eine andere Meinung dazu
haben. Aber unsere Haltung in dieser Frage ist seit
vielen Jahren ganz klar.
Ich danke Ihnen recht herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Danke, Frau Kollegin. - Letzte Rednerin in dieser
Debatte ist Dr. Astrid Freudenstein für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bei dem
Antrag der Fraktion Die Linke scheint es sich auf den
ersten Blick um eine sozialrechtliche Feinheit zu handeln. Doch der Antrag betrifft der Logik nach die Idee
unseres Sozialstaats im Kern; denn das, was hier zur
Debatte steht, ist das Prinzip der Subsidiarität. Dieses
Prinzip setzt auf Selbstbestimmung und die Entfaltung
individueller Fähigkeiten,
({0})
und - das ist nicht davon zu trennen - es betont die
Selbstverantwortung. Genau das unterscheidet unseren
freiheitlichen Sozialstaat auch von einem sozialistischen
Staat, der ja nur den Staat kennt.
({1})
Während nach Ihren Vorstellungen alle in ein soziales
Netz fallen, werden die Menschen in unserem heutigen
modernen Sozialstaat von vielen kleinen Netzen aufgefangen. Das macht unseren Sozialstaat konjunkturunabhängiger, stabiler und krisenfester.
({2})
Unser Staat hilft, wenn Hilfe nottut, und zwar nach
dem Prinzip „Hilfe zur Selbsthilfe“. Ich sage das, damit
klar wird, warum Ihr Antrag der Logik unseres Sozialstaates widerspricht und deshalb nicht zu befürworten
ist. Das gerade erklärte Subsidiaritätsprinzip bedeutet
nämlich für Ihr konkretes Anliegen Folgendes - da
müssen Sie durch, Herr Birkwald; Sie waren auf unsere
Antworten gespannt, deswegen hören Sie es jetzt leider
zum wiederholten Mal -:
({3})
Die Grundsicherung für Arbeitsuchende, um die es hier
geht, ist ein nachrangiges Fürsorgesystem. Es greift nur,
wenn Menschen hilfebedürftig sind.
({4})
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder
Bemerkung von Herrn Markus Kurth?
Ja, bitte.
Gut.
Frau Dr. Freudenstein, haben Sie schon einmal zur
Kenntnis genommen, dass es auch in einem subsidiären
Sozialhilfesystem durchaus begründete und plausible
Ausnahmen vom Nachrangigkeitsgrundsatz geben kann?
Wenn man zum Beispiel eine Entschädigung aufgrund
einer erlittenen Körperverletzung oder eines Unfalls erhält, dann wird das nicht angerechnet. Wenn man zum
Beispiel Blindengeld erhält oder einen Nachteilsausgleich bekommt, gibt es auch eine Ausnahme vom
Nachrangigkeitsgrundsatz.
({0})
Es wäre ein Leichtes, für diesen speziellen Fall des
Rentenbezugs ebenfalls eine Ausnahme vom Nachrangigkeitsgrundsatz in das Gesetz aufzunehmen, ohne
deswegen den Grundgedanken der Subsidiarität auszuhöhlen und ohne die Logik des Sozialrechtssystems nach
SGB II zu zerstören. Es ist außerdem nicht ein System
der Sozialhilfe. Das Arbeitslosengeld II dient gerade
dazu, die Menschen wieder in Arbeit zu bringen. Insofern ist es etwas anderes als das SGB XII.
({1})
Wollen Sie nicht zugeben, dass es sehr wohl begründete
Ausnahmen vom Nachrangigkeitsgrundsatz geben kann?
({2})
Ich nehme das Subsidiaritätsprinzip zur Kenntnis,
ziehe aber ganz offensichtlich andere Schlüsse daraus als
Sie. Auch bei diesem System, über das wir heute reden,
gibt es Ausnahmen. Über die haben wir gerade gesprochen. Sie sind gut begründet und auch richtig.
({0})
Wenn ein Bürger, der als Hilfebedürftiger Leistungen
nach SGB II bezieht, nun die Möglichkeit hat, eine
selbst erworbene Altersrente zu beziehen und sich so den
Lebensunterhalt durch ein vorrangiges Prinzip der sozialen Sicherung finanzieren kann, dann ist auch eine Verpflichtung dazu richtig und in unserem Sinne.
({1})
- In unserem schon.
({2})
Diese Verpflichtung zur Altersrente ist jedoch nicht
so schlicht konstruiert, wie Sie es darstellen. Es gibt
durchaus Ausnahmen. So sind Leistungsberechtigte, die
einer Erwerbstätigkeit nachgehen und das ArbeitslosenDr. Astrid Freudenstein
geld II nur zusätzlich beziehen, die Aufstocker, nicht zu
dieser vorzeitigen Altersrente verpflichtet. Ausgenommen sind auch Arbeitslose, die innerhalb der nächsten
Monate eine abschlagsfreie Rente beziehen können.
Auch die, die in naher Zukunft eine Erwerbstätigkeit
aufnehmen werden, fallen nicht unter die Regelungen.
Damit stellen wir sicher, dass Erwerbstätige nicht vorzeitig aus dem Arbeitsmarkt gedrängt werden.
Doch zurück zu Ihrem Antrag. Sie packen das Problem nicht an der Wurzel an. Das Problem ist nämlich,
dass die Menschen Arbeit brauchen und dies der einzige
Ansatz ist, womit man den Menschen wirklich helfen
kann. Genau dort wollen wir ansetzen. Die Bekämpfung
der Langzeitarbeitslosigkeit steht ganz oben auf der
Agenda der Großen Koalition. Uns liegt daran, dass die
Menschen die Hilfebedürftigkeit aus eigener Kraft hinter
sich lassen können.
({3})
Wir wollen den Menschen wieder eine echte Perspektive
geben.
Herzlichen Dank.
({4})
Vielen Dank. - Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/589 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Interfraktionell ist vereinbart, wie bereits angekündigt, den Tagesordnungspunkt 11 und den Zusatzpunkt 8
zu tauschen. Wir werden jetzt also über Tagesordnungspunkt 11 - da geht es um die Transparenz bei Rüstungsexportentscheidungen - beraten. Der an dieser Stelle
vorgesehene Zusatzpunkt 8 wird im Anschluss an den
Tagesordnungspunkt 11 aufgerufen. - Auch dazu höre
ich keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 sowie die Zusatzpunkte 9 und 10 auf:
11 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD
Mehr Transparenz bei Rüstungsexportentscheidungen sicherstellen
Drucksache 18/1334
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van
Aken, Wolfgang Gehrcke, Christine Buchholz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Für ein generelles Verbot des Exports von
Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern
Drucksache 18/1348
ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnieszka
Brugger, Katja Keul, Dr. Frithjof Schmidt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Echte Transparenz und parlamentarische Beteiligung bei Rüstungsexportentscheidungen
herstellen
Drucksache 18/1360
Ich kündige an, dass über den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen später namentlich abgestimmt
wird.
Nach interfraktioneller Vereinbarung sind für die
Aussprache 38 Minuten vorgesehen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Klaus-Peter
Willsch für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kollegen! Wir debattieren heute den Antrag der Koalition mit dem Titel „Mehr Transparenz bei
Rüstungsexportentscheidungen sicherstellen“. Bereits in
unserem Koalitionsvertrag haben wir hierzu festgehalten:
Bei Rüstungsexportentscheidungen in sogenannte
Drittstaaten sind die im Jahr 2000 beschlossenen
strengen „Politischen Grundsätze für den Export
von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern“
für unser Regierungshandeln verbindlich. Über ihre
abschließenden Genehmigungsentscheidungen im
Bundessicherheitsrat wird die Bundesregierung den
Deutschen Bundestag unverzüglich unterrichten.
Die Entscheidung darüber, wem gegenüber die Unterrichtung erfolgt, liegt beim Deutschen Bundestag. Darüber hinaus werden wir die Transparenz
gegenüber Parlament und Öffentlichkeit durch Vorlage des jährlichen Rüstungsexportberichtes noch
vor der Sommerpause des Folgejahres und eines zusätzlichen Zwischenberichts verbessern.
So weit der Koalitionsvertrag. - Heute liefern wir. Mit
unserem Antrag wollen wir genau dies umsetzen. Erst
vor einigen Wochen haben wir über den Rüstungsexportbericht 2012 diskutiert - zugegebenermaßen etwas spät;
aber Sie wissen, dass es durch die Bundestagswahl und
die Regierungsbildung zu einer Verzögerung kam. Das
wollen wir in Zukunft zügiger machen.
Der Rüstungsexportbericht soll zukünftig vor Beginn
der parlamentarischen Sommerpause des Folgejahres
veröffentlicht werden. Zusätzlich hat die Bundesregierung im Herbst eines jeden Jahres einen Zwischenbericht
für das erste Halbjahr des laufenden Jahres zu veröffentlichen. Das macht die parlamentarische Nachkontrolle
dichter und erhöht die Transparenz.
Darüber hinaus soll der Bundestag über abschließende Genehmigungsentscheidungen des Bundessicherheitsrates unverzüglich, spätestens zwei Wochen nach
Tagung des Bundessicherheitsrates, schriftlich unterrichtet werden.
({0})
In dieser Unterrichtung sollen tabellarisch folgende Informationen aufgelistet werden: die Art des Exportgutes,
die Anzahl der genehmigten Güter und das Endempfängerland. Die Unterrichtung geht an den federführenden
Ausschuss für Wirtschaft und Energie. Dieser wiederum
wird die Unterrichtung als Ausschussdrucksache an
seine Mitglieder sowie an die mitberatenden Ausschüsse
entsprechend der Ressortbesetzung des Bundessicherheitsrates weiterleiten. Dazu zählen der Auswärtige Ausschuss, der Innenausschuss, der Ausschuss für Recht und
Verbraucherschutz, der Haushalts-, der Finanz- und der
Verteidigungsausschuss sowie der Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Es soll
also eine sehr breite und sehr frühe Information über ein
Thema, das in der Öffentlichkeit nicht ganz einfach zu
handhaben ist, zur Verfügung gestellt werden, wobei wir
immer darauf achten müssen, dass wir die Interessen
Deutschlands und die Firmeninteressen gleichermaßen
wahren. Es gilt aber auch, die Interessen von Partnerländern, die Gegenstand von Entscheidungen des Bundessicherheitsrates sind, zu wahren.
Der gelegentlich genährten Vermutung, dass alles
leichtfertig geschehe, will ich entgegnen, dass das ganz
und gar nicht der Fall ist. Der Rüstungsexportpolitik liegen, wie schon genannt, die Politischen Grundsätze vom
19. Januar 2000 zugrunde, damals unter Rot-Grün verabschiedet. Jede Rüstungsexportentscheidung ist eine Einzelfallentscheidung. Gemäß dem Außenwirtschaftsgesetz und der Außenwirtschaftsverordnung ist die
Ausfuhr aller Rüstungsgüter genehmigungspflichtig. Die
Prüfung und die Genehmigung der Ausfuhr von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern obliegen dem
Bundessicherheitsrat, dessen Zusammensetzung ich vorhin schon angesprochen habe.
Bei der Erteilung einer Ausfuhrgenehmigung handelt
es sich also nicht um einen formellen Akt. Es gibt keinen
Anspruch auf Erteilung einer Ausfuhrgenehmigung. Jeder Einzelfall wird im Lichte der zugrunde liegenden
Gesetze und Vereinbarungen geprüft: zum Ersten des
Gesetzes über die Kontrolle von Kriegswaffen, zum
Zweiten des Außenwirtschaftsgesetzes über Exporte von
Kriegswaffen und sonstigen Wirtschaftsgütern, zum
Dritten des Verhaltenskodexes der Europäischen Union
für Waffenausfuhren und der Prinzipien zur Regelung
des Transfers konventioneller Waffen der OSZE. Wir
sind also in ein dichtes Geflecht gegenseitiger Verbindlichkeiten und Verpflichtungen eingetreten und orientieren uns daran.
({1})
Eine herausragende Bedeutung für die Genehmigung
von Rüstungsgütern ist die Beachtung der Menschenrechte im Empfängerland. Rüstungsexporte werden
grundsätzlich nicht genehmigt, wenn der hinreichende
Verdacht besteht, dass damit interne Repressionen oder
sonstige Menschenrechtsverletzungen ausgeübt werden.
({2})
Der Export an Nicht-EU-, Nicht-NATO-Staaten wird äußerst restriktiv gehandhabt. Eine Genehmigung wird nur
in Ausnahmefällen erteilt.
Im Rahmen dieser restriktiven Genehmigungspraxis
für Drittländer können natürlich - und das ist notwendig legitime Sicherheitsinteressen solcher Länder im Einzelfall für die Genehmigung einer Ausfuhr sprechen. Dies
kann insbesondere dann der Fall sein, wenn die jeweiligen
Sicherheitsinteressen auch international von Belang sind,
beispielsweise bei der Abwehr terroristischer Bedrohungen oder der Bekämpfung des internationalen Drogenhandels. Gerade bei Marinegütern ist vor dem Export in
Drittländer zu prüfen, ob ein Interesse der Staatengemeinschaft an sicheren Seewegen vorliegt und ob eine
effektive Ausübung der jeweiligen Staatsgewalt in den
Küstengewässern als wichtiger Aspekt angesehen werden kann. Gerade wir als Nation, die auf den Welthandel
ausgesprochen angewiesen ist und die davon profitiert,
haben ein hohes Interesse daran, dass der Welthandel
funktioniert.
Es gibt eine ganze Reihe von Waffenembargos; beispielsweise sind Waffenlieferungen nach Syrien ausgeschlossen. Aber es gibt auch nicht nachvollziehbare NoGos. Dass Taiwan von uns keine Waffen bekommen
kann, die USA aber gleichwohl dorthin liefern, ist schon
fast absurd. Taiwan, der Leuchtturm der Demokratie im
asiatischen Bereich, hätte das gleiche Schicksal ereilt
wie andere Länder, zum Beispiel Tibet, wenn es nicht in
der Lage gewesen wäre, sich zu verteidigen.
Unsere Rüstungsexportpolitik hat auch in Betracht zu
ziehen, dass wir in diesem Bereich eine wettbewerbsfähige Industrie haben, die hervorragende Güter hervorbringt, und dass wir mit unserer reduzierten Bundeswehr
selbst nicht mehr für den nötigen Umsatz sorgen können.
Auch viele Partnerländer innerhalb der NATO und der
EU können nicht mehr die erforderlichen Beiträge für
die Landesverteidigung aufbringen. Damit sind Märkte
weggebrochen. Wir müssen uns auch darüber Gedanken
machen, wie wir unsere technologischen Fähigkeiten erhalten können, um in dieser Kernfunktion des Staates
nicht von Dritten abhängig zu sein.
Schauen Sie sich die Lage in der Ukraine an, die wir
momentan alle mit Sorge und gespannter Aufmerksamkeit verfolgen. Sie hat bereits dazu geführt, dass Schweden angekündigt hat, seine Verteidigungsausgaben zu erhöhen.
Herr Kollege, ich möchte Sie fragen, ob Sie eine Zwischenfrage oder -bemerkung der Kollegin Keul akzeptieren?
Jederzeit gerne.
Echt? - Gut.
({0})
Vielen Dank, Herr Kollege Willsch. Sehr großzügig!
- Wenn ich die Gründe rekapituliere, die Ihrer Meinung
nach für Rüstungsexporte sprechen - Sie haben sie gerade aufgezählt: vom Kampf gegen Terrorismus über
Selbstverteidigung bis hin zu wirtschaftlichen Gründen -, möchte ich Sie fragen: Fällt Ihnen irgendein Ort
auf dieser Welt ein, an den man nach diesen Kriterien
nicht liefern würde?
Dazu fallen mir natürlich Orte ein, Frau Kollegin.
Wichtig ist, dass sich die Waffen, die wir liefern, nicht
gegen uns selbst oder gegen unsere Verbündeten richten
sollen und dürfen. Wichtig ist, dass wir nicht an Staaten
liefern, die im Verdacht stehen, als Zwischenhändler aufzutreten, die Sachen also weiterzuleiten.
({0})
Damit ist der Bogen geschlagen. Das macht deutlich,
dass es neben den Ländern, in die wir aus außen- und sicherheitspolitischen Gründen nach sorgfältiger Prüfung
liefern, jede Menge Länder gibt, die dafür nicht in Betracht kommen.
({1})
Danke für die Frage.
Lassen Sie mich meinen Gedanken zum Thema Rüstungsbereitschaft bzw. Verteidigungsbereitschaft zu
Ende führen. Fogh Rasmussen hat zu Recht gesagt: Angesichts des Nichtfunktionierens des Schutzversprechens, das die Ukraine 1994 im Budapester Memorandum erhalten hat, müssen wir uns überlegen, ob die Idee
vom ewigen Frieden vielleicht eine Illusion war. Er hat
gesagt, dass wir die Bereitschaft, das eigene Land zu
verteidigen, mit entsprechender Technologie und entsprechender Ausrüstung unterlegen müssen. Fast alle
Mitgliedstaaten der NATO sind - leider - weit davon
entfernt, die eingegangene Selbstverpflichtung, 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts als Ausgaben für die
Verteidigung bereitzustellen, zu erfüllen. Auch wir geben dafür zu wenig aus.
({2})
Ich denke, wir sollten die krisenhafte Zuspitzung, die wir
in Europa gegenwärtig erleben, zum Anlass nehmen auch mit Blick auf Länder, die erst später der NATO beigetreten sind und vielleicht darüber nachdenken, ob das
NATO-Schutzversprechen wirklich für alle gleichermaßen gilt -, die notwendigen Mittel in diesem Bereich
aufzuwenden. Es gilt der alte Grundsatz: Jedes Land hat
eine Armee in seinem Land, entweder die eigene oder
eine fremde.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({3})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Nächster Redner ist Jan
van Aken für die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Willsch, Sie haben echt gar keine Ahnung.
({0})
Das, was Sie hier gerade erzählt haben, war richtig
schlimm. Gleich am Anfang sagten Sie: Wir müssen die
Interessen der Bundesrepublik und der Industrie gleichermaßen berücksichtigen. Das ist an sich schon falsch.
Sie dürfen das nicht einmal.
({1})
Sie haben hier die politischen Grundsätze der Bundesregierung zu Rüstungsexporten zitiert. Darin steht ausdrücklich, dass ökonomische Interessen keine Rolle
spielen dürfen. Sie haben hier aber genau das Gegenteil
gesagt. Das heißt: Sie interessieren sich überhaupt nicht
für die Rechtslage. Sie interessieren sich überhaupt nicht
dafür, was mit diesen Waffen passiert. Sie interessieren
sich überhaupt nicht dafür, dass alle 60 Sekunden irgendwo auf der Welt ein Mensch durch Waffengewalt
stirbt. 500 000 Frauen, Männer und Kinder sterben im
Jahr durch Waffengewalt, auch durch deutsche Waffen,
und das wird weiterhin so sein, weil Sie, Herr Willsch,
und Ihre Fraktion hier gleich wieder beschließen werden, dass die deutschen Waffenexporte auch künftig ein
Rekordniveau erreichen werden; und das finde ich
falsch.
({2})
Sie haben hier einen Antrag vorgelegt - das gilt für
CDU/CSU und SPD gemeinsam -, der nichts, aber auch
gar nichts daran ändern wird, dass auch weiterhin überall
auf der Welt Menschen mit deutschen Waffen getötet,
gefoltert, unterdrückt, verstümmelt werden. Da draußen
sterben Menschen, jeden Tag, immer wieder, auch durch
deutsche Waffen, weil Sie nicht bereit sind, Waffenexporte zu verbieten. So einfach ist das, und so brutal ist
das. Das wollen wir ändern.
({3})
Gerade Sie von der SPD haben hier in den letzten Jahren das Maul weit aufgerissen: gegen die Lieferung der
Leopard-Panzer nach Saudi-Arabien, gegen Waffenex2810
porte an Menschenrechtsverletzer. Und jetzt? Was legen
Sie hier vor? Angesichts dieses Antrags müssten Sie eigentlich alle vor Scham im Boden versinken.
({4})
Sie unternehmen nicht einmal den Versuch, die Exportgenehmigung für Waffen an irgendeiner Stelle einzuschränken. Das Einzige, was Sie tun wollen, ist, etwas
mehr Informationen über Waffenexporte zu geben. Das
ist ja gut. Ich finde es in Ordnung, dass Sie jetzt zweimal
im Jahr statt nur einmal im Jahr einen Bericht über Ihre
ganzen Waffenexporte abliefern. Sie wissen aber genauso gut wie ich: Transparenz allein verhindert keinen
einzigen Waffenexport. Wer etwas anderes behauptet,
der lügt oder träumt.
({5})
Wissen Sie: Ich bin jetzt seit vier Jahren hier im Bundestag im Auswärtigen Ausschuss. In all den vier Jahren
habe ich eines immer wieder gesehen: Wenn irgendwo
auf der Welt geschossen wird, sehen Sie auch deutsche
Waffen, manchmal an Orten, da müssen Sie es selbst vor
Ort gesehen haben, um es überhaupt glauben zu können.
Ich war neulich in Syrien. Was fällt mir da in die Hände?
Die Überreste einer deutsch-französischen Panzerabwehrrakete, einer MILAN-Rakete, die zum Teil in
Deutschland produziert worden ist. Deutschland hätte
verhindern können, dass sie exportiert wird. Wer hat im
syrischen Bürgerkrieg mit dieser deutsch-französischen
MILAN-Rakete gekämpft? Al-Qaida. Das muss man
sich einmal vorstellen: Al-Qaida kämpft in Syrien mit
deutschen Waffen, weil irgendwann eine Bundesregierung einen solchen Waffenexport genehmigt hat. Ich
finde das schändlich.
({6})
Sie, Herr Willsch - das ist der genialste Satz des Tages -, haben gerade gesagt: Na ja, das darf nicht an Länder oder an Personen geliefert werden, die diese Waffen
gegen uns richten. - Wissen Sie gar nicht, dass die Taliban in Afghanistan mit deutschen Waffen kämpfen, dass
die mit deutschen Waffen auf deutsche Soldaten und auf
die afghanische Bevölkerung schießen? Das ist die Realität Ihrer Waffenexportpolitik.
({7})
Nehmen Sie den Südsudan. Sie alle haben doch heute
den Bericht von Amnesty International über die furchtbaren Verbrechen, die gerade im Südsudan stattfinden,
gelesen. Ich habe dabei die ganze Zeit ein Bild im Kopf,
und zwar ein Foto von Kindersoldaten im Sudan, kleine
Jungs in Reih und Glied aufgestellt, und alle haben ein
deutsches Sturmgewehr in der Hand. Dieses deutsche
Sturmgewehr wird jetzt im Sudan dafür benutzt, um Zivilisten zu töten, zu foltern, zu vergewaltigen, weil irgendwann einmal eine Bundesregierung einen entsprechenden Waffenexport genehmigt hat. Das muss
aufhören.
({8})
Jetzt zur SPD. Das, was ich in den letzten Wochen
und Monaten von Ihrem Herrn Gabriel hinsichtlich Waffenexporten gehört habe, war alles nur heiße Luft. In der
Ukraine-Krise - das war das Härteste, was Sie getan haben - verkündete Herr Gabriel plötzlich einen Stopp der
Waffenexporte nach Russland.
({9})
Was machte er konkret? Es gab ein großes Projekt von
Rüstungsexporten nach Russland. Dazu sagte er: Das
wird gestoppt, das geht nicht weiter. Zwei Tage später
kommt heraus: Das ganze Projekt wurde schon fast vollständig geliefert. Da konnte überhaupt nichts mehr gestoppt werden. Dann haben wir nachgefragt, und Herr
Gabriel musste uns schriftlich geben: Na ja, wir haben
nur das eine Projekt gestoppt, alle anderen Waffenlieferungen nach Russland gehen im Moment weiter. - Es
gab 297 Waffenlieferungen allein in den ersten drei Monaten dieses Jahres. Das ist doch Schaumschlägerei, was
Sie da machen. Sie stoppen überhaupt keine Waffenexporte, sondern Sie exportieren wohin Sie wollen, was Sie
wollen und wann Sie wollen.
({10})
Wenn Sie verhindern wollen, dass irgendwann einmal
wieder irgendwo auf der Welt Menschen mit deutschen
Waffen unterdrückt und getötet werden, gibt es nur eine
Lösung, und diese heißt, den Waffenexport komplett zu
verbieten. Da trauen Sie sich nicht heran, aber das ist unsere Forderung.
({11})
Ich mache mir gar keine Illusionen - das möchte ich
zum Schluss sagen -, dass ich mit Leuten wie Herrn
Willsch oder auch Herrn Gabriel in allzu naher Zukunft
ein komplettes Verbot von Waffenexporten erreiche.
Aber das Erste, was Sie tun müssen, ist, den Export von
Kleinwaffen zu verhindern. Kofi Annan nannte Kleinwaffen einmal die Massenvernichtungswaffen dieser
Zeit. Damit werden 70, 80, 90 Prozent der Menschen in
den Kriegen dieser Welt umgebracht. Dies können Sie
verhindern. Ökonomisch - das wissen Sie genauso gut
wie ich - spielen die 100 Millionen Euro kaum eine
Rolle.
Herr Kollege.
Ich bin gleich fertig.
({0})
Diese 100 Millionen Euro im Jahr an Kleinwaffenexporten in alle Welt sind angesichts der riesigen deutschen Exportwirtschaft ein Witz. Das ist relativ wenig
Geld, aber ganz viel Tod, und den wollen wir stoppen.
Ich danke Ihnen.
({1})
Bernd Westphal ist der nächste Redner für die SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Das, was Herr van Aken hier eben
vorgeführt hat, war schon sehr polemisch.
({0})
Ich denke, das entbehrt jeder sachlichen Debatte bei diesem wichtigen und für alle Abgeordneten, für jede Regierung schwierigen Thema. So kann man eine solche
Debatte nicht führen.
({1})
Bei Rüstungsexportentscheidungen in sogenannte
Drittstaaten sind die im Jahr 2000 beschlossenen Rüstungsexportrichtlinien immer noch Grundlage für das
Handeln der Regierung. Darüber hinaus bekennt sich die
Bundesregierung ebenso zu dem 2008 beschlossenen
Gemeinsamen Standpunkt der EU betreffend gemeinsame Regeln für die Kontrolle der Ausfuhr von Militärtechnologie und Militärgütern.
Auf dieser Grundlage betreibt die Bundesregierung
eine restriktive Politik bei Exporten von Rüstungsgütern,
und diese Politik ist auch gut so.
Die Beachtung der Menschenrechte ist für die Entscheidung über Rüstungsexporte von herausragender
Bedeutung, damit ausgeschlossen werden kann, dass
Waffen an Länder geliefert werden, in denen Menschenrechtsverletzungen existieren oder Bürgerkrieg herrscht.
Im Koalitionsvertrag haben wir die Neuregelung der
Rüstungsexportentscheidungen verankert. Dabei geht es
uns nicht um die Vermischung von Exekutive und Legislative. Die Entscheidung über Genehmigungen für Rüstungsgüter ist nach Artikel 26 des Grundgesetzes der
Bundesregierung zugewiesen, und sie soll auch weiterhin im Kernbereich der Exekutive bleiben.
Wir als Koalition sehen allerdings, wie auch die anderen Fraktionen - man sieht ja die Anträge, die gestellt
worden sind -, im Bereich der Transparenz von Rüstungsexportentscheidungen Handlungsbedarf. Eine Neuregelung ist überfällig, weil der Rüstungskontrollbericht
in der Vergangenheit viel zu spät vorgelegt wurde, teilweise erst anderthalb Jahre nach dem Berichtsjahr. Wir
sind uns einig, dass es politisch wenig Sinn macht, über
Rüstungsexporte zu reden, die weit in der Vergangenheit
liegen, während in der Öffentlichkeit über aktuelle Entscheidungen oder Lieferungen diskutiert wird.
({2})
Die Grünen haben sich für eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht entschieden, um auf diesem Weg
mehr Transparenz bei Rüstungsexporten einzufordern.
Wir haben uns gegen ein Abwarten des Urteils aus
Karlsruhe entschieden. Wir haben stattdessen konstruktiv gehandelt und einen gemeinsamen Antrag der Koalitionsfraktionen erarbeitet. Mit der Umsetzung des vorgelegten Antrages können wir eine wirkliche Verbesserung
gegenüber der heutigen Situation erreichen.
So wird der Rüstungsexportbericht künftig noch vor
Beginn der parlamentarischen Sommerpause des Folgejahres veröffentlicht werden. Zusätzlich ist im Herbst jedes Jahres ein Zwischenbericht über das erste Halbjahr
des laufenden Jahres geplant. Des Weiteren wird der
Deutsche Bundestag über die abschließenden Genehmigungen des Bundessicherheitsrates unverzüglich, das
heißt innerhalb von zwei Wochen nach Tagung des Bundessicherheitsrates, informiert. Was dann dort berichtet
wird, hat der Kollege Willsch schon erwähnt.
Damit setzen wir nicht nur einen weiteren Punkt aus
dem Koalitionsvertrag um. Nein, wir gehen sogar noch
darüber hinaus. Der Bundestag wird zukünftig auch über
die anschließenden Entscheidungen des Vorbereitenden
Ausschusses der Staatssekretäre informiert werden. Die
Unterrichtung durch die Bundesregierung erfolgt im für
Rüstungsexporte federführenden Ausschuss für Wirtschaft und Energie. Die Weitergabe erfolgt dann von
dort aus als Ausschussdrucksache an die mitberatenden
Ausschüsse.
In diesem Zusammenhang muss erwähnt werden,
dass wir damit keine weiteren Geheimgremien schaffen,
sondern im Vorfeld sicherlich auch dem Rechnung tragen, was in der Öffentlichkeit verlangt wird. Wir werden
also künftig eine Debatte darüber führen und diese Themen offen und transparent in den Fachausschüssen beraten können. Ich bin mir sicher, diese Maßnahmen werden die Transparenz von Rüstungsexportentscheidungen
zweifelsfrei erhöhen. Ich denke im Gegensatz zu meinem Vorredner, diese Transparenz wird auch dazu führen, dass man sich bei Rüstungsexportentscheidungen
dementsprechend Gedanken macht. Im Ergebnis wird
die restriktive Exportpolitik, wie in der Vergangenheit,
weiter fortgeführt. Sie können sich darauf verlassen: Mit
der SPD wird es keine Waffenlieferungen in Spannungsgebiete geben.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort erhält nun die Kollegin Agnieszka Brugger
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die unkontrollierte Verbreitung von Waffen ist eine Bedrohung
für den Frieden und die Sicherheit weltweit. Denn sie
verschärft Konflikte, sie macht sie blutiger, und sie kostet am Ende mehr Menschenleben. Die Entscheidung darüber, ob Rüstungsexporte aus Deutschland genehmigt
werden oder nicht, ist deshalb keine politische Entscheidung wie jede andere auch; denn sie kann katastrophale
Folgen haben, und sie kann eben noch mehr Menschenleben kosten.
({0})
Deshalb verdient sie besondere Aufmerksamkeit, besondere Sorgfalt und besondere Kontrolle.
Meine Damen und Herren, machen wir uns noch einmal klar, wie die bisherige Praxis an dieser Stelle aussieht: Der Bundessicherheitsrat - im Wesentlichen eine
Reihe von Ministern der Bundesregierung - entscheidet
hinter verschlossenen Türen, im Geheimen, über Voranfragen der Rüstungsindustrie, und weder das Parlament
noch die Öffentlichkeit werden darüber informiert. Die
Regierung muss nicht einmal begründen, warum sie einen konkreten Export genehmigt oder ihm die Genehmigung versagt.
Ich finde, in einer Demokratie, in einem Rechtsstaat
ist das ein unhaltbarer Zustand, gerade in dem hochsensiblen und kritischen Bereich der Waffengeschäfte.
