Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 5/7/2014

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz, liebe Kolleginnen und Kollegen. Vor Eintritt in die Tagesordnung möchte ich Sie darüber informieren, dass nach einer interfraktionellen Vereinbarung die Unterrichtung der Bundesregierung zum Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes auf Drucksache 18/1283 federführend dem Ausschuss für Arbeit und Soziales sowie zur Mitberatung dem Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz und dem Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft überwiesen werden soll. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf: Befragung der Bundesregierung Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Kabinettssitzung mitgeteilt: Entwurf eines Gesetzes zur Reform der Besonderen Ausgleichsregelung für stromkosten- und handelsintensive Unternehmen. Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Bericht hat der Bundesminister für Wirtschaft und Energie, Herr Sigmar Gabriel. - Bitte, Herr Minister.

Sigmar Gabriel (Minister:in)

Politiker ID: 11003755

Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sie wissen, dass es im Rahmen des ErneuerbareEnergien-Gesetzes schon immer eine besondere Ausgleichsregelung gab. Diese regelte, dass für Unternehmen, die besonders energieintensiv sind, die EEG-Umlage bis auf einen Mindestbeitrag begrenzt werden sollte. Der Grund dafür ist klar: Wir in Deutschland sind unter anderem deswegen besser durch die Krise gekommen als viele andere Länder auf der Welt, weil wir einen starken industriellen Sektor und einen starken Sektor des verarbeitenden Gewerbes mit einem relativ hohen Anteil an energieintensiven Unternehmen haben. Solange andere Länder keine ähnliche Klima- und Energiepolitik wie Deutschland betreiben, ist es nötig, unsere Unternehmen im internationalen Wettbewerb zu schützen. Zum Vergleich: Bereits heute haben die Vereinigten Staaten nur halb so hohe Strompreise wie Europa, und innerhalb Europas liegt Deutschland mit an der Spitze. Der Grund dafür ist nicht allein die Produktion von unkonventionellem Gas in den Vereinigten Staaten, sondern auch das Fehlen vieler der Auflagen und Steuern, die man in Europa kennt, und vor allen Dingen das Fehlen von Zusatzbelastungen, wie sie auch durch die Energiewende und durch den Ausbau der erneuerbaren Energien zustande gekommen sind. In den letzten Jahren wurde immer wieder debattiert, wie sich die Ausnahmeregelung bezüglich der EEG-Umlage für die deutsche Industrie weiterentwickeln soll. Im vergangenen Jahr, am 18. Dezember 2013, leitete die Europäische Kommission ein Verfahren gegen das EEG 2012 ein, da sie die Ausnahmeregelungen für 2013 und 2014 für nicht vereinbar mit dem Beihilferecht der Europäischen Union hält. Wir als Bundesregierung waren aufgrund dieses Klageverfahrens am Anfang dieser Legislaturperiode gezwungen, im Rahmen der Neugestaltung des EEG mit der Europäischen Kommission über die Frage zu reden, wie denn ein beihilfefähiges, ein notifizierungsfähiges EEG aussehen kann und wie die Ausnahmeregelung für die deutsche Industrie, die besonders energieintensiv ist und im internationalen Wettbewerb steht, in Zukunft ausgestaltet werden muss. Wir haben lange verhandelt und sind, wie ich finde, zu einer ausgesprochen guten Lösung gekommen. Die EU-Kommission hat allerdings Wert darauf gelegt, dass die Lösung, die sie in den neuen Beihilfeleitlinien für Umwelt und Energie vorschlägt, für ganz Europa gilt und nicht nur für Deutschland. Für uns war dies keine ganz einfache Herausforderung; denn aufgrund der Zusatzkosten Deutschlands von mehr als 20 Milliarden Euro durch die erneuerbaren Energien, die in keinem anderen europäischen Land zu finden sind, hätten manche Regelungen, die für andere Länder in Europa ohne Weiteres vertretbar sind, in Deutschland zu großen Schwierigkeiten geführt. Zu Beginn der Verhandlungen haben wir noch versucht, Einzelfalllösungen zu ermöglichen; aber das war außerordentlich schwer, denn die EU-Kommission wollte Regelungen für ganz Europa schaffen. Sie finden in Europa kaum ein Land, das eine so differenzierte und unterschiedliche Wirtschaftsstruktur hat wie die Bundesrepublik Deutschland. Deswegen haben wir uns am Ende darauf verständigt, dass für die besonders stromintensiven Unternehmen eine Obergrenze der Belastung eingeführt wird. Diese liegt bei 0,5 Prozent der Bruttowertschöpfung der jeweiligen Unternehmen. Die Zahlungen der EEG-Umlage sollen diesen Wert nicht übersteigen. Darüber hinaus haben wir für nicht ganz so stromintensive Unternehmen eine Obergrenze von 4 Prozent vorgesehen. Jedes Unternehmen muss im Prinzip eine EEG-Umlage in Höhe von 15 Prozent bezahlen, es sei denn, diese 15 Prozent übersteigen die 4 Prozent bzw. 0,5 Prozent der Bruttowertschöpfung. Die Kommission hat eine Liste von 68 Branchen vorgelegt. Wer in einer dieser Branchen ist und bestimmte Parameter erfüllt, hat die Chance, von dieser Besonderen Ausgleichsregelung Gebrauch zu machen. Nun haben wir in Deutschland eine Reihe von Unternehmen, die nicht einer dieser Branchen angehören, die aber die gleiche Stromintensität auf Unternehmensebene haben. Deswegen gibt es neben der eben genannten Branchenliste auch eine weitere Liste handelsintensiver Branchen. Unternehmen in Deutschland, die mehr als 20 Prozent Stromintensität auf Unternehmensebene haben, können ebenfalls von der Möglichkeit der Besonderen Ausgleichsregelung Gebrauch machen. Damit haben wir ganz wesentlich dazu beigetragen, die deutsche Wirtschaft vor Wettbewerbsschwierigkeiten zu bewahren. Es gibt eine Vielzahl von Unternehmen, die aus der Besonderen Ausgleichsregelung komplett herausgefallen wären. Das hätte zu großen Verwerfungen geführt. Deswegen haben wir uns mit der Kommission auf die Regelung verständigt, dass die Unternehmen, die bisher die Chance hatten, die Besondere Ausgleichregelung zu nutzen, und sie in Zukunft nicht mehr haben, dennoch von 80 Prozent der EEG-Umlage befreit bleiben. Wir haben keine andere Lösung gefunden als diese generelle Lösung, dass 20 Prozent der EEG-Umlage bezahlt werden müssen. Denn der Versuch, Einzelfallregelungen zu schaffen, hätte zu massiven Verwerfungen geführt, sodass das Ganze am Ende nicht zielführend gewesen wäre. Bevor die Befragung beginnt, möchte ich einige Beispiele nennen, damit klar wird, dass es hier nicht um blinden Industrielobbyismus geht, wie es gelegentlich öffentlich dargestellt wurde. Ein mittelständisches Unternehmen der Zementindustrie mit einigen Tausend Beschäftigten hatte bisher EEGKosten in Höhe von 1,7 Millionen Euro. Ohne die Regelung, die wir in der EU geschaffen haben, hätte es jetzt Kosten in Höhe von 6 Millionen Euro. Bei der Neuregelung, die wir geschaffen haben, steigt die Belastung immer noch von 1,7 Millionen Euro auf 2 Millionen Euro; aber eine Mehrbelastung von 300 000 Euro ist eher zu verkraften als eine Vervierfachung der bisherigen Kosten. Ein Chemiefaserunternehmen hat bisher 300 000 Euro gezahlt. Es muss in Zukunft 350 000 Euro zahlen. Hätten wir die Besondere Ausgleichsregelung nach dem Vorschlag der Kommission nicht geschaffen, hätte es 1,2 Millionen Euro zahlen müssen. Es ist ohnehin schwer, solche Unternehmen in Deutschland zu halten. Hier besteht die Gefahr, dass das Unternehmen nicht in Deutschland bleibt. Ich möchte ein Unternehmen konkret nennen - es stand in der Zeitung, deswegen ist es kein Geheimnis -: Ich war in einem kleinen Unternehmen, einer Eisengießerei mit 450 Beschäftigten in Torgelow. Dieses Unternehmen hätte, wenn wir nicht das geschafft hätten, was wir geschafft haben, zum 1. Januar 2015 garantiert Insolvenz anmelden können. Über solche Unternehmen reden wir. Eine Papierfabrik mit 250 Mitarbeitern zahlte bisher 65 000 Euro an EEG-Umlage. Zu Beginn der Verhandlungen hätte die Kommission diesen Betrag auf 400 000 Euro steigen lassen. Ein Unternehmen der Verpackungsindustrie zahlte bisher 135 000 Euro. Ohne das, was wir erreicht haben, hätte es in Zukunft 1,5 Millionen Euro zahlen müssen. Ein Chemieunternehmen zahlte bisher 735 000 Euro und sollte nach Auffassung der Kommission in Zukunft 15 Millionen Euro zahlen. All diese Unternehmen wären in massive Schwierigkeiten gekommen. Insofern glaube ich, dass wir einen klugen Vorschlag gemacht haben. Ich bin sehr zufrieden damit, dass wir das Erneuerbare-Energien-Gesetz auf der einen Seite neu gestalten konnten und notifizierungsfähig gemacht haben und auf der anderen Seite dafür gesorgt haben, dass die Industrie in Deutschland nicht verloren geht. Es ist in der Öffentlichkeit behauptet worden, dass jetzt auch Unternehmen der Pelzverarbeitungsindustrie und Urananreicherungsanlagen von der Regelung profitieren würden. Ich will deutlich sagen, dass das falsch ist. Die Tatsache allein, dass ein solches Unternehmen einer bestimmten Branche angehört, heißt noch gar nichts; diese Betriebe müssten auch einen Anteil der Stromkosten an der Bruttowertschöpfung aufweisen, je nach Liste von 16 bzw. 17 oder von 20 Prozent. Das hatten diese Unternehmen weder in der Vergangenheit, noch wird es in der Zukunft der Fall sein. Insofern kann ich nur darum bitten, dass gerade gut informierte Mitglieder des Deutschen Bundestages bei uns nachfragen, bevor sie solche Tatarenmeldungen in die Welt setzen. Denn sonst entsteht an dieser Stelle ein völlig falscher Eindruck. Solche Unternehmen werden durch das, was wir machen, nicht bevorzugt. Es ist relativ einfach, uns zu fragen. Dann geben wir gerne Auskunft, in welchen Branchen und bei welchen Unternehmen die Regelung tatsächlich zu einer Befreiung führt. So können wir verhindern, dass im Zusammenhang mit der Befreiung von der EEG-Umlage ein falscher Eindruck entsteht. Es geht nicht um irgendwelche Unternehmen, sondern um die Unternehmen, die bestimmte Parameter aufweisen; dazu zählen die Stromkostenintensität und die Handelsintensität der Branche. Ich will darauf hinweisen, dass wir bei der Berechnungsmethode der Bruttowertschöpfung einen Fortschritt erreicht haben. Es ist uns jetzt gestattet - das war früher nicht so -, zum Beispiel auch Leiharbeitnehmer und Werkvertragsarbeitnehmer bei der Berechnung der Bruttowertschöpfung des Unternehmens zu berücksichtigen, damit nicht das passiert, was in der Vergangenheit möglich war: Unternehmen konnten Beschäftigte einfach über Werkverträge oder Leiharbeitnehmerschaft ausgliedern und kamen dadurch auf einmal auf eine höhere Stromkostenintensität; denn ihre Bruttowertschöpfung ist dadurch künstlich geschrumpft. Das wird in Zukunft nicht mehr möglich sein; wir werden dafür Sorge tragen - Hinweis auf das Thema Schlachtindustrie -, dass das bei der Bruttowertschöpfungsrechnung künftig berücksichtigt wird. Wir haben heute im Kabinett eine Entscheidung getroffen, die sicherstellen soll, dass wir nicht über das hinausgehen, was wir uns zum Ziel gesetzt haben. Wir hatten die Zielsetzung, dass wir den Schutz für die energieintensive Industrie, den wir in der Vergangenheit gewährleistet haben, auch in Zukunft gewährleisten. Wir hatten es uns aber nicht zum Ziel gesetzt, dass die deutsche Wirtschaft insgesamt mehr als in der Vergangenheit von der EEG-Umlage entlastet wird. Deswegen haben wir in den Entwurf eines Gesetzes zur Reform der Besonderen Ausgleichsregelung, der Ihnen zugeleitet wird, drei Regeln aufgenommen: Erstens. Für die erste Gigawattstunde müssen auch die begünstigten Unternehmen die volle EEG-Umlage zahlen. Das ist ein überschaubarer Betrag, den jedes Unternehmen verkraften wird. Zweitens. Wir werden das umsetzen, was in der letzten Legislaturperiode von der Vorgängerregierung im Zusammenhang mit der sogenannten Strompreisbremse schon vorgeschlagen wurde, nämlich den Mindestbeitrag bei der EEG-Umlage für energieintensive Unternehmen von 0,05 Cent pro Kilowattstunde auf 0,1 Cent pro Kilowattstunde anzuheben. Drittens. Wir werden den Versuch unternehmen, durch eine leichte Anhebung des Mindestwertes bei der Stromkostenintensität von 14 auf 16 bzw. 17 Prozent zu verhindern, dass in den nächsten Jahren eine Vielzahl von Unternehmen nur deshalb in die Besondere Ausgleichsregelung hineinwächst, weil es innerhalb von zwei Jahren sehr hohe Steigerungen bei der EEG-Umlage gab, nämlich von etwas mehr als 3 Cent pro Kilowattstunde auf 5,2 Cent und dann auf 6,24 Cent. Da die EEG-Umlage bei der Berechnung der Stromintensität theoretisch immer als Teil der vollen Stromkosten behandelt wird, würden so automatisch Unternehmen in die Regelung hineinwachsen, von denen wir glauben, dass sie in der Vergangenheit mit guten Gründen nicht davon profitieren konnten und es deshalb auch in Zukunft nicht tun sollten. Das ist der Vorschlag, der Ihnen zur Beratung zugeleitet wird. Wir werden in den Gesetzgebungsberatungen des Deutschen Bundestages in den nächsten Wochen sicherlich über diese Fragen zu diskutieren haben. Selbstverständlich sind wir gerne bereit - das müssen wir auch im gemeinsamen Interesse tun -, Hinweise dazu entgegenzunehmen, wo wir möglicherweise etwas nachschärfen müssen oder Dinge etwas modifizieren müssen, und Ihnen zur Beratung dieses Gesetzentwurfs gerne und zu jeder Zeit zur Verfügung zu stehen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Vorsorglich mache ich darauf aufmerksam, dass im weiteren Verlauf der Regierungsbefragung sowohl für das Stellen der Frage als auch für die Antwort, Herr Minister, jeweils eine Minute zur Verfügung steht. Wir unterstützen Sie dabei, nicht nur durch die Uhren, die überall zu sehen sind, sondern auch durch optische Farbsignale. Wenn das Signal rot aufleuchtet, ist die Minute ausgeschöpft. Ich bitte darum, dass alle Beteiligten die selbst gegebenen Regeln beachten. Ich bitte, zunächst Fragen zu dem Bereich zu stellen, über den soeben berichtet wurde. - Das Wort hat der Kollege Oliver Krischer.

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. - Herzlichen Dank für Ihren Vortrag, Herr Bundesminister. Ich freue mich, dass Sie Branchen wie Chemie, Metall, Erzeugung aufgezählt haben - das hören wir immer wieder; darüber gibt es auch weitgehend Konsens -, für die selbstverständlich Ausnahmeregelungen erforderlich sind. Ich erkenne da gar keinen Dissens. Es geht mir eher um die Bereiche, die etwas zwiespältig sind. Wenn ich mir Ihren Entwurf anschaue, dann sehe ich zwei Listen, auf denen Branchen aufgeführt werden: 68 Branchen auf der EU-Liste und eine weitere Liste mit 151 Branchen. Es gibt insgesamt also 219 Branchen, die die Besondere Ausgleichregelung in Anspruch nehmen können. Angesichts dieser großen Zahl wäre es einfacher gewesen, die Branchen aufzuzählen, die von dieser Regelung ausgenommen sind. Wenn ich mir Ihre Liste genauer angucke, dann stelle ich fest, dass Hersteller von Fantasieschmuck, von Fruchtsaft, von Pelzwaren - Sie haben eben gesagt, das wäre nicht so; sie stehen aber auf Ihrer Liste -, von Waffen und Munition sowie von militärischen Kampffahrzeugen auftauchen. Ich bitte Sie, mir zu erläutern, inwieweit diese Branchen nach Ihrer Auffassung energie- und handelsintensiv sind und welche Notwendigkeit aus Sicht der Bundesregierung besteht, die Besondere Ausgleichsregelung auf sie anzuwenden.

Sigmar Gabriel (Minister:in)

Politiker ID: 11003755

Sehr geehrter Herr Abgeordneter, zunächst ist festzuhalten, dass es nur eine Branchenliste gibt, wo grundsätzlich die ganze Branche eine Befreiung in Anspruch nehmen könnte, und zwar die der Europäischen Union, die 68 Branchen umfasst. Darüber hinaus gibt es Unternehmen, die bestimmten Branchen zuzuordnen sind. Das bedeutet aber nicht, dass damit die ganze Branche befreit ist; den Eindruck könnte man gewinnen, wenn man sozusagen die Zahl der Bran2636 chen, die die EU-Kommission aufgelistet hat, und die Zahl der Branchen, zu der weitere antragsberechtigte Unternehmen gehören müssen, addiert. Der Hinweis, zu welcher Branche ein antragsberechtigtes Unternehmen gehören muss, ist noch kein Hinweis darauf, dass die gesamte Branche befreit wird. Das ist ein entscheidender Unterschied. ({0}) - Ich bin einfach gestrickt. Meine Auffassung ist: Wenn es um die Branche geht, dann gilt die Regel für die ganze Branche. Wenn es um ein einzelnes Unternehmen geht, dann macht der Hinweis, zu welcher Branche dieses Unternehmen gehört, einen klüger; es ist aber kein Hinweis darauf, dass die ganze Branche antragsberechtigt ist, vielmehr ist nur das einzelne Unternehmen antragsberechtigt. Die Frage, ob ein Unternehmen der aufgeführten Branchen antragsberechtigt ist, unterscheidet sich von der Frage, ob es am Ende die Besondere Ausgleichsregelung, also die Reduzierung der EEG-Umlage, in Anspruch nehmen kann. Dies hängt davon ab, ob das Unternehmen 16 Prozent bzw. 17 oder 20 Prozent Stromkostenintensität vorweisen kann. Weder die von Ihnen in der Öffentlichkeit genannte Urananreicherungsanlage noch Unternehmen aus der pelzverarbeitenden Industrie haben bislang auch nur 14 Prozent Stromkostenintensität erreicht. Die Unternehmen der aufgelisteten Branchen, die diese Stromkostenintensität nicht erreichen, werden nicht antragsberechtigt sein.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die nächste Frage stellt die Kollegin Caren Lay.

Caren Lay (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004088, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Vielen Dank, Herr Minister; Sie haben sehr viel über die Belastung der Industrie durch die Ökostromumlage gesprochen. Mich persönlich und auch uns als Fraktion Die Linke interessiert die Belastung der Verbraucherinnen und Verbraucher mindestens im gleichen Ausmaß. Deswegen ist meine Frage: Wie wird sich Ihrer Auffassung nach die Gesamtbelastung der Verbraucherinnen und Verbraucher entwickeln, und welche Berechnungen liegen dem Ministerium dazu vor? Bisher war die Situation so, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher sowie die kleinen und mittelständischen Unternehmen über die EEG-Umlage etwa 5 Milliarden Euro jährlich zu tragen hatten und so die Großindustrie entlastet haben. Eine Familie - Sie haben die Zahl selbst genannt - muss im Durchschnitt etwa 40 Euro im Jahr für dieses Paket, das Sie in Brüssel verhandelt haben, zahlen. Bleibt es bei diesen Zahlen, oder liegen Neuberechnungen auf Grundlage des neuen Entwurfs vor?

Sigmar Gabriel (Minister:in)

Politiker ID: 11003755

Frau Kollegin, ich widerspreche Ihnen ausdrücklich, wenn Sie sagen, dass es sich um Ausnahmen für die Großindustrie handelt. Das Unternehmen in Torgelow hat 400 Beschäftigte. Das Papierverarbeitungsunternehmen, das ich vorhin angesprochen habe, hat 250 Beschäftigte. ({0}) - Ich antworte nicht Ihnen, sondern Ihrer Kollegin, die gerade gesagt hat, die Ausnahmen seien für die Großindustrie; denn das ist eine falsche Darstellung. - Überwiegend handelt es sich um mittelständische Unternehmen. Es gibt auch große Unternehmen, keine Frage. Die Veränderung gegenüber den alten Regelungen, der Akt der Fairness besteht ja gerade darin, dass das Kriterium für die Begrenzung jetzt nicht mehr allein die Größe, der Stromverbrauch, ist, sondern das Verhältnis der Stromkosten zur Bruttowertschöpfung. Das ist das Entscheidende: Wie stromintensiv ist ein Unternehmen, und wie handelsintensiv ist seine Branche in Bezug auf Länder, die nicht in Europa liegen? Das ist das Kriterium; denn wir wollen denen etwas Gutes tun, die hohe Stromkosten haben und die im weltweiten Wettbewerb stehen. Die Belastung, die dadurch entsteht, dass wir einen Teil der EEG-Umlage nicht von der deutschen Industrie einziehen, liegt in der Tat bei 5,1 Milliarden Euro. Dem gegenüber stehen aber 7,4 Milliarden Euro Einnahmen aus der EEG-Umlage, die die deutsche Industrie zahlt. Die privaten Haushalte in Deutschland zahlen etwa 8 Milliarden Euro. Wenn ich der Industrie zusätzlich zu den 7,4 Milliarden Euro die 5,1 Milliarden Euro auferlegen würde, würde das für einen Dreipersonenhaushalt in Deutschland eine Entlastung von 40 bis 45 Euro pro Jahr bedeuten, gleichzeitig aber auch den Verlust von mehreren Hunderttausend Arbeitsplätzen in Deutschland. Ich weiß nicht, ob es uns besonders helfen würde, wenn wir die privaten Haushalte um 40 bis 45 Euro im Jahr entlasten würden, wenn wir gleichzeitig ein paar Hunderttausend Arbeitsplätze in der energieintensiven Industrie relativ schnell verlieren würden. Das ist sozusagen die Güterabwägung, die man vornehmen muss. Ich habe mich dafür entschieden, zu akzeptieren, dass ich die Entlastung von 40 bis 45 Euro für einen Dreipersonenhaushalt im Jahr nicht erreichen kann, wenn ich ein paar Hunderttausend Arbeitsplätze in der Industrie in Deutschland erhalten möchte. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Dirk Becker hat das Wort.

Dirk Becker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003736, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Minister, keiner hier mag sich vorstellen, wie wir heute debattieren würden, wenn sich die Kommission mit ihrem ersten Entwurf durchgesetzt hätte. Dann hätten wir heute wahrscheinlich auf Antrag der Opposition eine Sondersitzung, in der dem Wirtschaftsminister vorgeworfen worden wäre, sich nicht hinreichend um die deutsche Industrie gekümmert zu haben. Von daher möchte ich Ihnen zunächst einmal ausdrücklich danken, dass Sie dieses Ergebnis erreicht haben. Das ist ein wertvoller BeiDirk Becker trag für den Industriestandort Deutschland, für die Arbeitsplätze. Die Gewerkschaften sehen das genauso. ({0}) Herr Minister, dazu gehört natürlich auch die Regelung - Sie haben das angesprochen - hinsichtlich Leiharbeit bzw. Werkverträgen. Es gab in den letzten Tagen noch ein bisschen Verunsicherung bezüglich der Anhebung des Schwellenwerts der Energieintensität - Anteil der Stromkosten an der Bruttowertschöpfung - von 14 auf 16 Prozent. Sie haben dazu eben einige Ausführungen gemacht. Wenn ich das richtig verstanden habe, erfolgt diese Anhebung ausschließlich, um dem Anstieg der Energiekosten Rechnung zu tragen, damit nicht noch mehr Unternehmen unter diese Ausgleichsregelung fallen. Ist das so korrekt?

Sigmar Gabriel (Minister:in)

Politiker ID: 11003755

Ja, Herr Abgeordneter, das ist korrekt. Wir wollen keine über die vorgesehenen 5,1 Milliarden Euro hinausgehende Entlastung der deutschen Industrie. Wir wollen den Entlastungsbetrag auch nicht verkleinern. Wir wollen ihn etwa gleich hoch halten. Dazu dient dieser Vorschlag.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Kollegin Dr. Julia Verlinden hat das Wort.

Dr. Julia Verlinden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004429, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Minister, Sie haben selbst gesagt, dass Deutschland eine besonders energieintensive Industrie hat. Gleichzeitig wissen Sie ja auch, dass es viel Forschung gibt, die zeigt, dass die Industrie in Deutschland, also die Wirtschaft insgesamt, noch erhebliche Effizienzpotenziale hat. Sie selbst sagen ja auch immer: Energieeffizienz ist eine tragende Säule der Energiewende. Jetzt frage ich mich, wie Sie rechtfertigen, dass in dem Gesetzentwurf, der uns vorliegt, nicht - so war es bisher - vorgesehen ist, dass zusätzliche Nachweise erforderlich sind, also dass man zum Beispiel Energiemanagementsysteme nachweisen muss. Es gibt keine Anforderungen bezüglich Energieeffizienzverpflichtungen, die auch dazu führen würden, die Wirtschaft in Deutschland international wettbewerbsfähiger zu machen; denn durch solche Anforderungen würde man sie unterstützen, effizienter mit Strom umzugehen.

Sigmar Gabriel (Minister:in)

Politiker ID: 11003755

Frau Abgeordnete, dafür gibt es zwei Gründe. Der erste Grund ist, dass es bei besonders energieintensiven Unternehmen, glaube ich, schon deshalb keine Notwendigkeit gibt, zusätzliche Auflagen zu machen, weil zum Beispiel in der Stahlindustrie die physikalische Grenze erreicht ist und man dort nicht noch mehr Energie einsparen oder CO2-Emissionen reduzieren kann. Ich lade Sie gern einmal ein, ein Stahlwerk, ein Elektrostahlwerk zu besuchen. Das meine ich nicht ironisch, sondern ganz ernst. Kuppelgase zum Beispiel können nur noch dadurch eingespart werden, dass weniger Stahl produziert wird. ({0}) Dass die Unternehmen selbst ein Interesse haben - das ist der zweite Punkt -, drastisch Energie einzusparen, ergibt sich doch aus der Wettbewerbslage. Schauen Sie, in den 80er- und 90er-Jahren hat in Deutschland und in Europa eine Diskussion darüber stattgefunden, dass die internationale Wettbewerbsfähigkeit durch zu hohe Arbeitskosten in Deutschland belastet sei. Wir haben einen enormen Produktivitätsfortschritt, und inzwischen machen Lohn- und Arbeitskosten in der deutschen Industrie im Durchschnitt nicht einmal mehr 20 Prozent aus. Die Energie- und Rohstoffkosten liegen bei 40, 50, manchmal 60 Prozent. ({1}) - Ja, aber nicht deshalb, Frau Kollegin, weil die Unternehmen alle so ineffizient sind, sondern unter anderem deshalb, weil in Deutschland und in Europa die Strompreise doppelt so hoch sind wie in den Vereinigten Staaten. ({2}) - Das habe ich nicht gesagt. Vielmehr sage ich: Es gibt sozusagen ein riesiges Interesse der Unternehmen selbst, gerade im energieintensiven Bereich, dafür zu sorgen, nicht noch mehr Energiekosten zu haben, weil der internationale Wettbewerb heute nicht mehr von den Arbeitskosten, sondern von den Energie- und Rohstoffkosten bestimmt wird. Erstmals - das wollte ich noch sagen - schreiben wir umfassend Energiemanagementsysteme vor. Das gab es, ehrlich gesagt, vorher nicht so umfassend. Insofern haben wir auch bei dieser Regelung im neuen EEG einen Fortschritt. Wir schreiben Energiemanagementsysteme für alle vor. Aber ich sage Ihnen: Der größte Druck in den Unternehmen, über die wir hier reden - es geht ja nicht um Unternehmen, die praktisch keine Energiekosten haben -, entsteht schlicht und ergreifend durch die Tatsache, dass die Kosten für Energie und Rohstoffe in Zukunft die Überlebensfähigkeit deutscher und europäischer Unternehmer im internationalen Wettbewerb bestimmen. Ich glaube, dass das dazu führt, dass wir gerade in den sehr energieintensiven Branchen schon jetzt relativ nah an den Effizienzgrenzen sind, die wir mit der aktuellen Technik erreichen können.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die nächste Frage stellt die Kollegin Katharina Dröge.

Katharina Dröge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004263, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Gabriel, Sie haben ja gerade in der Antwort auf die Frage meiner Kollegin Verlinden gesagt, dass die deutsche Industrie teilweise ein Problem hat, weil die Strompreise in Deutschland so hoch sind, dass die Produktion hier ineffizient zu werden droht. Jetzt wüsste ich gerne von Ihnen konkret: Wenn Sie die Strompreise für die Industrie nach allen steuerlichen Ausnahmen, die wir der Großindustrie gewähren, also nicht nur im Rahmen des EEG, sondern auch der Konzessionsabgabe, von KWK usw., betrachten, auf welchem Platz in Europa sind wir dann?

Sigmar Gabriel (Minister:in)

Politiker ID: 11003755

Je nachdem, welche Berechnung man heranzieht und wer die Statistik gerade selber erstellt hat, sind wir auf einem der vorderen Plätze. Das ist aber nicht das Problem. Die Frage, auf wen die Besondere Ausgleichsregelung der Europäischen Union zutrifft, wird nicht danach beantwortet, wo man in Europa steht, sondern danach, welche Handelsintensität mit Räumen außerhalb Europas man hat. Die eigentliche Wettbewerbslage entsteht vor der Frage: Siedeln sich Unternehmen in Europa an bzw. bleiben sie hier, oder gehen sie an Standorte mit weit geringeren Stromkosten? Eine der Maßnahmen, die wir uns alle miteinander wünschen, ist zum Beispiel, dass Kraftfahrzeuge durch Faserverbundwerkstoffe leichter werden. Eines der Unternehmen, das auf diesem Gebiet am fortschrittlichsten arbeitet, hat sich in den Vereinigten Staaten angesiedelt. ({0}) - Das liegt nicht nur am Absatzmarkt, sondern da sind die Stromkosten niedriger. ({1}) - Es mag ja sein, dass Sie das alles lächerlich finden, aber ich finde es überhaupt nicht lächerlich. Ich möchte, dass sich ein solches Unternehmen bei uns ansiedelt und nicht wegen der halb so hohen Strompreise anderswo. ({2}) Wissen Sie, solche Unternehmen haben große Vorteile: Sie zahlen anständige Tariflöhne, da werden die Leute gut beschäftigt, das sind hochqualifizierte Arbeitsplätze, und es sind technologieintensive Unternehmen. Deswegen möchte ich, dass sie hier angesiedelt sind, auch dann, wenn sie stromintensiv sind. Der Vergleich Ihrer Kollegin zielte auf die Strompreise in der EU ab. Das ist aber gar nicht Gegenstand der Debatte, sondern Gegenstand der Debatte ist die Frage, wie sich die Strompreise weltweit entwickeln. Da haben wir in Europa insgesamt ein Extraproblem, und Italien und Deutschland haben ein besonderes Problem innerhalb der Europäischen Union. Es ist doch nicht so, dass man das einfach wegdiskutieren kann, nur weil man keine Lust hat, sich mit diesem Thema zu beschäftigen. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Jörn Wunderlich.

Jörn Wunderlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003867, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Minister, ich frage mich, warum die Bundesregierung von den Unternehmen, die privilegiert werden, nicht eine gewisse Gegenleistung einfordert, zum Beispiel in der Form, dass der Strom bzw. die Energie, den bzw. die sie in ihre Unternehmensnetzstruktur integrieren, zu einem gewissen Anteil aus erneuerbaren Energien bestehen muss.

