Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz, liebe
Kolleginnen und Kollegen.
Vor Eintritt in die Tagesordnung möchte ich Sie darüber informieren, dass nach einer interfraktionellen Vereinbarung die Unterrichtung der Bundesregierung zum
Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes auf Drucksache 18/1283 federführend dem Ausschuss für Arbeit und Soziales sowie zur Mitberatung dem Ausschuss für Recht und
Verbraucherschutz und dem Ausschuss für Ernährung
und Landwirtschaft überwiesen werden soll. Sind Sie
damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so
beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Kabinettssitzung mitgeteilt: Entwurf eines Gesetzes zur
Reform der Besonderen Ausgleichsregelung für
stromkosten- und handelsintensive Unternehmen.
Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Bericht hat
der Bundesminister für Wirtschaft und Energie, Herr
Sigmar Gabriel. - Bitte, Herr Minister.
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Sie wissen, dass es im Rahmen des ErneuerbareEnergien-Gesetzes schon immer eine besondere Ausgleichsregelung gab. Diese regelte, dass für Unternehmen, die besonders energieintensiv sind, die EEG-Umlage bis auf einen Mindestbeitrag begrenzt werden
sollte. Der Grund dafür ist klar: Wir in Deutschland sind
unter anderem deswegen besser durch die Krise gekommen als viele andere Länder auf der Welt, weil wir einen
starken industriellen Sektor und einen starken Sektor des
verarbeitenden Gewerbes mit einem relativ hohen Anteil
an energieintensiven Unternehmen haben. Solange andere Länder keine ähnliche Klima- und Energiepolitik
wie Deutschland betreiben, ist es nötig, unsere Unternehmen im internationalen Wettbewerb zu schützen.
Zum Vergleich: Bereits heute haben die Vereinigten
Staaten nur halb so hohe Strompreise wie Europa, und
innerhalb Europas liegt Deutschland mit an der Spitze.
Der Grund dafür ist nicht allein die Produktion von unkonventionellem Gas in den Vereinigten Staaten, sondern auch das Fehlen vieler der Auflagen und Steuern,
die man in Europa kennt, und vor allen Dingen das Fehlen von Zusatzbelastungen, wie sie auch durch die Energiewende und durch den Ausbau der erneuerbaren Energien zustande gekommen sind.
In den letzten Jahren wurde immer wieder debattiert,
wie sich die Ausnahmeregelung bezüglich der EEG-Umlage für die deutsche Industrie weiterentwickeln soll. Im
vergangenen Jahr, am 18. Dezember 2013, leitete die
Europäische Kommission ein Verfahren gegen das EEG
2012 ein, da sie die Ausnahmeregelungen für 2013 und
2014 für nicht vereinbar mit dem Beihilferecht der Europäischen Union hält. Wir als Bundesregierung waren
aufgrund dieses Klageverfahrens am Anfang dieser Legislaturperiode gezwungen, im Rahmen der Neugestaltung des EEG mit der Europäischen Kommission über
die Frage zu reden, wie denn ein beihilfefähiges, ein notifizierungsfähiges EEG aussehen kann und wie die Ausnahmeregelung für die deutsche Industrie, die besonders
energieintensiv ist und im internationalen Wettbewerb
steht, in Zukunft ausgestaltet werden muss.
Wir haben lange verhandelt und sind, wie ich finde,
zu einer ausgesprochen guten Lösung gekommen. Die
EU-Kommission hat allerdings Wert darauf gelegt, dass
die Lösung, die sie in den neuen Beihilfeleitlinien für
Umwelt und Energie vorschlägt, für ganz Europa gilt
und nicht nur für Deutschland. Für uns war dies keine
ganz einfache Herausforderung; denn aufgrund der Zusatzkosten Deutschlands von mehr als 20 Milliarden
Euro durch die erneuerbaren Energien, die in keinem anderen europäischen Land zu finden sind, hätten manche
Regelungen, die für andere Länder in Europa ohne Weiteres vertretbar sind, in Deutschland zu großen Schwierigkeiten geführt. Zu Beginn der Verhandlungen haben
wir noch versucht, Einzelfalllösungen zu ermöglichen;
aber das war außerordentlich schwer, denn die EU-Kommission wollte Regelungen für ganz Europa schaffen.
Sie finden in Europa kaum ein Land, das eine so differenzierte und unterschiedliche Wirtschaftsstruktur hat
wie die Bundesrepublik Deutschland. Deswegen haben
wir uns am Ende darauf verständigt, dass für die besonders stromintensiven Unternehmen eine Obergrenze der
Belastung eingeführt wird. Diese liegt bei 0,5 Prozent
der Bruttowertschöpfung der jeweiligen Unternehmen.
Die Zahlungen der EEG-Umlage sollen diesen Wert
nicht übersteigen. Darüber hinaus haben wir für nicht
ganz so stromintensive Unternehmen eine Obergrenze
von 4 Prozent vorgesehen. Jedes Unternehmen muss im
Prinzip eine EEG-Umlage in Höhe von 15 Prozent bezahlen, es sei denn, diese 15 Prozent übersteigen die
4 Prozent bzw. 0,5 Prozent der Bruttowertschöpfung.
Die Kommission hat eine Liste von 68 Branchen vorgelegt. Wer in einer dieser Branchen ist und bestimmte
Parameter erfüllt, hat die Chance, von dieser Besonderen
Ausgleichsregelung Gebrauch zu machen.
Nun haben wir in Deutschland eine Reihe von Unternehmen, die nicht einer dieser Branchen angehören, die
aber die gleiche Stromintensität auf Unternehmensebene
haben. Deswegen gibt es neben der eben genannten
Branchenliste auch eine weitere Liste handelsintensiver
Branchen. Unternehmen in Deutschland, die mehr als
20 Prozent Stromintensität auf Unternehmensebene haben, können ebenfalls von der Möglichkeit der Besonderen Ausgleichsregelung Gebrauch machen.
Damit haben wir ganz wesentlich dazu beigetragen,
die deutsche Wirtschaft vor Wettbewerbsschwierigkeiten
zu bewahren. Es gibt eine Vielzahl von Unternehmen,
die aus der Besonderen Ausgleichsregelung komplett herausgefallen wären. Das hätte zu großen Verwerfungen
geführt. Deswegen haben wir uns mit der Kommission
auf die Regelung verständigt, dass die Unternehmen, die
bisher die Chance hatten, die Besondere Ausgleichregelung zu nutzen, und sie in Zukunft nicht mehr haben,
dennoch von 80 Prozent der EEG-Umlage befreit bleiben. Wir haben keine andere Lösung gefunden als diese
generelle Lösung, dass 20 Prozent der EEG-Umlage bezahlt werden müssen. Denn der Versuch, Einzelfallregelungen zu schaffen, hätte zu massiven Verwerfungen geführt, sodass das Ganze am Ende nicht zielführend
gewesen wäre.
Bevor die Befragung beginnt, möchte ich einige Beispiele nennen, damit klar wird, dass es hier nicht um
blinden Industrielobbyismus geht, wie es gelegentlich
öffentlich dargestellt wurde.
Ein mittelständisches Unternehmen der Zementindustrie mit einigen Tausend Beschäftigten hatte bisher EEGKosten in Höhe von 1,7 Millionen Euro. Ohne die Regelung, die wir in der EU geschaffen haben, hätte es jetzt
Kosten in Höhe von 6 Millionen Euro. Bei der Neuregelung, die wir geschaffen haben, steigt die Belastung immer noch von 1,7 Millionen Euro auf 2 Millionen Euro;
aber eine Mehrbelastung von 300 000 Euro ist eher zu
verkraften als eine Vervierfachung der bisherigen Kosten.
Ein Chemiefaserunternehmen hat bisher 300 000 Euro
gezahlt. Es muss in Zukunft 350 000 Euro zahlen. Hätten wir die Besondere Ausgleichsregelung nach dem
Vorschlag der Kommission nicht geschaffen, hätte es
1,2 Millionen Euro zahlen müssen. Es ist ohnehin
schwer, solche Unternehmen in Deutschland zu halten.
Hier besteht die Gefahr, dass das Unternehmen nicht in
Deutschland bleibt.
Ich möchte ein Unternehmen konkret nennen - es
stand in der Zeitung, deswegen ist es kein Geheimnis -:
Ich war in einem kleinen Unternehmen, einer Eisengießerei mit 450 Beschäftigten in Torgelow. Dieses Unternehmen hätte, wenn wir nicht das geschafft hätten, was
wir geschafft haben, zum 1. Januar 2015 garantiert Insolvenz anmelden können. Über solche Unternehmen reden wir.
Eine Papierfabrik mit 250 Mitarbeitern zahlte bisher
65 000 Euro an EEG-Umlage. Zu Beginn der Verhandlungen hätte die Kommission diesen Betrag auf
400 000 Euro steigen lassen. Ein Unternehmen der Verpackungsindustrie zahlte bisher 135 000 Euro. Ohne das,
was wir erreicht haben, hätte es in Zukunft 1,5 Millionen
Euro zahlen müssen. Ein Chemieunternehmen zahlte
bisher 735 000 Euro und sollte nach Auffassung der
Kommission in Zukunft 15 Millionen Euro zahlen.
All diese Unternehmen wären in massive Schwierigkeiten gekommen. Insofern glaube ich, dass wir einen
klugen Vorschlag gemacht haben. Ich bin sehr zufrieden
damit, dass wir das Erneuerbare-Energien-Gesetz auf der
einen Seite neu gestalten konnten und notifizierungsfähig gemacht haben und auf der anderen Seite dafür gesorgt haben, dass die Industrie in Deutschland nicht verloren geht.
Es ist in der Öffentlichkeit behauptet worden, dass
jetzt auch Unternehmen der Pelzverarbeitungsindustrie
und Urananreicherungsanlagen von der Regelung profitieren würden. Ich will deutlich sagen, dass das falsch
ist. Die Tatsache allein, dass ein solches Unternehmen
einer bestimmten Branche angehört, heißt noch gar
nichts; diese Betriebe müssten auch einen Anteil der
Stromkosten an der Bruttowertschöpfung aufweisen, je
nach Liste von 16 bzw. 17 oder von 20 Prozent. Das hatten diese Unternehmen weder in der Vergangenheit,
noch wird es in der Zukunft der Fall sein. Insofern kann
ich nur darum bitten, dass gerade gut informierte Mitglieder des Deutschen Bundestages bei uns nachfragen,
bevor sie solche Tatarenmeldungen in die Welt setzen.
Denn sonst entsteht an dieser Stelle ein völlig falscher
Eindruck. Solche Unternehmen werden durch das, was
wir machen, nicht bevorzugt. Es ist relativ einfach, uns
zu fragen. Dann geben wir gerne Auskunft, in welchen
Branchen und bei welchen Unternehmen die Regelung
tatsächlich zu einer Befreiung führt. So können wir verhindern, dass im Zusammenhang mit der Befreiung von
der EEG-Umlage ein falscher Eindruck entsteht. Es geht
nicht um irgendwelche Unternehmen, sondern um die
Unternehmen, die bestimmte Parameter aufweisen; dazu
zählen die Stromkostenintensität und die Handelsintensität der Branche.
Ich will darauf hinweisen, dass wir bei der Berechnungsmethode der Bruttowertschöpfung einen Fortschritt erreicht haben. Es ist uns jetzt gestattet - das war
früher nicht so -, zum Beispiel auch Leiharbeitnehmer
und Werkvertragsarbeitnehmer bei der Berechnung der
Bruttowertschöpfung des Unternehmens zu berücksichtigen, damit nicht das passiert, was in der Vergangenheit
möglich war: Unternehmen konnten Beschäftigte einfach über Werkverträge oder Leiharbeitnehmerschaft
ausgliedern und kamen dadurch auf einmal auf eine höhere Stromkostenintensität; denn ihre Bruttowertschöpfung ist dadurch künstlich geschrumpft. Das wird in Zukunft nicht mehr möglich sein; wir werden dafür Sorge
tragen - Hinweis auf das Thema Schlachtindustrie -,
dass das bei der Bruttowertschöpfungsrechnung künftig
berücksichtigt wird.
Wir haben heute im Kabinett eine Entscheidung getroffen, die sicherstellen soll, dass wir nicht über das hinausgehen, was wir uns zum Ziel gesetzt haben. Wir hatten die Zielsetzung, dass wir den Schutz für die
energieintensive Industrie, den wir in der Vergangenheit
gewährleistet haben, auch in Zukunft gewährleisten. Wir
hatten es uns aber nicht zum Ziel gesetzt, dass die deutsche Wirtschaft insgesamt mehr als in der Vergangenheit
von der EEG-Umlage entlastet wird. Deswegen haben
wir in den Entwurf eines Gesetzes zur Reform der Besonderen Ausgleichsregelung, der Ihnen zugeleitet wird,
drei Regeln aufgenommen:
Erstens. Für die erste Gigawattstunde müssen auch
die begünstigten Unternehmen die volle EEG-Umlage
zahlen. Das ist ein überschaubarer Betrag, den jedes Unternehmen verkraften wird.
Zweitens. Wir werden das umsetzen, was in der letzten Legislaturperiode von der Vorgängerregierung im
Zusammenhang mit der sogenannten Strompreisbremse
schon vorgeschlagen wurde, nämlich den Mindestbeitrag
bei der EEG-Umlage für energieintensive Unternehmen
von 0,05 Cent pro Kilowattstunde auf 0,1 Cent pro Kilowattstunde anzuheben.
Drittens. Wir werden den Versuch unternehmen,
durch eine leichte Anhebung des Mindestwertes bei der
Stromkostenintensität von 14 auf 16 bzw. 17 Prozent zu
verhindern, dass in den nächsten Jahren eine Vielzahl
von Unternehmen nur deshalb in die Besondere Ausgleichsregelung hineinwächst, weil es innerhalb von
zwei Jahren sehr hohe Steigerungen bei der EEG-Umlage gab, nämlich von etwas mehr als 3 Cent pro Kilowattstunde auf 5,2 Cent und dann auf 6,24 Cent. Da die
EEG-Umlage bei der Berechnung der Stromintensität
theoretisch immer als Teil der vollen Stromkosten behandelt wird, würden so automatisch Unternehmen in
die Regelung hineinwachsen, von denen wir glauben,
dass sie in der Vergangenheit mit guten Gründen nicht
davon profitieren konnten und es deshalb auch in Zukunft nicht tun sollten.
Das ist der Vorschlag, der Ihnen zur Beratung zugeleitet wird. Wir werden in den Gesetzgebungsberatungen
des Deutschen Bundestages in den nächsten Wochen sicherlich über diese Fragen zu diskutieren haben. Selbstverständlich sind wir gerne bereit - das müssen wir auch
im gemeinsamen Interesse tun -, Hinweise dazu entgegenzunehmen, wo wir möglicherweise etwas nachschärfen müssen oder Dinge etwas modifizieren müssen, und
Ihnen zur Beratung dieses Gesetzentwurfs gerne und zu
jeder Zeit zur Verfügung zu stehen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Vorsorglich mache ich darauf aufmerksam, dass im
weiteren Verlauf der Regierungsbefragung sowohl für
das Stellen der Frage als auch für die Antwort, Herr
Minister, jeweils eine Minute zur Verfügung steht. Wir
unterstützen Sie dabei, nicht nur durch die Uhren, die
überall zu sehen sind, sondern auch durch optische Farbsignale. Wenn das Signal rot aufleuchtet, ist die Minute
ausgeschöpft. Ich bitte darum, dass alle Beteiligten die
selbst gegebenen Regeln beachten.
Ich bitte, zunächst Fragen zu dem Bereich zu stellen,
über den soeben berichtet wurde. - Das Wort hat der
Kollege Oliver Krischer.
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. - Herzlichen
Dank für Ihren Vortrag, Herr Bundesminister. Ich freue
mich, dass Sie Branchen wie Chemie, Metall, Erzeugung
aufgezählt haben - das hören wir immer wieder; darüber
gibt es auch weitgehend Konsens -, für die selbstverständlich Ausnahmeregelungen erforderlich sind. Ich erkenne da gar keinen Dissens. Es geht mir eher um die
Bereiche, die etwas zwiespältig sind.
Wenn ich mir Ihren Entwurf anschaue, dann sehe ich
zwei Listen, auf denen Branchen aufgeführt werden:
68 Branchen auf der EU-Liste und eine weitere Liste mit
151 Branchen. Es gibt insgesamt also 219 Branchen, die
die Besondere Ausgleichregelung in Anspruch nehmen
können. Angesichts dieser großen Zahl wäre es einfacher gewesen, die Branchen aufzuzählen, die von dieser
Regelung ausgenommen sind.
Wenn ich mir Ihre Liste genauer angucke, dann stelle
ich fest, dass Hersteller von Fantasieschmuck, von
Fruchtsaft, von Pelzwaren - Sie haben eben gesagt, das
wäre nicht so; sie stehen aber auf Ihrer Liste -, von Waffen und Munition sowie von militärischen Kampffahrzeugen auftauchen. Ich bitte Sie, mir zu erläutern, inwieweit diese Branchen nach Ihrer Auffassung energie- und
handelsintensiv sind und welche Notwendigkeit aus
Sicht der Bundesregierung besteht, die Besondere Ausgleichsregelung auf sie anzuwenden.
Sehr geehrter Herr Abgeordneter, zunächst ist festzuhalten, dass es nur eine Branchenliste gibt, wo grundsätzlich die ganze Branche eine Befreiung in Anspruch
nehmen könnte, und zwar die der Europäischen Union,
die 68 Branchen umfasst.
Darüber hinaus gibt es Unternehmen, die bestimmten
Branchen zuzuordnen sind. Das bedeutet aber nicht, dass
damit die ganze Branche befreit ist; den Eindruck könnte
man gewinnen, wenn man sozusagen die Zahl der Bran2636
chen, die die EU-Kommission aufgelistet hat, und die
Zahl der Branchen, zu der weitere antragsberechtigte
Unternehmen gehören müssen, addiert. Der Hinweis, zu
welcher Branche ein antragsberechtigtes Unternehmen
gehören muss, ist noch kein Hinweis darauf, dass die gesamte Branche befreit wird. Das ist ein entscheidender
Unterschied.
({0})
- Ich bin einfach gestrickt. Meine Auffassung ist: Wenn
es um die Branche geht, dann gilt die Regel für die ganze
Branche. Wenn es um ein einzelnes Unternehmen geht,
dann macht der Hinweis, zu welcher Branche dieses Unternehmen gehört, einen klüger; es ist aber kein Hinweis
darauf, dass die ganze Branche antragsberechtigt ist,
vielmehr ist nur das einzelne Unternehmen antragsberechtigt.
Die Frage, ob ein Unternehmen der aufgeführten
Branchen antragsberechtigt ist, unterscheidet sich von
der Frage, ob es am Ende die Besondere Ausgleichsregelung, also die Reduzierung der EEG-Umlage, in
Anspruch nehmen kann. Dies hängt davon ab, ob das
Unternehmen 16 Prozent bzw. 17 oder 20 Prozent Stromkostenintensität vorweisen kann. Weder die von Ihnen in
der Öffentlichkeit genannte Urananreicherungsanlage
noch Unternehmen aus der pelzverarbeitenden Industrie
haben bislang auch nur 14 Prozent Stromkostenintensität
erreicht. Die Unternehmen der aufgelisteten Branchen,
die diese Stromkostenintensität nicht erreichen, werden
nicht antragsberechtigt sein.
Die nächste Frage stellt die Kollegin Caren Lay.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Vielen Dank, Herr
Minister; Sie haben sehr viel über die Belastung der Industrie durch die Ökostromumlage gesprochen. Mich
persönlich und auch uns als Fraktion Die Linke interessiert die Belastung der Verbraucherinnen und Verbraucher mindestens im gleichen Ausmaß. Deswegen ist
meine Frage: Wie wird sich Ihrer Auffassung nach die
Gesamtbelastung der Verbraucherinnen und Verbraucher
entwickeln, und welche Berechnungen liegen dem
Ministerium dazu vor? Bisher war die Situation so, dass
die Verbraucherinnen und Verbraucher sowie die kleinen
und mittelständischen Unternehmen über die EEG-Umlage etwa 5 Milliarden Euro jährlich zu tragen hatten
und so die Großindustrie entlastet haben. Eine Familie
- Sie haben die Zahl selbst genannt - muss im Durchschnitt etwa 40 Euro im Jahr für dieses Paket, das Sie in
Brüssel verhandelt haben, zahlen. Bleibt es bei diesen
Zahlen, oder liegen Neuberechnungen auf Grundlage
des neuen Entwurfs vor?
Frau Kollegin, ich widerspreche Ihnen ausdrücklich,
wenn Sie sagen, dass es sich um Ausnahmen für die
Großindustrie handelt. Das Unternehmen in Torgelow
hat 400 Beschäftigte. Das Papierverarbeitungsunternehmen, das ich vorhin angesprochen habe, hat 250 Beschäftigte.
({0})
- Ich antworte nicht Ihnen, sondern Ihrer Kollegin, die
gerade gesagt hat, die Ausnahmen seien für die Großindustrie; denn das ist eine falsche Darstellung. - Überwiegend handelt es sich um mittelständische Unternehmen. Es gibt auch große Unternehmen, keine Frage. Die
Veränderung gegenüber den alten Regelungen, der Akt
der Fairness besteht ja gerade darin, dass das Kriterium
für die Begrenzung jetzt nicht mehr allein die Größe, der
Stromverbrauch, ist, sondern das Verhältnis der Stromkosten zur Bruttowertschöpfung. Das ist das Entscheidende: Wie stromintensiv ist ein Unternehmen, und wie
handelsintensiv ist seine Branche in Bezug auf Länder,
die nicht in Europa liegen? Das ist das Kriterium; denn
wir wollen denen etwas Gutes tun, die hohe Stromkosten
haben und die im weltweiten Wettbewerb stehen.
Die Belastung, die dadurch entsteht, dass wir einen
Teil der EEG-Umlage nicht von der deutschen Industrie
einziehen, liegt in der Tat bei 5,1 Milliarden Euro. Dem
gegenüber stehen aber 7,4 Milliarden Euro Einnahmen
aus der EEG-Umlage, die die deutsche Industrie zahlt.
Die privaten Haushalte in Deutschland zahlen etwa
8 Milliarden Euro. Wenn ich der Industrie zusätzlich zu
den 7,4 Milliarden Euro die 5,1 Milliarden Euro auferlegen würde, würde das für einen Dreipersonenhaushalt in
Deutschland eine Entlastung von 40 bis 45 Euro pro Jahr
bedeuten, gleichzeitig aber auch den Verlust von mehreren Hunderttausend Arbeitsplätzen in Deutschland. Ich
weiß nicht, ob es uns besonders helfen würde, wenn wir
die privaten Haushalte um 40 bis 45 Euro im Jahr entlasten würden, wenn wir gleichzeitig ein paar Hunderttausend Arbeitsplätze in der energieintensiven Industrie relativ schnell verlieren würden. Das ist sozusagen die
Güterabwägung, die man vornehmen muss. Ich habe
mich dafür entschieden, zu akzeptieren, dass ich die Entlastung von 40 bis 45 Euro für einen Dreipersonenhaushalt im Jahr nicht erreichen kann, wenn ich ein paar
Hunderttausend Arbeitsplätze in der Industrie in
Deutschland erhalten möchte.
({1})
Der Kollege Dirk Becker hat das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Minister, keiner hier mag sich vorstellen, wie wir heute debattieren
würden, wenn sich die Kommission mit ihrem ersten
Entwurf durchgesetzt hätte. Dann hätten wir heute wahrscheinlich auf Antrag der Opposition eine Sondersitzung, in der dem Wirtschaftsminister vorgeworfen worden wäre, sich nicht hinreichend um die deutsche
Industrie gekümmert zu haben. Von daher möchte ich Ihnen zunächst einmal ausdrücklich danken, dass Sie dieses Ergebnis erreicht haben. Das ist ein wertvoller BeiDirk Becker
trag für den Industriestandort Deutschland, für die
Arbeitsplätze. Die Gewerkschaften sehen das genauso.
({0})
Herr Minister, dazu gehört natürlich auch die Regelung - Sie haben das angesprochen - hinsichtlich Leiharbeit bzw. Werkverträgen. Es gab in den letzten Tagen
noch ein bisschen Verunsicherung bezüglich der Anhebung des Schwellenwerts der Energieintensität - Anteil
der Stromkosten an der Bruttowertschöpfung - von
14 auf 16 Prozent. Sie haben dazu eben einige Ausführungen gemacht. Wenn ich das richtig verstanden habe,
erfolgt diese Anhebung ausschließlich, um dem Anstieg
der Energiekosten Rechnung zu tragen, damit nicht noch
mehr Unternehmen unter diese Ausgleichsregelung fallen. Ist das so korrekt?
Ja, Herr Abgeordneter, das ist korrekt. Wir wollen
keine über die vorgesehenen 5,1 Milliarden Euro hinausgehende Entlastung der deutschen Industrie. Wir wollen
den Entlastungsbetrag auch nicht verkleinern. Wir wollen ihn etwa gleich hoch halten. Dazu dient dieser Vorschlag.
Die Kollegin Dr. Julia Verlinden hat das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Minister, Sie
haben selbst gesagt, dass Deutschland eine besonders
energieintensive Industrie hat. Gleichzeitig wissen Sie ja
auch, dass es viel Forschung gibt, die zeigt, dass die Industrie in Deutschland, also die Wirtschaft insgesamt,
noch erhebliche Effizienzpotenziale hat. Sie selbst sagen
ja auch immer: Energieeffizienz ist eine tragende Säule
der Energiewende.
Jetzt frage ich mich, wie Sie rechtfertigen, dass in
dem Gesetzentwurf, der uns vorliegt, nicht - so war es
bisher - vorgesehen ist, dass zusätzliche Nachweise erforderlich sind, also dass man zum Beispiel Energiemanagementsysteme nachweisen muss. Es gibt keine
Anforderungen bezüglich Energieeffizienzverpflichtungen, die auch dazu führen würden, die Wirtschaft in
Deutschland international wettbewerbsfähiger zu machen; denn durch solche Anforderungen würde man sie
unterstützen, effizienter mit Strom umzugehen.
Frau Abgeordnete, dafür gibt es zwei Gründe. Der
erste Grund ist, dass es bei besonders energieintensiven
Unternehmen, glaube ich, schon deshalb keine Notwendigkeit gibt, zusätzliche Auflagen zu machen, weil zum
Beispiel in der Stahlindustrie die physikalische Grenze
erreicht ist und man dort nicht noch mehr Energie einsparen oder CO2-Emissionen reduzieren kann. Ich lade
Sie gern einmal ein, ein Stahlwerk, ein Elektrostahlwerk
zu besuchen. Das meine ich nicht ironisch, sondern ganz
ernst. Kuppelgase zum Beispiel können nur noch dadurch eingespart werden, dass weniger Stahl produziert
wird.
({0})
Dass die Unternehmen selbst ein Interesse haben - das
ist der zweite Punkt -, drastisch Energie einzusparen, ergibt sich doch aus der Wettbewerbslage. Schauen Sie, in
den 80er- und 90er-Jahren hat in Deutschland und in Europa eine Diskussion darüber stattgefunden, dass die
internationale Wettbewerbsfähigkeit durch zu hohe Arbeitskosten in Deutschland belastet sei. Wir haben einen
enormen Produktivitätsfortschritt, und inzwischen machen Lohn- und Arbeitskosten in der deutschen Industrie
im Durchschnitt nicht einmal mehr 20 Prozent aus. Die
Energie- und Rohstoffkosten liegen bei 40, 50, manchmal 60 Prozent.
({1})
- Ja, aber nicht deshalb, Frau Kollegin, weil die Unternehmen alle so ineffizient sind, sondern unter anderem
deshalb, weil in Deutschland und in Europa die Strompreise doppelt so hoch sind wie in den Vereinigten Staaten.
({2})
- Das habe ich nicht gesagt. Vielmehr sage ich: Es gibt
sozusagen ein riesiges Interesse der Unternehmen selbst,
gerade im energieintensiven Bereich, dafür zu sorgen,
nicht noch mehr Energiekosten zu haben, weil der internationale Wettbewerb heute nicht mehr von den Arbeitskosten, sondern von den Energie- und Rohstoffkosten
bestimmt wird.
Erstmals - das wollte ich noch sagen - schreiben wir
umfassend Energiemanagementsysteme vor. Das gab es,
ehrlich gesagt, vorher nicht so umfassend. Insofern haben wir auch bei dieser Regelung im neuen EEG einen
Fortschritt. Wir schreiben Energiemanagementsysteme
für alle vor. Aber ich sage Ihnen: Der größte Druck in
den Unternehmen, über die wir hier reden - es geht ja
nicht um Unternehmen, die praktisch keine Energiekosten haben -, entsteht schlicht und ergreifend durch
die Tatsache, dass die Kosten für Energie und Rohstoffe
in Zukunft die Überlebensfähigkeit deutscher und europäischer Unternehmer im internationalen Wettbewerb
bestimmen. Ich glaube, dass das dazu führt, dass wir gerade in den sehr energieintensiven Branchen schon jetzt
relativ nah an den Effizienzgrenzen sind, die wir mit der
aktuellen Technik erreichen können.
Die nächste Frage stellt die Kollegin Katharina
Dröge.
Sehr geehrter Herr Gabriel, Sie haben ja gerade in der
Antwort auf die Frage meiner Kollegin Verlinden gesagt,
dass die deutsche Industrie teilweise ein Problem hat,
weil die Strompreise in Deutschland so hoch sind, dass
die Produktion hier ineffizient zu werden droht. Jetzt
wüsste ich gerne von Ihnen konkret: Wenn Sie die
Strompreise für die Industrie nach allen steuerlichen
Ausnahmen, die wir der Großindustrie gewähren, also
nicht nur im Rahmen des EEG, sondern auch der Konzessionsabgabe, von KWK usw., betrachten, auf welchem Platz in Europa sind wir dann?
Je nachdem, welche Berechnung man heranzieht und
wer die Statistik gerade selber erstellt hat, sind wir auf
einem der vorderen Plätze. Das ist aber nicht das Problem. Die Frage, auf wen die Besondere Ausgleichsregelung der Europäischen Union zutrifft, wird nicht danach
beantwortet, wo man in Europa steht, sondern danach,
welche Handelsintensität mit Räumen außerhalb Europas man hat. Die eigentliche Wettbewerbslage entsteht
vor der Frage: Siedeln sich Unternehmen in Europa an
bzw. bleiben sie hier, oder gehen sie an Standorte mit
weit geringeren Stromkosten?
Eine der Maßnahmen, die wir uns alle miteinander
wünschen, ist zum Beispiel, dass Kraftfahrzeuge durch
Faserverbundwerkstoffe leichter werden. Eines der Unternehmen, das auf diesem Gebiet am fortschrittlichsten
arbeitet, hat sich in den Vereinigten Staaten angesiedelt.
({0})
- Das liegt nicht nur am Absatzmarkt, sondern da sind
die Stromkosten niedriger.
({1})
- Es mag ja sein, dass Sie das alles lächerlich finden,
aber ich finde es überhaupt nicht lächerlich. Ich möchte,
dass sich ein solches Unternehmen bei uns ansiedelt und
nicht wegen der halb so hohen Strompreise anderswo.
({2})
Wissen Sie, solche Unternehmen haben große Vorteile: Sie zahlen anständige Tariflöhne, da werden die
Leute gut beschäftigt, das sind hochqualifizierte Arbeitsplätze, und es sind technologieintensive Unternehmen.
Deswegen möchte ich, dass sie hier angesiedelt sind,
auch dann, wenn sie stromintensiv sind.
Der Vergleich Ihrer Kollegin zielte auf die Strompreise in der EU ab. Das ist aber gar nicht Gegenstand
der Debatte, sondern Gegenstand der Debatte ist die
Frage, wie sich die Strompreise weltweit entwickeln. Da
haben wir in Europa insgesamt ein Extraproblem, und
Italien und Deutschland haben ein besonderes Problem
innerhalb der Europäischen Union. Es ist doch nicht so,
dass man das einfach wegdiskutieren kann, nur weil man
keine Lust hat, sich mit diesem Thema zu beschäftigen.
({3})
Das Wort hat der Kollege Jörn Wunderlich.
Herr Minister, ich frage mich, warum die Bundesregierung von den Unternehmen, die privilegiert werden,
nicht eine gewisse Gegenleistung einfordert, zum Beispiel in der Form, dass der Strom bzw. die Energie, den
bzw. die sie in ihre Unternehmensnetzstruktur integrieren, zu einem gewissen Anteil aus erneuerbaren Energien bestehen muss.
Weil wir über europäische Regeln reden. Unsere Besondere Ausgleichsregelung hat sich an den Regeln, die
die Europäische Union gesetzt hat, zu orientieren. Wir
waren froh, dass wir das, was wir hier erreichen konnten,
bei der EU-Kommission durchgesetzt haben.