({1})
Diese Kritik, die wir Grüne schon sehr lange äußern,
wurde auch von den Kolleginnen und Kollegen von der
SPD geteilt. Wir haben in den letzten Jahren, in der Oppositionszeit, an dieser Stelle immer wieder sehr konkrete gemeinsame Vorschläge gemacht, wie wir diesen
Umstand und diese Praxis verändern und verbessern
wollen und wirkliche Transparenz und Kontrolle ermöglichen können. Wir haben darüber diskutiert, im Bundestag ein Gremium einzurichten, das sich speziell mit diesen Fragen auseinandersetzt, das extra unterrichtet wird,
das auch bei besonders kritischen Waffengeschäften
vorab informiert wird und auch die Möglichkeit zur Stellungnahme erhält. Wir haben immer wieder darüber gesprochen, dass die Rüstungsexportberichte lückenhaft
sind, dass dort viele wichtige Informationen fehlen.
In unserem heutigen Antrag bekräftigen wir noch einmal diese Forderungen. Wir sind sehr gespannt, wie Sie
von der SPD sich bei der namentlichen Abstimmung
verhalten werden; denn eigentlich haben Sie all diese
Forderungen gemeinsam mit uns in den letzten Jahren
erhoben.
({2})
Zu den Änderungen, die die Koalitionsfraktionen planen und mit ihrem Antrag vorlegen - dass der Rüstungsexportbericht zeitnah kommen soll, dass es zusätzlich einen Zwischenbericht geben soll, vor allem aber die
Unterrichtung des Bundestages über rechtskräftig gewordene Entscheidungen des Bundessicherheitsrates -,
kann ich nur sagen: Es ist doch eine Selbstverständlichkeit in einer Demokratie, dass eine Regierung erklärt,
was sie überhaupt entschieden hat.
({3})
Das sind nur kleine Korrekturen. Nach wie vor ist es
eben nicht möglich, ausreichend zu kontrollieren. Ihre
Vorschläge sind unzureichend und vor dem Hintergrund
dessen, was Sie versprochen haben, wirklich eine herbe
Enttäuschung.
Meine Damen und Herren, die SPD konnte sich an
dieser Stelle nicht durchsetzen. Das ist ja auch klar. So
unengagiert wie Herr Willsch hier den Antrag der Koalitionsfraktionen vorgelesen hat, wird deutlich: Die Union
hätte hier lieber alles im Dunkeln gelassen.
({4})
Sie machen auch in vielen Plenardebatten gar keinen
Hehl daraus, dass Sie überhaupt keine Probleme damit
haben, dass es einen immer größeren Trend gibt, Waffen
in Staaten zu liefern, die eine sehr problematische Menschenrechtslage haben.
({5})
Auch an dieser Stelle gibt es Versprechungen der SPD
aus dem Wahlkampf und aus der Oppositionszeit: Ganz
konkret haben Sie zum Beispiel sehr massiv und sehr
stark die Panzerlieferungen nach Saudi-Arabien kritisiert. Wenn man den Presseäußerungen glauben darf,
dann hat auch Minister Gabriel - als Minister, der für
Rüstungsexporte federführend ist - diese Kritik noch
einmal bekräftigt und angekündigt, dass er an dieser
Stelle intervenieren will. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, insbesondere natürlich die Regierungsmitglieder der SPD, wenn Sie schon bei den Verbesserungen im Bereich der Transparenz und der
Kontrolle von Rüstungsexporten gescheitert sind, dann
lassen Sie hier an dieser Stelle Ihren Worten Taten folgen
und stoppen Sie die Panzerlieferungen nach Saudi-Arabien!
({6})
Meine Damen und Herren, in den letzten Stunden
geisterten Gerüchte über die Flure des Bundestages, die
besagen - ich kann Ihnen das nicht bestätigen, es ist ja
leider geheim; das würden wir Grüne gerne ändern -,
dass gestern die erste Sitzung des Bundessicherheitsrates
seit Amtsantritt von Schwarz-Rot stattgefunden habe.
Meine Damen und Herren, wir sind an dieser Stelle
wirklich sehr gespannt, wie und ob der Bundestag über
die Ergebnisse dieser Sitzung des Bundessicherheitsrates
informiert wird. Wir sind natürlich auch sehr gespannt,
zu erfahren, wie sich diese schwarz-rote Koalition zu
den Leopard-Panzern, die nach Saudi-Arabien geliefert
werden sollen, positioniert. Sagen Sie Nein zu den Panzerlieferungen und damit Ja zu den Menschenrechten?
({7})
Wir Grüne sind an dieser Stelle ganz klar: Wir wollen
einen radikalen Kurswechsel für echte Kontrolle, wirkliche Transparenz. Bei uns gibt es ein klares Nein zu Waffenlieferungen an Staaten, die in Krisenregionen liegen,
und ein klares Nein zu Waffenlieferungen an Staaten, wo
Menschenrechte mit Füßen getreten werden.
Vielen Dank.
({8})
Für die CDU/CSU-Fraktion erhält nun der Kollege
Andreas Lämmel das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist gute Tradition hier in diesem Hause, über das
Thema Rüstungskontrolle zu diskutieren. Ich weiß gar
nicht genau, wie viele Diskussionen wir zu diesem
Thema alleine in der letzten Legislaturperiode geführt
haben, und es ist ja auch richtig, dass man immer wieder
darüber diskutiert, welche Politik in Deutschland betrieben wird.
Allerdings muss man noch einmal feststellen: Herr
van Aken, mit dem, was Sie hier immer tun, verkleistern
Sie im Prinzip die Augen der Öffentlichkeit in Bezug auf
das, was Sie wirklich wollen. Wenn man Ihrer Logik folgen würde, dann müsste die deutsche Rüstungsindustrie
eigentlich geschlossen werden, und wenn wir nichts verkaufen könnten, dann müssten wir natürlich auch nichts
mehr produzieren, sodass wir das Gerät beispielsweise
aus Russland kaufen müssten,
({0})
was sich in der jetzigen Situation sehr gut machen
würde.
Ich muss hier nur einmal an Ihre Vorgängerpartei erinnern. Sie sind ja Mitglied in einer Partei, deren Vorgängerin in der ehemaligen DDR lange Zeit regiert hat.
Mit den Waffen, die in dieser Zeit in die Welt exportiert worden sind, wird in Afrika heute noch gekämpft,
({1})
mit diesen Waffen wird weiterhin in Südamerika gekämpft. Ich schlage also vor: Bevor man sich hier hinstellt und immer wieder beschwört, dass man der Friedensengel der Welt ist, würde ich zumindest einmal ein
Wort darüber verlieren, dass das, was früher war, auch
falsch gewesen ist.
({2})
Das habe ich von Ihnen aber noch nie gehört - und von
denen, die früher in der SED waren, schon gar nicht.
({3})
Jetzt komme ich zu den Grünen. Man muss es noch
einmal ganz deutlich und laut sagen: An den Grundsätzen, nach denen Rüstungsexporte in Deutschland erfolgen, haben Sie mitgeschrieben.
({4})
Daran war keine CDU/CSU-Fraktion beteiligt,
({5})
sondern Sie waren es. Gemäß diesen Kriterien wird noch
heute exportiert.
Sie sagen: Die Kriterien sind falsch.
({6})
Deshalb müssten Sie zumindest einmal selbstkritisch äußern, dass Sie das, was Sie heute fordern, selbst hätten
durchsetzen können.
({7})
Ich frage mich nur: Warum haben Sie das damals denn
nicht getan?
Wenn man sich die Rüstungsexporte Deutschlands
anschaut, dann muss man als Erstes feststellen: Die Rüstungsexporte sind rückläufig.
({8})
- Die Rüstungsexporte sind rückläufig. Sie können sich
ja einmal den Rüstungsexportbericht anschauen.
Man muss auch feststellen: Die deutsche Rüstungsindustrie ist in Zeiten des Kalten Krieges entstanden.
Wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Bundesrepublik Deutschland einmal über 4 000 Panzer hatte - hinzu
kamen die Panzer, die im Osten Deutschlands standen -,
während wir heute noch über einen Bestand von ungefähr 240 Panzern verfügen, dann kann man sehen, wie
sehr sich die Nachfrage nach Rüstungsgütern in Deutschland reduziert hat. Das Gleiche ist natürlich auch bei unseren NATO-Partnern der Fall. Damit sind natürlich
auch die Industriekapazitäten insgesamt geringer geworden.
Wenn wir unsere eigene Truppe, unsere eigenen Soldaten, bei Einsätzen aller Art schützen wollen, müssen
wir ihnen aber das modernste und beste Gerät zur Verfügung stellen.
({9})
Das ist der Grund dafür, dass Deutschland überhaupt
über eine Rüstungsindustrie verfügt, die modernstes Gerät herstellt. Dass die Welt es letztendlich akzeptiert,
dass Deutschland modernstes Gerät herstellt, zeigt sich
natürlich auch an der entsprechenden Exportnachfrage.
Wenn Sie sich die Struktur der Rüstungsexporte einmal genau angucken - Herr van Aken, das wissen Sie
ganz genau -, dann sehen Sie, dass die Klassifizierung
der Rüstungsgüter durchaus fragwürdig ist. Verschiedene Dinge, die als Rüstungsgüter bezeichnet werden,
muss man eigentlich nicht unbedingt den Rüstungsgütern zurechnen. Es gibt zum Beispiel die sogenannten
Dual-Use-Güter, die man für beide Zwecke einsetzen
kann.
({10})
- Das verfälscht die Zahlen natürlich völlig. Sie operieren ja immer mit den großen Zahlen, die durch die Realität aber überhaupt nicht gedeckt werden.
({11})
Wir wollen nun die Transparenz der Entscheidungen
verbessern. Diese Forderung höre ich hier im Hause seit
Jahren. Das passt Ihnen auch wieder nicht.
({12})
Man muss einmal fragen: Was wollen Sie denn wirklich?
Wollen Sie nun Transparenz oder nicht? Wenn Sie sie
wollen, dann müssen Sie unserem Antrag heute zustimmen.
({13})
Meine Damen und Herren, wo werden denn in der
Welt Geschäfte gemacht, bei denen man über Voranfragen in der Zeitung schreibt und veröffentlicht, dass die
NATO-Partner XY angefragt haben, ob sie dieses oder
jenes Gut kaufen können? Sie glauben doch in Ihrer grünen Welt nicht ernsthaft, dass so etwas überhaupt funktionieren kann.
({14})
Da Sie Deutschland in den nächsten 50 Jahren nicht regieren werden, kommt diese Regelung zum Glück nicht.
Aber ich wünsche uns dieses Experiment auch nicht.
Aber wenn Sie Voranfragen öffentlich machen, dann
wäre das doch ein Witz; das wissen Sie ganz genau. Deswegen sollten Sie mit solch abenteuerlichen Forderungen eigentlich überhaupt nicht mehr im Deutschen Bundestag erscheinen.
({15})
Der Kollege Willsch und der Kollege Westphal haben
schon deutlich gemacht, was die Grundlagen unseres
Antrags sind, die die Transparenz der Entscheidungen
deutlich verbessern werden. Ich garantiere Ihnen Folgendes, liebe Kollegen von den Grünen: Jedes Mal,
wenn der Rüstungskontrollbericht veröffentlicht wird,
wird es dazu eine Debatte im Deutschen Bundestag geben. Das heißt, über jeden dieser Berichte wird es - mindestens zweimal im Jahr - eine Debatte geben und damit
Öffentlichkeit hergestellt. Ich garantiere, Herr van Aken:
Sie werden nach jeder Entscheidung, die im Wirtschaftsausschuss publik wird, eine Debatte im Deutschen Bundestag anzetteln, um hier jede einzelne Entscheidung zu
debattieren.
Ich weiß überhaupt gar nicht, woher Sie Ihr Misstrauen nehmen. Dass die Regierung Verantwortung für
Entscheidungen übernehmen muss - dafür wird sie
schließlich bezahlt, und dafür ist sie im Amt -, ist das
Normalste in der Welt. Ich kann nicht nachvollziehen,
wie Sie sich heute hier aufgeführt haben. Mit unserem
Antrag werden wir die Transparenz herstellen, die für
Rüstungsgeschäfte notwendig ist. Ich kann Ihnen nur
empfehlen: Folgen Sie diesem Antrag. Dann tun Sie etwas für die
({16})
Öffentlichmachung der Rüstungsexporte deutscher Firmen.
Vielen Dank.
({17})
Die Kollegin Finckh-Krämer ist die letzte Rednerin
zu diesem Tagesordnungspunkt für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer oben auf
den Tribünen! Wie schon von meinen Vorrednern ausgeführt, diskutieren wir heute über die Verbesserung der
Transparenz bei deutschen Rüstungsexporten. Kollege
Westphal hat diese Verbesserungen bereits detailliert beschrieben. Ich möchte noch hinzufügen: Mit der Beschlussvorlage erfüllen wir auch einige Forderungen der
Oppositionsparteien der letzten Legislaturperiode.
Mit dem Beschluss, die zuständigen Ausschüsse über
Rüstungsexporte zu informieren, bewegen wir uns in
dieselbe Richtung wie zum Beispiel Großbritannien, wo
sogar ein eigener Parlamentsausschuss eingerichtet
wurde, um über von der Regierung entschiedene Rüstungsexporte zu diskutieren und diese zu bewerten. Dort
hat sich gezeigt, dass die zeitnahe Debatte über Regierungsentscheidungen in Parlamentsausschüssen durchaus disziplinierende Wirkung haben kann.
Als Außenpolitikerin beschäftigen mich vor allem die
außenpolitischen Folgen von Rüstungsexporten. Rüstungsexporte haben eine außenpolitische Wirkung, ob
wir das wollen oder nicht. Nicht nur die Regierung, sondern auch wir als Abgeordnete sollten diese Wirkungen
bedenken und diskutieren. Ich freue mich auf die Diskussion mit allen Fraktionen in den im Antrag genannten
Ausschüssen.
Im Fall von Exporten in Drittländer haben wir eine
besondere Verantwortung.
({0})
Einen Augenblick, bitte, Frau Kollegin. - Herr Kollege Ströbele, könnten Sie mir vielleicht behilflich sein,
die stehenden Kolleginnen und Kollegen auf die wenigen noch verfügbaren Plätze zu verteilen?
({0})
Das ist sehr liebenswürdig. Ich bedanke mich. - So, bitte
schön.
({1})
Gut. - Hier spielen neben den außenpolitischen auch
entwicklungspolitische und menschenrechtliche Aspekte
eine wichtige Rolle. Deswegen begrüße ich als Mitglied
des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre
Hilfe besonders, dass auch dieser Ausschuss über Rüstungsexporte informiert wird.
Die Diskussion über Rüstungsexporte und Rüstungsexportkontrolle ist mit dem heute vorliegenden Antrag
aber nicht beendet. Es gibt auch, wie schon erwähnt, internationale Entscheidungsrahmen wie - neben den schon
genannten Regelungen der Europäischen Union - den
internationalen Waffenhandelsvertrag ATT. Deutschland hat sich während der Verhandlungen um den ATT
besonders für das Vertragswerk eingesetzt. Wir haben es
am 2. April, dem Jahrestag des Beschlusses in der Generalversammlung der Vereinten Nationen, ratifiziert und
setzen den Vertrag bereits vor Inkrafttreten um. Wir hoffen, dass bis Ende des Jahres die für das Inkrafttreten
notwendige Zahl von 50 Ratifizierungen erreicht wird.
Wenn wir in internationalen Gremien glaubwürdig
auftreten wollen, müssen wir uns in der Tat auch selbst
beschränken. In diesem Zusammenhang unterstütze ich
es daher ausdrücklich, wenn sich unser Wirtschaftsminister, wie er gerade öffentlich angekündigt hat, bei
rüstungsexportpolitischen Entscheidungen die dafür gebotene Zeit nimmt. Das ist ein weiterer Schritt in die
richtige Richtung.
({0})
Lieber Herr van Aken, natürlich kann sich erst im
Laufe der Zeit zeigen, welche Wirkungen die neuen
Maßnahmen entfalten und ob wir gegebenenfalls nachsteuern müssen. Wir können die Rüstungsexporte der
Vergangenheit, auf die Sie sich beziehen, aber nicht ungeschehen machen und bestehende Exportgenehmigungen nicht ohne Weiteres widerrufen. Aber wir können
zukünftige Exportgenehmigungen besser kontrollieren.
Auch darauf kommt es an.
({1})
Die Botschaft der Ökumenischen Versammlung, die
vom 30. April bis 4. Mai in Mainz stattgefunden hat,
weist deutlich auf die ethischen Probleme von Rüstungsexporten hin und zeigt damit die Richtung auf, in die wir
uns bewegen sollten. Auch wenn wir mit den genannten
Schritten die sehr weitgehenden Forderungen der Ökumenischen Versammlung und der Oppositionsanträge
nicht erfüllen: Ich hoffe, dass wir uns mit den jetzt zu beschließenden Maßnahmen in die Richtung eines guten
Zusammenlebens aller Menschen bewegen, das die Ökumenische Versammlung erreichen möchte - ein Ziel, das
wir sicherlich alle teilen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf der Drucksache 18/1334 mit dem Titel „Mehr Transparenz bei Rüstungsexportentscheidungen sicherstellen“. Wer stimmt
für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen angenommen.
Unter dem Zusatzpunkt 9 geht es um die Abstimmung
über den Antrag der Fraktion Die Linke auf der Drucksache 18/1348 mit dem Titel „Für ein generelles Verbot
des Exports von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern“. Wer stimmt diesem Antrag zu? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist mit breiter
Mehrheit gegen die Stimmen der Antragsteller abgelehnt.
Unter Zusatzpunkt 10 stimmen wir ab über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache 18/1360 ({0}) mit dem Titel „Echte Transparenz
und parlamentarische Beteiligung bei Rüstungsexport-
entscheidungen herstellen“. Über diesen Antrag stim-
men wir auf Verlangen der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen namentlich ab. Ich darf die Schriftführerinnen
und Schriftführer bitten, die vorgesehenen Plätze einzu-
nehmen und mir zu signalisieren, ob jeweils Mehrheit
und Minderheit dieses Hauses angemessen vertreten
sind. - Das ist offensichtlich der Fall. Dann eröffne ich
hiermit die Abstimmung über diesen Antrag.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimmkarte nicht abgegeben hat? - Das ist offensichtlich
nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und
Präsident Dr. Norbert Lammert
bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der
Auszählung zu beginnen. Wir geben das Ergebnis der
Abstimmung später bekannt.1)
Ich rufe nun den Zusatzpunkt 8 auf:
Vereinbarte Debatte
zum Europäischen Tag zur Gleichstellung von
Menschen mit Behinderung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Dazu gibt es
keinen Widerspruch. Also können wir so verfahren.
Dann darf ich diejenigen, die an dieser Debatte teilnehmen, bitten, Platz zu nehmen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Oliver Kaczmarek für die SPD-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Anlass für diese Debatte heute ist der Europäische Tag zur
Gleichstellung von Menschen mit Behinderung. Zahllose Ehrenamtliche haben diesen Tag in Deutschland zu
einem Protesttag gemacht. Allein 1 500 Menschen haben am Montag am Brandenburger Tor demonstriert.
Deswegen steht am Beginn der Debatte mein Dank an
alle Ehrenamtlichen, die mit ihren Aktivitäten, mit ihren
Anregungen, aber auch mit ihren Ermahnungen diesen
Protesttag gestaltet haben. Vielen Dank für dieses Engagement.
({0})
Ich freue mich, wenn ich das sagen darf, Herr Präsident, dass die Ansprechpartnerin für diese Aktivitäten,
nämlich die Behindertenbeauftragte der Bundesregierung,
Frau Verena Bentele, heute hier der Debatte beiwohnt. Ich
darf Ihnen sagen, dass Sie sicherlich die Unterstützung
des gesamten Hauses bei Ihrer Amtsausübung hinter sich
wissen dürfen.
({1})
Gestern gab es noch einen weiteren Aktionstag. Vor
dem Bundestag hat die Globale Bildungskampagne uns
eingeladen, symbolisch mit Schülern aus Berlin eine
Mauer niederzureißen, eine Mauer, die dafür steht, Hin-
dernisse zur inklusiven Gesellschaft zu überwinden. Ver-
bunden damit war die Mahnung, dass 42 Millionen Kin-
der und Jugendliche mit Behinderung weltweit vom
Besuch des Schulunterrichts ausgeschlossen sind. Das
ist für uns Mahnung und Auftrag, nicht bei der Symbolik
zu bleiben, sondern uns der Herausforderung zu stellen
und daran zu arbeiten, das Menschenrecht auf inklusive
Bildung weltweit zu verwirklichen.
1) Ergebnis Seite 2818 D
({2})
Die Kampagne fordert aber auch: Deutschland muss
mit einem nationalen Beispiel vorangehen und Vorbild
sein. In der Tat ist Deutschland bei der inklusiven Bildung immer noch am Anfang. Der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf steigt. Derzeit liegt er
bei 6,6 Prozent. Gut 28 Prozent aller Schüler mit Förderbedarf sind an allgemeinbildenden Schulen im gemeinsamen Unterricht. Das ist gut. Schlecht ist, dass fast
72 Prozent es eben nicht sind. Nur ein Viertel aller Förderschüler macht überhaupt einen Schulabschluss. Deshalb: Der allgemeine und gleiche Zugang für Menschen
mit Behinderung ist ein zentrales Versprechen der UNBehindertenrechtskonvention. Das umzusetzen, ist auch
eine nationale Aufgabe für die gesamte Politik in
Deutschland.
({3})
Ich würde gerne drei Anmerkungen zu ganz konkreten Herausforderungen der inklusiven Bildung machen:
Erstens. Wenn uns inklusive Bildung gelingen soll,
dann brauchen wir die Menschen, die das mit Leidenschaft, mit Überzeugung und mit Begeisterung umsetzen, die Profis für Inklusion. Vor Ort gibt es viele Ängste
und auch Sorgen: Was passiert mit mir? Was passiert mit
meiner Bildungseinrichtung? Was passiert mit meinem
Kind? Diese Sorgen müssen wir ernst nehmen. Wir brauchen am Ende alle diese Akteure: Eltern, Schüler, Studierende, Lehrer, Auszubildende, Erzieher, Hochschullehrer, Sozialarbeiter - all diese Menschen sind Profis
für Inklusion. Auf ihre Erfahrungen, ob im allgemeinbildenden System oder in den Sondersystemen, können wir
nicht verzichten. Das ist das Herzstück einer gelungenen
inklusiven Bildung: Menschen unterstützen.
({4})
Wir haben - der Staatssekretär aus dem Bildungsministerium ist auch da - das Instrument der Qualitätsoffensive, das Hinweise darauf liefern soll, wie wir die
Lehrerausbildung weiter gestalten können. Wir müssen
alle gemeinsam dafür sorgen, dass die Finanzierung über
eine Laufzeit von zehn Jahren gesichert ist.
({5})
Zweite Anmerkung. Menschen mit Behinderung
brauchen eine gute Arbeit, und zwar eine Arbeit, die ihre
Talente und Fähigkeiten einbezieht, ihnen Sinn und Zufriedenheit gibt. Deshalb müssen wir am Übergang von
der Schule in den Beruf arbeiten. Wir müssen diesen
Übergang glätten. Im Koalitionsvertrag sind die richtigen Stichworte wie ausbildungsbegleitende Hilfen und
assistierte Ausbildung aufgeführt. Wir brauchen an dieser Stelle auch die Werkstätten für Menschen mit Behinderung, und zwar nicht mehr als einzigen Arbeitsplatz
- diese Einbahnstraße müssen wir aufheben -, sondern
wir brauchen sie für die Berufsorientierung und für den
geglätteten Übergang von der Schule in den Beruf. Das
gilt auch für Menschen mit psychischer Erkrankung.
Auch auf diese Erfahrung können wir nicht verzichten.
({6})
Drittens. Wir müssen auch Studierende mit Behinderung unterstützen und diese Unterstützung, wo es notwendig ist, auch modernisieren. Die Eingliederungshilfe
gewährt schon heute „Hilfen zur schulischen Ausbildung
für einen angemessenen Beruf einschließlich des Besuchs einer Hochschule“. Wir müssen jetzt darauf achten, wenn wir an das Teilhabegesetz herangehen, dass
die Standards gesichert und sie gegebenenfalls an ein
modernes Studium angepasst werden. Bundeseinheitliche Regelungen wären für die freie Studienplatzwahl
wünschenswert. Die Unterstützung für mehr als einen
Ausbildungsabschnitt für beruflich Qualifizierte, die beispielsweise an die Hochschule gehen wollen, wäre sinnvoll. Das sind die Ziele, die wir uns für die Menschen
mit Behinderung setzen müssen, die sich an den Hochschulen befinden.
Zum Schluss. Inklusive Bildung ist ein Kernbereich
der UN-Behindertenrechtskonvention, ein Kernbereich
der politischen Herausforderung, der sich alle staatlichen
Ebenen stellen müssen. Das sollten wir als Bundestag
sehr ernst nehmen.
Vielen Dank.
({7})
Die nächste Rednerin ist die Kollegin Katrin Werner
für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Sehr geehrte Frau Bentele! Mehr als
1 500 Menschen mit Behinderung, ihre Freundinnen,
ihre Freunde sowie Familien haben uns Abgeordneten
hier in Berlin öffentlich ihre Unterstützung bei der Umsetzung ihrer Interessen angeboten. Das sollten wir ernst
nehmen.
Am Protesttag für die Gleichstellung von Menschen
mit Behinderung am 5. Mai 2014 zeigte sich zweierlei:
Die Erwartungen der Menschen sind klar, und ihre Unzufriedenheit wächst. Alle Rednerinnen und Redner am
Brandenburger Tor sprachen sich einhellig für bedarfsgerechte Leistungen unabhängig von Einkommen und
Vermögen aus. Vor dem Rathaus in Berlin-Neukölln
wurden diese Erwartungen am selben Tag noch drastischer geäußert: als Protest gegen amtliche Willkür. Das
Neuköllner Sozialamt hat in den letzten Monaten assistenzbedürftige Menschen, die die Weiterbewilligung ihrer Hilfen beantragten, aufgefordert, einen Teil der Leistungen bei der bisherigen Stelle als Hilfe zur Pflege zu
beantragen, und den Rest bei der Stelle, der die Eingliederungshilfe obliegt. Viel Vertrauen ist verloren gegangen; denn zu viel Zeit ist leer verstrichen, und der Reformstau ist riesig.
({0})
Die Menschen haben reale Ängste. In Bürgerbriefen
und Internetportalen häufen sich kritische Anfragen. Da
ist die Mutter eines mehrfach schwerstbehinderten Sohnes. Seit Monaten fragt sie öffentlich, ob das Kindergeld
oder andere Leistungen gegen neue Teilhabeleistungen
angerechnet werden. Da kritisiert ein Betreuer, dass der
Barbetrag zur persönlichen Verfügung für einen Werkstattbeschäftigten so nebenbei in einem Rundschreiben
um 7 Euro im Monat gekürzt wird. Da wartet ein Berliner Behindertenverband als Arbeitgeber sechs Monate
auf einen Entscheid über eine beantragte Arbeitsassistenz. Da erhalten Eltern zwar Schulassistenz, aber nicht
für die Zeit im Hort. Da fragen schwerbehinderte Menschen, warum sie nicht mit 63 Jahren abschlagsfrei in
Rente gehen dürfen.
Deshalb war der Beifall am 5. Mai 2014 stark, als auf
der Kundgebung gefordert wurde, schnell ein Teilhabegesetz vorzulegen, das man öffentlich breit diskutieren
muss.
({1})
Zumindest ihre Gesetzeseckpunkte könnte die Bundesregierung doch schon im Sommer vorlegen. Ich wiederhole unseren Vorschlag, dies bis zum 3. Dezember 2014,
also bis zum Welttag von Menschen mit Behinderungen,
zu tun, zumal am 10. Dezember der Internationale Tag
der Menschenrechte begangen wird und Anfang 2015
der elfte Menschenrechtsbericht der Bundesregierung
vorgelegt werden muss.
Die Menschen brauchen endlich ein Leistungsgesetz,
ja, aber auch zivilrechtliche Stärkung. Die Linke unterstützt deshalb gesetzliche Zwischenschritte, um sofort
krasse Diskriminierung zu beseitigen, allerdings nur als
Weichenstellung in Richtung einer vollen Teilhabe und
nicht als Ersatzlösung. Die Bundesregierung muss ein
Signal setzen: Es geht nicht um Haushaltssanierung,
sondern um freiheitliche Lebenschancen.
Lassen Sie uns erstens sofort den Wahlrechtsausschluss für Menschen unter sogenannter Vollbetreuung
und in psychiatrischen Einrichtungen aufheben.
({2})
Lassen Sie uns zweitens sofort den Behinderungsbegriff an die UN-Konvention anpassen, und zwar im
Behindertengleichstellungsgesetz, im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz, im SGB IX und auch in der Pflegeversicherung.
Lassen Sie uns drittens sofort den Kostenvorbehalt in
§ 13 Absatz 1 im Zwölften Buch Sozialgesetzbuch streichen.
({3})
Denn noch immer werden Menschen mit Behinderung
gegen ihren Willen gezwungen, in einem Heim zu leben.
Nur ohne Kostenvorbehalt wird der Anspruch „ambulant
vor stationär“ Wirklichkeit.
Lassen Sie uns viertens endlich dafür sorgen, dass regulär beschäftigte Menschen mit Behinderung ihr selbstverdientes Geld auch selbstbestimmt für sich und ihre
Familien ausgeben oder sparen dürfen.
({4})
Wir teilen die Forderung von Frau Bentele, die Einkommens- und Vermögensgrenzen komplett zu streichen.
({5})
Lassen Sie uns fünftens umgehend die Ausgleichsabgabe anheben sowie die Beschäftigungspflichtquote wieder auf 6 Prozent erhöhen.
({6})
Was spricht sechstens dagegen, den Anspruch auf Assistenz sofort auszuweiten, für Kinder mit Behinderung
auch im Hort, für alle, die sich ehrenamtlich engagieren,
für Behindertensportler außerhalb ihres Trainings oder
im Krankenhaus für jede und jeden Erkrankten?
Lassen Sie uns siebentens das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz sofort überarbeiten.
Ein Antrag unserer Fraktion für ein Sofortprogramm
zur Beseitigung bestehender Barrieren liegt bereits auf
dem Tisch. Es wäre schön, wenn die fraktionsübergreifenden Gemeinsamkeiten der behindertenpolitischen Sprecherinnen und Sprecher dazu führen, diese wichtigen Fragen aufzugreifen.
Vielen Dank.