Sigmar Gabriel (Minister:in)

Politiker ID: 11003755

Weil wir über europäische Regeln reden. Unsere Besondere Ausgleichsregelung hat sich an den Regeln, die die Europäische Union gesetzt hat, zu orientieren. Wir waren froh, dass wir das, was wir hier erreichen konnten, bei der EU-Kommission durchgesetzt haben. Übrigens - da Sie die Frage, wie sich die Erneuerbaren entwickeln, angesprochen haben -: Die Europäische Union hatte am Anfang die Vorstellung, dass ab dem nächsten Jahr unmittelbar Ausschreibungen durchgeführt werden sollen. Nur um Ihnen das einmal zu sagen: Wir haben hier nicht im luftleeren Raum operiert, sondern wir waren an das, was die EU-Kommission zu tun vorhatte, gebunden. Einer Ihrer Vorredner hat ja gesagt, die heutige Debatte sähe ein bisschen anders aus. Wir haben nicht die Möglichkeit, noch alle möglichen anderen Parameter einzuführen, damit man an die Besondere Ausgleichsregelung herankommt, sondern wir sind darauf angewiesen, dass das, was wir vorschlagen, im Hinblick auf das, was die Europäische Union für Europa insgesamt für richtig hält, notifizierungsfähig ist. Ich habe vorhin vergessen, Ihrer Vorvorrednerin, die mich nach der Effizienz gefragt hat, eine Sache zu sagen: Im Gesetzentwurf ist eine Verordnungsermächtigung für besondere Energieeffizienzanforderungen enthalten. Das sage ich mit Blick auf die Bereiche der Industrie, auf die Ihr Vorwurf zielt. Ihr Vorwurf lautet ja, dass man noch nicht genug für die Effizienz getan hat. ({0}) Nicht jeder Vorwurf ist gleich moralisch gemeint, sondern er ist vielleicht erst einmal eine Feststellung. ({1}) - Ja, wie gesagt, mit der Statistik ist es, wie wir alle hier im Parlament wissen, so eine Sache. Aber es gibt natürlich solche Fälle. Deswegen enthält das Gesetz eine Verordnungsermächtigung, besondere Energieeffizienzanforderungen zu stellen, falls wir den Eindruck haben, dass in einem bestimmten Industriebereich oder in einem bestimmten Unternehmen die Möglichkeiten, mit dem Energieverbrauch effizient umzugehen, noch nicht hinreichend ausgeschöpft werden. Dem kann man dann auch durch Energieeffizienzanforderungen Nachdruck verleihen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Minister, auch wenn es Zwischenrufe gibt, bitte ich, nur den Fragenden oder die Fragende mit einer entsprechenden Antwort zu versorgen. Gegebenenfalls können sich diejenigen, die noch Nachfragebedarf haben, dann zu einer weiteren Frage melden; einige haben das auch schon getan. Das Wort erteile immer noch ich. Ich entscheide, wer hier mit wem redet. ({0}) Die nächste Frage stellt die Kollegin BullingSchröter.

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke schön. - Aus dem EEG ergibt sich ja nicht nur die EEG-Umlage, sondern auch der stromkostensenkende Merit-Order-Effekt. Er hat Auswirkungen auf die Strompreise auf Großhandelsebene. Die sollen demnächst 3 Cent pro Kilowattstunde betragen; sie liegen aktuell bei 5 bis 6 Cent pro Kilowattstunde. Die stromintensive Industrie profitiert natürlich, wenn sie Strom günstig bekommt; das ist ganz klar. Sie macht dadurch Gewinne und hat Vorteile. Jetzt ist meine Frage an Sie: Ist denn dieser Effekt nicht wesentlich höher als die Auswirkungen bei der Mindestumlage, die jetzt von 0,05 Cent auf 0,1 Cent pro Kilowattstunde erhöht wird? Da gibt es ja eine Preisdifferenz, und 3 Cent pro Kilowattstunde für Großverbraucher ist ja nicht gerade besonders hoch.

Sigmar Gabriel (Minister:in)

Politiker ID: 11003755

In den Verhandlungen, die wir mit der Europäischen Kommission geführt haben, hat die Europäische Kommission sich exakt auch diese Frage angeschaut und ist deshalb zu den vorgeschlagenen Regeln gekommen, an die wir uns jetzt halten. Die Europäische Kommission hat präzise Ihre Fragen gestellt. Dann hat sie einen Vorschlag gemacht, der sich beim Begrenzungsumfang an der Bruttowertschöpfung der Unternehmen orientiert, um exakt dieser Frage sozusagen ausreichend Raum zu geben.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Peter Meiwald zur nächsten Frage.

Peter Meiwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004351, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Minister, erlauben Sie mir eine Vorbemerkung: Sie haben - auch mit Ihrem Beispiel der Eisengießerei Torgelow - darauf abgehoben, wie viel Sie dafür tun, die Arbeitsplätze hier im Land zu erhalten. Das würdigen wir auch ausdrücklich. Die Frage ist aber - auch bei der Eigenstromnutzung -, ob hier nicht mit zweierlei Maß gemessen wird. Wenn man sich anschaut, wie wenig die Bundesregierung eigentlich dafür tut, die erneuerbaren Energien zu fördern - da sind ja in den letzten Jahren zuhauf Unternehmen in die Insolvenz gegangen, und es gehen weiterhin viele in die Insolvenz; denen müsste man unter die Arme greifen -, und wie viel Wert darauf gelegt wird, Arbeitsplätze in alten Technologien zu erhalten, passt in den gleichen Zusammenhang die Frage: Warum soll der Eigenstromverbrauch von Privatverbrauchern, Privatnutzern, Privatinvestoren demnächst mit der EEG-Umlage belastet werden, während die Bundesregierung für die Industrie offensichtlich noch sehr weitreichende Ausnahmen schafft? Meine konkrete Frage: Kann die Bundesregierung ausschließen, dass zukünftig zum Beispiel der Braunkohletagebau von der Besonderen Ausgleichsregelung ausgenommen wird? Dieser steht ja definitiv nicht im internationalen Wettbewerb.

Sigmar Gabriel (Minister:in)

Politiker ID: 11003755

Deswegen steht der Braunkohletagebau auch nicht auf einer der Branchenlisten. Er verfügt nicht über die 4 Prozent Handelsintensität. Daher ist er nicht in der Lage, von der Besonderen Ausgleichsregelung Gebrauch zu machen. Ich würde aber auch gerne auf Ihre Vorbemerkung eingehen: Ich finde die Unterscheidung zwischen neuer und alter Industrie abenteuerlich. Diese Unterscheidung hat den Rest Europas Anfang der 2000er-Jahre in den Ruin getrieben. Damals waren alle für die neue Industrie. Das sind Kommunikationswissenschaften, Internet, Finanzmärkte. Die alte Industrie, das sind Chemie, Stahl, Automobilbau, Maschinenbau. Dadurch, dass wir die Industrie, die Sie „alt“ nennen, haben, sind wir besser durch die Krise gekommen als andere. Heute redet der Rest Europas von Reindustrialisierung und wünscht sich ums Verrecken Chemie, Stahl, Maschinenbau, Elektrotechnik zurück. Wir haben sie Gott sei Dank noch. ({0}) Es gibt keine New oder Old Economy, es gibt immer nur - aus meiner Sicht jedenfalls - die Next Economy. Sie können zum Beispiel keine moderne Windenergieanlage bauen ohne die Eisengießerei Torgelow. Das ist, wenn man so will, eine ganz alte Industrie: harte Arbeit, ziemlich schmutzig, ziemlich heiß, mit viel Hitze und viel Energie. Aber in dieser Eisengießerei werden die Verankerungen für die Rotorblätter oben auf den Köpfen von Windenergieanlagen hergestellt. Ohne diese ganz alte Industrie können moderne Windenergieanlagen gar nicht gebaut werden. Das Gleiche können Sie beim Kunststoff, in der Chemie, im Maschinenbau sehen: Eine Trennung zwischen alter und neuer Industrie ist le2640 bensgefährlich für unser Land. Ich kann nur raten, sie nicht vorzunehmen. Die Tatsache, dass in der Photovoltaik Unternehmen in die Insolvenz gegangen sind, hat etwas damit zu tun, dass es dort durch Importe zu einem Preisverfall gekommen ist, aber nicht dadurch, dass wir in Deutschland irgendwie eine andere Form von EEG gemacht hätten. Wir werden die Windenergie in Deutschland in Zukunft um 2,5 Gigawatt pro Jahr ausbauen. In den letzten zehn Jahren haben wir einen Ausbau in diesem Umfang nur in einem einzigen Jahr geschafft. Demnächst wollen wir das in jedem Jahr schaffen. Ähnliches gilt für die Photovoltaik. Diese Industrie wird sehr davon profitieren, dass wir die traditionelle Industrie in Deutschland haben. Ohne Maschinenbau, Elektrotechnik, Chemie, Kunststoff, Stahl gäbe es die Erneuerbaren gar nicht in dieser Form. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Zur nächsten Nachfrage hat die Kollegin Caren Lay das Wort.

Caren Lay (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004088, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen herzlichen Dank. - Ich muss schon sagen, dass ich es etwas bedauere, dass wir uns bei der Frage „Wie soll das EEG novelliert werden?“ nur noch auf die Entlastung der energieintensiven Unternehmen fokussieren und die Entlastung der Verbraucherinnen und Verbraucher für die Regierung offenbar keine Rolle mehr spielt. Deswegen möchte ich Sie fragen, warum es die Regierung bisher unterlassen hat, für eine entsprechende sozialpolitische Flankierung dieses Gesetzentwurfes zu sorgen. Die SPD hat im Wahlkampf gemeinsam mit der Linken die Absenkung der Stromsteuer gefordert. Einige SPD-Ministerpräsidenten fordern das bis heute. Deshalb möchte ich Sie ganz konkret fragen: Wie stehen Sie zu dieser Forderung, und können Sie sich vorstellen, dass das dazu beitragen könnte, diesen Gesetzentwurf im Interesse der Verbraucherinnen und Verbraucher auch sozialpolitisch zu flankieren?

Sigmar Gabriel (Minister:in)

Politiker ID: 11003755

Frau Kollegin, ich würde Ihrer Darstellung, wir würden uns nur um Entlastungen der Industrie kümmern, gerne heftigst widersprechen. Mit dem ganzen EEG verfolgen wir vor allen Dingen ein Ziel, nämlich die Kostendynamik, die es bei der EEG-Umlage in den letzten Jahren gab, zu durchbrechen. Denn man kümmert sich doch nicht als Erstes darum, wie man einem steigenden Strompreis durch die Senkung von Steuern entgegenwirken kann, sondern man kümmert sich als Erstes darum, dass der Strompreis nicht weiter steigt. ({0}) - Ich versuche nur, zu antworten; mehr tue ich gar nicht. Sie haben gerade gesagt, bei der Novellierung des EEG ginge es nur um Ausnahmen. Wir versuchen mit dem neuen EEG im Kern, die Kostendynamik der letzten Jahre zu durchbrechen. Übrigens: Hätten wir diese Kostendynamik nicht, dann hätten wir beim Thema „Besondere Ausgleichsregelung“ eine viel entspanntere Situation. Bei der EEG-Umlage gibt es aber eine solche Kostendynamik, und deswegen ist es richtig, dass wir uns im Hinblick auf das neue EEG das Ziel gesetzt haben, diese Kostendynamik zu durchbrechen, ohne den Siegeszug der Erneuerbaren auszubremsen. - Das ist das Erste. Zweitens. Sie haben recht: Im Wahlkampf hat die SPD - ich glaube, es waren auch noch ein paar andere, zum Beispiel Sie - gesagt: Lasst uns doch wenigstens das aufgrund der steigenden EEG-Umlage auch steigende Mehrwertsteueraufkommen umverteilen. Dies ist in den Koalitionsverhandlungen von SPD, CDU und CSU nicht mehrheitsfähig gewesen, und deswegen steht das auch nicht im Gesetzentwurf. So ist das Leben! ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Herr Kollege Oliver Krischer hat das Wort.

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Bundesminister, Sie haben als Mindestziel ausgegeben - so habe ich jedenfalls die Meldungen und beispielsweise Ihre Rede beim Neujahrsempfang des Bundesverbandes Erneuerbare Energie verstanden -, dass die privaten Verbraucher und die nichtprivilegierten Teile der Wirtschaft mindestens um 1 Milliarde Euro entlastet werden. Sie werden Ihren Vorschlag ja sicherlich ausgiebig evaluiert haben. Meine Frage an Sie ist: Wie stellt sich die Entlastung dar? Werden die nichtprivilegierten und die privaten Verbraucher entlastet, oder werden sie zusätzlich belastet, und in welchem Umfang?

Sigmar Gabriel (Minister:in)

Politiker ID: 11003755

Ich habe in einer öffentlichen Diskussion des Bundesverbandes Erneuerbare Energie auf den Vorhalt geantwortet, man könne sich doch alle Maßnahmen im Erneuerbare-Energien-Gesetz, mit denen versucht wird, den Kostenanstieg auszubremsen, sparen, indem man einfach die Ausnahmen für die stromintensive Industrie abschafft, die immerhin zu einer Mindereinnahme von 5 Milliarden Euro führen. ({0}) - Doch, das war der Vorhalt dort; ich war ja auf der Veranstaltung. ({1}) - Ich unterstelle einmal, Sie waren schon draußen und nicht mehr im Saal; denn wenn Sie noch da gewesen wären, dann hätten Sie die Frage jetzt nicht zu stellen brauBundesminister Sigmar Gabriel chen. - Auf diesen Vorhalt habe ich geantwortet: Ich halte das für eine abenteuerliche Position, weil die erste Frage nicht ist, wie viel man durch die Abschaffung der Ausnahmen einsparen kann, sondern wie man die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie schützen kann. In diesem Zusammenhang habe ich dann folgenden Satz gesagt: Wenn wir dabei 1 Milliarde Euro weniger an Entlastungen machen, dann hätten wir viel erreicht. - Das war meine Formulierung. ({2}) Wir haben dann verhandelt und festgestellt: Das war nicht zu erreichen, jedenfalls nicht ohne einen großen Kollateralschaden bei vielen Unternehmen in Deutschland. Das ist der Grund dafür, dass es jetzt keine Einsparungen durch eine geringere Entlastung der stromintensiven Unternehmen gibt. ({3}) - Ich weiß nicht, was daran abenteuerlich ist; ich beantworte nur Ihre Frage. Ich bin von Brüssel gebeten worden, 5 Milliarden Euro einzusparen. Daraufhin habe ich gesagt: Das halte ich für eine völlig falsche Position. Ich bin der Überzeugung, dass man sich zuerst darum zu kümmern hat, dass die richtigen Unternehmen auch weiterhin Ausnahmen in Anspruch nehmen können. Und in diesem Zusammenhang habe ich dann gesagt: Wenn dabei eine Einsparung von 1 Milliarde Euro statt von 5 Milliarden Euro herauskäme, dann hätten wir schon viel erreicht. Dann haben wir monatelang verhandelt. Das Ergebnis ist, dass auch eine Einsparung von 1 Milliarde Euro nicht ohne erhebliche Kollateralschäden bei energieintensiven Unternehmen in Deutschland zu erzielen wäre. Deswegen haben wir sie nicht erreicht. Wir haben allerdings auch nicht die Absicht, das Volumen der Entlastungen zu erhöhen. Wir nehmen die drei Änderungen in dem Gesetzentwurf, die ich Ihnen gerade vorgestellt habe, vor, damit das Entlastungsvolumen mehr oder weniger so bleibt, wie es ist, nämlich 5,1 Milliarden Euro. Ich habe keine Schwierigkeiten, zu sagen, dass wir auch das, was ich als maximales Ziel überhaupt noch für denkbar gehalten hätte, nicht geschafft haben; es sei denn, wir hätten Unternehmen massiv geschädigt. Ich habe niemandem versprochen, dass ich eine Entlastung von 1 Milliarde Euro erreichen werde. Vielmehr habe ich den Menschen, die ähnlich argumentieren wie Sie und behaupten, man könne das ganze Problem einer steigenden EEG-Umlage dadurch lösen, dass wir die deutsche Industrie zur Kasse bitten, heftig widersprochen. Darüber hinaus finde ich: Das, was Sie machen, ist nichts anderes als der Versuch, sich darum zu drücken, auch im EEG dafür zu sorgen, dass mit den deutschen Geldern effizienter umgegangen wird. Eine Windenergieanlage, die 1,8 Millionen Euro gekostet hat, zu fördern, was dazu führt, dass diese Anlage bereits nach neun Jahren abbezahlt ist und der Betreiber dann elf Jahre lang pro Jahr 160 000 Euro von den Stromkunden erhält, ohne etwas dafür zu tun - das ist ein Fall aus der Praxis, den ich Ihnen hier vorstelle -, ist nie das Ziel des EEG gewesen. Das Ziel war nie, dass eine Anlage für 1,8 Millionen Euro nach neun Jahren refinanziert ist und dann der Betreiber elf Jahre lang von den Stromkunden jedes Jahr 160 000 Euro geschenkt bekommt. Das aber ist Gegenstand des heutigen EEG. Deswegen muss man den Mut haben, an die Fördersubstanz und die Überförderung selbst heranzugehen, und darf sich davor nicht drücken, Herr Kollege. ({4}) Das ist der Unterschied zwischen uns beiden.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor, auch nicht zu weiteren Themen der heutigen Kabinettssitzung.

Sigmar Gabriel (Minister:in)

Politiker ID: 11003755

Frau Präsidentin, das bedaure ich.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das glaube ich sofort. Da Sie heute sowieso zur Verdopplung Ihrer Redezeit neigten, haben wir es gerade so geschafft, in unserem zeitlichen Rahmen zu bleiben. Ich beende die Befragung und rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf: Fragestunde Drucksache 18/1293 Ich rufe die mündlichen Fragen in der üblichen Reihenfolge auf. Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit. Die Frage 1 der Kollegin Veronika Bellmann soll schriftlich beantwortet werden. Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur. Die Frage 2 des Kollegen Herbert Behrens soll ebenfalls schriftlich beantwortet werden. Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit. Zur Beantwortung der Fragen steht der Parlamentarische Staatssekretär Florian Pronold zur Verfügung. Die Fragen 3 und 4 des Kollegen Peter Meiwald werden schriftlich beantwortet. Auch die Frage 5 der Kollegin Pia Zimmermann wird schriftlich beantwortet. Ich rufe die Frage 6 der Kollegin Sylvia Kotting-Uhl auf. - Jetzt haben wir ein Problem. Der Parlamentarische Staatssekretär steht zur Verfügung, aber die fragende Abgeordnete nicht. Also wird verfahren, wie in der Geschäftsordnung vorgesehen. Herzlichen Dank für die Bereitschaft, Herr Staatssekretär. Damit sind wir schon am Ende Ihres Geschäftsbereiches. Vizepräsidentin Petra Pau Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Stefan Müller zur Verfügung. Zumindest bei der Frage 7 der Kollegin Sylvia Kotting-Uhl haben wir die gleiche Situation wie eben: Die Kollegin Kotting-Uhl ist nach wie vor nicht eingetroffen. Das heißt, es wird verfahren, wie in der Geschäftsordnung vorgesehen. Ich rufe die Frage 8 des Kollegen Oliver Krischer auf: Beabsichtigt die Bundesregierung, die in der Antwort auf die Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Bundestagsdrucksache 18/1268 beschriebene Forschung an Hochtemperaturreaktoren des Forschungszentrums Jülich inklusive der Kooperationsaktivitäten mit der VR China weiterhin gutzuheißen und zu unterstützen, und wenn ja, welche konkrete Absicht verfolgt die Bundesregierung mit dieser im Forschungszentrum Jülich betriebenen Reaktorforschung? Bitte, Herr Staatssekretär.

Stefan Müller (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003597

Kollege Krischer, Ihre Frage beantworte ich wie folgt: Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage Ihrer Fraktion erläutert, dass die Jülicher Sicherheitsforschungen zum Hochtemperaturreaktor mit dem Ende der zweiten Phase der programmorientierten Förderung eingestellt werden. Der Programmzeitraum beläuft sich auf die Jahre 2010 bis 2014. Wie bereits ausgeführt, enthält die Programmplanung für die nukleare Sicherheitsforschung im Rahmen der dann folgenden Periode nach Angaben des Forschungszentrums Jülich keine Aktivitäten zur Hochtemperaturreaktorthematik.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herzlichen Dank, Herr Kollege, für Ihre Ausführungen. - Das Forschungszentrum stellt aber diese Aktivitäten als nicht von den ihm gegenüber gemachten Einschränkungen betroffen dar, sondern definiert die Zusammenarbeit mit China bei der Entwicklung eines neuen Hochtemperaturreaktors als Sicherheitsforschung. Deshalb ist meine konkrete Frage an Sie: Billigt die Bundesregierung weitere Aktivitäten bzw. eine weitere Zusammenarbeit mit der Volksrepublik China, die in irgendeiner Weise mit der Entwicklung eines Hochtemperaturreaktors in China im Zusammenhang stehen?

Stefan Müller (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003597

Ich nehme an, Sie beziehen sich auch auf die einschlägige Berichterstattung in den Medien. Ich kann dazu zwei Dinge feststellen. Wenn ich es richtig sehe, geht es zunächst einmal um die Frage: Findet in Jülich Forschung zum Thema Hochtemperaturreaktor statt, und wird das mit öffentlichen Geldern finanziert? Die Frage habe ich gerade beantwortet. Die andere Frage ist: Beteiligt sich das Forschungszentrum Jülich am Bau eines Hochtemperaturreaktors in China? Nach Angaben des Forschungszentrums Jülich gibt es keine Wissenschaftler aus Jülich, die am Bau des HTR in China mitwirken.

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das ist eine abenteuerliche Interpretation. Wenn ich nach China fahre, Auftragsarbeiten für das federführende Institut zur Entwicklung dieses Reaktors ausführe und an Kongressen teilnehme, auf denen diese Frage diskutiert wird, kann man, glaube ich, schon davon sprechen, dass eine Zusammenarbeit existiert. Dass Sie jetzt sagen, das finde nicht statt, ist eine sehr eigenwillige Interpretation der Aktivitäten des Forschungszentrums. Wenn Sie die Frage für die Zukunft nicht klar beantworten möchten, dann möchte ich eine klare Frage zur Vergangenheit stellen: In welcher Höhe insgesamt hat die Bundesregierung in den letzten fünf Jahren die Forschungsaktivitäten für den Hochtemperaturreaktor in Jülich unterstützt?

Stefan Müller (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003597

Ich will auf eines zurückkommen: Das ist nicht meine Behauptung, sondern ich beziehe mich auf die Angaben des Forschungszentrums Jülich. Von diesem wird die Interpretation vonseiten Nordrhein-Westfalens und vielleicht auch von Ihnen, dass sich Wissenschaftler des Forschungszentrums Jülich am Bau beteiligen, verneint. Darauf beziehe ich mich. Was die Frage angeht, inwieweit es eine Unterstützung gegeben hat bzw. wie hoch diese Unterstützung im Rahmen der Förderung, die jetzt ausläuft, ausgefallen ist, bitte ich, mir zu gestatten, die Antwort nachzureichen. Ich will nur eines feststellen: Es findet in diesem Bereich Sicherheitsforschung statt. Das wird auch nach wie vor vertreten. Mit der nuklearen Sicherheitsforschung leisten wir letztendlich auch einen Beitrag zur Sicherheit von Nuklearanlagen im In- und Ausland, und es geht auch um den Kompetenzerhalt in Deutschland. Wenn ich es richtig verstanden habe, wird das auch von der rot-grünen Landesregierung in Nordrhein-Westfalen unterstützt, die auf Seite 41 ihres Koalitionsvertrags aus dem Jahr 2012 dazu schreibt - ich zitiere -: Das Land NRW wird keinerlei Atomforschung mehr finanzieren, mit Ausnahme der Forschung für Sicherheit, Endlagerung und Rückbau. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Danke, Herr Staatssekretär. Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Thomas Silberhorn zur Verfügung. Vizepräsidentin Petra Pau Ich rufe die Frage 9 des Kollegen Uwe Kekeritz auf: Nach welchen Kriterien wurden die Teilnehmer bzw. Organisationen des runden Tisches des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Dr. Gerd Müller, zum Thema „Siegel in der Textilindustrie“ ausgewählt ({0}), und was waren die Ergebnisse des Treffens am 30. April 2014? Bitte, Herr Staatssekretär.

Thomas Silberhorn (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003636

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Ich darf die erste Frage nach dem runden Tisch am 30. April wie folgt beantworten: Die Teilnehmer sind nach ihrer Bedeutung für die Textilbranche ausgewählt worden. Wir haben darauf geachtet, dass nicht nur Vertreter der Wirtschaft eingeladen werden, sondern auch Arbeitgeberverbände, Gewerkschaften und Vertreter der Zivilgesellschaft einbezogen sind, sodass unterschiedliche Standpunkte gehört und diskutiert werden konnten. Es waren insgesamt 27 Teilnehmer. Mit Blick auf die knappe Zeit wird es mir kaum möglich sein, alle zu nennen. Es sind Unternehmen, Verbände, Gewerkschaften, Nichtregierungsorganisationen und Zertifizierer. Das größte Interesse dürfte an den Unternehmen bestehen. Es waren Adidas, Adler Modemärkte, Aldi Nord, Aldi Süd, C & A, H & M, KiK Textilien, Lidl-Stiftung, Metro Group, Otto und Tchibo. Die großen und wichtigen Unternehmen waren also vertreten. Als Ergebnis wurde vereinbart, ein Bündnis für einen nachhaltigen deutschen Textilmarkt zu starten und einen gemeinsamen Aktionsplan in den Konsultationsrunden zu entwerfen, die folgen werden.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.

Uwe Kekeritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004066, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank für Ihre Antwort. - Es freut mich, dass das Ministerium meinen Vorschlag aufgegriffen hat, auch die Zivilgesellschaft zu diesem runden Tisch einzuladen; das hat wunderbar geklappt. Meine Frage lautet: Sie werden bei einer solch großen Gruppe sehr viele Konfliktlinien berücksichtigen müssen. In welche Richtung, glauben Sie, wird der Trend gehen? Wollen Sie ein Siegel haben, das für eine breite Durchdringung sorgt, aber eher für niedrige Standards steht, oder wollen Sie das Gegenteil, also höhere Standards vertreten und damit das Risiko eingehen, dass es nicht so breit wirksam wird?

Thomas Silberhorn (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003636

Sehr geehrter Herr Kekeritz, es handelt sich - das wird auch Bestandteil meiner Antwort auf Ihre zweite schriftlich eingereichte Frage sein - um zwei Prozesse. Es geht darum, zum einen ein Textilsiegel zu etablieren und zum anderen soziale Standards zu vereinbaren. Wir setzen insgesamt auf Kooperation; denn wir wollen die gesamte Lieferkette von den Produktionsstätten in Drittstaaten bis hin zum Verbraucher in Deutschland erfassen, also die gesamte globale Lieferkette vom Baumwollfeld bis zum Bügel. Da reicht der Aktionsradius der deutschen Entwicklungszusammenarbeit jedenfalls weiter als die Direktionskraft des deutschen Gesetzgebers. Insofern ist die Entwicklungszusammenarbeit berufen, die Handlungsspielräume zu nutzen, um eine solche globale Lieferkette zu gestalten sowie soziale und ökologische Mindeststandards zu vereinbaren und umzusetzen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie haben das Wort zur zweiten Nachfrage.

Uwe Kekeritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004066, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herzlichen Dank. - Sie haben von sozialen und ökologischen Mindeststandards gesprochen. Ich nehme an, dass Sie auch die arbeitssicherheitsrelevanten Standards einbeziehen werden, aber das nur nebenbei. Mich interessiert noch Folgendes: Seit 2001 moderiert das BMZ eine multinationale Stakeholder-Initiative, einen runden Tisch, bei dem es um Verhaltenskodizes geht. Wie wollen Sie durch die Schaffung von Doppelstrukturen zu einer substanziellen Verbesserung beitragen, oder wollen Sie diesen runden Tisch dann auflösen? So wie ich das interpretiere, ist dieser runde Tisch dann eigentlich obsolet.

Thomas Silberhorn (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003636

Herr Kekeritz, es ist zutreffend, dass durch diesen runden Tisch zu den Verhaltenskodizes bereits eine enge Partnerschaft der deutschen Entwicklungszusammenarbeit mit der Bekleidungsindustrie besteht. Wir wollen keine Doppelstrukturen errichten, sondern die bestehenden Initiativen nutzen und breiter verankern. Es ist durchaus möglich, diesen runden Tisch zu den Verhaltenskodizes zu einem Bündnis für einen nachhaltigen Textilmarkt in Deutschland weiterzuentwickeln.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich rufe die Frage 10 des Kollegen Uwe Kekeritz auf: Warum gibt die Bundesregierung einem freiwilligen Siegel für Arbeitsstandards in der Textilproduktion den Vorzug vor gesetzlichen Maßnahmen, die für alle Marktteilnehmer gleichermaßen verbindlich wären, und inwiefern soll sich das von Bundesminister Dr. Gerd Müller angedachte Siegel von etablierten Siegeln wie GOTS oder Fair Wear unterscheiden? Bitte, Herr Staatssekretär.

Thomas Silberhorn (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003636

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Bundesminister Dr. Gerd Müller hat zunächst ein Textilbündnis initiiert. Ziel dieses Textilbündnisses ist es, eine Selbstverpflichtung der Textilbranche zur Einhaltung von ökologischen und sozialen Standards zu erreichen. Dabei arbeiten, wie angesprochen, Unternehmen, Verbände, Arbeitgeber2644 und Arbeitnehmervertretungen sowie Nichtregierungsorganisationen zusammen. Sie haben vereinbart, einen gemeinsamen Aktionsplan zu erstellen. Darüber hinaus geht es uns mit dem von Bundesminister Dr. Müller angekündigten Textilsiegel darum, Sozial- und Umweltstandards in der gesamten Lieferkette abzudecken, also vom Baumwollfeld bis zum Kleiderbügel. Das wird durch bestehende Siegel nicht geleistet. Es ist aber ein wichtiger Schritt hin zu einer umfassenden Einhaltung von Sozial- und Umweltstandards in der Textilbranche, die gesamte globale Lieferkette zu erfassen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.

Uwe Kekeritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004066, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir begrüßen natürlich sehr, dass Sie tatsächlich die ganze Lieferkette einschließen wollen. Aber Sie sprechen hier von freiwilligen Vereinbarungen. Ich denke, dass Unternehmensverantwortung nicht mit CSR gleichgesetzt werden darf; denn all die Firmen, die Sie genannt haben, haben schon einen ganz dicken Katalog von auf dem CSR-Kodex beruhenden Selbstverpflichtungsmaßnahmen, was bisher noch nicht den gewünschten Erfolg gebracht hat. Welche Rolle will denn das BMZ spielen, wenn sich wieder herausstellen sollte, dass diese freiwilligen Maßnahmen nicht funktionieren? Wie können Sie sicherstellen, dass Ihre Initiative von vielen Unternehmen nicht zum Greenwashing oder Fairwashing verwendet wird?

Thomas Silberhorn (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003636

Herr Abgeordneter, wir zielen darauf ab, dass gemeinsam soziale und ökologische Standards festgelegt werden, denen sich nicht nur die Unternehmen aus Deutschland verpflichtet fühlen, sondern auch die Produktionsstätten, die von deutschen Unternehmen in Asien und andernorts beauftragt werden. Insofern sind wir auf Kooperation und auch auf Maßnahmen der Entwicklungszusammenarbeit angewiesen, um solche Standards vor Ort umzusetzen. Wir loten allerdings alle Handlungsmöglichkeiten gründlich aus und schließen nichts aus. Wir sind auf einem guten Wege, in Kooperation mit all den wesentlichen Akteuren diesen gemeinsamen Aktionsplan zu erarbeiten und uns auf soziale Mindeststandards zu verständigen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie haben das Wort zur zweiten Nachfrage.

Uwe Kekeritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004066, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herzlichen Dank. - Sie haben gerade angesprochen, dass es auch um die Produktionsstätten in den Entwicklungsländern selbst geht. Haben Sie vor, auch mit den Gewerkschaftsvertretern vor Ort Kontakt aufzunehmen? Inzwischen gibt es immer mehr soziale Gruppen und an Ökologie interessierte Gruppen, die sich mit dieser Thematik auseinandersetzen. Gibt es Initiativen, auch mit diesen Gruppen in Kontakt zu treten?

Thomas Silberhorn (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003636

Ja, Herr Abgeordneter, das ist der Fall. Das Entwicklungsministerium ist bereits seit einigen Jahren unterwegs, um mit den Arbeitnehmervertretern darauf hinzuwirken, dass die Arbeitsrechte und Mindeststandards bei den Arbeitsbedingungen eingehalten werden. Wir bilden beispielsweise auch Inspektoren aus, die darauf achten, dass solche Standards umgesetzt werden. Insofern sind wir breit aufgestellt und schließen nichts aus. Ich will auch darauf hinweisen, dass wir beispielsweise in engem Kontakt mit der Internationalen Arbeitsorganisation, aber auch mit der Europäischen Kommission stehen. Wir wollen in enger Kooperation mit allen interessierten Kräften vorankommen, sowohl was die sozialen und ökologischen Standards angeht als auch was ein Textilsiegel angeht, das Transparenz für die Verbraucher in Deutschland schafft.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Danke, Herr Staatssekretär. - Die Kollegin Pfeiffer hat das Wort zu einer Zusatzfrage.