Übrigens - da Sie die Frage, wie sich die Erneuerbaren entwickeln, angesprochen haben -: Die Europäische
Union hatte am Anfang die Vorstellung, dass ab dem
nächsten Jahr unmittelbar Ausschreibungen durchgeführt werden sollen. Nur um Ihnen das einmal zu sagen:
Wir haben hier nicht im luftleeren Raum operiert, sondern wir waren an das, was die EU-Kommission zu tun
vorhatte, gebunden. Einer Ihrer Vorredner hat ja gesagt,
die heutige Debatte sähe ein bisschen anders aus. Wir
haben nicht die Möglichkeit, noch alle möglichen anderen Parameter einzuführen, damit man an die Besondere
Ausgleichsregelung herankommt, sondern wir sind darauf angewiesen, dass das, was wir vorschlagen, im Hinblick auf das, was die Europäische Union für Europa insgesamt für richtig hält, notifizierungsfähig ist.
Ich habe vorhin vergessen, Ihrer Vorvorrednerin, die
mich nach der Effizienz gefragt hat, eine Sache zu sagen: Im Gesetzentwurf ist eine Verordnungsermächtigung für besondere Energieeffizienzanforderungen enthalten. Das sage ich mit Blick auf die Bereiche der
Industrie, auf die Ihr Vorwurf zielt. Ihr Vorwurf lautet ja,
dass man noch nicht genug für die Effizienz getan hat.
({0})
Nicht jeder Vorwurf ist gleich moralisch gemeint, sondern er ist vielleicht erst einmal eine Feststellung.
({1})
- Ja, wie gesagt, mit der Statistik ist es, wie wir alle hier
im Parlament wissen, so eine Sache. Aber es gibt natürlich solche Fälle. Deswegen enthält das Gesetz eine Verordnungsermächtigung, besondere Energieeffizienzanforderungen zu stellen, falls wir den Eindruck haben,
dass in einem bestimmten Industriebereich oder in einem
bestimmten Unternehmen die Möglichkeiten, mit dem
Energieverbrauch effizient umzugehen, noch nicht hinreichend ausgeschöpft werden. Dem kann man dann
auch durch Energieeffizienzanforderungen Nachdruck
verleihen.
Herr Minister, auch wenn es Zwischenrufe gibt, bitte
ich, nur den Fragenden oder die Fragende mit einer entsprechenden Antwort zu versorgen. Gegebenenfalls können sich diejenigen, die noch Nachfragebedarf haben,
dann zu einer weiteren Frage melden; einige haben das
auch schon getan. Das Wort erteile immer noch ich. Ich
entscheide, wer hier mit wem redet.
({0})
Die nächste Frage stellt die Kollegin BullingSchröter.
Danke schön. - Aus dem EEG ergibt sich ja nicht nur
die EEG-Umlage, sondern auch der stromkostensenkende Merit-Order-Effekt. Er hat Auswirkungen auf die
Strompreise auf Großhandelsebene. Die sollen demnächst 3 Cent pro Kilowattstunde betragen; sie liegen
aktuell bei 5 bis 6 Cent pro Kilowattstunde. Die stromintensive Industrie profitiert natürlich, wenn sie Strom
günstig bekommt; das ist ganz klar. Sie macht dadurch
Gewinne und hat Vorteile.
Jetzt ist meine Frage an Sie: Ist denn dieser Effekt
nicht wesentlich höher als die Auswirkungen bei der
Mindestumlage, die jetzt von 0,05 Cent auf 0,1 Cent pro
Kilowattstunde erhöht wird? Da gibt es ja eine Preisdifferenz, und 3 Cent pro Kilowattstunde für Großverbraucher ist ja nicht gerade besonders hoch.
In den Verhandlungen, die wir mit der Europäischen
Kommission geführt haben, hat die Europäische Kommission sich exakt auch diese Frage angeschaut und ist
deshalb zu den vorgeschlagenen Regeln gekommen, an
die wir uns jetzt halten. Die Europäische Kommission
hat präzise Ihre Fragen gestellt. Dann hat sie einen Vorschlag gemacht, der sich beim Begrenzungsumfang an
der Bruttowertschöpfung der Unternehmen orientiert,
um exakt dieser Frage sozusagen ausreichend Raum zu
geben.
Das Wort hat der Kollege Peter Meiwald zur nächsten
Frage.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Minister, erlauben Sie mir eine Vorbemerkung: Sie haben - auch mit
Ihrem Beispiel der Eisengießerei Torgelow - darauf abgehoben, wie viel Sie dafür tun, die Arbeitsplätze hier im
Land zu erhalten. Das würdigen wir auch ausdrücklich.
Die Frage ist aber - auch bei der Eigenstromnutzung -,
ob hier nicht mit zweierlei Maß gemessen wird. Wenn
man sich anschaut, wie wenig die Bundesregierung eigentlich dafür tut, die erneuerbaren Energien zu fördern
- da sind ja in den letzten Jahren zuhauf Unternehmen in
die Insolvenz gegangen, und es gehen weiterhin viele in
die Insolvenz; denen müsste man unter die Arme greifen -,
und wie viel Wert darauf gelegt wird, Arbeitsplätze in
alten Technologien zu erhalten, passt in den gleichen
Zusammenhang die Frage: Warum soll der Eigenstromverbrauch von Privatverbrauchern, Privatnutzern, Privatinvestoren demnächst mit der EEG-Umlage belastet
werden, während die Bundesregierung für die Industrie
offensichtlich noch sehr weitreichende Ausnahmen
schafft? Meine konkrete Frage: Kann die Bundesregierung ausschließen, dass zukünftig zum Beispiel der Braunkohletagebau von der Besonderen Ausgleichsregelung
ausgenommen wird? Dieser steht ja definitiv nicht im internationalen Wettbewerb.
Deswegen steht der Braunkohletagebau auch nicht
auf einer der Branchenlisten. Er verfügt nicht über die
4 Prozent Handelsintensität. Daher ist er nicht in der
Lage, von der Besonderen Ausgleichsregelung Gebrauch zu machen.
Ich würde aber auch gerne auf Ihre Vorbemerkung
eingehen: Ich finde die Unterscheidung zwischen neuer
und alter Industrie abenteuerlich. Diese Unterscheidung
hat den Rest Europas Anfang der 2000er-Jahre in den
Ruin getrieben. Damals waren alle für die neue Industrie. Das sind Kommunikationswissenschaften, Internet,
Finanzmärkte. Die alte Industrie, das sind Chemie, Stahl,
Automobilbau, Maschinenbau. Dadurch, dass wir die Industrie, die Sie „alt“ nennen, haben, sind wir besser
durch die Krise gekommen als andere. Heute redet der
Rest Europas von Reindustrialisierung und wünscht sich
ums Verrecken Chemie, Stahl, Maschinenbau, Elektrotechnik zurück. Wir haben sie Gott sei Dank noch.
({0})
Es gibt keine New oder Old Economy, es gibt immer
nur - aus meiner Sicht jedenfalls - die Next Economy.
Sie können zum Beispiel keine moderne Windenergieanlage bauen ohne die Eisengießerei Torgelow. Das ist,
wenn man so will, eine ganz alte Industrie: harte Arbeit,
ziemlich schmutzig, ziemlich heiß, mit viel Hitze und
viel Energie. Aber in dieser Eisengießerei werden die
Verankerungen für die Rotorblätter oben auf den Köpfen
von Windenergieanlagen hergestellt. Ohne diese ganz
alte Industrie können moderne Windenergieanlagen gar
nicht gebaut werden. Das Gleiche können Sie beim
Kunststoff, in der Chemie, im Maschinenbau sehen:
Eine Trennung zwischen alter und neuer Industrie ist le2640
bensgefährlich für unser Land. Ich kann nur raten, sie
nicht vorzunehmen.
Die Tatsache, dass in der Photovoltaik Unternehmen
in die Insolvenz gegangen sind, hat etwas damit zu tun,
dass es dort durch Importe zu einem Preisverfall gekommen ist, aber nicht dadurch, dass wir in Deutschland irgendwie eine andere Form von EEG gemacht hätten.
Wir werden die Windenergie in Deutschland in Zukunft
um 2,5 Gigawatt pro Jahr ausbauen. In den letzten zehn
Jahren haben wir einen Ausbau in diesem Umfang nur in
einem einzigen Jahr geschafft. Demnächst wollen wir
das in jedem Jahr schaffen. Ähnliches gilt für die Photovoltaik.
Diese Industrie wird sehr davon profitieren, dass wir
die traditionelle Industrie in Deutschland haben. Ohne
Maschinenbau, Elektrotechnik, Chemie, Kunststoff,
Stahl gäbe es die Erneuerbaren gar nicht in dieser Form.
({1})
Zur nächsten Nachfrage hat die Kollegin Caren Lay
das Wort.
Vielen herzlichen Dank. - Ich muss schon sagen, dass
ich es etwas bedauere, dass wir uns bei der Frage „Wie
soll das EEG novelliert werden?“ nur noch auf die Entlastung der energieintensiven Unternehmen fokussieren
und die Entlastung der Verbraucherinnen und Verbraucher für die Regierung offenbar keine Rolle mehr spielt.
Deswegen möchte ich Sie fragen, warum es die Regierung bisher unterlassen hat, für eine entsprechende sozialpolitische Flankierung dieses Gesetzentwurfes zu
sorgen.
Die SPD hat im Wahlkampf gemeinsam mit der Linken die Absenkung der Stromsteuer gefordert. Einige
SPD-Ministerpräsidenten fordern das bis heute. Deshalb
möchte ich Sie ganz konkret fragen: Wie stehen Sie zu
dieser Forderung, und können Sie sich vorstellen, dass
das dazu beitragen könnte, diesen Gesetzentwurf im Interesse der Verbraucherinnen und Verbraucher auch sozialpolitisch zu flankieren?
Frau Kollegin, ich würde Ihrer Darstellung, wir würden uns nur um Entlastungen der Industrie kümmern,
gerne heftigst widersprechen. Mit dem ganzen EEG verfolgen wir vor allen Dingen ein Ziel, nämlich die Kostendynamik, die es bei der EEG-Umlage in den letzten
Jahren gab, zu durchbrechen. Denn man kümmert sich
doch nicht als Erstes darum, wie man einem steigenden
Strompreis durch die Senkung von Steuern entgegenwirken kann, sondern man kümmert sich als Erstes darum,
dass der Strompreis nicht weiter steigt.
({0})
- Ich versuche nur, zu antworten; mehr tue ich gar nicht.
Sie haben gerade gesagt, bei der Novellierung des
EEG ginge es nur um Ausnahmen. Wir versuchen mit
dem neuen EEG im Kern, die Kostendynamik der letzten
Jahre zu durchbrechen. Übrigens: Hätten wir diese Kostendynamik nicht, dann hätten wir beim Thema „Besondere Ausgleichsregelung“ eine viel entspanntere Situation. Bei der EEG-Umlage gibt es aber eine solche
Kostendynamik, und deswegen ist es richtig, dass wir
uns im Hinblick auf das neue EEG das Ziel gesetzt haben, diese Kostendynamik zu durchbrechen, ohne den
Siegeszug der Erneuerbaren auszubremsen. - Das ist das
Erste.
Zweitens. Sie haben recht: Im Wahlkampf hat die
SPD - ich glaube, es waren auch noch ein paar andere,
zum Beispiel Sie - gesagt: Lasst uns doch wenigstens
das aufgrund der steigenden EEG-Umlage auch steigende Mehrwertsteueraufkommen umverteilen. Dies ist
in den Koalitionsverhandlungen von SPD, CDU und
CSU nicht mehrheitsfähig gewesen, und deswegen steht
das auch nicht im Gesetzentwurf. So ist das Leben!
({1})
Der Herr Kollege Oliver Krischer hat das Wort.
Herr Bundesminister, Sie haben als Mindestziel ausgegeben - so habe ich jedenfalls die Meldungen und beispielsweise Ihre Rede beim Neujahrsempfang des Bundesverbandes Erneuerbare Energie verstanden -, dass
die privaten Verbraucher und die nichtprivilegierten
Teile der Wirtschaft mindestens um 1 Milliarde Euro
entlastet werden.
Sie werden Ihren Vorschlag ja sicherlich ausgiebig
evaluiert haben. Meine Frage an Sie ist: Wie stellt sich
die Entlastung dar? Werden die nichtprivilegierten und
die privaten Verbraucher entlastet, oder werden sie zusätzlich belastet, und in welchem Umfang?
Ich habe in einer öffentlichen Diskussion des Bundesverbandes Erneuerbare Energie auf den Vorhalt geantwortet, man könne sich doch alle Maßnahmen im Erneuerbare-Energien-Gesetz, mit denen versucht wird, den
Kostenanstieg auszubremsen, sparen, indem man einfach die Ausnahmen für die stromintensive Industrie abschafft, die immerhin zu einer Mindereinnahme von
5 Milliarden Euro führen.
({0})
- Doch, das war der Vorhalt dort; ich war ja auf der Veranstaltung.
({1})
- Ich unterstelle einmal, Sie waren schon draußen und
nicht mehr im Saal; denn wenn Sie noch da gewesen wären, dann hätten Sie die Frage jetzt nicht zu stellen brauBundesminister Sigmar Gabriel
chen. - Auf diesen Vorhalt habe ich geantwortet: Ich
halte das für eine abenteuerliche Position, weil die erste
Frage nicht ist, wie viel man durch die Abschaffung der
Ausnahmen einsparen kann, sondern wie man die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie
schützen kann. In diesem Zusammenhang habe ich dann
folgenden Satz gesagt: Wenn wir dabei 1 Milliarde Euro
weniger an Entlastungen machen, dann hätten wir viel
erreicht. - Das war meine Formulierung.
({2})
Wir haben dann verhandelt und festgestellt: Das war
nicht zu erreichen, jedenfalls nicht ohne einen großen
Kollateralschaden bei vielen Unternehmen in Deutschland. Das ist der Grund dafür, dass es jetzt keine Einsparungen durch eine geringere Entlastung der stromintensiven Unternehmen gibt.
({3})
- Ich weiß nicht, was daran abenteuerlich ist; ich beantworte nur Ihre Frage. Ich bin von Brüssel gebeten worden, 5 Milliarden Euro einzusparen. Daraufhin habe ich
gesagt: Das halte ich für eine völlig falsche Position. Ich
bin der Überzeugung, dass man sich zuerst darum zu
kümmern hat, dass die richtigen Unternehmen auch weiterhin Ausnahmen in Anspruch nehmen können. Und in
diesem Zusammenhang habe ich dann gesagt: Wenn dabei eine Einsparung von 1 Milliarde Euro statt von
5 Milliarden Euro herauskäme, dann hätten wir schon
viel erreicht.
Dann haben wir monatelang verhandelt. Das Ergebnis
ist, dass auch eine Einsparung von 1 Milliarde Euro
nicht ohne erhebliche Kollateralschäden bei energieintensiven Unternehmen in Deutschland zu erzielen
wäre. Deswegen haben wir sie nicht erreicht. Wir haben
allerdings auch nicht die Absicht, das Volumen der Entlastungen zu erhöhen. Wir nehmen die drei Änderungen
in dem Gesetzentwurf, die ich Ihnen gerade vorgestellt
habe, vor, damit das Entlastungsvolumen mehr oder weniger so bleibt, wie es ist, nämlich 5,1 Milliarden Euro.
Ich habe keine Schwierigkeiten, zu sagen, dass wir
auch das, was ich als maximales Ziel überhaupt noch für
denkbar gehalten hätte, nicht geschafft haben; es sei
denn, wir hätten Unternehmen massiv geschädigt. Ich
habe niemandem versprochen, dass ich eine Entlastung
von 1 Milliarde Euro erreichen werde. Vielmehr habe
ich den Menschen, die ähnlich argumentieren wie Sie
und behaupten, man könne das ganze Problem einer steigenden EEG-Umlage dadurch lösen, dass wir die deutsche Industrie zur Kasse bitten, heftig widersprochen.
Darüber hinaus finde ich: Das, was Sie machen, ist
nichts anderes als der Versuch, sich darum zu drücken,
auch im EEG dafür zu sorgen, dass mit den deutschen
Geldern effizienter umgegangen wird.
Eine Windenergieanlage, die 1,8 Millionen Euro gekostet hat, zu fördern, was dazu führt, dass diese Anlage
bereits nach neun Jahren abbezahlt ist und der Betreiber
dann elf Jahre lang pro Jahr 160 000 Euro von den
Stromkunden erhält, ohne etwas dafür zu tun - das ist
ein Fall aus der Praxis, den ich Ihnen hier vorstelle -, ist
nie das Ziel des EEG gewesen. Das Ziel war nie, dass
eine Anlage für 1,8 Millionen Euro nach neun Jahren refinanziert ist und dann der Betreiber elf Jahre lang von
den Stromkunden jedes Jahr 160 000 Euro geschenkt bekommt. Das aber ist Gegenstand des heutigen EEG. Deswegen muss man den Mut haben, an die Fördersubstanz
und die Überförderung selbst heranzugehen, und darf
sich davor nicht drücken, Herr Kollege.
({4})
Das ist der Unterschied zwischen uns beiden.
Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor, auch
nicht zu weiteren Themen der heutigen Kabinettssitzung.
Frau Präsidentin, das bedaure ich.
Das glaube ich sofort. Da Sie heute sowieso zur Verdopplung Ihrer Redezeit neigten, haben wir es gerade so
geschafft, in unserem zeitlichen Rahmen zu bleiben.
Ich beende die Befragung und rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Fragestunde
Drucksache 18/1293
Ich rufe die mündlichen Fragen in der üblichen Reihenfolge auf.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit. Die Frage 1 der Kollegin
Veronika Bellmann soll schriftlich beantwortet werden.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur. Die
Frage 2 des Kollegen Herbert Behrens soll ebenfalls
schriftlich beantwortet werden.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit. Zur Beantwortung der Fragen steht der
Parlamentarische Staatssekretär Florian Pronold zur Verfügung.
Die Fragen 3 und 4 des Kollegen Peter Meiwald werden schriftlich beantwortet. Auch die Frage 5 der Kollegin Pia Zimmermann wird schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 6 der Kollegin Sylvia Kotting-Uhl
auf. - Jetzt haben wir ein Problem. Der Parlamentarische
Staatssekretär steht zur Verfügung, aber die fragende
Abgeordnete nicht. Also wird verfahren, wie in der Geschäftsordnung vorgesehen.
Herzlichen Dank für die Bereitschaft, Herr Staatssekretär. Damit sind wir schon am Ende Ihres Geschäftsbereiches.
Vizepräsidentin Petra Pau
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Stefan
Müller zur Verfügung.
Zumindest bei der Frage 7 der Kollegin Sylvia
Kotting-Uhl haben wir die gleiche Situation wie eben:
Die Kollegin Kotting-Uhl ist nach wie vor nicht eingetroffen. Das heißt, es wird verfahren, wie in der Geschäftsordnung vorgesehen.
Ich rufe die Frage 8 des Kollegen Oliver Krischer auf:
Beabsichtigt die Bundesregierung, die in der Antwort auf
die Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Bundestagsdrucksache 18/1268 beschriebene Forschung an
Hochtemperaturreaktoren des Forschungszentrums Jülich inklusive der Kooperationsaktivitäten mit der VR China weiterhin gutzuheißen und zu unterstützen, und wenn ja, welche
konkrete Absicht verfolgt die Bundesregierung mit dieser im
Forschungszentrum Jülich betriebenen Reaktorforschung?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Kollege Krischer, Ihre Frage beantworte ich wie
folgt: Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort auf die
Kleine Anfrage Ihrer Fraktion erläutert, dass die Jülicher
Sicherheitsforschungen zum Hochtemperaturreaktor mit
dem Ende der zweiten Phase der programmorientierten
Förderung eingestellt werden. Der Programmzeitraum
beläuft sich auf die Jahre 2010 bis 2014.
Wie bereits ausgeführt, enthält die Programmplanung
für die nukleare Sicherheitsforschung im Rahmen der
dann folgenden Periode nach Angaben des Forschungszentrums Jülich keine Aktivitäten zur Hochtemperaturreaktorthematik.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Herzlichen Dank, Herr Kollege, für Ihre Ausführungen. - Das Forschungszentrum stellt aber diese Aktivitäten als nicht von den ihm gegenüber gemachten Einschränkungen betroffen dar, sondern definiert die
Zusammenarbeit mit China bei der Entwicklung eines
neuen Hochtemperaturreaktors als Sicherheitsforschung.
Deshalb ist meine konkrete Frage an Sie: Billigt die
Bundesregierung weitere Aktivitäten bzw. eine weitere
Zusammenarbeit mit der Volksrepublik China, die in irgendeiner Weise mit der Entwicklung eines Hochtemperaturreaktors in China im Zusammenhang stehen?
Ich nehme an, Sie beziehen sich auch auf die einschlägige Berichterstattung in den Medien. Ich kann
dazu zwei Dinge feststellen. Wenn ich es richtig sehe,
geht es zunächst einmal um die Frage: Findet in Jülich
Forschung zum Thema Hochtemperaturreaktor statt, und
wird das mit öffentlichen Geldern finanziert? Die Frage
habe ich gerade beantwortet.
Die andere Frage ist: Beteiligt sich das Forschungszentrum Jülich am Bau eines Hochtemperaturreaktors in
China? Nach Angaben des Forschungszentrums Jülich
gibt es keine Wissenschaftler aus Jülich, die am Bau des
HTR in China mitwirken.
Das ist eine abenteuerliche Interpretation. Wenn ich
nach China fahre, Auftragsarbeiten für das federführende Institut zur Entwicklung dieses Reaktors ausführe
und an Kongressen teilnehme, auf denen diese Frage diskutiert wird, kann man, glaube ich, schon davon sprechen, dass eine Zusammenarbeit existiert. Dass Sie jetzt
sagen, das finde nicht statt, ist eine sehr eigenwillige Interpretation der Aktivitäten des Forschungszentrums.
Wenn Sie die Frage für die Zukunft nicht klar beantworten möchten, dann möchte ich eine klare Frage zur
Vergangenheit stellen: In welcher Höhe insgesamt hat
die Bundesregierung in den letzten fünf Jahren die Forschungsaktivitäten für den Hochtemperaturreaktor in
Jülich unterstützt?
Ich will auf eines zurückkommen: Das ist nicht meine
Behauptung, sondern ich beziehe mich auf die Angaben
des Forschungszentrums Jülich. Von diesem wird die Interpretation vonseiten Nordrhein-Westfalens und vielleicht auch von Ihnen, dass sich Wissenschaftler des Forschungszentrums Jülich am Bau beteiligen, verneint.
Darauf beziehe ich mich.
Was die Frage angeht, inwieweit es eine Unterstützung gegeben hat bzw. wie hoch diese Unterstützung im
Rahmen der Förderung, die jetzt ausläuft, ausgefallen
ist, bitte ich, mir zu gestatten, die Antwort nachzureichen. Ich will nur eines feststellen: Es findet in diesem
Bereich Sicherheitsforschung statt. Das wird auch nach
wie vor vertreten. Mit der nuklearen Sicherheitsforschung leisten wir letztendlich auch einen Beitrag zur Sicherheit von Nuklearanlagen im In- und Ausland, und es
geht auch um den Kompetenzerhalt in Deutschland.
Wenn ich es richtig verstanden habe, wird das auch
von der rot-grünen Landesregierung in Nordrhein-Westfalen unterstützt, die auf Seite 41 ihres Koalitionsvertrags aus dem Jahr 2012 dazu schreibt - ich zitiere -:
Das Land NRW wird keinerlei Atomforschung
mehr finanzieren, mit Ausnahme der Forschung für
Sicherheit, Endlagerung und Rückbau.
({0})
Danke, Herr Staatssekretär.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Thomas Silberhorn zur Verfügung.
Vizepräsidentin Petra Pau
Ich rufe die Frage 9 des Kollegen Uwe Kekeritz auf:
Nach welchen Kriterien wurden die Teilnehmer bzw. Organisationen des runden Tisches des Bundesministers für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Dr. Gerd
Müller, zum Thema „Siegel in der Textilindustrie“ ausgewählt
({0}),
und was waren die Ergebnisse des Treffens am 30. April
2014?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Ich darf die erste
Frage nach dem runden Tisch am 30. April wie folgt beantworten: Die Teilnehmer sind nach ihrer Bedeutung
für die Textilbranche ausgewählt worden. Wir haben darauf geachtet, dass nicht nur Vertreter der Wirtschaft eingeladen werden, sondern auch Arbeitgeberverbände,
Gewerkschaften und Vertreter der Zivilgesellschaft einbezogen sind, sodass unterschiedliche Standpunkte gehört und diskutiert werden konnten.
Es waren insgesamt 27 Teilnehmer. Mit Blick auf die
knappe Zeit wird es mir kaum möglich sein, alle zu nennen. Es sind Unternehmen, Verbände, Gewerkschaften,
Nichtregierungsorganisationen und Zertifizierer. Das
größte Interesse dürfte an den Unternehmen bestehen. Es
waren Adidas, Adler Modemärkte, Aldi Nord, Aldi Süd,
C & A, H & M, KiK Textilien, Lidl-Stiftung, Metro
Group, Otto und Tchibo. Die großen und wichtigen Unternehmen waren also vertreten.
Als Ergebnis wurde vereinbart, ein Bündnis für einen
nachhaltigen deutschen Textilmarkt zu starten und einen
gemeinsamen Aktionsplan in den Konsultationsrunden
zu entwerfen, die folgen werden.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Vielen Dank für Ihre Antwort. - Es freut mich, dass
das Ministerium meinen Vorschlag aufgegriffen hat,
auch die Zivilgesellschaft zu diesem runden Tisch einzuladen; das hat wunderbar geklappt. Meine Frage lautet:
Sie werden bei einer solch großen Gruppe sehr viele
Konfliktlinien berücksichtigen müssen. In welche Richtung, glauben Sie, wird der Trend gehen? Wollen Sie ein
Siegel haben, das für eine breite Durchdringung sorgt,
aber eher für niedrige Standards steht, oder wollen Sie
das Gegenteil, also höhere Standards vertreten und damit
das Risiko eingehen, dass es nicht so breit wirksam
wird?
Sehr geehrter Herr Kekeritz, es handelt sich - das
wird auch Bestandteil meiner Antwort auf Ihre zweite
schriftlich eingereichte Frage sein - um zwei Prozesse.
Es geht darum, zum einen ein Textilsiegel zu etablieren
und zum anderen soziale Standards zu vereinbaren. Wir
setzen insgesamt auf Kooperation; denn wir wollen die
gesamte Lieferkette von den Produktionsstätten in Drittstaaten bis hin zum Verbraucher in Deutschland erfassen, also die gesamte globale Lieferkette vom Baumwollfeld bis zum Bügel. Da reicht der Aktionsradius der
deutschen Entwicklungszusammenarbeit jedenfalls weiter als die Direktionskraft des deutschen Gesetzgebers.
Insofern ist die Entwicklungszusammenarbeit berufen,
die Handlungsspielräume zu nutzen, um eine solche globale Lieferkette zu gestalten sowie soziale und ökologische Mindeststandards zu vereinbaren und umzusetzen.
Sie haben das Wort zur zweiten Nachfrage.
Herzlichen Dank. - Sie haben von sozialen und ökologischen Mindeststandards gesprochen. Ich nehme an,
dass Sie auch die arbeitssicherheitsrelevanten Standards
einbeziehen werden, aber das nur nebenbei.
Mich interessiert noch Folgendes: Seit 2001 moderiert das BMZ eine multinationale Stakeholder-Initiative,
einen runden Tisch, bei dem es um Verhaltenskodizes
geht. Wie wollen Sie durch die Schaffung von Doppelstrukturen zu einer substanziellen Verbesserung beitragen, oder wollen Sie diesen runden Tisch dann auflösen?
So wie ich das interpretiere, ist dieser runde Tisch dann
eigentlich obsolet.
Herr Kekeritz, es ist zutreffend, dass durch diesen
runden Tisch zu den Verhaltenskodizes bereits eine enge
Partnerschaft der deutschen Entwicklungszusammenarbeit mit der Bekleidungsindustrie besteht. Wir wollen
keine Doppelstrukturen errichten, sondern die bestehenden Initiativen nutzen und breiter verankern. Es ist
durchaus möglich, diesen runden Tisch zu den Verhaltenskodizes zu einem Bündnis für einen nachhaltigen
Textilmarkt in Deutschland weiterzuentwickeln.
Ich rufe die Frage 10 des Kollegen Uwe Kekeritz auf:
Warum gibt die Bundesregierung einem freiwilligen Siegel für Arbeitsstandards in der Textilproduktion den Vorzug
vor gesetzlichen Maßnahmen, die für alle Marktteilnehmer
gleichermaßen verbindlich wären, und inwiefern soll sich das
von Bundesminister Dr. Gerd Müller angedachte Siegel von
etablierten Siegeln wie GOTS oder Fair Wear unterscheiden?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Bundesminister
Dr. Gerd Müller hat zunächst ein Textilbündnis initiiert.
Ziel dieses Textilbündnisses ist es, eine Selbstverpflichtung der Textilbranche zur Einhaltung von ökologischen
und sozialen Standards zu erreichen. Dabei arbeiten, wie
angesprochen, Unternehmen, Verbände, Arbeitgeber2644
und Arbeitnehmervertretungen sowie Nichtregierungsorganisationen zusammen. Sie haben vereinbart, einen
gemeinsamen Aktionsplan zu erstellen.
Darüber hinaus geht es uns mit dem von Bundesminister Dr. Müller angekündigten Textilsiegel darum,
Sozial- und Umweltstandards in der gesamten Lieferkette abzudecken, also vom Baumwollfeld bis zum Kleiderbügel. Das wird durch bestehende Siegel nicht geleistet. Es ist aber ein wichtiger Schritt hin zu einer
umfassenden Einhaltung von Sozial- und Umweltstandards in der Textilbranche, die gesamte globale Lieferkette zu erfassen.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Wir begrüßen natürlich sehr, dass Sie tatsächlich die
ganze Lieferkette einschließen wollen. Aber Sie sprechen hier von freiwilligen Vereinbarungen. Ich denke,
dass Unternehmensverantwortung nicht mit CSR gleichgesetzt werden darf; denn all die Firmen, die Sie genannt
haben, haben schon einen ganz dicken Katalog von auf
dem CSR-Kodex beruhenden Selbstverpflichtungsmaßnahmen, was bisher noch nicht den gewünschten Erfolg
gebracht hat.
Welche Rolle will denn das BMZ spielen, wenn sich
wieder herausstellen sollte, dass diese freiwilligen Maßnahmen nicht funktionieren? Wie können Sie sicherstellen, dass Ihre Initiative von vielen Unternehmen nicht
zum Greenwashing oder Fairwashing verwendet wird?
Herr Abgeordneter, wir zielen darauf ab, dass gemeinsam soziale und ökologische Standards festgelegt
werden, denen sich nicht nur die Unternehmen aus
Deutschland verpflichtet fühlen, sondern auch die Produktionsstätten, die von deutschen Unternehmen in
Asien und andernorts beauftragt werden. Insofern sind
wir auf Kooperation und auch auf Maßnahmen der Entwicklungszusammenarbeit angewiesen, um solche Standards vor Ort umzusetzen.
Wir loten allerdings alle Handlungsmöglichkeiten
gründlich aus und schließen nichts aus. Wir sind auf einem guten Wege, in Kooperation mit all den wesentlichen Akteuren diesen gemeinsamen Aktionsplan zu erarbeiten und uns auf soziale Mindeststandards zu
verständigen.
Sie haben das Wort zur zweiten Nachfrage.
Herzlichen Dank. - Sie haben gerade angesprochen,
dass es auch um die Produktionsstätten in den Entwicklungsländern selbst geht. Haben Sie vor, auch mit den
Gewerkschaftsvertretern vor Ort Kontakt aufzunehmen?
Inzwischen gibt es immer mehr soziale Gruppen und an
Ökologie interessierte Gruppen, die sich mit dieser Thematik auseinandersetzen. Gibt es Initiativen, auch mit
diesen Gruppen in Kontakt zu treten?
Ja, Herr Abgeordneter, das ist der Fall. Das Entwicklungsministerium ist bereits seit einigen Jahren unterwegs, um mit den Arbeitnehmervertretern darauf hinzuwirken, dass die Arbeitsrechte und Mindeststandards bei
den Arbeitsbedingungen eingehalten werden. Wir bilden
beispielsweise auch Inspektoren aus, die darauf achten,
dass solche Standards umgesetzt werden. Insofern sind
wir breit aufgestellt und schließen nichts aus.
Ich will auch darauf hinweisen, dass wir beispielsweise in engem Kontakt mit der Internationalen Arbeitsorganisation, aber auch mit der Europäischen Kommission stehen. Wir wollen in enger Kooperation mit allen
interessierten Kräften vorankommen, sowohl was die sozialen und ökologischen Standards angeht als auch was
ein Textilsiegel angeht, das Transparenz für die Verbraucher in Deutschland schafft.