({7})
Ich gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen zum Thema „Echte Transparenz und parlamentarische Beteiligung bei Rüstungsexportentscheidungen“
bekannt: abgegebene Stimmen 557. Mit Ja haben gestimmt 104, mit Nein haben gestimmt 452 Kolleginnen
und Kollegen, eine Enthaltung. Damit ist der Antrag abgelehnt.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 556;
davon
ja: 104
nein: 451
enthalten: 1
Ja
DIE LINKE
Dr. Dietmar Bartsch
Christine Buchholz
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Dr. André Hahn
Heike Hänsel
Inge Höger
Andrej Hunko
Sigrid Hupach
Susanna Karawanskij
Kerstin Kassner
Jutta Krellmann
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Niema Movassat
Dr. Alexander S. Neu
Thomas Nord
Harald Petzold ({0})
Richard Pitterle
Martina Renner
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Azize Tank
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Halina Wawzyniak
Katrin Werner
Birgit Wöllert
Hubertus Zdebel
Pia Zimmermann
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Luise Amtsberg
Kerstin Andreae
Volker Beck ({1})
Agnieszka Brugger
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Katharina Dröge
Harald Ebner
Matthias Gastel
Anja Hajduk
Bärbel Höhn
Dieter Janecek
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Tom Koenigs
Oliver Krischer
Stephan Kühn ({2})
Christian Kühn ({3})
Monika Lazar
Steffi Lemke
Dr. Tobias Lindner
Peter Meiwald
Irene Mihalic
Beate Müller-Gemmeke
Özcan Mutlu
Dr. Konstantin von Notz
Friedrich Ostendorff
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({4})
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Ulle Schauws
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Kordula Schulz-Asche
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Doris Wagner
Beate Walter-Rosenheimer
Dr. Valerie Wilms
Nein
CDU/CSU
Stephan Albani
Katrin Albsteiger
Dorothee Bär
Norbert Barthle
Julia Bartz
Günter Baumann
Maik Beermann
Manfred Behrens ({5})
Veronika Bellmann
Sybille Benning
Dr. Christoph Bergner
Ute Bertram
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Präsident Dr. Norbert Lammert
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexandra Dinges-Dierig
Alexander Dobrindt
Michael Donth
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Hansjörg Durz
Dr. Bernd Fabritius
Hermann Färber
Uwe Feiler
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Axel E. Fischer ({6})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Dr. Astrid Freudenstein
Dr. Hans-Peter Friedrich
({7})
Michael Frieser
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Eberhard Gienger
Cemile Giousouf
Josef Göppel
Reinhard Grindel
Ursula Groden-Kranich
Hermann Gröhe
Klaus-Dieter Gröhler
Michael Grosse-Brömer
Astrid Grotelüschen
Markus Grübel
Manfred Grund
Oliver Grundmann
Monika Grütters
Dr. Herlind Gundelach
Olav Gutting
Christian Haase
Dr. Stephan Harbarth
Gerda Hasselfeldt
Matthias Hauer
Mark Hauptmann
Dr. Stefan Heck
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich ({8})
Uda Heller
Jörg Hellmuth
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Christian Hirte
Dr. Heribert Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Dr. Hendrik Hoppenstedt
Margaret Horb
Bettina Hornhues
Charles M. Huber
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Erich Irlstorfer
Thomas Jarzombek
Sylvia Jörrißen
Andreas Jung
Dr. Franz Josef Jung
Xaver Jung
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kanitz
Alois Karl
Anja Karliczek
Bernhard Kaster
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Dr. Georg Kippels
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Carsten Körber
Kordula Kovac
Michael Kretschmer
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Roy Kühne
Uwe Lagosky
Dr. Karl A. Lamers
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Barbara Lanzinger
Dr. Silke Launert
Paul Lehrieder
Dr. Katja Leikert
Dr. Andreas Lenz
Philipp Graf Lerchenfeld
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Wilfried Lorenz
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Karin Maag
Yvonne Magwas
Thomas Mahlberg
Dr. Thomas de Maizière
Gisela Manderla
Matern von Marschall
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({9})
Dr. Michael Meister
Jan Metzler
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Karsten Möring
Marlene Mortler
Carsten Müller
({10})
Dr. Andreas Nick
Michaela Noll
Helmut Nowak
Dr. Georg Nüßlein
Florian Oßner
Henning Otte
Ingrid Pahlmann
Sylvia Pantel
Martin Patzelt
Ulrich Petzold
Sibylle Pfeiffer
Ronald Pofalla
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Kerstin Radomski
Alexander Radwan
Alois Rainer
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({11})
Lothar Riebsamen
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht
Anita Schäfer ({12})
Dr. Wolfgang Schäuble
Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Jana Schimke
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Heiko Schmelzle
Christian Schmidt ({13})
Gabriele Schmidt ({14})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({15})
Bernhard Schulte-Drüggelte
Dr. Klaus-Peter Schulze
Armin Schuster ({16})
Christina Schwarzer
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Tino Sorge
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Wolfgang Stefinger
Peter Stein
Erika Steinbach
Sebastian Steineke
Johannes Steiniger
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Rita Stockhofe
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Karin Strenz
Thomas Stritzl
Thomas Strobl ({17})
Michael Stübgen
Dr. Sabine Sütterlin-Waack
Antje Tillmann
Astrid Timmermann-Fechter
Dr. Hans-Peter Uhl
Dr. Volker Ullrich
Arnold Vaatz
Oswin Veith
Thomas Viesehon
Michael Vietz
Volkmar Vogel ({18})
Sven Volmering
Kees de Vries
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Albert Weiler
Marcus Weinberg ({19})
Dr. Anja Weisgerber
Peter Weiß ({20})
Sabine Weiss ({21})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Marian Wendt
Kai Whittaker
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese ({22})
Elisabeth WinkelmeierBecker
Oliver Wittke
Dagmar G. Wöhrl
Barbara Woltmann
Heinrich Zertik
Emmi Zeulner
Dr. Matthias Zimmer
Präsident Dr. Norbert Lammert
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heike Baehrens
Ulrike Bahr
Dr. Katarina Barley
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Uwe Beckmeyer
Burkhard Blienert
Willi Brase
Dr. Karl-Heinz Brunner
Edelgard Bulmahn
Martin Burkert
Dr. Lars Castellucci
Petra Crone
Bernhard Daldrup
Dr. Daniela De Ridder
Dr. Karamba Diaby
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Siegmund Ehrmann
Michaela Engelmeier-Heite
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Dr. Johannes Fechner
Elke Ferner
Christian Flisek
Dr. Edgar Franke
Ulrich Freese
Dagmar Freitag
Martin Gerster
Ulrike Gottschalck
Kerstin Griese
Uli Grötsch
Wolfgang Gunkel
Bettina Hagedorn
Metin Hakverdi
Ulrich Hampel
Sebastian Hartmann
Michael Hartmann
({23})
Dirk Heidenblut
Hubertus Heil ({24})
Gabriela Heinrich
Wolfgang Hellmich
Heidtrud Henn
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({25})
Thomas Hitschler
Matthias Ilgen
Christina Jantz
Josip Juratovic
Thomas Jurk
Johannes Kahrs
Christina Kampmann
Ralf Kapschack
Gabriele Katzmarek
Ulrich Kelber
Marina Kermer
Cansel Kiziltepe
Arno Klare
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe
Birgit Kömpel
Anette Kramme
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Helga Kühn-Mengel
Christine Lambrecht
Christian Lange ({26})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Dr. Birgit Malecha-Nissen
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Dr. Matthias Miersch
Susanne Mittag
Bettina Müller
Michelle Müntefering
Andrea Nahles
Thomas Oppermann
Mahmut Özdemir ({27})
Christian Petry
Jeannine Pflugradt
Detlev Pilger
Sabine Poschmann
Florian Post
Achim Post ({28})
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Dr. Simone Raatz
Martin Rabanus
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Andreas Rimkus
Sönke Rix
Dennis Rohde
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Johann Saathoff
Annette Sawade
Dr. Hans-Joachim
Schabedoth
Marianne Schieder
Udo Schiefner
Dr. Dorothee Schlegel
Ulla Schmidt ({29})
Matthias Schmidt ({30})
Dagmar Schmidt ({31})
Carsten Schneider ({32})
Ursula Schulte
Swen Schulz ({33})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Stefan Schwartze
Andreas Schwarz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Rainer Spiering
Svenja Stadler
Sonja Steffen
Claudia Tausend
Michael Thews
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Carsten Träger
Ute Vogt
Dirk Vöpel
Gabi Weber
Andrea Wicklein
Dirk Wiese
({34})
Gülistan Yüksel
Dagmar Ziegler
Stefan Zierke
Dr. Jens Zimmermann
Manfred Zöllmer
Enthalten
SPD
Marco Bülow
Wir setzen die Debatte fort. Nächster Redner ist der
Kollege Uwe Schummer für die CDU/CSU-Fraktion.
({35})
Verehrtes Präsidium! Geschätzte Frau Bentele! Liebe
Damen und Herren hier im Plenum! Es ist eine Woche
der Inklusion, die wir hier in Berlin miteinander erleben.
Am Montag demonstrierten in einer großen Kundgebung
vor dem Brandenburger Tor fast 1 000 Menschen dafür,
dass die Gleichstellung der behinderten Menschen in der
Arbeitswelt, in der Freizeit, in der Familie, im Leben
insgesamt durchgesetzt wird. Es war ein europäischer
Aktionstag, und es gab ein Motto, nämlich „Schon viel
erreicht. Noch viel mehr vor.“, das ermuntert, aber
gleichzeitig zeigt: Es ist noch ein weiter Weg, den wir
miteinander zurückzulegen haben.
Am Mittwoch bauten Schüler vor dem Paul-LöbeHaus und vor dem Reichstagsgebäude eine Wand auf,
die sie dann gemeinsam wieder abbauten und niederrissen, um zu zeigen, dass Barrieren nicht nur baulicher Art
sind, sondern auch mental in den Köpfen vorhanden
sind, die man aber miteinander überwinden kann, wenn
man sich kennenlernt, wenn man sich bemüht, wenn
man ein Leben miteinander entwickelt, indem man zusammenfindet, sich nicht separiert, nicht gegeneinandersteht und nicht nebeneinanderher lebt. Das war eine
Kampagne, die in 80 Ländern, also global, stattfand, in
deren Rahmen Barrieren in einem Happening modellhaft
niedergerissen wurden, um damit die Forderung „Inklusive Bildung für alle und besonders für alle Kinder“
durchzusetzen.
Weltweit sind 1 Milliarde Menschen von Behinderung betroffen. 80 Prozent von ihnen leben auf der südlichen Erdhalbkugel. Laut der UNESCO erhält weltweit
nur jedes zehnte behinderte Kind überhaupt eine Schulbildung. Die meisten dieser Kinder werden weggeschlossen. Man schämt sich für sie. Sie erhalten keinerlei
Chance.
Es ging am Montag bei dem europäischen Aktionstag
vor dem Brandenburger Tor um ein Bundesteilhabegesetz in Deutschland. Ein solches Gesetz werden wir in
dieser Legislaturperiode durchsetzen und verabschieden.
Es ging am Mittwoch um das globale Grundrecht eines
jeden Kindes auf eine inklusive Bildung und Teilhabe in
der Gesellschaft.
Der Koalitionsvertrag der Unionsparteien und der
SPD umfasst 20 Handlungsaufträge, mit denen wir in
den nächsten Wochen und Monaten das Thema „Inklusion, Beteiligungsrechte“ vorantreiben werden. Es geht
um Barrierefreiheit beim Städte- und Wohnungsbau sowie bei Verkehrstechnologien. Es geht aber auch um
Barrieren in der Kommunikation, im Netz sowie in den
Köpfen, die beseitigt werden müssen, wenn wir miteinander leben und uns miteinander verständigen wollen.
Es geht weiter darum, dass wir auch in der Entwicklungszusammenarbeit das Thema der behinderten Menschen verstärkt aufgreifen. Zu denken ist daran, was in
Ruanda durch Kriegsteufeleien passiert ist, wie viele
Menschen dort versehrt sind und nach wie vor Hilfe benötigen. Auch das ist ein Thema der globalen Verantwortung, die wir miteinander haben.
({0})
- Immer dann, wenn Frau Noll „Jetzt!“ sagt, müsst ihr
klatschen.
({1})
Ich danke sehr für diese Ermunterung.
Ich finde, dass wir bei allen diesen Themen die globale Sichtweise, die uns am Mittwoch dargestellt wurde,
weiterhin im Blick behalten müssen. Deshalb bin ich
dankbar dafür, dass wir das Thema in der Debatte, die
wir heute miteinander führen, noch einmal nach vorne
bringen. Wir hatten heute - SPD und Union gemeinsam,
Kerstin Tack war dabei -, was die Teilhabe in der Arbeitswelt angeht, eine sehr intensive Anhörung bzw. ein
Fachgespräch zum Thema Schwerbehindertenvertretungen. Im Oktober dieses Jahres werden in den Betrieben
und Verwaltungen die Schwerbehindertenvertretungen
gewählt. Sie sind wichtige Ratgeber, um Inklusion in der
Arbeitswelt umzusetzen. Wie können wir die Schwerbehindertenvertretungen auch in Bezug auf ihre Rolle aufwerten und stärken, die sie im Zusammenhang mit dem
Betriebsrat und den Arbeitgebern spielen? Das gilt aber
auch für die betriebliche Gesundheitsprävention, damit
die Behinderten, wenn sie länger arbeiten, durch Gesundheitsförderung ihre Arbeitspotenziale einbringen
bzw. nutzen können. Wie können sie Komanager in Unternehmen werden, um, gesundheitlich gesehen, in der
Arbeitswelt ihrer Rolle möglichst gerecht zu werden?
Das war ein sehr intensives, sehr ausführliches Gespräch mit vielen Praktikern aus den Unternehmen und
den Verwaltungen. Ich bin sicher, dass wir bei dem
Thema der Beteiligungs- bzw. der Mitwirkungsrechte
auch im Bereich der Schwerbehindertenvertretungen einige Positionen miteinander politisch diskutieren und
dann auch durchsetzen bzw. verabschieden werden.
Wir müssen, was das Bundesteilhabegesetz angeht,
aus der Armutsfalle heraus. Es ist richtig, dass bei einer
Heirat der Partner oder die Partnerin sofort mit seinem
bzw. ihrem Vermögen bzw. mit seinen oder ihren Einkünften mit herangezogen wird, sodass Liebe im Grunde
gleichzeitig in Armut führt. Das darf es nicht geben. Es
ist auch ein Verstoß gegen die Verfassung, nach der Ehe
und Familie in besonderer Weise zu fördern sind.
({2})
Es darf keine Armutsfalle geben, wenn eine solche Partnerschaft zu einer Familiengründung führt. Deshalb
müssen wir miteinander überlegen, wie wir in einem
Bundesteilhabegesetz ein Bundesteilhabegeld entwickeln. Mit dem sollen auf der einen Seite die Kommunen
entlastet werden. Dies wäre ein Weg, ihnen mehr Gelder
zur Verfügung zu stellen. Die Nutznießer eines solchen
Bundesteilhabegesetzes müssen aber die betroffenen
Menschen sein. Da müssen wir dann ein Stück weit auch
die Beteiligungsrechte insgesamt im Blick haben und
solche Armutsfallen beseitigen.
Wir sehen das Schicksal der Menschen in den betreuten Werkstätten. Es ist gut, dass es sie gibt. Die Zahl der
Mitarbeiter in den betreuten Werkstätten hat sich in den
letzten 15 Jahren auf 300 000 verdoppelt. Ich habe nicht
den Eindruck, dass sie den Auftrag, den sie auch haben,
erfüllen, nämlich immer darauf zu schauen, ob nicht
noch inklusive Arbeitsplätze im Außenbereich - in Integrationsunternehmen oder auf dem ersten Arbeitsmarkt - entwickelt werden können. Das kann mit Assistenz bei der Arbeit geschehen. Es muss aber auch eine
Rückkehrmöglichkeit geben, wenn das nicht gelingen
sollte. Auch das Scheitern muss natürlich im Blick behalten werden.
Die Werkstätten müssen sich in dieser Frage flexibler
und stärker am Menschen orientiert organisieren. Eine
Vermittlungsquote von unter 1 Prozent in den betreuten
Werkstätten kann nicht die Auftragserfüllung sein, die
wir von ihnen erwarten. Wir wollen betreute Werkstätten, aber sie müssen aus großen Tankern zu Schnellbooten werden, die auch auf dem ersten Arbeitsmarkt inklusive Arbeit mit entwickeln und mit fördern.
({3})
Vielfalt ist die Voraussetzung für Wahlfreiheit. Ich
denke, es war eine wichtige Woche, die wir miteinander
erlebt haben. Wir werden gemeinsam über alle Fraktionsgrenzen hinweg dafür sorgen, dass dies nicht nur
eine „Woche der Inklusion“ war, sondern dass wir ein
Leben mit Inklusion vor uns haben.
({4})
Das Wort hat nun die Kollegin Corinna Rüffer für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Bentele! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Montag war
der Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung. Schon am Dienstag danach ist Ihnen, liebe
Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD, aufgefallen, dass Sie gerne hier heute im Plenum darüber reden wollen. Sie mussten dann ganz schnell von uns wissen, ob wir einverstanden sind.
Ich sage: Besser spät als nie. Persönlich unterhalte ich
mich auch gerne über das Thema, erst recht hier im Bundestag. Aber ganz ehrlich: Von einer Bundesregierung
erwarte ich mehr als nur schöne Worte auf den letzten
Drücker. Ich erwarte, dass Sie auch etwas vorlegen.
Meine Fraktion hat schon vor einem Monat einen Antrag eingebracht, über den wir hier auch debattiert haben.
Sie haben damals beklagt, unser Antrag sei enttäuschend. Die Fachwelt sieht das anders. Sie haben davon
gesprochen, dass Sie selbst sich da etwas mehr vorgenommen hätten. Das mag ja sein. Mir ist aber wichtig,
was Sie tun. Bisher beschränkt sich Ihr Tun darauf, Versprechen abzugeben. Davon profitieren Sie selbst am
meisten. In Reden und auf Podien schwingen Sie sehr
große Worte: Wir werden Teilhabeleistungen anrechnungsfrei gestalten und den Ausschluss vom Wahlrecht
abschaffen. - Aber wenn man mit Ihnen kleine, konkrete
Vorschläge diskutieren will, dann wehren Sie ab und sagen: Nein, das geht nicht. Jetzt noch nicht. Wir wollen
nämlich mehr. Aber das dauert noch. Wir sind in Gesprächen. Wir sind uns noch nicht einig.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, die Gespräche über eine Weiterentwicklung des Leistungsrechtes
führen wir schon eine ganze Weile. Es gäbe eine Reihe
von Verbesserungen, die Sie ohne Weiteres direkt angehen könnten. Ein paar Vorschläge haben wir in unserem
Antrag vor einem Monat gemacht. Sie könnten zügig
sehr viel zum Abbau von Barrieren und gegen Diskriminierung tun. Ich bin gespannt auf die Diskussion, die wir
im Ausschuss über unseren Antrag führen werden. Vielleicht können Sie sich ja durchringen, ihm am Ende zuzustimmen.
({0})
Ich hätte aber auch nichts dagegen, wenn Sie jetzt
selbst initiativ werden würden. Wenn Sie zeigen möchten, dass Sie es wirklich ernst meinen, dann legen Sie
doch noch vor der Sommerpause etwas vor. Es könnten
ja einfach kleinere und überschaubare Projekte sein. In
Deutschland ist zum Beispiel noch nicht systematisch sichergestellt, dass alle neuen Gesetze und Verordnungen
auf Bundesebene den Anforderungen der Behindertenrechtskonvention genügen. Darum könnten Sie sich
doch kümmern. Nehmen wir einen anderen Bereich: In
Deutschland dürfen medizinische Experimente an behinderten Kindern auch dann vorgenommen werden, wenn
sie selbst nicht davon profitieren. Machen Sie Schluss
damit, jetzt und nicht erst später, irgendwann.
({1})
Ich kann Ihnen versichern, dass meine Fraktion immer gerne zustimmen wird, wenn Sie etwas dafür tun,
dass sich die Situation der behinderten Menschen verbessert. Ihnen würde das auch bei behinderten Menschen
und ihren Verbänden mehr Anerkennung bringen als die
abenteuerlichen Vorschläge, mit denen der stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion, Michael Fuchs,
kürzlich zitiert wurde. Er forderte, bei der Eingliederungshilfe zu sparen, um den Abbau der kalten Progression zu finanzieren. Das ist ein kalter Vorschlag. Ich
habe selten einen schlechteren gehört.
({2})
Solche Äußerungen machen aber die Problematik
deutlich. Es gibt selbstverständlich auch bei Ihnen in der
Union und in der SPD Abgeordnete, die sich behindertenpolitisch engagieren und wirklich etwas bewegen
möchten, unbestritten. In der Debatte vor einem Monat
haben sich einige von Ihnen sehr engagiert geäußert und
zum Beispiel kritisiert, dass sowohl behinderte Menschen selbst als auch ihre Ehepartner finanziell für ihre
Assistenz aufkommen müssen. Das sei ein Skandal, hieß
es. Das wurde heute mehrfach wiederholt. In ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage meiner Fraktion äußerte
sich die Bundesregierung aber ganz anders:
Die Auffassung, dass die Eheschließung bzw. Partnerschaft
- gut aufpassen von behinderten Menschen bei Sozialhilfegewährung unerträglich belastet würde, kann nicht überzeugen. Bei einer Partnerschaft spielen in unserer
Gesellschaft primär persönliche Aspekte eine Rolle.
Liebe zum Beispiel; das stimmt. Aber wir können von
Liebenden nicht erwarten, dass sie deshalb arm werden.
Das ist zu viel verlangt. Die Anfrage ist ein paar Wochen
alt. Da widerspricht sich irgendetwas.
({3})
Liebe Frau Nahles oder wer auch immer mir das beantworten will, was ist denn da los? Wem soll ich denn
glauben? Ihnen, wenn Sie von hier aus reden, oder der
Regierung, wenn sie schriftlich Fragen beantwortet?
Wenn ich mich dann an die Debatte zur finanziellen
Lage der Kommunen erinnere - das ist auch noch nicht
lange her; die haben wir kürzlich geführt -, schwant mir
wirklich nichts Gutes. Da wurde mir etwas zu häufig
über Finanzen und Einsparpotenziale geredet und etwas
zu wenig über die Rechte von Behinderten. Manchmal
muss man hinschauen, in welcher Debatte man sich gerade befindet, um zu erkennen, was denn wirklich dahintersteckt. Das ist ein großes Problem. Wenn das Teilhabegesetz für Sie, liebe Große Koalition, in erster Linie
eine Möglichkeit sein sollte, Kosten zu sparen, bieten
wir denjenigen von Ihnen, die ernsthaft an einer menschenrechtsorientierten Behindertenpolitik interessiert
sind, gern Asyl - garantiert und ohne Abschiebung.
Danke.
({4})
Für die SPD-Fraktion hat nun Kerstin Tack das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Verena Bentele! Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und
Herren! Auf dem Protesttag am Montag haben wir mit
Blick auf die politischen Herausforderungen beim
Thema Menschen mit Behinderung festgestellt - ich
glaube auch, dass diese gemeinsame Klarstellung wichtig ist -, dass wir uns diesem Anliegen partei- und fraktionsübergreifend gleichermaßen in wertschätzender und
sachlicher Weise widmen müssen.
({0})
Jetzt erleben wir aber, dass das, was der Community
als wertvolle Unterstützung zugesagt wurde, in der
parlamentarischen Debatte zu einer relativ armseligen
Veranstaltung verkommt. Denn ohne selbst nur einen
einzigen inhaltlich-fachlichen Vorschlag zu machen, hält
man den anderen vor, dass sie nicht schon selbst längst
Vorschläge auf den Tisch gelegt haben.
({1})
Damit verabschiedet man sich auch noch von dem
Grundsatz „Nicht ohne uns über uns“.
Die Grünen fordern von uns - auch jetzt wieder -, in
vier Wochen eine umfängliche Sozialrechtsreform vorzulegen.
({2})
- Aber selbstverständlich, Frau Rüffer. Das haben Sie
vorhin wieder getan. - Sie ignorieren dabei die Tatsache,
dass Deutschland sich mit der Ratifikation der UNBehindertenrechtskonvention verpflichtet hat, ein Gesetzgebungsverfahren nur unter Beteiligung der Betroffenen durchzuführen. Wer aber gleichzeitig fordert, das
Vorhaben in vier Wochen abzuschließen, der verabschiedet sich von dem Anspruch, genau dieser Verpflichtung
nachzukommen.
({3})
Ihnen muss klar sein, dass Sie mit diesen von Ihnen
immer wieder vorgebrachten Aussagen gegen den
Anspruch verstoßen, den Sie außerhalb des Parlaments
erheben.
Frau Kollegin Tack, darf die Kollegin Rüffer Ihnen
eine Zwischenfrage stellen?
Ja, darf sie.
Sehr schön. - Frau Kollegin Rüffer.
Liebe Frau Tack, ich finde es wunderbar, dass Sie so
engagiert über dieses Thema diskutieren. Das eint Menschen, die sich mit Behindertenpolitik beschäftigen.
Sie haben uns nun unterstellt, dass wir von Ihnen erwarten würden, ohne Beteiligung Behinderter in vier
Wochen ein Bundesteilhabegesetz vorzulegen. Dem ist
aber mitnichten so. Wir haben nur gesagt, dass Sie nicht
alles in das Bundesteilhabegesetz schieben können. In
unserem Antrag und in den heutigen Reden haben wir
viele Punkte, die man außerhalb dieses Gesetzes regeln
muss, aufgezählt.
Ich möchte von Ihnen wissen, ob Sie der Meinung
sind, dass man all diese Punkte in ein Gesetz schieben
muss, oder ob man nicht die vielen Punkte, über die in
der Vergangenheit unter Beteiligung Behinderter ausführlich diskutiert worden ist, schon jetzt umsetzen
kann.
({0})
Nein, das kann man nicht. Ich will Ihnen auch sagen,
warum. Wir streben gemeinschaftlich eine Gesamtlösung an, was verbietet, Einzelaspekte herauszupicken.
Vier oder fünf Sozialgesetzbücher, die etwas miteinander zu tun haben, sollen angefasst werden. Jetzt beispielsweise § 13 aus dem SGB XII herauszupicken oder
einen Teilaspekt aus einem Paragrafen im SGB IX anders zu fassen, bringt uns nicht weiter. Wir müssten es
nämlich ansonsten ein zweites Mal anfassen, nämlich
dann, wenn wir mit einer großen Reform eine Wirkung
auch auf andere Gesetzbücher entfalten wollen.
Wir sagen deshalb: Wir wollen kein Klein-Klein, sondern wir wollen eine große Reform, die Regelungen aus
verschiedenen Sozialgesetzbüchern in eine neue Dimension überführt. Wenn man eine Gesamtlösung anstrebt,
verbietet es sich, vorher einzelne Rosinen herauspicken.
Wenn wir das tun würden, würden wir die Verwirklichung der angestrebten großen Reform gefährden.
({0})
Das möchten wir ausdrücklich nicht.
Im Gegensatz zu Ihrer Fraktion haben wir hier übrigens mehrfach gesagt, welche Erwartungshaltung wir
politisch bezüglich eines Bundesteilhabegesetzes haben.
Ich kann es gerne wiederholen: Uns geht es natürlich um
ein Wunsch- und Wahlrecht, um Personenzentriertheit,
um ein Raus aus der Sozialhilfe, um eine Überprüfung
der Einkommens- und Vermögensanrechnung, selbstverständlich auch um eine Lösung der Schnittstellenproblematik SGB VIII, SGB IX, SGB XII und SGB V.
All diese Thematiken spielen für uns eine Rolle. Ich
warne dringend davor, ständig zu fordern, wir mögen
mit Schnellschüssen in den Bundestag kommen.
({1})
Aber unsere politische Erwartungshaltung können wir
miteinander diskutieren. Das tun wir auch.
Im Übrigen führen wir viele Gespräche mit den Verbänden von Menschen mit Behinderung.
({2})
Ich sage Ihnen: Die Erwartungshaltung ist immens, dass
wir uns hinreichend miteinander verständigen, wie wir
eine solche Reform ausgestalten. Richtigerweise haben
alle Vorschläge gemacht. Ja, das stimmt. Das sind aber
mitnichten Vorschläge, die wir alle einfach so zusammenpacken könnten, dass dann ein Exemplar herauskommt, über das Einigkeit besteht. Ich möchte nicht den
einen gegen den anderen Verband ausspielen, indem wir
sagen: Eure Meinung ist uns mehr wert als die Meinung
eines anderen Verbandes. - Deshalb freue ich mich, dass
wir einen Zeitplan vereinbart haben, der es erlaubt, in
dieser Legislaturperiode ein entsprechendes Gesetz zu
erarbeiten und so rechtzeitig zu verabschieden, dass es
auch noch seine Wirkung entfalten kann. Ich glaube, genau das haben wir zeitlich richtig konzipiert.
({3})
Obwohl wir bis 2016 ein Bundesteilhabegesetz vorbereiten, haben wir natürlich vor, diverse weitere Ziele
vorab miteinander zu verhandeln und umzusetzen. Der
Kollege Schummer hat berichtet, dass wir vorhaben, die
gesetzlichen Mitwirkungsrechte der Schwerbehindertenvertretungen noch in diesem Jahr zu überarbeiten. Wir
werden auch über die Mitwirkungsmöglichkeiten von
Werkstatträten noch in diesem Jahr miteinander ins
Gespräch kommen. Wir werden den Themenbereich
Budget für Arbeit und Inklusion auf dem Arbeitsmarkt
miteinander beraten und in ein Konzept gießen. Wir
haben eine Menge vor; das haben wir immer wieder
gesagt. Wir haben es übrigens erstmals seit Existenz der
Bundesrepublik geschafft, dass in einen Koalitionsvertrag die Herausforderungen für Menschen mit Behinderungen in allen Bereichen - sei es Verkehr, Bau,
Innenpolitik, Tourismus, Außenpolitik oder Menschenrechte - als Querschnittsthema aufgenommen wurden.
Ich sage Ihnen: Wir sind verdammt stolz darauf.
({4})
Das, was wir als Koalition an dieser Stelle vereinbart haben, ist für die Bundesregierung neu. Es ist aber richtig
und wichtig, weil eine inklusive Gesellschaft mit all ihren Facetten gebraucht wird und als Querschnittsthema
wichtig ist. Selbstverständlich werden wir diese Themen
nicht erst 2016 behandeln, sondern wir gehen sie jetzt
sukzessive an. Das ist auch richtig so.
Ich wünsche mir - wenn ich das zum Schluss noch
sagen darf -, dass wir ein bisschen qualifizierter über ein
Bundesteilhabegesetz reden und uns nicht nur über die
Frage des Zeitpunktes, sondern auch fachlich und inhaltlich darüber austauschen. Ich glaube, das Thema ist es
allemal wert.
Herzlichen Dank.
({5})
Vielen Dank. - Das Wort hat jetzt Jutta Eckenbach,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
Rüffer, lassen Sie mich zu Beginn meiner Rede und
meiner Ausführungen einige Klarstellungen vornehmen, die mir an dieser Stelle wichtig sind. Sie wissen
und es ist gemeinsam vereinbart worden, dass es in
dieser Woche eine Aktuelle Stunde zu genau der jetzt zu
behandelnden Fragestellung hier im Bundestag geben
sollte. Es ist dann, und das auch gemeinsam, mit allen
vereinbart worden,
({0})
dass diese vorgesehene Aktuelle Stunde zugunsten einer
über die Lage in der Ukraine - ich fand diese Debatte
sehr wichtig, denn es ging um die momentan wichtigste
Frage, die wir neben der in dieser Debatte anstehenden
angehen müssen - abgesetzt wurde. Wir legen also sehr
großen Wert darauf, dass hier im Bundestag Wahrheiten
zur Sprache kommen; aber Sie werfen hier einfach
Floskeln in den Raum und stellen die Dinge nicht richtig
dar. Es gab jedoch eine Vereinbarung aller Fraktionen, es
genau so zu machen.
({1})
Und das geschah nicht erst nach diesem Montag, sondern es war bereits im Vorfeld klar, dass diese Aktuelle
Stunde durchgeführt werden sollte.
({2})
Also stellen Sie hier bitte nicht all die Dinge, die wir gemeinsam vereinbart haben, auf den Kopf!
Ich glaube aber, es gibt am heutigen Tag Wichtigeres,
als sich mit dem auseinanderzusetzen, was Frau Rüffer
hier nicht sachgemäß vorgetragen hat. Wir haben hier im
Deutschen Bundestag bereits am 4. April eine sehr interessante Debatte geführt und haben kontrovers diskutiert. Zugleich konnten wir feststellen, dass wir uns eiJutta Eckenbach
gentlich darüber einig sind, wie wir vorgehen wollen:
Wir wollen nämlich alles Menschenmögliche tun und
vor allen Dingen entsprechende gesetzliche Regelungen
finden, damit den Menschen mit Behinderungen mehr
Teilhabe zugestanden wird. Das hat dieses Haus am
4. April in aller Gemeinsamkeit festgestellt. Ich denke,
es ist wichtig, das zu wiederholen.