Sibylle Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003609, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Staatssekretär, sind Sie mit mir einer Meinung, dass in dem Moment, in dem die Verantwortlichkeit für dieses Gütesiegel an die Wirtschaft bzw. die Unternehmen übertragen wird, wir vor Ort einen besseren Ertrag aus dieser Verpflichtung heraus haben? Ich glaube, dass der Druck der Wirtschaft auf die Unternehmen vor Ort, die handelnden Personen und auch die Regierungen wesentlich größer sein kann als das, was wir unter Umständen im Rahmen der bilateralen oder von mir aus auch der multilateralen Zusammenarbeit leisten können.

Thomas Silberhorn (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003636

Frau Abgeordnete, das ist natürlich der Fall. Die Handelsunternehmen, die ihre Waren von Produktionsstätten in Drittländern, zum Beispiel in Asien, beziehen, üben natürlich eine große Nachfragemacht aus. Deutschland ist ein großer Markt für die Textilbranche. Wir sind Bestandteil eines großen europäischen Binnenmarkts. Deswegen wird in der gesamten Europäischen Union mit großer Aufmerksamkeit verfolgt, wie wir unsere Debatte hier gestalten. Ich habe schon erwähnt, dass wir mit der Europäischen Kommission in enger Zusammenarbeit stehen. Wir wollen die Handlungsmöglichkeiten, die wir als Nachfrager bzw. Verbraucher in Deutschland haben, mit nutzen, um zu besseren Arbeitsbedingungen vor Ort beizutragen. Es ist eine für uns nicht hinnehmbare Situation, dass Kleidung unter unwürdigen Bedingungen in dritten Staaten produziert wird. Wir führen an anderer Stelle Diskussionen über Lohnuntergrenzen und Mindestlöhne. Man sollte in diesem Zusammenhang auch sehen, dass wir in einer globalisierten Weltwirtschaft die Produktionsbedingungen in Ländern, aus denen wir importieren, mit berücksichtigen müssen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Danke, Herr Staatssekretär. - Damit sind wir tatsächlich am Ende des Geschäftsbereichs des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie auf. Zur Beantwortung der Fragen steht der Parlamentarische Staatssekretär Uwe Beckmeyer zur Verfügung. Wir kommen zur Frage 11 der Kollegin Inge Höger: Wie viele Genehmigungsanfragen zum Export eines Gefechtsübungszentrums sind bisher vom Bundessicherheitsrat beschieden worden - unter Angabe der Empfängerstaaten und der Entscheidung -, und welche Exportgenehmigungen für Gefechtsübungszentren wurden bislang zurückgezogen? Bitte, Herr Staatssekretär.

Uwe Beckmeyer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003498

Liebe Kollegin Höger, gern beantworte ich Ihre Frage: Die Bundesregierung äußert sich grundsätzlich weder dazu, inwieweit einzelne Exportgenehmigungen auf Entscheidungen des Bundessicherheitsrates beruhen, noch äußert sie sich zu den Sitzungen des Bundessicherheitsrates, also auch nicht zu deren Zeitpunkt oder zu deren Inhalt. Diese unterliegen der Geheimhaltung. Die Koalitionsparteien haben sich im Koalitionsvertrag jedoch darauf verständigt, über abschließende Genehmigungsentscheidungen des Bundessicherheitsrates unverzüglich zu berichten. Die Bundesregierung bereitet derzeit die Umsetzung dieser Vereinbarung vor, sodass für die künftigen Genehmigungsentscheidungen des Bundessicherheitsrates eine zeitnahe Information des Deutschen Bundestages sichergestellt ist. Ich kann Ihnen unabhängig von der Frage einer Befassung des Bundessicherheitsrates mitteilen, dass mit Ausnahme von Russland und den Vereinigten Arabischen Emiraten keine Exporte von Gefechtsübungszentren in andere Länder genehmigt wurden. Die Genehmigung für die Ausfuhr in die Vereinigten Arabischen Emirate ist im Rüstungsexportbericht 2010 und die Genehmigung für die Ausfuhr nach Russland ist im Rüstungsexportbericht 2011 ausgewiesen. Wie Sie wissen, hält die Bundesregierung in der gegenwärtigen Situation die Ausfuhr des Gefechtsübungszentrums nach Russland nach wie vor nicht für vertretbar. Sie steht daher in Kontakt mit dem entsprechenden Unternehmen. Unmittelbar stehen keine Ausfuhren bevor. Bei Bedarf wird die Bundesregierung die erforderlichen Schritte ergreifen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Frau Höger, Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.

Inge Höger-Neuling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003773, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Gerade im Zusammenhang mit der Genehmigung der Lieferung eines Gefechtsübungszentrums an Russland gab es in den Medien sehr widersprüchliche Berichterstattungen. Zum einen äußerte sich Außenminister Steinmeier dahin gehend, dass er sich dafür einsetzen werde, dass es nicht geliefert werde. Dann gab es Berichte, dass aber schon alles ausgeliefert sei. Dazu würde ich gerne konkret wissen - ich denke, darauf haben wir als Abgeordnete ein Recht -: Wie ist der Stand? Welche Teile des Gefechtsübungszentrums sind an Russland geliefert und welche noch nicht?

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Bitte, Herr Staatssekretär.

Uwe Beckmeyer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003498

Nach meinem Kenntnisstand sind keine Teile dieses Gefechtsübungszentrums ausgeliefert worden. Es finden nach meinem Kenntnisstand dort Baulichkeiten statt, aber nicht mit Gerät, das aus der Bundesrepublik Deutschland geliefert worden ist.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Frau Höger, Sie haben das Wort zu einer zweiten Nachfrage.

Inge Höger-Neuling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003773, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

In diesem Gefechtsübungszentrum können Häuserkämpfe, Straßenkämpfe, urbane Kämpfe geübt werden. Wie verträgt es sich mit einer verantwortungsvollen Sicherheits- und Außenpolitik, wenn so ein Übungszentrum an Länder wie Saudi-Arabien oder Russland geliefert werden darf?

Uwe Beckmeyer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003498

Wir haben kein Gefechtsübungszentrum an SaudiArabien geliefert.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Damit sind Ihre Nachfragemöglichkeiten erschöpft, Frau Höger. Mir liegen keine weiteren Nachfragewünsche vor. Die Frage 12 des Abgeordneten Dr. André Hahn und die Frage 13 der Abgeordneten Dr. Julia Verlinden wie auch die Frage 14 des Abgeordneten Oliver Krischer und die Frage 15 der Abgeordneten Kathrin Vogler sollen schriftlich beantwortet werden. Danke, Herr Staatssekretär. Wir kommen zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes. Sämtliche Fragen hierzu - die Fragen 16 und 17 der Abgeordneten Heike Hänsel, die Fragen 18 und 19 des Abgeordneten Omid Nouripour, die Frage 20 der Abgeordneten Marieluise Beck, die Fragen 21 und 22 Vizepräsidentin Petra Pau der Abgeordneten Christine Buchholz, die Fragen 23 und 24 der Abgeordneten Katrin Kunert, die Fragen 25 und 26 des Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, die Frage 27 des Abgeordneten Andrej Hunko, die Fragen 28 und 29 des Abgeordneten Dr. Alexander Neu, die Frage 30 der Abgeordneten Ulla Jelpke und die Frage 31 der Abgeordneten Sevim Dağdelen - werden schriftlich beantwortet. Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern. Zur Beantwortung der Fragen steht der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Günter Krings zur Verfügung. Die Frage 32 der Kollegin Dağdelen wie auch die Frage 33 der Kollegin Jelpke sollen schriftlich beantwortet werden. Ich rufe die Frage 34 der Kollegin Martina Renner auf: Durch welche Behörde haben welche Bundesbehörden erstmals von der CD mit der Aufschrift „NSU/NSDAP“ ({0}) Kenntnis erhalten - bitte unter Angabe des Zeitpunktes? Bitte, Herr Staatssekretär.

Dr. Günter Krings (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003574

Herzlichen Dank. - Das war heute bereits ausführlich Thema der Sitzung des Innenausschusses. Da wir dort über die Frage des Neuigkeitswertes gesprochen haben, bitte ich gleich schon einmal, mir nachzusehen, dass es hier jetzt wahrscheinlich keinen Neuigkeitswert gibt, jedenfalls nicht im Vergleich zur Sitzung des Innenausschusses; aber dort waren ja nicht alle Kollegen zugegen. Auf die Frage zur Kenntniserlangung durch die Behörden kann ich Folgendes sagen: Mitteilungen über die Existenz der CD erfolgten durch eine Behörde des Verfassungsschutzverbundes; sprich: durch eine Landesbehörde. Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof und das Bundeskriminalamt erlangten am 4. März 2014 und das Bundesamt für Verfassungsschutz erlangte am 10. März 2014 Kenntnis von diesem Datenträger, wobei heute Morgen die Differenzierung zwischen CD und DVD noch einmal deutlich gemacht wurde. Dass es den Datenträger gibt, ist also an den genannten Daten den jeweiligen Behörden zur Kenntnis gelangt. Fragen zu Einzelheiten zu der betreffenden die Information veranlassenden Verfassungsschutzbehörde und deren Informationsbeschaffung kann die Bundesregierung nicht beantworten. Dies folgt - Sie kennen das - aus der Abwägung zwischen dem Schutz der verfassungsrechtlich garantierten Informationsrechte des Deutschen Bundestages und seiner Abgeordneten einerseits mit den zu befürchtenden negativen Folgen für die künftige Arbeitsfähigkeit und Aufgabenerfüllung und den daraus resultierenden Beeinträchtigungen der Sicherheit der Bundesrepublik andererseits. Bereits aus der Nennung der Behörde beispielsweise, wenn man also sagen würde, welche Landesbehörde es war, könnten Rückschlüsse auf deren konkrete Arbeitsweise gezogen werden.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.

Martina Renner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004385, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke, Herr Dr. Krings, für die jetzt auch öffentliche Erörterung der Frage. Welche Landesbehörde es war, kann man in der Presse nachlesen. Ich würde gern wissen: Inwieweit haben Bundesbehörden, also das BKA, aber hier insbesondere das Bundesamt für Verfassungsschutz, Einträge im Rechtsaußenforum eigentümlich frei im November 2013 ausgewertet, in denen erstmals auf diese CD mit der Aufschrift „NSU/ NSDAP“ hingewiesen wurde und auch ein Zusammenhang mit dem mittlerweile verstorbenen V-Mann Corelli hergestellt wurde? Inwieweit also hat die Abteilung Auswertung im BfV diesen Foreneintrag zur Kenntnis genommen, und was ist daraufhin veranlasst worden?

Dr. Günter Krings (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003574

Darauf muss ich ehrlich antworten, dass mir dazu ad hoc keine Kenntnisse vorliegen. Das müssten wir vielleicht im Rahmen einer schriftlichen Antwort machen, soweit es ohne Einstufung oder auch mit Einstufung beantwortet werden kann. Ich kann es Ihnen aktuell nicht sagen. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Würden Sie bitte Ihr Mikrofon einschalten!

Martina Renner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004385, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Das habe ich. Es hat etwas gedauert. - Ich bedanke mich erst einmal für die Zusage, dass diese Frage schriftlich beantwortet wird. Generell können Sie mir vielleicht sagen, ob das Rechtsaußenforum eigentümlich frei Beobachtungsgegenstand des BfV ist, weil dort jetzt schon zum zweiten Mal sehr detaillierte Informationen aus dem Kontext des NSU veröffentlicht wurden.

Dr. Günter Krings (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003574

Das kann ich Ihnen ad hoc nicht sagen. Wie gesagt, wir müssen schauen, welcher Einstufung das gegebenenfalls unterliegt. Ich bin gern bereit, die Frage ins Haus und in die nachgeordnete Behörde zu geben. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Gut. Dann gilt das als vereinbart. - Es gibt eine Nachfrage des Kollegen Ströbele zur Frage 34.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Staatssekretär, ich habe zu Herrn Corelli noch eine Frage. Das beschäftigt ja nicht nur die Medien, sondern auch den Deutschen Bundestag; darauf haben Sie schon hingewiesen. Es gibt die Behauptung - dazu hätte ich gern eine offizielle Stellungnahme der Bundesregierung -, dass Herr Corelli möglicherweise gar nicht Herr Corelli ist, sondern dass es sich bei der Person, die gestorben ist, um eine andere Person handelt. Können Sie dem Deutschen Bundestag und der Öffentlichkeit erklären, ob und wie Herr Corelli als solcher identifiziert worden ist?

Dr. Günter Krings (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003574

Diese Behauptung, Herr Abgeordneter, höre ich zum ersten Mal. Es gibt auch keine Anhaltspunkte - mir sind jedenfalls keine bekannt -, dass das so sein könnte. Er ist identifiziert worden. Da gab es eine biologische Methode, wenn ich das aus dem Innenausschuss richtig mitgenommen habe; aber auch sein Bruder hat wohl an der Identifizierung teilgenommen. Das sind die Informationen, die ich habe. Insofern wundert mich diese Behauptung oder diese These. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich rufe - wir bleiben beim Gegenstand der gerade behandelten Frage - die Frage 35 der Kollegin Martina Renner auf: Welche der auf der genannten CD befindlichen Dateien, mit welchem Inhalt und Erstellungsdatum, lassen sich nach Erkenntnissen der Bundesregierung dem V-Mann Corelli zurechnen? Bitte, Herr Staatssekretär.

Dr. Günter Krings (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003574

Hier geht es um den Inhalt des Datenträgers bzw. um dessen Zurechnung zu dem V-Mann Corelli. Diese Frage - so haben wir das heute Morgen noch einmal gehört ist Gegenstand eines laufenden Ermittlungsverfahrens des Generalbundesanwalts. Die Bundesregierung äußert sich, wie Sie wissen, nicht zu den Einzelheiten laufender Ermittlungsverfahren, um den Fortgang der Ermittlungen nicht zu gefährden. Es geht nicht nur um den Verstorbenen - da muss man nicht mehr ermitteln -, aber es geht um Personen im Umfeld. Trotz der grundsätzlich bestehenden verfassungsrechtlichen Pflicht der Regierung, Informationsansprüche des Bundestages zu erfüllen, tritt hier nach sorgfältiger Abwägung der betroffenen Belange das Informationsinteresse des Parlaments hinter der Pflicht zur Durchführung von Strafverfahren zurück. Das ergibt sich aus dem Rechtsstaatsprinzip. Insofern gibt es hier ein daraus resultierendes Geheimhaltungsinteresse in Bezug auf ein solches laufendes Ermittlungsverfahren. Auch die Nennung einer Teilbewertung durch den Generalbundesanwalt ist aus den genannten Gründen nicht angezeigt.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Renner, Sie haben das Wort zur Nachfrage.

Martina Renner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004385, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Dr. Krings, dann will ich nicht zu Details, sondern zu dem Ermittlungsverfahren fragen, auf das Sie jetzt verwiesen haben. Um welche möglichen Straftatbestände geht es bei diesem Ermittlungsverfahren, und gegen welche Personen wird es geführt? Oder wird es gegen unbekannt geführt? Wenn Sie die Informationen jetzt vielleicht nicht vorliegen haben, bitte ich um Nachreichung einer schriftlichen Antwort.

Dr. Günter Krings (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003574

Das kann ich in der Tat jetzt nicht sagen, Frau Abgeordnete. Dabei handelt es sich um eine Behörde, die zum Geschäftsbereich des Bundesjustizministeriums gehört. Insofern müssen Sie die Frage noch einmal an das Justizministerium richten.

Martina Renner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004385, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Okay.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Gibt es noch eine zweite Nachfrage?

Martina Renner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004385, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Nein.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das ist nicht der Fall. Dann kommen wir zur Frage 36 des Kollegen HansChristian Ströbele: Werden die drei momentan vom Bundesamt für Verfassungsschutz ausgeschriebenen IT-affinen Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter im Bereich „Zentrale Fachunterstützung“, welche laut Ausschreibung auch mit der „Auswertung gesammelter Informationen“ betraut werden sollen, von Mitarbeitern des Bundesnachrichtendienstes in der Nutzung von Datensammlungssoftware, wie beispielsweise XKeyscore, Prism oder anderen, geschult ({0}), und inwiefern werden die Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes, die mit der Schulung beauftragt sind, selbst auch heute noch vom amerikanischen Geheimdienst NSA oder anderen für die Schulung ihrer deutschen Kolleginnen und Kollegen ausgebildet? Bitte, Herr Staatssekretär.

Dr. Günter Krings (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003574

Bei der Fragestellung geht es um angeblich drei momentan vom Bundesamt für Verfassungsschutz ausgeschriebene Stellen für IT-affine Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter. Die Ausschreibung im Jahre 2014, Herr Abgeordneter, erfolgte sowohl für Personen mit einem IT-Studium als auch für IT-affine Sachbearbeiter. Sie war aber nicht auf eine bestimmte Anzahl von Personen festgelegt. Die konkrete Verwendung der durch die Ausschreibung gewonnenen Mitarbeiter ist allerdings offen. Erst nach Festlegung dieser Verwendung wird über den jeweiligen Schulungsbedarf entschieden. So ist das Prozedere bei einer Einstellung in der Behörde.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke. - Das ist mir natürlich bekannt. Laut Ausschreibungstext geht es - das soll die Aufgabe sein - gerade auch um die Auswertung gesammelter Informationen. Von daher liegt die Vermutung nahe, dass für die neuen Mitarbeiter im Bereich von Prism und Tempora und all der neuen Systeme - sie kommen aus den USA und stehen dem Bundesnachrichtendienst offenbar zur Verfügung - eine Beschäftigung in dieser Richtung geplant ist. Dazu können Sie nichts sagen. Das deutet darauf hin: Es handelt sich um gesammelte Daten, die ausgewertet werden sollen. Soweit ich weiß, ist Prism das beste System dafür.

Dr. Günter Krings (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003574

Ich glaube, da muss man differenzieren und darf nicht zu viele Dinge durcheinanderwerfen, Herr Abgeordneter. Prism ist, soweit mir bekannt ist, keine Software, sondern das Programm einer Behörde. Das ist kein Programm im Sinne eines Softwareprogramms, sondern ein Arbeitsbereich mit einer bestimmten Herangehensweise. XKeyscore - das hatten Sie ausdrücklich in der Frage erwähnt - ist in der Tat eine Software. Dazu gibt es bereits, wenn ich es richtig sehe, Antworten auf Fragen von Ihnen, in denen bestätigt wurde, dass dieses Programm auch als Software Verwendung findet. Es ist keine Datensammelsoftware, sondern es hilft bei der Auswertung rechtmäßig gesammelter Daten. Selbstverständlich ist nicht auszuschließen, dass diese Mitarbeiter - oder einige von ihnen - diese Software anwenden werden.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie haben das Wort zur zweiten Nachfrage.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die zweite Nachfrage ist eigentlich schon in der Frage enthalten, nämlich ob sie jetzt schon vom Bundesnachrichtendienst geschult worden sind. Das ist die eigentliche Frage bzw. Teil 1 der Frage gewesen. Teil 2 der Frage ist, ob sie von der NSA überhaupt oder weiter geschult werden.

Dr. Günter Krings (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003574

Der Bundesnachrichtendienst schult bereits jetzt Personal, das mit dieser Software umgeht. Er hat offenbar eine Expertise, die beim Verfassungsschutz so nicht vorhanden ist. Es ist - deshalb habe ich die Frage eben so beantwortet - die Frage, ob die jetzt Einzustellenden diese Software überhaupt nutzen werden und ob es dann Schulungsbedarf gibt. Ob sie sie nutzen werden, ist eine Frage, die nicht zu beantworten ist. Was Sie wahrscheinlich aber auch interessiert: Natürlich werden für die Nutzung dieser Software bereits jetzt Schulungen durch Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes durchgeführt. Die Frage, inwieweit diese wiederum von anderen Diensten - Sie haben zu Recht die Amerikaner angesprochen, weil die Software von da kommt - geschult werden, ist, wie Sie sich denken können, eine Frage zur nachrichtendienstlichen Zusammenarbeit, und dazu können wir hier, jedenfalls in dieser Form, keine Auskünfte geben. Es wäre allerdings möglich, so etwas in der Geheimschutzstelle des Bundestages auszulegen, sodass Sie dann auf diese Art und Weise davon Kenntnis nehmen können. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Wir kommen zur Frage 37 des Kollegen HansChristian Ströbele: Teilt die Bundesregierung - entgegen ihrer bisherigen Stellungnahme ({0}) - die Auffassung des Rechtsgutachtens des Unabhängigen Landeszentrums für Datenschutz Schleswig-Holstein, ULD, vom 23. April 2014, wonach sie verfassungsrechtlich „alternativlos“ verpflichtet ist, Edward Snowden rasch um Einreise nach Deutschland zu bitten, um hier frei über Gefährdungen informationeller Bürger- und Grundrechte durch die NSA aufzuklären, was die USA bisher verweigern, und mit welchen Tatsachen und konkreten Erkenntnissen begründet die Bundesregierung ihre bisherige Annahme, gegenüber ihrer Kooperationspflicht mit dem Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages wöge verfassungsrechtlich ihre, nach meiner Auffassung unbelegte sowie unrealistische Vermutung schwerer, eine Einreise Edward Snowdens nach Deutschland könne die Kooperation US-amerikanischer mit hiesigen Geheimdiensten einschränken? Bitte, Herr Staatssekretär.

Dr. Günter Krings (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003574

Die Antwort kann ich relativ kurz halten, Herr Abgeordneter: Zu den rechtlichen Rahmenbedingungen einer möglichen Einreise von Herrn Snowden nach Deutschland hat die Bundesregierung dem Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages am 2. Mai 2014 einen umfassenden Bericht vorgelegt. Die Regierung sieht sich mit Blick darauf nicht veranlasst, darüber hinaus noch weiter Stellung zu nehmen. Manchen war ja, wenn ich das so sagen darf, sogar diese Stellungnahme schon zu weitgehend.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Damit bin ich natürlich überhaupt nicht zufrieden. Wir werden das sicherlich auch im Untersuchungsausschuss erörtern, wahrscheinlich sogar öffentlich. Das wird man also sehen. Diese gutachterliche Äußerung bzw. Stellungnahme der Bundesregierung liegt mir vor. Sie ist aber, wie ich inzwischen festgestellt habe, herabgestuft worden; das heißt, sie kann allen vorliegen. Bevor sie mir vorlag, lag sie schon - ich weiß nicht - mindestens einem Dutzend Medien vor, und die haben daraus auch schon veröffentlicht. Das wollen wir jetzt aber nicht erörtern, sondern mir geht es darum, dass sich da tatsächlich die Passage findet, dass gerade im geheimdienstlichen Bereich möglicherweise erhebliche Einschränkungen auf Dauer entstehen, wenn Herr Snowden nach Deutschland kommen sollte. Nicht in der Stellungnahme findet sich aber: Wie kommt die Bundesregierung darauf? Gibt es da Äußerungen, gibt es da Fakten, die dafürsprechen? Nach allem, was ich weiß, erscheint mir das doch sehr herbeigesucht, weil die USA und die NSA mindestens so sehr an einer guten Zusammenarbeit in diesem Bereich interessiert sind, wie Deutschland vielleicht daran interessiert ist.

Dr. Günter Krings (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003574

Sie haben ja eben darauf hingewiesen, dass manche Dinge auch in der Presse zu lesen sind. Wir brauchen uns gegenseitig nichts vorzumachen, wie eine Reaktion von ausländischen Diensten - ich sage es jetzt einmal allgemein - ausfällt, wenn ein Staat in solchen Situationen praktisch einen sicheren Hafen, um es einmal untechnisch zu sagen, anbietet. Ich glaube, wir können uns ausmalen, dass das nicht ohne Implikationen bleibt, auch was die Zusammenarbeit angeht. Ich will jetzt gar nicht von den grundsätzlichen Außenbeziehungen sprechen; so hoch will ich gar nicht greifen. Aber dass das Auswirkungen auf die nachrichtendienstliche Zusammenarbeit haben wird, davon kann man schon ausgehen. Es wäre, glaube ich, naiv, das auszuschließen. Noch einmal: Ich kann nur darauf hinweisen, dass in der Stellungnahme ausführlich die Gründe benannt werden. Die Stellungnahme ist inzwischen offen; sie war zuerst als NfD eingestuft. Es handelte sich um eine Abwägungsfrage. Der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses hat uns gebeten, es als offen einzustufen, um, wie auch Sie es ja betonen, gerade über die rechtliche Argumentation, was gegen eine Vernehmung in Deutschland spricht, transparent und nicht nur in dem achtköpfigen Untersuchungsausschuss diskutieren zu können. Die rechtlichen Argumente ergeben sich insofern daraus. Um sich ausmalen zu können, was das für Implikationen für die außenpolitische Zusammenarbeit hat, dazu braucht man - das sage ich noch einmal - keine große Fantasie.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie haben das Wort zur zweiten Nachfrage.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Darf ich Ihrer Antwort entnehmen, dass Sie nicht in der Lage sind, Fakten zu nennen, die diesen Entschluss insbesondere hinsichtlich der geheimdienstlichen Zusammenarbeit begründen könnten, also dass Sie keine kennen?

Dr. Günter Krings (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003574

Es gibt presseöffentliche Äußerungen, die wir beide kennen. Es gibt da für mich hinreichend starke Indizien - Fakten, wenn Sie so wollen. Insofern ist das ein Punkt, der in die Abwägung einzubeziehen ist. Natürlich ist die Bundesregierung verpflichtet - das tut sie auch gern -, dem Untersuchungsausschuss Amtshilfe zu leisten; aber diese Amtshilfe findet ihre Grenze, wenn die notwendige Hilfe dem Staatswohl zuwiderlaufen würde. Hierzu zählen eben auch auswärtige Beziehungen und die von mir eben genannten Fragen der Zusammenarbeit.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Zu einer Zusatzfrage hat die Kollegin Martina Renner das Wort.

Martina Renner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004385, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke, Frau Präsidentin. - Auf Seite 25 des Gutachtens der Bundesregierung kommen Sie selbst zu dem Ergebnis, dass die Einholung einer Stellungnahme durch eine US-amerikanische Kanzlei außerhalb des Zuständigkeitsbereiches der Bundesregierung liegt. Diese Kanzlei hat sich ja zur Frage, ob sich Abgeordnete des Deutschen Bundestages strafbar machen, wenn sie Herrn Snowden einladen und vernehmen, geäußert. Wenn Sie selbst der Auffassung sind, dass das außerhalb Ihres Zuständigkeitsbereiches lag, würde mich zweierlei interessieren - ich stelle also zwei Fragen, wenn das möglich ist -: Erstens. Warum haben Sie dann diese US-amerikanische Kanzlei beauftragt? Zweitens. Teilen Sie unsere rechtliche Auffassung, dass damit dieser Teil des Gutachtens, also die Stellungnahme der USKanzlei, nichtig ist und nicht in die Erörterung des Untersuchungsausschusses einbezogen werden kann?

Dr. Günter Krings (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003574

Ich verstehe den Satz nicht so, dass wir nicht berechtigt sind, diese Auskünfte einzuholen und sie dem Ausschuss zu präsentieren. Das wäre ja ein Widerspruch in sich, wenn wir sagen würden, dass wir das gar nicht dürfen, es aber tun. Vielmehr fällt es in seinen Zuständigkeitsbereich, das auch selber zu machen. Ich finde, auch aufgrund des Antrags, den die Koalitionsfraktionen geschrieben haben - da gibt es eine Ziffer 4, in der es auch um die strafprozessualen Konsequenzen der Arbeit eines Untersuchungsausschusses geht -, ist es geradezu die Pflicht der Bundesregierung, auf mögliche Implikationen, auch in strafrechtlicher Hinsicht und im Hinblick auf andere Staaten - hier ging es ja um Großbritannien und um die Vereinigten Staaten; bei Großbritannien kam man zu einem positiveren Ergebnis, bei den USA kam es zu einem „caveat“ -, hinzuweisen. Ich finde, Abgeordnete des Deutschen Bundestages und auch Mitglieder des Untersuchungsausschusses haben kein Recht auf Nichtwissen. Sie sollten über die strafrechtlichen Implikationen aufgeklärt werden. Insofern würde ich nicht mit dem Begriff „Nichtigkeit“ operieren. Es geht schließlich um ein Wissen. Wissen kann man nicht für nichtig erklären. Es ist jetzt da, und es sollte auch da sein. Sollte es zu einer Einschlägigkeit amerikanischer strafrechtlicher Vorschriften durch die Arbeit des Untersuchungsausschusses kommen, heißt das natürlich nicht, dass die Bundesregierung sich nicht trotzdem schützend vor die Mitglieder des Untersuchungsausschusses stellt. Trotzdem gehört es zum Gesamtbild, zu wissen, wie die Rechtslage in den USA ist. Diese Informationen haben wir gegeben.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Wir sind damit am Ende des Geschäftsbereichs des Bundesministeriums des Innern. - Danke, Herr Staatssekretär. Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz. Die Frage 38 der Kollegin Veronika Bellmann, die Fragen 39 und 40 des Kollegen Volker Beck und die Frage 41 der Kollegin Cornelia Möhring sollen schriftlich beantwortet werden. Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Zur Beantwortung steht die Parlamentarische Staatssekretärin Anette Kramme zur Verfügung. Die Frage 42 der Kollegin Cornelia Möhring, die Fragen 43 und 44 der Kollegin Katrin Werner sowie die Frage 45 der Kollegin Azize Tank sollen schriftlich beantwortet werden. Wir kommen zur Frage 46 des Kollegen Markus Kurth: Wie viele Beschäftigte ab dem 55. Lebensjahr, die innerhalb der letzten vier Jahre vor dem Tag der Arbeitslosigkeit mindestens 24 Monate in einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden haben, wurden im Zeitraum vom 1. April 1999 bis zum 31. Januar 2006 von ihren Arbeitgebern entlassen, und wie viele Arbeitgeber waren in diesem Zeitraum nach der Vorschrift des § 147 a ({0}) des Dritten Buches Sozialgesetzbuch, SGB III, verpflichtet, der Bundesagentur für Arbeit das für ältere Arbeitnehmer gezahlte Arbeitslosengeld I zu erstatten? Bitte, Frau Staatssekretärin.

Anette Kramme (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003162

Vielen Dank, Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Kurth, Ihre Frage gliedert sich in zwei Bestandteile. Bezüglich des ersten Teils liegen der Bundesregierung keine Erkenntnisse vor. Bezüglich des zweitens Teils, also zu den angeforderten Zahlen, kann ich Folgendes sagen: Die Bundesagentur für Arbeit hat uns mitgeteilt, dass im Jahr 2004 für 794 Zugänge in Arbeitslosengeld bzw. für 4 021 Bestandfälle eine Erstattungspflicht des Arbeitgebers nach § 147 a ({0}) SGB III bestanden hat. Im Jahr 2005 waren es 1 639 betreffend den Zugang bzw. 4 148 Fälle betreffend den Bestand. Im Jahr 2006 waren es 3 099 Fälle betreffend den Zugang bzw. 4 650 Fälle betreffend den Bestand. Ihre Frage ist somit beantwortet.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wenn Arbeitgeber Beschäftigte zwei Jahre vor Renteneintritt entlassen, soll die sogenannte Erstattungsregelung im Zuge des Rentenpaketes verhindern, dass es zu sogenannten Frühverrentungen kommt. Glauben Sie nicht, dass angesichts der niedrigen Fallzahlen, die Sie nennen, und auch angesichts der relativ geringen Datengrundlage die Erstattungsregelung de facto nicht doch ein ziemlich stumpfes Schwert ist?

