Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor wir in unsere
Tagesordnung eintreten, bitte ich Sie, sich von den Plätzen zu erheben.
Der Deutsche Bundestag trauert um sein ehemaliges
Mitglied Dieter-Julius Cronenberg, der heute vor einer
Woche, am 21. November, gestorben ist. Dieter-Julius
Cronenberg war fast zwei Jahrzehnte lang unser Kollege.
Er gehörte dem Deutschen Bundestag von 1976 bis 1994
an. Seine politische Heimat fand er in der FDP, in der er
sich ab 1961 engagierte, zunächst auf kommunaler
Ebene, dann als Mitglied des Bundestages in Bonn.
Verantwortung hat Dieter-Julius Cronenberg früh
übernommen - nicht nur politisch, sondern auch als Unternehmer. Er führte in Arnsberg ein mittelständisches
Familienunternehmen, das inzwischen auf eine über
300-jährige Geschichte zurückblicken kann. Er war sich
dabei immer bewusst, dass unternehmerischer Erfolg zugleich auch bedeutet, soziale und gesellschaftliche Verantwortung für die Menschen, für die Stadt und für das
Land zu übernehmen, in dem das Unternehmen erfolgreich agieren kann.
Vielleicht erklärt sich aus dieser Einstellung heraus
auch sein ausgeprägtes Interesse an Themen wie der Sozialpolitik, insbesondere der Alterssicherung. An den
Rentenreformen der damaligen Zeit hat er maßgeblich
mitgewirkt. Gerade auf diesen Gebieten war er ein anerkannter Experte seiner Fraktion und ein bei den Kolleginnen und Kollegen der anderen Fraktionen geschätzter
Fachmann. Mit dieser Fachkompetenz hat er zu vielen
sozialpolitischen Entscheidungen für unser Land beigetragen.
Fast zehn Jahre lang war Dieter-Julius Cronenberg
Vizepräsident des Deutschen Bundestages. Dieses hohe
Amt füllte er souverän und überparteilich aus. Er stellte
seine große Erfahrung in den Dienst unseres Parlamentes. Ihm gebühren unser Respekt und unsere Dankbarkeit für alles, was er in diesem Haus, für dieses Parlament und für unsere Demokratie über viele Jahre hinweg
geleistet hat.
Wir werden ihm ein ehrendes Andenken bewahren.
Seiner Witwe, seinen Kindern und allen Angehörigen
spreche ich im Namen des ganzen Hauses unsere Anteilnahme aus.
Ich danke Ihnen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Ihnen
mitteilen, dass interfraktionell vereinbart worden ist, den
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem
Titel „Einsetzung von Ausschüssen“ als Zusatzpunkt 1
aufzunehmen, zusammen mit Tagesordnungspunkt 1
aufzurufen und diesen damit verbundenen Tagesordnungspunkt mit einer Redezeit von jeweils fünf Minuten
pro Fraktion zu debattieren.
Nach dem Tagesordnungspunkt 6 soll darüber hinaus
als Zusatzpunkt 2 eine vereinbarte Debatte zum vorläufigen Atomabkommen mit dem Iran im Umfang von
30 Minuten stattfinden.
Schließlich soll der Tagesordnungspunkt 13 abgesetzt
und stattdessen der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen mit dem Titel „Operation Active Endeavour beenden“ als Zusatzpunkt 3 aufgerufen werden.
Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Wir kommen damit zu Tagesordnungspunkt 1 mit
dem gerade vereinbarten Zusatzpunkt 1:
1 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD
Einsetzung eines Hauptausschusses
- Drucksache 18/101 ZP 1 Beratung des Antrags der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Einsetzung von Ausschüssen
- Drucksache 18/102 Interfraktionell ist eine Diskussionsrunde mit Beiträgen von jeweils fünf Minuten vereinbart worden. - Da76
Präsident Dr. Norbert Lammert
rüber besteht offenkundig Einvernehmen, also können
wir so verfahren.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Michael GrosseBrömer für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland gibt es nach Bundestagswahlen einen Zeitraum, in
dem sich die Regierung bildet. Wenn es keine absoluten
Mehrheiten gibt, dann werden Koalitionen gebildet.
Diese Koalitionen müssen vorbereitet sein. Mal ist die
Aufgabe einfach, mal ist sie schwieriger. Wenn man
nicht von Anfang an füreinander vorgesehen ist, ist sie
nicht einfach.
({0})
Manchmal dauert es deshalb auch länger.
Es war aber schon immer so, dass dieser Zeitraum abgewartet wurde. Wenn man es klug macht - so wie wir -,
dann macht man zwischendurch Plenarsitzungen, damit
das Parlament handlungsfähig ist. So findet heute eine
Fragestunde statt, damit die Kontrolle der Regierung
durch das Parlament funktioniert. Insofern haben wir uns
fortentwickelt. Wir sind in den letzten Jahrzehnten besser geworden. Der Parlamentarismus hat in dieser Zeit
gewonnen.
({1})
Jetzt gibt es Kritik - wahrscheinlich musste man länger darüber nachdenken, um überhaupt einen Kritikpunkt zu finden -: Die Grünen und die Linken wollen
nun schon partout alle Ausschüsse bilden. Das hat es
noch nie gegeben.
({2})
- Die Linke will es gar nicht mehr; das ist gut.
({3})
Klüger zu werden, ist ein Bestreben, das man nie aufgeben sollte.
({4})
Es liegt heute jedenfalls ein Antrag der Linken
({5})
- Pardon! -, der Grünen vor, alle Ausschüsse einzusetzen, wohlwissend - ich glaube, jedes Mitglied der Fraktion der Grünen weiß das -, dass die Ausschussbildung
natürlich von der Ressortzuschneidung und natürlich
auch von der personellen Ausstattung der Bundesregierung in all ihren Facetten abhängig ist.
({6})
Insofern ist der heute vorliegende Antrag, alle Ausschüsse zu bilden, jenseits jeglicher Parlamentspraxis.
({7})
Es gibt allerdings eine gute Lösung, um noch besser
zu werden und die Ausschussarbeit trotzdem in der Zwischenzeit zu ermöglichen. Um nichts anderes geht es.
Um den Zeitraum zu überbrücken, bis die Regierung gebildet ist, wollen wir heute einen Hauptausschuss einsetzen. Einen solchen Ausschuss gab es bisher nicht. Es
wird ihn aber geben, damit der Parlamentarismus, damit
die parlamentarische Arbeit, damit die Ausschussarbeit
besser als in den letzten Jahrzehnten organisiert und
durchgeführt werden können.
Deswegen ist unser Vorschlag, einen Hauptausschuss
einzusetzen, eine wesentlich bessere Lösung, als - das
ist ja ein bisschen althergebracht - die Einsetzung aller
Ausschüsse zu beantragen, wo Sie doch selbst wissen,
dass dies zum aktuellen Zeitpunkt gar nicht geht.
({8})
Ich will Ihnen abschließend Folgendes sagen: Dieser
Hauptausschuss ermöglicht allen Fraktionen die effiziente Mitarbeit bei der Gesetzesvorbereitung. Wir sollten daher im Interesse der Handlungsfähigkeit dieses
Parlamentes, die sich bereits verbessert hat, die aber
durch den Hauptausschuss noch besser werden kann,
dem Wege der Vernunft folgen und nicht jetzt schon
verfrühten oppositionellen Reflexen verfallen. Frau
Haßelmann, noch können Sie den Antrag zurückziehen.
Zustimmen werden wir ihm nicht; denn auch in der Sache ist das, was Sie da wollen, nicht begründbar.
Herzlichen Dank.
({9})
Das Wort hat nun die Kollegin Petra Sitte für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Kern
streiten wir uns immer noch darüber, dass der Bundestag
auch in der Phase der Bildung von Koalitionen und
Regierungen verhandlungsfähig sein muss. Die Koalitionsverhandlungen dauern an. Die SPD muss ihre Mitgliederbefragung über die Bühne bekommen und dergleichen mehr.
({0})
Im Wesentlichen geht es aber darum, dass der Bundestag
auch in dieser Phase seinen Aufgaben nachkommen
muss.
({1})
Das ist zum einen Gesetzgebung, und das ist zum anderen natürlich Regierungskontrolle. Auch eine geschäftsführend amtierende Bundesregierung will kontrolliert
werden. Frau Bundeskanzlerin hatte ja in der ersten Sitzung ausdrücklich zugestimmt. Wir sind uns ausnahmsweise in diesem Punkt einig.
({2})
Nun ist allerdings die Frage der Umsetzung strittig.
Das haben wir eben schon gemerkt. Herr Grosse-Brömer
hat da ein bisschen was durcheinandergeworfen. Es gab
schon einen Antrag der Linken. Wir hatten darin beantragt, die Ausschüsse einzusetzen, die im Grundgesetz
als ständige Ausschüsse vorgesehen sind.
({3})
Wir hatten darin außerdem beantragt, die Ausschüsse
einzusetzen, die nach dem Haushaltsgesetz und nach der
Geschäftsordnung des Bundestages vorgesehen sind.
Das sind unter anderem der Petitionsausschuss, der Auswärtige Ausschuss, der Verteidigungsausschuss und der
Europaausschuss. Die Einsetzung von Innen-, Rechtsund Finanzausschuss hatten wir ebenfalls beantragt, weil
diese Ausschüsse seit mindestens der dritten Legislaturperiode in genau diesem Zuschnitt existieren und weil
sie damit als quasi ständige Ausschüsse die Neubildung
der Regierung und auch die Neubildung der Ausschüsse
im Bundestag überdauert hätten. Deshalb ist der Antrag
rechtskonform.
({4})
Nun wird seitens der SPD und der Union die Einsetzung eines Hauptausschusses beantragt. Wir haben überhaupt nichts dagegen, wenn Sie sich bemühen, dass der
Bundestag arbeitsfähig wird, aber es muss rechtskonform geschehen. Dieser Hauptausschuss, so wie Sie ihn
in Ihrem Einsetzungsantrag vorsehen, ist grundgesetzwidrig. Deshalb werden wir diesem Antrag auch nicht
zustimmen.
({5})
Erstens. Er taucht weder im Grundgesetz noch in der
Geschäftsordnung des Bundestages auf.
Zweitens. Er ist singulär. Unsere Geschäftsordnung
und das Grundgesetz sehen ausdrücklich vor, dass ständige Ausschüsse - Mehrzahl wohlgemerkt - einzusetzen
sind.
Drittens. Er ist aber auch kein Sonderausschuss, weil
er sich nicht um einzelne Fragen kümmert, wie es die
Geschäftsordnung vorsieht. An den Hauptausschuss sollen vielmehr viele Gesetzesvorlagen und Anträge überwiesen werden. Wir sehen das ja schon an der heutigen
Tagesordnung.
Viertens. Es ist auch kein ständiger Ausschuss, denn
er soll mit der endgültigen Konstituierung der Ausschüsse wieder aufgelöst werden. Das haben Sie ja bereits gesagt.
Das sind schon einmal vier Gründe, um dem Antrag
auf Einsetzung dieses Ausschusses nicht zuzustimmen.
({6})
Fünftens. Besonders gravierend ist für uns allerdings,
dass dem Hauptausschuss Aufgaben zugewiesen werden, die ihm gemäß Grundgesetz gar keinen Spielraum
lassen. Verteidigungsfragen sind im Verteidigungsausschuss zu behandeln. Haushaltsfragen sind im Haushaltsausschuss zu behandeln und nicht in einem Hauptausschuss.
Sechstens. Der Hauptausschuss verstößt allerdings
auch - meine Kollegin hatte vorhin schon einen entsprechenden Einwurf gemacht - gegen die Ausübung des
freien Mandats. Nach § 57 der Geschäftsordnung steht
jedem Abgeordneten eine Mitarbeit in mindestens einem
Ausschuss zu. Das Grundgesetz spricht hierbei von gleichen Rechten und Pflichten. Wenn aber gemäß Ihrem
Einsetzungsverfahren nur 15 Prozent der Abgeordneten
mitwirken können, dann bleiben 85 Prozent außen vor.
({7})
Nach unserem Antrag wären immerhin 592 Abgeordnete
in die Situation gekommen, hier mitzuwirken.
Dies sind zwei weitere Gründe für die Ablehnung des
Antrags.
({8})
Nun stellen die Bündnisgrünen einen Antrag, der so
aussieht, als könnte er rechtskonform sein. Sie beantragen nämlich nichts anderes, als alle Ausschüsse der
17. Wahlperiode einzusetzen. Das Problem ist,
({9})
dass auch dies keine ständigen Ausschüsse sind. Die
Grünen sagen ja selbst, dass sie sich selbst auflösen sollen, sobald der endgültige Zuschnitt der Ausschüsse feststeht. Aufgrund dieses Punktes ist auch dieser Antrag
nicht rechtskonform.
({10})
Dieser Antrag hat mich auch deshalb ein wenig gewundert, weil in der Runde der Parlamentarischen Geschäftsführer vonseiten der Grünen gesagt wurde: Die
Gesetzentwürfe des Bundesrates sollten wir im Hauptausschuss beraten. - Okay, Sie müssen klären, welcher
Widerspruch sich hier zeigt.
({11})
Fakt ist: Hätten Sie in der letzten Bundestagssitzung
unserem Antrag zugestimmt, dann wäre der Bundestag
längst arbeitsfähig, und er wäre es demokratisch und
rechtskonform.
Danke.
({12})
Thomas Oppermann ist der nächste Redner für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute ist
der 28. November.
({0})
Gestern sind erfolgreich die Koalitionsverhandlungen
zwischen CDU/CSU und SPD abgeschlossen worden.
Bei normalem Verlauf der Dinge würde am morgigen
Freitag ein kleiner oder ein großer Parteitag über den
Koalitionsvertrag debattieren und entscheiden, und wir
könnten dann am Montag mit der Wahl der Bundeskanzlerin die Regierungsbildung einleiten und noch im Laufe
der Woche die Ausschüsse festlegen und konstituieren.
Dass es diesmal anders läuft, liegt nicht nur an den sehr
aufwendigen Sondierungsgesprächen, die den Koalitionsverhandlungen vorangegangen sind, sondern auch
daran, dass die SPD sich entschieden hat, über diesen
Koalitionsvertrag ihre Mitglieder entscheiden zu lassen.
({1})
Ich möchte bei Ihnen allen, Kollegen und Kolleginnen, um Verständnis dafür werben, dass wir ein solches
demokratisches Experiment eingehen. Das hat bisher
noch keine Partei so gemacht. Ich meine, das ist kein
Rückschlag für unsere Demokratie, sondern das ist eher
eine Bereicherung für unsere Demokratie.
({2})
Einen Parteitag mit 500 oder 600 Delegierten kann
man an einem Wochenende durchführen. Wenn aber
470 000 Mitglieder der SPD diese Entscheidung treffen
sollen, dann brauchen wir dafür zwei Wochen. Das sind
zwei Wochen für mehr innerparteiliche Demokratie.
({3})
- Frau Göring-Eckardt, vielleicht läuft das Ganze ja sogar so gut, dass Sie am Ende in vergleichbaren Situationen auch einmal Ihre Mitglieder entscheiden lassen wollen.
({4})
Vielleicht gibt es demnächst schon in Hessen eine Gelegenheit, Ihre Mitglieder zur dortigen Koalition zu befragen.
({5})
Jetzt für eine Übergangszeit von nur zwei Wochen
insgesamt 22 Ausschüsse mit 683 Mitgliedern bilden zu
müssen, stellt aus meiner Sicht einen unverhältnismäßigen Aufwand dar; denn in zwei Wochen müssten wir das
wieder komplett neu organisieren. Es liegen in der Tat
Gesetzentwürfe vor, aber diese kann auch der Hauptausschuss kompetent beraten.
Sie von den Grünen haben ja noch keinen einzigen
Gesetzentwurf eingebracht, der beraten werden könnte.
Die Linken haben immerhin einige Gesetzentwürfe vorgelegt; das muss man ja einmal feststellen.
({6})
Der Hauptausschuss ist natürlich nicht grundgesetzwidrig. Das ist ein Ausschuss, in dem das Parlament
jetzt für einen kurzen Zeitraum entscheidet, wie es seine
Arbeit organisiert.
({7})
Im Grundgesetz ist vorgesehen, dass das Parlament autonom ist, wenn es darum geht, seine eigene Arbeit zu regeln. Von dieser Autonomie machen wir jetzt Gebrauch.
({8})
Ich finde es gut, dass wir das Präsidium mit der Leitung des Hauptausschusses beauftragen,
({9})
nicht nur, weil dann mit der Person unseres Präsidenten
auch eine kompetente Leitung des Hauptausschusses gewährleistet ist, sondern auch, weil die Vizepräsidenten
der Parteien, die hier im Bundestag möglicherweise
Oppositionsfraktionen sein werden, an der Leitung dieses Hauptausschusses beteiligt werden.
Wir haben in den Koalitionsverhandlungen zwischen
Union und SPD auch geklärt, dass wir die Minderheitenrechte in diesem Parlament zur Geltung bringen wollen.
Eine starke Demokratie braucht eine handlungsfähige
Opposition. Das werden wir in Gesprächen mit allen
Fraktionen in diesem Bundestag sicherstellen.
Seien Sie bitte so einsichtig und vernünftig, uns die
nächsten zwei Wochen mit dem Hauptausschuss leben
zu lassen. Wir können zusagen, dass wir die Ausschüsse
noch in diesem Jahr, noch vor Weihnachten, exakt definieren und einsetzen,
({10})
sodass sie dann im nächsten Jahr ihre Arbeit beginnen
können.
Vielen Dank.
({11})
Zum Schluss dieser Runde spricht die Kollegin Britta
Haßelmann für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Lieber
Thomas Oppermann, ich glaube, in Sachen Basisdemokratie brauchen die Grünen keine Belehrungen der SPD.
({0})
Mit dem Thema Urabstimmungen haben wir Erfahrungen, über die wir uns gerne austauschen können. Wir haben zwei Urabstimmungen durchgeführt und können Ihnen sagen, was das bedeutet.
({1})
In Hinblick auf Hessen sei an der Stelle kurz erwähnt:
Auch die Grünen in Hessen brauchen die Ratschläge der
SPD-Bundestagsfraktion nicht, denn in Hessen wird eine
Mitgliederversammlung über den Koalitionsvertrag entscheiden. Die Parteitage des Landesverbandes Hessen
sind nämlich immer Mitgliederversammlungen für die
gesamte Mitgliedschaft.
({2})
Nun aber zum Thema. Herr Grosse-Brömer, Sie haben sich gerade mit den beiden Plenarsitzungen und der
Fragestunde, die das Parlament abhält, gerühmt. Meine
Damen und Herren, allen Abgeordneten, auch Ihnen von
der Union und von der SPD, muss es doch ein Anliegen
sein, dass wir als Parlament endlich unsere Arbeit aufnehmen,
({3})
dass Sie Rechte und Pflichten haben, dass wir nicht länger im Stand-by-Modus bleiben
({4})
und darauf warten, dass die Koalitionsverhandlungen
abgeschlossen werden. Dieser erste Schritt ist jetzt erfolgt. Der zweite Schritt ist: Wir warten auf Ressortzuschnitte. Erst danach können wir vielleicht die Arbeit
aufnehmen.
Das Problem ist doch: Bisher ist kein Zeitplan,
({5})
den Sie der Parlamentarischen Geschäftsführerin der
Linken und mir zugesagt haben, bisher ist nichts eingehalten worden. Wir hatten klar vereinbart: Wenn Ihre
Koalitionsverhandlungen abgeschlossen sind, dann stehen die Ressortzuschnitte, dann können wir über die
Ausschüsse verhandeln. - Nichts davon ist der Fall. Gestern Abend haben wir erfahren, dass die Ressortzuschnitte erst nach dem Mitgliederentscheid erfolgen. Das
heißt, wir sind weiterhin im Wartemodus, und das ist
falsch,
({6})
und zwar für das gesamte Parlament, nicht nur für die
Oppositionsfraktionen.
Die Arbeitsfähigkeit des Bundestages muss hergestellt werden.
({7})
Sie ist durch die Einrichtung des Hauptausschusses allein noch nicht gegeben. Wer hat denn die beiden Plenarsitzungen, wer hat die Fragestunde beantragt? Wir haben
den Präsidenten angeschrieben und beantragt, dass der
Deutsche Bundestag tagt, sowohl am 18. November als
auch am 28. November.
({8})
Wir waren es, die wollten, dass endlich eine Fragestunde
stattfindet,
({9})
nicht die Unionsfraktion oder die SPD-Fraktion. So sieht
es aus im Parlament, meine Damen und Herren. Sonst
hätten Sie sich weiterhin nur mit sich selbst beschäftigt.
({10})
Bei allem Verständnis dafür, dass man für Koalitionsverhandlungen - auch wir haben diverse geführt - natürlich eine gewisse Zeit braucht: Das, was da jetzt stattfindet, ist ein absoluter Wirrwarr.
({11})
Erst hieß es: Wir brauchen eigentlich keinen Hauptausschuss. - Dann heißt es: Wir brauchen ihn jetzt doch. Die Gesetzentwürfe aus dem Bundesrat, die wir dort eigentlich hätten beraten sollen, werden da gar nicht beraten. Sie werden nämlich heute vom Bundestag beraten
und sollen, indem vom Hauptausschuss nur die vom
Haushaltsausschuss zu erledigende Prüfung
({12})
durchgeführt werden soll, kurzerhand zur zweiten und
dritten Lesung wieder an den Bundestag überwiesen
werden.
({13})
Das ist eine Geschichte, die wir immer wieder thematisiert haben. Wir wissen, dass es den Ländern sehr wichtig ist, dass wir die Bundesratsinitiativen,
({14})
also das AIFM-Steuer-Anpassungsgesetz und das Gesetz
zur Änderung des Kinderbetreuungsfinanzierungsgesetzes, noch in diesem Jahr verabschieden. Das ist für die
Länder bedeutend. Aber dafür nutzen Sie den Hauptausschuss gar nicht. Sie richten ihn als großes Sammelbecken für jede unliebsame Initiative ein.
Das hat man doch am allerbesten an der NSA-Geschichte gesehen: SPD und Union waren sich über unseren Entschließungsantrag zum Thema NSA-Abhörskan80
dal uneinig. Sie von der SPD haben hier flockige Reden
darüber gehalten, was man alles tun muss und wie wahnsinnig schwierig das alles ist. Am Ende waren Sie sich
nicht darüber einig, wie man mit dem Antrag der Grünen
umgeht, und versenken ihn in einem Hauptausschuss. So
sieht es aus. Dies jetzt als wahnsinnig guten Parlamentarismus zu verkaufen, führt doch völlig an der Sache vorbei. Ich bitte Sie!
({15})
Wir haben die Koalitionsverhandlungen abgewartet,
die jetzt abgeschlossen sind. Bis auf die fünf Abgeordneten meiner Fraktionen, die wir jetzt für den Hauptausschuss benennen dürfen,
({16})
müssen alle anderen warten, bis sie erfahren, wie sie
Ausschussarbeit, wie sie Parlamentsarbeit machen dürfen.
Im Übrigen wollen doch auch die vielen Abgeordneten Ihrer Fraktionen endlich wissen, wann der Ressortzuschnitt steht. Er wird frühestens am 15. Dezember
- der 16. Dezember wird uns genannt - stehen, weil erst
dann der Mitgliederentscheid der SPD beendet ist. Bei
allem Verständnis für Basisarbeit, Basisbefragungen und
Mitgliederentscheid - wie gesagt, da brauchen wir keine
Belehrung -: Ich finde, das Parlament kann nicht so
lange warten. Wir wollen hier arbeiten, und wir wollen
nicht länger im Stand-by-Modus sein.
({17})
Lassen Sie mich am Schluss, Herr Präsident, mit Ihrer
Erlaubnis, Sie selbst zitieren:
Das Bemühen, das alles bis zur Kanzlerwahl zu
vertagen, halte ich weder für plausibel noch für notwendig …
So sehen wir es auch, und deshalb haben wir den Antrag
auf Einsetzung der Ausschüsse gestellt.
({18})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache 18/102 mit dem Titel „Einsetzung von Ausschüssen“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Damit ist der
Antrag mit den Stimmen der CDU/CSU und der SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen bei
Stimmenthaltung der Fraktion Die Linke abgelehnt.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Antrag
der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf der Drucksache 18/101 zur Einsetzung eines Hauptausschusses. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Damit ist dieser Antrag mit den Stimmen
der Antragsteller gegen die Stimmen der Fraktionen
Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke angenommen.
Damit ist der Hauptausschuss eingesetzt.
({0})
Ich weise diejenigen, die von den Fraktionen dafür nominiert sind, darauf hin, dass er sich heute Nachmittag
um 13.30 Uhr konstituiert.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter
deutscher Streitkräfte an der von den Vereinten Nationen geführten Friedensmission in
Südsudan ({1}) auf Grundlage der Resolution 1996 ({2}) des Sicherheitsrates der
Vereinten Nationen vom 8. Juli 2011 und Folgeresolutionen, zuletzt 2109 ({3}) vom
11. Juli 2013
- Drucksache 18/71 Wir werden über den Antrag am Ende der Debatte namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache unter Berücksichtigung der zwischen
den Fraktionen vereinbarten Redezeiten insgesamt
38 Minuten vorgesehen. Das ist eine etwas kunstvolle
und untypische Größenordnung, an die wir uns vielleicht
gewöhnen müssen. Gibt es dagegen Einwände? - Das ist
nicht der Fall. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Bundesminister der Verteidigung, Thomas
de Maizière.
({4})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Im dritten Jahr seiner Unabhängigkeit steht der Südsudan weiterhin vor großen Herausforderungen. Humanitäre Notlagen sowie eine
schwierige Sicherheitslage prägen nach wie vor das Bild
in verschiedenen Regionen des Landes.
Allein in diesem Jahr waren über 1,8 Millionen Menschen auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen. Insbesondere im Bereich des nordöstlichen Bundeslandes Jonglei
kommt es bei Auseinandersetzungen um Vieh und Weideland immer wieder zu bewaffneten Zusammenstößen.
Circa 100 000 Menschen haben allein im letzten Jahr die
betroffenen Siedlungsgebiete aus Furcht vor Angriffen
verlassen.
Dauernder Frieden im Südsudan kann nur erreicht
werden, wenn die Grundursachen der dahinterliegenden
Konflikte angegangen werden. Das ist ein schwieriger
und ein langwieriger Weg nach 50 Jahren Bürgerkriegserfahrung.
Trotz aller Defizite und Mängel, die es auch gegenüber der Regierung des Südsudan klar anzusprechen gilt,
sind heute, zweieinhalb Jahre nach der Staatengründung,
auch erste kleinere Erfolge zu verzeichnen: Die Menschenrechtssituation hat sich zumindest ansatzweise verbessert, auch wenn sie noch nicht annähernd so ist, wie
wir sie uns erhoffen.
Wie gefährlich der Einsatz ist, zeigt der Brennpunkt
Juba. In den letzten Monaten gab es dort viele Fälle, in
denen UN-Personal und internationale Diplomaten von
militanten Kräften bedroht, verhaftet oder angegriffen
worden sind. Dies sind Vorkommnisse, die nicht zu tolerieren sind. Dass die internationale Gemeinschaft dennoch den richtigen Weg eingeschlagen hat, verdeutlicht
die kürzlich erfolgte Verurteilung von 92 südsudanesischen Soldaten wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen. Mit Unterstützung von UNMISS, einer Mission
unter dem Mandat der Vereinten Nationen, ist es zudem
gelungen, ein Versöhnungsabkommen zwischen den ethnischen Gruppen in der Region zu verhandeln. Dieses
gilt es nun umzusetzen und zu überwachen. Die wirtschaftliche Lage hat sich aufgrund des wieder zugelassenen Ölexports zwar stabilisiert; für eine Linderung der
humanitären Not kann die Regierung des Südsudan allerdings noch nicht annähernd eigenständig sorgen.
Trotz dieser guten Ansätze gilt: Die Ausgangsbedingungen für den noch jungen Staat Südsudan sind schwierig, und er steht vor vielfältigen Herausforderungen. Die
militärische Präsenz der VN-Mission im Südsudan bleibt
deshalb weiterhin unverzichtbar. Es gilt, den Bedrohungen vor Ort zu begegnen, vertrauensbildend in der
Fläche zu wirken und den Zugang für Personal der Vereinten Nationen und humanitäre Organisationen zu gewährleisten.
Deutschland ist mit über 60 Nationen der internationalen Völkergemeinschaft dabei. Das soll auch in Zukunft so bleiben. Wir sind mit zuletzt 16 Soldaten in den
Stäben vertreten. Durch den nicht ungefährlichen Einsatz unserer Soldaten sowie der derzeit sechs Polizisten
leistet Deutschland seinen Beitrag zur Friedenskonsolidierung und zum längerfristigen Staatsaufbau.
Auch wenn sich Fortschritte nur langsam abzeichnen,
gilt Folgendes:
Erstens. UNMISS leistet einen wichtigen Beitrag zur
Stabilisierung und zum Aufbau des Südsudan.
Zweitens. Die bloße Gegenwart, die große Präsenz
der internationalen Gemeinschaft hat eine mäßigende
Wirkung auf die Konfliktparteien und stabilisiert das gesamte regionale Umfeld.
Drittens. Unser Engagement ist notwendig, um eine
humanitäre Verschärfung sowie eine weitere militärische
Eskalation in dieser unruhigen Region zu verhindern.
Deswegen bitten wir als Bundesregierung um Ihre
Zustimmung zur weiteren Beteiligung an UNMISS mit
bis zu 50 Soldatinnen und Soldaten.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich mit Blick
auf die Debatte heute Nachmittag noch ein paar Worte
zu UNAMID sagen, zu der Mission in Darfur. Kernauftrag dieser Mission sind die Unterstützung des Friedensprozesses, der Schutz von Zivilisten und die Sicherung
des Zugangs für humanitäre Hilfsorganisationen. Auch
in Darfur leistet die UNO mit ihrer Mission, mit
UNAMID, allein durch ihre Präsenz in Form von rund
21 000 Soldatinnen und Soldaten sowie Polizistinnen
und Polizisten einen Beitrag zur Verbesserung der humanitären Lage vor Ort. UNAMID schafft den notwendigen Rahmen, innerhalb dessen sich die politischen
Bemühungen um ein Ende der Krise in Darfur weiterentwickeln können. Deshalb ist auch diese Mission unverzichtbar.
Mit unseren derzeit zehn Soldaten im Hauptquartier
unterstützen wir als einziger westlicher Truppensteller
neben der Türkei die Auftragsdurchführung der Mission.
Die bei dieser VN-Mission eingesetzten Soldatinnen und
Soldaten arbeiten unter den schwierigsten denkbaren
Umständen. Ich möchte an dieser Stelle den Soldatinnen
und Soldaten bei UNMISS und bei UNAMID sowie den
dort eingesetzten Polizistinnen und Polizisten meine und
unsere Hochachtung für ihr bemerkenswertes Engagement und ihre Professionalität aussprechen.
({0})
Bitte unterstützen Sie daher heute Nachmittag auch den
Antrag der Bundesregierung auf Fortsetzung der Mission UNAMID in Darfur.
Herzlichen Dank.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Christoph Strässer
für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zu Beginn
einer neuen Legislaturperiode als erstes Thema in der
Außenpolitik gleich über einen Auslandseinsatz der
Bundeswehr im Rahmen eines Mandates der Vereinten
Nationen zu debattieren und zu entscheiden, ist sicherlich nicht das, was sich die meisten von uns wünschen.
Gut aber ist, dass wir darüber hier im Deutschen Bundestag debattieren, weil wir damit zum Ausdruck bringen, dass die Bundeswehr eine Parlamentsarmee ist und
sich daran auch nichts ändern wird.
({0})
Der Antrag der Bundesregierung, mit dem wir uns
heute auseinanderzusetzen haben, bezieht sich auf eine
Beteiligung deutscher Streitkräfte an der von den Vereinten Nationen geführten Friedensmission in Südsudan.
Angesichts der Verantwortung der internationalen Gemeinschaft für die Entwicklung in dieser Region, die
auch nach der Selbstständigkeit des Südsudan mehr als
fragil ist, halten wir die Fortsetzung dieser Mission nicht
nur für verantwortbar, sondern auch für notwendig. Die
SPD-Fraktion wird dem Antrag daher zustimmen.
Wir halten es für richtig, das UNMISS-Mandat bis
Ende 2014 fortzuschreiben und eine Personalstärke von
bis zu 50 deutschen Soldaten zu ermöglichen, und zwar
auch, weil das ein Signal an den Sudan, an den Südsudan, an die Afrikanische Union sowie an die internationale Gemeinschaft ist, dass sich Deutschland weiter
für eine nachhaltige Stabilität in der Region einsetzt. Gegenwärtig sind 16 deutsche Soldaten im Rahmen des
Mandats im Einsatz. Sie leisten dort unverzichtbare Arbeit. Dafür danken wir ihnen wie auch den wenigen Polizisten und den vielen zivilen Helfern, die sich in der
Region für die Umsetzung von Menschenrechten engagieren.
({1})
Es ist schon bemerkenswert - ich weiß, dass das dem
Auftrag des Parlaments hinsichtlich des Bundeswehreinsatzes geschuldet ist -, dass wir hier nur über den Einsatz von Soldaten debattieren. Wir haben in der letzten
Legislaturperiode zwei interfraktionelle Anträge zum
Sudan eingebracht und in diesen eine nachhaltige, kohärente Menschenrechts- und Entwicklungspolitik gefordert. Davon sind wir nach jetzigem Stand im nationalen
wie auch im internationalen Kontext leider noch weit
entfernt trotz nicht unerheblicher Anstrengungen auch
im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit, wie sie
auch im Mandatsantrag dargestellt werden.
Die Ursachen für die anhaltende Instabilität sind vielfältig und hängen eng zusammen mit den Entwicklungen, die seit der Unabhängigkeit des Sudan im Jahre
1956 nicht beseitigt werden konnten. Da ist zum einen
die Situation im Sudan insgesamt. Seit der Unabhängigkeit 1956 wird das Land von einem nur durch eine kurze
Periode unterbrochenen Bürgerkrieg zwischen dem
überwiegend arabisch-islamischen Norden und dem Süden des Landes erschüttert, der formal erst durch das
umfassende Friedensabkommen von 2005 beendet
wurde, das nur unter intensiver Beteiligung der internationalen Gemeinschaft zustande kommen konnte. Letztlich gab es eine Volksabstimmung, die zur Unabhängigkeit des Südens führte.
Hinzu kamen Auseinandersetzungen zwischen Nomaden und sesshaften Farmern um Ressourcen, die auch
bedingt durch den Klimawandel immer geringer werden.
Der seit 2003 andauernde Konflikt in der westlichen Region Darfur ist nur ein Brennpunkt für diese Entwicklung, der aber zeigt, dass eine nachhaltige Befriedung
nur bei Lösung aller Konflikte in dieser Region denkbar
ist. Hierzu bedarf es mehr als des UNMISS-Mandates.
Hierzu bedarf es einer Fortschreibung des Länderkonzeptes und engerer Zusammenarbeit im europäischen
Kontext, die wir von der nächsten Bundesregierung
nachhaltig einfordern werden.
Der zweite Konfliktherd ist die Situation zwischen
Sudan und Südsudan. Nach wie vor sind nicht alle Vorgaben des umfassenden Friedensabkommens umgesetzt,
insbesondere was den endgültigen Grenzverlauf und die
Verteilung der Einkünfte aus der Erdölförderung angeht.
Immer wieder kommt es zu Truppenbewegungen und
Kämpfen zwischen den sudanesischen Streitkräften und
der Sudanesischen Volksbefreiungsarmee, SPLA. Diese
immer wieder auch kriegerischen Auseinandersetzungen
sind für die Menschen in der Grenzregion nicht mehr erträglich. Auch die VN-mandatierte Grenzüberwachung
durch die Mission UNISFA kann dies nicht verhindern.
Die humanitäre Situation wird immer schlimmer. Anhaltende Kämpfe in den Staaten Blauer Nil und Südkordofan im Süden des Sudan führten zur Flucht von
mehr als 200 000 Menschen in den benachbarten Südsudan. Viele davon haben auf der Flucht ihr gesamtes
Hab und Gut zurücklassen müssen. Seit Juni 2012 leistet
der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen
im Norden des Südsudan Not- und Überlebenshilfe für
mehr als 115 000 Personen. Mehr als 400 000 Personen
sind vertrieben worden. Aufgrund andauernder bewaffneter Konflikte sowie Nahrungsmittel- und Wasserknappheit können Flüchtlinge den Sudan nicht verlassen, um sich in Sicherheit zu bringen.
Auch die wirtschaftliche Situation ist prekär, nicht zuletzt deshalb, weil der Streit unter anderem über die Nutzung von Erdöl dazu geführt hat, dass sich Khartum Ölfelder im Süden angeeignet hat und dass der Südsudan
zwischenzeitlich immer wieder beschlossen hat, die Erdölförderung zu unterbrechen. Vor allem die Zugehörigkeit der erdölreichen und landwirtschaftlich produktiven
Region Abyei ist nach wie vor nicht geklärt.
Schließlich ist auch die Entwicklung im Südsudan
selbst weit hinter den Erwartungen zurück, die mit dem
Abschluss des Friedensvertrages und der Selbstständigkeit verbunden waren. Das gilt für nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche. Es fehlt an vielem. Der Aufbau
staatlicher und rechtsstaatlicher Strukturen kommt nur
sehr langsam voran. Die ausreichende Versorgung mit
Nahrungsmitteln und insbesondere der Zugang zu sauberem Wasser sind nach wie vor nicht immer und für alle
Gruppen der Bevölkerung gewährleistet. Auch gibt es
immer wieder Berichte über Menschenrechtsverletzungen durch die südsudanesischen Streitkräfte an der Zivilbevölkerung. Es gibt Nachrichten über schwere Zusammenstöße zwischen Gemeinschaften insbesondere in der
Provinz Jonglei.
All diese Tendenzen können natürlich nicht allein
durch die Mission UNMISS beseitigt werden. Aber wir
sind davon überzeugt, dass UNMISS ein Teil einer Entwicklung ist, die wir unterstützen sollten. Wir fordern
auch nachhaltig, dass eine verstärkte Umsetzung der
EU-Länderstrategie erfolgt. Sie existiert seit Januar 2012
und fordert in Zusammenarbeit mit UNMISS und nationalen wie internationalen Partnern den Einsatz für Konsolidierung von Demokratie, Achtung der Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit sowie verantwortungsvolle
Staatsführung und Korruptionsbekämpfung.
Was wir brauchen, ist eine außenpolitische Länderstrategie, die der Zweiteilung des Sudans und der Komplexität der Situation gerecht wird, eine Länderstrategie,
die den Leitprinzipien von Demokratie, Achtung der
Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, verantwortungsvoller Staatsführung und Korruptionsbekämpfung verpflichtet ist. Aber wir brauchen mehr als theoretische
Konzepte. Wir brauchen vor allem deren Umsetzung.
Deshalb steht für uns die Resolution 2046 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 2. Mai 2012 im
Mittelpunkt. Der Friedensfahrplan der Afrikanischen
Union zur Lösung der Konflikte muss tatkräftiger und
mit mehr Mitteln unterstützt werden, als wir dies gegenwärtig tun. Wir sollten uns im VN-Sicherheitsrat weiterhin für robuste und der jeweiligen Situation angemessene Mandate starkmachen, um ein flexibles Eingreifen
der VN-Friedensmissionen vor Ort zu ermöglichen.
Ich würde mir wünschen, dass über die Rolle
Deutschlands in diesem Zusammenhang in Zukunft intensiver und konkreter diskutiert wird. Unser friedensund sicherheitspolitisches Engagement im Südsudan ist
deutlich verbesserungsfähig und verbesserungswürdig.
Wir sollten außerdem die internationale Hilfe für die Republiken Sudan und Südsudan stärker mit der Verpflichtung zur Einhaltung von Menschenrechten sowie zur Bekämpfung von Korruption verbinden und damit auch
Drittstaaten wie China stärker in den politischen Dialog
mit einbeziehen.
Zu erreichen ist dieses Ziel für den Sudan, für den
Südsudan, für die gesamte ostafrikanische Region nur
mit einer Politik, die den regionalen Besonderheiten gerecht wird, die eine demokratische Staatsführung forciert
und die Einhaltung der Menschenrechte als Schlüssel zu
einer nachhaltigen Entwicklung begreift. Soldaten, Ressourcenreichtum und wirtschaftliches Wachstum allein
können eine solche Entwicklung nicht bewirken. Vielmehr geht es darum, politische Rahmenbedingungen zu
schaffen, mit denen sich für die Mehrheit der Bevölkerung die Lebensbedingungen verbessern und die Armut
verringern lassen. Armut ist nämlich nicht nur eine
Folge von ungünstigen ökonomischen Rahmenbedingungen, sondern auch das Ergebnis mangelnder Partizipation und der Verletzung der Menschenrechte.
Gerade die Menschen in Südsudan, die Zeit ihres Lebens nichts als Krieg und Ausbeutung erlebt haben, müssen endlich erfahren, dass Frieden nicht nur formal ist,
sondern auch ihre materiellen und sozialen Lebensbedingungen nachhaltig verbessert. Sie brauchen die ganz
konkrete Erfahrung und die Wirklichkeit einer sogenannten Friedensdividende.
Meine Damen und Herren, zum Schluss dieser etwas
dunklen Darstellung der Situation in der Region möchte
ich aber auch noch etwas Positives mitteilen. Die Süddeutsche Zeitung hat gestern berichtet, dass vor wenigen
Tagen zwei ostafrikanische Staaten erklärt haben, der
UN-Kinderrechtskonvention beitreten zu wollen.
({2})
Neben Somalia tat dies auch der Südsudan. Das ist nicht
nur ein formaler Akt. Vielmehr müsste und sollte ihre
tatsächliche Umsetzung auch zu einer erheblichen Verbesserung der Situation von Kindern führen, insbesondere für solche, die immer noch als Kindersoldaten
rekrutiert und ihr Leben lang traumatisiert werden. Ich
glaube, wir sollten insbesondere das südsudanesische
Parlament zu dieser Entscheidung auch von hier aus beglückwünschen.
({3})
Nunmehr, meine Damen und Herren, gibt es unter den
Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen nur noch einen
Staat, der die Kinderrechtskonvention nicht ratifiziert
hat. Das sind - wer ahnt es? - die Vereinigten Staaten
von Amerika. Vielleicht können unsere Freunde jenseits
des Atlantiks von dieser Entscheidung des südsudanesischen Parlaments etwas lernen; dann hätte diese Entscheidung eine noch größere Bedeutung als ohnehin
schon.
({4})
Ich glaube, wir würden diesen Prozess von hier aus
nachhaltig unterstützen.
Herzlichen Dank.
({5})
Christine Buchholz ist die nächste Rednerin für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der geschäftsführende Verteidigungsminister, Herr de Maizière,
hat gestern in unserer Fraktion für den Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung des Bundeswehreinsatzes
im Südsudan geworben. Das selbsterklärte Ziel der Mission UNMISS ist es, die Regierung des Südsudans, der
sich vor zwei Jahren vom Norden abgespalten hat, bei
der Friedenskonsolidierung zu unterstützen. Herr de
Maizière hat gestern wörtlich gesagt: Für dieses Mandat
gibt es seit der Bundestagsdebatte vor einem Jahr keinen
neuen Sachstand, keine neuen Argumente.
Dem widersprechen wir heftig.
({0})
Zum einen eskalierte der Konflikt zwischen Nord- und
Südsudan. Als Folge des Streits um die Aufteilung der
Ölgewinne stellte der Südsudan mehr als ein Jahr lang
die Ölproduktion ein. Das hatte dramatische Folgen:
Beispielsweise bürdete die Regierung dem Südsudan ein
Spardiktat auf, das bis heute weiterbesteht und unter anderem dazu führt, dass Lehrer und Krankenschwestern
seit zwei Monaten kein Gehalt mehr bekommen.
Schließlich eskalierte der bewaffnete Konflikt im Bundesstaat Jonglei und in anderen Regionen. Selbst Juba
ist, wie Herr de Maizière heute selbst gesagt hat, zu ei84
nem Brennpunkt geworden, was vorher nicht der Fall
gewesen war. Ist das kein neuer Sachstand?
Ich glaube, wir können bei allen Bundeswehreinsätzen ein und dasselbe Muster beobachten: Es wird keine
ehrliche Bilanz gezogen.
({1})
Das gilt für den Einsatz im Südsudan genauso wie für
den Einsatz in Afghanistan. Wir halten das für unverantwortlich.
({2})
Kernaufgabe der Mission UNMISS ist, wie gesagt,
die Unterstützung der südsudanesischen Regierung bei
der Friedenskonsolidierung. Die Bundesregierung verwischt dabei, dass die Armee der südsudanesischen Regierung, mit der der Frieden konsolidiert werden soll,
selbst Teil des Problems ist.
({3})
Human Rights Watch hat 24 Vorfälle aus dem Bundesstaat Jonglei dokumentiert, in denen die südsudanesische
Armee zwischen Dezember 2012 und Juli 2013 nahezu
100 Angehörige des Volks der Murle getötet hat, darunter Frauen und Kinder. Die südsudanesische Armee hat
Gebäude von Hilfsorganisationen und Schulen zerstört
und ganz nebenbei einen UN-Hubschrauber abgeschossen. Mit anderen Worten: UNMISS hat das, was die
Bundesregierung als eine Kernaufgabe definiert, nicht
im Entferntesten erreicht. Der Einsatz konsolidiert keinen Frieden. Das kann er auch nicht; denn Frieden kann
nicht durch die Entsendung von Truppen von außen gebracht werden.
({4})
UNMISS besteht aus 7 000 Soldaten; die meisten von
ihnen stammen selbst aus Entwicklungsländern. Der Antrag der Bundesregierung gibt keinerlei Auskunft darüber, was die Soldaten und auch die deutschen Stabsoffiziere genau machen; stattdessen wird lang und breit
etwas zum Engagement der Entwicklungszusammenarbeit ausgeführt. Das ist wieder so eine Nebelkerze;
denn entwicklungspolitische Projekte - von denen die
Linke viele begrüßt - stehen hier überhaupt nicht zur
Abstimmung. Zur Abstimmung steht die Beteiligung
von bewaffneten Streitkräften. Aber niemand braucht
Soldaten, um Wasser- und Bildungsprojekte durchzuführen.
({5})
UNMISS ist im Kern eine Militärmission und kostet
pro Jahr fast 1 Milliarde US-Dollar. Das ist viel Geld,
das besser angelegt werden könnte. Ich gebe Ihnen ein
kleines Beispiel: Dieses Geld könnte angelegt werden in
einem Präventionsprogramm gegen die grassierende
Flusskrankheit - eine Krankheit, die zur Erblindung
führt -, die ein großes Problem im Südsudan ist. Diese
Krankheit ist nur eines von vielen fundamentalen Problemen. Es gibt im gesamten Südsudan nur vier Augenkliniken.
Die Wahrheit ist: So wie Sie es anpacken, instrumentalisieren Sie die Entwicklungshilfe, um die Entsendung
von Militär zu rechtfertigen. Mit Friedenssicherung hat
das nichts zu tun.
({6})
Das merken die Menschen im Südsudan auch. Studenten
aus Juba sagten zum zweiten Jahrestag der Staatsgründung im Juli 2013 - ich zitiere -: Wir sind jetzt frei; aber
das Leben hat sich nicht verbessert. Kriminalität hat in
Juba zugenommen, Bildung und Gesundheitsdienste
sind teurer geworden.
Worum es tatsächlich geht, kann man auch im neuen
Koalitionsvertrag nachlesen; hier herrscht ja größte Eintracht zwischen SPD und Union. Von einer „Kultur der
Zurückhaltung“, von der im schwarz-gelben Koalitionsvertrag vor vier Jahren zumindest noch zu lesen war, ist
heute keine Rede mehr. In ihrem Koalitionsvertrag sprechen SPD und Union davon, die - Zitat - „globale Ordnung aktiv mitgestalten“ zu wollen. Das ist nicht mehr
und nicht weniger als eine diplomatische Umschreibung
für die Bereitschaft, in möglichst vielen Weltregionen
mit Truppen dabei zu sein - ob mit Militärbeobachtern,
mit Stabsoffizieren oder mit Kampfsoldaten. Herr
Strässer hat das eben ja auch noch einmal gesagt, als er
erwähnte, wir müssten uns in Zukunft für robuste und
flexible Einsätze starkmachen.
Das heißt im Klartext: Mit Schwarz-Rot wird es noch
mehr Auslandseinsätze der Bundeswehr geben. Die
Linke steht dafür, zivil zu helfen, statt Militär in alle
Welt zu senden.
({7})
Die Kollegin Agnieszka Brugger ist die nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der
Südsudan steht am Scheideweg, und die internationale
Gemeinschaft kann es sich nicht leisten, den jüngsten
Staat der Welt scheitern zu sehen. Dieser Einschätzung
von Hilde Johnson, der Leiterin der UN-Mission im
Südsudan, können wir Grüne voll und ganz zustimmen;
({0})
denn die Menschen im Südsudan haben es verdient, dass
wir sie auf dem Weg hin zu mehr Frieden, zu mehr Entwicklung und zu mehr Sicherheit nach Kräften unterstützen.
Dazu leistet UNMISS einen sehr wertvollen Beitrag.
Die Mission hat die Aufgabe, die Zivilbevölkerung zu
schützen, den Aufbau staatlicher Strukturen zu fördern
und die Menschenrechte zu stärken. Seit der Staatsgründung des Südsudan am 9. Juli 2011 konnte auf diesem
Wege bereits einiges erreicht werden, vieles leider aber
auch noch nicht.
Seit der Wiederaufnahme der Erdölförderung erholt
sich die katastrophale wirtschaftliche Lage des Landes
sehr langsam, und 2012 sanken die Verbraucherpreise
für die Zivilbevölkerung endlich wieder. Aber auch bei
der Bekämpfung der Korruption hat sich einiges getan.
Beispielsweise wurden 16 000 „Geisteroffiziere“ von
der Gehaltsliste der südsudanesischen Polizei gestrichen.
Gleiches, so hat der Präsident öffentlich angekündigt,
soll auch beim Militär geschehen. Hier muss UNMISS
bei der Korruptionsbekämpfung weiter den Finger in die
Wunde legen.
Positiv war auch die diesjährige Zusammenarbeit der
südsudanesischen Regierung mit den NGOs und den
UN-Hilfsorganisationen bei der sich jährlich wiederholenden Flutkatastrophe im November. Dadurch konnte
für knapp 140 000 notleidende Menschen die Versorgung mit Lebensmitteln und Medizin gesichert werden.
Meine Damen und Herren, natürlich können auch
viele Schritte in die richtige Richtung keineswegs darüber hinwegtäuschen, dass es auch Rückschläge und
berechtigten Anlass zur Sorge, aber eben auch zu deutlicher Kritik gegenüber der südsudanesischen Regierung
und ihren Sicherheitskräften gibt. So kam es beispielsweise, wie Human Rights Watch berichtet, im Bezirk
Pibor zu massiven Menschenrechtsverletzungen, verübt
durch die Soldaten der südsudanesischen Armee bei
Kämpfen gegen Rebellengruppen. Statt wie beauftragt
die Menschen zu beschützen, haben die Soldaten Zivilistinnen und Zivilisten getötet und Schulen zerstört.
UNMISS hat daraufhin an diesen Orten seine Präsenz
verstärkt und den geflohenen Menschen Schutz geboten
und sie aufgenommen. Wenn Sie den Bericht von Human Rights Watch gelesen hätten, dann wüssten Sie,
Kollegin Buchholz, dass sie nicht zu dem Schluss kommen, dass UNMISS beendet werden sollte; vielmehr
stellen sie fest, dass es UNMISS an Kapazitäten mangelt.
({1})
Vorfälle wie diese dürfen nicht vertuscht werden; sie
müssen konsequent verfolgt und geahndet werden.
Wir können auch feststellen, dass es hier im Gegensatz zu früher ein Umdenken gibt, dass nämlich Täter
verfolgt und benannt werden, auch wenn es hierfür bei
der Justiz noch an den notwendigen Kapazitäten mangelt.
Ich finde, diese Vorfälle machen vor allem deutlich,
dass der Fokus der Mission noch stärker auf die Wahrung der Menschenrechte gelegt werden muss - ganz besonders im Hinblick auf die südsudanesische Armee und
Polizei.
Meine Damen und Herren, Staatsgründungen geschehen nun einmal nicht am Reißbrett. Leider! Ich finde, ein
echter Wille zur Unterstützung zeichnet sich dadurch
aus, dass man nicht aufgibt, wenn es Rückschläge gibt
und wenn einmal etwas nicht nach Plan läuft. Ich glaube,
wir helfen den Menschen im Südsudan am besten und
am meisten, wenn wir unsere Unterstützung ernsthaft,
langfristig, verlässlich, aber eben auch kritisch gestalten.
({2})
Das gilt besonders im Hinblick auf die Parlamentsund Präsidentenwahlen in 2015; denn, um bei dem Bild
von Hilde Johnson zu bleiben: Damit der Südsudan am
Scheideweg die Richtung hin zu einem funktionierenden
Staat einschlägt, braucht es auch weiterhin eine starke
Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft.
Wir Grüne begrüßen daher die breite Mehrheit für das
UNMISS-Mandat hier im Bundestag und werden ihm
auch zustimmen.
Der heutige Sitzungstag findet auf Antrag der Grünen-Bundestagsfraktion statt. Weil sich Union und SPD
hier gemeinsamen Lösungen versperrt haben, haben wir
noch keinen wirklich arbeitsfähigen Bundestag. Bei den
Reden von Herrn Oppermann und Herrn Grosse-Brömer
vorhin konnte man den Eindruck gewinnen, das sei nicht
weiter schlimm, das sei vielleicht sogar ganz lustig. - Ich
finde es bedauerlich, dass wir bei Mandaten über die
Entsendung der Bundeswehr statt der üblichen zwei Debatten im Parlament und intensiver Ausschussberatung
nur die heutige Debatte, verbunden mit einer Sofortabstimmung, haben. Ich halte das für falsch.
({3})
Denn die Entscheidungen über Auslandseinsätze sind
immer schwierig. Sie rühren, finde ich, mit am meisten
an Herz und Gewissen der Abgeordneten. Ich glaube,
dass wir dazu bestimmt nicht weniger, sondern tendenziell eher mehr Debatten und Diskussionen brauchen.
({4})
Das gilt nicht nur für die Debatten hier im Parlament,
sondern auch für die Berichterstattungen der Medien.
Gerade wenn es um Friedensmissionen der Vereinten
Nationen geht, sucht man Meldungen und Berichte darüber häufig vergebens. Ich finde, diese Aufmerksamkeit
haben nicht nur die Menschen verdient, die an eine friedliche Zukunft im Südsudan glauben, sondern vor allem
auch die zivilen und militärischen Kräfte, die wir unter
diesen schwierigen Bedingungen in einen Einsatz mit
großen Herausforderungen schicken. Ihnen gilt auch unser Dank.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat nun der Kollege Philipp Mißfelder für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Wir verlängern heute ein Mandat, über
das in der Öffentlichkeit nicht so viel diskutiert wird wie
über andere Mandate, zum Beispiel das Mandat für den
Einsatz im Kosovo oder in Afghanistan, die häufig in
den Medien große Beachtung finden.
Bei der Herausforderung, die wir vor allem auf dem
afrikanischen Kontinent sehen, geht es hierbei um das
äußerste Mittel, das unserer Außenpolitik zur Verfügung
steht, nämlich den Einsatz von Soldaten. Das ist für uns
das äußerste Mittel, die Ultima Ratio. Deshalb ist es
keine leichte Entscheidung, Soldaten in den Südsudan
oder auch nach Afghanistan oder in den Kosovo zu schicken.
Ich bin deshalb froh, dass unsere Soldatinnen und
Soldaten mit einer so großen und breiten Unterstützung
in diese schwierige Mission geschickt werden, und
danke all denjenigen, die diesem Mandat verantwortungsbewusst zustimmen wollen. Ich kritisiere aufs
Schärfste das, was vorhin hier von Frau Buchholz gesagt
worden ist. Ich halte es für zynisch, wenn Sie über das
Schicksal der Menschen im Südsudan so reden, als
würde es hier um irgendwelche imperialistischen Vorstellungen alter europäischer Kolonialmächte gehen.
({0})
Wir leisten mit unserem militärischen Einsatz an dieser
Stelle einen humanitären Beitrag. Deshalb sprechen wir
uns nachdrücklich für die Verlängerung des Mandats
aus.
({1})
Der Minister hat es gesagt: Den meisten ist überhaupt
nicht bewusst, dass wir zwar über einen neuen Staat reden, aber gleichzeitig über eine Region, in der seit
50 Jahren Bürgerkrieg herrscht. Wir haben seit der Unabhängigkeit des Südsudans am 9. Juli 2011 Schätzungen zufolge 1 500 Tote zu beklagen. Zehntausende Menschen sind immer noch auf der Flucht oder obdachlos.
Vor diesem Hintergrund ist jede Anstrengung, die wir im
zivilen Bereich, im politischen Bereich oder auch im militärischen Bereich leisten können, dringend notwendig.
Es ist so, dass wir von Staatlichkeit weit entfernt sind,
von Rechtsstaatlichkeit ohnedies. Auch fundamentale
Voraussetzungen für eine Gesellschaft gibt es nicht. Das
Währungssystem ist zusammengebrochen. Es hat sich
eine Tauschwirtschaft etabliert, wobei der Tauschhandel
vor allem im Bereich der Viehwirtschaft stattfindet. Gerade weil die Zahl der Konflikte um Weideland - auch
das ist vorhin in der Debatte schon gesagt worden - oder
auch um Vieh stark zunimmt, ist die Gefahr einer neuen
Eskalationsstufe riesig groß.
Vor diesem Hintergrund ist es notwendig, dort auch
militärisch präsent zu sein. Ich bin froh, dass so viele
Nationen der Weltgemeinschaft bereit sind, den Südsudan zu unterstützen und hier Verantwortung zu übernehmen. Leider - so muss man sagen - hat sich seit Mitte
dieses Jahres die Situation verschlechtert; es wird von
regelmäßigen Übergriffen der Armee auf die Zivilbevölkerung berichtet.
Es gibt auch zwischen den aktivsten Rebellentruppen
und der südsudanesischen Regierung kein Friedensabkommen. Das ist - natürlich neben dem, was wir dort
militärisch leisten - eine unserer wichtigsten Aufgaben,
nämlich zu versuchen, eine solche politische Lösung anzustreben und uns dort zu engagieren.
Wie in so vielen Debatten betone ich an dieser Stelle,
dass wir unsere militärischen Einsätze immer in das einbetten und entsprechend abstimmen, was wir im Bereich
der Entwicklungszusammenarbeit leisten und was wir
im Bereich der Außenpolitik koordiniert an diplomatischen Vorschlägen einbringen. Deshalb ist dieses Mandat Teil eines Gesamtkonzepts, das dringend notwendig
ist.
Vor allem ist es, wie ich schon sagte, humanitär begründet. Die Berichterstatter und diejenigen, die sich mit
dem Land ausführlich beschäftigen, wissen, dass von der
Flut und der Überschwemmungskatastrophe in den letzten Wochen weit mehr als 150 000 Menschen direkt
betroffen sind. Deshalb ist es richtig, die humanitären
Anstrengungen weiter voranzutreiben, statt sie zu ignorieren. Die UNO leistet an dieser Stelle einen wichtigen
Beitrag. Ich denke auch, dass der Rahmen eines UNOMandats der richtige ist.
Deshalb eine grundsätzliche Anmerkung zu dem, was
vorhin zu der betreffenden Stelle im Koalitionsvertrag
gesagt worden ist: Selbstverständlich wollen wir global
mehr Verantwortung übernehmen. Mehr Verantwortung
drückt sich in verschiedenen Bereichen aus. Das kann
als äußerstes Mittel, wie ich sagte, auch Militäreinsätze
bedeuten. Aber für uns ist es wichtig, zu betonen: Wir
sind davon überzeugt, dass kein Konflikt dieser Welt auch nicht der Konflikt im Südsudan - militärisch gelöst
werden kann, sondern dass eine militärische Komponente immer nur ein Beitrag zu einer politischen Lösung
sein kann.
({2})
Deshalb ist es richtig, dass der Deutsche Bundestag bei
Bundeswehreinsätzen das letzte Wort hat. Dafür sprechen wir uns im Koalitionsvertrag eindeutig aus.
Meine Damen und Herren, wir wollen mit diesem
Mandat erreichen, dass im Südsudan Programme zur
Entwaffnung, Demobilisierung und Reintegration sowie
das Entstehen von Rechtsstaatlichkeit überhaupt möglich werden. Dafür engagieren wir uns auch im Verfassungsgebungsprozess. Wir sollten uns aber auch weiterhin mit großem Engagement dafür einsetzen, dass es zu
diplomatischen und politischen Lösungen kommt, gerade was die Vermittlung zwischen Rebellengruppen und
der südsudanesischen Regierung angeht.
Das robuste Mandat ist notwendig. Es ist auch deshalb notwendig, weil die Gefahr eines Bürgerkrieges
nach wie vor sehr groß ist bzw. täglich Menschen in Bedrängnis geraten. Deshalb werbe ich um die parlamentarische Zustimmung.
Ich möchte nicht unterlassen, unseren Soldatinnen
und Soldaten, den Entwicklungshelfern vor Ort und den
Diplomaten, die in schwieriger Mission sind, zu danken
und ihnen allen eine gute Weihnachtszeit zu wünschen.
Denn so sehr wir uns auch mit Afghanistan, Kosovo und
anderen Ländern beschäftigen: Die 16 Soldaten, über die
der Minister vorhin gesprochen hat, sollten nicht in Vergessenheit geraten. Sie werden auch das Weihnachtsfest
und andere wichtige Feiertage in einem Land verbringen, das logistisch nicht so gut ausgestattet ist wie vielleicht andere Länder, in denen Missionen stattfinden,
über die wir häufiger reden. Deshalb wünsche ich den
Menschen, die Dienst für unser Land leisten, und ihren
Familien in den nächsten Wochen eine gute Zeit und
werbe auch um Verständnis für die Familien, die diese
Menschen unterstützen.
Herzlichen Dank.
({3})
Bevor ich dem Kollegen Reinhard Brandl als letztem
Redner das Wort erteile, möchte ich die Kolleginnen und
Kollegen, die offensichtlich noch keinen Platz gefunden
haben, darauf aufmerksam machen, dass es tatsächlich
noch hinreichend viele freie Sitzplätze gibt.
({0})
Wir sollten im Übrigen am Beginn der Legislaturperiode, in der es ja immer mal wieder namentliche Abstimmungen gibt, uns vielleicht für diese Wahlperiode
ein etwas geordneteres Verfahren vornehmen.
({1})
Viele von Ihnen wissen auch von Ihren Besuchergruppen, dass sowohl von den Besuchern hier im Hause als
auch von den Fernsehzuschauern immer wieder verständlicherweise kritisiert wird, dass sich zum Schluss
solcher Debatten, die mit namentlichen Abstimmungen
enden, eine beachtlich große Zahl von Kolleginnen und
Kollegen in den Gängen oder am Rande des Saales aufhält, die an den Beratungen erkennbar keinen Anteil
mehr nehmen, um anschließend aber selbstverständlich
abzustimmen. Das lässt sich ganz gewiss verbessern,
und das sollten wir versuchen.
Deswegen bitte ich jetzt noch einmal, dass die Kolleginnen und Kollegen, die noch nicht sitzen, sich um einen solchen Sitzplatz bemühen. Ich versichere auch feierlich: Es wird nicht eher abgestimmt, bevor der letzte
Redner fertig ist.
({2})
Jetzt hat der Kollege Brandl das Wort.
({3})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ich freue mich besonders, dass wir zu so einem prominenten Zeitpunkt über einen Einsatz in einem Land sprechen - nach dieser Debatte folgt die erste namentliche
Abstimmung in dieser Legislaturperiode -, das normalerweise nicht so sehr im Fokus der Öffentlichkeit steht
und im Bewusstsein der Menschen verankert ist, nämlich das Land Südsudan.
Ich war letztes Jahr im Südsudan und habe dort mit
vielen Menschen gesprochen, natürlich auch mit Vertretern der UN-Mission und mit Menschen außerhalb der
Stadt Juba. Ich muss feststellen: Das Land ist nahe bei
null. Es gibt außerhalb der Städte fast keinerlei Infrastruktur. Viele Orte sind schwer oder gar nicht zu erreichen. Schon allein deshalb tut sich die Regierung unheimlich schwer, ihre Bevölkerung zu erreichen, ganz zu
schweigen davon, für die Sicherheit der Bevölkerung zu
sorgen. Wenn ich an den Südsudan denke, dann sehe ich
ein Land vor mir, das ständig am Abgrund balanciert und
bei dem die latente Gefahr besteht, abzustürzen und damit das bisher Erreichte zu verlieren.
Es wurde viel erreicht; die Vorredner haben bereits
darauf hingewiesen. Das Land hat einen jahrzehntelangen Bürgerkrieg hinter sich. 2005 gab es ein umfassendes Friedensabkommen. Im Januar 2011 gab es das Referendum über die Unabhängigkeit. Im Juli 2011 folgte
dann die Unabhängigkeit vom Sudan, die weitgehend
unblutig erreicht werden konnte. Nun steht das Land vor
einer neuen großen Herausforderung. Es steht vor der
Herausforderung, ein Staatswesen aufzubauen. Dabei
muss sich der Südsudan nicht nur vom Sudan mit seiner
Hauptstadt Khartoum abgrenzen. Die große Herausforderung besteht vielmehr darin, alle Gruppen und Ethnien
im Land einzubinden.
Trotz der großen Nähe zum Abgrund hat der Südsudan es in den letzten Jahren immer wieder geschafft
- manchmal erst im letzten Moment -, die Kurve zu bekommen. Aber das wäre ohne die große und wohlwollende Unterstützung - manchmal auch mit entsprechendem Druck - durch die Afrikanische Union und die
internationale Gemeinschaft nicht möglich gewesen.
Als ich im Südsudan war, hatte man ein paar Wochen
zuvor beschlossen, die Ölförderung einzustellen, weil
man sich mit dem Sudan, durch dessen Gebiet die Pipelines laufen, nicht über die Verteilung der Einnahmen einigen konnte. Dabei hat der Südsudan billigend in Kauf
genommen, auf etwa 98 Prozent seiner Staatseinnahmen
zu verzichten. Das hat natürlich auch uns bei unseren
Anstrengungen im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit zurückgeworfen.
Aufgrund großen diplomatischen Drucks und internationaler Anstrengungen wurde erreicht, dass sich beide
Länder wieder an einen Tisch setzten. Im September und
Oktober dieses Jahres gab es Besuche und Gegenbesuche der Präsidenten. Die Lage hat sich entspannt. Das Öl
fließt wieder. Wir erleben, dass das Land schon nach
kurzer Zeit wieder einen wirtschaftlichen Aufschwung
erfährt. Aber ohne Druck, ohne internationale Unterstützung und ohne das Engagement von UNMISS wäre dies
nicht erreicht worden.
UNMISS besteht aus einer zivilen Komponente
- Diplomatie und Entwicklungszusammenarbeit - und
einer militärischen Komponente, die angesichts der Si88
cherheitslage - auch zum Schutz der Zivilbevölkerung unerlässlich ist. Deutschland stellt von den insgesamt
rund 7 000 Soldaten gerade einmal 16. Es handelt sich
dabei um gut ausgebildete, hochprofessionelle Berufssoldaten mit hohen Dienstgraden, deren Aufgabe im Wesentlichen darin besteht, Soldaten mit hohen Dienstgraden in der südsudanesischen Armee zu beraten, ihnen zu
helfen, ihre Aufgaben zu erfüllen, und sie dabei zu unterstützen, Strukturen aufzubauen, die Armee zahlenmäßig
zu reduzieren und darauf zu achten, dass Menschenrechte und Gesetze innerhalb der Armee eingehalten
werden. UNMISS hat bei vielen negativen Vorfällen auf
Aufklärung gedrängt. Wohlgemerkt, wir stimmen heute
nur über den Einsatz von 16 Soldaten, also über einen
kleinen Teil von UNMISS, ab.
Unsere Strategie für den Südsudan und den Sudan
geht viel weiter. Wir haben im letzten Jahr über einen
zehnseitigen interfraktionellen Antrag abgestimmt, in
dem wir seitens des Parlaments unsere Südsudan- und
Sudanpolitik umfassend dargestellt haben. Ich wünsche
mir eines: dass wir dieser Region auch in dieser Legislaturperiode im Parlament einen so hohen Stellenwert einräumen. Das Land und die Menschen dort haben es verdient.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Antrag
der Bundesregierung zur Fortsetzung der Beteiligung be-
waffneter deutscher Streitkräfte an der von den Verein-
ten Nationen geführten Friedensmission im Südsudan.
Über den Antrag auf der Drucksache 18/71 stimmen wir
namentlich ab. Ich bitte alle Kolleginnen und Kollegen,
insbesondere die langjährigen Kolleginnen und Kolle-
gen, darauf zu achten, dass Sie die aktuellen Stimmkar-
ten, also die der 18. Legislaturperiode, verwenden und
dass diese Stimmkarten Ihren Namen tragen.
Können mir bitte die Schriftführerinnen und Schrift-
führer an den Urnen ein Signal geben, ob jeweils zwei
Schriftführerinnen und Schriftführer vorhanden sind? -
Das scheint der Fall zu sein. Dann eröffne ich hiermit die
Abstimmung.1)
Gibt es noch Kolleginnen und Kollegen, die im Saal
anwesend sind, aber ihre Stimmkarte nicht abgegeben
haben? - Nachdem die letzte Kollegin gerade ihre
Stimmkarte abgegeben hat, schließe ich hiermit die Ab-
stimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schrift-
führer, mit der Auszählung zu beginnen. Wir geben das
Ergebnis der Abstimmung im Laufe des nächsten Tages-
ordnungspunktes bekannt.2)
Ich möchte Sie bitten, wieder Platz zu nehmen, damit
wir in unserer Tagesordnung fortfahren können. - Ich
bitte noch einmal darum, wieder Platz zu nehmen. Wir
1) Erklärung zur Abstimmung nach § 31 GO BT siehe Anlage 2
2) Ergebnis Seite 90 D
hatten uns gerade darauf verständigt, dass die Beratungen des Deutschen Bundestages in der Regel im Sitzen
stattfinden, während die Redner üblicherweise am Rednerpult stehen dürfen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Gesetzes über Finanzhilfen des Bundes zum
Ausbau der Tagesbetreuung für Kinder und
zur Änderung des Kinderbetreuungsfinanzierungsgesetzes
- Drucksache 18/69 Auch hier sind nach einer interfraktionellen Vereinbarung 38 Minuten für die Aussprache vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Also können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Dagmar Ziegler für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der Kitaausbau in unserem Land ist in vollem
Gange. Hunderttausende von zusätzlichen Plätzen in
Kindertageseinrichtungen und in der Kindertagespflege
haben Länder, Gemeinden und Träger in den vergangenen Jahren geschaffen.
Ermöglicht wurde dies durch einen nationalen Kraftakt und durch das Engagement des Bundes. Denn es war
der Bund, der in der letzten Großen Koalition zum Krippengipfel eingeladen hatte, Bundesmittel zur Verfügung
gestellt hat und mit dem Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz den Takt für den Ausbau von Bildung und Betreuung vorgab.
({0})
Wir müssen heute feststellen: Das Konzept ist aufgegangen. Der Rechtsanspruch ist am 1. August 2013 in
Kraft getreten. Aber trotz all dieser Anstrengungen von
Ländern, Kommunen und Trägern drohen Kitamittel
jetzt zu verfallen; denn ein großer Teil dieser Mittel kann
nicht mehr fristgerecht abgerufen werden, was ganz verschiedene Gründe hat: Es gibt den Bankrott von Bauunternehmen, es gibt Planungsunsicherheiten; auch die
Flutkatastrophe im Mai und Juni hat einiges dazu beigetragen.
Das Land Nordrhein-Westfalen hat die Initiative ergriffen, einen Gesetzesantrag zur Verlängerung der Fristen entwickelt und in den Bundesrat eingebracht. Dieser
Gesetzesantrag hat dort eine große Mehrheit erhalten.
Der entsprechende Gesetzentwurf des Bundesrates liegt
uns heute zur Abstimmung vor, und wir werben für die
Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf. Die Fristverlängerungen müssen vorgenommen werden.
Das betrifft zum einen das Investitionsprogramm
2008 bis 2013. Dabei geht es um die Verlängerung der
Abrufungsfristen um ein Jahr. Den Ländern soll es ermöglicht werden, die Mittel nicht nur bis zum 31. Dezember dieses Jahres, sondern bis zum 31. Dezember
2014 abzurufen. Es geht zum anderen um das Investitionsprogramm 2013/2014. Es wird die Verlängerung
der Frist bis zum 30. Juni 2016 verlangt. Das begrüßen
wir. Das Geld soll nicht verfallen. Es soll auch nicht zur
Haushaltskonsolidierung beitragen. Die neuen Fristen
sind auch so geplant, dass der Druck nicht nachlässt, was
den Kitaausbau angeht, und dass die Verantwortlichen in
Ländern und Kommunen weiterhin konzentriert am
Kitaausbau arbeiten müssen.
Der Ausbau ist noch lange nicht abgeschlossen; das
wissen wir. Alle Expertinnen und Experten sind sich einig, dass die Nachfrage nach Kitaplätzen weiter zunehmen wird. Meine Fraktion wird deshalb dem Gesetzentwurf des Bundesrates heute zustimmen, und ich werbe
auch bei allen anderen Fraktionen um diese Zustimmung.
Ich weiß, dass uns allen der Kitaausbau am Herzen
liegt. In der Tat ist der Kitaausbau die einzige familienpolitische Leistung, der die Gesamtevaluation der eheund familienbezogenen Leistungen durchweg ein exzellentes Zeugnis ausstellt.
({1})
Der Kitaausbau ist wichtig für bessere Bildungschancen
und Integration, er ist wichtig für Vereinbarkeit von Beruf und Familie sowie für Gleichstellung, und er ist ein
wirkungsvolles Mittel gegen Kinder- und Familienarmut. Ich betone ganz ausdrücklich: für Familien, die
einen Betreuungsplatz in Anspruch nehmen wollen.
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben deshalb mit CDU und CSU im Koalitionsvertrag
vereinbart, den Kitaausbau weiter zu befördern. Natürlich steht das unter dem Vorbehalt, dass unsere Mitglieder dem Koalitionsvertrag zustimmen. In dieser Legislaturperiode soll die Verbesserung der Qualität von Kitas
und Kindertagespflege ganz oben auf der Tagesordnung
stehen. Wir wollen Fragen der Personalausstattung, der
Qualifikation und Weiterbildung der Fachkräfte sowie
Fragen des Fachkräfteangebots und der Sprachbildung
regeln.
Damit die Länder gemeinsam mit den Kommunen
den weiteren Ausbau bewältigen können, wird der Bund
den Ländern in dieser Legislaturperiode 6 Milliarden
Euro für den weiteren Ausbau im Bereich Bildung zur
Verfügung stellen. Dabei geht es um Verbesserungen bei
Kitas, Schulen und Hochschulen. Ich bin davon überzeugt, dass die Fristverlängerungen kein Thema für eine
größere politische Auseinandersetzung hier im Hohen
Hause sein können.
Vielen Dank.
({2})
Für die Bundesregierung erteile ich der Bundesfamilienministerin Kristina Schröder das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! In wenigen Wochen enden die Fristen zum Abruf der
Finanzierungshilfen des Bundes aus dem ersten Investitionsprogramm „Kinderbetreuungsfinanzierung“. Nach
wie vor sind nicht alle Mittel abgerufen, und die meisten
Länder haben signalisiert, dass sie es nicht schaffen werden, die Mittel bis zum Ende der Fristen komplett abzurufen.
Deshalb beraten wir heute einen Gesetzentwurf zur
Änderung des Kinderbetreuungsfinanzierungsgesetzes.
Es geht darum, dass die vom Bund bereitgestellten Mittel aus beiden Investitionsprogrammen länger als bisher
vorgesehen für den Bau von Kitas zur Verfügung stehen
und die Kommunen dadurch mehr Zeit bekommen, um
die vom Bund geförderten Kitas fertigzustellen. Ich bitte
Sie um Unterstützung für dieses Anliegen.
({0})
Sie wissen, dass ich in den letzten Jahren immer wieder zu Konflikten mit den Ländern bereit war, um Druck
zu machen, damit wir pünktlich zum 1. August dieses
Jahres den Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz erfüllen
können. Dieser Druck war auch nötig; denn wir alle hatten die Sorge, ob es gelingen wird, den Rechtsanspruch
zum 1. August zu erfüllen. In so mancher Rede wie auch
in den Medien wurden sogar Katastrophenszenarien über
das Scheitern der Erfüllung des Rechtsanspruchs heraufbeschworen.