Danke, Herr Staatssekretär. - Die Kollegin Pfeiffer
hat das Wort zu einer Zusatzfrage.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Staatssekretär,
sind Sie mit mir einer Meinung, dass in dem Moment, in
dem die Verantwortlichkeit für dieses Gütesiegel an die
Wirtschaft bzw. die Unternehmen übertragen wird, wir
vor Ort einen besseren Ertrag aus dieser Verpflichtung
heraus haben? Ich glaube, dass der Druck der Wirtschaft
auf die Unternehmen vor Ort, die handelnden Personen
und auch die Regierungen wesentlich größer sein kann
als das, was wir unter Umständen im Rahmen der bilateralen oder von mir aus auch der multilateralen Zusammenarbeit leisten können.
Frau Abgeordnete, das ist natürlich der Fall. Die Handelsunternehmen, die ihre Waren von Produktionsstätten
in Drittländern, zum Beispiel in Asien, beziehen, üben
natürlich eine große Nachfragemacht aus. Deutschland
ist ein großer Markt für die Textilbranche. Wir sind Bestandteil eines großen europäischen Binnenmarkts. Deswegen wird in der gesamten Europäischen Union mit
großer Aufmerksamkeit verfolgt, wie wir unsere Debatte
hier gestalten. Ich habe schon erwähnt, dass wir mit der
Europäischen Kommission in enger Zusammenarbeit
stehen. Wir wollen die Handlungsmöglichkeiten, die wir
als Nachfrager bzw. Verbraucher in Deutschland haben,
mit nutzen, um zu besseren Arbeitsbedingungen vor Ort
beizutragen.
Es ist eine für uns nicht hinnehmbare Situation, dass
Kleidung unter unwürdigen Bedingungen in dritten Staaten produziert wird. Wir führen an anderer Stelle Diskussionen über Lohnuntergrenzen und Mindestlöhne. Man
sollte in diesem Zusammenhang auch sehen, dass wir in
einer globalisierten Weltwirtschaft die Produktionsbedingungen in Ländern, aus denen wir importieren, mit
berücksichtigen müssen.
Danke, Herr Staatssekretär. - Damit sind wir tatsächlich am Ende des Geschäftsbereichs des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie auf. Zur Beantwortung
der Fragen steht der Parlamentarische Staatssekretär
Uwe Beckmeyer zur Verfügung.
Wir kommen zur Frage 11 der Kollegin Inge Höger:
Wie viele Genehmigungsanfragen zum Export eines Gefechtsübungszentrums sind bisher vom Bundessicherheitsrat
beschieden worden - unter Angabe der Empfängerstaaten und
der Entscheidung -, und welche Exportgenehmigungen für
Gefechtsübungszentren wurden bislang zurückgezogen?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Liebe Kollegin Höger, gern beantworte ich Ihre
Frage: Die Bundesregierung äußert sich grundsätzlich
weder dazu, inwieweit einzelne Exportgenehmigungen
auf Entscheidungen des Bundessicherheitsrates beruhen,
noch äußert sie sich zu den Sitzungen des Bundessicherheitsrates, also auch nicht zu deren Zeitpunkt oder zu deren Inhalt. Diese unterliegen der Geheimhaltung.
Die Koalitionsparteien haben sich im Koalitionsvertrag jedoch darauf verständigt, über abschließende Genehmigungsentscheidungen des Bundessicherheitsrates
unverzüglich zu berichten. Die Bundesregierung bereitet
derzeit die Umsetzung dieser Vereinbarung vor, sodass
für die künftigen Genehmigungsentscheidungen des
Bundessicherheitsrates eine zeitnahe Information des
Deutschen Bundestages sichergestellt ist.
Ich kann Ihnen unabhängig von der Frage einer Befassung des Bundessicherheitsrates mitteilen, dass mit
Ausnahme von Russland und den Vereinigten Arabischen Emiraten keine Exporte von Gefechtsübungszentren in andere Länder genehmigt wurden. Die Genehmigung für die Ausfuhr in die Vereinigten Arabischen
Emirate ist im Rüstungsexportbericht 2010 und die Genehmigung für die Ausfuhr nach Russland ist im Rüstungsexportbericht 2011 ausgewiesen. Wie Sie wissen,
hält die Bundesregierung in der gegenwärtigen Situation
die Ausfuhr des Gefechtsübungszentrums nach Russland
nach wie vor nicht für vertretbar. Sie steht daher in Kontakt mit dem entsprechenden Unternehmen. Unmittelbar
stehen keine Ausfuhren bevor. Bei Bedarf wird die Bundesregierung die erforderlichen Schritte ergreifen.
Frau Höger, Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Gerade im Zusammenhang mit der Genehmigung der
Lieferung eines Gefechtsübungszentrums an Russland
gab es in den Medien sehr widersprüchliche Berichterstattungen. Zum einen äußerte sich Außenminister
Steinmeier dahin gehend, dass er sich dafür einsetzen
werde, dass es nicht geliefert werde. Dann gab es Berichte, dass aber schon alles ausgeliefert sei. Dazu würde
ich gerne konkret wissen - ich denke, darauf haben wir
als Abgeordnete ein Recht -: Wie ist der Stand? Welche
Teile des Gefechtsübungszentrums sind an Russland geliefert und welche noch nicht?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Nach meinem Kenntnisstand sind keine Teile dieses
Gefechtsübungszentrums ausgeliefert worden. Es finden nach meinem Kenntnisstand dort Baulichkeiten
statt, aber nicht mit Gerät, das aus der Bundesrepublik
Deutschland geliefert worden ist.
Frau Höger, Sie haben das Wort zu einer zweiten
Nachfrage.
In diesem Gefechtsübungszentrum können Häuserkämpfe, Straßenkämpfe, urbane Kämpfe geübt werden.
Wie verträgt es sich mit einer verantwortungsvollen Sicherheits- und Außenpolitik, wenn so ein Übungszentrum an Länder wie Saudi-Arabien oder Russland geliefert werden darf?
Wir haben kein Gefechtsübungszentrum an SaudiArabien geliefert.
Damit sind Ihre Nachfragemöglichkeiten erschöpft,
Frau Höger. Mir liegen keine weiteren Nachfragewünsche vor.
Die Frage 12 des Abgeordneten Dr. André Hahn und
die Frage 13 der Abgeordneten Dr. Julia Verlinden wie
auch die Frage 14 des Abgeordneten Oliver Krischer
und die Frage 15 der Abgeordneten Kathrin Vogler sollen schriftlich beantwortet werden.
Danke, Herr Staatssekretär.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Auswärtigen
Amtes. Sämtliche Fragen hierzu - die Fragen 16 und 17
der Abgeordneten Heike Hänsel, die Fragen 18 und 19
des Abgeordneten Omid Nouripour, die Frage 20 der
Abgeordneten Marieluise Beck, die Fragen 21 und 22
Vizepräsidentin Petra Pau
der Abgeordneten Christine Buchholz, die Fragen 23
und 24 der Abgeordneten Katrin Kunert, die Fragen 25
und 26 des Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, die
Frage 27 des Abgeordneten Andrej Hunko, die Fragen 28 und 29 des Abgeordneten Dr. Alexander Neu, die
Frage 30 der Abgeordneten Ulla Jelpke und die Frage 31
der Abgeordneten Sevim Dağdelen - werden schriftlich
beantwortet.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern. Zur Beantwortung der Fragen steht der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Günter
Krings zur Verfügung.
Die Frage 32 der Kollegin Dağdelen wie auch die
Frage 33 der Kollegin Jelpke sollen schriftlich beantwortet werden.
Ich rufe die Frage 34 der Kollegin Martina Renner
auf:
Durch welche Behörde haben welche Bundesbehörden
erstmals von der CD mit der Aufschrift „NSU/NSDAP“ ({0}) Kenntnis erhalten - bitte unter Angabe
des Zeitpunktes?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Herzlichen Dank. - Das war heute bereits ausführlich
Thema der Sitzung des Innenausschusses. Da wir dort
über die Frage des Neuigkeitswertes gesprochen haben,
bitte ich gleich schon einmal, mir nachzusehen, dass es
hier jetzt wahrscheinlich keinen Neuigkeitswert gibt, jedenfalls nicht im Vergleich zur Sitzung des Innenausschusses; aber dort waren ja nicht alle Kollegen zugegen.
Auf die Frage zur Kenntniserlangung durch die Behörden kann ich Folgendes sagen:
Mitteilungen über die Existenz der CD erfolgten
durch eine Behörde des Verfassungsschutzverbundes;
sprich: durch eine Landesbehörde. Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof und das Bundeskriminalamt erlangten am 4. März 2014 und das Bundesamt
für Verfassungsschutz erlangte am 10. März 2014
Kenntnis von diesem Datenträger, wobei heute Morgen
die Differenzierung zwischen CD und DVD noch einmal
deutlich gemacht wurde. Dass es den Datenträger gibt,
ist also an den genannten Daten den jeweiligen Behörden zur Kenntnis gelangt.
Fragen zu Einzelheiten zu der betreffenden die Information veranlassenden Verfassungsschutzbehörde und deren Informationsbeschaffung kann die Bundesregierung
nicht beantworten. Dies folgt - Sie kennen das - aus der
Abwägung zwischen dem Schutz der verfassungsrechtlich garantierten Informationsrechte des Deutschen Bundestages und seiner Abgeordneten einerseits mit den zu
befürchtenden negativen Folgen für die künftige Arbeitsfähigkeit und Aufgabenerfüllung und den daraus resultierenden Beeinträchtigungen der Sicherheit der Bundesrepublik andererseits. Bereits aus der Nennung der
Behörde beispielsweise, wenn man also sagen würde,
welche Landesbehörde es war, könnten Rückschlüsse
auf deren konkrete Arbeitsweise gezogen werden.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Danke, Herr Dr. Krings, für die jetzt auch öffentliche
Erörterung der Frage. Welche Landesbehörde es war,
kann man in der Presse nachlesen.
Ich würde gern wissen: Inwieweit haben Bundesbehörden, also das BKA, aber hier insbesondere das Bundesamt für Verfassungsschutz, Einträge im Rechtsaußenforum eigentümlich frei im November 2013 ausgewertet,
in denen erstmals auf diese CD mit der Aufschrift „NSU/
NSDAP“ hingewiesen wurde und auch ein Zusammenhang mit dem mittlerweile verstorbenen V-Mann Corelli
hergestellt wurde? Inwieweit also hat die Abteilung Auswertung im BfV diesen Foreneintrag zur Kenntnis genommen, und was ist daraufhin veranlasst worden?
Darauf muss ich ehrlich antworten, dass mir dazu ad
hoc keine Kenntnisse vorliegen. Das müssten wir vielleicht im Rahmen einer schriftlichen Antwort machen,
soweit es ohne Einstufung oder auch mit Einstufung beantwortet werden kann. Ich kann es Ihnen aktuell nicht
sagen.
({0})
Würden Sie bitte Ihr Mikrofon einschalten!
Das habe ich. Es hat etwas gedauert. - Ich bedanke
mich erst einmal für die Zusage, dass diese Frage schriftlich beantwortet wird.
Generell können Sie mir vielleicht sagen, ob das
Rechtsaußenforum eigentümlich frei Beobachtungsgegenstand des BfV ist, weil dort jetzt schon zum zweiten
Mal sehr detaillierte Informationen aus dem Kontext des
NSU veröffentlicht wurden.
Das kann ich Ihnen ad hoc nicht sagen. Wie gesagt,
wir müssen schauen, welcher Einstufung das gegebenenfalls unterliegt. Ich bin gern bereit, die Frage ins Haus
und in die nachgeordnete Behörde zu geben.
({0})
Gut. Dann gilt das als vereinbart. - Es gibt eine Nachfrage des Kollegen Ströbele zur Frage 34.
Herr Staatssekretär, ich habe zu Herrn Corelli noch
eine Frage. Das beschäftigt ja nicht nur die Medien, sondern auch den Deutschen Bundestag; darauf haben Sie
schon hingewiesen.
Es gibt die Behauptung - dazu hätte ich gern eine offizielle Stellungnahme der Bundesregierung -, dass Herr
Corelli möglicherweise gar nicht Herr Corelli ist, sondern dass es sich bei der Person, die gestorben ist, um
eine andere Person handelt. Können Sie dem Deutschen
Bundestag und der Öffentlichkeit erklären, ob und wie
Herr Corelli als solcher identifiziert worden ist?
Diese Behauptung, Herr Abgeordneter, höre ich zum
ersten Mal. Es gibt auch keine Anhaltspunkte - mir sind
jedenfalls keine bekannt -, dass das so sein könnte. Er ist
identifiziert worden. Da gab es eine biologische Methode, wenn ich das aus dem Innenausschuss richtig mitgenommen habe; aber auch sein Bruder hat wohl an der
Identifizierung teilgenommen. Das sind die Informationen, die ich habe. Insofern wundert mich diese Behauptung oder diese These.
({0})
Ich rufe - wir bleiben beim Gegenstand der gerade
behandelten Frage - die Frage 35 der Kollegin Martina
Renner auf:
Welche der auf der genannten CD befindlichen Dateien,
mit welchem Inhalt und Erstellungsdatum, lassen sich nach
Erkenntnissen der Bundesregierung dem V-Mann Corelli zurechnen?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Hier geht es um den Inhalt des Datenträgers bzw. um
dessen Zurechnung zu dem V-Mann Corelli. Diese Frage
- so haben wir das heute Morgen noch einmal gehört ist Gegenstand eines laufenden Ermittlungsverfahrens
des Generalbundesanwalts. Die Bundesregierung äußert
sich, wie Sie wissen, nicht zu den Einzelheiten laufender
Ermittlungsverfahren, um den Fortgang der Ermittlungen nicht zu gefährden. Es geht nicht nur um den Verstorbenen - da muss man nicht mehr ermitteln -, aber es
geht um Personen im Umfeld. Trotz der grundsätzlich
bestehenden verfassungsrechtlichen Pflicht der Regierung, Informationsansprüche des Bundestages zu erfüllen,
tritt hier nach sorgfältiger Abwägung der betroffenen
Belange das Informationsinteresse des Parlaments hinter
der Pflicht zur Durchführung von Strafverfahren zurück.
Das ergibt sich aus dem Rechtsstaatsprinzip. Insofern
gibt es hier ein daraus resultierendes Geheimhaltungsinteresse in Bezug auf ein solches laufendes Ermittlungsverfahren. Auch die Nennung einer Teilbewertung
durch den Generalbundesanwalt ist aus den genannten
Gründen nicht angezeigt.
Kollegin Renner, Sie haben das Wort zur Nachfrage.
Herr Dr. Krings, dann will ich nicht zu Details, sondern zu dem Ermittlungsverfahren fragen, auf das Sie
jetzt verwiesen haben. Um welche möglichen Straftatbestände geht es bei diesem Ermittlungsverfahren, und gegen welche Personen wird es geführt? Oder wird es gegen unbekannt geführt? Wenn Sie die Informationen
jetzt vielleicht nicht vorliegen haben, bitte ich um Nachreichung einer schriftlichen Antwort.
Das kann ich in der Tat jetzt nicht sagen, Frau Abgeordnete. Dabei handelt es sich um eine Behörde, die zum
Geschäftsbereich des Bundesjustizministeriums gehört.
Insofern müssen Sie die Frage noch einmal an das Justizministerium richten.
Okay.
Gibt es noch eine zweite Nachfrage?
Nein.
Das ist nicht der Fall.
Dann kommen wir zur Frage 36 des Kollegen HansChristian Ströbele:
Werden die drei momentan vom Bundesamt für Verfassungsschutz ausgeschriebenen IT-affinen Sachbearbeiterinnen
und Sachbearbeiter im Bereich „Zentrale Fachunterstützung“,
welche laut Ausschreibung auch mit der „Auswertung gesammelter Informationen“ betraut werden sollen, von Mitarbeitern des Bundesnachrichtendienstes in der Nutzung von Datensammlungssoftware, wie beispielsweise XKeyscore, Prism
oder anderen, geschult ({0}), und inwiefern werden die Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes, die mit der Schulung beauftragt sind, selbst auch heute
noch vom amerikanischen Geheimdienst NSA oder anderen
für die Schulung ihrer deutschen Kolleginnen und Kollegen
ausgebildet?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Bei der Fragestellung geht es um angeblich drei momentan vom Bundesamt für Verfassungsschutz ausgeschriebene Stellen für IT-affine Sachbearbeiterinnen und
Sachbearbeiter. Die Ausschreibung im Jahre 2014, Herr
Abgeordneter, erfolgte sowohl für Personen mit einem
IT-Studium als auch für IT-affine Sachbearbeiter. Sie
war aber nicht auf eine bestimmte Anzahl von Personen
festgelegt. Die konkrete Verwendung der durch die Ausschreibung gewonnenen Mitarbeiter ist allerdings offen.
Erst nach Festlegung dieser Verwendung wird über den
jeweiligen Schulungsbedarf entschieden. So ist das Prozedere bei einer Einstellung in der Behörde.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Danke. - Das ist mir natürlich bekannt. Laut Ausschreibungstext geht es - das soll die Aufgabe sein - gerade auch um die Auswertung gesammelter Informationen. Von daher liegt die Vermutung nahe, dass für die
neuen Mitarbeiter im Bereich von Prism und Tempora
und all der neuen Systeme - sie kommen aus den USA
und stehen dem Bundesnachrichtendienst offenbar zur
Verfügung - eine Beschäftigung in dieser Richtung geplant ist. Dazu können Sie nichts sagen. Das deutet darauf hin: Es handelt sich um gesammelte Daten, die ausgewertet werden sollen. Soweit ich weiß, ist Prism das
beste System dafür.
Ich glaube, da muss man differenzieren und darf nicht
zu viele Dinge durcheinanderwerfen, Herr Abgeordneter. Prism ist, soweit mir bekannt ist, keine Software,
sondern das Programm einer Behörde. Das ist kein Programm im Sinne eines Softwareprogramms, sondern ein
Arbeitsbereich mit einer bestimmten Herangehensweise.
XKeyscore - das hatten Sie ausdrücklich in der Frage erwähnt - ist in der Tat eine Software. Dazu gibt es bereits,
wenn ich es richtig sehe, Antworten auf Fragen von Ihnen, in denen bestätigt wurde, dass dieses Programm
auch als Software Verwendung findet. Es ist keine Datensammelsoftware, sondern es hilft bei der Auswertung
rechtmäßig gesammelter Daten. Selbstverständlich ist
nicht auszuschließen, dass diese Mitarbeiter - oder einige von ihnen - diese Software anwenden werden.
Sie haben das Wort zur zweiten Nachfrage.
Die zweite Nachfrage ist eigentlich schon in der
Frage enthalten, nämlich ob sie jetzt schon vom Bundesnachrichtendienst geschult worden sind. Das ist die eigentliche Frage bzw. Teil 1 der Frage gewesen. Teil 2 der
Frage ist, ob sie von der NSA überhaupt oder weiter geschult werden.
Der Bundesnachrichtendienst schult bereits jetzt Personal, das mit dieser Software umgeht. Er hat offenbar
eine Expertise, die beim Verfassungsschutz so nicht vorhanden ist. Es ist - deshalb habe ich die Frage eben so
beantwortet - die Frage, ob die jetzt Einzustellenden
diese Software überhaupt nutzen werden und ob es dann
Schulungsbedarf gibt. Ob sie sie nutzen werden, ist eine
Frage, die nicht zu beantworten ist. Was Sie wahrscheinlich aber auch interessiert: Natürlich werden für die Nutzung dieser Software bereits jetzt Schulungen durch Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes durchgeführt.
Die Frage, inwieweit diese wiederum von anderen
Diensten - Sie haben zu Recht die Amerikaner angesprochen, weil die Software von da kommt - geschult
werden, ist, wie Sie sich denken können, eine Frage zur
nachrichtendienstlichen Zusammenarbeit, und dazu können wir hier, jedenfalls in dieser Form, keine Auskünfte
geben. Es wäre allerdings möglich, so etwas in der Geheimschutzstelle des Bundestages auszulegen, sodass
Sie dann auf diese Art und Weise davon Kenntnis nehmen können.
({0})
Wir kommen zur Frage 37 des Kollegen HansChristian Ströbele:
Teilt die Bundesregierung - entgegen ihrer bisherigen
Stellungnahme ({0}) - die Auffassung des Rechtsgutachtens
des Unabhängigen Landeszentrums für Datenschutz Schleswig-Holstein, ULD, vom 23. April 2014, wonach sie verfassungsrechtlich „alternativlos“ verpflichtet ist, Edward
Snowden rasch um Einreise nach Deutschland zu bitten, um
hier frei über Gefährdungen informationeller Bürger- und
Grundrechte durch die NSA aufzuklären, was die USA bisher
verweigern, und mit welchen Tatsachen und konkreten Erkenntnissen begründet die Bundesregierung ihre bisherige
Annahme, gegenüber ihrer Kooperationspflicht mit dem Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages wöge verfassungsrechtlich ihre, nach meiner Auffassung unbelegte sowie unrealistische Vermutung schwerer, eine Einreise Edward
Snowdens nach Deutschland könne die Kooperation US-amerikanischer mit hiesigen Geheimdiensten einschränken?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Die Antwort kann ich relativ kurz halten, Herr Abgeordneter: Zu den rechtlichen Rahmenbedingungen einer
möglichen Einreise von Herrn Snowden nach Deutschland hat die Bundesregierung dem Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages am 2. Mai 2014 einen umfassenden Bericht vorgelegt. Die Regierung sieht
sich mit Blick darauf nicht veranlasst, darüber hinaus
noch weiter Stellung zu nehmen. Manchen war ja, wenn
ich das so sagen darf, sogar diese Stellungnahme schon
zu weitgehend.
Damit bin ich natürlich überhaupt nicht zufrieden.
Wir werden das sicherlich auch im Untersuchungsausschuss erörtern, wahrscheinlich sogar öffentlich. Das
wird man also sehen.
Diese gutachterliche Äußerung bzw. Stellungnahme
der Bundesregierung liegt mir vor. Sie ist aber, wie ich
inzwischen festgestellt habe, herabgestuft worden; das
heißt, sie kann allen vorliegen. Bevor sie mir vorlag, lag
sie schon - ich weiß nicht - mindestens einem Dutzend
Medien vor, und die haben daraus auch schon veröffentlicht. Das wollen wir jetzt aber nicht erörtern, sondern
mir geht es darum, dass sich da tatsächlich die Passage
findet, dass gerade im geheimdienstlichen Bereich möglicherweise erhebliche Einschränkungen auf Dauer entstehen, wenn Herr Snowden nach Deutschland kommen
sollte. Nicht in der Stellungnahme findet sich aber: Wie
kommt die Bundesregierung darauf? Gibt es da Äußerungen, gibt es da Fakten, die dafürsprechen? Nach allem, was ich weiß, erscheint mir das doch sehr herbeigesucht, weil die USA und die NSA mindestens so sehr an
einer guten Zusammenarbeit in diesem Bereich interessiert sind, wie Deutschland vielleicht daran interessiert
ist.
Sie haben ja eben darauf hingewiesen, dass manche
Dinge auch in der Presse zu lesen sind. Wir brauchen uns
gegenseitig nichts vorzumachen, wie eine Reaktion von
ausländischen Diensten - ich sage es jetzt einmal allgemein - ausfällt, wenn ein Staat in solchen Situationen
praktisch einen sicheren Hafen, um es einmal untechnisch zu sagen, anbietet. Ich glaube, wir können uns ausmalen, dass das nicht ohne Implikationen bleibt, auch
was die Zusammenarbeit angeht. Ich will jetzt gar nicht
von den grundsätzlichen Außenbeziehungen sprechen;
so hoch will ich gar nicht greifen. Aber dass das Auswirkungen auf die nachrichtendienstliche Zusammenarbeit
haben wird, davon kann man schon ausgehen. Es wäre,
glaube ich, naiv, das auszuschließen.
Noch einmal: Ich kann nur darauf hinweisen, dass in
der Stellungnahme ausführlich die Gründe benannt werden. Die Stellungnahme ist inzwischen offen; sie war
zuerst als NfD eingestuft. Es handelte sich um eine Abwägungsfrage. Der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses hat uns gebeten, es als offen einzustufen, um,
wie auch Sie es ja betonen, gerade über die rechtliche
Argumentation, was gegen eine Vernehmung in
Deutschland spricht, transparent und nicht nur in dem
achtköpfigen Untersuchungsausschuss diskutieren zu
können. Die rechtlichen Argumente ergeben sich insofern daraus.
Um sich ausmalen zu können, was das für Implikationen für die außenpolitische Zusammenarbeit hat, dazu
braucht man - das sage ich noch einmal - keine große
Fantasie.
Sie haben das Wort zur zweiten Nachfrage.
Darf ich Ihrer Antwort entnehmen, dass Sie nicht in
der Lage sind, Fakten zu nennen, die diesen Entschluss
insbesondere hinsichtlich der geheimdienstlichen Zusammenarbeit begründen könnten, also dass Sie keine
kennen?
Es gibt presseöffentliche Äußerungen, die wir beide
kennen. Es gibt da für mich hinreichend starke Indizien - Fakten, wenn Sie so wollen. Insofern ist das ein
Punkt, der in die Abwägung einzubeziehen ist. Natürlich
ist die Bundesregierung verpflichtet - das tut sie auch
gern -, dem Untersuchungsausschuss Amtshilfe zu leisten; aber diese Amtshilfe findet ihre Grenze, wenn die
notwendige Hilfe dem Staatswohl zuwiderlaufen würde.
Hierzu zählen eben auch auswärtige Beziehungen und die
von mir eben genannten Fragen der Zusammenarbeit.
Zu einer Zusatzfrage hat die Kollegin Martina Renner
das Wort.
Danke, Frau Präsidentin. - Auf Seite 25 des Gutachtens der Bundesregierung kommen Sie selbst zu dem Ergebnis, dass die Einholung einer Stellungnahme durch
eine US-amerikanische Kanzlei außerhalb des Zuständigkeitsbereiches der Bundesregierung liegt. Diese
Kanzlei hat sich ja zur Frage, ob sich Abgeordnete des
Deutschen Bundestages strafbar machen, wenn sie Herrn
Snowden einladen und vernehmen, geäußert.
Wenn Sie selbst der Auffassung sind, dass das außerhalb Ihres Zuständigkeitsbereiches lag, würde mich
zweierlei interessieren - ich stelle also zwei Fragen,
wenn das möglich ist -: Erstens. Warum haben Sie dann
diese US-amerikanische Kanzlei beauftragt? Zweitens.
Teilen Sie unsere rechtliche Auffassung, dass damit dieser Teil des Gutachtens, also die Stellungnahme der USKanzlei, nichtig ist und nicht in die Erörterung des Untersuchungsausschusses einbezogen werden kann?
Ich verstehe den Satz nicht so, dass wir nicht berechtigt sind, diese Auskünfte einzuholen und sie dem Ausschuss zu präsentieren. Das wäre ja ein Widerspruch in
sich, wenn wir sagen würden, dass wir das gar nicht dürfen, es aber tun. Vielmehr fällt es in seinen Zuständigkeitsbereich, das auch selber zu machen.
Ich finde, auch aufgrund des Antrags, den die Koalitionsfraktionen geschrieben haben - da gibt es eine Ziffer 4, in der es auch um die strafprozessualen Konsequenzen der Arbeit eines Untersuchungsausschusses
geht -, ist es geradezu die Pflicht der Bundesregierung,
auf mögliche Implikationen, auch in strafrechtlicher
Hinsicht und im Hinblick auf andere Staaten - hier ging
es ja um Großbritannien und um die Vereinigten Staaten;
bei Großbritannien kam man zu einem positiveren
Ergebnis, bei den USA kam es zu einem „caveat“ -, hinzuweisen. Ich finde, Abgeordnete des Deutschen Bundestages und auch Mitglieder des Untersuchungsausschusses haben kein Recht auf Nichtwissen. Sie sollten
über die strafrechtlichen Implikationen aufgeklärt werden. Insofern würde ich nicht mit dem Begriff „Nichtigkeit“ operieren. Es geht schließlich um ein Wissen. Wissen kann man nicht für nichtig erklären. Es ist jetzt da,
und es sollte auch da sein. Sollte es zu einer Einschlägigkeit amerikanischer strafrechtlicher Vorschriften durch
die Arbeit des Untersuchungsausschusses kommen,
heißt das natürlich nicht, dass die Bundesregierung sich
nicht trotzdem schützend vor die Mitglieder des Untersuchungsausschusses stellt. Trotzdem gehört es zum Gesamtbild, zu wissen, wie die Rechtslage in den USA ist.
Diese Informationen haben wir gegeben.
Wir sind damit am Ende des Geschäftsbereichs des
Bundesministeriums des Innern. - Danke, Herr Staatssekretär.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz. Die
Frage 38 der Kollegin Veronika Bellmann, die Fragen 39
und 40 des Kollegen Volker Beck und die Frage 41 der
Kollegin Cornelia Möhring sollen schriftlich beantwortet werden.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Zur Beantwortung
steht die Parlamentarische Staatssekretärin Anette
Kramme zur Verfügung.
Die Frage 42 der Kollegin Cornelia Möhring, die Fragen 43 und 44 der Kollegin Katrin Werner sowie die
Frage 45 der Kollegin Azize Tank sollen schriftlich beantwortet werden.
Wir kommen zur Frage 46 des Kollegen Markus
Kurth:
Wie viele Beschäftigte ab dem 55. Lebensjahr, die innerhalb der letzten vier Jahre vor dem Tag der Arbeitslosigkeit
mindestens 24 Monate in einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden haben, wurden im Zeitraum vom 1. April 1999
bis zum 31. Januar 2006 von ihren Arbeitgebern entlassen,
und wie viele Arbeitgeber waren in diesem Zeitraum nach der
Vorschrift des § 147 a ({0}) des Dritten Buches Sozialgesetzbuch, SGB III, verpflichtet, der Bundesagentur für
Arbeit das für ältere Arbeitnehmer gezahlte Arbeitslosengeld I zu erstatten?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Vielen Dank, Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr
Kurth, Ihre Frage gliedert sich in zwei Bestandteile. Bezüglich des ersten Teils liegen der Bundesregierung
keine Erkenntnisse vor. Bezüglich des zweitens Teils,
also zu den angeforderten Zahlen, kann ich Folgendes
sagen: Die Bundesagentur für Arbeit hat uns mitgeteilt,
dass im Jahr 2004 für 794 Zugänge in Arbeitslosengeld
bzw. für 4 021 Bestandfälle eine Erstattungspflicht des
Arbeitgebers nach § 147 a ({0}) SGB III bestanden hat. Im Jahr 2005 waren es 1 639 betreffend den
Zugang bzw. 4 148 Fälle betreffend den Bestand. Im
Jahr 2006 waren es 3 099 Fälle betreffend den Zugang
bzw. 4 650 Fälle betreffend den Bestand. Ihre Frage ist
somit beantwortet.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Wenn Arbeitgeber Beschäftigte zwei Jahre vor Renteneintritt entlassen, soll die sogenannte Erstattungsregelung im Zuge des Rentenpaketes verhindern, dass es zu
sogenannten Frühverrentungen kommt. Glauben Sie
nicht, dass angesichts der niedrigen Fallzahlen, die Sie
nennen, und auch angesichts der relativ geringen Datengrundlage die Erstattungsregelung de facto nicht doch
ein ziemlich stumpfes Schwert ist?
Herr Kurth, das denke ich nicht. Man muss wissen,
dass zwei Bestandteile sicherstellen sollen, dass es nicht
zu Frühverrentungen kommt. Der erste Bestandteil ist,
dass die Sperrzeit eines Arbeitnehmers berücksichtigt
werden soll. Das heißt: Wenn der Arbeitnehmer an der
Kündigung mitgewirkt hat, wird es zu solch einer Sperrzeit kommen. Das ist der eine Bestandteil.
Der andere Bestandteil, der meines Erachtens das erforderliche Gleichgewicht zwischen Arbeitnehmerschaft
und Arbeitgeberschaft herstellt, ist die ergänzende Regelung der Erstattung des Arbeitslosengeldes. Wenn Sie
die Zahlen aus der Vergangenheit heranziehen, dann
müssen Sie auch berücksichtigen, dass diese Erstattungsregelung nur Sachverhalte für ältere Arbeitnehmer
umfasst. Daher sind diese Zahlen relativierend zu betrachten.
Am Montag fand eine Sachverständigenanhörung
statt, in der uns die Experten durchgängig mitgeteilt haben, dass sie nicht von einer Frühverrentungswelle ausgehen.
Sie haben das Wort zur Nachfrage.
Ich war bei der von Ihnen angesprochenen Anhörung.
Der DGB ist der Einschätzung der Bundesagentur für
Arbeit gefolgt, dass es eine sehr bürokratische Regelung
ist. Der DGB hat den Vorschlag gemacht, die Erstattungsregelung zu vereinfachen. Gedenkt die Bundesregierung, diesem Vorschlag des DGB zu folgen? Wenn ja,
wie sieht gegebenenfalls eine Vereinfachung und damit
eine höhere Wirksamkeit der Erstattungsregelung aus?