Anette Kramme (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003162

Herr Kurth, das denke ich nicht. Man muss wissen, dass zwei Bestandteile sicherstellen sollen, dass es nicht zu Frühverrentungen kommt. Der erste Bestandteil ist, dass die Sperrzeit eines Arbeitnehmers berücksichtigt werden soll. Das heißt: Wenn der Arbeitnehmer an der Kündigung mitgewirkt hat, wird es zu solch einer Sperrzeit kommen. Das ist der eine Bestandteil. Der andere Bestandteil, der meines Erachtens das erforderliche Gleichgewicht zwischen Arbeitnehmerschaft und Arbeitgeberschaft herstellt, ist die ergänzende Regelung der Erstattung des Arbeitslosengeldes. Wenn Sie die Zahlen aus der Vergangenheit heranziehen, dann müssen Sie auch berücksichtigen, dass diese Erstattungsregelung nur Sachverhalte für ältere Arbeitnehmer umfasst. Daher sind diese Zahlen relativierend zu betrachten. Am Montag fand eine Sachverständigenanhörung statt, in der uns die Experten durchgängig mitgeteilt haben, dass sie nicht von einer Frühverrentungswelle ausgehen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie haben das Wort zur Nachfrage.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich war bei der von Ihnen angesprochenen Anhörung. Der DGB ist der Einschätzung der Bundesagentur für Arbeit gefolgt, dass es eine sehr bürokratische Regelung ist. Der DGB hat den Vorschlag gemacht, die Erstattungsregelung zu vereinfachen. Gedenkt die Bundesregierung, diesem Vorschlag des DGB zu folgen? Wenn ja, wie sieht gegebenenfalls eine Vereinfachung und damit eine höhere Wirksamkeit der Erstattungsregelung aus?

Anette Kramme (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003162

Herr Kurth, bislang handelt es sich lediglich um einen Vorschlag der Arbeitsministerin, der in den Medien kommuniziert worden ist. Es liegt bislang kein expliziter Gesetzestext vor. Wir werden darauf achten, dass die Regelung möglichst unbürokratisch wird. Die Verhandlungen mit dem Koalitionspartner stehen selbstverständlich noch aus.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Wir kommen damit zur Frage 47 des Kollegen Markus Kurth: Inwiefern beabsichtigt die Bundesregierung aufgrund der hohen Steuereinnahmen, sich bereits in dieser Legislaturperiode, das heißt deutlich vor dem Jahr 2019, mit zusätzlichen Mitteln an den ausgeweiteten Leistungen für Kindererziehung für vor dem Jahr 1992 geborene Kinder zu beteiligen, und zu welchem Ergebnis kam die Erhebung des GKV-Spitzenverbandes - GKV: gesetzliche Krankenversicherung -, ob alle Krankenkassen die Datenlücke für den gesamten infrage kommenden Zeitraum schließen können, um zwischen Zeiten des Bezugs von Arbeitslosengeld und Zeiten des Bezugs von Arbeitslosenhilfe differenzieren zu können ({0})? Bitte, Frau Staatssekretärin.

Anette Kramme (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003162

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Auch diese Frage von Herrn Kurth gliedert sich in zwei Abschnitte. Auf die erste Teilfrage antworte ich wie folgt: Es ergeben sich keine Auswirkungen auf die vorgesehene Finanzierung. Bei der Finanzierung der Leistungsverbesserung des Rentenpaketes wird berücksichtigt, dass die gesetzliche Rentenversicherung finanziell gut aufgestellt ist, auf lange Sicht aber die Beitragszahler nicht überfordert werden dürfen. Zur zweiten Teilfrage ist Folgendes mitzuteilen: Der GKV-Spitzenverband hat uns mitgeteilt, dass nach einer Erhebung bei seinen Mitgliedskassen, mit Ausnahme von zwei Rückmeldungen, nahezu alle Krankenkassen grundsätzlich in der Lage sind, Auskunft über die Zeiten der Krankenversicherungspflicht aufgrund des Bezuges von Leistungen der Arbeitsförderung differenziert nach Arbeitslosengeld, Unterhaltsgeld, Arbeitslosenhilfe mindestens für die Zeit nach 1983 und in den neuen Ländern ab 1991 zu geben. Diese Aussage gilt im Übrigen grundsätzlich auch für die Zeiten der Krankenversicherungspflicht aufgrund der Teilnahme an Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben bzw. von berufsfördernden Maßnahmen zur Rehabilitation. Daten über Versicherungszeiten vor 1983 stehen nur noch vereinzelt zur Verfügung.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Zum ersten Fragenkomplex, zur Finanzierung der Mütterrente, will ich noch einmal nachfragen. Der Deutsche Juristinnenbund hat in seiner Stellungnahme sehr deutlich gemacht, dass die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler auch für Mütter zahlen, die eigentlich über Versorgungswerke abgesichert sind. Er hält das verfassungsrechtlich für problematisch. Angesichts dessen wäre es doch sachgerecht und geboten, gerade wenn die Steuereinnahmen so hoch sind wie im Moment, bereits frühzeitig mit einem höheren Steueranteil zur Finanzierung der Mütterrente beizutragen.

Anette Kramme (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003162

Es gibt hierzu eine Koalitionsvereinbarung, die den Finanzierungsrahmen umschrieben hat. Die Bundesministerin hat überdies aushandeln können, dass ab dem Jahr 2022 2 Milliarden Euro mehr zur Verfügung stehen aus Bundeszuschüssen für die Kosten der Mütterrente; im Jahr 2022 in Höhe von 6,5 Milliarden Euro.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie haben das Wort zur zweiten Nachfrage.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Eigentlich wollte ich jetzt zu den Daten kommen. Aber ich muss da nachhaken: Wie sehen Sie denn die Stellungnahme des Deutschen Juristinnenbundes? Darin wird kritisiert, dass die Erziehungsjahre von Müttern, die überhaupt nicht in der Rentenversicherung sind, sondern einen ganz anderen Absicherungsweg - etwa über Versorgungswerke - gewählt haben, mit Beitragsmitteln finanziert werden.

Anette Kramme (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003162

Bei dieser Frage müsste ich auf eine schriftliche Antwort verweisen. Nach meiner Erinnerung ist es so, dass das Bundessozialgericht entschieden hat, dass diese Fälle zusätzlich über die Rentenversicherung abzudecken sind. Danach hätte die Rentenversicherung - unter der Annahme dieses Umstandes - gar keine Alternative.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Wir haben eine weitere Nachfrage.

Anja Hajduk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003547, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Staatssekretärin, darf ich Ihre Antwort - Sie haben einen Hinweis zur Finanzierung der sogenannten Mütterrente gegeben und sagten, wenn ich es richtig verstanden habe, dass ab dem Jahr 2022 zusätzliche Mittel aus dem Bundeshaushalt bereitgestellt werden sollen, also eine Steuerfinanzierung ausgehandelt wurde, was Sie als einen positiven Impuls der Ministerin dargestellt haben - als ein Teileingeständnis werten, dass die jetzt, in dieser Legislaturperiode, vorgesehene Finanzierung im Prinzip nicht dauerhaft sachgerecht ist?

Anette Kramme (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003162

Ich kann an dieser Stelle nur noch einmal auf den Koalitionsvertrag verweisen. Es ist unsere Sache, diesen Koalitionsvertrag umzusetzen. Die ursprünglichen Stellungnahmen der einzelnen Parteien haben Sie sicherlich den Medien entnehmen können.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Danke. - Mit dieser Zusatzfrage der Kollegin Hajduk sind wir am Ende des Geschäftsbereichs des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Vizepräsidentin Petra Pau Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung. Die Fragen 48 und 49 der Abgeordneten Agnieszka Brugger sollen schriftlich beantwortet werden. Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Die Frage 50 der Abgeordneten Pia Zimmermann soll schriftlich beantwortet werden. Damit sind die Fragen, die die Kolleginnen und Kollegen zur heutigen Fragestunde eingereicht haben, erschöpft. Ich unterbreche die 32. Sitzung des Bundestages bis zum Beginn der Aktuellen Stunde zur aktuellen Lage in der Ukraine. Um 15.35 Uhr setzen wir unsere Arbeit fort. ({0})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir treten wieder in die Tagesordnung ein. Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und SPD Zur aktuellen Lage in der Ukraine Ich eröffne die Aussprache. Als Erster hat das Wort Bundesminister Dr. Steinmeier. ({0})

Dr. Frank Walter Steinmeier (Minister:in)

Politiker ID: 11004167

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um es mit einem Wort zu sagen: Die Lage im Osten und im Süden der Ukraine ist furchtbar. Wir alle waren über die Fernsehnachrichten Zeugen von Besetzungen von Häusern, vor allen Dingen in Odessa am vergangenen Freitag, als mindestens 40 Menschen in einem Haus gestorben sind, in das zwei Gruppen vor der Gewalt auf der Straße geflüchtet waren. Ukrainische Sicherheitskräfte und prorussische Separatisten sind auch gestern und wohl auch im Laufe des heutigen Tages wieder brutal aufeinandergestoßen. Es gab Verletzte, auch Tote in Donezk, Slawjansk und Odessa. An der Grenze zur Ukraine stehen russische Soldaten, und natürlich haben viele Menschen Angst davor, dass sie irgendwann die Grenze überschreiten könnten. Die Nachrichten sind erschreckend. Wir alle spüren in diesen Tagen nicht nur, dass die Nachrichten immer schlechter werden, sondern auch, dass sie immer schneller schlechter werden. Ein Brandbeschleuniger kommt hinzu: Je dramatischer die Ereignisse, desto schärfer die öffentliche Rhetorik. Ich weiß zwar, dass das, was viele Beteiligte über die politischen Lautsprecher hinausrufen, in der diplomatischen Arbeit oft viel pragmatischer klingt; aber dennoch werden Aktion und rhetorische Reaktion immer mehr zu einem Teufelskreis. Irgendwann droht der Point of no Return. Dann stehen wir auf unserem Kontinent tatsächlich an der Schwelle zu einer Konfrontation, die wir eigentlich, 25 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges, nicht mehr für möglich gehalten haben. Ich beschreibe diese Lage nicht düster; ich beschreibe sie ehrlich. Ich tue das nicht, um Ängste zu schüren, sondern ich tue das, weil wir jetzt auch hier in Deutschland zeigen müssen, dass wir bereit sind, uns gegen jede weitere Eskalation mit unseren Möglichkeiten, die nicht uferlos sind, zu stemmen - ich sage und betone: mit allen diplomatischen Mitteln -, um tatsächlich immer wieder Auswege zu bahnen. Ich bin davon überzeugt: Noch ist es nicht zu spät, noch kann die Vernunft die Oberhand gewinnen; aber sie kann eben nur die Oberhand gewinnen, wenn alle Beteiligten bereit sind, auf den Weg von politischen Lösungen zurückzufinden, allen voran in Moskau und in Kiew. Darum ringen wir jeden Tag. ({0}) Ich weiß es auch: Viel Zeit ist nicht mehr. Am 25. Mai sollen Präsidentschaftswahlen in der Ukraine sein. Weil nicht mehr viel Zeit ist, war ich am vergangenen Freitagmorgen beim gegenwärtigen Chef der OSZE, bei Didier Burkhalter, in der Schweiz, hatte Freitagmittag Frau Ashton nach Berlin eingeladen und bin gestern nach Wien geflogen, um dort den ukrainischen Außenminister zu treffen, am Ende auch Sergej Lawrow, um etwas vorzubereiten, was ich in der gegenwärtigen Situation für dringend notwendig halte und was ich in fünf knappen Thesen gestern in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung beschrieben habe: Erstens. Ich glaube, wir brauchen noch einmal eine Zusammenkunft der großen Vier, die in Genf bereits zusammengetroffen sind - Ukraine, Russland, EU und USA -, und zwar nicht, weil Genf I ein Fehler war, sondern weil nach Genf nichts folgte, um ein kluges politisches Agreement tatsächlich Schritt für Schritt in die Tat umzusetzen. Zweitens. Wir brauchen eine Verständigung darüber - ich sage: eine Verständigung auch mit Russland -, dass die Wahlen am 25. Mai in der Ukraine tatsächlich stattfinden. ({1}) Ich habe gestern mit der Überzeugungskraft, die mir zur Verfügung steht, meinem russischen Kollegen Lawrow noch einmal gesagt: Gerade ihr, die ihr die Legitimität der gegenwärtigen Führung in der Ukraine bezweifelt, müsstet das allergrößte Interesse daran haben, dass die erste Institution der politischen Führung in der Ukraine jetzt neu gewählt wird. - Im Verlaufe des Jahres kann man dann über Parlamentswahlen und die Wahl einer neuen Regierung nachdenken. Aber die Präsidentschaftswahl am 25. Mai sollte und muss der Beginn sein. Drittens. Ich glaube, dass es, um die Wahlen am 25. Mai durchzuführen, dringend notwendig ist, dass wir zu diesem Zeitpunkt auch das einleiten, was fehlt: einen nationalen Dialog. Dafür gibt es ganz viele Ideen. Aber man muss beginnen, diese Ideen umzusetzen. Man kann das machen, indem man Bürgermeisterkonferenzen einberuft. Man kann das machen, indem man Gouverneurskonferenzen mit Teilnehmern aus allen Teilen der Ukraine einberuft. Man kann das machen, was in anderen europäischen Ländern in Phasen des Umbruchs Nutzen gebracht hat: runde Tische, in diesem Fall unter Beteiligung der Ostukraine und unter Beteiligung der südlichen Ukraine und, wo es nicht von selbst läuft, unter Mediation der OSZE. Viertens. Wir brauchen die Einleitung einer Verfassungsreform, bei der sich alle Regionen des Landes in den Institutionen, in denen diese Reform beraten wird, tatsächlich vertreten fühlen. Fünftens. Wir brauchen einen Prozess, in dem die Schritte beschrieben werden, mit denen wir zur Entwaffnung der illegalen Gruppierungen und Räumung öffentlicher Orte bzw. öffentlicher Gebäude kommen. Dies sind fünf klare Vereinbarungen, die man treffen muss und für die man Umsetzungsschritte vereinbaren muss. Das kann auf der Grundlage der Genfer Vereinbarung vom 17. April geschehen. Die Gespräche, die ich dazu geführt habe, haben mir jedenfalls gezeigt: Es gibt eigentlich niemanden, der ein erneutes Genfer Treffen ablehnt. Aber vor einem nächsten Treffen, einem Treffen für konkretere Umsetzungsschritte, darf die Latte nicht jeden Tag höher gelegt werden. Es kommt jetzt darauf an, dass alle vier Beteiligten in der Lage und bereit sind, die gelegten Hürden tatsächlich zu überspringen. Daran arbeiten wir. Ich weiß: Die Diplomatie bewegt sich immer zu langsam, in kleinen Schritten vorwärts. Natürlich sehe ich, dass jede Besetzung öffentlicher Gebäude, jede Ausschreitung mit Gewalt uns weiter zurückwirft. Aber trotz aller Enttäuschung - ich teile Ihre Enttäuschung -: Wenn uns Gewaltakte zurückwerfen, müssen wir versuchen, uns in die andere Richtung zu bewegen, uns nach vorne zu bewegen. Deshalb habe ich geschrieben: Gerade in der gegenwärtigen Situation ist und darf Aufgeben keine Option sein. ({2}) Nun weiß ich, dass es überall auf der Welt, auch in Europa, immer wieder Stimmen gibt, die etwas anderes von Außenpolitik erwarten. Das findet sich in der Kritik wieder, dass wir angeblich nicht entschieden genug seien, dass wir mehr Entschlossenheit, mehr Stärke, mehr Strength in unserer Außenpolitik zeigen müssten. Das kann man ja sagen. Nur: Man muss sich über die Alternativen im Klaren sein. Was heißt das, jenseits von diplomatischen Druckmitteln? Wer wirklich diese behauptete Stärke zeigen will, der muss auch zu etwas bereit sein, wozu ich nicht bereit bin, nämlich dazu, die Anwendung militärischer Mittel in einer solchen Situation mitzudenken. Ich weiß mich einig mit der großen Mehrheit dieses Hauses, dass eine militärische Lösung keine Lösung wäre, sondern ein Weg in die größere Katastrophe. ({3}) Deshalb sage und schreibe ich, ({4}) wo immer ich kann - auch gegen Ihre Kritik -: Es kommt nicht auf diese Stärke-Rhetorik an. Nicht Stärke und Schwäche sind in solchen Situationen entscheidend, sondern es ist Klugheit. Die Außenpolitik, die nur in den Kategorien von Stärke und Schwäche denkt, will am Ende Gewinner und Verlierer produzieren. Kluge Außenpolitik - und die brauchen wir in der jetzigen Situation - denkt voraus an Konfliktlösung. Deshalb weiß kluge Außenpolitik, dass ein Automatismus vermieden werden muss und eine Eskalation vermieden werden muss, die am Ende - davon bin ich überzeugt - nur Verlierer produzieren wird. Es gab am vergangenen Wochenende einen ganz kleinen Hoffnungsschimmer; jedenfalls habe ich das so gesehen. Am Samstag ist es uns, sozusagen in letzer Minute, gemeinsam mit der OSZE inmitten der schon stattfindenden Kämpfe um Slowjansk gelungen, die zwölf Militärbeobachter, die jetzt Gott sei Dank in Sicherheit und bei ihren Familien sind, aus der Geiselhaft zu befreien. Das war ein Hoffnungsschimmer für Diplomatie. Trotz der umkämpften Situation in Slowjansk war - das habe ich in den letzten Stunden davor kaum noch für möglich gehalten - ein Mindestmaß an Zusammenarbeit möglich, nicht nur mit unseren Partnern, sondern auch zwischen Kiew und Moskau. Deshalb habe ich mich bei allen Beteiligten bedankt, in Kiew, in Russland, bei der OSZE und insbesondere bei demjenigen, der in letzter Minute geschickt wurde: beim russischen Diplomaten Wladimir Lukin. Alle haben dazu beigetragen, dass die Freilassung gelingen konnte. Deshalb ist diese Stelle, glaube ich, der richtige Platz für einen Dank. ({5}) Ich sage das in aller Offenheit auch deshalb, weil ich manche Kritik, die es in diesen Tagen an der OSZE gegeben hat, nicht ganz verstanden habe. Ich habe, ehrlich gesagt, nicht ganz verstanden, warum man plötzlich auf die Idee kommt, den unterschiedlichen OSZE-Missionen, die ja keine Erfindung dieser Tage sind, eine unterschiedliche Wertschätzung entgegenzubringen. Die OSZE - das darf ich all denjenigen, die es vergessen haben, in Erinnerung rufen - ist eine zentrale Errungenschaft der internationalen Sicherheitsarchitektur der 70er-Jahre, ein Kind der Entspannungspolitik. Mit dem Wiener Dokument, über das so viel fantasiert worden ist, hat man der OSZE am Beginn der 90erJahre ein zusätzliches Instrument der Transparenz an die Hand gegeben - nichts anderes ist passiert -, ein Instrument, das in den vergangenen 20 Jahren von allen Seiten immer wieder genutzt worden ist, auch von Russland. Deshalb war es richtig - ich sage das in aller Offenheit -, dass nach dem Wiener Dokument auch diese Mission in der Ostukraine vor Ort war. Diejenigen, die das kritisie2654 ren, sollten ein bisschen darüber nachdenken, was passiert wäre, wenn diese OSZE-Inspektoren nicht Gerüchte korrigiert hätten, nach denen Russland schon ganz am Beginn der Krim-Krise mit Streitkräften auf ukrainischem Boden gestanden habe. Diese Gerüchte gab es, und sie sind von den Militärbeobachtern der OSZE widerlegt worden. Deshalb will ich ganz klar sagen: Für mich kommt eine unterschiedliche Wertschätzung der OSZE-Missionen nicht in Betracht. Sie sind allesamt Teil der großen OSZE-Familie. Diejenigen, die sich in Systemen der internationalen Sicherheit bewegen, die eine Wertschätzung für die Errungenschaften der Entspannungspolitik haben, sollten und dürften das eigentlich nicht kritisieren, meine Damen und Herren. ({6}) Deshalb ganz zum Schluss: So richtig es war, dass die OSZE in Gestalt der Mission nach dem Wiener Dokument vor Ort war, so richtig finde ich es, dass wir den Weg weitergegangen sind mit der Einrichtung einer Beobachtermission, die langsam aufgebaut wird. Ebenso richtig finde ich es, dass gleichzeitig jetzt der Aufbau einer ODIHR-Wahlbeobachtungskommission stattfindet. Damit sind innerhalb der Ukraine unter einem Dach gleichzeitig drei Missionen der OSZE unterwegs; sie alle versuchen, die Situation dort zu beruhigen und weitere Verschärfungen der Situation nicht zuzulassen. Wer das nicht will, meine Damen und Herren, wer andere Wege für richtig hält oder gar kritisiert, dass wir mit diesem Ansatz einer diplomatischen Entschärfung der Situation scheitern könnten, der hat zwar recht - man kann scheitern -; man muss aber auch einen Augenblick lang an die Alternativen denken, und die sind allesamt viel schlechter. Deshalb sage ich: Aufgeben ist keine Option. Vielen Dank. ({7})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Als Nächstem erteile ich das Wort dem Kollegen Wolfgang Gehrcke, Fraktion Die Linke. ({0})

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! In einer Frage gebe ich dem Außenminister sofort recht: Es gibt keine sinnvolle Alternative zu diplomatischen Lösungen. Die Ukraine steht am Rande eines Bürgerkrieges. Wir müssen alle Kraft aufwenden, damit sich die Situation nicht zu einem Bürgerkrieg weiterentwickeln kann. ({0}) Das ist die politische Aufgabe dieses Hauses, unserer gemeinsamen Politik. Als ersten Schritt müssen wir uns jetzt darauf konzentrieren, einen Waffenstillstand herbeizuführen. Das ist die zentrale Frage: einen Waffenstillstand zu erreichen. Wenn man einen Waffenstillstand erreichen will - das will ich in aller Deutlichkeit sagen; denn das haben Sie ausgespart, Herr Außenminister -, muss man die Regierung in Kiew, wie immer man sie beurteilt, auffordern, die Armee, die Nationalgarde nicht gegen das eigene Volk einzusetzen; das ist völlig inakzeptabel. ({1}) Erinnern Sie sich an die Erfahrungen, die wir in der Wendezeit gesammelt haben! Das war immer eine der Kernfragen: Die Armee darf nie gegen das eigene Volk - ich finde, auch nicht gegen fremde Völker - eingesetzt werden. Bitte lassen Sie uns das durchsetzen! Das kann Hass aus der ganzen Situation nehmen. Ich bitte Sie sehr, bei den Verhandlungen auch in diese Richtung Überlegungen anzustellen. Ich bin sehr dafür, dass es zu einer neuen Genfer Runde kommt. Ich halte es für dringend notwendig, dass in Genf gesprochen wird. Da kann man überlegen, ob nicht auch andere Teile - in bestimmten Formen, im Format der OSZE - an den Gesprächen beteiligt werden. Warum soll es unmöglich sein, auch Bürgerinnen und Bürger aus der Ostukraine und andere an diesen Gesprächen zu beteiligen? ({2}) Wenn man einen Frieden will, muss man mit denen sprechen, mit denen man sich auseinandersetzt. Das sagt Ihnen sogar Herr Teltschik von der CDU. Ich möchte ja nicht sagen: „Lernen Sie mal von der CDU!“, aber in dieser Frage wäre es nicht ganz schlecht, dies aufzunehmen. Wir brauchen einen Gewaltverzicht. Wir brauchen Schritte der Entwaffnung. Wer kann denn entwaffnen? Das muss international geschehen, damit die Waffen auch abgegeben werden können. ({3}) Ich meine, das ist eine Aufgabe der OSZE - was ich gerne möchte. ({4}) Jetzt sage ich Ihnen meine Kritik und meine Sorgen dabei: Ich empfand die Entsendung dieser militärischen Beobachtermission als eine Gefährdung für die große OSZE-Mission von bis zu 500 Personen, die bereits vereinbart war. Sie haben leichtsinnig und leichtfertig - um kein hohes Ergebnis - diese Mission gefährdet. Ich finde, das kann man nicht akzeptieren. ({5}) Das gehört zu den Dingen, wo Sie eskaliert haben, statt zu deeskalieren. Die Genfer Runde muss also stattfinden - das ist dringend notwendig -, man muss auf die OSZE setzen. Wenn mir in Moskau gesagt worden ist bei meinen Gesprächen, ({6}) dass die OSZE einen neuen Frühling erlebt, ist auch die Frage, ob nicht auch wir in unserer Politik - in der europäischen Entspannungspolitik - die OSZE in den letzten Jahren nicht viel zu gering geachtet haben. ({7}) Jetzt, da wir sie brauchen, merken wir, was diese Einrichtungen wert sind. Ich möchte zweitens, dass über Verfassungsreformen verhandelt wird. Dazu braucht man runde Tische. Vielleicht ist ein Übergang zu Wahlen - ich glaube nicht, dass man unter den jetzigen Bedingungen und bei all der Gewalt gesichert wählen kann - über runde Tische möglich. Auch hier könnte man aus der Geschichte Deutschlands und daraus, wie runde Tische hier gewirkt haben, ein Stück weit lernen. Die runden Tische können zu Wahlen führen, die von allen Seiten akzeptiert werden. Ich halte es für dringend notwendig, auch in diese Richtung nachzudenken. ({8}) Drittens - das gehört auch zu den runden Tischen muss man ernsthaft über einen föderativen Staatsaufbau, über autonome Rechte und über die Beteiligung aller Bürgerinnen und Bürger verhandeln. ({9}) Ich sage in allem Ernst dazu: Wenn neben der kulturellen Auseinandersetzung, die es gibt, auch noch die soziale Frage explodiert, dann werden Sie gar nichts im Griff behalten. Man muss die Oligarchen in der Ukraine entmachten ({10}) - übrigens auch die Oligarchen in anderen Teilen der Welt, wie immer man sie auch nennen mag. Der vierte Punkt, über den man reden muss, ist die Frage einer Neutralität der Ukraine, einer Blockfreiheit. Es muss garantiert werden, dass die Ukraine künftig keinem Block, keinem Militärbündnis, angehört, und die NATO muss sich zurücknehmen. Was soll das denn, dass jetzt mit der ständigen Stationierung von NATO-Soldaten im Baltikum, in Polen und in anderen Ländern gedroht wird? Damit gießt man doch Öl ins Feuer, statt zu entspannen. ({11}) Das gehört auf den Zettel, um Vertrauen wiederherzustellen. Auf den Zettel gehört auch, dass die Faschisten in der Ukraine aus der Regierung heraus müssen. ({12}) Mit Faschisten verhandelt man nicht. Das halte ich für ein Minimum, das wir durchsetzen müssen. Mir wird hier vorne freundlicherweise keine Zeit angezeigt; ich kann also unbeschränkt reden. Herzlichen Dank! Das wollte ich immer schon mal.

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Verehrter Herr Kollege, gestatten Sie mir einen kurzen Hinweis: In der Tat versagt im Moment die Technik.

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Habe ich ein Glück.

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Deswegen hat auch der Bundesaußenminister - es war aber auch wichtig, was er gesagt hat - etwas länger geredet, und da wir faire Menschen sind, haben wir gesagt, dass wir auch Sie einen Moment länger reden lassen, damit auch die Opposition zu ihrem Recht kommt. ({0}) Wenn wir das technisch jetzt nicht anders hinkriegen, dann werde ich, kurz bevor die folgenden Redezeiten ablaufen, ein Signal geben. Sie haben als alter Parlamentarier aber das richtige Gespür: Ihre Zeit ist abgelaufen. ({1}) Sie dürfen Ihren Gedanken aber noch zu Ende führen, Kollege Gehrcke.

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Wessen Zeit in der Politik abgelaufen ist, wird sich historisch erst noch herausstellen. ({0})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Redezeit, Herr Kollege!

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die Zeit von Gewaltakten ist abgelaufen. Ich sage Ihnen am Ende noch - das ist ein wichtiger Gedanke, und ich hoffe, dass die SPD wieder anfängt, darüber nachzudenken -: Wir brauchen das Konzept einer neuen Ostpolitik, einer neuen Entspannungspolitik. Sie können hier sehr viel lernen, wenn Sie mal wieder bei Willy Brandt nachschlagen und dort nachlesen. Wir brauchen eine neue Ostpolitik! ({0}) Ohne eine solche Strategie wird sich nichts entwickeln. Ich erinnere Sie daran: Die große Konferenz in Helsinki fand damals zu einem Zeitpunkt statt, als in Afghanistan der Krieg tobte, an dem die Sowjetunion beteiligt war. Es gab andere Militäraktionen, und man hat trotzdem miteinander verhandelt und das Ergebnis von Helsinki erreicht. ({1}) Sie müssen mit einer neuen Ostpolitik erst einmal zu einem solchen Ergebnis mit Russland - so, wie das Land ist; es kann sich auch verändern - kommen. Dafür steht die Linke: Wir sind für mehr Diplomatie, wir sind für Verhandlungen, wir sind für eine neue Ostpolitik. Das hat auch eine Mehrheit in diesem Lande ({2}) - Ihnen reicht es schon lange; das ist mir klar -, und dafür treten wir ein. Herzlichen Dank. ({3})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Als Nächstes erteile ich Frau Bundesministerin Dr. von der Leyen das Wort. ({0})

Dr. Ursula Leyen (Minister:in)