Aber der Druck hat sich gelohnt, liebe Kolleginnen
und Kollegen. Die befürchtete Klagewelle ist ausgeblieben. Eltern, die sich einen Kitaplatz oder einen Platz bei
einer Tagesmutter für ihr Kind wünschen, bekommen in
aller Regel einen Platz angeboten, auch wenn es nach
wie vor Unterschiede von Kommune zu Kommune,
manchmal sogar von Stadtteil zu Stadtteil gibt. Nach
dem erfolgreichen Inkrafttreten des Rechtsanspruchs
sind wir jetzt in der glücklichen Lage, den Ländern hinsichtlich der noch nicht abgerufenen Mittel etwas mehr
Spielraum einzuräumen. Das ist im Sinne der Familien,
die nicht irgendwo irgendwelche Betreuungsplätze brauchen, sondern gute Betreuungsplätze in ihrer Nähe.
In den letzten Jahren habe ich in Deutschland unzählige Kitas besucht, um mir ein Bild zu machen. Natürlich
habe ich mitbekommen, welche Probleme es beim Ausbau gibt. Zum Beispiel hat der Marburger Bürgermeister
- er ist übrigens von den Grünen - mir berichtet, dass bei
ihnen eine tolle neue Kita gebaut wird, und zwar in moderner Bauweise mit sehr viel Holz, aber dass durch die
lang anhaltenden Regenfälle im Sommer die Trocknungszeit außergewöhnlich lange war, viel länger als
eingeplant. Natürlich hätte man stur nach Zeitplan weitermachen können, aber dann hätte die Gefahr bestanden, dass man die Kita in zwei Jahren wieder dichtmachen muss, um die Mängel zu beseitigen.
Das ist noch einer der harmloseren Fälle. In anderen
Städten hat die Flutkatastrophe dieses Sommers Bauvorhaben um viele Monate zurückgeworfen. Es mussten
über Wochen Wasserschäden beseitigt werden, bevor
überhaupt weitergebaut werden konnte. Ich finde, es ist
eine Selbstverständlichkeit, dass wir den Kommunen in
dieser Situation helfen und für die Länder die Fristen für
die Abrufung der Mittel verlängern.
({1})
Meine Damen und Herren, der Bund hat die Länder
und die Kommunen in den letzten Jahren mit allen verfügbaren Kräften und Mitteln beim Ausbau der Kinderbetreuung unterstützt. Wir geben insgesamt 5,4 Milliarden
Euro für den Ausbau der Kinderbetreuung. Gemeinsam
mit der KfW haben wir ein zusätzliches Förderprogramm mit einem Kreditvolumen von 550 Millionen
Euro aufgelegt, durch das bis heute 27 000 zusätzliche
Kitaplätze entstanden sind. Wo es Ausbauhemmnisse
gab, haben wir geholfen, diese zu beseitigen, nämlich
mit dem 10-Punkte-Programm, das ich im Mai 2012 vorgelegt habe.
Es war ja keine Selbstverständlichkeit, dass der
Rechtsanspruch, so wie er 2007 konzipiert wurde, am
Ende auch funktionieren würde. Da gab es manches
nachzuarbeiten, zum Beispiel beim Controlling, zum
Beispiel beim Nachweis, dass die Länder auch wirklich
eigene Gelder in die Hand genommen haben. Auch die
Verpflichtung der Länder, regelmäßig und zeitnah über
die Zahl der neugeschaffenen Plätze Bericht zu erstatten,
war 2007 nicht vorgesehen. Da mussten wir nacharbeiten.
Wir haben die Länder über Jahre mit so viel Geld und
Aufwand unterstützt wegen der hohen Bedeutung eines
guten Kinderbetreuungsangebots: für die Vereinbarkeit
von Familie und Beruf, für die Zukunftsperspektiven
von Kindern gerade aus bildungsfernen Familien und für
die Zukunftsfähigkeit unseres Landes. Genau aus diesen
Gründen werden wir jetzt die Kommunen bei ihren Umsetzungsproblemen nicht im Stich lassen.
({2})
Aber auch Bund und Länder dürfen sich nicht auf
dem bisher Erreichten ausruhen. Ja, es ist unser großer
gemeinsamer Erfolg, dass die Zahl der Kitaplätze für unter Dreijährige auf 800 000 gestiegen ist. Ja, es ist unser
gemeinsamer Erfolg, dass es einen Rechtsanspruch gibt,
auf den Eltern seit dem 1. August zählen können. Das alles ist ein großer Erfolg für die Vereinbarkeit von Beruf
und Familie und für berufliche Chancen von Eltern, insbesondere von Frauen.
Bei allen Anstrengungen für den Kitaausbau dürfen
wir unseren wichtigsten Maßstab aber nicht aus den Augen verlieren: das Wohlergehen der Kinder. Für das
Wohlergehen der Kinder, die in Kitas betreut werden,
zählt nur eines, nämlich die Qualität. Dafür braucht es
Geld. Der Bund unterstützt die Länder und Kommunen
bei der Verbesserung der Qualität mit rund 3 Milliarden
Euro. Ab 2015 werden es jährlich 845 Millionen Euro
sein.
Außerdem braucht es gut qualifizierte Erzieherinnen
und Erzieher, die dafür auch angemessen bezahlt werden. Natürlich hat der Bund da immer leicht reden; denn
das ist Aufgabe der Kommunen. Wir können aber mit
gutem Beispiel vorangehen, beispielsweise mit unseren
Bundesprogrammen. Bei der „Offensive Frühe Chancen“ bezahlen wir die Fachkräfte deutlich besser, um zu
zeigen, welchen Wert diese Arbeit hat und welche angemessene Bezahlung sie verdient.
({3})
Nicht zuletzt braucht es in ganz Deutschland gleichwertige Qualitätsstandards. Mit dem Rechtsgutachten,
das ich in diesem Zusammenhang auf den Weg gebracht
habe, haben wir bereits in diese Richtung vorgearbeitet.
In jedem Fall wird die Frage der Qualität der Kinderbetreuung in den nächsten Jahren im Mittelpunkt stehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese entsprechenden Maßnahmen umzusetzen, wird nicht mehr in meiner
Verantwortung liegen. Diese Rede heute ist voraussichtlich meine letzte Rede als Bundesfamilienministerin im
Deutschen Bundestag. Rückblickend kann ich sagen:
Die vielleicht größte Herausforderung dieses Amtes bestand darin, sicherzustellen, dass Familienpolitik keine
abgeleitete Arbeitsmarktpolitik ist, sondern dass es darauf ankommt, Familienpolitik an den Bedürfnissen und
Wünschen von Familien und nicht an den Erfordernissen
des Arbeitsmarktes zu orientieren.
({4})
Dabei wünsche ich meiner Nachfolgerin oder meinem
Nachfolger eine glückliche Hand.
({5})
Ich möchte Ihnen das von den Schriftführerinnen und
Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen
Abstimmung über den Antrag der Bundesregierung zur
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher
Streitkräfte an der Friedensmission im Südsudan mitteilen: abgegebene Stimmen 603. Mit Ja haben gestimmt
541, mit Nein haben gestimmt 60. Zwei Kolleginnen
oder Kollegen haben sich der Stimme enthalten. Damit
ist der Antrag angenommen, und damit hat der Bundestag seine Zustimmung zur Fortsetzung dieser Mission erteilt.
Präsident Dr. Norbert Lammert
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 602;
davon
ja: 540
nein: 60
enthalten: 2
Ja
CDU/CSU
Stephan Albani
Katrin Albsteiger
Artur Auernhammer
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Maik Beermann
Manfred Behrens ({0})
Veronika Bellmann
Sybille Benning
Dr. Andre Berghegger
Dr. Christoph Bergner
Ute Bertram
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexandra Dinges-Dierig
Alexander Dobrindt
Michael Donth
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Hansjörg Durz
Jutta Eckenbach
Dr. Bernd Fabritius
Hermann Färber
Uwe Feiler
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer ({1})
Axel E. Fischer ({2})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Thorsten Frei
Dr. Astrid Freudenstein
Dr. Hans-Peter Friedrich
({3})
Michael Frieser
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Peter Gauweiler
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Cemile Giousouf
Ursula Groden-Kranich
Hermann Gröhe
Klaus-Dieter Gröhler
Astrid Grotelüschen
Manfred Grund
Oliver Grundmann
Monika Grütters
Dr. Herlind Gundelach
Fritz Güntzler
Christian Haase
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Matthias Hauer
Mark Hauptmann
Dr. Stefan Heck
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich ({4})
Mark Helfrich
Jörg Hellmuth
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Dr. Heribert Hirte
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Alexander Hoffmann
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Dr. Hendrik Hoppenstedt
Margaret Horb
Bettina Hornhues
Charles M. Huber
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Erich Irlstorfer
Thomas Jarzombek
Sylvia Jörrißen
Dr. Franz Josef Jung
Xaver Jung
Andreas Jung ({5})
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Steffen Kanitz
Alois Karl
Anja Karliczek
Bernhard Kaster
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Dr. Georg Kippels
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Markus Koob
Carsten Körber
Kordula Kovac
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Dr. Roy Kühne
Günter Lach
Uwe Lagosky
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Barbara Lanzinger
Dr. Silke Launert
Dr. Katja Leikert
Dr. Andreas Lenz
Philipp Graf Lerchenfeld
Antje Lezius
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Andrea Lindholz
Patricia Lips
Wilfried Lorenz
Dr. Claudia Lücking-Michel
Dr. Jan-Marco Luczak
Karin Maag
Yvonne Magwas
Thomas Mahlberg
Gisela Manderla
Matern von Marschall
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Reiner Meier
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Jan Metzler
Maria Michalk
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Karsten Möring
Marlene Mortler
Elisabeth Motschmann
Dr. Gerd Müller
Carsten Müller
({6})
Stefan Müller ({7})
Dr. Philipp Murmann
Dr. Andreas Nick
Michaela Noll
Helmut Nowak
Wilfried Oellers
Florian Oßner
Dr. Tim Ostermann
Henning Otte
Ingrid Pahlmann
Sylvia Pantel
Dr. Martin Pätzold
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Ronald Pofalla
Eckhard Pols
Kerstin Radomski
Alexander Radwan
Alois Rainer
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({8})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({9})
Anita Schäfer ({10})
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Jana Schimke
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Heiko Schmelzle
Christian Schmidt ({11})
Gabriele Schmidt ({12})
Patrick Schnieder
Nadine Schön ({13})
Dr. Kristina Schröder
({14})
Bernhard Schulte-Drüggelte
Dr. Klaus-Peter Schulze
Uwe Schummer
Armin Schuster ({15})
Christina Schwarzer
Detlef Seif
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Johannes Singhammer
Tino Sorge
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Dr. Wolfgang Stefinger
Albert Stegemann
Peter Stein
Erika Steinbach
Sebastian Steineke
Johannes Steiniger
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Rita Stockhofe
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Präsident Dr. Norbert Lammert
Matthäus Strebl
Karin Strenz
Thomas Stritzl
Thomas Strobl ({16})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Sabine Sütterlin-Waack
Dr. Peter Tauber
Astrid Timmermann-Fechter
Dr. Volker Ullrich
Arnold Vaatz
Oswin Veith
Thomas Viesehon
Michael Vietz
Volkmar Vogel ({17})
Sven Volmering
Christel Voßbeck-Kayser
Kees de Vries
Marco Wanderwitz
Nina Warken
Kai Wegner
Albert Weiler
Marcus Weinberg ({18})
Dr. Anja Weisgerber
Peter Weiß ({19})
Sabine Weiss ({20})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Marian Wendt
Kai Whittaker
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese ({21})
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Oliver Wittke
Dagmar G. Wöhrl
Barbara Woltmann
Tobias Zech
Heinrich Zertik
Emmi Zeulner
SPD
Niels Annen
Rainer Arnold
Heike Baehrens
Ulrike Bahr
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Katarina Barley
Doris Barnett
Klaus Barthel
Dr. Matthias Bartke
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({22})
Burkhard Blienert
Willi Brase
Dr. Karl-Heinz Brunner
Dr. Lars Castellucci
Bernhard Daldrup
Dr. Daniela De Ridder
Dr. Karamba Diaby
Sabine Dittmar
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Siegmund Ehrmann
Michaela Engelmeier-Heite
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Saskia Esken
Karin Evers-Meyer
Dr. Johannes Fechner
Dr. Fritz Felgentreu
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Ulrich Freese
Dagmar Freitag
Sigmar Gabriel
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Ulrike Gottschalck
Michael Groß
Uli Grötsch
Bettina Hagedorn
Rita Hagl-Kehl
Metin Hakverdi
Ulrich Hampel
Sebastian Hartmann
Michael Hartmann
({23})
Dirk Heidenblut
Hubertus Heil ({24})
Gabriela Heinrich
Marcus Held
Wolfgang Hellmich
Dr. Barbara Hendricks
Heidtrud Henn
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Thomas Hitschler
Dr. Eva Högl
Matthias Ilgen
Christina Jantz
Reinhold Jost
Frank Junge
Josip Juratovic
Thomas Jurk
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Christina Kampmann
Ralf Kapschack
Gabriele Katzmarek
Ulrich Kelber
Marina Kermer
Cansel Kiziltepe
Arno Klare
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({25})
Birgit Kömpel
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Christine Lambrecht
Christian Lange ({26})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Hiltrud Lotze
Kirsten Lühmann
Dr. Birgit Malecha-Nissen
Katja Mast
Hilde Mattheis
Klaus Mindrup
Susanne Mittag
Bettina Müller
Michelle Müntefering
Andrea Nahles
Dietmar Nietan
Ulli Nissen
Mahmut Özdemir ({27})
Aydan Özoğuz
Markus Paschke
Jeannine Pflugradt
Detlev Pilger
Sabine Poschmann
Florian Post
Achim Post ({28})
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Simone Raatz
Martin Rabanus
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Andreas Rimkus
Sönke Rix
Dennis Rohde
Dr. Martin Rosemann
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({29})
Susann Rüthrich
Bernd Rützel
Johann Saathoff
Annette Sawade
Dr. Hans-Joachim
Schabedoth
Axel Schäfer ({30})
Dr. Nina Scheer
Marianne Schieder
({31})
Udo Schiefner
Ulla Schmidt ({32})
Matthias Schmidt ({33})
Dagmar Schmidt ({34})
Carsten Schneider ({35})
Ursula Schulte
Swen Schulz ({36})
Ewald Schurer
Stefan Schwartze
Andreas Schwarz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Rainer Spiering
Norbert Spinrath
Svenja Stadler
Martina Stamm-Fibich
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Kerstin Tack
Claudia Tausend
Michael Thews
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Carsten Träger
Rüdiger Veit
Dirk Vöpel
Ute Vogt
Gabi Weber
Bernd Westphal
Andrea Wicklein
Dirk Wiese
Gülistan Yüksel
Stefan Zierke
Dr. Jens Zimmermann
Brigitte Zypries
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Luise Amtsberg
Annalena Baerbock
Marieluise Beck ({37})
Volker Beck ({38})
Ekin Deligöz
Katharina Dröge
Dr. Thomas Gambke
Matthias Gastel
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Anja Hajduk
Dr. Anton Hofreiter
Dieter Janecek
Katja Keul
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Tom Koenigs
Oliver Krischer
Stephan Kühn ({39})
Christian Kühn ({40})
Renate Künast
Monika Lazar
Steffi Lemke
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Irene Mihalic
Özcan Mutlu
Präsident Dr. Norbert Lammert
Dr. Konstantin von Notz
Cem Özdemir
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({41})
Corinna Rüffer
Elisabeth Scharfenberg
Ulle Schauws
Dr. Frithjof Schmidt
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Doris Wagner
Beate Walter-Rosenheimer
Dr. Valerie Wilms
Nein
DIE LINKE
Dr. Dietmar Bartsch
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Annette Groth
Dr. Gregor Gysi
Dr. Andre Hahn
Dr. Rosemarie Hein
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Susanna Karawanskij
Kerstin Kassner
Katja Kipping
Jan Korte
Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig
Stefan Liebich
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Cornelia Möhring
Niema Movassat
Thomas Nord
Harald Petzold ({42})
Martina Renner
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Dr. Kirsten Tackmann
Azize Tank
Frank Tempel
Kathrin Vogler
Dr. Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Birgit Wöllert
Jörn Wunderlich
Hubertus Zdebel
Sabine Zimmermann
({43})
Enthalten
SPD
Dr. Ute Finckh-Krämer
Petra Hinz ({44})
({45})
Ich erteile das Wort nun der Kollegin Diana Golze für
die Fraktion Die Linke.
({46})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Alles hat sein Gutes, sogar lang andauernde Koalitionsverhandlungen. Auch wenn sie den
Nachteil haben, dass das Parlament, um es einmal diplomatisch auszudrücken, nur sporadisch arbeiten darf, so
haben sie doch den Vorteil, dass eine geschäftsführende
Ministerin heute zu einem Thema Rede und Antwort stehen muss, bei dem es um die Fehler geht, die in der Vergangenheit beim Kitaausbau gemacht wurden.
Die Fehler, die durch den Gesetzentwurf des Bundesrates nun zum Teil ausgebügelt werden sollen, liegen
hauptsächlich bei den beiden jüngsten Bundesregierungen. Die Fristverschiebung bezüglich der Finanzhilfen
des Bundes ist natürlich der Kern dieses Gesetzentwurfes. Diese Fristverschiebung ist vor allem für die Kommunen wichtig, damit die Mittel länger abrufbar bleiben
und die Bauvorhaben zu Ende geführt werden können.
Doch geht es bei diesem Thema um mehr als nur um
diese Fristverschiebung. Es geht vielmehr um die Darstellung einer Politik des Ignorierens, des Wegduckens
und des Herausstehlens aus der Verantwortung des Bundes.
({0})
Schließlich war es der Bund, der es 2008 bei der Einrichtung des Sondervermögens zum Kitaausbau versäumt hat, verbindliche Berichtspflichten über die Verwendung der Mittel in die Vereinbarung aufzunehmen.
Nun wird dies als Hauptgrund für die noch fehlenden Kitaplätze genannt. Fakt ist: Der Bund hat nicht nur diese
Kontrollpflicht viel zu lange nicht wahrgenommen, sondern hat sich auch aus der Verantwortung gegenüber den
Kommunen gestohlen, die für die Kitabauten in der Tat
in Vorleistung getreten sind und dann den Rückzahlungen der Mittel teilweise über Jahre hinweg hinterherlaufen mussten.
Es war ebenfalls der Bund, der den Betreuungsbedarf
quasi freihändig bei 35 Prozent festgeschrieben hat. Man
ging also davon aus, dass nur gut ein Drittel der Eltern
einen vorhandenen Kitaplatz für ihre Kinder auch tatsächlich in Anspruch nehmen würde. Aber schon damals
gab es Erhebungen, die davon ausgingen - sie waren
auch glaubwürdig -, dass der Bedarf wesentlich höher
liegen wird.
Es war ebenfalls der Bund, der den Widerspruch zwischen diesem festgeschriebenen Ausbauziel und dem beschlossenen Rechtsanspruch völlig ignoriert hat. Denn
wenn man einen festgeschriebenen Rechtsanspruch hat,
kann ein Ausbauziel doch nur eine Orientierung sein.
Aber nein, über Jahre hinweg haben die beiden Ministerinnen, die dafür zuständig waren, dieses Ausbauziel wie
ein Naturgesetz vor sich hergetragen und waren nicht bereit und willens, hier nachzusteuern und zusätzliches
Geld zu investieren. All dies kam zu spät. Auch das Ausbauziel ist nur minimal auf 38 Prozent korrigiert worden.
Fatal ist dabei: Es sind die Länder und vor allem die
Kommunen, die mit den Folgen alleingelassen wurden.
Ebenfalls alleingelassen wurden die Handelnden vor
Ort im Hinblick auf den Mangel an Fachkräften. Dass
Sie uns Linken nicht zugehört haben, mag die Macht der
Gewohnheit sein. Aber auch die zuständige Gewerk94
schaft Erziehung und Wissenschaft hat wieder und wieder gesagt: Wir brauchen zusätzliches Personal; es muss
investiert werden. Bund, Länder und Kommunen müssen gemeinsam die Verantwortung für die Fachkräfte tragen. - Angesichts dessen frage ich mich: Warum ist dieser Ruf ignoriert worden?
Frau geschäftsführende Ministerin Schröder, Sie sagen, dass über das Bundesprogramm „Offensive Frühe
Chancen“ die Fachkräfte besser bezahlt werden. Sie dürfen aber nicht verschweigen, dass es sich dabei nur um
halbe Stellen handelt, die von den Kommunen mit Stunden aufgestockt werden müssen, damit die betroffenen
Menschen überhaupt davon leben können. Es nützt
nichts, wenn man halbe Stellen gut finanziert. Denn es
handelt sich hier in erster Linie um Frauen, die ihre Familien ernähren müssen und die von halben Stellen nicht
leben können.
({1})
Die Liste der Versäumnisse seitens des Bundes ist
lang. Die fehlende Debatte um Qualität war auch dem
Umstand geschuldet, dass im Bundesgesetz keine Mindeststandards festgeschrieben worden sind. Die nach wie
vor vorhandene Ungleichheit zwischen Kitas und Kindertagespflege hat ihre Ursachen auch darin, dass man
nicht über bessere Arbeitsbedingungen und Verdienstmöglichkeiten reden wollte. Dann darf man sich nicht
darüber wundern, dass es nach wie vor nicht genügend
Tagespflegepersonen gibt.
Nun schlägt der Bundesrat ein weiteres Mal die Korrektur eines Gesetzes der letzten Bundesregierung vor,
das den Realitätstest nicht bestanden hat. Ich fürchte, das
wird in Zukunft öfter der Fall sein. Ich fürchte es auch
deshalb, weil ich mir angeschaut habe, was alles in der
Nacht der langen Messer aus dem Entwurf des Koalitionsvertrages gestrichen worden ist.
({2})
Die Kinder sind die Opfer dieser Nacht gewesen. Die angedachten Verbesserungen beim BAföG, das Ganztagsschulprogramm, das Qualitätsgesetz für Kitas, das Thema
Kinderarmut, all das kommt nicht mit einem Wort vor.
Kindergeld und Kinderzuschlag werden nicht erwähnt.
Es gibt keine Verbesserungen beim Bildungs- und Teilhabepaket, keine Einbeziehung der Leistungen für Kinder mit Behinderungen in die Jugendhilfe. Diese Liste
ließe sich fortsetzen. Hier ist noch einiges zu tun, vor allem für die Opposition.
Vielen Dank.
({3})
Caren Marks hat nun das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen
und Herren! Lassen Sie mich noch einmal kurz in Erinnerung rufen: Im Dezember des Jahres 2008 hat die
letzte Große Koalition ein wirklich wichtiges Gesetz für
eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, für
mehr Chancengleichheit und für eine bessere frühkindliche Bildung und Betreuung auf den Weg gebracht: das
Kinderförderungsgesetz, vielen unter KiföG bekannt.
({0})
In diesem Gesetz ist auch der Rechtsanspruch verankert, dass Eltern für ihre Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr einen Anspruch auf einen Bildungs- und
Betreuungsplatz in einer Krippe oder bei einer Tagespflegeperson haben. Wir alle wissen: Das war ein großer
Schritt; denn wir hatten, was diesen Punkt angeht, im
Vergleich zu den meisten europäischen Nachbarländern
einen riesigen Nachholbedarf. Es war auch eine große
Kraftanstrengung. Seit dem 1. August dieses Jahres gilt
dieser Rechtsanspruch, und zwar ohne Wenn und Aber.
Das ist wirklich gut, richtig und notwendig.
({1})
Der Bund hat einige Milliarden Euro in die Hand genommen, sowohl für die Investitionskosten, also bauliche Maßnahmen, als auch - das will ich in diesem
Zusammenhang noch einmal erwähnen - für die Betriebskosten, hinter denen sich in erster Linie die Personalkosten verbergen. Das heißt, hinter der Höhe der Betriebskosten verbirgt sich die Qualität.
Die Mittel aus beiden Investitionsprogrammen sind
überwiegend bewilligt und abgeflossen. Ich denke, es
sollte unser gemeinsames Ziel sein, dass diese zum Aufbau einer besseren frühkindlichen Bildung und Betreuung, für mehr Chancengerechtigkeit und für eine bessere
Vereinbarkeit von Familie und Beruf verabredeten Mittel
auch weiterhin diesem Zweck zugutekommen und nicht
irgendeiner Frist anheimfallen.
({2})
Darum begrüßen wir als SPD-Bundestagsfraktion
ausdrücklich die Bundesratsinitiative bezüglich der
Fristverlängerung. Es wurden schon einige gut nachvollziehbare Gründe genannt, warum es zu Verzögerungen
beim Mittelabruf kam. Es ist gut, wenn wir heute im
Deutschen Bundestag dafür Sorge tragen, dass die erforderliche Verlängerung ermöglicht wird. Zu Recht hat der
Bundesrat - auch das will ich an dieser Stelle noch einmal deutlich betonen - auf die Eilbedürftigkeit dieses
Gesetzentwurfes hingewiesen. Wir finden es nicht nur
gut, sondern auch notwendig, dass dieser Gesetzentwurf,
der von uns heute im Bundestag verabschiedet wird, die
noch im November stattfindende Bundesratssitzung erreicht und somit auf einen guten Weg gebracht werden
kann, auf einen guten Weg im Sinne der Kinder und der
Eltern in unserem Land.
Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich einen riesengroßen Dank an die Länder und an die Kommunen richten; denn es war eine gemeinsame, große KraftanstrenCaren Marks
gung von Bund, Ländern und Kommunen. Wenn auch
noch nicht alles perfekt ist: Beim Thema „frühkindliche
Bildung und Betreuung“ ist doch vieles gelungen. Das
hat auch etwas mit dem großen Engagement von Landespolitikerinnen und -politikern und Kommunalpolitikerinnen und -politikern zu tun. Herzlichen Dank dafür!
({3})
Bedanken möchte ich mich aber auch bei den vielen
engagierten Erzieherinnen und Erziehern und Tagespflegepersonen. Ich finde, auch ihre Leistung kann bei
diesem Tagesordnungspunkt in diesem Hohen Haus gewürdigt werden; denn auch sie haben eine große Kraftanstrengung unternommen.
({4})
Wir haben noch einiges vor uns, nicht nur was den
Ausbau angeht, sondern vor allem auch was die Qualitätsoffensive angeht. Für diese Legislaturperiode haben
wir uns gemeinsam mit den Ländern und Kommunen
viel vorgenommen. Der Bund wird seiner Pflicht gerecht
und nimmt 6 Milliarden Euro für eine Qualitätsoffensive
in Kitas, Schulen und Hochschulen in die Hand. Ich
denke, das ist das richtige Signal für die Familien und
die Kinder in unserem Land und auch das richtige Unterstützungssignal für die Länder und Kommunen. Herzlichen Dank dafür!
({5})
Das Wort erhält nun die Kollegin Katja Dörner, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf werden Fristen verlängert, damit die Kommunen
die Mittel aus dem Bundesprogramm für den U-3-Ausbau vollständig abrufen können. Damit werden schwarzgelbe Fehler der Vergangenheit korrigiert. Wir Grüne
wollen den zügigen Kitaausbau, und deshalb ist es für
uns selbstverständlich, dass wir diesem Gesetzentwurf
zustimmen werden.
({0})
Genügend Kitaplätze, Ganztagsbetreuungsplätze und
nicht zuletzt eine gute Qualität der Angebote in den Kitas - eine moderne Gesellschaft muss genau das leisten.
Das in Deutschland hinzubekommen, ist weiterhin eine
Zukunftsaufgabe, und das ganz klar auch für den Bund.
Gute Kitas, in die Eltern ihre Kinder gerne geben - dafür
leisten die Erzieherinnen und Erzieher in Deutschland
schon heute Großartiges. Aber wir sind eben bestenfalls
auf halbem Wege. Wir entsprechen den Wünschen und
den Bedürfnissen der Eltern noch lange nicht. Bessere
Kitas stehen ganz oben auf der Wunschliste der Eltern,
und da ist der Bund in der Pflicht.
({1})
Ein Blick in den Koalitionsvertrag verrät: Vor diesem
großen Handlungsbedarf verschließt die Große Koalition
in spe komplett die Augen. Das nenne ich Arbeitsverweigerung, liebe Kolleginnen und Kollegen von Union
und SPD. Wenn man sich den Koalitionsvertrag der absehbaren Großen Koalition anschaut, dann sieht man:
Eventuell, aber auch nur eventuell, soll es zusätzliche
Mittel für Investitionen in U-3-Plätze geben, nämlich
nur dann, wenn der Bedarf weiter steigt. Ich möchte an
dieser Stelle darauf hinweisen: Schon heute liegt der Bedarf weit über dem, was der Bund anteilig mitfinanziert.
Zum Ausbau der Ganztagsbetreuung finden wir im Vertrag kein einziges Wort. Ich möchte darauf hinweisen,
dass der Ausbau der Ganztagsbetreuung ein ganz großes
Versprechen der SPD im Wahlkampf war.
Richtig wundert man sich, wenn man sich den Passus
zu den Qualitätsstandards auf Bundesebene anschaut;
alle Vorrednerinnen haben schon darauf Bezug genommen. Diese Passage im Vertrag ist ein reines Placebo,
weil mehr Qualität in den Kitas nicht zum Nulltarif zu
haben ist.
({2})
Geld für die Erfüllung der Qualitätsstandards soll es aber
nicht geben. Ob die schönen Worte zur Qualität in den
Kitas also einfach nur Lyrik bleiben oder die Kosten
dann einfach zu den Ländern und Kommunen verschoben werden, bleibt abzuwarten. Ich finde das völlig inakzeptabel, liebe Kolleginnen und Kollegen; es ist ein Armutszeugnis für die drei Parteien, die im Wahlkampf
beim Thema Kitaausbau den Hafen ganz schön weit aufgerissen haben.
({3})
Man muss auch die Sorge haben - auch darauf
möchte ich hinweisen -, dass selbst das gute und wichtige Sprachbildungsprogramm offensichtlich abgewickelt werden soll. Anders als bei anderen vergleichbaren
Programmen des Familienministeriums fehlt nämlich im
Koalitionsvertrag die klare Aussage, dass es fortgesetzt
wird, und es fehlt die konkrete Finanzierungszusage
über 2014 hinaus. Ich finde, das ist ein echtes Drama,
liebe Kolleginnen und Kollegen. Jeder weiß, wie wichtig
gute Sprachbildung ist. Dass das Programm „Offensive
Frühe Chancen: Schwerpunkt-Kitas Sprache & Integration“ en passant versenkt wird, macht mich richtig sauer.
({4})
Klar ist: Die Große Koalition hat offensichtlich nicht
vor, in die Zukunft zu investieren. Es ist mehr als mickrig, was Union und SPD für Kitas tun wollen. Im Koalitionsvertrag steht kein Wort zur besseren materiellen
Absicherung von Familien und zur Bekämpfung von
Kinderarmut, zudem gibt es im Hinblick auf die Kitas
bestenfalls Placebos. Das ist völlig inakzeptabel, liebe
Kolleginnen und Kollegen. Da kritisiert der Familienbund der Katholiken völlig zu Recht, dass die neue Bun96
desregierung „mit einem Wortbruch in die neue Legislaturperiode“ startet.
({5})
Das sind zwar harte Worte, liebe Kolleginnen und Kollegen,
({6})
aber ich finde, sie sind durchaus richtig gewählt.
({7})
Für die Kitas kommt wenig. Was bleibt? Das Betreuungsgeld. Es kostet bekanntlich 2 Milliarden Euro, die
für den Kitaausbau weiterhin fehlen werden. Manuela
Schwesig hat das Betreuungsgeld unlängst als „Irrsinn“
bezeichnet. Wir müssen feststellen: Mit diesem Irrsinn
soll es offensichtlich weitergehen. Ich denke, dass die
Familien in diesem Land wissen, bei wem sie sich dafür
bedanken können.
({8})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wir stimmen
heute den Fristverlängerungen zu. Ich hoffe, die Kinder
und Familien in Deutschland haben nicht das Pech, dass
die Miniänderungen von heute dank der Großen Koalition das Einzige bleiben, was in dieser Legislaturperiode
beim Kitaausbau passiert.
Vielen Dank.
({9})
Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist
die Kollegin Dorothee Bär für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Meine Vorrednerinnen haben ja bereits eingehend und detailliert dargelegt, wie sinnvoll der vorliegende Gesetzentwurf zur
angestrebten Verlängerung der Fristen ist. Deswegen
werde ich das alles jetzt nicht wiederholen. Aber ich
möchte dennoch auf zwei meiner Vorrednerinnen eingehen; denn manchmal fragt man sich schon: In welchem
Land leben Sie eigentlich?
Frau Golze, ich war immer der Meinung, man müsse
in Deutschland leben, um hier ein Mandat erringen zu
können. Aber offensichtlich haben Sie von Deutschland
überhaupt keine Ahnung. Bei Ihrer Rede hatte ich den
Eindruck, Sie sprechen von einem anderen Land, aber
nicht von den Realitäten in unserem Land, für das wir eigentlich zuständig sind. Sie leiden völlig an Realitätsverlust.
({0})
Das war wirklich so was von unsäglich, das hat mit unserer Lebensrealität null Komma null zu tun. Also: Willkommen in Deutschland! Wenn Sie Politik für die Bürgerinnen und Bürger machen wollen, dann sollten Sie
sich auch mal die Situation vor Ort anschauen.
({1})
- Nein, das glaube ich nicht. Wie man heute bei den
Grünen mitbekommen hat, ist Wahlkreisarbeit offensichtlich nicht wichtig. Möglicherweise liegt das daran,
dass sie keine Wahlkreise vertreten; aber das ist ein anderes Thema.
Frau Dörner, ich bin froh, dass die Menschen in
Deutschland wissen, bei wem sie sich für das Betreuungsgeld zu bedanken haben; in diesem Punkt gebe ich
Ihnen völlig recht. Ich lade Sie gerne in mein Büro ein;
dann kann ich Ihnen die meterlange Reihe von Ordnern
zeigen, die Dankeszuschriften von Eltern enthalten.
({2})
Ich bin froh, dass das Betreuungsgeld bleibt; denn damit
können wir viel Gutes in unserem Land tun.
({3})
Lassen Sie mich meinen Blick darauf lenken, was der
Bund in den letzten Jahren getan hat. Wir haben in den
letzten Jahren wirklich viel für den Ausbau der Betreuung getan. Die Rednerinnen der SPD haben es angesprochen: Schon in der letzten Großen Koalition haben wir
dafür gesorgt, dass der Ausbau von Kitaplätzen vorangetrieben wird. Damals haben wir auch den Rechtsanspruch durchgesetzt. Außerdem haben wir - oh Wunder - seit dem 1. August nicht das Horrorszenario erlebt,
das von den Linken und den Grünen die ganze Zeit beschrieben wurde, dass nämlich die Zahl der Betreuungsplätze nicht ausreicht und wir von einer Klagewelle
überrollt werden. Sie alle haben hier in den letzten Jahren in ihren Reden Schreckensszenarien verbreitet; das
war teilweise wirklich Wahnsinn. Wir haben nicht nur
einen großartigen Endspurt hingelegt, sondern auch für
eine flächendeckende Versorgung gesorgt, mit der vor
einigen Jahren noch keiner rechnen konnte.
({4})
Spannend ist natürlich auch, dass die große Klagewelle ausgeblieben ist. Die Ministerin hat heute einen
grünen Bürgermeister zitiert. Ich habe an dieser Stelle in
den letzten Jahren viele SPD-Bürgermeister und -Oberbürgermeister zitiert, die gesagt haben: Für uns ist das
kein Problem. Unsere Kommunalpolitiker haben immer
Verantwortung übernommen und wissen es zu schätzen,
dass sich der Bund finanziell reingehängt hat, ohne die
originäre Zuständigkeit zu haben. - Mein Fraktionsvorsitzender Volker Kauder hat mehrfach betont - nicht nur
bei uns in der Fraktion, sondern auch hier im Plenum -,
dass auch einmal anerkannt werden muss, dass der
Bund, weil er wusste, dass es die Länder und die Kommunen nicht alleine schaffen, seiner Verantwortung gerecht wird. Das hat er auch getan.
Was sagt der Deutsche Städte- und Gemeindebund
dazu? Bundesweit gab es noch nicht einmal 50 Klagen.
Bei Engpässen konnten in vielen Fällen einvernehmliche
Lösungen erzielt werden. Sogar SPD-Oberbürgermeister
haben zu mir gesagt: Frau Bär, das ist kein Thema, dann
schaffen wir eben noch zusätzliche Plätze oder sorgen
für Lösungen mit Tagesmüttern. Wir vor Ort sind flexibel genug, und wir kennen die Bedürfnisse unserer
Städte und Gemeinden natürlich wesentlich besser, als
das bei einer übergeordneten Stelle der Fall ist. Deswegen schaffen wir es auch, uns darum zu kümmern.
Sogar in München, wo es im Vergleich zum Rest von
Bayern mit der Kinderbetreuung immer noch etwas
schwierig ist, wurden bislang maximal zehn Klagen eingereicht, zum Beispiel, weil die Eltern mit dem von der
Stadt vorgeschlagenen Krippenplatz nicht einverstanden
sind, weil die Entfernung zu groß ist.
Der Ausbau der U-3-Plätze ist ein Riesenerfolg. Deswegen kann ich an dieser Stelle einerseits sagen: Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht. Andererseits möchte
ich mich bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vor
Ort ganz herzlich bedanken. Hier gibt es sehr engagierte
Kräfte. Daher möchte ich allen denen, die in Kindergärten und in Kinderkrippen arbeiten, ein ganz herzliches
Dankeschön und ein Vergelt’s Gott sagen. Jeder berufstätige Elternteil weiß, dass man ohne das Wissen, dass
die Kinder gut versorgt sind, dass sie gut betreut sind,
dass sie gefördert und gefordert werden, seine Arbeit
nicht gut verrichten könnte. Deshalb auch von meiner
Seite ein ganz herzliches Dankeschön!
({5})
Natürlich wissen wir, dass der Ausbau noch nicht abgeschlossen ist. Jedes Mal, wenn ein Rechtsanspruch in
Kraft tritt, erhöht sich der Bedarf. Das ist völlig klar; das
sagt auch das Deutsche Jugendinstitut. Wir wissen auch,
dass wir die Qualität noch weiter verbessern müssen. Im
Koalitionsvertrag, der offensichtlich weder von den Linken noch von den Grünen ordentlich gelesen wurde, haben wir vereinbart, dass der Bund zur weiteren Realisierung des Rechtsanspruchs im Bereich U 3 ein drittes
Investitionsprogramm auflegen wird. Darüber hinaus
unterstützt der Bund die Länder - das ist bereits fest vereinbart - jährlich mit 845 Millionen Euro bei der Finanzierung der Betriebskosten, wozu auch die besonders
wichtigen Personalkosten zählen. Das ist eine große
Summe, die die Länder auch in den nächsten Jahren erhalten werden.
Wir haben noch andere Maßnahmen eingeleitet - ich
erwähne sie, damit deutlich wird, dass es nicht nur um
den Ausbau und um das Personal geht -: Die Bundesregierung hat eine Arbeitsgruppe zum Thema Fachkräftegewinnung etabliert. Wir haben das Aktionsprogramm
Kindertagespflege. Wir haben Lohnkostenzuschüsse.
Wir haben ein Serviceprogramm „Anschwung für frühe
Chancen“. Wir haben ein Bundesprogramm „Lernort
Praxis“. Wir haben die Initiative „Mehr Männer in Kitas“; dies ist ein wichtiger Baustein, um immer mehr
Männer für die herausfordernden Berufe im Bereich der
frühkindlichen Erziehung und Bildung zu begeistern.
Wir haben selbstverständlich auch die „Offensive Frühe
Chancen“, über die bis 2014 400 Millionen Euro zur
Verfügung gestellt werden, um 4 000 Kitas in Deutschland zu Kitas mit dem Schwerpunkt Sprache und Integration weiterzuentwickeln.
Das ist nur ein kleiner Teil der Maßnahmen und
Initiativen. Man könnte noch hundert andere Maßnahmen und Initiativen aufzählen, die zeigen, dass wir uns
die Förderung der Kinder in unserem Land ganz groß auf
die Fahnen geschrieben haben; denn sie sind uns am
wichtigsten. Sie werden in dieser Legislaturperiode feststellen können, dass wir auf diesen Bereich einen
Schwerpunkt legen werden.
Ich sage aber auch Folgendes: Wir haben schon sehr
viel für die unter Dreijährigen getan. Mir ist es wichtig,
dass wir, wenn wir in dieser Legislaturperiode über das
Thema Familie reden, über eine ganzheitliche Familienpolitik reden. Dabei geht es nicht nur um U 3, auch nicht
nur um Ü 3, sondern es geht um das ganze Leben, von
der Geburt bis zum letzten Lebensabschnitt. Zeitgleich
leben vier Generationen. Das ist die Regel und nicht die
Ausnahme. Das heißt, wir müssen uns auch um die drei
anderen Generationen kümmern. Ich nenne in diesem
Zusammenhang nur das Stichwort „Pflege“. Wir haben
also viel zu tun.
Ich freue mich riesig auf diese Legislaturperiode. Ich
glaube, dies war meine erste Rede zur Familienpolitik in
den letzten vier Jahren, in der Frau Marks keinen Zwischenruf gemacht hat. Das ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.
Danke schön.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Hier werden noch viele wunderbare und überraschende Freundschaften entstehen
({0})
und einzelne vielleicht auch zerbrechen. Das wollen wir
in Ruhe der weiteren Entwicklung der Legislaturperiode
überlassen.
Wir kommen nun noch nicht sofort zur Abstimmung.
Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass die Fraktionen
der CDU/CSU, der SPD und der Linken fristgerecht beantragt haben, gemäß § 80 Abs. 2 unserer Geschäftsordnung ohne Ausschussüberweisung in die zweite Beratung einzutreten. Die zweite und dritte Beratung soll
heute Nachmittag nach dem Tagesordnungspunkt 8 aufgerufen werden. In der Zwischenzeit könnte der Hauptausschuss, den wir heute Nachmittag konstituieren, als
Haushaltsausschuss Gelegenheit zur Prüfung der Vorlage gemäß § 96 Abs. 4 der Geschäftsordnung haben.
Präsident Dr. Norbert Lammert
Das ist die Regelung, die sicherstellen soll, dass bei Gesetzgebungsvorhaben vorher geprüft wird, ob dafür
überhaupt die haushaltsrechtlichen Voraussetzungen bestehen.
Zu diesem Antrag hat die Kollegin Haßelmann zur
Geschäftsordnung das Wort gewünscht, das ich ihr hiermit erteile.
({1})
Vielen herzlichen Dank, Herr Präsident! - Vielen
Dank auch für die kleinen Kommentierungen gleich am
Anfang.
Ich habe das Wort gewünscht, weil das, was Sie hier
vorführen, ein kleines Stück aus Absurdistan ist.
({0})
Das sage ich, ehrlich gesagt, auch in Richtung der Linksfraktion. Ich bin überrascht, dass Sie diesen Antrag mit
eingebracht haben.
Um das einmal vorweg zu sagen: Ich bin dafür, und
unsere Fraktion ist dezidiert dafür - das haben wir in allen Gesprächen mit den Fraktionen deutlich gemacht -,
dass dieser Gesetzentwurf und auch der Gesetzentwurf,
über den wir nachher beraten, der Entwurf eines AIFMSteuer-Anpassungsgesetzes - beides sind Initiativen aus
dem Bundesrat -, noch in diesem Jahr verabschiedet
werden.
({1})
Die Länder legen ganz großen Wert darauf, dass das passiert. Ich finde es richtig, diesem Wunsch zu entsprechen.
({2})
Wenn Sie aber einen Hauptausschuss einrichten, was
Sie heute mit Mehrheit von Union und SPD gemacht haben, dann ist es fragwürdig, wenn Sie nicht sagen: Diese
beiden Gesetzesinitiativen, die noch dieses Jahr verabschiedet werden müssen - das wollen auch wir -, kommen jetzt in diesen Hauptausschuss, und dort findet ein
gemäß der Geschäftsordnung ordentliches Beratungsverfahren statt. Das, Frau Kipping, ist nicht so.
({3})
Der Präsident hat darauf hingewiesen, dass der Hauptausschuss die Vorlage heute nur als Haushaltsausschuss
gemäß § 96 der Geschäftsordnung prüfen wird. Das
heißt, Berichterstattung dazu ist in diesem Sinne so nicht
möglich.
({4})
Wir hatten uns in einer PGF-Runde schon darauf verständigt - ihr erinnert euch sicher, Sie erinnern sich sicher -, diese beiden Gesetzentwürfe in der Woche vom
16. Dezember bis zum 19. Dezember 2013 im Bundestagsplenum in zweiter und dritter Lesung zu verabschieden, damit sie dann in den Bundesrat können. Das alles
wurde durch diesen Antrag über den Haufen geworfen.
Aus meiner Sicht gibt es keine sachliche Begründung
dafür, dass wir heute sozusagen nur die Begleitung durch
den Haushaltsausschuss vorsehen und nicht eine Beratung im Hauptausschuss. Ich weiß, dass es für viele der
Zuhörerinnen und Zuhörer schwierig ist, dies alles nachzuvollziehen. Das Verfahren ist so, dass wir heute die
zweite und dritte Beratung direkt machen, obwohl wir
den Hauptausschuss eingesetzt haben. Das ist absolut
kritikwürdig, da wir die Gesetzentwürfe auch nach einer
Beratung noch in diesem Jahr verabschieden können.
Vielen Dank.
({5})
Thomas Oppermann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kollegin Haßelmann, bei diesem Gesetzentwurf geht es
ausschließlich darum, zu verhindern, dass die für die
Länder und Kommunen vorgesehenen Kitamittel am
Jahresende verfallen. Wir wollen erreichen, dass sie
auch im nächsten Jahr verwendet werden können. Das
ist das Einzige, um das es in diesem Gesetzentwurf geht.
({0})
Wir sind von allen rot-grünen Landesregierungen, vom
rot-rot regierten Brandenburg und von allen sonstigen
Landesregierungen inständig gebeten worden, den Gesetzentwurf heute zu verabschieden.
({1})
- Der Ausschuss nimmt doch nachher Stellung zu diesem Komplex. - Wir wollen den Gesetzentwurf heute
verabschieden und wollen deshalb keine Ausschussüberweisung. Der Hauptausschuss befasst sich mit diesem
Gesetzentwurf und nimmt Stellung dazu, aber wir machen keine Ausschussberatung, keine Anhörung oder
sonstige Dinge, weil der Gesetzentwurf noch heute verabschiedet werden soll, damit er noch im November im
Bundesrat endgültig beschlossen werden kann und damit
die Kommunen und die Länder diese Mittel für den Kitaausbau weiter einplanen können. Nur darum geht es.
Was Sie jetzt hier wollen, ist eine Förmelei und widerspricht exakt dem, was die Grünen in den Ländern von
uns verlangt haben. Das halte ich nicht für angemessen,
Frau Haßelmann.
({2})
Frau Kollegin Sitte.
Es gibt Momente, Frau Haßelmann, in denen fällt
selbst mir nichts mehr ein.
({0})
Ich erinnere mich an unsere Beratungen als Parlamentarische Geschäftsführerinnen und Geschäftsführer, in
denen wir über die Einsetzung eines Hauptausschusses
geredet haben. Da haben Sie gesagt, dass Sie dem
Hauptausschuss zustimmen, weil Sie in diesem Hauptausschuss diese beiden Gesetzentwürfe beraten haben
wollen. Das findet heute statt; das ist das eine.
Das andere ist: Wir haben grundsätzliche Kritik an
dem Hauptausschuss geäußert; ich habe sie heute Morgen hinlänglich begründet. Jetzt gibt es diesen Hauptausschuss aber. Da kann man natürlich in eine Blockadehaltung verfallen und sagen: Wir schicken da keinen hin, wir
machen da nicht mit, das alles ist nicht unsere Sache. - Es
ist nun einmal so, dass sich der eine oder andere in diesem Haus demokratisch nicht durchsetzen kann. Das
kann man beklagen. Aber am Ende stellt sich die Frage:
Tun wir den Bürgerinnen und Bürgern damit einen Gefallen?
({1})
Ich muss sagen: Dieser Gesetzentwurf muss, so wie er
jetzt ist, natürlich zum Jahresende verabschiedet werden.
Das macht die Kritik an dem Hauptausschuss nicht gegenstandslos. Das macht auch unsere Grundkritik, dass
der gesamte Kitaausbau schleppend vorangegangen ist,
nicht gegenstandslos. Vor diesem Hintergrund haben wir
allerdings beschlossen: Wir werden uns diesem Ansinnen von CDU/CSU und SPD anschließen. Wir wollen,
dass es eine zügige Beratung gibt und dass die Frist aufgehoben wird.
({2})
Wir haben hier die ganz außergewöhnliche Situation,
dass sich offensichtlich alle im Ziel einig sind, aber im
Verfahren nicht. Ich will nach sorgfältiger Prüfung der
Rechtslage drei knappe Bemerkungen dazu machen.
Erstens. Das im Antrag beantragte Verfahren ist zweifellos außergewöhnlich. Seit der Reform der Geschäftsordnung im Jahr 1980 hat es einen solchen Beschluss im
Deutschen Bundestag noch nicht gegeben.
Zweitens. Wir sind uns ganz sicher darin einig, dass
dieses Verfahren nicht das Modell der künftigen parlamentarischen Gesetzgebung hier im Hause sein kann.
({0})
Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass das irgendjemand ernsthaft in Erwägung ziehen könnte.
Drittens. Nach dem Wortlaut unserer Geschäftsordnung ist der Antrag aber nicht offensichtlich unzulässig.
({1})
Deswegen stimmen wir darüber jetzt ab. Wir werden sicher noch Gelegenheit haben, die damit verbundenen
grundsätzlichen und praktischen Fragen für die Zukunft
im Ältestenrat in Ruhe miteinander zu bereden.
({2})
Auch ihn wird es irgendwann demnächst ja sicher geben.
Dann greifen wir dieses Thema noch einmal auf.
Jetzt lasse ich über den eingebrachten Antrag der drei
genannten Fraktionen, die zweite und dritte Beratung
des gerade debattierten Gesetzentwurfes nach dem Tagesordnungspunkt 8 als Zusatzpunkt 4 auf die Tagesordnung zu setzen, abstimmen. Wer diesem Antrag zustimmen will, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist dieser
Geschäftsordnungsantrag, dieser Verfahrensantrag mit
den Stimmen der antragstellenden Fraktionen gegen die
Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen beschlossen. Es wird dann so verfahren.
Nun kommen wir zum Tagesordnungspunkt 4:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Matthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann
({3}), Katja Kipping, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Stabilisierung der
Beitragssätze in der gesetzlichen Rentenversicherung ({4})
- Drucksache 18/52 Überweisungsvorschlag:
Hauptausschuss
Auch hier haben sich die Fraktionen auf eine Aussprache mit der Dauer von 38 Minuten verständigt. Auch hierzu kann ich Einvernehmen feststellen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Matthias Birkwald für die antragstellende
Fraktion Die Linke.
({5})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich das rentenpolitische Ergebnis der
Koalitionsverhandlungen einmal zusammenfassen: Die
SPD hat die notwendigen Schritte im Kampf gegen die
Altersarmut und für mehr Rentengerechtigkeit dem
Sparwahn von CDU und CSU geopfert. Wurde das dramatische Absinken des Rentenniveaus gestoppt, wie von
der SPD im Wahlkampf versprochen? Nein, die Renten
werden auch künftig weiter den Löhnen hinterherhinken.
Das, meine Damen und Herren von der Koalition in spe,
ist Ihre größte Unterlassungssünde. Das Rentenniveau
muss dringend wieder angehoben werden.
({0})
Aber damit nicht genug: Erstens. An der Rente erst ab
67 wird nicht gerüttelt. Zweitens. Eine echte, armutsfreie
Mindestrente wird es nicht geben. Drittens. Die Angleichung der Renten im Osten an das Westniveau wird fast
auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben.
Deshalb ist der Koalitionsvertrag ein rentenpolitisches Armutszeugnis.
({1})
„Soziale Gerechtigkeit“, „Umverteilung von oben nach
unten“, diese Worte kommen im Koalitionsvertrag kein
einziges Mal vor. Das sollten sie aber; denn erst gestern
haben OECD und Statistisches Bundesamt eindringlich
gemahnt: Erstens. Deutschland ist weltweit das Schlusslicht in der Alterssicherung von Geringverdienenden.
Zweitens. Das Armutsrisiko der 55- bis 64-Jährigen
steigt. - Das ist ein unhaltbarer Zustand.
({2})
Diesen Zustand wollen Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen von Union und SPD, bis 2017 einfach ignorieren. Erst in vier Jahren soll es einen flächendeckenden
Mindestlohn und eine sogenannte Lebensleistungsrente
für Geringverdienende geben - die ihren Namen nicht
verdient. Vier Jahre verschenkt im Kampf gegen die Altersarmut! Das ist doch nicht zu fassen!
({3})
Die Erwerbsminderungsrenten für Kranke befinden
sich seit Jahren im Sinkflug. Das darf nicht so bleiben.
Niemand wird freiwillig krank. Die neue Koalition will
nun die Zurechnungszeiten in einem Rutsch um zwei
Jahre anheben. Immerhin, das bringt den Betroffenen
35 bis 40 Euro mehr. Aber die Hälfte der Erwerbsminderungsrenten liegt unter dem Sozialhilfeniveau. Deshalb
ist Ihr Schritt zwar richtig; er greift aber viel zu kurz,
weil Sie den 50-jährigen Busfahrer mit dem kaputten
Rücken weiterhin mit völlig ungerechten Abschlägen
bestrafen. Im Schnitt fehlen im Portemonnaie von Menschen, die nicht mehr voll arbeiten können, Monat für
Monat rund 80 Euro. Darum fordere ich Sie auf, meine
Damen und Herren von Union und SPD: Heben Sie die
Zurechnungszeit um drei Jahre an und hören Sie auf die
Präsidentin des Sozialverbandes VdK Deutschland,
Ulrike Mascher! Sie hat gestern gesagt - ich zitiere -:
Die Erwerbsminderungsrentner dürfen von CDU/
CSU und SPD nicht weiterhin mit der Beibehaltung
der Abschläge bestraft werden. Sie müssen gestrichen werden!
Recht hat Frau Mascher!
({4})
Nächstes Beispiel: die abschlagsfreie Rente ab 63
nach 45 Beitragsjahren. Okay, gut, heute hilft das manchen, vor allem Männern; aber in Zukunft wird wegen
der massenhaft gebrochenen Erwerbsbiografien nur
noch eine Minderheit 45 Beitragsjahre erreichen. Und
dann heben Sie die Altersgrenze auch noch schrittweise
wieder auf 65 Jahre an. Ist das die Handschrift der SPD,
von der ständig die Rede ist? Nein, das ist der billige Ersatz der SPD
({5})
für die nicht erfolgte Aussetzung der Rente ab 67, und
das ist ein Skandal.
({6})
Es geht so weiter: Die Riester-Rente ist ein Flop; das
wissen mittlerweile alle. Die Zinsen sind tief im Keller,
und Sie wollen die private Altersvorsorge auch noch
stärken. So ein Wahnsinn!
Was ist jetzt zu tun? Derzeit müssen die Rentenversicherungsbeiträge gesenkt werden, wenn die Rentenkasse
gut gefüllt ist. Das ist unsinnig.
({7})
Deshalb wollen wir mit unserem Gesetzentwurf diesen
Zwang ein für alle Mal abschaffen.
({8})
Die Rentenversicherung braucht jeden Cent. Wenn wir
auf die Absenkung der Beiträge verzichteten, könnten
wir erstens das Rentenniveau stabilisieren, zweitens die
Rente erst ab 67 abschaffen und drittens die Erwerbsminderungsrenten deutlich verbessern. Das wäre der
richtige Weg.
({9})
Das alles können wir aber vergessen, wenn Sie die
höheren Mütterrenten aus Beiträgen finanzieren. Die
Mütterrenten sind eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Darum dürfen sie nicht aus Beitragsmitteln finanziert
werden, sondern sie müssen aus Steuermitteln finanziert
werden.
({10})
Mit dieser Forderung befinden wir Linken uns in guter
Gesellschaft: Der DGB und alle Sozialverbände sehen
das auch so. Die Spitzen sämtlicher Sozialversicherungsträger - das ist einmalig - haben Union und SPD in
einem gemeinsamen Appell aufgefordert, die Mütterrenten ausschließlich aus Steuermitteln zu finanzieren; denn
nur so erreicht man, dass sich auch Reiche, Beamtinnen
und Beamte, Selbstständige und Abgeordnete an der
Finanzierung der höheren Mütterrenten beteiligen. Das
wäre nur gerecht.
Herzlichen Dank.
({11})
Als Nächste spricht die Bundesministerin von der
Leyen.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Deutsche Rentenversicherung ist keine kapitalgedeckte individualisierte Versicherungsform, sondern eine Sozialversicherung. Deshalb hat sie auch
besondere Merkmale. Ich möchte auf vier dieser besonderen Merkmale eingehen, weil sich darin auch widerspiegelt, was wir in der Rente warum verändern wollen
- die Reihenfolge ist keine Wertung -:
Erstens. Wir haben eine umlagefinanzierte Rente. Das
heißt, in dem Monat, in dem eingezahlt wird, wird
gleichzeitig auch die Rente an die ältere Generation ausgezahlt. Das bedeutet im Klartext: Die Rente lebt von
Kindern. Ohne Kinder keine Rente!
({0})
- „Kinder zahlen keine Beiträge“, aber Kinder sind die
Beitragszahlerinnen und Beitragszahler von morgen.
Das heißt, wenn wir auch morgen eine Rente haben wollen, dann müssen heute Kinder erzogen werden. Das war
in der Vergangenheit so, und das wird in der Zukunft so
sein. Das ist das zentrale Merkmal einer umlagefinanzierten Rente.
({1})
Das ist auch einer der Gründe, warum wir die Mütterrente verbessern.
Die Deutsche Rentenversicherung hat gerade aktuelle
Zahlen herausgegeben. Wenn man sich die Zahlbeträge
anschaut, dann sieht man, dass Erziehende - das sind
klassischerweise die Mütter - im Durchschnitt 50 Euro
pro Kind weniger im Monat haben. Ein Teil dieser Diskrepanz wird durch die Mütterrente gemindert, die übrigens für die Vergangenheit und für die Gegenwart zu einem Ausgleich führt. Selbstverständlich gibt es diesen
Ausgleich auch in der Zukunft; denn auch dann gibt es
die Mütterrente für die jetzt junge Generation.
Zweites Merkmal einer Sozialversicherung: Alle, die
sozialversicherungspflichtig arbeiten, müssen in die
Rentenkasse einzahlen. Bis zur Beitragsbemessungsgrenze werden ihnen im Augenblick 9,45 Prozent des
Arbeitnehmerbruttolohns abgezogen. „Bis zur Beitragsbemessungsgrenze“ heißt, dass insbesondere Menschen
mit kleinem Einkommen ihren Beitrag zur Rentenversicherung leisten. Es bedeutet, dass diese Beiträge typischerweise die Steuern der „kleinen Leute“ sind. Je größer ein Einkommen ist, desto mehr wirkt die
Beitragsbemessungsgrenze dämpfend, da die Abzüge für
die Menschen mit größerem Einkommen nicht so relevant sind.
Das ist einer der Hauptgründe, warum es in einer Sozialversicherung selbstverständlich sein muss, dass sich
auch Menschen mit kleinem Einkommen darauf verlassen können, dass sie, wenn sie ein Leben lang Pflichtbeiträge eingezahlt haben, am Ende des Tages auch eine
Rente haben, von der sie leben können. Das ist der
zweite Punkt, den wir in diesem Koalitionsvertrag fest
verankert haben, nämlich die Einführung einer solidarischen Lebensleistungsrente, die genau dieses Prinzip erfüllt.
({2})
Drittens. Die Rente ist keine Versicherungssumme,
die einfach nur einmal ausbezahlt wird, sondern die gesetzliche Rente ist eine Versicherungsleistung, die bis
zum letzten Lebenstag ausbezahlt wird. Das bedeutet für
uns aber auch, dass wir als Gesellschaft klug einteilen
müssen - insbesondere wenn sich die Lebenserwartung
erhöht: Wie viel Zeit wird in Arbeit investiert, sprich: in
die Beitragszahlung, und wie viel Zeit ist für den wohlverdienten Ruhestand da? Das ändert sich mit einer längeren Lebenserwartung.
Deshalb haben wir auch das schrittweise Zugehen auf
die Rente mit 67 bis zum Jahr 2029 eingeführt. Es gibt
Menschen - und das wissen alle hier in diesem Raum -,
bei denen der Berufseinstieg relativ spät erfolgt: Man besucht die Schule, man absolviert ein Studium, und es
dauert eine ganze Weile, bevor man im Beruf ist und in
die Rentenkasse einzahlt. Es gibt andere, die schon sehr
viel früher arbeiten müssen - mit 16, 17, 18 Jahren.
Diese haben typischerweise körperlich harte, anstrengende, auszehrende Berufe.
Weil das so ist und weil wir eine soziale Rentenversicherung haben, die einen Ausgleich zum Beispiel zwischen den Generationen, zwischen den verschiedenen
Funktionen „Kindererziehung“ und „harte körperliche
Arbeit“ und zwischen den Menschen mit großem und
kleinem Einkommen schafft, werden wir die abschlagsfreie Rente mit 63 Jahren einführen. Sie gilt genau für
diese Menschen, die lange eingezahlt, hart körperlich gearbeitet und im Durchschnitt sehr viel mehr Beitragsjahre haben, als das bei Akademikern oder Akademikerinnen typischerweise der Fall ist. Für diese Menschen
wollen wir in dieser Großen Koalition etwas tun.
({3})
Viertens. Es ist eine Selbstverständlichkeit: Wen das
Schicksal schwerer Krankheit ereilt, den lassen wir nicht
hängen. Das ist das Grundprinzip der Erwerbsminderungsrente. Wir wissen, dass es hier ein Defizit gibt und
dass sie verbessert werden muss. Auch das werden wir
in der Großen Koalition tun.
Ja, das alles muss finanziert werden. Es musste in der
Vergangenheit finanziert werden, es muss heute finanziert werden und auch in Zukunft. Deshalb stabilisieren
wir den Beitragssatz bei 18,9 Prozent. Deshalb wird es
im Jahre 2018 zusätzlich zu den Bundesmitteln von
80 Milliarden Euro, die es schon heute gibt, weitere
2 Milliarden Euro zur Finanzierung der Mütterrente geben. Deshalb wird die solidarische Lebensleistungsrente
durch Einsparungen bei der Grundsicherung im Alter
- das ist Steuergeld - und die Abschmelzung des Wanderungsausgleichs an die Bundesknappschaft finanziert.
Das sage ich alles vor dem Hintergrund, dass heute in
den rund 250 Milliarden Euro, die für die Rente ausgegeben werden, 80 Milliarden Euro Bundesmittel enthalten sind. Damit leistet der Bund schon heute einen wesentlichen Beitrag zur Finanzierung der gesetzlichen
Rente.
Frau Ministerin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Das ist das Wichtigste, und das ist auch das Ende. All
das, was ich eben beschrieben habe, funktioniert nur,
wenn die Wirtschaft brummt und wenn die Menschen
eine gute Arbeit haben. Das ist das Entscheidende.
Heute sind die neuen Arbeitsmarktzahlen herausgekommen. Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen
Erwerbstätigen liegt bei 29,8 Millionen. Das sind alleine
im Vergleich zum Vorjahresmonat 380 000 mehr. Das ist
das Entscheidende für solide Sozialkassen. Deshalb ist
das große Ziel dieser Großen Koalition, die Vollbeschäftigung zu erreichen und den Menschen gute Arbeit und
mehr Arbeit zu ermöglichen. Denn das ist die Basis unseres Wohlstandes.
Vielen Dank.
({0})
Jetzt spricht die Kollegin Ferner.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich bin froh, dass wir im Gegensatz zur letzten Wahlperiode jetzt mit dieser Beitragssatzsenkerei Schluss machen, die eigentlich viel zu kurz gesprungen war.
({0})
Wir werden die Beitragssätze im kommenden Jahr
stabil halten und dann im Zusammenhang mit dem, was
im Koalitionsvertrag vereinbart worden ist, wenn das
Mitgliedervotum der SPD positiv ausgeht, eine langfristige Entscheidung hinsichtlich der Bandbreite der
Schwankungsreserve treffen, damit wir nicht jedes Jahr
wieder diese Diskussion haben werden. Die gesetzliche
Rentenversicherung braucht Stabilität. Diese hat sie
lange Jahre nicht gehabt. Wir werden ihr mit dieser Maßnahme Stabilität geben.
Noch einmal in Richtung der jüngeren Abgeordneten,
insbesondere aus der CDU/CSU-Fraktion, die glauben,
es sei nicht generationengerecht, jetzt die Rentenversicherungsbeiträge stabil zu halten. Nein, das Gegenteil ist
der Fall. Die jetzige rentennahe Generation zahlt durch
diese Maßnahme höhere Beiträge, als sie es nach geltender Rechtslage tun müsste, damit sie, wenn sie selber in
Rente geht - es werden in den kommenden Jahren immer mehr Menschen in Rente gehen -, ihre Rente bekommt und gleichzeitig auf die dann zahlende Generation nicht zu hohe Beitragssatzsprünge zukommen. Das
ist die Folge stabiler Beitragssätze.
({1})
Wir haben, denke ich, bei den Verhandlungen ein sehr
gutes Ergebnis erzielt. Herr Birkwald, wir haben keine,
wie Sie sie gefordert haben, Rente von 1 100 Euro für
alle ohne jede Bedingung, ohne jede Beitragszahlung
und ohne Einkommensberechnung erreicht. Das wollen
wir auch nicht.
({2})
Wir sind nämlich der Auffassung, dass ein anderes
wichtiges Prinzip der Rentenversicherung auch in Zukunft eingehalten werden muss. Dieses Prinzip heißt
Beitragsbezogenheit. Es bedeutet, dass jeder, der Beiträge in die Rentenversicherung eingezahlt hat, die Gewissheit hat, damit eine Rentenanwartschaft zu erwerben
und diese auch in Zukunft gesichert bleibt. Eine rein
steuerfinanzierte und einkommensunabhängige Rente,
so wie Ihre Fraktion und Ihre Partei das will, würde im
Ergebnis zu einer Rente nach Kassenlage führen.
({3})
Das wollen wir definitiv nicht. Das würde eine der ältesten Sozialversicherungen wirklich in den Abgrund treiben.
({4})
- Nein, das ist keine Lüge. Sie haben das doch plakatiert.
Ich habe doch im Wahlkampf nicht die Plakate aufgehängt, auf denen Sie 1 100 Euro Rente für alle fordern.
Das waren doch Sie.
({5})
- Ja gut, dann eben 1 050 Euro. Um die 50 Euro brauchen wir uns, glaube ich, nicht weiter zu streiten.
Wenn unser Mitgliedervotum positiv ausfällt, dann
wird es für viele deutliche Verbesserungen im Rentenrecht geben: für Mütter, für besonders langjährig Beschäftigte und für Menschen mit gebrochenen Erwerbsbiografien. Das sind insbesondere Frauen, die wegen
fehlender Kinderbetreuungseinrichtungen gebrochene
Erwerbsbiografien haben und Teilzeit arbeiten mussten,
auch wenn sie es nicht unbedingt wollten, und anschließend nicht wieder in einen Vollzeitjob hineingekommen
sind, aber auch Männer und Frauen aus Ostdeutschland,
die in der Nachwendezeit häufig gebrochene Erwerbsbiografien haben.
Wir werden Verbesserungen für Erwerbsgeminderte
wie auch für diejenigen erzielen, die gleitende Übergänge vom Erwerbsleben in die Rente brauchen. Außerdem werden wir endlich, über 20 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung, eine Angleichung der Ost- an
die Westrenten bekommen.
({6})
Das sind zentrale Forderungen der SPD gewesen, und
die werden damit umgesetzt werden können.
Die Mütterrente wird zum 1. Juli 2014 kommen. Das
bedeutet einen Entgeltpunkt mehr in der gesetzlichen
Rentenversicherung für diejenigen, die vor 1992 Kinder
geboren haben. Wir hätten uns gewünscht, dass dabei
Ostzeiten wie Westzeiten behandelt würden.
({7})
Wir hätten uns auch gewünscht, dass diese sozialpolitisch sinnvolle und notwendige Maßnahme steuerfinanziert worden wäre statt über die Sozialversicherungsbeiträge, wobei im Laufe dieser Wahlperiode noch
2 Milliarden Euro zusätzlich für die Rentenversicherung
vorgesehen sind. Aber nicht wir waren diejenigen, die
keine Steuererhöhungen bei den oberen 5 Prozent der
Einkommensbezieher wollten, sondern die Union war
gegen Steuererhöhungen.
Deshalb bleibt, wenn man die Mütterrente will, nur
die Möglichkeit, sie über Beiträge zu finanzieren. Aber
in der Zukunft wird noch die Möglichkeit bestehen, darüber zu reden, spätestens in der nächsten Wahlperiode.
({8})
Wir haben Verbesserungen bei der Erwerbsminderungsrente beschlossen, nämlich dass die Zurechnungszeit um zwei Jahre angehoben wird, und zwar auch zum
1. Juli 2014. Das ist besonders wichtig, weil gerade
Menschen, die wegen einer Erwerbsminderung in Erwerbsminderungsrente gehen müssen, ganz besonders
von Altersarmut betroffen sind.
Wir werden außerdem eine Günstigerprüfung für die
letzten vier Jahre einführen. Auch das ist nicht zu vernachlässigen. Denn es bedeutet, dass die betroffenen
Menschen im Hinblick auf Zeiten, in denen sie schon
krank waren und möglicherweise weniger Beiträge gezahlt haben, nach der Günstigerprüfung besser dastehen
als bisher.
Wir werden auch mehr Geld für Rehamaßnahmen
ausgeben, weil eine vernünftige Reha und vor allen Dingen auch vernünftige Arbeitsbedingungen Voraussetzungen sind, um Erwerbsminderung zu vermeiden.
({9})
Wir haben darüber hinaus eine solidarische Lebensleistungsrente vereinbart - wir haben sie im Wahlkampf
Solidarrente genannt; die Union hat sie Lebensleistungsrente genannt; jetzt ist daraus die solidarische Lebensleistungsrente geworden -, damit diejenigen, die heute
von Altersarmut betroffen sind und auf weniger als
30 Entgeltpunkte - das sind 844 Euro - für ihr Alterseinkommen kommen, im Alter nicht trotz langjähriger Beschäftigung in die Grundsicherung fallen.
Dafür gibt es eine Übergangszeit bis zum Jahr 2023,
in der 35 Beitragsjahre notwendig sind, um die solidarische Lebensleistungsrente zu bekommen. Das hilft insbesondere Frauen: Frauen, die schlecht verdient haben,
weil sie teilzeitbeschäftigt waren, Frauen, die schlechter
bezahlt wurden als Männer, oder Frauen, die jemanden
gepflegt haben. Aber es hilft auch Arbeitslosen, weil
Zeiten von Arbeitslosigkeit bis zu fünf Jahren mit in die
Berechnung einfließen. Deshalb profitieren neben den
Frauen im Westen auch insbesondere die Menschen in
den neuen Bundesländern, weil auch sie häufig gebrochene Erwerbsbiografien haben.
({10})
- Die Höhe dieser Rente wird davon abhängen, wie die
Höherwertung erfolgt und welche Zeiten mit einbezogen
werden. Es wird in einer zweiten Stufe eine bedarfsgeprüfte Grundsicherung im Alter geben, die dann allerdings einkommensabhängig berechnet wird. Herr
Birkwald, ich finde das in Ordnung. Wenn jemand einen
Partner oder eine Partnerin mit Einkommen hat oder
über ein entsprechendes Alterseinkommen verfügt, das
andere möglicherweise nicht haben, muss aus Steuermitteln nicht noch aufgestockt werden; denn dann ist eine
ausreichende Versorgung vorhanden. Es geht uns vielmehr darum, diejenigen aus der Altersarmut herauszuholen, die ohne die nun vorgesehene Maßnahme in die
Grundsicherung fallen würden.
({11})
Wir haben darüber hinaus erkannt - das wird heute
Nachmittag noch Thema sein -, dass der Schlüssel für
eine gute Rente eine gute Erwerbsbiografie ist. Vor diesem Hintergrund ist die Einführung eines Mindestlohns
das zentrale Thema, damit diejenigen, die heute im Niedriglohnsektor arbeiten, zu besseren Renten kommen.
Die bessere Tarifbindung, die wir vereinbart haben, trägt
ebenfalls zu einer Verbesserung der Renten bei. Die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf wird sich insbesondere für Frauen - auch in der Rente - auszahlen;
denn Frauen werden durchgängiger und mehr erwerbstätig sein können, als das heute der Fall ist.
Ein weiteres Thema ist die befristete Teilzeit. Wir ermöglichen es, nach einer befristeten Zeit wieder sicher
auf die Vollzeitstelle bzw. auf die alte Stelle mit gleicher
Arbeitszeit wie zuvor zurückzukehren. Damit wird die
Gefahr gebannt, in der Teilzeit gefangen zu sein und später auch nur eine Teilzeitrente zu beziehen.
Ebenfalls ein wichtiger Punkt ist die Entgeltgleichheit. Wenn Frauen für gleiche bzw. gleichwertige Arbeit
genauso viel bekommen wie Männer, werden sie am
Ende bessere Renten beziehen.
Das alles gehört zusammen, und das alles muss man
auch zusammen sehen.
({12})
Wir haben des Weiteren eine Vereinbarung für besonders langjährig Beschäftigte getroffen. Es sind nicht
viele, die 45 Beitragsjahre vorweisen können. Wir senken das Renteneintrittsalter für diese Personen von heute
65 Jahren auf 63 Jahre. Das wird parallel zum Renteneintrittsalter wieder angehoben. Aber man kann zwei
Jahre früher abschlagsfrei in Rente gehen, als das ohne
diese Regelung der Fall wäre. Dabei werden Zeiten der
Arbeitslosigkeit berücksichtigt, was derzeit nicht der
Fall ist. Insofern wird ein größerer Personenkreis davon
profitieren. Herr Birkwald, wenn Sie nun sagen: „Das ist
alles nichts“, dann kann ich nur festhalten: Es ist deutlich besser als der Status quo.
({13})
Wir möchten im Gegensatz zu Ihnen Verbesserungen für
die Menschen erreichen und nicht irgendwelche Grundsätze vor uns hertragen, was im Ergebnis nicht dazu
führt, dass es den Menschen besser geht.
({14})
Letzter Punkt, die Angleichung der Renten im Osten
an die im Westen. Ja, das hat lange gedauert. Ich bin
froh, dass wir in dieser Wahlperiode ein Gesetz mit dem
schönen Namen „Rentenüberleitungsabschlussgesetz“
verabschieden werden. Diejenigen, die häufig Scrabble
spielen, werden wahrscheinlich eine riesige Punktzahl
erreichen, wenn sie dieses Wort legen können. Auf jeden
Fall ist es für die Menschen in Ostdeutschland gut, zu
wissen, dass spätestens wenn der Solidarpakt II ausläuft,
die Renten in Ost und West gleich berechnet werden und
dass es dann ein einheitliches Rentenrecht gibt. Das ist
30 Jahre nach der deutschen Einheit mehr als überfällig.
({15})
Wenn ich unter das alles einen Strich ziehe, dann
glaube ich, dass wir angesichts der Verbesserungen im
Rentenbereich getrost vor unsere Mitglieder treten können. Ich möchte an dieser Stelle Andrea Nahles und all
denjenigen, die auf unserer Seite in der Koalitionsarbeitsgruppe dafür gestritten haben, danken. Das ist ein
wirklich gutes Ergebnis.
Schönen Dank für die Aufmerksamkeit.
({16})
Jetzt spricht der Kollege Markus Kurth.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Nun sieht es also so aus, dass alle Fraktionen im
Deutschen Bundestag den Beitragssatz in der gesetzlichen Rentenversicherung nicht weiter senken wollen.
Bei näherem Hinsehen gibt es jedoch gewaltige Unterschiede. Auf der einen Seite sieht die Fraktion Die Linke
ausweislich der Begründung ihres Gesetzentwurfs die
Aussetzung der Beitragssatzsenkung als Auftakt zu einer
ganzen Kette von Beitragssatzerhöhungen, um in Zukunft sämtliche rentenpolitischen Reformen nicht nur zu
verändern, sondern gleich abzuschaffen. Auf der anderen Seite wollen Union und SPD mit den Geldern der
Beitragszahler sozialpolitische Geschenke machen, die
eigentlich von der Allgemeinheit, das heißt von den
Steuerzahlern, bezahlt werden müssen. Sie machen
Weihnachtsgeschenke, die nur die Beitragszahlerinnen
und Beitragszahler finanzieren müssen.