Die Frage, die wir heute wieder diskutieren, ist: Wie
gehen wir dabei vor? An dieser Stelle haben Sie, Frau
Tack, vollkommen recht: Es geht nicht scheibchenweise. - Aber die Veranstaltung am Montag, an der ich
leider nicht sehr lange teilnehmen konnte, aber lange genug, um einerseits Frau Bentele kennenzulernen und mir
andererseits einen Rap anzuhören, den ich übrigens auf
meiner Facebook-Seite eingestellt habe, hat uns gezeigt:
Auch die Kultur bietet eine Möglichkeit, viele Menschen
zu erreichen. Was wir da gehört haben, ist natürlich eine
tolle Geschichte. Ich empfehle jedem, sich das anzuhören, um zu erkennen, was zwischen Menschen mit
Handicap und Menschen, die nichts haben, die normal
sind - wobei das falsch ausgedrückt ist, denn wer weiß
schon, wer normal ist! -, möglich ist.
Etwas Weiteres, was mich bei dieser Veranstaltung
sehr beeindruckt hat, waren die fünf Ziele, die Frau
Bentele benannt hat. Lassen Sie mich an dieser Stelle ein
Ziel herausnehmen - es war heute schon einmal Gegenstand der Debatte -: Es geht um die Frage, wie man
eigentlich damit umgeht, wenn jemand wie zum Beispiel
die Richterin Frau Poser, über die jetzt im MDR zum
zweiten Mal ein Bericht lief, einem ganz normalen Beruf
nachgeht, aber bei der Arbeit auf eine Assistenz angewiesen ist. Sie kann von dem, was sie verdient, nur
2 600 Euro ansparen; höher darf ihr Vermögen nicht
sein. Wenn es uns wichtig ist, die Teilhabe von Menschen mit Behinderung am Arbeitsleben zu gewährleisten, müssen wir hier dringend etwas ändern. Ich finde,
das ist eine der ersten Forderungen, die wir hier aufstellen müssen.
({3})
Mich hat auch beeindruckt, was Frau Bentele bei der
Veranstaltung am Montag unter dem Bild des bunten
Adlers ausgeführt hat. Sie hat sich des Symbols des Bundesadlers angenommen und gefragt, was das Bild vom
bunten Adler bedeutet. In ihren Ausführungen hat sie
dann deutlich gemacht, wie wichtig es ist, sich vor
Augen zu führen, dass so bunt und einzigartig wie wir
alle als Einzelne sind, uns symbolisch doch der Bundesadler eint, der ein Zeichen für Stärke, Freiheit und
Unabhängigkeit ist. Unsere Aufgabe in diesem Hause ist
es, diese Stärke, Freiheit und Unabhängigkeit für einen
jeden in unserer Gesellschaft zu gewährleisten.
Insofern werden wir Frau Bentele bei ihrer Arbeit
unterstützen, so wie wir Herrn Hüppe unterstützt haben.
Wir sagen den vielen Menschen mit Handicap: Kommt
zu uns! Wir sind alle gleich, und wir wollen alle das
Gleiche erreichen, nämlich die Teilhabe am Leben.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Herzlichen Dank. - Letzte Rednerin in dieser Debatte
ist Dr. Astrid Freudenstein, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Frau Bentele! Meine Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe einmal nachgeschaut, wie der Begriff der Inklusion eigentlich in Leichter Sprache umschrieben wird. Leichte
Sprache ist übrigens auch für Menschen ohne Behinderung etwas ganz Hilfreiches und Gutes.
({0})
Inklusion bedeutet:
- so steht es auf einer Internetseite der Aktion Mensch Alle Menschen sollen überall dabei sein.
Alle Menschen haben die gleichen Rechte.
Alle Menschen können selbst bestimmen, was sie
wollen.
Niemand wird ausgeschlossen.
Das klingt alles selbstverständlich und auch ziemlich
einfach, und das nicht nur, weil es einfache Sprache ist.
Und doch wissen wir, wie schwierig das im Alltag oft ist
und welche Fragen und Probleme sich da auftun.
Bauliche Barrierefreiheit kostet oft zusätzliches Geld,
und es ist nachvollziehbar, wenn das einem Gemeinderat
Kopfzerbrechen bereitet. Es ist selbstverständlich, dass
eine Belegschaft erst einmal unsicher ist, wenn zum ersten Mal ein Kollege im Rollstuhl zur Arbeit kommt. Für
eine Grundschullehrerin ist es nicht banal, wenn sie
plötzlich auch mit einem Kind mit Downsyndrom arbeiten soll und das vorher noch nie gemacht hat.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich meine,
wir sollten den Europäischen Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung auch dazu nutzen,
zum offenen Dialog zu ermuntern. Die Grundschullehrerin, der Gemeinderat - sie alle müssen ihre Ängste, Vorbehalte und Unsicherheiten auch formulieren dürfen,
weil wir nur dann vorankommen. Es brauchen nämlich
beim großen Gemeinschaftsvorhaben der Inklusion nicht
nur die Menschen mit Behinderungen Hilfe und Unterstützung. Jeder Einzelne, auch die Nichtbehinderten,
brauchen, mal mehr, mal weniger, Hilfestellung beim
Großprojekt der inklusiven Gesellschaft.
Für den politischen, für den gesetzgeberischen Teil
der Inklusion sind natürlich wir hier zuständig. Die gesetzlichen Grundlagen für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung sind im Grundgesetz verankert.
Speziell das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz und
das Behindertengleichstellungsgesetz bekräftigen die
Gleichheit und verbieten die Diskriminierung und Benachteiligung behinderter Menschen. Aber damit haben
wir unseren Teil zur Gleichstellung noch nicht getan.
Wenn wir heute in Deutschland von der Gleichstellung behinderter Menschen sprechen, dann meinen wir
in erster Linie die Chancengleichheit bei der Teilhabe an
der Gemeinschaft, und die verlangt ganz konkrete Maßnahmen.
Eine dieser Maßnahmen - sie wurde eben schon angesprochen - ist die Entwicklung der Eingliederungshilfe zu einem modernen, zeitgemäßen Teilhaberecht,
mit dem eine größere Chancengleichheit erreicht werden
soll. Die Neuausrichtung von einer überwiegend einrichtungsbezogenen zu einer individuellen, personenzentrierten Teilhabeleistung ist unser Ziel. Menschen mit
Behinderung müssen mit ihren spezifischen Bedürfnissen im Mittelpunkt stehen. Es muss eine Wahlfreiheit
geben, wenn es darum geht, wie und wo die Menschen
arbeiten und wohnen wollen. Es gilt auch, ein Verfahren
zu etablieren, bei dem alle Leistungsberechtigten in
Deutschland gleichermaßen an den Leistungen partizipieren können. Das Verfahren muss die Bedarfsermittlung vereinheitlichen.
Bei dieser Reform wird die Perspektive und die Erfahrung von Menschen mit Behinderung von Anfang an
mit einbezogen. Dass das nicht von heute auf morgen
geht, das haben wir eben schon diskutiert. Wir wollen
die Eingliederungshilfe nicht wegen eines abstrakten
Konzepts reformieren, sondern wir wollen sie für die
Menschen reformieren.
({1})
Wir wollen die Teilhabe, die dem Einzelnen möglich ist,
auch möglich machen. Das ist ein Gebot der Gerechtigkeit und Nächstenliebe. Dabei wird es nicht reichen,
möglichst viel Geld zu verlangen. Inklusion ist viel
schwieriger. Auf einer anderen Internetseite der Aktion
Mensch steht ebenfalls in Leichter Sprache:
Es gibt schon viele Gesetze und Regeln für Inklusion. …
Diese Gesetze und Regeln sind wichtig.
Aber Vieles steht nur auf dem Papier.
Es muss sich viel mehr in den Köpfen von den
Menschen verändern.
Herzlichen Dank.
({2})
Vielen Dank. - Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai
Gehring, Beate Walter-Rosenheimer, Özcan
Mutlu, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Hochschulpakt fortsetzen und aufstocken
Drucksache 18/1337
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({0})
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Erster Redner der Debatte ist der Kollege Kai
Gehring, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ein 6-plus-3-Milliarden-Euro-Paket für Bildung und
Forschung hat die Große Koalition in ihrem Koalitionsvertrag versprochen. Dazu muss ich zwei Dinge sagen:
Erstens. Diese Mittel sind viel zu gering, um die Unterfinanzierung von Krippen, Kitas, Schulen, Hochschulen, Forschungs- und Weiterbildungseinrichtungen zu
überwinden. Das sind geradezu Peanuts im Vergleich
zum Rentenpaket.
Zweitens. Bisher handelt es sich bei diesem 6-plus-3Milliarden-Euro-Paket um eine reine Luftnummer; denn
die Koalition streitet seit einem halben Jahr, ob, wie und
wohin das Geld überhaupt fließen soll. Währenddessen
landet bei Schülern, Studierenden, Lehrkräften und Wissenschaftlern kein Cent.
Damit riskiert diese Koalition die sichere Finanzierungsbasis des Bildungs- und Wissenschaftssystems.
Das ist zukunftsvergessen, das ist innovationsfeindlich,
und das ist nicht generationengerecht.
({0})
Bildung und Wissenschaft brauchen erheblich höhere
Investitionen, und das am besten durch fachlich gebundene zusätzliche Mittel des Bundes, die erstens wirklich
dort landen, wo sie hingehören - das müssen echte
Investitionen in die Bildungschancen unserer Kinder
sein -, und zweitens nicht zur Folge haben, dass einzelne
Länder ihre Etats für Schulen und Hochschulen absenken. Um all das nachzuverhandeln, was in den Koalitionsgesprächen nicht ausgehandelt wurde, haben Ministerin Wanka und die Koalitionsfraktionen das jetzt in die
Hände von Merkel, Gabriel und Seehofer gelegt. Angesichts dessen kann man doch sagen: Nicht der dringende
Investitionsbedarf bei Bildung und Wissenschaft wird
das Entscheidende sein, sondern der Machtpoker der
großen drei. Das ist die traurige und trostlose bildungsund forschungspolitische Realität dieser Großen Koalition. Mit diesem Stillstand muss Schluss sein.
({1})
Es gibt viele dringend anzugehende Projekte. Wir
stellen heute diesen Antrag,
({2})
damit die Koalition die Zukunft der Wissenschaftspakte
nicht vergisst,
({3})
allen voran die Fortsetzung und Stärkung des Hochschulpakts 2020. Wir haben einen fortdauernden Studierendenboom. In jedem Jahr seit 2007 war die Nachfrage
nach Studienplätzen höher als geplant und der Hochschulpakt stets unterdimensioniert. Das gilt übrigens
auch für die laufende zweite Paktphase. Wir wissen, dass
2012 und 2013 ungefähr 20 000 Studienanfänger mehr
als ursprünglich berechnet gekommen sind.
({4})
Heute hat die Kultusministerkonferenz ihre neue Studienanfängerprognose vorgelegt. Sie rechnet für 2014 und
2015 mit rund 62 000 Anfängern mehr als bisher prognostiziert und geplant.
({5})
Wenn der Bund jetzt seine Zusicherung, dass der
Hochschulpakt ein atmendes System ist,
({6})
ernst nimmt, dann muss der Pakt folglich um 1 Milliarde Euro aufgestockt werden. Also, halten Sie sich an
Ihr Versprechen eines atmenden Systems. Die Mehrbedarfe sind da. Die Hörsäle sind überfüllt, und sie werden
noch voller.
({7})
Wir sagen deswegen in unserem Antrag, dass Sie die
Finanzierungslücke im laufenden Hochschulpakt schließen müssen und dass Sie in diesem Jahr die Verhandlungen über die 2016 startende Paktphase führen und
abschließen müssen. Wir als Grüne wollen den Hochschulpakt stärken, damit Studierende und Hochschulen
wirklich Planungssicherheit haben. Das heißt, dass wir
dafür sorgen müssen, dass der Finanzdeckel automatisch
angepasst wird. Es bringt den Studis und den Wissenschaftlern nichts, wenn zwischen Bund und Ländern
ständig nachverhandelt werden muss. Wir wollen mehr
unbefristete Beschäftigungsmöglichkeiten für den wissenschaftlichen Nachwuchs schaffen. Auch dazu sind im
Hochschulpakt klarere Verabredungen zu treffen. Deshalb bedarf es einer Planbarkeit und Verlässlichkeit der
Mittel. Wir wollen auch, dass die Programmpauschale
nicht infrage gestellt wird, sondern bestehen bleibt, weil
der Bund über die DFG Mittel direkt in die Hochschulen
geben kann. So kann die Programmpauschale bei Bedarf
schrittweise erhöht werden.
All das sind Beiträge, um die mangelnde Grundfinanzierung der Hochschulen und die schlechten Perspektiven des wissenschaftlichen Nachwuchses ein Stück weit
zu verbessern. Anstatt weiter Eiertänze um das mögliche
Milliardenpaket aufzuführen, muss die Große Koalition
endlich das Notwendige für die junge Generation anpacken. Kommen Sie aus Ihrer Selbstblockade heraus. Gehen Sie ganz wichtige Projekte wie den Hochschulpakt
jetzt endlich an.
({8})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Frau Dr. Claudia
Lücking-Michel, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Wir führen heute Abend zu
später Stunde eine kurze Debatte zu einem Thema mit
sehr langfristigen Konsequenzen. Der Antrag greift
wichtige Fragen auf, und in manchen Punkten haben wir
auch ganz ähnliche Anliegen. Die richtigen Lösungen
müssen wir jedoch noch finden. Zur Bilanz gehört, nicht
nur zu sagen, was alles fehlt und dass das Glas nur halbvoll ist, sondern auch zu sagen, was alles passiert ist.
({0})
Denn seitdem die CDU/CSU regiert, wissen die Hochschulen und die Studierenden: Auf diese Bundesregierung ist Verlass. Die Ausgaben für Bildung und Forschung sind kontinuierlich erhöht worden,
({1})
und zwar - ich möchte das noch einmal festhalten - seit
2005 um 84,3 Prozent. Insgesamt hat der Bund für den
Hochschulpakt bisher allein 7 Milliarden Euro bereitgestellt.
({2})
Damit ist etwas passiert.
({3})
Das Deutsche Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung sagt nicht nur, dass es so viele Studierende gibt wie nie zuvor, sondern auch, dass die jungen
Menschen mit dem Lehrangebot, das sie an den Hochschulen vorfinden, und mit ihrer Studiensituation zufrieden sind. Dazu hat der Bund beigetragen. Sie haben es
selbst gesagt: Der Hochschulpakt hat zur steigenden
Zahl an Studienplätzen einen großen Beitrag geleistet.
Der Qualitätspakt Lehre hat die Qualität verbessert.
Darin, dass jetzt weitere Herausforderungen anstehen,
stimmen wir alle, die wir heute Abend hier sind, glaube
ich, überein. Weiterhin werden viel mehr junge Menschen studieren als je zuvor, und das ist gut so. Unsere
Aufgabe ist es natürlich, weiterhin ausreichende Studienkapazitäten zu garantieren. Deutsche Hochschulen
werden für internationale Studierende immer attraktiver.
Unser Wissenschaftssystem wird nur so leistungsfähig
und innovativ bleiben, wenn viele internationale Talente
zuwandern können und auch zuwandern.
({4})
Es stimmt: Wir müssen die Perspektiven verbessern, die
wir jungen Nachwuchswissenschaftlern bieten. Die
Hochschulen brauchen mehr Planungssicherheit, um in
diesem Bereich wirkliche Perspektiven aufzubauen.
Den Hochschulpakt fortzusetzen, ist - da stimme ich
zu - wirklich im Bundesinteresse. Das ist eine nationale
Aufgabe. Das, was wir bisher erreicht haben, dürfen wir
nicht gefährden. Wir müssen an die Erfolge anknüpfen,
sie für die Zukunft sichern und das System inhaltlich
fortentwickeln.
Es stimmt: Den Hochschulpakt wird es weiterhin nur
so oder in einem ähnlichen Zuschnitt geben, wenn die
vorgesehenen Haushaltsmittel auch wirklich vom Bund
im Bereich Bildung und Forschung ausgegeben werden
können.
({5})
Wenn von den 6 Milliarden Euro ein Großteil, womöglich auch noch unkonditioniert, ohne Zweckbindung an
die Länder verteilt wird,
({6})
sind sämtliche Vorschläge des Bundes zur Fortführung
aller Wissenschaftspakte zur Disposition gestellt.
({7})
Das kann nicht in unserem Sinne sein. Dieses Geld gehört nicht in die Haushaltslöcher der Länder.
({8})
Aber selbst damit haben wir nicht wirklich alle Probleme gelöst. Schließlich will ich deutlich machen:
Auch die Fortführung der Pakte bleibt ein Hilfskonstrukt, mit dem wir uns zwar hier und jetzt in die Lage
versetzen können, zu handeln, mit dem wir auch viel erreicht haben, aber bei dem wir jetzt nicht stehen bleiben
dürfen. Wir brauchen keine weiteren neuen kurzfristigen
Projektzyklen, sondern in dieser Legislaturperiode müssen wir tatsächlich gemeinsam an den großen Strukturen
arbeiten, innerhalb derer der Bund seine Verantwortung
für den Ausbau der Bildungsrepublik wahrnehmen soll.
Wer, wenn nicht jetzt wir, soll denn die Kraft aufbringen,
die Verfassung in diesem einen wichtigen Punkt zu ändern? Wenn der Bund nicht jetzt seine Mitzuständigkeit
für das Herzstück des Wissenschaftssystems, die Hochschulen, bekommt, wann dann?
Insofern bin ich dankbar, dass durch diesen Antrag
die Debatte über die weitere Ausgestaltung von Artikel
91 b des Grundgesetzes wieder eröffnet ist. Wir müssen
dieses Thema aus der letzten Legislaturperiode dringend
aufgreifen und weiterführen.
({9})
Denn ich bin mir sicher: Erst dann, wenn wir hier für Bewegung sorgen und Veränderungen herbeiführen, werden wir das Geld auf Dauer sehr viel besser im Sinne
nachhaltiger Hochschulförderung einsetzen können.
Vielen Dank.
({10})
Vielen Dank, Frau Kollegin Lücking-Michel. - Das
war Ihre erste Rede. Ganz herzlichen Glückwusch dazu!
({0})
Frau Dr. Rosemarie Hein redet jetzt für die Linke.
({1})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat
mit dem vorliegenden Antrag zwar kein neues, aber ein
wichtiges Thema aufgegriffen; da sind wir uns alle einig.
Denn seit Jahren ist die Hochschullandschaft in der Bundesrepublik unterfinanziert. Mit der immer stärkeren
Bindung der Hochschulfinanzierung an die Einwerbung
von Drittmitteln und an einen auf den Markt orientierten
Wettbewerb hat sich die Situation an den Hochschulen
nicht verbessert, sondern verschlechtert. Das gilt für die
Lehre, für die Bedingungen für Studierende und für das
wissenschaftliche Arbeiten. So hat sich die Betreuungsqualität an den Hochschulen in den letzten Jahren enorm
verschlechtert. Vor einigen Jahren betreute ein Professor
noch circa 40 Studierende, heute muss eine Professorin
für etwa 57 Studierende da sein.
Die Pakte, die die Bundesregierung in den letzten Jahren mit den Ländern für eine bessere Finanzierung der
Hochschulen abgeschlossen hat, konnten diesen Grundmangel nicht beseitigen. Der Pakt für die Exzellenzinitiative hat diesen Trend sogar verstärkt. Dabei wurden
zwar wenige Leuchttürme der Wissenschaft besser
finanziert. Aber die Hoffnung, durch mehr Wettbewerb
und Spitzenförderung auch in der Breite der Hochschullandschaft Verbesserungen zu erreichen, hat sich nicht
erfüllt.
({0})
Das hat die Linke stets kritisiert, und wir haben leider
Recht behalten.
({1})
Es ist nämlich wie im Sport: Man braucht eine solide
finanzierte Breite, damit auch Spitzenleistungen entstehen. Umgekehrt geht das eben nicht.
({2})
Darum sind wir dafür, die Mittel aus der Exzellenzinitiative für die Grundfinanzierung der Hochschulen zur Verfügung zu stellen.
Mit dem Hochschulpakt sollten nun all diese Defizite
behoben werden; alle drei Säulen - die Finanzierung der
Studienplätze, der Qualitätspakt Lehre und auch die Programmpauschalen - sind so ausgerichtet. Doch schon
längst ist klar, dass er in allen Bestandteilen hinter den
Erfordernissen zurückbleibt; mein Kollege Kai Gehring
hat die Zahlen vorhin genannt. Allein bei den Studienplätzen musste schon mehrmals aufgestockt werden. In
dem Haushalt, der uns vorliegt, ist die erhöhte Zahl noch
nicht einmal vermerkt. Wenn man den entsprechenden
FAZ-Artikel von heute gelesen hat,
({3})
der die Streitereien und Abwägungen innerhalb der Koalition ein bisschen auseinandernimmt, dann muss man
sich fragen: Was passiert hier? Wird die Kitafinanzierung gegen die Hochschulfinanzierung aufgewogen bzw.
ausgespielt?
({4})
Ich hielte das für fatal. Wir dürfen das nicht zulassen.
({5})
Indes sinnen nämlich viele Bundesländer angesichts
von Schuldenbremse und Haushaltsnot trotz dieses Paktes auf Streichungsmöglichkeiten im Hochschulbereich.
So sollen in Sachsen-Anhalt in den Jahren von 2015 bis
2019 jeweils 5 Millionen Euro gespart werden. Danach
soll erneut verhandelt werden; dann wird es noch
schlimmer. Der Rektor der Martin-Luther-Universität in
Halle konstatierte ganz nüchtern: Das kostet Studienplätze.
Die Hochschulrektorenkonferenz geht davon aus,
dass wir längerfristig mit steigenden oder gleichbleibend
hohen Studierendenzahlen zu rechnen haben. Aber der
Hochschulpakt kann nicht zum Dauerinstrument werden. Er muss immer neu ausgehandelt werden. Das gibt
doch keine Sicherheit für die Finanzierung.
({6})
Es besteht also akuter Handlungsbedarf. Ich bin sehr
dafür, die Länder nicht aus ihrer Verantwortung zu entlassen.
({7})
Darum ist es höchste Zeit, mit den Ländern über die
Fortsetzung des Hochschulpaktes zu verhandeln. - Sie
müssen mir öfter aufmerksam zuhören; ich sage das öfter.
({8})
Der Antrag der Grünen greift nun wichtige Punkte
auf, die wir unterstützen können. Es muss allerdings
auch Wert darauf gelegt werden, dass zur Finanzierung
von Studienplätzen auch die Absicherung der sozialen Infrastruktur - des studentischen Wohnens beispielsweise
und der Studienfinanzierung - gehört. Man kann sich
auch nicht nur auf die Studienanfängerinnen und -anfänger konzentrieren, sondern man muss es bis zum Master
durchdenken. Ich denke, da bleibt der Antrag der Grünen
deutlich zu zahm.
Ich glaube, dass der Ansatz, das Kooperationsverbot
aufzuheben, auch mit diesem Antrag bzw. mit diesem
Fakt neue Nahrung bekommt.
({9})
Ich hoffe allerdings sehr, dass die Grünen sich nicht damit zufrieden geben, es - wir haben die Avancen eben
gehört - nur bei den Hochschulen aufzuheben.
({10})
Wir meinen: Das Kooperationsverbot muss im gesamten
Bildungsbereich aufgehoben werden, damit gemeinsam
finanziert werden kann, was gemeinsam verantwortet
wird.
Vielen Dank.
({11})
Vielen Dank. - Nächster Redner in der Debatte ist
Oliver Kaczmarek, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Vorab: Der Hochschulpakt
ist ein gutes Beispiel für die Zusammenarbeit von Bund
und Ländern in der Bildungspolitik. Ich bin weit davon
entfernt, zu behaupten, das sei alles perfekt und es habe
keine zähen Verhandlungen gegeben; aber insgesamt
- das muss man doch festhalten - ist der Hochschulpakt
der Versuch einer Antwort auf gestiegene Studienanfängerzahlen; es geht um die Entwicklung von mehr Qualität an den Hochschulen und um eine gemeinsame Übernahme der Verantwortung durch Bund und Länder.
Diejenigen, die behauptet haben, das gehe gar nicht,
und die auch heute anklingen lassen, Bund und Länder
könnten sich da gar nicht verständigen, sind widerlegt.
Der Hochschulpakt muss fortgesetzt werden, und zu diesem politischen Ziel hat sich die Koalition auch eindeutig bekannt.
({0})
Die hohe Studierneigung - das ist hier schon richtig
festgestellt worden - bleibt ja als Herausforderung bestehen. Es ist erfreulich, dass sich so viele junge Menschen
wie noch nie für ein Hochschulstudium entschieden haben.
({1})
Viele von ihnen - das ist auch schon gesagt worden kommen aus anderen Ländern hierher, um zu studieren.
Das ist ein Erfolg, und das ist eine bildungspolitische
Konstante, mit der wir uns beschäftigen müssen.
Die Koalition hat darauf auch reagiert. Natürlich hätte
ich mir persönlich auch noch mehr vorstellen können;
aber wir stellen in dieser Wahlperiode 6 plus 3 Milliarden Euro zusätzlich für Bildung und Forschung zur Verfügung.
({2})
Noch in diesem Jahr werden 500 Millionen Euro fließen.
Wir wissen noch nicht genau, durch welchen Kanal; aber
sie werden fließen. Das ist ein ganz wichtiges Zeichen
dafür, dass Bildung und Forschung auch in den nächsten
vier Jahren Priorität haben.
({3})
Ich will an dieser Stelle noch sagen: Dieses Geld gehört nicht irgendwelchen staatlichen Ebenen, die darüber
streiten müssen, dieses Geld gehört der Bildung. Ich bin
der Meinung, dass keine staatliche Ebene sich über eine
andere erheben sollte nach dem Motto „Nur wir wissen,
wie man mit diesem Geld umgehen kann“. Nein, Bund
und Länder müssen sich darauf einigen, wie dieses Geld
in die Bildungseinrichtungen kommt.
({4})
Ich vertraue dem Bund und den Ländern, dass es auch
dort ankommt, so wie wir es uns im Koalitionsvertrag
vorgenommen haben.
({5})
Wir verzeichnen einerseits so viele Studienanfänger
wie noch nie, andererseits bleibt die Tür zur Hochschule
für viele junge Menschen immer noch verschlossen. Von
100 Kindern aus Akademikerfamilien - also wo beide
Eltern einen Hochschulabschluss haben - erhalten 77 die
Hochschulzugangsberechtigung. Von 100 Kindern aus
Nichtakademikerfamilien sind es nur 23. Das zeigt doch
eines: Die Debatte über Überakademisierung oder Akademisierungswahn spiegelt nicht die soziale Wirklichkeit wider. Die Zugänge zur Hochschule müssen weiterhin für alle offen sein und einigen erst noch eröffnet
werden. Darin dürfen wir nicht nachlassen, und da dürfen wir auch nichts gegeneinander ausspielen.
({6})
Berufliche und allgemeine - in diesem Fall akademische - Bildung dürfen bildungspolitisch nicht als Gegensätze begriffen werden. Im Gegenteil, zu Recht betonen
wir die Notwendigkeit der Stabilisierung der Wertschätzung der beruflichen Bildung. Arbeitsfelder differenzieren sich aber immer weiter aus. Unternehmen fragen
heute auch immer mehr nach einem Mix aus betrieblicher Praxis und akademischer Weiterbildung oder akademischer Ausbildung. Junge Menschen entscheiden
sich auch deshalb immer öfter für Ausbildung und Studium, manchmal nacheinander, manchmal auch parallel.
Das erreicht im Übrigen auch junge Menschen aus den
sogenannten bildungsfernen Schichten. Die Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks liefert dazu interessante Zahlen. Gerade im dualen Studium sind viele
junge Menschen aus den sogenannten bildungsfernen
Schichten. Deshalb müssen wir Lösungen für beides finden. Wir dürfen nicht akademische und berufliche Bildung als Gegensätze darstellen, wie das öffentlich teilweise geschieht, sondern wir müssen sie miteinander
kombinieren, miteinander verschränken. Deshalb ist es
richtig - die Koalition hat das vereinbart -, dass wir den
Zugang weiterer beruflich Qualifizierter zu einem Verhandlungskriterium bei den Verhandlungen über den
Hochschulpakt machen werden. Das ist eine Zukunftsaufgabe, und das muss im Hochschulpakt auch seinen
Niederschlag finden.
({7})
Es ist auch richtig - das wurde im Antrag auch angesprochen -, dass der Hochschulpakt natürlich zügig weiterentwickelt und verhandelt werden muss, damit die
Hochschulen Planungssicherheit behalten. Einen Punkt
aus dem Antrag, bei dem wir nicht einer Meinung sind
- es stehen sicherlich auch Dinge drin, bei denen wir einer Meinung sind -, will ich aber noch herausgreifen. Es
geht um die Frage: Wer übernimmt eigentlich die Verantwortung für einen erfolgreichen Studienabschluss,
und wie kann man das politisch mitsteuern?
Es ist richtig: Wir wollen die Autonomie von Hochschulen. Sie sollen über ihr wissenschaftliches Profil und
ihre regionale Einbindung entscheiden, und sie sollen
auch die Mittelverausgabung selbst steuern können. Zur
Autonomie gehören aber eben auch Rechenschaftslegung, Verantwortung und die Transparenz des Wissenschaftssystems.
({8})
Deswegen möchten wir eben nicht nur betrachten,
wie viel Geld man oben hineinsteckt, sondern es muss
auch Outputvariablen geben, die über den Studienerfolg
bzw. den erfolgreichen Studienabschluss Auskunft geben. Darüber, wie man sie bemisst - Zielvereinbarungen,
Abschlussboni usw. -, kann man länger diskutieren.
Deshalb haben wir in der Koalition vereinbart und im
Koalitionsvertrag fixiert, dass wir Angebote fördern
wollen, die mehr Studierende qualitätsgesichert zu einem erfolgreichen Abschluss führen. Das halte ich auch
für richtig;
({9})
denn zur Qualität einer Hochschule gehört eben untrennbar, dass sie möglichst viele Studierende zum Abschluss
führt.
({10})
Deswegen gehört das auch in den Hochschulpakt.
Besonders merkwürdig fand ich die Unterstellung,
Abschlussboni wären mit Fehlanreizen verbunden, die
dann auch die Qualität senken würden.
({11})
Ich bin hier anderer Meinung; denn wir müssen doch
eher umgekehrt fragen: Welche Anreize liefert das jetzige Finanzierungssystem? Das jetzige System liefert
den Anreiz, viele Studienanfänger aufzunehmen. Wir haben aber keine formal nachprüfbaren Kriterien für Studienabbrüche und für Studienabschlüsse.
Gerade diese Punkte sind für eine gemeinsame Vereinbarung und übrigens auch für die demokratische Legitimation in Bezug auf den Hochschulpakt aber wichtig. Wir wollen wissen, wie viele Studierende das
Studium auch abgeschlossen haben. Das wollen wir
auch mit in die Verhandlungen einbeziehen. Darüber, in
welcher Form das geschehen wird, muss man reden, aber
wir müssen die Anreize an dieser Stelle eben auch richtig setzen, und dabei muss es auch um Outputvariablen
gehen.
({12})
Der Zeitplan der GWK ist ambitioniert.
Herr Kollege Kaczmarek, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Gehring?
Gerne, ja.
Ich wollte einfach einmal fragen, ob Sie inzwischen
ein wirklich schlüssiges Modell für diese Absolventenboni haben und wie das genau aussieht. Wir haben am
Mittwoch im Ausschuss ja gelernt, dass die Hochschulstatistik noch nicht einmal eine klare Aussage darüber
treffen kann, wie viele tatsächliche Studienabbrecherinnen und -abbrecher wir in der Bundesrepublik Deutschland haben. Sie müssen erst einmal die statistischen
Grundlagen dafür schaffen, bevor Sie die Finanzierungssystematik des Hochschulpaktes komplett auf den Kopf
stellen. Das leuchtet mir überhaupt nicht ein. Es gibt
nämlich Fachrichtungswechsler, es gibt Studienortwechsler, und es gibt reale Abbrecher.