Herr Kurth, bislang handelt es sich lediglich um einen
Vorschlag der Arbeitsministerin, der in den Medien
kommuniziert worden ist. Es liegt bislang kein expliziter
Gesetzestext vor. Wir werden darauf achten, dass die Regelung möglichst unbürokratisch wird. Die Verhandlungen mit dem Koalitionspartner stehen selbstverständlich
noch aus.
Wir kommen damit zur Frage 47 des Kollegen
Markus Kurth:
Inwiefern beabsichtigt die Bundesregierung aufgrund der
hohen Steuereinnahmen, sich bereits in dieser Legislaturperiode, das heißt deutlich vor dem Jahr 2019, mit zusätzlichen Mitteln an den ausgeweiteten Leistungen für Kindererziehung für vor dem Jahr 1992 geborene Kinder zu
beteiligen, und zu welchem Ergebnis kam die Erhebung des
GKV-Spitzenverbandes - GKV: gesetzliche Krankenversicherung -, ob alle Krankenkassen die Datenlücke für den gesamten infrage kommenden Zeitraum schließen können, um zwischen Zeiten des Bezugs von Arbeitslosengeld und Zeiten des
Bezugs von Arbeitslosenhilfe differenzieren zu können ({0})?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Auch diese Frage
von Herrn Kurth gliedert sich in zwei Abschnitte. Auf
die erste Teilfrage antworte ich wie folgt: Es ergeben
sich keine Auswirkungen auf die vorgesehene Finanzierung. Bei der Finanzierung der Leistungsverbesserung
des Rentenpaketes wird berücksichtigt, dass die gesetzliche Rentenversicherung finanziell gut aufgestellt ist, auf
lange Sicht aber die Beitragszahler nicht überfordert
werden dürfen.
Zur zweiten Teilfrage ist Folgendes mitzuteilen: Der
GKV-Spitzenverband hat uns mitgeteilt, dass nach einer
Erhebung bei seinen Mitgliedskassen, mit Ausnahme
von zwei Rückmeldungen, nahezu alle Krankenkassen
grundsätzlich in der Lage sind, Auskunft über die Zeiten
der Krankenversicherungspflicht aufgrund des Bezuges
von Leistungen der Arbeitsförderung differenziert nach
Arbeitslosengeld, Unterhaltsgeld, Arbeitslosenhilfe mindestens für die Zeit nach 1983 und in den neuen Ländern
ab 1991 zu geben. Diese Aussage gilt im Übrigen grundsätzlich auch für die Zeiten der Krankenversicherungspflicht aufgrund der Teilnahme an Leistungen zur Teilhabe
am Arbeitsleben bzw. von berufsfördernden Maßnahmen zur Rehabilitation. Daten über Versicherungszeiten
vor 1983 stehen nur noch vereinzelt zur Verfügung.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Zum ersten Fragenkomplex, zur Finanzierung der
Mütterrente, will ich noch einmal nachfragen. Der Deutsche Juristinnenbund hat in seiner Stellungnahme sehr
deutlich gemacht, dass die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler auch für Mütter zahlen, die eigentlich über
Versorgungswerke abgesichert sind. Er hält das verfassungsrechtlich für problematisch. Angesichts dessen
wäre es doch sachgerecht und geboten, gerade wenn die
Steuereinnahmen so hoch sind wie im Moment, bereits
frühzeitig mit einem höheren Steueranteil zur Finanzierung der Mütterrente beizutragen.
Es gibt hierzu eine Koalitionsvereinbarung, die den
Finanzierungsrahmen umschrieben hat. Die Bundesministerin hat überdies aushandeln können, dass ab dem
Jahr 2022 2 Milliarden Euro mehr zur Verfügung stehen
aus Bundeszuschüssen für die Kosten der Mütterrente;
im Jahr 2022 in Höhe von 6,5 Milliarden Euro.
Sie haben das Wort zur zweiten Nachfrage.
Eigentlich wollte ich jetzt zu den Daten kommen.
Aber ich muss da nachhaken: Wie sehen Sie denn die
Stellungnahme des Deutschen Juristinnenbundes? Darin
wird kritisiert, dass die Erziehungsjahre von Müttern, die
überhaupt nicht in der Rentenversicherung sind, sondern
einen ganz anderen Absicherungsweg - etwa über Versorgungswerke - gewählt haben, mit Beitragsmitteln finanziert werden.
Bei dieser Frage müsste ich auf eine schriftliche Antwort verweisen. Nach meiner Erinnerung ist es so, dass
das Bundessozialgericht entschieden hat, dass diese
Fälle zusätzlich über die Rentenversicherung abzudecken sind. Danach hätte die Rentenversicherung - unter der Annahme dieses Umstandes - gar keine Alternative.
Wir haben eine weitere Nachfrage.
Frau Staatssekretärin, darf ich Ihre Antwort - Sie haben einen Hinweis zur Finanzierung der sogenannten
Mütterrente gegeben und sagten, wenn ich es richtig verstanden habe, dass ab dem Jahr 2022 zusätzliche Mittel
aus dem Bundeshaushalt bereitgestellt werden sollen,
also eine Steuerfinanzierung ausgehandelt wurde, was
Sie als einen positiven Impuls der Ministerin dargestellt
haben - als ein Teileingeständnis werten, dass die jetzt,
in dieser Legislaturperiode, vorgesehene Finanzierung
im Prinzip nicht dauerhaft sachgerecht ist?
Ich kann an dieser Stelle nur noch einmal auf den
Koalitionsvertrag verweisen. Es ist unsere Sache, diesen
Koalitionsvertrag umzusetzen. Die ursprünglichen Stellungnahmen der einzelnen Parteien haben Sie sicherlich
den Medien entnehmen können.
Danke. - Mit dieser Zusatzfrage der Kollegin Hajduk
sind wir am Ende des Geschäftsbereichs des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales.
Vizepräsidentin Petra Pau
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung.
Die Fragen 48 und 49 der Abgeordneten Agnieszka
Brugger sollen schriftlich beantwortet werden.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
Die Frage 50 der Abgeordneten Pia Zimmermann soll
schriftlich beantwortet werden.
Damit sind die Fragen, die die Kolleginnen und Kollegen zur heutigen Fragestunde eingereicht haben, erschöpft.
Ich unterbreche die 32. Sitzung des Bundestages bis
zum Beginn der Aktuellen Stunde zur aktuellen Lage in
der Ukraine. Um 15.35 Uhr setzen wir unsere Arbeit
fort.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir treten wieder in
die Tagesordnung ein. Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und
SPD
Zur aktuellen Lage in der Ukraine
Ich eröffne die Aussprache. Als Erster hat das Wort
Bundesminister Dr. Steinmeier.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um es mit einem Wort zu sagen: Die Lage im Osten und im Süden
der Ukraine ist furchtbar. Wir alle waren über die Fernsehnachrichten Zeugen von Besetzungen von Häusern,
vor allen Dingen in Odessa am vergangenen Freitag, als
mindestens 40 Menschen in einem Haus gestorben sind,
in das zwei Gruppen vor der Gewalt auf der Straße geflüchtet waren. Ukrainische Sicherheitskräfte und prorussische Separatisten sind auch gestern und wohl auch
im Laufe des heutigen Tages wieder brutal aufeinandergestoßen. Es gab Verletzte, auch Tote in Donezk,
Slawjansk und Odessa. An der Grenze zur Ukraine stehen russische Soldaten, und natürlich haben viele Menschen Angst davor, dass sie irgendwann die Grenze
überschreiten könnten.
Die Nachrichten sind erschreckend. Wir alle spüren in
diesen Tagen nicht nur, dass die Nachrichten immer
schlechter werden, sondern auch, dass sie immer schneller schlechter werden. Ein Brandbeschleuniger kommt
hinzu: Je dramatischer die Ereignisse, desto schärfer die
öffentliche Rhetorik. Ich weiß zwar, dass das, was viele
Beteiligte über die politischen Lautsprecher hinausrufen,
in der diplomatischen Arbeit oft viel pragmatischer
klingt; aber dennoch werden Aktion und rhetorische
Reaktion immer mehr zu einem Teufelskreis. Irgendwann droht der Point of no Return. Dann stehen wir auf
unserem Kontinent tatsächlich an der Schwelle zu einer
Konfrontation, die wir eigentlich, 25 Jahre nach dem
Ende des Kalten Krieges, nicht mehr für möglich gehalten haben.
Ich beschreibe diese Lage nicht düster; ich beschreibe
sie ehrlich. Ich tue das nicht, um Ängste zu schüren, sondern ich tue das, weil wir jetzt auch hier in Deutschland
zeigen müssen, dass wir bereit sind, uns gegen jede weitere Eskalation mit unseren Möglichkeiten, die nicht
uferlos sind, zu stemmen - ich sage und betone: mit allen diplomatischen Mitteln -, um tatsächlich immer wieder Auswege zu bahnen. Ich bin davon überzeugt: Noch
ist es nicht zu spät, noch kann die Vernunft die Oberhand
gewinnen; aber sie kann eben nur die Oberhand gewinnen, wenn alle Beteiligten bereit sind, auf den Weg von
politischen Lösungen zurückzufinden, allen voran in
Moskau und in Kiew. Darum ringen wir jeden Tag.
({0})
Ich weiß es auch: Viel Zeit ist nicht mehr. Am 25. Mai
sollen Präsidentschaftswahlen in der Ukraine sein. Weil
nicht mehr viel Zeit ist, war ich am vergangenen Freitagmorgen beim gegenwärtigen Chef der OSZE, bei Didier
Burkhalter, in der Schweiz, hatte Freitagmittag Frau
Ashton nach Berlin eingeladen und bin gestern nach
Wien geflogen, um dort den ukrainischen Außenminister
zu treffen, am Ende auch Sergej Lawrow, um etwas vorzubereiten, was ich in der gegenwärtigen Situation für
dringend notwendig halte und was ich in fünf knappen
Thesen gestern in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
beschrieben habe:
Erstens. Ich glaube, wir brauchen noch einmal eine
Zusammenkunft der großen Vier, die in Genf bereits
zusammengetroffen sind - Ukraine, Russland, EU und
USA -, und zwar nicht, weil Genf I ein Fehler war, sondern weil nach Genf nichts folgte, um ein kluges politisches Agreement tatsächlich Schritt für Schritt in die Tat
umzusetzen.
Zweitens. Wir brauchen eine Verständigung darüber
- ich sage: eine Verständigung auch mit Russland -, dass
die Wahlen am 25. Mai in der Ukraine tatsächlich stattfinden.
({1})
Ich habe gestern mit der Überzeugungskraft, die mir zur
Verfügung steht, meinem russischen Kollegen Lawrow
noch einmal gesagt: Gerade ihr, die ihr die Legitimität
der gegenwärtigen Führung in der Ukraine bezweifelt,
müsstet das allergrößte Interesse daran haben, dass die
erste Institution der politischen Führung in der Ukraine
jetzt neu gewählt wird. - Im Verlaufe des Jahres kann
man dann über Parlamentswahlen und die Wahl einer
neuen Regierung nachdenken. Aber die Präsidentschaftswahl am 25. Mai sollte und muss der Beginn sein.
Drittens. Ich glaube, dass es, um die Wahlen am
25. Mai durchzuführen, dringend notwendig ist, dass wir
zu diesem Zeitpunkt auch das einleiten, was fehlt: einen
nationalen Dialog. Dafür gibt es ganz viele Ideen. Aber
man muss beginnen, diese Ideen umzusetzen. Man kann
das machen, indem man Bürgermeisterkonferenzen einberuft. Man kann das machen, indem man Gouverneurskonferenzen mit Teilnehmern aus allen Teilen der
Ukraine einberuft. Man kann das machen, was in anderen europäischen Ländern in Phasen des Umbruchs Nutzen gebracht hat: runde Tische, in diesem Fall unter Beteiligung der Ostukraine und unter Beteiligung der
südlichen Ukraine und, wo es nicht von selbst läuft, unter Mediation der OSZE.
Viertens. Wir brauchen die Einleitung einer Verfassungsreform, bei der sich alle Regionen des Landes in
den Institutionen, in denen diese Reform beraten wird,
tatsächlich vertreten fühlen.
Fünftens. Wir brauchen einen Prozess, in dem die
Schritte beschrieben werden, mit denen wir zur Entwaffnung der illegalen Gruppierungen und Räumung öffentlicher Orte bzw. öffentlicher Gebäude kommen.
Dies sind fünf klare Vereinbarungen, die man treffen
muss und für die man Umsetzungsschritte vereinbaren
muss. Das kann auf der Grundlage der Genfer Vereinbarung vom 17. April geschehen. Die Gespräche, die ich
dazu geführt habe, haben mir jedenfalls gezeigt: Es gibt
eigentlich niemanden, der ein erneutes Genfer Treffen
ablehnt. Aber vor einem nächsten Treffen, einem Treffen
für konkretere Umsetzungsschritte, darf die Latte nicht
jeden Tag höher gelegt werden. Es kommt jetzt darauf
an, dass alle vier Beteiligten in der Lage und bereit sind,
die gelegten Hürden tatsächlich zu überspringen. Daran
arbeiten wir.
Ich weiß: Die Diplomatie bewegt sich immer zu langsam, in kleinen Schritten vorwärts. Natürlich sehe ich,
dass jede Besetzung öffentlicher Gebäude, jede Ausschreitung mit Gewalt uns weiter zurückwirft. Aber trotz
aller Enttäuschung - ich teile Ihre Enttäuschung -: Wenn
uns Gewaltakte zurückwerfen, müssen wir versuchen,
uns in die andere Richtung zu bewegen, uns nach vorne
zu bewegen. Deshalb habe ich geschrieben: Gerade in
der gegenwärtigen Situation ist und darf Aufgeben keine
Option sein.
({2})
Nun weiß ich, dass es überall auf der Welt, auch in
Europa, immer wieder Stimmen gibt, die etwas anderes
von Außenpolitik erwarten. Das findet sich in der Kritik
wieder, dass wir angeblich nicht entschieden genug
seien, dass wir mehr Entschlossenheit, mehr Stärke,
mehr Strength in unserer Außenpolitik zeigen müssten.
Das kann man ja sagen. Nur: Man muss sich über die
Alternativen im Klaren sein. Was heißt das, jenseits von
diplomatischen Druckmitteln? Wer wirklich diese behauptete Stärke zeigen will, der muss auch zu etwas bereit sein, wozu ich nicht bereit bin, nämlich dazu, die
Anwendung militärischer Mittel in einer solchen Situation mitzudenken. Ich weiß mich einig mit der großen
Mehrheit dieses Hauses, dass eine militärische Lösung
keine Lösung wäre, sondern ein Weg in die größere Katastrophe.
({3})
Deshalb sage und schreibe ich,
({4})
wo immer ich kann - auch gegen Ihre Kritik -: Es
kommt nicht auf diese Stärke-Rhetorik an. Nicht Stärke
und Schwäche sind in solchen Situationen entscheidend,
sondern es ist Klugheit. Die Außenpolitik, die nur in den
Kategorien von Stärke und Schwäche denkt, will am
Ende Gewinner und Verlierer produzieren. Kluge Außenpolitik - und die brauchen wir in der jetzigen Situation - denkt voraus an Konfliktlösung. Deshalb weiß
kluge Außenpolitik, dass ein Automatismus vermieden
werden muss und eine Eskalation vermieden werden
muss, die am Ende - davon bin ich überzeugt - nur Verlierer produzieren wird.
Es gab am vergangenen Wochenende einen ganz kleinen Hoffnungsschimmer; jedenfalls habe ich das so
gesehen. Am Samstag ist es uns, sozusagen in letzer
Minute, gemeinsam mit der OSZE inmitten der schon
stattfindenden Kämpfe um Slowjansk gelungen, die
zwölf Militärbeobachter, die jetzt Gott sei Dank in Sicherheit und bei ihren Familien sind, aus der Geiselhaft
zu befreien. Das war ein Hoffnungsschimmer für Diplomatie. Trotz der umkämpften Situation in Slowjansk war
- das habe ich in den letzten Stunden davor kaum noch
für möglich gehalten - ein Mindestmaß an Zusammenarbeit möglich, nicht nur mit unseren Partnern, sondern
auch zwischen Kiew und Moskau. Deshalb habe ich
mich bei allen Beteiligten bedankt, in Kiew, in Russland,
bei der OSZE und insbesondere bei demjenigen, der in
letzter Minute geschickt wurde: beim russischen Diplomaten Wladimir Lukin. Alle haben dazu beigetragen,
dass die Freilassung gelingen konnte. Deshalb ist diese
Stelle, glaube ich, der richtige Platz für einen Dank.
({5})
Ich sage das in aller Offenheit auch deshalb, weil ich
manche Kritik, die es in diesen Tagen an der OSZE gegeben hat, nicht ganz verstanden habe. Ich habe, ehrlich
gesagt, nicht ganz verstanden, warum man plötzlich auf
die Idee kommt, den unterschiedlichen OSZE-Missionen, die ja keine Erfindung dieser Tage sind, eine
unterschiedliche Wertschätzung entgegenzubringen. Die
OSZE - das darf ich all denjenigen, die es vergessen haben, in Erinnerung rufen - ist eine zentrale Errungenschaft der internationalen Sicherheitsarchitektur der
70er-Jahre, ein Kind der Entspannungspolitik.
Mit dem Wiener Dokument, über das so viel fantasiert worden ist, hat man der OSZE am Beginn der 90erJahre ein zusätzliches Instrument der Transparenz an die
Hand gegeben - nichts anderes ist passiert -, ein Instrument, das in den vergangenen 20 Jahren von allen Seiten
immer wieder genutzt worden ist, auch von Russland.
Deshalb war es richtig - ich sage das in aller Offenheit -,
dass nach dem Wiener Dokument auch diese Mission in
der Ostukraine vor Ort war. Diejenigen, die das kritisie2654
ren, sollten ein bisschen darüber nachdenken, was passiert wäre, wenn diese OSZE-Inspektoren nicht Gerüchte korrigiert hätten, nach denen Russland schon
ganz am Beginn der Krim-Krise mit Streitkräften auf
ukrainischem Boden gestanden habe. Diese Gerüchte
gab es, und sie sind von den Militärbeobachtern der
OSZE widerlegt worden. Deshalb will ich ganz klar sagen: Für mich kommt eine unterschiedliche Wertschätzung der OSZE-Missionen nicht in Betracht. Sie sind allesamt Teil der großen OSZE-Familie. Diejenigen, die
sich in Systemen der internationalen Sicherheit bewegen, die eine Wertschätzung für die Errungenschaften
der Entspannungspolitik haben, sollten und dürften das
eigentlich nicht kritisieren, meine Damen und Herren.
({6})
Deshalb ganz zum Schluss: So richtig es war, dass die
OSZE in Gestalt der Mission nach dem Wiener Dokument vor Ort war, so richtig finde ich es, dass wir den
Weg weitergegangen sind mit der Einrichtung einer Beobachtermission, die langsam aufgebaut wird. Ebenso
richtig finde ich es, dass gleichzeitig jetzt der Aufbau einer ODIHR-Wahlbeobachtungskommission stattfindet.
Damit sind innerhalb der Ukraine unter einem Dach
gleichzeitig drei Missionen der OSZE unterwegs; sie alle
versuchen, die Situation dort zu beruhigen und weitere
Verschärfungen der Situation nicht zuzulassen.
Wer das nicht will, meine Damen und Herren, wer andere Wege für richtig hält oder gar kritisiert, dass wir mit
diesem Ansatz einer diplomatischen Entschärfung der
Situation scheitern könnten, der hat zwar recht - man
kann scheitern -; man muss aber auch einen Augenblick
lang an die Alternativen denken, und die sind allesamt
viel schlechter. Deshalb sage ich: Aufgeben ist keine
Option.
Vielen Dank.
({7})
Als Nächstem erteile ich das Wort dem Kollegen
Wolfgang Gehrcke, Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
In einer Frage gebe ich dem Außenminister sofort recht:
Es gibt keine sinnvolle Alternative zu diplomatischen
Lösungen. Die Ukraine steht am Rande eines Bürgerkrieges. Wir müssen alle Kraft aufwenden, damit sich
die Situation nicht zu einem Bürgerkrieg weiterentwickeln kann.
({0})
Das ist die politische Aufgabe dieses Hauses, unserer gemeinsamen Politik. Als ersten Schritt müssen wir uns
jetzt darauf konzentrieren, einen Waffenstillstand herbeizuführen. Das ist die zentrale Frage: einen Waffenstillstand zu erreichen. Wenn man einen Waffenstillstand erreichen will - das will ich in aller Deutlichkeit sagen;
denn das haben Sie ausgespart, Herr Außenminister -,
muss man die Regierung in Kiew, wie immer man sie
beurteilt, auffordern, die Armee, die Nationalgarde nicht
gegen das eigene Volk einzusetzen; das ist völlig inakzeptabel.
({1})
Erinnern Sie sich an die Erfahrungen, die wir in der
Wendezeit gesammelt haben! Das war immer eine der
Kernfragen: Die Armee darf nie gegen das eigene Volk
- ich finde, auch nicht gegen fremde Völker - eingesetzt
werden. Bitte lassen Sie uns das durchsetzen! Das kann
Hass aus der ganzen Situation nehmen. Ich bitte Sie sehr,
bei den Verhandlungen auch in diese Richtung Überlegungen anzustellen.
Ich bin sehr dafür, dass es zu einer neuen Genfer
Runde kommt. Ich halte es für dringend notwendig, dass
in Genf gesprochen wird. Da kann man überlegen, ob
nicht auch andere Teile - in bestimmten Formen, im Format der OSZE - an den Gesprächen beteiligt werden.
Warum soll es unmöglich sein, auch Bürgerinnen und
Bürger aus der Ostukraine und andere an diesen Gesprächen zu beteiligen?
({2})
Wenn man einen Frieden will, muss man mit denen sprechen, mit denen man sich auseinandersetzt. Das sagt Ihnen sogar Herr Teltschik von der CDU. Ich möchte ja
nicht sagen: „Lernen Sie mal von der CDU!“, aber in
dieser Frage wäre es nicht ganz schlecht, dies aufzunehmen. Wir brauchen einen Gewaltverzicht. Wir brauchen
Schritte der Entwaffnung. Wer kann denn entwaffnen?
Das muss international geschehen, damit die Waffen
auch abgegeben werden können.
({3})
Ich meine, das ist eine Aufgabe der OSZE - was ich
gerne möchte.
({4})
Jetzt sage ich Ihnen meine Kritik und meine Sorgen dabei: Ich empfand die Entsendung dieser militärischen
Beobachtermission als eine Gefährdung für die große
OSZE-Mission von bis zu 500 Personen, die bereits vereinbart war. Sie haben leichtsinnig und leichtfertig - um
kein hohes Ergebnis - diese Mission gefährdet. Ich
finde, das kann man nicht akzeptieren.
({5})
Das gehört zu den Dingen, wo Sie eskaliert haben, statt
zu deeskalieren.
Die Genfer Runde muss also stattfinden - das ist dringend notwendig -, man muss auf die OSZE setzen.
Wenn mir in Moskau gesagt worden ist bei meinen Gesprächen,
({6})
dass die OSZE einen neuen Frühling erlebt, ist auch die
Frage, ob nicht auch wir in unserer Politik - in der europäischen Entspannungspolitik - die OSZE in den letzten
Jahren nicht viel zu gering geachtet haben.
({7})
Jetzt, da wir sie brauchen, merken wir, was diese Einrichtungen wert sind.
Ich möchte zweitens, dass über Verfassungsreformen
verhandelt wird. Dazu braucht man runde Tische. Vielleicht ist ein Übergang zu Wahlen - ich glaube nicht,
dass man unter den jetzigen Bedingungen und bei all der
Gewalt gesichert wählen kann - über runde Tische möglich. Auch hier könnte man aus der Geschichte Deutschlands und daraus, wie runde Tische hier gewirkt haben,
ein Stück weit lernen. Die runden Tische können zu
Wahlen führen, die von allen Seiten akzeptiert werden.
Ich halte es für dringend notwendig, auch in diese Richtung nachzudenken.
({8})
Drittens - das gehört auch zu den runden Tischen muss man ernsthaft über einen föderativen Staatsaufbau,
über autonome Rechte und über die Beteiligung aller
Bürgerinnen und Bürger verhandeln.
({9})
Ich sage in allem Ernst dazu: Wenn neben der kulturellen
Auseinandersetzung, die es gibt, auch noch die soziale
Frage explodiert, dann werden Sie gar nichts im Griff
behalten. Man muss die Oligarchen in der Ukraine entmachten
({10})
- übrigens auch die Oligarchen in anderen Teilen der
Welt, wie immer man sie auch nennen mag.
Der vierte Punkt, über den man reden muss, ist die
Frage einer Neutralität der Ukraine, einer Blockfreiheit.
Es muss garantiert werden, dass die Ukraine künftig keinem Block, keinem Militärbündnis, angehört, und die
NATO muss sich zurücknehmen. Was soll das denn, dass
jetzt mit der ständigen Stationierung von NATO-Soldaten im Baltikum, in Polen und in anderen Ländern gedroht wird? Damit gießt man doch Öl ins Feuer, statt zu
entspannen.
({11})
Das gehört auf den Zettel, um Vertrauen wiederherzustellen.
Auf den Zettel gehört auch, dass die Faschisten in der
Ukraine aus der Regierung heraus müssen.
({12})
Mit Faschisten verhandelt man nicht. Das halte ich für
ein Minimum, das wir durchsetzen müssen.
Mir wird hier vorne freundlicherweise keine Zeit angezeigt; ich kann also unbeschränkt reden. Herzlichen
Dank! Das wollte ich immer schon mal.
Verehrter Herr Kollege, gestatten Sie mir einen kurzen Hinweis: In der Tat versagt im Moment die Technik.
Habe ich ein Glück.
Deswegen hat auch der Bundesaußenminister - es
war aber auch wichtig, was er gesagt hat - etwas länger
geredet, und da wir faire Menschen sind, haben wir gesagt, dass wir auch Sie einen Moment länger reden lassen, damit auch die Opposition zu ihrem Recht kommt.
({0})
Wenn wir das technisch jetzt nicht anders hinkriegen,
dann werde ich, kurz bevor die folgenden Redezeiten ablaufen, ein Signal geben.
Sie haben als alter Parlamentarier aber das richtige
Gespür: Ihre Zeit ist abgelaufen.
({1})
Sie dürfen Ihren Gedanken aber noch zu Ende führen,
Kollege Gehrcke.
Wessen Zeit in der Politik abgelaufen ist, wird sich
historisch erst noch herausstellen.
({0})
Redezeit, Herr Kollege!
Die Zeit von Gewaltakten ist abgelaufen.
Ich sage Ihnen am Ende noch - das ist ein wichtiger
Gedanke, und ich hoffe, dass die SPD wieder anfängt,
darüber nachzudenken -: Wir brauchen das Konzept einer neuen Ostpolitik, einer neuen Entspannungspolitik.
Sie können hier sehr viel lernen, wenn Sie mal wieder
bei Willy Brandt nachschlagen und dort nachlesen. Wir
brauchen eine neue Ostpolitik!
({0})
Ohne eine solche Strategie wird sich nichts entwickeln.
Ich erinnere Sie daran: Die große Konferenz in Helsinki fand damals zu einem Zeitpunkt statt, als in Afghanistan der Krieg tobte, an dem die Sowjetunion beteiligt
war. Es gab andere Militäraktionen, und man hat trotzdem miteinander verhandelt und das Ergebnis von Helsinki erreicht.
({1})
Sie müssen mit einer neuen Ostpolitik erst einmal zu
einem solchen Ergebnis mit Russland - so, wie das Land
ist; es kann sich auch verändern - kommen.
Dafür steht die Linke: Wir sind für mehr Diplomatie,
wir sind für Verhandlungen, wir sind für eine neue Ostpolitik. Das hat auch eine Mehrheit in diesem Lande
({2})
- Ihnen reicht es schon lange; das ist mir klar -, und dafür treten wir ein.
Herzlichen Dank.
({3})
Als Nächstes erteile ich Frau Bundesministerin
Dr. von der Leyen das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Gehrcke, Sie haben eben noch einmal den abenteuerlichen Vorwurf formuliert - ich zitiere -, die
Ukraine würde die Armee gegen das eigene Volk einsetzen.
({0})
Herr Gehrcke, gerade die OSZE-Militärbeobachtermission, die Sie eben so scharf kritisiert haben,
({1})
hat den Zweck, mit solchen abenteuerlichen Unterstellungen aufzuräumen und neutral Tatsachen zusammenzutragen.
({2})
Deshalb sage ich: Die OSZE-Mission war richtig und
wichtig. Sie war regelkonform; unseren Soldaten ist da
nichts vorzuwerfen.
({3})
Regelkonform bedeutet: Die Mission fand unter dem
Dach der OSZE statt, und zwar nach den Regeln des
Wiener Dokuments, die übrigens heute noch von Russland anerkannt werden. Die Einladung der Ukraine ging
an sämtliche Teilnehmerstaaten, auch an Russland.
29 Nationen haben sich bereit erklärt, Inspektoren zu
schicken, darunter auch neutrale Länder wie Schweden
und die Schweiz. Die Mission wurde von allen
57 OSZE-Mitgliedstaaten rechtzeitig durch eine Notifikation zur Kenntnis genommen. Die Männer waren nach
den OSZE-Statuten unterwegs. Die Region war exakt
bezeichnet, und zwar von Odessa über Donezk und
Slawjansk bis hoch nach Charkiw. Alle gesammelten Informationen wurden allen Teilnehmerstaaten des Wiener
Dokuments zur Verfügung gestellt. Mehr Transparenz
geht nicht. Deshalb ist es mir und übrigens auch unseren
internationalen Partnern völlig unverständlich, wenn aus
den Reihen der Opposition die Legitimität und die völkerrechtliche Basis infrage gestellt werden.
({4})
Regelkonform war auch die deutsche Beteiligung. Es
gab eine laufende Abstimmung mit dem Auswärtigen
Amt, den Partnernationen und der OSZE. Der Generalinspekteur hat die Entsendung der Beobachter im März im
Verteidigungsausschuss angekündigt, und es gab zwei
schriftliche Unterrichtungen.
Noch etwas ist mir wichtig: Oberst Schneider und
sein Team haben sich während der Geiselhaft - wir haben sie bei dieser widerwärtigen Zurschaustellung über
das Internet wahrgenommen - absolut besonnen und
klug verhalten. Sie haben genau die richtigen Schlüsselworte gesagt, um klarzumachen, dass sie keine Kriegsgefangenen sind und dass sie ein Mandat haben. Sie haben aber auch alles unterlassen, um ihr Leben und das
Leben der Kameraden durch unnötige verbale Provokationen der Aggressoren zu gefährden, die sie festgesetzt
haben. Ich glaube, ich spreche im Namen der übergroßen
Mehrheit dieses Hauses, wenn ich sage: Oberst
Schneider und sein Team haben unsere Hochachtung
und unseren Respekt verdient.
({5})
Die Diskussion muss wieder vom Kopf auf die Füße gestellt werden.
({6})
Wenn hier jemand einen Rechtsbruch begangen hat,
dann waren das nicht unsere Inspektoren, sondern diejenigen, die sie entführt und festgesetzt haben.
Wir dürfen auch nicht vergessen: Es ist die Bürgerbewegung des Maidan, die wir unterstützen.
({7})
Die Bürgerbewegung des Maidan verlangt, als unabhängiges Land selbstbestimmt entscheiden zu können, wie
sie sich aufstellen. Nicht die Frage der Krim und die Provokationen durch Provokateure sollten unsere Debatte
und unsere Einstellung bestimmen, sondern unsere Unterstützung der Bürgerbewegung; denn wir dürfen nicht
vergessen, was die Auslöser für diese Konflikte waren.
Wir dürfen jetzt nicht anfangen, die Ukraine zu kritisieren, sondern müssen anfangen, der Ukraine zu helfen,
damit sie den Weg, den die Bürgerbewegung des Maidan
beschreiten wollte, selbstbewusst weitergehen kann.
Diese Richtung müssen wir einhalten.
({8})
Diejenigen, die die OSZE-Mission kritisieren, sind
doch nicht diejenigen, die sich um unsere Soldaten Sorgen machen.
({9})
Es sind vielmehr diejenigen, die alles tun, um neutrale
Beobachter vor Ort zu verhindern, weil sie sich nicht in
die Karten schauen lassen wollen. Auch das sollte man
vor diesem Hohen Hause sagen.
({10})
Wir führen eine fundamentale Auseinandersetzung
darüber, wie wir heute Konflikte lösen. Wir alle dachten
doch, wir hätten die Zeit hinter uns, in der in Europa, zu
dem ich selbstverständlich die Ukraine und Russland
zähle, mit militärischen Mitteln Tatsachen geschaffen
werden. Gerade weil wir wollen, dass wir diese Zeit hinter uns haben, werden wir nicht zulassen, dass die Sicherheitsarchitektur, die in den vergangenen Jahrzehnten
Stück für Stück mühsam aufgebaut worden ist, jetzt in
wenigen Wochen eingerissen und niedergetrampelt wird.