({0})
Nur wir, die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, wollen
die Gelder der Rücklage zusammenhalten und im Sinne
der Versicherten einsetzen,
({1})
und zwar für abschlagsfreie Erwerbsminderungsrenten,
um die Rente mit 67 vernünftig zu flankieren,
({2})
für ein angemessenes Rehabudget, weil „Reha vor
Rente“ sich rechnet und den Leuten ein längeres Verbleiben im Erwerbsleben ermöglicht, und für eine Demografierücklage, um den Beitragssatzanstieg ab 2018, den
wir erwarten, abzufedern und für Generationengerechtigkeit zu sorgen.
({3})
Wenn ich manches hier so verfolge, kommen mir Erinnerungen an meine Kindheit. Ich bin im Rheinland geboren, in Bonn. Dort gibt es Karnevalsumzüge, und am
Ende des Karnevalszuges fährt der Prinzenwagen. Von
ihm werden besonders viele Bonbons geworfen, und diejenigen mit den stärksten Schultern und größten Beuteln,
die sich vordrängeln, kriegen das meiste ab.
({4})
Wir erleben hier die Vorbeifahrt des rentenpolitischen
Prinzenwagens, wir erleben, dass die Großkoalitionäre
mit vollen Händen das Geld der Beitragszahler an die
verteilen, die am lautesten schreien und sich vordrängeln. Das ist das Problem.
({5})
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Natürlich kann
man über Dinge wie die sogenannte Mütterrente diskutieren. Es ist klar: Stichtagsregelungen bringen immer
Ungerechtigkeiten mit sich. Einen Teil der Argumentation von Frau von der Leyen kann ich auch nachvollziehen. Und natürlich kann man über einen abschlagsfreien
Rentenzugang mit 63 Jahren nach 45 Beitragsjahren
sprechen. Aber dann muss man auch ehrlich darüber reden, wie man das finanziert. Das muss man bilanzieren.
Es sind 10 Milliarden Euro, die Sie in die Hand nehmen.
Wir haben - das hat uns im Wahlkampf leider nicht
immer zum Wohle gereicht - vor unserem Wahlkampf
genau gerechnet, überlegt und mit Steuererhöhungen argumentiert. Das haben Sie, meine Damen und Herren
von der Union, sich erspart.
({6})
- Frau von der Leyen ruft mir von der Seite noch „Ja“
zu. - Sie haben gesagt: Wir erhöhen keine Steuern. Was Sie aber letzten Endes machen, ist, dass Sie die
„Steuern der kleinen Leute“ erhöhen; genau so haben Sie
eben die Beitragssätze genannt. Das ist unehrlich.
({7})
Sie loben sich, dass Sie auf Sicht fahren. Ja, das ist
immer das Argument der Regierung Merkel gewesen.
Nur, Ihr Sichtfeld ist furchtbar klein.
({8})
Sie sitzen nämlich krampfhaft am Lenkrad und schauen
nur auf das nächste Stück der Wegstrecke. Gerade bei
der Rentenversicherung würde es sich lohnen, den Blick
zu heben, auf lange Sicht zu fahren und auch die Warnschilder am Rand zu beachten, die sozialpolitischen und
die beitragssatzpolitischen Warnschilder.
({9})
Ist nicht erst letzte Woche am Mittwoch im Kabinett
der Rentenversicherungsbericht der Bundesregierung
verabschiedet worden? Ist denn nicht ganz klar, welche
Beitragssatzanstiege ab 2018 drohen? Das wissen Sie
doch. Irgendwo auf dem Weg vom Kanzleramt zum
Willy-Brandt-Haus muss der Rentenversicherungsbericht der Bundesregierung wohl abhanden gekommen
sein. Sonst könnten Sie so nicht handeln.
({10})
Sie von der SPD sprechen gern von der Koalition des
kleinen Mannes. Frau Ferner, ich schätze Sie - Sie haben
jetzt noch einmal alles aufgezählt -, aber, was die Koalition des kleinen Mannes betrifft, mal ehrlich: Der kleine
Mann, der jetzt zwölf Jahre alt ist,
({11})
der in vier Jahren die Berufsausbildung beginnt und drei
Jahre später in das Berufsleben eintritt, wird sich für die
Beitragssatzerhöhung bedanken, die Sie ihm eingebrockt
haben, und für die Beitragssatzerhöhungen, die Jahr für
Jahr folgen werden.
({12})
Wenn ich das hier sehe, muss ich sagen: So viele
Stimmen, die Sie haben, und so viel Mutlosigkeit; so
viele Stimmen, die Sie haben, und so viel Feigheit vor
der Zukunft.
({13})
Als Nächster spricht Max Straubinger.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben heute einen Gesetzentwurf der Linken zu beraten. Ich bin versucht, zu sagen: Es geht in der 18. Legislaturperiode so weiter, wie die 17. Legislaturperiode
beendet worden ist. Herr Birkwald, Ihre Rede war letztendlich dieselbe wie immer. Es hat sich nichts geändert.
({0})
- Nein, es hat sich nichts geändert; denn Sie sind immer
noch im rentenpolitischen Nirwana.
({1})
- Da kommt er nicht mehr heraus. Ganz genau, Herr
Kollege Zimmer.
({2})
Auf der einen Seite vorzuwerfen, dass die SPD dem
Sparwahn der Union erlegen wäre, gleichzeitig aber zu
sagen, wir würden Weihnachtsgeschenke verteilen, wie
es gerade auch der Kollege Kurth getan hat, ist widersprüchlich. Sie tadeln uns, weil wir notwendige Verbesserungen in der Rentenversicherung vornehmen, und bezeichnen das als Weihnachtsgeschenk; Sie selbst aber
stellen Anträge für eine abschlagsfreie EM-Rente und
für die Aufhebung des Nachhaltigkeitsfaktors. Sie geißeln uns dafür, dass wir den Beitragssatz nicht senken,
sind aber eigentlich dafür, dass der Beitragssatz nicht gesenkt wird.
({3})
Also, Herr Kollege Kurth, irgendwo sollte das, was Sie
hier als rentenpolitisches Konzept darlegen, zusammenpassen.
({4})
So zeigt sich sehr deutlich, dass die Linke und die
Grünen in diesem Haus in keinster Weise positive Vorstellungen von der Zukunft der Alterssicherung der
Menschen haben.
({5})
Zur Alterssicherung der Menschen besagt ein OECDBericht, der morgen veröffentlicht wird - Herr Kollege
Birkwald, Sie haben ihn hier bemüht -, klar und deutlich, dass die Nachhaltigkeit der deutschen Rentenversicherung die beste im Vergleich mit allen anderen Rentenversicherungssystemen der OECD-Länder ist, und
zwar aufgrund der Maßnahmen, die wir in der Vergangenheit ergriffen haben: einmal der Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 bis zum Jahr 2029 - die Frau
Ministerin hat es dargelegt - und darüber hinaus der
Einführung des Nachhaltigkeitsfaktors. Das heißt, die
Menschen in Deutschland können sich auf die Stabilität
unseres Rentenversicherungssystems verlassen. Das ist
die beste Auszeichnung, vor allen Dingen auch für die
Bürgerinnen und Bürger.
({6})
Auf der anderen Seite gilt es, dieses verlässliche Rentenversicherungssystem, das wir für die Bürgerinnen und
Bürger über Jahrzehnte hinweg geschaffen haben, im
Sinne der Gerechtigkeitsfrage weiterzuentwickeln.
Diese Frage lösen wir, indem wir die Pläne für eine
Mütterrente umsetzen, wie wir, CDU/CSU, es im Wahlkampf hervorgehoben haben. Damit gewähren wir ab
dem 1. Juli nächsten Jahres, nicht schon ab Weihnachten, einen zusätzlichen Rentenpunkt. Viele Mütter in
Deutschland verbessern somit ihre Rentenanwartschaften bzw. erhalten höhere aktive Renten. Ich bin der Meinung, das ist im besten Sinne des Gebots des Gerechtigkeitsausgleichs, der aus folgendem Grund erforderlich
wurde: Für Kinder, die vor 1992 geboren worden sind,
wird nur ein Rentenpunkt angerechnet, und für die nach
1992 geborenen werden drei Rentenpunkte zugrunde gelegt. Wir haben dies hier dargelegt. Ich bin dankbar, dass
sich die zukünftigen Koalitionsfraktionen darauf geeinigt haben.
({7})
Herr Kollege Straubinger, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Birkwald zu?
Ja, sehr gerne, natürlich. Das verlängert meine Redezeit.
({0})
- Ja, sicherlich.
Vielen Dank, Frau Präsidentin und Herr Kollege
Straubinger, dass Sie diese Zwischenfrage zulassen. Herr Kollege Straubinger, Sie haben eben insinuiert,
dass der OECD-Bericht von der Rentenversicherung in
Deutschland schwärmt, vor allen Dingen haben Sie insinuiert, dass Geringverdienende eine auskömmliche
Rente hätten. Das Gegenteil ist der Fall. Das können Sie
in allen Zeitungen lesen. Ich zitiere jetzt einmal aus Ihrer
Lieblingszeitung; das ist die Bild.
Die kenne ich gar nicht.
Selbst in der Bild heißt es unter der Überschrift
„Feuer unterm Dach“:
Die Warnungen werden lauter, und sie kommen
nicht mehr nur aus Deutschland: Hunderttausenden
Geringverdienern droht im Alter der Absturz in
die Armut. … Deutschland, eine WirtschaftsWeltmacht, aber bei der Altersversorgung fast Entwicklungsland - das passt nicht zusammen.
So die Bild-Zeitung.
Die Kollegin, die bei der OECD zuständig ist, sagt,
dass das Altersgeld von Geringverdienenden in Deutschland so niedrig sei wie in kaum einem anderen OECDLand. Geringverdienende haben in Deutschland im
Schnitt netto 55 Prozent ihrer Bezüge, und in 27 OECDLändern liegt der Durchschnitt bei 82 Prozent.
Also deutlich ist - das gilt auch für die Kollegin
Ferner -: Heute stellt sich das Rentenversicherungssystem in Deutschland so dar, dass Geringverdienende sehr
schlecht abgesichert sind. Deswegen brauchen wir eine
„solidarische Mindestrente“, die den Namen auch verdient und von der Menschen im Alter armutsfrei leben
können. Wir brauchen nicht irgendwelche „Geschichten“, die deutlich niedriger liegen. Ich bitte Sie, zur
Kenntnis zu nehmen: Die OECD hat das Gegenteil von
dem gesagt, was Sie hier behauptet haben.
Herzlichen Dank.
({0})
Lieber Herr Kollege Birkwald, ich möchte Ihnen entgegensetzen - das kann dann die Bild-Zeitung auch
schreiben -: In Deutschland gibt es Altersarmut nur in
sehr, sehr begrenztem Maß: Nur 2,6 Prozent sind auf
Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung angewiesen.
({0})
Das zeigt sehr deutlich, dass die Alterssicherungssysteme greifen. Sie ruhen ja auf drei Säulen. Sie reden immer nur von der gesetzlichen Rentenversicherung. Es
gibt da auch noch die betriebliche Altersversorgung.
({1})
Genauso gibt es die private kapitalgedeckte Zusatzversorgung, die Sie aus ideologischen Gründen immer ablehnen, die aber unter dem Gesichtspunkt der Generationengerechtigkeit eine verbesserte Situation herbeiführt.
({2})
- Natürlich, Frau Ferner! - Im Alter wird ein ausreichendes Einkommen erzielt, wobei dies nicht allein die nachfolgende Generation zu leisten hat, weil vorher ja ein
Ansparvorgang stattgefunden hat. Bei der Rentenversicherung haben wir ein Umlagesystem. Das bedeutet,
dass die im Erwerbsleben Stehenden für die Rentenleistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung aufzukommen haben, während im anderen Fall ein Ansparvorgang stattfindet.
({3})
90 Millionen Lebensversicherungsverträge und ausgeklügelte Altersversicherungssysteme in unseren Industriebetrieben in Deutschland sorgen dafür, dass im Alter
eine gute Grundlage gegeben ist.
({4})
Im OECD-Bericht wird dies alles nicht ausreichend
berücksichtigt, Herr Kollege Birkwald.
({5})
Darüber hinaus kommt natürlich noch hinzu - bleiben
Sie bitte noch stehen, Herr Kollege; ich bin noch nicht
fertig -, dass Folgendes in die Waagschale gelegt werden
muss: Sie hantieren immer mit Prozentsätzen.
Herr Kollege Birkwald, das ist schon noch eine Antwort. Stehen Sie bitte wieder auf!
({0})
Aber mir sind 56 Prozent von einem relativ hohen
Durchschnittsgehalt - das ist die Grundlage des OECDBerichts - lieber als ein höherer Prozentsatz von einem
sehr niedrigen Verdienst in anderen Ländern.
({0})
In Deutschland geht es den Menschen im Alter also weit
besser als in vielen anderen Ländern. Das ist letztendlich
das Wichtigste für unsere Menschen.
Werte Damen und Herren, wir nehmen Verbesserungen vor. Das gilt auch in der Frage der Anerkennung von
langjährigen Beitragszahlungen. Das war schon Grundlage bei der Umsetzung der Rente mit 67, wo wir darauf
gedrängt haben, dass Menschen, die 45 Jahre Beiträge
gezahlt haben, ab dem 65. Lebensjahr - das gilt in der
Umsetzung seit 2002 - ohne Abschlag in Rente gehen
können. Es ist ein guter Kompromiss gefunden worden es ist ein gelungener Kompromiss -, dass jetzt bei
45 Jahren Beitragszahlungsdauer bereits ab einem Alter
von 63 Jahren - dann ansteigend - abschlagsfrei in
Rente gegangen werden kann. Das ist angemessen für
die Menschen, die in der gesetzlichen Rentenversicherung besonders langjährig versichert waren. Wir stehen
dazu, und ich glaube, dass dies ein wichtiger Punkt ist.
Ein Letztes noch. Gerade beim Übergang von der Erwerbstätigkeit in den Ruhestand gibt es derzeit einen
sehr starken Bruch. Wenn jemand vorzeitig Rente in Anspruch nimmt, kann er nur ein geringfügiges Beschäftigungsverhältnis eingehen. Viele angehende Rentnerinnen und Rentner wollen aber sozusagen gleitend in den
Ruhestand wechseln. Deshalb ist es richtig, wenn wir die
Hinzuverdienstmöglichkeiten bei vorzeitiger Inanspruchnahme von Rentenleistungen ausweiten. Das haben wir im Koalitionsvertrag vereinbart.
Ich glaube, das sind sehr viele positive Punkte. Ich
nehme an, dass auch die SPD-Mitglieder, die ja zur Abstimmung aufgerufen sind, dem zustimmen können und
dass wir dementsprechend eine zukunftsorientierte Renten- und Sozialpolitik für unser Land gestalten können.
In diesem Sinne herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({1})
Jetzt spricht der Kollege Peter Weiß.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie uns zum Abschluss dieser Debatte doch
einmal zurückschauen, woher wir kommen. Vor vier
Jahren hatten wir einen Rentenversicherungsbeitrag von
19,9 Prozent. Diesen haben wir in den vergangenen vier
Jahren um insgesamt 1 Prozentpunkt auf heute 18,9 Prozent absenken können.
({0})
Wir werden in dieser Legislaturperiode, so alle Prognosen, diesen Beitrag weiter stabil bei 18,9 Prozent halten
können.
Gleichzeitig werden wir zum Ende dieses Jahres in
der gesetzlichen Rentenversicherung voraussichtlich
eine Rücklage - sprich: ein Guthaben - von über 31 Milliarden Euro haben, die höchste Rücklage seit über
zwanzig Jahren. Man kann überall, in jeder Debatte, ein
Haar in der Suppe finden; aber ich meine, wir können eigentlich doch stolz darauf sein, dass wir in der Rentenversicherung einen relativ niedrigen Beitrag und gleichzeitig die höchsten Rücklagen seit über zwanzig Jahren
haben.
({1})
Das verdanken wir einer gut laufenden Wirtschaft,
gut laufenden Unternehmen und einer wachsenden Zahl
von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die mit einem guten Lohn auch gute Sozialversicherungsbeiträge
bezahlen. Wenn es ein Ziel zu Beginn einer neuen Legislaturperiode gibt, das uns einen sollte, dann sollte es das
sein, diese gute Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt, in
der Wirtschaft weiter zu beflügeln, damit unsere Rentenversicherung, der Kern des deutschen Sozialstaates, auch
in Zukunft gut finanziert ist, nicht ins Minus läuft und
trotzdem die Beiträge für die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer und die Unternehmen stabil bleiben. Das
muss unser gemeinsames Ziel sein.
({2})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich finde es richtig und auch notwendig, dass wir in einer solch guten Situation, in der wir uns befinden, die Handlungsmöglichkeiten nutzen, um allfällig notwendige Reformen im
Rentenrecht durchzuführen. Dazu gehört, dass wir die
Leistung derjenigen, die die Zukunft der Rentenversicherung gewährleisten, indem sie Kinder großziehen, in
der Rente besser bewerten. Dafür war es höchste Zeit.
Wir haben verabredet, das jetzt endlich zu machen.
Peter Weiß ({3})
({4})
Der zweite Punkt. Gerade Menschen, die wegen
Krankheit oder einem Unfall vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausscheiden müssen und die liebend gerne länger
gearbeitet hätten, sind heute in der Gefahr, dass sie mit
der Erwerbsminderungsrente, die sie erhalten, nicht auskommen können.
({5})
Bereits 10 Prozent der Rentner in Deutschland, die Erwerbsminderungsrente erhalten, müssen ergänzend
Grundsicherung beziehen. Deswegen ist es richtig, dass
wir die Handlungsmöglichkeiten nutzen, durch ein besseres Berechnungsverfahren dafür zu sorgen, dass auch
jemand, der vorzeitig wegen Krankheit oder Unfall aus
dem Erwerbsleben ausscheiden muss, eine Rente erhält,
die ihn möglichst nicht dazu zwingt, um zusätzliche
staatliche Stütze anstehen zu müssen.
({6})
Herr Kollege Weiß, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Andreae?
Ja, bitte schön.
Herr Kollege Weiß, Sie haben vorhin davon gesprochen, dass die Beitragssätze bei 18,9 Prozent stabil gehalten werden können und die Rentenkasse mit 31 Milliarden Euro voll ist. Sie sagten, es wäre jetzt an der Zeit,
die Mütterrente einzuführen. Sie wissen, dass, wenn Sie
die Mütterrente aus der Rentenkasse und damit aus den
Beiträgen der Beitragszahler finanzieren, die 31 Milliarden Euro schmelzen werden; denn Sie werden jedes Jahr
6 bis 7 Milliarden Euro für die Mütterrente ausgeben
müssen. Die Mütterrente ist definitiv eine versicherungsfremde Leistung. Sie hat mit den Beiträgen in die Rentenkasse nichts zu tun. Wenn Sie die Mütterrente wollen,
dann müssen Sie sie - das ist zwingend logisch - über
Steuermittel finanzieren.
Ich möchte Sie noch auf ein Zitat aus einer Rede von
Ihnen von vor einem Jahr hinweisen:
Wenn ich die Rücklage aber verjubeln will,
- das haben Sie gesagt dann habe ich für die Rentenversicherung nichts
gewonnen, sondern werde sie auf alle Zeit mit höheren Belastungen versehen und künftig immer
höhere Beiträge der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler erheben müssen.
Erklären Sie mir, warum Sie nicht in der Lage sind, zu
sagen: „Die Mütterrente muss zwingend logisch aus
Steuermitteln finanziert werden und hat mit den Beitragszahlungen in die Rentenkasse nichts zu tun“!
({0})
Frau Kollegin Andreae, Frau Bundesministerin von
der Leyen hat in ihrer Rede bereits darauf hingewiesen,
dass die gesetzliche Rentenversicherung schon heute in
einem hohen Maß, nämlich zu einem Drittel ihrer Ausgaben, aus Steuermitteln finanziert ist.
({0})
Das heißt, die Beiträge der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler bestreiten nur zwei Drittel der jährlichen
Ausgaben; ein Drittel kommt aus den Steuermitteln.
({1})
- Frau Ferner, dieser Betrag ist mehr als das, was wir für
sogenannte versicherungsfremde Leistungen aus der
Rentenversicherung ausgeben.
Ich komme zu einem zweiten Punkt und möchte das,
was die Frau Ministerin bereits vorgetragen hat, wiederholen: Es ist verabredet, dass ein zusätzlicher Bundeszuschuss in Höhe von 2 Milliarden Euro hinzukommen
soll, um den Beitrag des Bundes zur Stabilisierung des
Rentenniveaus und zur Stabilisierung des Rentenbeitragssatzes auch in Zukunft zu gewährleisten.
({2})
Ich finde: Zusammengerechnet ist es eine großartige
Leistung, die wir aus dem Steueraufkommen erbringen.
Das macht es uns möglich, die Leistungen so auszugestalten, wie wir es im Koalitionsvertrag miteinander verabredet haben.
({3})
Weil wir hier über den Beitragssatz diskutieren und
weil Sie, Frau Kollegin Andreae, sich als mittelstandspolitische Sprecherin der Grünen gern bei Unternehmen
in unserem Lande aufhalten,
({4})
möchte ich eines sagen: Für die Unternehmer in unserem
Land ist eine Beitragssatzstabilität das Allerwichtigste,
sodass sie wissen: Ich muss nicht mit Sprüngen nach unten oder nach oben rechnen, sondern kann stabil kalkulieren.
({5})
Würden wir den Beitragssatz jetzt senken, dann wäre
klar, dass er in wenigen Jahren wieder deutlich nach
oben gehen würde. Deswegen ist alles, was wir tun, eiPeter Weiß ({6})
nem Ziel verpflichtet: der Beitragssatzstabilität für die
Unternehmen und für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland.
({7})
Unsere Bundeskanzlerin hat gestern bei der Vorstellung des Koalitionsvertrages erklärt, dass es bei erfolgreicher Umsetzung dieses Koalitionsvertrages eine gute
Chance gibt, dass es uns in vier Jahren, also 2017, besser
gehen wird als heute. Diese Botschaft gilt uneingeschränkt auch für die Rentenpolitik. Ja, wir wollen für
stabile Beiträge, eine ausreichende Finanzierung, Rücklagen in der Rentenversicherung und dort, wo es notwendig ist, für rentenpolitische Verbesserungen sorgen,
damit es den Menschen 2017 besser geht als heute.
Vielen Dank.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit schließe ich
die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/52 an den Hauptausschuss vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Oliver
Krischer, Bärbel Höhn, Annalena Baerbock,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Klimakonferenz in Warschau - Ohne deutsche Vorreiterrolle kein internationaler Klimaschutz
- Drucksache 18/96 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe die erste Rednerin in dieser Runde auf: Das
ist Annalena Baerbock. Sie haben das Wort!
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! 5 200 Tote und 3,5 Millionen vertriebene Philippinerinnen und Philippiner - die Mahnung an
die Staaten der Welt vor der Weltklimakonferenz hätte
nicht mächtiger ausfallen können. Doch trotz aller Solidaritätsbekundungen verdeutlichten die Staaten in Warschau, welch niedrigen Stellenwert sie dem Klimaschutz
mittlerweile einräumen.
Die - ohnehin als technische COP angesetzte - Klimakonferenz war geprägt von einer Ambitionslosigkeit
der Staaten, die ihresgleichen sucht. Japan und Australien kippten schon vorab ihre Klimaambitionen. Der
Gastgeber Polen veranstaltete parallel zur Weltklimakonferenz einen Kohlegipfel, und Sie, Herr Altmaier,
verdeutlichten mit Ihrer Stippvisite, welche Priorität der
Klimawandel bei Ihnen hat. Sie haben lieber abends mit
Maybrit Illner auf dem Sofa geplaudert, anstatt mit den
Chinesen ernsthaft über CO2-Reduktionsziele zu diskutieren.
({0})
In Ihrer Rede erwähnten Sie ganz kurz: „Wir sind
wieder da im Klimaschutz“. Ich fragte mich angesichts
dessen, dass Deutschland in Warschau beim Klimaindex
gerade auf den beschämenden 19. Platz zurückgestuft
wurde, was Sie mit „da“ eigentlich meinten. Der Koalitionsvertrag gibt darauf jetzt eine Antwort. Mit „da“ war
nicht die Vorreiterschaft im internationalen Klimaschutz
gemeint, mit „da“ war gemeint: Wir sind wieder da im
Kohlezeitalter in Deutschland.
({1})
Von dem so wichtigen Klimaschutzgesetz, das Sie,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, in mehreren Bundesländern gemeinsam mit den Grünen mittragen, findet sich keine Spur mehr im Koalitionsvertrag.
Stattdessen heißt es in Ihrem Vertrag, die Braunkohle,
also der Klimakiller Nummer eins, spiele nach wie vor
eine bedeutende Rolle und konventionelle Kraftwerke
seien auf absehbare Zeit unverzichtbar. Mit Blick auf
den Fahrplan für ein neues Klimaabkommen in Paris
2015, für den sich die EU in Warschau zu Recht sehr
starkgemacht hat, kann man angesichts dieser Vorhaben
nur hoffen, dass Ihr Koalitionsvertrag nicht so schnell
ins Englische übersetzt wird. Denn erklären Sie mir bitte
einmal, wie Sie die Entwicklungsländer dazu bewegen
wollen, in den nächsten Monaten ambitionierte Reduktionsziele auf den Tisch zu legen, wenn Deutschland selber weiter Klimakiller - wie bei mir in Brandenburg das
Kraftwerk Jänschwalde, das mehr CO2 ausstößt als
26 afrikanische Staaten zusammen - langfristig am Netz
halten will, sehr verehrte Damen und Herren von der
SPD und der CDU/CSU.
({2})
Ihr Koalitionsvertrag mag Schritte in die richtige
Richtung enthalten. Man muss aber ganz klar sagen: Für
die Energiewende und die internationale Klimapolitik ist
er ein Desaster. Während in Warschau eines der wirklich
positiven Signale war, dass vor Ort die erneuerbaren
Energien weiter ausgebaut werden, dass mittlerweile
70 Prozent der weltweiten Investitionen der Energieindustrie in Erneuerbare gehen, deckeln Sie den Ausbau
der erneuerbaren Energien in Deutschland. Die Beschränkung des Ökostromanteils auf 45 Prozent bis 2025
und bis 60 Prozent bis 2030 halbiert das heutige Ausbautempo. Ich frage Sie sehr direkt, liebe Kolleginnen
und Kollegen von SPD und CDU/CSU: Ist Ihnen eigentlich klar, dass Ihre Pläne zur Windhöffigkeit bedeuten,
dass in Zukunft südlich von Hannover so gut wie kein
neues Windrad mehr gebaut werden kann? Ich frage
auch Sie, lieber Herr Altmaier, wie Sie mit solchen Plä110
nen, die den Erneuerbaren die Flügel stutzen und dem
Klimaschutz „Made in Germany“ eine Absage erteilen,
in den nächsten Monaten international ernsthaft für ambitionierte Ziele werben wollen.
Eine für ein neues Klimaschutzabkommen so wichtige Vorreiterschaft hieße, über 80 Prozent der Bevölkerung in unserem Land, die für die Energiewende stehen,
und Millionen von Menschen, die die Energiewende mit
eigenen Solaranlagen auf ihren Dächern tagtäglich vorantreiben, nicht weiter vor den Kopf zu stoßen. Vorreiter sein hieße, die Warnungen der direkt vom Klimawandel betroffenen Entwicklungsländer ernst zu nehmen
und den jüngst veröffentlichten Sachstandsbericht des
IPCC mit Maßnahmen zu untermauern. Vorreiter sein
hieße, Mindestwirkungsgrade für fossile Kraftwerke
festzusetzen und den Aufschluss neuer Tagebaue durch
eine Novelle zum Bergrecht auszuschließen. Vorreiter
sein hieße, sich auf europäischer Ebene bis zum Frühjahrsgipfel der EU für ernsthafte und ambitionierte CO2Reduktionsziele von mindestens 55 Prozent bis 2030
einzusetzen.
({3})
Vorreiter sein hieße auch, meine sehr verehrten Damen
und Herren, den Emissionshandel wieder zu einem
scharfen Schwert des Klimaschutzes zu machen, indem
wir eine Preisuntergrenze für CO2-Zertifikate einführen
und für eine dauerhafte Marktverknappung sorgen.
Liebe Kollegin Baerbock, es gibt den Wunsch einer
Zwischenfrage aus den Reihen der CDU/CSU. Lassen
Sie sie zu?
Ja, fragen Sie ruhig.
Die Kollegin Baerbock lässt die Frage zu.
({0})
Bitte, Herr Kollege.
Frau Präsidentin! - Liebe Kollegin Baerbock, vielen
Dank, dass ich eine Zwischenfrage stellen darf. Ich hätte
sie auch am Ende der Rede stellen können. Da es aber
meine erste Zwischenfrage ist, stelle ich sie jetzt direkt.
Dies ist auch meine erste Rede; das trifft sich gut.
({0})
Sie haben in Ihrer sehr emotionalen Rede auf die
schreckliche Katastrophe auf den Philippinen abgehoben. Ihnen ist aber schon klar - das meine ich jetzt ohne
Zynismus -, dass der Taifun und seine schrecklichen
Auswirkungen auf den Philippinen, wenn überhaupt, nur
sehr peripher etwas mit dem Klimawandel zu tun haben.
({0})
Ich beziehe mich dabei auf einen Fachartikel, der vor einiger Zeit im Tagesspiegel erschienen ist und in dem
sehr deutlich ausgeführt wurde, dass die jahrzehntelange
Entwaldung kombiniert mit dem massiven Bevölkerungsanstieg mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit die
Hauptursache für die schreckliche Dimension dieser Katastrophe auf den Philippinen ist. Ich finde - das wäre
meine Frage -, wir sollten in dieser Diskussion zu einer
etwas sachlicheren Betrachtung solcher Ereignisse kommen; denn es kann nicht sein, dass jeder Taifun - Taifune
wird es auch in der Zukunft immer wieder geben; das ist
ein Stück weit eine Zwangsläufigkeit - die Debatte befördert und damit Diskussionen, die wir auf einer sachlichen und wirtschaftlich relevanten Basis führen müssen,
ein Stück weit übertüncht werden.
Vielen Dank.
Vielen Dank für Ihre Frage. - Ich hätte nicht gedacht,
dass Sie den Koalitionsvertrag noch übertreffen können.
Darin wird ja anerkannt, dass der Klimawandel vom
Menschen gemacht ist. Das erkennt ja nicht nur die Bundesregierung, sondern, wie ich glaube, so gut wie jeder
in diesem Land an. Wenn Sie das nicht anerkennen, dann
gehören Sie zu einer deutlichen Minderheit.
({0})
Natürlich kann man nie sagen, ob ein einzelner Taifun
vom Klimawandel verursacht ist. Aber die Erderwärmung und vor allen Dingen die Erwärmung der Meere
führen dazu - lesen Sie das einmal genau nach -, dass
sich die Wirbelstürme weltweit, nicht nur auf den Philippinen, sondern auch bei uns, verschärft haben. Ich
glaube, es gibt doch fachliche Studien, die das untermauern.
Sie haben die Entwaldung angesprochen, die ich zum
Ende meiner Rede ohnehin erwähnt hätte. Wir sind ja in
Warschau zum Glück dazu gekommen, dass das Wiederaufforstungsprogramm REDD+ auf den Weg gebracht
wurde, dass Mittel bereitgestellt werden und dass wir
uns weltweit für eine Eindämmung der Abholzung von
Tropenwäldern einsetzen. Ein schöner Nebeneffekt war
- dafür sind solche internationalen Konferenzen ja auch
immer gut -, dass indigene Völker jetzt erstmalig international anerkannt werden, womit ihr Schutz einhergeht.
In diesem Sinne war, glaube ich, der Taifun eine sehr
gute Mahnung, sowohl in Richtung Klimawandel als
auch bezogen auf die Entwaldung, die global gerade
stattfindet.
({1})
Zum Schluss ist mir eines wahnsinnig wichtig: Ich
glaube, alle, die gesehen haben, dass die Preise im Emissionshandel durch das Backloading eben nicht nach oben
gegangen sind, dass wir immer noch bei 5 Euro pro
Tonne CO2 kreisen, obwohl wir eigentlich Preise von
25 bis 30 Euro pro Tonne bräuchten, haben verstanden,
dass wir dringend etwas tun müssen. Einige der Forderungen, gerade auch von anderen internationalen Delegationen, lauteten ja, dass die EU hier endlich handeln
muss. Daher fordern wir Sie in unserem Antrag dazu auf,
sich in Vorbereitung des Frühjahrsgipfels auf EU-Ebene
dafür einzusetzen, dass wir den Emissionshandel wieder
zu dem machen, was er eigentlich sein sollte: ein scharfes Schwert im Klimaschutz, das zu einer dauerhaften
Marktverknappung beim Emissionshandel führt.
({2})
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
In diesem Sinne möchte ich bei Ihnen, liebe Parlamentarierinnen und Parlamentarier, dafür werben, dass
wir heute trotz dieses Koalitionsvertrages als Parlament
deutlich machen, dass Deutschland den Klimaschutz in
Zukunft nicht ersatzlos streichen will, sondern dass wir
mit ambitionierten Schritten auf dem Weg nach Paris voranschreiten. Dafür brauchen wir ambitionierte Maßnahmen vonseiten Deutschlands und von der EU. Stimmen
Sie bitte deshalb unserem Antrag zu!
Herzlichen Dank.
({0})
Dies war die erste Rede der Kollegin Baerbock,
gleich mit einer Zwischenfrage. Herzlichen Glückwunsch!
({0})
Jetzt spricht der Bundesminister Altmaier.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Frau Kollegin Baerbock, auch ich gratuliere Ihnen herzlich zu Ihrer Jungfernrede und wünsche Ihnen
eine gute und interessante Arbeit im Deutschen Bundestag.
({0})
Die Vereinbarungen von Warschau sind ein wichtiger
Zwischenschritt auf dem Weg zu einem großen Klimaabkommen in Paris, das alles andere als sicher, aber
dringend notwendig ist; sie sind nicht mehr und auch
nicht weniger. Vor allen Dingen haben die getroffenen
Vereinbarungen - wie bei allen anderen Klimakonferenzen seit Kioto - die Hoffnungen von Millionen von
Menschen nicht erfüllt, die unter dem Klimawandel leiden oder die - wie wir in Deutschland, in Europa und in
anderen Ländern - hoffen, dass sich die Weltgemeinschaft endlich einmal dazu aufrafft, etwas Durchgreifendes zu tun.
Trotzdem haben wir gemeinsam die Verantwortung,
die Fortschritte, die wir erreichen, und die Beiträge, die
wir leisten, nicht kleinzureden, so wie es heute hier und
auch in manchen Kommentaren geschehen ist; denn wir
befinden uns in einer Situation, in der es der Klimaschutz weltweit schwerer hat als vor 10 oder 15 Jahren.
Die Banken- und Börsenkrise, die Staatsschuldenkrise,
die weltweite Wirtschaftskrise, all das hat dazu geführt,
dass eine Reihe von Staaten ihre Ambitionen zurückgeschraubt haben und andere Staaten beim Eingehen von
Verpflichtungen vorsichtig sind. Wir haben die Situation, dass Länder wie Japan und Australien beim Klimaschutz eher auf dem Rückmarsch sind und dass Schwellen- und Entwicklungsländer wie Indien, China und
Brasilien beim Eingehen von Verpflichtungen sehr vorsichtig sind, obwohl sie erkannt haben, dass sie mit weiterhin ungehemmt steigenden CO2-Emissionen den Ast
absägen, auf dem sie selber sitzen.
Vor diesem Hintergrund haben wir alle gemeinsam
die Verantwortung, dafür zu sorgen, dass es beim Klimaschutz nicht rückwärts, sondern vorwärts geht und dass
wir in Paris im Jahre 2015 zum ersten Mal ein Abkommen erreichen, das nicht nur einige Industrieländer, sondern alle Länder auf dieser Welt verpflichtet, also für alle
Länder klare und nachvollziehbare Minderungsverpflichtungen festschreibt. Davon sind wir noch ein erhebliches Stück entfernt.
Herr Bundesminister, lassen Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Höhn zu?
Von der Kollegin Höhn jederzeit.
Danke schön. - Herr Bundesumweltminister, ich habe
Ihren Koalitionsvertrag genau studiert. Darin haben Sie
sehr deutlich geschrieben, es müsse sichergestellt werden, dass es sich beim Backloading, für das Sie sich zu
Recht eingesetzt haben - es ist jetzt auch auf EU-Ebene
beschlossen -, um eine einmalige Maßnahme handelt:
Die Zertifikate müssen zurück in den Markt, und mehr
gibt es auch nicht.
Nun wissen Sie, dass Backloading nicht reicht. Wenn
Sie also, wie Sie eben gesagt haben, für einen ehrgeizigen Klimaschutz stehen, wenn Sie Länder wie China
und Indien dazu bringen wollen, etwas zu tun - auch
China muss etwas tun; der durchschnittliche CO2-Ausstoß pro Kopf ist dort schon fast so hoch wie in Europa -,
dann muss Europa vorangehen. Also: Backloading reicht
nicht. Bedeutet dieser Koalitionsvertrag, dass Sie sich
nicht für ein Set-aside und für eine Reduktion der CO2Emissionen um 30 Prozent bis 2020 einsetzen werden?
Wie wollen Sie unter diesen Bedingungen die anderen
Länder dazu bringen, etwas zu tun?
Frau Kollegin Höhn, ich kann mich erinnern: In den
letzten anderthalb Jahren haben Sie mich eigentlich alle
vier Wochen gefragt, warum es beim Backloading nicht
endlich einmal vorangeht; Sie haben uns alles Mögliche
unterstellt. Nun ist die Bundestagswahl gerade einmal
sechs Wochen vorüber, und wir haben das Backloading
im Ministerrat in Brüssel beschlossen; es ist auf dem allerbesten Weg. Da hätten Sie vielleicht wenigstens einmal anerkennend sagen können, dass wir in diesem
Punkt partei- und fraktionsübergreifend einen Fortschritt
erzielt haben.
({0})
Das war der erste Punkt.
Der zweite Punkt: Das Backloading findet einmalig
statt, weil es nicht ständig willkürliche Eingriffe in ein
Handelssystem geben kann, das nach marktwirtschaftlichen Kriterien funktioniert. Aber das schließt nicht aus,
dass wir uns in den nächsten Wochen, Monaten und Jahren auf eine strukturelle Reform des Emissionshandelssystems verständigen,
({1})
um ihn wirksamer und besser zu machen. Was niemand
will, ist, dass es je nach Kassenlage Eingriffe gibt, die
niemand voraussehen und kalkulieren kann. Wir brauchen auch in diesem Bereich Beständigkeit und Verlässlichkeit.
({2})
Es ist deshalb auch wichtig, meine sehr verehrten Damen und Herren, dass wir uns im Koalitionsvertrag eindeutig zu unseren Zielen beim Klimaschutz und bei den
erneuerbaren Energien bekennen, die für die Bundesregierung - für alle Bundesregierungen der letzten
20 Jahre - maßgeblich waren. Das bedeutet, dass wir
den Ausstoß von CO2 in Deutschland bis 2050 um 80 bis
95 Prozent reduzieren wollen. Von diesem Ziel gehen
wir nicht ab. Wir wollen, dass Europa insgesamt Vorreiter wird.
({3})
Wir haben uns im Koalitionsvertrag dazu bekannt, dass
wir innerhalb der EU ein ambitioniertes Treibhausgasminderungsziel von mindestens 40 Prozent für das Jahr
2030 festsetzen und dass wir in einer Zieltrias darüber
hinaus auch ambitionierte Ziele in Bezug auf erneuerbare Energien und Energieeffizienz beschließen.
All das macht deutlich, dass Deutschland auch in
Europa ein Vorreiter beim Klimaschutz bleibt. Aber es
macht auch deutlich, dass wir das mit Augenmaß tun
und dass wir es so tun wollen, dass die Unternehmen und
die Arbeitsplätze in Deutschland erhalten bleiben, dass
sie sich an die neuen Bedingungen anpassen können und
dass wir unsere Vorreiterstellung, auch was die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit und die Zahl von Industriearbeitsplätzen in Deutschland angeht, auch in Zukunft erhalten und verteidigen können. Das ist übrigens
ein wichtiges Ziel; denn es nützt gar nichts, liebe Frau
Kollegin Höhn, wenn wir hier in Deutschland die
strengsten Klimaschutzauflagen haben, aber gleichzeitig die Unternehmen, die Stahl, Kupfer, Aluminium und
anderes produzieren, in Ländern produzieren, in denen
es diese Klimaschutzauflagen nicht gibt. Dann haben wir
am Ende für den Klimaschutz nicht mehr, sondern weniger erreicht. Das ist der Grund, warum wir ein weltweites Abkommen brauchen, das für alle Länder gleichermaßen verbindlich ist.
({4})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe sowohl in Warschau als auch an anderer Stelle nachdrücklich betont, dass ich der Auffassung bin, dass sich auch
jene Länder bewegen müssen, die schon damals in Kopenhagen verhindert haben, dass wir ein notwendiges
Abkommen beschließen konnten. Das sind vor allen
Dingen die großen Länder USA und China. In beiden
Fällen haben sich die politischen Führungen, Präsident
Obama und die neue Staats- und Parteiführung in China,
in den letzten Monaten klimapolitisch konstruktiv und
positiv geäußert. Wir finden aber, dass das noch nicht in
ausreichendem Maße das reflektiert, was auf internationalen Klimaschutzkonferenzen möglich ist. Jedenfalls
haben wir das in dieser Form in Warschau nicht vorgefunden.
Es war wichtig, dass wir in Warschau einen Fahrplan
für Paris ausgearbeitet haben, der vorsieht, dass alle Länder aufgefordert sind, deutlich vor der Konferenz, nämlich bereits im März 2015, ihre eigenen Verpflichtungen
und Beiträge vorzulegen und offenzulegen; denn dann
können wir einschätzen, ob die vorgesehenen Maßnahmen ausreichen, um das 2-Grad-Ziel zu erreichen. Anschließend werden wir darüber sprechen, inwieweit der
Erfolg der Beiträge, die in der Zeit, bevor das Abkommen 2020 in Kraft tritt, geleistet werden, nachzuprüfen
ist. Sie sehen: Das ist alles hochkomplex und hochkompliziert.
Wir haben in Bezug auf Deutschland im Übrigen auch
klargemacht, dass wir zu unseren Zusagen zur internationalen Klimafinanzierung stehen. Wir haben klargemacht, dass wir zu unseren Zusagen für den Green
Climate Fund stehen. Wir haben klargemacht, dass wir
zu unseren sonstigen Zusagen stehen. Aber es kann nicht
sein, dass nur Norwegen, Schweden, Deutschland und
einige andere Länder diese Beiträge leisten. Wir erwarten, dass andere Länder in vergleichbarer Situation diesem Beispiel folgen und ebenfalls ihre nationalen Beiträge entsprechend erhöhen und ihre Zusagen einlösen.
({5})
Wir haben in einem Bereich - ich freue mich sehr,
dass die Kollegin Baerbock das angesprochen hat - einen wirklichen Durchbruch erzielt, und zwar beim Waldschutz. Ich habe an der entsprechenden Konferenz in
Warschau nicht nur teilgenommen, sondern auch noch
einmal die deutsche Position vertreten. Wir haben nicht
nur die finanziellen Mittel für den Waldschutz erhöht,
sondern wir haben vor allen Dingen zum ersten Mal mit
dem Methodenhandbuch einen unabhängigen Überprüfungsmechanismus für die erreichten Emissionsminderungen in Entwicklungsländern geschaffen. Es wird für
die Industrieländer viel einfacher und viel attraktiver
sein, in den Waldschutz in Entwicklungsländern zu investieren, wenn klar ist, dass die gesteckten Ziele tatsächlich überprüfbar und verifizierbar sind; denn nur
dann lohnt es sich im Endeffekt, entsprechende Gelder
einzusetzen. Genau das haben wir erreicht, übrigens gemeinsam mit unseren Kollegen und Freunden aus Großbritannien und Norwegen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir werden
in den nächsten Wochen und Monaten harte Arbeit vor
uns haben. Wir werden mit der Reform des deutschen
EEG, die wir im nächsten Jahr beginnen, deutlich machen: Wir stehen zu den erneuerbaren Energien, aber sie
müssen so bezahlbar werden, dass sie sich auch Länder
wie China und Indien leisten können. Wir werden im
Frühjahr deutlich machen, dass sich die Europäische
Union ein ambitioniertes Klimaschutzziel für das Jahr
2030 gesetzt hat. Wir werden alle Kräfte einsetzen, damit der Klimaschutzgipfel in Paris im Jahre 2015 endlich
ein Klimaschutzgipfel wird, der diesen Namen auch verdient.
In diesem Sinne: Die Anstrengungen lohnen sich. Der
Kollege, der die Zwischenfrage gestellt hat, die Kollegin
Baerbock und alle anderen in diesem Hause sind herzlich eingeladen, die neue Bundesregierung in diesen Anstrengungen zu unterstützen.
Vielen Dank.
({6})
Als nächste Rednerin spricht jetzt die Kollegin
Bulling-Schröter.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn unsere Nachkommen eines Tages schauen, was in
den Geschichtsbüchern über die Weltklimakrise steht,
dann werden sie nur zu einem Schluss kommen können:
mit Vollgas gegen die Wand. Der Warschauer Klimagipfel - meine Vorredner haben ihn bereits angesprochen -,
aber auch der Koalitionsvertrag von CDU, CSU und
SPD weisen in diese Richtung. Ich glaube nicht, dass die
künftige Bundesregierung es wirklich ernst meint mit
dem Klimaschutz, erst recht nicht unter der Ägide der
Möchtegernklimakanzlerin Merkel. Der Klimagipfel in
Warschau hat gezeigt, dass sich die Klimakrise weltweit
weiter zuspitzt. Trotz aller Warnungen der Wissenschaft
wird immer noch zu wenig gehandelt, auch und gerade
in Deutschland.
({0})
Die Gefahr des Klimawandels wird kollektiv verdrängt. Damit meine ich nicht nur die Klimawandelleugner in der CDU, von denen sich einer vorhin zu Wort gemeldet hat. Wir kennen die Arbeitsteilung von der
letzten Großen Koalition: Die SPD schmeißt ihre Wahlversprechen über Bord, um mit Volldampf Kurs auf
mehr Braunkohletagebau und mehr Kohlekraftwerke zu
nehmen.
({1})
Verpufft ist auch Steinbrücks noch im August angekündigte staatliche Strompreisaufsicht, mit deren Hilfe
Energiearmut und Stromsperren verhindert und die Willkür der Stromversorger bei der Preisbildung beendet
werden sollten. Wie steht es so schön im Koalitionsvertrag: Begrenzung der „Kostendynamik beim Ausbau der
erneuerbaren Energien“, und man will „der Entwicklung
der konventionellen Energiewirtschaft einen stabilen
Rahmen“ geben. Was hinter dieser Verklausulierung
steht, ist ja wohl klar: Der Ausbau der Erzeugung von
Energie aus Wind und Sonne wird gebremst; schwarz
wie Kohle ist die Zukunft.
Damit hat Hannelore Kraft zum wiederholten Male
ihre schützende Hand über die sogenannte fossile Energieindustrie gehalten. Und die CDU? Die zieht mit.
Wenn es dem Klima an den Kragen geht, dann ist die
Union sogar noch besser. Ich nenne nur die QuandtSpenden und Daimlers frisch gebackenen Lobbychef
Eckart von Klaeden. Die Autolobby ist stark. Sie sorgt
dafür, dass in Brüssel die Begrenzung des CO2-Ausstoßes bei Pkw ausgebremst wird und durch eine Blockade
im Rat die Rechte des Europaparlaments infrage gestellt
werden. Das BMW-Mandat wird geflissentlich umgesetzt: Bloß keine Unternehmensinteressen antasten, weder in Europa noch im Bund! Den Vorschlag der SPD,
ein Klimaschutzgesetz auf den Weg zu bringen, haben
die Herren von der CDU auch zu Fall gebracht. Der Klimaexperte der SPD twitterte dazu: Klimaschutz im Koalitionsvertrag - Note drei minus. Mal sehen, ob die
SPD die Versetzung schafft. Klar ist, dass wir mehr Arbeitsplätze brauchen; aber wir brauchen ökologische Arbeitsplätze, mit weniger CO2-Ausstoß. Ich sage Ihnen:
Das ist machbar.
({2})
Für Millionen von Menschen, die nicht erst seit heute
unter den Folgen der Gletscherschmelze, unter den Folgen von Überschwemmungen und Dürren leiden, wird
Deutschland unter dieser Großen Koalition - das ist eine
große Kohle- und Autokoalition - wenig Gutes bringen.
Das hat natürlich mit Kapitalismus zu tun. Wir müssen
Nein sagen zu dieser Wirtschaft der Ausschließung und
der Disparität der Einkommen,
({3})
und zwar nicht nur zwischen dem Bodensee und Rügen,
sondern weltweit. Die Verweigerung der Regierungsparteien, die freien Kräfte des Marktes an die Leine zu nehmen, ist nicht nur ein Beleg für die Beißhemmung der
Politik gegenüber der Wirtschaft - dieser Vorwurf stimmt
einfach -; aufs Spiel gesetzt wird die Atmosphäre des
ganzen Planeten. Ich sage Ihnen: Diese Wirtschaft,
meine Damen und Herren, tötet. - Darüber regt sich ja
niemand auf. Das wundert mich.
({4})
Die Forderung nach weniger Egoismus und mehr Gerechtigkeit, gerade auch in Klimafragen, würde ich sofort unterschreiben. Gestellt hat sie kein Geringerer als
Papst Franziskus in seiner jüngsten Erklärung zur Reformierung der katholischen Kirche. Sie arbeitet sogar an
einer Umweltenzyklika. Wenn selbst der Vatikan das
sagt, dann, meine ich, sollten auch Sie ihm einmal zuhören und nicht nur ich als alte Linke.
({5})
Zum Schluss noch: Es gibt im Internet ein BlaBlaMeter,
das Texte auf ihren Aussagegehalt prüft und ganz unideologisch entlarvt, wie viel um den heißen Brei herumgeredet
wird. Wir haben dort einmal die Klimavereinbarung aus
dem Koalitionsvertrag eingegeben. Ich zitiere das Ergebnis: Ihr Text riecht schon deutlich nach heißer Luft. Sie
wollen hier wohl offensichtlich etwas verkaufen oder jemanden tief beeindrucken.
({6})
Liebe Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss. - Die Linke sagt: Wir wollen eine gerechte Klimapolitik und eine Energiewende
ohne Stromsperren und Industrieprivilegien. Wir brauchen Klimagerechtigkeit weltweit. Nach 20 Jahren erfolgloser Klimapolitik heißt das für uns auch, dass der
Status Klimaflüchtling in die UN-Flüchtlingskonvention
aufgenommen werden muss.
({0})
Es spricht jetzt der Kollege Frank Schwabe.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst einmal ganz herzlichen Dank an diejenigen,
die für uns verhandelt haben, an die Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter, an die Chefdiplomaten des Bundesumweltministeriums und anderer deutscher Ministerien.
Wir haben international wirklich einen guten Ruf. Ich
glaube, den Dank dafür muss man aussprechen.
({0})
Ich will mich auch bei den Kolleginnen und Kollegen
aus dem Bundestag bedanken. Es war gut, dass wir dort
mit einer Delegation vertreten waren; denn so können
wir besser verstehen, wie die internationalen Prozesse
jenseits der nackten Vertragstexte ablaufen. Es ist auch
gut, dass wir die deutsche Position dort durchaus differenziert darstellen konnten.
Was die Ergebnisse dieser Klimakonferenz und auch
die Ergebnisse der Konferenzen der letzten Jahre betrifft,
empfehle ich einen nüchternen Blick. Wir brauchen
diese Klimakonferenzen; das ist meine Quintessenz der
letzten Jahre. Wir haben gesehen, dass wir beim Waldschutz und auch beim Umgang mit klimawandelbedingten Schäden durchaus Fortschritte erreicht haben. Das ist
das eine. Wir brauchen also diesen Prozess; ich würde
ihn nicht über Bord werfen. Aber wahr ist auch: Wir
brauchen ergänzende Prozesse. Wir brauchen, wie es international genannt wird, Vorreiterallianzen. Auch da ist
es gut, dass Deutschland im Rahmen von IKI-Projekten
und anderen Projekten international eine Menge guter
Arbeit leistet. Allerdings - auch das will ich sagen - war
das, was wir in den letzten vier Jahren auf höchster
Ebene, auf Ministerebene gesehen haben, zu schwach.
Ich weiß bis heute nicht, was der Club der Energiewende-Staaten eigentlich sein soll. Es wird Aufgabe der
zukünftigen Koalition sein, Klarheit darüber zu schaffen.
({1})
Das ist meiner Meinung nach das, was gebraucht
wird. Deutschland hat eine große Verantwortung. Der
Begriff der Energiewende ist - das war auf der Konferenz interessant - in der Tat ein Begriff, den alle durchbuchstabieren können; egal ob Chinesen, Menschen aus
Bangladesch, Nigeria, Peru oder Mexiko, alle konnten
uns sagen, was Energiewende bedeutet. Auch wenn wir
unterschiedliche Einschätzungen dazu haben, wer für die
Energiewende verantwortlich ist und wer sie eher blockiert, sind wir uns, glaube ich, einig, dass Deutschland
diese Verantwortung hat. Dafür müssen wir unsere nationalen Aufgaben erledigen, und wir müssen europäisch
und international wieder zurück auf das Spielfeld. Wir
brauchen in Deutschland in den nächsten vier Jahren
eine Renaissance einer ambitionierten Klimaschutzpolitik.
({2})
Ich jedenfalls finde, dass es in den letzten vier Jahren
Stillstand bis Rückschritt gegeben hat. Ich will auch aufzeigen, wo der Rückschritt in den letzten Jahren stattfand. Es gab in der Tat eine viel zu lange Blockade beim
Emissionshandel, insbesondere beim Backloading, aber
nicht nur dort. Es gab eine Blockade im Bereich der
Energieeffizienz. Es gab eine Blockade bei den CO2Frank Schwabe
Grenzwerten bei Automobilen. Es gibt faktisch auch
eine Blockade hinsichtlich eines Einfuhrstopps von Ölen
aus Teersanden. Ich erwarte, dass eine neue deutsche
Bundesregierung diese Blockaden in den nächsten vier
Jahren auflöst.
({3})
Ich erwarte, dass die neue Koalition ihre Hausaufgaben macht. Vor ihr liegen eine ganze Menge Aufgaben,
und insbesondere drei Aufgaben müssen jetzt sehr kurzfristig erledigt werden.
Erstens. Wir brauchen einen klaren nationalen Rahmen, wie wir Klimaschutzpolitik eigentlich organisieren
und kontrollieren wollen. Ich gebe zu - so kommt die
Drei minus zustande -, ich hätte mir ein Klimaschutzgesetz gewünscht, wie es andere Länder auf der Welt und
Bundesländer in Deutschland haben. Ich glaube, das
hätte uns einen klaren Rahmen für die nationale Politik
gegeben. Es hätte auch Orientierung für den internationalen Prozess gegeben.
({4})
Ich bedaure, dass es ein solches Klimaschutzgesetz jetzt
nicht geben soll.
Zum Klimaschutzplan. Meine Einschätzung ist, dass
es den letzten vernünftigen Klimaschutzplan - so etwas
Ähnliches hat es schon einmal gegeben - am 23. August
2007 gegeben hat, nämlich das IEKP, das Integrierte
Energie- und Klimaprogramm, die sogenannten Meseberger Beschlüsse mit ihren 29 Punkten. Ich glaube, dass
wir einen solchen Plan sehr schnell brauchen, noch deutlich vor der Konferenz in Paris. Es wird nämlich auch international erwartet, dass wir auf den Tisch legen, was
wir erreichen wollen, und ein vernünftiges Controlling
der Maßnahmen beschließen.
Zweitens. Wir werden im Hinblick auf die EU-2030Ziele ganz schnell handlungsfähig werden müssen.
Dabei begrüße ich es, dass im Koalitionsvertrag ausdrücklich steht, dass wir für das Jahr 2030 drei Ziele
haben wollen - die sogenannte Zieltrias -: für die Reduktion von Treibhausgasen, für den Ausbau im Bereich
der erneuerbaren Energien und für die Energieeffizienz.
Es ist vollkommen klar - egal wie man rechnet -: Wenn
wir die internationalen Verpflichtungen ernst nehmen,
dann wird das Ziel, bis zum Jahr 2030 eine Treibhausgasreduktion um 40 Prozent zu erzielen, nicht ausreichen. Im Koalitionsvertrag steht „mindestens 40 Prozent“. Ich sage: Das Ganze wird sich mehr in Richtung
50 Prozent bewegen müssen, wenn wir im Rahmen des
internationalen Prozesses überhaupt ernst genommen
werden wollen.
({5})
Drittens. Wir brauchen in der Tat - ich glaube, auch
das ist bei Bundesminister Altmaier zwischen den Zeilen
deutlich geworden - eine Reform des Emissionshandels,
die über das Backloading hinausgeht. Das, was im
Koalitionsvertrag steht, ist - so würde ich das interpretieren - auf die aktuelle Situation bezogen.
({6})
Es wird zukünftig Vorschläge der Kommission geben.
Ich habe die Vermutung, dass Deutschland diese Vorschläge sehr fortschrittlich begleiten wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich gebe zu - die
SPD befindet sich ja gerade in einem Diskussionsprozess, wie wir mit dieser Großen Koalition umgehen -:
Ich bin kein Anhänger einer Großen Koalition. Aber ich
glaube, dass wir in den Jahren 2005 bis 2009 im Bereich
der Klimapolitik eine ordentliche Arbeit geleistet haben.
Das ist auch unsere Aufgabe und unser Job für die
nächsten vier Jahre. Ich freue mich dabei darauf, dass die
Opposition das, was wir in der Koalition machen werden, kontrollieren wird; so soll es sein. Ich freue mich
aber auch darauf, dass wir über die Fraktionsgrenzen
hinaus eine sehr intensive Debatte über die Rolle
Deutschlands führen werden und dies auch auf internationalen Konferenzen immer wieder deutlich wird.
Glückauf!
({7})
Jetzt hat der Kollege Andreas Jung das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich will vorweg betonen, was wir hier schon oft betont
haben: Für meine Fraktion gibt es keinen begründeten
Zweifel, dass der Klimawandel voranschreitet, dass er
schneller voranschreitet, als wir alle gemeinsam befürchtet haben, dass er menschengemacht ist, dass er mit
unserem Handeln, mit dem Ausstoß von CO2 zu tun hat
und dass wir aus diesem Grund genau hier ansetzen
müssen und wirksame Maßnahmen und Erfolge brauchen. Ich will auch angesichts der Herausforderungen
der Finanzkrise und der Wirtschaftskrise sagen: Klimawandel und Klimaschutz sind die wichtigste globale Herausforderung, die die Menschheit in diesem Jahrhundert
hat. Deshalb müssen wir dies gemeinsam angehen.
Selbstverständlich ist, gemessen an dieser Herausforderung, bei diesem Gipfel wenig, ernüchternd wenig
herausgekommen. Selbstverständlich sind die Schritte
immer zu klein. Selbstverständlich verbindet uns deshalb der Wille: Da muss mehr passieren. Wir brauchen
mehr Ambitionen. Wir müssen jetzt endlich den Durchbruch erzielen. - Manche haben geglaubt - wir haben es
gehofft -, Warschau könnte eine wichtige Station auf
dem Weg nach Paris sein. Spätestens dann, wenn man
mit dem Zug stundenlang nach Polen fährt, weiß man:
Wer nach Paris will, für den ist Warschau bestenfalls ein
Umweg.
Andreas Jung ({0})
Trotzdem wäre es falsch, zu sagen: „Da ist gar nichts
herausgekommen, wir haben nichts erreicht“, und das
hat hier auch niemand getan. Wir haben in Warschau einige wichtige Schritte gemacht. Für mich der wichtigste
ist der Durchbruch beim Waldschutz. Dieses Thema sollten wir nicht kleinreden; immerhin entsteht ein Drittel
der weltweiten CO2-Emissionen durch Landnutzungsänderungen, die allermeisten durch Rodungen. Deshalb ist
der Durchbruch beim Waldschutz ein großer Erfolg, auf
dem wir aufbauen müssen.
({1})
Dafür hatte sich die Bundesregierung eingesetzt, genauso wie für den Anpassungsfonds. Bundesumweltminister Altmaier hat in seiner Rede den deutschen Beitrag
für diesen Anpassungsfonds angekündigt. Das hat eine
Dynamik ausgelöst, die dazu geführt hat, dass der Anpassungsfonds jetzt tatsächlich kommen wird, dass er
funktionieren wird. Das ist ein zweiter Punkt, an dem
wir vorangekommen sind. Darauf gilt es jetzt aufzubauen.
Selbstverständlich müssen wir weiter die Vorreiterrolle einnehmen, die wir in Deutschland immer für uns
in Anspruch genommen und immer ausgefüllt haben. Ich
glaube, wir können da auf etwas aufbauen, und das müssen wir auch. Worum geht es dabei? Es geht erstens um
Ziele. Weil über den Koalitionsvertrag gesprochen
wurde, will ich sagen: Es ist falsch, wenn behauptet
wird, der Koalitionsvertrag sei ein Weg ins Kohlezeitalter. Wir bekennen uns in diesem Koalitionsvertrag zu
den ehrgeizigen Klimazielen, die wir in Deutschland
haben und die da heißen: bis 2020 Reduktion der CO2Emissionen um 40 Prozent gegenüber 1990, bis 2050 sogar um 80 bis 95 Prozent. Die Koalition bekennt sich zu
diesem ehrgeizigen, ambitionierten Programm. Diese
Ziele müssen wir gemeinsam erreichen.
({2})
Die EU muss genauso ambitioniert vorangehen. Wir
haben formuliert, dass wir die CO2-Emissionen bis 2030
um mindestens 40 Prozent reduzieren wollen. Ich will an
dieser Stelle betonen, dass das Wort „mindestens“ zeigt,
dass es da noch Spielraum nach oben gibt; Frank
Schwabe hat das ebenfalls gesagt. Gerade wir Klimapolitiker werden darauf drängen, hier noch ambitionierter vorzugehen, und wir werden dieses Anliegen kraftvoll in die europäische Debatte einbringen.
Das gilt auch für den Emissionshandel. Ich bin dem
Bundesumweltminister ausdrücklich dankbar dafür, dass
er sich vehement für das Backloading eingesetzt hat.
Hier hat es in den letzten Wochen einen Erfolg gegeben.
Wir konnten das Signal geben - da sind wir uns alle einig -: Das ist ein wichtiger Schritt. Für mich ist auch
klar: Es ist nur ein erster Schritt, wir müssen hier noch
weiter gehen. Deshalb bin ich Peter Altmaier dankbar,
dass er ausdrücklich gesagt hat, dass er diesen Schritt
mit der Offenheit für strukturelle Reformen verbindet.
Ich meine, die brauchen wir. Backloading war die NotOP. Nach der Not-OP kommt die Reha. Wir müssen gemeinsam daran arbeiten, dieses Instrument zu stabilisieren.
({3})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus
den Reihen von Bündnis 90/Die Grünen?
Gerne.
Herr Kollege Jung, Sie sprechen beim Backloading
jetzt von einer Notoperation und sagen, es müsse weitergehen. Ich schaue in Ihren Koalitionsvertrag. Da steht
drin, das Backloading soll ein einmaliger Eingriff in das
System bleiben, es soll nichts weiter geschehen. Ich
kann diesen Koalitionsvertrag nur so interpretieren - die
ganze Welt tut das -, dass Sie am Emissionshandel
nichts weiter ändern wollen, dass Sie nichts weiter dafür
tun wollen, dass der Emissionshandel in Zukunft wieder
funktioniert, und sehenden Auges in Kauf nehmen
wollen, dass das einzige Instrument der europäischen
Energie- und Klimapolitik kaputtgeht.
Ich finde, es ist ein Unding, dass, obwohl Sie im
Koalitionsvertrag gestern etwas völlig anderes vereinbart haben, Sie sich alle schön hier hinstellen und so tun,
als würden Sie beim Emissionshandel etwas machen
wollen. Da bitte ich doch um die Ehrlichkeit, zu sagen:
Diese Große Koalition hat nicht die Kraft, das zu tun,
was eigentlich erforderlich ist und was Sie hier einfordern. Da bitte ich Sie um eine Erläuterung.
({0})
Herr Kollege, Sie behaupten, es werde nur so getan,
als wolle man etwas machen, aber es passiere nichts.
Diese Aussage ist durch die Fakten schon widerlegt.
Noch bevor dieser Koalitionsvertrag überhaupt unterschrieben war, noch bevor es grünes oder rotes Licht für
diese Koalition gab, hat man sich darauf geeinigt, diese
Hängepartie zu beenden. Es war in den letzten Monaten
eine Hängepartie, weil man sich bisher nicht darauf einigen konnte, dass man diesen Schritt zum Backloading
geht. Der Bundesumweltminister wollte es, aber das war
insgesamt nicht durchsetzbar.
Jetzt haben wir es quasi als Vorschuss geschafft, uns
für das Backloading auszusprechen. Wir sind uns einig,
es war zu spät, es wäre besser gewesen, es wäre früher
passiert, aber das zeigt: Noch bevor die Koalition überhaupt in Kraft getreten ist und arbeiten konnte, ist der
erste Schritt gemacht worden. - Dies wollte ich zuerst
einmal in den Mittelpunkt stellen.
Das eine ist also - hier will ich auf das verweisen, was
Peter Altmaier vorhin gesagt hat - die „Not-OP“, wie ich
es nenne, eine Ultima Ratio, die einen Markteingriff
darstellt. Wir alle würden uns wünschen, dass das nicht
Andreas Jung ({0})
notwendig wäre und dass der Emissionshandel funktionieren würde, ohne dass man diesen außerordentlichen
Eingriff hätte machen müssen. Den hat man jetzt aber
gemacht. Das entlastet uns aber nicht davon, darüber
nachzudenken, wie wir beim Emissionshandel strukturell weiterkommen können und wie wir strukturell die
Voraussetzungen dafür schaffen, dass er seine Minderungswirkung erreicht und gleichzeitig Innovationsignale aussendet. Diese Diskussion steht wiederum im
Zusammenhang mit der Diskussion um die Erhöhung
der EU-Klimaschutzziele, die in der Europäischen
Union noch aussteht.
Ich verspreche mir davon, dass uns beides gelingt,
nämlich die Erhöhung der EU-Klimaschutzziele, wodurch mehr Druck für den Emissionshandel entsteht, und
am Ende ein gutes Ergebnis für den Klimaschutz.
Herzlichen Dank.
({1})
Herr Kollege Jung, es gab noch den Wunsch nach einer zweiten Zwischenfrage, und zwar von der Kollegin
Bulling-Schröter.
Gerne, bitte.
Ich habe noch eine Bitte an den Kollegen Krischer.
Wir haben hier die, wie ich finde, gut eingeführte und
akzeptierte Regel, dass man bei der Beantwortung seiner
Frage stehen bleibt.
({0})
Frau Bulling-Schröter.
Das ist sehr nett, vielen Dank. - Kollege Jung, Sie haben von einer „Notoperation“ gesprochen. Wir beide
sind keine Ärzte. Wenn es ein Problem gibt und man
operieren muss, dann operiert man ja die ganze Wunde
und nicht nur ein Drittel. So sehe ich das auch beim Zertifikatehandel.
Wir wissen, dass die Zertifikate durch das Backloading jetzt um 50 Cent teurer geworden sind. Wir
beide und zumindest alle Klimapolitiker wissen, dass die
Zertifikate einen wesentlich höheren Preis haben müssten, damit sie relevant werden und Investitionen in den
Betrieben auslösen. Wir haben das im Umweltausschuss
oft diskutiert und waren uns über die Parteien hinweg
relativ einig, dass wir so viele Zertifikate wie möglich
- möglichst alle - stilllegen sollten, und zwar bleibend.
Es gibt faule Zertifikate im Zusammenhang mit dem
CDM; das ist nach vielen Jahren der Diskussion inzwischen nicht mehr umstritten. Das hat aber doch nichts
mit der Marktwirtschaft zu tun. Wenn diese Zertifikate
stillgelegt wären, kann man in der EU und in der UN
entsprechende Kriterien und Regularien miteinander
vereinbaren, sodass es diese Überallokation und faulen
Zertifikate nicht mehr gibt.
Der erste Schritt wäre doch, das so auf die Reihe zu
bringen, dass es dann wirklich funktioniert.
Frau Kollegin, es ist ja das Ziel, das so zu auf die
Reihe zu bringen, dass es funktioniert. Das, was wir hier
diskutieren, können wir aber nicht von der europäischen
Diskussion loslösen.
Der Vorschlag, den die EU gemacht hat und der auf
dem Tisch lag, war das Backloading. Diesem Vorschlag
haben wir erst einmal zugestimmt. Auch auf europäischer Ebene wird die Diskussion ganz sicher weitergehen, und natürlich wird es dabei auch um CDM gehen.
Zum CDM will ich sagen: Selbstverständlich gab es
CDM-Zertifikate, bei denen die ökologische Integrität
nicht sichergestellt war. Dem ist zu einem großen Teil
schon der Riegel vorgeschoben worden. Es hat dort
Veränderungen gegeben, und es ist nicht mehr ohne Weiteres möglich, solche Projekte zu machen, wie das in der
Vergangenheit der Fall war.
Das sind zwei Beispiele dafür, dass die Debatte und
die Entscheidungen Schritt für Schritt erfolgen. Ich will
einfach die Botschaft aussenden: Für mich und für uns
ist diese Debatte nicht am Ende, und für uns ist der
Emissionshandel das Herzstück der EU-Klimapolitik.
Das gilt es zu bewahren, und dafür arbeiten wir.
Danke.
({0})
Als nächster Redner hat der Kollege Matthias
Miersch das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich bin den Grünen dankbar, dass sie diesen Antrag hier
eingebracht haben, weil wir damit zu Beginn dieser Legislaturperiode die Möglichkeit haben, über eines der
zentralen politischen Themen zu sprechen, die uns sicherlich nicht nur die nächsten vier Jahre, sondern viele
Jahrzehnte beschäftigen werden.
Jeder, der schon einmal an einer Klimakonferenz teilgenommen hat, weiß, wie unterschiedlich die Interessen
zwischen den Industriestaaten, zwischen den Entwicklungsländern, zwischen den Schwellenländern sind, ja
auch zwischen den Ländern der Europäischen Union
und, wie wir angesichts dieser Debatte auch wieder feststellen konnten, auch in diesem Haus. Hier hat eben ein
Kollege von der CDU/CSU die Frage gestellt: Wie ist
das mit dem Klimawandel und seine Auswirkungen auf
die Philippinen? Ich glaube, diese Frage illustriert, dass
auch wir hier in diesem Parlament eigentlich noch nicht
die Voraussetzung dafür erfüllen, diese Menschheitsaufgabe wirklich zu begreifen.
Es ist leider immer so, dass in der Vergangenheit erst
die großen Katastrophen passieren mussten, bevor die
Politik gehandelt hat. Hier haben wir es mit einem Phänomen zu tun, bei dem wir als Politiker beweisen müssen, ob wir tatsächlich nachhaltig denken können, ob wir
Folgen viel größeren Ausmaßes volkswirtschaftlicher
Art heute verhindern und das kurzfristige Denken überwinden können. Insofern gehört der Klimaschutz natürlich ins Zentrum unserer Überlegungen.
Ja, in jeder Koalition gibt es Kompromisse. Ja, möglicherweise würde der Koalitionsvertrag völlig anders
aussehen, wenn nur Umweltpolitiker an ihm gearbeitet
hätten. Ja, Frau Bulling-Schröter, es gibt auch bei den
Linken Kohlebefürworter. Ich nenne hier beispielsweise
den brandenburgischen Wirtschaftsminister, der deutlich
macht, wie wichtig der Übergang vom fossilen ins erneuerbare Zeitalter ist. Ich bin mir sicher, Sie stimmen
nicht mit allem überein.
Das, was wir in den nächsten vier Jahren in dieser
Großen Koalition schaffen müssen, ist - das ist auch die
Messlatte, die wir uns alle gefallen lassen müssen -, ob
wir als Bundesrepublik Deutschland - da haben die Grünen recht, wenn sie sagen, man braucht nationale Vorbilder - weiter ein nationales Vorbild darstellen. Das muss
unsere Messlatte sein.
({0})
Dazu gehört, dass wir versuchen, mit einer Stimme zu
sprechen, Herr Kollege Altmaier. Die erste Große Koalition mit einem sozialdemokratischen Umweltminister
hat bewiesen - das jedenfalls sagen alle großen Umweltorganisationen -, dass diese vier Jahre für Klima- und
Umweltschutz nicht schlecht gewesen sind. Aber das,
was wir die letzten vier Jahre erlebt haben - nun hatten
Sie die Sozis nicht an Ihrer Seite -, war eben genau das
Gegenteil. Wir haben diese Vorbildfunktion nicht länger
einnehmen können, sondern wir haben uns hier als Bundesrepublik Deutschland kein gutes Zeugnis ausgestellt,
weil wir uns blockiert haben, weil Wirtschaftsminister
und Umweltminister keine einheitliche Vorgehensweise
hatten.
Über den Koalitionsvertrag kann man an vielen Stellen diskutieren.
({1})
- Das müssen wir, im Übrigen auch hier im Parlament,
weil das Parlament nicht die Bundesregierung ist. Deswegen müssen wir das Ganze an der einen oder anderen
Stelle auch vorantreiben, glaube ich. - Der Koalitionsvertrag gibt eines wieder: Es wird im Bereich Klima und
Energie eine Sprachregelung geben; Backloading ist da
nur ein kleiner Bereich. Ich bin froh, dass der Bereich
Effizienz ein ganzes Kapitel hat. Insofern: Nehmen wir
es heute als Auftakt, dieses Thema ganz oben auf die Tagesordnung zu setzen!
(Oliver Krischer ({2})
Wir werden, Herr Krischer, im Fachausschuss sicherlich
über diesen Antrag und über die Möglichkeiten, zu gemeinsamen Empfehlungen zu kommen, sprechen; denn
es geht darum, Lösungen gemeinsam zu entwickeln,
weil es gerade im Bereich Energie und Umwelt wenig
bringt, alle vier Jahre etwas Neues zu machen. Lassen
Sie es uns deshalb als Auftakt nehmen. So verstehe ich
die Debatte heute. Vier Jahre liegen vor uns. Ich glaube,
die Große Koalition kann durchaus auch im Bereich
Klima und Energie beweisen, dass Dinge positiv zu verändern sind. In diesem Sinne freue ich mich auf eine
gute Zusammenarbeit von uns allen.
Vielen Dank.
({3})
Als letzter Redner in dieser Runde spricht der Kollege
Göppel.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Aus gegebenem
Anlass beginne ich mit der Schilderung des Besuchs einer Schulklasse, den ich kürzlich machte. Es ging um die
Frage: „Kann der Mensch das Klima verändern, wo der
Himmel doch so hoch ist?“ Die Arbeitsgruppe Klima in
dieser Schule hat die Erde so groß gestaltet wie einen
Fußball, und als Erdatmosphäre hat sie ihn mit einer
dünnen Haut überzogen. Das war ein Millimeter auf diesem Fußball, und dann beginnt der freie Weltraum. Es
gab in dieser Klasse dann niemanden mehr, der nicht geglaubt hat, dass der Mensch das Klima beeinflussen
kann. Das ist auch die Frage, vor der solche Konferenzen
wie die in Warschau immer wieder stehen.
Ich beginne mit einem der Erfolge. Die noch benötigten 100 Millionen US-Dollar für den Anpassungsfonds
gegen den Klimawandel und zum Schutz von Küstengebieten sind überschritten. Das Ziel sind aber 100 Milliarden US-Dollar bis zum Jahr 2020. Die 100 Millionen
US-Dollar konnten nur dadurch erreicht werden, dass
Deutschland eine großzügige Zusage von 40 Millionen
US-Dollar gemacht hat. Aber bis zum Jahr 2020 sollen
100 Milliarden US-Dollar - das ist tausendmal so viel aufgebracht werden, damit bestimmte Teile der Erde bewohnbar bleiben und riesige Flüchtlingsbewegungen in
vermeintlich sichere Zonen der Erde unterbleiben können.
Damit wird deutlich, um welche Aufgabe es geht.
Deswegen ist es wichtig, dass Deutschland wieder da ist.