Wie wollen Sie unter diesen Voraussetzungen die Absolventenprämie bzw. die Absolventenboni, die Sie immer fordern und wofür ich noch kein überzeugendes
Konzept gesehen habe, in den Hochschulpakt implementieren? Hier müssen Sie als Regierungsfraktion auch einmal Antworten liefern.
({0})
Ich will gerne darauf antworten. Ich habe ja gerade
schon gesagt: Wie man das bemisst, wird man sehen.
Der Abschlussbonus ist ein Modell, das genannt wird;
Zielvereinbarungen und eine vernünftige Dokumentation von Absolventenzahlen wären sicherlich ein anderes.
Ich wende mich nur dagegen, dass Sie sagen, dass Sie
das überhaupt nicht in Augenschein nehmen - das
schreiben Sie ja in Ihrem Antrag -, weil das angeblich zu
einem Qualitätsnachlass führt. Nein, im Gegenteil: Qualität in einer Hochschule bedeutet auch, möglichst viele
der Studienanfänger zu einem geordneten und qualitätsgesicherten Abschluss zu führen. Das haben wir in den
Koalitionsvertrag geschrieben, und das wollen wir auch
realisieren.
({0})
Die GWK wird noch in diesem Jahr Vorschläge für
die Weiterentwicklung des Hochschulpaktes vorlegen.
Das wird dann auch Grundlage für unsere weiteren Gespräche sein, und ich bin schon sehr gespannt darauf.
Es ist in dem Antrag richtigerweise aber auch angesprochen worden, dass die Phase des Auslaufens der
Pakte auch zur Weiterentwicklung anregt. Wir haben in
der Koalition vereinbart, über die Zukunft des Wissenschaftssystems zu debattieren und sie zu justieren. Wir
haben fest vor, dass der Bund stärker Verantwortung
übernimmt, indem er in die Grundfinanzierung der
Hochschulen mit einsteigt. In diesem Sinn wollen wir
die Pakte weiterentwickeln.
Es geht aber um mehr als nur um Finanzfragen. Es
geht um die Gesamtarchitektur des Wissenschaftssystems: gemeinsame Verantwortung, Arbeitsbedingungen,
Karrierewege. All das wird diese Debatte bestimmen.
Zum Schluss. Ich würde sagen, Sie sollten den Hochschulpakt nicht schlechtreden. Wir sollten genau hinsehen, welche Ziele wir damit verbinden. Wir sollten Zugänge zum Studium erhalten und neue eröffnen. Wir
müssen das Wissenschaftssystem in der Mitte der Gesellschaft entwickeln. Das sind wirklich große Herausforderungen für die nächsten dreieinhalb Jahre.
Herzlichen Dank.
({1})
Vielen Dank. - Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt
das Wort Dr. Philipp Lengsfeld.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, lieber Kai Gehring, Ihr Antrag behandelt ein wichtiges Thema - das ist heute Abend
schon mehrfach gesagt worden -: die auskömmliche Finanzierung unserer Hochschulen. Ich war positiv überrascht - das sage ich -; denn ich hatte eigentlich erwartet, dass Sie gemäß Ihrem Wahlprogramm einfach nur
eine Aufstockung um 1 Milliarde Euro pro Jahr für den
Hochschulpakt fordern. Ihr Antrag, jedenfalls so wie ich
ihn lese, ist da deutlich moderater.
({0})
Ich hoffe, dass Sie damit endlich das Signal des 22. September 2013 akzeptiert haben.
({1})
Die Wählerinnen und Wähler haben eine klare Richtung
vorgegeben. Die Union hat die Wahl gewonnen, und
zwar mit der Forderung nach solidem Wirtschaften ohne
Steuererhöhungen, verbunden mit dem klaren Bekenntnis, einen Schwerpunkt auf Bildung, Forschung und
Innovation zu legen.
({2})
Man kann diesem Koalitionsvertrag vielleicht das
eine oder andere vorwerfen, aber sicherlich nicht, dass
wir einen zu geringen Fokus auf den Bildungsstandort
Deutschland legen. Hier können Sie uns unterstützen,
liebe Bildungspolitiker von Bündnis 90/Die Grünen;
denn wir haben, zumindest was die Fortsetzung des
Hochschulpakts angeht, gar keinen Dissens; das ist dargestellt worden. Hier droht von ganz anderer Seite Ungemach.
({3})
Es gibt offenbar die Vorstellung mancher Länder, dass
die 6 Milliarden Euro für Kita, Schule und Hochschule,
die im Koalitionsvertrag vereinbart sind, einfach blanko
überwiesen werden und der Bund weiter keine Rolle
spielen soll. Das halten wir für falsch.
({4})
Zu den Details Ihres Antrags ist hier schon viel Wichtiges und viel Richtiges gesagt worden. Ich möchte über
zwei grundsätzliche Dinge reden. Eines dieser Dinge ist
noch gar nicht angesprochen worden. Ich halte zwei
Grundprämissen Ihrer Argumentationslinie für nicht
ganz korrekt.
Die erste Grundprämisse ist: Je mehr Studienanfänger, desto besser. Aber hat Deutschland eine so geringe
Jugendarbeitslosigkeit und haben wir eine so gute Position in Europa, weil wir einfach viel mehr Studienanfänger haben als unsere europäischen Nachbarn? Nein.
({5})
- Nein, so einfach ist es nicht. Wir sind so gut aufgestellt, weil - das ist auch gesagt worden - unsere Fachkräfteausbildung auf zwei Säulen ruht. Wir müssen eben
dafür sorgen, dass beide Säulen gestärkt werden und erfolgreich sind. Hier darf es keine Einseitigkeit geben.
({6})
Wir müssen dafür sorgen, dass es Chancengerechtigkeit gibt. Aber - auch das sage ich ganz deutlich - wir
müssen auch dafür sorgen, dass möglichst viele Schülerinnen und Schüler den Ausbildungsweg einschlagen,
der für ihre Begabung und für die aktuellen Verhältnisse
der beste ist. Dafür brauchen wir an unseren Schulen ein
Leistungs- und Differenzierungssystem. Deshalb verteidigt die Union das Gymnasium. Das ist eine ganz klare
Politik, die wir da fahren.
({7})
Die zweite Grundprämisse Ihres Antrags impliziert
- da will ich hier ein ganz heißes Thema ansprechen -,
dass es gerecht sei, dass die Steuerzahler die Gesamtkosten für das Studium aller Studierenden tragen. Ich persönlich halte dies für falsch. Ja, natürlich: Sie haben den
Kampf um Studiengebühren politisch gewonnen; das ist
überhaupt keine Frage.
({8})
Aber eben nur politisch, nicht fachlich. Fachlich haben
Sie unrecht. Die Daten haben gezeigt, dass Studiengebühren eben keinen relevanten negativen Einfluss haben,
weder auf die Studienanfängerquote noch auf die soziale
Zusammensetzung der Studierendenschaft. Das sind die
Daten.
({9})
Sie fordern eine Aufstockung des Hochschulpakts;
dafür haben Sie schon viel Unterstützung erfahren. Im
Wahlprogramm hatten Sie dafür 1 Milliarde Euro pro
Jahr mehr veranschlagt; das haben Sie in Ihrer Rede selber gesagt, Herr Gehring. Darf ich daran erinnern, wie
viel Geld im Jahr 2008, also der Hochzeit der Studiengebühren, jährlich in Deutschland über Studiengebühren
eingenommen wurde? Es waren 1,2 Milliarden Euro.
({10})
Sie wollen also die Probleme lösen, die Sie durch die
vehemente Diffamierung von Studiengebühren ein Stück
weit selbst mit geschaffen haben. So sieht es aus. So einfach ist es eben nicht.
({11})
- Das ist ein ganz klarer Vergleich von zwei Summen:
1 Milliarde Euro Einnahmen, die angeblich fehlen, und
1,2 Milliarden Euro, die wir eingenommen hatten.
({12})
So einfach ist es nicht. Wir müssen darüber reden, wie
wir die von Ihnen formulierten Ziele, die ja nicht völlig
falsch sind, gemäß unserem Wählerauftrag erreichen
können, und diese Diskussion läuft bereits.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({13})
Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/1337 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Fortentwicklung des
Meldewesens
Drucksache 18/1284
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Interfraktionell sind für die Aussprache 25 Minuten
vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so
beschlossen.
Erster Redner in der Debatte ist Dr. André
Berghegger, CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute
zum ersten Mal den Gesetzentwurf zur Änderung des
Gesetzes zur Fortentwicklung des Meldewesens, ein zugegebenermaßen sehr technisch klingender Titel. Aber
das Thema hat in der Vergangenheit zu lebhaften öffentlichen Diskussionen geführt.
In der letzten Legislaturperiode stand nämlich die
grundlegende Reform des Meldewesens an. Grund hierfür war, dass im Rahmen der Föderalismusreform I die
Zuständigkeit für das Meldewesen von den Ländern auf
den Bund gewechselt ist. Ein inhaltlicher Schwerpunkt
der damaligen Debatte war sicherlich die Fragestellung:
Unter welchen Voraussetzungen dürfen Meldeämter Daten an gewerbliche Anbieter, also an Adresshändler und
andere Firmen, weitergeben?
Der Bundestag hat nach Abschluss des Vermittlungsverfahrens aus meiner Sicht ein modernes Meldegesetz
beschlossen. Datenschutz, Verbraucherschutz und das
Grundrecht auf informelle Selbstbestimmung waren
Themen, die in der Debatte eine Rolle spielten. Ein inhaltlicher Schwerpunkt wurde auch auf die Einbeziehung der Betroffenen gelegt. Die Bandbreite reichte von
der Zustimmungslösung über die Widerspruchslösung
bis im Wesentlichen wieder hin zur Zustimmungslösung
nach dem Vermittlungsausschuss. Wichtig ist, dass vor
bestimmten Datenübermittlungen das Einverständnis der
Bürger erforderlich ist.
Aus meiner Sicht zeigt diese Diskussion erneut: Für
die öffentliche Hand ist der sensible Umgang mit Daten
äußerst wichtig. Warum entstand eigentlich im Verfahren
erst vor der Anrufung des Vermittlungsausschusses eine
lebhafte öffentliche Diskussion?
({0})
Das Gesetz war lange vorbereitet. Jeder - auch jede
Fraktion - hätte alle Bedenken auch öffentlich vortragen
können. Aber es geschah relativ wenig. Vielleicht war es
die Zeit vor Bekanntwerden der Überwachungspraktiken
der NSA. Vielleicht war die Öffentlichkeit noch nicht so
sensibilisiert wie heute.
Aber der eigentliche Auslöser war ein ganz anderer,
nämlich der Zeitpunkt der Debatte. Zum Zeitpunkt der
Debatte fand die Fußballeuropameisterschaft statt, mit
dem Halbfinale Deutschland gegen Italien, das Deutschland - aus meiner Sicht leider 1 : 2 - verloren hat, und
die Ränge, einschließlich der Ränge der Presse, waren
äußerst dürftig besetzt. Teile der Presse monierten die
vermeintlich schnelle Beratung mit wenigen Mitgliedern
des Bundestages zu dieser späten Stunde. Das Verfahren
wurde etwas in Zweifel gezogen.
Deswegen, denke ich, besteht heute die gute Möglichkeit, die Bedeutung dieses modernen Melderechts auf
der einen Seite und den sensiblen Umgang mit Daten auf
der anderen Seite zu betonen und herauszustellen. Wir
werden verschiedene redaktionelle Änderungen vornehmen und Anregungen aus dem Bundesrat aufnehmen.
Insbesondere wird eine einheitliche Geltung des Melderechts im gesamten Bundesgebiet ermöglicht werden.
Vor allem aber soll die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur steuerlichen Gleichstellung von Ehe
und Lebenspartnerschaft im Einkommensteuerrecht
auch im Melderecht umgesetzt werden.
Details sind hier noch offen. Aus meiner Sicht müssen wir jedoch noch einen Aspekt beachten, und zwar
den, dass keine unverhältnismäßigen Schwierigkeiten
für Beschäftigte bei Kirchen entstehen, die eine Lebenspartnerschaft führen oder deren Ehe geschieden
worden ist. Der Prälat im Kommissariat der deutschen
Bischöfe hat schriftlich mitgeteilt, dass Meldedaten, die
der Kirche von den Meldebehörden übermittelt werden,
nicht für arbeitsrechtliche Zwecke genutzt werden.
({1})
Aus meiner Sicht ist das ein wichtiges Signal für die Arbeitnehmer. Dennoch werden wir vor der abschließenden Lesung Prälat Dr. Jüsten ein Berichterstattergespräch anbieten; da sind die Kollegin Frau Fograscher
und ich einer Meinung. Wir werden nach einem gemeinsamen Termin Ausschau halten, um über diese Thematik
zu debattieren.
({2})
Aber letztendlich sage ich deutlich: Die Entscheidung
des Bundesverfassungsgerichts zur Gleichbehandlung
von Ehe und Lebenspartnerschaft ist eindeutig auch im
Melderecht umzusetzen. Sonst läuft diese Entscheidung
ins Leere.
Bleibt also aus meiner Sicht nur zu hoffen, dass die
zweite und dritte Lesung nicht wieder zur Zeit eines
„Straßenfegers“ bei der anstehenden Fußballweltmeisterschaft durchgeführt wird, um eine ordnungsgemäße
Debatte zu führen. Aber ich kann Sie beruhigen: Das
erste Spiel der deutschen Mannschaft findet erst zehn
Tage später statt.
Vielen Dank für das freundliche Zuhören.
({3})
Vielen Dank. - Für die Fraktion Die Linke hat jetzt
das Wort Frank Tempel.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Zu später Stunde sitzen wir wieder; aber
ansonsten ist zu Ihrer Ablaufschilderung einiges hinzuzufügen. Dass die Linke traditionell nicht mit jeder
Regelung im Meldewesen einverstanden ist und hier erhebliche Gefahren für den verantwortungsvollen Datenschutz sieht, ist allgemein bekannt. Der vorliegende Gesetzentwurf macht den Weg für das vor zwei Jahren
verabschiedete Meldegesetz frei. Das Meldegesetz soll,
wie es im Entwurf heißt, aktualisiert und optimiert werden, „damit eine reibungslose Implementierung gewährleistet ist“. Das klingt gut, nett, formal und wie schon
beim letzten Mal völlig unproblematisch.
Die lange und heftige öffentliche Debatte hatte aber
einen guten Grund; denn die schlimmsten Entgleisungen
des Ausgangsgesetzes mussten verhindert werden. Ich
möchte Sie daran erinnern, dass der Bürger nicht mehr
gefragt werden sollte, wann seine Daten weitergegeben
werden. Er sollte nach der alten Regelung selbst aktiv
werden und Widerspruch einlegen, um die Weitergabe
seiner persönlichen Daten zu verhindern. Dem wurde
deutlich widersprochen. Ich möchte auch daran erinnern:
Erst kurz zuvor, zwei Tage vor der Sitzung des Innenausschusses, kam es durch einen Änderungsantrag zu dieser
Änderung.
({0})
Deswegen gab es eine verspätete Diskussion darüber.
Das hatte nichts mit irgendeinem Fußballspiel zu tun,
sondern das war ein ganz gezielter strategischer Schachzug Ihrer Fraktion.
({1})
Die Widerspruchslösung ist nun durch eine Einwilligungsregelung ersetzt. Das ist erst einmal in Ordnung,
wenn auch nicht ganz unproblematisch; denn die Einwilligung muss nun bei dem betreffenden Unternehmen
selbst hinterlegt werden. Das heißt auf Deutsch: Das Unternehmen muss bei mir als Bürger anrufen, muss sich
die Einwilligung holen und diese dann den Meldestellen
vorlegen. Ich möchte die Unternehmen nicht unter Generalverdacht stellen. Aber ich weiß nicht, ob jede Einwilligung, die bei einer Meldestelle vorgelegt wird, tatsächlich echt ist. Deswegen wäre es wesentlich
sinnvoller, dass die Meldebehörde sich selbst darum
kümmert, ob eine Einwilligung vorliegt, also mich als
Bürger fragt und das nicht über Dritte, über Unternehmen, macht. Dann ist diese Regelung für den Bürger
wirklich sauber nachvollziehbar.
({2})
Für verzichtbar halten wir aus verschiedenen Gründen weiterhin die Wiedereinführung der Hotelmeldepflicht und die Vermieterbescheinigung beim
Wohnungseinzug, aber auch die grundsätzliche Datenübermittlung an Religionsgemeinschaften.
Es ist nicht meine Art, alles pauschal zu kritisieren.
Der Gesetzentwurf enthält auch vernünftige Regelungen. Neben einigen redaktionellen Änderungen - das haben Sie schon angesprochen - gibt es zum Beispiel in
§ 49 eine Ergänzung, die aus meiner Sicht sehr sinnvoll
ist. Die Erweiterung der Protokollierungspflicht, die sich
auf alle automatisierten Melderegisterauskünfte bezieht,
ist eine sehr sinnvolle Regelung, die das Recht des von
der Datenerfassung Betroffenen auf Selbstauskunft
durchaus stärkt. Das begrüßen wir, und das sagen wir
auch so.
({3})
Es gibt aber auch - das haben Sie richtigerweise angesprochen; da es noch die zweite und dritte Lesung
gibt, kann man noch etwas machen - ein Problem, dessen Lösung uns der Bundesrat sozusagen als Hausaufgabe aufgegeben hat. Das ist § 42. Er sieht nämlich vor,
dass der Familienstand bei Kirchensteuerpflichtigen,
zum Beispiel ob sie geschieden sind oder in einer Lebenspartnerschaft leben, übermittelt werden muss.
Darauf sollte zumindest bei Beschäftigten von Religionsgemeinschaften verzichtet werden. Es geht hier
also um eine bereichsspezifische Übermittlungssperre.
Warum? Die Übermittlung dieser Daten kann schutzwürdigen Interessen des betroffenen Personenkreises zuwiderlaufen und ihnen erheblichen Schaden zufügen,
zum Beispiel eine Kündigung. Das ist ein guter Hinweis.
Wenn die Mehrheit hier im Haus schon nicht unserem
Vorschlag folgt, generell keine Datenübermittlung an
Religionsgemeinschaften zu erlauben - es finden sich
nun einmal Unterschiede in unseren Positionen -, dann
kann man wenigstens in diesem Punkt eine Einigung erzielen. Auch daran werden wir mitarbeiten.
Die Schadensbegrenzung im Hinblick auf den alten
Entwurf ist also noch nicht abgeschlossen. Es sind noch
genug Hausaufgaben zu machen. Dazu wird sich die
Linke in den Ausschusssitzungen entsprechend einbringen. Wir bitten nur darum, dass Änderungsanträge nicht
wieder erst zwei Tage vor der Innenausschusssitzung
vorgelegt werden.
({4})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Gabriele
Fograscher, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Bundesmeldegesetz, das in der vergangenen Legislaturperiode beschlossen wurde, ist ein
Beschluss der Föderalismuskommission I umgesetzt
worden. Damit wurde die alleinige Gesetzgebungskompetenz für das Meldewesen auf den Bund übertragen.
Bisher existieren in den Bundesländern noch 16 unterschiedliche Formen von Melderegistern, die unterschiedliche Standards haben und untereinander auch
nicht vernetzt sind. Den Zeitraum bis zum Inkrafttreten
am 1. Mai 2015 brauchen die Meldebehörden zur Umsetzung und Umstellung auf das neue System. Dann
wird das Meldewesen den Ansprüchen an eine moderne
Verwaltung gerecht werden.
Das Melderecht verpflichtet jeden Bürger und jede
Bürgerin, bestimmte Daten an die Meldebehörden zu
übermitteln. Dazu gehören der Familienname, frühere
Namen, Vornamen, Geburtsdatum, Geburtsort, Staatsangehörigkeit, Adresse, Familienstand und andere Daten.
Die Bürgerinnen und Bürger müssen darum sicher sein,
dass ihre Daten bei den Meldebehörden gut und sicher
aufgehoben sind und nicht unbegründet an Dritte weitergegeben, dort gespeichert, gegebenenfalls weiterverwendet oder zu Werbezwecken missbraucht werden. Es
sollte daher der Regelfall sein, dass es für die Weitergabe
von Daten der Einwilligung des oder der Betroffenen bedarf.
Viele von Ihnen können sich noch daran erinnern,
dass die Verabschiedung des Bundesmeldegesetzes 2012
hohe Wellen geschlagen hat; denn kurzfristig - es
stimmt: zwei Tage vor der Innenausschusssitzung - hat
die damalige schwarz-gelbe Koalition einen Änderungsantrag eingebracht und mit ihrer Mehrheit beschlossen.
Dieser Änderungsantrag hatte zum Inhalt, dass die Weitergabe der Daten zum Regelfall geworden wäre; nur
wenn der Bürger oder die Bürgerin ausdrücklich bei der
Behörde widerspricht, sollte das unterbleiben. Diese
deutliche Verschlechterung des Datenschutzniveaus haben wir als SPD nicht mitgetragen, und nach einer öffentlichen Protestwelle - es wurden sowohl der Inhalt
des Gesetzes als auch das Zustandekommen des Gesetzes kritisiert - wurde die ursprüngliche Regelung mithilfe des Bundesrates im Vermittlungsausschuss wieder
durchgesetzt. Jetzt ist die Weitergabe von Daten an
strenge Kriterien gebunden.
Das Gesetz zur Fortentwicklung des Meldewesens
muss noch vor Inkrafttreten in Einzelfragen aktualisiert
werden. So sollen unter anderem Ermächtigungsgrundlagen für notwendige Folgeregelungen in Bund und Ländern früher in Kraft treten. Zudem müssen noch weitere
Richtigstellungen vollzogen werden, sodass sich Meldepflichten in anderen Gesetzen nicht mehr aus den Landesmeldegesetzen oder dem Melderechtsrahmengesetz
herleiten, sondern aus dem Bundesmeldegesetz.
Das Bundesverfassungsgericht entschied am 7. Mai
2013, dass die Ungleichbehandlung von Ehen und eingetragenen Lebenspartnerschaften verfassungswidrig ist.
Die entsprechenden Vorschriften des Einkommensteuergesetzes verstoßen gegen den allgemeinen Gleichheitssatz. Dieses Urteil hat auch Auswirkungen auf das Melderecht. So muss zum Beispiel bei der Bildung und
Anwendung der elektronischen Steuerabzugsmerkmale
das Datum der Begründung oder Auflösung einer Ehe
übermittelt werden. Aufgrund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts muss nun auch das Datum der Begründung oder Auflösung einer Lebenspartnerschaft
übermittelt werden. Mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf sollen diese notwendigen Änderungen nachvollzogen werden.
Der Bundesrat spricht in seiner Stellungnahme ein
Problem an - darauf ist schon hingewiesen worden -,
das wir in den anstehenden Ausschussberatungen lösen
müssen. § 42 Bundesmeldegesetz regelt die Datenübermittlung an öffentlich-rechtliche Religionsgemeinschaften, zum Beispiel zur Erhebung der Kirchensteuer. Auch
hier wird das Urteil des Bundesverfassungsgerichts
nachvollzogen, also die Vorschrift wird um die eingetragenen Lebenspartnerschaften ergänzt. Da die Meldebehörden auch den Familienstand an die öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaften übermitteln, können die
Kirchen so erfahren, ob ihre Mitarbeiter verheiratet oder
geschieden sind oder in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft leben. Da aber zum Beispiel die katholische
Kirche die eingetragene Lebenspartnerschaft als „Verstoß gegen Loyalitätsobliegenheiten“ ablehnt, könnte die
Übermittlung dieser Daten negative Auswirkungen für
die Kirchenmitarbeiter bis hin zur Kündigung haben.
Hier wollen wir eine Lösung finden. Der Bundesrat
schlägt die Einführung einer Widerspruchsmöglichkeit
für die betroffenen Personen vor. Diesen Vorschlag halte
ich nicht für zielführend. In einem aktuellen Schreiben
des Kommissariats der deutschen Bischöfe wird eine
solche Regelung auch abgelehnt.
Wir müssen versuchen, eine andere Lösung zu finden,
und die kann es nur zusammen mit der katholischen Kirche geben. In einem Schreiben vom 6. Mai dieses Jahres
vom Kommissariat der deutschen Bischöfe wird klargestellt - ich zitiere -:
Wir möchten in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass die Meldedaten, die der Kirche von
den Meldebehörden übermittelt werden, nicht für
arbeitsrechtliche Zwecke genutzt werden.
Und weiter:
Ein gegenseitiger Abgleich zwischen Beschäftigtendaten, die vom kirchlichen Arbeitgeber erhoben
werden, und den Meldedaten, die die Kirchen von
den staatlichen Meldebehörden erhalten, findet
nicht statt.
({0})
Wir werden das Gespräch mit der Opposition suchen.
Ich hoffe, dass wir hier zu einem guten Ergebnis kommen werden.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({1})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist der Kollege
Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Noch
ein Wort zur Legendenbildung des Kollegen von der
CDU. Das Problem war in der Tat - Sie waren damals
noch nicht dabei - der kurzfristige Antrag der schwarzgelben Koalition, dem wir im Ausschuss widersprochen
haben. Es spricht für die Beratungsintensität in Ihrer
Fraktion und in der ausgeschiedenen Fraktion der FDP,
dass die Koalition hinterher den Bundesrat gebeten hat,
man möge das Gesetz, das man hier mit Koalitionsmehrheit - wahrscheinlich irgendwie mit Überzeugung durchgewunken hat, doch bitte in den Vermittlungsausschuss schicken, um das Schlimmste zu korrigieren. Das
haben wir gemacht. Da hat Rot-Grün gerne geholfen.
Aber für die Zukunft sollten wir uns merken: Nicht mit
Tischvorlagen arbeiten und sorgfältige Beratungen
durchführen, das hilft manchmal weiter.
({0})
Sorgfältige Beratungen rate ich uns auch bei dem
Punkt, den alle Kollegen jetzt angesprochen haben: Wie
gehen wir mit der Übermittlung von Familienstandsdaten an Religionsgemeinschaften um? Die erste Frage, die
ich dazu stellen möchte, ist: Warum müssen diese Daten
überhaupt an die Religionsgemeinschaften übermittelt
werden? Ich habe mir gerade die EKD-Homepage angeschaut, um herauszufinden: Wie läuft das eigentlich mit
der Kirchensteuer? Die Kirchensteuer wird von den
Finanzämtern berechnet und erhoben. Die EKD schreibt:
Die Verwaltung der Kirchensteuer durch die
Finanzämter ist nahezu umfassend. Sie reicht von
der Festsetzung und Erhebung bis zur Beitreibung
und zum Einzug der von den Arbeitgebern abzuführenden Kirchenlohnsteuer.
Es gab ein Problem mit den Banken; das ist aber behoben. Das berührt nicht die Frage des Melderechts.
Deshalb stellt sich zunächst die Frage: Brauchen wir das
überhaupt?
Solange die katholische Kirche sagt, dass das Heiraten einer geschiedenen katholischen Person, die bei der
katholischen Kirche, etwa bei der Caritas, beschäftigt ist,
ein Kündigungsgrund ist, solange die katholische Kirche
sagt, dass die Begründung einer Lebenspartnerschaft
durch eine katholische Person, die bei der katholischen
Kirche beschäftigt ist, eine Loyalitätsverletzung gegenüber der katholischen Kirche ist und zur Kündigung
führt, so lange, meine ich, können wir als Gesetzgeber
nicht regeln, dass ein solches Datum bei kirchlichen Beschäftigten an die Religionsgemeinschaften gemeldet
wird. Das würde ich gern auch mit Prälat Jüsten in einer
Berichterstatterrunde klären; telefonisch habe ich das
schon getan. Die beste Lösung wäre: Die katholische
Kirche versichert uns, dass sie in Zukunft weder wiederverheiratet Geschiedenen noch eingetragenen homosexuellen Lebenspartnern kündigen wird. - Dann wäre
ich auch ganz sicher.
({1})
Ansonsten glaube ich die Intention des Briefes der
Deutschen Bischofskonferenz an uns, aber ich glaube
nicht, dass diese Argumentation lebenstauglich ist. Da
wird ja gesagt: Wir wollen diese Daten für die Feststellung des Mitgliederbestandes, die Führung der Kirchenbücher, die Gewährleistung des kirchlichen Wahlrechts
sowie für pastorale und seelsorgerische Zwecke haben.
Das heißt, der Priester und der Gemeindevorstand erfahren für diese Zwecke, wer wiederverheiratet geschieden
ist, wer in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft lebt.
Da nützt es nichts, dass man sagt: Es wird nicht an die
Arbeitgeber übermittelt. - Die Menschen sind doch nicht
gespalten in ihrem Bewusstsein.
In vielen Caritas-Vorständen sitzt der Priester, der
vorher als Seelsorger nach der Schließung der Lebenspartnerschaft oder der neuen Ehe, zum Jubiläum
oder zum 60. Geburtstag mit einem Blumenstrauß oder
zum Gespräch bei den Leuten war. Soweit es sich um
Beschäftigte der Kirche gehandelt hat und er ihnen dann
als Caritas-Vorstand begegnet, hat er das natürlich total
vergessen. - Das ist, glaube ich, nicht realitätstauglich.
Deshalb müssen wir da eine Regelung finden, die verhindert, dass das, was unser geltendes Recht den Menschen als Freiheit an familienrechtlichen Instituten anbietet - mit dem Schutz der Verfassung! -, dazu führt,
dass diese Menschen ihre Lebensgrundlage und ihren
Arbeitsplatz bei kirchlichen Arbeitgebern aufgrund der
Datenübermittlung verlieren können. Da müssen wir einen vernünftigen Ausgleich finden. Wir sollten das bald
machen - im Dialog des Bundestages mit den Vertretern
der katholischen Kirche und mit den Vertretern des Lesben- und Schwulenverbands; denn wir sollten in diesem
Zusammenhang auch mit den Betroffenen reden, damit
klar wird: Was sind die Ängste? Was sind die Befürchtungen? Wie können wir eine Lösung finden, die für die
Kirchen und die Betroffenen akzeptabel ist?
Ich hatte schon gesagt: Das Beste wäre, die katholische Kirche würde ihr kirchliches Arbeitsrecht etwas anders praktizieren. Prälat Jüsten sagte mir, darüber werde
inzwischen geredet. Ich hoffe, es wird nicht nur geredet,
sondern es kommt auch zu einem guten Abschluss - mit
Gottes Segen.
({2})
Vielen Dank. - Das Wort hat jetzt Dr. Tim
Ostermann, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem
schon beschlossenen Bundesmeldegesetz straffen und
vereinheitlichen wir das Melderecht in Deutschland. Aus
meiner Sicht ist es ein sinnvolles Ergebnis der Föderalismusreform, dass der Bund für diesen Bereich die Gesetzgebungskompetenz erhalten hat.
Das neue Melderecht wird die Bürokratiekosten ab
dem kommenden Jahr deutlich reduzieren. Man denke
etwa nur an die Einsparpotenziale durch IT-Standards,
die der Verwaltung eine weitgehende Vereinfachung des
Meldewesens ermöglichen. Darüber hinaus wird die
Meldepflicht in Krankenhäusern abgeschafft und die
Hotelmeldepflicht vereinfacht. Die Wirtschaft kann dadurch jährlich Kosten im dreistelligen Millionenbereich
einsparen.
Mit dem Bundesmeldegesetz tun wir auch etwas gegen die sogenannten Scheinanmeldungen. Bei diesen
melden sich Menschen für eine bestimmte Wohnung
beim Amt an, ohne dass sie dort tatsächlich wohnen und
ohne das Wissen des Vermieters. Viele Ordnungswidrigkeiten, aber auch Straftaten gehen von dieser Praxis aus,
wie etwa die Erschleichung von Plätzen an Schulen oder
Kreditkartenbetrug. Die Bekämpfung von Scheinanmeldungen ist ebenfalls wichtig im Kontext der Armutsmigration aus östlichen EU-Ländern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das neue Melderecht wird ab Mai 2015 greifen. Allerdings müssen
schon vorher einige Anpassungen am Bundesmeldegesetz vorgenommen werden, damit es reibungslos in
Kraft treten und funktionieren kann. Das entsprechende
Änderungsgesetz, das wir heute in erster Lesung debattieren, ist weitgehend unstrittig.