Meine Damen und Herren, es ist wichtig, dass wir
dazu stehen, dass wir eine Sicherheitsarchitektur wollen,
die besagt, dass wir unser Miteinander gemeinsam gestalten und an runden Tischen in Gesprächsräumen Auseinandersetzungen führen und Lösungen finden. Diese
und keine andere Form der Auseinandersetzung wollen
wir im 21. Jahrhundert, insbesondere nicht die der militärischen Auseinandersetzung.
({11})
Deshalb sind die Missionen wichtig, sowohl die Militärbeobachtermission als auch die zivilen Missionen.
Die Schlüsselworte in der OSZE sind - das gilt für
alle drei Missionen, die derzeit laufen - Transparenz und
Vertrauen. Es geht darum, Gerüchte und Anschuldigungen der streitenden Parteien auseinanderzudividieren
und Vertrauen zu schaffen, damit man zusammen an einem Tisch eine Lösung finden kann. Diese Missionen
sind explizit geschaffen worden, um in die Regionen zu
gehen, über die wir uns Sorgen machen. Weil das so
kostbar ist, bin ich sicher, dass ich auch für die große
Mehrheit dieses Hohen Hauses spreche, wenn ich sage,
dass Deutschland auch in Zukunft unbeirrbar seine Verantwortung in der OSZE und in allen ihren Missionen
wahrnehmen wird.
({12})
Die OSZE ist fast die letzte Runde, in der die Ukraine
und Russland mit dem Westen an einem Tisch sitzen.
Deshalb ist es auch wichtig, dass wir durch die OSZE
mit ihren Beobachtermissionen Unterstützung geben
können, damit die Ukraine am 25. Mai Wahlen abhalten,
den Reform- und Verfassungsprozess und die Dezentralisierung vorantreiben, den Regionen mehr Rechte gewähren und eine inklusive Regierung bilden kann. Das
ist etwas, das die Ukraine in den vergangenen Jahren
und Jahrzehnten nie kennengelernt hat. Es hat entweder
die eine oder die andere Seite regiert, ohne auch die
Minderheiten zu vertreten.
Ja, Herr Kollege Steinmeier, ich glaube, die gemeinsame Erfahrung der vergangenen Woche - ich danke
noch einmal von Herzen für die gute Zusammenarbeit
im Krisenstab, die dann auch zu einem guten Ende geführt hat - ist gewesen, dass es inmitten dieser Turbulenzen und der düsteren Situation, die wir zurzeit alle mit
großer Sorge sehen, einen Moment gegeben hat, in dem
alle an einem Strang gezogen haben. Dazu gehören die
OSZE - der ich für die Übernahme der Verantwortung
danke, was ein klares Zeichen war -, die von Ihnen, Herr
Steinmeier, und der Bundeskanzlerin im Rahmen der
Diplomatie geführten Telefonate, aber auch der Einsatz
der ukrainischen Regierung ebenso wie der Einsatz des
russischen Menschenrechtsbeauftragten Lukin. Das alles
hat dazu geführt, dass die Geiseln ohne Bedingungen
und unversehrt freigesetzt worden sind. Ich glaube, ich
kann im Namen aller sagen: Wir wünschen uns wieder
mehr solcher Momente. Das ist der Weg, den wir gemeinsam gehen wollen.
Vielen Dank.
({13})
Als Nächstem erteile ich das Wort dem Kollegen
Dr. Frithjof Schmidt, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
alle haben große Sorge vor einer weiteren militärischen
Eskalation in der Ukraine, vor Bürgerkrieg und Krieg in
Europa. Es gibt noch die Hoffnung, dass die Initiativen
zur Vermittlung und Verhandlung dies noch stoppen
können. Es kann und muss doch noch eine politische
Lösung für die Ukraine geben. Wir blicken deshalb
heute mit großer Anspannung auf die Reise von Didier
Burkhalter, dem OSZE-Präsidenten, nach Moskau und
auch mit großem Interesse auf den heutigen Besuch von
Herrn Poroschenko hier in Berlin.
Herr Außenminister, ich will hier jenseits der üblichen Rituale von Opposition und Regierung sagen: Sie
haben in dieser Krise mit großem Engagement und Augenmaß gut gehandelt, und Sie haben unsere volle Unterstützung, wenn Sie versuchen, eine zweite Konferenz
in Genf zustande zu bringen. Das ist notwendig und richtig.
({0})
Wir Grünen ermutigen Sie, im Kampf um eine Verhandlungslösung nicht nachzulassen. Das ist ein mühseliger
Prozess. Es gibt Rückschläge, Enttäuschungen und Provokationen; aber es gibt für die internationale Gemeinschaft keine vernünftige Alternative zu den Bemühun2658
gen um Verhandlungen und Deeskalation. Deshalb ist
die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in
Europa auch die richtige Institution, um diesen Prozess
voranzubringen. Die Rolle der OSZE muss gestärkt und
ausgebaut werden, gerade jetzt, wenn es um die Durchführung der Präsidentschaftswahlen am 25. Mai geht. Es
braucht viele OSZE-Beobachter im Land. Deshalb habe
ich auch keine Kritik an der Mission von unbewaffneten
Militärbeobachtern zur Sicherheitslage in der Ukraine,
die nach den Wiener Regeln erfolgt ist, bei der OSZE gemeldet war und so im OSZE-Rahmen stattgefunden hat.
Hier irren Herr Gauweiler und Herr Gehrcke gemeinsam.
({1})
Es ist gut, wenn die Bundesregierung den Ablauf dieser
Mission noch einmal genau überprüft. Aber grundsätzlich ist gegen diese Mission nichts einzuwenden. Das gehört auch dazu, wenn wir die OSZE stärken wollen.
Das alles kann aber direkte Verhandlungen zwischen
den Akteuren nicht ersetzen. Deswegen ist die Initiative
für ein zweites Genf so wichtig. Entscheidend ist, ob es
gelingt, Russland endlich von seiner Destabilisierungspolitik gegenüber der Ukraine abzubringen und zu einer
konstruktiven Rolle in Bezug auf die Wahlen am 25. Mai
zu bewegen. Hier liegt der politische Schlüssel.
({2})
Wichtig ist zum Beispiel, dass Russland endlich die Vorbereitung separatistischer Referenden in der Ostukraine
für das kommende Wochenende eindeutig und offiziell
ablehnt und verurteilt.
({3})
Das ist ein Gradmesser für die Ernsthaftigkeit eines Engagements. Darum bleibt es richtig, dass die Europäische Union nicht nur vermittelt, sondern auch die nächsten Konsequenzen aus ihrem Dreistufenplan zieht, wenn
sich Russland weiter an der Destabilisierung der Ukraine
beteiligt und die Präsidentschaftswahlen daran scheitern.
Zu den Verhandlungen gehört also dazu, dass weitere gezielte Sanktionen vorbereitet werden.
Ebenso klar ist aber auch: Eine politische Lösung gibt
es nur mit Zugeständnissen und Zumutungen für alle
Seiten. Das muss man allen Seiten auch so klar sagen.
Wichtig ist auch: Wer in dieser gefährlichen Lage eine
Chance für Genf und für Verhandlungen will, darf auf
gar keinen Fall mit dem Säbel rasseln. Dazu gehört, dass
man nicht über einen dritten Weltkrieg schwadroniert,
wie das manche in Kiew tun, und nicht die Aufrüstung
der NATO und Truppenverlegungen nach Osten fordert,
wie das Herr Rasmussen, der scheidende NATO-Generalsekretär, auf provokante Art macht.
({4})
Herr Außenminister, ich weiß, dass Sie sich schon gegen
solche Dinge gewandt haben. Wir wollen Sie ermutigen,
dies weiterhin mit der nötigen Klarheit zu tun. Auch das
gehört zum notwendigen Bemühen um Deeskalation.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({5})
Als Nächstem erteile ich das Wort dem Kollegen
Karl-Georg Wellmann, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich
hatte Montagabend Gelegenheit, mit Premierminister
Jazenjuk zu sprechen. Ich habe ihm als Erstes zu den
40 Toten in Odessa kondoliert. Ich habe dies, ohne Sie
zu fragen, im Namen des Bundestages getan.
({0})
Ich denke, dass es richtig ist, dass wir alle unsere Betroffenheit und Trauer über diese 40 toten Menschen zum
Ausdruck bringen. Ich habe dem Premierminister gesagt: Wir erwarten, dass dieser Vorgang aufgeklärt wird
und dass es eine internationale Beteiligung an der Untersuchung gibt. - Er hat dies zugesagt genauso wie Herr
Poroschenko. Es ist wichtig, dass nicht im Getöse der
Propaganda untergeht, was dort passiert ist.
Die Situation bereitet uns große Sorgen. Für uns lautet die entscheidende Frage: Wie bewerten wir die Position Russlands in Europa, und welche Schlüsse ziehen
wir daraus? Es bleibt dabei: Die Zusammenarbeit ist
richtig und wichtig. Wir wünschen uns, dass Russland in
Europa eine konstruktive Rolle spielt und die europäischen Verhältnisse konstruktiv mitgestaltet. Das liegt objektiv in unserem Interesse. Aber wir müssen auch den
Tatsachen ins Auge sehen. Die Tatsachen sind, dass in
der Ukraine ein asymmetrischer Krieg stattfindet. In der
Ostukraine sind russische Spezialeinheiten unterwegs.
Russische Panzer sind auf der Krim über fremde Grenzen gerollt. Putin hat das inzwischen zugegeben. Wir
dürfen uns nicht weigern, dieses anzuerkennen, nur weil
dies unserem Ruhebedürfnis widerspricht oder deutscher
Sentimentalität.
Wir dürfen auch nicht die Augen vor einer massiven
antiwestlichen Propaganda der russischen Eliten verschließen.
({1})
Schauen Sie sich das russische Fernsehen an, und stellen
Sie sich vor, dass sich ein Iwan Normalverbraucher in
der russischen Provinz nur über das russische Fernsehen
informiert! Dieser bekommt doch den Eindruck, die
Waffen-SS sei schon wieder unterwegs und die FaschisKarl-Georg Wellmann
ten kämen, um Russland zu erobern. So ist die widerliche Propaganda in Russland.
({2})
Ich bin überrascht von dem Ausmaß an Chauvinismus,
({3})
an Verachtung und an Arroganz.
({4})
Russland ist wieder das Land, das Angst und Schrecken
verbreitet.
({5})
- Bei Ihnen, Herr Dehm, ist das alte Schule. Ich weiß ja.
({6})
- Ja doch. Der eine oder andere von Ihnen hat noch die
Parteihochschule in Moskau besucht.
({7})
Herr Gehrcke, ja? Stellvertretender DKP-Vorsitzender.
Lassen wir das lieber.
({8})
Nach der schrecklichen Gewalt des 20. Jahrhunderts
hat es bei uns nach der Wende nicht an Empathie und an
Willen zur Verständigung mit Russland gefehlt. Es gab
viel Empathie bei uns. Es gab den positiven Mythos aus
mehreren Hundert Jahren, eine gute Geschichte vom
deutsch-russischen Verhältnis: von Musik, Literatur,
Kunst, Wissenschaft und Unternehmertum. Die russische Literatur des 19. Jahrhunderts ist voll von Beispielen der deutsch-russischen Symbiose. Es ist richtig, dass
kluge Außenpolitik immer die Sorgen der anderen im
Blick haben muss.
({9})
Aber wir dürfen uns auch nicht auf Legenden einlassen.
Es gibt keine Einkreisung Russlands durch die NATO.
({10})
Die Beitrittsländer wollten als Erstes in die NATO. Sie
wollten Sicherheit vor Russland, sie wollten weg von
Russland. Keiner von uns hat sie gezwungen, Mitglied
der NATO oder der Europäischen Union zu werden.
({11})
Wir dürfen nicht die Augen davor verschließen, dass
die russische Regierung im Moment einen neuen Werterahmen proklamiert, einen sehr konservativen, reaktionären Werterahmen. Es handelt sich um Versatzstücke
aus Zarenreich, Orthodoxie, Großmachtchauvinismus
und leider auch imperialen und völkischen Elementen,
die auch viel mit Fremdenfeindlichkeit und Homophobie
zu tun haben. Ich darf einmal sagen: Es wird uns gegenüber massiv Vertrauen verspielt, wenn die russische Regierung über die - wörtlich - Verteidigung der positiven
Leistungen Stalins spricht. Übrigens ist eine rechte Internationale mit Lichtgestalten wie Le Pen und Geert
Wilders aus Holland auszumachen.
Der eine oder andere ist im Moment unterwegs, redet
klug über die Ukraine und gibt seine Urteile ab. Diejenigen, die ich meine - ich sehe Herrn Ströbele gerade nicht
bei dieser Diskussion -, sind noch nie in der Ukraine gewesen und reden wie der Blinde von der Farbe. Vielleicht nimmt der eine oder andere einmal an einer Wahlbeobachtungsmission der OSZE in der Ukraine teil, wie
ich das am 25. Mai mache. Die Solidarität mit der
Ukraine ist keine menschenfreundliche Geste, sondern
es geht um die Selbstverteidigung des hohen völkerrechtlichen Guts der Unverletzlichkeit von Staaten und
von Grenzen.
({12})
Wenn Europa der Zerstörung der Ukraine tatenlos zusähe, würde es sich aufgeben.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({13})
Als nächster Rednerin erteile ich der Kollegin Inge
Höger, Fraktion Die Linke, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestern
hatte meine Fraktion Gespräche mit Aktivisten der Borotba-Partei, die sich für eine föderalistische und demokratische Ukraine einsetzen. Was sie über den 2. Mai in
Odessa berichteten, als Milizen aus allen Teilen der
Ukraine zu einem sogenannten Marsch der Einheit zusammen mit Fußballfans marodierend durch die Straßen
zogen, war erschreckend.
Es deutet vieles darauf hin, dass die 46 Toten und
200 Verletzten nicht Opfer einer Tragödie wurden; sie
wurden Opfer eines gezielten Massakers.
({0})
Es wurden zwei Borotba-Aktivisten, darunter ein Abgeordneter aus dem Regionalparlament, zu Tode geprügelt,
die aus dem brennenden Gewerkschaftshaus gesprungen
waren, verletzt waren und sich nicht mehr wehren konnten. Die Linke fordert deshalb eine unabhängige Untersuchung dieser Vorfälle in Odessa. Wir fordern gleichermaßen eine Untersuchung, wer für die Todesschüsse auf
dem Maidan, als über 100 Menschen zu Tode kamen,
verantwortlich ist. Dieser Vorgang ist immer noch nicht
aufgeklärt.
({1})
Ich sehe die reale Gefahr, dass die jetzige Kiewer Regierungspolitik den Separatismus in der Ukraine befördert. Wenn sich Massaker wie das in Odessa wiederholen und wenn die ukrainische Armee im Inland weiter
gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt wird, dann
stärkt dies den Ruf eines Teils der Bevölkerung nach russischen Truppen zum Schutz der Bevölkerung. Dabei
steht zu befürchten, dass auch eine russische Intervention gar kein Schutz, sondern ein weiterer Eskalationsschritt ist. Das kann niemand wollen - Russland nicht,
die Ukraine nicht, die EU nicht und auch die USA nicht.
({2})
Es ist schon dreist und unappetitlich, wer hierzulande
alles sein Süppchen auf dem ukrainischen Feuer kocht.
Die NATO präsentiert sich als Garant für Stabilität und
rührt doch selbst ganz offen die Kriegstrommeln. Die
Rüstungsindustrie will mehr Waffen verkaufen und bekommt dabei Schützenhilfe von NATO-Generalsekretär
Rasmussen, der zu mehr Rüstungsinvestitionen aufruft.
Die Fracking-Lobby sieht ihre Chance, auch hierzulande
ökologische Vorbehalte gegen den brandgefährlichen
Abbau von Schiefergas mit dem Verweis auf Energieautonomie zur Seite zu schieben.
In dem zerstörerischen Machtkampf zwischen Ost
und West drohen die Menschen in der Ukraine völlig auf
der Strecke zu bleiben. Zu dem externen Machtkampf ist
nun ein innerer Machtkampf hinzugekommen, der bald
wohl nur noch als Bürgerkrieg bezeichnet werden kann.
Nun einige andere Fakten: Die Ukraine ist auf die Kooperation mit dem Osten und dem Westen angewiesen,
um ökonomisch überleben zu können. Ein Blick auf die
Wirtschaftsdaten macht dies deutlich: Zurzeit gehen
mehr als 30 Prozent der ukrainischen Exporte nach
Russland bzw. in Staaten der von Russland geführten
Zollunion. Die Exporte in die Europäische Union haben
eine ähnliche Größenordnung und liegen bei 25 Prozent.
Bei den Importen in die Ukraine ist das Bild ähnlich:
Über 40 Prozent der Importe kommen aus dem Osten,
aus der EU 31 Prozent. Jeder, der die Ukraine zwingt,
sich ökonomisch für eine Himmelsrichtung zu entscheiden, entzieht dem Land wesentliche Teile seiner Existenzgrundlage.
({3})
Hätte der damalige Präsident Janukowitsch das EUAssoziierungsabkommen unterschrieben, dann hätte dies
ganze Industriezweige im Osten und Süden der Ukraine
gefährdet, die die EU-Produktionsstandards nicht erfüllen, die aber erfolgreich Richtung Osten exportieren.
Umgekehrt würde ein Beitritt zur russischen Zollunion
den Handel mit der EU erschweren. Wenn nun Menschen in einigen Regionen der Ukraine für Autonomie
kämpfen, dann nicht weil sie Putin unterstützen, sondern
weil sie schlicht um ihre Arbeitsplätze, um ihre Existenz
und ihre ökonomische Zukunft kämpfen.
Die Ukraine exportiert in den Westen hauptsächlich
Rohstoffe wie Kohle und Stahl. In Richtung Osten werden Produkte exportiert, die eine wesentlich höhere
Wertschöpfung im eigenen Land haben, also Maschinen,
Flugzeuge, Fahrzeuge und Lebensmittel. An Letzterem
hängen zahlreiche hochqualifizierte Arbeitskräfte. Kann
bzw. will die EU hier wirklich Alternativen bieten, oder
geht es ihr nur darum, Konkurrenzindustrien niederzukonkurrieren?
Die Ukraine hat nur eine Zukunft, wenn sie nach Osten und nach Westen angebunden ist. Das gilt ökonomisch und politisch.
({4})
Nur wenn die äußere Zerreißprobe aufhört, dann hört
auch die innere Zerreißprobe auf.
Welches politische System sich die Ukraine gibt, ist
Sache der Menschen in der Ukraine selbst. Ich möchte
ausdrücklich davor warnen, die Forderung nach einem
föderalistischen System als prorussisch oder separatistisch zu diskreditieren.
({5})
Schauen wir einmal auf die Seiten der Bundeszentrale
für politische Bildung! Aktuelle Meinungsumfragen in
der Ostukraine besagen: Nur 15 Prozent der Bevölkerung sprechen sich für eine Abspaltung von der Ukraine
aus. Der Rest steht aber keineswegs aufseiten der Regierung in Kiew. Nur 16 Prozent unterstützten deren ProEU-Kurs. Die meisten Menschen im Osten und Süden
der Ukraine wünschen sich ein föderales demokratisches
System. Sie hoffen, dass so die Einheit der Ukraine und
die unterschiedlichen Interessen in den Regionen miteinander versöhnt werden können. Deshalb gibt es keine
Alternative zur Diplomatie.
({6})
Das Gebot der Stunde ist und bleibt: Waffenstillstand
und Verhandlungen.
({7})
Als Nächstem erteile ich das Wort dem Kollegen
Franz Thönnes, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Die Ukraine ist ein gespaltenes Land am Rande eines
Bürgerkriegs und eines Staatsbankrotts und des Risikos,
zu zerfallen, wenn man jetzt nicht die Kraft für eine
friedliche Lösung des Konflikts hat. Angesichts der dramatischen Entwicklung der letzten Tage, der Toten und
Verletzten, des zunehmenden Hasses, der Gewalt, der
Wut und der aufkommenden Rachegelüste, kann man
von hier aus eigentlich nur rufen: Haltet ein! Haltet ein
und beendet das Blutvergießen!
({0})
Ich will an dieser Stelle ausdrücklich all denen aus
den Stäben des Außenministeriums und des Verteidigungsministeriums Dank sagen, die sich in den vergangenen Tagen sehr intensiv, mit Feingefühl und mit Diplomatie erfolgreich darum bemüht haben, dass unsere
OSZE-Beobachter
({1})
wieder heil zurückgekommen und heute bei ihren Familien sind. Ein großes Dankeschön an alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und an die Spitzen der Häuser!
({2})
Ich glaube, man muss deutlich sagen: Wenn man die
OSZE stärken will, dann darf man ihr keine Taktiererei
vorwerfen, dann darf man ihr nicht Spionage vorwerfen,
sondern dann muss man sie in Gänze stärken, und dazu
gehören auch die verabredeten Militärbeobachteraktionen.
({3})
Ich glaube auch, dass man sagen muss: Haltet ein und
haltet euch an die Vereinbarungen, die am 21. Februar in
Kiew und am 17. April in Genf getroffen worden sind!
Haltet euch an die eingegangene Verantwortung - das
gilt für alle, die daran beteiligt gewesen sind -, insbesondere zur konkreten Umsetzung! Bildet runde Tische im
Land und bezieht die Regionen und alle verantwortlichen Kräfte aus der Zivilgesellschaft und aus der Politik
mit ein! Haltet an der Absicht fest, die OSZE zu stärken
und ihr hierbei eine sehr wichtige Rolle zu geben, auch
wenn es darum geht, die oppositionellen Kräfte in der
Ukraine mit an diese runden Tische zu bringen! Man
wird mit denen reden müssen, über die man heute vielleicht noch sagt, mit denen würde man nie reden. Ich
glaube, dass das notwendig ist und dass die OSZE dabei
eine zentrale Rolle spielen kann.
Haltet vor allen Dingen auch an der Absicht fest, die
staatliche Gewalt wiederherzustellen! Wenn man eine
Regierung für illegitim erklärt, dann lässt sich mit ihr
keine staatliche Gewalt herstellen. Aber wenn die staatliche Gewalt dafür verantwortlich sein soll, dass alle illegalen Waffenträger, sowohl die vom rechten Sektor als
auch die von den anderen oppositionellen Kräften, entwaffnet werden, dann muss man die staatliche Gewalt
stärken und einer Regierung auch die Kraft dazu geben.
({4})
Ich glaube, dass es weiter notwendig ist, an dem
Wahltermin festzuhalten. Aber auch dafür gilt es, das
staatliche Gewaltmonopol in die Lage zu versetzen, für
Rahmenbedingungen zu sorgen für Wahlen, die man als
fair und frei bezeichnen kann, sodass die Menschen von
ihrem Wahlrecht Gebrauch machen können. Diese Rahmenbedingungen sind notwendig. Statt der Kraft der
Waffen brauchen wir die Kraft der Vernunft, der Verantwortung und der Versöhnung. Auch deshalb gilt es, die
schrecklichen Gewalttaten, die in den letzten Tagen geschehen sind, genauso wie diejenigen, die auf dem Maidan geschehen sind, rückhaltlos aufzuklären und die
Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Anders
wird eine Versöhnung nicht möglich sein.
({5})
Dazu gehört auch, dass der Verfassungsprozess transparent gemacht wird, dass die Menschen in Ost und
West wie in Nord und Süd der Ukraine das Gefühl haben, dabei auch beteiligt zu sein, dass das nicht anonym
läuft, sondern dass sie Einfluss darauf nehmen können,
dass Verantwortung mehr dezentralisiert wird, dass auch
Pflichten mehr dezentralisiert werden und sie am Ende
Teil eines Ganzen sind.
({6})
Ich glaube auch, dass es notwendig ist, darauf hinzuweisen, dass wir jetzt viel über den Tag hinausdenken
können; aber wir befinden uns heute und in diesen Tagen
am Rande des großen Risikos einer humanitären Katastrophe in einem Bürgerkrieg, wo Not und Elend so weit
gehen, dass die ersten Menschen aus dem Land flüchten.
({7})
Es kann eine instabile Situation entstehen, in der alle
EU-Mitgliedstaaten, die Nachbarstaaten der Ukraine
sind, aber auch Russland davon berührt und betroffen
sind. Auch deswegen muss man ganz klar und deutlich
sagen: Haltet hier ein! Haltet auch endlich ein mit einer
Presse-, Rundfunk- und Fernsehberichterstattung, die
nur noch Schwarz-Weiß kennt und bei der man teilweise
den Eindruck hat, als ginge es um einen medialen Waffengang!
({8})
Ich glaube, das gilt zum großen Teil auf beiden Seiten. Und haltet die Sozialpartner zusammen, haltet die Gewerkschaften und die Arbeitgeber in der Ukraine zusammen, damit über sozialverträgliche Regelungen gesprochen werden kann! Sie müssen zusammengehalten
werden, wenn man den großen Herausforderungen, die
vor diesem Lande liegen, gerecht werden und nicht dazu
beitragen will, dass neben der explosiven politischen Situation, die es zurzeit gibt, auch noch eine Zeitbombe
tickt, die den sozialen Frieden in der Ukraine gefährdet.
Der OSZE-Vorsitzende, Herr Burkhalter, befindet
sich gerade in Moskau. Ich glaube, das ist die Chance für
eine neue diplomatische Initiative. Russland ist - wie
alle anderen - hier in großer Verantwortung auch für die
Umsetzung der Punkte, die man in Genf vereinbart hat.
Es hat gute Signale vonseiten Russlands gegeben. Ein
gutes Zeichen war, dass man nachgewiesen hat, dass
man Einfluss hat. Gute Zeichen waren weiter, dass Herr
Lukin im Februar in Kiew dabei war, dass er jetzt wieder
mitgeholfen hat, die OSZE-Geiseln zu befreien, sowie
die Bereitschaft von Moskau, sich in Genf an den Tisch
zu setzen. Weiter ist es ein gutes Zeichen - was gerade
über die Ticker verbreitet wird -, dass Präsident Putin
sagt, dass das für das Wochenende angesetzte Referendum verschoben werden sollte.
Das alles sind kleine Zeichen; aber es sind mehr zu
erwarten. Es sind größere Schritte zu machen. Ein größerer Schritt muss sein, dass der klare Aufruf an die bewaffneten oppositionellen Kräfte erfolgt: Legt auch die
Waffen nieder, hört auch mit den Gewalttaten auf und
rüstet ab! Genauso sollte auch Russland mit seinen Truppen an der Grenze endlich das einhalten, was versprochen worden ist, nämlich ein Rückzug in die Kasernen.
({9})
Ich komme zum letzten Satz, Herr Präsident. - Wenn
man die OSZE stärken will, heißt das auch, dass man zu
ihren Prinzipien zurückkommen muss. Das gilt auch für
Russland. Das heißt, die zentralen Prinzipien der
Schlussakte von Helsinki einzuhalten, die da lauten: territoriale Integrität der Staaten, keine Androhung und
keine Anwendung von Gewalt, Unverletzlichkeit der
Grenzen und friedliche Lösung der vorhandenen Konflikte. - Gefordert ist jetzt eine Politik der kühlen Köpfe
und nicht der kalten Krieger.
({0})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Kollegin Marieluise Beck, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute Morgen hat Staatssekretär Ederer mit uns eine Debatte unter dem Titel „Wie verändert sich die europäische Sicherheitsarchitektur unter dem, was jetzt stattfindet?“ geführt. Ich glaube, es gibt eine Erschütterung,
deren Ausmaß wir noch gar nicht ganz begriffen haben;
denn es ist nach 1945 zum ersten Mal unter Anwendung
von Gewalt von außen ein Landesteil eines souveränen
Landes annektiert worden.
({0})
Darüber hat heute niemand gesprochen. Ich meine, wir
dürfen das nicht innerhalb von vier Wochen als quasi gegeben hinnehmen.
({1})
Wir haben es jetzt mit folgenden Eckpunkten zu tun:
Ein Land, von dem wir uns alle gewünscht haben, wir
könnten mit ihm eine gemeinsame Sicherheit von Lissabon bis Wladiwostok schaffen, kehrt zu geostrategischem Denken zurück und ist bereit, Gewalt einzusetzen, um geostrategische Ziele zu verfolgen. Das stellt
uns in der Tat vor eine vollkommen neue Situation. Ich
glaube, wir alle sind noch damit überfordert, zu wissen,
welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind.
Leider verändert sich nicht nur etwas im Osten, sondern auch im Westen. Wir alle ahnen, dass das nächste
Europäische Parlament anders als das jetzige aussehen
wird. Es wird in ihm beunruhigend starke rechtspopulistische Kräfte aus vielen Ländern - in Frankreich ist es
vielleicht sogar die stärkste Kraft überhaupt - geben.
Es ist schon atemberaubend, dass Marine Le Pen derzeit ständig nach Moskau pendelt, dass die Parlamentarier der Lega Nord Russland als „Modellgesellschaft“
preisen, wenn es um nationale Identität und Schutz der
Familie geht, wenn westliche Rechtspopulisten sich darauf berufen, dass sie mit Russland und Putin einig sind
gegen einen multikulturellen Bundesstaat Europa, dass
der Vorsitzende der griechischen Partei „Goldene Morgenröte“ von einer natürlichen Allianz zwischen der
„Seemacht“ Griechenland und der „Landmacht“ Russland spricht und dass das einigende Band zwischen Putin
und diesen Rechten der ethnische Nationalismus und die
Abwehr von allem ist, was als „westliche Dekadenz“ bezeichnet wird. Doch da sind unsere Werte, die auch die
Werte vieler, vieler Menschen in Russland sind, betroffen: Feminismus, die Gleichstellung von Frauen, auch
die Gleichstellung von Homosexuellen, eine liberale
Einwanderungspolitik und eine multikulturelle Gesellschaft. All das wird auch in Russland derzeit bekämpft.
Die Zivilgesellschaft in Russland stirbt mit der zunehmenden gewalttätigen Auseinandersetzung in der
Ukraine.
({2})
Der Kollege Juratovic und ich sind, wie ich glaube,
diejenigen, die am persönlichsten erfahren haben, wohin
die Mutation des KP-Mannes Milosevic zu einem erbarmungslosen Nationalisten geführt hat. Sein Wahlspruch
war ja: Wo ein Serbe lebt, ist Serbien. - Putin beansprucht jetzt, dass die russische Nation dort ist, wo Russen leben. Wir erleben jetzt, dass das Gleiche, was in
Bosnien passierte, nämlich dass der Hass erfolgreich von
außen in eine Gesellschaft, die es selber nicht glauben
konnte, hineingetragen wird, in der Ukraine passiert. Ich
verehre Herrn Lukin; ich kenne ihn nämlich noch als
Menschenrechtsbeauftragten. Aber wo hat er angerufen?
Er hat bei Igor Strelkow, Offizier des russischen Auslandsgeheimdienstes GRU, angerufen, der sich selbst als
militärischer Anführer der Separatisten in Slawjansk
fühlt und bezeichnet. Das heißt, es wird derzeit in der
Ukraine von Kräften aus dem Inneren, aber eben auch
mit geheimdienstlichen
Marieluise Beck ({3})
({4})
und sogar gewaltunterstützenden und gewalttätigen Mitteln an der Destabilisierung des Landes von innen gearbeitet.
({5})
Wenn wir dann sagen: „Das Land befindet sich im Bürgerkrieg“, dann müssen wir auch dazusagen: „Dieser
Bürgerkrieg ist von außen in das Land hineingetragen
worden“. Erstaunlich ist - das kann man gar nicht
fassen -, wie schnell Hass in einer Gesellschaft dazu
führen kann, dass dann wirklich alle aufeinander losgehen und auch alle Schuld auf sich laden. Wir müssen uns
deshalb anschauen, was derzeit passiert.
({6})
Herr Minister, wir unterstützen Sie bei der ernsthaften
und wirklich bis zur Erschöpfung gehenden, da sie nicht
aufgegeben werden darf, politisch-diplomatischen Mission. Ich hoffe, dass es Ihnen und uns allen, obwohl wir
sehen, dass Russland derzeit an einer Stabilisierung dieses Landes eher - ich sage: eher - nicht interessiert ist,
trotzdem gelingt, Russland auf einen Weg zu ziehen, damit diese Ukraine nicht vor unseren Augen zerstört wird.
Wir haben vor 20 Jahren gesagt: Mit Bosnien stirbt
Europa. - Ich hoffe, wir müssen nicht ein zweites Mal
sagen: Mit der Ukraine stirbt Europa.
Der verehrte Fraktionsvorsitzende Kauder hat im
April auf einer Veranstaltung zur Ukraine gesagt: Die
Flamme der Freiheit leuchtet heller als die von
Gazprom. - Herr Kauder, ich hoffe, diese Sache sehen
alle Ihre Außenpolitiker so wie Sie.