Politiker ID: 11004092

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Gehrcke, Sie haben eben noch einmal den abenteuerlichen Vorwurf formuliert - ich zitiere -, die Ukraine würde die Armee gegen das eigene Volk einsetzen. ({0}) Herr Gehrcke, gerade die OSZE-Militärbeobachtermission, die Sie eben so scharf kritisiert haben, ({1}) hat den Zweck, mit solchen abenteuerlichen Unterstellungen aufzuräumen und neutral Tatsachen zusammenzutragen. ({2}) Deshalb sage ich: Die OSZE-Mission war richtig und wichtig. Sie war regelkonform; unseren Soldaten ist da nichts vorzuwerfen. ({3}) Regelkonform bedeutet: Die Mission fand unter dem Dach der OSZE statt, und zwar nach den Regeln des Wiener Dokuments, die übrigens heute noch von Russland anerkannt werden. Die Einladung der Ukraine ging an sämtliche Teilnehmerstaaten, auch an Russland. 29 Nationen haben sich bereit erklärt, Inspektoren zu schicken, darunter auch neutrale Länder wie Schweden und die Schweiz. Die Mission wurde von allen 57 OSZE-Mitgliedstaaten rechtzeitig durch eine Notifikation zur Kenntnis genommen. Die Männer waren nach den OSZE-Statuten unterwegs. Die Region war exakt bezeichnet, und zwar von Odessa über Donezk und Slawjansk bis hoch nach Charkiw. Alle gesammelten Informationen wurden allen Teilnehmerstaaten des Wiener Dokuments zur Verfügung gestellt. Mehr Transparenz geht nicht. Deshalb ist es mir und übrigens auch unseren internationalen Partnern völlig unverständlich, wenn aus den Reihen der Opposition die Legitimität und die völkerrechtliche Basis infrage gestellt werden. ({4}) Regelkonform war auch die deutsche Beteiligung. Es gab eine laufende Abstimmung mit dem Auswärtigen Amt, den Partnernationen und der OSZE. Der Generalinspekteur hat die Entsendung der Beobachter im März im Verteidigungsausschuss angekündigt, und es gab zwei schriftliche Unterrichtungen. Noch etwas ist mir wichtig: Oberst Schneider und sein Team haben sich während der Geiselhaft - wir haben sie bei dieser widerwärtigen Zurschaustellung über das Internet wahrgenommen - absolut besonnen und klug verhalten. Sie haben genau die richtigen Schlüsselworte gesagt, um klarzumachen, dass sie keine Kriegsgefangenen sind und dass sie ein Mandat haben. Sie haben aber auch alles unterlassen, um ihr Leben und das Leben der Kameraden durch unnötige verbale Provokationen der Aggressoren zu gefährden, die sie festgesetzt haben. Ich glaube, ich spreche im Namen der übergroßen Mehrheit dieses Hauses, wenn ich sage: Oberst Schneider und sein Team haben unsere Hochachtung und unseren Respekt verdient. ({5}) Die Diskussion muss wieder vom Kopf auf die Füße gestellt werden. ({6}) Wenn hier jemand einen Rechtsbruch begangen hat, dann waren das nicht unsere Inspektoren, sondern diejenigen, die sie entführt und festgesetzt haben. Wir dürfen auch nicht vergessen: Es ist die Bürgerbewegung des Maidan, die wir unterstützen. ({7}) Die Bürgerbewegung des Maidan verlangt, als unabhängiges Land selbstbestimmt entscheiden zu können, wie sie sich aufstellen. Nicht die Frage der Krim und die Provokationen durch Provokateure sollten unsere Debatte und unsere Einstellung bestimmen, sondern unsere Unterstützung der Bürgerbewegung; denn wir dürfen nicht vergessen, was die Auslöser für diese Konflikte waren. Wir dürfen jetzt nicht anfangen, die Ukraine zu kritisieren, sondern müssen anfangen, der Ukraine zu helfen, damit sie den Weg, den die Bürgerbewegung des Maidan beschreiten wollte, selbstbewusst weitergehen kann. Diese Richtung müssen wir einhalten. ({8}) Diejenigen, die die OSZE-Mission kritisieren, sind doch nicht diejenigen, die sich um unsere Soldaten Sorgen machen. ({9}) Es sind vielmehr diejenigen, die alles tun, um neutrale Beobachter vor Ort zu verhindern, weil sie sich nicht in die Karten schauen lassen wollen. Auch das sollte man vor diesem Hohen Hause sagen. ({10}) Wir führen eine fundamentale Auseinandersetzung darüber, wie wir heute Konflikte lösen. Wir alle dachten doch, wir hätten die Zeit hinter uns, in der in Europa, zu dem ich selbstverständlich die Ukraine und Russland zähle, mit militärischen Mitteln Tatsachen geschaffen werden. Gerade weil wir wollen, dass wir diese Zeit hinter uns haben, werden wir nicht zulassen, dass die Sicherheitsarchitektur, die in den vergangenen Jahrzehnten Stück für Stück mühsam aufgebaut worden ist, jetzt in wenigen Wochen eingerissen und niedergetrampelt wird. Meine Damen und Herren, es ist wichtig, dass wir dazu stehen, dass wir eine Sicherheitsarchitektur wollen, die besagt, dass wir unser Miteinander gemeinsam gestalten und an runden Tischen in Gesprächsräumen Auseinandersetzungen führen und Lösungen finden. Diese und keine andere Form der Auseinandersetzung wollen wir im 21. Jahrhundert, insbesondere nicht die der militärischen Auseinandersetzung. ({11}) Deshalb sind die Missionen wichtig, sowohl die Militärbeobachtermission als auch die zivilen Missionen. Die Schlüsselworte in der OSZE sind - das gilt für alle drei Missionen, die derzeit laufen - Transparenz und Vertrauen. Es geht darum, Gerüchte und Anschuldigungen der streitenden Parteien auseinanderzudividieren und Vertrauen zu schaffen, damit man zusammen an einem Tisch eine Lösung finden kann. Diese Missionen sind explizit geschaffen worden, um in die Regionen zu gehen, über die wir uns Sorgen machen. Weil das so kostbar ist, bin ich sicher, dass ich auch für die große Mehrheit dieses Hohen Hauses spreche, wenn ich sage, dass Deutschland auch in Zukunft unbeirrbar seine Verantwortung in der OSZE und in allen ihren Missionen wahrnehmen wird. ({12}) Die OSZE ist fast die letzte Runde, in der die Ukraine und Russland mit dem Westen an einem Tisch sitzen. Deshalb ist es auch wichtig, dass wir durch die OSZE mit ihren Beobachtermissionen Unterstützung geben können, damit die Ukraine am 25. Mai Wahlen abhalten, den Reform- und Verfassungsprozess und die Dezentralisierung vorantreiben, den Regionen mehr Rechte gewähren und eine inklusive Regierung bilden kann. Das ist etwas, das die Ukraine in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten nie kennengelernt hat. Es hat entweder die eine oder die andere Seite regiert, ohne auch die Minderheiten zu vertreten. Ja, Herr Kollege Steinmeier, ich glaube, die gemeinsame Erfahrung der vergangenen Woche - ich danke noch einmal von Herzen für die gute Zusammenarbeit im Krisenstab, die dann auch zu einem guten Ende geführt hat - ist gewesen, dass es inmitten dieser Turbulenzen und der düsteren Situation, die wir zurzeit alle mit großer Sorge sehen, einen Moment gegeben hat, in dem alle an einem Strang gezogen haben. Dazu gehören die OSZE - der ich für die Übernahme der Verantwortung danke, was ein klares Zeichen war -, die von Ihnen, Herr Steinmeier, und der Bundeskanzlerin im Rahmen der Diplomatie geführten Telefonate, aber auch der Einsatz der ukrainischen Regierung ebenso wie der Einsatz des russischen Menschenrechtsbeauftragten Lukin. Das alles hat dazu geführt, dass die Geiseln ohne Bedingungen und unversehrt freigesetzt worden sind. Ich glaube, ich kann im Namen aller sagen: Wir wünschen uns wieder mehr solcher Momente. Das ist der Weg, den wir gemeinsam gehen wollen. Vielen Dank. ({13})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Als Nächstem erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Frithjof Schmidt, Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Frithjof Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004145, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir alle haben große Sorge vor einer weiteren militärischen Eskalation in der Ukraine, vor Bürgerkrieg und Krieg in Europa. Es gibt noch die Hoffnung, dass die Initiativen zur Vermittlung und Verhandlung dies noch stoppen können. Es kann und muss doch noch eine politische Lösung für die Ukraine geben. Wir blicken deshalb heute mit großer Anspannung auf die Reise von Didier Burkhalter, dem OSZE-Präsidenten, nach Moskau und auch mit großem Interesse auf den heutigen Besuch von Herrn Poroschenko hier in Berlin. Herr Außenminister, ich will hier jenseits der üblichen Rituale von Opposition und Regierung sagen: Sie haben in dieser Krise mit großem Engagement und Augenmaß gut gehandelt, und Sie haben unsere volle Unterstützung, wenn Sie versuchen, eine zweite Konferenz in Genf zustande zu bringen. Das ist notwendig und richtig. ({0}) Wir Grünen ermutigen Sie, im Kampf um eine Verhandlungslösung nicht nachzulassen. Das ist ein mühseliger Prozess. Es gibt Rückschläge, Enttäuschungen und Provokationen; aber es gibt für die internationale Gemeinschaft keine vernünftige Alternative zu den Bemühun2658 gen um Verhandlungen und Deeskalation. Deshalb ist die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa auch die richtige Institution, um diesen Prozess voranzubringen. Die Rolle der OSZE muss gestärkt und ausgebaut werden, gerade jetzt, wenn es um die Durchführung der Präsidentschaftswahlen am 25. Mai geht. Es braucht viele OSZE-Beobachter im Land. Deshalb habe ich auch keine Kritik an der Mission von unbewaffneten Militärbeobachtern zur Sicherheitslage in der Ukraine, die nach den Wiener Regeln erfolgt ist, bei der OSZE gemeldet war und so im OSZE-Rahmen stattgefunden hat. Hier irren Herr Gauweiler und Herr Gehrcke gemeinsam. ({1}) Es ist gut, wenn die Bundesregierung den Ablauf dieser Mission noch einmal genau überprüft. Aber grundsätzlich ist gegen diese Mission nichts einzuwenden. Das gehört auch dazu, wenn wir die OSZE stärken wollen. Das alles kann aber direkte Verhandlungen zwischen den Akteuren nicht ersetzen. Deswegen ist die Initiative für ein zweites Genf so wichtig. Entscheidend ist, ob es gelingt, Russland endlich von seiner Destabilisierungspolitik gegenüber der Ukraine abzubringen und zu einer konstruktiven Rolle in Bezug auf die Wahlen am 25. Mai zu bewegen. Hier liegt der politische Schlüssel. ({2}) Wichtig ist zum Beispiel, dass Russland endlich die Vorbereitung separatistischer Referenden in der Ostukraine für das kommende Wochenende eindeutig und offiziell ablehnt und verurteilt. ({3}) Das ist ein Gradmesser für die Ernsthaftigkeit eines Engagements. Darum bleibt es richtig, dass die Europäische Union nicht nur vermittelt, sondern auch die nächsten Konsequenzen aus ihrem Dreistufenplan zieht, wenn sich Russland weiter an der Destabilisierung der Ukraine beteiligt und die Präsidentschaftswahlen daran scheitern. Zu den Verhandlungen gehört also dazu, dass weitere gezielte Sanktionen vorbereitet werden. Ebenso klar ist aber auch: Eine politische Lösung gibt es nur mit Zugeständnissen und Zumutungen für alle Seiten. Das muss man allen Seiten auch so klar sagen. Wichtig ist auch: Wer in dieser gefährlichen Lage eine Chance für Genf und für Verhandlungen will, darf auf gar keinen Fall mit dem Säbel rasseln. Dazu gehört, dass man nicht über einen dritten Weltkrieg schwadroniert, wie das manche in Kiew tun, und nicht die Aufrüstung der NATO und Truppenverlegungen nach Osten fordert, wie das Herr Rasmussen, der scheidende NATO-Generalsekretär, auf provokante Art macht. ({4}) Herr Außenminister, ich weiß, dass Sie sich schon gegen solche Dinge gewandt haben. Wir wollen Sie ermutigen, dies weiterhin mit der nötigen Klarheit zu tun. Auch das gehört zum notwendigen Bemühen um Deeskalation. Danke für die Aufmerksamkeit. ({5})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Als Nächstem erteile ich das Wort dem Kollegen Karl-Georg Wellmann, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Karl Georg Wellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003862, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hatte Montagabend Gelegenheit, mit Premierminister Jazenjuk zu sprechen. Ich habe ihm als Erstes zu den 40 Toten in Odessa kondoliert. Ich habe dies, ohne Sie zu fragen, im Namen des Bundestages getan. ({0}) Ich denke, dass es richtig ist, dass wir alle unsere Betroffenheit und Trauer über diese 40 toten Menschen zum Ausdruck bringen. Ich habe dem Premierminister gesagt: Wir erwarten, dass dieser Vorgang aufgeklärt wird und dass es eine internationale Beteiligung an der Untersuchung gibt. - Er hat dies zugesagt genauso wie Herr Poroschenko. Es ist wichtig, dass nicht im Getöse der Propaganda untergeht, was dort passiert ist. Die Situation bereitet uns große Sorgen. Für uns lautet die entscheidende Frage: Wie bewerten wir die Position Russlands in Europa, und welche Schlüsse ziehen wir daraus? Es bleibt dabei: Die Zusammenarbeit ist richtig und wichtig. Wir wünschen uns, dass Russland in Europa eine konstruktive Rolle spielt und die europäischen Verhältnisse konstruktiv mitgestaltet. Das liegt objektiv in unserem Interesse. Aber wir müssen auch den Tatsachen ins Auge sehen. Die Tatsachen sind, dass in der Ukraine ein asymmetrischer Krieg stattfindet. In der Ostukraine sind russische Spezialeinheiten unterwegs. Russische Panzer sind auf der Krim über fremde Grenzen gerollt. Putin hat das inzwischen zugegeben. Wir dürfen uns nicht weigern, dieses anzuerkennen, nur weil dies unserem Ruhebedürfnis widerspricht oder deutscher Sentimentalität. Wir dürfen auch nicht die Augen vor einer massiven antiwestlichen Propaganda der russischen Eliten verschließen. ({1}) Schauen Sie sich das russische Fernsehen an, und stellen Sie sich vor, dass sich ein Iwan Normalverbraucher in der russischen Provinz nur über das russische Fernsehen informiert! Dieser bekommt doch den Eindruck, die Waffen-SS sei schon wieder unterwegs und die FaschisKarl-Georg Wellmann ten kämen, um Russland zu erobern. So ist die widerliche Propaganda in Russland. ({2}) Ich bin überrascht von dem Ausmaß an Chauvinismus, ({3}) an Verachtung und an Arroganz. ({4}) Russland ist wieder das Land, das Angst und Schrecken verbreitet. ({5}) - Bei Ihnen, Herr Dehm, ist das alte Schule. Ich weiß ja. ({6}) - Ja doch. Der eine oder andere von Ihnen hat noch die Parteihochschule in Moskau besucht. ({7}) Herr Gehrcke, ja? Stellvertretender DKP-Vorsitzender. Lassen wir das lieber. ({8}) Nach der schrecklichen Gewalt des 20. Jahrhunderts hat es bei uns nach der Wende nicht an Empathie und an Willen zur Verständigung mit Russland gefehlt. Es gab viel Empathie bei uns. Es gab den positiven Mythos aus mehreren Hundert Jahren, eine gute Geschichte vom deutsch-russischen Verhältnis: von Musik, Literatur, Kunst, Wissenschaft und Unternehmertum. Die russische Literatur des 19. Jahrhunderts ist voll von Beispielen der deutsch-russischen Symbiose. Es ist richtig, dass kluge Außenpolitik immer die Sorgen der anderen im Blick haben muss. ({9}) Aber wir dürfen uns auch nicht auf Legenden einlassen. Es gibt keine Einkreisung Russlands durch die NATO. ({10}) Die Beitrittsländer wollten als Erstes in die NATO. Sie wollten Sicherheit vor Russland, sie wollten weg von Russland. Keiner von uns hat sie gezwungen, Mitglied der NATO oder der Europäischen Union zu werden. ({11}) Wir dürfen nicht die Augen davor verschließen, dass die russische Regierung im Moment einen neuen Werterahmen proklamiert, einen sehr konservativen, reaktionären Werterahmen. Es handelt sich um Versatzstücke aus Zarenreich, Orthodoxie, Großmachtchauvinismus und leider auch imperialen und völkischen Elementen, die auch viel mit Fremdenfeindlichkeit und Homophobie zu tun haben. Ich darf einmal sagen: Es wird uns gegenüber massiv Vertrauen verspielt, wenn die russische Regierung über die - wörtlich - Verteidigung der positiven Leistungen Stalins spricht. Übrigens ist eine rechte Internationale mit Lichtgestalten wie Le Pen und Geert Wilders aus Holland auszumachen. Der eine oder andere ist im Moment unterwegs, redet klug über die Ukraine und gibt seine Urteile ab. Diejenigen, die ich meine - ich sehe Herrn Ströbele gerade nicht bei dieser Diskussion -, sind noch nie in der Ukraine gewesen und reden wie der Blinde von der Farbe. Vielleicht nimmt der eine oder andere einmal an einer Wahlbeobachtungsmission der OSZE in der Ukraine teil, wie ich das am 25. Mai mache. Die Solidarität mit der Ukraine ist keine menschenfreundliche Geste, sondern es geht um die Selbstverteidigung des hohen völkerrechtlichen Guts der Unverletzlichkeit von Staaten und von Grenzen. ({12}) Wenn Europa der Zerstörung der Ukraine tatenlos zusähe, würde es sich aufgeben. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({13})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Als nächster Rednerin erteile ich der Kollegin Inge Höger, Fraktion Die Linke, das Wort. ({0})

Inge Höger-Neuling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003773, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestern hatte meine Fraktion Gespräche mit Aktivisten der Borotba-Partei, die sich für eine föderalistische und demokratische Ukraine einsetzen. Was sie über den 2. Mai in Odessa berichteten, als Milizen aus allen Teilen der Ukraine zu einem sogenannten Marsch der Einheit zusammen mit Fußballfans marodierend durch die Straßen zogen, war erschreckend. Es deutet vieles darauf hin, dass die 46 Toten und 200 Verletzten nicht Opfer einer Tragödie wurden; sie wurden Opfer eines gezielten Massakers. ({0}) Es wurden zwei Borotba-Aktivisten, darunter ein Abgeordneter aus dem Regionalparlament, zu Tode geprügelt, die aus dem brennenden Gewerkschaftshaus gesprungen waren, verletzt waren und sich nicht mehr wehren konnten. Die Linke fordert deshalb eine unabhängige Untersuchung dieser Vorfälle in Odessa. Wir fordern gleichermaßen eine Untersuchung, wer für die Todesschüsse auf dem Maidan, als über 100 Menschen zu Tode kamen, verantwortlich ist. Dieser Vorgang ist immer noch nicht aufgeklärt. ({1}) Ich sehe die reale Gefahr, dass die jetzige Kiewer Regierungspolitik den Separatismus in der Ukraine befördert. Wenn sich Massaker wie das in Odessa wiederholen und wenn die ukrainische Armee im Inland weiter gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt wird, dann stärkt dies den Ruf eines Teils der Bevölkerung nach russischen Truppen zum Schutz der Bevölkerung. Dabei steht zu befürchten, dass auch eine russische Intervention gar kein Schutz, sondern ein weiterer Eskalationsschritt ist. Das kann niemand wollen - Russland nicht, die Ukraine nicht, die EU nicht und auch die USA nicht. ({2}) Es ist schon dreist und unappetitlich, wer hierzulande alles sein Süppchen auf dem ukrainischen Feuer kocht. Die NATO präsentiert sich als Garant für Stabilität und rührt doch selbst ganz offen die Kriegstrommeln. Die Rüstungsindustrie will mehr Waffen verkaufen und bekommt dabei Schützenhilfe von NATO-Generalsekretär Rasmussen, der zu mehr Rüstungsinvestitionen aufruft. Die Fracking-Lobby sieht ihre Chance, auch hierzulande ökologische Vorbehalte gegen den brandgefährlichen Abbau von Schiefergas mit dem Verweis auf Energieautonomie zur Seite zu schieben. In dem zerstörerischen Machtkampf zwischen Ost und West drohen die Menschen in der Ukraine völlig auf der Strecke zu bleiben. Zu dem externen Machtkampf ist nun ein innerer Machtkampf hinzugekommen, der bald wohl nur noch als Bürgerkrieg bezeichnet werden kann. Nun einige andere Fakten: Die Ukraine ist auf die Kooperation mit dem Osten und dem Westen angewiesen, um ökonomisch überleben zu können. Ein Blick auf die Wirtschaftsdaten macht dies deutlich: Zurzeit gehen mehr als 30 Prozent der ukrainischen Exporte nach Russland bzw. in Staaten der von Russland geführten Zollunion. Die Exporte in die Europäische Union haben eine ähnliche Größenordnung und liegen bei 25 Prozent. Bei den Importen in die Ukraine ist das Bild ähnlich: Über 40 Prozent der Importe kommen aus dem Osten, aus der EU 31 Prozent. Jeder, der die Ukraine zwingt, sich ökonomisch für eine Himmelsrichtung zu entscheiden, entzieht dem Land wesentliche Teile seiner Existenzgrundlage. ({3}) Hätte der damalige Präsident Janukowitsch das EUAssoziierungsabkommen unterschrieben, dann hätte dies ganze Industriezweige im Osten und Süden der Ukraine gefährdet, die die EU-Produktionsstandards nicht erfüllen, die aber erfolgreich Richtung Osten exportieren. Umgekehrt würde ein Beitritt zur russischen Zollunion den Handel mit der EU erschweren. Wenn nun Menschen in einigen Regionen der Ukraine für Autonomie kämpfen, dann nicht weil sie Putin unterstützen, sondern weil sie schlicht um ihre Arbeitsplätze, um ihre Existenz und ihre ökonomische Zukunft kämpfen. Die Ukraine exportiert in den Westen hauptsächlich Rohstoffe wie Kohle und Stahl. In Richtung Osten werden Produkte exportiert, die eine wesentlich höhere Wertschöpfung im eigenen Land haben, also Maschinen, Flugzeuge, Fahrzeuge und Lebensmittel. An Letzterem hängen zahlreiche hochqualifizierte Arbeitskräfte. Kann bzw. will die EU hier wirklich Alternativen bieten, oder geht es ihr nur darum, Konkurrenzindustrien niederzukonkurrieren? Die Ukraine hat nur eine Zukunft, wenn sie nach Osten und nach Westen angebunden ist. Das gilt ökonomisch und politisch. ({4}) Nur wenn die äußere Zerreißprobe aufhört, dann hört auch die innere Zerreißprobe auf. Welches politische System sich die Ukraine gibt, ist Sache der Menschen in der Ukraine selbst. Ich möchte ausdrücklich davor warnen, die Forderung nach einem föderalistischen System als prorussisch oder separatistisch zu diskreditieren. ({5}) Schauen wir einmal auf die Seiten der Bundeszentrale für politische Bildung! Aktuelle Meinungsumfragen in der Ostukraine besagen: Nur 15 Prozent der Bevölkerung sprechen sich für eine Abspaltung von der Ukraine aus. Der Rest steht aber keineswegs aufseiten der Regierung in Kiew. Nur 16 Prozent unterstützten deren ProEU-Kurs. Die meisten Menschen im Osten und Süden der Ukraine wünschen sich ein föderales demokratisches System. Sie hoffen, dass so die Einheit der Ukraine und die unterschiedlichen Interessen in den Regionen miteinander versöhnt werden können. Deshalb gibt es keine Alternative zur Diplomatie. ({6}) Das Gebot der Stunde ist und bleibt: Waffenstillstand und Verhandlungen. ({7})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Als Nächstem erteile ich das Wort dem Kollegen Franz Thönnes, SPD-Fraktion. ({0})

Franz Thönnes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002818, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Ukraine ist ein gespaltenes Land am Rande eines Bürgerkriegs und eines Staatsbankrotts und des Risikos, zu zerfallen, wenn man jetzt nicht die Kraft für eine friedliche Lösung des Konflikts hat. Angesichts der dramatischen Entwicklung der letzten Tage, der Toten und Verletzten, des zunehmenden Hasses, der Gewalt, der Wut und der aufkommenden Rachegelüste, kann man von hier aus eigentlich nur rufen: Haltet ein! Haltet ein und beendet das Blutvergießen! ({0}) Ich will an dieser Stelle ausdrücklich all denen aus den Stäben des Außenministeriums und des Verteidigungsministeriums Dank sagen, die sich in den vergangenen Tagen sehr intensiv, mit Feingefühl und mit Diplomatie erfolgreich darum bemüht haben, dass unsere OSZE-Beobachter ({1}) wieder heil zurückgekommen und heute bei ihren Familien sind. Ein großes Dankeschön an alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und an die Spitzen der Häuser! ({2}) Ich glaube, man muss deutlich sagen: Wenn man die OSZE stärken will, dann darf man ihr keine Taktiererei vorwerfen, dann darf man ihr nicht Spionage vorwerfen, sondern dann muss man sie in Gänze stärken, und dazu gehören auch die verabredeten Militärbeobachteraktionen. ({3}) Ich glaube auch, dass man sagen muss: Haltet ein und haltet euch an die Vereinbarungen, die am 21. Februar in Kiew und am 17. April in Genf getroffen worden sind! Haltet euch an die eingegangene Verantwortung - das gilt für alle, die daran beteiligt gewesen sind -, insbesondere zur konkreten Umsetzung! Bildet runde Tische im Land und bezieht die Regionen und alle verantwortlichen Kräfte aus der Zivilgesellschaft und aus der Politik mit ein! Haltet an der Absicht fest, die OSZE zu stärken und ihr hierbei eine sehr wichtige Rolle zu geben, auch wenn es darum geht, die oppositionellen Kräfte in der Ukraine mit an diese runden Tische zu bringen! Man wird mit denen reden müssen, über die man heute vielleicht noch sagt, mit denen würde man nie reden. Ich glaube, dass das notwendig ist und dass die OSZE dabei eine zentrale Rolle spielen kann. Haltet vor allen Dingen auch an der Absicht fest, die staatliche Gewalt wiederherzustellen! Wenn man eine Regierung für illegitim erklärt, dann lässt sich mit ihr keine staatliche Gewalt herstellen. Aber wenn die staatliche Gewalt dafür verantwortlich sein soll, dass alle illegalen Waffenträger, sowohl die vom rechten Sektor als auch die von den anderen oppositionellen Kräften, entwaffnet werden, dann muss man die staatliche Gewalt stärken und einer Regierung auch die Kraft dazu geben. ({4}) Ich glaube, dass es weiter notwendig ist, an dem Wahltermin festzuhalten. Aber auch dafür gilt es, das staatliche Gewaltmonopol in die Lage zu versetzen, für Rahmenbedingungen zu sorgen für Wahlen, die man als fair und frei bezeichnen kann, sodass die Menschen von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen können. Diese Rahmenbedingungen sind notwendig. Statt der Kraft der Waffen brauchen wir die Kraft der Vernunft, der Verantwortung und der Versöhnung. Auch deshalb gilt es, die schrecklichen Gewalttaten, die in den letzten Tagen geschehen sind, genauso wie diejenigen, die auf dem Maidan geschehen sind, rückhaltlos aufzuklären und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Anders wird eine Versöhnung nicht möglich sein. ({5}) Dazu gehört auch, dass der Verfassungsprozess transparent gemacht wird, dass die Menschen in Ost und West wie in Nord und Süd der Ukraine das Gefühl haben, dabei auch beteiligt zu sein, dass das nicht anonym läuft, sondern dass sie Einfluss darauf nehmen können, dass Verantwortung mehr dezentralisiert wird, dass auch Pflichten mehr dezentralisiert werden und sie am Ende Teil eines Ganzen sind. ({6}) Ich glaube auch, dass es notwendig ist, darauf hinzuweisen, dass wir jetzt viel über den Tag hinausdenken können; aber wir befinden uns heute und in diesen Tagen am Rande des großen Risikos einer humanitären Katastrophe in einem Bürgerkrieg, wo Not und Elend so weit gehen, dass die ersten Menschen aus dem Land flüchten. ({7}) Es kann eine instabile Situation entstehen, in der alle EU-Mitgliedstaaten, die Nachbarstaaten der Ukraine sind, aber auch Russland davon berührt und betroffen sind. Auch deswegen muss man ganz klar und deutlich sagen: Haltet hier ein! Haltet auch endlich ein mit einer Presse-, Rundfunk- und Fernsehberichterstattung, die nur noch Schwarz-Weiß kennt und bei der man teilweise den Eindruck hat, als ginge es um einen medialen Waffengang! ({8}) Ich glaube, das gilt zum großen Teil auf beiden Seiten. Und haltet die Sozialpartner zusammen, haltet die Gewerkschaften und die Arbeitgeber in der Ukraine zusammen, damit über sozialverträgliche Regelungen gesprochen werden kann! Sie müssen zusammengehalten werden, wenn man den großen Herausforderungen, die vor diesem Lande liegen, gerecht werden und nicht dazu beitragen will, dass neben der explosiven politischen Situation, die es zurzeit gibt, auch noch eine Zeitbombe tickt, die den sozialen Frieden in der Ukraine gefährdet. Der OSZE-Vorsitzende, Herr Burkhalter, befindet sich gerade in Moskau. Ich glaube, das ist die Chance für eine neue diplomatische Initiative. Russland ist - wie alle anderen - hier in großer Verantwortung auch für die Umsetzung der Punkte, die man in Genf vereinbart hat. Es hat gute Signale vonseiten Russlands gegeben. Ein gutes Zeichen war, dass man nachgewiesen hat, dass man Einfluss hat. Gute Zeichen waren weiter, dass Herr Lukin im Februar in Kiew dabei war, dass er jetzt wieder mitgeholfen hat, die OSZE-Geiseln zu befreien, sowie die Bereitschaft von Moskau, sich in Genf an den Tisch zu setzen. Weiter ist es ein gutes Zeichen - was gerade über die Ticker verbreitet wird -, dass Präsident Putin sagt, dass das für das Wochenende angesetzte Referendum verschoben werden sollte. Das alles sind kleine Zeichen; aber es sind mehr zu erwarten. Es sind größere Schritte zu machen. Ein größerer Schritt muss sein, dass der klare Aufruf an die bewaffneten oppositionellen Kräfte erfolgt: Legt auch die Waffen nieder, hört auch mit den Gewalttaten auf und rüstet ab! Genauso sollte auch Russland mit seinen Truppen an der Grenze endlich das einhalten, was versprochen worden ist, nämlich ein Rückzug in die Kasernen. ({9})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Franz Thönnes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002818, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum letzten Satz, Herr Präsident. - Wenn man die OSZE stärken will, heißt das auch, dass man zu ihren Prinzipien zurückkommen muss. Das gilt auch für Russland. Das heißt, die zentralen Prinzipien der Schlussakte von Helsinki einzuhalten, die da lauten: territoriale Integrität der Staaten, keine Androhung und keine Anwendung von Gewalt, Unverletzlichkeit der Grenzen und friedliche Lösung der vorhandenen Konflikte. - Gefordert ist jetzt eine Politik der kühlen Köpfe und nicht der kalten Krieger. ({0})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Kollegin Marieluise Beck, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Marieluise Beck-Oberdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002624, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute Morgen hat Staatssekretär Ederer mit uns eine Debatte unter dem Titel „Wie verändert sich die europäische Sicherheitsarchitektur unter dem, was jetzt stattfindet?“ geführt. Ich glaube, es gibt eine Erschütterung, deren Ausmaß wir noch gar nicht ganz begriffen haben; denn es ist nach 1945 zum ersten Mal unter Anwendung von Gewalt von außen ein Landesteil eines souveränen Landes annektiert worden. ({0}) Darüber hat heute niemand gesprochen. Ich meine, wir dürfen das nicht innerhalb von vier Wochen als quasi gegeben hinnehmen. ({1}) Wir haben es jetzt mit folgenden Eckpunkten zu tun: Ein Land, von dem wir uns alle gewünscht haben, wir könnten mit ihm eine gemeinsame Sicherheit von Lissabon bis Wladiwostok schaffen, kehrt zu geostrategischem Denken zurück und ist bereit, Gewalt einzusetzen, um geostrategische Ziele zu verfolgen. Das stellt uns in der Tat vor eine vollkommen neue Situation. Ich glaube, wir alle sind noch damit überfordert, zu wissen, welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind. Leider verändert sich nicht nur etwas im Osten, sondern auch im Westen. Wir alle ahnen, dass das nächste Europäische Parlament anders als das jetzige aussehen wird. Es wird in ihm beunruhigend starke rechtspopulistische Kräfte aus vielen Ländern - in Frankreich ist es vielleicht sogar die stärkste Kraft überhaupt - geben. Es ist schon atemberaubend, dass Marine Le Pen derzeit ständig nach Moskau pendelt, dass die Parlamentarier der Lega Nord Russland als „Modellgesellschaft“ preisen, wenn es um nationale Identität und Schutz der Familie geht, wenn westliche Rechtspopulisten sich darauf berufen, dass sie mit Russland und Putin einig sind gegen einen multikulturellen Bundesstaat Europa, dass der Vorsitzende der griechischen Partei „Goldene Morgenröte“ von einer natürlichen Allianz zwischen der „Seemacht“ Griechenland und der „Landmacht“ Russland spricht und dass das einigende Band zwischen Putin und diesen Rechten der ethnische Nationalismus und die Abwehr von allem ist, was als „westliche Dekadenz“ bezeichnet wird. Doch da sind unsere Werte, die auch die Werte vieler, vieler Menschen in Russland sind, betroffen: Feminismus, die Gleichstellung von Frauen, auch die Gleichstellung von Homosexuellen, eine liberale Einwanderungspolitik und eine multikulturelle Gesellschaft. All das wird auch in Russland derzeit bekämpft. Die Zivilgesellschaft in Russland stirbt mit der zunehmenden gewalttätigen Auseinandersetzung in der Ukraine. ({2}) Der Kollege Juratovic und ich sind, wie ich glaube, diejenigen, die am persönlichsten erfahren haben, wohin die Mutation des KP-Mannes Milosevic zu einem erbarmungslosen Nationalisten geführt hat. Sein Wahlspruch war ja: Wo ein Serbe lebt, ist Serbien. - Putin beansprucht jetzt, dass die russische Nation dort ist, wo Russen leben. Wir erleben jetzt, dass das Gleiche, was in Bosnien passierte, nämlich dass der Hass erfolgreich von außen in eine Gesellschaft, die es selber nicht glauben konnte, hineingetragen wird, in der Ukraine passiert. Ich verehre Herrn Lukin; ich kenne ihn nämlich noch als Menschenrechtsbeauftragten. Aber wo hat er angerufen? Er hat bei Igor Strelkow, Offizier des russischen Auslandsgeheimdienstes GRU, angerufen, der sich selbst als militärischer Anführer der Separatisten in Slawjansk fühlt und bezeichnet. Das heißt, es wird derzeit in der Ukraine von Kräften aus dem Inneren, aber eben auch mit geheimdienstlichen Marieluise Beck ({3}) ({4}) und sogar gewaltunterstützenden und gewalttätigen Mitteln an der Destabilisierung des Landes von innen gearbeitet. ({5}) Wenn wir dann sagen: „Das Land befindet sich im Bürgerkrieg“, dann müssen wir auch dazusagen: „Dieser Bürgerkrieg ist von außen in das Land hineingetragen worden“. Erstaunlich ist - das kann man gar nicht fassen -, wie schnell Hass in einer Gesellschaft dazu führen kann, dass dann wirklich alle aufeinander losgehen und auch alle Schuld auf sich laden. Wir müssen uns deshalb anschauen, was derzeit passiert. ({6}) Herr Minister, wir unterstützen Sie bei der ernsthaften und wirklich bis zur Erschöpfung gehenden, da sie nicht aufgegeben werden darf, politisch-diplomatischen Mission. Ich hoffe, dass es Ihnen und uns allen, obwohl wir sehen, dass Russland derzeit an einer Stabilisierung dieses Landes eher - ich sage: eher - nicht interessiert ist, trotzdem gelingt, Russland auf einen Weg zu ziehen, damit diese Ukraine nicht vor unseren Augen zerstört wird. Wir haben vor 20 Jahren gesagt: Mit Bosnien stirbt Europa. - Ich hoffe, wir müssen nicht ein zweites Mal sagen: Mit der Ukraine stirbt Europa. Der verehrte Fraktionsvorsitzende Kauder hat im April auf einer Veranstaltung zur Ukraine gesagt: Die Flamme der Freiheit leuchtet heller als die von Gazprom. - Herr Kauder, ich hoffe, diese Sache sehen alle Ihre Außenpolitiker so wie Sie. Schönen Dank. ({7})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Als Nächstem erteile ich das Wort dem Kollegen Florian Hahn, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Florian Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004048, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich vorweg sagen, dass ich unendlich froh bin, dass die Mitglieder der OSZE-Mission, die als Geiseln genommen wurden, wieder frei sind. Ich möchte mich ausdrücklich bei den deutschen Soldaten, vor allem bei Oberst Schneider, bedanken. In dieser existenziellen Situation hat er sehr besonnen und mit großem Verantwortungsgefühl für die ganze Gruppe gehandelt. Das verdient unseren größten Respekt. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, keine Frage: Die OSZE-Mission stand rechtlich auf solidem Fundament. Auch Russland war darüber informiert. Ebenfalls unbestritten ist, dass solche Missionen wichtig sind. Sie sind ein wichtiges Instrument der multilateralen Diplomatie im Bereich der Konfliktverhütung und der Krisenbewältigung. Sie sind genau für diese Art von Krise, in der sich die Ukraine derzeit befindet, geschaffen worden. Wir dürfen nicht zulassen, dass wir dieses Instrument verbal kaputtmachen. Es gibt nicht viele andere Instrumente, die wir zur Verfügung haben. Ich finde es in diesem Zusammenhang wirklich ungeheuerlich und unerträglich, dass Gregor Gysi, der Fraktionsvorsitzende der Linken, unseren Soldaten, die erstens unter dem Dach der OSZE, zweitens auf Einladung der Ukraine und drittens mit Kenntnis Russlands tätig waren, nun vorwirft, sie seien Spione. Unerträglich! ({1}) Zu fragen ist allerdings: Wer waren die Entführer, die offensichtlich gut ausgebildet und professionell gehandelt haben? Das sollten wir klären. Die Krise in der Ukraine entwickelt sich mehr und mehr zu einer wirklichen Tragödie. Vor wenigen Wochen gab es die Toten auf dem Maidan; darüber wurde schon gesprochen. Dann erfolgte die völkerrechtswidrige Besetzung der Krim. Dies wirft uns im Übrigen bei den internationalen Abrüstungsbemühungen und bei den Bemühungen, die Verbreitung von Atomwaffen zu verhindern, dramatisch zurück. Jetzt erfolgt die Eskalation in der Ostukraine, mit der offensichtlich darauf abgezielt wird, den Staat zu destabilisieren und letztlich auch reguläre Wahlen unmöglich zu machen, damit es zu keiner demokratisch gewählten Regierung in der Ukraine kommen kann. Wir müssen zusehen, wie aktuell lebenswichtige Infrastruktur, Wirtschaftsstrukturen und Gesellschaftsstrukturen zerstört werden. Es sterben Menschen, es wird getötet, und es entsteht neuer Hass zwischen Volksgruppen, die auch in Zukunft miteinander leben sollen und müssen. Es ist eine Tragödie für diese Region, aber auch eine Tragödie für Europa und für Russland. Wir wollten und wollen auch weiterhin eng und freundschaftlich mit Russland zusammenarbeiten. Wir haben in der Vergangenheit Werte entwickelt, um dies zu erreichen. Der Verzicht darauf, territoriale Interessen mit Waffengewalt durchzusetzen, sollte eigentlich ein solcher unumstößlicher gemeinsamer Wert sein - nicht zuletzt auch als Lehre aus der Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Diesen Konsens hat Russland leider aufgekündigt. Wenn die Russische Föderation wirklich etwas zur Entschärfung der Lage tun will, muss sie endlich aktiv werden. Angekündigte mögliche Militärparaden auf der Krim sind sicherlich das falsche Signal. Es ist schon erstaunlich, wie gut die Separatisten, die die Ostukraine im Moment in ein Bürgerkriegsgebiet verwandelt haben, ausgerüstet und ausgebildet sind. Angesichts dessen bin ich sicher, dass Russland viel mehr tun könnte. Unsere Kanzlerin und Sie, Herr Bundesminister, haben in den letzten Wochen ausdauernd bewiesen, dass Sie nicht aufhören werden, zu versuchen, Russland zu verstehen, und immer wieder das Gespräch mit der russischen Regierung zu suchen. Es ist klar, dass zur Deeskalation des Konflikts alle diplomatischen Mittel ausgeschöpft werden müssen. Die Kommunikation und der Austausch zwischen den Konfliktparteien dürfen nicht abreißen. Für dieses besonnene und bestimmte Handeln in der Krise möchte ich mich ausdrücklich bedanken. Ich glaube aber auch: Sollte Russland nicht endlich bereit sein, die Krise in der Ukraine zu entschärfen, bedarf es weiterer und härterer Sanktionen. Wirtschaftliche Interessen können nicht ausschlaggebend dafür sein, dass man seine eigenen Werte verkauft und sich unglaubwürdig macht. Herzlichen Dank. ({2})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Fritz Felgentreu, SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Fritz Felgentreu (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004272, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Hahn, ich gebe Ihnen vollkommen recht: Die Debatte über die Krise in der Ukraine, die wir zurzeit erleben, nimmt gelegentlich Züge an, die für Wohlmeinende nur noch schwer nachvollziehbar sind. Bei aller Erschütterung darüber, wie sich die Fronten zwischen den Parteien in der Ukraine in den letzten Wochen verhärtet haben, haben wir in Deutschland wenigstens in einem Punkt Anlass zur Erleichterung. Den OSZE-Militärbeobachtern, die acht Tage lang in Slawjansk festgehalten wurden, ist nichts Schlimmeres geschehen. Sie sind wieder frei. Dass es wenigstens bei ihnen gelungen ist, die Dynamik der Eskalation zu überwinden, ist ein Verdienst der Diplomatie als Methode und der OSZE als der Plattform, auf der Diplomatie ihre Wirkung entfalten konnte. Wir sollten daraus die Erkenntnis ziehen, dass es sich lohnt, auch in scheinbar verfahrenen Situationen dem Gespräch und der Gewaltfreiheit immer wieder eine Chance zu geben. ({0}) Ich bin deswegen auch sehr froh darüber, dass der Bundestag die Debatte über Lösungswege für die Ukraine heute ganz klar unter außenpolitischen Schwerpunkten führt und dass wir hier sehr deutlich machen, dass eine militärische Option für niemanden in diesem Hause infrage kommt, dass wir dem Säbelrasseln auf der einen Seite den Willen zum Dialog und europäische Geschlossenheit auf der anderen Seite entgegensetzen. Dafür ist eine Stärkung der OSZE weiterhin notwendig. Aber wie die Debatte aus Deutschland von der Linksfraktion und einigen Teilen der Medien geführt wird, geht in eine andere Richtung. ({1}) Von den Linken und gerade von Ihnen, Herr Dr. Neu, ist mehrfach versucht worden, die entführten Militärbeobachter selbst für die eigene Entführung verantwortlich zu machen. ({2}) - Selbstverständlich. Die Vorwürfe an die Opfer der Entführung reichten doch von Dummheit bis zum Verdacht der Spionage. In einer völlig indiskutablen Art und Weise hat sich die Linkspartei zum Stichwortgeber für all diejenigen gemacht, die in den letzten Tagen aktiv die Grenzen zwischen Recht und Unrecht verwischen wollten. ({3}) Ich will deswegen noch einmal sehr deutlich festhalten: Die bei Slawjansk durchgeführte internationale Beobachtermission stand fest auf dem Boden des internationalen Rechts und der innerhalb der OSZE gültigen Absprachen und Verträge. ({4}) Ihre Grundlage war das Wiener Dokument von 1990, eine Vereinbarung, die es Mitgliedstaaten der OSZE ermöglicht, Militärbeobachter aus anderen OSZE-Ländern einzuladen, um als vertrauensbildende Maßnahme Transparenz über Rüstung und Militärbewegung im eigenen Land herzustellen. Diesen Vorgang nennen wir Verifizierung. Wenn eine solche Mission zustande kommt, dann werden alle anderen OSZE-Mitgliedstaaten darüber genau informiert. Im Falle der Entführten handelte es sich also um eine Verifikationsmission. Russland war von Anfang an darüber im Bilde. Für die Entführung der Beobachter gibt es also keine wie auch immer rechtlich zu konstruierende oder gar moralische Rechtfertigung. Es war ganz einfach ein krimineller Akt, der im Detail aufgeklärt werden muss und für den die Täter zur Rechenschaft gezogen werden müssen, sobald es in der Region wieder eine staatliche Autorität gibt, die dazu in der Lage ist. ({5}) Dennoch hätte ich es verstanden, wenn Sie im Zusammenhang mit der Entführung Fragen aufgeworfen hätten, die sich auch aus einer parlamentarischen Fürsorgepflicht gegenüber den Betroffenen heraus verstehen. Natürlich müssen wir darüber sprechen, ob bei der Vorbereitung und der Durchführung der Mission für die Sicherheit der Beobachter ausreichend Vorsorge getroffen worden ist, ({6}) um in Zukunft aus möglichen Fehleinschätzungen zu lernen. Darum ist es Ihnen offenkundig nicht gegangen. In einer Situation, in der die Entführten vor allem Solidarität gebraucht hätten, haben Sie ihnen öffentlich Vorwürfe gemacht. ({7}) Das ist genauso unakzeptabel wie die vorgetragene Kritik am Verhalten von Gefangenen, als sie von ihren Entführern öffentlich vorgeführt worden sind. Wir können als Parlament diese Fehltritte im falschen Moment nicht ungeschehen machen. Aber ich möchte mich denjenigen anschließen, die heute die Gelegenheit genutzt haben, um den beteiligten Soldaten der Bundeswehr aus Tschechien, Polen, Dänemark und Schweden und ihren Begleitern aus der Ukraine zu danken und ihnen für die ausgestandene körperliche und seelische Belastung das Mitgefühl dieses Hauses auszudrücken. ({8}) Ich hoffe sehr, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir uns nicht noch einmal mit einer vergleichbaren Situation auseinandersetzen müssen. Wenn aber doch, dann hoffe ich, dass es uns als Volksvertretung insgesamt überzeugender gelingt als in der Auseinandersetzung über die Entführung von Slawjansk, so wie sie in den letzten Tagen geführt worden ist. Ich danke Ihnen. ({9})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Der Kollege Dr. Neu fühlt sich vom Kollegen Dr. Felgentreu falsch zitiert und will es kurz klarstellen.