Zum reibungslosen Funktionieren zählt etwa, dass der
Bund und die Länder zur Vorbereitung der Umsetzung
Rechtsverordnungen erlassen können. Dafür müssen die
entsprechenden Ermächtigungsgrundlagen im Bundesmeldegesetz früher in Kraft treten als das übrige Gesetz.
Das wollen wir mit diesem Änderungsgesetz ermöglichen.
Außerdem müssen wir das Bundesmeldegesetz auf
den neuesten verfassungsrechtlichen Stand bringen. Bekanntlich - das ist auch schon zur Sprache gekommen hat das Bundesverfassungsgericht im Mai 2013 entschieden, dass einkommensteuerrechtliche Vorschriften zu
Ehegatten und Ehen auch auf Lebenspartner und Lebenspartnerschaften angewendet werden müssen. Mit
dem Änderungsgesetz vollziehen wir diese Gerichtsentscheidung nach, indem wir die relevanten Meldepflichten und -regeln auch auf Lebenspartner ausdehnen, sie
nicht lediglich auf Ehegatten beschränkt lassen.
Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme zum Entwurf angemerkt, dass es zu Problemen bei der Datenübermittlung an Religionsgemeinschaften kommen
könnte. Er befürchtet, dass bei der Kirche beschäftigten
Personen, die eine Lebenspartnerschaft führen oder deren Ehe geschieden ist, durch das neue Melderecht ein
Nachteil entsteht.
Das Kommissariat der deutschen Bischöfe hat zu dieser Thematik bereits eine Äußerung abgegeben und klargestellt, dass die kirchlichen Einrichtungen die gemeldeten Daten nicht in einem arbeitsrechtlichen Kontext
verwenden und dies aus datenschutzrechtlichen Gründen
auch gar nicht dürfen. Ich bin davon überzeugt, dass wir
im Dialog mit den Religionsgemeinschaften für diesen
konkreten Personenkreis eine angemessene Regelung
finden werden.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin mir sicher:
Wir werden die Beratungen zu diesem Gesetz effektiv
und zügig abschließen - so, wie wir die heutige Debatte
effektiv und zügig geführt haben. Schön, dass trotz der
fortgeschrittenen Stunde doch die eine oder andere
Freundin oder der eine oder andere Freund des Meldewesens den Weg ins Plenum gefunden hat.
Herzlichen Dank.
({1})
Vielen Dank. - Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/1284 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Ich sehe, das ist nicht
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe auf Tagesordnungspunkt 14:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörn
Wunderlich, Halina Wawzyniak, Diana Golze,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Alleinerziehende entlasten - Unterhaltsvorschuss ausbauen
Drucksache 18/983
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Finanzausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Erster Redner ist Jörn Wunderlich, Fraktion Die
Linke.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nun zu vorgerückter Stunde noch etwas Altbekanntes
zum Unterhaltsrecht bzw. zum vorliegenden Antrag. Seit
2006 versucht die Linke, alleinerziehenden Elternteilen
bei den finanziellen Sorgen um ihre Kinder zu helfen.
Rechtspolitisch wird über das Ganze schon seit über
zehn Jahren diskutiert. Es gibt dazu schon Beschlussempfehlungen des Rechts- und des Familienausschusses
aus den Jahren 2000 und 2002. Es gab sogar einmal einen Referentenentwurf der Regierung zur Änderung des
Unterhaltsrechtes - auch des Unterhaltsvorschusses -,
den ich noch in meiner Eigenschaft als aktiver Familienrichter damals auf den Schreibtisch bekommen habe.
Dass die bisherigen Regelungen des Unterhaltsvorschussgesetzes nicht ausreichen, ist seit Jahren fraktionsübergreifend - auch bei den damit befassten Juristen wohl unstreitig. Das ist auch in der Praxis einhellige
Meinung. Dass die Altersgrenze auf 18 Jahre angehoben
werden soll, ist eine Lösung, die endlich umgesetzt werden muss.
({0})
Niemand konnte bislang erklären, warum ein Kind
mit 13 keinen Unterhalt mehr braucht oder wie es sich
gefälligst selbst darum kümmern soll. Wie gesagt, es
geht nicht um den Unterhalt für einen Elternteil, sondern
um den für ein minderjähriges Kind. Die Beschränkung
auf 72 Monate muss ebenfalls fallen. Die Zahl der Einstellung der Zahlungen infolge des Erreichens der
Höchstbezugsdauer ist in den vergangenen Jahren kontinuierlich - von 39 000 auf knapp 44 500 - gestiegen.
Es muss immer wieder wiederholt werden: Der Unterhaltsvorschuss soll die finanzielle Situation von Alleinerziehenden und ihren Kindern verbessern, wenn der
unterhaltspflichtige Elternteil seinen Unterhaltsverpflichtungen nicht oder nicht ausreichend nachkommen
kann. Der Unterhaltsvorschuss kommt damit unmittelbar
den Kindern von Alleinerziehenden zugute. Damit werden alleinerziehende Elternteile vorübergehend unterstützt.
Aber auch nach dem Sinn des Unterhaltsvorschussgesetzes - der Unterhaltsvorschuss soll vorübergehend
Hilfe leisten in einer Situation, in der kein Unterhalt erhalten werden kann - muss doch die gegenwärtige gesellschaftliche Situation berücksichtigt werden. Die
Dauer der Armutsphasen wird immer länger und ihre
Zahl immer häufiger. Die Armutsgefahr steigt, und die
Zahl derer, die armutsgefährdet leben, wird größer. Nach
der letzten Statistik betrifft das fast 40 Prozent aller Kinder hier in Berlin.
Außerdem ist nicht nachzuvollziehen, warum das
Kindergeld in voller Höhe angerechnet wird, während es
bei regulärer Zahlung nur zur Hälfte angerechnet werden
kann. Hier dürfen Eltern und Kinder doch nicht schlechtergestellt werden. Schon 2006 wurde im Ausschuss zu
einem inhaltsgleichen Antrag der Linken gesagt: Probleme richtig dargestellt, Lösungen aufgezeigt, leider
falsche Partei. - Die Probleme sind immer noch die gleichen, die Lösungsansätze nach wie vor gut, und ich bin
immer noch in der richtigen Partei.
({1})
Letztlich sind Kinder und Jugendliche die Leidtragenden, wenn die Eltern aufgrund einer verfehlten Arbeitsmarktpolitik und der damit einhergehenden Arbeitslosigkeit keinen Unterhalt zahlen können. Denn wie erklären
sich sonst die Zahlen aus der Antwort der Bundesregierung vom 5. Mai 2014 - also noch druckfrisch -, nach
denen die Quote der unterhaltsvorschussberechtigten
Kinder in den neuen Bundesländern zum Teil viermal so
hoch ist wie in den alten Bundesländern? Hier soll sich
der Staat wieder aus der Verantwortung ziehen können?
Mehrausgaben würden zum Teil zu Minderausgaben im
Haushalt des Bundesarbeitsministeriums führen, da
manch alleinerziehender Elternteil nicht mehr aufstocken müsste. Im Übrigen könnte der finanzielle Mehraufwand durch Einsparungen beim Betreuungsgeld finanziert werden. Heute hat der Bundesfinanzminister
verkündet, dass nach Angaben des Arbeitskreises Steuerschätzung Steuermehreinnahmen von 19,3 Milliarden
Euro erwartet werden. Das Geld ist also da. Änderungen
sind allerdings nach Auskunft der Bundesregierung nicht
geplant - aus Kostengründen.
Seit Jahren kann hier jeder zusehen, wie Milliarden
für marode Banken verpulvert werden und Rüstungskonzerne Gelder bekommen, weil weniger Kriegsgerät abgenommen wird. Der Bundesrechnungshof und der
Bund der Steuerzahler monieren immer wieder den Umgang mit Steuermitteln. Aber hier, wo es um die geht, die
es am nötigsten brauchen und die unsere Zukunft sind,
da heißt es, es sei insbesondere aus haushälterischen
Gründen nicht vorgesehen.
Schade, dass Frau Schwesig nicht da ist. Frau Ferner,
bestellen Sie ihr einen schönen Gruß. Sie soll sich einen
Ruck geben. Sie ist in der Situation, das zu ändern. Sie
soll es machen. Sie ist hier nach eigenem Bekunden auch
angetreten, um den Alleinerziehenden zu helfen. Sie soll
es endlich machen, und zwar wirksam, damit man ihr
nicht in drei Jahren möglicherweise die Frage stellen
muss: Frau Schwesig, warum sind Sie Familienministerin geworden? Floristin wäre doch auch etwas Schönes
gewesen.
({2})
Jetzt sagen wir nichts zu den Floristen. - Nächste
Rednerin ist Gudrun Zollner, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Sehr geehrter Herr Wunderlich, wir werden, auch wenn das Betreuungsgeld nach wie vor bleibt,
Lösungen für unsere Alleinerziehenden finden. Glauben
Sie mir das.
({0})
Ich glaube, wir sind uns grundsätzlich alle einig, dass
Alleinerziehende Enormes leisten und unsere volle Unterstützung brauchen.
({1})
Im Koalitionsvertrag ist deshalb auch fixiert, dass noch
in dieser Legislaturperiode der steuerliche Entlastungsbetrag für Alleinerziehende angehoben wird und nach
der Anzahl der Kinder gestaffelt werden soll. Weiter will
die Bundesregierung mit rund 8 Milliarden Euro die Familien, Senioren, Frauen und Jugendlichen unterstützen.
Der Ansatz der Ausgaben nach dem Unterhaltsvorschussgesetz wurde bedarfsgerecht auf 295 Millionen
Euro angepasst. Mit Nachdruck werden wir auf der
Grundlage solider Finanzen lösungsorientiert und zielgerichtet die Alleinerziehenden auch künftig nachhaltig
unterstützen.
({2})
Natürlich - hier sind wir uns interfraktionell sicher
auch einig - nimmt der Unterhaltsvorschuss seit seiner
Einführung im Jahr 1980 eine besondere Stellung innerhalb der familienpolitischen Leistungen ein. Im Jahre
2012 haben rund eine halbe Million Kinder Unterhaltsvorschussleistungen bezogen. Bei bundesweit 2,2 Millionen minderjährigen Kindern in Einelternhaushalten ist
das ein enorm hoher Anteil. Kann oder will ein Elternteil
seiner Unterhaltspflicht nicht nachkommen, so springt
der Staat ein und geht sozusagen in Vorleistung, ohne
den unterhaltspflichtigen Elternteil aus seiner Verantwortung zu entlassen.
Uns muss aber auch klar sein: Der Unterhaltsvorschuss ist keine auf Dauer angelegte zusätzliche Leistung durch den Staat. Ein Drittel der Ausgaben für den
Unterhaltsvorschuss trägt der Bund, zwei Drittel übernehmen jeweils die Länder. Im gleichen Verhältnis werden auch die Rückeinnahmen aufgeteilt. Aufgabe der
Länder ist es, sich diese Auslagen vom Unterhaltspflichtigen zurückzuholen. Bayern ist hier mit über 34 Prozent
im Länderranking absoluter Spitzenreiter und stellt das
Schlusslicht Berlin mit knapp 14 Prozent klar in den
Schatten.
({3})
Durchschnittlich in vier von fünf Fällen gelingt es
aber nicht, den Unterhaltsvorschuss vom unterhaltspflichtigen Elternteil zurückzuholen. Hier muss nachträglich noch viel getan werden, um dem wahren Charakter dieses Gesetzes gerecht zu werden.
Sie stellen heute einen Antrag, werte Kolleginnen und
Kollegen der Fraktion Die Linke, der uns 500 Millionen Euro mehr kostet, als im Haushaltsplan vorgesehen
sind. Aber Sie erläutern mit keinem einzigen Satz in Ihrem Antrag, wie Sie das finanzieren wollen.
({4})
Als verantwortungsvolle Parlamentarier ist es unsere
Pflicht, gut zu wirtschaften und mit den uns zur Verfügung stehenden Geldern auszukommen.
({5})
Dies ist bei Ihrem Antrag nicht der Fall. Wir müssen Lösungen erarbeiten und dürfen nicht nur Forderungen aufstellen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Vielen Dank. - Das Wort hat Dr. Franziska Brantner,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herzlichen Dank. - Schönen guten Abend! Vor
kurzem wurde das Ergebnis einer neuen Studie der
Bertelsmann-Stiftung veröffentlicht, die eigentlich keine
neuen Erkenntnisse erbracht hat. Es wurde zum wiederholten Male dargelegt, dass nach wie vor alleinerziehende Familien am meisten von Armut bedroht sind.
39 Prozent der Alleinerziehenden beziehen staatliche
Grundsicherung. Jedes zweite von insgesamt rund 2 Millionen Kindern, die von staatlicher Grundsicherung leben, wächst in einer Einelternfamilie auf. Kinderarmut
wirksam zu bekämpfen, heißt also: Alleinerziehenden
helfen.
({0})
Das 2008 reformierte Unterhaltsrecht zwingt de facto
alleinerziehende Elternteile, Vollzeit zu arbeiten. Nur für
jedes zweite Kind ist die Unterhaltszahlung regelmäßig
und vollständig. Dann brauchen Eltern eben den Anspruch auf Unterhaltsvorschuss.
Ich will jetzt näher auf Ihren Antrag eingehen. Sie
fordern die Abschaffung der Altersgrenze von 12 Jahren
und der Bezugsgrenze von 6 Jahren. Es stimmt: Es ist
nicht verständlich, warum ein 14-Jähriger keinen Anspruch mehr haben soll. Es ist ja der 14-Jährige, der den
Anspruch nicht mehr hat, und nicht die Elternteile. Ein
7-Jähriger hat dem Alter nach diesen Anspruch, aber
nur, wenn sich seine Eltern nicht schon getrennt haben,
als er ein Jahr alt war. Wo ist da die Logik? Warum sollen Teenager oder Kinder eines Alters nicht dieselbe
Leistung bekommen? Alles andere ist willkürlich und
dient nicht dem Schutz dieser Kinder. Aber um sie muss
es uns doch gehen.
({1})
Es ist absolut richtig, das zu ändern. Die Krux dabei
ist - Sie alle haben dies betont -, das notwendige Geld
aufzubringen und es auch für diesen Zweck auszugeben.
Da haben wir das große Problem, dass nicht genug zurückgeholt wird. Das muss man hier sagen. Ich glaube,
bei den Berlinern liegt es nicht nur daran, dass sie nicht
genug Stellen haben, sondern auch daran, dass der Lebensunterhalt in Berlin durchschnittlich geringer ist als
der bayerische. Es gibt Studien innerhalb der Länder, die
aufzeigen, dass auch in reichen Städten der Einzug der
Forderungen nicht besser ist als in ärmeren. Das hängt
leider nicht immer zusammen. Häufig hängt es vor Ort
davon ab, wie viel für das Eintreiben des Unterhalts investiert wird. Wenn die Bundesregierung sagt, sie habe
dafür nicht das Geld, wünschte ich mir, dass man Strategien entwickelt, wie man das Eintreiben des Unterhaltsvorschusses verbessern kann. Ich glaube, das ist eine
Pflicht. Wir wissen, dass es dort nicht gut genug läuft. In
den Ländern und Kommunen gibt es Herausforderungen. Gehen Sie diese Herausforderungen an. Wenn Sie
jetzt sagen, dass Sie die Gelder nicht wollen, so sagen
wir Ihnen: Wir hätten die Gelder gerne. Hier erwarte ich
Vorschläge der Bundesregierung. Die Alleinerziehenden
leisten einfach Unglaubliches.
({2})
Es ist so schwierig für sie. Sie dort allein zu lassen, ist
nicht im Interesse unserer Gesellschaft.
Lassen Sie mich noch erwähnen, dass neun von zehn
Alleinerziehenden Frauen sind. Sie sind häufig doppelt
diskriminiert, auch auf dem Arbeitsmarkt: erstens als
Frau und zweitens als Mutter. Sie kämpfen hart. Wenn
das Kind 13 Jahre alt wird, dann fällt der Unterhaltsvorschuss weg. Das kann man diesen Müttern kaum vermitteln. Hier tragen wir Verantwortung, und dieser müssen
wir uns stellen.
Ich danke Ihnen.
({3})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Dr. Fritz
Felgentreu, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kollegin Zollner, ich gebe Ihnen absolut recht:
Gerade die Alleinerziehenden leisten besonders viel. Gerade deswegen haben die Alleinerziehenden einen Anspruch auf unsere besondere Solidarität und Unterstützung dabei, gemeinsam mit ihren Kindern ihren Alltag
zu meistern. Deswegen machen wir eine ganze Menge.
Die Große Koalition hat - angetrieben von den Forderungen der SPD - etliche Vorhaben geplant oder auf den
Weg gebracht, von denen gerade Alleinerziehende profitieren werden. Dabei geht es um den Ausbau und die
Qualitätsverbesserung der Betreuungs- und Bildungsinfrastruktur, um die Möglichkeiten der Wiederaufstockung auf Vollerwerbstätigkeit, um die Einführung des
ElterngeldPlus, um die Arbeit am Konzept der Familienarbeitszeit, um die Einführung des Mindestlohns und um
die Initiativen zur Beseitigung von Lohnunterschieden
zwischen Frauen und Männern. Damit werden wir Alleinerziehende besser als bislang in ihrem Wunsch unterstützen, berufstätig zu sein.
({0})
Darüber hinaus müssen wir gerade die Instrumente in
den Blick nehmen, die auf die besondere Situation von
Alleinerziehenden zugeschnitten sind. Dazu zählt neben
dem Entlastungsbetrag der Unterhaltsvorschuss. Grundsätzlich sind wir uns in diesem Haus alle einig, dass der
Unterhaltsvorschuss eine wichtige Leistung für Alleinerziehende ist und sinnvoll weiterentwickelt werden muss.
Mit Ausnahme der Linken sind wir uns darin einig, dass
nicht alles Wünschenswerte auch finanzierbar ist. Umso
mehr gilt es, Reformvorschläge genau zu durchdenken
und abzuwägen. Die Vorschläge der Linksfraktion sind
Antworten auf reale Lücken in der Ausgestaltung des
Unterhaltsvorschusses. Sie liefern aber noch kein durchdachtes Konzept, und Sie unterschlagen ein besonders
wichtiges Detail; denn Sie erwähnen bei Ihren Forderungen nicht - auch in Ihrer Rede habe ich es nicht gehört,
Herr Kollege Wunderlich -, dass eine enge Abstimmung
mit den Ländern erforderlich ist, die schließlich zwei
Drittel der Kosten tragen. Ihr Anspruch ist es, dass künftig mehr Familien länger vom Unterhaltsvorschuss profitieren sollen. Das macht auch Sinn. Der Unterhaltsvorschuss soll in die Versorgungslücke treten, die entsteht,
wenn das getrennt lebende Elternteil seiner Unterhaltsverpflichtung nicht nachkommt oder nicht nachkommen
kann. Wenn das stimmt, dann erschließt sich wiederum
nicht, warum Sie die Anhebung des Bezugsalters nur bis
zur Vollendung des 18. Lebensjahres fordern. Warum
sind Sie dann nicht so konsequent und orientieren sich
am Unterhaltsrecht, das besagt, dass Eltern dem Kind bis
zum Abschluss einer Berufsausbildung Unterhalt zahlen
müssen?
({1})
- Mir geht es nur darum, dass wir nicht mit willkürlichen
Zahlen arbeiten. Frau Brantner hat kritisiert, dass die
Zahl 12 willkürlich sei. Es gab dazu unterschiedliche
Beschlusslagen: Die SPD-Fraktion hat in der letzten Legislaturperiode beschlossen, dass sie die Bezugsdauer
gerne bis zum 14. Lebensjahr ausdehnen würde.
Das Gleiche hatte die schwarz-gelbe Koalition in ihren Koalitionsvertrag geschrieben. Aus unterschiedlichen Gründen ist das bisher nicht umgesetzt worden.
Das Problem ist ja erkannt. Aber lassen Sie uns doch
nicht mit willkürlich gegriffenen Zahlen arbeiten, sondern lassen Sie uns überlegen, wie wir das Ganze in ein
stimmiges Konzept überführen können, das dann auch
finanzierbar ist.
({2})
Herr Kollege Felgentreu, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Wunderlich?
Bitte schön.
Vielen Dank, Herr Kollege. - Die Zahl 18 ist keine
willkürliche Zahl; es ist zufällig die Altersgrenze zur
Volljährigkeit. Sie argumentieren jetzt, man könne sich
bei der Zahlung des Unterhaltsvorschusses an der Berufsausbildung bzw. am Unterhaltsrecht orientieren, also
möglicherweise bis zum Abschluss der ersten Berufsausbildung oder des 27. Lebensjahres zahlen. Das ist dann
ja noch teurer. So weit wollten wir gar nicht gehen. Wir
wollten so weit gehen, dass Kinder unterstützt werden,
solange sie minderjährig sind. Wenn sie volljährig sind,
können sie sich selbst um diese Sachen kümmern und eigenständig ihre Ansprüche geltend machen.
Die geringe Rückholquote - das haben wir vorhin
schon mal bilateral besprochen - ist ein echtes Problem.
Aber Sie wissen genauso gut wie ich: Teilweise kann das
Geld nicht zurückgeholt werden, weil die Väter - Sie
sagten, einem nackten Mann könne man nicht in die Tasche greifen - gar nicht in der Lage sind, Unterhalt zu
zahlen, sodass der Unterhaltsvorschuss als Ersatzleistung gezahlt wird.
Dass das Ganze finanzierbar ist, habe ich dargelegt.
Insofern haben wir schon ein stimmiges Konzept. Der
Antrag ist schon vor acht Jahren - ich wiederhole: vor
acht Jahren - von der damaligen Großen Koalition als
guter Lösungsansatz deklariert worden. Es hieß nur, der
Antrag komme leider aus den falschen Reihen. Ich habe
es gesagt: Die Lösungsansätze sind genau die gleichen,
die Probleme sind dieselben, die Lösung ist da - es muss
nur umgesetzt werden.
Verehrter Herr Kollege Wunderlich, ich wundere
mich trotzdem ein bisschen,
({0})
dass Sie mich dafür kritisieren, dass ich das Nachdenken
über den Unterhaltsvorschuss mit dem Unterhaltsrecht in
Verbindung bringe. Ich finde das konsequent.
({1})
Dass Sie an dem Punkt auf einmal fiskalische Aspekte
entdecken, die Ihnen in Ihrem eigenen Antrag völlig unwichtig waren, erschließt sich mir auch nicht.
Lassen Sie mich meinen Gedankengang zu Ende bringen. Ich bin gerne bereit, mich auf Ihre Argumentation
und Ihre Forderungen einzulassen, die SPD-Fraktion ist
es auch. Wir müssen nur überlegen, wie man sinnvoll
vorgehen kann, und wir müssen das vor allen Dingen gemeinsam tun.
Sie nehmen einige Probleme, die mit dem Unterhaltsvorschuss verbunden sind, nur in der Debatte in den
Blick, nicht aber in Ihrem Antrag. Dazu gehört die
Schwierigkeit, ausstehende Zahlungen einzutreiben. Ich
denke, um da wirklich zu vernünftigen Ergebnissen zu
kommen, brauchen wir genauere Erkenntnisse darüber,
woran es eigentlich liegt, dass jemand nicht zahlt.
Die ursprüngliche Idee war, dass der Unterhaltsvorschuss eine nicht auf Dauer angelegte Leistung des Staates ist. Dieser Anspruch scheint den Lebensverhältnissen
heute aus vielen Gründen nicht mehr gerecht zu werden.
Es gibt beim Unterhaltsvorschuss noch eine ganze Reihe
offener Fragen. Auch wenn es im Koalitionsvertrag
keine Erwähnung findet, halte ich es für richtig, dass wir
uns des Themas weiterhin annehmen.
Wir müssen auch darauf reagieren, dass es sich bei
Alleinerziehenden nicht mehr um eine gesellschaftliche
Randerscheinung handelt, sondern um eine Familienform, die häufig ist und immer häufiger wird. Laut der
kürzlich erschienen Bertelsmann-Studie ist das Armutsrisiko von Kindern, die mit nur einem Elternteil aufwachsen, statistisch betrachtet fünfmal höher als bei anderen Kindern. Nach meiner festen Überzeugung helfen
wir diesen Familien am besten, indem wir die Infrastruktur im Bereich der zuverlässigen, ganztägigen Betreuung
und Bildung konsequent ausbauen.
({2})
Aber wir müssen - ({3})
- Ja, bitte schön.
Herr Kollege, ich gestatte das jetzt. - Bitte schön.
({0})
Das nehme ich gerne hin, Frau Präsidentin.
Herr Kollege Felgentreu, da Sie wie ich die Situation
in Berlin gut kennen, ist Ihnen doch sicherlich genau wie
mir bekannt, dass der DGB Bezirk Berlin-Brandenburg
dieses Thema, speziell die Berliner Situation, einmal untersucht hat: Woran liegt es, dass die Kinderarmut in
Berlin so hoch ist und die Alleinerziehenden in Berlin finanziell so schlecht dastehen? Dann wird Ihnen doch
wie mir bekannt sein, dass es eben nicht so sehr an den
Kitas und Schulen liegt. Da können wir in Berlin noch
besser werden, aber wir sind da im Bundesvergleich relativ gut: Die Kitaabdeckung ist sehr gut; auch im Ganztagsschulbereich gibt es inzwischen einiges. Das zentrale Problem ist vielmehr die sonstige finanzielle
Situation der Alleinerziehenden, die dazu führt, dass
Kinder in Armut sind. Das liegt wiederum daran, dass
die Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Alleinerziehende in Berlin so schwierig ist, weil sie hier nicht auf
einen entsprechenden Arbeitsmarkt und auf entsprechende Arbeitgeber treffen.
Zu meiner Frage. Es ist richtig, dass wir Infrastruktur
brauchen, aber wie können Sie gerade aufgrund Ihrer
Berliner Erfahrung behaupten: Wenn die Infrastruktur da
ist, dann ist alles gut? Wir wissen doch beide, dass es
nicht so ist, dass es anders ist. Deswegen bitte ich darum,
noch einmal über den vorliegenden Antrag nachzudenken.
Liebe Kollegin Paus, erstens bin nicht ich, sondern
sind die Linken der Antragsteller, und zweitens habe ich
nicht behauptet, dass bereits mit dem Ausbau der Bildungsinfrastruktur alle Probleme gelöst werden. Ich
halte das aber dennoch für den allerbesten Weg. Das ist
der Punkt, an dem wir als Familienpolitiker ansetzen
müssen. Das ist ein neuer Weg, den wir beschreiten müssen, weil wir als Familienpolitiker in der Vergangenheit
gar nicht über die Verbindung von Bildungspolitik und
Familienpolitik und die kommunizierenden Röhren, die
es in diesem Zusammenhang gibt, hinreichend nachgedacht haben. Das ist ein Weg, der sicherlich in die Zukunft führt. An diesem Punkt müssen wir weiterarbeiten.
Zu glauben, dass wir mit einem einzigen Instrument alle
Probleme lösen werden, so naiv ist in diesem Hause keiner.
({0})
Nein, wir müssen eben nicht nur über den einen Weg,
den ich für den besten halte, nachdenken und diesen weiterentwickeln, sondern wir müssen auch die Instrumente
der individuellen Armutsvermeidung weiterentwickeln.
Dazu gehört neben dem Kinderzuschlag natürlich auch
der Unterhaltsvorschuss. Insofern besteht Anlass, den
Kolleginnen und Kollegen der Linken für ihren inhaltlichen Vorstoß zu danken, mit dem sie das Thema erneut
auf die Tagesordnung setzen. Aber zugleich bitte ich
auch um Verständnis, dass eine Regierungskoalition nur
auf der Grundlage einer soliden Finanzierung und eines
Gesamtkonzepts arbeiten kann.
Zu einem solchen Gesamtkonzept gehört im Falle des
Unterhaltsvorschusses in jedem Fall das, was die Länder
dazu zu sagen haben, die den Löwenanteil an den Kosten
tragen. Zu einem solchen Gesamtkonzept gehört auch,
dass wir die unterschiedlichen Instrumente der Familienförderung, die wir einsetzen, aufeinander abstimmen und
gemeinsam an ihnen weiterarbeiten. Das ist der Weg,
den die SPD-Fraktion an dieser Stelle für richtig hält.
Wir sind aber gerne bereit, ihn mit allen Fraktionen dieses Hauses intensiv zu diskutieren.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Markus
Koob, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Alleinerziehende müssen sich jeden Tag allein um viele
Dinge kümmern: die Organisation des Haushalts der Familie, die Erziehung sowie die Sicherung des Einkommens. Diese Herausforderungen lösen Alleinerziehende
oft mit einer bemerkenswerten Kreativität, aber sie führen oft auch zu handfesten Schwierigkeiten. Verschärft
wird die Lage der Alleinerziehenden, wenn das Kind den
Unterhalt vom anderen Elternteil nicht regelmäßig bekommt, nicht rechtzeitig oder überhaupt nicht. In dieser
besonderen Lebenssituation unterstützt der Staat die Alleinerziehenden mit dem Unterhaltsvorschuss. Er ist eine
notwendige und wichtige Unterstützungsleistung, aber
bei weitem nicht die einzige.
Diese Koalition setzt nämlich darüber hinaus auf einen ganzheitlichen, umfassenden und differenzierten
Ansatz, um Alleinerziehende und deren Kinder bestmöglich zu unterstützen und ihrer individuellen Lage gerecht zu werden. Unsere Maßnahmen sind vielfältig. Es
gibt drei große Säulen: erstens die finanzielle Entlastung
der Alleinerziehenden, zweitens eine an den besonderen
Bedürfnissen von Alleinerziehenden orientierte Betreuungsinfrastruktur und drittens eine Verbesserung beim
Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt.
Bei der ersten Säule hält es die Koalition für wichtig,
dass Alleinerziehende finanziell entlastet und bessergestellt werden. Hier kommen nicht nur der Unterhaltsvorschuss sowie der Steuerentlastungsbetrag für Alleinerziehende zur Geltung. Hierzu zählen auch die
Leistungen des Bildungs- und Teilhabepaketes sowie die
breite Palette an familienpolitischen Leistungen. Für
Einelternfamilien trägt all das dazu bei, eine Verbesserung des Nettohaushaltseinkommens zu erzielen.
Wir beobachten, dass seit 2009 die Zahl der arbeitslosen Alleinerziehenden, die Leistungen der Grundsicherung beziehen, kontinuierlich sinkt, und das wesentlich
stärker als der Durchschnitt der Arbeitsuchenden, die auf
Grundsicherung angewiesen sind. Die Quote der Einelternfamilien, die auf staatliche Grundsicherung angewiesen sind, beträgt derzeit dennoch 39 Prozent. Daher werden wir unsere Bemühungen fortsetzen, diese Quote zu
senken.
({0})
Aus diesem Grund halten wir es für wichtig, zwei
weitere miteinander verknüpfte Bereiche in den Fokus
zu stellen: erstens die verstärkte Einbindung von Alleinerziehenden in den Arbeitsmarkt und zweitens die verbesserte Vereinbarkeit der Erwerbstätigkeit mit dem Familienleben. Die wichtigste Aufgabe in der zweiten
Säule ist daher die dauerhafte existenzsichernde ArbeitsMarkus Koob
marktintegration von Alleinerziehenden. Die Statistiken
offenbaren, dass bei alleinerziehenden Frauen mit Kindern unter drei Jahren die Erwerbstätigenquote bislang
am niedrigsten ist. Auch Arbeitgeber und Personalverantwortliche sind gefragt, wenn sich die Vereinbarkeit
von Familie und Erwerbstätigkeit verbessern soll. Wir
werben daher für eine Kultur der familienbewussten Arbeitszeitgestaltung.