Schönen Dank.
({7})
Als Nächstem erteile ich das Wort dem Kollegen
Florian Hahn, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lassen Sie mich vorweg sagen, dass ich unendlich froh bin, dass die Mitglieder der OSZE-Mission,
die als Geiseln genommen wurden, wieder frei sind. Ich
möchte mich ausdrücklich bei den deutschen Soldaten,
vor allem bei Oberst Schneider, bedanken. In dieser
existenziellen Situation hat er sehr besonnen und mit
großem Verantwortungsgefühl für die ganze Gruppe gehandelt. Das verdient unseren größten Respekt.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, keine Frage: Die
OSZE-Mission stand rechtlich auf solidem Fundament.
Auch Russland war darüber informiert. Ebenfalls unbestritten ist, dass solche Missionen wichtig sind. Sie sind
ein wichtiges Instrument der multilateralen Diplomatie
im Bereich der Konfliktverhütung und der Krisenbewältigung. Sie sind genau für diese Art von Krise, in der
sich die Ukraine derzeit befindet, geschaffen worden.
Wir dürfen nicht zulassen, dass wir dieses Instrument
verbal kaputtmachen. Es gibt nicht viele andere Instrumente, die wir zur Verfügung haben.
Ich finde es in diesem Zusammenhang wirklich ungeheuerlich und unerträglich, dass Gregor Gysi, der Fraktionsvorsitzende der Linken, unseren Soldaten, die erstens unter dem Dach der OSZE, zweitens auf Einladung
der Ukraine und drittens mit Kenntnis Russlands tätig
waren, nun vorwirft, sie seien Spione. Unerträglich!
({1})
Zu fragen ist allerdings: Wer waren die Entführer, die offensichtlich gut ausgebildet und professionell gehandelt
haben? Das sollten wir klären.
Die Krise in der Ukraine entwickelt sich mehr und
mehr zu einer wirklichen Tragödie. Vor wenigen Wochen gab es die Toten auf dem Maidan; darüber wurde
schon gesprochen. Dann erfolgte die völkerrechtswidrige Besetzung der Krim. Dies wirft uns im Übrigen bei
den internationalen Abrüstungsbemühungen und bei den
Bemühungen, die Verbreitung von Atomwaffen zu verhindern, dramatisch zurück. Jetzt erfolgt die Eskalation
in der Ostukraine, mit der offensichtlich darauf abgezielt
wird, den Staat zu destabilisieren und letztlich auch reguläre Wahlen unmöglich zu machen, damit es zu keiner
demokratisch gewählten Regierung in der Ukraine kommen kann.
Wir müssen zusehen, wie aktuell lebenswichtige Infrastruktur, Wirtschaftsstrukturen und Gesellschaftsstrukturen zerstört werden. Es sterben Menschen, es
wird getötet, und es entsteht neuer Hass zwischen Volksgruppen, die auch in Zukunft miteinander leben sollen
und müssen. Es ist eine Tragödie für diese Region, aber
auch eine Tragödie für Europa und für Russland.
Wir wollten und wollen auch weiterhin eng und
freundschaftlich mit Russland zusammenarbeiten. Wir
haben in der Vergangenheit Werte entwickelt, um dies zu
erreichen. Der Verzicht darauf, territoriale Interessen mit
Waffengewalt durchzusetzen, sollte eigentlich ein solcher unumstößlicher gemeinsamer Wert sein - nicht zuletzt auch als Lehre aus der Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Diesen Konsens hat Russland leider aufgekündigt.
Wenn die Russische Föderation wirklich etwas zur
Entschärfung der Lage tun will, muss sie endlich aktiv
werden. Angekündigte mögliche Militärparaden auf der
Krim sind sicherlich das falsche Signal. Es ist schon erstaunlich, wie gut die Separatisten, die die Ostukraine im
Moment in ein Bürgerkriegsgebiet verwandelt haben,
ausgerüstet und ausgebildet sind. Angesichts dessen bin
ich sicher, dass Russland viel mehr tun könnte.
Unsere Kanzlerin und Sie, Herr Bundesminister, haben in den letzten Wochen ausdauernd bewiesen, dass
Sie nicht aufhören werden, zu versuchen, Russland zu
verstehen, und immer wieder das Gespräch mit der russischen Regierung zu suchen. Es ist klar, dass zur Deeskalation des Konflikts alle diplomatischen Mittel ausgeschöpft werden müssen. Die Kommunikation und der
Austausch zwischen den Konfliktparteien dürfen nicht
abreißen. Für dieses besonnene und bestimmte Handeln
in der Krise möchte ich mich ausdrücklich bedanken.
Ich glaube aber auch: Sollte Russland nicht endlich
bereit sein, die Krise in der Ukraine zu entschärfen, bedarf es weiterer und härterer Sanktionen. Wirtschaftliche
Interessen können nicht ausschlaggebend dafür sein,
dass man seine eigenen Werte verkauft und sich unglaubwürdig macht.
Herzlichen Dank.
({2})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Fritz Felgentreu, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber
Kollege Hahn, ich gebe Ihnen vollkommen recht: Die
Debatte über die Krise in der Ukraine, die wir zurzeit erleben, nimmt gelegentlich Züge an, die für Wohlmeinende nur noch schwer nachvollziehbar sind.
Bei aller Erschütterung darüber, wie sich die Fronten
zwischen den Parteien in der Ukraine in den letzten Wochen verhärtet haben, haben wir in Deutschland wenigstens in einem Punkt Anlass zur Erleichterung. Den
OSZE-Militärbeobachtern, die acht Tage lang in
Slawjansk festgehalten wurden, ist nichts Schlimmeres
geschehen. Sie sind wieder frei. Dass es wenigstens bei
ihnen gelungen ist, die Dynamik der Eskalation zu überwinden, ist ein Verdienst der Diplomatie als Methode
und der OSZE als der Plattform, auf der Diplomatie ihre
Wirkung entfalten konnte. Wir sollten daraus die Erkenntnis ziehen, dass es sich lohnt, auch in scheinbar
verfahrenen Situationen dem Gespräch und der Gewaltfreiheit immer wieder eine Chance zu geben.
({0})
Ich bin deswegen auch sehr froh darüber, dass der
Bundestag die Debatte über Lösungswege für die
Ukraine heute ganz klar unter außenpolitischen Schwerpunkten führt und dass wir hier sehr deutlich machen,
dass eine militärische Option für niemanden in diesem
Hause infrage kommt, dass wir dem Säbelrasseln auf der
einen Seite den Willen zum Dialog und europäische Geschlossenheit auf der anderen Seite entgegensetzen. Dafür ist eine Stärkung der OSZE weiterhin notwendig.
Aber wie die Debatte aus Deutschland von der Linksfraktion und einigen Teilen der Medien geführt wird,
geht in eine andere Richtung.
({1})
Von den Linken und gerade von Ihnen, Herr Dr. Neu, ist
mehrfach versucht worden, die entführten Militärbeobachter selbst für die eigene Entführung verantwortlich
zu machen.
({2})
- Selbstverständlich. Die Vorwürfe an die Opfer der Entführung reichten doch von Dummheit bis zum Verdacht
der Spionage. In einer völlig indiskutablen Art und
Weise hat sich die Linkspartei zum Stichwortgeber für
all diejenigen gemacht, die in den letzten Tagen aktiv die
Grenzen zwischen Recht und Unrecht verwischen wollten.
({3})
Ich will deswegen noch einmal sehr deutlich festhalten: Die bei Slawjansk durchgeführte internationale Beobachtermission stand fest auf dem Boden des internationalen Rechts und der innerhalb der OSZE gültigen
Absprachen und Verträge.
({4})
Ihre Grundlage war das Wiener Dokument von 1990,
eine Vereinbarung, die es Mitgliedstaaten der OSZE ermöglicht, Militärbeobachter aus anderen OSZE-Ländern
einzuladen, um als vertrauensbildende Maßnahme
Transparenz über Rüstung und Militärbewegung im eigenen Land herzustellen. Diesen Vorgang nennen wir
Verifizierung. Wenn eine solche Mission zustande
kommt, dann werden alle anderen OSZE-Mitgliedstaaten darüber genau informiert. Im Falle der Entführten
handelte es sich also um eine Verifikationsmission.
Russland war von Anfang an darüber im Bilde.
Für die Entführung der Beobachter gibt es also keine
wie auch immer rechtlich zu konstruierende oder gar
moralische Rechtfertigung. Es war ganz einfach ein krimineller Akt, der im Detail aufgeklärt werden muss und
für den die Täter zur Rechenschaft gezogen werden müssen, sobald es in der Region wieder eine staatliche Autorität gibt, die dazu in der Lage ist.
({5})
Dennoch hätte ich es verstanden, wenn Sie im Zusammenhang mit der Entführung Fragen aufgeworfen hätten, die sich auch aus einer parlamentarischen Fürsorgepflicht gegenüber den Betroffenen heraus verstehen.
Natürlich müssen wir darüber sprechen, ob bei der Vorbereitung und der Durchführung der Mission für die Sicherheit der Beobachter ausreichend Vorsorge getroffen
worden ist,
({6})
um in Zukunft aus möglichen Fehleinschätzungen zu lernen. Darum ist es Ihnen offenkundig nicht gegangen. In
einer Situation, in der die Entführten vor allem Solidarität gebraucht hätten, haben Sie ihnen öffentlich Vorwürfe gemacht.
({7})
Das ist genauso unakzeptabel wie die vorgetragene Kritik am Verhalten von Gefangenen, als sie von ihren Entführern öffentlich vorgeführt worden sind. Wir können
als Parlament diese Fehltritte im falschen Moment nicht
ungeschehen machen. Aber ich möchte mich denjenigen
anschließen, die heute die Gelegenheit genutzt haben,
um den beteiligten Soldaten der Bundeswehr aus Tschechien, Polen, Dänemark und Schweden und ihren Begleitern aus der Ukraine zu danken und ihnen für die
ausgestandene körperliche und seelische Belastung das
Mitgefühl dieses Hauses auszudrücken.
({8})
Ich hoffe sehr, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass
wir uns nicht noch einmal mit einer vergleichbaren Situation auseinandersetzen müssen. Wenn aber doch,
dann hoffe ich, dass es uns als Volksvertretung insgesamt überzeugender gelingt als in der Auseinandersetzung über die Entführung von Slawjansk, so wie sie in
den letzten Tagen geführt worden ist.
Ich danke Ihnen.
({9})
Der Kollege Dr. Neu fühlt sich vom Kollegen
Dr. Felgentreu falsch zitiert und will es kurz klarstellen.
Sehr geehrte Damen und Herren! Es wurde gesagt,
dass ich gesagt hätte, die Bundeswehrsoldaten seien
„Spione“ gewesen. Weder ich noch irgendjemand anderes aus der Linksfraktion hat die Soldaten dort als „Spione“ bezeichnet.
({0})
Was ich gesagt habe, ist - zur Klarstellung -: Die Mission als solches, die sehr viele Widersprüche und Unklarheiten enthält, gibt Nahrung für einen Spionageverdacht. - Das ist etwas ganz anderes, als zu sagen, diese
Leute seien „Spione“ gewesen. Das ist eine Rückweisung.
({1})
Als Nächstem erteile ich dem Kollegen Gunther
Krichbaum, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Außenminister Steinmeier, Sie haben die Lage in
der Ukraine vorhin sehr zutreffend beschrieben. Wir haben uns als Europaausschuss des Deutschen Bundestages noch vor kurzem, vor knapp drei Wochen, selbst ein
Bild von der Lage im Land verschafft. Wir waren in
Kiew, wir waren in Donezk, und tatsächlich ist die Lage
brisant, mancherorts explosiv, wiederum andernorts
auch seltsam ruhig angespannt. Aber eines ist wahr: Seit
dieser Zeit sind die Dinge eskaliert. Wir alle tun gut daran, die Lage zu deeskalieren.
Eines gilt auch: Die heutige Aktuelle Stunde trägt
zwar den Titel „Zur aktuellen Lage in der Ukraine“, aber
besser wäre fast noch der Titel „Zur aktuellen Lage in
Ost- und Südosteuropa“. Denn längst droht aus der Krise
in der Ukraine ein Flächenbrand zu werden.
({0})
Denn in Moldau wurde die Armee an der ukrainischmoldauischen Grenze in Alarmbereitschaft versetzt. Per
inoffizieller Twitter-Mitteilung hat der russische Vizepremier Rogosin seinen Besuch einer Militärparade in
Tiraspol in Transnistrien angekündigt, just für den
9. Mai. Wir müssen solche Notizen aufnehmen und auch
hier bewerten. Denn all das ist kein Zufall. So wie die
Menschen in Moldau sehr beunruhigt sind, so sind sie es
auch im Baltikum und in Polen.
Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Sehr, sehr
viel! Während wir im Zusammenhang mit Moldau schon
lange von einem „Frozen Conflict“ sprechen, soll er von
Putin in der Ukraine gegenwärtig kreiert werden. Genau
das dürfen wir nicht zulassen. Durch die Annexion der
Krim wurde schon ein erster Konflikt kreiert, und dies
soll in einer Annexion faktischer Art der Ostukraine
seine Fortsetzung finden, von Odessa ganz zu schweigen.
Wenn ich sage: „Das dürfen wir nicht zulassen“, dann
heißt das: „Wir müssen gegensteuern.“ Was war der
Ausgangspunkt der ganzen Krise? Ausgangspunkt war
die Nichtunterzeichnung des sogenannten Assoziierungsabkommens mit Russland, also nichts anderes, als
dass sich die Ukraine den Standards der Europäischen
Union annähern wollte, weil es die Menschen dort satthatten, in einem Land voller Korruption und mit Demokratie- und Rechtsstaatlichkeitsdefiziten zu leben. Deswegen gibt es die Strategie der Östlichen Partnerschaft,
in der Länder wie Armenien, Aserbaidschan, Weißrussland, aber eben auch Georgien, Moldau und die Ukraine
versammelt sind. Bei nüchterner Betrachtung müssen
wir aber auch festhalten, dass wir Armenien und Weißrussland längst an die eurasische Zollunion verloren haben.
({1})
Es bleiben noch Georgien, Moldau und die Ukraine.
Wir müssen hier gegensteuern; wir dürfen nicht zulassen, dass in Europa weitere Frozen Conflicts geschaffen
werden. Denn es geht Herrn Putin allein um eines: um
Vormachtstreben, um Hegemonie.
Die Breschnew-Doktrin ist tot; auch das muss man
mit aller Deutlichkeit sagen. Deswegen ist es inakzeptabel, wenn Russland versucht, sich in die Gestaltung von
Verträgen, die diese Staaten mit der Europäischen Union
abschließen wollen, einzumischen.
Wir in Deutschland müssen ganz besonders sensibel
sein; denn wir kommen aus einem geteilten Land und
sind heute wiedervereinigt. Der ukrainischen Teilung
müssen wir mit aller Macht entgegenwirken.
({2})
Ja, es ist richtig: Wir müssen weiter auf die Diplomatie setzen; denn stirbt die Diplomatie, dann sterben Menschen. Aber eines gilt auch: Die Ukraine ist ein souveränes Land. Sie hat das Gewaltmonopol inne. Beides
stellen wir dieser Tage seltsamerweise hin und wieder
infrage.
Putin muss einlenken. Putin selbst hat es in der Hand,
den Konflikt zu lösen. Es darf auch daran erinnert werden, dass vonseiten Russlands bislang nichts von dem,
was in Genf vereinbart wurde, umgesetzt wurde.
Heute haben wir über eines noch nicht gesprochen:
Die Zeit ist wahrscheinlich reif, eine Stufe weiterzugehen und echte Wirtschaftssanktionen nicht länger auszuschließen.
({3})
Wir brauchen Russland - das ist wahr -, aber Russland
braucht auch uns. Russland begreift seine Wirtschaftspolitik als reine Energielieferungspolitik. Das ist dauerhaft sicherlich zu wenig. Russland braucht unser Knowhow, unsere Technologie und unser Wissen, aber natürlich auch die Erlöse aus den Rohstoffen, die es an uns
verkauft.
Wir müssen stärker und einiger voranschreiten. Ich
begrüße ausdrücklich, dass es bislang gelungen ist, die
Europäische Union mit einer Stimme sprechen zu lassen.
Nun müssen wir den Druck auf Russland erhöhen, sonst
werden wir in Europa noch über ganz andere Länder zu
sprechen haben als nur über die Ukraine, und das dürfen
wir nicht zulassen.
Vielen Dank.
({4})
Als Nächstem erteilte ich das Wort dem Kollegen
Norbert Spinrath, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Die Freilassung der
unversehrten OSZE-Beobachter aus der Geiselhaft am
vergangenen Wochenende gibt Hoffnung, dass Diplomatie Konflikte friedlich lösen kann, auch die Konflikte in
der Ukraine. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Gewalt in der Ukraine müssen wir den Menschen unermüdlich klarmachen, dass wir in Deutschland, wir in der Europäischen Union weiterhin eine gewaltfreie Lösung der
Konflikte in der Ukraine wollen und uns dafür engagieren.
Wir müssen auch klarmachen, dass wir in Deutschland und wir in der Europäischen Union seit geschätzt
25 Jahren das Wort „Blockdenken“ abgelegt haben. Wir
sprechen seit 25 Jahren von „Partnerschaften“. Ich finde,
auch die Damen und Herren hier ganz links sollten sich
an diesen neuen Sprachgebrauch gewöhnen.
({0})
Eine friedliche Lösung in der Ukraine muss vor allen
Dingen vom überwiegenden Teil der Menschen dort mitgetragen werden. Sie braucht ein demokratisches Fundament.
Lassen Sie mich zunächst auf die Zustände innerhalb
der Ukraine eingehen. Natürlich muss Russland einen
großen Beitrag leisten. Es muss seinen Einfluss auf die
Separatisten im Osten der Ukraine geltend machen und
sie dazu bringen, ihre Waffen kampflos niederzulegen
und die Besetzung von öffentlichen Gebäuden, Straßen
und Plätzen zu beenden. Die Meldung von n-tv heute
Nachmittag zeigt: Ein erster Schritt auf diesem Weg ist
immerhin getan.
In der Woche vor Ostern ist eine siebenköpfige Delegation des Europaauschusses nach Kiew und Donezk gereist. Wir haben wichtige Gespräche mit den Menschen
in der Ukraine geführt. Dabei habe ich gelernt, dass es
zur Lösung der Probleme im Lande eines grundsätzlichen Wandels bedarf. Insbesondere muss die in allen gesellschaftlichen Ebenen der Ukraine vorherrschende
Korruption bekämpft und endgültig unterbunden werden.
Wer hat denn noch Vertrauen in eine solche Gesellschaft, wenn der Platz an einer weiterführenden Schule
oder der Studienplatz für das Kind, wenn der Führerschein für den Enkel, wenn die Grabstätte für die Oma
nur noch gegen harte Griwnas zu bekommen ist, wenn
kein öffentlicher Auftrag vergeben, keine Baugenehmigung ohne Schmiergeld erteilt wird, wenn ein großer
Teil der Parlamentarier im nationalen Parlament über
Privatvermögen im Wert von zwei- bis dreistelligen Millionen Dollar oder Euro verfügt?
({1})
Da ich diese Zustände als Erkenntnisse von der Reise
mitbrachte, wundert es mich nicht, dass sich die Jugend
in der Ukraine im Herbst des letzten Jahres zum Maidan
aufmachte. Sie waren dort schon vor dem 21. November
des letzten Jahres, also bevor sich der ehemalige StaatsNorbert Spinrath
präsident Janukowitsch weigerte, das EU-Assoziierungsabkommen zu unterzeichnen. Erst als dies geschah,
wurde aus dem Protest der Schüler und Studenten gegen
die Korruption und gegen die Ausplünderung des Landes der sogenannte Euromaidan.
Aber ohne die Beseitigung der Korruption, die bis in
den Alltag der Menschen geht, ohne die Beseitigung der
Ausbeutung der Wertschöpfung des Landes durch einige
wenige, kann dieses Land nicht zur Ruhe kommen.
({2})
Ohne die Beseitigung der Korruption kann kein funktionstüchtiger Verwaltungsapparat aufgebaut werden.
Der Aufbau einer ordentlichen Verwaltung und eines
funktionierenden Steuersystems sind aber unerlässlich
für ein demokratisches Land. Nicht zuletzt dafür haben
die Menschen, haben die Schüler und Studenten auf dem
Maidan demonstriert.
Es bleibt richtig, dass die Europäische Union mithilfe
von insgesamt 11 Milliarden Euro und der Internationale
Währungsfonds mit weiteren Milliarden den Staatsbankrott vermeiden wollen. Genauso richtig ist es aber, die
Milliarden, um die sich das alte Regime Janukowitsch
durch den Griff in die Staatskassen persönlich bereichert
hat, aufzuspüren und dem Staatshaushalt wieder zuzuführen. Und genauso richtig bleibt es, die Oligarchen,
die unter zweifelhaften Umständen ein persönliches Vermögen in Milliardenhöhe angehäuft haben, nicht nur an
der politischen, sondern gerade eben auch an der finanziellen Sanierung des Landes zu beteiligen.
({3})
- Sie müssen mit demokratischen Mitteln dazu gebracht
werden, sich an der finanziellen Stabilisierung des Landes zu beteiligen.
({4})
Dies wäre ein wichtiges Signal an die Menschen in der
Ukraine, damit sie selbst an ihr Land glauben können,
damit sie selbst friedlich dafür eintreten können. Dazu
müssen wir aber mit allen Menschen in allen Teilen der
Ukraine reden, mit ihnen Ideen entwickeln und umsetzen, zum Beispiel durch Städtepartnerschaften, durch die
Arbeit der politischen Stiftungen
({5})
oder die Zusammenarbeit mit anderen NGOs.
Die am 25. Mai 2014 anstehenden Präsidentschaftswahlen sind wichtig. Sie dürfen nicht verschoben werden. Aber es muss auch nach dem 25. Mai 2014 schnell
zu Parlamentswahlen kommen, damit es einen wirklichen Neuanfang gibt; denn viele Menschen in der
Ukraine zweifeln sicherlich zu Recht daran, dass einige
der alten Köpfe in der Lage sind, die alten Missstände zu
überwinden und komplett neu zu denken.
Nachdem sich während unseres Kiew-Aufenthalts die
Meldungen über die Zuspitzung der Lage in Donezk
häuften, wurde angesichts der Sicherheitslage mehrfach
der Verzicht auf eine Weiterreise nach Donezk diskutiert.
Unsere Entscheidung, doch zu fliegen, erwies sich als
richtig. Bei der Ankunft in Donezk, abends um 22 Uhr,
fanden wir eine ruhige Stadt vor. Bei der Vorbeifahrt am
von Separatisten besetzten Hochhaus des Provinzparlaments hätten wir die weniger als 20 Vermummten am
Eingang vermutlich gar nicht bemerkt, wenn nicht ein
Heer von Journalisten und Kameraleuten aus der ganzen
Welt aus gebührendem Abstand ihre Objektive auf die
Szene gerichtet hätte. 50 Meter weiter nahmen Leute in
einem Straßencafé Getränke zu sich. 200 Meter weiter,
in unserem Hotel, und in einem nahegelegenen Restaurant war genauso wenig davon zu spüren wie am nächsten Tag auf den Straßen der Millionenstadt Donezk, wo
die Menschen ohne Hast und Eile ihrem Alltag nachgingen. Am Abreisetag kam die Gruppe an dem eine Stunde
zuvor gestürmten und besetzten Rathaus der Stadt vorbei. Alles war friedlich. Auf dem Spielplatz unmittelbar
neben dem Rathaus spielten Kinder.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, keine Lektüre kann
eigene Wahrnehmung bei einer Reise ersetzen. Bei dem
nächtlichen Zappen durch diverse TV-Sender in dem
Hotel in Donezk, durch westliche, östliche, europäische,
deutsche, russische, russischsprachige und ukrainischsprachige, habe ich fürs Leben gelernt: Es gibt viele
Wahrheiten. Aber es gibt auch das, was ich selbst gesehen, gehört und in Gesprächen mit Menschen erfahren
habe.
Herr Kollege, denken Sie bitte daran, dass Sie deutlich über der Zeit sind.
Ich komme sofort zum Schluss. - Wichtig ist, dass der
Fünf-Punkte-Plan von Frank-Walter Steinmeier umgesetzt wird, um weiteres Blutvergießen zu verhindern.
Wichtig ist, einen beständigen Dialog mit den politischen Spitzen aller beteiligten Staaten und mit den Bürgern der Ukraine zu führen. Gerade jetzt müssen die
45 Millionen Menschen in der Ukraine wieder hoffen
können auf gute Perspektiven, auf ein funktionierendes
Staatswesen, auf eine gute und eine sichere Zukunft, auf
ein friedliches Zusammenleben in einem souveränen
Staat Ukraine.
Danke.
({0})
Es tut mir leid, gerade in solch einer Situation zu unterbrechen, nur haben wir für die Aktuelle Stunde die
völlig kompromisslose Regel, dass die Beiträge nicht
länger als fünf Minuten dauern dürfen.
Präsident Dr. Norbert Lammert
Letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde ist der Kollege Roderich Kiesewetter für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 25. Mai
werden wir nicht nur Präsidentschaftswahlen in der
Ukraine haben, sondern am 25. Mai haben wir auch
Europawahlen. Hier entscheidet die europäische Bevölkerung über das Schicksal von 500 Millionen Menschen.
Europa steht in hartem Ringen seit über 60 Jahren für
Frieden in Freiheit und die Aussicht auf Wohlfahrt. Das
haben wir uns in Europa nach jahrhundertelangem kriegerischem Ringen hart erkämpft. Das ist ein Wert an
sich.
({0})
Wir wollen mit unserer europäischen Nachbarschaftspolitik, sei es im Norden, im Osten oder im Süden, dass
auch unsere östlichen Nachbarn eine Aussicht auf Frieden in Freiheit und Wohlfahrt haben, und das in freier
Selbstbestimmung.
Anfang Februar haben unser Bundesaußenminister
Steinmeier und unsere Bundesverteidigungsministerin
Frau von der Leyen sich in München ganz klar dazu bekannt, dass wir nicht zuschauen dürfen, sondern aktiv
gestalten müssen. Wenige Wochen danach zeigen beide
mit großartigem diplomatischem Ansatz in OSZE, EU
und NATO, was es heißt, sich aktiv an einer diplomatischen Lösung zu beteiligen. Ich glaube, wir sollten am
Ende dieser Aktuellen Stunde ein Zeichen dieses Hauses
setzen, dass wir diese diplomatischen Lösungen unterstützen und dass wir gemeinsam darauf hinwirken, dass
in der Ukraine am 25. Mai in freier Selbstbestimmung
ohne Druck von Kanonen gewählt werden kann.
Ein Zweites. Rund 25 Millionen Russen leben außerhalb der Russischen Föderation, davon 18 Millionen in
der Ukraine und in der Europäischen Union. Ich bin der
Deutschen Welle sehr dankbar, dass sie in dieser Woche
ihr Programm in Auslandssendungen erweitert hat und
auch auf Russisch und auf Ukrainisch sendet, dass sie
rund um die Uhr informiert. Das ist unabdingbar, weil
die Auslandsrussen einer ungeheuren Propaganda unterliegen, die - Kollege Wellmann und auch Gunther
Krichbaum haben es angesprochen - ihresgleichen in der
europäischen Nachkriegsgeschichte sucht. Lassen Sie
uns gegenüber diesen 18 Millionen Auslandsrussen
deutlich machen, was es für ein Wert ist, Frieden in Freiheit und Aussicht auf Wohlfahrt genießen zu dürfen.
({1})
Ich möchte uns alle - ich erlaube mir das - in zwei
Punkten ermahnen. Der eine ist unsere eigene Sprachdisziplin. Lasst uns doch die Dinge beim Namen nennen.
Der Ponomarjow in Slawjansk ist kein selbsternannter
Bürgermeister. Das ist ein Separatistenführer. Es gab
kein Referendum auf der Krim. Es gab eine Annexion
der Krim, und zwar eine völkerrechtswidrige. Wer die
Begriffe beherrscht, beherrscht auch die Köpfe. Deswegen brauchen wir das Programm der Deutschen Welle.
Wir brauchen auch viel mehr eigene Aufklärung. Deshalb ist es gut, dass wir heute diese Aktuelle Stunde haben, die die CDU/CSU-Fraktion angeregt hat.
Vor uns liegen sehr schwierige Monate. Es muss darauf ankommen, dass Russland seinen Einfluss geltend
macht. Wir arbeiten beim Abzug aus Afghanistan mit
Russland zusammen. Wir arbeiten mit Blick auf Kooperationen bei Transporten in der Zentralafrikanischen Republik mit Russland zusammen.
Es waren die Europäische Union und die USA, die
darauf hingewirkt haben, dass die Ukraine und Russland
das Genfer Abkommen unterzeichnet haben. Das ist der
zweite Punkt, den ich ansprechen möchte: die EU und
die Vereinigten Staaten von Amerika. Wir sind heute
- mehr denn je seit Ende des Kalten Krieges - auf eine
vertrauensvolle und enge Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten von Amerika geradezu angewiesen. Die
transatlantische Partnerschaft bedarf wieder eines intensiven Vertrauens. Lassen Sie uns in dieser Krise gemeinsam und mit diplomatischen Mitteln daran arbeiten, dass
die ukrainische Bevölkerung in freier Selbstbestimmung
wählen kann, ob sie auch künftig die Aussicht auf Frieden, Freiheit und Wohlfahrt haben möchte! Lasst uns in
der Krise gemeinsam daran arbeiten, dass wir wieder ein
besseres Verhältnis zu den Vereinigten Staaten bekommen! Dazu gehören beide Seiten.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit, meine sehr
verehrten Damen und Herren.
({2})
Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 3 auf:
Vereinbarte Debatte
Friedliche Revolution in der DDR - Die Rolle
der Kommunalwahl am 7. Mai 1989
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Debatte und erteile als Erstem dem
Bundesminister des Innern, Dr. Thomas de Maizière, das
Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute vor 25 Jahren, am 7. Mai 1989, kontrollierten
Bürgerrechtler die Kommunalwahl in der DDR und
deckten Wahlfälschungen auf. Die Bürger der DDR wurden Jahrzehnte um das kostbarste Recht gebracht, das
die Demokratie ihren Bürgern vorbehält: um das Wahlrecht. Die Tatsache, dass wir dieses Tages heute dennoch
freudig gedenken können, ist darin begründet, dass sich
viele Bürger der DDR dieses Recht ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr haben nehmen lassen. Einen
Tag nach der Aufdeckung der Fälschungen demonstrierten in Leipzig 500 Bürgerinnen und Bürger gegen das
amtliche Ergebnis der Kommunalwahlen. Sie wussten
das Recht auf ihrer Seite; selbst das Recht der DDR
wussten sie auf ihrer Seite. Sie waren drei Jahre nach
den ersten erfolgreichen Kontrollversuchen bei den
Wahlen 1986 gut vorbereitet.
So ist in einem Bericht der Staatssicherheit vom
19. Mai 1989 zu lesen - ich lese dieses Zitat ungern vor,
weil es von der Staatssicherheit ist -:
Auf der Grundlage von am Wahltag durchgeführten
sogenannten ‚Kontrollen‘ … beabsichtigen innere
Feinde den ‚Nachweis‘ einer angeblichen Fälschung von Wahlergebnissen in ausgewählten
Wahlbezirken zu führen. Dabei ist ein stabsmäßig
organisiertes und koordiniertes Vorgehen feindlicher, oppositioneller Kräfte … zu erkennen.
Ein ungewolltes, geradezu respektvolles Kompliment
der Stasi an diejenigen, die wir heute „Bürgerrechtler“
nennen dürfen. Opposition gleich Feind, das war dagegen die Denke des SED-Regimes.
Mit entsprechenden Folgen: Am 7. Juni 1989 wurden
in Ostberlin zwei Demonstrationen gegen die Wahlfälschung brutal aufgelöst. Dennoch fand einen Tag später,
am 8. Juni, in der Berliner Gethsemanekirche eine Protestveranstaltung mit nunmehr 1 500 Teilnehmern statt.
Wie es weiterging, ist vielen von uns in Erinnerung: Am
4. September fand im Anschluss an das Friedensgebet in
der Nikolaikirche die erste Montagsdemonstration in
Leipzig statt. Am 7. September ging die Polizei in Ostberlin brutal gegen Demonstranten vor, die auf dem
Alexanderplatz gegen den Wahlbetrug protestierten. Die
Lage spitzte sich zu. Der offene Widerspruch wurde gefährlicher, der Protest aber gleichzeitig größer. Am
9. Oktober gab es die erste große Massendemonstration
mit 70 000 Menschen in Leipzig und am 4. November
die allergrößte Massendemonstration in der Geschichte
der DDR auf dem Berliner Alexanderplatz, allerdings
mit ersten Ambivalenzen und einer merkwürdigen Rednerliste; sagen wir es einmal so. Ich war selber damals
dabei auf diesem Platz.