Dr. Alexander S. Neu (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004361, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Damen und Herren! Es wurde gesagt, dass ich gesagt hätte, die Bundeswehrsoldaten seien „Spione“ gewesen. Weder ich noch irgendjemand anderes aus der Linksfraktion hat die Soldaten dort als „Spione“ bezeichnet. ({0}) Was ich gesagt habe, ist - zur Klarstellung -: Die Mission als solches, die sehr viele Widersprüche und Unklarheiten enthält, gibt Nahrung für einen Spionageverdacht. - Das ist etwas ganz anderes, als zu sagen, diese Leute seien „Spione“ gewesen. Das ist eine Rückweisung. ({1})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Als Nächstem erteile ich dem Kollegen Gunther Krichbaum, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. ({0})

Gunther Krichbaum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003573, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Außenminister Steinmeier, Sie haben die Lage in der Ukraine vorhin sehr zutreffend beschrieben. Wir haben uns als Europaausschuss des Deutschen Bundestages noch vor kurzem, vor knapp drei Wochen, selbst ein Bild von der Lage im Land verschafft. Wir waren in Kiew, wir waren in Donezk, und tatsächlich ist die Lage brisant, mancherorts explosiv, wiederum andernorts auch seltsam ruhig angespannt. Aber eines ist wahr: Seit dieser Zeit sind die Dinge eskaliert. Wir alle tun gut daran, die Lage zu deeskalieren. Eines gilt auch: Die heutige Aktuelle Stunde trägt zwar den Titel „Zur aktuellen Lage in der Ukraine“, aber besser wäre fast noch der Titel „Zur aktuellen Lage in Ost- und Südosteuropa“. Denn längst droht aus der Krise in der Ukraine ein Flächenbrand zu werden. ({0}) Denn in Moldau wurde die Armee an der ukrainischmoldauischen Grenze in Alarmbereitschaft versetzt. Per inoffizieller Twitter-Mitteilung hat der russische Vizepremier Rogosin seinen Besuch einer Militärparade in Tiraspol in Transnistrien angekündigt, just für den 9. Mai. Wir müssen solche Notizen aufnehmen und auch hier bewerten. Denn all das ist kein Zufall. So wie die Menschen in Moldau sehr beunruhigt sind, so sind sie es auch im Baltikum und in Polen. Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Sehr, sehr viel! Während wir im Zusammenhang mit Moldau schon lange von einem „Frozen Conflict“ sprechen, soll er von Putin in der Ukraine gegenwärtig kreiert werden. Genau das dürfen wir nicht zulassen. Durch die Annexion der Krim wurde schon ein erster Konflikt kreiert, und dies soll in einer Annexion faktischer Art der Ostukraine seine Fortsetzung finden, von Odessa ganz zu schweigen. Wenn ich sage: „Das dürfen wir nicht zulassen“, dann heißt das: „Wir müssen gegensteuern.“ Was war der Ausgangspunkt der ganzen Krise? Ausgangspunkt war die Nichtunterzeichnung des sogenannten Assoziierungsabkommens mit Russland, also nichts anderes, als dass sich die Ukraine den Standards der Europäischen Union annähern wollte, weil es die Menschen dort satthatten, in einem Land voller Korruption und mit Demokratie- und Rechtsstaatlichkeitsdefiziten zu leben. Deswegen gibt es die Strategie der Östlichen Partnerschaft, in der Länder wie Armenien, Aserbaidschan, Weißrussland, aber eben auch Georgien, Moldau und die Ukraine versammelt sind. Bei nüchterner Betrachtung müssen wir aber auch festhalten, dass wir Armenien und Weißrussland längst an die eurasische Zollunion verloren haben. ({1}) Es bleiben noch Georgien, Moldau und die Ukraine. Wir müssen hier gegensteuern; wir dürfen nicht zulassen, dass in Europa weitere Frozen Conflicts geschaffen werden. Denn es geht Herrn Putin allein um eines: um Vormachtstreben, um Hegemonie. Die Breschnew-Doktrin ist tot; auch das muss man mit aller Deutlichkeit sagen. Deswegen ist es inakzeptabel, wenn Russland versucht, sich in die Gestaltung von Verträgen, die diese Staaten mit der Europäischen Union abschließen wollen, einzumischen. Wir in Deutschland müssen ganz besonders sensibel sein; denn wir kommen aus einem geteilten Land und sind heute wiedervereinigt. Der ukrainischen Teilung müssen wir mit aller Macht entgegenwirken. ({2}) Ja, es ist richtig: Wir müssen weiter auf die Diplomatie setzen; denn stirbt die Diplomatie, dann sterben Menschen. Aber eines gilt auch: Die Ukraine ist ein souveränes Land. Sie hat das Gewaltmonopol inne. Beides stellen wir dieser Tage seltsamerweise hin und wieder infrage. Putin muss einlenken. Putin selbst hat es in der Hand, den Konflikt zu lösen. Es darf auch daran erinnert werden, dass vonseiten Russlands bislang nichts von dem, was in Genf vereinbart wurde, umgesetzt wurde. Heute haben wir über eines noch nicht gesprochen: Die Zeit ist wahrscheinlich reif, eine Stufe weiterzugehen und echte Wirtschaftssanktionen nicht länger auszuschließen. ({3}) Wir brauchen Russland - das ist wahr -, aber Russland braucht auch uns. Russland begreift seine Wirtschaftspolitik als reine Energielieferungspolitik. Das ist dauerhaft sicherlich zu wenig. Russland braucht unser Knowhow, unsere Technologie und unser Wissen, aber natürlich auch die Erlöse aus den Rohstoffen, die es an uns verkauft. Wir müssen stärker und einiger voranschreiten. Ich begrüße ausdrücklich, dass es bislang gelungen ist, die Europäische Union mit einer Stimme sprechen zu lassen. Nun müssen wir den Druck auf Russland erhöhen, sonst werden wir in Europa noch über ganz andere Länder zu sprechen haben als nur über die Ukraine, und das dürfen wir nicht zulassen. Vielen Dank. ({4})

Peter Hintze (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000907

Als Nächstem erteilte ich das Wort dem Kollegen Norbert Spinrath, SPD-Fraktion. ({0})

Norbert Spinrath (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004411, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Freilassung der unversehrten OSZE-Beobachter aus der Geiselhaft am vergangenen Wochenende gibt Hoffnung, dass Diplomatie Konflikte friedlich lösen kann, auch die Konflikte in der Ukraine. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Gewalt in der Ukraine müssen wir den Menschen unermüdlich klarmachen, dass wir in Deutschland, wir in der Europäischen Union weiterhin eine gewaltfreie Lösung der Konflikte in der Ukraine wollen und uns dafür engagieren. Wir müssen auch klarmachen, dass wir in Deutschland und wir in der Europäischen Union seit geschätzt 25 Jahren das Wort „Blockdenken“ abgelegt haben. Wir sprechen seit 25 Jahren von „Partnerschaften“. Ich finde, auch die Damen und Herren hier ganz links sollten sich an diesen neuen Sprachgebrauch gewöhnen. ({0}) Eine friedliche Lösung in der Ukraine muss vor allen Dingen vom überwiegenden Teil der Menschen dort mitgetragen werden. Sie braucht ein demokratisches Fundament. Lassen Sie mich zunächst auf die Zustände innerhalb der Ukraine eingehen. Natürlich muss Russland einen großen Beitrag leisten. Es muss seinen Einfluss auf die Separatisten im Osten der Ukraine geltend machen und sie dazu bringen, ihre Waffen kampflos niederzulegen und die Besetzung von öffentlichen Gebäuden, Straßen und Plätzen zu beenden. Die Meldung von n-tv heute Nachmittag zeigt: Ein erster Schritt auf diesem Weg ist immerhin getan. In der Woche vor Ostern ist eine siebenköpfige Delegation des Europaauschusses nach Kiew und Donezk gereist. Wir haben wichtige Gespräche mit den Menschen in der Ukraine geführt. Dabei habe ich gelernt, dass es zur Lösung der Probleme im Lande eines grundsätzlichen Wandels bedarf. Insbesondere muss die in allen gesellschaftlichen Ebenen der Ukraine vorherrschende Korruption bekämpft und endgültig unterbunden werden. Wer hat denn noch Vertrauen in eine solche Gesellschaft, wenn der Platz an einer weiterführenden Schule oder der Studienplatz für das Kind, wenn der Führerschein für den Enkel, wenn die Grabstätte für die Oma nur noch gegen harte Griwnas zu bekommen ist, wenn kein öffentlicher Auftrag vergeben, keine Baugenehmigung ohne Schmiergeld erteilt wird, wenn ein großer Teil der Parlamentarier im nationalen Parlament über Privatvermögen im Wert von zwei- bis dreistelligen Millionen Dollar oder Euro verfügt? ({1}) Da ich diese Zustände als Erkenntnisse von der Reise mitbrachte, wundert es mich nicht, dass sich die Jugend in der Ukraine im Herbst des letzten Jahres zum Maidan aufmachte. Sie waren dort schon vor dem 21. November des letzten Jahres, also bevor sich der ehemalige StaatsNorbert Spinrath präsident Janukowitsch weigerte, das EU-Assoziierungsabkommen zu unterzeichnen. Erst als dies geschah, wurde aus dem Protest der Schüler und Studenten gegen die Korruption und gegen die Ausplünderung des Landes der sogenannte Euromaidan. Aber ohne die Beseitigung der Korruption, die bis in den Alltag der Menschen geht, ohne die Beseitigung der Ausbeutung der Wertschöpfung des Landes durch einige wenige, kann dieses Land nicht zur Ruhe kommen. ({2}) Ohne die Beseitigung der Korruption kann kein funktionstüchtiger Verwaltungsapparat aufgebaut werden. Der Aufbau einer ordentlichen Verwaltung und eines funktionierenden Steuersystems sind aber unerlässlich für ein demokratisches Land. Nicht zuletzt dafür haben die Menschen, haben die Schüler und Studenten auf dem Maidan demonstriert. Es bleibt richtig, dass die Europäische Union mithilfe von insgesamt 11 Milliarden Euro und der Internationale Währungsfonds mit weiteren Milliarden den Staatsbankrott vermeiden wollen. Genauso richtig ist es aber, die Milliarden, um die sich das alte Regime Janukowitsch durch den Griff in die Staatskassen persönlich bereichert hat, aufzuspüren und dem Staatshaushalt wieder zuzuführen. Und genauso richtig bleibt es, die Oligarchen, die unter zweifelhaften Umständen ein persönliches Vermögen in Milliardenhöhe angehäuft haben, nicht nur an der politischen, sondern gerade eben auch an der finanziellen Sanierung des Landes zu beteiligen. ({3}) - Sie müssen mit demokratischen Mitteln dazu gebracht werden, sich an der finanziellen Stabilisierung des Landes zu beteiligen. ({4}) Dies wäre ein wichtiges Signal an die Menschen in der Ukraine, damit sie selbst an ihr Land glauben können, damit sie selbst friedlich dafür eintreten können. Dazu müssen wir aber mit allen Menschen in allen Teilen der Ukraine reden, mit ihnen Ideen entwickeln und umsetzen, zum Beispiel durch Städtepartnerschaften, durch die Arbeit der politischen Stiftungen ({5}) oder die Zusammenarbeit mit anderen NGOs. Die am 25. Mai 2014 anstehenden Präsidentschaftswahlen sind wichtig. Sie dürfen nicht verschoben werden. Aber es muss auch nach dem 25. Mai 2014 schnell zu Parlamentswahlen kommen, damit es einen wirklichen Neuanfang gibt; denn viele Menschen in der Ukraine zweifeln sicherlich zu Recht daran, dass einige der alten Köpfe in der Lage sind, die alten Missstände zu überwinden und komplett neu zu denken. Nachdem sich während unseres Kiew-Aufenthalts die Meldungen über die Zuspitzung der Lage in Donezk häuften, wurde angesichts der Sicherheitslage mehrfach der Verzicht auf eine Weiterreise nach Donezk diskutiert. Unsere Entscheidung, doch zu fliegen, erwies sich als richtig. Bei der Ankunft in Donezk, abends um 22 Uhr, fanden wir eine ruhige Stadt vor. Bei der Vorbeifahrt am von Separatisten besetzten Hochhaus des Provinzparlaments hätten wir die weniger als 20 Vermummten am Eingang vermutlich gar nicht bemerkt, wenn nicht ein Heer von Journalisten und Kameraleuten aus der ganzen Welt aus gebührendem Abstand ihre Objektive auf die Szene gerichtet hätte. 50 Meter weiter nahmen Leute in einem Straßencafé Getränke zu sich. 200 Meter weiter, in unserem Hotel, und in einem nahegelegenen Restaurant war genauso wenig davon zu spüren wie am nächsten Tag auf den Straßen der Millionenstadt Donezk, wo die Menschen ohne Hast und Eile ihrem Alltag nachgingen. Am Abreisetag kam die Gruppe an dem eine Stunde zuvor gestürmten und besetzten Rathaus der Stadt vorbei. Alles war friedlich. Auf dem Spielplatz unmittelbar neben dem Rathaus spielten Kinder. Liebe Kolleginnen und Kollegen, keine Lektüre kann eigene Wahrnehmung bei einer Reise ersetzen. Bei dem nächtlichen Zappen durch diverse TV-Sender in dem Hotel in Donezk, durch westliche, östliche, europäische, deutsche, russische, russischsprachige und ukrainischsprachige, habe ich fürs Leben gelernt: Es gibt viele Wahrheiten. Aber es gibt auch das, was ich selbst gesehen, gehört und in Gesprächen mit Menschen erfahren habe.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege, denken Sie bitte daran, dass Sie deutlich über der Zeit sind.

Norbert Spinrath (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004411, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme sofort zum Schluss. - Wichtig ist, dass der Fünf-Punkte-Plan von Frank-Walter Steinmeier umgesetzt wird, um weiteres Blutvergießen zu verhindern. Wichtig ist, einen beständigen Dialog mit den politischen Spitzen aller beteiligten Staaten und mit den Bürgern der Ukraine zu führen. Gerade jetzt müssen die 45 Millionen Menschen in der Ukraine wieder hoffen können auf gute Perspektiven, auf ein funktionierendes Staatswesen, auf eine gute und eine sichere Zukunft, auf ein friedliches Zusammenleben in einem souveränen Staat Ukraine. Danke. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Es tut mir leid, gerade in solch einer Situation zu unterbrechen, nur haben wir für die Aktuelle Stunde die völlig kompromisslose Regel, dass die Beiträge nicht länger als fünf Minuten dauern dürfen. Präsident Dr. Norbert Lammert Letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde ist der Kollege Roderich Kiesewetter für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Roderich Kiesewetter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004068, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 25. Mai werden wir nicht nur Präsidentschaftswahlen in der Ukraine haben, sondern am 25. Mai haben wir auch Europawahlen. Hier entscheidet die europäische Bevölkerung über das Schicksal von 500 Millionen Menschen. Europa steht in hartem Ringen seit über 60 Jahren für Frieden in Freiheit und die Aussicht auf Wohlfahrt. Das haben wir uns in Europa nach jahrhundertelangem kriegerischem Ringen hart erkämpft. Das ist ein Wert an sich. ({0}) Wir wollen mit unserer europäischen Nachbarschaftspolitik, sei es im Norden, im Osten oder im Süden, dass auch unsere östlichen Nachbarn eine Aussicht auf Frieden in Freiheit und Wohlfahrt haben, und das in freier Selbstbestimmung. Anfang Februar haben unser Bundesaußenminister Steinmeier und unsere Bundesverteidigungsministerin Frau von der Leyen sich in München ganz klar dazu bekannt, dass wir nicht zuschauen dürfen, sondern aktiv gestalten müssen. Wenige Wochen danach zeigen beide mit großartigem diplomatischem Ansatz in OSZE, EU und NATO, was es heißt, sich aktiv an einer diplomatischen Lösung zu beteiligen. Ich glaube, wir sollten am Ende dieser Aktuellen Stunde ein Zeichen dieses Hauses setzen, dass wir diese diplomatischen Lösungen unterstützen und dass wir gemeinsam darauf hinwirken, dass in der Ukraine am 25. Mai in freier Selbstbestimmung ohne Druck von Kanonen gewählt werden kann. Ein Zweites. Rund 25 Millionen Russen leben außerhalb der Russischen Föderation, davon 18 Millionen in der Ukraine und in der Europäischen Union. Ich bin der Deutschen Welle sehr dankbar, dass sie in dieser Woche ihr Programm in Auslandssendungen erweitert hat und auch auf Russisch und auf Ukrainisch sendet, dass sie rund um die Uhr informiert. Das ist unabdingbar, weil die Auslandsrussen einer ungeheuren Propaganda unterliegen, die - Kollege Wellmann und auch Gunther Krichbaum haben es angesprochen - ihresgleichen in der europäischen Nachkriegsgeschichte sucht. Lassen Sie uns gegenüber diesen 18 Millionen Auslandsrussen deutlich machen, was es für ein Wert ist, Frieden in Freiheit und Aussicht auf Wohlfahrt genießen zu dürfen. ({1}) Ich möchte uns alle - ich erlaube mir das - in zwei Punkten ermahnen. Der eine ist unsere eigene Sprachdisziplin. Lasst uns doch die Dinge beim Namen nennen. Der Ponomarjow in Slawjansk ist kein selbsternannter Bürgermeister. Das ist ein Separatistenführer. Es gab kein Referendum auf der Krim. Es gab eine Annexion der Krim, und zwar eine völkerrechtswidrige. Wer die Begriffe beherrscht, beherrscht auch die Köpfe. Deswegen brauchen wir das Programm der Deutschen Welle. Wir brauchen auch viel mehr eigene Aufklärung. Deshalb ist es gut, dass wir heute diese Aktuelle Stunde haben, die die CDU/CSU-Fraktion angeregt hat. Vor uns liegen sehr schwierige Monate. Es muss darauf ankommen, dass Russland seinen Einfluss geltend macht. Wir arbeiten beim Abzug aus Afghanistan mit Russland zusammen. Wir arbeiten mit Blick auf Kooperationen bei Transporten in der Zentralafrikanischen Republik mit Russland zusammen. Es waren die Europäische Union und die USA, die darauf hingewirkt haben, dass die Ukraine und Russland das Genfer Abkommen unterzeichnet haben. Das ist der zweite Punkt, den ich ansprechen möchte: die EU und die Vereinigten Staaten von Amerika. Wir sind heute - mehr denn je seit Ende des Kalten Krieges - auf eine vertrauensvolle und enge Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten von Amerika geradezu angewiesen. Die transatlantische Partnerschaft bedarf wieder eines intensiven Vertrauens. Lassen Sie uns in dieser Krise gemeinsam und mit diplomatischen Mitteln daran arbeiten, dass die ukrainische Bevölkerung in freier Selbstbestimmung wählen kann, ob sie auch künftig die Aussicht auf Frieden, Freiheit und Wohlfahrt haben möchte! Lasst uns in der Krise gemeinsam daran arbeiten, dass wir wieder ein besseres Verhältnis zu den Vereinigten Staaten bekommen! Dazu gehören beide Seiten. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Aktuelle Stunde ist damit beendet. Ich rufe Tagesordnungspunkt 3 auf: Vereinbarte Debatte Friedliche Revolution in der DDR - Die Rolle der Kommunalwahl am 7. Mai 1989 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren. Ich eröffne die Debatte und erteile als Erstem dem Bundesminister des Innern, Dr. Thomas de Maizière, das Wort. ({0})