Das ist für den Umweltminister eine Herausforderung,
aber auch für uns.
Ich teile die Meinung des Kollegen Miersch, dass es
in den nächsten Jahren sehr auch auf das Parlament anJosef Göppel
kommt, zum Beispiel bei der Frage, ob die nun vereinbarten Ziele zum Ausbau der erneuerbaren Energien
noch mit unseren Klimaschutzzielen zusammenpassen.
Wenn wir die Minderung des Klimagasausstoßes um
80 bis 95 Prozent bis 2050 erreichen wollen, dann müssen wir den Anteil der erneuerbaren Energien pro Jahrzehnt um 20 Prozent steigern. Denn niemand wird glauben, dass der Verkehr, die privaten Haushalte oder das
Gewerbe so viel erbringen können, dass wir auf der anderen Seite bei der Energieversorgung bzw. beim Zubau
der erneuerbaren Energie zurückhinken können.
Darin liegt eine wesentliche Aufgabe. Deswegen bin
ich nach wie vor dafür, dass wir unsere Ziele, die in dem
erwähnten Klimaschutzplan niederzuschreiben sind, als
international sichtbares und glaubwürdiges Signal in einem Gesetz niederlegen. Wir brauchen keine neuen
Ziele, sondern wir müssen die vorhandenen Ziele international sichtbar und glaubwürdig verankern, damit
auch die deutsche Wirtschaft und die deutsche Technik
der bevorzugte Partner der Entwicklungsländer in der
Welt bleiben und wir unsere Anstrengungen auch wirtschaftlich verwerten können.
({0})
Dazu gehört auch eine CO2-Obergrenze für jede erzeugte Kilowattstunde Strom. Anders wird es nicht gehen. Gute Beispiele dafür sind nicht nur Großbritannien,
sondern auch die USA. Die Beseitigung der Konstruktionsfehler des europäischen Emissionshandels ist ein
langwieriges Unterfangen. Deswegen plädiere ich für
nationale Maßnahmen, wie sie Großbritannien und die
USA ergreifen. Das wird letztlich unserer Glaubwürdigkeit dienen, aber auch der Stellung der deutschen Wirtschaft in der Welt.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die
Aussprache.
Wir kommen zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 18/96. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Abstimmung in der Sache.
Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD sowie die Fraktion Die Linke wünschen Überweisung an den Hauptausschuss. Wir stimmen nach ständiger Übung daher zuerst über den Antrag auf Ausschussüberweisung ab. Ich
frage deshalb: Wer stimmt für die Überweisung an den
Ausschuss? - Wer stimmt gegen die beantragte Überweisung? - Wer enthält sich? - Damit ist der Antrag auf
Ausschussüberweisung mit den Stimmen der CDU/
CSU, der SPD und der Linken gegen die Stimmen von
Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden. Damit ist
die Überweisung so beschlossen. Damit stimmen wir im
Übrigen heute über den Antrag auf Drucksache 18/96 in
der Sache nicht ab.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Fragestunde
- Drucksache 18/87 Für die Fragestunde haben wir anderthalb Stunden
vorgesehen. Unser Ziel ist, dass möglichst viele Fragen
beantwortet werden und dass möglichst viele zu Wort
kommen. Deswegen hatten wir uns in der letzten Legislaturperiode darauf geeinigt, dass für die ersten Antworten der Regierung jeweils zwei Minuten und für die folgenden jeweils eine Minute zur Verfügung stehen. Damit
das jeder, auch diejenigen, die nicht über ein entsprechendes Zeitgefühl verfügen, verfolgen kann, gibt es
Ampeln, die das farblich anzeigen. Die letzten 30 Sekunden werden durch gelbes Licht angezeigt. Wenn die Zeit
dann vorbei ist, leuchtet es rot. Wir bitten alle, sich möglichst daran zu halten, auch wenn das nicht bei jeder Materie gleich gut gelingen kann.
Zuerst kommen wir zum Geschäftsbereich der Bundeskanzlerin und des Bundeskanzleramtes. Zur Beantwortung steht Frau Staatsministerin Professor Dr. Maria
Böhmer zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 1 der Abgeordneten Lisa Paus von
Bündnis 90/Die Grünen auf:
Inwieweit hat Staatsminister a. D. Eckart von Klaeden in
seiner Amtszeit Einfluss auf die Bearbeitung des Themas
Elektromobilität genommen, hier insbesondere auf den Nationalen Entwicklungsplan Elektromobilität und die „Gemeinsame Geschäftsstelle Elektromobilität“ der Bundesregierung?
Frau Staatsministerin, bitte.
Herzlichen Dank, Herr Präsident. - Ich beantworte
die erste Frage der Abgeordneten Lisa Paus wie folgt:
Staatsminister a. D. von Klaeden war für das Thema
Elektromobilität nicht zuständig und hat nach Kenntnis
der Bundesregierung auch keinen Einfluss auf dessen
Bearbeitung genommen.
Eine Zusatzfrage? - Bitte, Frau Paus.
Frau Professor Böhmer, Sie hatten mir bereits auf
meine schriftliche Frage geantwortet, dass Herr von
Klaeden sehr wohl umfassende Kenntnis von internen
Vorlagen in Bezug auf die Regulierungsvorhaben auf
europäischer Ebene hatte, die für den Daimler-Konzern
von zentraler Bedeutung sind. Sie sind jetzt dennoch davon überzeugt, dass Herr von Klaeden nichts davon im
Rahmen seiner zahlreichen Treffen mit Daimler-Vertretern, über die Sie auch Auskunft gegeben haben, thematisiert hat. Können Sie mir doch noch einmal erläutern,
wie Sie zu der Einschätzung kommen, dass er nicht über
dieses Thema gesprochen und keinen Einfluss genommen haben kann, obwohl es zahlreiche Treffen mit
Daimler-Vertretern gab?
Frau Staatsministerin Böhmer, bitte.
Frau Kollegin Paus, ich hatte Ihnen bereits in meinem
Schreiben vom 14. November 2013 darauf geantwortet;
es ging um die schriftliche Frage 28. Ich zitiere: „Es ging
um allgemeine bundespolitische Themen und die Krise
im Euro-Raum.“
Wir kommen zur Frage 2 der Abgeordneten Lisa
Paus:
Welche Maßnahmen hat die Bundesregierung unternommen, um Loyalitätskonflikte des Staatsministers a. D. Eckart
von Klaeden im direkten dienstlichen Kontakt zu Christoph
Brand von der Investmentbank Goldman Sachs zu verhindern?
Ich nehme Stellung zur zweiten Frage: Staatsminister
a. D. von Klaeden führte eine Vielzahl von Gesprächen
mit Vertretern aus Politik, Wirtschaft und Verbänden auf
nationaler wie europäischer Ebene. Dies gehörte zu seinen Aufgaben. Dabei verhielt er sich stets loyal gegenüber den Pflichten seines Amtes und der Politik der Bundesregierung. Für irgendwelche Maßnahmen gab es
keinen Anlass.
Eine Zusatzfrage, Frau Kollegin? - Bitte schön.
Es war aus den schriftlichen Antworten auch hervorgegangen, dass Herr von Klaeden zu dem EADS-Fall
18 Vorlagen gesehen hat - sie teilweise auch in Vertretung von Herrn Pofalla bekommen hat - und dass Herr
von Klaeden sich 23-mal mit einem der zuständigen und
von Daimler beauftragten Partner von Goldman Sachs
getroffen hat. Können Sie mir erklären, welche dienstlichen Notwendigkeiten den Staatsminister im Bundeskanzleramt dazu führten, irgendwelche anderen Themen
mit einem Partner der weltweit größten Investmentbank
bei diesen 23 Terminen zu besprechen, wenn bei diesen
23 Terminen nicht ein einziges Mal über das Thema
EADS und die 18 Vorlagen gesprochen worden ist?
Frau Staatsministerin, bitte.
Frau Kollegin Paus, ich komme jetzt wieder auf mein
Schreiben vom 14. November 2013 zurück. Dort hatte
ich abschließend bei der Frage 30 formuliert:
Bei seinen Treffen mit Christoph Brand
- Sie fragten damals auch nach Dirk Notheis, deshalb
bin ich auch auf ihn eingegangen und Dirk Notheis hat Staatsminister a. D. Eckart
von Klaeden nicht über dieses Thema gesprochen.
Dem ist nichts hinzuzufügen.
Eine Frage dazu von Herrn Beck. Bitte.
Können Sie uns als Parlament die Gegenstände der
Gesprächsthemen - es waren ja offensichtlich eine ganze
Reihe von Terminen - hier kurz wiedergeben, damit wir
uns ein Bild machen können, wie plausibel die Antwort
ist, dass dieses Thema nicht ein einziges Mal behandelt
worden sein soll?
Frau Staatsministerin, bitte.
Herr Kollege Beck, darüber ist nichts bekannt.
({0})
- Herr Kollege Beck, ich habe es schon zweimal getan
und zitiere gerne noch einmal die schriftlichen Antworten, die ich gegeben habe. Das erste Zitat war aus der
Antwort auf die Frage 28; Sie können das gerne noch
einmal hören.
Es ging um allgemeine bundespolitische Themen
und die Krise im Euro-Raum.
Bei dem zweiten Zitat war die Formulierung, dass „nicht
über dieses Thema gesprochen“ worden ist. Das ist der
Stand der Dinge.
Die nächste Zusatzfrage hat der Kollege Schick.
Ich muss zugeben, dass ich jetzt Ihre Argumentation
nicht verstanden habe, dass Sie eine Antwort auf die
Frage gegeben hätten, welche sonstigen dienstlichen
Gründe es gegeben habe. Nur dann wird die Sache ja
plausibel. Deswegen wäre ich dankbar für die Beantwortung der Frage und will sie an dieser Stelle um einen
Unterpunkt ergänzen. Herr von Klaeden war auch der
Bund-Länder-Koordinator. Die Länder haben auch
EADS-Anteile. Welchen Zusammenhang gibt es da?
War es nicht sogar seine Aufgabe als Bund-LänderKoordinator, genau diese Fragestellung zu bearbeiten,
oder wer sonst hat es gemacht?
Frau Staatsministerin, ich bitte, zu antworten.
Ich rekurriere jetzt noch einmal auf die schriftlich
vorliegende Antwort vom 14. November zu der damals
gestellten Frage 30 - ich zitiere -:
Staatsminister a. D. Eckart von Klaeden hat in Angelegenheiten des Verkaufs der EADS-Anteile der
Daimler AG an die KfW Bankengruppe keine Entscheidungen getroffen.
({0})
Gibt es weitere Fragen zu diesem Punkt? - Das ist
nicht der Fall. Dann bedanken wir uns herzlich bei der
Frau Staatsministerin.
Ich will den Zwischenruf des Kollegen Beck aufgreifen. Das Parlament darf fragen, wie es das für richtig
hält, und die Regierung darf antworten, wie sie es für
richtig hält. Das ist die Regel in diesem Hause.
({0})
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie. Zur
Beantwortung steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Ernst Burgbacher bereit. Ich rufe Frage 3 der Kollegin Annette Groth von der Linken auf:
Welche konkreten Schritte wird die Bundesregierung unternehmen, damit die Öffentlichkeit und der Deutsche Bundestag über den Stand der Verhandlungen über das geplante
Freihandelsabkommen USA - EU informiert werden?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Frau Kollegin Groth, die Bundesregierung setzt sich
dafür ein, dass die Verhandlungen über die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft möglichst
transparent verlaufen. Sie hat dies mehrfach gegenüber
der Europäischen Kommission eingefordert.
Sie fragen einmal nach der Information der Öffentlichkeit. Die Verhandlungen über dieses Abkommen
werden von der Europäischen Kommission geführt.
Sowohl die Europäische Kommission als auch die USRegierung haben im Vorfeld des Verhandlungsbeginns
öffentliche Konsultationen durchgeführt. Begleitend zu
den Verhandlungsrunden führt die EU-Kommission zudem Anhörungen mit der Zivilgesellschaft, mit Verbänden durch, so zuletzt am 15. November in Brüssel im
Nachgang zur zweiten Verhandlungsrunde, die vom
11. bis 15. November erfolgte.
Der Bundesregierung ist die Einbindung der Zivilgesellschaft und der Verbände ein Kernanliegen. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie hat im
April und im November dieses Jahres eine Verbändeanhörung zu den Verhandlungen durchgeführt und im
September 2013 Nichtregierungsorganisationen zu
einem Informationsgespräch über handelspolitische
Fragen mit dem Schwerpunkt TTIP eingeladen. Auch im
weiteren Verhandlungsverlauf sollen Verbände und
Nichtregierungsorganisationen eingebunden und informiert werden. Die Europäische Kommission plant, die
Öffentlichkeit auch im weiteren Verfahren umfassend zu
informieren, natürlich auch über ihre Internetseite.
Schließlich zur Unterrichtung des Deutschen Bundestages: Die Bundesregierung wird dem Deutschen Bundestag gemäß den Bestimmungen des EUZBBG, abhängig von den Fortschritten der Verhandlungen, auch
weiterhin regelmäßig auf eigene Initiative und auf
Wunsch des Deutschen Bundestages unterrichten. Sämtliche einschlägigen Dokumente und Berichte werden an
den Bundestag übermittelt.
({0})
Recht herzlichen Dank, Herr Staatssekretär. - Gibt es
dazu von der Kollegin Groth den Wunsch nach einer Zusatzfrage? - Bitte schön.
Vielen Dank. - Wenn das so ist, wie Sie es sagen,
dann wundert es mich, dass sämtliche Umweltverbände,
Gewerkschaften, andere Verbände und Organisationen
immer wieder nach den Dokumenten bei der EU fragen
und die EU deren Herausgabe verweigert. In den USA
bekommen die Berater der 600 größten international tätigen Unternehmen die Dokumente aus den Verhandlungen, und sie schalten sich dann sofort ein, etwa indem
sie schriftlich vorbringen, was sie gerne noch verhandelt
haben möchten. Das ist den europäischen und den deutschen Umweltverbänden sowie anderen Organisationen
bislang nicht möglich gewesen.
Herr Staatssekretär, bitte.
Frau Kollegin, ich habe ja gerade gesagt - darum geht
es übrigens auch in der Antwort auf die nächste Frage -:
Verhandlungsführer ist die EU-Kommission; die EU informiert. Aber wir selbst, gerade das Bundesministerium
für Wirtschaft und Technologie, haben in zwei Anhörungen und verschiedenen anderen Gesprächen Verbände
und die Zivilgesellschaft auf eigenes Betreiben hin informiert. Ich denke, das wird auch so fortgesetzt werden.
Schönen Dank. - Gibt es zu diesem Komplex weitere
Fragen? - Bitte schön, Kollege Lenkert von der Partei
Die Linke.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Es ist für die Öffentlichkeit sehr schwierig gewesen, zu erfahren, über welche konkreten Bereiche man mit welchen Zielsetzungen
verhandelt. Mich würde also interessieren, welche
Themenbereiche komplett zur Verhandlung stehen und
welche Zielsetzungen die Bundesregierung in den jeweiligen Bereichen bei diesen Verhandlungen erreichen
will.
Herr Kollege, auch darüber haben wir ausführlich
informiert. Ich gehe davon aus, dass auch die nächste
Bundesregierung das tun wird. Wir haben das Parlament
informiert. Wir haben, wie gesagt, in zwei Anhörungen
informiert. Aber - das bezieht sich, wie gesagt, schon
auf die nächste Frage - das Verhandlungsmandat hat die
EU-Kommission. Wir sind natürlich auf den verschiedensten Wegen ständig im Gespräch mit der EU-Kommission.
Es gibt noch weitere Nachfragewünsche. Die erste
Nachfrage stellt der Kollege Ströbele, Bündnis 90/Die
Grünen, die nächste Frau Kollegin Hupach von der Fraktion Die Linke.
Herr Ströbele, bitte.
Herr Burgbacher, Sie haben gesagt: Der Deutsche
Bundestag wird informiert. Nun sind wir ja hier der
Deutsche Bundestag - immer noch.
({0})
Wen informieren Sie denn derzeit? Haben Sie etwa den
heute neu eingesetzten Ausschuss informiert, oder verteilen Sie jetzt hier Ihre Unterlagen, oder was ist für Sie
„der Deutsche Bundestag“?
({1})
Herr Staatssekretär, bitte.
Herr Kollege Ströbele, Sie sind natürlich der Deutsche Bundestag, aber es gehören auch noch einige
andere dazu. Es ist auch eine besondere Situation, dass
der neue Deutsche Bundestag die alte Regierung befragt.
Wir haben in vielen Gesprächen informiert. Ob der
neu eingesetzte Hauptausschuss den Wunsch hat, informiert zu werden, entzieht sich meiner Kenntnis; ich habe
darauf keine Hinweise. Aber selbstverständlich beantworten wir die Fragen, die Sie gestellt haben.
Ich habe die Frage danach beantwortet, was wir
gemacht haben, und ich betone noch einmal: Wir haben
auf eigene Initiative unseres Ministeriums informiert,
und es war der Bundesregierung insgesamt ein Anliegen,
zu informieren. Ich habe auch die gesetzlichen Grundlagen genannt, Herr Kollege Ströbele, wonach selbstverständlich der Deutsche Bundestag auf seinen Wunsch
hin, aber auch auf Initiative der Bundesregierung informiert wird.
Danke schön, Herr Staatssekretär. - Jetzt die Kollegin
Hupach von der Fraktion Die Linke und danach die Kollegin Hänsel von der Fraktion Die Linke, bitte.
Herr Staatssekretär, welche Auswirkungen könnte das
Freihandelsabkommen für den Bereich Kultur und Medien und dessen Förderstrukturen in Deutschland haben?
Die Kulturverbände warnen und haben Angst, dass bei
Wegfall der tarifären oder nichttarifären Handelshemmnisse etwa die Buchpreisbindung oder der reduzierte
Mehrwertsteuersatz wegfallen könnten oder dass auch
Bereiche des öffentlich-rechtlichen Rundfunks betroffen sein könnten. Wie ist Ihre Einschätzung dazu?
Frau Kollegin, Sie wissen, dass der Bereich Kultur
und Medien eigentlich nicht einbezogen ist, dass die
Amerikaner aber den Versuch machen, ihn einzubeziehen. Darüber wird jetzt geredet. Ich gehe aber davon aus,
dass die Bedenken, die Sie geäußert haben, ganz schnell
zerstreut werden. Auch wir haben übrigens ein paar
Punkte, die wir noch hineinbringen wollen. Der Bereich
Kultur und Medien ist bisher nicht Verhandlungsgegenstand.
Schönen Dank. - Jetzt die Kollegin Frau Hänsel,
Fraktion Die Linke, und dann die Kollegin Frau
Haßelmann, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Danke schön. - Ich habe eine Nachfrage, Herr
Burgbacher, bezüglich der Information. Wie konkret informieren Sie denn den Bundestag und die Parlamentarierinnen und Parlamentarier? Ich habe nie eine Einladung zu einer Anhörung gesehen. Ich habe bisher null
Zugang zu Informationen zu diesen Verhandlungen.
Meine konkrete Frage: Können Sie sicherstellen, dass
ich, wenn ich Sie jetzt anschreibe, von Ihnen Informationen über den derzeit aktuellsten Verhandlungsstand zugeschickt bekomme?
Frau Kollegin Hänsel, ich habe auch die gesetzliche
Grundlage genannt. Wenn Sie die Bundesregierung anschreiben, werden Sie selbstverständlich die Informationen bekommen, die im Augenblick vorhanden sind. Das
ist ein Thema, was immer sehr offen gefahren wurde.
Wir sind auch mit der EU-Kommission im Gespräch.
Wir legen allergrößten Wert darauf, dass die Verhandlungen sehr transparent laufen und gerade das Parlament informiert wird.
Herzlichen Dank. - Frau Kollegin Haßelmann, Bündnis 90/Die Grünen, bitte.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Burgbacher, ich
möchte doch einmal nachfragen, was die Informationsrechte der Abgeordneten und die Informationspflichten
gegenüber den Abgeordneten angeht. Meinem Kollegen
Ströbele hatten Sie gerade erklärt, dass Sie alle möglichen Initiativen unternommen haben, die Abgeordneten
des Deutschen Bundestages zu informieren. Es könnte
sich ja um einen Einzelfall handeln, wenn Herr Ströbele
nichts gekriegt hat. Aber ich habe auch nichts gekriegt,
weder brieflich, noch per Mail, noch durch irgendeine
Unterrichtung. Deshalb möchte ich mich mit so einer
Aussage, wie Sie sie hier treffen: „Die Abgeordneten
sind ausreichend informiert“, nicht zufriedengeben, sondern möchte Sie jetzt fragen: Auf welche Art und Weise
haben Sie denn den Abgeordneten die entsprechenden
Informationen zukommen lassen?
Herr Staatssekretär, bitte.
Frau Kollegin, es ist doch völlig klar, dass der Bundestag, wie es jetzt gerade geschieht, fragen kann und
wir antworten, dass wir dann, wenn ein Ausschuss an die
Bundesregierung herantritt,
({0})
entsprechend antworten werden
({1})
und dass der Bundestag nach dem EUZBBG ausdrücklich dieses Recht hat.
Wir stehen ja eigentlich erst am Anfang dieser Verhandlungen. Natürlich wird die Information erfolgen.
Die Bundesregierung wird es von sich aus tun; aber der
Bundestag hat jederzeit das Recht, diese Informationen
nachzufragen. Wenn das bisher geschehen ist, haben wir
auch geantwortet.
Die nächste Frage zu diesem Komplex hat Kollege
Ebner, Bündnis 90/Die Grünen.
Danke, Herr Präsident. - Herr Burgbacher, wie erklären Sie sich angesichts Ihrer Aussagen denn, dass die
Mitglieder des Bundestages, sowohl des alten als auch
des neuen Bundestages, nicht über den Inhalt des Verhandlungsmandates, das die EU-Kommission bekommen hat, informiert wurden, und dies, obwohl dies auch
Thema in den Ausschüssen der 17. Wahlperiode war?
Wir haben in der 17. Wahlperiode alle Anfragen beantwortet. Wir haben offengelegt, was offenzulegen war.
Ich kann nur sagen: Ich gehe davon aus, dass die neue
Bundesregierung das genau so tun wird.
({0})
Dieses Thema ist Gegenstand der ersten Sitzung; wir
antworten. Mehr kann ich für die neue Bundesregierung
heute allerdings nicht sagen. Dafür werden Sie Verständnis haben.
Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär. - Frau Kollegin
Pau.
Herr Staatssekretär, wir sind tatsächlich in einer Übergangsphase. Sie haben den Vorteil, dass Sie im Gegensatz zu Abgeordneten, die schon in der 17. Legislaturperiode hier Mitglied waren, im Moment weder mit
Umzügen noch mit Sonstigem beschäftigt sind. Deshalb
gehe ich davon aus, dass in Ihrem wohlsortierten Haus
eine Übersicht darüber vorliegt, welches Gremium oder
welcher Abgeordnete der 17. Legislaturperiode an welchem Tag mit welchem Inhalt zu diesen Vorgängen unterrichtet wurde. Sind Sie, wenn Sie das jetzt nicht dabei
haben, in der Lage, uns im Nachgang zu dieser Fragestunde diese Übersicht zuzustellen, damit wir dann gezielt weiterarbeiten können?
Frau Kollegin Pau, ich habe das wirklich nicht dabei.
Aber ich werde das selbstverständlich mitnehmen.
({0})
Danke.
Dann kommen wir zur Frage 4 der Kollegin Groth:
Wer verhandelt für die EU das geplante Freihandelsabkommen USA - EU, und wie ist die Bundesregierung in den
Verhandlungsprozess integriert und informiert?
Vizepräsident Peter Hintze
Diese Frage wurde zwar immanent schon beantwortet, wir wollen sie natürlich dennoch aufrufen. Herr
Staatssekretär, bitte zu Frage 4, auch wenn sie zum Teil
schon behandelt wurde.
Sehr gerne. Es geht um die Frage, wer eigentlich die
Verhandlungen über TTIP auf europäischer Seite führt.
Ich habe das schon gesagt: Sie werden von der EU-Kommission und dort von der Generaldirektion Handel geführt. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union
haben der EU-Kommission ein entsprechendes Mandat
- auch darüber haben wir geredet - zur Führung der Verhandlungen mit den USA erteilt. Handelskommissar
Karel de Gucht ist der für die TTIP-Verhandlungen politisch verantwortliche EU-Kommissar. Ignacio Garcia
Bercero aus der Generaldirektion Handel ist Hauptverhandlungsführer der Europäischen Kommission.
Die EU hat für die umfangreiche Zahl von Arbeitsgruppen - es sind über 20 - jeweils Verhandlungsführer
benannt, deren Namen auf der Internetseite der EUKommission abrufbar sind. Die Verhandlungsführer auf
EU-Seite werden themenabhängig von Fachexperten aus
den betroffenen Generaldirektionen der EU-Kommission und der Regulierungsbehörden begleitet.
Schönen Dank. - Haben Sie eine Zusatzfrage? - Bitte
schön, Frau Kollegin Groth.
Wir wissen aus Medienberichten sehr gut, wie sich
das in den USA abspielt. Ich kenne mich ja nun etwas in
Brüssel und mit den Lobbyverbänden aus. Daher frage
ich Sie noch einmal: Sind Businesseurope - das ist der
größte Unternehmerverband Europas - oder andere
Unternehmen, Gewerkschaften und Verbände direkt beteiligt? Wie sind diese Unternehmen und Verbände in
diesen Diskussions- und Verhandlungsprozess eingebunden?
Frau Kollegin, ich sage es noch einmal: Wir machen
es auf deutscher Seite. Wir haben zwei Anhörungen im
BMWi gemacht, und zwar ausdrücklich mit zivilgesellschaftlichen Organisationen, mit den Verbänden. Natürlich gehe ich davon aus, dass die Verbände auf europäischer Ebene genauso mit der Kommission in ständigem
Austausch sind.
Haben Sie noch eine Nachfrage?
Nein.
Wir haben viele Kollegen, die sich mit Fragen einschalten. Das sind die Kollegin Hupach, der Kollege
Beck und dann der Kollege Lenkert. - Bitte, Frau Kollegin Hupach, Fraktion Die Linke.
Danke. - Sehr geehrter Herr Burgbacher, Sie sagten
eben, dass die Verhandlungen im Kultur- und Medienbereich noch in der Schwebe sind. Frau Herkes hatte aber
bereits im Juni Frankreich für das Veto in diesem Bereich kritisiert. Können wir also davon ausgehen, dass
sich die Bundesregierung im Verhandlungsprozess für
die Herausnahme des Kultur- und Medienbereichs einsetzt, oder ist das nicht der Fall?
Herr Präsident, wir kommen jetzt zurück zur ersten
Frage. Ich kann gerne etwas dazu sagen.
Das ist nicht ganz in Ordnung. Wir wollen aber heute
milde sein. Es wäre nett, wenn Sie trotzdem noch etwas
zu dieser Frage sagen würden.
Ich habe es vorhin bereits gesagt: Die USA haben einen Text zu den Themen Audiovision und Kultur vorgelegt. Dieser Bereich ist vom EU-Mandat ausgenommen.
Wir möchten etwa einen Annex zum Bereich Maschinenbau hineinbringen. Dieser ist im Moment nicht enthalten. Das muss nun abgewartet werden. Wie gesagt:
Im Moment ist der Bereich Kultur noch ausgenommen.
Danke schön. - Der Kollege Beck, Bündnis 90/Die
Grünen, hat eine Frage dazu.
Nach § 4 Abs. 1 des EUZBBG ist die Bundesregierung verpflichtet, das Parlament frühzeitig, umfassend
und fortlaufend über alle Vorhaben der Europäischen
Union zu unterrichten. Wann hat die Bundesregierung
den Deutschen Bundestag zum letzten Mal förmlich über
dieses Vorhaben der Europäischen Union unterrichtet?
Die Unterrichtung erfolgt in der Regel schriftlich und,
wie gesagt, fortlaufend und umfassend. Ich kann mir
nicht vorstellen, dass es seit Monaten keine neuen Entwicklungen, die einen Bericht notwendig machen, gegeben hat.
Herr Kollege Beck, die Daten habe ich jetzt nicht bei
mir. Wir liefern sie aber gerne nach.
({0})
Danke schön, Herr Staatssekretär. - Der Kollege
Lenkert von der Fraktion Die Linke hat noch eine Frage
zu diesem Komplex. - Bitte.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Burgbacher, Sie
sprachen davon, dass ein Verhandlungsmandat von der
Bundesregierung ausgesprochen ist. Dieses ist sicherlich
auch unterstützt worden. Ich würde von Ihnen gern wissen, ob in diesem Verhandlungsmandat Regelungen zum
Investorenschutz nach dem Energiecharta-Vertrag und
den üblichen bilateralen Abkommen zum Investorenschutz enthalten sind und, wenn ja, ob sie sich auch auf
die Bereiche Landwirtschaft, Gentechnik und Fracking
erstrecken?
Herr Staatssekretär.
Herr Kollege, ich kann Ihnen sagen: Das Thema Investorenschutz spielt natürlich eine große Rolle. Ich bitte
Sie aber um Verständnis dafür, dass ich die Details, die
ich jetzt nicht zur Hand habe, nachliefere. Denn diese lagen im Rahmen der Frage nicht auf dem Tisch.
Ich denke, so können wir uns verständigen.
Weitere Fragen zu diesem Komplex liegen nicht vor.
Herr Staatssekretär Burgbacher steht aber weiterhin zur
Beantwortung bereit.
Ich rufe Frage 5 des Kollegen Peter Meiwald, Bündnis 90/Die Grünen, auf:
Wie hoch sind nach Kenntnis der Bundesregierung die
ökologischen und ökonomischen Schäden durch den Erdölaustritt aus dem Kavernenfeld in Etzel vom 17. November
2013 zu beziffern, und welche konkreten Schritte zum Beispiel im Bergrecht plant die Bundesregierung zur Verhinderung zukünftiger Umweltschadensereignisse im Gefolge des
Betriebs von Kavernen zur Speicherung fossiler Brennstoffe?
Herr Staatssekretär, bitte.
Herr Kollege Meiwald, der Vollzug des Bergrechts
liegt in der ausschließlichen Zuständigkeit der Länder.
Die Bundesregierung ist dafür nicht zuständig und hat
von daher auch keine eigenen Kenntnisse über die Auswirkung des Erdölaustritts. Nach Informationen der
Bundesregierung trat das Erdöl aus einer Leckage in einer
überirdischen Armatur aus. Die Ursache hierfür ist noch
nicht bekannt. Das Bundesberggesetz legt allgemein fest,
dass von Bergbaumaßnahmen keine gemeinschädlichen
Einwirkungen ausgehen dürfen, und ermächtigt die zuständigen Landesbehörden mit umfassenden Erlaubnisund Kontrollzuständigkeiten. Die Bundesregierung sieht
momentan keinen Zusammenhang zwischen dem Ereignis und den gesetzlichen Regelungen zum Bergrecht
oder zum Wasserschutz und plant vor dem Hintergrund
des Vorfalls keine konkreten Schritte.
Sie fragen dann - Sie sind ja neu im Bundestag -,
welche konkreten Schritte die Bundesregierung plant.
Wenn mir der Präsident eine Viertelstunde gibt, dann
schaue ich im Koalitionsvertrag nach, ob diesbezüglich
etwas drinsteht. - Das ist natürlich eine Sache, die dann
gemacht werden muss.
Eine Viertelstunde wird nicht genehmigt. - Haben Sie
eine Zusatzfrage, Herr Kollege Meiwald?
Gibt es Erkenntnisse, dass die Notwendigkeit besteht,
am Bergrecht insgesamt oder hinsichtlich der Bundeszuständigkeit im Bergrecht etwas zu verändern, damit solche Dinge zukünftig nicht mehr dem willkürlichen
Durchsetzen auf Landesebene unterliegen, und einen
Grundriegel vorzuschieben, demzufolge der Bund in
diesem Bereich Verantwortung hat und dieser entsprechend nachkommen muss?
Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Meiwald, der Fall sieht im Augenblick
folgendermaßen aus: Circa 40 000 Liter Rohöl sind über
einen Zeitraum von 20 Stunden ausgetreten. Eine Gefährdung des Wattenmeers oder des Trinkwassers
scheint nach bisherigem Stand ausgeschlossen. Für den
Fall zuständig ist die niedersächsische Landesregierung.
Der niedersächsische Wirtschaftsminister hat sich dem
jetzt angenommen und die Koordination des Schadenmanagements übernommen. Weitere Informationen liegen im Moment nicht vor.
Nach unseren Erkenntnissen hat auch Niedersachsen
im Augenblick noch keine Informationen über die eigentliche Ursache. Ich glaube, man sollte neue Informationen abwarten, bevor man über weitere Dinge nachdenkt.
Vielen Dank, Herr Burgbacher. - Wir haben jetzt einen ganzen Schwung von Nachfragen. Als Erster Herr
Behrens, Fraktion Die Linke, dann Frau Zimmermann,
Fraktion Die Linke, und dann eine Kollegin von den
Grünen.
Wir haben gerade gehört, dass die Bundesregierung keinen Handlungsbedarf sieht. Gleichwohl sind 40 000 Liter,
die oberirdisch abfließen, nicht nichts und besorgen die
dortige Bevölkerung sehr stark.
Meine Frage bezieht sich auf die besondere Situation
der Betreibergesellschaft, der ehemals staatlichen Investitionsgesellschaft, IVG, die sich im Moment in Insol126
venz befindet: Welches Schadensregulierungsszenario
ist aus Bundessicht eigentlich vorstellbar? Ich denke, die
Bürgerinnen und Bürger haben es nicht verdient, dass
man sie bei solchen Fragen alleinlässt.
Herr Kollege, es ist nicht so, dass wir leichtfertig darüber hinweggehen. In der Bundesrepublik Deutschland
haben wir aber eine klare Verteilung der Kompetenz.
Diese liegt im Augenblick ganz klar bei der Landesregierung des Landes Niedersachsen. Natürlich stehen wir
in engem Kontakt.
Die Frage hier war aber, was bergrechtlich zu tun ist.
Ich bin der Überzeugung, dass wir zunächst einmal nähere Informationen abwarten sollten. Diese hat die Landesregierung Niedersachsen offenbar auch noch nicht.
Dann muss man natürlich alle weiteren Konsequenzen
mit dem Land Niedersachsen besprechen.
Schönen Dank. - Als Nächste die Kollegin
Zimmermann, Fraktion Die Linke. Bitte.
Herr Präsident! Ob des großen Schadens und der Wiederholbarkeit des Schadens bin ich der Meinung, dass
sich die Bundesregierung nicht ganz aus der Verantwortung stehlen kann. Deshalb frage ich die Bundesregierung bzw. Sie: Welche Maßnahmen sind vorgesehen?
Ich denke zum Beispiel an eine gesetzliche Regelung,
derzufolge Kavernenbesitzer und -betreiber in einen
Fonds einzahlen, um die Schäden wenigstens finanziell
zu kompensieren. Sind Maßnahmen ähnlicher Art vorgesehen?
Frau Kollegin, selbst wenn ich Ihnen eine Antwort
geben könnte, würde es dem Stil des Hauses widersprechen, wenn wir jetzt - ich sage das ganz bewusst als
Vertreter der bisherigen Bundesregierung - Dinge ankündigen, die in die Verantwortung einer neuen Bundesregierung fallen.
Ich habe gesagt, was wir im Augenblick machen. Es
gibt - das ist ganz klar - einen engen Kontakt zu Niedersachsen, um zu sehen, wo es Handlungsbedarf gibt. Gesetzesänderungen sind aber wahrlich eine Sache der
neuen Bundesregierung. Es wäre ein schlechter Stil,
wenn wir uns dazu in irgendeiner Weise äußern würden.
Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär. - Die nächste
Frage von Frau Kollegin Verlinden, Bündnis 90/Die
Grünen.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Burgbacher, ich
möchte noch einmal auf den Punkt Schadensregulierung
zurückkommen. Es ist so, dass der Mutterkonzern hoch
verschuldet ist. Es ist nicht ausgeschlossen, dass der
Staat einspringen muss, um die Schäden der Ölkatastrophe zu lindern. Deshalb noch einmal ganz explizit die
Frage an Sie: In welcher Höhe müsste im Fall des Falles
die Bundesrepublik oder das Land Niedersachsen eintreten, wenn die Versicherung des Unternehmens nicht einspringt und das Unternehmen selbst die durch diese Katastrophe hervorgerufenen Schäden nicht regulieren
kann, weil das Geld dafür nicht da ist?
Frau Kollegin, noch einmal ganz deutlich: Wir nehmen die Situation sehr ernst. Aber jetzt ist zunächst einmal die Landesregierung Niedersachsen gefordert, hier
tätig zu werden. Ich gehe davon aus, dass das gemacht
wird. Wir haben klare Verteilungen, und wir werden natürlich mit dem Land Niedersachsen reden. Aber es wäre
falsch, wenn wir uns hier einmischen würden. Jetzt ist
Niedersachsen am Zug.
Herzlichen Dank. - Die nächste Frage hat noch einmal der Kollege Lenkert, Fraktion Die Linke. Bitte.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Staatssekretär
Burgbacher, es droht die Insolvenz einer Firma, und die
Begleichung der Schäden droht auf die Steuerzahler zurückzufallen. Nach Bundesberggesetz ist es möglich,
eine Verordnung zur Einrichtung eines Haftungsfonds zu
erlassen, in den jeder Bergwerksbetreiber vorsorglich
einzahlen muss, um in solchen Fällen Geldmittel zur
Verfügung zu haben.
Beabsichtigt die Bundesregierung in Anbetracht des
aktuellen Falles, eine solche Verordnung auf den Weg zu
bringen?
Ich schließe noch einmal an meine vorherige Antwort
an: Es wäre schlechter Stil, wenn ich sagen würde, was
eine künftige Bundesregierung beabsichtigt. Deshalb
bitte ich um Verständnis, dass ich das jetzt nicht tun
werde.
Recht herzlichen Dank. - Die Frage 6 des Kollegen
Koenigs wird schriftlich beantwortet. Damit sind wir mit
diesem Komplex und dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie fertig.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes auf. Die Beantwortung übernimmt Frau Staatsministerin Cornelia Pieper.
Die Fragen 7 und 8 des Kollegen Frithjof Schmidt,
die Frage 9 der Kollegin Katja Keul und die Frage 10
des Kollegen Omid Nouripour werden schriftlich beantwortet.
Vizepräsident Peter Hintze
Ich rufe die Frage 11, gestellt von der Kollegin
Agnieszka Brugger, Bündnis 90/Die Grünen, auf:
Wie stellt die Bundesregierung sicher, dass von US-Stützpunkten in Deutschland keine Beteiligung an extralegalen
Hinrichtungen, die das Völkerrecht verletzen, erfolgt?
Bitte, Frau Staatsministerin.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Frau Abgeordnete
Brugger, ich antworte für die Bundesregierung wie folgt:
Nach NATO-Truppenstatut und Zusatzabkommen zum
NATO-Truppenstatut sind die amerikanischen Streitkräfte auf deutschem Staatsgebiet verpflichtet, deutsches
Recht zu achten. Als Entsendestaat müssen die Vereinigten Staaten von Amerika die dafür erforderlichen Maßnahmen treffen. Die Bundesregierung wird natürlich
auch in Zukunft auf die Einhaltung der rechtlichen Rahmenbedingungen für die amerikanischen Streitkräfte in
Deutschland achten. Auch zu diesem Themenbereich
steht die Bundesregierung in einem engen Dialog mit der
Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika.
Haben Sie eine Zusatzfrage, Frau Kollegin? - Bitte.
Vielen Dank. - Mich würde interessieren - es gibt ja
viele Hinweise darauf; die ersten stammen aus dem Mai
und Juni dieses Jahres und waren wiederholt Gegenstand
verschiedener parlamentarischer Anfragen -, welche
Kenntnisse die Bundesregierung darüber hat, dass über
AFRICOM ein US-Stützpunkt maßgeblich an der
Durchführung von gezielten Tötungen durch Drohnen in
Afrika beteiligt ist.
Frau Staatsministerin, bitte.
Frau Abgeordnete, die Bundesregierung verfügt über
keine Erkenntnisse zu möglichen völkerrechtswidrigen
Handlungen durch Verbündete auf deutschem Boden.
Eine Stellungnahme zu hypothetischen Fragestellungen
gibt die Bundesregierung nicht ab. Sie wissen, dass es in
der Berichterstattung einiger Medien Hinweise darauf
gab. Eine Pflicht zur Einhaltung deutschen Rechts für
hier stationierte NATO-Truppen besteht, wie Sie wissen,
gemäß Art. II NATO-Truppenstatut. Für Taten, die nur
nach deutschem Recht strafbar sind, sind nach Art. VII
NATO-Truppenstatut deutsche Gerichte zuständig. Von
daher kann ich Ihnen dazu keine neuen Erkenntnisse der
Bundesregierung mitteilen.
Habe ich das richtig verstanden: Auch angesichts der
zahlreichen belastbaren Hinweise, die es gibt, hat die
Bundesregierung beschlossen, hier nicht noch einmal tätig zu werden und sich eigene Kenntnisse zu beschaffen?
Und nicht noch einmal nachzufragen und sich über diesen Tatbestand zu informieren, um festzustellen, ob hier
eventuell von Deutschland aus Völkerrecht gebrochen
wird?
Frau Abgeordnete, ich kann nur wiederholen, dass der
Bundesregierung keine neuen Erkenntnisse zu möglichen völkerrechtswidrigen Handlungen vorliegen.
Herzlichen Dank. - Frau Kollegin Hänsel von der
Linken und dann Frau Kollegin Keul von der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen. Frau Hänsel, bitte.
Danke. - Ich habe auch noch eine Nachfrage; denn
wir hatten dazu schon im Juni dieses Jahres eine Kleine
Anfrage gestellt. Damals gab es ja die ersten Berichte
bezüglich eines geheimen US-Drohnenkrieges, unter anderem von AFRICOM und Ramstein aus. Sie antworteten für die Bundesregierung darauf, dass dies gegenüber
dem US-Präsidenten und dem US-Außenminister angesprochen worden sei und Sie keinen Grund zu der Annahme hätten, dass durch in Deutschland stationierte
US-Streitkräfte deutsches Recht oder Völkerrecht verletzt werde. Dann muss es doch zwischen den Regierungen der USA und Deutschland Thema gewesen sein.
Deswegen meine Frage: Von wem haben Sie eine
Antwort bekommen? Wen haben Sie da konkret angesprochen? Gibt es darauf noch einmal eine Reaktion von
Ihrer Seite? Denn es gibt ja neue Berichte vom November über diesen Drohnenkrieg.
Frau Abgeordnete, natürlich hat die Bundesregierung,
insbesondere der Außenminister, Herr Dr. Westerwelle,
dies auch im Interesse des Parlaments - wir nehmen Ihre
Anfragen sehr ernst - gegenüber Außenminister Kerry
und dem amerikanischen Präsidenten Obama ins Gespräch gebracht. Uns ist von beiden Seiten zugesichert
worden, dass es an US-Stützpunkten in Deutschland
keine völkerrechtswidrige Beteiligung an extralegalen
Hinrichtungen gibt.
Herzlichen Dank. - Frau Kollegin Keul hat die
nächste Frage.
Vielen Dank. - Frau Staatsministerin, wie kann es
denn sein, dass der Generalbundesanwalt ermittelt, wenn
Sie keinerlei Anhaltspunkte für derartige Geschehnisse
haben? Hat er möglicherweise Erkenntnisse, die die
Bundesregierung nicht hat? Wie gedenken Sie diese
Lücke zu schließen?
In der Tat prüft der Generalbundesanwalt derzeit im
Rahmen eines Beobachtungsvorganges, ob hinreichende
Anhaltspunkte für eine in seine Zuständigkeit fallende
Straftat vorliegen. Weiter gehende Erkenntnisse haben
wir dazu nicht.
Schönen Dank. - Herr van Aken, Fraktion Die Linke,
hat die nächste Frage. Danach kommen Herr Liebich
und Herr Beck. - Bitte.
Vielen Dank. - Frau Pieper, Sie haben jetzt einfach
geantwortet: Es liegen Ihnen keine Hinweise auf völkerrechtswidrige Handlungen vor. Insofern stellt sich die
Frage: Was ist für Sie denn völkerrechtswidrig? Ich
frage ganz konkret: Liegen Ihnen unabhängig vom Begriff „völkerrechtswidrig“ - egal wie Sie es rechtlich
einschätzen - Hinweise darauf vor, dass von amerikanischen Stützpunkten auf deutschem Boden aus bewaffnete Drohnen anderswo in der Welt gesteuert werden? Ja
oder nein?
Herr Abgeordneter, ich kann es nur immer wiederholen: Uns liegen dazu keine Erkenntnisse vor. Sie wissen:
Diese Vorgänge können nur in Einzelfallprüfungen völkerrechtlich bewertet werden. Diese würde die Bundesregierung gegebenenfalls vornehmen. Aber uns liegen
keine neuen Erkenntnisse vor.
Die nächste Frage stellt Herr Kollege Liebich, Fraktion Die Linke.
Frau Staatsministerin, trifft es zu, dass eine Institution
der Bundesregierung, nämlich die sogenannte Hauptstelle für Befragungswesen, Asylbewerberinnen und
Asylbewerber in Deutschland befragt hat, um Erkenntnisse zum Zielerfassungssystem für Drohneneinsätze zu
gewinnen?
Das trifft nicht zu, Herr Abgeordneter.
Danke schön. - Die nächste Frage stellt der Kollege
Beck, Bündnis 90/Die Grünen. Bitte.
Frau Staatsministerin, Sie nehmen für die Bunderegierung in Anspruch, bislang nichts über diese Vorgänge
zu wissen. Die Süddeutsche Zeitung berichtet heute über
einen Fall in Somalia, in dem der Vater eines Menschen,
den die Süddeutsche Zeitung als Salman Abdullahi
bezeichnet, im Februar 2012 durch Drohnen getötet
worden sein soll. Der Artikel legt nahe, dass die „kill
chain“ bis in die AFRICOM-Einheit in Deutschland
hineinreicht.
Hat die Bundesregierung die Absicht, diesem Fall
nachzugehen, also sowohl mit den dort genannten Quellen
zu reden als auch nachzuforschen, was der AFRICOMVerbindungsoffizier der Bundeswehr über diese Fragen
weiß, dessen Aufgabe die Sicherstellung des Informationsaustausches einschließlich der Pflege der bestehenden Informationsbeziehungen ist? Wenn Sie nichts darüber wissen, sollten Sie Ihrem Unwissen in gewisser
Weise in Eigeninitiative abhelfen.
Herr Abgeordneter, in den Medien sind des Öfteren
Berichte über Drohneneinsätze, die scheinbar stattgefunden haben, zu verzeichnen. Das ARD-Magazin
Panorama und die Süddeutsche Zeitung haben sich
mehrmals veranlasst gesehen, darüber zu berichten.
Natürlich nimmt man das ernst. Aber ich kann Ihnen nur
sagen: Der Bundesregierung liegen keine eigenen gesicherten Erkenntnisse
({0})
zu den von US-Streitkräften in der Bundesrepublik
Deutschland geplanten oder durchgeführten Einsätzen
vor.
({1})
Ein regelmäßiger Informationsaustausch bezüglich der
laufenden Aktivitäten der US-Streitkräfte in Deutschland findet nicht statt. Die Bundesregierung wird auch
nicht über alle Einsätze und Aktivitäten der genannten
US-Kommandos und -Einrichtungen informiert.
Frau Kollegin Kotting-Uhl von Bündnis 90/Die Grünen stellt die nächste Frage zu dieser Thematik, danach
Herr Kollege Ströbele, ebenfalls Bündnis 90/Die Grünen. Bitte schön, Frau Kotting-Uhl.
Frau Staatsministerin, im Zusammenhang mit der Beantwortung der Frage von Frau Brugger war viel von
Völkerrecht die Rede. Ich würde sie gerne mit unserem
Grundgesetz in Zusammenhang bringen.
Unser Grundgesetz kennt keine Todesstrafe. Wenn
der Verdacht besteht, dass von deutschem Boden aus
gezielte Hinrichtungen stattfinden, ist das für Sie nicht
Anlass genug, anders nachzufragen bzw. sich anders zu
informieren, ob so etwas tatsächlich stattfindet, als es
Ihre Antworten hier suggerieren?
Ich kann Ihnen nur noch einmal versichern, Frau Abgeordnete, dass der Bundesregierung keine Erkenntnisse
über extralegale Hinrichtungen vorliegen.
({0})
Die nächste Frage stellt der Kollege Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen. Bitte.
Danke. - Frau Staatsministerin, ich habe dazu eine
sehr naheliegende Frage. AFRICOM heißt eine der
Kommandozentralen in Deutschland, in Stuttgart. Nun
liegt Deutschland ja nicht in Afrika, sondern Afrika ist
ein eigener Kontinent. Welche Erklärung hat eigentlich
die Bundesregierung dafür, dass eine Kommandozentrale, die für Afrika zuständig ist, ausgerechnet in
Deutschland, in Stuttgart, stationiert sein muss? Welche
Erklärung haben Sie - also nicht Sie persönlich, sondern
die Bundesregierung - dafür von den US-Behörden bekommen?
Herr Abgeordneter Ströbele, Sie wissen: AFRICOM
in Stuttgart ist eines von sechs regionalen Hauptquartieren des US-Verteidigungsministeriums. Auftrag von
AFRICOM ist die Koordinierung der Aktivitäten des
US-Verteidigungsministeriums und anderer US-Ministerien und -Behörden in Afrika. Die Aufstellung von
AFRICOM begann im Oktober 2007, also zu Zeiten der
vorletzten Bundesregierung, allerdings auch unter der
Ägide von U.S. EUCOM. Am 1. Oktober 2008 wurde es
dann als eigenständiges Kommando in Dienst gestellt.
AFRICOM verfügt derzeit über insgesamt 2 000 Dienstposten, die etwa zur Hälfte militärisch bzw. zivil besetzt
sind.
Sie sagten schon: Das Hauptquartier ist in Stuttgart.
Es war anfangs als Übergangsstandort vorgesehen. Im
Februar 2013 wurde uns bekannt, dass das Kommando
dort dauerhaft stationiert bleiben soll. Es gab Anfragen
bezüglich des Umzugs auf den afrikanischen Kontinent,
der aber von den meisten afrikanischen Staaten abgelehnt wurde.
({0})
Herzlichen Dank. - Die nächste Frage stellt der
Kollege Ebner von Bündnis 90/Die Grünen, danach der
Kollege Dr. Neu von der Fraktion Die Linke. Kollegen
Liebich möchte ich darauf hinweisen, dass er sein Nachfragerecht ausgeschöpft hat, weil er schon eine Frage gestellt hat. Sie sind lange dabei und werden sich an das
Verfahren wieder erinnern. Es sollen ja möglichst viele
Kolleginnen und Kollegen eine Frage stellen können. Herr Ebner, bitte.
Danke, Herr Präsident. - Frau Staatsministerin, ich
möchte auf die Nachfrage des Kollegen Beck zurückkommen, die Sie nicht beantwortet haben. Ich möchte
aber dringend darum bitten, dass Sie diese ernsthaft beantworten. Es geht um die Frage: Was macht die Bundesregierung, um den soeben geschilderten Fall, über
den heute in den Medien berichtet wurde, aufzuklären?
Geht die Bundesregierung dieser Sache überhaupt nach?
Ich denke, darauf sollten wir eine Antwort bekommen. Danke schön.
Herr Abgeordneter, natürlich wird die Bundesregierung in Gesprächen mit den amerikanischen Regierungsbehörden dem noch einmal nachgehen, aber ich kann
Ihnen nochmals versichern: Uns liegen keine neuen Erkenntnisse zu diesen Fällen vor.
Kollege Dr. Neu, Fraktion Die Linke.
Frau Staatsministerin Pieper, Sie hatten darauf hingewiesen, dass die meisten afrikanischen Staaten eine
Stationierung von AFRICOM auf ihren Territorien
abgelehnt haben. Mit welcher Motivation haben Sie die
Stationierung von AFRICOM auf deutschem Territorium zugelassen, und gab es seitens afrikanischer Staaten Proteste gegenüber der Bundesregierung aufgrund
der Stationierung von AFRICOM auf deutschem Territorium?
Zum letzten Teil Ihrer Frage: Mir sind seitens der afrikanischen Staaten keinerlei Proteste bekannt. Zum ersten
Teil Ihrer Frage: Ich darf Sie daran erinnern, dass diese
Entscheidung zu Zeiten der vorletzten Bundesregierung
getroffen worden ist. Die Entscheidung damals im
Kabinett haben der damalige Außenminister und für das
Verteidigungsministerium der Staatssekretär getroffen.
Herzlichen Dank. - Wir bleiben beim Thema
AFRICOM. Ich rufe die Frage 12 des Abgeordneten
Uwe Kekeritz auf:
Warum wurde der Deutsche Bundestag - vergleiche die
am 15. November 2013 erschienene Publikation Geheimer
Krieg der Journalisten Christian Fuchs und John Goetz,
Seite 30 bis 36 - nicht mit der 2007 getroffenen Entscheidung
über die Ansiedlung des US-Afrikakommandos - AFRICOM in Deutschland befasst, und welche Mitglieder der Bundesregierung, einschließlich Staatssekretärinnen/-sekretäre, haben diese Entscheidung getroffen - bitte mit jeweiliger Begründung?
Vizepräsident Peter Hintze
Ich bitte Frau Staatsministerin Pieper um die Beantwortung der Frage.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Abgeordneter,
wir bleiben bei dem Themenfeld. Bis zur Einrichtung
des regionalen US-amerikanischen Afrikakommandos,
AFRICOM, im Jahr 2007 war das in Stuttgart angesiedelte amerikanische Europäische Kommando EUCOM
in der damaligen amerikanischen Streitkräftestruktur
auch für Afrika zuständig. Die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika hat die Bundesregierung am
15. Januar 2007 über ihre organisatorische Maßnahme
unterrichtet, die entsprechende Zuständigkeit aus
EUCOM herauszulösen, ein neues, für Afrika zuständiges regionales Militärkommando AFRICOM zu schaffen und bis auf Weiteres ebenfalls in Stuttgart anzusiedeln. Für Stuttgart sprach aus amerikanischer Sicht vor
allem, dass so die vorhandene Infrastruktur genutzt werden konnte.
Ich will noch einmal bekräftigen: Die damalige Bundesregierung, also das Auswärtige Amt und das Bundesministerium der Verteidigung, sah im Januar 2007 keinen Anlass, die Zustimmung zur Einrichtung von
AFRICOM auf dieser Grundlage zu verweigern. Gleichfalls sah die Bundesregierung aus den vorgenannten
Gründen keinen Anlass, den Deutschen Bundestag mit
dieser Entscheidung, die sie im Rahmen ihrer exekutiven
Eigenverantwortung getroffen hat, zu befassen. Wenn
ich mich recht entsinne, hatten wir 2007 eine Große Koalition.
Möchten Sie eine Nachfrage stellen, Herr Kollege
Kekeritz?
Aber sicher doch.
Bitte.
Die Nachfrage erübrigt sich eigentlich, weil ich die
Antwort schon weiß: Es gibt keine Erkenntnisse. Aber
ich bin über Ihre Flexibilität sehr erstaunt. Sie haben
jetzt viermal geantwortet: Es gibt keine Erkenntnisse.
Dann haben Sie gesagt: Es gibt keine gesicherten Erkenntnisse. Dann sagten Sie: Es gibt keine neuen Erkenntnisse. - Was ist denn nun richtig: Sie haben keine
gesicherten Erkenntnisse? Sie haben Erkenntnisse? Ich
verstehe nicht, warum Sie die Erkenntnisse nicht haben,
obwohl doch allgemein bekannt ist - das steht in den
USA in den Blättern und wurde von der US-amerikanischen Regierung nie dementiert -, dass die Einrichtungen in der Bundesrepublik Deutschland notwendig sind,
um solche Drohneneinsätze überhaupt fliegen zu können. Warum sagen Sie hier, dass Sie keine Erkenntnisse
haben, obwohl das im Blätterwald nachzulesen ist und
von der US-amerikanischen Regierung nicht dementiert
wird? Was wollen Sie tun, um dieses Defizit zu beseitigen?
Alle drei Formen der Erkenntnisse, die wir nicht haben, sind gültig und richtig.
({0})
Ich kann im Deutschen Bundestag auch nicht für die
amerikanischen Medien sprechen, Herr Abgeordneter.
Ich hoffe jetzt, das falsch verstanden zu haben; denn
das, was ich eben verstanden habe, ist: All die Erkenntnisse, die nicht vorliegen, sind richtig.
({0})
Gestatten Sie mir, dies als Zynismus zu qualifizieren. Danke schön.
Herr Abgeordneter, ich kann auf die Fragen, die Sie
immer wieder gleich stellen, nur die gleiche Antwort geben.
({0})
Wenn Sie diese anzweifeln, ist dies Ihr gutes Recht.
Aber ich glaube, Herr Präsident, es ist mein gutes Recht,
für die Bundesregierung die Antwort zu geben, die richtig und auch gültig ist. Sie können davon ausgehen, dass
wir keine weiteren Erkenntnisse bisher haben.
({1})
Ich finde, wir können alle entspannt bleiben. Es gibt
noch weitere Fragen dazu, sodass das Thema sicherlich
noch vertieft behandelt wird. - Kollege Liebich von der
Fraktion Die Linke, danach Frau Kollegin Hänsel, ebenfalls von der Fraktion Die Linke. - Bitte schön, Kollege
Liebich.
Frau Staatsministerin Pieper, Sie haben vorhin auf
meine Frage gesagt, dass die sogenannte Hauptstelle für
das Befragungswesen keine Befragungen für dieses Zielerfassungssystem von AFRICOM durchführen würde.
Nun hat uns aber die Bundesregierung auf unsere Anfrage hin bestätigt, dass Befragungen von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern durch die Hauptstelle für das
Befragungswesen durchgeführt werden. Mich würde interessieren, mit welchem Ziel eine Geheimdienstinstitution der Bundesrepublik Deutschland Schutzsuchende
hier in Deutschland befragt.
Frau Staatsministerin.
Die Erkenntnisse, die Ihnen vorliegen, liegen dem
Auswärtigen Amt so nicht vor.
Danke schön. - Frau Kollegin Hänsel von der Fraktion Die Linke. Bitte schön.
Frau Staatsministerin, es geht immer wieder um die
nicht vorliegenden Erkenntnisse der Bundesregierung.
Deshalb lautet meine Frage: Werden Sie heute Abend ab
21.45 Uhr die Sendungen in der ARD zum geheimen
Krieg, zu den US-Spezialeinheiten von AFRICOM, die
in Deutschland stationiert sind, und zu den US-Drohnenangriffen anschauen, um Ihre Erkenntnisse zu vertiefen?
Die Frage ist ungewöhnlich, aber wir bitten die
Staatsministerin, trotzdem darauf zu antworten.
Ich weiß die Informationsberichte der uns bekannten
Sendungen der öffentlich-rechtlichen Anstalten sehr zu
schätzen. Heute Abend habe ich jedoch andere Verpflichtungen. Aber ich werde es mir dann gerne in der
Mediathek des entsprechenden Senders ansehen.
Herzlichen Dank. - Die Fragen 13 und 14 der Kollegin Franziska Brantner werden schriftlich beantwortet.
Damit kommen wir zur Frage 15 des Abgeordneten
Hans-Christian Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen:
Ist die Bundesregierung bereit und willens, dem Bundestag all ihre völkerrechtlichen Vereinbarungen, bi- und multilateralen Abkommen nebst zugehöriger Protokolle, Verbalnoten, Verwaltungsvereinbarungen und Ähnliches mit den
ehemals westalliierten Stationierungsstaaten sowie zwischen
deutschen und deren Sicherheits- und Militärdienststellen
über deren Tun in oder bezüglich Deutschland kurzfristig zur
Überprüfung zugänglich zu machen - unter Angabe aller
deutschen Rechtsnormen -, welche unter Umständen die Entsendestaaten nebst militärischem sowie zivilem Gefolge auf
deutschem Boden von uneingeschränkter Beachtung deutschen Rechts oder dessen Kontrolle befreien, und teilt die
Bundesregierung meine Auffassung ({0}), dass sie - damit künftig
die Entsendestaaten nebst militärischem sowie zivilem Gefolge auf deutschem Boden ihre Privilegien nicht zu möglichen Kriegshandlungen und Geheimdienstausspähung missbrauchen, sondern uneingeschränkt deutsches Recht beachten
und dies überall kontrollieren lassen - kurzfristig ihr Kündigungsrecht nutzen sollte bezüglich des letzteren - nach Auffassung des oben genannten Bundesverwaltungsrichters
Dieter Deiseroth - entgegenstehenden Deutschland- und Aufenthaltsvertrags sowie des NATO-Truppenstatuts nebst
Zusatzabkommen aus den 50er-Jahren, womit die Bundesregierung unter anderem die Einsetzung des US-Militärkommandos AFRICOM in Stuttgart rechtfertigte ({1})?
Frau Staatsministerin Pieper, bitte.
Herr Abgeordneter Ströbele, die völkerrechtlichen
Übereinkünfte der Bundesrepublik Deutschland sind im
Bundesgesetzblatt Teil II veröffentlicht und damit allgemein zugänglich. Soweit sie dem Geheimschutz unterliegen, gelten, wie Sie wissen, die entsprechenden Regelungen. Die genannten internationalen Verträge bieten
keine Rechtsgrundlage für die in Medienberichten behaupteten Vorgänge. Eine Kündigung und Neuverhandlung dieser Verträge wäre daher weder geeignet noch erforderlich, um Maßnahmen im Sinne Ihrer Fragestellung
zu ergreifen. Dies wäre auch außen- und sicherheitspolitisch in keiner Weise wünschenswert.
Die Bundesregierung teilt daher nicht Ihre in der Fragestellung zum Ausdruck kommende Auffassung. Vielmehr erwartet die Bundesregierung, dass die Entsendestaaten auf deutschem Boden deutsches Recht einhalten.
Dies hat die Regierung der Vereinigten Staaten von
Amerika der Bundesregierung zugesichert, wie ich auch
schon bei der Beantwortung der vorhergehenden Fragen
erwähnte. Die Bundesregierung steht hierzu weiterhin in
intensivem Kontakt mit der Regierung der Vereinigten
Staaten von Amerika.
Herr Kollege Ströbele, Sie schauen so, als wollten Sie
eine Zusatzfrage stellen.
Da haben Sie vollkommen recht, Herr Präsident. Frau Staatsministerin, mir ist auch bekannt, dass die
USA immer wieder betonen und gerade im Zusammenhang mit der NSA-Spionageaffäre immer wieder betont
haben, dass sie in Deutschland deutsches Recht und Gesetz einhalten. Haben Sie nicht mit mir daran Zweifel,
dass sie das tatsächlich tun, oder können Sie mir eine
Bestimmung nach deutschem Recht oder Gesetz nennen,
die es zulässt, die Kanzlerin der Bundesrepublik
Deutschland durch einen US-Geheimdienst abzuhören?
Herr Abgeordneter, die Bundesregierung hat mit dem
Acht-Punkte-Programm der Bundeskanzlerin für einen
besseren Schutz der Privatsphäre sofort reagiert. So wurden im August 2013 durch das Auswärtige Amt zum
Beispiel die Verwaltungsvereinbarungen von 1968/69
mit der Französischen Republik, dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland und den Vereinigten Staaten von Amerika im gegenseitigen Einvernehmen aufgehoben. Ich denke, das ist ein Zeichen
dafür, dass wir gehandelt haben.
Eine zweite Zusatzfrage des Kollegen Ströbele. Bitte
schön.
Frau Staatsministerin, Sie beantworten beharrlich
meine Fragen nicht, sondern lesen etwas ab, das auf Ihrem Zettel steht. Ich frage Sie noch einmal ganz konkret:
Können Sie nach dem, was ich in meiner ersten Frage
dargestellt habe, bestätigen, dass die US-Regierung gegenüber der deutschen Bundesregierung die Unwahrheit
gesagt hat, wenn sie behauptet hat, dass die NSA, also
der militärische Geheimdienst der Vereinigten Staaten
von Nordamerika, in Deutschland Gesetz und Recht achtet, weil es in Deutschland kein Gesetz und kein Recht
gibt, das es zulässt, die Bundeskanzlerin bzw. ihr Handy
abzuhören?
Die amerikanischen Regierungsvertreter, die ich
schon nannte, bis hin zum Präsidenten haben uns zugesichert, dass deutsches Recht eingehalten wird. Sie wissen, dass die Durchsetzung des deutschen Rechts, auch
Strafrechts, insbesondere den Strafverfolgungsbehörden
und den deutschen Gerichten obliegt.
Eine weitere Frage wird von der Kollegin Keul,
Bündnis 90/Die Grünen, angemeldet. Bitte schön.
Frau Staatsministerin, es steht ja außer Frage, dass in
der Vergangenheit das Handy der Kanzlerin abgehört
wurde. Sind wir uns beide darüber einig, dass dies gegen
deutsches Recht verstößt?
In der Tat hat die Bundesregierung natürlich auch gegenüber den amerikanischen Regierungsvertretern bis
hin zum Präsidenten - das konnten Sie in den Medien
verfolgen - ihre Verwunderung zum Ausdruck gebracht.
({0})
Wir arbeiten, wie Sie wissen, an internationalen Datenschutzabkommen. Ich glaube, das ist auch der richtige
Weg. Man sollte nicht auf Verunsicherung und hypothetische Behauptungen setzen.
Herzlichen Dank. - Frau Kollegin Hänsel, Fraktion
Die Linke, stellt eine Zusatzfrage.
Danke schön. - Frau Staatsministerin, im Zusammenhang mit dem Skandal, dass das Handy der Kanzlerin
abgehört wurde, gab es auch Berichte, unter anderem im
Spiegel, über eine mögliche Abhörzentrale oder -anlage
auf dem Dach der US-Botschaft, 200 Meter Luftlinie
von uns entfernt. Meine Frage: Hat die Bundesregierung
oder haben Strafverfolgungsbehörden schon versucht,
sich Zugang zu dieser Abhöranlage zu verschaffen?
Wenn ja, wie war die Reaktion der US-Botschaft? War
es möglich, sie zu besichtigen? Wenn nein, weshalb
nicht?
Frau Abgeordnete, wie wahrscheinlich auch Sie wissen, folgen solchen Dingen, die öffentlich sind und in
den Medien stehen, Untersuchungen des Bundesverfassungsschutzes. Ich will aber ausdrücklich sagen, dass
Fragen der nachrichtendienstlichen Zusammenarbeit im
Parlamentarischen Kontrollgremium behandelt werden
und nicht öffentlich hier im Bundestag.
Herzlichen Dank.
Wir kommen damit zur Frage 16, ebenfalls von der
Kollegin Hänsel, Die Linke:
In welcher Weise gedenkt die Bundesregierung den bereits
mehrfach gemachten Anschuldigungen von NDR und Süddeutscher Zeitung nachzugehen ({0}), dass vom AFRICOM Stuttgart und der US-Base Ramstein aus US-Drohneneinsätze zur gezielten Tötung von Menschen in Afrika, zum Beispiel in Somalia und im Nahen Osten, gesteuert und koordiniert werden?
Frau Staatsministerin.
Liebe Frau Hänsel, eigene gesicherte Erkenntnisse zu
von US-Streitkräften in der Bundesrepublik Deutschland
angeblich geplanten oder geführten Drohneneinsätzen
liegen der Bundesregierung nicht vor. Die Bundesregierung steht jedoch auch hierzu mit den US-amerikanischen Partnern in einem kontinuierlichen Dialog. So hat
der amerikanische Außenminister John Kerry am
31. Mai 2013 dem Bundesminister des Auswärtigen
Dr. Guido Westerwelle versichert, dass jedwedes Handeln der Vereinigten Staaten von Amerika, auch von
deutschem Staatsgebiet aus, streng nach den Regeln des
Rechts erfolgt. Im Nachgang zum Deutschland-Besuch
von US-Präsident Barack Obama bestätigte die amerikanische Regierung, dass von US-Einrichtungen in
Deutschland bewaffnete Drohneneinsätze weder geflogen noch befehligt werden.
Eine Nachfrage dazu? - Bitte schön.
Danke schön. - Frau Staatsministerin, in der Stuttgarter Zeitung vom 19. November 2013 war ein Interview
mit den Journalisten, die diese US-Drohnenangriffe öffentlich gemacht haben, zu lesen, unter anderem mit
Christian Fuchs. Er sagte in diesem Interview, dass laut
internen Unterlagen des US-Verteidigungsministeriums
solche Drohnenangriffe spätestens seit dem Jahr 2011
von Stuttgart aus koordiniert werden und nicht mehr die
CIA, sondern das Militär zuständig ist. Meine Frage: Haben Sie Interesse an diesen US-Unterlagen, die den Journalisten wohl vorliegen? Bemühen Sie sich darum, Einsicht in diese Unterlagen zu bekommen?
Frau Staatsministerin.
Sicher haben wir daran Interesse. Aber ich kann Ihnen
nur noch einmal versichern, Frau Abgeordnete, dass die
Bundesregierung ihre Erkenntnisse nicht auf Behauptungen in Medienberichten und Interviews stützt.
({0})
Ich habe eine weitere Nachfrage. In diesem Interview
sagt der Journalist Christian Fuchs, dass er im Rahmen
seiner Ermittlungen bezüglich der NSA-Einrichtungen
auf diesen US-Militärbasen, unter anderem in Ramstein,
einen Anruf von der deutschen Polizei erhalten hat. Am
Ende des Gesprächs sei der Satz gefallen: „Passen Sie
auf, was Sie tun. In Guantánamo ist immer noch ein
Platz frei.“ Wie würden Sie solch einen Kommentar bewerten?
Sie stellen hier schwerwiegende Vorwürfe in den
Raum. - Dazu liegen der Bundesregierung keine Erkenntnisse vor; aber wir sind gern bereit, dem nachzugehen.
Recht herzlichen Dank!
Die Fragen 17 und 18 des Abgeordneten Andrej
Hunko werden schriftlich beantwortet.
Wir kommen damit zu Frage 19 der Abgeordneten
Inge Höger, Fraktion Die Linke:
Welche Anstrengungen hat die Bundesregierung in den
letzten sechs Monaten unternommen, damit die auf 2013 verschobene internationale Konferenz für eine massenvernichtungswaffenfreie Zone Naher und Mittlerer Osten zeitnah
stattfinden kann, und inwiefern hat sie versucht, ihren Bündnispartner Israel zur Teilnahme zu bewegen?
Frau Staatsministerin Pieper, bitte.
Liebe Frau Abgeordnete Höger, die Bundesregierung
hat die Verschiebung der Helsinki-Konferenz zur Errichtung einer von Massenvernichtungswaffen und Trägermitteln freien Zone im Nahen und Mittleren Osten ohne
Nennung eines neuen Termins sehr bedauert. Aus Sicht
der Bundesregierung sollte die Konferenz möglichst
noch vor der dritten und letzten Vorbereitungssitzung im
Überprüfungszyklus des Nuklearen Nichtverbreitungsvertrages im Frühjahr 2014 abgehalten werden.
Die Einigung auf diese Konferenz war ein wichtiges
Element bei der Verständigung auf ein Schlussdokument
bei der Überprüfungskonferenz des Nuklearen Nichtverbreitungsvertrages 2010. Gemäß dem Schlussdokument
von 2010 sind die Staaten dazu aufgerufen, ohne Druck
von außen die Modalitäten des Prozesses selbst festzulegen. In enger Abstimmung mit dem Vermittler Jaakko
Laajava, den Ausrichtern sowie den EU-Partnern setzt
sich die Bundesregierung in bi- und multilateralen Gesprächen mit den betroffenen Staaten aus der Region für
eine breite Teilnahme an dem Vorbereitungsprozess und
der Konferenz selbst ein.
Der Staat Israel ist nicht Mitglied des Nuklearen
Nichtverbreitungsvertrages. Bei ihren Gesprächen mit
israelischen Vertretern weist die Bundesregierung darauf
hin, dass eine erfolgreiche Konferenz den Nuklearen
Nichtverbreitungsvertrag stärken würde - wovon dann
natürlich auch Israel profitierte. Dementsprechend wirbt
die Bundesregierung aktiv für eine Teilnahme Israels an
der Helsinki-Konferenz sowie weiterhin für den Beitritt
Israels zum Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag als
Nichtnuklearwaffenstaat.
Herzlichen Dank. - Eine Nachfrage, Frau Abgeordnete Höger?
Vielen Dank. - Frau Staatsministerin Pieper, ich
würde gerne noch wissen, ob Sie Erkenntnisse haben,
warum diese Konferenz in Helsinki 2012, die ja schon
anberaumt war, im Gegensatz zu dem Beschluss der
Überprüfungskonferenz von 2010 nicht zustande gekommen ist. Sie haben gesagt, Sie wünschen sich, dass
sie bis Mai 2014 zustande kommt. Das ist nicht mehr
lange hin. Was unternimmt die Bundesregierung, um ein
schnellstmögliches Zustandekommen der Konferenz zu
erreichen?
Ich will vielleicht noch einmal erwähnen, dass für
eine erfolgreiche Konferenz eine Dialog- und Kompromissbereitschaft auf allen Seiten erforderlich ist. Nur
dann kann die Konferenz der Auftakt zu einem Prozess
werden, der zu mehr Vertrauen zwischen den einzelnen
Akteuren und damit auch zu mehr Sicherheit in der Region sowie längerfristig auch zur Einrichtung einer massenvernichtungswaffenfreien Zone führt. Die Bundesregierung wird natürlich weiterhin in Gesprächen auch
mit den Partnern, insbesondere mit der israelischen Regierung, auf eine erfolgreiche Konferenz hinwirken.
Herzlichen Dank. - Frau Höger, Sie haben noch eine
zweite Nachfrage.
Frau Pieper, sehen Sie in den Ergebnissen des Abkommens mit dem Iran eine Chance für das Zustandekommen einer Konferenz für eine massenvernichtungswaffenfreie Zone im Nahen Osten?
Die Ergebnisse der Gespräche mit dem Iran sind,
wenn auch ein erster wichtiger Schritt, sicher noch ein
kleines und junges Pflänzchen. Natürlich werden auch
sie dazu beitragen, dass wir dem Ziel, im Nahen und
Mittleren Osten eine massenvernichtungswaffenfreie
Zone einzurichten, näher kommen.
Die Fragen 20 und 21 des Kollegen Wolfgang
Gehrcke sowie die Frage 22 des Abgeordneten Manuel
Sarrazin werden schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 23 der Kollegin Marieluise Beck,
Bündnis 90/Die Grünen, auf:
Wie sieht die Bundesregierung vor dem Vilnius-Gipfel die
Perspektive für die Östliche Partnerschaft angesichts der Tatsache, dass die Ukraine die Vorbereitung zur Unterzeichnung
des Assoziierungsabkommens mit der EU per präsidialem Dekret gestoppt hat, das fast vollständig ausgehandelte Abkommen mit Armenien wegen der Entscheidung des Landes für
einen Beitritt zur Zollunion mit Russland, Belarus und Kasachstan nicht mehr paraphiert werden kann und Aserbaidschan und Belarus derzeit die Voraussetzungen für eine Vertiefung der Beziehungen mit der EU fehlen ({0})?
Bitte, Frau Staatsministerin.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Frau Abgeordnete
Beck, das ist eine sehr aktuelle Frage, weil der Gipfel zur
Östlichen Partnerschaft, wie wir wissen, morgen stattfindet.
Die Östliche Partnerschaft der Europäischen Union
ist und bleibt ein Instrument europäischer Politik, das
unseren osteuropäischen Nachbarn eine völlig neue Qualität der Annäherung an die EU bietet. Dass dieses Instrument weiterhin attraktiv bleibt, zeigt sich auch daran,
dass neben der Republik Moldau und Georgien auch die
Ukraine, die Republik Armenien, die Republik Aserbaidschan und die Republik Belarus ihr großes Interesse an
einer fortgesetzten Zusammenarbeit auch weiterhin bekundet haben.
Es bleibt im strategischen Interesse Deutschlands und
der Europäischen Union, die Weiterentwicklung der
Länder der Östlichen Partnerschaft in Richtung Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und gute Regierungsführung
zu befördern und die wirtschaftliche Entwicklung dieser
Länder zu stärken.
Zu einer Zusatzfrage Frau Kollegin Beck, bitte.