Am 9. November 1989 wurde die Berliner Mauer
dann von Ost nach West geöffnet, von einem Offizier der
Truppen der Grenzsicherung, nach Schabowskis Pressekonferenz und durch den physischen, aber friedlichen
Druck von Bürgerinnen und Bürgern, die nur von einem
Teil ihrer Stadt Berlin in den anderen Teil wollten. Das
formale Ende der DDR und der Teilung Europas nahm
seinen Anfang.
Wir erinnern heute dankbar an diejenigen, die mit ihrem Handeln ein Auslöser für die friedliche Revolution
waren und mit ihrem Mut zu einer moralischen Stütze
der Wiedervereinigung unseres Vaterlandes wurden.
({0})
In den 90er-Jahren wurde viel darüber diskutiert, ob
die Wiedervereinigung eine Einigung von oben war. Zyniker sprachen vom „Anschluss“ der DDR statt von ihrem Beitritt. Diese Debatte war wohl genauso falsch, wie
heute die Trennung in Ost- und Westdeutschland unnötig
ist.
({1})
Heute wissen wir: Die Demokratie ist von unten entstanden. Wir wissen auch: Der Wunsch nach Einheit ist von
unten entstanden.
Demokratie und Einheit fielen aber weder mit dem
Mauerfall noch mit dem Einigungsvertrag vom Himmel - sie wurden über Monate hart erkämpft und erarbeitet, Tag für Tag, von Politik und Verwaltung, von den
Kommunen bis hin zur Außenpolitik.
Am Anfang dieses Weges aber stand der Ruf nach
freien Wahlen. Freie Wahlen, das war die zentrale
Forderung, noch weit vor dem Ruf nach der Wiedervereinigung Deutschlands. Bis zum 20. November
1989 unterzeichneten binnen sechs Wochen mehr als
200 000 Menschen einen Aufruf des Neuen Forums mit
der Forderung nach freien Wahlen. Freie Wahlen, das
scheint vielen heute nicht mehr einen Gedanken oder ein
Gedenken wert. Freie Wahlen scheinen selbstverständlich; aber ein Blick in die Welt - und vielleicht in die
Debatte von eben - zeigt: Freie Wahlen sind nicht selbstverständlich. Der heutige Tag ist Anlass, uns der fundamentalen Bedeutung freier, allgemeiner, gleicher und
ungestörter Wahlen für die Demokratie in Erinnerung zu
rufen.
({2})
Ein starker Ausdruck für gelebte Demokratie ist das
Engagement von 600 000 ehrenamtlichen Wahlhelfern,
ohne deren Sorgfalt und Einsatz die Wahlen in unserem
Land nicht stattfinden können. Ihnen möchte ich heute
bei dieser Gelegenheit einmal herzlich danken - im
Rückblick auf die zurückliegende Bundestagswahl, im
Ausblick auf die bevorstehenden Kommunalwahlen und
die Europawahl, aber auch einmal ganz grundsätzlich.
600 000 Bürgerinnen und Bürger sorgen in Deutschland
für freie und geheime und ordentliche und seriöse Wahlen, und das verdient einen Dank.
({3})
Was können wir vom damaligen Aufbruch für heute
lernen? Die Bürgerrechtler damals forderten freie Wahlen und stellten sich anschließend auch zur Wahl. Sie
zeigten Verantwortung für die Gemeinschaft vor Ort und
für das große Ganze im Land - ohne einen vorherigen
Grundkurs im Kommunalwahlrecht, ohne zu wissen, wie
eine Beamtenversorgung für Bürgermeister nach soundso vielen Jahren aussieht, mit vollem Risiko, aus
Freude und Verantwortung. Die Neuen - als Laienspieler
wurden sie zum Teil bezeichnet -, das war eine bunte
Mischung von Menschen mit den unterschiedlichsten
Hintergründen: Ingenieure - überproportional viele Ingenieure waren dabei -, Handwerker, Techniker, Ärzte,
auch Pfarrer. Sie alle haben der kommunalen Selbstverwaltung, ehrlich gesagt, ziemlich gutgetan, weil sie den
Mut hatten, Probleme pragmatisch zu lösen und Verantwortung zu übernehmen - ohne Vorbild, ohne nach Absicherung zu fragen, am Anfang ohne Berater, aber mit
ganz viel Charakter und gesundem Menschenverstand.
Damals wie heute verlangt öffentliche Verantwortung
Mut, Bereitschaft zur Entscheidung und zum Handeln und damit auch die Bereitschaft, Fehler zu machen.
Auch damals sind, wie wir heute wissen, viele Fehler gemacht worden; aber es ist verdammt viel mehr richtig als
falsch gemacht worden in dieser Zeit von dieser ersten
Generation in kommunaler Verantwortung.
({4})
Wir brauchen Menschen, die sich für das Ganze einsetzen - zum Beispiel auch Politiker, die sich für die
Polis, wovon der Begriff „Politik“ abgeleitet ist, engagieren -, indem sie sich organisieren und Verantwortung
übernehmen: in unserer unmittelbaren Nachbarschaft, in
der Gemeinde, am Arbeitsplatz, im Verband oder Verein.
Dieses Selbstverständnis geht von der Würde des Menschen aus. Sie wird oft beschrieben, aber nicht durch
Nichtstun oder Abwarten geschützt, sondern durch den
Gebrauch von verantworteter Freiheit, auch wenn es
stürmt.
Ich wünsche uns, dass wir uns nicht nur in dieser
Stunde möglichst viel von der Begeisterung, der Entscheidungsfreude, dem Mut, dem Enthusiasmus und der
Verantwortungsbereitschaft bewahren, die im Revolutions- und Vereinigungsjahr und Anfang der 90er-Jahre
so viel an Fortschritt und Bewegung in unserem Land ermöglicht haben.
Das Große fängt im Kleinen an, und das Kleine geht
im Großen auf. Das war auch damals so: beim Protest
gegen die Fälschung der Kommunalwahlergebnisse
heute vor 25 Jahren. Es war der kleine starke Anfang eines großen Umbruchs in der ehemaligen DDR, eines
großartigen Aufbruchs für unser Land.
({5})
André Hahn von der Fraktion Die Linke ist der
nächste Redner.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als ich in
der Fraktion gebeten wurde, zu diesem Thema zu sprechen, habe ich mir als Erstes in Erinnerung gerufen, was
ich damals, an diesem 7. Mai 1989, gemacht habe.
({0})
Ja, ich bin wählen gegangen, und ja - ich gebe es zu -,
ich habe die Kandidaten der Nationalen Front gewählt.
Die meisten von ihnen kannte ich ohnehin nicht; denn
ein öffentlicher Wahlkampf mit Vorstellung der Bewerber und Befragung durch die Bürgerinnen und Bürger
war im DDR-System nicht vorgesehen.
Ich habe aus dem Bundesarchiv einmal einen Stimmschein von 1989 mitgebracht.
({1})
Außer den Namen der Kandidaten ist daraus nichts zu
entnehmen, weder deren Alter noch deren Beruf oder
Wohnort und schon gar nicht, von welcher Partei oder
Massenorganisation sie aufgestellt wurden. Es gab keine
Möglichkeit, bei einzelnen Bewerbern mit Ja, Nein oder
Enthaltung zu votieren. Auch deshalb konnte von demokratischen Wahlen keine Rede sein.
({2})
Aber zurück zum 7. Mai 1989. Ich war damals Student
an der Berliner Humboldt-Universität, und ein befreundeter Kommilitone erzählte mir davon, dass oppositionelle
und kirchliche Gruppen angesichts zu befürchtender Manipulationen die Auszählung in den Wahllokalen besuchen, die Ergebnisse dokumentieren und anschließend
mit den offiziellen Verlautbarungen vergleichen wollten.
Er lud mich ein, am Abend mit zu einer der Stellen zu
kommen, wo die Ergebnisse zusammengetragen wurden.
Als jemand, der bei aller grundsätzlichen Loyalität
zur DDR Wahlergebnissen von 99 Prozent plus x schon
immer sehr skeptisch gegenüberstand, wurde ich neugierig und wollte mir vor Ort ein eigenes Bild machen. So
war ich am Abend des Wahltages gemeinsam mit meinem Kommilitonen in einer Kirche - wenn ich mich
recht erinnere, in Berlin-Pankow. Dort trafen nach und
nach immer mehr Menschen ein, die an den öffentlichen
Auszählungen in den Wahllokalen teilgenommen hatten.
Sie brachten die dort bekannt gegebenen Ergebnisse mit,
die mit Reißzwecken in der Kirche ausgehängt wurden.
Die jeweilige Wahlbeteiligung schwankte zwischen
85 und 95 Prozent. Die Zahl der Gegenstimmen gegen
die gemeinsamen Listen der Nationalen Front bewegte
sich in den einzelnen Wahllokalen zwischen 7 und
12 Prozent.
Dann kam die Verkündung des vorläufigen amtlichen Endergebnisses durch den Vorsitzenden der Wahlkommission, Egon Krenz. Darin war für die gesamte
DDR von einer Wahlbeteiligung von 98,77 Prozent und
von 142 301 Gegenstimmen die Rede, was lediglich
1,15 Prozent entsprach. Allen in der Kirche war klar,
dass diese Zahlen nicht der Wahrheit entsprechen konnten. An einer Fälschung der tatsächlichen Resultate bestanden auch aus meiner Sicht keinerlei Zweifel mehr.
Ich persönlich habe nie verstanden, warum der SEDFührung eine tatsächliche Wahlbeteiligung von 88 oder
90 Prozent nicht ausgereicht hat und warum man offenbar Angst vor 10 oder 15 Prozent Gegenstimmen hatte,
was nach westlichen Maßstäben für eine Regierung ja
geradezu ein grandioses Ergebnis gewesen wäre.
Meine Damen und Herren, wer sich heute mit den
politischen Umwälzungen der Jahre 1989/90 in der DDR
beschäftigt, der kommt an der Rolle der Kommunalwahlen vom 7. Mai 1989 nicht vorbei. Die von oben angeordneten massiven Manipulationen und Fälschungen bei
dieser Wahl werten viele Historiker als zentralen Auslöser für das Erstarken der Opposition, die zunehmenden
Proteste gegen die Regierenden und damit letztlich auch
für den späteren Untergang der DDR.
Wir als Linke haben uns seit langem mit der DDRVergangenheit und auch der Rolle der SED auseinandergesetzt, und zwar wesentlich intensiver und vor allem
selbstkritischer als die ehemaligen Blockparteien, insbesondere die CDU.
({3})
Man darf doch wohl daran erinnern, dass auf den Listen
der Nationalen Front nicht nur die Namen von SED-Leuten standen, sondern auch die von Mitgliedern der CDU,
der LDPD oder auch der Bauernpartei.
Ich komme aus Sachsen und weiß daher, dass zum
Beispiel auch der jetzige Ministerpräsident und CDULandeschef Stanislaw Tillich 1989 im Ergebnis der gefälschten Wahlen in den Kreistag Kamenz einzog und
dann sogar zum stellvertretenden Vorsitzenden des Rates
des Kreises avancierte. Das werfe ich ihm nicht vor; den
Umgang mit seiner eigenen Biografie aber schon. Es
sollte also zunächst einmal jeder vor der eigenen Haustür
kehren.
({4})
Der Minister hat es gesagt: Entgegen landläufiger
Meinung war Wahlfälschung auch in der DDR strafbar.
In meiner Fraktion gibt es jemanden, der deshalb bereits
unmittelbar nach dem 7. Mai 1989 beim Generalstaatsanwalt Strafanzeige gestellt hat: Das war Gregor Gysi,
damals im Auftrag von Rainer Eppelmann. Vielleicht
sollte man bei aller politischen Auseinandersetzung in
einer solchen Debatte auch das einfach einmal zur
Kenntnis nehmen.
({5})
Die offenkundige Wahlfälschung vom 7. Mai 1989
war für mich persönlich ein einschneidendes Erlebnis.
Auch deshalb habe ich danach neben meinem Studium
noch stärker versucht, mich politisch einzubringen. So
wurde ich schließlich für die damalige SED/PDS zum
zweitjüngsten Mitglied am Zentralen Runden Tisch der
DDR, wo ich vor allem in der Arbeitsgruppe „Bildung,
Erziehung und Jugend“ tätig war.
Noch am 5. März 1990 beschloss der Runde Tisch nahezu einstimmig das Festhalten am zehnjährigen gemeinsamen Lernen. Bei aktuellen Umfragen im Osten
Deutschlands gibt es dafür immer noch Mehrheiten von
über 70 Prozent. Was haben wir stattdessen bekommen?
16 unterschiedliche Schulgesetze mit 16 unterschiedlichen Schulsystemen und an staatlichen Schulen gemeinsames Lernen bis maximal zur sechsten Klasse. Auch
das befördert Zweifel am Funktionieren der Demokratie.
({6})
Überhaupt finde ich in der aktuellen Politik leider
sehr wenig von dem, was von der friedlichen Revolution, die der Minister angesprochen hat, übrig geblieben
ist. Wer redet denn heute noch vom sehr fortschrittlichen
Verfassungsentwurf des Runden Tisches, von dem sich
im geringfügig überarbeiteten Grundgesetz kaum etwas
wiederfindet?
({7})
Warum gibt es auf Bundesebene immer noch keine
Volksentscheide?
Ja, wir haben es nicht einmal geschafft, eine neue Nationalhymne oder wenigstens einen neuen Text zu vereinbaren,
({8})
obwohl es dazu von Bürgerrechtlern sehr vernünftige
Vorschläge gab, wie zum Beispiel die Kinderhymne von
Bert Brecht, die sogar auf die derzeitige Melodie passen
würde.
({9})
Nicht nur in diesem Fall wurde eine Chance vertan, den
Ostdeutschen das Gefühl zu vermitteln, im Zuge der
Einheit sei man auch im Westen zu erkennbaren Veränderungen bereit. Auch das war gewiss kein Beitrag zur
Stärkung der Demokratie.
In gut zwei Wochen finden in mehreren Bundesländern Kommunalwahlen statt; der Minister hat darauf
hingewiesen. Ich selbst kandidiere wieder für den Kreistag Sächsische Schweiz - Osterzgebirge. Aber wäre es
nicht angebracht, über die jüngsten Wahlbeteiligungen
zu reden? Können wir denn damit zufrieden sein, dass
sich nicht nur bei Kommunal-, sondern auch bei Land2672
tagswahlen fast jeder zweite Stimmberechtigte nicht
mehr beteiligt, sondern zu Hause bleibt?
({10})
Welche Schlussfolgerungen ziehen wir in der Politik daraus? Über welche Legitimation verfügt ein Landrat oder
ein Bürgermeister, der im zweiten Wahlgang bei einer
Wahlbeteiligung von 38 Prozent vielleicht 52 Prozent
der abgegebenen Stimmen erhält?
Ich komme zum Schluss.
({11})
Was lehren uns nun die Kommunalwahlen vom Mai
1989? Wer über lange Zeit hinweg am Volk vorbeiregiert, kommt damit auf Dauer nicht durch. Abgehobenheit und Realitätsverlust der Herrschenden führen zu
Politikverdrossenheit und über kurz oder lang auch zu
massiven Protesten der Bürgerinnen und Bürger.
({12})
Nicht zuletzt: Zu einer echten Demokratie gibt es keine
Alternative. Sie zu schützen und weiterzuentwickeln, ist
unser aller gemeinsame Aufgabe.
Herzlichen Dank.
({13})
Das Wort erhält nun die Parlamentarische Staatssekretärin Iris Gleicke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit
unserer heutigen Debatte würdigen wir die mutigen Bürgerinnen und Bürger, die sich am 7. Mai 1989 von den
Staats- und Sicherheitsorganen der DDR nicht haben
einschüchtern lassen. Sie haben die im Wahlgesetz der
DDR verankerte öffentliche Stimmauszählung ernst genommen und für sich reklamiert. Sie haben die Wahlen
als dreiste Fälschung und die DDR als eine lächerliche
Diktatur entlarvt. Dazu gehörte viel Mut.
Eigentlich war es uns allen schon immer klar, dass es
bei der stets fast 100-prozentigen Zustimmung der Bürger zu den Einheitslisten der Nationalen Front nicht mit
rechten Dingen zugehen konnte. Viele - wahrscheinlich
die meisten von uns - hatten Leute im Bekanntenkreis,
die mindestens eine kritische, gar ablehnende Position
zu diesem Staat hatten. Man wusste Bescheid.
Aber die Offenlegung dieser dreisten und unverfrorenen Fälschung führte zu großem Unmut bei weiten Teilen der Bevölkerung und brachte das sprichwörtliche
Fass zum Überlaufen. Die Erkenntnis, dass es trotz eines
breit aufgestellten und gut gerüsteten Sicherheitsapparates möglich war, Bürgerrechte geltend zu machen, hat
wie eine Initialzündung für die kommenden Ereignisse
gewirkt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn ich mich an
jene Tage erinnere, dann kommt mir diese Zeit schon
manchmal sehr fern vor, irgendwie auch düster und
ziemlich skurril. Ich bin damals auch wählen gegangen,
in meiner Heimatstadt Schleusingen im Thüringer Wald.
Außer dem Bürgermeister habe ich alle Kandidatinnen
und Kandidaten durchgestrichen. Als damalige Mitarbeiterin beim Rat der Stadt hatte ich dann am Montag
nach der Wahl ein sehr anstrengendes Gespräch mit meinem Vorgesetzten. Ich durfte bleiben. Ich hatte ja eine
gültige Stimme abgegeben.
Aber das war die Lebenswirklichkeit in dieser Deutschen Demokratischen Republik, in der die allermeisten
Leute ganz einfach versucht haben, anständig über die
Runden zu kommen.
({0})
Wir haben versucht, das richtige Leben im falschen System zu führen. Das lässt sich nur ganz schwer beschreiben und vermitteln. Das weiß ich.
Im Alltag waren auf der einen Seite die Enge, die Erstarrung und die irrsinnigen Widersprüche. Auf der anderen Seite hatten wir unsere Freunde und Familien, sind
auf Partys und in die Disco gegangen, und natürlich
wussten wir: Die Stasi tanzt immer mit.
Als der Eiserne Vorhang in Ungarn durchlässig
wurde, kam eine neue Ausreisebewegung aus der DDR
in Gang. Für mich war es schmerzlich, festzustellen: Die
da gingen, das waren gerade die jungen Familien. Das
waren die Munteren, die sich kümmern wollten und die
etwas anderes wollten. Das waren die Freunde und Bekannten, und sie wurden immer weniger. Es wurde mehr
und mehr deutlich, dass die DDR ein Staat im Untergang
war: ohne wirklichen Rückhalt, angewiesen auf die sowjetische Existenzgarantie und auf eine hermetisch verriegelte Grenze.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, jeder, der
die gefälschten Wahlen in der DDR miterlebt hat oder
nachliest, was damals geschehen ist, der müsste den hohen Wert freier Wahlen für eine lebendige Demokratie
begreifen. Ich bin neulich gefragt worden, ob ich Verständnis dafür habe, dass so viele Menschen heutzutage
nicht wählen wollen oder nicht mehr wählen gehen. Ich
bekenne offen: Ich habe kein Verständnis dafür, dass
Leute es schick finden, nicht wählen zu gehen.
({1})
Ich habe kein Verständnis für renommierte Journalisten, die ein Buch über Die Machtfrage schreiben und es
mit dem Untertitel Ansichten eines Nichtwählers versehen. Dieses Geschwätz könnte zu einem bösen Erwachen führen. Ich jedenfalls will keine Neonazis im Europäischen Parlament haben.
({2})
Ich will sie nicht im Bundestag haben und nicht im
Landtag, und ich will sie in keinem einzigen Rathaus haben. Wer diejenigen wirklich ehren will, die vor 25 JahParl. Staatssekretärin Iris Gleicke
ren mutig darauf bestanden haben, eine echte Wahl zu
haben, der geht wählen und der wählt eine demokratische Partei.
({3})
Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist das Erbe des
7. Mai 1989.
Schönen Dank.
({4})
Steffi Lemke erhält nun das Wort für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Dass ausgerechnet eine gefälschte Kommunalwahl der Funke wurde, der die friedliche Revolution
1989 zwar nicht in Gang gesetzt, aber entzündet hat,
mag aus heutiger Sicht angesichts geringer Kommunalwahlbeteiligungen oder der Mühen, die alle Parteien im
ländlichen Raum haben, Kandidatinnen und Kandidaten
für Kommunalwahllisten zu finden, seltsam anmuten.
Aber ich glaube, es zeigt hauptsächlich, wie groß, wie
gigantisch der Wunsch nach Freiheit und Selbstbestimmung in der damaligen DDR geworden war. Wir haben
damals nicht etwa eine Volkskammerwahl, sondern eine
gefälschte Kommunalwahl zum Anlass genommen, um
endlich aufzubegehren, um nicht nur zu Hause am
Abendbrottisch oder im Freundes- und Bekanntenkreis,
sondern öffentlich, auf der Straße die Stimme gegen das
SED-Regime, gegen Unterdrückung, gegen Bespitzelung, gegen das Eingesperrtsein, gegen Sprech- und
Denkverbote und für Presse- und Versammlungsfreiheit
zu erheben. Das waren die Motive, die uns damals, im
Herbst 1989, ursprünglich auf die Straße gebracht haben.
Ich bin Ihnen sehr dankbar, Herr Minister, dass Sie dies
hier in der Debatte so differenziert dargelegt haben.
Wir haben damals die Stimme erhoben. Wir haben
nicht länger nur geträumt von einer Revolution, von einer Verbesserung eines Systems, das wir für grundfalsch
hielten. Wir sind für die Veränderung eines diktatorischen Systems eingetreten. Sicherlich waren unsere damaligen Träume teilweise bunt und naiv. Niemand hat
das für mich so präzise beschrieben wie
„Wir träumten vom Paradies und wachten auf in Nordrhein-Westfalen.“
({0})
Herr Kollege Kauder, diesen Zuruf hätte ich für verzichtbar gehalten.
({0})
Ich mag Nordrhein-Westfalen - offensichtlich im Gegensatz zu Ihnen; vielleicht müssen Sie das fraktionsintern noch einmal klären -, weil es definitiv lebendiger ist
als das Paradies, weil ich als Atheistin freien Zugang
habe und weil dort viele freundliche Menschen leben.
Ich glaube aber, dass dieser Spruch von Joachim
Gauck sehr zielsicher beschreibt, wie wir ursprünglich in
die friedliche Revolution gestartet sind und wie viele
Enttäuschungen uns auf dem Weg danach widerfahren
sind. Natürlich ist die Wiedervereinigung im Nachhinein
ein Geschenk. Aber sie war nicht das ursprüngliche Ziel
vieler gerade junger Leute,
({0})
die 1989 begonnen haben, mit dem Motto „Wir sind das
Volk“ auf die Straße zu gehen.
Ich habe seitdem oft an unserer Demokratie gezweifelt. Ich bin an unserer Demokratie teilweise verzweifelt.
Vieles haben wir nicht erträumt. Vieles wollten wir auch
nicht, sei es der Treuhanduntersuchungsausschuss oder
20 Prozent Arbeitslosigkeit, sei es der unaufgeklärte Tod
eines Ausländers in einer Polizeizelle in meiner Heimatstadt Dessau - manche erheben sogar den Vorwurf des
Mordes -, den bis heute kein Gericht und keine Polizeiinstitution klären konnte, sei es die Bild-Zeitung, seien
es Schwarzgeldkonten und Ehrenworte oder sei es ein
Bundeskanzler, der Auslandseinsätze mit Vertrauensfragen verbindet.
Das ist sicherlich ein subjektives Potpourri, aber es
sind Ereignisse gewesen, die mich am Rechtsstaat und
an unserer parlamentarischen Demokratie haben zweifeln lassen. Ich glaube, dass keine und keiner sich 1989
und auch nicht 1990 hat träumen lassen, dass wir
25 Jahre nach der friedlichen Revolution in unserem
Lande darüber diskutieren, wie wir die Totalüberwachung unserer elektronischen Kommunikation beenden
können.
({1})
Ich bin fest davon überzeugt, dass die Freiheit auch in
dieser Frage siegen wird. Ich weiß nicht, wann und wie,
aber ich bin fest davon überzeugt, dass sie es tun wird.
Ich will mit einem Gedanken enden, der mir persönlich sehr wichtig ist. Ich bin letzte Woche in der Eifel
und im Hunsrück unterwegs gewesen und habe dort neben Rotäpfelchen das Projekt des Westwalls vorgestellt
bekommen, das ich persönlich als sehr faszinierendes
Projekt empfinde, weil es die ehemaligen Grenzbefestigungen an der Westgrenze - so wie das Grüne Band an
der ehemaligen innerdeutschen Grenze - in unsere historische Erinnerungskultur hineinholen will. Ich glaube,
dass dieses Projekt die Unterstützung des Deutschen
Bundestages verdient, weil es zur Erinnerungskultur gehört und weil das eine ohne das andere nicht zu denken
ist.
Ich glaube, dass es deshalb gerade 25 Jahre nach dem
Mauerfall die Verantwortung des gesamten Parlaments,
von ganz links bis ganz rechts, ist, dafür zu sorgen, dass
in diesem Jahr nicht ein neuer Eiserner Vorhang in Europa entsteht. Ich wünsche der Bundesregierung, Frau
Merkel, Herrn Steinmeier und Frau von der Leyen, alles
Glück und allen Erfolg in dieser Mission. Ich beneide sie
darum tatsächlich nicht.
Danke.
({2})
Nächster Redner ist der Kollege Michael Kretschmer,
dem ich zu seinem heutigen Geburtstag herzlich gratuliere und alles Gute für das neue Lebensjahr wünsche.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vielen
Dank für die freundlichen Wünsche. - Ich habe nur eine
Erinnerung an den 7. Mai 1989, nämlich die, dass ich
Klaus Feldmann abends im Fernsehen gesehen habe und
mit allem gerechnet habe: mit 80 Prozent, mit 85 Prozent, vielleicht auch mit 90 Prozent. Ich als 14-Jähriger
war sprachlos, als dann 99 Prozent verkündet wurden.
Ich glaube, in diesem Moment war auch mir klar: Hier
wird übel betrogen. Das letzte Mäntelchen von Legitimität, das es noch gab und das für die DDR so wichtig war,
ist an diesem Tag weggerissen worden. In der Tat hat an
diesem Tag alles begonnen, was dann im Wendeherbst
endete.
({0})
Ich verstehe die Rede der Kollegin Lemke nicht. Ich
verstehe nicht, wie man das, was 1989 endete, Gott sei
Dank endete - jedes Mal, wenn ich zum Brandenburger
Tor komme, ist es für mich ein unglaublicher Moment,
dort durchgehen zu können; ich erinnere mich, wie wir
davor gestanden und dieses Unverständnis verspürt haben, dass da das eigene Land endet, dass es da nicht weiter geht, dass man eingesperrt ist -, in irgendeinen Zusammenhang mit den Einsätzen in Bosnien und der
schwierigen Entscheidung, die wir verantwortlich getroffen haben, bringen kann.
Ich verstehe nicht, wie man in diesem Moment, in
dem es darum geht, diese Diktatur in einer friedlichen
Revolution zu überwinden, über Internetüberwachung
reden kann, ohne sich Gedanken darüber zu machen,
was eigentlich gewesen wäre, wenn die DDR über diese
Möglichkeiten verfügt hätte. Hätte es dann diese friedliche Revolution überhaupt gegeben, oder wären all diese
Leute, die sich wie auch meine Eltern engagiert haben,
irgendwo im Gefängnis oder im Nirgendwo gelandet?
({1})
Deswegen kann ich nur sagen: Gott sei Dank ist das
alles vorbei. Was für ein Glück für mich, für meine
Schwester, die zwei Jahre jünger ist, und für meinen
Bruder, der sieben Jahre jünger ist! Was für eine gigantische Lebenschance, die wir alle bekommen haben, in
Bezug auf den Zuwachs an Lebenserwartung, die Gesundheit, die Umwelt! Wir stehen heute in der Verantwortung, daraus etwas zu machen. Wir müssen den jungen Leuten in den neuen Bundesländern sagen: Ihr habt
alle Chancen, macht etwas daraus! Wir haben großartige
Chancen in der Wissenschaft, in der Bildung, in der
Wirtschaft.
Wenn ich lese, dass die deutsche Einheit 2 Billionen
Euro gekostet hat, dann muss ich sagen: Ich finde, das ist
gut angelegtes Geld.
({2})
Denn 1989/90 endeten nicht nur ein Land und eine Diktatur; vielmehr ist auch ein neues Deutschland entstanden. Der Satz ist richtig: Ein besseres Deutschland als
das, das wir heute haben, gab es nie. - Das, was die deutsche Einheit gekostet hat, ist gut angelegtes Geld.
({3})
Ich bin froh darüber, dass wir mit unserem Koalitionsvertrag auch einen Beitrag dazu leisten, dass die
DDR nicht in Vergessenheit gerät. Mit DDR meine ich
ein System der Unterdrückung, eine Ideologie des Sozialismus und des Kommunismus. Darum geht es im Kern:
deutlich zu machen, dass diese Ideologie zu Unfreiheit
und zu großen Verbrechen führt. Es geht nicht um die
DDR als irgendetwas, sondern es geht um eine wirklich
schlimme, linke, kommunistische, sozialistische Ideologie. Wir sind dafür dankbar, dass die Robert-HavemannGesellschaft eine wichtige Aufgabe erfüllt. Wir werden
sie in diesem Jahr und in der Zukunft mit zusätzlichen
Mitteln unterstützen.
Wir sind froh darüber, dass Rainer Eppelmann mit der
Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur klarmacht und auch heute noch Erkenntnisse dazu produziert, wie die SED-Diktatur im Kern gewirkt hat. Ich
habe nullkommanull Verständnis dafür, dass man hier
berichtet, dass man am 7. Mai 1989 erlebt hat, wie die
eigenen SED-Leute die Wahlergebnisse gefälscht haben,
und dass man nonchalant dazu übergeht, zu erzählen:
Dann saß ich am Runden Tisch und habe da mitdiskutiert.
({4})
Eine richtig gute Aussage wäre doch gewesen, Herr Kollege Hahn: Deswegen bin ich am 7. Mai 1989 aus der
SED ausgetreten.
({5})
Das Ganze ist auch eine Frage des Umgangs mit der
Geschichte. Natürlich gab es in der DDR eine CDU.
Aber was hat diese Partei nach der Wiedervereinigung
an Aufarbeitung, an einer Bewertung von Geschichte geleistet?
({6})
Das alles sind Dinge, die Sie als direkte Nachfolgepartei
der SED,
({7})
als Partei, die sich bewusst die Stasi als Machtinstrument
gehalten hat, nie geleistet haben. Von Ihnen gab es keine
Entschuldigung für die Opfer,
({8})
kein Anerkenntnis für das Unrecht in der DDR,
({9})
übrigens auch heute nicht in Ihrer Rede.
({10})
Insofern besteht hier ein großer Unterschied im Umgang
mit der Geschichte.
Herr Kollege Kretschmer, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Wawzyniak?
Bitte.
Herr Kollege Kretschmer, würden auch Sie, wie ein
Großteil des Hauses, zur Kenntnis nehmen - Wiederholung 587 -, dass sich die SED bereits auf dem Sonderparteitag der SED-PDS entschuldigt hat, dass auf diesem
Parteitag ein Referat gehalten worden ist, in dem wir mit
dem Stalinismus als System unwiderruflich gebrochen
haben, dass wir in unserer Partei beispielsweise Beschlüsse haben, die besagen, dass man, bevor man kandidiert, seine Biografie offenlegen muss? Würden Sie
zur Kenntnis nehmen, dass es einen Vergleich mit der
Treuhandanstalt gegeben hat, nach dem wir finanziell
bei null angefangen haben?
({0})
- Ich weiß, dass Sie das nicht hören wollen. Sie haben
das Geld der CDU Ost eingesackt.
({1})
Deswegen wollen Sie nicht hören, wie es bei uns war.
({2})
Würden Sie also zur Kenntnis nehmen, dass wir einen
25-jährigen Prozess der permanenten Aufarbeitung der
eigenen Geschichte hinter uns haben
({3})
und mit dem Stalinismus als System unwiderruflich gebrochen haben?
({4})
Ich nehme zur Kenntnis, dass es keine andere Partei
im Deutschen Bundestag oder in einem Länderparlament
gibt, in dem Stasimitarbeiter Parlamentsabgeordnete sein
können.
({0})
Das ist etwas, was ich zur Kenntnis nehme und was ich
in vielen Länderparlamenten gesehen habe.