Not found (Minister:in)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute vor 25 Jahren, am 7. Mai 1989, kontrollierten Bürgerrechtler die Kommunalwahl in der DDR und deckten Wahlfälschungen auf. Die Bürger der DDR wurden Jahrzehnte um das kostbarste Recht gebracht, das die Demokratie ihren Bürgern vorbehält: um das Wahlrecht. Die Tatsache, dass wir dieses Tages heute dennoch freudig gedenken können, ist darin begründet, dass sich viele Bürger der DDR dieses Recht ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr haben nehmen lassen. Einen Tag nach der Aufdeckung der Fälschungen demonstrierten in Leipzig 500 Bürgerinnen und Bürger gegen das amtliche Ergebnis der Kommunalwahlen. Sie wussten das Recht auf ihrer Seite; selbst das Recht der DDR wussten sie auf ihrer Seite. Sie waren drei Jahre nach den ersten erfolgreichen Kontrollversuchen bei den Wahlen 1986 gut vorbereitet. So ist in einem Bericht der Staatssicherheit vom 19. Mai 1989 zu lesen - ich lese dieses Zitat ungern vor, weil es von der Staatssicherheit ist -: Auf der Grundlage von am Wahltag durchgeführten sogenannten ‚Kontrollen‘ … beabsichtigen innere Feinde den ‚Nachweis‘ einer angeblichen Fälschung von Wahlergebnissen in ausgewählten Wahlbezirken zu führen. Dabei ist ein stabsmäßig organisiertes und koordiniertes Vorgehen feindlicher, oppositioneller Kräfte … zu erkennen. Ein ungewolltes, geradezu respektvolles Kompliment der Stasi an diejenigen, die wir heute „Bürgerrechtler“ nennen dürfen. Opposition gleich Feind, das war dagegen die Denke des SED-Regimes. Mit entsprechenden Folgen: Am 7. Juni 1989 wurden in Ostberlin zwei Demonstrationen gegen die Wahlfälschung brutal aufgelöst. Dennoch fand einen Tag später, am 8. Juni, in der Berliner Gethsemanekirche eine Protestveranstaltung mit nunmehr 1 500 Teilnehmern statt. Wie es weiterging, ist vielen von uns in Erinnerung: Am 4. September fand im Anschluss an das Friedensgebet in der Nikolaikirche die erste Montagsdemonstration in Leipzig statt. Am 7. September ging die Polizei in Ostberlin brutal gegen Demonstranten vor, die auf dem Alexanderplatz gegen den Wahlbetrug protestierten. Die Lage spitzte sich zu. Der offene Widerspruch wurde gefährlicher, der Protest aber gleichzeitig größer. Am 9. Oktober gab es die erste große Massendemonstration mit 70 000 Menschen in Leipzig und am 4. November die allergrößte Massendemonstration in der Geschichte der DDR auf dem Berliner Alexanderplatz, allerdings mit ersten Ambivalenzen und einer merkwürdigen Rednerliste; sagen wir es einmal so. Ich war selber damals dabei auf diesem Platz. Am 9. November 1989 wurde die Berliner Mauer dann von Ost nach West geöffnet, von einem Offizier der Truppen der Grenzsicherung, nach Schabowskis Pressekonferenz und durch den physischen, aber friedlichen Druck von Bürgerinnen und Bürgern, die nur von einem Teil ihrer Stadt Berlin in den anderen Teil wollten. Das formale Ende der DDR und der Teilung Europas nahm seinen Anfang. Wir erinnern heute dankbar an diejenigen, die mit ihrem Handeln ein Auslöser für die friedliche Revolution waren und mit ihrem Mut zu einer moralischen Stütze der Wiedervereinigung unseres Vaterlandes wurden. ({0}) In den 90er-Jahren wurde viel darüber diskutiert, ob die Wiedervereinigung eine Einigung von oben war. Zyniker sprachen vom „Anschluss“ der DDR statt von ihrem Beitritt. Diese Debatte war wohl genauso falsch, wie heute die Trennung in Ost- und Westdeutschland unnötig ist. ({1}) Heute wissen wir: Die Demokratie ist von unten entstanden. Wir wissen auch: Der Wunsch nach Einheit ist von unten entstanden. Demokratie und Einheit fielen aber weder mit dem Mauerfall noch mit dem Einigungsvertrag vom Himmel - sie wurden über Monate hart erkämpft und erarbeitet, Tag für Tag, von Politik und Verwaltung, von den Kommunen bis hin zur Außenpolitik. Am Anfang dieses Weges aber stand der Ruf nach freien Wahlen. Freie Wahlen, das war die zentrale Forderung, noch weit vor dem Ruf nach der Wiedervereinigung Deutschlands. Bis zum 20. November 1989 unterzeichneten binnen sechs Wochen mehr als 200 000 Menschen einen Aufruf des Neuen Forums mit der Forderung nach freien Wahlen. Freie Wahlen, das scheint vielen heute nicht mehr einen Gedanken oder ein Gedenken wert. Freie Wahlen scheinen selbstverständlich; aber ein Blick in die Welt - und vielleicht in die Debatte von eben - zeigt: Freie Wahlen sind nicht selbstverständlich. Der heutige Tag ist Anlass, uns der fundamentalen Bedeutung freier, allgemeiner, gleicher und ungestörter Wahlen für die Demokratie in Erinnerung zu rufen. ({2}) Ein starker Ausdruck für gelebte Demokratie ist das Engagement von 600 000 ehrenamtlichen Wahlhelfern, ohne deren Sorgfalt und Einsatz die Wahlen in unserem Land nicht stattfinden können. Ihnen möchte ich heute bei dieser Gelegenheit einmal herzlich danken - im Rückblick auf die zurückliegende Bundestagswahl, im Ausblick auf die bevorstehenden Kommunalwahlen und die Europawahl, aber auch einmal ganz grundsätzlich. 600 000 Bürgerinnen und Bürger sorgen in Deutschland für freie und geheime und ordentliche und seriöse Wahlen, und das verdient einen Dank. ({3}) Was können wir vom damaligen Aufbruch für heute lernen? Die Bürgerrechtler damals forderten freie Wahlen und stellten sich anschließend auch zur Wahl. Sie zeigten Verantwortung für die Gemeinschaft vor Ort und für das große Ganze im Land - ohne einen vorherigen Grundkurs im Kommunalwahlrecht, ohne zu wissen, wie eine Beamtenversorgung für Bürgermeister nach soundso vielen Jahren aussieht, mit vollem Risiko, aus Freude und Verantwortung. Die Neuen - als Laienspieler wurden sie zum Teil bezeichnet -, das war eine bunte Mischung von Menschen mit den unterschiedlichsten Hintergründen: Ingenieure - überproportional viele Ingenieure waren dabei -, Handwerker, Techniker, Ärzte, auch Pfarrer. Sie alle haben der kommunalen Selbstverwaltung, ehrlich gesagt, ziemlich gutgetan, weil sie den Mut hatten, Probleme pragmatisch zu lösen und Verantwortung zu übernehmen - ohne Vorbild, ohne nach Absicherung zu fragen, am Anfang ohne Berater, aber mit ganz viel Charakter und gesundem Menschenverstand. Damals wie heute verlangt öffentliche Verantwortung Mut, Bereitschaft zur Entscheidung und zum Handeln und damit auch die Bereitschaft, Fehler zu machen. Auch damals sind, wie wir heute wissen, viele Fehler gemacht worden; aber es ist verdammt viel mehr richtig als falsch gemacht worden in dieser Zeit von dieser ersten Generation in kommunaler Verantwortung. ({4}) Wir brauchen Menschen, die sich für das Ganze einsetzen - zum Beispiel auch Politiker, die sich für die Polis, wovon der Begriff „Politik“ abgeleitet ist, engagieren -, indem sie sich organisieren und Verantwortung übernehmen: in unserer unmittelbaren Nachbarschaft, in der Gemeinde, am Arbeitsplatz, im Verband oder Verein. Dieses Selbstverständnis geht von der Würde des Menschen aus. Sie wird oft beschrieben, aber nicht durch Nichtstun oder Abwarten geschützt, sondern durch den Gebrauch von verantworteter Freiheit, auch wenn es stürmt. Ich wünsche uns, dass wir uns nicht nur in dieser Stunde möglichst viel von der Begeisterung, der Entscheidungsfreude, dem Mut, dem Enthusiasmus und der Verantwortungsbereitschaft bewahren, die im Revolutions- und Vereinigungsjahr und Anfang der 90er-Jahre so viel an Fortschritt und Bewegung in unserem Land ermöglicht haben. Das Große fängt im Kleinen an, und das Kleine geht im Großen auf. Das war auch damals so: beim Protest gegen die Fälschung der Kommunalwahlergebnisse heute vor 25 Jahren. Es war der kleine starke Anfang eines großen Umbruchs in der ehemaligen DDR, eines großartigen Aufbruchs für unser Land. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

André Hahn von der Fraktion Die Linke ist der nächste Redner. ({0})

Dr. André Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004288, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als ich in der Fraktion gebeten wurde, zu diesem Thema zu sprechen, habe ich mir als Erstes in Erinnerung gerufen, was ich damals, an diesem 7. Mai 1989, gemacht habe. ({0}) Ja, ich bin wählen gegangen, und ja - ich gebe es zu -, ich habe die Kandidaten der Nationalen Front gewählt. Die meisten von ihnen kannte ich ohnehin nicht; denn ein öffentlicher Wahlkampf mit Vorstellung der Bewerber und Befragung durch die Bürgerinnen und Bürger war im DDR-System nicht vorgesehen. Ich habe aus dem Bundesarchiv einmal einen Stimmschein von 1989 mitgebracht. ({1}) Außer den Namen der Kandidaten ist daraus nichts zu entnehmen, weder deren Alter noch deren Beruf oder Wohnort und schon gar nicht, von welcher Partei oder Massenorganisation sie aufgestellt wurden. Es gab keine Möglichkeit, bei einzelnen Bewerbern mit Ja, Nein oder Enthaltung zu votieren. Auch deshalb konnte von demokratischen Wahlen keine Rede sein. ({2}) Aber zurück zum 7. Mai 1989. Ich war damals Student an der Berliner Humboldt-Universität, und ein befreundeter Kommilitone erzählte mir davon, dass oppositionelle und kirchliche Gruppen angesichts zu befürchtender Manipulationen die Auszählung in den Wahllokalen besuchen, die Ergebnisse dokumentieren und anschließend mit den offiziellen Verlautbarungen vergleichen wollten. Er lud mich ein, am Abend mit zu einer der Stellen zu kommen, wo die Ergebnisse zusammengetragen wurden. Als jemand, der bei aller grundsätzlichen Loyalität zur DDR Wahlergebnissen von 99 Prozent plus x schon immer sehr skeptisch gegenüberstand, wurde ich neugierig und wollte mir vor Ort ein eigenes Bild machen. So war ich am Abend des Wahltages gemeinsam mit meinem Kommilitonen in einer Kirche - wenn ich mich recht erinnere, in Berlin-Pankow. Dort trafen nach und nach immer mehr Menschen ein, die an den öffentlichen Auszählungen in den Wahllokalen teilgenommen hatten. Sie brachten die dort bekannt gegebenen Ergebnisse mit, die mit Reißzwecken in der Kirche ausgehängt wurden. Die jeweilige Wahlbeteiligung schwankte zwischen 85 und 95 Prozent. Die Zahl der Gegenstimmen gegen die gemeinsamen Listen der Nationalen Front bewegte sich in den einzelnen Wahllokalen zwischen 7 und 12 Prozent. Dann kam die Verkündung des vorläufigen amtlichen Endergebnisses durch den Vorsitzenden der Wahlkommission, Egon Krenz. Darin war für die gesamte DDR von einer Wahlbeteiligung von 98,77 Prozent und von 142 301 Gegenstimmen die Rede, was lediglich 1,15 Prozent entsprach. Allen in der Kirche war klar, dass diese Zahlen nicht der Wahrheit entsprechen konnten. An einer Fälschung der tatsächlichen Resultate bestanden auch aus meiner Sicht keinerlei Zweifel mehr. Ich persönlich habe nie verstanden, warum der SEDFührung eine tatsächliche Wahlbeteiligung von 88 oder 90 Prozent nicht ausgereicht hat und warum man offenbar Angst vor 10 oder 15 Prozent Gegenstimmen hatte, was nach westlichen Maßstäben für eine Regierung ja geradezu ein grandioses Ergebnis gewesen wäre. Meine Damen und Herren, wer sich heute mit den politischen Umwälzungen der Jahre 1989/90 in der DDR beschäftigt, der kommt an der Rolle der Kommunalwahlen vom 7. Mai 1989 nicht vorbei. Die von oben angeordneten massiven Manipulationen und Fälschungen bei dieser Wahl werten viele Historiker als zentralen Auslöser für das Erstarken der Opposition, die zunehmenden Proteste gegen die Regierenden und damit letztlich auch für den späteren Untergang der DDR. Wir als Linke haben uns seit langem mit der DDRVergangenheit und auch der Rolle der SED auseinandergesetzt, und zwar wesentlich intensiver und vor allem selbstkritischer als die ehemaligen Blockparteien, insbesondere die CDU. ({3}) Man darf doch wohl daran erinnern, dass auf den Listen der Nationalen Front nicht nur die Namen von SED-Leuten standen, sondern auch die von Mitgliedern der CDU, der LDPD oder auch der Bauernpartei. Ich komme aus Sachsen und weiß daher, dass zum Beispiel auch der jetzige Ministerpräsident und CDULandeschef Stanislaw Tillich 1989 im Ergebnis der gefälschten Wahlen in den Kreistag Kamenz einzog und dann sogar zum stellvertretenden Vorsitzenden des Rates des Kreises avancierte. Das werfe ich ihm nicht vor; den Umgang mit seiner eigenen Biografie aber schon. Es sollte also zunächst einmal jeder vor der eigenen Haustür kehren. ({4}) Der Minister hat es gesagt: Entgegen landläufiger Meinung war Wahlfälschung auch in der DDR strafbar. In meiner Fraktion gibt es jemanden, der deshalb bereits unmittelbar nach dem 7. Mai 1989 beim Generalstaatsanwalt Strafanzeige gestellt hat: Das war Gregor Gysi, damals im Auftrag von Rainer Eppelmann. Vielleicht sollte man bei aller politischen Auseinandersetzung in einer solchen Debatte auch das einfach einmal zur Kenntnis nehmen. ({5}) Die offenkundige Wahlfälschung vom 7. Mai 1989 war für mich persönlich ein einschneidendes Erlebnis. Auch deshalb habe ich danach neben meinem Studium noch stärker versucht, mich politisch einzubringen. So wurde ich schließlich für die damalige SED/PDS zum zweitjüngsten Mitglied am Zentralen Runden Tisch der DDR, wo ich vor allem in der Arbeitsgruppe „Bildung, Erziehung und Jugend“ tätig war. Noch am 5. März 1990 beschloss der Runde Tisch nahezu einstimmig das Festhalten am zehnjährigen gemeinsamen Lernen. Bei aktuellen Umfragen im Osten Deutschlands gibt es dafür immer noch Mehrheiten von über 70 Prozent. Was haben wir stattdessen bekommen? 16 unterschiedliche Schulgesetze mit 16 unterschiedlichen Schulsystemen und an staatlichen Schulen gemeinsames Lernen bis maximal zur sechsten Klasse. Auch das befördert Zweifel am Funktionieren der Demokratie. ({6}) Überhaupt finde ich in der aktuellen Politik leider sehr wenig von dem, was von der friedlichen Revolution, die der Minister angesprochen hat, übrig geblieben ist. Wer redet denn heute noch vom sehr fortschrittlichen Verfassungsentwurf des Runden Tisches, von dem sich im geringfügig überarbeiteten Grundgesetz kaum etwas wiederfindet? ({7}) Warum gibt es auf Bundesebene immer noch keine Volksentscheide? Ja, wir haben es nicht einmal geschafft, eine neue Nationalhymne oder wenigstens einen neuen Text zu vereinbaren, ({8}) obwohl es dazu von Bürgerrechtlern sehr vernünftige Vorschläge gab, wie zum Beispiel die Kinderhymne von Bert Brecht, die sogar auf die derzeitige Melodie passen würde. ({9}) Nicht nur in diesem Fall wurde eine Chance vertan, den Ostdeutschen das Gefühl zu vermitteln, im Zuge der Einheit sei man auch im Westen zu erkennbaren Veränderungen bereit. Auch das war gewiss kein Beitrag zur Stärkung der Demokratie. In gut zwei Wochen finden in mehreren Bundesländern Kommunalwahlen statt; der Minister hat darauf hingewiesen. Ich selbst kandidiere wieder für den Kreistag Sächsische Schweiz - Osterzgebirge. Aber wäre es nicht angebracht, über die jüngsten Wahlbeteiligungen zu reden? Können wir denn damit zufrieden sein, dass sich nicht nur bei Kommunal-, sondern auch bei Land2672 tagswahlen fast jeder zweite Stimmberechtigte nicht mehr beteiligt, sondern zu Hause bleibt? ({10}) Welche Schlussfolgerungen ziehen wir in der Politik daraus? Über welche Legitimation verfügt ein Landrat oder ein Bürgermeister, der im zweiten Wahlgang bei einer Wahlbeteiligung von 38 Prozent vielleicht 52 Prozent der abgegebenen Stimmen erhält? Ich komme zum Schluss. ({11}) Was lehren uns nun die Kommunalwahlen vom Mai 1989? Wer über lange Zeit hinweg am Volk vorbeiregiert, kommt damit auf Dauer nicht durch. Abgehobenheit und Realitätsverlust der Herrschenden führen zu Politikverdrossenheit und über kurz oder lang auch zu massiven Protesten der Bürgerinnen und Bürger. ({12}) Nicht zuletzt: Zu einer echten Demokratie gibt es keine Alternative. Sie zu schützen und weiterzuentwickeln, ist unser aller gemeinsame Aufgabe. Herzlichen Dank. ({13})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun die Parlamentarische Staatssekretärin Iris Gleicke. ({0})

Iris Gleicke (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000687

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit unserer heutigen Debatte würdigen wir die mutigen Bürgerinnen und Bürger, die sich am 7. Mai 1989 von den Staats- und Sicherheitsorganen der DDR nicht haben einschüchtern lassen. Sie haben die im Wahlgesetz der DDR verankerte öffentliche Stimmauszählung ernst genommen und für sich reklamiert. Sie haben die Wahlen als dreiste Fälschung und die DDR als eine lächerliche Diktatur entlarvt. Dazu gehörte viel Mut. Eigentlich war es uns allen schon immer klar, dass es bei der stets fast 100-prozentigen Zustimmung der Bürger zu den Einheitslisten der Nationalen Front nicht mit rechten Dingen zugehen konnte. Viele - wahrscheinlich die meisten von uns - hatten Leute im Bekanntenkreis, die mindestens eine kritische, gar ablehnende Position zu diesem Staat hatten. Man wusste Bescheid. Aber die Offenlegung dieser dreisten und unverfrorenen Fälschung führte zu großem Unmut bei weiten Teilen der Bevölkerung und brachte das sprichwörtliche Fass zum Überlaufen. Die Erkenntnis, dass es trotz eines breit aufgestellten und gut gerüsteten Sicherheitsapparates möglich war, Bürgerrechte geltend zu machen, hat wie eine Initialzündung für die kommenden Ereignisse gewirkt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn ich mich an jene Tage erinnere, dann kommt mir diese Zeit schon manchmal sehr fern vor, irgendwie auch düster und ziemlich skurril. Ich bin damals auch wählen gegangen, in meiner Heimatstadt Schleusingen im Thüringer Wald. Außer dem Bürgermeister habe ich alle Kandidatinnen und Kandidaten durchgestrichen. Als damalige Mitarbeiterin beim Rat der Stadt hatte ich dann am Montag nach der Wahl ein sehr anstrengendes Gespräch mit meinem Vorgesetzten. Ich durfte bleiben. Ich hatte ja eine gültige Stimme abgegeben. Aber das war die Lebenswirklichkeit in dieser Deutschen Demokratischen Republik, in der die allermeisten Leute ganz einfach versucht haben, anständig über die Runden zu kommen. ({0}) Wir haben versucht, das richtige Leben im falschen System zu führen. Das lässt sich nur ganz schwer beschreiben und vermitteln. Das weiß ich. Im Alltag waren auf der einen Seite die Enge, die Erstarrung und die irrsinnigen Widersprüche. Auf der anderen Seite hatten wir unsere Freunde und Familien, sind auf Partys und in die Disco gegangen, und natürlich wussten wir: Die Stasi tanzt immer mit. Als der Eiserne Vorhang in Ungarn durchlässig wurde, kam eine neue Ausreisebewegung aus der DDR in Gang. Für mich war es schmerzlich, festzustellen: Die da gingen, das waren gerade die jungen Familien. Das waren die Munteren, die sich kümmern wollten und die etwas anderes wollten. Das waren die Freunde und Bekannten, und sie wurden immer weniger. Es wurde mehr und mehr deutlich, dass die DDR ein Staat im Untergang war: ohne wirklichen Rückhalt, angewiesen auf die sowjetische Existenzgarantie und auf eine hermetisch verriegelte Grenze. Meine sehr verehrten Damen und Herren, jeder, der die gefälschten Wahlen in der DDR miterlebt hat oder nachliest, was damals geschehen ist, der müsste den hohen Wert freier Wahlen für eine lebendige Demokratie begreifen. Ich bin neulich gefragt worden, ob ich Verständnis dafür habe, dass so viele Menschen heutzutage nicht wählen wollen oder nicht mehr wählen gehen. Ich bekenne offen: Ich habe kein Verständnis dafür, dass Leute es schick finden, nicht wählen zu gehen. ({1}) Ich habe kein Verständnis für renommierte Journalisten, die ein Buch über Die Machtfrage schreiben und es mit dem Untertitel Ansichten eines Nichtwählers versehen. Dieses Geschwätz könnte zu einem bösen Erwachen führen. Ich jedenfalls will keine Neonazis im Europäischen Parlament haben. ({2}) Ich will sie nicht im Bundestag haben und nicht im Landtag, und ich will sie in keinem einzigen Rathaus haben. Wer diejenigen wirklich ehren will, die vor 25 JahParl. Staatssekretärin Iris Gleicke ren mutig darauf bestanden haben, eine echte Wahl zu haben, der geht wählen und der wählt eine demokratische Partei. ({3}) Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist das Erbe des 7. Mai 1989. Schönen Dank. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Steffi Lemke erhält nun das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Steffi Lemke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002720, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass ausgerechnet eine gefälschte Kommunalwahl der Funke wurde, der die friedliche Revolution 1989 zwar nicht in Gang gesetzt, aber entzündet hat, mag aus heutiger Sicht angesichts geringer Kommunalwahlbeteiligungen oder der Mühen, die alle Parteien im ländlichen Raum haben, Kandidatinnen und Kandidaten für Kommunalwahllisten zu finden, seltsam anmuten. Aber ich glaube, es zeigt hauptsächlich, wie groß, wie gigantisch der Wunsch nach Freiheit und Selbstbestimmung in der damaligen DDR geworden war. Wir haben damals nicht etwa eine Volkskammerwahl, sondern eine gefälschte Kommunalwahl zum Anlass genommen, um endlich aufzubegehren, um nicht nur zu Hause am Abendbrottisch oder im Freundes- und Bekanntenkreis, sondern öffentlich, auf der Straße die Stimme gegen das SED-Regime, gegen Unterdrückung, gegen Bespitzelung, gegen das Eingesperrtsein, gegen Sprech- und Denkverbote und für Presse- und Versammlungsfreiheit zu erheben. Das waren die Motive, die uns damals, im Herbst 1989, ursprünglich auf die Straße gebracht haben. Ich bin Ihnen sehr dankbar, Herr Minister, dass Sie dies hier in der Debatte so differenziert dargelegt haben. Wir haben damals die Stimme erhoben. Wir haben nicht länger nur geträumt von einer Revolution, von einer Verbesserung eines Systems, das wir für grundfalsch hielten. Wir sind für die Veränderung eines diktatorischen Systems eingetreten. Sicherlich waren unsere damaligen Träume teilweise bunt und naiv. Niemand hat das für mich so präzise beschrieben wie

Not found (Gast)

„Wir träumten vom Paradies und wachten auf in Nordrhein-Westfalen.“ ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Kauder, diesen Zuruf hätte ich für verzichtbar gehalten. ({0})

Steffi Lemke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002720, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich mag Nordrhein-Westfalen - offensichtlich im Gegensatz zu Ihnen; vielleicht müssen Sie das fraktionsintern noch einmal klären -, weil es definitiv lebendiger ist als das Paradies, weil ich als Atheistin freien Zugang habe und weil dort viele freundliche Menschen leben. Ich glaube aber, dass dieser Spruch von Joachim Gauck sehr zielsicher beschreibt, wie wir ursprünglich in die friedliche Revolution gestartet sind und wie viele Enttäuschungen uns auf dem Weg danach widerfahren sind. Natürlich ist die Wiedervereinigung im Nachhinein ein Geschenk. Aber sie war nicht das ursprüngliche Ziel vieler gerade junger Leute, ({0}) die 1989 begonnen haben, mit dem Motto „Wir sind das Volk“ auf die Straße zu gehen. Ich habe seitdem oft an unserer Demokratie gezweifelt. Ich bin an unserer Demokratie teilweise verzweifelt. Vieles haben wir nicht erträumt. Vieles wollten wir auch nicht, sei es der Treuhanduntersuchungsausschuss oder 20 Prozent Arbeitslosigkeit, sei es der unaufgeklärte Tod eines Ausländers in einer Polizeizelle in meiner Heimatstadt Dessau - manche erheben sogar den Vorwurf des Mordes -, den bis heute kein Gericht und keine Polizeiinstitution klären konnte, sei es die Bild-Zeitung, seien es Schwarzgeldkonten und Ehrenworte oder sei es ein Bundeskanzler, der Auslandseinsätze mit Vertrauensfragen verbindet. Das ist sicherlich ein subjektives Potpourri, aber es sind Ereignisse gewesen, die mich am Rechtsstaat und an unserer parlamentarischen Demokratie haben zweifeln lassen. Ich glaube, dass keine und keiner sich 1989 und auch nicht 1990 hat träumen lassen, dass wir 25 Jahre nach der friedlichen Revolution in unserem Lande darüber diskutieren, wie wir die Totalüberwachung unserer elektronischen Kommunikation beenden können. ({1}) Ich bin fest davon überzeugt, dass die Freiheit auch in dieser Frage siegen wird. Ich weiß nicht, wann und wie, aber ich bin fest davon überzeugt, dass sie es tun wird. Ich will mit einem Gedanken enden, der mir persönlich sehr wichtig ist. Ich bin letzte Woche in der Eifel und im Hunsrück unterwegs gewesen und habe dort neben Rotäpfelchen das Projekt des Westwalls vorgestellt bekommen, das ich persönlich als sehr faszinierendes Projekt empfinde, weil es die ehemaligen Grenzbefestigungen an der Westgrenze - so wie das Grüne Band an der ehemaligen innerdeutschen Grenze - in unsere historische Erinnerungskultur hineinholen will. Ich glaube, dass dieses Projekt die Unterstützung des Deutschen Bundestages verdient, weil es zur Erinnerungskultur gehört und weil das eine ohne das andere nicht zu denken ist. Ich glaube, dass es deshalb gerade 25 Jahre nach dem Mauerfall die Verantwortung des gesamten Parlaments, von ganz links bis ganz rechts, ist, dafür zu sorgen, dass in diesem Jahr nicht ein neuer Eiserner Vorhang in Europa entsteht. Ich wünsche der Bundesregierung, Frau Merkel, Herrn Steinmeier und Frau von der Leyen, alles Glück und allen Erfolg in dieser Mission. Ich beneide sie darum tatsächlich nicht. Danke. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Michael Kretschmer, dem ich zu seinem heutigen Geburtstag herzlich gratuliere und alles Gute für das neue Lebensjahr wünsche. ({0})

Michael Kretschmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003572, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vielen Dank für die freundlichen Wünsche. - Ich habe nur eine Erinnerung an den 7. Mai 1989, nämlich die, dass ich Klaus Feldmann abends im Fernsehen gesehen habe und mit allem gerechnet habe: mit 80 Prozent, mit 85 Prozent, vielleicht auch mit 90 Prozent. Ich als 14-Jähriger war sprachlos, als dann 99 Prozent verkündet wurden. Ich glaube, in diesem Moment war auch mir klar: Hier wird übel betrogen. Das letzte Mäntelchen von Legitimität, das es noch gab und das für die DDR so wichtig war, ist an diesem Tag weggerissen worden. In der Tat hat an diesem Tag alles begonnen, was dann im Wendeherbst endete. ({0}) Ich verstehe die Rede der Kollegin Lemke nicht. Ich verstehe nicht, wie man das, was 1989 endete, Gott sei Dank endete - jedes Mal, wenn ich zum Brandenburger Tor komme, ist es für mich ein unglaublicher Moment, dort durchgehen zu können; ich erinnere mich, wie wir davor gestanden und dieses Unverständnis verspürt haben, dass da das eigene Land endet, dass es da nicht weiter geht, dass man eingesperrt ist -, in irgendeinen Zusammenhang mit den Einsätzen in Bosnien und der schwierigen Entscheidung, die wir verantwortlich getroffen haben, bringen kann. Ich verstehe nicht, wie man in diesem Moment, in dem es darum geht, diese Diktatur in einer friedlichen Revolution zu überwinden, über Internetüberwachung reden kann, ohne sich Gedanken darüber zu machen, was eigentlich gewesen wäre, wenn die DDR über diese Möglichkeiten verfügt hätte. Hätte es dann diese friedliche Revolution überhaupt gegeben, oder wären all diese Leute, die sich wie auch meine Eltern engagiert haben, irgendwo im Gefängnis oder im Nirgendwo gelandet? ({1}) Deswegen kann ich nur sagen: Gott sei Dank ist das alles vorbei. Was für ein Glück für mich, für meine Schwester, die zwei Jahre jünger ist, und für meinen Bruder, der sieben Jahre jünger ist! Was für eine gigantische Lebenschance, die wir alle bekommen haben, in Bezug auf den Zuwachs an Lebenserwartung, die Gesundheit, die Umwelt! Wir stehen heute in der Verantwortung, daraus etwas zu machen. Wir müssen den jungen Leuten in den neuen Bundesländern sagen: Ihr habt alle Chancen, macht etwas daraus! Wir haben großartige Chancen in der Wissenschaft, in der Bildung, in der Wirtschaft. Wenn ich lese, dass die deutsche Einheit 2 Billionen Euro gekostet hat, dann muss ich sagen: Ich finde, das ist gut angelegtes Geld. ({2}) Denn 1989/90 endeten nicht nur ein Land und eine Diktatur; vielmehr ist auch ein neues Deutschland entstanden. Der Satz ist richtig: Ein besseres Deutschland als das, das wir heute haben, gab es nie. - Das, was die deutsche Einheit gekostet hat, ist gut angelegtes Geld. ({3}) Ich bin froh darüber, dass wir mit unserem Koalitionsvertrag auch einen Beitrag dazu leisten, dass die DDR nicht in Vergessenheit gerät. Mit DDR meine ich ein System der Unterdrückung, eine Ideologie des Sozialismus und des Kommunismus. Darum geht es im Kern: deutlich zu machen, dass diese Ideologie zu Unfreiheit und zu großen Verbrechen führt. Es geht nicht um die DDR als irgendetwas, sondern es geht um eine wirklich schlimme, linke, kommunistische, sozialistische Ideologie. Wir sind dafür dankbar, dass die Robert-HavemannGesellschaft eine wichtige Aufgabe erfüllt. Wir werden sie in diesem Jahr und in der Zukunft mit zusätzlichen Mitteln unterstützen. Wir sind froh darüber, dass Rainer Eppelmann mit der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur klarmacht und auch heute noch Erkenntnisse dazu produziert, wie die SED-Diktatur im Kern gewirkt hat. Ich habe nullkommanull Verständnis dafür, dass man hier berichtet, dass man am 7. Mai 1989 erlebt hat, wie die eigenen SED-Leute die Wahlergebnisse gefälscht haben, und dass man nonchalant dazu übergeht, zu erzählen: Dann saß ich am Runden Tisch und habe da mitdiskutiert. ({4}) Eine richtig gute Aussage wäre doch gewesen, Herr Kollege Hahn: Deswegen bin ich am 7. Mai 1989 aus der SED ausgetreten. ({5}) Das Ganze ist auch eine Frage des Umgangs mit der Geschichte. Natürlich gab es in der DDR eine CDU. Aber was hat diese Partei nach der Wiedervereinigung an Aufarbeitung, an einer Bewertung von Geschichte geleistet? ({6}) Das alles sind Dinge, die Sie als direkte Nachfolgepartei der SED, ({7}) als Partei, die sich bewusst die Stasi als Machtinstrument gehalten hat, nie geleistet haben. Von Ihnen gab es keine Entschuldigung für die Opfer, ({8}) kein Anerkenntnis für das Unrecht in der DDR, ({9}) übrigens auch heute nicht in Ihrer Rede. ({10}) Insofern besteht hier ein großer Unterschied im Umgang mit der Geschichte.

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Herr Kollege Kretschmer, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Wawzyniak?

Michael Kretschmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003572, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte.

Halina Wawzyniak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004185, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege Kretschmer, würden auch Sie, wie ein Großteil des Hauses, zur Kenntnis nehmen - Wiederholung 587 -, dass sich die SED bereits auf dem Sonderparteitag der SED-PDS entschuldigt hat, dass auf diesem Parteitag ein Referat gehalten worden ist, in dem wir mit dem Stalinismus als System unwiderruflich gebrochen haben, dass wir in unserer Partei beispielsweise Beschlüsse haben, die besagen, dass man, bevor man kandidiert, seine Biografie offenlegen muss? Würden Sie zur Kenntnis nehmen, dass es einen Vergleich mit der Treuhandanstalt gegeben hat, nach dem wir finanziell bei null angefangen haben? ({0}) - Ich weiß, dass Sie das nicht hören wollen. Sie haben das Geld der CDU Ost eingesackt. ({1}) Deswegen wollen Sie nicht hören, wie es bei uns war. ({2}) Würden Sie also zur Kenntnis nehmen, dass wir einen 25-jährigen Prozess der permanenten Aufarbeitung der eigenen Geschichte hinter uns haben ({3}) und mit dem Stalinismus als System unwiderruflich gebrochen haben? ({4})

Michael Kretschmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003572, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich nehme zur Kenntnis, dass es keine andere Partei im Deutschen Bundestag oder in einem Länderparlament gibt, in dem Stasimitarbeiter Parlamentsabgeordnete sein können. ({0}) Das ist etwas, was ich zur Kenntnis nehme und was ich in vielen Länderparlamenten gesehen habe. Meine Damen und Herren, wie wichtig es ist, die eigene Geschichte aufzuarbeiten und ein klares Verhältnis dazu zu haben, sehen wir meines Erachtens gerade in Russland und in der Ukraine. Es ist total wichtig, Klarheit zu haben und dem entgegenzutreten, dass der russische Präsident sagt: Der Untergang der Sowjetunion ist die größte Katastrophe des 21. Jahrhunderts. - Nein, so ist es nicht. Für uns ist es wichtig, dass die Geschichte vernünftig aufgearbeitet wird und auch lebendig bleibt. Deswegen werden wir in den nächsten Wochen eine Kommission einberufen, die für die zukünftige Arbeit der Stasi-Unterlagen-Behörde Empfehlungen ausspricht. Uns ist wichtig, dass es diese Institution weiter gibt. Wir sind froh darüber, dass wir im Koalitionsvertrag gemeinsam vereinbaren konnten, dass die ehemalige Stasizentrale in Berlin-Lichtenberg zu einem Ort der Aufklärung über Diktatur und Widerstand wird. Meine Damen und Herren, noch einmal: Am 7. Mai 1989 begann etwas Großartiges, eine große Geschichte für unser Land. Es ist ein großer Tag, und es ist gut, dass wir ihn heute so miteinander begehen. ({1})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Ich erteile jetzt das Wort der Kollegin Steffi Lemke zu einer Kurzintervention.