Frau Staatsministerin, die Bundeskanzlerin hat in ihrer Regierungserklärung explizit gesagt, dass die Östliche Partnerschaft keine Beitrittsperspektive eröffnen
soll. Teilt das Auswärtige Amt diese Einschätzung, und
kann die Bundeskanzlerin vor diesem Hintergrund tatsächlich von einem erfolgreichen Instrumentarium sprechen? Ich frage dies insbesondere aufgrund der Tatsache, dass Länder wie Belarus und Armenien ganz
eindeutig in die Eurasische Union streben bzw. schon in
ihr sind, dass die Situation mit Blick auf die Ukraine
jetzt festgefahren ist, dass Aserbaidschan in keiner
Weise demokratischen oder rechtsstaatlichen Kriterien
genügt und dass Moldawien quasi einen Frozen Conflict
im eigenen Land hat, sodass wir eher vor einer Destabilisierung des gesamten östlichen europäischen Raums
Sorge haben müssen.
Frau Abgeordnete, ich kann Ihre Besorgnis verstehen
und auch nachvollziehen. Ich glaube aber, dass wir ein
Interesse daran haben müssen, dass die Östliche Partnerschaft zu einem Erfolg der europäischen Transformationspolitik wird, und das ist auch das Bestreben der
Bundesregierung.
In der Tat steht eine EU-Beitrittsperspektive bei der
Östlichen Partnerschaft nicht auf der Agenda, wie die
Bundeskanzlerin das in ihrer Regierungserklärung auch
geäußert hat. Sie wissen aber auch, dass sich auf der Basis des Prinzips „More for more“ auch noch ganz andere
ambitionierte Möglichkeiten für die Partner in der Östlichen Partnerschaft zur Annäherung an die EU bieten.
Ich will hier nur einmal erwähnen, dass neben den
Assoziierungsabkommen, die ja zumindest mit Georgien
und Moldau erfolgreich paraphiert werden, auch ein Visumserleichterungsabkommen mit der Republik Aserbaidschan abgeschlossen werden wird, und natürlich
steht auch der Ukraine auf der Konferenz in Vilnius weiterhin die Tür offen, das Assoziierungsabkommen zu unterschreiben, woran wir ein sehr großes Interesse haben.
Ich glaube, wichtig ist, dass man in der Östlichen
Partnerschaft weiterhin den Dialog führt und die Türen
offen hält; denn die Ukraine und Präsident Janukowitsch
haben erklärt, dass sie auch weiterhin Partner der Europäischen Union sein wollen. Ich denke, daran müssen
wir weiter arbeiten.
Noch eine Zusatzfrage? - Frau Kollegin Beck, bitte.
Frau Staatsministerin, Sie haben in Ihrer Antwort auf
meine Frage zu der Beitrittsperspektive den Begriff
„Agenda“ benutzt. Nun ist bekannt, dass die Antwort auf
die Frage, ob es sich hier um eine Beitrittsperspektive
handelt oder nicht, offengelassen wurde.
Sie sagen jetzt, das stehe nicht auf der Agenda. Soll
ich das so verstehen, dass die Bundesregierung ihrerseits
erklärt, dass diese Instrumente der Assoziierung nicht
mit einer Beitrittsperspektive verbunden sein sollen?
Das würde, wenn ich das noch ergänzen darf, den Willen
und auch den Mut der Ukraine, dieses Abkommen zu
unterzeichnen, angesichts der Politik Russlands - diese
Marieluise Beck ({0})
Politik spürt die Ukraine sehr deutlich, um es vorsichtig
auszudrücken - meiner Einschätzung nach natürlich
schwächen.
Ihrem letzten Satz kann ich nur zustimmen. Ich
glaube, wir alle sollten ein Interesse daran haben, dass
die Ukraine weiterhin die Perspektive hat, mit der Europäischen Union zusammenzuarbeiten, und dass sie vor
allen Dingen auch bereit ist, das Assoziierungsabkommen abzuschließen.
Ich kann nicht für die neue Bundesregierung sprechen
- das hat mein Kollege schon gesagt -; das würde zu
weit gehen. Aber die Kanzlerin hat eindeutig erklärt,
dass die Türen für ein Assoziierungsabkommen mit der
Ukraine weiterhin offen stehen und dass wir bereit sind,
über alle Schwierigkeiten zu sprechen. Ich glaube, dass
unsere Partner, die sich im Transformationsprozess befinden, also auch die Ukraine, diese Worte wohl hören
und dass sie bereit sein werden, weitere Verhandlungen
zu führen.
Ich sehe, wie auch Sie, mit großer Sorge, welcher
Druck von russischer Seite auf diese ehemaligen Sowjetrepubliken ausgeübt wird. Ich glaube, es liegt auch in
unserer Verantwortung, dass wir in Zukunft weiterhin
Gesprächspartner für die Mitgliedsländer der Östlichen
Partnerschaft bleiben, um sie nicht in die Arme einer
Diktatur zu treiben.
Herzlichen Dank. - Kollege Dr. Neu hat noch eine
Nachfrage. Bitte schön.
Der NATO-Generalsekretär hat seinerzeit einmal
kundgetan, dass eine Integration in die EU immer durch
eine Integration in die NATO-Strukturen begleitet werden sollte. Wie weit werden die Assoziierungsgespräche
für Staaten wie Ukraine, Georgien, Serbien etc. durch
Perspektiven eines Beitritts zur NATO begleitet?
Das ist eine Frage des Einzelfalls. Man kann nicht alle
Länder der Östlichen Partnerschaft gleich behandeln,
weil es unterschiedlicher Voraussetzungen und Bedingungen bedarf, um Mitgliedschaften in anderen Allianzen, wie zum Beispiel der NATO, eingehen zu können.
Neben dieser Einzelfallprüfung ist es auch wichtig, im
Gespräch zu bleiben. Diese Ergebnisoffenheit heißt aber
nicht, dass es schon endgültige Festlegungen gibt.
Herzlichen Dank. - Die nächste Nachfrage hat der
Kollege Ostendorff, Bündnis 90/Die Grünen. Bitte
schön.
Frau Staatsministerin, gestatten Sie mir eine praktische Frage. Zwischen der EU und der Ukraine wurden
Assoziierungsverhandlungen geführt. Die Bundesregierung hat im Vorgriff auf das Ergebnis dieser Verhandlungen und auf die Unterzeichnung des Abkommens weitreichende Hermesbürgschaften ausgereicht. Gerade der
Wirtschaftsminister, der Ihrer Partei angehört, hat hier
Türen geöffnet. Es sind in der Ukraine riesige Produktionskapazitäten mit dem Ziel aufgebaut worden, dass
dann, wenn das Assoziierungsabkommen geschlossen
ist, die erzeugten Agrarprodukte zollfrei in die EU geliefert werden.
Wir wissen gar nicht, woran wir jetzt sind. Hier hat
sich die bisherige Bundesregierung sehr stark engagiert.
Was ist der Stand der Dinge? Wie geht man jetzt mit der
neuen Situation hinsichtlich der Assoziierung um?
Wie Sie wissen, Herr Abgeordneter, ist das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine in erster Linie ein Freihandelsabkommen. Von daher haben wir natürlich die
Bestrebung, dieses Abkommen wie auch die Fragen der
Menschenrechte, der Rechtsstaatlichkeit und der guten
Regierungsführung, die uns in diesem Zusammenhang
auch wichtig sind, zum Erfolg zu führen. Auch wenn der
Prozess jetzt ins Stocken geraten ist, sind wir weiter bestrebt, die Gespräche voranzutreiben. Ich sagte bereits,
dass die Bundesregierung hieran ein großes Interesse
hat.
Was den aktuellen Stand der Hermesbürgschaften anbelangt, möchte ich Ihnen gerne die Informationen über
meine Kollegen im Bundeswirtschaftsministerium weiterreichen.
Recht herzlichen Dank. - Damit sind wir mit unserer
Frageliste zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes am Ende. Herzlichen Dank, Frau Staatsministerin
Pieper.
Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern. Zur Beantwortung der Fragen steht der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Ole
Schröder bereit.
Ich rufe die Frage 24 des Abgeordneten Ströbele auf:
Inwieweit trifft es zu ({0}), dass die Bundesregierung dem USUnternehmen Computer Sciences Corporation, CSC, bzw.
Töchtern, unter anderem in Wiesbaden, welches aufgrund eines Rahmenvertrags mit der CIA 2003 bis 2006 dessen Entführungsprogramm durchgeführt haben soll und dessen Agenten in Kriegsgebiete befördert haben soll, von 2009 bis 2013
insgesamt 100 vor allem sensible IT-Aufträge für 25,5 Millionen Euro erteilte, seit 1990 gar für 180 Millionen Euro sowie
durch die Bundeswehr seither weitere 364 Aufträge für über
115 Millionen Euro, und wird die Bundesregierung nun, nachdem laut Fuchs/Goetz Associated Press schon im September
2011 die Entführungsflüge der CSC-Gruppe publizierte, ihre
noch offenen Verträge mit dieser sonderkündigen, dieser
keine neuen Verträge erteilen sowie alle bisherigen Verträge
Vizepräsident Peter Hintze
dem Fragesteller und dem Deutschen Bundestag zugänglich
machen, um eine kritische Prüfung der Vertragsinhalte sowie
der Angemessenheit der Dotierung zu ermöglichen?
Ich bitte Herrn Staatssekretär Dr. Schröder um Beantwortung.
Herr Präsident! Herr Abgeordneter, die Antwort ist
etwas länger. Die Frage ist allerdings fast genauso lang
und umfasst eigentlich drei Fragen. Ich beantworte sie
wie folgt:
Die Auftragsvergabe an die in Deutschland tätigen
Tochterfirmen von CSC war bereits wiederholt Gegenstand parlamentarischer Anfragen. Dabei handelte es
sich in erster Linie um IT-Unterstützungsdienstleistungen. Sie finden umfassende Informationen in den Bundestagsdrucksachen aus der letzten Wahlperiode: Drucksachen 17/10305, 17/10352 und 17/14530, darin die
schriftlichen Fragen 10 und 21.
Die in Ihrer Frage enthaltenen Zahlen beruhen offenbar auf einer Auswertung der in den entsprechenden
Drucksachen enthaltenen Antworten mit Stand August
2013, die ich daher bestätigen kann. Für den Verteidigungsbereich wurde hingegen seit 1990 eine Zahl von
424 Aufträgen im Wert von 146,2 Millionen Euro erfasst. Seit August 2013 wurden an Tochterunternehmen
von CSC weitere Aufträge erteilt bzw. weitere Abrufe
aus Rahmenverträgen getätigt. Somit erhöhen sich entsprechend dem Ergebnis einer kurzfristig durchgeführten kursorischen Abfrage innerhalb der Bundesregierung
die genannten Zahlen um etwa 3 Millionen Euro.
Es ist nicht beabsichtigt, laufende Verträge - unabhängig davon, ob sie vor August 2013 oder später geschlossen wurden - durch eine Sonderkündigung zu beendigen. Die Bundesregierung sieht zum jetzigen
Zeitpunkt keine Veranlassung, ihre Auftragsvergabepraxis in Bezug auf CSC zu ändern. Insbesondere sieht sie
keine Veranlassung für den Ausschluss der Firma CSC
aus dem reglementierten Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge.
Die Vergabe öffentlicher Aufträge unterliegt zudem
einem ab gewissen Schwellenwerten durch das Recht
der Europäischen Union vorgegebenen streng reglementierten Verfahren, das seitens des Bundes einzuhalten ist.
Das nationale Vergaberecht baut auf diesen europarechtlichen Vorgaben auf. Es garantiert zum Beispiel allen
potenziellen Bewerbern einen freien Zugang zu den Beschaffungsmärkten der öffentlichen Hand und sieht
Transparenz, insbesondere eine Veröffentlichung der
Ausschreibung, und eine Dokumentation des Verfahrens
vor. Aufträge dürfen nur an fachkundige, leistungsfähige
und zuverlässige Bieter vergeben werden.
Die Bundesregierung hat keine Anhaltspunkte dafür,
dass die Firma CSC Deutschland in irgendeiner Weise
gegen Sicherheits- oder Vertraulichkeitsauflagen verstoßen hat. Es bestehen insbesondere auch keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass CSC Deutschland als selbstständige Gesellschaft vertrauliche Informationen an die
amerikanische CSC weitergegeben hat, die von dort aus
in andere Hände gelangt sein können. Insofern bestehen
keine Anhaltspunkte für eine Unzuverlässigkeit von
CSC Deutschland im vergaberechtlichen Sinne. Es liegen auch keine Erkenntnisse vor, dass sich Mitarbeiter
von CSC wegen Beteiligung an einer Verschleppung
strafbar gemacht haben.
Das parlamentarische Frage- und Informationsrecht
vermittelt keinen Anspruch auf Offenlegung oder Übersendung von Dokumenten an den Bundestag. Der Vertragsgegenstand der dargestellten Verträge war über den
öffentlichen Ausschreibungstext der zugrunde liegenden Ausschreibung jedermann zugänglich. Die für einen
individualisierten Auftragnehmer anfallenden und abzurechnenden Vertragsentgelte zählen hingegen zu dessen
Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen.
Die betreffenden Informationen sind nur einem sehr
beschränkten Personenkreis bekannt und werden auch
nach dem Willen der informierten Personen innerhalb
der Unternehmen nicht publiziert. Diese Vertragsentgelte dokumentieren den Umfang der mit bestimmten
Vertragspartnern in bestimmten Geschäftsfeldern in einem erkennbaren Zeitraum erzielten Umsetzung und beruhen auf vertraulichen einzelvertraglichen Vereinbarungen. Die Bundesregierung wird daher im Rahmen ihrer
verfassungsrechtlich gebotenen Auskunftspflicht dem
Bundestag auf entsprechende Fragen antworten, ihm
aber keine internen Unterlagen überlassen.
Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär. Wir haben jetzt
alle einmal das rote Signal ignoriert, weil die Frage des
Kollegen Ströbele wirklich sehr lang und detailliert war.
Deswegen war es auch richtig, dass die Bundesregierung
auf die einzelnen Fragen konkret geantwortet hat.
Kollege Ströbele hat noch eine Nachfrage.
Herr Staatssekretär, um das eigentliche Problem haben Sie sich herumgedrückt. Deshalb stelle ich dazu eine
konkrete Nachfrage.
Im ersten Drittel meiner Frage wird gegen die Firma
Computer Sciences Corporation der Vorwurf erhoben,
dass diese Firma seit zehn Jahren oder länger an Entführungsflügen, den sogenannten Renditions, beteiligt gewesen sein soll, was bereits 2011 von Associated Press
veröffentlicht worden ist. Ist denn die Bundesregierung
dem ungeheuerlichen Verdacht einmal nachgegangen,
ob diese Firma solche Rendition-Flüge tatsächlich
durchgeführt hat, und hat sie darüber nachgedacht, ob
eine Firma, die so etwas macht und sich damit an völkerrechtswidrigen Verbrechen beteiligt, weiterhin Vertragspartner sein kann?
Herr Staatssekretär, bitte.
Wir gehen diesen Vorwürfen selbstverständlich nach.
Es stellt sich die Frage, inwieweit sich einzelne Mitarbeiter von CSC strafbar gemacht haben könnten. Das
wird sicherlich auch die Staatsanwaltschaft München I
weiterhin untersuchen, die mit dem Fall ohnehin betraut
ist.
Eine weitere Zusatzfrage, Kollege Ströbele.
Darf ich Sie so verstehen, dass Sie bisher dieser Frage
nicht nachgegangen sind und deshalb keine Erkenntnisse
haben, und fragen, warum Sie Berichten über die Beteiligung an völkerrechtswidrigen Verbrechen nicht nachgegangen sind? Nicht einzelne Mitarbeiter, die vielleicht
einen Fehler gemacht haben, sind verantwortlich, sondern die Firma hat unter Billigung und Federführung der
Geschäftsführung diese Rendition-Flüge durchgeführt.
Im Rahmen dieser Flüge, die der Verbringung von Personen zur Folter in Gefängnisse dienen, ist auch ein
deutscher Staatsbürger vom Balkan nach Afghanistan in
ein Foltergefängnis verschleppt worden.
Die damit befasste Staatsanwaltschaft München I
wird sich der Sache sicherlich annehmen und unter Umständen Zeugen befragen. Bei Abschluss der Rahmenverträge lagen keine Erkenntnisse vor. Wenn nun weitere
Erkenntnisse vorliegen, stellt sich vor allem die Frage,
wer dafür Verantwortung getragen hat. Was wusste insbesondere die Geschäftsleitung? Handelt es sich lediglich um eine Dienstleistung wie die Beschaffung von
Flügen, oder war die Firma auch an der Durchführung
der Flüge beteiligt? All diese Fragen gilt es insbesondere
im Rahmen eines staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens zu klären.
Kollege Kekeritz von Bündnis 90/Die Grünen hat
eine Zusatzfrage. Bitte schön.
Danke schön. - Herr Schröder, Sie haben sehr viel gemeinsam mit Frau Staatssekretärin Pieper, die ebenfalls
nie Erkenntnisse hat.
Ist der Bundesregierung bekannt, dass 2003 der von
der CIA entführte deutsche Staatsbürger Khaled elMasri in einem von der Computer Sciences Corporation
bereitgestellten Flugzeug verschleppt und gefoltert
wurde? Das war auch in der Presse zu lesen. Das ist allgemein bekannt. Ich nehme trotzdem an, dass die Bundesregierung nichts davon gehört hat.
Der Fall war auch Gegenstand eines Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages. Da hat die
Bundesregierung ihre Erkenntnisse sehr detailliert mitgeteilt.
Die Konsequenzen sind wichtig. Welche gibt es?
Eine weitere Zusatzfrage dürfen Sie eigentlich nicht
mehr stellen, Herr Kekeritz. Ich nehme an, dass Sie bereits zu Ihrer Frage 26 überleiten. Ist es Ihnen recht, dass
wir diese Frage jetzt aufrufen? - Das scheint der Fall zu
sein.
Dann rufe ich die Frage 26 des Kollegen Uwe
Kekeritz auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, dass, wie in der am
15. November 2013 erschienenen Publikation Geheimer
Krieg der Journalisten Christian Fuchs und John Goetz auf
den Seiten 206 bis 212 dargestellt, der 2003 von der CIA entführte deutsche Staatsbürger Khaled el-Masri in einem von
der Computer Sciences Corporation, CSC, bereitgestellten
Flugzeug verschleppt und gefoltert wurde, und welche Konsequenzen wird sie aus diesen Vorwürfen für ihre Auftragsvergabepraxis an die CSC und deren Tochterunternehmen ziehen?
Herr Staatssekretär, wenn Sie so nett wären, die Frage
26 des Kollegen Kekeritz, die den gleichen Sachverhalt
betrifft, zu beantworten. Dann sind wir gleich am Ende
der Fragestunde.
Sehr geehrter Herr Abgeordneter, ich beantworte Ihre
Frage wie folgt: Die Bundesregierung hat ihre Erkenntnisse über die Vorgänge im Zusammenhang mit der Entführung von Khaled el-Masri im diesbezüglichen 1. Untersuchungsausschuss der 16. Wahlperiode dargelegt.
Seitdem haben sich keine neuen Erkenntnisse ergeben.
Die Bundesregierung hat weiterhin keine Anhaltspunkte
dafür, dass sich Mitarbeiter von CSC wegen Verschleppung strafbar gemacht haben. Die Bundesregierung sieht
derzeit keine Veranlassung, ihre Auftragsvergabe und
Konzessionspraxis in Bezug auf die Firma CSC zu ändern. Insbesondere sieht sie keine Veranlassung für einen Ausschluss der Firma CSC aus dem reglementierten
Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge bzw. Konzessionen.
Eine Zusatzfrage, Kollege Kekeritz. Bitte schön.
Ich wollte gerne von Ihnen wissen, ob es schriftlich
fixierte Kriterien für die Prüfung der Zuverlässigkeit privater Dienstleister im Hinblick auf die Wahrung nationaler Sicherheits- und Datenschutzinteressen gibt, die bei
der Vergabe öffentlicher Aufträge durch die Bundesbehörden angewendet werden.
Wann jemand nicht zuverlässig ist, ist justiziabel.
Dazu gibt es eine entsprechende Rechtsprechung.
Eine zweite Frage?
Ja. - Ich hätte gerne gewusst: Gibt es schriftlich
fixierte Kriterien, und können wir diese einsehen?
Natürlich können Sie die Vergabe einsehen. Da sind
die Kriterien, die zu erfüllen sind, bereits vorgegeben.
Insofern liegen diese innerhalb des Vergabeverfahrens
schriftlich vor.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Ende der Fragestunde. Die restlichen Fragen werden gemäß unserer Geschäftsordnung schriftlich beantwortet.
Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf:
Vereinbarte Debatte
zu dem vorläufigen Atomabkommen mit dem
Iran
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich erteile Herrn Bundesminister Dr. Westerwelle das
Wort. Bitte schön.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete! Nach fast zehn Jahren sehr schwieriger
Verhandlungen haben wir am vergangenen Wochenende
erstmals substanzielle Schritte mit dem Iran vereinbaren
können. Diese Genfer Vereinbarung markiert einen
sichtbaren Wendepunkt nach zehn Jahren Verhandlungen, auch Jahren des Stillstands und der Konfrontation.
Ich will vorab sehr deutlich sagen: Das, was in Genf
vereinbart worden ist, bringt uns unserem gemeinsamen
Ziel, eine atomare Bewaffnung des Iran zu verhindern,
einen wichtigen und bedeutenden Schritt näher. Wir wollen dieses Ziel mit diplomatischen, politischen Mitteln
erreichen. Insoweit ist dieses zweifelsohne eine Wendemarke. Diejenigen, die in den letzten deutschen Bundestagen gewesen sind, wissen, dass wir viele Jahre eine
Phase der Sprachlosigkeit gehabt haben. Ich selbst habe
hier oft gestanden und zur iranischen Nuklearfrage gesprochen und immer wieder auf die Notwendigkeit einer
politischen und diplomatischen Lösung hingewiesen.
Diesem Ziel einer politisch-diplomatischen Lösung sind
wir näher gekommen. Es gibt sie noch nicht, aber wir
sind dieser Lösung näher gekommen.
Insoweit ist diese Vereinbarung ein Erfolg für die
Welt, für die Sicherheitsarchitektur der Welt, für die Sicherheit der Region und ausdrücklich auch für die Sicherheit unseres wichtigen Partners Israel. Die Bundesregierung sowie der gesamte Deutsche Bundestag - das
gilt auch für frühere Amtsperioden - haben bzw. hatten
die Sicherheitsinteressen Israels und der gesamten Region stets fest im Blick.
Erstmals wird der weitere Ausbau des iranischen
Atomprogramms gestoppt. Besonders kritische Bereiche
werden eingestellt oder zurückgeführt. Ich möchte ausdrücklich diesen Verhandlungserfolg würdigen, nicht
nur im Hinblick auf die Geschlossenheit der E3+3-Verhandlungspartner, sondern auch im Hinblick auf die
geschickte Leitung der Hohen Vertreterin Catherine
Ashton. Das ist in meinen Augen eine wirklich gute
Leistung gewesen, die vom Europäischen Auswärtigen
Dienst unter der Leitung von Catherine Ashton erbracht
worden ist. Es waren sehr schwierige Verhandlungen,
die mit großem Geschick von der Hohen Vertreterin der
Europäischen Union geführt worden sind.
Wichtig ist allerdings, festzuhalten, dass dieses ein
erster Schritt ist. Es ist nicht die finale Vereinbarung,
sondern es sind Eckpunkte einer finalen Vereinbarung
skizziert worden. Das heißt, die eigentliche Arbeit im
Detail, die eigentliche Implementierung steht uns noch
bevor. Deswegen will ich hier nur kursorisch einige Aspekte nennen:
Iran setzt seine 20-prozentige Urananreicherung aus.
Er verdünnt seinen Vorrat an 20-prozentigem Material
oder verarbeitet es weiter in Richtung zivil nutzbaren
Brennstoffs. Auch hier ist es mir wichtig, deutlich zu
machen: Das Recht Irans, die Atomkraft, die nukleare
Energie, für nachgewiesenermaßen zivile Zwecke zu
nutzen, ist von uns nie in Zweifel gezogen worden. Insoweit ist es nicht zu kritisieren, dass eine solche Vereinbarung getroffen werden konnte.
Iran wird keine zusätzlichen oder leistungsfähigeren
Zentrifugen zur Urananreicherung installieren und in
Betrieb nehmen. Der Ausbau des Plutoniumreaktors in
Arak kommt faktisch zum Stillstand. Das ist natürlich
auch deshalb von besonderer Bedeutung, weil es ja zwei
Wege geben kann, um zu einer nuklearen Bewaffnung zu
gelangen, nämlich einmal den Weg der Anreicherung
und auf der anderen Seite den Weg über den Schwerwasserreaktor. Insofern war die Einbeziehung von Arak von
großer Bedeutung. Übrigens war dies bis in die letzten
Stunden einer der wichtigsten und neuralgischen Punkte
unserer Verhandlungen.
Entscheidend ist, dass Iran sich im vereinbarten Aktionsplan zu sehr weitgehender Transparenz verpflichtet
hat. Die internationale Gemeinschaft braucht Iran also
nicht nur zu glauben, sondern sie wird auch vor Ort
überprüfen, ob die Zusagen eingehalten werden können.
Tägliche Inspektionen sollen sicherstellen, dass Iran
kein militärisches Nuklearprogramm betreibt. Dies ist
auch vor dem Hintergrund einiger kritischer Bemerkungen wichtig, die nachzulesen waren; darauf möchte ich
ausdrücklich eingehen. Es ist Transparenz und es ist
Kontrolle vereinbart worden. Insoweit ist das ein weBundesminister Dr. Guido Westerwelle
sentlicher Fortschritt. Die Behauptung, man handele hier
im guten Glauben oder man sei ausschließlich auf das
Vertrauen angewiesen, trifft nicht zu. „Vertrauen ist gut,
Kontrolle ist besser“, und deswegen ist die Kontrolle bei
den Genfer Verhandlungen fest vereinbart worden.
({0})
- Ich weiß, dass Ihnen dieses Zitat von Lenin besonders
gut gefällt.
({1})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Abgeordnete, im Gegenzug haben die E3+3-Staaten Iran
Sanktionslockerungen in Aussicht gestellt. Iran darf für
einen Zeitraum von sechs Monaten einen Anteil von insgesamt 4,2 Milliarden US-Dollar aus eingefrorenen
Erlösen seiner Ölverkäufe ausbezahlt bekommen. Außerdem soll der Handel mit Edelmetallen und petrochemischen Produkten sowie auf dem Automobilsektor
geöffnet werden. Die europäischen Obergrenzen für genehmigungsfreien Handel mit Iran werden angehoben.
Aber auch hier ist es wieder wichtig, auf das zu achten, was wirklich vereinbart worden ist, und nicht auf
das, was oberflächlich darüber berichtet oder auch kritisiert worden ist: Die Sanktionen werden suspendiert, jedoch nicht aufgehoben. Hält sich der Iran nicht an seine
Zusagen, treten die Sanktionen wieder vollständig in
Kraft, und der Kernbestand an Sanktionen, die Schlüsselsanktionen, in den Bereichen Öl, Gas und Finanzen
bleibt von der Vereinbarung vorerst unberührt, das heißt
unangetastet.
Wir haben in Genf einen wichtigen, aber eben nur einen ersten Schritt mit einer Laufzeit von sechs Monaten
vereinbart. Das ist nicht zu unterschätzen ob seiner Bedeutung für die Verbesserung der Sicherheitslage in der
gesamten Region. Die Verhandlungen über eine abschließende Lösung im Atomstreit stehen noch aus. Sie
sollen binnen eines Jahres zum Abschluss gebracht werden. Es liegt jetzt an Iran, verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen. Entscheidend ist eine transparente, überprüfbare Umsetzung der Vereinbarung, und es sind allein
die Erfolge bei der Umsetzung der Genfer Vereinbarung,
die das politische Momentum für eine abschließende Lösung im Atomstreit bringen können.
Ich möchte mit der Bemerkung schließen: Ich bin
nach wie vor fest davon überzeugt, dass eine dauerhafte
Lösung nur auf dem Verhandlungswege erzielt werden
kann. Die jetzt amtierende, noch geschäftsführend sich
im Amt befindende Bundesregierung hat in der letzten
Legislaturperiode immer darauf Wert gelegt, dass wir
eine politische und diplomatische Lösung finden. Wir
wollen eine Verhandlungslösung.
({2})
Wir beteiligen uns nicht an militärischen Interventionsszenarien.
({3})
Ich glaube, das ist eine richtige Politik gewesen. Das
wird unter anderem auch durch die Vereinbarung von
Genf noch einmal eindrucksvoll bestätigt.
Eine Verhandlungslösung ist möglich. Sie ist noch
nicht erreicht, aber wir sind in Genf einen wesentlichen
Schritt, ein gutes Stück des Weges hin zu einer solchen
Verhandlungslösung gegangen. Deswegen liegt dieses
Abkommen meines Erachtens im Interesse unserer europäischen Überlegungen, im Interesse des Westens und
der Welt insgesamt.
Ich sage zum Schluss mit großem Nachdruck, meine
sehr geehrten Damen und Herren Abgeordneten: Zu
glauben, dass es hier „ausschließlich“ - ich setze das in
Anführungsstriche - um die Sicherheitsinteressen eines
Landes ginge, nämlich unseres engen Partners und
Freundes Israel, geht fehl. Es geht um die Sicherheitslage in der gesamten Region, es geht um die Sicherheitsarchitektur der gesamten Region.
({4})
Man kann hinzufügen: Jedem, der sich wirklich mit der
Sache befasst und mit der Frage, was es für Auswirkungen haben könnte, käme es zu einer militärischen Konfrontation, wird klar: Es geht hier in Wahrheit um die
Sicherheitsarchitektur und um die Sicherheits- und Friedensinteressen der gesamten Welt.
Deswegen ist die Genfer Vereinbarung
({5})
eine Vereinbarung, die man wirklich als guten Schritt bezeichnen kann. Sie hat es meines Erachtens auch verdient, überparteilich die Würdigung in diesem Hause,
aber auch außerhalb dieses Hauses bei anderen wichtigen politischen Akteuren zu erhalten.
Vielen Dank.
({6})
Als Nächster hat das Wort der Kollege Dr. Rolf
Mützenich von der SPD-Fraktion. - Bitte.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Vereinbarung zwischen der Islamischen
Republik Iran, den ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates und Deutschland ist ein bedeutender Schritt
auf dem Weg zu einer friedlichen Lösung der Atomkrise,
aber noch kein abschließender Erfolg; der muss in den
nächsten Monaten erarbeitet werden.
Dennoch lassen sich nach meinem Dafürhalten erste
Schlussfolgerungen für die zukünftige Außenpolitik ziehen:
Erstens. Diplomatie und Vertrauensbildung sind die
besten Instrumente zur Bewältigung internationaler Krisen.
Zweitens. Die Europäische Union und deren Mitglieder können gemeinsam etwas erreichen.
Drittens. Die USA und Russland bleiben bei der Bearbeitung internationaler Konflikte aufeinander angewiesen.
Viertens. Das Zwischenabkommen und ein späterer
Vertrag können das Bindeglied für weitere Initiativen
sein.
Fünftens. Die Verhaltensänderung des Iran ist Teil äußeren und inneren Wandels.
Sechstens. Weitere Abrüstung in Europa und im Nahen Osten sowie präventive Rüstungskontrolle bleiben
unerlässlich und können vorbildlich wirken.
Ich möchte versuchen, zu diesen sechs Schlussfolgerungen grundsätzliche Bemerkungen zu machen:
Erstens. In der Tat, Herr Bundesaußenminister, Diplomatie und Vertrauensbildung haben Vorrang, insbesondere deswegen, weil sie ein guter europäischer Erfahrungsschatz sind. Mit Diplomatie und Vertrauensbildung
ist die Teilung in Europa überwunden worden, und
gleichzeitig sind Spannungen abgebaut worden. Deswegen ist dieses Instrumentarium das Instrumentarium der
ersten Wahl.
Mit dem Zwischenabkommen mit dem Iran stehen
wir möglicherweise - ich will jetzt nicht unbedingt
große historische Worte wählen - durchaus an einem
Wendepunkt, weil der Nahe und Mittlere Osten in den
letzten Jahren immer wieder auch Schablone für sogenannte große Pläne war und teilweise auch Interventionen von außen hat erdulden und erleiden müssen. An
dieser Stelle ist möglicherweise sozusagen ein Wendepunkt in der internationalen Politik gegeben. Ich bin froh
- so kann ich als Sozialdemokrat nur sagen -, dass ich
Mitglied einer Partei bin, die damals in Regierungsverantwortung die Intervention im Irak gegen alle Widerstände abgelehnt hat. Ich finde, das war damals eine
richtige Entscheidung.
({0})
Wenn man vom zweiten Erfahrungsschatz spricht,
geht es darum, aus den Erfahrungen der Entspannungspolitik zu lernen. Wir brauchen heute, in Zeiten neuer
Spannungen, eine Entspannungspolitik - darüber haben
wir, glaube ich, keine unterschiedlichen Auffassungen -,
indem wir Realitäten zwar anerkennen, uns aber nicht
mit ihnen abfinden. Das ist sozusagen der Kern von
„Wandel durch Annäherung“. Ich glaube, dass dieser Erfahrungsschatz durchaus Wirkung entfaltet, insbesondere dann, wenn Europa darum gebeten wird, an der Bearbeitung internationaler Krisen mitzuarbeiten.
Der andere Aspekt in dieser Frage ist nach meinem
Dafürhalten, dass die Umbrüche in der arabischen Welt
durchaus Instabilitäten aufzeigen, wahrscheinlich auch
für die nächsten Jahrzehnte, auch auf Europa bezogen.
Aber die dortigen Machthaber wissen auch - ich glaube,
einige sind klug genug -: Sie brauchen Wandel, Wandel
im Äußeren und Wandel im Inneren. Das sollten wir
nicht nur zur Kenntnis nehmen, sondern auch unterstützen.
Zur zweiten Anmerkung, die ich machen will. In der
Europäischen Union können wir gemeinsam zum Nutzen vieler etwas erreichen. Ich finde, auch das wird
durch das Zwischenübereinkommen mit dem Iran deutlich. Die Europäische Union hat mit ihrer vielgescholtenen Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik bewiesen, dass Europa durchaus in der Lage ist, Instrumente
aus dem historischen Erfahrungsschatz anzubieten und
sie zum Nutzen aller einzusetzen. Es waren Deutschland,
Großbritannien und Frankreich, die 2003 diese Initiative
gestartet haben. Ich danke allen Bundesregierungen und
den Diplomatinnen und Diplomaten, dass sie so nachhaltig und so beharrlich an der Erreichung dieses Zieles gearbeitet haben. Ich danke natürlich auch der amtierenden
Bundesregierung und Ihnen, Herr Bundesaußenminister.
Darüber hinaus sollen hier aber auch Lady Ashton
und der im Aufbau befindliche Europäische Auswärtige
Dienst genannt werden; denn deren aktuelles Handeln ist
ein Bravourstück auf dem Weg zu einer Herausbildung
einer zukünftigen europäischen Gemeinsamen Außenund Sicherheitspolitik. Ich bin froh, dass hierüber im
Parlament sozusagen Gemeinsamkeit besteht; schließlich haben wir in den vergangenen Jahren durchaus den
einen oder anderen Außenminister in Europa erlebt, der
nicht immer Gutes über Lady Ashton gesagt hat.
Im Rahmen meiner zweiten Anmerkung will ich auch
den Deutschen Bundestag erwähnen. Ich glaube, jetzt
kommt es auch auf uns an, darauf, dass wir unsere Arbeit
machen. Wenn ich es richtig beobachte, dann könnten
die Parlamente im Iran und offensichtlich auch in den
USA - der Kongress auf der einen, die Madschlis auf der
anderen Seite - einer erfolgreichen Umsetzung des Abkommens möglicherweise den einen oder anderen Stein
in den Weg legen. Ich finde, wir Parlamentarierinnen
und Parlamentarier können eine Menge zur Vertrauensbildung beitragen. Deswegen wäre ich froh, wenn vonseiten des deutschen Parlamentes Initiativen ausgingen,
auch die Parlamentarierinnen und Parlamentarier im Iran
von diesem wichtigen Abkommen zu überzeugen.
Ein weiterer Punkt. Es wird möglicherweise dazu
kommen, dass die Internationale Atomenergie-Organisation, die ja im Zusammenhang mit der Überprüfung des
Iran wertvolle, aber zusätzliche Arbeit leisten müssen
wird, mehr Finanzmittel braucht. Auch das muss vonseiten des Deutschen Bundestages positiv beantwortet werden.
Zum dritten Punkt, den ich gerne ansprechen möchte.
Wir haben gesehen, dass die USA und Russland weiterhin unerlässliche Partner für die Bewältigung internationaler Konflikte sind. Ich finde, das eröffnet neue Chancen für die Genfer Konferenz über Syrien und im
Zusammenhang mit dem israelisch-palästinensischen
Konflikt.
Deswegen sollten, wenn es denn gelingt, zwischen
den USA und Russland zumindest bei internationalen
Krisen neues Vertrauen aufzubauen, gerade vonseiten
der Europäischen Union, aber auch vonseiten seiner Mitgliedsländer weitere Initiativen für eine gute Zusammenarbeit mit Russland ausgehen. Es sollten aber auch
durchaus offene Worte über das, was uns hinsichtlich der
Außenpolitik der Russischen Föderation nicht passt, gesagt werden. Europa ist aufgerufen, dieses Momentum
einer Zusammenarbeit zwischen Russland und den USA
bei weiteren internationalen Krisen zu befördern.
Europa sollte in diesem Zusammenhang aber auch die
Volksrepublik China an ihre wachsende Verantwortung
erinnern. Sie ist Teil der Sechsergruppe gewesen; sie
profitiert immer noch sehr stark von den Erfolgen, wobei
sie sich sozusagen in der zweiten oder dritten Reihe aufhält. Die Volksrepublik China wird in Zukunft mehr Verantwortung tragen müssen. Ich glaube, Europa muss das
verlangen.
Der vierte Aspekt. Die Zwischenvereinbarung könnte
ein Bindeglied für weitere Initiativen im Nahen und
Mittleren Osten sein. Es ist sinnvoll, auch vor dem Hintergrund des europäischen Erfahrungsschatzes, an den
Aufbau regionaler Sicherheitssysteme zu erinnern, um
Spannungen abzubauen und Vertrauen zu schaffen, sowie Abrüstung und Rüstungskontrolle als Instrument für
diese Vertrauensbildung zu beschreiben. Insbesondere
dürfen auch von Deutschland aus keine Rüstungsexporte
in Spannungsgebiete erfolgen.
({1})
Es gibt einen weiteren Aspekt - er ist eben angesprochen worden; das ist mein fünfter Punkt -: Trotz aller
Enttäuschung, dass es kein konkretes Datum im Hinblick auf die Schaffung einer massenvernichtungswaffenfreien Zone im Nahen und Mittleren Osten gibt, müssen wir weiter daran arbeiten. In der Fragestunde haben
wir gehört, dass die Bundesregierung hier weiterhin alles
Notwendige unternehmen wird.
Eines will ich deutlich machen: Wir können nicht immer nur sagen: „Wir können etwas einbringen“, sondern
müssen auch zur Kenntnis nehmen, wenn es positive Signale in dieser Region gibt. Ich finde, der Appell vonseiten des Iran und der Türkei an die syrischen Gewaltakteure, eine Waffenruhe zur Genfer Konferenz zu
vereinbaren, ist nicht nur wichtig, sondern unerlässlich,
auch wenn es ein nur kleiner Erfolg ist. Europa sollte das
würdigen. Deswegen bin ich der Meinung: Der Iran gehört mit an den Verhandlungstisch in Genf, wenn es um
die Frage der Beendigung des Bürgerkrieges in Syrien
geht.
({2})
Eine Verhaltensänderung des Iran ist mit Sicherheit
Teil äußeren, aber auch inneren Wandels. Deswegen will
ich auch hier noch einmal deutlich sagen: Wir vom
Deutschen Bundestag kritisieren und werden immer wieder darauf hinweisen, dass es Menschenrechtsverletzungen im Iran gibt. Es ist an der iranischen Regierung, die
jetzige Chance, wo der außenpolitische Druck möglicherweise geringer wird, zu nutzen, um im Inneren zu einem Wandel beizutragen. Auch das war immer der Ansatzpunkt einer Entspannungspolitik. Ich finde, das
gehört mit dazu.
Möglicherweise, auch wenn das auf den ersten Blick
nicht so erscheint, könnte die Situation der Instabilität
im Nahen und Mittleren Osten zu einem Umdenken im
iranischen politischen System beigetragen haben. Es
könnte dazu geführt haben, dass geglaubt wird, dass ein
Regimesturz nicht mehr auf der Tagesordnung steht. Es
ist glaubhaft, was Präsident Obama gesagt hat; denn Präsident Obama ist eben nicht an weiteren Instabilitäten interessiert.
Wir sollten dieses kleine Fenster des Umdenkens
durchaus nutzen, um Initiativen voranzubringen. Deswegen - das ist der sechste Punkt - glaube ich, dass wir in
Europa gehalten sind, mit gutem Vorbild voranzugehen.
Wir müssen für Rüstungskontrolle und Abrüstung, für
konventionelle Abrüstung, nukleare Abrüstung und viele
andere Dinge mehr eintreten. Wir müssen insbesondere
die Vertrauensbildung und die Maxime, die Präsident
Obama eingeführt hat, nämlich dass Respekt in den internationalen Beziehungen wichtig ist, voranbringen.
Zum Abschluss, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, möchte ich mich gerne bei Ihnen persönlich, Herr
Bundesaußenminister, für die faire und gute Zusammenarbeit im Auswärtigen Ausschuss bedanken. Alles Gute!
({3})
Ich erteile als Nächstem das Wort dem Kollegen Jan
van Aken, Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Westerwelle, das fand ich gut. Ich kann Ihnen eigentlich
in fast allen Punkten zustimmen.
({0})
- In einem Punkt stimme ich nicht mit Ihnen überein;
aber ansonsten kann ich wirklich fast alles teilen, was
Sie gesagt haben. Denn ich kann mich von Herzen richtig über diese Einigung mit dem Iran freuen. Machen wir
uns nichts vor: Das heißt doch, dass erstens die Kriegsgefahr im Mittleren Osten tatsächlich ein kleines bisschen geringer und dass zweitens die Gefahr eines nuklear bewaffneten Iran tatsächlich deutlich geringer
geworden ist. Das sind zwei gute Nachrichten.
({1})
Das ist auch ein Erfolg der Diplomatie. Ich fand es
sehr gut, dass Sie das ausdrücklich betont haben. Es ist
auch ein Erfolg der europäischen Diplomatie, der Diplomatie von Frau Ashton; das müssen wir hier ganz deutlich sagen. Danke auch an Herrn Mützenich dafür, dass
er das gesagt hat. Wir müssen Frau Ashton von hier aus
ein großes Lob aussprechen.
({2})
Eines möchte ich vorwegsagen - vielleicht gibt es da
einen Dissens -: Ich halte es für völlig absurd, jetzt so zu
tun, als ob es die harten Sanktionen waren, die den Iran
an den Verhandlungstisch bewegt haben. Ich halte das
für völlig absurd. Das können Sie gleich vergessen.
Denn auch vor einem Jahr waren die Sanktionen gegen
den Iran hammerhart. Auch vor einem Jahr war die Wirtschaftslage in Teheran völlig desolat, und trotzdem hat
es vor einem Jahr keine Einigung gegeben.
Es ist völlig klar: Mit noch so harten Sanktionen erzeugen Sie bei dieser Frage, die für den Iran eine Frage
der nationalen Souveränität ist, überhaupt keinen Druck,
um irgendeine Lösung herbeizuführen. Diese Lösung ist
erst durch zwei Wahlen möglich geworden. Die eine war
die Wiederwahl von Obama in den USA, der in der
zweiten Amtszeit eine ganz andere Flexibilität hat. Die
zweite war die Wahl des neuen iranischen Präsidenten
Rohani, der zeitgleich mit Obama zum ersten Mal seit
Jahren offensichtlich kompromiss- und verhandlungsbereiter ist, als es in den Jahren zuvor der Fall war.
({3})
Wenn alle Hardliner gewesen wären und weiter nach
harten Sanktionen gerufen hätten, dann hätte es diese Einigung nicht gegeben. Dies ist eine ganz klare Ansage an
Herrn Mißfelder von der CDU, der immer wieder einem
militärischen Angriff auf Iran das Wort geredet hat.
Wenn Herr Mißfelder in Genf mit am Verhandlungstisch
gesessen hätte, dann hätte es diese Einigung nicht gegeben. Ich bin froh, dass er nicht dabei war. Ich hoffe, er
wird auch in Zukunft nicht dabei sein.
({4})
Diese Einigung im Atomstreit zeigt eines ganz deutlich: Zwang funktioniert in der Außenpolitik nur ganz,
ganz selten. Beim zivilen iranischen Atomprogramm
funktioniert es noch viel weniger. Denn es ist innerhalb
des Iran die zentrale Frage der nationalen Souveränität.
Ein noch so moderater Präsident im Iran könnte niemals
an diese Frage herangehen, könnte nicht auf Druck von
außen reagieren. Das funktioniert nicht, zumal - auch
das hat Herr Westerwelle richtigerweise gesagt - der
Iran nach dem Atomwaffensperrvertrag ein Recht auf
ein ziviles Atomprogramm hat. Er hat sogar das Recht
auf Urananreicherung. Ich persönlich finde das falsch.
Von mir aus könnten wir schon heute einen weltweiten
Atomausstieg beschließen. Aber das ist eine völlig andere Debatte.
({5})
Die Einigung in Genf ist gut, weil sie ausgeglichen
ist, weil beide Seiten zwar kleine, aber doch gleich lange
Schritte aufeinander zugegangen sind.
({6})
Auf der einen Seite darf die Urananreicherung im Iran
weitergehen, aber nur eingeschränkt und nicht mehr mit
einem Anreicherungsgrad von 20 Prozent. Zudem gibt
es einen Baustopp an den wichtigsten Anlagen, nicht nur
am Schwerwasserreaktor, sondern auch an den Urananreicherungsanlagen. Auf der anderen Seite werden die
Sanktionen etwas gelockert. Das ist für mich ein tragfähiges Fundament für künftige Schritte.
Aus meiner Sicht gibt es jetzt vier Dinge, die wir tun
sollten - das richtet sich natürlich mehr an Herrn
Steinmeier als an Herrn Westerwelle; es ist in die Zukunft gedacht -:
Erstens. Das ist ganz wichtig: Ruhe bewahren. Machen wir uns nichts vor: Es gibt genug Kräfte, die diese
Einigung nicht wollen. Es sind die Hardliner in Teheran,
die jede Art der Verhandlung mit dem Erzfeind USA ablehnen. Es sind die Hardliner in Washington, die natürlich jede Art der Einigung mit dem Erzfeind Iran ablehnen. Und dann gibt es die unheilige Allianz zwischen
Israel und den Golfstaaten, die das Abkommen am liebsten torpedieren würden. Wir werden Provokationen erleben. Ich kann den 5+1-Staaten immer wieder nur sagen:
Ruhe bewahren, sich nicht provozieren lassen und den
Geist von Genf aufrechterhalten. Das wird in den nächsten sechs Monaten das Wichtigste sein.
Zweitens. Sie sollten unbedingt und sofort in den
Ländern der Region für die Einigung werben. Ganz vorn
ist hier natürlich Israel. Werben Sie in Israel dafür, dass
diese Einigung mehr Sicherheit für Israel bedeutet und
nicht weniger. Auch das ist eine Aufgabe für einen künftigen deutschen Außenminister.
({7})
Drittens. Die versprochenen und beschlossenen Sanktionserleichterungen müssen so schnell wie möglich und
so großzügig wie möglich umgesetzt werden. Ich habe
es hier schon mehrfach gesagt: Es kostet nicht viel, auch
einmal zwei, drei Schritte in Vorleistung zu gehen. Es
geht dabei doch um Folgendes - das ist übrigens der
Dissens, den wir haben, Herr Westerwelle -: Es geht darum, Vertrauen auf beiden Seiten wiederherzustellen. Es
geht nicht nur darum, dass der Westen Vertrauen in den
Iran haben muss. Auch umgekehrt gibt es dort ein berechtigtes Misstrauen. Vertrauen muss auf beiden Seiten
hergestellt werden. Dabei würde es helfen - ich komme
damit zum Schluss -, in den nächsten Wochen und Monaten die Sanktionserleichterungen sehr großzügig
durchzusetzen.
Viertens und letztens. Wir sollten jetzt diese Chance
nutzen, den Iran auch auf anderen Feldern einzubinden.
Herr Mützenich hat es bereits gesagt: Dabei geht es zum
Beispiel um Syrien. Aber auch der EU-Menschenrechtsdialog mit dem Iran könnte wieder aufgenommen werden. Dann könnten wir verhindern, dass die dramatische
Menschenrechtslage im Iran zugunsten des Atomstreits
vernachlässigt wird.
({8})
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland
keine Waffen mehr exportieren sollte. Das gilt natürlich
auch für den Iran, das gilt aber für alle Länder in dieser
Region, auch für Israel und die Golfstaaten.
Danke schön.
({9})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Agnieszka
Brugger, Bündnis 90/Die Grünen. - Bitte schön.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine
große Chance mit Risiken und vor allem auch ein Erfolg
der Diplomatie, allerdings mit offenem Ausgang - so
lässt sich meiner Meinung nach das Übergangsabkommen, das die fünf Vetomächte der Vereinten Nationen
und Deutschland mit dem Iran in Genf verhandelt haben,
am besten beschreiben. Der Iran verpflichtet sich, Teile
seines Atomprogramms auszusetzen und mehr Inspektionen seiner Anlagen zuzulassen. Im Gegenzug soll ein
Teil der Sanktionen gelockert und sollen vorerst keine
weiteren verhängt werden.
Gemischt und sehr unterschiedlich wurde dieses Abkommen anschließend bewertet. Ich stehe immer noch
unter dem Eindruck, dass Sie sich, Herr Außenminister
Westerwelle, so einig mit dem Kollegen van Aken sind.
Ich finde, das ist ein ganz besonderer Moment, und das
zeigt auch, dass es hier einen großen Zuspruch für dieses
Verhandlungsergebnis gibt.
({0})
Sie haben das Abkommen einen Wendepunkt genannt. US-Außenminister Kerry twitterte, es sei ein erster Schritt, die Welt sicherer zu machen. Der israelische
Ministerpräsident Netanjahu hat das Abkommen hingegen deutlich kritisiert. Allerdings zeigt die Debatte in
Israel nicht nur sehr nachvollziehbare Sorgen über das
iranische Atomprogramm, sondern auch sehr unterschiedliche Ansichten und Bewertungen dieses Abkommens.
Nach Jahren der Eskalation und des eisigen Stillstands, nach Jahren der mehr als berechtigten Sorge,
dass der Iran in Zukunft über Atomwaffen verfügen
könnte, ist nun eine erste Vereinbarung getroffen worden, die allen Seiten, wie ich finde, durchaus große Zugeständnisse abverlangt. Das ist ein großer Erfolg.
({1})
Ziel muss es jetzt sein, diesen Weg der Verhandlungen weiter zu beschreiten und die Vereinbarung zügig
und schnell umzusetzen, um anschließend, nach den vereinbarten sechs Monaten, in denen Transparenz geschaffen und Vertrauen erworben werden muss, ein belastbares und verbindlicheres Abkommen zu erreichen. Wie
diese sechs Monate genutzt werden und wie die Umsetzung dieser Vereinbarung ausfällt, wird dabei nicht nur
für die Entwicklung der nächsten Wochen und Monate,
sondern für Jahre ausschlaggebend sein.
Es liegt jetzt an der neuen Regierung in Teheran, der
internationalen Gemeinschaft glaubhaft zu beweisen,
dass sie ernsthaft an einer langfristigen und tragbaren
Lösung des Atomkonflikts interessiert ist. Dazu muss
der Iran nun schnell und transparent seine Vertrauenswürdigkeit unter Beweis stellen. Die Hochanreicherung
von Uran auf 20 Prozent muss gestoppt und die bestehenden Vorräte müssen in höchstens 5-prozentig angereichertes Uran umgewandelt werden. Auch die Aktivitäten um den Schwerwasserreaktor Arak müssen
gestoppt und die Kontrolle durch die Internationale
Atomenergie-Organisation uneingeschränkt ermöglicht
werden. Denn nur durch die zügige und anhaltende Umsetzung dieser Vereinbarung kann der Iran die bestehenden Zweifel, dass es sich um bloße Lippenbekenntnisse
handeln könnte, langsam aus dem Weg räumen.
Ziel der auferlegten Sanktionen war es, den Iran an
den Verhandlungstisch zu bringen. Das ist gelungen.
Nun muss die internationale Gemeinschaft im Gegenzug
aber auch bereit sein, die Sanktionen zu lockern, wenn
die iranische Seite ihren Verpflichtungen nachkommt.
Dabei sollten vor allem die Sanktionen im Fokus stehen,
die die Zivilbevölkerung treffen. Absolut kontraproduktiv sind an dieser Stelle die Stimmen der Republikaner
aus den USA, die in der aktuellen Situation eine Verschärfung der Sanktionen fordern. Das würde ein automatisches Ende dieses Erfolges, ein automatisches Ende
der Verhandlungen und Gespräche bedeuten.
Meine Damen und Herren, wir sollten aber auch nicht
in allzu große Euphorie verfallen. Denn es ist zu früh,
von einer wirklichen Lösung des Atomkonflikts zu sprechen, weil in diesen sechs Monaten viel passieren kann,
zum Guten, aber eben auch zum Schlechten. Trotz des
berechtigten Aufatmens aufgrund dieser Einigung muss
eines klar sein: Sie ist kein Anlass, die erschreckende
Rhetorik des iranischen Regimes gegenüber Israel oder
die nach wie vor krassen und eklatanten Menschenrechtsverletzungen im Iran oder die verheerende Rolle,
die der Iran im blutigen Syrien-Konflikt spielt, auszublenden.
Es ist aber auch klar: Das Übergangsabkommen ist
eben doch ein großer Erfolg der Diplomatie. Wer das bestreitet, muss sich klarmachen, dass die Alternativen, die
auf dem Tisch lagen - mit dieser Formulierung wurde ja
immer wieder über einen Militärschlag gesprochen -, in
ihren Auswirkungen katastrophal gewesen wären. Auf
der einen Seite hätte nicht toleriert werden können, dass
der Iran sein Atomprogramm in vollem Umfang weiterbetreibt, während immer schärfere Sanktionen die Zivilbevölkerung treffen. Auf der anderen Seite hätte eine
militärische Eskalation dieses Konflikts unberechenbare
Folgen für eine Region gehabt, die ohnehin schon durch
zahlreiche Krisen und Konflikte destabilisiert ist.
Die Einigung ist bei allen berechtigten Zweifeln und
Unwägbarkeiten durchaus ein Anlass, Hoffnung zu fassen, dass vielleicht ein Anfang gemacht wurde, diesen
Konflikt auf diplomatischem Wege zu bearbeiten und irgendwann vielleicht wirklich lösen zu können. Wir sollten alles dafür tun, diesen Weg entschieden weiter zu beschreiten.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg.
Stefan Liebich ({2})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Als Nächster hat der
Kollege Dr. Andreas Schockenhoff von der CDU/CSUFraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit
2002, als bis dahin geheime iranische Nuklearanlagen
und Beschaffungsaktivitäten aufgedeckt wurden, besteht
der Verdacht, dass der Iran ein geheimes Atomwaffenprogramm betreibt. Noch hat der Iran wohl keine Atomwaffen, aber die IAEO zeigt sich in ihren Berichten seit
fast zehn Jahren immer besorgter über den möglichen
militärischen Charakter des iranischen Nuklearprogramms. Der UN-Sicherheitsrat hat Teheran in zahlreichen Resolutionen zur Klärung der offenen Fragen aufgefordert und seit 2006 mehrere Sanktionsresolutionen
verabschiedet. Deutschland und die fünf ständigen
Sicherheitsratsmitglieder setzen seit Jahren mit großer
Geduld auf eine diplomatische Lösung des Konflikts.
Der Iran hat aber bisher nur auf Zeit gespielt.
Die nun in Genf getroffene Vereinbarung bedeutet
erstmals eine politische Einigung über erste Schritte zur
Lösung des Konflikts. Das begrüßen wir außerordentlich. Der Verhandlungsansatz, der auf Kooperationsangebote und gezielte Sanktionen setzt, hat sich als richtig
erwiesen und zu Bewegung in den zuvor festgefahrenen
Verhandlungen geführt. Es hat sich auch als richtig erwiesen, alle Optionen auf dem Tisch zu belassen.
Der Iran hat einer langen Liste konkreter Forderungen
zugestimmt. Sie sind, wie es die Frankfurter Allgemeine
Zeitung richtig beschrieben hat, „das größte Bremsmanöver …, seit das iranische Atomprogramm den Kinderschuhen entwachsen ist.“ Das Sanktionsregime bleibt
im Kern intakt, und Teheran hat unter den Bedingungen
dieses Interimsabkommens nicht die Möglichkeit, heimlich die Entwicklung umfassender nuklearer Kapazitäten
voranzutreiben. Teheran muss nun der IAEO den unbegrenzten Zugang zu den Nuklearanlagen ermöglichen.
Aber der Außenminister hat zu Recht gesagt: Die Genfer
Übergangslösung ist noch kein Endzustand.
Der Iran ist jetzt aufgefordert, nicht nur die Auflagen
von Genf zu erfüllen, sondern auch die nächsten Monate
zu nutzen, um eine substanzielle Lösung des Gesamtkonfliktes zu ermöglichen. Der Iran muss, gemäß den
Forderungen aus verschiedenen UN-Resolutionen,
endlich den ausschließlich friedlichen Charakter seines
Nuklearprogramms nachprüfbar unter Beweis stellen.
Wir nehmen die israelischen Besorgnisse hinsichtlich
dieser ersten Vereinbarung, aber auch die der unmittelbaren Nachbarn des Iran sehr ernst. Israel kann die Gefahr seiner möglichen nuklearen Vernichtung durch den
Iran nicht ignorieren. Auch die neue Koalition bekennt
sich zu unserer besonderen Verantwortung gegenüber
Israel. Das Existenzrecht und die Sicherheit Israels sind
für uns nicht verhandelbar.
({0})
Denn, liebe Kolleginnen und Kollegen, es bleibt dabei:
Ein nuklear bewaffneter Iran wäre eine Gefahr für die
gesamte Region und darüber hinaus. Den weltweiten Bemühungen um Abrüstung und Nonproliferation würde
ein schwerer Schaden zugefügt. Ein nukleares Wettrüsten wäre die Folge: Saudi-Arabien, Ägypten und auch
die Türkei haben schon erkennen lassen, dass sie sich bei
einer atomaren Bewaffnung des Iran zum nuklearen
Nachrüsten gezwungen sähen.
Niemand spricht dem Iran das Recht auf die zivile
Nutzung der Atomenergie ab. Der Iran hat aber nach seinen Verpflichtungen aus dem Nichtverbreitungsvertrag
kein Recht auf eine nukleare Bewaffnung. Eine iranische
Atombombe würde eine erhebliche Gefährdung des
Weltfriedens bedeuten und auch uns bedrohen. Schon
jetzt verfügt Teheran über Langstreckenraketen, die
Europa erreichen können. Wir müssen deshalb auch in
Zukunft verhindern, dass der Iran die Fähigkeit hat,
Atomwaffen herzustellen. Bis dahin halten wir - auch
die neue Koalition - an unserem doppelten Ansatz fest:
Verhandlungen und Sanktionsdruck. Herr Präsident,
liebe Kolleginnen und Kollegen, Außenminister
Westerwelle hat sich in den vergangenen vier Jahren mit
Verve für eine diplomatische Lösung des Konfliktes eingesetzt. Herr Minister, die Vereinbarung von Genf ist
auch Ihr Erfolg. Dafür, für Ihren Dienst für unser Land
und für die stets gute und kollegiale Zusammenarbeit
möchte ich Ihnen im Namen der CDU/CSU-Fraktion unseren ganz besonderen Dank aussprechen.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Thomas Silberhorn
von der CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
Interimsabkommen mit dem Iran bringt Bewegung in
den Atomstreit: zum ersten Mal seit 2004 mit einem substanziellen Fortschritt. Das ist nicht nur ein erfolgreicher
Zwischenschritt für alle Beteiligten, es ist insbesondere
auch ein Verhandlungserfolg der Europäischen Union à
la bonne heure.
So stelle ich mir europäische Integration vor: dass wir
in den wichtigen Fragen erfolgreich sind. Wenn wir den
Menschen erklären wollen, warum europäische Integration wichtig ist, dann ist es notwendig, dass die Europäische Union die wichtigen Dinge anpackt und löst und
uns nicht mit Belanglosigkeiten behelligt. Das ist ein gutes Beispiel für Integration.
Ich will hinzufügen, dass sich auch das Format, in
dem verhandelt worden ist, bewährt hat und entwicklungsfähig ist. Ich weiß nicht, wie viele Koalitionsverträge es in den letzten Jahren gegeben hat, in denen steht,
dass wir einen europäischen Sitz im Sicherheitsrat der
Vereinten Nationen anstreben und auch als Deutsche
bereit sind, enger mitzuarbeiten. Dieses Format der fünf
ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates plus Deutschland wird den Gegebenheiten in besonderem Maße gerecht, und weil es sich hier bewährt hat, glaube ich, dass
es ein Format ist, das sich ausbauen lässt.
Meine Damen und Herren, dieses Interimsabkommen
ist eine Chance für die internationale Gemeinschaft genauso wie für den Iran. Wir wissen nicht, wann der Iran
die Schwelle zur Atomwaffenfähigkeit überschritten
hätte. Aber es hätte in einem Zeitraum von sechs Monaten, auf den dieses Interimsabkommen ausgelegt ist,
durchaus der Fall sein können. Dann wären wir vor einer
völlig veränderten Situation gestanden. Jetzt haben wir
zumindest eine Atempause.
Das Interimsabkommen ist auch eine Chance für den
Iran, jetzt einen Kurswechsel vorzunehmen, wenngleich
klar ist: Es ist ein erster Schritt, und der Weg zu einer
dauerhaften Lösung ist noch weit. Darüber sind sich die
Verhandlungsparteien übrigens völlig im Klaren gewesen; denn in dem Text ist noch nicht einmal von einem
ersten Schritt die Rede, sondern von Elementen eines
ersten Schrittes. Das zeigt, dass man sich völlig im Klaren darüber ist, was noch zu tun ist.
Eine Lehre kann man aus dem bisherigen Verhandlungsprozess ziehen: Die Sanktionen der internationalen
Gemeinschaft haben gewirkt. Die Sanktionen sind ein
wirksames Instrument, wenn sie entschlossen von allen
durchgesetzt werden. Auch das ist eine wichtige Botschaft an alle ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates.
Dieses Instrument hat seine Wirkung gezeigt. Wenn nun
einzelne Sanktionen suspendiert werden und wenn eingefrorene Gelder durch die USA ausgezahlt werden,
dann ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass diese
Leistungen nur Zug um Zug gegen die Umsetzung dieses
Interimsabkommens erfolgen können.
Es muss klar sein, dass Sanktionen sofort wieder
verschärft werden müssen, wenn die Umsetzung dieses
Abkommens nicht vorankommt. Deswegen ist es notwendig, dass diese Inspektionen täglich durchgeführt
werden. Dass überhaupt umfassende Inspektionen vereinbart worden sind, ist ein wichtiger Verhandlungsfortschritt; denn anderenfalls hätte man gar nicht feststellen
können, wann der Iran die Schwelle zur Atomwaffenfähigkeit überschreitet.
Die internationale Gemeinschaft hat gleichwohl erhebliche Vorleistungen erbracht. Ich darf daran erinnern,
dass noch im Jahr 2004 selbst die Uranumwandlung verboten worden war. Jetzt ist auch eine - zeitlich nachgelagerte - Anreicherung bis zu 5 Prozent zulässig, aber immerhin gibt es die klare Verpflichtung, dass über
5 Prozent angereichertes Uran zu verflüssigen oder zu
oxidieren ist. Dieser Abbau der Vorräte bedeutet, dass
das Interimsabkommen mehr ist als eine bloße Stillstandsverpflichtung. Es kann eine Vertrauensbasis für
eine dauerhafte Lösung bieten, wenngleich man natürlich feststellen muss, dass grundsätzlich alle Schritte reversibel sein können. Wir können nicht ausschließen,
dass sich der Iran wieder anders entscheidet, aber wir
können darauf hinwirken, dass die Sanktionen in einem
solchen Fall sofort wieder verschärft werden.
Ich kann insofern die Skepsis mancher Beteiligter und
mancher Dritter nachvollziehen. Dieses Abkommen bietet aber dennoch Anlass zu verhaltenem Optimismus. Es
kann Vertrauen wachsen, wenn dieses Interimsabkommen jetzt umgesetzt wird und wenn die Verhandlungen
für eine dauerhafte Lösung zügig fortgesetzt werden.
Dabei werden die Fragen zum Schwerwasserreaktor in
Arak ebenso wie mögliche militärische Testversuche in
Parchin Gegenstand der Verhandlungen sein müssen.
Wir müssen - damit will ich schließen - die Bedenken Israels gleichwohl ernst nehmen. Ich teile nicht die
Bewertung, dass dieses Zwischenabkommen ein historischer Fehler ist. Aber der Iran hat die Weltöffentlichkeit
nun einmal oft genug enttäuscht. Deswegen ist es jetzt
Sache des Iran, den Nachweis zu erbringen, dass hier
kein taktischer Zeitgewinn erzielt worden ist, sondern es
um eine ernsthafte Lösung dieses Problems geht. Immerhin bietet dieses Interimsabkommen die Chance, die
Verschwörungstheoretiker zu widerlegen, die glauben
machen wollen, dass alle es darauf angelegt haben, den
Iran zu isolieren.
Es gibt eine Lösung. Es gibt keinen Konflikt, der
hoffungslos und ohne Lösung wäre. Deswegen müssen
wir die iranische Öffentlichkeit, insbesondere die junge
Generation dieses Landes einbeziehen. Sie muss eine
Perspektive erhalten. Wir müssen auf wirtschaftliche
Entspannung achten und es der iranischen Führung ermöglichen, sichtbare Ergebnisse vorzuweisen und zu
zeigen, dass sie es besser macht als die Vorgängerregierung in diesem Land.
Vielen Dank.
({0})
Nach diesem Beitrag vom Kollegen Silberhorn
schließe ich die Aussprache.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter
deutscher Streitkräfte an der AU/UN-HybridOperation in Darfur ({0}) auf Grundlage der Resolution 1769 ({1}) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom
Vizepräsident Johannes Singhammer
31. Juli 2007 und folgender Resolutionen, zuletzt 2113 ({2}) vom 30. Juli 2013
- Drucksache 18/72 Ich weise darauf hin, dass wir später über diesen Antrag namentlich abstimmen werden.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist Kollege
Philipp Mißfelder, CDU/CSU.
({3})
Herr Präsident! Eigentlich wollte auch ich dem Bundesaußenminister danken, aber er ist leider nicht mehr
anwesend. Der Kollege Schockenhoff hat ihm ja schon
ausführlich gedankt. Im Namen der Arbeitsgruppe „Auswärtiges“ der CDU/CSU-Fraktion möchte ich dem Bundesaußenminister aber dennoch dafür danken, dass er
während seines vierjährigen Wirkens Deutschland als
Friedensmacht positioniert hat. Ich möchte ihm für sein
Engagement in diesem Bereich danken. Auch im Namen
von Andreas Schockenhoff möchte ich das für unsere
Fraktion betonen. Dieses Lob kann man ihm ja vielleicht
überbringen.
Meine Damen und Herren, wir beraten jetzt über ein
Mandat - das ist ähnlich wie heute Vormittag bei der Debatte über den Einsatz im Südsudan -, das wenig Aufmerksamkeit findet, aber einen sehr ernsten Hintergrund
hat. Wir sehen, dass die Lage im Sudan insgesamt nicht
stabil ist. Trotz der Bemühungen des Internationalen
Strafgerichtshofs in Den Haag stehen wir einer sehr großen Herausforderung gegenüber. Bei dem Machthaber
im Sudan handelt es sich um jemanden, der des Völkermords angeklagt ist und mit internationalem Haftbefehl
gesucht wird. Allein die Tatsache, dass das Töten im
Land weitergeht, sollte uns besorgen. Nach Angaben der
sudanesischen Ärztevereinigung haben die Sicherheitskräfte im September und Anfang Oktober mehr als
200 Menschen getötet. Insgesamt 800 Menschen sollen
verhaftet worden sein.
Zum Hintergrund: Es wird zum Teil von einer Arabellion gesprochen, also von einem Vorgang, der mit dem
arabischen Frühling vergleichbar ist. Allerdings sind die
Hintergründe in diesem vom Krieg zerriebenen Land natürlich ganz anders als in Nordafrika, weswegen man
diesen Vergleich nicht so einfach führen kann. Es wird
dort mit großer Brutalität vorgegangen. Seitens offizieller Stellen gibt es nahezu täglich Meldungen, die uns
zeigen, dass die Menschenrechte nicht ernst genommen
werden und man auch nicht an einer friedlichen
Kooperation mit der Opposition interessiert ist.
Der Informationsminister des Landes hat zum Beispiel vor ein paar Tagen zur Kenntnis gegeben, dass die
Bilder, die uns aus dem Sudan erreicht haben, eigentlich
aus Ägypten stammen würden und dass die Bilder von
Opfern Fälschungen seien. Allein das zeigt, dass die
Regierung im Land selbst nicht in der Lage ist, auf diplomatische Art und Weise mit uns umzugehen, sondern
dass hier gelogen wird und dass die Öffentlichkeit getäuscht wird, um das Töten im eigenen Land zu vertuschen.
Die wirtschaftliche Situation ist spektakulär negativ.
Der Staat hat kein Geld, die Inflation ist hoch, und die
Armee, deren Angehörige immer unzufriedener werden,
verschlingt enorm viel Geld. In Ländern, die sich in
einem Konflikt befinden, ist es häufig so, dass sich die
Armee einen Großteil der Ressourcen des Landes einverleibt.
Nach der Unabhängigkeit des Südsudan, über den wir
heute Vormittag diskutiert haben, hat sich die Situation
verschärft. Im Grunde müssten beide Länder kooperieren; denn der Süden hat das Öl, und der Norden hat die
Pipelines und die Durchleitungswege. Trotzdem ist es
nicht möglich, ein vernünftiges Verhältnis auszubalancieren, bei dem beide Länder von den wirtschaftlichen
Vorteilen des Ölexports profitieren.
Vorhin in der Diskussion ist schon über den wachsenden Einfluss Chinas gesprochen worden. Auch an dieser
Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass natürlich andere aufstrebende Mächte in der Region präsent sind und
an der Lösung dieser Konflikte nicht immer unbedingt
konstruktiv mitwirken. Umso mehr befürworte ich unseren militärischen Beitrag, den wir an dieser Stelle leisten. Ich möchte auch darauf hinweisen, dass er sich breit
einbettet in ein ziviles Engagement, das wir massiv vorantreiben.
Die humanitäre Lage ist aber trotz des zivilen Engagements dermaßen schlecht, dass eine militärische Präsenz vonnöten ist. Unkontrollierte Waffenströme sorgen
für einen permanenten Nachschub für alle Milizen, für
alle Regierungstruppen, die dort aktiv sind.
({0})
- Schön, dass Sie es reinrufen. - Deshalb bin ich froh,
dass wir hinsichtlich der Waffenexporte eine tragfähige
Lösung gefunden haben. Ich glaube, dass der Deutsche
Bundestag gut daran tut, die Waffenexporte, die aus unserem Land herausgehen, stärker im Blick zu haben. Das
stellen wir mit der Koalitionsvereinbarung, die wir jetzt
auf den Weg bringen, sicher.
({1})
Ich möchte der Bundeswehr danken, die in dieser
schwierigen Mission einen wichtigen Beitrag leistet. Die
Situation dort ist nicht ungefährlich. Wir sind mit einer
geringen Zahl Soldaten dort im Einsatz. Die maximale
Obergrenze des Mandats beträgt 50 Personen. Aktuell
sind neun Deutsche im Hauptquartier von UNAMID
eingesetzt. Wir haben vor ein paar Wochen erlebt, dass
nigerianische Soldaten, die zur internationalen Schutztruppe gehören, getötet wurden. Allein dieser spektakuläre Angriff auf vier Soldaten aus Nigeria zeigt, dass die
Situation keineswegs harmlos ist, sondern brandgefährlich.
Viele Leute vergessen, dass seit 2003 nach UNOSchätzung insgesamt 300 000 Menschen getötet worden
sind. Es handelt sich also um eine große Katastrophe.
Deshalb werbe ich dafür, dass wir unsere Bemühungen,
unter anderem zur Setzung von internationalen Normen
im Rahmen des Internationalen Strafgerichtshofs, vorantreiben. Zur Durchsetzung des internationalen Rechts
müssen wir diese UNO-Mission notwendigerweise unterstützen. Ich bitte Sie daher im Namen meiner Fraktion
um Zustimmung.
Herzlichen Dank.
({2})
Nächster Redner ist der Kollege Rainer Arnold, SPD.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
diskutieren jedes Jahr über die Verlängerung des Mandates, und manche fragen sich: Wir haben 10, 11, in der
Spitze 13 Soldaten dort gehabt, muss das wirklich sein?
({0})
Ich meine ja, nicht nur aufgrund unseres parlamentarischen Vorbehalts - ein wichtiges Recht des Deutschen
Bundestages, das an keiner Stelle angekratzt werden darf -,
sondern auch weil es wichtig ist, dass Darfur und der
Sudan kein vergessener Konflikt werden. Das ist die
größte humanitäre Katastrophe, die wir auf unserem
Globus seit vielen Jahren haben. Deutschland, Europa
und die Vereinten Nationen können und dürfen nicht
wegschauen. Mein Vorredner hat es schon gesagt: Es
gab über 300 000 Tote, 2 Millionen Flüchtlinge, davon
250 000 im Nachbarland Tschad. Auch dort herrschen
unglaubliche Verhältnisse, die diese Region weiter destabilisieren.
Dieser Konflikt ist im Jahre 2003 eskaliert; vorher
war er latent. Wir sehen heute: Es ist - trotz aller Versuche in den Jahren 2011 und 2013 - nur bedingt gelungen,
Friedensprozesse stärker zu implementieren; das ist ganz
eindeutig. Wir mussten lernen: Zu den ursprünglich etwas klarer abschätzbaren Konflikten - auf der einen
Seite die Regierung des Sudans, auf der anderen Seite
eine große Rebellengruppe - sind sehr große interne
Konflikte auch unter den Aufständischen dazugekommen. Das heißt, dieser Konflikt ist viel komplizierter geworden. Das Schlimme ist: Eigentlich gehören nicht nur
der Präsident und einige seiner Minister aus dem Sudan,
sondern auch Rebellenführer vor den Internationalen
Strafgerichtshof in Den Haag. Dies wäre angesagt und
das notwendige Zeichen. Wir können nur hoffen, dass
man ihrer habhaft wird.
({1})
Der seit 2012 laufende Doha Peace Process will auch
die anderen Rebellengruppen mit einbeziehen. Das ist
ein mühsamer Prozess. Aber es ist auch Aufgabe der
Soldaten, mandatiert durch die Vereinten Nationen und
die Afrikanische Union - deshalb diese Hybridmission -,
diesen Friedensprozess trotz der komplexen Gemengelage voranzubringen.
UNAMID verfügt im Augenblick wirklich über sehr
wenige Soldaten. Insgesamt sind es aber immerhin fast
15 000. Sie ist also durchaus eine UN-Mission, die Kraft
entwickeln kann. Hinzu kommt, dass wir 4 500 Soldaten
im Sudan haben. Ich möchte, obwohl wir die Bundeswehr entsenden, nicht vergessen, auch die Polizisten zu
erwähnen. Es sind und waren immer auch deutsche Polizisten in dieser schwierigen Lage in Darfur tätig. Sie haben dabei geholfen, Polizeistrukturen aufzubauen, und
leisten wichtige Ausbildungsarbeiten. Herzlichen Dank
den Soldaten und Polizisten, die dort in unserem Auftrag
arbeiten!
({2})
Es wird ja immer wieder eine kritische Debatte über
die Fähigkeiten der Vereinten Nationen geführt: Können
sie solche Einsätze wirklich fahren? Haben sie die Führungsfähigkeit? Ich glaube, entscheidend wird in den
nächsten Jahren sein: Wenn man wirklich will, dass das
Gewaltmonopol bei den Vereinten Nationen liegt, dann
muss man als Staatengemeinschaft auch stärker dafür
sorgen, dass sie in der Lage sind, in solchen Missionen
tatkräftig eingesetzt zu werden und ihren Auftrag zu erfüllen.