Meine Damen und Herren, wie wichtig es ist, die eigene Geschichte aufzuarbeiten und ein klares Verhältnis
dazu zu haben, sehen wir meines Erachtens gerade in
Russland und in der Ukraine. Es ist total wichtig, Klarheit zu haben und dem entgegenzutreten, dass der russische Präsident sagt: Der Untergang der Sowjetunion ist
die größte Katastrophe des 21. Jahrhunderts. - Nein, so
ist es nicht. Für uns ist es wichtig, dass die Geschichte
vernünftig aufgearbeitet wird und auch lebendig bleibt.
Deswegen werden wir in den nächsten Wochen eine
Kommission einberufen, die für die zukünftige Arbeit
der Stasi-Unterlagen-Behörde Empfehlungen ausspricht.
Uns ist wichtig, dass es diese Institution weiter gibt. Wir
sind froh darüber, dass wir im Koalitionsvertrag gemeinsam vereinbaren konnten, dass die ehemalige Stasizentrale in Berlin-Lichtenberg zu einem Ort der Aufklärung
über Diktatur und Widerstand wird.
Meine Damen und Herren, noch einmal: Am 7. Mai
1989 begann etwas Großartiges, eine große Geschichte
für unser Land. Es ist ein großer Tag, und es ist gut, dass
wir ihn heute so miteinander begehen.
({1})
Vielen Dank. - Ich erteile jetzt das Wort der Kollegin
Steffi Lemke zu einer Kurzintervention.
Kollege Kretschmer, damit, dass Sie meine Rede
nicht verstehen, kann ich leben.
({0})
Ich will Sie nicht noch tiefer reinreiten; ich möchte nur
fürs Protokoll festhalten, dass ich keinen Zusammenhang zwischen Bosnien und der friedlichen Revolution
oder den Wahlen am 7. Mai 1989 hergestellt habe.
({1})
Vielleicht wollen Sie das einmal in Ruhe nachlesen.
Herr Kollege Kretschmer, möchten Sie darauf noch
antworten? - Bitte schön.
Frau Kollegin, Sie haben mit Bezug auf Gerhard
Schröder diesen Hinweis gebracht. Ich habe da nichts
zurückzunehmen.
Noch einmal: Ich finde, was wir 1989 überwunden
haben
({0})
- ja, was wir miteinander überwunden haben -, war etwas so Schlimmes und es hätte so furchtbar geendet,
dass man es mit nichts in Verbindung bringen kann oder
mit nichts abwägen kann, was in einer Demokratie an
schwierigen Entscheidungen, auch unangenehmen Entscheidungen zu treffen ist, an schwierigen Prozessen zu
bewältigen ist. Gott sei Dank können wir hier im Haus
miteinander diskutieren, können schwierige Entscheidungen treffen, ohne Angst haben zu müssen, was uns
passiert, wenn wir nach Hause gehen.
({1})
Das, finde ich, sollte man nicht durcheinanderbringen.
({2})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin in der Debatte ist
die Kollegin Monika Lazar, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bis zur letzten Rede war das eine sehr angemessene Debatte. Aber ich fand die Rede vom Vorredner der CDU
unpassend. Sich das vorzuwerfen, muss, finde ich, heute
nicht sein.
({0})
Man kann sagen: Weder die Ost-CDU noch die damalige SED sind die Erben der Bürgerinnen-und-BürgerBewegung. Die Erben waren, wenn überhaupt, Bündnis 90 und die Grünen sowie die Ost-SDP.
({1})
- Ihr wurdet einfach nur übernommen - genauso wie die
Bauernpartei.
({2})
Das gehört zur Wahrheit dazu und auch die Rolle von
Herrn Tillich bis 1989.
({3})
Ich wollte es eigentlich nicht erwähnen, aber nun sage
ich es doch.
({4})
Ich bin in Leipzig geboren, habe Ende der 80er-Jahre
in Leipzig studiert, und die Wahl vor 25 Jahren war
meine erste Wahl. Ich war stolz, nicht zum Zettelfalten
zu gehen, sondern den Mut zu haben, richtig wählen zu
gehen.
Auch in Leipzig und Umgebung wurde die Wahl beobachtet. Es wurde aufgerufen, mit Nein zu stimmen.
Auch in der DDR gab es Wahlkabinen. Die hat nur niemand benutzt, weil klar war: Wer dort hineingeht, macht
wahrscheinlich irgendetwas, was nicht korrekt ist.
Damals, vor 25 Jahren, haben wir die Wahlkabinen
benutzt. Um mit Nein zu stimmen, musste man jeden
einzelnen Vorschlag mit dem „Wahlbesteck“, mit Lineal
und Kuli, einzeln durchstreichen; das dauerte eine Weile.
Wenn man herauskam, hatte man garantiert einen Vermerk an seinem Namen und danach sozusagen in der
Akte. Aber da man nicht allein war, sondern es durchaus
mehrere gab, hatte auch ich den Mut und war danach
ganz stolz. Das war aber nur der erste Teil.
Um 18 Uhr waren wir wieder im Wahllokal, um bei
der Auszählung dabei zu sein; wir wollten das beobachten. Auch das war in der DDR völlig legal. Alle Auszählungen waren öffentlich. Da ist nur niemand hingegangen, weil klar war: Es wählen sowieso 99 Prozent die
Kandidaten der Nationalen Front.
In dem Wahlbüro, wo ich war, hat man zum Beispiel
versucht, die Neinstimmen als ungültig zu werten. Dagegen haben wir protestiert. Dann hat man versucht, das irgendwie anders hinzubekommen.
An dem Abend gab es eine Demonstration in Leipzig;
das ist vorhin schon angesprochen worden. Es gab auch
einen Beschluss der Synode der evangelischen Landeskirche in Sachsen mit dem Aufruf, entweder nicht zur
Wahl zu gehen oder die Wahlkabine zu benutzen.
Als am nächsten Tag das offizielle Ergebnis verkündet wurde, konnten alle diejenigen, die dabei gewesen
waren, nur lachen, weil sie wussten: Ungefähr 10 Prozent waren Gegenstimmen.
Zu dem Tag, denke ich, kann man sagen: Diese Kommunalwahl war ein Puzzleteil im Vorfeld der friedlichen
Revolution; denn die Menschen haben sich immer weniger bieten lassen und sind immer mutiger geworden.
Ich hätte, ehrlich gesagt, nicht gedacht, dass die Friedensgebete in der Leipziger Nikolaikirche innerhalb von
wenigen Monaten zu Montagsdemos in Leipzig führen
würden, dass es schon im März 1990 die ersten freien
und ungefälschten Wahlen geben würde und dass ich im
Jahr 1990 in Wahllokalen die Wahlen leiten würde. Zehn
Monate davor habe ich noch beobachtet.
Ich war in den entscheidenden Jahren bzw. in der entscheidenden Zeit in Leipzig dabei und kann immer noch
sagen: Das waren für mich die spannendsten Jahre meines Lebens. Man wusste, als man im September 1989
auf die Straße ging, nicht, was passieren würde. Es war
gefährlich. Dann bekam die Entwicklung eine sehr große
Eigendynamik. Ich denke aber: Diese Wahlen vor
25 Jahren haben das Ende der DDR mit eingeleitet. Das
miterlebt zu haben, stärkt einen noch bis heute - manchMonika Lazar
mal auch bei den politischen Streitereien im Bundestag
oder auf anderen Ebenen. Denn wer kann schon sagen:
„Ich war bei einer Revolution - und dann noch bei einer
friedlichen - dabei“?
Danke schön.
({5})
Vielen Dank. - Für die SPD-Fraktion hat jetzt das
Wort Wolfgang Tiefensee.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im
Zusammenhang mit dem 7. Mai 1989 würde ich gerne
über Zivilcourage sprechen. Es gibt ein einfacheres Wort
mit drei Buchstaben dafür: Mut. Der 7. Mai 1989 ist ein
wichtiger Markstein des Countdowns, der am Ende zum
Sturz des DDR-Regimes geführt hat. Ich wünschte, hier
im Haus - von der einen Seite bis zur anderen Seite würden alle glasklar sagen: Die DDR war ein Unrechtsstaat, eine Diktatur. Punkt! Das sieht man an der Wahlfälschung.
({0})
Diese klare Botschaft muss man zum Ausdruck bringen.
Wem verdanken wir nun den 9. November, der letztlich mit dem am 7. Mai beginnenden Countdown seinen
Anfang nahm? Wir verdanken ihn mutigen Menschen.
Da stehen die ganz Großen - Friedensnobelpreisträger
Willy Brandt und Gorbatschow - im Rampenlicht. Da
stehen ein Vaclav Havel und ein Lech Walesa im Rampenlicht. Im Kern aber waren es mutige Menschen, die
ihre Angst überwunden haben; denn der Nährboden für
Diktatur ist, dass es einem Regime gelingt, Angst zu verbreiten.
Sehr verehrter Kollege de Maizière, ich darf Sie bitten, wenn es um den 9. November geht, nicht der Versuchung zu erliegen, vielleicht doch am Ende zu sagen: Es
ist Helmut Kohl gewesen, der die Mauer eingerissen hat.
({1})
Nein, mit Blick auf den 9. November - die Feierlichkeiten stehen an - wäre es gut, wenn die Bürgerinnen und
Bürger, das Volk, im Mittelpunkt stehen würden.
({2})
Es gibt in Deutschland mehrere Tendenzen, die uns
nicht unberührt lassen dürfen. Ich möchte drei ansprechen, um konkret zu sagen, was wir jetzt tun müssen:
Erstens geht es um Politikerverachtung, Politikverdrossenheit sowie um die Differenz zwischen politischem Handeln und der Bequemlichkeit des Bürgers.
Wir müssen etwas tun, damit Menschen von Kindheit an
sozusagen Muskeln dafür bekommen, sich zu artikulieren, einen eigenen Standpunkt zu erlangen, sich in die eigenen Angelegenheiten einzumischen und von der eigenen Unmündigkeit wegzukommen. Das fällt nicht vom
Himmel. Wir müssen darüber diskutieren, wie wir mit
Volksbefragungen, Volksbegehren und Volksentscheidungen die Bürger noch dichter an die politischen Entscheidungen heranbringen.
Ich fordere Sie auf, es meiner Heimatstadt und vielen
anderen Städten gleichzutun und Jugendparlamente einzurichten, damit man lernt, wie das geht. Die Piraten haben eine nicht uninteressante Diskussion angefacht: Wie
ist es mit Liquid Democracy? Müssen wir nicht irgendwann einmal auch neue, moderne Instrumente des
21. Jahrhunderts nutzen?
Zweitens. Der Mainstream - so sagt Heitmeyer - bis
weit in die Bevölkerung hinein ist Ausländerfeindlichkeit bzw. Ausländerverachtung. Es geht darum, diesen
Mainstream, der immer weiter in die Gesellschaft hineinreicht, zu brechen. Wir müssen Initiativen stärken,
die das tun.
({3})
Ich bin Manuela Schwesig sehr dankbar, dass sie am vergangenen Mittwoch solche Initiativen eingeladen hat.
Dabei hat sie auch gesagt, dass sie die Förderung auf den
Prüfstand stellen will. Wir brauchen unter Umständen
mehr institutionelle und langfristigere Förderung.
({4})
Ich stelle Ihnen das Projekt WorldCitizen in Berlin
vor. Hier hat sich Salahdin Said - er ist in RheinlandPfalz geboren - die Frage gestellt: Warum werde ich angesichts meines Aussehens immer nur danach gefragt,
woher ich komme, und nicht, welche Talente und welchen Charakter ich habe? - Wir brauchen Gesprächsformen. Das müssen wir unterstützen. Ich rege an, dass wir
uns mit aller Kraft bis hinein in unsere Haushaltsgesetzgebung dafür einsetzen, dass diese Initiativen gestärkt
werden.
({5})
Und das Dritte: Ein Problem ist, dass die rechtsextremen und rechtsradikalen Gedankengüter immer weiter in
die Mitte der Gesellschaft rücken. In Pirna beispielsweise - das ist ein Ort nahe Dresden; Dresden war im
Herbst 1989 nicht unwichtig, genauso wie Plauen und
Leipzig - hat sich eine Initiative um Sebastian Reißig
gegründet, die sich Aktion Zivilcourage nennt. Meine
Damen und Herren, es ist auf dem flachen Lande nicht
so einfach, gegen rechts aufzutreten, wie zum Beispiel in
einer großen Stadt auf einer Demonstration. Auch solche
Initiativen zu stärken und dafür zu sorgen, dass sie genug Substanz behalten, dass aus diesem bürgerschaftlichen Engagement Mut erwächst, muss unsere Aufgabe
sein. Darauf müssen wir den Fokus richten.
Meine Botschaft ist: Mein Wohl ist nicht Gemeinwohl. Auf die eigenen Fußspitzen zu schauen und nur
den eigenen Bereich zu sehen, macht verzagt. Was wir
brauchen, ist ein Ausbrechen aus der eigenen Unmündigkeit, ein In-die-Hand-Nehmen des eigenen Schicksals, eine Kultur des selbstständigen Denkens und auch
des Widerstehen-Könnens. Dafür müssen wir alle Möglichkeiten nutzen, die uns als Politikerinnen und Politiker gegeben sind, damit nie wieder, nicht einmal im Ansatz, so etwas passiert, was wir heute als Diktatur und
Unrechtsstaat bezeichnen müssen.
Vielen Dank.
({6})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Dr. Christoph
Bergner, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Kollege Hahn, ich habe Ihrer Rede sehr aufmerksam zugehört, auch weil Sie der Einzige aus den Reihen der
Linken sind, der zu dieser Debatte spricht. Ich will schon
sagen, dass Ihre Aussagen ein wenig glaubwürdiger gewesen wären, wenn Sie bei der Aufzählung der damals
handelnden Personen nicht nur die Rollen von Stanislaw
Tillich und von Gregor Gysi beleuchtet hätten, sondern auch gesagt hätten - das haben Sie leider verschwiegen -, dass der Ehrenvorsitzende der PDS, Hans
Modrow, wegen Anstiftung zur Wahlfälschung rechtskräftig verurteilt wurde. Auch das zu sagen, hätte zu einem vollständigen Bild gehört.
({0})
Die Debatte zeigt, dass das Datum, an das wir heute
erinnern, untrennbar in den Kontext der Erinnerung an
die friedliche Revolution vor 25 Jahren gehört. Das, was
sich heute vor 25 Jahren ereignete, war ein Meilenstein,
wahrscheinlich sogar ein Wendepunkt in der Geschichte
der friedlichen Revolution.
Es ist richtig, Kollege Tiefensee, hier die Zivilcourage
zu würdigen. Ich finde, die Debatte ist ein guter Anlass,
diejenigen zu würdigen, die damals den Mut und die
Selbstlosigkeit hatten, die Wahlergebnisse systematisch
auf der Grundlage des bestehenden Wahlgesetzes zu
überprüfen. Wir sollten vielleicht ein wenig vorsichtig
sein, an dieser Stelle schon von „Volk“ zu sprechen.
Denn nach meiner Erinnerung waren es nicht so sehr
viele, die dies taten und die dann zum Beispiel bei mir zu
Hause in Halle nach Feststellung offenkundiger Ungereimtheiten in einem offenen Brief an die gewählten
Kommunalvertreter darauf aufmerksam machten, dass
sie bei der Wahrnehmung ihres Mandates doch bedenken
sollten, dass sie im Zuge eines offenkundig gefälschten
Wahlergebnisses ins Amt gekommen sind. Oder ich
denke an diejenigen, die in Leipzig spontan reagierten
und am Abend der Wahlfälschung demonstriert haben.
({1})
Meine Damen und Herren, es hat bis zum heutigen
Tage nicht an Versuchen gefehlt, diese Wahlfälschungen
zu bagatellisieren. Die Versuche erstreckten sich auch
auf die Prozesse gegen die Wahlfälscher. Weil wir alle
die Person kennen, erlaube ich mir, Otto Schily zu zitieren, der Strafverteidiger der Wahlfälscher in Dessau war.
Er hat eine interessante Argumentation - wohlgemerkt,
in seiner Verteidigerrolle; ob es seine Überzeugung war,
sei dahingestellt - aufgebracht:
Die Scheinwahlen in der DDR waren das Gegenbild demokratischer Wahlen, das rechtsstaatliche
System der Bundesrepublik kompromittiert sich
durch ihren nachträglichen Schutz.
Will sagen: Weil die Wahlen in der DDR keine wirklichen Wahlen waren, gab es auch keine strafrechtlich zu
verfolgenden Wahlfälscher.
({2})
Es hat erst der Rechtsprechung des BGH bedurft, um
klarzustellen, dass das Strafrecht der DDR, das ja eine
Verfolgung von Wahlfälschungen beinhaltete, auch in
diesem Fall der Wahlfälschungen zu Recht anzuwenden
ist.
Ich kann die Argumentation von Otto Schily in einem
Punkt durchaus verstehen. Diese Wahlen waren absurdes
Theater: Eine Einheitsliste wurde unter Aufsicht erstellt.
Es gab keinerlei Möglichkeiten zu Alternativentscheidungen. Es ist surreal, einen solchen Vorgang Wahlen zu
nennen.
Auch wenn man zu dem Schluss kommt, dass es sich
letztendlich um einen Akklamationsritus einer selbstgefälligen Staatsmacht gehandelt hat - das lässt sich durch
viele Zitate belegen -, so sollten wir doch bedenken, wie
bedeutsam es war, dass nicht alle bei diesem Ritus mitgemacht haben.
Ich selbst habe relativ lange gebraucht - nicht bis
1989, aber bis weit in die 80er-Jahre hinein -, bis ich die
Notwendigkeit erkannte und den Mut fand, in die Wahlkabine zu gehen und den vorliegenden Zettel so zu behandeln, dass ich hoffen konnte, dass er als Gegenstimme gewertet wurde. Das war in der DDR gar nicht
so einfach. Man musste sich belehren lassen, dass jeder
Name einzeln durchzustreichen war. Alles andere wurde
nicht als Gegenstimme gewertet.
Mit diesem Schritt habe ich mich eingereiht in die
Zahl von Leuten, die wohl erkannt haben, dass diese
Wahlen kein Instrument der Volkssouveränität waren
und dass es überhaupt keine Entscheidungsalternativen
gab, über die man reden konnte. Die Gegenstimme hatte
aber deshalb eine Bedeutung, weil die Wahlen eine
Loyalitätsabforderung des totalitären Staates war. Sie
waren sozusagen ein Instrument zur organisierten Unterwerfung eines Volkes geworden.
Herr Hahn, weil es das Neue Deutschland heute noch
gibt, habe ich die Ausgabe des Neuen Deutschlands vom
8. Mai 1989 mitgebracht.
({3})
Dort stand unter der Überschrift „Eindrucksvolles Bekenntnis zu unserer Politik des Friedens und des Sozialismus“, dass 98,85 Prozent für die Kandidaten der
Nationalen Front gestimmt hätten. Das ist das Unterwerfungsdokument, um das es ging.
Herr Kollege Bergner, denken Sie an die Redezeit.
Ja. - Um zu verschleiern, dass es Menschen gab, die
sich nicht unterwerfen ließen, und um zu verhindern,
dass die Zahl dieser Menschen transparent wurde - sie
hätten ja Vorbild werden können; letztendlich sind sie
1989 Vorbild geworden -, hat man Wahlen gefälscht.
Deshalb war der Kampf gegen die Wahlfälschung so bedeutsam, und nicht deshalb, weil die Entscheidung, um
die es ging, so bedeutsam war. Das Bekenntnis derjenigen, die sich der Unterwerfung durch den Staat verweigert haben, wurde daher wegen seiner gefürchteten Beispielwirkung über Jahrzehnte verschwiegen.
Das ist ein wunderbarer Schlusssatz.
Ich möchte noch ein letztes Mal, Frau Präsidentin, auf
Herrn Hahn eingehen. Sie haben die Frage gestellt: Warum war die SED mit 88 und 89 Prozent nicht zufrieden?
Sie war deshalb nicht zufrieden, weil es bedeutet hätte,
dass es 11 bis 12 Prozent gab, die das Ritual nicht mitmachten. Beim nächsten Mal wären es 20, 30 oder
40 Prozent gewesen. Das ist 1989 endlich so geschehen.
Herzlichen Dank.
({0})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist die Kollegin
Hiltrud Lotze, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! In meinem Wahlkreis Lüchow-Dannenberg und Lüneburg liegt die Gemeinde Amt Neuhaus, direkt am östlichen Ufer der Elbe, die bis 1989
Niedersachsen und Mecklenburg und damit auch die
Bundesrepublik und die DDR voneinander trennte.
Solange sich die Menschen dort erinnern konnten, gehörte die Gemeinde Amt Neuhaus zur Provinz Hannover. 1945 haben die Briten die Gemeinde an die Sowjetische Besatzungszone übergeben, weil es zu schwierig
war, die Gemeinde über die Elbe hinweg mit Lebensmitteln und all dem, was nötig war, zu versorgen und zu unterstützen. 1952 kam dann die Sperrzone, und es wurde
ein übermannshoher Zaun errichtet. Von da an konnten
die Menschen in dieser Gemeinde nicht mehr auf ihre
Elbe schauen. Es kam die Aktion Ungeziefer mit den
Zwangsaussiedlungen; das alles ist Ihnen bekannt. 1993
kam die Gemeinde durch einen Staatsvertrag zurück
nach Niedersachsen.
Es war, wie es eine Zeitzeugin beschreibt, eine Welt,
wie mit Brettern zugenagelt, bis am 9. November 1989
die Mauer fiel, in den Wochen danach die Zäune abgebaut wurden und der Blick auf die Elbe wieder frei war.
Für die Menschen in Amt Neuhaus und auch an anderen
Stellen der Elbe war dieser Blick auf die Elbe der Inbegriff der Freiheit.
Ich erinnere mich noch sehr genau an mein eigenes
Gefühl und an das, was ich am 9. November und an den
Tagen danach erlebt habe. Die Menschen haben das Gefühl der Freiheit quasi aufgesogen. Wir alle haben eine
unbändige, tiefe und ehrliche Freude empfunden über
das Ergebnis der friedlichen Revolution, die unser Land
und damit ganz Europa nachhaltig verändert hat. Bis dahin war es ein langer Weg; das ist schon angedeutet worden. Der Weg begann - das möchte ich an dieser Stelle
deutlich sagen - mit Willy Brandt und der neuen Ostpolitik.
Ein weiterer wichtiger Markstein war der 7. Mai
1989, an den wir heute erinnern. Es war der Beginn der
friedlichen Revolution und der Stein, der alles ins Rollen
brachte. Das DDR-Regime wurde an diesem Tag endgültig des Wahlbetrugs entlarvt und verlor bei den Menschen jede noch verbliebene Glaubwürdigkeit. Mutige
Menschen - das ist schon mehrfach gesagt worden wollten sich nicht länger für dumm verkaufen lassen. Sie
sind in die Wahllokale gegangen und haben die Auszählung der Stimmen beaufsichtigt. So konnten sie am Ende
des Tages beweisen, was vorher schon viele vermutet
haben: dass die fast 99 Prozent Zustimmung für die Einheitsliste eine Lüge waren. Der lautstarke Protest, der
sich an diesem Wahlbetrug entzündete, war der erste
Schritt zur Selbstbefreiung. Diese Selbstbefreiung hatte
noch 1989 für viele einen hohen Preis, indem sie verfolgt und bespitzelt wurden und zum Teil noch in Haft
kamen. Die Menschen haben aber diesen hohen Preis um
der Freiheit willen gerne in Kauf genommen. Es war der
Wille zur Freiheit, der sich an diesem Tag manifestiert
hat und die deutsche Einheit am Ende ermöglicht hat.
Auch ich sage es an dieser Stelle wirklich gerne, liebe
Kolleginnen und Kollegen: Der heutige Tag ist ein Anlass, diesen Menschen für ihr Engagement und ihren
Mut Dank zu sagen. Herzlichen Dank!
({0})
Dass wir heute an diesen Tag erinnern und die Geschehnisse würdigen, ist richtig und wichtig. Wir können
aber nicht in dieser Rückschau verharren. Auch ich
möchte deswegen den Blick in die Gegenwart lenken.
Dass wir in einer Demokratie leben und an freien Wahlen teilhaben können, ist nicht selbstverständlich. Wir
haben hier gehört: Auch in der Zeit der Nazidiktatur haben die Menschen erlebt, was es bedeutet, nicht frei
wählen zu können. Die Demokratie und die Freiheit, die
wir heute haben, sind hart erkämpft, und sie haben vor
25 Jahren buchstäblich die Mauern eingerissen.
Heute ist unsere Freiheit so groß wie nie zuvor. Aber
wie steht es um den Willen der Menschen, unsere Demokratie zu verteidigen und sie lebendig zu halten? Unsere
Demokratie ist für viele eine banale Selbstverständlichkeit geworden, um die sie sich nicht mehr bemühen. Wir
sind mit sinkender Wahlbeteiligung, mit einem Rückzug
der Menschen ins Private und mit Gleichgültigkeit konfrontiert. Die Menschen nehmen sich eben auch die Freiheit - das ist die Kehrseite der Medaille -, sich nicht an
der Mitgestaltung unserer Gesellschaft und an Wahlen
zu beteiligen. Damit können wir uns aber nicht zufriedengeben. Wenn nur 50 Prozent der Menschen zu einer
Kommunalwahl gehen, dann ist das für uns ein Hinweis
- darauf hat mein Kollege Wolfgang Tiefensee eben
schon ausführlich und gut hingewiesen -, dass wir diesen Mut zur Demokratie, den wir vor 25 Jahren hatten,
wieder wecken müssen.
Wo ist sie denn hin, die Begeisterung für die Freiheit,
die Begeisterung, Verantwortung zu übernehmen, die
Begeisterung für die Demokratie, und wie wecken wir
sie vor allen Dingen wieder? Das ist die entscheidende
Frage, die wir uns im Zusammenhang mit dem Erinnern
und Gedenken an die friedliche Revolution stellen müssen. Ich freue mich auf diese Debatte und halte sie für
sehr wichtig. Ich möchte aber trotzdem damit schließen,
dass ich kein besseres System als unsere Demokratie
sehe.
Vielen Dank.
({1})
Vielen Dank. - Das Wort hat jetzt der Kollege Arnold
Vaatz, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ganz besonders möchte ich mich heute an die
vielen jungen Leute wenden, die unsere Debatte hier
verfolgen. Ihr werdet euch fragen: Was hat denn das eigentlich für einen Sinn, dass wir hier über Wahlen reden,
die 25 Jahre her sind und über die der Kollege Bergner
ganz zu Recht sagt: „Das waren überhaupt keine Wahlen, das waren reine Unterwerfungsrituale“? Wozu reden
wir also darüber? Diese Frage möchte ich beantworten.
Man kann die Debatte heute nicht verstehen, ohne zu
wissen, was es heißt, dass eine ganze Generation - und
auch noch eine halbe Generation danach - einen permanenten Freiheitsentzug erlitten hat. Das ist ein Problem:
Man kann die Wirkungen eines solchen Freiheitsentzugs
im Allgemeinen niemandem erklären, der ihn nicht selber erlebt hat. - Das ist das Erste.
Das Zweite ist: Diejenigen, die diesen Freiheitsentzug
verursacht haben, setzen im Allgemeinen genau darauf,
dass er nicht vermittelbar ist, und knüpfen daran die
Strategie, die Zeit damals unzulässigerweise mit der Zeit
heute zu verknüpfen. Auf diese Weise werden Dinge, die
uns, die wir dies erlebt haben, klar sind, den jungen Leuten plötzlich wieder unklar.
Der Wert dieser Debatte, meine Damen und Herren,
liegt darin, diese Dinge zu vermitteln. Sie erkennen vielleicht, mit welch einer Leidenschaft heute über einen
Umstand gesprochen wird, der uns einmal wahnsinnig
umgetrieben hat.
Was muss man dabei wissen? Man muss wissen, dass
wir eine Geschichte erlebt haben - jedenfalls alle, die
schon etwas älter waren -, die überaus deprimierend
war. Wir haben am Rand des sowjetischen Imperiums
gelebt. Die gesamte bisherige Geschichte war so verlaufen, dass es am Rand dieses Imperiums Ausbruchsversuche gegeben hat und diese aus dem Zentrum dieses Imperiums regelmäßig mit Gewalt niedergeschlagen
worden sind, oftmals mit Hunderten und Tausenden von
Toten wie beispielsweise in Ungarn 1956. Weil wir
wussten, dass Aufbegehren bisher immer lebensgefährlich war, hat es so lange gedauert, bis es schließlich im
Jahr 1989 so weit war. Ich will in diesem Zusammenhang mit der Legende aufräumen, dass die Entwicklung
ausschließlich unserem Mut oder der Verleugnung der
Gefahr geschuldet gewesen wäre; ganz im Gegenteil.
Ich will darauf hinweisen, dass die Jahre von 1985 bis
1989 für Ostdeutschland zwar ökonomisch verheerende
Jahre waren, weil wir gesehen haben, wie die gesamte
technologische Entwicklung in der Welt wie eine Lokomotive in der Ferne verschwindet, während wir als abgehängter Waggon zurückbleiben.
({0})
Aber politisch waren es - meine Damen und Herren,
jetzt werden Sie staunen - optimistische Jahre. Warum?
Weil in diesem russischen Imperium zum ersten Mal Peripherie und Zentrum die Rollen gewechselt hatten. Auf
einmal war es so, dass in Moskau selber eine Dynamik
der Reform entstanden ist, verbunden mit dem Namen
Michail Gorbatschow. Dies hat uns die Hoffnung gegeben, dass jetzt der Moment gekommen sein könnte, dass
unser Aufbegehren nicht mehr damit endet, dass es in
Blut erstickt wird.
Das ist der Grund, weshalb man in Ostdeutschland
mutiger geworden ist, weshalb - da muss ich sogar noch
ein bisschen positiver über die DDR reden, als das gerade Herr Hahn getan hat - damals in Dresden sogar eine
Art Wahlkampfatmosphäre aufgekommen ist. Die Kandidaten der Nationalen Front - wie wir gerade gehört haben - wurden auf öffentlichen Veranstaltungen mit Fragen konfrontiert, auf die sie bislang keine Schulung
vorbereitet hatte.
({1})
Das hatte die Konsequenz, dass die sonst üblichen Antworten, die da lauteten: „Auf Provokationen antworten
wir hier gar nicht“, sofort zu Tumulten führten.
({2})
In der Evangelischen Akademie in Meißen hatte der
damalige Präses der Landessynode, Herr Domsch, gesagt, er hätte sich beim Rat des Kreises erkundigt: Es sei
diesmal möglich, die Wahlen zu kontrollieren und bei
der Auszählung zugegen zu sein. Wir wussten natürlich
- alte sozialistische Regel -: Es kommt nicht darauf an,
wer wählt, es kommt darauf an, wer zählt, nicht wahr?
({3})
Aus diesem Grund haben wir uns in Dresden aufgemacht
und mit vielen Gruppen - Herr Hahn hat das eben aus
Berlin berichtet - die Wahl überwacht. Wir haben festgestellt: Das Ergebnis beträgt ungefähr 80 bis 85 Prozent. Wir haben dann auf die Verkündung der Ergebnisse gewartet. Der sich daraus ergebende Befund ist schon
mehrfach erläutert worden.
Was kam dann? Sie wissen es: Das war eine kalte Dusche für den politischen Optimismus. Die Menschen haben sich überlegt: „Jetzt oder nie!“ und sind in Scharen
nach Ungarn abgewandert. Es kam zu einer Ausreisewelle und schließlich zu dem, was wir die sogenannte
Wende
({4})
oder die Vorgeschichte der deutschen Einheit nennen.
Nun ist es richtig, Herr Tiefensee: Helmut Kohl hat
die Mauer nicht zu Fall gebracht. Aber als sie dann weg
war, hat er ganz wesentlich die Voraussetzungen für die
Wiedervereinigung geschaffen.
({5})
- Nein, nein, das müssen Sie sich schon anhören.
({6})
- Lassen Sie mich mal ausreden! Frau Präsidentin, der
Herr unterbricht mich die ganze Zeit, das ist unglaublich.
Solange das nicht zu lange wird, Herr Kollege.
Ja, ja. - Er hat die Voraussetzung dafür geschaffen ganz anders, als das der damalige SPD-Mann Lafontaine
vorgeschlagen hat -, dass es tatsächlich einen Weg zur
Wiedervereinigung Deutschlands in Frieden und Freiheit
und zur Wiedervereinigung Europas gegeben hat.
({0})
Er hat die Selbstbestimmung der Länder im Verhältnis
zwischen Deutschland und Russland zum Thema seiner
Politik gemacht. Ohne das hätte es keine europäische Erweiterung gegeben. Das ist die wirkliche Großtat, für die
wir den Grundstein gelegt haben.
Ich danke Ihnen, Frau Präsidentin, dass Sie mir ein
paar Sekunden Redezeit mehr gegeben haben.
Vielen Dank.
({1})
Vielen Dank. - Ich konnte jetzt so großzügig sein,
weil Sie der letzte Redner heute waren.
Ich schließe die Aussprache.
Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung
angekommen.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 8. Mai 2014,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.