Steffi Lemke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002720, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Kollege Kretschmer, damit, dass Sie meine Rede nicht verstehen, kann ich leben. ({0}) Ich will Sie nicht noch tiefer reinreiten; ich möchte nur fürs Protokoll festhalten, dass ich keinen Zusammenhang zwischen Bosnien und der friedlichen Revolution oder den Wahlen am 7. Mai 1989 hergestellt habe. ({1}) Vielleicht wollen Sie das einmal in Ruhe nachlesen.

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Herr Kollege Kretschmer, möchten Sie darauf noch antworten? - Bitte schön.

Michael Kretschmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003572, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, Sie haben mit Bezug auf Gerhard Schröder diesen Hinweis gebracht. Ich habe da nichts zurückzunehmen. Noch einmal: Ich finde, was wir 1989 überwunden haben ({0}) - ja, was wir miteinander überwunden haben -, war etwas so Schlimmes und es hätte so furchtbar geendet, dass man es mit nichts in Verbindung bringen kann oder mit nichts abwägen kann, was in einer Demokratie an schwierigen Entscheidungen, auch unangenehmen Entscheidungen zu treffen ist, an schwierigen Prozessen zu bewältigen ist. Gott sei Dank können wir hier im Haus miteinander diskutieren, können schwierige Entscheidungen treffen, ohne Angst haben zu müssen, was uns passiert, wenn wir nach Hause gehen. ({1}) Das, finde ich, sollte man nicht durcheinanderbringen. ({2})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Nächste Rednerin in der Debatte ist die Kollegin Monika Lazar, Bündnis 90/Die Grünen.

Monika Lazar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003714, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bis zur letzten Rede war das eine sehr angemessene Debatte. Aber ich fand die Rede vom Vorredner der CDU unpassend. Sich das vorzuwerfen, muss, finde ich, heute nicht sein. ({0}) Man kann sagen: Weder die Ost-CDU noch die damalige SED sind die Erben der Bürgerinnen-und-BürgerBewegung. Die Erben waren, wenn überhaupt, Bündnis 90 und die Grünen sowie die Ost-SDP. ({1}) - Ihr wurdet einfach nur übernommen - genauso wie die Bauernpartei. ({2}) Das gehört zur Wahrheit dazu und auch die Rolle von Herrn Tillich bis 1989. ({3}) Ich wollte es eigentlich nicht erwähnen, aber nun sage ich es doch. ({4}) Ich bin in Leipzig geboren, habe Ende der 80er-Jahre in Leipzig studiert, und die Wahl vor 25 Jahren war meine erste Wahl. Ich war stolz, nicht zum Zettelfalten zu gehen, sondern den Mut zu haben, richtig wählen zu gehen. Auch in Leipzig und Umgebung wurde die Wahl beobachtet. Es wurde aufgerufen, mit Nein zu stimmen. Auch in der DDR gab es Wahlkabinen. Die hat nur niemand benutzt, weil klar war: Wer dort hineingeht, macht wahrscheinlich irgendetwas, was nicht korrekt ist. Damals, vor 25 Jahren, haben wir die Wahlkabinen benutzt. Um mit Nein zu stimmen, musste man jeden einzelnen Vorschlag mit dem „Wahlbesteck“, mit Lineal und Kuli, einzeln durchstreichen; das dauerte eine Weile. Wenn man herauskam, hatte man garantiert einen Vermerk an seinem Namen und danach sozusagen in der Akte. Aber da man nicht allein war, sondern es durchaus mehrere gab, hatte auch ich den Mut und war danach ganz stolz. Das war aber nur der erste Teil. Um 18 Uhr waren wir wieder im Wahllokal, um bei der Auszählung dabei zu sein; wir wollten das beobachten. Auch das war in der DDR völlig legal. Alle Auszählungen waren öffentlich. Da ist nur niemand hingegangen, weil klar war: Es wählen sowieso 99 Prozent die Kandidaten der Nationalen Front. In dem Wahlbüro, wo ich war, hat man zum Beispiel versucht, die Neinstimmen als ungültig zu werten. Dagegen haben wir protestiert. Dann hat man versucht, das irgendwie anders hinzubekommen. An dem Abend gab es eine Demonstration in Leipzig; das ist vorhin schon angesprochen worden. Es gab auch einen Beschluss der Synode der evangelischen Landeskirche in Sachsen mit dem Aufruf, entweder nicht zur Wahl zu gehen oder die Wahlkabine zu benutzen. Als am nächsten Tag das offizielle Ergebnis verkündet wurde, konnten alle diejenigen, die dabei gewesen waren, nur lachen, weil sie wussten: Ungefähr 10 Prozent waren Gegenstimmen. Zu dem Tag, denke ich, kann man sagen: Diese Kommunalwahl war ein Puzzleteil im Vorfeld der friedlichen Revolution; denn die Menschen haben sich immer weniger bieten lassen und sind immer mutiger geworden. Ich hätte, ehrlich gesagt, nicht gedacht, dass die Friedensgebete in der Leipziger Nikolaikirche innerhalb von wenigen Monaten zu Montagsdemos in Leipzig führen würden, dass es schon im März 1990 die ersten freien und ungefälschten Wahlen geben würde und dass ich im Jahr 1990 in Wahllokalen die Wahlen leiten würde. Zehn Monate davor habe ich noch beobachtet. Ich war in den entscheidenden Jahren bzw. in der entscheidenden Zeit in Leipzig dabei und kann immer noch sagen: Das waren für mich die spannendsten Jahre meines Lebens. Man wusste, als man im September 1989 auf die Straße ging, nicht, was passieren würde. Es war gefährlich. Dann bekam die Entwicklung eine sehr große Eigendynamik. Ich denke aber: Diese Wahlen vor 25 Jahren haben das Ende der DDR mit eingeleitet. Das miterlebt zu haben, stärkt einen noch bis heute - manchMonika Lazar mal auch bei den politischen Streitereien im Bundestag oder auf anderen Ebenen. Denn wer kann schon sagen: „Ich war bei einer Revolution - und dann noch bei einer friedlichen - dabei“? Danke schön. ({5})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Für die SPD-Fraktion hat jetzt das Wort Wolfgang Tiefensee. ({0})

Wolfgang Tiefensee (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004176, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Zusammenhang mit dem 7. Mai 1989 würde ich gerne über Zivilcourage sprechen. Es gibt ein einfacheres Wort mit drei Buchstaben dafür: Mut. Der 7. Mai 1989 ist ein wichtiger Markstein des Countdowns, der am Ende zum Sturz des DDR-Regimes geführt hat. Ich wünschte, hier im Haus - von der einen Seite bis zur anderen Seite würden alle glasklar sagen: Die DDR war ein Unrechtsstaat, eine Diktatur. Punkt! Das sieht man an der Wahlfälschung. ({0}) Diese klare Botschaft muss man zum Ausdruck bringen. Wem verdanken wir nun den 9. November, der letztlich mit dem am 7. Mai beginnenden Countdown seinen Anfang nahm? Wir verdanken ihn mutigen Menschen. Da stehen die ganz Großen - Friedensnobelpreisträger Willy Brandt und Gorbatschow - im Rampenlicht. Da stehen ein Vaclav Havel und ein Lech Walesa im Rampenlicht. Im Kern aber waren es mutige Menschen, die ihre Angst überwunden haben; denn der Nährboden für Diktatur ist, dass es einem Regime gelingt, Angst zu verbreiten. Sehr verehrter Kollege de Maizière, ich darf Sie bitten, wenn es um den 9. November geht, nicht der Versuchung zu erliegen, vielleicht doch am Ende zu sagen: Es ist Helmut Kohl gewesen, der die Mauer eingerissen hat. ({1}) Nein, mit Blick auf den 9. November - die Feierlichkeiten stehen an - wäre es gut, wenn die Bürgerinnen und Bürger, das Volk, im Mittelpunkt stehen würden. ({2}) Es gibt in Deutschland mehrere Tendenzen, die uns nicht unberührt lassen dürfen. Ich möchte drei ansprechen, um konkret zu sagen, was wir jetzt tun müssen: Erstens geht es um Politikerverachtung, Politikverdrossenheit sowie um die Differenz zwischen politischem Handeln und der Bequemlichkeit des Bürgers. Wir müssen etwas tun, damit Menschen von Kindheit an sozusagen Muskeln dafür bekommen, sich zu artikulieren, einen eigenen Standpunkt zu erlangen, sich in die eigenen Angelegenheiten einzumischen und von der eigenen Unmündigkeit wegzukommen. Das fällt nicht vom Himmel. Wir müssen darüber diskutieren, wie wir mit Volksbefragungen, Volksbegehren und Volksentscheidungen die Bürger noch dichter an die politischen Entscheidungen heranbringen. Ich fordere Sie auf, es meiner Heimatstadt und vielen anderen Städten gleichzutun und Jugendparlamente einzurichten, damit man lernt, wie das geht. Die Piraten haben eine nicht uninteressante Diskussion angefacht: Wie ist es mit Liquid Democracy? Müssen wir nicht irgendwann einmal auch neue, moderne Instrumente des 21. Jahrhunderts nutzen? Zweitens. Der Mainstream - so sagt Heitmeyer - bis weit in die Bevölkerung hinein ist Ausländerfeindlichkeit bzw. Ausländerverachtung. Es geht darum, diesen Mainstream, der immer weiter in die Gesellschaft hineinreicht, zu brechen. Wir müssen Initiativen stärken, die das tun. ({3}) Ich bin Manuela Schwesig sehr dankbar, dass sie am vergangenen Mittwoch solche Initiativen eingeladen hat. Dabei hat sie auch gesagt, dass sie die Förderung auf den Prüfstand stellen will. Wir brauchen unter Umständen mehr institutionelle und langfristigere Förderung. ({4}) Ich stelle Ihnen das Projekt WorldCitizen in Berlin vor. Hier hat sich Salahdin Said - er ist in RheinlandPfalz geboren - die Frage gestellt: Warum werde ich angesichts meines Aussehens immer nur danach gefragt, woher ich komme, und nicht, welche Talente und welchen Charakter ich habe? - Wir brauchen Gesprächsformen. Das müssen wir unterstützen. Ich rege an, dass wir uns mit aller Kraft bis hinein in unsere Haushaltsgesetzgebung dafür einsetzen, dass diese Initiativen gestärkt werden. ({5}) Und das Dritte: Ein Problem ist, dass die rechtsextremen und rechtsradikalen Gedankengüter immer weiter in die Mitte der Gesellschaft rücken. In Pirna beispielsweise - das ist ein Ort nahe Dresden; Dresden war im Herbst 1989 nicht unwichtig, genauso wie Plauen und Leipzig - hat sich eine Initiative um Sebastian Reißig gegründet, die sich Aktion Zivilcourage nennt. Meine Damen und Herren, es ist auf dem flachen Lande nicht so einfach, gegen rechts aufzutreten, wie zum Beispiel in einer großen Stadt auf einer Demonstration. Auch solche Initiativen zu stärken und dafür zu sorgen, dass sie genug Substanz behalten, dass aus diesem bürgerschaftlichen Engagement Mut erwächst, muss unsere Aufgabe sein. Darauf müssen wir den Fokus richten. Meine Botschaft ist: Mein Wohl ist nicht Gemeinwohl. Auf die eigenen Fußspitzen zu schauen und nur den eigenen Bereich zu sehen, macht verzagt. Was wir brauchen, ist ein Ausbrechen aus der eigenen Unmündigkeit, ein In-die-Hand-Nehmen des eigenen Schicksals, eine Kultur des selbstständigen Denkens und auch des Widerstehen-Könnens. Dafür müssen wir alle Möglichkeiten nutzen, die uns als Politikerinnen und Politiker gegeben sind, damit nie wieder, nicht einmal im Ansatz, so etwas passiert, was wir heute als Diktatur und Unrechtsstaat bezeichnen müssen. Vielen Dank. ({6})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Nächster Redner ist Dr. Christoph Bergner, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Christoph Bergner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003505, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Hahn, ich habe Ihrer Rede sehr aufmerksam zugehört, auch weil Sie der Einzige aus den Reihen der Linken sind, der zu dieser Debatte spricht. Ich will schon sagen, dass Ihre Aussagen ein wenig glaubwürdiger gewesen wären, wenn Sie bei der Aufzählung der damals handelnden Personen nicht nur die Rollen von Stanislaw Tillich und von Gregor Gysi beleuchtet hätten, sondern auch gesagt hätten - das haben Sie leider verschwiegen -, dass der Ehrenvorsitzende der PDS, Hans Modrow, wegen Anstiftung zur Wahlfälschung rechtskräftig verurteilt wurde. Auch das zu sagen, hätte zu einem vollständigen Bild gehört. ({0}) Die Debatte zeigt, dass das Datum, an das wir heute erinnern, untrennbar in den Kontext der Erinnerung an die friedliche Revolution vor 25 Jahren gehört. Das, was sich heute vor 25 Jahren ereignete, war ein Meilenstein, wahrscheinlich sogar ein Wendepunkt in der Geschichte der friedlichen Revolution. Es ist richtig, Kollege Tiefensee, hier die Zivilcourage zu würdigen. Ich finde, die Debatte ist ein guter Anlass, diejenigen zu würdigen, die damals den Mut und die Selbstlosigkeit hatten, die Wahlergebnisse systematisch auf der Grundlage des bestehenden Wahlgesetzes zu überprüfen. Wir sollten vielleicht ein wenig vorsichtig sein, an dieser Stelle schon von „Volk“ zu sprechen. Denn nach meiner Erinnerung waren es nicht so sehr viele, die dies taten und die dann zum Beispiel bei mir zu Hause in Halle nach Feststellung offenkundiger Ungereimtheiten in einem offenen Brief an die gewählten Kommunalvertreter darauf aufmerksam machten, dass sie bei der Wahrnehmung ihres Mandates doch bedenken sollten, dass sie im Zuge eines offenkundig gefälschten Wahlergebnisses ins Amt gekommen sind. Oder ich denke an diejenigen, die in Leipzig spontan reagierten und am Abend der Wahlfälschung demonstriert haben. ({1}) Meine Damen und Herren, es hat bis zum heutigen Tage nicht an Versuchen gefehlt, diese Wahlfälschungen zu bagatellisieren. Die Versuche erstreckten sich auch auf die Prozesse gegen die Wahlfälscher. Weil wir alle die Person kennen, erlaube ich mir, Otto Schily zu zitieren, der Strafverteidiger der Wahlfälscher in Dessau war. Er hat eine interessante Argumentation - wohlgemerkt, in seiner Verteidigerrolle; ob es seine Überzeugung war, sei dahingestellt - aufgebracht: Die Scheinwahlen in der DDR waren das Gegenbild demokratischer Wahlen, das rechtsstaatliche System der Bundesrepublik kompromittiert sich durch ihren nachträglichen Schutz. Will sagen: Weil die Wahlen in der DDR keine wirklichen Wahlen waren, gab es auch keine strafrechtlich zu verfolgenden Wahlfälscher. ({2}) Es hat erst der Rechtsprechung des BGH bedurft, um klarzustellen, dass das Strafrecht der DDR, das ja eine Verfolgung von Wahlfälschungen beinhaltete, auch in diesem Fall der Wahlfälschungen zu Recht anzuwenden ist. Ich kann die Argumentation von Otto Schily in einem Punkt durchaus verstehen. Diese Wahlen waren absurdes Theater: Eine Einheitsliste wurde unter Aufsicht erstellt. Es gab keinerlei Möglichkeiten zu Alternativentscheidungen. Es ist surreal, einen solchen Vorgang Wahlen zu nennen. Auch wenn man zu dem Schluss kommt, dass es sich letztendlich um einen Akklamationsritus einer selbstgefälligen Staatsmacht gehandelt hat - das lässt sich durch viele Zitate belegen -, so sollten wir doch bedenken, wie bedeutsam es war, dass nicht alle bei diesem Ritus mitgemacht haben. Ich selbst habe relativ lange gebraucht - nicht bis 1989, aber bis weit in die 80er-Jahre hinein -, bis ich die Notwendigkeit erkannte und den Mut fand, in die Wahlkabine zu gehen und den vorliegenden Zettel so zu behandeln, dass ich hoffen konnte, dass er als Gegenstimme gewertet wurde. Das war in der DDR gar nicht so einfach. Man musste sich belehren lassen, dass jeder Name einzeln durchzustreichen war. Alles andere wurde nicht als Gegenstimme gewertet. Mit diesem Schritt habe ich mich eingereiht in die Zahl von Leuten, die wohl erkannt haben, dass diese Wahlen kein Instrument der Volkssouveränität waren und dass es überhaupt keine Entscheidungsalternativen gab, über die man reden konnte. Die Gegenstimme hatte aber deshalb eine Bedeutung, weil die Wahlen eine Loyalitätsabforderung des totalitären Staates war. Sie waren sozusagen ein Instrument zur organisierten Unterwerfung eines Volkes geworden. Herr Hahn, weil es das Neue Deutschland heute noch gibt, habe ich die Ausgabe des Neuen Deutschlands vom 8. Mai 1989 mitgebracht. ({3}) Dort stand unter der Überschrift „Eindrucksvolles Bekenntnis zu unserer Politik des Friedens und des Sozialismus“, dass 98,85 Prozent für die Kandidaten der Nationalen Front gestimmt hätten. Das ist das Unterwerfungsdokument, um das es ging.

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Herr Kollege Bergner, denken Sie an die Redezeit.

Dr. Christoph Bergner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003505, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja. - Um zu verschleiern, dass es Menschen gab, die sich nicht unterwerfen ließen, und um zu verhindern, dass die Zahl dieser Menschen transparent wurde - sie hätten ja Vorbild werden können; letztendlich sind sie 1989 Vorbild geworden -, hat man Wahlen gefälscht. Deshalb war der Kampf gegen die Wahlfälschung so bedeutsam, und nicht deshalb, weil die Entscheidung, um die es ging, so bedeutsam war. Das Bekenntnis derjenigen, die sich der Unterwerfung durch den Staat verweigert haben, wurde daher wegen seiner gefürchteten Beispielwirkung über Jahrzehnte verschwiegen.

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Das ist ein wunderbarer Schlusssatz.

Dr. Christoph Bergner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003505, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte noch ein letztes Mal, Frau Präsidentin, auf Herrn Hahn eingehen. Sie haben die Frage gestellt: Warum war die SED mit 88 und 89 Prozent nicht zufrieden? Sie war deshalb nicht zufrieden, weil es bedeutet hätte, dass es 11 bis 12 Prozent gab, die das Ritual nicht mitmachten. Beim nächsten Mal wären es 20, 30 oder 40 Prozent gewesen. Das ist 1989 endlich so geschehen. Herzlichen Dank. ({0})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist die Kollegin Hiltrud Lotze, SPD-Fraktion. ({0})

Hiltrud Lotze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004344, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! In meinem Wahlkreis Lüchow-Dannenberg und Lüneburg liegt die Gemeinde Amt Neuhaus, direkt am östlichen Ufer der Elbe, die bis 1989 Niedersachsen und Mecklenburg und damit auch die Bundesrepublik und die DDR voneinander trennte. Solange sich die Menschen dort erinnern konnten, gehörte die Gemeinde Amt Neuhaus zur Provinz Hannover. 1945 haben die Briten die Gemeinde an die Sowjetische Besatzungszone übergeben, weil es zu schwierig war, die Gemeinde über die Elbe hinweg mit Lebensmitteln und all dem, was nötig war, zu versorgen und zu unterstützen. 1952 kam dann die Sperrzone, und es wurde ein übermannshoher Zaun errichtet. Von da an konnten die Menschen in dieser Gemeinde nicht mehr auf ihre Elbe schauen. Es kam die Aktion Ungeziefer mit den Zwangsaussiedlungen; das alles ist Ihnen bekannt. 1993 kam die Gemeinde durch einen Staatsvertrag zurück nach Niedersachsen. Es war, wie es eine Zeitzeugin beschreibt, eine Welt, wie mit Brettern zugenagelt, bis am 9. November 1989 die Mauer fiel, in den Wochen danach die Zäune abgebaut wurden und der Blick auf die Elbe wieder frei war. Für die Menschen in Amt Neuhaus und auch an anderen Stellen der Elbe war dieser Blick auf die Elbe der Inbegriff der Freiheit. Ich erinnere mich noch sehr genau an mein eigenes Gefühl und an das, was ich am 9. November und an den Tagen danach erlebt habe. Die Menschen haben das Gefühl der Freiheit quasi aufgesogen. Wir alle haben eine unbändige, tiefe und ehrliche Freude empfunden über das Ergebnis der friedlichen Revolution, die unser Land und damit ganz Europa nachhaltig verändert hat. Bis dahin war es ein langer Weg; das ist schon angedeutet worden. Der Weg begann - das möchte ich an dieser Stelle deutlich sagen - mit Willy Brandt und der neuen Ostpolitik. Ein weiterer wichtiger Markstein war der 7. Mai 1989, an den wir heute erinnern. Es war der Beginn der friedlichen Revolution und der Stein, der alles ins Rollen brachte. Das DDR-Regime wurde an diesem Tag endgültig des Wahlbetrugs entlarvt und verlor bei den Menschen jede noch verbliebene Glaubwürdigkeit. Mutige Menschen - das ist schon mehrfach gesagt worden wollten sich nicht länger für dumm verkaufen lassen. Sie sind in die Wahllokale gegangen und haben die Auszählung der Stimmen beaufsichtigt. So konnten sie am Ende des Tages beweisen, was vorher schon viele vermutet haben: dass die fast 99 Prozent Zustimmung für die Einheitsliste eine Lüge waren. Der lautstarke Protest, der sich an diesem Wahlbetrug entzündete, war der erste Schritt zur Selbstbefreiung. Diese Selbstbefreiung hatte noch 1989 für viele einen hohen Preis, indem sie verfolgt und bespitzelt wurden und zum Teil noch in Haft kamen. Die Menschen haben aber diesen hohen Preis um der Freiheit willen gerne in Kauf genommen. Es war der Wille zur Freiheit, der sich an diesem Tag manifestiert hat und die deutsche Einheit am Ende ermöglicht hat. Auch ich sage es an dieser Stelle wirklich gerne, liebe Kolleginnen und Kollegen: Der heutige Tag ist ein Anlass, diesen Menschen für ihr Engagement und ihren Mut Dank zu sagen. Herzlichen Dank! ({0}) Dass wir heute an diesen Tag erinnern und die Geschehnisse würdigen, ist richtig und wichtig. Wir können aber nicht in dieser Rückschau verharren. Auch ich möchte deswegen den Blick in die Gegenwart lenken. Dass wir in einer Demokratie leben und an freien Wahlen teilhaben können, ist nicht selbstverständlich. Wir haben hier gehört: Auch in der Zeit der Nazidiktatur haben die Menschen erlebt, was es bedeutet, nicht frei wählen zu können. Die Demokratie und die Freiheit, die wir heute haben, sind hart erkämpft, und sie haben vor 25 Jahren buchstäblich die Mauern eingerissen. Heute ist unsere Freiheit so groß wie nie zuvor. Aber wie steht es um den Willen der Menschen, unsere Demokratie zu verteidigen und sie lebendig zu halten? Unsere Demokratie ist für viele eine banale Selbstverständlichkeit geworden, um die sie sich nicht mehr bemühen. Wir sind mit sinkender Wahlbeteiligung, mit einem Rückzug der Menschen ins Private und mit Gleichgültigkeit konfrontiert. Die Menschen nehmen sich eben auch die Freiheit - das ist die Kehrseite der Medaille -, sich nicht an der Mitgestaltung unserer Gesellschaft und an Wahlen zu beteiligen. Damit können wir uns aber nicht zufriedengeben. Wenn nur 50 Prozent der Menschen zu einer Kommunalwahl gehen, dann ist das für uns ein Hinweis - darauf hat mein Kollege Wolfgang Tiefensee eben schon ausführlich und gut hingewiesen -, dass wir diesen Mut zur Demokratie, den wir vor 25 Jahren hatten, wieder wecken müssen. Wo ist sie denn hin, die Begeisterung für die Freiheit, die Begeisterung, Verantwortung zu übernehmen, die Begeisterung für die Demokratie, und wie wecken wir sie vor allen Dingen wieder? Das ist die entscheidende Frage, die wir uns im Zusammenhang mit dem Erinnern und Gedenken an die friedliche Revolution stellen müssen. Ich freue mich auf diese Debatte und halte sie für sehr wichtig. Ich möchte aber trotzdem damit schließen, dass ich kein besseres System als unsere Demokratie sehe. Vielen Dank. ({1})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Das Wort hat jetzt der Kollege Arnold Vaatz, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Arnold Vaatz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003248, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ganz besonders möchte ich mich heute an die vielen jungen Leute wenden, die unsere Debatte hier verfolgen. Ihr werdet euch fragen: Was hat denn das eigentlich für einen Sinn, dass wir hier über Wahlen reden, die 25 Jahre her sind und über die der Kollege Bergner ganz zu Recht sagt: „Das waren überhaupt keine Wahlen, das waren reine Unterwerfungsrituale“? Wozu reden wir also darüber? Diese Frage möchte ich beantworten. Man kann die Debatte heute nicht verstehen, ohne zu wissen, was es heißt, dass eine ganze Generation - und auch noch eine halbe Generation danach - einen permanenten Freiheitsentzug erlitten hat. Das ist ein Problem: Man kann die Wirkungen eines solchen Freiheitsentzugs im Allgemeinen niemandem erklären, der ihn nicht selber erlebt hat. - Das ist das Erste. Das Zweite ist: Diejenigen, die diesen Freiheitsentzug verursacht haben, setzen im Allgemeinen genau darauf, dass er nicht vermittelbar ist, und knüpfen daran die Strategie, die Zeit damals unzulässigerweise mit der Zeit heute zu verknüpfen. Auf diese Weise werden Dinge, die uns, die wir dies erlebt haben, klar sind, den jungen Leuten plötzlich wieder unklar. Der Wert dieser Debatte, meine Damen und Herren, liegt darin, diese Dinge zu vermitteln. Sie erkennen vielleicht, mit welch einer Leidenschaft heute über einen Umstand gesprochen wird, der uns einmal wahnsinnig umgetrieben hat. Was muss man dabei wissen? Man muss wissen, dass wir eine Geschichte erlebt haben - jedenfalls alle, die schon etwas älter waren -, die überaus deprimierend war. Wir haben am Rand des sowjetischen Imperiums gelebt. Die gesamte bisherige Geschichte war so verlaufen, dass es am Rand dieses Imperiums Ausbruchsversuche gegeben hat und diese aus dem Zentrum dieses Imperiums regelmäßig mit Gewalt niedergeschlagen worden sind, oftmals mit Hunderten und Tausenden von Toten wie beispielsweise in Ungarn 1956. Weil wir wussten, dass Aufbegehren bisher immer lebensgefährlich war, hat es so lange gedauert, bis es schließlich im Jahr 1989 so weit war. Ich will in diesem Zusammenhang mit der Legende aufräumen, dass die Entwicklung ausschließlich unserem Mut oder der Verleugnung der Gefahr geschuldet gewesen wäre; ganz im Gegenteil. Ich will darauf hinweisen, dass die Jahre von 1985 bis 1989 für Ostdeutschland zwar ökonomisch verheerende Jahre waren, weil wir gesehen haben, wie die gesamte technologische Entwicklung in der Welt wie eine Lokomotive in der Ferne verschwindet, während wir als abgehängter Waggon zurückbleiben. ({0}) Aber politisch waren es - meine Damen und Herren, jetzt werden Sie staunen - optimistische Jahre. Warum? Weil in diesem russischen Imperium zum ersten Mal Peripherie und Zentrum die Rollen gewechselt hatten. Auf einmal war es so, dass in Moskau selber eine Dynamik der Reform entstanden ist, verbunden mit dem Namen Michail Gorbatschow. Dies hat uns die Hoffnung gegeben, dass jetzt der Moment gekommen sein könnte, dass unser Aufbegehren nicht mehr damit endet, dass es in Blut erstickt wird. Das ist der Grund, weshalb man in Ostdeutschland mutiger geworden ist, weshalb - da muss ich sogar noch ein bisschen positiver über die DDR reden, als das gerade Herr Hahn getan hat - damals in Dresden sogar eine Art Wahlkampfatmosphäre aufgekommen ist. Die Kandidaten der Nationalen Front - wie wir gerade gehört haben - wurden auf öffentlichen Veranstaltungen mit Fragen konfrontiert, auf die sie bislang keine Schulung vorbereitet hatte. ({1}) Das hatte die Konsequenz, dass die sonst üblichen Antworten, die da lauteten: „Auf Provokationen antworten wir hier gar nicht“, sofort zu Tumulten führten. ({2}) In der Evangelischen Akademie in Meißen hatte der damalige Präses der Landessynode, Herr Domsch, gesagt, er hätte sich beim Rat des Kreises erkundigt: Es sei diesmal möglich, die Wahlen zu kontrollieren und bei der Auszählung zugegen zu sein. Wir wussten natürlich - alte sozialistische Regel -: Es kommt nicht darauf an, wer wählt, es kommt darauf an, wer zählt, nicht wahr? ({3}) Aus diesem Grund haben wir uns in Dresden aufgemacht und mit vielen Gruppen - Herr Hahn hat das eben aus Berlin berichtet - die Wahl überwacht. Wir haben festgestellt: Das Ergebnis beträgt ungefähr 80 bis 85 Prozent. Wir haben dann auf die Verkündung der Ergebnisse gewartet. Der sich daraus ergebende Befund ist schon mehrfach erläutert worden. Was kam dann? Sie wissen es: Das war eine kalte Dusche für den politischen Optimismus. Die Menschen haben sich überlegt: „Jetzt oder nie!“ und sind in Scharen nach Ungarn abgewandert. Es kam zu einer Ausreisewelle und schließlich zu dem, was wir die sogenannte Wende ({4}) oder die Vorgeschichte der deutschen Einheit nennen. Nun ist es richtig, Herr Tiefensee: Helmut Kohl hat die Mauer nicht zu Fall gebracht. Aber als sie dann weg war, hat er ganz wesentlich die Voraussetzungen für die Wiedervereinigung geschaffen. ({5}) - Nein, nein, das müssen Sie sich schon anhören. ({6}) - Lassen Sie mich mal ausreden! Frau Präsidentin, der Herr unterbricht mich die ganze Zeit, das ist unglaublich.

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Solange das nicht zu lange wird, Herr Kollege.

Arnold Vaatz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003248, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, ja. - Er hat die Voraussetzung dafür geschaffen ganz anders, als das der damalige SPD-Mann Lafontaine vorgeschlagen hat -, dass es tatsächlich einen Weg zur Wiedervereinigung Deutschlands in Frieden und Freiheit und zur Wiedervereinigung Europas gegeben hat. ({0}) Er hat die Selbstbestimmung der Länder im Verhältnis zwischen Deutschland und Russland zum Thema seiner Politik gemacht. Ohne das hätte es keine europäische Erweiterung gegeben. Das ist die wirkliche Großtat, für die wir den Grundstein gelegt haben. Ich danke Ihnen, Frau Präsidentin, dass Sie mir ein paar Sekunden Redezeit mehr gegeben haben. Vielen Dank. ({1})

Ulla Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002019

Vielen Dank. - Ich konnte jetzt so großzügig sein, weil Sie der letzte Redner heute waren. Ich schließe die Aussprache. Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung angekommen. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 8. Mai 2014, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.