Insofern können wir nicht glücklich darüber sein, dass
wir Deutsche mit zehn oder elf Soldaten dabei sind. Das
ist immerhin ein erster Schritt. Aber im Grunde genommen ist Deutschland im Augenblick das einzige westliche Industrieland, das diese UN-Friedensmission überhaupt unterstützt. Im Rahmen der Polizeimission tun es
die Türken und die Deutschen; auch das ist zu wenig.
Wir sollten uns darauf einstellen, dass wir uns, nachdem
wir unsere Aufgabe in Afghanistan beendet haben, verstärkt um die internationalen Friedensmissionen der Vereinten Nationen kümmern müssen; dies wird erwartet.
Sie brauchen nicht in erster Linie Massen von Soldaten,
sondern Beratung, Führungsfähigkeit und technische
Unterstützung. Es ist zum Teil schändlich, wie wir die
Soldaten gerade in Afrika im Stich lassen.
({3})
Heute Morgen haben wir schon über das andere Mandat im Hinblick auf den Sudan diskutiert. Da wurde von
den Linken der übliche Satz gesagt - er kommt bei Ihnen
in fast jeder Rede vor -: Mit Soldaten kann man keinen
Frieden schaffen.
({4})
Frau Kollegin, das ist wohl wahr; das ist eine Binsenweisheit. Es behauptet aber auch niemand, dass man dies
könne. Die Soldaten sind aber oft nötig, weil es sonst
überhaupt keine andere Ordnungsmacht gibt. Es gibt in
dieser geplagten Region keine funktionierenden Polizeien und keine staatliche Ordnung. Ich würde mir
wünschen, die Linken würden wenigstens bei diesem
Mandat, das doppelt legitimiert ist, mit dem zutiefst humanitäre Aufgaben erfüllt werden, durch das Menschen
geschützt werden, durch das entwaffnet wird - auch das
ist eine Aufgabe -, mit dem die Versorgung der Flüchtlinge sichergestellt wird und bei dem die Deutschen mit
zehn Soldaten vertreten sind, anfangen, ihre Position ein
bisschen zu reflektieren. Gerade Linke haben doch eigentlich eine internationale Sichtweise auf die Krisenbewältigung; sie haben auch eine internationale Verantwortung.
({5})
Die Sozialdemokraten stehen auch weiterhin zu dieser Verantwortung: Wir stimmen diesem Mandat zu.
Herzlichen Dank.
({6})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Kathrin Vogler, Die
Linke.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Herr Arnold, ich weiß nicht, woher Sie
die Nebelkerzen bekommen haben, die Sie da wieder geworfen haben. Reden wir doch einmal über das, worum
es heute geht: Zum sechsten Mal wollen heute alle Fraktionen außer der Linken den Bundeswehreinsatz im Rahmen von UNAMID im Sudan verlängern.
Wieder behaupten Sie, dieser Einsatz sei ein wichtiger Beitrag zum Frieden in Darfur. Schauen wir uns also
an, wie es um den Frieden in Darfur steht! Seit dieser
Einsatz 2007 begonnen wurde, gab es eine ganze Reihe
von Friedensabkommen, die abgesichert werden sollten.
All diese Abkommen haben eines gemeinsam: Kein einziges Abkommen wurde eingehalten, weder vom sudanesischen Militär noch von den verschiedenen Rebellengruppen. UNAMID kann schon deshalb keine
friedenssichernde Maßnahme sein, weil es keinen Frieden gibt, den man sichern könnte.
({0})
Die Jagd auf Kriegsverbrecher - lieber Kollege
Arnold, das sollten Sie wissen! - ist nicht Aufgabe von
UNAMID.
UNAMID kann noch nicht einmal die Zivilbevölkerung schützen, weil jeder Schritt, jedes Eingreifen mit
der sudanesischen Zentralregierung, also mit einer der
Konfliktparteien, abgestimmt werden muss.
({1})
In den letzten Monaten haben die Kämpfe wieder
massiv zugenommen. Erst vor wenigen Wochen kam es
zu Auseinandersetzungen mit unzähligen Todesopfern.
Allein in diesem Jahr haben die Vereinten Nationen in
Darfur 460 000 Flüchtlinge gezählt.
({2})
Da müssten Sie doch den Erfolg Ihrer Strategie, Militär
einzusetzen, einmal evaluieren und ehrliche Schlussfolgerungen ziehen!
({3})
Denn die Gewalt - und damit das Leid von Millionen
Menschen - geht doch unvermindert weiter.
Warum ist die Situation in Darfur eigentlich so dramatisch? Die Konflikte sind im Kern eine Folge ökologischer Verwüstungen, im wahrsten Sinne des Wortes:
Dürre und Bodenerosion haben zu massenhaftem
Hunger geführt. Die hungernden Menschen sind mitsamt
ihrem Vieh in fruchtbarere Gegenden gezogen. Dort kam
es dann zu Kämpfen um Land und Wasser. Die sudanesische Regierung hat dem nicht nur tatenlos zugesehen, sie
hat die verschiedenen Gruppen auch noch systematisch
gegeneinander ausgespielt. Auch ausländische Mächte
haben ihre Stellvertreter bewaffnet und damit die Destabilisierung der Region befeuert.
Ich habe mich gefreut, als die Bundesregierung im
April dieses Jahres 16 Millionen Euro in Aussicht gestellt hat, mit denen die Ursachen des Hungers in Darfur
bekämpft werden sollten. Nun lese ich, dass noch in diesem Jahr mit der Umsetzung der Maßnahmen begonnen
werden soll. Da müssen Sie sich aber ein bisschen beeilen!
({4})
Ich hoffe nur, dass diese 16 Millionen Euro jetzt wirklich
eingesetzt werden für Projekte, die Menschen Zugang zu
Wasser und Nahrung verschaffen und die damit nachhaltig dem Frieden dienen - nachhaltiger jedenfalls als
UNAMID.
({5})
Obwohl Sie wissen, dass, wenn man Konflikte lösen
will, man die Ursachen bekämpfen muss und Konflikte
nur politisch gelöst werden können, verlängern Sie alle
zusammen diesen kontraproduktiven Militäreinsatz ein
ums andere Mal. Die Linke macht das nicht mit, wir
werden das auch weiterhin nicht mitmachen: Wir werden diesem Einsatz nicht zustimmen.
({6})
Nun argumentieren Sie, angesichts all des Leids dürften
wir doch nicht nichts tun. Ja, da stimme ich Ihnen zu.
Aber das Militär ist in jedem Fall und so eben auch in
diesem Fall das schlechteste Mittel. Ohne UNAMID hätKathrin Vogler
ten wir jährlich 513 000 Euro mehr in der Staatskasse,
die wir für zivile Hilfe einsetzen könnten.
({7})
Jetzt lese ich im Koalitionsvertrag von Union und
SPD, dass die Krisenprävention und die Bearbeitung von
Konflikten mit zivilen Mitteln ein stärkeres Gewicht bekommen sollen.
({8})
Das finde ich gut. Fangen Sie doch hier und heute damit
an: Beenden Sie den Militäreinsatz, und verstärken Sie
die Anstrengungen für eine Dialoglösung!
({9})
Und, liebe Kolleginnen und Kollegen, setzen Sie sich
zuallererst dafür ein, dass die humanitäre Hilfe alle bedürftigen Menschen erreicht und nicht von den Konfliktparteien für eigene Interessen missbraucht wird.
Gleichzeitig sagt der Koalitionsvertrag auch, dass Sie
künftig noch stärker auf das Militär setzen wollen. Sie
nennen das - hier kommt wieder eine Nebelkerze - „globale Verantwortung“ und meinen militärische Interventionen. Sie wollen Soldaten künftig öfter auch am Parlament vorbei einsetzen und planen dafür eine eigene
Kommission, die das Parlamentsbeteiligungsgesetz
aufweichen soll, und Sie wollen die zivilen Mittel noch
stärker mit dem Militär verknüpfen.
({10})
Wir haben in Afghanistan ja gesehen, wohin das
führt: Wo das Militär das Sagen hat, da können Hilfsorganisationen nicht frei arbeiten.
({11})
Sie verlieren ihre Neutralität und werden behindert und
gefährdet.
Erst Anfang der Woche sind in Afghanistan sieben
Mitarbeiter einer französischen Hilfsorganisation getötet
worden. Daraus sollten wir auch für den Sudan endlich
Konsequenzen ziehen.
Zivile Hilfe muss unabhängig vom Militär sein. Wenn
Sie wirklich helfen wollen, dann lassen Sie das Militär
raus.
({12})
Nächste Rednerin ist Kollegin Katja Keul, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Vor zehn Jahren brach in der sudanischen
Region Darfur ein grauenhafter Bürgerkrieg um knapper
werdende Lebensgrundlagen wie Weideland und Wasser
aus. Menschenrechtsverletzungen, Kriegsverbrechen und
massive Vertreibungen waren die Folge. Schätzungsweise 300 000 Menschen verloren ihr Leben. 2 Millionen
Menschen befinden sich bis heute allein innerhalb des
Landes auf der Flucht.
Eine nicht unerhebliche Ursache dieses Elends ist der
von uns mit verursachte Klimawandel. Schon deswegen
sind wir als Teil der internationalen Gemeinschaft mit in
der Verantwortung. Wir können nur hoffen, dass die von
Dürre, Krieg und Hunger geplagten Menschen von dem
Desaster in Warschau nicht zu viel mitbekommen haben.
({0})
Eine weitere Ursache ist die Brutalität des Regimes in
Khartoum. Umar al-Baschir, gegen den ein Haftbefehl
des Internationalen Gerichtshofs vorliegt, unterstützt
nach wie vor Milizen, die mit äußerster Brutalität gegen
die Zivilbevölkerung vorgehen, und behindert gleichzeitig die Arbeit von Hilfsorganisationen.
Vor sechs Jahren hat UNAMID die afrikanische Vorgängermission AMISOM II abgelöst. Mit 19 700 Soldaten, Militärbeobachtern und Polizisten ist sie eine der
größten Friedensmissionen weltweit. Daran beteiligt
sich Deutschland laut Mandat mit aktuell neun Soldaten
und vier Polizisten. Mal ganz im Ernst, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken: An der übermäßigen
Beteiligung Deutschlands liegt es mit Sicherheit nicht,
dass sich das Waffenstillstandsabkommen bislang nicht
umsetzen ließ.
({1})
An alle anderen auf der anderen Seite des Hauses:
Wir sollten endlich die Kapazitäten für PeacekeepingMissionen der UN verstärken, statt mit bis zu 700 Soldatinnen und Soldaten im Mittelmeer Terroristen zu jagen.
Beenden Sie endlich diesen Quatsch! Die NATO wird es
verkraften, und die UNO dagegen kann durchaus mehr
deutsche Unterstützung gebrauchen.
({2})
Seit Anfang dieses Jahres konstatiert der UN-Generalsekretär wieder eine Zunahme bewaffneter Auseinandersetzungen in Darfur. Allein 2013 wurden 300 000
Menschen vertrieben und mindestens 800 getötet. Angesichts der aktuellen Herausforderung fordert der UNSicherheitsrat eine Stärkung der logistischen und operativen Fähigkeiten von UNAMID.
Was kann Deutschland im Rahmen der EU dazu beitragen? Die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist der große Schwerpunkt des EU-Rates im
Dezember. Konkrete Vorschläge für die bessere Unterstützung der Vereinten Nationen auf dem Gebiet der
Friedenssicherung finden sich allerdings nicht auf der
Tagesordnung. Statt dessen beschäftigen sich die EUStaatschefs lieber damit, wie der europäische Rüstungsmarkt so gestaltet werden kann, dass die Rüstungsbetriebe in Zukunft trotz der Überkapazitäten überleben
können, und wie Europa endlich zu einer eigenen
Drohne kommt.
Für die deutsche Rüstungsindustrie hat Merkel den
Weg zu neuen zahlungskräftigen Kunden in aller Welt
ohnehin schon freigemacht. Dabei sind Waffenexporte in
Krisenregionen immer eine Gefahr für den Frieden. Im
Sudan sind es vor allen Dingen China und Russland, die
mit Waffenlieferungen Öl ins Feuer gießen. Nehmen Sie
also den im Sommer von uns ratifizierten UN-Waffenhandelsvertrag ernst, und gehen Sie mit gutem Beispiel
voran!
Den Rüstungsexportbericht jetzt zweimal im Jahr
vorzulegen, Herr Mißfelder, reicht dabei sicher nicht.
Liebe Genossinnen und Genossen von der SPD, hierzu
hatten wir im letzten Jahr schon ganz andere konkrete
Vorschläge auf dem Tisch liegen.
({3})
Wenn wir unseren Blick auf Darfur, auf die Region
und die Nachbarstaaten erweitern, fällt mir noch ein weiteres Thema ein, das auf dem Gipfel im Dezember
Thema sein sollte. Der Nachbarstaat, die Zentralafrikanische Republik, versinkt derzeit in einer Welle der Gewalt
und destabilisiert die gesamte Region. Manche Beobachter sprechen von einem drohenden Genozid. Es würden
bereits Macheten in der Bevölkerung verteilt.
Was macht unsere zivile Krisenprävention? Was machen denn unsere Frühwarnsysteme? Die Franzosen hatten es nach dem Putsch Anfang dieses Jahres dieses Mal
abgelehnt, die für Afrika zuständige Weltpolizei zu spielen. Jetzt entsenden sie in diesen Tagen doch wieder
1 000 Soldaten, um das Schlimmste zu verhindern. Wo
ist denn da bitte die europäische Strategie? In einer solchen Situation kann man doch auf einem Gipfel zur Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik nicht
allen Ernstes über die wirtschaftlichen Interessen der eigenen Rüstungsindustrie sprechen.
({4})
Für die Menschen in Darfur hat UNAMID noch keinen Frieden sichern können, aber ohne UNAMID hätten
die Hilfsorganisationen noch größere Schwierigkeiten,
den Menschen die humanitäre Hilfe zukommen zu lassen, die sie so dringend benötigen.
({5})
Den Mitarbeitern, die sich trotz der anhaltenden Gewalt
vor Ort für UNAMID und die zivilen Hilfsorganisationen einsetzen, gebührt unser aller Dank und Respekt.
Meine Fraktion ist von der Sinnhaftigkeit von UNAMID
überzeugt und wird dem Mandat wie auch in den vergangenen Jahren die Zustimmung erteilen.
({6})
Vielen Dank.
({7})
Es spricht jetzt Kollege Florian Hahn, CDU/CSU.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Nachdem wir heute Vormittag das Mandat
UNMISS debattiert und verlängert haben - dabei ging es
um den Südsudan -, geht es jetzt um das UNAMIDMandat im Sudan. UNAMID ist eine Hybridmission von
Vereinten Nationen und Afrikanischer Union. An dieser
Mission sind aktuell 46 Nationen beteiligt. Deutschland
als einziges EU-Land ist aktuell mit neun oder elf - das
variiert ein wenig - Soldatinnen und Soldaten und vier
Polizisten dabei.
Die drei größten Truppensteller sind Ruanda mit
3 200 Soldaten, Nigeria mit 2 600 Soldaten und Ägypten
mit 2 500 Soldaten. Daran zeigt sich der wichtige und
essenzielle Ansatz, dass die Afrikaner selbst in die Lage
kommen müssen, auf ihrem Kontinent für Sicherheit zu
sorgen. Wir wollen sie dabei unterstützen, dass sie diese
Eigenverantwortung verstärkt übernehmen.
Warum ist dieses Mandat für Sudan so wichtig? Die
Kämpfe - das haben schon viele Kollegen in ihren
Beiträgen zum Ausdruck gebracht - zwischen Rebellen,
Milizen und Armee haben seit 2003 zu mehr als 300 000
Toten und 2,5 Millionen Flüchtlingen geführt. Die Konflikte brechen immer wieder auf. Es geht dabei um Religionskonflikte; es geht um ethnische Konflikte; es geht
auch um den Zugang zu wichtigen Rohstoffen.
Es ist daher wichtig, die Umsetzung des Friedensabkommens von 2006 und den Friedensprozess an sich zu
unterstützen. Welchen Beitrag leistet UNAMID dabei?
Erstens einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung und
zum Aufbau, zweitens, die militärische Präsenz wirkt
mäßigend auf die Konfliktparteien, und drittens, die
Mission verhindert eine weitere Verschlechterung der
humanitären Situation. Unsere Soldaten sind im Hauptquartier eingesetzt, nämlich bei der Stabsfunktion im
Bereich Einsatzführung, Logistik, Ausbildung und Personal.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte noch
einmal auf die Debatte von heute Vormittag zu dem
Mandat UNMISS zurückkommen. Ich habe mich sehr
geärgert; denn die Kollegin Buchholz, die ich jetzt leider
nicht sehe, hat dort gesagt:
… niemand braucht Soldaten, um Wasser- und Bildungsprojekte durchzuführen.
({0})
Ich finde das wirklich zynisch. Das müssen Sie einmal
den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Hilfsorganisationen und deren Familien sagen.
({1})
Wir alle wissen ganz genau, dass diese Ziel massiver
Angriffe vonseiten der Rebellen sind. Sie brauchen den
Schutz von Sicherheitskräften. Wir sind im Übrigen
auch froh, dass UNAMID den Zugang für humanitäre
Hilfe überhaupt erst möglich macht.
({2})
Kolleginnen und Kollegen, dieser Einsatz genießt
vielleicht nicht dieselbe Aufmerksamkeit wie beispielsweise der Einsatz in Afghanistan. Das mag vielleicht der
Tatsache geschuldet sein, dass nur elf Soldaten von uns
mit dabei sind. Ich bin unserem Minister de Maizière
sehr dankbar dafür, dass er gestern in unserer Fraktion,
aber auch heute in der Debatte zum UNMISS-Mandat
deutlich zum Ausdruck gebracht hat, welche Leistungen
unsere Soldaten dort vollbringen, vor allem, wenn man
bedenkt, unter welchen Voraussetzungen und unter welcher Gefährdung sie dort ihren Dienst versehen. Das
kommt in der Öffentlichkeit ein bisschen zu kurz. Deswegen möchte ich an dieser Stelle den Soldatinnen und
Soldaten dort sehr herzlich danken und ihnen viel Erfolg, Gesundheit und Gottes Segen für die Aufgaben
wünschen, die noch vor ihnen liegen.
({3})
Sehr geehrte Damen und Herren, UNAMID leistet einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der humanitären
Situation im Sudan. UNAMID bildet den Rahmen, der
die Bewältigung der politischen Konflikte überhaupt erst
möglich macht. Wir stehen für Verlässlichkeit und Bündnistreue. Wir wollen ein guter Partner bei der Gestaltung
einer gerechten Weltordnung sein. Daher müssen wir
diesem Mandat zustimmen.
Herzlichen Dank.
({4})
Nächster Redner ist Dr. Sascha Raabe, SPD.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Im Sudan herrscht seit Jahren bittere Armut. Die humanitäre Katastrophe ist zum Teil in Vergessenheit geraten, zum Teil leider immer nur dann im
Fokus der Öffentlichkeit, wenn wir darüber reden, ob
deutsche Soldaten dort weiter an der richtigen und wichtigen UNAMID-Mission teilnehmen sollen.
Aber das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir
über ein Land reden, das dauerhaft, auch wenn keine
Kameras auf es gerichtet sind, zu den ärmsten Ländern
der Welt gehört. Es ist das Land mit der höchsten Müttersterblichkeitsrate der Welt. Mehr als die Hälfte der
Menschen leben in bitterer Armut. Wir haben schon gehört, dass die Konfliktursachen dort vielfältig sind: Die
Konflikte sind teils ethnisch-religiös, aber auch ganz
stark verschärft durch mangelnden Zugang zu Wasser
und Weideland. Sie sind auch dadurch bedingt, dass es
bittere Armut gibt.
Ich glaube, als Politiker im deutschen Parlament, die
über einen großen Etat verfügen können, müssen wir
mehr finanzielle Mittel aufbringen, um nicht nur in
Sudan dafür zu sorgen, dass dort, wo es Hunger und Not
gibt, geholfen werden kann, sondern auch in den Nachbarländern Subsahara-Afrikas dafür zu sorgen, dass sich
dort so etwas wie in Sudan nicht entwickeln kann. Dafür
bitte ich Sie um Unterstützung.
({0})
Wir möchten deshalb nicht nur den Soldatinnen und
Soldaten und den deutschen Polizeibeamten danken, die
dort ihren Dienst tun, sondern auch all den Entwicklungshelferinnen und Entwicklungshelfern, die unter
ganz schweren Bedingungen und auch unter Einsatz
ihres Lebens und ihrer Gesundheit dort tätig sind. Ihnen
allen auch vom ganzen Hause ein herzliches Dankeschön!
({1})
Wir haben die Zahlen bereits gehört. Dieses Land ist
extrem gebeutelt: Es hat 300 000 Tote gegeben. Fast
2 Millionen Menschen leben in Flüchtlingslagern. Bei
aller richtigen Betrachtungsweise der Konfliktursachen,
auf die ich noch zu sprechen komme, kann ich als Entwicklungspolitiker - das sage ich ausdrücklich nicht als
Verteidigungspolitiker; denn ich bin mit Leib und Seele
seit vielen Jahren Mitglied des entwicklungspolitischen
Ausschusses - die Haltung der Linksfraktion nicht verstehen. Ich kann nicht verstehen, wie man sich, wenn
man weiß, dass es grausame Massenvergewaltigungen,
brutale Überfalle und gewaltsame Plünderungen gibt,
die den Alltag der Menschen dort bestimmen, dann einer
Mission verweigern kann, die versucht, den geschundenen Menschen, die in Flüchtlingslagern Schutz suchen,
wenigstens ein bisschen zu helfen. Wie kann man sich
verweigern, diese Lager und die armen Menschen auch
mit militärischem Schutz zu sichern? Das ist schäbig und
verantwortungslos, und es ist absolut nicht tolerierbar.
({2})
Man muss das eine tun, ohne das andere zu lassen.
Natürlich kann das Militär diesen Konflikt nicht lösen.
Ich gehöre zu denjenigen, die immer sagen - dafür
werbe ich auch -: Ja, wir brauchen Entwicklungspolitik
als vorausschauende Friedenspolitik. Wir müssen die
Mittel der zivilen Krisenprävention stärken. - Ich bin
froh, dass wir dies genauso wie die Stärkung der Rolle
des zivilen Friedensdienstes im Koalitionsvertrag festgeschrieben haben. Es ist auch gut, dass wir im Koalitionsvertrag festgelegt haben, den Fokus stärker auf die ärmsten und die fragilen Staaten zu legen. Es war sicherlich
ein Fehler - das gilt im Hinblick auf die alte Regierung -,
die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit in diesem Jahr zu kürzen
({3})
und sie gemäß der mittelfristigen Finanzplanung bis
2017 weiter zu kürzen. Deshalb bin ich froh, dass wir
uns in den Koalitionsverhandlungen durchsetzen konnten und dass in den nächsten vier Jahren ohne Finanzierungsvorbehalt wenigstens 2 Milliarden Euro mehr, sozusagen als sicheres Geld, für die ärmsten Länder zur
Verfügung stehen. Das ist ein erster wichtiger Erfolg.
({4})
Ich sage aber auch: Bei diesen zusätzlichen 2 Milliarden Euro dürfen wir nicht stehen bleiben. Auf dem Weg
zum 0,7-Prozent-Ziel, zu dessen Erreichen sich Deutschland verpflichtet hat, gilt es, mehr finanzielle Anstrengungen zu unternehmen. Ich bitte auch die neuen
Kolleginnen und Kollegen im Parlament, sich parteiübergreifend in den Haushaltsberatungen, wenn es irgendwo noch Spielraum gibt - sei es durch die Einführung einer Finanztransaktionsteuer oder aufgrund von
zusätzlichen Geldern, die durch die Bekämpfung der
Steuerflucht eingenommen werden -, dafür einzusetzen,
dass endlich mehr Geld in den vier Jahren, also mehr als
die zusätzlichen 2 Milliarden Euro, für die Entwicklungszusammenarbeit zur Verfügung gestellt wird. Dann
brauchen wir nicht mehr über teure Militäreinsätze zu reden. Wir sparen viel mehr Geld, wenn wir jetzt den Menschen dort, aber auch in den Nachbarstaaten Sudans in
Subsahara-Afrika helfen, wo die Ärmsten der Armen leben. Entwicklungspolitik als vorausschauende Friedenspolitik kann solche Konflikte wie den in Rede stehenden
verhindern.
In diesem Sinne bitte ich Sie heute um Zustimmung
zu dieser Mission und in den nächsten Haushaltsberatungen - ich werde Sie daran erinnern - um Zustimmung
zur Bereitstellung von wesentlich mehr Geld für die gute
und präventive Entwicklungszusammenarbeit.
Vielen Dank.
({5})
Letzter Redner in dieser Aussprache ist Kollege
Johannes Selle, CDU/CSU.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen! Natürlich würde ich jetzt lieber sagen: Wir brauchen nach sieben Jahren UNAMID diese Mission nicht mehr. Alles ist
friedlich. Entwicklung kann stattfinden. - Aber bedauerlicherweise ist die humanitäre Lage in der Region prekär. Noch immer sind 1,9 Millionen Vertriebene in
Flüchtlingslagern auf Nahrungsmittelhilfe und Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft angewiesen.
Die Implementierung des 2011 in Doha beschlossenen Friedensabkommens hinkt dem Zeitplan hinterher.
Die wichtigsten Rebellenorganisationen, das Justice and
Equality Movement, JEM, sowie die beiden Gruppen um
Minni Minnawi und Abdel Wahid, haben das Abkommen zunächst abgelehnt. Der Beitritt des JEM zu diesem
Abkommen im Jahr 2013 ist als wichtiger Erfolg zu werten.
Zwischen der sudanesischen Armee und Rebellengruppen wie auch zwischen den einzelnen Milizen selbst
kommt es immer wieder zu blutigen Kämpfen. UNAMID
ist daher auch sieben Jahre nach ihrem Beginn keine einfache Mission. Erst am vergangenen Sonntag wurde ein
ruandischer Soldat tödlich verwundet. Es ist wichtig,
dass wir die Arbeit der Soldaten würdigen. Am Sonnabend letzter Woche traf ich den dienstältesten deutschen Offizier, Oberst Simon, in Juba, der bei UNMISS
dient. Er war außerordentlich erfreut über das Interesse
des Parlaments an der Arbeit der Soldaten und übermittelte die Grüße seiner Offizierskameraden, die ihn dazu
ausdrücklich aufforderten. Daher möchte auch ich allen
Soldaten und Polizisten von UN-Friedenssicherungsmissionen danken. Sie bemühen sich um Sicherheit und Stabilität. Ganz besonders denken wir an die deutschen Einsatzkontingente, die einen gefährlichen Dienst tun und
auf die für uns selbstverständlichen Annehmlichkeiten
verzichten müssen. Wir brauchen diesen Dienst, schätzen ihn hoch ein und werden ihn unterstützen. Wir wünschen den Soldaten und Polizisten eine sichere Adventszeit.
In der letzten Woche bat der sudanesische Innenminister während seines Besuches in Deutschland um
Unterstützung bei der Bewältigung der Folgen des enormen Zustroms von Flüchtlingen aus Ostafrika, dem sich
Sudan gegenübersieht.
Das ist ein Thema, das ohne Zweifel in unserem eigenen Interesse liegt. Natürlich wurden von mir die wichtigen Themen wie Schutz der Menschenrechte, das Verhältnis zum Südsudan und nicht zuletzt die Lage in
Darfur angesprochen. Immer wieder muss klargemacht
werden, dass die Wahrung der Menschenrechte für uns
oberste Priorität hat und dass die exzessive Gewaltanwendung, wie sie sich zuletzt im September bei Demonstrationen in der Hauptstadt Khartoum manifestierte,
völlig inakzeptabel ist. Wir sollten alle Bemühungen unterstützen, die die Beilegung der Konflikte in diesem
Land auf politischem Wege voranbringen.
Ebenfalls im November befand sich eine hochrangige
Delegation der Sudan Revolutionary Front, des Zusammenschlusses der einzelnen Rebellenorganisationen, auf
Einladung des Auswärtigen Amtes in Berlin. Auch dieses Gespräch wurde genutzt, um die einzelnen Organisationen eindringlich auf ihre Verantwortung für Frieden
und Schutz der Zivilbevölkerung hinzuweisen. Wichtiger Punkt dabei war, dass sowohl Abdel Wahid als auch
Minni Minnawi, die beiden verbliebenen Führer von Rebellenorganisationen und Nichtunterzeichner des DohaAbkommens, mit am Tisch saßen und sich, wenn auch
verhalten, eine politische Lösung unter Führung der Sudan Revolutionary Front vorstellen konnten. Wir sind in
kleinen Schritten vorangekommen und waren noch nie
so nahe an einer politischen Lösung. Deshalb müssen
wir beharrlich in diese Richtung weitergehen.
Deutschland genießt ein hohes Ansehen auch in dieser
Region. Deshalb gehört es zu unserer Verantwortung, unsere relativ kleine personelle Beteiligung an UNAMID
fortzusetzen. Die zehn entsandten Bundeswehrsoldaten
und fünf Polizisten leisten im UNAMID-Hauptquartier
anerkannte und geschätzte Stabsarbeit. Deutschland ist
als einziges westliches Land an dieser Mission beteiligt.
Bei UNAMID geht es nicht nur um die militärische
Komponente der Mission, sondern es geht auch um die
politischen Anstrengungen zur Umsetzung des DohaFriedensvertrages.
Liebe Kollegen, die vom neuen Missionsleiter
Mohammed Ibn Chambas angekündigte Intensivierung
der politischen Bemühungen UNAMIDs müssen wir
doch unterstützen. Die Kosten der Mission sind enorm,
und mir wäre lieber, dass dieses Geld in konkrete Entwicklungsprojekte investiert würde. Aber ohne Sicherheit kann es keine Entwicklung geben. Im Gegenteil:
Vorhandene Infrastruktur wird bei den Kämpfen zerstört.
UNAMID ist nur ein Teil unseres Ansatzes der vernetzten Sicherheit, neben der humanitären Hilfe und den
bereits erwähnten 16 Millionen Euro, die für Wiederaufbauprojekte in diesem Jahr bereitgestellt werden. Letzteres sollten wir als Parlament eng begleiten und vor allem
auf Eile in der Umsetzung drängen. Ein klares Ja zur
Verlängerung des Einsatzes ist ein klares Bekenntnis zu
unserer Verantwortung für Frieden und Sicherheit in der
Welt. Ein Ja ist auch ein klares Zeichen an die Afrikanische Union, dass wir sie nun, da sie sich verstärkt der
Verantwortung für ihren eigenen Kontinent stellt, nicht
im Stich lassen. Stimmen Sie deshalb dem Antrag zu!
({0})
Hiermit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Antrag
der Bundesregierung zur Fortsetzung der Beteiligung
bewaffneter deutscher Streitkräfte an der Operation in
Darfur UNAMID. Wir stimmen über den Antrag auf
Drucksache 18/72 namentlich ab. Ich bitte die Schrift-
führerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze
einzunehmen.
Sind die Plätze an den Urnen besetzt? - Das ist jetzt
der Fall. Ich eröffne die Abstimmung über den Antrag
der Bundesregierung.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme nicht abgegeben hat? - Ich habe den Eindruck,
dass jetzt alle, die ihre Stimme abgeben wollten, dies
auch getan haben. Dann schließe ich hiermit die Abstim-
mung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer,
mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Ab-
stimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.1)
1) Ergebnis Seite 161 C
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 8 auf:
- Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung des
Investmentsteuergesetzes und anderer Gesetze an das AIFM-Umsetzungsgesetz ({0})
- Drucksache 18/68 ({1}) - Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung des Investmentsteuergesetzes und anderer Gesetze an das AIFM-Umsetzungsgesetz ({2})
- Bericht des Hauptausschusses gemäß § 96 der
Geschäftsordnung
- Drucksache 18/113 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auch
für diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne hiermit die Aussprache. Erste Rednerin ist
Kollegin Ingrid Arndt-Brauer, SPD.
({3})
Frau Kollegin, bevor Sie das Wort ergreifen, darf ich
alle, die hier im Saal wichtige Gespräche führen, bitten,
diese Gespräche außerhalb des Plenarsaals fortzusetzen,
damit Sie als Rednerin uneingeschränkte Aufmerksamkeit genießen können. - Bitte schön, Frau Kollegin.
Vielen Dank, Herr Präsident. Ich habe ja ein Mikrofon, und ich kann auch ein bisschen lauter reden.
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben es in den nächsten
30 Minuten mit einer etwas schwierigen Materie zu tun.
Deswegen: Wer daran interessiert ist, muss ein bisschen
zuhören. Es geht um das AIFM-Steuer-Anpassungsgesetz; das ist ein Gesetz über alternative Investmentfonds.
Wir passen das Investmentsteuergesetz und andere Gesetze an das AIFM-Umsetzungsgesetz an. Das ist nötig
geworden, weil Konzerne Verpflichtungen intern übertragen können, zum Beispiel ihre Pensionsforderungen.
Es können dafür Rückstellungen gebildet werden. Das
kann bisher in einer bestimmten Art und Weise gehandelt werden. Das geht - dazu komme ich gleich noch demnächst nicht mehr. Kleine und mittlere Unternehmen
sind davon nicht betroffen; die können ihren Gesamtaufwand weiterhin voll verrechnen.
Wir haben heute die erste, zweite und dritte Lesung.
Es ist das erste Mal, dass ich so etwas erlebe. Aber - wir
haben das schon heute Morgen gehört - es ist dringend;
denn wir brauchen Rechtssicherheit bei der Investmentbesteuerung. Wir haben am 14. Dezember 2011 ein
Urteil des Bundesfinanzhofs bekommen, das die bisherige Bilanzierungspraxis bei Pensionsrückstellungen geändert hat. Die Veräußerung von Pensionsansprüchen
würde ohne gesetzliche Eingriffe beim Veräußerer soge154
nannte stille Lasten heben, die auf einen Schlag zu
erheblichen Steuerausfällen führten. Bei der Ausgliederung von Verpflichtungen realisiert der Übertragende
Verluste, sogenannte stille Lasten; der Erwerber realisiert einen Gewinn. Für den Fall, dass wir nicht eingreifen, beziffern die Bundesländer die möglichen Steuerausfälle auf 15 Milliarden Euro. Wir müssen dieses
Gesetz bis zum 31. Dezember dieses Jahres verabschieden, das heißt, es muss auch den Bundesrat noch rechtzeitig erreichen.
Durch bereits in der Vergangenheit erfolgte Steuergestaltungen, die manche Kreditinstitute auch gezielt gefördert haben, sind bisher schon Steuerausfälle von
knapp 4 Milliarden Euro entstanden. Das heißt, wir müssen jetzt dringend handeln. Wir alle wissen: Wir brauchen Geld, nicht nur für die Umsetzung des Koalitionsvertrags, sondern auch für alles mögliche andere.
Das Vermittlungsverfahren im Bundesrat hat sich ein
bisschen hingezogen; es ging über den Sommer, ist aber
jetzt abgeschlossen. Der vorliegende Gesetzentwurf entspricht der Einigung im Bundesrat. Der gefundene Kompromiss ist meiner Meinung nach für alle Seiten tragbar.
Sowohl Verluste als auch Gewinne sollen steuerlich über
einen längeren Zeitraum verteilt werden, also nicht
schlagartig realisiert werden können, was ja zu erheblichen Steuerausfällen führt. Verluste können steuerlich
über 15 Jahre verteilt werden. Damit sind die Steuerausfälle erträglich. Die Regelung führt immer noch zu geringen Mindereinnahmen, aber damit müssen wir leben.
Es geht eben um Pensionsrückstellungen, und die sind
steuerlich geltend zu machen. Auf der Seite des erwerbenden Unternehmens werden die Gewinne nach der gesetzlichen Neuregelung voll einbezogen, zeitlich unbegrenzt. Das heißt, da findet eine Besteuerung statt. Auf
diese Weise kann die öffentliche Hand die Steuerausfälle
infolge der geltend gemachten Verluste weitestmöglich
kompensieren.
Für Altfälle, die vor dem Tag des BFH-Urteils entstanden sind, also vor dem 14. Dezember 2011, wird
- auch das war im Bundesrat lange sehr umstritten Vertrauensschutz gewährt. In den Fällen kann der Anschaffungsertrag, der Gewinn, die Differenz zwischen
dem niedrigeren Steuerbilanzwert und dem höheren
Handelsbilanzwert, steuerlich über 20 Jahre verteilt werden. Ich denke, das ist eine ganz gute Regelung; sie stellt
den Vertrauensschutz sicher. Neben der Verhinderung
von Steuersparmodellen mittels Hebung dieser stillen
Lasten beinhaltet der Gesetzentwurf eine Reihe weiterer
wichtiger Neuregelungen. Mein Kollege Lothar Binding
wird dies noch detailliert ausführen. Ich will nur kurz andeuten: Es gab die Diskussion, ob man Investmentkommanditgesellschaften für Pensionsansprüche schaffen
sollte. Wir waren eher der Meinung, dies nicht zu tun;
denn das führte nicht zu einer Steuervereinfachung. Hier
konnten wir uns aber nicht komplett durchsetzen. Jetzt
haben wir eine strikte Zweckbindung der InvestmentKG an die Abdeckung der betrieblichen Altersvorsorgeverpflichtungen. Es ist trotzdem noch relativ kompliziert. Aber wir hoffen, dass es sinnvoll ist.
Des Weiteren wird es Regelungen geben, um das
FATCA-Abkommen zum Austausch von Steuerdaten
mit den USA oder in Zukunft auch mit anderen Staaten
zu ermöglichen. Auch hierfür bilden wir heute die gesetzliche Grundlage. Details, auch zum Thema „Goldfinger“ - das hat nichts mit James Bond zu tun, ist aber
auch recht interessant -, wird mein Kollege weiter ausführen.
Ich appelliere noch einmal an Sie alle, obwohl wir die
erste, zweite und dritte Lesung sehr kompakt machen:
Stimmen Sie bitte zu! Es ist sehr wichtig, dass diese
Steuerausfälle nicht entstehen, dass wir dieser Steuergestaltung Einhalt gebieten können.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Es spricht jetzt für die Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär Hartmut Koschyk.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Frau Kollegin Arndt-Brauer hat es schon gesagt: Ein
Ziel des AIFM-Steuer-Anpassungsgesetzes ist das
Schließen von Gestaltungslücken im Investmentsteuerrecht. Aber dieses Gesetz hat noch andere wichtige Bausteine. Gleich zu Beginn möchte ich dem Kollegen
Michael Meister, unserem stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden, aber auch dem nordrhein-westfälischen Finanzminister, Herrn Walter-Borjans, dafür danken, dass
sie im Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat diesen Gesetzentwurf durch hervorragende Arbeit
vorbereitet haben.
({0})
Es hat keinen Sinn mehr, sich darüber den Kopf zu
zerbrechen, warum dieser wunderbare Vermittlungsvorschlag von Michael Meister und Minister WalterBorjans das Parlament am letzten Sitzungstag der Legislaturperiode nicht erreicht hat. Es ist müßig, darüber
nachzusinnen. Jetzt - die Kollegin Arndt-Brauer hat das
zu Recht gesagt - müssen wir auch im Interesse des Erhalts von Steuersubstrat diesen Gesetzentwurf in Bundestag und Bundesrat bis zum Jahresende beschließen.
Ich gehe übrigens davon aus, nachdem dieser Gesetzentwurf die Zustimmung aller Bundesländer im Bundesrat
gefunden hat, dass alle Fraktionen des Bundestages - sie
alle sind ja an Länderregierungen beteiligt, egal ob in
Form von Rot-Rot oder in Form von Rot-Grün - diesem
Vorschlag des Bundesrates, der auf einem Ergebnis des
Vermittlungsausschusses beruht, zustimmen.
Lassen Sie mich noch einmal die zentralen Inhalte
dieses Gesetzentwurfes deutlich machen. Wir müssen
aufgrund der AIFM-Richtlinie notwendige Anpassungen
im Investmentsteuergesetz vornehmen. Wir wollen GeParl. Staatssekretär Hartmut Koschyk
staltungsspielräume im Investmentsteuerrecht beenden.
Wir wollen allerdings auch im Sinne des Standortes
Deutschland die steuerrechtlichen Rahmenbedingungen
schaffen, um die grenzüberschreitende Bündelung von
Altersvorsorgevermögen auch in Deutschland zu ermöglichen. Dafür gibt es einen schönen englischen Begriff:
Pension Asset Pooling. Ich bin immer dafür, dass wir unseren deutschen Mitbürgerinnen und Mitbürgern die
deutsche Übersetzung solcher schwierigen Begriffe erklären, vor allem wenn der Kollege Singhammer heute
dem Bundestag als Präsident vorsteht. Es geht also um
die grenzüberschreitende Bündelung von Altersvorsorgevermögen, was auch im Interesse der pensionsberechtigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland ist.
Die Kollegin Arndt-Brauer hat es bereits gesagt: Wir
haben FATCA unterzeichnet, ein wichtiges Gesetz. Das
zeigt, dass es trotz der Beschwernisse, die wir zu Recht
in Deutschland aufgrund der NSA-Ausspähaffäre haben,
bei wichtigen deutsch-amerikanischen Gesetzesvorhaben bezüglich eines gemeinsamen Vorgehens bei der
Steuergestaltung vorangeht. Dann hat die Kollegin
Arndt-Brauer gesagt, dass wir jetzt endlich dem Gestaltungsmodell „Goldfinger“, was nichts mit James Bond
zu tun hat, einen Riegel vorgeschoben haben. Diesbezüglich haben wir aber auch schon mit einem vorausgehenden Gesetz gehandelt. Jetzt schließen wir das Ganze
ab.
Lassen Sie mich zu der Bündelung grenzüberschreitender Altersvorsorgevermögen kommen. Das ist wichtig, damit auch die Altersvorsorgesysteme grenzüberschreitend zusammengelegt werden können. Von den
Effizienzgewinnen - ich habe es schon gesagt - profitieren am Schluss auch pensionsberechtigte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland.
Natürlich ist es wichtig - das war ja ein Begehr des
Bundesrates -, dass durch diese wichtige Maßnahme, die
dem Investitionsstandort Deutschland dient, keine neuen
Gestaltungsspielräume entstehen. Deshalb haben wir
diese neue Möglichkeit so gestaltet, dass die Gestaltungsspielräume, die auf der einen Seite geschlossen
werden, auf der anderen Seite nicht neu eröffnet werden
können.
Lassen Sie mich noch etwas zu FATCA sagen.
({1})
Das ist ein amerikanisches Gesetzeswerk, der sogenannte Foreign Account Tax Compliance Act, durch den
Amerika einen wichtigen Beitrag geleistet hat, um nichtkooperationswillige Staaten, also Staaten, die nicht bereit sind, Aufklärung bei auslandsbezogenen Steuersachverhalten zu leisten, zum Einlenken zu bewegen.
Insofern war es gut und richtig, dass Deutschland und
andere EU-Staaten mit den USA dieses Abkommen geschlossen haben. Es eröffnet uns jetzt die Möglichkeit,
an auslandsbezogene Sachverhalte in den USA heranzukommen. Aber solche Auskunftsersuchen beruhen immer auf Gegenseitigkeit. Wir wollen Informationen der
Amerikaner zur Aufklärung von Auslandssachverhalten
im Steuerrecht; die Amerikaner wollen Informationen
von uns. Das Ganze muss auf gesetzlicher Grundlage erfolgen. Dabei muss man auch Belange des Datenschutzes berücksichtigen. Das ist in einer Verordnung geregelt.
Schließlich haben wir den „Goldfinger“-Sparmodellen, die es ermöglicht haben, dass Steuerpflichtige durch
den Kauf von Gold künstliche Verluste erzeugen und
sich dadurch einer Besteuerung nach ihrer wahren Leistungsfähigkeit entziehen konnten, im Jahressteuergesetz
den ersten Riegel vorgeschoben. Jetzt schieben wir
dieser Gestaltung endgültig einen Riegel vor. Das zeigt
übrigens, dass wir im Parlament immer, wenn wir erkennen, dass es missbräuchliche Gestaltung gibt, in der
Lage sind, schnell zu reagieren. Das haben wir auch bei
diesen Sachverhalten getan.
Ich darf mich noch einmal bei Michael Meister und
Minister Walter-Borjans bedanken. Wenn die nicht über
den Sommer klug vorgearbeitet hätten,
({2})
könnten wir heute nicht einen so vorzüglichen Gesetzentwurf beschließen.
Jetzt würde ich sagen, liebe Vertreter der Grünen:
Gebt euch einen Ruck und handelt genauso verantwortungsbewusst wie die Grünen, die in den Landesregierungen beteiligt sind, und kartet hier nicht nach! Wir
wissen schon, an wem es gelegen hat, dass wir das in der
letzten Wahlperiode nicht mehr haben beschließen können. Aber jetzt solltet ihr einmal verantwortungsbewusst
handeln, auch als Opposition, und diesem guten Gesetzentwurf eure Zustimmung nicht versagen.
Herzlichen Dank.
({3})
Ich danke dem Staatssekretär, insbesondere für die
zusätzlichen, an das Präsidium gerichteten Erklärungen
und Erläuterungen.
Nächster Redner ist der Kollege Richard Pitterle, Die
Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute ein Gesetz, das einen sehr langen Namen trägt, vereinfacht: AIFM-SteuerAnpassungsgesetz. Mit diesem Gesetz sollen einige
Steuerschlupflöcher geschlossen werden. Das wird von
allen Seiten betont. Der Finanzminister der nordrheinwestfälischen rot-grünen Regierung befürchtet sogar
Milliardenverluste für den Fiskus, wenn das Gesetz
heute nicht beschlossen wird. So weit, so gut.
Aber was mir auffällt, ist, dass auch die Lobbyistenund Interessenverbände der Finanzindustrie dieses Ge156
setz wollen und man fast keine Proteste aus dieser Richtung wahrnimmt. Bei jeder klitzekleinen Regulierung
des Finanzmarktes durch die verflossene schwarz-gelbe
Koalition sah die Finanzindustrie eine Gefahr für die
Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands am Horizont. Ich
frage mich: Warum hier nicht? Mit diesem Gesetz werden zwar Steuerschlupflöcher gestopft; aber Teile des Gesetzes ermöglichen der Finanzindustrie ein profitträchtiges
Geschäftsmodell. Dort geht es um die betrieblichen Pensionskassen. Durch das Gesetz soll in Deutschland das
sogenannte Pension Asset Pooling ermöglicht werden.
Was bedeutet Pension Asset Pooling? Multinationale
Konzerne wollen das Pensionsvermögen der weltweit
für sie tätigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
bündeln und gemeinsam verwalten. Alle gesammelten
Beiträge für die Betriebsrente sollen also zentral angelegt, zentral verwaltet und zentral gesteuert werden. Mit
dieser Bündelung wird zwar einerseits ein höheres Anlagevermögen erzielt, das zu höheren Zinssätzen angelegt
sowie zu niedrigeren Kosten gemanagt werden kann;
andererseits besteht die Gefahr, dass mit einer zentralen Anlagepolitik die Vermögensanlagerisiken stärker
konzentriert werden. So werden Risiken aus Wechselkursschwankungen oder Anlageausfällen zulasten der
Beschäftigten erhöht. Uns erscheint eine dezentrale Anlagepolitik weniger riskant, weil damit im Hinblick auf
das gesamte weltweite Pensionsvermögen eine breitere
und bessere Streuung der anzulegenden Mittel erreicht
werden kann.
({0})
Bisher scheitert das weltweite Pension Asset Pooling
in Deutschland an den bestehenden steuerrechtlichen
Vorschriften. Zwar sehen wir auch, dass andere steuerrechtliche Regelungen Vorteile aufweisen könnten. Doch
für wen? Sicher profitiert der Fiskus, wenn sich die multinationalen Konzerne mit dem gebündelten Vermögen
dem Steuerregime im Lande unterwerfen. Aber auch die
Finanzindustrie - das ist unübersehbar - reibt sich schon
die Hände. Nach einer Untersuchung der Personalberatung Towers Watson betrugen allein die von den DAX30-Unternehmen angesammelten Pensionsvermögenswerte zum Jahresende 2012 circa 193 Milliarden Euro.
Das Volumen aller für ein Pooling in Betracht kommenden Pensionsvermögenswerte ist noch erheblich größer,
wenn man die übrigen deutschen Unternehmen sowie
ausländische Unternehmen einbezieht.
Die Linke sagt: Wenn es um die Pensionskassen der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geht, dann können die Geschäftsinteressen der Finanzindustrie nicht die
entscheidende Leitlinie sein.
({1})
Daher können wir diesem Teil des Gesetzes nicht zustimmen.
Wenn wir uns heute enthalten, dann deswegen, weil
das Gesetz weitere Inhalte enthält, mit denen tatsächlich
Steuerschlupflöcher geschlossen werden. Das betrifft
zum Beispiel die Vermeidung von Steuerausfällen in einer möglichen Höhe von 15 Milliarden Euro, indem man
auf die neue Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs zur
unterschiedlichen Gewinnermittlung nach Handels- und
Steuerrecht beim Verkauf von Betrieben reagiert. Hier
soll und muss dringend das Schlupfloch möglicher Steuergestaltungsmodelle geschlossen werden.
Schließlich soll durch das Gesetz die Möglichkeit unterbunden werden, mithilfe von Rohstoffkäufen, sogenannten „Goldfinger“-Geschäften, Steuern zu sparen.
Mit diesen Geschäften hatten gut betuchte Menschen
über Gold- und andere Rohstofffirmen nach britischem
Recht ihre Steuerlast drücken können. Das soll künftig
mit dem Gesetz unterbunden werden. Dem wollen wir
nicht entgegentreten.
({2})
Nächster Redner ist Dr. Thomas Gambke, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Keine Frage:
Die Verabschiedung dieses Gesetzes ist unabdingbar.
Aber das Gesetz ist handwerklich einfach nicht in Ordnung. Ich werde Ihnen erläutern, warum wir uns nicht zu
einer Enthaltung, sondern sogar zu einer Ablehnung entschieden haben.
({0})
- Weil wir nicht „hoffen“ wollen, Frau Arndt-Brauer,
dass da etwas in Ordnung gebracht wird, wie Sie sich
ausgedrückt haben, sondern angesichts des Volumens
und der Bedeutung „wissen“ wollen.
({1})
Richtig, der Gesetzentwurf wurde in der 17. Legislaturperiode beraten; Frau Tillmann hat heute im Ausschuss darauf hingewiesen. Aber, Frau Tillmann, die
SPD hatte ihn damals abgelehnt und der Bundesrat ebenfalls.
({2})
Der Gesetzentwurf ging dann in den Vermittlungsausschuss, und zwar aus gutem Grund: Er musste überarbeitet werden. Frau Arndt-Brauer hat das Problem gerade
am Beispiel der stillen Lasten beschrieben. Es kamen
noch andere wichtige Gesichtspunkte hinzu, zum Beispiel die „Goldfinger“-Regelung - darüber ist schon gesprochen worden -; aber es kam eben zu keiner Verabschiedung. Ich war im Vermittlungsausschuss dabei, als
wir den zentralen Punkt „Asset Pooling“ und die neu
einzurichtende Kommanditgesellschaft besprochen haben. Meine Damen und Herren von der Regierung, in
diesem Punkt haben Sie versagt;
({3})
denn es hätte die Möglichkeit bestanden - und sie besteht noch heute -, diesen fraglichen Aspekt getrennt zu
verhandeln und den Rest, der unsere Zustimmung finden
würde, hier vorzutragen und zu verabschieden.
Ich will erläutern, warum das so gefährlich ist - Kollege Pitterle hat darauf hingewiesen -: Das Volumen,
über das wir hier reden, entspricht zwei Dritteln des
Bundeshaushaltes. Wir reden also über mehrere Hundert
Milliarden Euro, die in den Pools gesammelt werden.
Wenn dann über eine transparente Besteuerung eine
Steuergestaltung im Ausland ermöglicht wird - und in
Ihrem eigenen Umdruck Nr. 8 erwähnen Sie diese Möglichkeit -, woraufhin der Bundesrat in seine Begründung
schreibt, es seien möglicherweise keine Korrekturen,
sondern neue gesetzliche Vorhaben notwendig, um die
vorhandenen Löcher zu stopfen, dann kann ich nicht verstehen, dass Sie dieses Gesetz heute in der vorliegenden
Form verabschieden wollen.
({4})
Herr Koschyk, ein Wort zum Thema Länder. Die Länder waren sich der Problematik bewusst. Angesichts des
Volumens, um das es hier geht, haben die Länderfinanzminister gesagt: Bei einem möglichen Streit können wir
den Streitwert nicht schultern; das heißt, im Falle einer
gerichtlichen Auseinandersetzung könnten wir nicht den
Klageweg beschreiten, weil der Streitwert zu hoch ist.
Deshalb müssen wir das wieder zurück in die Verantwortung der Bundessteuerverwaltung geben. - So ist das
dann auch im Vermittlungsausschuss beschlossen worden. Das heißt: Nicht die Länder haben den Schwarzen
Peter, sondern wir haben ihn wieder. Deshalb verstehe
ich nicht, wie Sie aus Sicht des Bundes einer Übernahme
der Risiken zustimmen können.
({5})
Ich will noch einen Punkt ansprechen, der erst kürzlich bekannt wurde und mich sehr betroffen gemacht hat.
Es gibt Hinweise darauf - wir prüfen das zurzeit -, dass
dieses Gesetz von einer internationalen Steuerkanzlei
ausgearbeitet wurde. Dabei wissen wir doch, dass die
Ausarbeitung eines Gesetzesvorhabens durch eine Kanzlei bedeutet, dass dieselbe Steuerkanzlei ihre Leistungen
gleich an einen Konzern verkaufen kann, und da sie sich
im Grunde genommen besser mit Steuerschlupflöchern
auskennt als die Finanzverwaltungen, trägt sie dann
möglicherweise dafür Sorge, dass nicht versteuerte Gewinne ins Ausland transferiert werden können. Ich kann
einfach nicht verstehen, wie solch eine Gesetzesvorlage
hier zur Abstimmung vorgelegt werden kann. Wie können Sie dafür Verantwortung übernehmen?
({6})
Der SPD kann ich nur sagen: Wir haben eine gewisse
gemeinsame Verantwortung in Bezug auf die Hedgefonds. Warum haben Sie nicht aus den Fehlern gelernt?
Wenn man einmal einen Fehler macht, dann ist das okay;
aber Sie gehen ein zweites Mal ein so hohes Risiko ein.
Ich verstehe nicht, wie Sie aus Ihrer Ablehnung auf einmal eine Zustimmung machen können.
({7})
Ganz zum Schluss möchte ich noch etwas zum Verfahren sagen. Es hätte die Möglichkeit gegeben, das Gesetz in einen funktionierenden Ausschuss einzubringen.
Heute Morgen haben wir darüber geredet. Wenn Sie das
Thema „Pension Pooling“ abgetrennt hätten, hätten wir
im Übrigen schon im Sommer ein Gesetz gehabt - einschließlich FATCA, „Goldfinger“ und all den anderen
Gestaltungsmöglichkeiten -, das wir hier in großer Einigkeit in Ruhe hätten verabschieden können. SPD und
Union haben sich im Koalitionsvertrag sogar vorgenommen - ich habe es gestern gelesen -, ein Investmentsteuergesetz auf den Weg zu bringen. Warum, um Gottes
Willen, haben Sie das nicht getan, sondern diesen kritischen Teil hineingebracht? Warum wollen Sie kein ordentliches Gesetz verabschieden? Diesem Gesetz können wir so nicht zustimmen.
Vielen Dank.
({8})
Es spricht jetzt Kollege Lothar Binding, SPD.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr verehrte Damen und Herren! Auf die Verdächtigungen, die Thomas Gambke geäußert hat, möchte ich jetzt
nicht eingehen. Ich glaube, wir warten ab, bis sie belegt
sind. Es ist natürlich sehr schwierig, das hier zu reflektieren. Ich finde es auch schwierig, das an diesem Ort
vorzutragen, ohne Belege vorzulegen. Die Praktiker in
den Ländern, auch die Praktiker der Grünen, irritiert das;
denn sie sehen das offenbar anders. Ich habe so ein bisschen den Eindruck, dass die Grünen ablehnen, weil die
Zustimmung gesichert ist.
Es ist verständlich, dass die Grünen diesen Gesetzentwurf ablehnen wollen, weil er möglicherweise Fehler
enthält. Ich will gar nicht ausschließen, dass er Fehler
enthält. Der Gesetzentwurf kann Fehler enthalten. Wir
alle behaupten nicht, absolut fehlerfrei zu arbeiten. So
selbstsicher sind wir nicht. Für die Korrektur von Fehlern gibt es aber die Möglichkeit der Novellierung. Die
Grünen lehnen aber noch viel mehr ab - ich will nur die
Stichworte nennen -: Sie lehnen auch die Regelungen
gegen die internationale Gestaltung über Ausschüttungsreihenfolgen ab; sie lehnen die Regelungen gegen das
Bond-Stripping ab; sie lehnen die Regelungen gegen die
Gestaltung über Werbekostenabzugsregelungen ab; sie
lehnen die Regelungen gegen die „Goldfinger“-Gestaltungen ab. Durch eine Ablehnung würden der internationalen Finanzindustrie Schlupflöcher ohne Ende geöffnet.
Wollen Sie das?
({0})
Richard Pitterle hat gesagt, dass er den Aufschrei der
Finanzindustrie vermisst. Ich finde, allein das Fehlen einer Beschwerde seitens der Industrie oder einer gesellschaftlichen Gruppe ist noch kein hinreichender Beleg
dafür, dass ein Gesetzentwurf schlecht ist. Es könnte ja
Lothar Binding ({1})
auch sein, dass der Aufschrei ausbleibt, weil große Teile
in Ordnung sind.
Was wollen wir mit dem Gesetz erreichen? Das ist ein
Investmentfondsbesteuerungsgesetz. Jetzt kann man sagen: Das haben wir doch schon geregelt. Wo ist eigentlich das Problem? - Der eine Grund für diesen Gesetzentwurf ist eine europäische Regelung. Der andere
Grund ist, dass wir klassische Fonds schon immer sehr
vorsichtig besteuert haben, weil die Erträge ihrer Kunden an anderer Stelle besteuert werden. Der klassische
Fonds sammelt Geld ein und investiert es. Dabei geht es
aber nicht um ein Schiff oder die Filmindustrie. Der
klassische Fonds ist auch kein Hedgefonds. Er engagiert
sich nicht im Private-Equity-Bereich. Den grauen Markt
wollen wir nicht schützen. Genau das ist das Problem,
das wir heute lösen wollen: Wir wollen die guten Fonds
in steuerlicher Hinsicht gewissermaßen schützen und die
bösen erfassen. Die Grenze zwischen diesen beiden Seiten zu finden, ist natürlich extrem schwierig. Wo hört die
reine Spekulation auf, und ab wann ist die Realwirtschaft betroffen? Ziel ist es, diese Grenze zu definieren.
Wir haben ein kleines Problem. Mit dem Kapitalanlagegesetzbuch, das wir indiziert durch europäische Gesetzgebung aufgelegt haben - in diesem Zusammenhang
kümmern wir uns um Hedgefonds und solche Sachen -,
ist das Investmentgesetz aufgehoben worden. Jetzt ist es
dummerweise so, dass sich das Investmentsteuergesetz
auf dieses Investmentgesetz bezieht, das es aber nicht
mehr gibt. Das heißt, wir haben ein Gesetz, das sich auf
ein anderes bezieht, das es nicht mehr gibt. Jetzt hat der
Bundesfinanzminister gesagt: Das ist ein Problem. Worauf beziehen wir uns, wenn es das Gesetz nicht mehr
gibt? Wir legen ein BMF-Schreiben auf, also eine Richtlinie, die besagt, dass das Gesetz, das es nicht mehr gibt,
doch noch in Kraft ist.
({2})
Das ist eine Hilfsmaßnahme, die zwar hilft, aber keine
Rechtssicherheit schafft. Wir wollen aber Rechtssicherheit, eine vernünftige Basis für die Leute, die diese Gesetze anwenden.
({3})
- Genau, nach dem Stichwort „Rechtssicherheit“ hätte
Applaus kommen müssen. Das ist nämlich ein Hauptziel, das mit dem AIFM-Steuer-Anpassungsgesetz verfolgt wird. Es soll die Lücke schließen und das BMFSchreiben, diese Richtlinie, überflüssig machen. Insofern hat dieser Gesetzentwurf heute Zustimmung verdient.
({4})
Man muss auch darauf hinweisen, warum heute Eile
geboten ist. Man könnte doch sagen: Das machen wir
nächstes Jahr. Die Antwort ist einfach: Es geht um große
Beträge - das haben wir gehört -, und die meisten Kapitalerträge werden bekanntlich am Jahresende besteuert.
Wenn wir dieses Gesetz nicht mehr in diesem Jahr verabschieden, dann hätten alle Gestaltungsmöglichkeiten,
die ich eingangs genannt habe, für dieses Jahr Rechtsgültigkeit.
({5})
Die Steuererträge wären weg. Das wäre auch mit Blick
auf die Ausgabenwünsche der Grünen schade. Wir wollen diese Steuereinnahmen sichern. Deshalb werden wir
dieses Gesetz noch in diesem Jahr in Kraft treten lassen,
damit das gesamte Jahr 2013 erfasst ist.
({6})
Deshalb steht auch in dem entsprechenden Paragrafen, dass es auf das Wirtschaftsjahr anzuwenden ist.
Vielleicht noch eine ganz kleine Formalie: Wer die
Begründung zu dem entsprechenden § 52 des Einkommensteuergesetzes liest, der findet etwas anderes. Dort
steht nämlich: „anzuwenden … nach dem Tag der Verabschiedung“. Das ist ein kleiner Fehler, betrifft aber nur
die Begründung. Das können wir heute nicht mehr korrigieren; dazu müsste ein Antrag gestellt werden. Wir wissen, dass wir die Begründung nicht beschließen und dass
sich die Menschen bei der Gesetzesanwendung nicht auf
eine Begründung beziehen, sondern auf das Gesetz, und
im Gesetz steht es korrekt. Das wollte ich nur der Vollständigkeit halber auch für das Protokoll erwähnen; denn
das ist für jemanden, der ein Gesetz puristisch liest, eine
kleine Auffälligkeit.
Jetzt schaffen wir eine Investmentkommanditgesellschaft, und man fragt sich, ob das klug ist oder nicht. Wir
schaffen eine eigene Rechtsform, um letztendlich hier
ein Problem zu lösen, das an einer anderen Stelle ziemlich kompliziert beschrieben ist. Die Antwort ist: Das ist
deshalb nötig, weil wir für diese Fonds eine transparent
zu besteuernde Gesellschaft brauchen. Was heißt eigentlich „transparent“? Transparent heißt ja durchsichtig.
Solch ein Unternehmen sieht der Finanzminister nicht,
weil dieses Unternehmen überhaupt keine Steuern zahlt,
sondern der Finanzminister sieht nur den Menschen,
dem dieses Unternehmen gehört; dieser muss dann Steuern zahlen.
Beim Pension Asset Pooling - darüber haben wir
heute schon viel gelernt - ist es so, dass bestimmte steuerliche Regelungen der USA in Deutschland nur für
transparente Unternehmen gelten sollen. Deshalb wollen
wir das einführen. Unsere Unternehmen sollen keine
Nachteile dadurch haben, dass die USA für nicht transparente Unternehmen in Deutschland, zum Beispiel Körperschaften, diese Regel nicht zulassen. Um diese Regelungskonformität international zu etablieren, brauchen
wir diese Kommanditgesellschaft, diese IKG. Ihre Schaffung ist natürlich insofern ärgerlich, weil sie vielleicht
neue Schlupflöcher eröffnet. Deshalb wollen wir es nur
auf diesen einen Anwendungsfall konzentrieren.
Jetzt könnte man noch fragen: Warum macht ihr jetzt
eigentlich so etwas Kompliziertes, ihr wollt das Investmentsteuerrecht doch sowieso im großen Stil korrigieren? Die Antwort ist, dass wir hier freundlich gegenüber
denjenigen sind, die sich in diesem Metier bewegen.
Deshalb greifen wir mit dieser Spezialregelung vor. Wir
werden uns sicherlich vornehmen müssen, die InvestLothar Binding ({7})
mentbesteuerung in den nächsten Jahren noch einmal
komplett anzugehen, natürlich europarechtskonform, das
ist klar. Aber als Vorgriff auf diese globale Lösung ist
das heute ein sehr guter erster Schritt. Ich hoffe, dass Sie
mir da folgen können.
Vielen Dank und alles Gute.
({8})
Abschließende Rednerin in dieser Aussprache ist die
Kollegin Antje Tillmann, CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
haben heute Morgen darüber diskutiert, dass es schade
ist, dass der Deutsche Bundestag jetzt schon seit mehreren Monaten in keinem geordneten Verfahren berät. Die
Debatte zeigt, dass das nicht stimmt. Aber die Debatte zu
diesem Gesetzentwurf zeigt auch, dass es auf keinen Fall
an der künftigen Koalition liegt, dass in den vier Monaten, in denen keine regelmäßigen Sitzungswochen stattfanden, keine Gesetze verabschiedet wurden. Denn wir
hätten im September dieses Jahres sehr wohl das AIFMSteuer-Anpassungsgesetz verabschiedet. Wir hatten drei
Monate Zeit, diesen Gesetzentwurf zu verhandeln. Wir
hatten eine erste, zweite und dritte Lesung im Bundestag. Wir hatten im Vermittlungsausschuss darüber beraten. Wir hatten einen Kompromiss, der heute in derselben Form wieder eingebracht wird, übrigens von der rotgrünen Landesregierung unterstützt, Herr Dr. Gambke.
({0})
Wir hätten den Bürgerinnen und Bürgern und den
Kleinanlegern schon drei Monate früher die Rechtssicherheit geben können, die wir ihnen heute geben wollen. Herr Dr. Gambke, Sie sind der Einzige, den ich
heute kritisieren darf. Mit den anderen sind wir ja künftig befreundet.
({1})
Diese Verzögerung hätten wir uns ersparen können. Von
daher hoffe ich, dass wir jetzt auf dem Weg sind, diesen
Gesetzentwurf zu verabschieden. Mein Kollege Binding
hat deutlich gesagt: Die Rechtssicherheit hätte eigentlich
zum 1. Juli 2013 schon bestehen müssen, Rechtssicherheit nicht in Bezug auf irgendwelche bizarren Finanzinstrumente, sondern für die Kleinanleger, für die Sparer,
für diejenigen, die vielleicht ihre Altersvorsorge auch in
Fonds investieren und über denen jetzt noch das Damoklesschwert der Besteuerung schwebt. Von daher ist es
eilig. Ich glaube, es ist auch an der Zeit, dass wir uns entscheiden. Denn jedes Argument ist ausgetauscht, und
wir haben, Gott sei Dank, heute in der Debatte nur die
Kollegen, die die intensive Beratung im letzten Bundestag mitgemacht haben.
Dieses Gesetz steht - das ist schon gesagt worden ganz extrem unter der Überschrift „Kampf gegen Steuerhinterziehung und Steuergestaltungen“. Wir gehen gegen
Bond-Stripping vor; diese ganzen Steuergestaltungen
haben ja schicke Namen. Wir verhindern, dass mit Invesmentfonds in Anleihen Zinsscheine und Anleihen
auseinandergenommen und voneinander getrennt in verschiedenen Geschäftsjahren besteuert werden; denn
diese Steuergestaltung führt zu Steuerverlusten. Dieser
Umgehung schieben wir einen Riegel vor. Bond-Stripping ist mit dem Inkraftsetzen dieses Gesetzes nicht
mehr möglich.
Wir werden auch sicherstellen, dass nur die Werbungskosten abzugsfähig sind, bei denen Erträge in
Deutschland versteuert werden. Diejenigen, die hier versteuern, dürfen damit zusammenhängende Aufwendungen natürlich abziehen. Aber wenn die Erträge in
Deutschland steuerfrei sind, dürfen auch damit zusammenhängende Aufwendungen künftig nicht mehr die
deutsche Steuer mindern.
Das Gleiche machen wir bei der Ausschüttungsreihenfolge. Wir regeln im Gesetz erstmalig die Ausschüttungsreihenfolge, um sicherzustellen, dass Erträge nicht
über Jahre durch dauerhafte Thesaurierung der Besteuerung entzogen sind und damit in der Finanzplanung des
Finanzministers keine Rolle spielen.
Herr Dr. Gambke, ich weiß nicht, ob dieser Gesetzentwurf von einer Rechtsanwalts- oder Steuerberatungskanzlei erstellt worden ist. Aber ich weiß, dass wir zumindest an zwei Punkten die Änderungsanträge selber
formuliert haben:
Die erste Frage lautete, ob wir OGAW genauso behandeln wie alternative Investmentfonds. Da haben wir
nämlich noch eine Verschärfung in den Gesetzentwurf
hineingebracht. Selbst OGAW müssen sich der Kontrolle unterziehen, ob der zugrundeliegende Zweck tatsächlich förderfähig ist.
Bei der zweiten Frage ging es um die Möglichkeit, in
erneuerbare Energien zu investieren; das dürfte ja eigentlich Ihre Zustimmung finden. Diese Möglichkeit haben wir in dem Gesetzentwurf zusätzlich geschaffen.
Wir haben die Einschränkung selbst formuliert, dass die
neue Investment-KG ausschließlich auf Pensionsvermögen anwendbar ist. Der ursprüngliche Gesetzentwurf
war weitgehender. Da wir in den Beratungen die Möglichkeit erkannt haben, dass damit Steuergestaltungen
vorgenommen werden, haben wir sie durch einen eigenen Änderungsantrag eingeschränkt.
Herr Pitterle, Sie haben gesagt, Sie möchten nicht,
dass Pensionsvermögen zentralisiert in einzelne Anlageformen fließt. Aber das ist ja gar nicht das Problem. Es
ist nicht das Problem, welche Investitionen man mit diesen Anlagen tätigt, sondern wo sie verwaltet werden. Sie
alle tun, was die Risiken betrifft, so, als würden PensionAsset-Fonds in der Welt nicht existieren. Doch, sie existieren schon jetzt. Sie existieren heute an der deutschen
Steuer vorbei. Sie existieren heute an der deutschen Aufsicht vorbei.
({2})
Sie existieren als deutsches Altersvermögen, das ich sehr
viel lieber unter deutscher Kontrolle und in deutscher
Verwaltung hätte als in irgendeinem Schattenstaat, den
wir überhaupt nicht kontrollieren können.
({3})
Aus meiner Sicht ist genau das Gegenteil richtig: Wir
haben mehr Kontrolle über die Altersvermögen der Angestellten und der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der
Unternehmen, indem wir es hier unter Aufsicht stellen.
Wir haben ja schon im ersten Durchgang verabredet,
dieses Modell selbstverständlich im Auge zu behalten.
Jede größere Steuerrechtsänderung müssen wir nach einiger Zeit überprüfen. Wir müssen prüfen, ob die Folgen, die wir erwartet haben, auch eingetreten sind oder
ob andere, schädliche Folgen eingetreten sind. Deshalb
werden wir dieses Gesetz natürlich im Auge behalten
und überprüfen.
Wir haben die Möglichkeit des transparenten Informationsaustausches geschaffen. Das Wort „FATCA“ ist
schon gefallen, der Begriff „Goldfinger“ schon erklärt
worden. Frau Arndt-Brauer hat auch die Pensionsverpflichtungen angesprochen.
Wir haben uns im Rahmen der Beratungen dieses Gesetzentwurfes auch mit zwei fachfremden Themen befasst, die heute noch nicht angesprochen worden sind. In
der letzten Legislaturperiode haben wir in zwei Schritten
den Grundfreibetrag angehoben. Wir haben die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland um 2 Milliarden Euro
entlastet, indem wir den Grundfreibetrag an die Inflation
angepasst haben. Wir wollten keine Steuern einnehmen,
die nur durch eine verringerte Kaufkraft entstanden wären. Mit diesem Gesetzentwurf wollen wir bei den Unterhaltsfreibeträgen nach § 33 des Einkommensteuergesetzes in gleicher Höhe auch diejenigen begünstigen, die
andere Angehörige oder nahestehende Personen unterhalten. Das heißt, wir haben nicht nur diejenigen, die selber Steuern zahlen, entlastet, sondern wir entlasten auch
diejenigen, die Hilfe leisten. Wir stärken damit Familien,
den familiären Verbund und die Solidarität in den Familien.
Zu einem letzten Punkt, der ein bisschen klein daherkommt. Wir haben für Brandunterstützungsvereine
Sicherheit geschaffen. In ganz vielen - über 100 - Vereinen haben sich Firmen zu Brandunterstützungsvereinen
zusammengetan, um sich gegen die Gefahr von Bränden
abzusichern. Bei diesen Vereinen gab es hinsichtlich der
Versteuerung große Unsicherheit. Auch für diese Vereine haben wir über einen Freibetrag Rechtssicherheit
geschaffen, wir erkennen das Engagement zugunsten der
Sicherheit von Betrieb und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern steuerlich an. Auch das ist ein Riesenvorteil
dieses Gesetzes, auch darauf warten Vereine und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Deshalb ist es gut und
richtig, wenn wir dieses Gesetz heute verabschieden.
Ich bin mir ziemlich sicher: Auch wenn wir das Gesetz in dieser Fassung noch vier Wochen weiter diskutieren würden, würde Herr Dr. Gambke trotzdem nicht zustimmen. Also spricht nichts dagegen, es heute zu
verabschieden. Wir schaffen damit Rechtssicherheit für
alle Bürgerinnen und Bürger.
Danke.
({4})
Hiermit schließe ich die Aussprache.
Die Fraktionen der CDU/CSU, SPD und der Linken
haben fristgemäß beantragt, gemäß § 80 Abs. 2 unserer
Geschäftsordnung ohne Ausschussüberweisung in die
zweite Beratung einzutreten. Die zweite und die dritte
Beratung sollen jetzt gleich im Anschluss erfolgen.
Wir kommen jetzt zunächst zur Abstimmung über die
Verfahrensweise in Form eines Geschäftsordnungsantrags. Zur Annahme dieses Geschäftsordnungsantrags ist
wiederum eine Zweidrittelmehrheit der anwesenden
Mitglieder erforderlich. Deshalb frage ich jetzt zuerst
- bitte Handzeichen geben -: Wer stimmt für den Geschäftsordnungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Eine Zweidrittelmehrheit ist gegeben
durch Zustimmung der Mitglieder der CDU/CSU und
der SPD und einem Teil der Linksfraktion bei Gegenstimmen der Grünen. Damit ist nach § 80 Abs. 2 der Geschäftsordnung diese Form der Abstimmung mit der erforderlichen Mehrheit angenommen. Wir treten daher
unmittelbar in die zweite und die dritte Beratung ein.
Zur zweiten Beratung liegt der Bericht des Hauptausschusses als Haushaltsausschuss nach § 96 Abs. 4 der
Geschäftsordnung auf Drucksache 18/113 vor.
({0})
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf auf
Drucksache 18/68 ({1}) zustimmen wollen, um das
Handzeichen. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Bei Zustimmung der Fraktion
der CDU/CSU und der SPD und Gegenstimmen der
Fraktion der Grünen und bei Enthaltung der Fraktion der
Linken ist dieser Gesetzentwurf damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Bei Zustimmung der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD, bei
Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und
Enthaltung der Linken ist dieser Gesetzentwurf damit
angenommen.