({1})
Dafür hat sich insbesondere die Kollegin Kristina
Schröder schon in der vorherigen Bundesregierung eingesetzt. Auch diese Koalition liefert praxistaugliche,
konkrete Impulse, etwa mit dem Antrag für mehr
Zeitsouveränität, den wir auf den Weg gebracht haben.
Die dritte Säule bilden Bereiche, die ebenso zu den
wichtigen Voraussetzungen zählen, um wieder in den
Beruf einzusteigen: Kitas, Tagesmütter, Horte und andere Möglichkeiten der Kinderbetreuung. Ganz in diesem Sinne hat die unionsgeführte Bundesregierung in
der vergangenen Legislaturperiode gehandelt, als sie
umfassende betreuungspolitische Maßnahmen angestoßen hat. Für den Ausbau der Betreuungsinfrastruktur
wurden 5,4 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt. Das
und die Einführung eines Rechtsanspruchs auf einen Betreuungsplatz für Kinder ab dem ersten Lebensjahr waren wichtige Grundsteine, auf denen wir jetzt aufbauen
können.
Ich bin zuversichtlich, dass diese betreuungspolitische Offensive für die Alleinerziehenden positive Signale aussenden wird. Natürlich wird es sich die Union
auch weiterhin zur Aufgabe machen, für flexiblere Öffnungszeiten von Betreuungseinrichtungen und mehr
Ganztagsbetreuungsplätze einzutreten.
({2})
Um dies voranzutreiben, ist weiterhin die enge Zusammenarbeit von Ländern, Kommunen und Bund erforderlich.
Unser familienpolitischer Kompass ist klar: vielfältige Familienpolitik statt nur eindimensionaler Maßnahmen. Daher werden wir sorgfältig überprüfen, wie wir
unser bestehendes Konzept der Vielfalt besonnen, effizient und innovativ weiterentwickeln können.
Ganz in diesem Zeichen steht auch die Einführung
des ElterngeldPlus. Damit wird erstmals eine Möglichkeit geschaffen, während des Elterngeldbezugs eine Teilzeitbeschäftigung aufzunehmen. Das ist vor allem für
die Alleinerziehenden ein Fortschritt.
({3})
Die Mischung aus finanzieller Förderung und Stärkung von familienfreundlichen Rahmenbedingungen
prägt unser Engagement für Alleinerziehende. Wir stehen für eine Familienpolitik, die den vielfältigen Lebensrealitäten der Menschen in unserem Land entspricht.
Auch wenn ich selbst noch keine Kinder habe, so erlebe ich doch in meinem Freundeskreis hautnah, welches
Glück Kinder bedeuten, aber auch welche Anforderungen im Alltag für die Eltern. In nur wenigen Themenbereichen bekomme ich so lebensnah Wünsche und Hinweise von jungen Eltern und Alleinerziehenden mit auf
den Weg wie bei diesem Thema. Ich freue mich, diese
intensiven Diskussionen und Erfahrungen in meine Arbeit hier im Parlament einzubringen und mit Ihnen gemeinsam an Konzepten zu arbeiten. Allein die Tatsache,
dass ich zu diesem Thema meine erste Rede gehalten
habe, wird es mir eine Herzensangelegenheit werden lassen, hier ein besonderes Engagement zu entfalten.
Herzlichen Dank.
({4})
Vielen Dank, Herr Kollege, und herzlichen Glückwunsch zu Ihrer ersten Rede.
({0})
Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die
Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/983 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das
ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung von Gesetzen auf dem Gebiet des Finanzmarktes
Drucksache 18/1305
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Der Kollege Fritz
Güntzler hat jetzt für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({2})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Vor etwas weniger als einem Jahr wurde hier
im Bundestag nach langen und sehr intensiven Beratungen das Kapitalanlagegesetzbuch verabschiedet. Damit
wurde ein weiterer Schritt auf dem Weg der Finanzmarktregulierung gemacht und die europäische AIFMRichtlinie umgesetzt. Das KAGB hat eine ganz neue
Rechtsgrundlage für das gesamte Investmentwesen in
Deutschland geschaffen. Es ist ein geschlossenes Regelwerk und schafft einen einheitlichen Rechtsrahmen für
alle offenen und geschlossenen Fonds und ihre Manager.
Ziel all dieser Regulierungsmaßnahmen ist: Kein Finanzmarktakteur, kein Finanzprodukt und kein Markt
soll in Zukunft ohne angemessene Regulierung bleiben.
Es geht um die Begrenzung systemischer Risiken im Finanzsektor und des grauen Kapitalmarktes, die Verbes2844
serung des Anlegerschutzes und um einen regulierten
Binnenmarkt für den Investmentfondsbereich.
Es ist festzuhalten, dass gerade auch alternative Investmentvehikel volkswirtschaftlich gewollt und wichtig
für unsere Wirtschaft sind. Sie dienen der Finanzierung
von Schiffen und Flugzeugen, Immobilien und Infrastruktur, helfen aber auch bei Existenzgründungen und
bieten Unternehmen Wachstumsmöglichkeiten. Sie sind
wichtige Instrumente zur Altersvorsorge, die auch von
Versicherungen und Pensionskassen genutzt werden.
Das gesamte Fondsvermögen in Deutschland beträgt
derzeit 1,7 Billionen Euro. Es hat sich in den letzten
zehn Jahren fast verdoppelt.
Das Kapitalanlagegesetzbuch hat seinen Praxistest
bestanden. Auch wenn es hier und da noch offene
Punkte gibt und einzelne Auslegungsfragen noch geklärt
werden müssen, kann man feststellen: Die Umsetzung
der AIFM-Richtlinie durch den Gesetzgeber erfolgte mit
Augenmaß und ist insgesamt als Erfolg zu sehen.
({0})
Die Erfahrungen mit diesem Gesetz sind grundsätzlich positiv. So ist es gelungen, die geschlossenen Fonds
aus dem grauen Kapitalmarkt herauszuholen und einheitlich zu regulieren. Seit März dieses Jahres liegt nun
auch der erste Erfahrungsbericht des BMF zur Anwendung dieses Gesetzes vor. Es lässt sich feststellen: Die
BaFin hat ihre Grundsatzarbeiten zeitgerecht abgeschlossen. Die Bearbeitungsfristen für Anträge zur Umstellung
auf das KAGB werden eingehalten, und mittlerweile - das
ist erfreulich - steigt auch die Bearbeitungsgeschwindigkeit bei der BaFin. Die Branche hat das zweite Halbjahr
2013 aktiv genutzt und sich auf die Anwendung des neuen
gesetzlichen Rahmens eingestellt.
Wir stehen erst am Anfang der Umsetzung dieser
komplexen Regelung, und wir müssen feststellen, dass
eine belastbare Evaluierung des Gesetzes erst noch erfolgen muss. Wir werden dann sehen, ob wir als Gesetzgeber in einigen Punkten vielleicht noch nachjustieren
müssen, wenn es weiterhin Rechtsunsicherheiten und
Auslegungsfragen gibt, zum Beispiel die Frage: Was ist
tatsächlich eine operative Tätigkeit außerhalb des Finanzsektors? Wir hören aus der Praxis immer wieder,
dass nicht klar ist, was das nun eigentlich sein soll, auch
wenn schon damals in den Gesetzesberatungen deutlich
gesagt wurde, was sich der Gesetzgeber darunter vorstellt.
Der Entwurf eines Gesetzes zur Anpassung von Gesetzen auf dem Gebiet des Finanzmarktes, den wir heute
in erster Lesung beraten, beinhaltet bezogen auf das
KAGB im Wesentlichen nur redaktionelle Änderungen
und Anpassungen. Materiell geändert wird die Definition von offenen und geschlossenen Investmentfonds.
Sie folgt einer Delegierten Verordnung der Europäischen
Kommission, die voraussichtlich im Juli dieses Jahres in
Kraft treten wird.
Diese Änderung, die wir nun nachvollziehen, hätte erheblich negative Auswirkungen auf die zahlreichen
Energiegenossenschaften gehabt, sofern sie denn überhaupt in den Anwendungsbereich des KAGB fallen. Gerade für diese war noch in den letzten Zügen der damaligen Ausschussberatungen eine Ausnahmeregelung im
KAGB geschaffen worden, um diese zumeist Bürgerenergieprojekte nicht durch zu große Regulierung zu gefährden. Wir haben in Deutschland mittlerweile 800
Energiegenossenschaften, die ungefähr 1,2 Milliarden
Euro in Bürgerkraftwerke investiert haben. Die Ausnahmeregelung für diese Genossenschaften wäre aufgrund
der im Genossenschaftsgesetz stehenden Kündigungsmöglichkeiten durch die neue Definition ausgehebelt
worden. Auch darauf reagiert der vorliegende Entwurf
des Finanzmarktanpassungsgesetzes und schafft eine
praktikable Lösung für diese Genossenschaften.
({1})
Diese Genossenschaften leisten einen erheblichen
Beitrag zur Energiewende und tragen zu ihrer Akzeptanz
bei. Bürgerliches Engagement sollte unterstützt und
nicht durch bürokratische Regulierungen unterbunden
werden. Darum sollten wir noch einmal prüfen, inwiefern man bei diesen Bürgerprojekten zu einer verträglichen Lösung im Hinblick auf die fachliche Eignung der
Geschäftsleiter kommt. Hier scheint es in der Auseinandersetzung bzw. den Gesprächen mit der BaFin in der
Praxis größere Probleme zu geben,
({2})
weil die Anforderungen im Einzelfall anscheinend doch
etwas hoch angesetzt werden. Von daher müssen wir uns
das, glaube ich, noch einmal ansehen.
Meine Damen und Herren, man kann schon heute sagen, ohne ein Hellseher sein zu müssen: Das Kapitalanlagegesetzbuch wird uns hier im Hohen Hause auch weiterhin beschäftigen. Wir haben uns gerade erst auf den
Weg gemacht. Die erste Wegstrecke haben wir erfolgreich genommen. Ich bin mir aber sicher, dass auch das
Finanzmarktanpassungsgesetz nicht die letzte Etappe gewesen sein wird. Es werden weitere folgen.
Ich freue mich auf die Beratungen im Ausschuss und
danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Vielen Dank. - Herzlichen Glückwunsch zu Ihrer ersten Rede hier im Hause!
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Susanna
Karawanskij, Fraktion Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Der vorliegende Gesetzentwurf nimmt tatsächlich vor allen Dingen Korrekturen
und Anpassungen im Nachgang zu EU-Regelungen vor.
Auch wenn sich in diesem Gesetzentwurf im Großen
und Ganzen vor allen Dingen redaktionelle Änderungen
finden, so möchte ich dennoch ein paar kritische Punkte
zu bedenken geben.
Zum Ersten hat mich verwundert, dass es einen so
starken Ansturm der Interessenverbände gab. Es scheint,
als habe man ein bisschen Lunte gerochen und als wolle
man uns en passant doch wieder ein paar Deregulierungen zu eigenen Gunsten unterjubeln. Um es an dieser
Stelle gleich ganz klar zu sagen: Wir stellen uns dem entgegen. Wir kritisieren den Gesetzentwurf vor allen Dingen in den grundlegenden Zielen; denn es gilt, Regulierungslücken zu schließen und die Finanzmärkte auf ihre
der Realwirtschaft und der Gesellschaft dienende Funktion zurückzuführen.
({0})
Zum Zweiten kam es zur Neuregelung der Mitgliedschaft in Verwaltungs- und Aufsichtsorganen. Zukünftig
sind auch Aufsichtsmandate bei Unternehmen zu berücksichtigen, die nicht der Aufsicht der BaFin unterliegen. Hier ist Vorsicht geboten - gerade bei den Sparkassen-Finanzgruppen als Verbundunternehmen -, weil bei
der Wahrnehmung solcher Mandate in Unternehmen einer Verbundgruppe und den sachlich angrenzenden Unternehmen die Höchstgrenze für Aufsichtsmandate sehr
schnell erreicht wird. Mehrere konzerninterne Aufsichtsposten werden im Hinblick auf das Erreichen der
Höchstgrenze bislang allerdings nicht angerechnet. Das
führte und führt zu Ämterhäufung, zu Vermachtung und
oftmals zu Überlastung.
Nach dem Prinzip „Sechs Augen sehen mehr als
zwei“ sollten unseres Erachtens generell auch konzerninterne Aufsichtsposten mitgezählt werden, und die Aufsicht sollte auf mehrere Personen verteilt werden.
({1})
Denn solange Bankgeschäfte so komplex sind, wie sie
bisher sind, und solange sie an die Aufsicht hohe Anforderungen stellen, ist es sehr legitim, zu fragen, ob die
Mitglieder, die mehrere Mandate wahrnehmen, ihrer
Aufgabe überhaupt gerecht werden können. Auch hier
ist unseres Erachtens ein gesundes Maß notwendig.
Damit zum dritten Punkt, und zwar zu den Regelungen im Kapitalanlagegesetzbuch. Es ist schade, dass der
Gesetzentwurf nicht dazu beiträgt, bestehende Lücken
zu schließen, sondern tatsächlich vor allem redaktionelle
Fragen behandelt. Positiv hervorzuheben ist, dass zukünftig nur solche Fonds als geschlossene Fonds bzw.
alternative Investmentfonds gelten sollen, bei denen eine
Rücknahme der Anteile vor Beginn der Auslaufphase
nicht möglich ist. Doch es ist nicht klar bzw. schlicht und
ergreifend nicht schlüssig, warum den ständig neuen
Umgehungsstrategien und Ausweichkonzepten von
Emittenten nicht ein breiterer Riegel vorgeschoben wird.
Nachrangdarlehen beispielsweise werden nicht reguliert, weder im Kapitalanlagegesetzbuch noch im Vermögensanlagengesetz. Genussrechte - das hat uns das
Beispiel Prokon vor Augen geführt - werden zum Leid
der Verbraucherinnen und Verbraucher ebenfalls nicht
erfasst.
Umgehungsmöglichkeiten bestehen auch darin - das
haben Sie selber gerade ausgeführt -, dass sogenannte
operativ tätige Unternehmen außerhalb des Finanzsektors durch Splitting des Anlagevermögens unterhalb
der 100-Millionen-Euro-Grenze bleiben können, ab der
die Regulierung beginnt, und damit eben nicht als Investmentfonds oder als Investmentvermögen gelten. Das
verwischt schlicht und ergreifend die Tatsache, dass operativ tätige Unternehmen außerhalb des Finanzsektors
durch massives Geldsammeln auch zu einem Investmentvermögen werden und damit im Prinzip auch unter
die Regulierung des Kapitalanlagegesetzbuches fallen
müssen.
Unseres Erachtens sind Nachbesserungen notwendig,
auch um dem grauen Kapitalmarkt das Wasser abzugraben, ihn tatsächlich zu regulieren. Die redaktionellen
Änderungen dürfen uns nicht blenden: Es bleibt viel zu
tun, um die Aufsicht von Unternehmen effektiver zu gestalten und vor allen Dingen um schlussendlich die
Schlupflöcher zu schließen, damit kein Hintertürchen
weiter offen bleibt.
In diesem Sinne vielen Dank.
({2})
Nächster Redner ist der Kollege Christian Petry, SPD,
dem ich hiermit das Wort erteile.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir behandeln heute Anpassungen von Finanzmarktregelungen. Das machen wir öfters; denn da ist
auch sehr viel zu tun seit der Finanzkrise. Mit diesem
Artikelgesetz regeln wir gleich in elf Gesetzen Vorschriften neu. Darunter sind viele Anpassungen und redaktionelle Änderungen.
Herr Dr. Meister, vielleicht eine kleine Anregung:
Das Gesetz an und für sich ist schon schwer zu lesen.
Die Begründung ist auch schwer zu lesen, sie sollte eher
auf den Punkt kommen. Das kann man etwas klarer formulieren; gesetzestechnisch sollte das auch so sein. Vielleicht den kleinen Hinweis - den Sie bitte mitnehmen -,
dass das in Zukunft auch berücksichtigt wird.
({0})
- Wir verlangen verständliche Gesetze: dass auch derjenige, der nicht hundertprozentig in der Materie steckt,
über die Begründung zumindest ziemlich schnell auf den
Punkt kommt und weiß, um was es geht.
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, auf zwei inhaltliche Änderungen möchte ich näher eingehen: Die
erste ist die Änderung im Kapitalanlagegesetzbuch, das
zweite sind die Änderungen im Kreditwesengesetz. Mit
diesen Änderungen werden weitere Antworten auf die
weltweite Finanzkrise gegeben; denn zunächst muss
man feststellen, dass es notwendig war, für die Überwachung von Liquiditätsrisiken international oder zumindest EU-weit geltende Regelungen in Kraft treten zu lassen; Basel III bzw. CRD IV sind hier zu nennen. Mit
stärkeren Eigenkapitalanforderungen an die Akteure
wollten wir für stabilere Märkte sorgen und auch für
mehr Transparenz auf diesen Märkten, um damit auch
Vertrauen zurückzugewinnen. In diesem Kontext sind
die Regelungen CRD IV und CRR zu nennen, die letztlich die Ursache sind, dass wir in den entsprechenden
gesetzlichen Regelungsgehalten neue Maßstäbe setzen
müssen. Daraus resultieren unter anderem die Anpassungen im Kreditwesengesetz, welche zu einer Begrenzung
der Zahl von Aufsichtsratsmandaten von Geschäftsführern und Vorständen führen sollen, die ihrer Aufsichtsfunktion damit tatsächlich besser nachkommen können.
Es ist ja ein Zeitfaktor, wenn man sich intensiv der
Kontrolle widmen will. In der jetzigen Fassung sind
aber nicht nur die sogenannten großen konzerninternen
bzw. -übergreifenden Mandatsausübungen erfasst, sondern auch nationale Akteure sind davon betroffen, insbesondere unsere öffentlichen Banken; hier sind zum
Beispiel die Sparkassen zu nennen.
Lassen Sie mich zunächst mit Blick auf die Gesetze
zur Umsetzung von CRD IV sagen, dass wir in der SPDFraktion die Kritik an der geforderten Beschränkung der
Zahl von Aufsichtsratsmandaten kennen und sie in den
weiteren Beratungen entsprechend würdigen werden.
Das ist bei uns angekommen.
Etwas ausführlicher möchte ich nun auf die zweite
wichtige Änderung im Finanzmarktbereich eingehen:
Das ist die Änderung, die im Kapitalanlagegesetzbuch
vorgenommen wird aufgrund der eben auch schon genannten Notwendigkeit der Umsetzung der entsprechenden Richtlinie auf EU-Ebene.
Durch diesen Schritt wird der Bereich der Investmentfonds transparenter, besser reguliert und unter Aufsicht gestellt. Außerdem führt dieser Schritt insbesondere dazu, dass der graue Kapitalmarkt in Deutschland
eingedämmt - auch das ist schon mehrfach genannt worden - und unter die Finanzaufsicht gestellt wird.
Das KAGB ist ein wichtiger Aufsichts- und Regulierungsrahmen. Ein besonderes Augenmerk legen wir hier
natürlich auch - das haben alle anderen Redner auch
schon gesagt - auf die Energiegenossenschaften und die
Bürgergenossenschaften. Wir wollen das Engagement
mit diesen Regelungen natürlich nicht eindämmen.
Von daher wurden bereits im vergangenen Juli auch
auf Anträge der SPD hin Ausnahmen für nicht operativ
tätige Genossenschaften eingeführt. Diese Genossenschaften würden sonst wie jeder andere Investmentfonds
strengen Regelungen unterliegen. Hier handelt es sich ja
insbesondere um lokale Akteure, Bürgergenossenschaften, die sich zusammenschließen und mit ehrenamtlichem Engagement arbeiten. Das wollten wir durch die
Ausnahmen natürlich auch weiterhin möglich machen.
({2})
Es ist daher richtig und wichtig, dass wir nochmals
anpassen und nachsteuern, weil die EU auch nachgesteuert hat. Dadurch wurde dies eben notwendig. Von daher
bin ich froh, dass wir mit diesem Gesetzentwurf tatsächlich das Ziel erreichen werden, dass das volkswirtschaftlich, gesellschaftlich und auch umweltpolitisch wichtige
Engagement unserer Bürgerinnen und Bürger auch weiterhin möglich ist - ja, sogar gestärkt wird.
Die Energiegenossenschaften sind natürlich nicht
gänzlich ohne staatliche Aufsicht. Auch das ist EUeinheitlich und mit Blick auf den Anlegerschutz sinnvoll. Diese Aufsichtspflicht verbleibt weiterhin bei der
BaFin. Die Registrierungspflicht sowie die Verwaltungsund Berichtspflichten sind zu erfüllen. Das ist auch in
Ordnung und leistbar.
Es gibt natürlich das von Ihnen genannte Problem,
Frau Karawanskij: die Eignung des Vorstandes bzw. des
Geschäftsführers. Hier müssen wir natürlich berücksichtigen, dass wir es in diesem Bereich unter Umständen
mit Ehrenamtlichen zu tun haben, die mit viel Herzblut
und Engagement tätig sind. In den Anhörungen und Beratungen werden wir darauf eingehen müssen; denn es
würde mir nicht sachgerecht erscheinen, hier die gleichen Maßstäbe wie bei einem Weltkonzern anzulegen.
Ich glaube, in den Ausschussdiskussionen können wir
hierfür eine Lösung finden.
Die bestehenden und die noch anzupassenden Ausnahmeregelungen werden eine aktive Beteiligung der
Bürgerinnen und Bürger in den Energiegenossenschaften
ermöglichen. Diese Forderung haben wir als SPD mit in
die Verhandlungen eingebracht, und wir freuen uns
natürlich darüber, dass dies parteiübergreifend - in der
Großen Koalition, aber auch darüber hinaus - so gesehen wird. Ich denke, das ist wiederum ein großer Schritt
hin zur Erhöhung der Transparenz auf dem Kapitalmarkt
und einer Stärkung des Verbraucherschutzes.
Mehr Vertrauen auf dem Kapitalmarkt ist unser Ziel,
und ich freue mich ganz besonders darauf, dass wir in
den Beratungen mit Sicherheit noch den einen oder
anderen Änderungsbeschluss fassen werden, um dieses
Ziel zu erreichen, sodass der Gesetzentwurf dann in allen Bereichen der Gesellschaft stärker akzeptiert werden
kann.
Ich glaube, mit diesem Entwurf machen wir einen
weiteren wichtigen Schritt im Hinblick auf die Regulierung, die Transparenz und das Vertrauen in unsere
Finanzmärkte.
Herzlichen Dank.
({3})
Für Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege
Dr. Thomas Gambke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja,
wir beraten heute eigentlich einen unproblematischen
Gesetzentwurf; denn ausweislich der Begründung geht
es nur um redaktionelle Änderungen. Man könnte ja einmal kritisch fragen, warum es gerade bei Finanzmarktgesetzen so viele redaktionelle Änderungen gibt, aber
ich will das gar nicht thematisieren. Es ist aber richtig,
dass wir uns das skeptisch anschauen und überprüfen, ob
es wirklich nur redaktionelle Änderungen sind.
Im materiellen Bereich - das ist angesprochen
worden, und ich will das auch kommentieren - muss
natürlich das Thema Energiegenossenschaften angefasst
werden, weil die Energiegenossenschaften als geschlossene Fonds anders reguliert werden müssen, als wir das
vorgesehen haben.
Ich finde es wirklich gut, dass wir uns das Thema
Energiegenossenschaften noch einmal gemeinsam - so
war meine Wahrnehmung im Finanzausschuss - sehr
präzise angucken, um sicherzustellen, dass sie auch im
Rahmen der neuen Regulierung so betrieben werden
können, wie wir das geplant haben.
Ein bisschen zynisch muss ich bemerken: Wenn Sie
von der Union sich jetzt für die Energiegenossenschaften
einsetzen und heute Morgen bei der Debatte über die Reform des EEG herausgekommen ist, dass Sie den Energiegenossenschaften das Wasser abgraben, indem Sie
nämlich Photovoltaik, Windenergie und Biogas praktisch nicht mehr zulassen,
({0})
dann frage ich mich schon, wo da Ihr Engagement sein
soll.
({1})
- Das ist nicht daneben. Sie haben ja darauf hingewiesen, wie viel Geld dort in die Hand genommen wurde.
Ich bin Mitglied in einer Energiegenossenschaft.
({2})
Wir gucken uns die Regelungen genau an. Herr
Brinkhaus, kommen Sie einmal zu uns nach Niederbayern, ich lade Sie hiermit ein. Dann gehen wir zu den fünf
Energiegenossenschaften und fragen dort, was wir angesichts der Gesetzgebung, die Sie heute Morgen angedeutet haben, noch machen können. Das ist nicht sehr viel.
({3})
Bei den Energiegenossenschaften müssen wir nachregulieren; das ist richtig. Aber ich möchte hier auf einen
Punkt aus der Praxis zu sprechen kommen: Wir können
den Mitgliedern der Energiegenossenschaften nicht
mehr, wie es das Genossenschaftsgesetz vorsieht, die
Rückzahlung der Genossenschaftsanteile zu einem beliebigen Zeitpunkt erlauben. In der Diskussion ist ein
Zeitraum von fünf Jahren. Ich möchte anregen, diesen
sehr langen Zeitraum dadurch abzukürzen, dass wir eine
Eigenkapitallimitierung vorsehen.
Wir haben uns das zusammen mit den Genossenschaftsverbänden sehr sorgfältig überlegt. Das wäre eine
Methode, die nach den Anforderungen des Gesetzes
notwendige Einengung zu erreichen, aber gleichzeitig
praxisorientiert vorzugehen. Meine Bitte ist, sich das
Thema wirklich genau anzusehen; denn wir haben jetzt
die Chance, hier nachzujustieren.
Ein weiterer Punkt, den ich ansprechen möchte - die
Kollegin von der Linken hat es schon angedeutet -, ist,
dass Sie im Rahmen der redaktionellen Änderungen dem
Druck der Verbände hinsichtlich einer Limitierung der
Aufsichtsratsmandate nicht nachgeben. Ich hielte das für
falsch. Sie haben sich in der schwarz-gelben Koalition
- das fand ich richtig - dem erklärten Willen vieler Verbände und Lobbyorganisationen widersetzt und eine sehr
starke Limitierung in das Gesetz hineingeschrieben.
Wir werden im weiteren Verlauf darauf achten, dass
Sie diese starke Limitierung weiter aufrechterhalten;
denn wir müssen - die Kollegin hat es schon gesagt, ich
kann das nur aus eigener Anschauung unterstützen; wir
wissen aus den Finanzmarktdebatten, was schiefgelaufen ist - dafür Sorge tragen, dass diejenigen, die in den
Aufsichtsräten sitzen, wirklich Verantwortung übernehmen und ausüben können. In diesem Sinne bitte ich Sie
- das hoffe ich auch -, dass Sie sich den Verbänden nach
wie vor widersetzen und die harten Kontrollen, die im
Gesetz festgeschrieben sind, weiterhin Bestand haben,
weil nur dann in den einzelnen Aufsichtsräten verantwortlich gehandelt werden kann.
Vielen Dank.
({4})
Abschließender Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Dr. Philipp Murmann, CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Besucher
sind nur noch wenige da an diesem wunderschönen
Abend.
({0})
- Aber die sind immer wichtig, genau. - Bevor ich auf
den heute vorliegenden Gesetzentwurf, über den schon
meine Vorredner viel gesagt haben, zu sprechen komme,
möchte ich eine These in den Raum stellen. Sie lautet:
Gute Finanzpolitik ist die Politik einer soliden Balance.
Darauf, warum ich das sage, komme ich noch zu sprechen.
Es wurde schon gesagt: Wir haben Korrekturen vorzunehmen. Ich denke, es ist immer sinnvoll und richtig,
dass wir unsere Gesetze von Zeit zu Zeit kritisch betrachten und Verbesserungen da, wo es sinnvoll ist, vornehmen. Ebenso wichtig wäre es sicherlich auch, das
eine oder andere Gesetz zu entschlacken. Das gelingt
uns nach meiner Wahrnehmung im Moment im Finanzund Steuerbereich noch nicht ausreichend. Das sollte immer unser Ansporn bleiben.
Neben den rein technischen Fragen, von denen Sie
schon gesprochen haben, möchte ich auf einige grundle2848
gende Aspekte unserer Balance in der Finanzpolitik eingehen. Was bedeutet für uns in der Großen Koalition eigentlich nachhaltige Finanzpolitik? Welche besonderen
Herausforderungen ergeben sich insbesondere auch aktuell, wenn wir auf die europäische Regulierung und auf
die Bankenregulierung schauen, und welche Konsequenzen müssen wir daraus ziehen?
Zu Beginn noch einmal ganz kurz zu dem Teil, für
den ich verantwortlich bin: die sogenannte CRD-IV-Regulierung, die Capital Requirements Directive, und die
Capital Requirements Regulation. Bei Letzterer, der
CRR, handelt es sich um eine Verordnung, die sich auf
die Institute bezieht und Eigenmittel, Risikovorschriften
und auch die Vorschriften für Großkredite und Liquidität
regelt. Die CRD IV hingegen richtet sich an die Mitgliedstaaten und regelt die Beaufsichtigung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen. Sie formuliert Anforderungen an die unterschiedlichen Kapitalpuffer,
Sanktionen bei Verstößen und ähnliche Regulierungen.
Das ist der technische Teil.
Seit dem 1. Januar gelten neue Regulierungen. Das
wurde schon gesagt. Ich denke, wir haben einen guten
Schritt in die richtige Richtung gemacht, um bei zukünftigen Finanzkrisen angemessen reagieren zu können.
Es ist natürlich richtig: Wir müssen weiter daran arbeiten, dass wir ein qualitativ besseres System bekommen. Aber es gibt auch Probleme in diesem Bereich, die
ich ebenfalls ansprechen möchte.
Was die Frage angeht, was in Zukunft auf unsere Banken zukommt, so sind einerseits Regulierung, erhöhte
Eigenkapitalanforderungen, die absolut sinnvoll und
richtig sind, und die Bankenabgabe, die europaweit eingeführt werden soll, im Gespräch. Hinzu kommen die
Finanztransaktionsteuer und Ähnliches.
Es ist ein ziemliches Gewicht, das wir unserem Finanzsystem aufbürden. Wir müssen darauf achten, dass
wir in der Balance bleiben. Insofern müssen wir, denke
ich, dafür sorgen, dass kein negativer Nebeneffekt eintritt und plötzlich die Kreditversorgung in der Wirtschaft
in Not gerät. Denn wir wollen schließlich, dass die Banken investieren, auch in Wagniskapital, die Gründung
von Unternehmen fördern und unsere Unternehmen mit
Kapital ausstatten. Wir müssen immer aufpassen, dass
die solide Balance nicht gefährdet wird.
Es wurde schon gesagt: Ein Teil betrifft die Beaufsichtigung von Tochtergesellschaften bzw. Aufsichtsmandate. Mit Blick auf unser Sparkassensystem - wir
haben damit in Deutschland ein ganz besonderes System müssen wir auch immer differenzieren: Handelt es sich
um eine echte Aufsicht, oder handelt es sich nicht eigentlich um eine Art von Geschäftsführung in einem
Verbund? Damit muss man sich sicherlich noch genauer
beschäftigen, um zu erreichen, dass wir auf der einen
Seite eine klare Regelung haben, auf der anderen Seite
aber auch diesen Strukturen, die lange gewachsen sind,
gerecht werden. Auch dabei kommt es wieder auf eine
gute Balance an.
Als Finanzpolitiker - das möchte ich zum Schluss sagen - sind wir für eine nachhaltige Finanzpolitik verantwortlich. Das beginnt mit dem stabilen Bundeshaushalt,
den wir jetzt in erster Lesung eingebracht haben und im
nächsten Jahr zum ersten Mal ausgeglichen haben werden.