Ich gebe jetzt das von den Schriftführerinnen und
Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen
Vizepräsident Johannes Singhammer
Abstimmung zum Antrag auf Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der AU/UNHybrid-Operation in Darfur, UNAMID, bekannt: abgegebene Stimmen 573. Mit Ja haben gestimmt 512. Mit
Nein haben gestimmt 59. Enthalten haben sich 2 Mitglieder des Hauses. Der Antrag ist damit angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 571;
davon
ja: 511
nein: 58
enthalten: 2
Ja
CDU/CSU
Stephan Albani
Katrin Albsteiger
Artur Auernhammer
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Maik Beermann
Manfred Behrens ({2})
Veronika Bellmann
Sybille Benning
Dr. Andre Berghegger
Dr. Christoph Bergner
Ute Bertram
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexandra Dinges-Dierig
Alexander Dobrindt
Michael Donth
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Hansjörg Durz
Jutta Eckenbach
Dr. Bernd Fabritius
Hermann Färber
Uwe Feiler
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer ({3})
Axel E. Fischer ({4})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Thorsten Frei
Dr. Astrid Freudenstein
Dr. Hans-Peter Friedrich
({5})
Michael Frieser
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Cemile Giousouf
Ursula Groden-Kranich
Hermann Gröhe
Klaus-Dieter Gröhler
Astrid Grotelüschen
Manfred Grund
Oliver Grundmann
Dr. Herlind Gundelach
Monika Grütters
Fritz Güntzler
Christian Haase
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Matthias Hauer
Mark Hauptmann
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich ({6})
Mark Helfrich
Jörg Hellmuth
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Dr. Heribert Hirte
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Alexander Hoffmann
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Dr. Hendrik Hoppenstedt
Margaret Horb
Bettina Hornhues
Charles M. Huber
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Erich Irlstorfer
Thomas Jarzombek
Sylvia Jörrißen
Dr. Franz Josef Jung
Xaver Jung
Andreas Jung ({7})
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Steffen Kanitz
Alois Karl
Anja Karliczek
Bernhard Kaster
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Dr. Georg Kippels
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Markus Koob
Carsten Körber
Kordula Kovac
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Rüdiger Kruse
Dr. Roy Kühne
Uwe Lagosky
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Barbara Lanzinger
Dr. Silke Launert
Dr. Katja Leikert
Dr. Andreas Lenz
Philipp Graf Lerchenfeld
Antje Lezius
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Andrea Lindholz
Patricia Lips
Wilfried Lorenz
Dr. Claudia Lücking-Michel
Dr. Jan-Marco Luczak
Karin Maag
Yvonne Magwas
Thomas Mahlberg
Gisela Manderla
Matern von Marschall
Andreas Mattfeldt
Dr. Michael Meister
Jan Metzler
Maria Michalk
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Karsten Möring
Elisabeth Motschmann
Dr. Gerd Müller
Carsten Müller
({8})
Stefan Müller ({9})
Dr. Philipp Murmann
Dr. Andreas Nick
Michaela Noll
Helmut Nowak
Wilfried Oellers
Florian Oßner
Dr. Tim Ostermann
Henning Otte
Ingrid Pahlmann
Sylvia Pantel
Dr. Martin Pätzold
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Ronald Pofalla
Kerstin Radomski
Alexander Radwan
Alois Rainer
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({10})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({11})
Anita Schäfer ({12})
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Jana Schimke
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Heiko Schmelzle
Christian Schmidt ({13})
Gabriele Schmidt ({14})
Patrick Schnieder
Nadine Schön ({15})
Bernhard Schulte-Drüggelte
Dr. Klaus-Peter Schulze
Uwe Schummer
Armin Schuster ({16})
Christina Schwarzer
Detlef Seif
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Johannes Singhammer
Tino Sorge
Vizepräsident Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Wolfgang Stefinger
Albert Stegemann
Peter Stein
Erika Steinbach
Sebastian Steineke
Johannes Steiniger
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Rita Stockhofe
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Matthäus Strebl
Thomas Stritzl
Thomas Strobl ({17})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Sabine Sütterlin-Waack
Dr. Peter Tauber
Astrid Timmermann-Fechter
Dr. Volker Ullrich
Arnold Vaatz
Oswin Veith
Thomas Viesehon
Michael Vietz
Volkmar Vogel ({18})
Sven Volmering
Christel Voßbeck-Kayser
Kees de Vries
Marco Wanderwitz
Nina Warken
Kai Wegner
Albert Weiler
Marcus Weinberg ({19})
Dr. Anja Weisgerber
Peter Weiß ({20})
Sabine Weiss ({21})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Marian Wendt
Kai Whittaker
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese ({22})
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Oliver Wittke
Dagmar G. Wöhrl
Barbara Woltmann
Tobias Zech
Heinrich Zertik
Emmi Zeulner
SPD
Niels Annen
Rainer Arnold
Heike Baehrens
Ulrike Bahr
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Katarina Barley
Doris Barnett
Klaus Barthel
Dr. Matthias Bartke
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({23})
Burkhard Blienert
Willi Brase
Dr. Karl-Heinz Brunner
Dr. Lars Castellucci
Bernhard Daldrup
Dr. Daniela De Ridder
Dr. Karamba Diaby
Sabine Dittmar
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Siegmund Ehrmann
Michaela Engelmeier-Heite
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Saskia Esken
Karin Evers-Meyer
Dr. Johannes Fechner
Dr. Fritz Felgentreu
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Ulrich Freese
Dagmar Freitag
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Ulrike Gottschalck
Michael Groß
Uli Grötsch
Bettina Hagedorn
Rita Hagl-Kehl
Metin Hakverdi
Ulrich Hampel
Sebastian Hartmann
Michael Hartmann
({24})
Dirk Heidenblut
Hubertus Heil ({25})
Gabriela Heinrich
Wolfgang Hellmich
Dr. Barbara Hendricks
Heidtrud Henn
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Thomas Hitschler
Dr. Eva Högl
Christina Jantz
Reinhold Jost
Frank Junge
Josip Juratovic
Thomas Jurk
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Christina Kampmann
Ralf Kapschack
Gabriele Katzmarek
Ulrich Kelber
Marina Kermer
Cansel Kiziltepe
Arno Klare
Daniela Kolbe ({26})
Birgit Kömpel
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Christine Lambrecht
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Hiltrud Lotze
Kirsten Lühmann
Dr. Birgit Malecha-Nissen
Katja Mast
Klaus Mindrup
Susanne Mittag
Bettina Müller
Michelle Müntefering
Dietmar Nietan
Ulli Nissen
Mahmut Özdemir ({27})
Markus Paschke
Jeannine Pflugradt
Detlev Pilger
Sabine Poschmann
Florian Post
Achim Post ({28})
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Simone Raatz
Martin Rabanus
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Andreas Rimkus
Sönke Rix
Dennis Rohde
Dr. Martin Rosemann
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({29})
Susann Rüthrich
Johann Saathoff
Annette Sawade
Dr. Hans-Joachim
Schabedoth
Axel Schäfer ({30})
Dr. Nina Scheer
Marianne Schieder
({31})
Udo Schiefner
Ulla Schmidt ({32})
Matthias Schmidt ({33})
Dagmar Schmidt ({34})
Ursula Schulte
Swen Schulz ({35})
Ewald Schurer
Stefan Schwartze
Andreas Schwarz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Rainer Spiering
Norbert Spinrath
Svenja Stadler
Martina Stamm-Fibich
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Kerstin Tack
Claudia Tausend
Michael Thews
Wolfgang Tiefensee
Carsten Träger
Rüdiger Veit
Dirk Vöpel
Gabi Weber
Bernd Westphal
Andrea Wicklein
Dirk Wiese
Gülistan Yüksel
Stefan Zierke
Dr. Jens Zimmermann
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Luise Amtsberg
Annalena Baerbock
Marieluise Beck ({36})
Volker Beck ({37})
Ekin Deligöz
Katharina Dröge
Dr. Thomas Gambke
Matthias Gastel
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Anja Hajduk
Dr. Anton Hofreiter
Dieter Janecek
Katja Keul
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Tom Koenigs
Oliver Krischer
Christian Kühn ({38})
Renate Künast
Monika Lazar
Steffi Lemke
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Irene Mihalic
Özcan Mutlu
Dr. Konstantin von Notz
Vizepräsident Johannes Singhammer
Cem Özdemir
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({39})
Corinna Rüffer
Elisabeth Scharfenberg
Ulle Schauws
Dr. Frithjof Schmidt
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Doris Wagner
Beate Walter-Rosenheimer
Dr. Valerie Wilms
Nein
DIE LINKE
Dr. Dietmar Bartsch
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Annette Groth
Dr. Gregor Gysi
Dr. Andre Hahn
Dr. Rosemarie Hein
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Susanna Karawanskij
Kerstin Kassner
Katja Kipping
Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig
Michael Leutert
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Cornelia Möhring
Thomas Nord
Harald Petzold ({40})
Martina Renner
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Dr. Kirsten Tackmann
Azize Tank
Frank Tempel
Kathrin Vogler
Dr. Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Birgit Wöllert
Jörn Wunderlich
Hubertus Zdebel
Sabine Zimmermann
({41})
Enthalten
SPD
Dr. Ute Finckh-Krämer
Petra Hinz ({42})
Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 4 auf:
- Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Gesetzes über Finanzhilfen des Bundes zum Ausbau der Tagesbetreuung für Kinder und zur Änderung
des Kinderbetreuungsfinanzierungsgesetzes
- Drucksache 18/69 - Bericht des Hauptausschusses gemäß § 96
der Geschäftsordnung
- Drucksache 18/112 Wir haben heute Vormittag mit der nach § 80 Abs. 2
unserer Geschäftsordnung erforderlichen Zweidrittelmehrheit beschlossen, jetzt in die zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über Finanzhilfen
des Bundes zum Ausbau der Tagesbetreuung für Kinder
und zur Änderung des Kinderbetreuungsfinanzierungsgesetzes einzutreten.
Der Bericht des Hauptausschusses als Haushaltsausschuss gemäß § 96 Abs. 4 der Geschäftsordnung liegt
auf Drucksache 18/112 vor.
Wir kommen damit unmittelbar zur Abstimmung. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf auf Drucksache 18/69 zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer
stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
mit Zustimmung aller Fraktionen angenommen.
Wir kommen jetzt zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit mit Zustimmung aller Fraktionen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Klaus
Ernst, Susanna Karawanskij, Katja Kipping,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE
LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Einführung eines Mindestlohns ({43})
- Drucksache 18/6 Überweisungsvorschlag:
Hauptausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist der Kollege Klaus Ernst, Die Linke.
({44})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir bringen heute einen Gesetzentwurf ein, der
wortgleich dem Gesetzentwurf ist, der vom Bundesrat
am 1. März 2013 mit der Zustimmung der SPD, der Grünen und der Linken beschlossen wurde. Die Höhe des
Mindestlohns wird in diesem Gesetzentwurf auf
8,50 Euro festgelegt. Wir wissen: Er schützt nicht vor
Altersarmut. Ein Mindestlohn von 10 Euro wäre notwendig, um eine Rente zu erhalten, mit der man im Alter
über der Grundsicherung läge, wenn man 45 Jahre lang
zu einem solchen Lohn gearbeitet hätte.
Wir bringen diesen Gesetzentwurf trotzdem ein, weil
es hier im Deutschen Bundestag eigentlich eine Mehr164
heit dafür gibt. Die SPD, die Grünen und wir, wir alle
haben im Wahlkampf massiv dafür geworben, einen entsprechenden Mindestlohn zu beschließen, und zwar im
Gegensatz zu dem, was im Koalitionsvertrag vereinbart
wurde - ich sage das hier gleich -, für alle und nicht erst
ab 2017, sondern jetzt. Das steht im Gesetzentwurf des
Bundesrates.
({0})
Wir haben hier eine Mehrheit dafür und könnten
wirklich das Unwesen stoppen, dass Menschen trotz
Vollzeitarbeit nicht von ihrem Lohn leben können und
zum Amt gehen müssen, um aufzustocken. Ich sage Ihnen: Ich habe den Eindruck, dass die Wähler - auch die
Wähler der Sozialdemokratischen Partei -, nachdem wir
alle im Wahlkampf dafür geworben haben und auch dafür gewählt wurden, nicht verstehen, warum es hier im
Deutschen Bundestag eine Mehrheit dafür gibt, diese
Mehrheit aber offensichtlich nicht zum Tragen kommt
und wir nicht rasch einen Mindestlohn für alle verabschieden.
({1})
Ich glaube, wenn es Schule macht, dass wir ohne Not
trotz Mehrheit diese Mehrheit nicht realisieren und entsprechende Gesetze beschließen, dann bekommen wir irgendwann das Problem, dass sich die Leute fragen, warum sie eigentlich zur Wahl gehen,
({2})
wenn hinterher etwas ganz anderes herauskommt, als Sie
in Ihren Wahlprogrammen vereinbart und den Wählern
versprochen haben. Meine Damen und Herren, Sie haben jetzt die Möglichkeit, das zu korrigieren; das ist
dringend notwendig.
In den Koalitionsverhandlungen haben Sie zugestimmt, dass die Mindestlöhne von 8,50 Euro erst ab
2017 uneingeschränkt gelten. Das ist das Jahr, in dem
die nächste Bundestagswahl stattfinden wird. Das ist die
Position, die Sie vereinbart haben.
Im Übrigen: Für wen gelten diese Mindestlohnregelungen erst ab 2017? Ausgerechnet für die, die gewerkschaftlich organisiert sind, weil Tarifverträge, in denen
ein Lohn unterhalb der Grenze von 8,50 Euro vereinbart
wurde, bis 2017 weiter gelten sollen. Wissen Sie eigentlich, was Sie hier machen? Ich weiß nicht, ob Ihnen das
bewusst ist. Sie stellen damit Gewerkschaftsmitglieder
deutlich schlechter als die anderen Beschäftigten. Für
diese gilt der Mindestlohn. - Da brauchen Sie nicht mit
dem Kopf zu schütteln. Lesen Sie doch einmal Ihren Koalitionsvertrag durch! Vielleicht hilft das in diesem Fall.
Dann stellen Sie nämlich fest, dass für einen Teil der Beschäftigten der Mindestlohn ab 2015 und für die anderen
erst ab dem 1. Januar 2017 gelten soll.
Das bedeutet: Eine ungelernte Verkäuferin im Fleischerhandwerk in Sachsen-Anhalt erhält 5,53 Euro. Dieser Lohn gilt weiter. Der Tariflohn im Gaststättengewerbe im Saarland von 7,38 Euro gilt weiter. Wissen Sie
eigentlich, was Sie da machen? Wissen Sie wirklich, was
Sie da tun? Ich glaube das nicht.
({3})
Die CDU hat sich in dieser Frage möglicherweise
durchgesetzt. Dabei tun Sie immer so, als ob Sie die Tarifautonomie retten wollten. Wenn Sie Gewerkschaftsmitglieder schlechterstellen als die übrigen Beschäftigten, dann retten Sie nicht die Tarifautonomie. Sie
gefährden sie! Das ist das, was Sie wirklich wollen,
meine Damen und Herren.
({4})
Eine weitere Formulierung lässt den Schluss zu, dass
Sie im Übrigen Saisonarbeiter von einem Mindestlohn
generell ausnehmen wollen. Es heißt im Grundgesetz:
„Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Dort steht
nichts von der Würde des Deutschen.
({5})
Auch für ungarische, polnische oder sonstige Saisonarbeiter gilt das Grundgesetz. Von einem Lohn muss man
anständig leben können. Unmöglich, was Sie da vereinbart haben.
Und: Erst ab 1. Januar 2018 planen Sie eine erste Erhöhung der Mindestlöhne. Das bedeutet, dass der Mindestlohn von 8,50 Euro durch die Preissteigerung dann
vielleicht nur noch 8 Euro wert ist. Damit erreichen Sie
noch nicht einmal das, was Sie wirklich wollen, nämlich
dass die Leute mit einer Arbeit nicht mehr aufstocken
müssen. Viele werden zu diesem Zeitpunkt wieder zu
Aufstockern werden, weil ihr Geld nicht reicht.
Meine Damen und Herren, was als sozialdemokratisches Vorzeigeprojekt geplant war, ist ein purer Etikettenschwindel.
({6})
Herr Kollege.
Ich bin sofort fertig.
Herr Kollege Ernst, ich wollte Sie nur fragen, ob Sie
eine Zwischenfrage zulassen. Ich wollte nicht Ihre Redezeit beschneiden.
Das finde ich sehr nett von Ihnen. Gerne lasse ich die
Zwischenfrage zu. Wer möchte mir denn eine Zwischenfrage stellen?
Herr Abgeordneter Ernst, ich will in Ihre Begründung
hinein nur zu meiner Vergewisserung die Frage stellen:
Würden Sie mit diesem Gesetzentwurf tatsächlich wissentlich das Risiko eingehen, dass Sie eine ganze Reihe
von jungen Unternehmern und Dienstleistern in strukturschwachen Gebieten - ich weiß, wovon ich rede - in die
Insolvenz treiben oder zur Aufgabe ihres Unternehmens
zwingen? Würden Sie gleichzeitig, da Sie immer für die
Arbeitnehmer eintreten, eine ganze Reihe, Hunderte, ja
vielleicht Tausende Arbeitnehmer, die zumindest einen
Teil ihres Lebensunterhaltes selber bestreiten und auch
bestreiten wollen, dann in die völlige Abhängigkeit von
Sozialtransfers schicken?
Herr Kollege Patzelt, danke für die Frage. Selbstverständlich wollen wir eines nicht, dass tatsächlich abhängig Beschäftigte durch die Einführung eines gesetzlichen
Mindestlohns ihren Job verlieren. Es gibt keine einzige
Studie in dieser Republik oder in Europa, die den Zusammenhang herstellt, dass mit der Einführung eines
Mindestlohns Arbeitsplätze verloren gehen. Keine einzige Studie!
({0})
Herr Kollege, Sie haben es wahrscheinlich nicht mitbekommen: Wir waren im letzten Jahr mit dem Ausschuss für Arbeit und Soziales in Österreich.
({1})
Dort gibt es einen faktischen Mindestlohn von 8,50
Euro. Die Arbeitslosigkeit, insbesondere auch die Jugendarbeitslosigkeit, hat in Österreich dasselbe niedrige
Niveau wie hier, trotz eines faktischen Mindestlohns von
8,50 Euro. Es gibt also keinen Zusammenhang zwischen
der Höhe des Mindestlohns und der Beschäftigung. Im
Gegenteil, es gibt einen Zusammenhang, dass durch
mehr Kaufkraft bei den Beschäftigten, die gegenwärtig 4
oder 5 Euro verdienen, die Nachfrage steigen könnte,
was insbesondere dem Mittelstand und kleineren und
mittleren Unternehmen zugutekäme. Das ist der Zusammenhang. Ich hoffe, dass Sie sich den einmal wirklich
vor Augen führen.
({2})
Danke schön. Sie dürfen sich setzen.
({3})
Wollen Sie eine Zusatzfrage stellen?
({4})
Wenn Ihre Argumente stimmen: Warum wollen Sie
das Ganze jetzt mit einer Hauruckaktion durchziehen,
anstatt die Vereinbarung zwischen den Koalitionären abzuwarten und dann in einem kontrollierten Zeitraum mit
abgefederten Folgen zu diesem Ziel zu kommen?
({0})
Auch das ist eine schöne Frage. Weil wir seit vier Jahren, wenn nicht noch länger, in diesem Haus über die
Mindestlöhne diskutieren. Weil inzwischen in ganz Europa um uns herum Mindestlöhne eingeführt worden
sind - teilweise fast 10 Euro; in Frankreich sind es über
9 Euro - und weil die Leute es endlich satt haben, dass
sie mit Billigstlöhnen abgespeist werden, von denen man
nicht leben kann. Deshalb ist es Zeit, dass wir das endlich beenden.
({0})
Zum Schluss, meine Damen und Herren - das sage
ich insbesondere der SPD -: Sie haben jetzt die Möglichkeit, vor Ihren Wählern nicht das Gesicht zu verlieren.
Sie haben die Möglichkeit, Ihre Mitglieder mit dem, was
Sie vereinbart haben, nicht in Verzweiflung zu treiben,
und Sie haben vor allem die Möglichkeit, den Frauen
und Männern, die offensichtlich bis zur nächsten Bundestagswahl 2017 warten müssen, bis sie einen vernünftigen Mindestlohn kriegen, jetzt vernünftige Löhne zu
verschaffen. Das ist wichtiger als Ministerämter im
Bündnis mit falschen Partnern und gegen Ihre Überzeugung zu stimmen.
Danke fürs Zuhören.
({1})
Nächster Redner für die Fraktion von CDU/CSU ist
der Kollege Karl Schiewerling.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Ernst, das war
jetzt erhellend: Ihnen geht es um Mehrheit, uns geht es
um Menschen.
({0})
Uns geht es darum, dass wir sachgerechte Lösungen
finden. Denn in der Frage des Mindestlohns und der
Frage der Gestaltung des Arbeitsmarktes geht es nicht
nur um theoretische Lösungen, sondern in der Tat auch
darum, wie was wirkt. Der neue Kollege aus Frankfurt/
Oder hat seine Situation geschildert, die er offensichtlich
tagtäglich in den neuen Ländern erlebt.
Wenn Sie mit Mindestlöhnen aus dem europäischen
Ausland kommen: Natürlich haben wir in Österreich einen Mindestlohn - von Tarifpartnern gefunden. Natürlich haben wir in Frankreich einen Mindestlohn - mit der
Konsequenz, dass die Jugendarbeitslosigkeit gestiegen
ist. Natürlich haben wir in Bulgarien einen Mindestlohn.
Er liegt, glaube ich, jetzt bei 98 Cent. Natürlich haben
wir in den USA einen Mindestlohn. Er liegt bei
4,20 Dollar oder so.
({1})
Sie dürfen nicht ständig Birnen mit Äpfeln vergleichen.
Ihr ganzes Ansinnen heute dient dazu, die SPD vorzuführen, um sie dazu zu bringen, sich hier sozusagen zu
entblößen. Das ist Ihr Interesse.
({2})
Wenn es Ihnen wirklich um die Sache ginge, dann würden Sie mit anderen Argumenten kommen.
({3})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, einer der
großen geistigen Väter der sozialen Marktwirtschaft,
Professor Dr. Müller-Armack, lange Zeit, nämlich
13 Jahre lang, Abteilungsleiter und Staatssekretär bei
Ludwig Erhard, hat 1946 in seinem Grundlagenwerk
Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft geschrieben: Es
ist marktwirtschaftlich durchaus unproblematisch, einen
Mindestlohn einzuführen, solange der Gleichgewichtslohn nicht gestört wird. Das ist volkswirtschaftlich sauber. Wer stellt aber den Gleichgewichtslohn fest? Gleichgewichtslohn heißt, dass der Lohn nicht höher ist als die
Produktivität. Wer stellt das fest? Der Deutsche Bundestag?
Deswegen hat sich in Deutschland die Tarifautonomie
entwickelt, und deswegen haben Tarifpartner sich zusammengetan, weil sie sagen: Wir kennen unsere Branche. Wir wissen genau, wie die Produktivität aussieht.
Wir wissen genau, wie sich die Dinge entwickeln. - Das
ist der Grund gewesen, warum sich die CDU in diesem
Wahlkampf und in ihrem Wahlprogramm sehr deutlich
für Mindestlöhne eingesetzt hat, und zwar für tarifliche
Mindestlöhne, in Kenntnis dessen, dass die Marktzusammenhänge so sind, wie sie sind.
Meine sehr verehrten Damen und Herren von den
Linken, wenn ich mir Ihr Programm ansehe und es damit
vergleiche, was wir in unserem Wahlprogramm mit unserem Mindestlohnkonzept und der Stärkung der Tarifautonomie durch die erleichterte Erstreckung der Allgemeinverbindlicherklärung, durch die Erweiterung des
Arbeitnehmer-Entsendegesetzes für alle Branchen und
andere Dinge mehr gefordert haben, will ich Ihnen sagen
- das tut Ihnen vielleicht weh -: Wir haben für unser
Programm 41,5 Prozent Zustimmung der Bevölkerung
bekommen, und Sie sind unter 10 Prozent gesackt.
({4})
Deswegen rate ich Ihnen sehr dringend, sich bei all den
Forderungen, die Sie hier äußern, zu fragen, ob Sie wirklich die Menschen erreichen und ihre Gefühlslage getroffen haben.
({5})
In der Tat, meine Damen und Herren: Wir haben in
Deutschland in zwölf Branchen Mindestlöhne nach dem
Entsendegesetz - übrigens alle unter CDU-Kanzlerschaft eingeführt - sowie im Bereich der Zeitarbeit, und
wir wollen nach dem Koalitionsvertrag noch weiteren
Branchen den Weg über das Entsendegesetz öffnen, damit sie auf diesem Weg konform mit den Tarifpartnern
zu entsprechenden Lösungen kommen.
Wir haben gemeinsam mit der SPD im vorliegenden
Koalitionsvertrag in der Tat vereinbart - jeder weiß, dass
wir keine Freunde dieser Lösung sind; aber Koalitionsvertrag ist Koalitionsvertrag -, dass es ab dem Jahre
2015 einen Mindestlohn gibt. Ab dem Jahre 2015 deswegen, weil sich beispielsweise Regionen und Branchen
darauf einstellen müssen. Ich will Ihnen einmal ganz
deutlich vor Augen führen, warum wir das so machen.
Heute hat Spiegel Online die Nachricht verbreitet - ich
bitte um Genehmigung, das kurz zu zitieren -:
Ausgerechnet die „taz“ hat gerade erklärt, dass sie
weder Mindestlohn für Volontäre noch Tarifgehalt
für ihre Redakteure zahlen kann. Wie verträgt sich
das mit dem Koalitionsvertrag?
So fragt man sich dort: Wie sollen wir das hinbekommen, wenn die Volontäre bei uns zukünftig 8,50 Euro
statt 5,50 Euro bekommen sollen?
Sehen Sie, auch wir sind für gerechte Löhne. Deswegen haben wir mit unserem zukünftigen Koalitionspartner vereinbart, den Mindestlohn in Stufen einzuführen,
sodass sich Branchen wie die oben genannte darauf einstellen können. Ich halte das für weitsichtig, für klug und
für ein gutes Ergebnis der Koalitionsgespräche, in denen
mühsam darum gerungen wurde - das gestehe ich ein -,
wir aber am Schluss zu einem fairen Ergebnis gekommen sind, mit dem man leben kann. Das legt ganz nach
Müller-Armack die Grundlage, dass die Menschen nicht
hinten herunterfallen, die letztlich davon leben müssen.
({6})
Lassen Sie mich auf einen weiteren Irrtum hinweisen,
den Sie, Herr Ernst, hier vorgetragen haben. Sie haben
behauptet, man könne mit einem Mindestlohn die Aufstocker tatsächlich davor bewahren, in Zukunft auf Sozialhilfe angewiesen zu sein. Das ist purer Unfug. Wenn
ein Aufstocker als Alleinverdiener 8,50 Euro Mindestlohn bekommt und drei Kinder zu versorgen hat, wird er
weiterhin auf aufstockende Leistungen angewiesen sein.
Sie glauben doch nicht im Ernst, allein über den Mindestlohn diese Probleme zu lösen. Die Regelung betreffend die Grundsicherung für Arbeitsuchende sieht vor,
dass die Regelsätze und die Bedarfssätze so angepasst
werden, dass beispielsweise die Inflation ausgeglichen
wird und die Lebenshaltungskosten berücksichtigt werden. Wenn jemand wenig verdient und viele Kinder hat,
wird er auch in Zukunft auf aufstockende Leistungen angewiesen sein. Ich sage Ihnen: Es ist nicht ehrenrührig,
wenn der Staat den Familien hilft, in denen Vollzeit gearbeitet, Mindestlohn bezogen wird bzw. eine entsprechende tarifliche Absicherung vorliegt, das Geld aber
trotzdem nicht reicht, im Rahmen ihrer Möglichkeiten
ihre finanziellen Ausgaben zu bestreiten.
Ich glaube, dass wir im Hinblick auf die Zukunft insgesamt gut aufgestellt sind und dass wir mit dem vorliegenden Koalitionsvertrag in diesem Punkt eine gute Entscheidung getroffen haben, und zwar hinsichtlich der
Gesamtheit der entsprechenden Regelungen. Dazu gehört, dass wir den Abschluss von Allgemeinverbindlicherklärungen erleichtern wollen. Das heißt, das 50-Prozent-Quorum wird wegfallen. Stattdessen muss die
Allgemeinverbindlicherklärung im öffentlichen InteKarl Schiewerling
resse geboten erscheinen. All das ist vernünftig ausgehandelt und passt zueinander.
Die eigentliche Botschaft lautet: Wir wollen den
Menschen helfen und dafür sorgen, dass es fair zugeht,
als auch die Tarifpartnerschaft stärken. Das ist die eigentliche Überschrift. Dafür stehen wir ein. Ich halte das
für den richtigen Weg.
Herzlichen Dank.
({7})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Schönen guten Abend
von meiner Seite aus. Ich wünsche uns zwei angenehme
Stunden.
Die nächste Rednerin ist Andrea Nahles von der SPD.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ab 1. Januar 2015 gilt in Deutschland ein gesetzlicher
Mindestlohn von 8,50 Euro.
({0})
Damit verbessern wir sofort und auf einen Schlag das
Leben von Millionen Menschen. Zurzeit haben 6,9 Millionen Menschen einen Stundenlohn von weniger als
8,50 Euro. Wir haben als SPD zusammen mit den Gewerkschaften und vielen anderen jahrelang für die Einführung eines Mindestlohns gestritten. Ich bin sehr
glücklich, dass wir das jetzt durchgekämpft haben und
dass nun der Mindestlohn kommt.
({1})
Wenn wir von einem Mindestlohn reden, dann meinen wir damit einen gesetzlich festgelegten Mindestlohn, der dynamisiert wird. Wir haben dafür eine Mindestlohnkommission geschaffen. Dann reden wir davon,
dass er flächendeckend gilt, für alle Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer. Damit sind junge Menschen in Ausbildung nicht gemeint, um auch das zu sagen. Die sind
nämlich in einem Ausbildungsverhältnis. Dann reden
wir davon, dass es keinen Unterschied zwischen West
und Ost gibt, was uns sehr wichtig gewesen ist. Und
dann reden wir davon, dass wir tatsächlich keine Ausnahmen zulassen; das heißt, er gilt auch für Minijobber
und andere. Das ist ein ganz entscheidender Punkt.
({2})
Wir haben aber - das hat Kollege Schiewerling richtig
dargestellt ({3})
keine Veranlassung gesehen, in bestehende Tarifverträge
einzugreifen. Es gibt zurzeit noch 41 Tarifverträge in
Deutschland, die Tariflöhne unter 8,50 Euro vorsehen.
Wir wollten jetzt nicht in das, was die Tarifpartner miteinander ausgehandelt haben, hineingrätschen. In vielen
dieser Tarifverträge wurden ja übrigens auch Stufen verabredet, sodass die Löhne irgendwann, manche erst ab
2016, bei 8,50 Euro landen werden. Diese Tarifverträge
sollen also die Chance haben, fortzubestehen. Wohlgemerkt, es gilt aber auch hier: Ab 31. Dezember 2016
({4})
gilt überall, auch da, ein Mindestlohn von 8,50 Euro.
Frau Kollegin Nahles, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zuzulassen?
Nein, momentan nicht. Ich möchte jetzt weiter ausführen.
Herr Schlecht, dann wird nichts daraus.
Darüber hinaus lassen wir auch zu, dass noch neue
Tarifverträge geschlossen werden. Warum auch nicht?
Wir reden hier über Branchen und Regionen, in denen
wir Tarifvertragswüsten haben, in denen die tarifvertragliche Abdeckung weniger als 40 Prozent beträgt. Warum
sollten wir den Gewerkschaften jetzt nicht die Möglichkeit geben, neue Tarifverträge auszuhandeln, die zunächst weniger als 8,50 Euro vorsehen?
({0})
Es ist doch geradezu verrückt, daraus ein Problem zu
machen. Das hat auch Michael Sommer, der das gestern
kommentiert hat, klar gesagt - ich zitiere -: Wir sind bereit, in diese Verhandlungen hereinzugehen, um manchen Branchen zu ermöglichen, in den Mindestlohn hineinzuwachsen. - Herr Ernst, Sie haben das eben als
großes Problem für die Gewerkschaften dargestellt. Die
aber wollen das und haben genau diese tarifliche Ausgestaltung gewünscht. Deswegen kann ich mir nicht vorstellen, dass das eine Regelung gegen die Gewerkschaften ist. Nein, im Gegenteil, es ist eine Regelung mit den
Gewerkschaften, die wir uns vorgenommen haben.
({1})
Wir müssen aber auch wirksame Kontrollen durchsetzen. Es darf uns nicht passieren, dass durch die Einführung von Mindestlöhnen Wettbewerbsverzerrungen entstehen, weil der eine Unternehmer sie zahlt, der andere
aber nicht. Da haben wir eine ordnungspolitische Aufgabe vor uns. Das heißt auch, dass wir den Zoll, der dafür zuständig ist, entsprechend personell ausstatten müssen.
Wir müssen vor allem auch sicherstellen - das ist eine
wichtige Sache -, dass wir die Branchen, die sich das
momentan noch nicht vorstellen können und Probleme
sehen, in den Dialog integrieren. Wir haben nur gesagt:
Wir wollen mit den Branchen, in denen es Anpassungsschwierigkeiten gibt, für die wir Übergangsregelungen
brauchen, ins Gespräch kommen und Lösungen suchen;
denn das Ziel muss doch sein, dass es nachher funktioniert, und zwar so, dass alle gut damit leben können und
es den Menschen nutzt. Das ist der Anspruch, den wir in
diesem Koalitionsvertrag niedergelegt haben. Das werden wir auch hinbekommen. Da bin ich sehr sicher.
({2})
Es ist ja schön, Herr Ernst, dass Sie Ihre Spielchen
spielen und Gesetzentwürfe einbringen. Damit sind Sie
von Ihrer Forderung nach einem Mindestlohn von
10 Euro ja sogar ohne Verhandlungen abgerückt. Sie
schlagen ja in Ihrem Gesetzentwurf heute 8,50 Euro vor.
Das finden wir klasse. Wir waren schon immer der Meinung, dass das eine vernünftige Lösung ist.
({3})
Wir vor allem haben kein Problem damit, dass das ein
Kompromiss ist. Das ist nämlich etwas, was dazugehört,
wenn man in einer Demokratie Mehrheiten bildet.
({4})
Das ist nichts, was mich belastet; das ist etwas, was ganz
normal ist. Kompromiss bedeutet, dass man aufeinander
zugeht. Aber das Entscheidende ist: Es ist ein guter
Kompromiss geworden, vor allem für die Menschen in
Deutschland. Das ist der entscheidende Punkt.
({5})
Ich möchte Ihnen sagen - das ist mir vor allem wichtig -, dass wir nicht nur den Mindestlohn regeln, sondern
dass wir ein Gesamtpaket schnüren. Eine so deutliche
Erleichterung der Allgemeinverbindlicherklärung, wie
wir es uns hier vorgenommen haben, bedeutet, dass in
Zukunft viele ganz normale Arbeitnehmer in Deutschland vielleicht wieder Weihnachtsgeld bekommen,
30 statt 24 Urlaubstage haben. Bisher ist es so, dass Arbeitnehmer da, wo es keine Tarifverträge gibt, das nicht
haben. Wenn wir die Möglichkeit der Allgemeinverbindlicherklärung verbessern, dann tun wir auch für ganz
viele Arbeitnehmer etwas, die mehr als den Mindestlohn
verdienen. Wir wollen aber, dass es auch denen am Ende
besser geht.
({6})
Es kann nicht in unserem Interesse sein, dass die Tarifpartnerschaft in Deutschland immer mehr unterhöhlt
und zum Flickenteppich wird. Warum? Gerade in der
Krise, die wir vor einigen Jahren erlebt haben, hat sich
die Tarifpartnerschaft als Stabilitätsfaktor und Stärke unseres Landes erwiesen. Die Vorschläge, die wir hier erarbeitet haben, werden einen riesigen Beitrag zur Fortsetzung dieser Entwicklung leisten.
Es wird ja öffentlich kritisiert, die Große Koalition
stehe für viel Klein-Klein.
({7})
Mit der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns von
8,50 Euro haben wir aber einen Durchbruch geschafft.
Wenn das kein Meilenstein ist, dann frage ich mich: Was
ist sonst ein Meilenstein?
({8})
Vielen Dank.
({9})
Danke, Frau Kollegin. - Ich erteile das Wort dem
Kollegen Klaus Ernst zu einer Kurzintervention. Andrea
Nahles, Sie haben anschließend die Möglichkeit, zu erwidern.
Frau Nahles, ich habe den Eindruck, Ihr Beitrag
orientierte sich an dem Lied, das Sie hier einmal gesungen haben: „Ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt.“
({0})
Ich möchte Sie darauf hinweisen, warum es in einigen
Bereichen tatsächlich so schlechte Tarifverträge, die Sie
jetzt auch noch fortschreiben wollen, gibt. Die Ursache
dafür ist, dass Gewerkschaften dort noch Arbeitgeber
gefunden haben, die bereit waren, oft äußerst schlechte
Tarifverträge abzuschließen, um zumindest noch
schlechtere Löhne zu verhindern. Die Gewerkschaften
haben nie Tariflöhne in dieser Höhe gewollt. Kaum einmal kam in den Löhnen in diesen Bereichen die Leistungsfähigkeit, das Engagement der Beschäftigten zum
Ausdruck.
Jetzt habe ich eine Frage an Sie. Wie wollen Sie es eigentlich jemandem erklären, dass für einen Beschäftigten, der in keiner Gewerkschaft und nicht tarifgebunden
ist, ab 1. Januar 2015 der Mindestlohn gilt, während er
selber, der in einem anderen Betrieb der gleichen Branche, der womöglich auf der anderen Straßenseite liegt
und in dem ein Tarifvertrag gilt, arbeitet, weniger Lohn
bekommt, da die Neuregelung des Mindestlohns für ihn
erst zwei Jahre später gilt?
({1})
- „Na und?“ Wenn das für Sie, Herr Kollege, kein Problem ist, dann müssten Sie wirklich einmal über Ihr Verhältnis zu den Gewerkschaften nachdenken.
Im Ergebnis stellen Sie mit Ihrer Politik - ich bleibe
dabei - die Gewerkschaften schlechter. Wenn Sie Gewerkschaftsmitglieder schlechterstellen als diejenigen,
die nicht in einer Gewerkschaft sind, für die also kein
Tarifvertrag gilt, dann ist das keine Beförderung, sondern eine Gefährdung der Tarifautonomie.
Ich möchte, bitte schön, wissen, wie Sie das beschriebene Dilemma auflösen wollen? Was wollen Sie denn
dem Arbeitnehmer sagen, der dieselbe Arbeit wie ein
Kollege macht, aber durch Ihre Regelung ab 2015 weniger verdient?
({2})
Frau Nahles, zur Erwiderung, bitte.
Herr Ernst, erstens möchte ich, bevor hier Gerüchte
aufkommen, einmal klarstellen: Durch diese Regelung
wird niemand weniger als vorher verdienen.
({0})
Das Gegenteil ist der Fall.
Zweitens. Ich möchte Ihnen sagen, dass wir ausdrücklich festgehalten haben, dass es um Verabredungen mit
repräsentativen Tarifpartnern geht. Wir haben unsere Erfahrungen mit der Leiharbeit gemacht, als nicht repräsentative Gewerkschaften Dumpingtarife ausgehandelt
haben. Dass das nicht mehr möglich ist, werden wir mit
dieser Regelung klarstellen.
({1})
Drittens. Die Unternehmen konnten gegenüber den
Gewerkschaften oft deshalb schlechtere Löhne durchdrücken, weil es in ganzen Regionen überhaupt keine
Tarifstrukturen mehr gibt. Das ist vor allem in Ostdeutschland der Fall. Wenn wir das strukturell verbessern können, dann haben die Arbeitnehmer auf Dauer etwas von dieser Regelung.
Als Letztes möchte ich Ihnen sagen, dass wir ganz sicher sind, dass wir es schaffen werden, die von mir hier
bereits dargestellte Möglichkeit zur einfacheren Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen auch
schnell durchzusetzen.
({2})
Was wir da machen, das muss man zusammendenken.
Sie picken sich einen Punkt heraus. Es gibt aber ein Gesamtpaket. In der Kombination ist so eine deutliche Verbesserung da.
Im Übrigen: Letzter Termin ist der 31. Dezember
2016, Herr Ernst.
({3})
Dann gilt das Günstigkeitsprinzip für alle bestehenden
Tarifverträge, und dann haben wir einen Mindestlohn
von 8,50 Euro überall.
({4})
Das ist der Zusammenhang. Ich bitte Sie, das zur Kenntnis zu nehmen.
({5})
Vielen Dank. - Das Wort als nächste Rednerin hat
Brigitte Pothmer von Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin, vielleicht darf ich zunächst sagen:
Ich freue mich, dass ich unter Ihrer Amtsführung,
Ich hoffe, das bleibt so.
- unter Ihrer großzügigen Amtsführung, von der ich
auch zu profitieren hoffe,
({0})
heute hier meine Rede halten darf.
Das wird Ihnen nicht auf die Redezeit angerechnet.
Ich will jetzt ganz deutlich sagen, Herr Ernst: Ich
halte es für einen großen gesellschaftlichen Fortschritt,
dass es zukünftig auch in Deutschland einen flächendeckenden Mindestlohn geben soll.
({0})
Ich halte es im Übrigen auch für einen Fortschritt - das
sage ich einmal zur rechten Seite des Hauses -, dass es
inzwischen offensichtlich doch Einigkeit darüber gibt,
dass der Mindestlohn nicht der Untergang des Abendlands ist, sondern ein sinnvolles Instrument, um Lohndumping und Armutslöhne zu bekämpfen.
({1})
Aber, liebe Frau Nahles, ich habe mir den Koalitionsvertrag zu dem Thema natürlich sehr genau angesehen.
Ich gebe zu: Da war eine ganze Menge Ernüchterung dabei. - Sie können nicht wegreden: Mindestens bei der
Einführung des Mindestlohns haben Sie ein Zweiklassensystem. Für die einen gilt: Der Mindestlohn tritt 2015
in Kraft. Ich will an dieser Stelle sehr deutlich sagen: Ich
halte es für notwendig, dass es eine Übergangsphase
gibt; natürlich kann man einen Mindestlohn nicht von
heute auf morgen einführen. Aber warum soll das, was
für die einen Betriebe möglich ist, sich nämlich bis 2015
darauf einzustellen, für die anderen nicht möglich sein?
({2})
Frau Nahles, Sie werden gefragt werden. Wie wollen
Sie es zum Beispiel den Beschäftigten des Wach- und
Sicherheitsgewerbes, die nach einem repräsentativen Tarifvertrag 7,50 Euro verdienen, den Wäschereibeschäftigten, den Floristinnen, den Gärtnerinnen und den Tank170
warten erklären, dass sie noch zwei weitere Jahre für
Dumpinglöhne arbeiten müssen? Ausgerechnet die - da
hat Herr Ernst doch vollkommen recht -, die gewerkschaftlich organisiert sind, deren Betriebe sich unter dem
Dach der Tarifvereinigung befinden, werden jetzt bestraft. Das ist ein Problem. Das können Sie nicht vom
Tisch wischen.
({3})
Das ist keine Petitesse. Es ist auch keine kleine Gruppe.
Es sind ungefähr 1 Million Menschen betroffen.
Ich glaube nicht, Herr Schiewerling, dass Sie mit diesem Konzept Tarifverträge attraktiver machen. Wenn die
Beschäftigten, die unter einen Tarifvertrag fallen, erleben, dass sie weniger verdienen als die, die in den sogenannten weißen Flecken arbeiten, dann macht es das
nicht attraktiver, sich in diesem Bereich zu engagieren.
({4})
Einen weiteren Punkt finde ich problematisch. Sie
frieren den Mindestlohn für vier Jahre ein.
({5})
- Genau. - Was heißt das denn konkret? Das heißt, dass
der Mindestlohn 2018 real eigentlich nur noch 7,50 Euro
beträgt. 2018 haben wir, was den realen Wert angeht, einen Mindestlohn von 7,50 Euro. Damit machen Sie aber
Ihre eigene Argumentation kaputt. Sie haben gesagt,
8,50 Euro brauchen wir mindestens, damit ein alleinstehender Vollzeitbeschäftigter von seinem Lohn leben
kann, ohne dass er zusätzlich Hartz IV bekommt. Wenn
Sie den Mindestlohn so einfrieren, dann schicken Sie damit 2018 alle wieder in die Jobcenter. Das ist ein Problem.
({6})
Ich finde im Übrigen auch, dass Sie mit der Konstruktion der Mindestlohnkommission einen Riesenfehler begehen. Sie degradieren die Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler, die in dieser Kommission mitarbeiten
sollen, zu stimmlosen Beratern. Das hat mit der Low Pay
Commission, die es in England gibt und die für den
Mindestlohn eine sehr große Akzeptanz geschaffen hat auch im Arbeitgeberlager -, überhaupt nichts mehr zu
tun.
({7})
Wenn Sie die Mindestlohnkommission so lassen, wie
Sie sie konzipiert haben, dann prognostiziere ich Ihnen,
dass es zu den alten Grabenkämpfen zwischen Arbeitgeberlager und Gewerkschaften kommt, wie wir sie jetzt
im Tarifausschuss haben. Das wird zum Stillstand führen. Das wird uns nicht weiterbringen. Deswegen müssen wir etwas tun. Sie verpfuschen mit diesem Konzept
die Mindestlohnkommission. Das ist ein großer Fehler.
({8})
Jetzt hoffe ich auf das Gesetzgebungsverfahren. Ich
hoffe, dass wir in diesem Gesetzgebungsverfahren tatsächlich die Chance erhalten, unsere guten, nachvollziehbaren und sachlichen Argumente einzubringen, Sie
damit zu überzeugen. Ich verspreche Ihnen: Wenn es um
einen guten Mindestlohn geht, dann machen wir jederzeit Überstunden.
Ich danke Ihnen.
({9})
Danke, Frau Kollegin, liebe Brigitte Pothmer. - Als
nächster Redner hat das Wort Dr. Matthias Zimmer,
CDU/CSU.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich gestehe, ich war sehr gespannt darauf, wie sich die Linke,
diese Erben der geistigen Tradition eines Karl Marx, nun
als stärkste Oppositionskraft im Deutschen Bundestag
aufstellen würde. Würden wir intellektuelle Feuerwerke
zu erwarten haben, tiefsinnige Einwände gegen eine
Politik der Großen Koalition - dialektisch geschult -,
zukunftsweisende Alternativvorschläge?
({0})
Als ich den Entwurf eines Gesetzes zur Einführung
eines Mindestlohns in die Hand nahm, war ich dann
doch etwas enttäuscht. Es ist eins zu eins der Gesetzentwurf der SPD aus der letzten Legislaturperiode,
({1})
also ein reines Plagiat. Nun ist ein Plagiat häufig ja auch
Ausdruck einer besonderen Verehrung,
({2})
aber hier hatte ich eher den Eindruck: Es ist der Versuch,
parlamentarische Spielchen zu treiben, wie ich sie im
Deutschen Bundestag nicht vermutet hätte.
({3})
Und so drängt sich angesichts Ihrer Spielchen doch der
Verdacht auf: Die einreichende Fraktion ist weniger in
der intellektuellen Tradition von Karl Marx als in der
Slapsticktradition von Groucho Marx.
({4})
Ich finde es schade, wie Sie dieses Thema missbrauchen.
Das haben die Menschen, die auf Mindestlöhne angewiesen sind, nicht verdient.
({5})
Meine Damen und Herren, das Thema Mindestlohn
hat uns in der letzten Legislaturperiode sehr beschäftigt.
Ich darf an dieser Stelle an den verstorbenen Kollegen
Ottmar Schreiner erinnern. Er hatte in einer seiner letzten Reden - auch zum Thema Mindestlohn - Adam
Smith zitiert. Und Smith, dieser Stammvater des Kapitalismus, hatte in seinem Buch über den Wohlstand der
Nationen - wohlgemerkt: den Wohlstand der Nationen,
nicht den Reichtum Einzelner - den Begriff des gerechten Lohns geprägt. Smith hatte diesen definiert als einen
Lohn, den ein Arbeiter braucht, um sich und seine Familie zu ernähren. Das Thema ist also schon über 200 Jahre
alt.
({6})
Es ist im Übrigen auch in einer ganz ähnlichen Formulierung in der ersten großen Sozialenzyklika der katholischen Kirche von 1891 verwendet worden und seither
auch eines der Schmuckkästchen christlich-sozialer Tradition.
Smith war zwar Ökonom, aber er war auch - darauf
hat Ottmar Schreiner ebenfalls hingewiesen - Moralphilosoph. Ihm war schon klar, dass der Markt kein Selbstzweck ist, sondern dass er auf den Menschen bezogen
sein muss. Für Smith war deshalb klar: Der Mensch ist
Mittelpunkt. Bei den modernen Ökonomen hat man bisweilen den Eindruck: Der Mensch ist Mittel. Punkt! Das kann und darf aber unser Anspruch in der Politik
nicht sein.
({7})
Der Markt ist keine Naturgewalt, kein Schicksal. Er
ist, mit einem Wort von Werner Sombart, die Kulturleistung des Menschen zur Daseinsvorsorge. Weil es eine
Kulturleistung ist, muss der Markt auch geordnet werden
und die Werte widerspiegeln, die uns wichtig sind.
({8})
Ich sehe schon manchmal mit Sorge, wie normativ
blind die Vertreter der heutigen Volkswirtschaftslehre
sind. Unter dem Bild des Homo oeconomicus, einer im
Übrigen einzigen Beleidigung des Menschen, wird da
Politik beurteilt in einer Art und Weise, der das hörende
Herz völlig fehlt. Ich weiß beispielsweise nicht, worauf
so mancher Ökonom seine Warnung gründet, ein Mindestlohn führe zum Abbau von Arbeitsplätzen.
({9})
Ich habe da zwei Einwände.
Der erste Einwand ist ein moralischer. Professor Sinn
hat einmal geschrieben, man müsse den Lohn nur weit
genug fallen lassen, dann bekomme jeder eine Arbeit.
Das mag ökonomisch richtig sein. Es ist aber zynisch
und entspricht zumindest meinem Bild von einer Wirtschaft in einer Demokratie nicht.
({10})
Der zweite Einwand ist ein ökonomischer. Ich kenne
keine wissenschaftliche Studie - Herr Kollege Ernst, Sie
hatten das bereits in Ihrer Replik auf die Zwischenfrage
erwähnt -, die einen Zusammenhang von Mindestlohn
und Arbeitsplatzverlust schlüssig nachgewiesen hätte.
Häufig ist sogar das Gegenteil der Fall. Deswegen rate
ich dazu, gerade an dieser Stelle den sogenannten ökonomischen Sachverstand mit einer Prise Skepsis zu genießen.
({11})
Meine Damen und Herren, ich bin froh, dass wir zum
Mindestlohn eine vernünftige Lösung gefunden haben,
und ich wünsche mir, dass die intellektuelle Leistung der
stärksten Oppositionspartei künftig in mehr bestehen
möge als in der Aneignung fremder Leistung.
Danke schön.
({12})
Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Zimmer. - Als nächster Redner hat Hubertus Heil von der SPD das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin Claudia Roth! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Damen
und Herren von der Linkspartei, es mag ja Parteien in
diesem Hause geben, die ohne ein gesundes Feindbild
gegenüber politischen Mitbewerbern nicht durch den
Tag kommen. Ich finde, Ihre Rede und Ihre Art und
Weise, wie Sie hier auftreten, entlarvt Sie selbst. Es geht
Ihnen offensichtlich nicht mehr um die betroffenen Menschen, für die wir den gesetzlichen Mindestlohn einführen, sondern es geht Ihnen darum, Ihr Profilchen zu
schärfen. Das ist aber billig und hat mit der Sache nichts
zu tun.
({0})
Das mag zum einen damit zu tun haben, dass es Ihnen
möglicherweise gefällt, Sozialdemokraten in Regierungsverantwortung wieder als Feindbild zu haben, und
dass Sie so Ihre disparaten Truppen zusammenhalten
können.
Zum anderen mag das damit zu tun haben, Herr Ernst,
dass Sie möglicherweise das Gefühl haben, dass Ihnen
ein Thema, was Sie nie wirklich richtig besetzt haben,
ganz abhandenkommt, weil Sozialdemokraten nicht dafür sorgen, dass das in Resolutionen steht, sondern dass
es für den Menschen auch in das Gesetz kommt.
({1})
Hubertus Heil ({2})
Ich möchte an dieser Stelle einmal sehr deutlich sagen: Die Mutter des Erfolgs ist meine Kollegin Andrea
Nahles. Liebe Andrea, ganz herzlichen Dank dafür.
({3})
Es ist der SPD unter der Leitung von Andrea Nahles gelungen, in der entsprechenden Arbeitsgruppe bei den
Koalitionsverhandlungen dafür zu sorgen, dass zum
1. Januar 2015 für Millionen von Menschen der gesetzliche Mindestlohn endlich Realität wird. Um es deutlich
zu sagen: Die kriegen mehr Geld. Sie tun ja gerade so,
als würden sie weniger Geld bekommen. Das können Sie
an dieser Stelle doch einmal anerkennen und sollten es
nicht schlechtreden, wenn es Ihnen wirklich um die
Menschen geht.
({4})
Zweitens. Ja, es gibt bis 2017 Übergangsregelungen.
Wenn man allerdings genau in den Entwurf der Koalitionsvereinbarung schaut, erkennt man, dass dies nicht
die Folgen hat, die Sie hier beschrieben haben. Sie haben
behauptet, dass der Mindestlohn dann beispielsweise für
ganze Berufsgruppen nicht gelten wird. Das stimmt
nicht. Auch Minijobber bekommen dann den Mindestlohn.
({5})
Auch was die Saisonkräfte betrifft, sage ich Ihnen: Das,
was Sie behaupten, stimmt nicht.
Ich sage Ihnen etwas zu der Frage, wie es sich mit
denjenigen verhält, für die zwischen 2015 und dem
31. Dezember 2016 tatsächlich noch abweichende Regelungen gelten: Das sind Menschen, bei denen es die
Chance gibt, die Tarifbindung - gerade in Ostdeutschland - zu stärken.
({6})
Herr Ernst, Sie und ich sind Mitglied einer Gewerkschaft, der IG Metall. Ich frage Sie an dieser Stelle:
Wundern Sie sich nicht zumindest darüber, dass Hartmut
Meine, den wir beide gut kennen, den Mitgliedern meiner Partei bei dem anstehenden Mitgliedervotum eine
Zustimmung empfiehlt, gerade aus dem Grund, dass wir,
ausdrücklich im Interesse der arbeitenden Menschen in
diesem Land, die Tarifbindung mit dem Gesamtpaket
- mit dieser Regelung zum gesetzlichen Mindestlohn,
übrigens auch mit den Rentenregelungen - wieder stärken? Das tun übrigens die Vorsitzenden aller DGB-Einzelgewerkschaften. Wollen Sie die für bekloppt erklären? Das frage ich an dieser Stelle einfach einmal unter
Kollegen.
({7})
Haben Sie das Gefühl, dass die Führungen der Gewerkschaften keine Ahnung mehr von den arbeitenden Menschen in diesem Land haben? Wollen Sie die Gewerkschaftsbewegung in diesem Land diffamieren? Oder
geht es Ihnen - das will ich Ihnen gar nicht unterstellen,
weil Sie ein überzeugter Gewerkschafter sind - tatsächlich um das, was ich vorhin gesagt habe, nämlich darum,
solch eine billige Aktion zu machen, die mit der Lebensrealität aber nichts zu tun hat?
({8})
Nachdem wir eben etwas über Philosophie gehört haben, sage ich Ihnen: Es gibt einen Maßstab für gute Politik, den Max Weber geprägt hat. Danach sind die drei
Eigenschaften guter Politik die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen - das tun wir mit dieser Regelung,
für die Menschen, die sie brauchen -, eine leidenschaftliche Überzeugung - in dieser Regelung steckt die sozialdemokratische Leidenschaft, dafür zu sorgen, dass Menschen, die hart arbeiten, davon leben können, die
Leidenschaft, das Leben der Menschen konkret zu verbessern, die jetzt unter Armutslöhnen zu leiden haben sowie das notwendige Augenmaß im politischen Handeln. Augenmaß umfasst auch die Fähigkeit zu guten
Kompromissen in der Demokratie.
({9})
Herr Kollege Ernst, ich spreche Ihnen eines nicht ab,
nämlich dass Sie eine leidenschaftliche Überzeugung haben; das ist auch in Ordnung. Was Ihnen fehlt, ist jede
Fähigkeit zur Übernahme von Verantwortung und jede
Fähigkeit, das richtige Augenmaß für einen politischen
Kompromiss zu finden. Das ist der Grund, warum Sie in
der Opposition bleiben.
({10})
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, die Sozialdemokraten haben Wort gehalten: Es wird den gesetzlichen Mindestlohn geben. Wir sorgen dafür, dass
Menschen, die hart arbeiten, von der Arbeit leben können. Wir sorgen dafür, dass vor allen Dingen eines in
diesem Land wieder nach vorne kommt - denn unser
Ziel ist nicht, dass Menschen vom Mindestlohn leben
müssen; unser Ziel ist, dass die Menschen wieder anständige Löhne bekommen -: Mit der Regelung, die wir
gefunden haben, stärken wir die Tarifbindung, also das,
was die soziale Marktwirtschaft in diesem Land einmal
ausgemacht hat, gerade auch in den Bereichen Ostdeutschlands, in denen sie nicht mehr Realität ist. Deshalb sage ich Ihnen: Wir sind stolz auf das, was wir
durchgesetzt haben.
Herzlichen Dank.
({11})
Danke, Herr Kollege Hubertus Heil. - Ich gebe
Michael Schlecht von den Linken das Wort zu einer
Kurzintervention.
Herr Kollege Heil, ein Missverständnis muss man
vielleicht gleich ausräumen: Ein Mindestlohn von
8,50 Euro ist natürlich ein Fortschritt, auch wenn die
Linke meint, dass ein Mindestlohn von mindestens
10 Euro, eher noch mehr - vor allen Dingen in der ZeitMichael Schlecht
achse, die hier angedacht ist -, notwendig ist. - Ich sage
das nur, um diesen Punkt einmal klarzustellen.
Viel wichtiger ist aber ein Punkt, auf den Sie jetzt
nicht eingegangen sind und den Frau Pothmer schon thematisiert hat. Was sagen Sie eigentlich den Mitgliedern
Ihrer Partei dazu, dass es zwar einen Mindestlohn von
8,50 Euro zum 1. Januar 2015 geben wird, aber in der
Koalitionsvereinbarung festgelegt ist, dass der Mindestlohn von 8,50 Euro für mindestens drei Jahre festgeschrieben bleibt und möglichst erst Anfang 2018 korrigiert werden kann? Dabei ist vollkommen offen, wie der
Mechanismus ausgestaltet wird, der regelt, ob es dann
wirklich einmal mehr wird. Was sagen Sie, wenn das
Mitglied fragt, warum Sie sich darauf eingelassen haben,
dass dort drei Jahre nichts passiert?
Ich war 20 Jahre lang Tarifpolitiker. Ich hätte nie einen Tarifabschluss getroffen, bei dem man sich für drei
Jahre festlegt, und zwar im Lichte einer unabsehbaren
Inflation. Wenn Inflation stattfindet, dann sind die
8,50 Euro im Jahr 2018 vermutlich nur noch so viel wert
wie heute 7,50 Euro.
Was sagen Sie Ihrem Mitglied, wenn es Sie fragt: Warum trefft ihr diese Festlegung für drei Jahre, wenn es
gleichzeitig im Deutschen Bundestag eine Mehrheit dafür gäbe, einen Mindestlohn von 8,50 Euro zum 1. Januar 2015 ohne eine derartige Festlegung zu vereinbaren? Das ist doch wirklich ein großer Unterschied.
({0})
Hubertus Heil hat die Möglichkeit zu einer Antwort.
Lieber Kollege Schlecht, auch Sie waren und sind in
der Gewerkschaftsbewegung aktiv. Ich finde es ein bisschen schade, dass Sie nicht auf den Einwand eingegangen sind, dass beispielsweise die Führung sämtlicher
Gewerkschaften des DGB unsere Vereinbarung unterstützt.
Aber ich will Ihre Frage beantworten. Sie haben mich
gefragt, was ich meinen Mitgliedern sagen würde. Erstens. Da ich meine Mitglieder kenne - in der Sozialdemokratie sind verantwortliche Menschen -, weiß ich,
dass sie eines wissen: In Deutschland gibt es derzeit
1 Million Menschen, die weniger als 5 Euro in der
Stunde verdienen. Mit der Regelung, die wir gefunden
haben,
({0})
verbessern wir ab dem 1. Januar 2015 die Lebenssituation dieser Menschen auf einen Schlag. Darauf sind wir
Sozialdemokraten stolz.
({1})
Zweitens. Ja, diese Übergangszeit ist ein Kompromiss, und zwar, wie ich finde, kein fauler, sondern ein
angemessener. Wenn wir alleine auf der Welt wären,
würden wir das vielleicht anders machen, das sage ich
auch; aber der Kompromiss führt dazu, dass die Tarifbindung in unserem Land gestärkt wird.
Es stimmt übrigens schlicht und ergreifend nicht, dass
alle Tarifverträge bis zum 31. Dezember 2016 laufen; es
gibt auch einige, die vorher auslaufen. Wir bekommen
den Mindestlohn vor allen Dingen in den Bereichen, in
denen wir ihn dringend brauchen: in den weißen Flecken
nicht tarifgebundener Bereiche. Ich glaube - korrigiert
mich, liebe Kollegen -, in Ostdeutschland arbeiten mittlerweile 40 Prozent der Beschäftigten in Bereichen, die
keine Tarifbindung mehr haben. Wir sorgen dafür, dass
auch sie zum 1. Januar 2015 auf einen Schlag den gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro bekommen.
Meine Antwort an Sie - Sie haben gefragt, wie meine
Mitglieder das finden - ist deshalb: Meine Mitglieder
wissen, dass wir das Leben von Millionen von Menschen zum 1. Januar 2015 konkret verbessern. Sie wissen, dass ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn
kommt, dass es keine regionale Differenzierung mehr
gibt und dass ab 2017 für ganz Deutschland endgültig
der gesetzliche Mindestlohn von 8,50 Euro eingeführt
wird.
Frau Kollegin Pothmer, in diesem Zusammenhang
möchte ich darauf hinweisen: Die Low Pay Commission
wird dafür sorgen, dass die 8,50 Euro nicht das letzte
Wort sind, sondern dass es im Laufe der Geschichte natürlich Anpassungen geben wird. Auf diese Leistung für
die Menschen sind wir, wie gesagt, stolz.
Herzlichen Dank.
({2})
Danke, Herr Kollege. - Als letzten Redner in dieser
spannenden Debatte rufe ich Paul Lehrieder von der
CDU/CSU auf. Sie haben das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Mir ging es wie meinen Vorrednern. Als der
Gesetzentwurf der Linkspartei eingebracht wurde, war
mir völlig klar: Wir diskutieren über einen Mindestlohn
von 10 Euro. Nichts anderes habe ich in den letzten Monaten hier in diesem Hohen Haus von Ihnen, Herr Klaus
Ernst, und den Mitgliedern Ihrer Partei vernommen.
Jetzt lese ich in Ihrem Gesetzentwurf in § 4:
Der Mindestlohn beläuft sich auf mindestens
8,50 Euro brutto …
Sie haben bereits erklärt, dass Sie - Copy and Paste - einen SPD-Antrag zugrunde gelegt haben. Aber bitte
schön: Dann müssen Sie auch die Begründung überarbeiten.
({0})
Im dritten Absatz Ihrer Begründung schreiben Sie:
Besonders betroffen von Stundenlöhnen unter
10 Euro sind in Deutschland Frauen.
Wenn Sie also schon Anträge abschreiben, passen Sie
wenigstens die Begründung an; sonst sieht man, welche
Lohnhöhe diese Leistung wert ist.
({1})
Sehr geehrte Damen und Herren, ich habe das Gefühl
- Sie haben sich ja schon ein Stück weit entlarvt -, dass
es Ihnen nicht um die Menschen in unserem Land geht.
Ihnen haben Sie bis vor wenigen Wochen vorgegaukelt:
Unter einem Stundenlohn von 10 Euro ist ein menschenwürdiges Leben nicht möglich. Jetzt kommen Sie, lieber
Kollege Klaus Ernst, und sagen: 8,50 Euro reichen auch.
Das ist doch Trickserei. - Frau Präsidentin, Herr Kollege
Ernst will mir eine Frage stellen.
({2})
Wollen Sie antworten?
Ja, natürlich. Das ist abgesprochen, Frau Präsidentin;
ich räume es ein.
Ach, abgesprochen? Das könnten Sie mir ja vorher
sagen. Dann kann ich mich darauf einstellen. - Herr Kollege Ernst, Sie haben also eine Frage.
Herr Kollege Lehrieder, ich wollte nur darauf hinweisen: 8,50 Euro kommt vor 10 Euro.
({0})
So weit kann ich auch rechnen.
({0})
Ja, zur Volksschule müsste er vielleicht noch einmal
gehen, dann würde er auch merken, dass es bei der Rente
anders ist.
Meine Damen und Herren, ich will noch einmal darauf hinweisen: 8,50 Euro ist eine Höhe, mit der gegenwärtig alle Parteien hier im Deutschen Bundestag einverstanden sind; letztendlich haben alle im Bundesrat
einen entsprechenden Antrag gestellt, auch mit Zustimmung unserer Partei, die, wie Sie wissen, Regierungspartei in Brandenburg ist. Das bedeutet, wir hätten für
diesen Gesetzentwurf eine Mehrheit, wenn sich jede Partei an das halten würde, was sie bei der Bundestagswahl
gesagt hat, und an das, wofür sie selber im Bundesrat gestimmt hat.
({0})
Können Sie mir folgen, wenn ich sage, dass es aus
Sicht eines Menschen, der einen Mindestlohn von
10 Euro für richtiger hält, durchaus akzeptabel ist,
8,50 Euro zu fordern, wenn man dafür eine Mehrheit hat,
weil ja 8,50 Euro, wie gesagt, vor 10 Euro ist und das
deshalb ein richtiger Schritt wäre? Das ist unsere Position, die wir hier eingebracht haben, Herr Lehrieder. Die
Bürgerinnen und Bürger in diesem Land fragen sich
doch Folgendes: Wenn es im Bundestag jetzt eine Mehrheit dafür gibt, einen Mindestlohn von 8,50 Euro einzuführen, und zwar ohne Ausnahme und nicht erst ab 2017,
warum führt man ihn dann nicht einfach ein? Wir haben
sie doch deswegen gewählt. - Können Sie sich das vorstellen?
Lieber Kollege, ich stelle eine Gegenfrage: Wofür stehen Sie jetzt eigentlich? Stehen Sie für einen Mindestlohn von 10 Euro, den Sie noch vor wenigen Wochen für
richtig gehalten haben,
({0})
oder ist ein Mindestlohn von 8,50 Euro aus Ihrer Sicht
inzwischen ausreichend? Herr Kollege Ernst, ich unterstelle Ihnen schlicht und ergreifend, dass Sie jetzt einen
Mindestlohn von 8,50 Euro fordern, um unsere neue Lebensabschnittsgefährtin ein bisschen zu ärgern,
({1})
um die SPD ein bisschen in die Bredouille zu bringen,
und nicht aus Überzeugung.
({2})
Lieber Kollege Klaus Ernst, nicht lachen, hören Sie mir
lieber zu; das ist wichtig. Wenn es Ihnen um die Menschen gegangen wäre, dann hätten Sie weiterhin 10 Euro
gefordert. Ich stelle fest: Die Linkspartei hat das Ziel eines Mindestlohns in Höhe von 10 Euro zumindest vorübergehend aufgegeben - Punkt. Das ist der Erkenntnisgewinn dieses Abends.
({3})
Sie können sich setzen, Herr Ernst. Viel mehr gibt es
dazu nicht zu sagen.
Ich mache keinen Hehl daraus, dass ich persönlich
kein großer Fan eines politisch festgesetzten Mindestlohns bin und gerne bei unserem bisherigen, bewährten
Modell geblieben wäre, nach dem die Lohnfindung allein Aufgabe der Tarifpartner war. Nicht mit einem politischen Mindestlohn, sondern mit einer marktwirtschaftlich organisierten Lohnuntergrenze sind wir in den
letzten Jahren gut gefahren, wie die arbeitsmarkt- und
die sozialpolitische Bilanz der unionsgeführten Bundesregierung ganz deutlich zeigt. Wir haben es trotz Krise
geschafft, die Arbeitslosigkeit zu halbieren. Wir haben
es sogar geschafft, sie unter die 3-Millionen-Marke zu
bringen.
({4})
- Auch die Politik, Frau Kollegin Müller-Gemmeke.
Klar ist allerdings auch, dass man in einer Koalition
Kompromisse eingehen muss, insbesondere dann, wenn
die Vorstellungen sehr weit auseinanderliegen, wie das
bei der Festsetzung von Lohnuntergrenzen der Fall war.
Ich denke, wir haben mit dem gestern präsentierten Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD einen guten und
vor allem fairen Kompromiss gefunden, mit dem wir dafür Sorge tragen, dass es den Menschen in unserem Land
besser geht und neue Chancen entstehen. Wir haben zur
Kenntnis genommen, dass ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn eine Herzensangelegenheit unseres
Partners ist. Unter Führung unserer Arbeitsministerin
Frau von der Leyen haben wir mit der sogenannten Low
Pay Commission, der Lohnfindungskommission - ich
möchte ein gutes deutsches Wort dafür benutzen -, eine
Möglichkeit zur Stärkung der Tarifvertragsparteien gefunden. Zum 1. Januar 2015 soll es einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro geben. Die Höhe des jeweiligen Mindestlohns wird von
einer Kommission bestehend aus jeweils drei Vertretern
von Gewerkschaften - das sollte Sie freuen, Herr Ernst und Arbeitgebern plus einem Vorsitzenden in regelmäßigen Abständen geprüft, gegebenenfalls angepasst und
sodann mittels einer Rechtsverordnung staatlich erstreckt und somit allgemeinverbindlich. Jede Partei kann
zusätzlich einen wissenschaftlichen Berater für die Mindestlohnkommission benennen, der jedoch kein Stimmrecht erhalten wird. Mit seinem Sachverstand soll er die
Arbeit der Lohnfindungskommission begleiten.
Ich sage aber auch ganz deutlich, dass durch die Einführung eines Mindestlohns keine Arbeitsplätze verloren
gehen dürfen. Hierfür hat sich die Union mit aller Kraft
eingesetzt, und das wird sie auch zukünftig tun. Frau
Nahles, Sie haben ausgeführt, dass wir eine Regelung
wollen, die allen Menschen nutzt. Dabei müssen wir
auch an die denken, die möglicherweise durchs Raster
fallen, wenn der Mindestlohn zu schnell eingeführt wird
und deswegen in manchen Regionen oder Branchen tatsächlich Arbeitsplätze vernichtet werden. Wir sollten
deswegen genau hinsehen, wenn wir in das Gesetzgebungsverfahren einsteigen. Ich bitte in diesem Zusammenhang um die konstruktive Mitwirkung der Freunde
von der Linkspartei. Mal sehen, was Sie da Gutes einbringen können.
({5})
Im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens werden wir
einige Aspekte zu berücksichtigen haben:
Die Einführung eines bundesweiten Mindestlohns
ohne regionale Ausnahmen bereitet mir insbesondere
mit Blick auf die ostdeutschen Länder große Sorgen.
Meiner Ansicht nach besteht die Gefahr, dass zahlreiche
Arbeitsplätze wegfallen. Denn in den neuen Bundesländern arbeitet bekanntermaßen ein Viertel der Menschen
für weniger als 8,50 Euro pro Stunde; im Westen sind es
lediglich 12 Prozent.
Auch bei unserer europaweit gelobten dualen Ausbildung müssen wir ganz genau hinschauen. Da Lehrlinge
derzeit im Schnitt zwischen 670 und 740 Euro im Monat
verdienen, sehe ich die Gefahr, dass Schulabgänger sich
zunächst kurzfristig einen Mindestlohnjob suchen, bei
dem sie pro Stunde mehr als das Doppelte verdienen,
statt eine Ausbildung zu beginnen. Auch dieses Risiko,
diese Gefahr sollten wir in der Gesetzgebung berücksichtigen. Wir sollten darüber nachdenken und uns insofern hier auch ehrlich machen.
Schwierigkeiten können sich auch im Bereich der
Werkverträge oder bei den sogenannten Niedriglöhnern
ergeben, die nicht zu einem festen Stundenlohn arbeiten.
Hier besteht die Gefahr, dass der Mindestlohn umgangen
wird und die Schwarzarbeit zunimmt.
Durch den nun erstmalig kommenden einheitlichen
flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn verlieren
die Tarifparteien - dies wurde bereits angesprochen bedauerlicherweise an Einfluss. Das sollte auch Ihnen
Sorge machen.
({6})
Allerdings konnten wir in den Verhandlungen erreichen,
dass es den Tarifpartnern bis Ende 2016 weiterhin möglich ist, Übergangsfristen festzulegen, und dass derzeit
geltende Tarifverträge bis dahin fortgelten. Das heißt
konkret, dass die Tarifpartner bis zur endgültigen Einführung des Mindestlohns auch Abschlüsse vereinbaren
können, die unter 8,50 Euro liegen. Von den Vorrednern
wurde bereits darauf hingewiesen.
Unsere neue Vizepräsidentin gibt mir ein Zeichen,
dass ich allmählich zum Ende kommen muss. - Ich bitte
alle Wohlmeinenden, alle, denen es um die Menschen im
Land geht, beim anstehenden Gesetzgebungsverfahren
konstruktiv mitzuwirken. Wir werden schon etwas Gescheites herauskriegen. Herr Ernst, Frau Nahles, das
werden wir schon hinbekommen.
Herzlichen Dank.
({7})
Danke schön, Herr Kollege.
Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell
wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache
18/6 an den Hauptausschuss vorgeschlagen. Gibt es dazu
andere Vorschläge? - Ich sehe und höre nichts. Das ist
also nicht der Fall. Damit ist die Überweisung zur gro-
ßen Freude der Kollegen bei der Linkspartei so beschlos-
sen.
Vizepräsidentin Claudia Roth
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gerhard Schick, Kerstin Andreae, Annalena
Baerbock, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Risiko und Haftung zusammenführen - Gläu-
bigerbeteiligung nach EZB-Bankentest si-
cherstellen
- Drucksache 18/97 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gerhard Schick, Kerstin Andreae, Annalena
Baerbock, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gemeinsam die Haftung der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler beenden - Für einen
einheitlichen europäischen Restrukturierungsmechanismus
- Drucksache 18/98 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre einiges, aber dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich gebe das Wort Dr. Gerhard Schick von Bündnis 90/Die Grünen.
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat diesen Tagesordnungspunkt heute beantragt, weil auf europäischer Ebene gerade ein Thema von enormer
Wichtigkeit verhandelt wird und wir uns als deutsches
Parlament - Regierungsbildung hin oder her - dringend
damit beschäftigen müssen.
({0})
Ich zitiere Yves Mersch, Mitglied des Direktoriums
der Europäischen Zentralbank: Das Projekt Bankenunion ist das vielleicht größte und wichtigste seit Gründung der Europäischen Währungsunion. - Ich finde, das
kann man genau so sagen. Denn es geht um nicht mehr
und nicht weniger als den Schutz der Steuerzahler vor
erneuten Milliardenrisiken in Form der Übernahme von
Bankschulden, die eigentlich mit dem Steuerzahler
nichts zu tun haben sollten.
Über fünf Jahre nach der Lehman-Pleite ist es immer
noch nicht gesichert, dass, wenn eine Bank wackelt,
nicht der Steuerzahler in die Pflicht genommen wird.
Daran muss sich endlich etwas ändern. Wir in Deutschland haben das bei der Commerzbank, der IKB und der
Hypo Real Estate erlebt, und das gilt auch in Europa.
Unsere Fraktion hat einmal nachrechnen lassen, wie viel
Steuerzahlergeld umsonst - besser gesagt: fälschlicherweise - aufgewendet wurde, um Bankschulden in Europa zu übernehmen. Das Ergebnis: Allein bei sieben
Bankenrettungen hätten über 35 Milliarden Euro Steuergelder in Zypern, in Spanien und in Griechenland gespart werden können. Spanien hätte wahrscheinlich kein
Rettungsprogramm gebraucht. Wir wollen, dass das
nicht noch einmal vorkommt.
({1})
Die Europäische Union hat das ja auch erkannt. Seit
Mitte 2012 stehen das Projekt Bankenunion und das
Thema Bankenabwicklung fest auf der Agenda. Während hier die Regierungsbildung stattfindet, während
hier das Parlament noch gar nicht richtig arbeitsfähig ist,
verhandelt der Bundesfinanzminister auf europäischer
Ebene natürlich weiter über dieses Projekt. Insbesondere
an zwei Punkten gilt es jetzt nachzusteuern, weil er da
auf dem falschen Pfad ist, und das kann teuer kommen.
Wir haben zwei Anträge eingebracht, die genau diese
zwei Punkte behandeln.
Der erste Aspekt ist folgender: Wir brauchen eine
Trennung zwischen Banken und Nationalstaaten, weil
diese Verknüpfung dazu geführt hat, dass, wenn eine
Bank wackelt, die Schulden auf den Staat übertragen
werden. So weit sind sich eigentlich alle einig. Doch im
Koalitionsvertrag findet man dazu nur wackelige Formulierungen wie: „Künftig soll da etwas gemacht werden“
oder: „Perspektivisch soll es einen Restrukturierungsfonds geben“, und man versteckt sich erneut hinter rechtlichen Fragestellungen. De facto heißt das: Deutschland
steht beim wichtigen Projekt eines europäischen Abwicklungsfonds, den die Banken finanzieren, auf der
Bremse. Das ist falsch.