Wichtiger Bestandteil sind aber auch nachhaltige Einnahmen. Nachhaltige Einnahmen kommen letztendlich
von Unternehmen, die Geld verdienen, investieren, Risiken eingehen, Mitarbeiter ausbilden und beschäftigen,
Forschung und Entwicklung betreiben und neue Geschäftsfelder eröffnen. All diese Bereiche müssen wir
weiter fördern. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht mit
einer zu starken Regulierung eingreifen.
({1})
Wir haben uns in der Großen Koalition darauf verständigt, dass wir unser Steuertableau stabil halten wollen, auch um die Balance, die sich jetzt eingespielt hat,
und unsere gute Perspektive nicht zu gefährden. Mittelfristig werden wir aber auch Reserven aufbauen müssen.
Das ist nicht nur im Bankenbereich der Fall, sondern es
wird auch in anderen Bereichen notwendig sein. Denn
wir müssen in der Zukunft nicht nur in der Infrastruktur
und in dem Bereich Bildung und Forschung Investitionen tätigen.
Wir haben eine ganze Menge Themen vor uns. Nachhaltige Finanzpolitik hat auch damit zu tun, Reserven
aufzubauen.
Deswegen bitte ich Sie: Achten Sie bei allen zukünftigen Finanzplänen und bei allen guten Ideen immer darauf, dass die solide Balance gewährleistet bleibt! Wir in
der Großen Koalition haben uns das vorgenommen, und
wir freuen uns auf Ihre Unterstützung.
Vielen Dank.
({2})
Vielen Dank, Herr Kollege Murmann. - Damit
schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/1305 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe
niemanden hier im Hohen Hause, der einen anderen Vorschlag hätte. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt die Zusatzpunkte 11 und 12 auf:
ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Friedrich Ostendorff, Harald Ebner, Peter
Meiwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Den Umgang mit Nährstoffen an die Umwelt
anpassen
Drucksache 18/1338
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft ({0})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Vizepräsident Johannes Singhammer
ZP 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Kirsten Tackmann, Caren Lay, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Wasserqualität für die Zukunft sichern Düngerecht novellieren
Drucksache 18/1332
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft ({1})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Dazu sehe ich
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Friedrich Ostendorff, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift; allein die Dosis macht’s …“ So sprach Paracelsus vor langer Zeit. Auf die Dosis kommt es an, wie die Wirkung
ausfällt. Wer aber wie diese Bundesregierung auf
Fleischexport und auf weiteren Zubau von Großmastanlagen für Schweine und Geflügel ohne ausreichende Fläche setzt, der hat ein Problem mit explodierenden Nitratund Phosphatwerten.
({0})
An den Orten, wo zu viele Tiere sind, wird wertvoller
Dünger zum problematischen Abfall, und die Düngung
wird zur Entsorgung. Manche reden auch von Verklappung. Das hat mit ordnungsgemäßer Landwirtschaft
nichts mehr zu tun.
({1})
Über die Feststellung des Deutschen Bauernverbands:
„Die bisherige deutsche Düngeverordnung hat sich bewährt“ kann man nur den Kopf schütteln. Tatsache ist:
Die Europäische Kommission will ein Vertragsverletzungsverfahren wegen unzureichender Einhaltung der
Nitratrichtlinie einleiten. Der von der Bundesregierung
beauftragte Sachverständigenrat für Umweltfragen sagt:
Das muss sofort geändert werden. - Das Ziel von 2010,
den Stickstoffüberschuss auf 80 Kilogramm Stickstoff
pro Hektar zu begrenzen, wurde nicht erreicht. Deutschland und Malta haben nach der letzten Erhebung der EU
vor wenigen Wochen im Wasser die höchsten Nitratwerte Europas. Während Malta nur über 800 Hektar
landwirtschaftliche Nutzfläche verfügt, haben wir deutlich mehr, nämlich viele Millionen Hektar.
Die Wasserverbände haben in der Vergangenheit viel
Geld investiert, um die hohen Nitratwerte im Wasser abzusenken. Das führte zu deutlichen Verbesserungen, hat
aber den Wasserpreis in die Höhe getrieben, den die
Kunden zu zahlen haben, nicht aber die Verursacher.
Meine Damen und Herren, ist es nicht nach wie vor so,
dass Wasser Allgemeingut ist und damit uns allen zur
Verfügung stehen muss und dass keiner das Recht hat,
Wasser in seiner Qualität zu beeinträchtigen?
({2})
Seit kurzem steigen die Nitratbelastungen wieder
deutlich an. Wasser ist das Gewissen, das uns anzeigt,
was vor 10 bis 15 Jahren falsch gelaufen ist. Die Werte,
von denen wir reden - bis zu 250 Milligramm pro Liter
in manchen Brunnen und Messstellen -, wurden vor vielen Jahren verursacht. Was glauben Sie, wie diese Brunnen in weiteren zehn Jahren angesichts der heutigen
Tierzuwächse aussehen werden? In einigen Landesteilen
Nordrhein-Westfalens ist das erste Grundwasserstockwerk für die Trinkwasserversorgung bereits ungeeignet.
Diese Regionen sind gezwungen, tiefere Grundwasservorkommen zu nutzen. Wenn wir nichts ändern, werden
bald auch diese deutlich über dem Grenzwert von
50 Milligramm Nitrat pro Liter liegen.
Es sind nicht nur die Düngemittel, die das Fass zum
Überlaufen bringen. Auch Gärsubstrate aus Biogasanlagen und Ammoniakgase aus Tierställen sowie Gase, die
beim Ausbringen der Gülle entstehen, kommen als Ammoniumsalze irgendwo wieder herunter und gelangen in
den Naturkreislauf. Das zerstört die Artenvielfalt, unsere
Landschaft und unsere Umwelt. 95 Prozent des Ammoniaks stammen aus der deutschen Landwirtschaft.
Sie von der Regierung, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind gefordert, endlich zu handeln. Wo bleibt denn
die schon länger angekündigte Novelle des Düngegesetzes? Bleibt sie nach wie vor in der Schublade, oder wird
sie doch nach den Wahlen das Licht der Öffentlichkeit
erblicken?
Unsere Forderungen sind: Erstens. Die Gärsubstrate
und Bioabfälle sollen zukünftig miterfasst werden, und
die Ausbringungsobergrenze von 170 Kilogramm Stickstoff pro Hektar muss endlich gelten.
({3})
Zweitens. Es müssen endlich alle Düngemittel per
Hoftorbilanz wie in den Trinkwasserschutzgebieten genau erfasst und die Stickstoffüberschüsse am besten auf
50 Kilogramm pro Hektar und Jahr begrenzt werden.
Drittens. Die Ausbringungssperrfristen müssen verlängert und EU-weit vereinheitlicht werden.
Viertens. Die Lagermöglichkeit vor allem für gewerbliche Betriebe ohne ausreichende Fläche muss auf neun
Monate erhöht werden.
Fünftens. Die Ausbringungstechnik muss verbessert
werden.
Sechstens. Die Kontrollen der Landwirtschaftsämter
und -kammern müssen endlich greifen.
Aber vor allem muss die Tierhaltung endlich an die
Fläche angepasst werden.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unterstützen Sie unseren Antrag, um die dramatische Wassersituation in
Deutschland endlich zu entschärfen. Das ist unser Auftrag.
({5})
Als nächster Redner spricht der Kollege Josef Rief,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Sie sind zwar mit allen Wassern gewaschen,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der Links- und der
Grünenfraktion, doch Ihre Anträge sind echte Schläge
ins Wasser.
({0})
Natürlich steckt die Bundesregierung in schwierigen
Verhandlungen mit der EU über die Novellierung unserer Düngeverordnung. Uns geht es dabei darum, für unsere Bauern eine gute fachliche Praxis festzulegen, die
die EU-Nitratrichtlinie einhält und unser Wasser als
wichtigstes Lebensmittel schützt sowie für unsere Landwirte in der täglichen Arbeit auch praktikabel ist.
Die Opposition versucht mit umfangreichen Forderungen in den vorliegenden Anträgen, diese Verhandlungen noch zu verkomplizieren; die Anträge gehen in der
Summe in die falsche Richtung. Dem können wir nicht
zustimmen.
({1})
Sie wissen alle: Das Auslaufen der Derogation hat die
Landwirte verunsichert. Deshalb wollen wir die Zulassung der Derogation für nächstes Jahr wieder erreichen.
({2})
Dabei handelt es sich um die Möglichkeit, unter bestimmten Voraussetzungen und auf bestimmten Flächen
pro Hektar bis zu 230 Kilogramm Stickstoff in Form von
tierischem Wirtschaftsdünger, also Gülle und Mist, auszubringen, wenn es sich in der Nährstoffbilanz darstellen
lässt.
Es ist ein Merkmal einer modernen und nachhaltigen
Landwirtschaft, dass nach Entzug und Ertrag gedüngt
wird.
({3})
„Viel hilft viel“, wie viele Zeitgenossen unterstellen das ist falsch. Es ist das Motto einer längst vergangenen
Steinzeitökonomie. Lassen Sie uns am bisherigen System der Düngeverordnung festhalten. Sie muss praxisgerecht sein, den nötigen Umweltschutz berücksichtigen
und darf auch für kleine Betriebe keinen weiteren Bürokratieaufwand bedeuten.
({4})
Es gehört aber auch ein besseres Grundwassermessstellennetz dazu, das nicht als Belastungsnetz funktioniert. Jeder, der sich informiert hat, weiß, dass wir vor
allem aufgrund dieser fehlerhaften Meldungen in
Schwierigkeiten geraten sind.
({5})
Wir brauchen ein Messstellennetz, das Vergleichbarkeit
in Europa ermöglicht und uns sagt, wo etwas getan werden muss und wo nicht.
({6})
Meine Damen und Herren von der Opposition, es
nützt niemandem, die Nährstoffausbringung dort zu reduzieren, wo das Wasser in Ordnung ist. Laut Statistik
haben wir bei 73 Prozent der Wassermessstellen keinen
erhöhten Nitratgehalt. Davon lese ich in Ihren Anträgen
nichts.
({7})
Die Forderungen der Opposition sind unverständlich.
Eine Entscheidung des Bundestages für Ihre Anträge
wäre bei den Verhandlungen mit der EU nicht zielführend. Die ordentlich wirtschaftenden Landwirte würden
nur weiter belastet. Ich habe den Eindruck: Es geht hier
nicht um die Sache. Es geht wieder einmal um Ideologie.
So fordern etwa die Grünen in ihrem Antrag eine
Mindestlagerkapazität für organischen Flüssigdünger
von neun Monaten statt bisher sechs. Das würde für
Kleinbetriebe eine erhebliche Mehrbelastung bedeuten
und würde den Strukturwandel weiter vorantreiben.
({8})
In Ihren Reden, vor allem in Sonntagsreden, wollen Sie,
die Grünen, diesen Strukturwandel ja auch nicht.
({9})
Sie fordern weiter eine feste Obergrenze von 170 Kilogramm Stickstoff pro Hektar und Jahr für die Ausbringung,
({10})
also einen permanenten Verzicht auf die Derogationslösung. Das ist einfach nicht praxisgerecht.
({11})
Dazu kommen noch viele andere Punkte: von Verschärfungen vieler Vorschriften oder unpraktikablen Ausbringungstechniken bis hin zur kostenpflichtigen Zwangsberatung mit Androhung von Bußgeld für die Bauern.
({12})
Hier soll der ganze Berufsstand unter Generalverdacht
gestellt werden.
Unsere Landwirte in Deutschland sind bestens ausgebildet und bedürfen nicht bei jeder Gelegenheit der Belehrung durch Leute, die wenig Kompetenz haben.
({13})
In Sonntagsreden will die Opposition immer das Beste
für die Bauern. Werktags arbeitet die Koalition für sachgerechte Lösungen. Das ist der Unterschied, meine Damen und Herren.
({14})
Die Menschen verstehen das sehr gut, vor allem unsere
Bauern.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({15})
Als nächste Rednerin spricht die Kollegin Dr. Kirsten
Tackmann, die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Gäste! Kommen wir einmal von der Bauernverbandspolemik zurück zur Realität. Ich finde schon, dass
die heutige Debatte zum Düngerecht überfällig ist. Es ist
ja kein erfundenes Problem, sondern ein real existierendes. Nicht umsonst gibt es das Vertragsverletzungsverfahren der EU-Kommission gegen Deutschland wegen
nicht ausreichender Umsetzung der Nitratrichtlinie.
({0})
Der Bundesrat beschäftigt sich gerade mit zwei Gesetzesinitiativen zum Düngerecht.
Drei wissenschaftliche Gremien zur Politikberatung
der Bundesregierung
({1})
haben sich im August 2013 gemeinsam geäußert und
haben uns zum Handeln aufgefordert. Dies waren der
Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik, der Wissenschaftliche Beirat für Düngungsfragen und der Sachverständigenrat für Umweltfragen. Ich zitiere einmal aus
der Presseerklärung dieser drei Gremien zu ihrem Kurzgutachten:
Trotz deutlicher Verbesserungen in den letzten
20 Jahren führen hohe Stickstoff- und Phosphatausträge aus der Landwirtschaft nach wie vor dazu,
dass zentrale Umweltziele der Bundesregierung,
wie auch der EU, nicht erreicht werden.
Wir können es doch nicht ignorieren, wenn uns drei Beratungsgremien sagen, wir müssten etwas ändern.
({2})
Ich zitiere weiter aus dieser Presseerklärung:
Die Räte empfehlen nachdrücklich, die anstehende
Novellierung der Düngeverordnung für umfassende
Reformen zu nutzen.
Auch aus der Praxis erreichen zumindest mich sehr wohl
Forderungen nach einer Änderung.
Ich bin relativ häufig in Betrieben unterwegs. Neulich
fragte mich ein Landwirt, mit dem ich über das aktuelle
Düngerecht reden wollte: Geht es jetzt um Entsorgung
oder um Düngung? Ich finde, das ist zwar eine polemische Frage, aber es ist eigentlich die Grundfrage, die wir
als Gesetzgeber beantworten müssen.
({3})
Gleichzeitig ist es ein Zielkonflikt. Denn natürlich geht
es auch um Entsorgung von Gülle und Mist aus der Tierhaltung; das ist keine Frage. Deshalb sagt die Linke: So
viel Düngung wie notwendig für eine gute Ernte und so
wenig Düngung wie möglich, um die Umwelt nicht zu
schädigen.
({4})
Dabei geht es natürlich um Grundwasser und unsere Gewässer. Ich fände es schön, wenn der Verweis auf die
gute fachliche Praxis ausreichen würde. Aber wenn es
eben nicht so ist, dann müssen wir als Gesetzgeber handeln,
({5})
und das eben nicht erst Ende des Jahres. So viel Zeit will
sich nämlich die Bundesregierung lassen, wie aus ihrer
Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linken hervorgeht.
In Deutschland lag immerhin bei jeder zweiten Wassergütemessstelle die mittlere Nitratkonzentration oberhalb
des Grenzwertes. In manchen Regionen wurde er sogar
deutlich überschritten. Natürlich ist es richtig, historische Belastungen von den Belastungen zu unterscheiden, die aktuell entstanden sind. Natürlich ist es auch
richtig, dass Durchschnittswerte über die reale Situation
in bestimmten Regionen nicht viel sagen. Aber Tatsache
bleibt doch, dass in vielen Regionen die Nitratausträge
deutlich zu hoch sind.
Zu den Ursachen möchte ich noch einmal aus der
Presseerklärung der Räte der Bundesregierung zitieren:
Insbesondere in vielen Regionen intensiver Tierhaltung und Bioenergieproduktion sowie in Regionen
mit einem hohen Anteil von Sonderkulturen nehmen die Nährstoffausträge sogar zu.
In solchen Regionen überschreitet die Nitratbelastung
des Grundwassers teilweise das Siebenfache des für
Säuglinge geltenden Grenzwertes. Auch das ist ein Argument, für die Linke zumindest, ernsthaft darüber nachzudenken, dass Dichte und Größe von Tierhaltungen in
den Regionen tatsächlich gedeckelt werden. Also nicht
Gülle verteilen, sondern Tierhaltung verteilen!
({6})
Es wird geschätzt, dass knapp 1,9 Millionen Tonnen
Stickstoff mehr ausgebracht werden, als Boden und
Tiere überhaupt verwenden können. Das heißt: Jährlich
werden 1,8 Milliarden Euro sinnlos für Stickstoffdünger
ausgegeben. Das ist kein betriebswirtschaftliches Problem, das sich am Markt quasi von allein erledigt; denn
diese Nährstoffüberschüsse geraten in unser Trinkwasser
und in die Gewässer, zuletzt in die Meere. Das heißt wiederum, dass wir alle die Kosten für die Umweltschäden
und für die Trinkwasseraufbereitung tragen müssen.
Auch deshalb will die Linke das dringend ändern.
({7})
Unsere Forderungen, Herr Rief, lehnen sich übrigens
ganz stark an die Empfehlungen der Wissenschaftlichen
Räte an; sie sind nicht irgendwie ausgedacht. Dabei ist
uns die Durchsetzung des Verursacherprinzips besonders
wichtig. Wir wollen keine pauschalen Maßnahmen gegen die Landwirtschaft insgesamt, aber wir wollen, dass
die Probleme schneller erkannt werden und konsequent
gelöst werden. Die konkrete Situation vor Ort soll schon
berücksichtigt werden, aber das darf nicht dazu führen,
dass das Ziel aufgeweicht wird, die Nährstoffüberschüsse zu reduzieren. Deswegen freue ich mich sehr auf
die Diskussion darüber, wie wir so etwas erreichen können.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({8})
Für die Sozialdemokraten spricht jetzt die Kollegin
Rita Hagl-Kehl.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlagen für heutige und künftige Generationen ist ein
Kernanliegen sozialdemokratischer Politik. Dies findet
sich auch im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD
wieder. Sie wissen, dass wir uns in der Großen Koalition
für den Schutz der Umwelt, insbesondere der landwirtschaftlich genutzten Böden, und für den Gewässerschutz
einsetzen.
Ich möchte an dieser Stelle unterstreichen, dass der
Schutz von Gewässern nicht nur den Schutz der Oberflächengewässer, sondern ausdrücklich auch den des
Grundwassers mit einschließt.
({0})
Wir müssen alles dafür tun, dass Wasser beste Trinkwassereigenschaften behält und nicht erst nach teuren Aufbereitungsverfahren als Trinkwasser aus der Leitung
kommen kann. Denn das würde bedeuten, dass Gewinne
durch Düngung auf Kosten der Allgemeinheit und zulasten der Umwelt erzielt würden. Im Koalitionsvertrag
heißt es dazu - ich zitiere -:
Der Schutz der Gewässer vor Nährstoffeinträgen
sowie Schadstoffen soll verstärkt und rechtlich so
gestaltet werden, dass Fehlentwicklungen korrigiert
werden. Wir werden die Klärschlammausbringung
zu Düngezwecken beenden und Phosphor und andere Nährstoffe zurückgewinnen.
({1})
Mit der Düngeverordnung wird die EU-Nitratrichtlinie umgesetzt. Erklärtes Ziel der Nitratrichtlinie ist es,
Grund- und Oberflächengewässer vor Nitratverunreinigungen aus der Landwirtschaft zu schützen und für eine
gute Wasserqualität zu sorgen. Damit verbunden sind die
Ziele der Wasserrahmenrichtlinie: guter Gewässerzustand europaweit. Trotz Fortschritten in den letzten Jahrzenten sind die Umweltziele der genannten Richtlinien
in Deutschland noch nicht erreicht. Es ist uns allen bewusst, dass - nicht zuletzt aus EU-rechtlichen Gründen Handlungsbedarf für eine Novelle zur Düngeverordnung
in Deutschland besteht. Eine Novelle hätte schon in der
letzten Legislaturperiode beschlossen werden müssen.
({2})
Als Koalition werden wir unseren Teil der Verantwortung mit der bevorstehenden Neuregelung vollumfänglich wahrnehmen.
Die beiden Anträge von Bündnis 90/Die Grünen und
der Linken lesen sich wie eine Zusammenfassung aktueller wissenschaftlicher Gutachten. Diese Gutachten
sind den mit den Themen „Umweltschutz“, „Gewässerschutz“ und „Novelle zur Düngeverordnung“ befassten
Abgeordneten aller Parteien dieses Hauses bestens
bekannt. Die wissenschaftlichen Ergebnisse und Empfehlungen der einschlägigen Gutachten werden die
Grundlage für die bevorstehende Novelle zur Düngeverordnung bilden. Am 25. Mai sind Europawahlen. Das
war sicher auch ein Grund für die eilends eingebrachten
Anträge der Opposition. Sie wollten sich in diesem Feld
noch vor der Wahl positionieren, obwohl Sie natürlich
wissen, dass wir als Koalition bereits intensiv an der Novelle im Düngemittelrecht arbeiten.
({3})
Ich freue mich, dass Sie mir heute durch Ihre Anträge
die Gelegenheit geben, die Position der Sozialdemokra-
tischen Partei Deutschlands noch einmal darzustellen.
Das ist gut so; denn Transparenz ist gut für die Demo-
kratie.
Zur Position der SPD. Die Neuregelung der Dünge-
verordnung muss im Kern mindestens folgende Punkte
enthalten:
Erstens. Schulungs- und Beratungsprogramme müs-
sen weiterentwickelt und intensiviert werden, um den
Stand der Technik schneller in die Praxis umsetzen zu
können und dadurch das betriebliche Nährstoffmanage-
ment zu optimieren. Ziel ist es, Düngeverluste zu mini-
mieren.
Zweitens. Die Düngeverordnung ist dahin gehend zu
verschärfen, dass a) die Stickstoffüberschüsse auf 50 Ki-
logramm pro Hektar und Jahr begrenzt werden, b) die
Stickstoff- und Phosphatbilanz mittels einer Hoftorbilanz erhoben wird, die alle relevanten Nährstoffströme
- auch Gärreste und Futtermittel - einschließt,
({4})
c) die Ausbringung von Gärresten aus Biogasanlagen in
die Stickstoffbilanz eingeht sowie d) eine zielgenaue,
bedarfsgerechte und standortangepasste Düngung definiert und ermöglicht wird.
Drittens. Es muss der rechtliche Rahmen geschaffen
werden, der die Kontrolle einer konsequenten Einhaltung der Düngeverordnung ermöglicht und bei Bedarf
wirksame Sanktionsmaßnahmen sicherstellt. Damit meinen wir nicht Bußgelder, sondern kostenpflichtige Nachschulungen. Dann hat der Bauer auch etwas davon, weil
er etwas lernt.
({5})
Viertens. Die Belange des Biodiversitäts- und Klimaschutzes müssen berücksichtigt werden.
({6})
Über diese Kernforderungen hinaus sind natürlich
weitere Regelungen im Detail erforderlich, zum Beispiel
die strikte Einhaltung von Abstandsregelungen. 1 Meter
Abstand zu Oberflächengewässer bei der Düngemittelausbringung ist deutlich zu wenig;
({7})
ich fordere mindestens 5 Meter Abstand. Wir benötigen
kostenfreie EDV-Tools für die Landwirte zur Düngebedarfsermittlung, die Erweiterung von Sperrfristen auf
dem Ackerland und zudem die Verlängerung der Mindestlagerdauer für Wirtschaftsdünger. In diesem Zusammenhang muss über eine finanzielle Unterstützung der
Landwirte beim Bau von Güllebehältern nachgedacht
werden.
({8})
Ich bin der Überzeugung, dass die „gute fachliche Praxis“ genauer definiert werden muss. Das gilt insbesondere für die Anforderungen an die Ausbringungs- und
Einarbeitungstechniken.
Die Novelle zum Düngerecht ist ein wichtiges Anliegen für mehr Umweltschutz über alle Parteigrenzen hinweg. Ich bin sicher, dass wir nach der Europawahl auch
in den Ausschüssen gute und konstruktive Gespräche
führen können.
({9})
Zur Reduzierung der Stickstoff- und Phosphoreinträge
brauchen wir sinnvolle und zugleich praktikable Lösungen. Ich bin zuversichtlich, dass wir bis Ende 2014 die
Novelle zur Düngemittelverordnung beschlossen haben.
Herzlichen Dank.
({10})
Abschließender Redner zu diesem Debattenpunkt
- und vermutlich auch im Rahmen dieses langen Debattentages - ist der Kollege Artur Auernhammer, CDU/
CSU.
({0})
Verehrter Herr Präsident, da ich der letzte Redner dieses Abends bin, obliegt es mir wahrscheinlich, so lange
zu reden, bis wir in Ihren Geburtstag hinein debattieren.
Deshalb bitte ich, die Redezeit dementsprechend einzustellen.
({0})
Das wäre doch eine sehr großzügige Bemessung der
Redezeit.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in
Deutschland nicht nur ein Problem mit einem Vertragsverletzungsverfahren bzw. einer drohenden Klage, sondern auch mit der Nitratbelastung in deutschen Gewässern. Ich glaube, da sind wir uns einig, so einig, dass wir
heute über Gülle und Mist im Deutschen Bundestag
sprechen.
Als praktizierender Landwirt ist es mir wichtig, dass
wir die Düngeverordnung überarbeiten, und zwar mit
dem Ziel, die Nitratwerte zu senken, die Gewässerqualität nachhaltig zu verbessern und - das ist mir besonders
wichtig - Landwirtschaft und das Düngen unserer Felder
weiterhin bedarfsgerecht zu ermöglichen. An einer
solchen substanziellen Verbesserung der Verordnung
arbeitet das Bundeslandwirtschaftsministerium - und
das ohne diese Anträge. Die Kompetenz des Bundeslandwirtschaftsministeriums, an der Spitze der Minister
sowie seine ganze Mann- und Frauschaft, ist groß genug,
um diese Herausforderungen anzunehmen und hier eine
gute Lösung herbeizuführen. Das ist doch selbstverständlich.
({0})
Dass die Novellierung der Düngeverordnung unter
dem Gesichtspunkt des Gewässerschutzes, beispielsweise in Form einer Senkung der Nitratbelastung, sein
muss, ist uns klar. Wir wissen: Zu hohe Gewässerbelastungen gefährden nicht zuletzt die Volksgesundheit. Eine
Novelle muss daher so weitreichend wie möglich erfolgen, zum Schutz der Bürgerinnen und Bürger. Doch was
ist nötig, und was ist erforderlich?
Beim Lesen Ihrer Anträge, meine Kolleginnen und
Kollegen von den Linken und von den Grünen, fühlt
man sich gezwungen, darauf hinzuweisen, dass es auch
in Deutschland noch möglich sein muss, Landwirtschaft
zu betreiben.
({1})
Ich habe langsam den Eindruck, Sie wollen die deutsche
Landwirtschaft abschaffen.
({2})
- Ja. - Düngen muss weiterhin möglich sein. Der Landwirt muss weiterhin seine Erfahrungen und Kenntnisse
aus Ausbildung und Praxis einbringen dürfen, um nicht
allein Landwirtschaft stur nach richtlinienkonformem
Handlungsmuster praktizieren zu dürfen. Landwirtschaft
ist nachhaltige, lebendige Nahrungsmittelproduktion
und ist auf Nährstoffausbringung angewiesen.
In der gesamten Nitratdebatte kommt aus meiner
Sicht aber ein Punkt zu kurz. Es sind nicht nur die Viehhalter, die Düngemittel ausbringen. Das geschieht auch
bei der in den letzten Jahren stark angewachsenen Biogasproduktion. Gerade heute Morgen haben sich viele
bei der Demonstration der Biogasanlagenbetreiber in
richtigen Sonntagsreden zur Biogasproduktion bekannt,
auch die Vertreter der Linken und der Grünen.
({3})
Jetzt heißt es aber auch, hier Farbe zu bekennen und zu
sagen: Wir müssen handeln. Das habe ich heute Morgen
da draußen vermisst.
({4})
Wir wissen, dass wir mit einer zunehmenden Auflagenpolitik unter unseren Landwirten die Flächenkonkurrenz noch weiter anheizen und die Flächen nicht mehr
ausreichen werden. Das müssen wir auch im Rahmen
der Gemeinsamen Agrarpolitik berücksichtigen.
Verantwortungsbewusste Gülleausbringung geschieht
bereits vielfach vor Ort. Ich bin selbst Vorsitzender eines
Maschinenringes. Seit 20 Jahren haben wir eine sogenannte Güllegemeinschaft bei uns im Ring im Einsatz,
mit 19 Fässern, mit der entsprechenden Bereifung und einer umweltfreundlichen bodennahen Ausbringtechnik.
165 Landwirte im Landkreis nutzen dieses Angebot und
bringen bis zu 400 000 Kubikmeter Gülle umweltfreundlich aus. Das ist ein Beitrag für die Umwelt, den unsere
Bauern freiwillig leisten und der über den Maschinenring organisiert wird.
Um die Klage der EU-Kommission abzuwenden und
eine Neugenehmigung der Derogationsregelung für
Wirtschaftsdünger tierischer Herkunft für die deutsche
Landwirtschaft zu bewirken, müssen wir handeln. Ich
habe das eben am Beispiel unseres Maschinenrings angeführt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, Ihr
Forderungssammelsurium enthält viele Punkte, die ich
nicht mittragen kann. Ich nenne nur die neunmonatige
Güllelagerkapazität. Das würde in vielen kleinen bäuerlichen Betrieben dazu führen,
({5})
dass über 50-jährige Landwirte nicht mehr die notwendigen Investitionen tätigen, sondern ihren Betrieb und damit die Viehhaltung einstellen.
({6})
Auch dies will ich einmal deutlich sagen: Ich habe in
dieser Legislaturperiode schon viele Anträge der Grünen
zur Agrarpolitik gelesen. Aus den meisten dieser Anträge ziehe ich die Schlussfolgerung, dass die Grünen
die bäuerliche Landwirtschaft in Deutschland abschaffen
wollen. Das lasse ich Ihnen aber nicht durchgehen.
({7})
Ein Blick auf die Lebenswirklichkeit offenbart, dass
die von Ihnen angedachten Investitionshilfen das Risiko
nicht kompensieren können. In diesem Zusammenhang
will ich den Hinweis geben, dass die Schweinehaltungsverordnung dazu geführt hat, dass kleinere Schweinehaltungsbetriebe bei uns aufgehört haben. Wir dürfen keine
Düngeauflagen formulieren, die zu Betriebsaufgaben
führen. Schon wegen dieser Forderungen sehe ich Ihre
Anträge mehr als kritisch. Im Ganzen sind sie nicht zustimmungsfähig und müssen abgelehnt werden.
Herr Präsident, ich danke Ihnen für Ihre Nachsicht bei
meiner Redezeit. Ich glaube aber, wir können nicht mehr
so lange warten, um Ihren Geburtstag zu feiern.
Vielen Dank.
({8})
Vielen Dank, Herr Kollege Auernhammer, dass Sie
die von Ihnen angekündigte Redezeit nicht vollständig
ausgeschöpft haben.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/1338 und 18/1332 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung steuerlicher Regelungen an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
Drucksache 18/1306
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Die Reden dazu sollen zu Protokoll gegeben wer-
den.1) - Ich sehe niemanden, der dagegen Einwände er-
hebt.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/1306 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Dazu
gibt es keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike
Hänsel, Niema Movassat, Wolfgang Gehrcke,
1) Anlage 5
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Nachhaltige Entwicklungsziele der Vereinten
Nationen - Soziale Ungleichheit weltweit
überwinden
Drucksache 18/1328
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Auch hierzu sollen die Reden zu Protokoll gegeben
werden.2) - Ich sehe niemanden, der dagegen Einspruch
erhebt.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/1328 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Dagegen erhebt
sich kein Widerspruch. Damit ist die Überweisung so
beschlossen.
Wir sind damit nach annähernd 14 Stunden Debattenzeit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung angelangt.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen
Bundestages auf morgen, Freitag, den 9. Mai 2014,
9 Uhr, ein.
Ich danke allen, die sich heute an den Debatten beteiligt haben, und wünsche Ihnen einen schönen Restabend.
Kommen Sie morgen frisch und ausgeschlafen um 9 Uhr
wieder ins Plenum.
Die Sitzung ist geschlossen.