({2})
Zweitens ist es falsch, dass die Entscheidung über die
Abwicklung einer Bank nach dem Vorschlag des Bundesfinanzministers von den nationalen Regierungen zu
treffen ist. Man muss doch daraus lernen, dass genau
diese Art von Verhandlungen zwischen den Regierungen
in der Vergangenheit erst zu diesen Milliardenlasten geführt haben. Wir brauchen endlich eine Institution in Europa, deren klarer gesetzlicher Auftrag es ist, den Steuerzahler vor neuen Lasten, die aus der Bankenrettung
resultieren, zu schützen.
({3})
Es ist Eile geboten, jetzt den Steuerzahler zu schützen. Denn aufgrund des Stresstests der Europäischen
Zentralbank wird sich schon sehr bald die Frage stellen:
Was machen wir, wenn neuer Kapitalbedarf besteht? Der Ministerrat, der Ecofin, hat unter Mitwirkung der
noch amtierenden Bundesregierung vor zwei Wochen
die Risiken für den Steuerzahler ganz nebenbei deutlich
erhöht.
({4})
Noch im Sommer dieses Jahres sagte uns Staatssekretär
Steffen im Rahmen einer Beratung im Finanzausschuss,
bevor der Steuerzahler in die Pflicht genommen werde,
müssten erst einmal mindestens 8 Prozent der Bilanzsumme von den Gläubigern getragen werden.
({5})
In dem neuen Ecofin-Beschluss ist dieser Punkt nicht
mehr enthalten.
({6})
An genau dieser Stelle haken wir ein und sagen: Hier
muss nachgesteuert werden. Es muss sichergestellt werden, dass als Erstes die Gläubiger zahlen müssen und
nicht wieder auf den Steuerzahler Rekurs genommen
wird. - Wenn man hinterher jammert, ist es zu spät. Jetzt
ist es an der Zeit, die Bedingungen richtig festzulegen,
damit nicht erneut die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in Europa in die Pflicht genommen werden. Das ist
unser Ziel.
Danke schön.
({7})
Danke schön, Herr Kollege. Sie haben Ihre Redezeit
gar nicht ausgeschöpft; das kenne ich sonst anders. ({0})
Nächster Redner ist Ralph Brinkhaus für die CDU/CSU.
({1})
Frau Bundestagspräsidentin! Vielleicht geht die Redezeit, die nicht ausgenutzt wird, ja an Sie über. Aber ich
glaube, das ist nicht der Fall.
Herr Schick, Sie haben ganz richtig gesagt, dass der
Zweck dieser Debatte wahrscheinlich nicht Ihre Anträge
sind - sie halte ich nämlich für überflüssig -, sondern die
Tatsache ist, dass sich die Welt zwischen Bundestagswahl und Koalitionsbildung weitergedreht hat. Während
sich die Welt weitergedreht hat, haben sich auch die Finanzmärkte weitergedreht. Auch die europäische Gesetzgebung hat sich weitergedreht. Das heißt, es sind
wichtige Entscheidungen getroffen worden. Wir sind bei
dem für den Verbraucherschutz so wichtigen Thema
MiFID weitergekommen. Wir sind bei dem für die Versicherungen so wichtigen Projekt Solvency weitergekommen. Wir sind bei der zweiten Etappe im Hinblick auf
die Bankenunion auf der Zielgeraden. Insofern ist es gut
und richtig, dass sich der Deutsche Bundestag hier und
heute zu diesem Thema positioniert.
({0})
Wenn man in die 17. Legislaturperiode zurückblickt
und sich die letzten vier Jahre vor Augen führt, stellt
man fest: Wir haben mehr als 30 Gesetze und Initiativen
auf den Weg gebracht, um die Finanzmärkte zwar nicht
zu bändigen, sie aber ein wenig sicherer zu machen. Wir
haben dafür gesorgt, dass die Finanzinstitutionen weniger Risiken eingehen. Wir haben dafür gesorgt, dass die
Risikotragfähigkeit steigt. Wir haben dafür gesorgt, dass
wir, zumindest auf nationaler Ebene, vernünftige Aufsichtsstrukturen bekommen. Wir haben einen Restrukturierungsmechanismus erarbeitet. Wir haben ziemlich
viel für den Verbraucherschutz getan.
Meine Damen und Herren, wenn Sie sich ansehen,
was im Koalitionsvertrag niedergelegt ist, stellen Sie
fest, dass dieser Weg weitergegangen wird und sich eigentlich gar nicht schrecklich viel geändert hat. Wir werden damit leben müssen, dass unsere - wie hat es Paul
Lehrieder eben genannt? - neue Lebensgefährtin - ich
hoffe nicht, dass sie unsere neue Lebensrestbegleiterin
ist ({1})
- unsere Lebensabschnittsbegleiterin, genau - sicherlich
auch beim Thema Bankenregulierung einige sozialdemokratische Akzente mit einbringen wird. Das heißt, die
Regelungen werden ein bisschen anders ausgestaltet.
Aber die Grundlinie wird gleich bleiben. In der letzten
Legislaturperiode haben wir ja erkannt, dass die Unterschiede nicht so groß waren, und das ist auch gut so.
Im Rahmen der Regulierung haben wir festgestellt,
dass der nationale Gesetzgeber an Grenzen stößt. Wir
haben das festgestellt, als wir in einem nationalen Alleingang Leerverkäufe verboten haben; wir waren froh,
dass man das auf europäischer Ebene nachvollzogen hat.
Wir haben das festgestellt, als wir als eines der ersten
Länder den Hochfrequenzhandel reguliert haben; es ist
gut, dass das auch in der MiFID nachvollzogen wird.
Wir haben das festgestellt, als wir als eines der ersten
Länder ein Trennbankengesetz auf den Weg gebracht haben. Ich glaube, das wird unter Berücksichtigung der
Liikanen-Vorschläge auf europäischer Ebene noch viel
wirkmächtiger.
Wir haben festgestellt, meine Damen und Herren,
dass das Restrukturierungsgesetz, das wir gemacht haben, bestenfalls für größere national tätige Banken
reicht, aber nicht für international tätige Banken.
({2})
Das ist auch ganz normal, meine Damen und Herren:
weil Finanzmärkte an nationalen Grenzen nicht haltmachen. Die meisten Finanzinstitutionen agieren überregional und über nationale Grenzen hinweg. Selbst Finanzinstitutionen, die innerhalb nationaler Grenzen arbeiten,
haben ein Schadenspotenzial, das über Landesgrenzen
hinausreicht. Wir haben das in Spanien gesehen: Die
Caixas - wahrlich nicht große Institute - hatten die Welt
mit Produkten beglückt, die Schwierigkeiten machten.
Das führte dazu, dass Spanien unter den ESM-Schirm
schlüpfen musste.
Insofern ist es gut und richtig, zu sagen: Wir haben
gelernt, wir brauchen internationale Regeln. - Die Re178
geln, die wir in den letzten vier Jahren eingeführt haben,
waren gar nicht so schlecht. Wir brauchen aber auch internationale Aufsichtsstrukturen, und wir brauchen internationale Problemlösungsmechanismen. Das war genau
der Punkt, an dem der Gipfel vom 29. Juni 2012 - es waren die Morgenstunden des 29. Juni 2012 - angesetzt hat
mit dem Bekenntnis: Ja, wir brauchen eine Bankenunion.
Wir stehen zu dieser Bankenunion. Diese Bankenunion wird einen Überwachungsmechanismus, einen
Aufsichtsmechanismus, und einen Abwicklungsmechanismus umfassen. Wir werden uns im Rahmen der Bankenunion auch noch mit einer dritten Säule beschäftigen
müssen, nämlich einer harmonisierten Einlagensicherung.
Bei dem gemeinsamen Aufsichtsmechanismus sind
wir sehr weit gekommen: Die Europäische Zentralbank
wird das übernehmen; sie wird Mitte nächsten Jahres an
den Start gehen. Es laufen schon jetzt vorbereitende Aktionen, Belastungstests; das ist auch gut und richtig so.
Es war nicht ganz einfach, das zu verhandeln, Herr
Schick. Es gab große Probleme bei der Trennung der
Geldpolitik von der Aufsichtspolitik im Rahmen der Europäischen Zentralbank. Wir waren auch nicht ganz einverstanden mit dem Vorschlag von Herrn Barnier, dass
sich die europäische Aufsicht bis in die kleinsten Verästelungen des deutschen Finanzsystems erstrecken soll,
dass die europäische Aufsichtsbehörde auch auf Sparkassen, Volksbanken und kleine Privatbanken direkten
Zugriff bekommen soll. Wir haben uns erfolgreich dagegen gewehrt. Ich glaube, wir sind uns darin einig, dass
dies im Interesse der Menschen in Deutschland und im
Interesse des Wirtschaftsstandorts Deutschland war.
({3})
Jetzt sind wir in der zweiten Etappe; da geht es um
den Abwicklungsmechanismus. Es gibt eine große Übereinstimmung: Wir brauchen Abwicklungsregeln, wir
brauchen Abwicklungsinstitutionen, und wir brauchen
Geld für die Abwicklung, einen Abwicklungsfonds.
Wir sind uns bei den Abwicklungsregeln einig, dass
wir eine Haftungskaskade brauchen. Wir wollen, dass
zuerst die Eigentümer der Finanzinstitutionen haften.
Wir wollen, dass danach die Gläubiger - diejenigen, die
diesen Finanzinstitutionen Geld gegeben haben; Ausnahme: Kleinanleger - haften. Wir wollen, dass dann ein
von Banken gefütterter Fonds für die ganze Sache haftet.
Jetzt kommen wir zu einem Punkt, an dem wir unterschiedliche Vorstellungen haben: Wir wollen, dass die
Nationalstaaten in der Verpflichtung bleiben, sich um
ihre Banken zu kümmern.
({4})
Erst wenn das passiert ist, soll der europäische Steuerzahler eingreifen; das ist uns ganz wichtig.
An diesem Punkt gibt es einen Bruch, an dem wir momentan verhandeln. Sie sagen, die Nationalstaaten müssten aus der Haftungskaskade herausgenommen werden,
weil, wenn wir eine europäische Regulierung haben,
auch eine europäische Verantwortung besteht, also auch
europäische Haftung nötig ist. Ich will Ihnen drei Beispiele nennen, die diesen Gedanken widerlegen: Der Erfolg einer Bank hängt nicht allein davon ab, ob die Regulierung erfolgreich ist. Wenn es, wie in Griechenland,
keine funktionierende Administration gibt, dann schadet
das den lokalen Banken und erhöht das Insolvenzrisiko.
Wenn, wie bei den Immobilien in Spanien, zugelassen
wird, dass Blasen entstehen, dann schwächt das die Banken. Es gibt also eine nationale Verantwortung. Wenn,
wie in Frankreich, eine verfehlte Steuer- und Haushaltspolitik gemacht wird, dann schwächt das die dortigen
Banken und führt dazu, dass Risiken entstehen. Deswegen, meine Damen und Herren, ist es wichtig, dass wir
die Nationalstaaten bei der Rettung bzw. Abwicklung
von Banken nicht komplett aus der Verantwortung entlassen.
({5})
Sie haben behauptet, wir würden uns bei unserer Ablehnung eines europäischen Abwicklungsfonds hinter
rechtlichen Begründungen verschanzen. Rechtlich, das
hört sich für die Öffentlichkeit technisch an, so als ob jemand das Richtige wolle, ihm aber irgendwelche Leute
mit rechtlichen Bedenken einen Strich durch die Rechnung machten. Fakt ist: Für einen gemeinsamen europäischen Abwicklungsfonds fehlt uns in den europäischen
Verträgen momentan die Rechtsgrundlage. Jetzt kann
man sagen: „Das ist nicht schlimm“; aber wir haben hier
in Deutschland andere Erfahrungen gemacht. Wir haben
einige Kollegen hier im Haus - es gibt da auch einige
Professoren -, die alle Regelungen gerne daraufhin überprüfen, ob sie auch im Einklang mit dem Recht stehen.
Sehen Sie es uns also bitte nach, dass wir beim Thema
europäischer Abwicklungsfonds sehr vorsichtig sind und
sagen: Solange wir dafür keine Rechtsgrundlage haben,
brauchen wir ein System aus verschiedenen nationalen
Fonds, die einander ergänzen.
Wir haben aber noch ein weiteres Problem mit dieser
Bankenunion. Als diese Veranstaltung am 29. Juni 2012
zu Ende war, haben einige Staatschefs aus südeuropäischen Ländern und auch der von Irland gesagt: Prima,
ich muss jetzt nur ganz schnell unterschreiben, dass ich
mich einem Aufsichtsmechanismus unterwerfe, dann
habe ich eine Restmülldeponie für alle meine mit den
Banken verbundenen Probleme gefunden. Alles, was ich
früher in die Bankenrefinanzierung gesteckt und wofür
ich Schulden gemacht habe, kann ich jetzt dorthin verlagern. Dann habe ich genug frisches Geld zur Verfügung,
um meine unterkapitalisierten Banken zu stärken, und
dann habe ich gegebenenfalls auch Geld, um die Abwicklung von Banken zu organisieren.
Genau das wollen wir nicht. Wir wollen eine Bankenunion, die nach vorne gerichtet ist und in die „saubere“
Banken aufgenommen werden. Deswegen ist es auch
wichtig, dass jetzt der Belastungstest erfolgt, bevor wir
damit starten. Das halte ich für gut und richtig.
({6})
Diese Punkte diskutieren wir auf europäischer Ebene.
Jetzt komme ich aber noch einmal zurück zu dem Antrag der Grünen. Der Antrag der Grünen steht in einer
weniger guten Tradition der letzten vier Jahre.
({7})
Es wird nämlich ein Bruch konstruiert, den es wahrscheinlich auch gibt. Die Grünen sagen: Wir wollen als
aufrechte Europäer möglichst europäische Lösungen,
wir wollen den europäischen Institutionen ganz viel
Kompetenz geben und ihnen die notwendigen Mittel zur
Verfügung stellen, während ihr von der CDU hier immer
zurückhaltend seid. „Ihr bremst“, sagen Sie.
Ganz ehrlich: Wir sind zurückhaltend, weil wir abwägen, ob es dem Subsidiaritätsgedanken entspricht, dass
wir Dinge an die europäische Ebene abgeben,
({8})
und weil wir glauben, dass wir einige Dinge national
besser regeln können. Wir wägen ab, indem wir uns fragen: Was kostet das unseren Steuerzahlern? Welche Bedeutung hat das industriepolitisch? Was bedeutet das für
unsere Sparkassen, für unsere Volksbanken und für unsere Mittelständler? Schließlich wägen wir ab, was das
für die Menschen in diesem Land bedeutet, die das
Ganze nicht nur verstehen, sondern auch bezahlen müssen. Wenn sie das nicht verstehen und nicht mitgenommen werden, dann geben sie ihre Wählerstimmen - das
haben wir sehr deutlich gesehen - Rechtsradikalen, anderen Radikalen, Euro-Skeptischen und sonstigen Parteien, was wir alle nicht wollen. Daher sind wir zögerlich
und bremsen manchmal gerne.
Wir freuen uns auf die Auseinandersetzung in dieser
Wahlperiode. Ihre Anträge lehnen wir ab.
({9})
Danke, Herr Kollege Brinkhaus. - Als nächster Redner spricht für die SPD Joachim Poß.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich will mich zunächst an einen möglichen Lebensabschnittspartner richten, an meinen Vorredner Brinkmann.
({0})
- „Brinkhaus“, Entschuldigung. Das war jetzt wirklich
keine Absicht.
({1})
- Ach so, Sie haben gleich assoziiert. Nein, diese Assoziation wollte ich hier nicht in den Raum stellen. Ich will
Ihnen aber Folgendes sagen:
Erstens. Sie haben über die Kaskadenregelung gesprochen. Eines der größten Probleme für unsere Steuerzahlerinnen und Steuerzahler ist sicherlich, dass das
nicht erst 2018, sondern schon 2015 kommt, um Risiken
zu begrenzen. Das scheint mir eher das Thema zu sein,
über das wir hier diskutieren sollten.
Zweitens. Frau Merkel, die demnächst ja auch eine
mögliche Lebensabschnittspartnerin ist - je nachdem,
was in meiner Partei dazu gesagt wird ({2})
- eine Chefin gibt es ja nicht; wir alle sind frei gewählte
Abgeordnete -, hatte am 29. Juni 2012 eine schwache
Minute. Das passiert ja jedem einmal. Sie hat damals
eine Zusage gegeben, und wir versuchen jetzt gemeinschaftlich, das rückabzuwickeln - wenn wir hier ehrlich
diskutieren wollen, dann müssen wir auch sagen, dass
wir das mit dem Koalitionsvertrag in der vorliegenden
Fassung ja versucht haben; Herr Schäuble hat das vorher
im Grunde genommen auch schon versucht -, was durch
die Zusage von Frau Merkel am 29. Juni 2012 ausgelöst
wurde.
({3})
Im laufenden Jahr sind die Finanzmärkte von dramatischen Verwerfungen verschont geblieben. Trotzdem
sollte niemand davon ausgehen, dass jetzt bereits alles
getan ist, um Crashs und Bank Runs für die Zukunft zu
vermeiden. Noch steht die europäische Bankenunion
nicht, noch sind erst Regeln für die europäische Aufsicht
verabschiedet worden. Das Abwicklungsregime - Sie
haben darauf hingewiesen - und die Einlagensicherung
im europäischen Kontext sind noch nicht beschlossen,
und die Zeit drängt.
Wir wissen: Im nächsten Jahr, 2014, wird ein neues
Europäisches Parlament gewählt, und es wird eine neue
EU-Kommission geben. Die Bankenunion sollte vorher
in trockenen Tüchern sein, sonst drohen Verzögerungen,
die wir nicht wollen. Darüber besteht, glaube ich, im
Großen und Ganzen Einigkeit hier im Hohen Hause.
Wir werden es also nur dann schaffen, zeitnah zur europäischen Bankenaufsicht ein europäisches Abwicklungsregime zu etablieren, wenn das nicht mit einer Vertragsänderung einhergeht. Eine Änderung der
europäischen Verträge braucht nach aller Erfahrung ihre
Zeit und würde nicht über Nacht durchzusetzen sein. Im
Ecofin, dem Rat der europäischen Wirtschafts- und
Finanzminister, wird zurzeit noch darüber gestritten, was
im Rahmen der bestehenden Verträge geht und was nicht
geht. Da hat - warum sollte man das hier verschweigen der geschäftsführende deutsche Finanzminister Wolfgang
Schäuble eine spezielle Rechtsauffassung, die von vielen
anderen seiner Kollegen und von der EU-Kommission
nicht geteilt wird.
({4})
- Von der EZB auch nicht.
({5})
- Von der SPD wird diese Auffassung ebenfalls nicht geteilt. Es ist gut, dass Sie so nette Hinweise geben, Herr
Kollege.
Wir erwarten, dass es hier bald zu einer einvernehmlichen Lösung kommt. Im Koalitionsvertrag von CDU,
CSU und SPD ist angesichts der Sachlage relativ klar
formuliert, Herr Kollege Schick:
Vor diesem Hintergrund unterstützen wir den zügigen Aufbau einer europäischen Abwicklungsbehörde … und eines einheitlichen europäischen Abwicklungsfonds, der perspektivisch vollständig
durch Bankenabgaben finanziert werden soll.
Wenn man sich Ihren Antrag zum Restrukturierungsmechanismus anschaut, dann muss man sagen: Er ist
auch nicht ganz widerspruchsfrei. Im Großen und Ganzen haben wir, Grüne und SPD, in der Beurteilung dieses
Politikbereichs, etwa bei der Euro-Raum-Stabilisierung
und bei der Finanzmarktregulierung, in der Vergangenheit weitgehend übereingestimmt. Aber auch da scheint
mir noch nicht alles ausformuliert zu sein. Ich will damit
nur andeuten: Ich glaube, da sind noch alle Parteien,
wenn man sich einmal bescheiden zurücknimmt, in einem Prozess.
Herr Kollege, lassen Sie eine Frage von Gerhard
Schick zu?
Gerne.
Danke. - Gerhard Schick, bitte.
Herr Kollege, mich interessiert, was Sie denn von
dem Vorhaben des Bundesfinanzministers halten, dass
die nationalen Regierungen, deren Kompetenzen der
Kollege Brinkhaus gerade noch einmal deutlich geschildert hat, gemeinsam über die Abwicklung einer Bank
verhandeln sollen, und was Sie von dem Vorschlag des
Bundesfinanzministers halten, dass es ein Netz von nationalen Fonds in nationaler Verantwortung geben soll,
sodass im Zweifelsfall die Steuerzahler eines Landes herangezogen werden könnten.
Das war bisher nicht die Position der SPD, wenn ich
das richtig verfolgt habe. Mich interessiert, was die neue
Koalition, wenn sie dann mit Ihnen gebildet wird, auf
europäischer Ebene verhandeln wird; denn es geht um
die Verhandlungen jetzt und nicht darum, was perspektivisch zu erwarten ist.
Herr Kollege Schick, das kann zu diesem Zeitpunkt
höchstens durch informelle Gespräche geschehen. Sie
wissen ja, wie das geht. Wir führen diese informellen
Gespräche mit dem geschäftsführenden Bundesfinanzminister und machen aus unseren Überzeugungen keinen
Hehl. Dazu gehört, dass wir einen europäischen Ansatz
einem Netzwerk auf nationaler Ebene vorziehen. Das
haben wir auch zu verstehen gegeben. Wir sind mitten in
einem Diskussionsprozess, soweit die Dinge nicht ganz
eindeutig durch die Koalitionsvereinbarungen festgelegt
sind.
Wir stimmen aber darin überein, auf einer starken Beteiligung der Bankengläubiger und Bankeneigner zu bestehen, bevor nationale staatliche Mittel oder vielleicht
sogar ESM-Mittel zur Bankenrestrukturierung oder -abwicklung eingesetzt werden; das ist vollkommen richtig.
Ich denke, dass wir hierfür insgesamt in der Koalitionsvereinbarung ein kluges Verständnis entwickelt haben.
Nachdem die Zusage am 29. Juni 2012 gemacht
wurde, wollen wir eine direkte Bankenrekapitalisierung
aus dem ESM nur unter äußerst restriktiven Bedingungen und als Ultima Ratio überhaupt möglich machen.
Dies muss konditioniert geschehen, und zwar so, dass
dieses Instrument vermutlich eher nicht genutzt werden
wird. Gleichzeitig erhalten die Märkte das Signal, dass
wir in Europa nichts ausschließen, um die Finanzmarktstabilität zu verteidigen und zu sichern.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Danke, Joachim Poß. - Jetzt kommt der nächste Redner - kein Lebensabschnittspartner -, Dr. Axel Troost.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Für uns Linke bleibt die europäische Bankenunion vor
allen Dingen eines: ein völlig unausgereiftes Konzept,
das bisher mehr Fragen aufwirft als Antworten gibt.
Wenn es wirklich stimmt, dass das Projekt eine ähnliche
Bedeutung hat wie die Einführung des Euro, dann muss
man sagen, dass hier sehr, sehr schlampig gearbeitet
wird.
({0})
Erstens. Fangen wir mit der europäischen Bankenaufsicht an, die der erste Schritt bzw. das Fundament ist. Es
bleibt dabei: Die juristische Konstruktion, die mit der
Ansiedlung einer europäischen Bankenaufsicht bei der
EZB gefunden worden ist, ist und bleibt eine Notlösung.
Sie ist juristisch umstritten und macht die EZB nicht
stark für die Auseinandersetzung mit den Banken.
Zweitens. Die Ansiedlung bei der EZB ist und bleibt
falsch. Die Brandmauer gegenüber der Geldpolitik ist
nicht zu errichten. Insofern bleibt es nicht nur eine Notlösung, sondern es ist eine falsche Konstruktion.
Drittens. Der Hintergrund der bekannten Ergebnisse
in der Nacht vom 27. auf den 28. Juli letzten Jahres bzw.
das Motiv, das Ganze der EZB zu übertragen, ist, Banken möglichst schnell einen Zugang zum ESM zu verschaffen.
({1})
Deswegen muss ruck, zuck gehandelt werden.
Wenn man sich das aber im Einzelnen anschaut, wird
deutlich: Es ist sehr vieles unklar. Die Bankenunion ist
sozusagen eine Euro-Zonen-Aufsicht. London als großer
Kapitalmarkt bleibt außen vor. Es ist völlig unklar, wie
die Schnittstellen funktionieren sollen. Es wird damit logischerweise zu einer Rivalität mit der existierenden europäischen Bankenaufsicht, der EBA, kommen, und das
wird auch so bleiben. Wir gehen weg von der Allfinanzaufsicht, die wir bisher in Deutschland hatten. Die Kontrollrechte des Europäischen Parlaments sind eher geringer als die Kontrollrechte, die wir bei der BaFin haben.
Insofern steht von diesem ganzen Konstrukt der Aufsicht, obwohl so getan wird, als stände es schon, erst
sehr wenig. Die BaFin hat sich auf dieses „sehr wenig“
vorbereitet und stellt zusätzliches Personal ein, um diese
Schnittstelle erst einmal doppelt abzusichern, weil man
Angst vor dem hat, was passiert.
Jetzt aber zum zweiten Schritt der Bankenunion, unserem eigentlichen Thema: dem europäischen Abwicklungsregime und Abwicklungsfonds für Banken. Eine
Bankenabwicklung, wenn sie wirklich erfolgt, muss
quasi an einem Wochenende durchgeführt werden. Sonst
drohen Börsenchaos und ein Run auf andere Banken. Es
ist völlig unklar, welches Gremium solche Entscheidungen in kurzer Zeit fällen soll, insbesondere vor dem Hintergrund, dass wir 17 Euro-Staaten haben, die mit der
Abwicklung beschäftigt sind, jede große Bank aber eine
Zweigstelle in London hat. Diese Zweigstellen sind aber
gerade nicht in das Abwicklungsregime einbezogen.
Es bleibt das Problem des hohen Gläubigerschutzes.
Natürlich ist es richtig, dass Eigentümer und Gläubiger
beteiligt werden sollen. Aber machen wir uns nichts vor:
Clevere Gläubiger und clevere Eigentümer werden sich
frühzeitig verabschieden und sich damit eben nicht in die
Pflicht nehmen lassen.
Aber selbst wenn das passiert, haben wir damit die
Chance, vielleicht 30 Prozent oder, wenn es ganz hoch
kommt, 40 Prozent abzudecken. Der Rest bleibt bei gigantisch großen Banken. Sie sagen zumindest heute in
der Debatte: Dann kommt die Bankenabgabe; dann
kommt der Bankenfonds, und zwar nach deutschem Modell.
({2})
Was bedeutet das deutsche Modell? Ich habe auf eine
Anfrage beim Finanzministerium die Zahlen für 2013 erhalten: Das Aufkommen aus der Bankenabgabe beträgt
520 Millionen Euro bei einem Rückgang des Aufkommens der privaten Großbanken um über 43 Prozent.
Über drei Jahre hinweg haben wir den Fonds um
1,8 Milliarden Euro aufgestockt. Sie sagen, Sie benötigen mindestens 70 Milliarden Euro. Dann brauchen wir
noch 113 Jahre, um diesen Fonds in Deutschland aufzubauen. Und Sie wollen jetzt allen sagen: Wenn wir dieses Modell auf Europa übertragen, dann wird das eine
Erfolgsgeschichte. - Das ist pure Augenwischerei.
({3})
Wir werden bei dem gigantischen Volumen, das Banken heute nach wie vor haben, mit so einer Bankenabgabe keine Finanzierungsalternative haben. Insofern
bleibt es dabei: Die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler
werden betroffen bleiben. Deswegen gibt es aus unserer
Sicht nur eines: Wir müssen die Banken verkleinern. Wir
müssen den Finanzsektor herunterfahren. Sonst gibt es
keine Chance, sich vor den Risiken zu schützen, die es
nach wie vor dort gibt. Das ist ganz zentral.
({4})
Letzter Punkt. Liebe Kollegen von der SPD, wenn ich
mir den Koalitionsvertrag im Bereich des Themenfeldes
Finanzmärkte genau anschaue, dann kann ich nicht wirklich erkennen, wo Ihr Eintritt in die Koalition Veränderungen im Vergleich zur vorangegangenen Koalition von
CDU, CSU und FDP mit sich bringt. Ich kann keine
wirklichen Veränderungen erkennen.
Danke schön.
({5})
Danke schön, Herr Kollege. - Der nächste Redner in
dieser Debatte ist Dr. Hans Michelbach von der CDU/
CSU.
({0})
Frau Präsidentin, ich grüße Sie.
Grüß Gott. - Wir sind aus Bayern.
Frau Roth, Sie sind eine bayerische Landsfrau. Ich
hätte nie gedacht, dass Sie einmal Präsidentin werden.
Das habe ich auch nicht gedacht.
Aber das ist eine schöne Sache. Auf jeden Fall gratuliere ich Ihnen, Frau Präsidentin.
Danke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Unser neuer Koalitionsvertrag legt klare Regeln für die Finanzmärkte fest. Der Grundsatz, dass in
Zukunft kein Finanzmarktakteur, kein Finanzprodukt
und kein Finanzmarkt ohne angemessene Regulierung
bleiben darf, gilt weiterhin; das ist gut so.
Wir bekennen uns in der Koalition gemeinsam zu
strengeren Eigenkapital- und Liquiditätsstandards für
Banken gemäß Basel III mit verbindlichen Schuldenobergrenzen, die den Risikogehalt der Geschäftsmodelle
angemessen berücksichtigen. Wir bekennen uns zum bewährten Drei-Säulen-System der deutschen Kreditinstitute und werden seine Besonderheiten auch in Zukunft
angemessen berücksichtigen.
Wir unterstützen auf europäischer Ebene die Vorschläge der Liikanen-Expertengruppe, die eine Regulierung der Schattenbanken vorsieht. Wir begrüßen die
Beibehaltung des Grundsatzes „Hilfe nur gegen Reformen“ in der EU-Rettungspolitik einschließlich der Abwehr einer europäischen Gemeinschaftshaftung über
Euro-Bonds, Schuldentilgungsfonds oder ein zentrales
europäisches Einlagensicherungssystem.
Wir haben klare Vorstellungen betreffend eine funktionierende Bankenunion. Eine solche Union muss aus
einer einheitlichen Bankenaufsicht, einem einheitlichen
Regelwerk und einem einheitlichen Mechanismus zur
Bankenabwicklung bestehen. Meine Damen und Herren
von den Grünen, Nachhilfeunterricht durch die von Ihnen vorgelegten Anträge benötigen wir nicht. Ihre Anträge sind obsolet und nichts anderes als grüner Finanzmarktpopanz. Es ist deutlich zu erkennen, dass wir die
Finanzmarktregulierung weit vorangebracht haben und
auch in Zukunft weiter in die richtige Richtung voranbringen werden.
({0})
Ich sage Ihnen zum Thema einheitlicher europäischer
Restrukturierungsmechanismus: Wir wollen diesen Abwicklungsmechanismus auf einer rechtssicheren Grundlage errichten, sodass Banken rechtzeitig, effektiv und
effizient abgewickelt werden können. Ein zentraler Abwicklungsfonds darf aber nicht gleichzeitig die Blaupause für einen zentralisierten europäischen Einlagensicherungsfonds sein. Ich glaube, das wäre falsch.
Ich teile die Auffassung, dass in der nächsten Krise,
soweit es irgendwie möglich ist, nicht die Steuerzahler,
sondern die privaten Eigentümer und Gläubiger, also
diejenigen, die auch Gewinnchancen hatten, die Lasten
tragen. Risikohaftung ist auch Teil der sozialen Marktwirtschaft. Daher unterstützen wir den zügigen Aufbau
einer Abwicklungsbehörde, insbesondere für die systemrelevanten, grenzüberschreitend tätigen Banken. Dafür
bedarf es einer rechtssicheren europäischen Grundlage;
das ist das Wesentliche. Auf Basis der allgemeinen Binnenmarktkompetenz nach Art. 114 des AEUV wird nur
ein Netzwerk aus nationalen Fonds und nationalen Bankenabgaben möglich sein. Damit ist klar, dass die Errichtung eines einheitlichen Fonds unter Berücksichtigung der Verantwortung der betroffenen Mitgliedstaaten
sichergestellt werden muss. Es hilft aber nichts, die Haftung eines Staates durch die Haftung vieler Staaten zu
ersetzen. Das bringt nichts und löst nicht die Verquickung von Banken und Staat auf. Wir brauchen die klare
Haftungskaskade, von der wir immer gesprochen haben.
Den Teufelskreis, in dem sich Pleitebanken und Verschuldungsstaaten befinden, wollen wir durchbrechen.
({1})
Angeschlagene Staaten und schwache Banken dürfen
eben nicht in eine beschleunigte Abwärtsspirale kommen.
Klar ist, dass auch eine direkte Kreditvergabe des
ESM an den Bankenfonds abzulehnen ist. Hier bliebe
die nationale Budgethoheit nicht ausreichend gewahrt.
Das muss man klar sehen. Die Haftung von nur einem
Staat würde auf andere Staaten verteilt werden. Das ist
nicht Sinn und Zweck einer gemeinsamen europäischen
Währung.
Kredite durch den ESM setzen keine Anreize für
einen Staat, Risiken im nationalen Bankensektor von
vornherein möglichst gering zu halten. Der Haftungsgrundsatz muss auch in der Bankenunion erhalten bleiben. Das ist unsere wesentliche Botschaft für diesen Bereich. Eine Bankenunion, in der nur national tätige,
kleinere Banken für risikoreiche Institute haften, darf es
ebenfalls nicht geben.
Deswegen müssen wir zum Thema Gläubigerbeteiligung im Antrag der Grünen sagen: Sie verlangen eine
Mindestbeteiligung der Bankinvestoren in Höhe von
8 Prozent der Bilanzsumme jeder Bank und unterstellen,
dass aus der Erklärung des Ecofin nicht deutlich werde,
in welchem Umfang eine Beteiligung privater Gläubiger
vor einer staatlichen Rekapitalisierung oder einem ESMProgramm erfolgen muss.
Diese Annahme ist willkürlich, und sie ist falsch. Die
Erklärung des Ecofin vom 14. November dieses Jahres
macht das Gegenteil deutlich, nämlich dass erstens im
Fall einer Kapitallücke bei einem Stresstest nicht der
Steuerzahler zahlen soll, dass zweitens eine Haftungskaskade gilt - für diese hatte sich unser Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble eingesetzt - und dass drittens die Schließung der Kapitallücken durch die Banken
selbst erfolgen muss. Gelingt dies nicht, muss Beihilferecht mittels Einbeziehung von Gläubigern erfolgen, und
zwar bevor öffentliche Mittel der Mitgliedstaaten eingesetzt werden dürfen.
Dabei ist wichtig, zu beachten, dass das Beihilferecht
für Bail-in nur Mindestvorgaben macht, aber keine
Obergrenzen festsetzt. Will also ein Mitgliedstaat beim
Bail-in über die Mindestanforderungen hinausgehen, so
kann er dies tun. Kann ein Mitgliedstaat verbleibende
Kapitalisierungskosten nicht aus eigener Kraft decken,
so kann er Hilfe beim ESM beantragen. Diese muss er
aber als Mitgliedstaat beantragen. In der Ecofin-Erklärung wird festgelegt, dass vor einer Bereitstellung von
ESM-Mitteln ein angemessenes Bail-in unter Beachtung
des Beihilferechts stattfinden muss. Auch hier gilt, dass
das Beihilferecht nur eine Mindestanforderung darstellt,
über die man hinausgehen kann.
Wir müssen hinsichtlich all dieser Entwicklungen bei
der Bankenunion deutlich machen, dass wir in der letzten Legislaturperiode gemeinsam durchgesetzt haben,
dass der Deutsche Bundestag bei diesen Maßnahmen ein
faktisches Vetorecht hat. Wir sollten selbstbewusst imDr. h. c. Hans Michelbach
mer wieder deutlich machen, dass es einen Automatismus nicht gibt.
({2})
Lassen Sie mich zum Abschluss ein Fazit ziehen: Die
Anzeichen eines wirtschaftlichen Aufschwungs im
Euro-Raum werden immer deutlicher, und der EuroRaum findet allmählich seinen Weg aus der Krise. Es
gibt die notwendigen Reformen mit stärkeren Haushaltskonsolidierungen. Das ist gut so. Wir sind auf dem richtigen Weg. Wir haben die richtigen Fundamente gelegt.
Deswegen: Lassen Sie uns gemeinsam mit der Finanzmarktregulierung fortfahren! Dann können wir alles dafür tun, dass die Steuerzahler nicht mehr an den Hilfsmaßnahmen beteiligt werden.
Herzlichen Dank.
({3})
Danke, Herr Kollege Dr. Michelbach. - Der letzte
Redner in dieser Debatte ist Manfred Zöllmer von der
SPD.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist schon erstaunlich, zu erfahren, was der Chef der
Deutschen Bank auf der Euro Finance Week von sich gegeben hat. Er hat natürlich Regulierung kritisiert - das
gehört immer dazu -, und dann hat er gesagt, das Konzept von „too big to fail“ sei Unsinn, damit müsse nun
Schluss sein. Lieber Herr Fitschen, „too big to fail“ ist
kein Unsinn, „too big to fail“ ist das Problem.
({0})
Es ist wirklich schon dreist, so unverfroren wieder die
alte Melodie zu singen, dass Gewinne privatisiert und
Verluste sozialisiert werden. Denn das ist die Konsequenz.
({1})
Wir müssen feststellen, dass die wesentliche Ursache
der Euro-Krise die Finanzmarktkrise war. Sie hat die
Staaten in die Überschuldung getrieben - die Ausnahme
war Griechenland -, weil Banken, die überschuldet waren, nicht den normalen marktwirtschaftlichen Gang in
die Insolvenz antreten konnten. Hier könnte man Herrn
Fitschen einmal über den Ordnungsrahmen einer Marktwirtschaft aufklären. Aber lassen wir das. Wenden wir
uns jetzt Europa zu.
Oberstes politisches Ziel der Sozialdemokratie ist es,
zu verhindern, dass der Steuerzahler erneut bluten muss,
und deswegen unterstützten wir von Anfang an die Bankenunion in Europa. Sie ist eine der zentralen Maßnahmen, um eine Wiederholung der Krise zu verhindern.
Der geplante Stresstest der EZB soll sicherstellen, dass
die Altlasten im Bankensystem vor Eintritt in die Bankenunion bereinigt werden. Wir wissen nicht, wie groß
diese Altlasten sind; aber wir haben Befürchtungen, dass
sie einfach da sind. Sanierung und Rekapitalisierung von
Banken im europäischen Raum sind deshalb eine vordringliche Aufgabe.
Wir haben über die Bankenaufsicht gesprochen. Ich
will wegen meiner begrenzten Redezeit da nicht in die
Details gehen. Lieber Kollege Troost, darüber sollten
wir noch einmal separat diskutieren. Es muss jetzt darum
gehen, eine entsprechende Regelung für die Abwicklung
und Restrukturierung von Banken zu treffen: Wer macht
es? Wer entscheidet? Wer finanziert?
Ein Abwicklungsverfahren für marode Banken in
Europa muss praktikabel sein - Herr Schick, ich stimme
Ihnen zu, es muss über das Wochenende entschieden
werden können; das ist völlig klar -; aber es muss auch
rechtssicher sein. Warum rechtssicher? Weil in diesem
Bereich jede Entscheidung mit Sicherheit beklagt wird.
Wenn man das Ganze auf einer unsicheren Rechtsgrundlage durchführt, dann richtet man großes Chaos an.
Nun gibt es unterschiedliche Rechtsauffassungen.
Das muss man einfach konzedieren; das ist so. Ich bin
kein Jurist - zum Glück.
({2})
Aber wir müssen das zur Kenntnis nehmen. Und wir
müssen zur Kenntnis nehmen, dass der Bundesfinanzminister eine ganz klare Rechtsauffassung hat, die er von
Anfang an geäußert hat. Er hat gesagt: Art. 114 AEUV
ist nicht ausreichend. - Es geht um die Frage: Ist es noch
Harmonisierung, oder ist es schon Zentralisierung? Darüber streiten sich die Juristen. Wir können diesen Streit
nicht entscheiden; aber wir müssen politisch fordern,
dass wir eine wasserdichte Lösung finden, die Rechtssicherheit gewährt, die also vor Gericht Bestand hat. Das
ist unsere politische Forderung.
Darüber hinaus brauchen wir eine Abwicklungsbehörde für die systemrelevanten grenzüberschreitenden
Banken. Darüber, wie man das organisiert, gibt es verschiedene Vorschläge. Nun muss es darum gehen, in den
Verhandlungen in Brüssel einen rechtssicheren Kompromiss zu finden. Wenn das auf der Basis der bestehenden
Verträge nicht möglich ist, dann muss es als Zwischenlösung ein intergouvernementales Netzwerk mit nationalen Bankenabgaben geben,
({3})
bis die rechtlichen Voraussetzungen für eine gemeinschaftliche Institution geschaffen sind. Bis dahin bleiben
die Mitgliedstaaten in der Tat in der Verantwortung.
Aber Ziel bleibt, eine gemeinsame europäische Bankenabgabe einzuführen. Das ist für uns Sozialdemokraten wichtig.
({4})
Denn das oberste Ziel ist es: Steuerzahler dürfen nicht
noch einmal herangezogen werden. Deshalb soll die
Haftungskaskade kommen; dazu ist schon einiges gesagt
worden.
Nun haben wir aber das Problem, dass die Frage,
wann die Neuregelung eigentlich in Kraft tritt, noch unbeantwortet ist. Das ist ein entscheidender Punkt. Die
aktuellen Haftungsregeln gelten bisher bis 2018. Die
Neuregelung muss aber vor Ablauf der aktuellen Haftungsregeln in Kraft treten. Das ist unsere politische
Auffassung. Das ist ein ganz wichtiges Ziel, das der
Minister erreichen muss, damit wir hier vernünftige
Strukturen haben.
Lieber Herr Schick, in Ihrem Antrag taucht so etwas
nicht auf.
({5})
Wir sind bei Ihren Anträgen von der Qualität her eigentlich mehr gewohnt. Was Sie uns mit diesen Anträgen
präsentieren, ist ein bisschen dünn.
({6})
- Gern,
({7})
aber dann ein bisschen substanzieller und auf den Sachverhalt bezogen!
({8})
Zur Rekapitalisierung der Banken und zum ESM hat
der Kollege Poß Entsprechendes gesagt. Da hat es die
Zusage der Bundeskanzlerin im Juli gegeben, unter
Schwarz-Gelb noch. Das können wir jetzt nicht vom
Tisch wischen. Was wir können, ist, dem Finanzminister
eine glückliche Hand bei den schwierigen Verhandlungen in Brüssel zu wünschen;
({9})
denn wir wissen: Wir müssen jetzt Nägel mit Köpfen
machen - ich komme zum Schluss -, durch die Europawahl verlieren wir sonst viel zu viel Zeit.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({10})
Danke, Herr Kollege. - Damit schließe ich die Aussprache.
Jetzt kommen wir zur Abstimmung über die Anträge
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf den Drucksachen 18/97 und 18/98. Die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen wünscht jeweils Abstimmung in der Sache; die
Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und der Linken
wünschen jeweils die Überweisung an den Hauptausschuss.
Jetzt möchte ich zuerst feststellen, ob es eine Mehrheit für die Ausschussüberweisungen gibt. Ich frage deshalb: Wer stimmt für die beantragten Überweisungen? Wer stimmt dagegen? - Eigentlich kann sich jetzt niemand mehr enthalten. Ich frage trotzdem: Wer enthält
sich? - Bei Zustimmung von CDU/CSU, SPD und Linken und Ablehnung durch Bündnis 90/Die Grünen sind
die Überweisungen so beschlossen. Deswegen stimmen
wir heute in der Sache nicht ab.
Vielen Dank für diese Debatte; ich habe viel gelernt.
Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Vorschlag für eine Verordnung des Rates über
das Programm „Europa für Bürgerinnen und
Bürger“ für den Zeitraum 2014-2020
- Drucksache 18/13 Überweisungsvorschlag:
Hauptausschuss
Auch hier wurde nach interfraktioneller Vereinbarung
für die Aussprache eine Zeit von 38 Minuten vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Ich sehe nur jemanden, der unbedingt ganz schnell reden will. Dann ist die
Zeit für die Aussprache sofort so beschlossen, und ich
gebe Markus Grübel das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Gesetz, das wir heute beraten, ist wirklich kurz. Es
besteht aus drei Sätzen. Im Verhältnis 2:1 werden diese
Sätze auf zwei Artikel verteilt. Damit wird es wahrscheinlich das kürzeste Gesetz sein, das wir in dieser
Wahlperiode beraten.
({0})
Das Gesetz schafft die Rechtsgrundlage für die Zustimmung des deutschen Vertreters im Rat zum Vorschlag für eine Verordnung über die Fortführung des
Programms „Europa für Bürgerinnen und Bürger“, wie
es etwas sperrig heißt. Diese europäische Verordnung
hat nach einer langen Vorbemerkung 16 Artikel. Man
kann das eigentlich zusammenfassen oder auf den Punkt
bringen mit: Das Programm will Europa erlebbar machen.
Es geht darum, über Ländergrenzen hinweg Bürgerinnen und Bürger, insbesondere die Jugend, zusammenzubringen. Es geht darum, die europäische Idee zu bewerben und Europa den Menschen näherzubringen. Das
Programm setzt an der Zivilgesellschaft an und baut auf
bürgerschaftliches Engagement. Es setzt auf die kleinen
Einheiten, insbesondere auf Vereine und die Kommunen.
Mit dem neuen Programm für den Zeitraum 2014 bis
2020 soll ein breites Spektrum an unterschiedlichen Aktionen abgedeckt werden. Ein bunter Strauß von Maßnahmen ist in dem Programm möglich. Es soll beispielsMarkus Grübel
weise umfassen: Bürgerbegegnungen, Kontakte und
Debatten zu Bürgerschaftsthemen, Veranstaltungen auf
Ebene der Europäischen Union, Initiativen zur Sensibilisierung für Meilensteine in der Geschichte Europas sowie Initiativen mit dem Ziel, den europäischen Bürgerinnen und Bürgern, insbesondere der Jugend bei uns in
Europa, die Geschichte der Europäischen Union und die
Funktionsweise der Organe der Europäischen Union näherzubringen, und Debatten über europäische Themen.
Dieses Programm passt gut zu dem, was wir, die
CDU/CSU, in unserem Regierungsprogramm zu Europa
und zum Ehrenamt gesagt haben. Es findet sich auch im
Koalitionsvertrag wieder.
Für unser Gemeinwesen ist das Engagement der Bürgerinnen und Bürger eine unverzichtbare Säule. Der Gedanke des bürgerschaftlichen Engagements und Ehrenamts ist nicht nur für das Miteinander innerhalb unseres
Landes von zentraler Bedeutung. Es dient auch dem Zusammenhalt und dem Miteinander innerhalb Europas.
({1})
Die Förderung von Projekten, mit denen gerade jungen Menschen die Geschichte und das Wertefundament
der Europäischen Union nähergebracht werden, ist wichtig. Gerade in diesen Tagen, in Zeiten der Wirtschaftsund Finanzkrise - das zeigte auch der letzte Tagesordnungspunkt - haben wir gemerkt, dass die Europäische
Union einen Ansehensverlust erlitten hat. Beim Thema
Europa denken wir an den Euro, an Krisenstaaten und
Rettungspakete, aber viel zu wenig an die positiven Aspekte der europäischen Einigung. Gerade der Jugend
sollte die Geschichte Europas - Kriege und Vertreibung einerseits sowie die Aussöhnung nach 1945 andererseits - stärker bewusst gemacht werden.
Sinnvoll ist daher, dass die Themen „europäisches
Geschichtsbewusstsein“ und „demokratisches Engagement und Bürgerbeteiligung“ die inhaltlichen Schwerpunkte sein sollen. Die Jugend, die die deutsche Teilung
und die Teilung Europas nicht erlebt hat und die weder
Krieg noch Stau an der Zollstation auf dem Brenner erlebt hat, für Europa zu begeistern, ist ein wichtiges Anliegen des Programms.
({2})
Darum ist es gut und richtig, Europa erlebbar zu machen. Es ist gut und richtig, Europa positiv erlebbar zu
machen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Danke, Herr Kollege. - An den Stau am Brenner kann
ich mich auch noch erinnern.
Die nächste Rednerin ist Petra Crone für die SPD.
({0})
Frau Präsidentin, Glückwunsch zu Ihrer ersten Sitzungsleitung! Meine lieben Kollegen und Kolleginnen!
Meine Damen und Herren! Ich freue mich, dass einer der
ersten Tagesordnungspunkte der 18. Wahlperiode das
Thema „Europa für Bürgerinnen und Bürger“ ist. Der
Gesetzentwurf der noch amtierenden Regierung mit dem
etwas sperrigen Titel - der Entwurf ist kurz, aber der Titel ist sehr lang - „Gesetz zum Vorschlag für eine Verordnung des Rates über das Programm ‚Europa für Bürgerinnen und Bürger‘ für den Zeitraum 2014-2020“ soll
die rechtlichen Voraussetzungen dafür schaffen, dass der
deutsche Vertreter oder die deutsche Vertreterin im Rat
dem Vorschlag des Rates zustimmen kann. Das hört sich
technisch an und ist auch weitgehend technisch. Die Voraussetzung aufgrund des Integrationsverantwortungsgesetzes ermöglicht es uns aber, eine inhaltliche Debatte
zum Thema „Europa und Bürgerbeteiligung“ zu führen.
Das begrüßen wir, die SPD-Bundestagsfraktion, sehr.
({0})
„Europa für Bürgerinnen und Bürger“ - das hört sich
gut an. Die zur Abstimmung stehende EU-Verordnung
soll die Themen „Europäisches Geschichtsbewusstsein“
und „Demokratisches Engagement und Bürgerbeteiligung“ zu inhaltlichen Schwerpunkten machen. Auch das
hört sich gut an. Allerdings darf es nicht bei schönen
Worten, aber wenig Taten bleiben.
Der vorliegende Vorschlag des Rates ist zunächst eine
Ansammlung schöner Worte, die einen angesichts der
Politik der EU-Kommission in den letzten Jahren zweifeln lässt; denn es nützt überhaupt nichts, schöne Programme und Aktivitäten ins Leben zu rufen, wenn Europa von den Menschen vorwiegend mit Finanzen,
Binnenmarkt, Ellenbogen, Sparbeschlüssen und Besserwisserei des Nordens gegenüber dem Süden in Verbindung gebracht wird. Europa braucht mehr Solidarität,
Respekt, Begegnung und Menschlichkeit.
({1})
Diese Werte schaffen wir nicht mit Aktionsprogrammen,
sondern nur mit solidarischer, sozialer und weitsichtiger
Politik sowohl auf EU- als auch auf Bundesebene.
Doch wäre es ungerecht, die Verordnung auf schöne
Worte zu reduzieren; denn die Einzelziele „Europäisches
Geschichtsbewusstsein“ und „Demokratisches Engagement und Bürgerbeteiligung“ werden konkret mit Leben
erfüllt. Außerdem verstärken die genannten Programme
die Begegnung und die Solidarität von EU-Bürgerinnen
und -Bürgern. Die EU-Verordnung soll das Lernen und
die Kooperationsaktivitäten von EU-Bürgern fördern,
Kontaktstellen für das Programm einrichten und entsprechende Analysen implementieren.
Offen bleibt für die SPD-Bundestagsfraktion, wie die
Evaluierungen der Programme konkret erfolgen sollen
und inwiefern die Nachhaltigkeit gesichert ist. Wir sehen
doch, dass sich immer weniger eher einkommensschwache und bildungsfernere Bevölkerungsschichten am
bürgerschaftlichen Engagement beteiligen. In diesem
Zusammenhang hätte ich mir vor allem einen sozioöko186
nomischen Gradmesser für die Evaluierungen gewünscht. Auch die Aspekte Alter und Geschlecht werden lediglich vorgeschlagen. Dazu wird uns die
Bundesregierung in den Ausschüssen noch mehr mitteilen müssen.
In der 17. Wahlperiode ist leider die Chance verpasst
worden, Engagementpolitik gemeinsam mit der Zivilgesellschaft zukunftsfest weiterzuentwickeln. Insofern
überrascht es mich und freut es mich natürlich auch, dass
die Bundesregierung der EU-Verordnung im Rat zustimmen möchte.
Bürgerschaftliches Engagement kann die staatlichen Institutionen nur ergänzen, wenn es über die
entsprechenden Mittel und öffentlichen Räume verfügt.
Diesen Worten von Wolfgang Thierse schließe ich
mich an und freue mich, auf dieser Grundlage die kommenden Gespräche zur Verordnung zu führen.
Ich danke Ihnen.
({2})
Herzlichen Dank, liebe Petra Crone. - Nächster Redner in dieser Debatte: Andrej Hunko von der Linken.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir reden über das Programm „Europa für Bürgerinnen und
Bürger“ für die Jahre 2014 bis 2020. Für das Programm
sind 229 Millionen Euro vorgesehen, mit dem Ziel der
„Verbesserung der Voraussetzungen für eine demokratische Bürgerbeteiligung“. Das hört sich schön an.
Zur Verbesserung der Voraussetzungen für eine demokratische Bürgerbeteiligung wären allerdings vor allem mehr demokratische Rechte der Bürgerinnen und
Bürger angezeigt, wäre es angezeigt, das Demokratiedefizit auf europäischer Ebene anzugehen. Ich rede hier
unter anderem von der Europäischen Bürgerinitiative,
die in der vorliegenden Ratsverordnung als „einzigartige
Möglichkeit, die Bürgerinnen und Bürger direkt an der
Gestaltung der EU-Rechtsvorschriften mitwirken zu lassen“, dargestellt wird.
Leider muss man sagen, dass die EBI eine einzigartig
eingeschränkte Möglichkeit zur Mitwirkung ist, unter
anderem, weil sie an die Umsetzung der bestehenden
Verträge gebunden ist. Ich habe mir einmal die Liste der
von der Europäischen Kommission abgelehnten Bürgerinitiativen der letzten Monate ausdrucken lassen. Da
wurde zum Beispiel die Bildung einer öffentlichen Bank
für eine soziale, ökologische und solidarische Entwicklung abgelehnt, weil sie nicht in den Verträgen vorgesehen ist. Ein europaweiter Atomausstieg wurde wegen
Euratom abgelehnt. Eine Initiative gegen die grausame
Behandlung von Tieren wurde abgelehnt. Ein europaweites Referendum, um demokratische Defizite aufzuheben, wurde abgelehnt. Das ist leider die Realität.
Die Linke fordert hier mehr Demokratie auf europäischer Ebene, damit solche Initiativen, in denen sich Bürgerinnen und Bürger für europäische Themen engagieren, auch wirklich eine Chance haben.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ähnlich wie bei der
EBI verhält es sich leider auch mit dem Programm „Europa für Bürgerinnen und Bürger“. Die Mittelvergabe
wird vorrangig an den „Bezug zu den Strategien der
Union“ gebunden. Die Strategie „Europa 2020“ als radikalisierte Fortsetzung der gescheiterten Lissabon-Strategie mit dem Dogma der EU als wettbewerbsfähigstem
Wirtschaftsraum der Welt wird damit zur praktischen
Richtschnur für Projektanträge. Kritische Projektträger,
die vielleicht alternative Europa-Visionen haben, dürften
es schwer haben. Völlig weltfremd wird es, wenn es in
der Verordnung heißt - Zitat -:
… die eindrucksvollen Errungenschaften in puncto
Frieden und Stabilität in Europa, langfristiges nachhaltiges Wachstum … haben nicht immer zu einem
starken Zugehörigkeitsgefühl der Bürgerinnen und
Bürger zur EU geführt.
Das ist ja auch eben angesprochen worden.
Auf Deutsch: Viele Menschen, insbesondere in Südeuropa, wenden sich von der EU ab, misstrauen ihr, und
zwar gerade wegen der Art und Weise, wie EU-Kommission und EZB als Teil der Troika mit wirtschaftlichen
und sozialen Problemen umgehen, nämlich durch Kürzungen von sozialen Leistungen, von Löhnen, durch Personalabbau im öffentlichen Dienst, durch Deregulierung
und erzwungene Privatisierung bis hin zur Wasserversorgung. Eine solche Politik führt zur Entfremdung der
Bürgerinnen und Bürger von der EU.
({1})
Es ist jetzt leider auch zu befürchten, dass Projekte,
die im Einklang mit der gegenwärtigen EU-Strategie stehen, bei der Mittelvergabe bevorzugt werden, während
kritische Projekte drohen leer auszugehen. Das lehnen
wir ab.
({2})
Ein letzter, aber wichtiger Punkt: In der Ratsverordnung ist von „europäischer Identität“ die Rede, im Kontext des Gedenkens an die Verbrechen totalitärer Regime
in Europa. Bis zu 20 Prozent der Mittel könnten für Projekte abgerufen werden, die sich „mit den Ursachen für
die totalitären Regime in der neueren Geschichte Europas“ auseinandersetzen. So notwendig die Auseinandersetzung mit dem Naziregime in Deutschland einerseits
und dem Stalinismus in der Sowjetunion andererseits ist
und so notwendig es wäre, sich darüber hinaus mit dem
europäischen Kolonialismus und dem Ersten Weltkrieg
auseinanderzusetzen, so entschieden lehnen wir jedoch
die Gleichsetzung von Naziregime und Stalinismus ab,
wie sie in der fragwürdigen Totalitarismustheorie zum
Ausdruck kommt,
({3})
nicht zuletzt, weil sie auch eine Relativierung des Holocausts darstellt. Auf jeden Fall sollte die Frage des Sinns
und Unsinns einer Totalitarismustheorie Gegenstand der
wissenschaftlichen Forschung sein und nicht zum Bezugsmerkmal bei der Vergabe von Mitteln zum Beispiel
an Thinktanks oder Geschichtsvereine werden.
Aus diesem Grund hat auch die Linksfraktion im Europäischen Parlament die entsprechende Verordnung abgelehnt. In ihrem Minderheitenvotum heißt es dazu:
Wir haben gegen den Bericht gestimmt, weil wir
uns für die folgenden Werte einsetzen:
- die Vielfalt und Achtung der verschiedenen Kulturen und Völker Europas
- die Trennung von politischer Tätigkeit und der
Arbeit von Historikern und Forschern
- die demokratischen Grundsätze, die Diskussionen
und die Möglichkeit einer kritischen Sicht der Europäischen Union, ihres Aufbaus und ihrer Geschichte einschließen.
Dem können wir uns hier im Bundestag nur anschließen.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und bin
gespannt, wie qualifiziert sich der heute gegründete
Hauptausschuss mit diesem Thema auseinandersetzen
wird.
Vielen Dank.
Danke schön, Herr Kollege. - Dann kommt jetzt ein
qualifizierter Beitrag unseres Kollegen Manuel Sarrazin,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vielleicht ein Wort zur Faktenlage: Über das Programm „Europa für Bürgerinnen und Bürger“ werden Städtepartnerschaften, Vereine, Bildungs-, Forschungs-, Kultur- und
Jugendeinrichtungen, Stiftungen und Gewerkschaften
gefördert, und die geförderten Aktionen müssen grundsätzlich transnational durchgeführt werden oder eine europäische Dimension haben.
Ich dachte eigentlich, dass das Thema der internationalen Begegnungsarbeit etwas wäre, das sogar mich mit
den Idealen der Linkspartei verbindet.
({0})
Aber man kann natürlich, so wie Sie es tun, die finanzielle Förderung dieses Bereichs mit fast 200 Millionen
Euro ablehnen und hier irgendwelche geschichtspolitischen Ausführungen machen.
({1})
Vielleicht sollte man sich doch noch einmal vor Augen führen, verehrter Kollege Hunko, dass wir im nächsten Jahr verschiedenste Jahrestage haben, die auch vor
dem Hintergrund der Europawahl und gerade vor dem
Hintergrund der Krise eine wunderbare Gelegenheit bieten, beim Thema Geschichtsbewusstsein etwas vorzuleben.
({2})
- Wir haben nächstes Jahr den 100. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkrieges. Jetzt können wir einmal
schauen, ob Ihnen auch die weiteren Jahrestage einfallen. Zum Beispiel haben wir im August einen Jahrestag:
75 Jahre Hitler-Stalin-Pakt. Das ist durchaus eine Gelegenheit, über die Geschichte Europas zu reden und auch
die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts kritisch aufzugreifen. Im Juni nächsten Jahres ist beispielsweise das
25-jährige Jubiläum der ersten teildemokratischen Wahlen in der Volksrepublik Polen. Das ist ein wirklich grandioses Datum, um das Geschichtsbewusstsein zu stärken
und dabei die gesamteuropäische Dimension einzubeziehen, die nicht klassisch westeuropäisch-links geprägt ist.
Ich glaube, meine Damen und Herren, dass wir eine
sehr wichtige Debatte führen, nicht, weil dieses Programm etwa das wichtigste wäre, auch nicht, weil hier
die Flexibilitätsklausel angewandt wird und wir aktiv die
Verfassungsidentität unseres Grundgesetzes nach der
Lissabon-Rechtsprechung des Verfassungsgerichts leben, sondern weil es hier darum geht, Gelder freigeben
zu können, damit die genannten Institutionen und die
Städtepartnerschaften so schnell wie möglich auf die
Gelder zugreifen und Projekte durchführen können, damit sich Menschen in Europa treffen und begegnen können.
Leider debattieren wir den Gesetzentwurf erst jetzt.
Er wurde uns von der Bundesregierung so spät vorgelegt, obwohl zumindest politisch schon seit Monaten die
Zahl, die am Ende der Haushaltsverhandlungen herauskommen würde, vorlag. Das Problem ist, dass wir es nun
aller Wahrscheinlichkeit nach aufgrund des Gesetzgebungsverfahrens in Deutschland im Zusammenhang mit
dem Bundesrat und der erst dann folgenden Ratsbeschlüsse nicht hinbekommen werden, dass tatsächlich ab
Januar Mittel fließen können.
Das heißt, das europäische Miteinander wird - zumindest zum 1. Januar des geschichtsträchtigen Jahres 2014,
in dem sich der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges 1939
sowie die Osterweiterung 2004 jährt - erst einmal ausgesetzt, weil diese Regierung und auch dieses Parlament
aufgrund der langen Koalitionsverhandlungen nicht
rechtzeitig aus dem Knick gekommen sind und weil sich
die alte Regierung nicht getraut hat, einfach einmal bis
zum Ende der Legislatur vorzudenken.
Das andere ist: Wir sagen oft sehr allgemein, es gebe
eine große, böse Sparpolitik in Europa. Hier bietet sich
eine gute Gelegenheit, zu sagen, dass es wirklich schade
ist, dass die Politik, die Schwarz-Gelb im Zuge der Verhandlungen über den mehrjährigen Finanzrahmen in den
letzten Jahren gemacht hat, zu allgemeinen Einsparungen im EU-Haushalt geführt hat, was wiederum dazu
führt, dass dieses Programm zur Förderung von Städtepartnerschaften, das die Begegnung junger Menschen
fördern soll, in der vorliegenden Fassung weniger Mittel
zur Verfügung hat. Dem Programm wurden zwischen
2013 und 2014 5 Millionen Euro gestrichen, und in der
gesamten neuen Förderperiode stehen 30 Millionen Euro
weniger zur Verfügung.
Ich kann nur sagen: Da wurde der Rotstift an der falschen Stelle angesetzt. Dadurch fallen unserer Meinung
nach wohlmeinende, lobenswerte und unterstützenswerte Projekte einem falschen Politikstil in Bezug auf
die Finanzierung der Europäischen Union zum Opfer.
Meine Damen und Herren, wir üben nicht nur Kritik,
wir haben auch Vorschläge, wie man das Programm konkret ausgestalten könnte. Die Grünen haben immer auf
allen Ebenen Verbesserungsvorschläge gemacht, unsere
europäische Fraktion hat diese auch vorgetragen. Am
Ende haben wir dem vorliegenden Programm trotzdem
zugestimmt, weil wir, im Gegensatz zur Linkspartei,
meinen: Es ist gut, wenn sich junge Menschen treffen,
wenn über Städtepartnerschaften und Kulturinstitutionen
Menschen miteinander über Geschichte und Politik ins
Gespräch kommen.
({3})
Deswegen stimmen wir dem vorliegenden Gesetzentwurf zu.
Danke.
({4})
Danke schön, Herr Kollege Sarrazin. - Nächste Rednerin: Daniela Ludwig für die CDU/CSU.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Über den Inhalt des Programms, über das wir heute debattieren, ist bereits viel Richtiges gesagt worden. Sehen
Sie mir nach, dass ich das alles an dieser Stelle nicht
wiederholen möchte.
Ich glaube schon, dass das Programm jenseits der Kritik, die man auch vorbringen möchte, eine gewisse Daseinsberechtigung hat, zum einen natürlich, weil es Generationen und auch Institutionen über die Grenzen in
Europa hinweg verbinden soll, zum anderen aber - und
so verstehe ich es ein klein wenig -, weil es auch gewisse Vorurteile gegenüber der Europäischen Union, die
gerade junge Menschen in sich tragen, beseitigen soll.
Wir alle wissen, dass es viele junge Menschen gibt,
die weder einen Krieg miterlebt haben noch die Teilung
Europas bewusst wahrgenommen haben. Für sie ist Europa in allererster Linie nicht das, was es für uns ist,
nämlich ein gigantisches Friedenswerk, sondern für sie
ist es teilweise lästig. Sie nehmen Europa wahr als die
EU-Kommission, die mit sinnlosen Richtlinien und Verordnungen um sich wirft. Die Gurkenkrümmung ist ein
gern genanntes Beispiel. Ich weiß nicht, ob Sie wissen,
dass die Europäische Kommission bereits seit zehn Jahren an einer Schnullerkettenverordnung arbeitet, um
möglichst viele Unfälle durch Schnullerketten zu verhindern. Das ist das - so lustig es klingt -, was die Menschen wahrnehmen
({0})
und was letztlich dafür sorgt, dass sie etwas frustriert
sind, was die europäische Entwicklung angeht.
Umso wichtiger ist es, dass wir nicht nur mit Programmen wie diesem, über das wir heute debattieren,
dieser oftmals aufkeimenden Frustration gerade auch unter jüngeren Menschen entgegenwirken, sondern dass
wir in unserer täglichen politischen Arbeit, für die wir
Verantwortung tragen, auch darauf hinwirken, dass Europa transparenter, bürgerfreundlicher und an der einen
oder anderen Stelle demokratischer wird, und zwar nicht
nur dann, wenn wir das Europäische Parlament wählen.
Deswegen finde ich es gut, dass wir diesen Gesetzentwurf heute auf den Weg bringen. Dadurch werden gute
Initiativen finanziell gefördert. Diese Initiativen möge es
bitte auch weiterhin geben. Daran müssen wir alle ein
Interesse haben.
({1})
Wir müssen aber auch ein Interesse daran haben, dass
klar wird - auch dafür ist dieses Programm gut -, dass
Europa nicht irgendwo über uns ist, sondern dass es immer bei uns, dass es zwischen uns ist.
Wir haben uns das Subsidiaritätsprinzip immer ganz
groß auf die Fahnen geschrieben: Es soll ein Europa der
Regionen sein. Es soll ein Mitmacheuropa werden; die
Menschen sollen Europa mitgestalten. - Die Menschen
können Europa am besten mitgestalten, wenn wir sie ordentlich darüber informieren, was Europa für ihr tägliches Leben bedeutet, wie sie Europa positiv für sich nutzen können. Ich glaube, dass wir die bei den Menschen
vorhandene Skepsis gegenüber Europa nicht nur mithilfe
dieses Programms, sondern auch durch unser tägliches
politisches Handeln spürbar abbauen können. Deshalb
ist dieses Programm, wie ich finde, ein Schritt in die
richtige Richtung. Wir wollen nicht länger nur über die
Gurkenrichtlinie, über die Schnullerkettenverordnung
und über Euro-Rettungspakete sprechen, sondern auch
darüber, dass es ein Europa der Völkerverständigung
und insbesondere ein Europa der Jugend geben muss,
von dem alle Nationen profitieren.
Ich bin sehr froh, dass wir dieses Programm heute auf
den Weg bringen und die Bundesregierung zustimmen
will. Ich bin angesichts all der guten und konstruktiven
Vorschläge, die wir von den verschiedenen Seiten gehört
haben, sicher, dass wir einen guten Weg finden werden,
dieses Programm bei uns in Deutschland ordentlich umzusetzen.
Vielen herzlichen Dank.
({2})
Danke schön, Frau Kollegin Ludwig. - Nächste Rednerin ist Kerstin Griese für die SPD.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist sehr sinnvoll, das Programm „Europa für Bürgerinnen und Bürger“, das es schon eine Zeit lang gibt,
weiterzuführen - das beschließen wir heute -; denn es ist
wichtig, Menschen für die europäische Idee zu begeistern. Das erreicht man übrigens am wenigsten, wenn
man mit platten Vorurteilen, mit krummen Gurken oder
Schnullerketten argumentiert. Man muss die Menschen
vielmehr für die europäische Idee begeistern,
({0})
man muss Europa erlebbar machen. Viele junge Menschen, die ich kenne, erleben Europa in ihrem Alltag als
eine Selbstverständlichkeit. Sie sind begeisterte und
überzeugte Europäerinnen und Europäer.
({1})
Deutschland stimmt diesem Programm als letzter EUMitgliedstaat zu. Deshalb ist die Angelegenheit ein bisschen dringlich. Ich will ausdrücklich sagen, dass wir die
beiden Schwerpunkte des Programms unterstützen.
Der erste Schwerpunkt ist schon genannt worden: Das
europäische Geschichtsbewusstsein soll gestärkt werden. In einer Studie der FU Berlin aus dem Jahr 2012
wurde festgestellt, dass nur die Hälfte der befragten
Schülerinnen und Schüler den NS-Staat und nur ein Drittel die DDR als Diktatur einordnen. In Sachen Geschichtswissen gibt es also noch einiges zu tun. Die Studie zeigt sehr deutlich, dass das Wissen über die
Geschichte Deutschlands und Europas verbessert werden muss; denn nur wenn man etwas über die Geschichte, auch über die eigene Geschichte weiß, kann
man daraus lernen und mit diesem Wissen die Zukunft
gestalten.
Das ist auch deshalb wichtig, weil gerade in Zeiten
großer Angst oder wenn Ängste geschürt werden, Geschichtswissen oft verloren geht. Ich will nur ein Beispiel nennen: Es ist besorgniserregend, dass in Griechenland die rechtsextreme, neofaschistische Partei Goldene
Morgenröte inzwischen mit fast 30 Abgeordneten im
Parlament sitzt. Das ist besorgniserregend und absolut
geschichtsvergessen.
({2})
Aber auch in Ländern wie Frankreich und Ungarn erhalten rechtspopulistische Parteien Zuspruch und werden
Angehörige der Roma-Minderheit verfolgt und diskriminiert. Um Diskriminierung und Gewalt zu verhindern, ist
es wichtig, dass in Europa ein Bewusstsein für die gemeinsame Geschichte entwickelt wird. Den Menschen
musst bewusst sein, dass Europa für Frieden und für das
solidarische Miteinander der Völker steht.
({3})
Ich glaube, junge Menschen brauchen einen Kompass, um sich zurechtzufinden. Wenn sie in den Projekten, die über dieses Programm gefördert werden, Europa
als eine Idee des Friedens begreifen, wenn sie lernen,
dass die europäische Idee uns die längste Friedensphase
gebracht hat, die wir je in Europa hatten, wenn sie ein
Bewusstsein für diese Qualität Europas entwickeln, dann
ist das von besonderem Wert.
Über dieses Programm sind bereits schöne Projekte
gefördert worden, zum Beispiel der Europäische Geschichtsweg. In einem niedersächsischen Ort haben Jugendliche aus Deutschland, Frankreich, den Niederlanden und Polen gemeinsam die Geschichte untersucht.
Sie haben Tafeln entworfen, auf denen in fünf Sprachen
europäische Themen behandelt werden, von den Römern
über Karl den Großen, die Reformation, die Erklärung
der Menschen- und Bürgerrechte bis hin zu den beiden
Weltkriegen.
Man darf Geschichte lernen, beschreiben und auch
vergleichen, aber man darf sie nicht gleichsetzen. Deshalb finde ich es wichtig, dass wir im nächsten Jahr den
75. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkriegs begehen, dass wir an den Beginn dieses fürchterlichen Krieges erinnern, dass wir im nächsten Jahr aber auch an den
25. Jahrestag des Falls der Mauer erinnern und dieses
freudige Ereignis begehen.
({4})
Der zweite Schwerpunkt des EU-Programms ist die
Stärkung des demokratischen Engagements und der Bürgerbeteiligung, also Europa wirklich von unten denken,
den Bürgerinnen und Bürgern in Europa klarmachen,
dass sie Macht und Einfluss haben. Wir haben in unserer
Koalitionsvereinbarung, so sie denn von unseren Mitgliedern unterstützt werden wird, dazu eine schöne Aussage, die ich Ihnen zitieren will:
Die Herausbildung einer europäischen Zivilgesellschaft ist eine essentielle Voraussetzung für eine
lebendige europäische Demokratie. Besonders
wichtig ist es, dafür auch die Jugendpolitik weiterzuentwickeln.
Das sind zwei der guten Sätze in diesem Koalitionsvertrag.
({5})
Da zeigt sich auch ein Zusammenhang zwischen den
beiden Themenschwerpunkten: Das Lernen aus der Geschichte, um heute Demokratie engagiert gestalten zu
können, ist besonders wichtig für die junge Generation,
die Europa so erleben kann.
Ich als Abgeordnete habe das große Glück - wann hat
man das schon einmal? -, dass aus diesem Programm ein
Projekt in meinem Wahlkreis gefördert wurde. Nur
2 Städte in Deutschland und 37 Städte europaweit wurden bezüglich ihrer Städtepartnerschaften gefördert. Die
Stadt Velbert hat vor ein paar Tagen eine große Partnerschaftskonferenz mit ihren Partnerstädten durchgeführt,
ein Partnerschaftsnetzwerk gegründet und wird vor der
Europawahl ein internationales Jugendcamp durchführen. Sie macht all das auch, um darauf aufmerksam zu
machen, dass zu einem Europa der Bürgerinnen und
Bürger gehört, dass möglichst viele Menschen zur Europawahl gehen. Es sollte unser gemeinsames Anliegen
sein, klarzumachen, dass Demokratie zu Europa gehört
und die Europawahl eine bessere Wahlbeteiligung als in
den letzten Jahren braucht.
({6})
Bei dieser Europawahl wird es zum ersten Mal möglich sein, einen europäischen Spitzenkandidaten zu wählen. Das ist für uns Sozialdemokraten eine tolle Sache,
weil unser Spitzenkandidat Martin Schulz ist. Wir sind
großer Hoffnung, dass er ein grandioses Ergebnis erzielen wird.
({7})
Damit wird Europa ein Gesicht und eine Stimme gegeben. Es ist oft so, dass Menschen Europa als fern wahrnehmen. Da kann man einmal live und leibhaftig erleben, wie europäische Leidenschaft aussieht, und vor
allem, wie sie sich anhört. Das beginnt im Aachener
Grenzgebiet und geht bis nach ganz Europa. Insofern
glaube ich: Europa muss praktisch erfahrbar werden. Es
bleibt unsere Aufgabe, das den Menschen zu vermitteln.
Die Europäische Bürgerinitiative ist schon genannt
worden. Sie haben nur Negativbeispiele genannt. Ich
will sagen, dass ich es sehr erfreulich finde, dass die Europäische Bürgerinitiative „Wasser ist Menschenrecht“
schon so erfolgreich war,
({8})
dass der Bereich Wasser aus der EU-Konzessionsrichtlinie herausgenommen worden ist. Die Bürgerinnen und
Bürger Europas haben gesagt: Wasser ist ein Menschenrecht.
Deshalb hoffe ich, dass möglichst viele Bürgerinnen
und Bürger sowie engagierte Menschen aus Vereinen,
Verbänden und Initiativen an diesem EU-Programm teilhaben können, dass sie zur Stärkung des europäischen
Geschichtsbewusstseins und der europäischen Zivilgesellschaft beitragen werden. Dafür wünsche ich allen
viel Erfolg.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat der Kollege Dr. Johann Wadephul für
die Unionsfraktion.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Präsidentin! Es ist zu Recht darauf hingewiesen worden, dass
wir in Europa vor historischen Jahrestagen stehen. Vor
100 Jahren ist Willy Brandt geboren worden. Ich möchte
großkoalitionär mit einem Ausspruch von ihm, meinem
schleswig-holsteinischen Landsmann, beginnen. Willy
Brandt hat einmal gesagt:
Mit den Europa-Verhandlungen ist es wie mit dem
Liebesspiel der Elefanten: Alles spielt sich auf hoher Ebene ab, wirbelt viel Staub auf - und es dauert
sehr lange, bis etwas dabei herauskommt.
({0})
Man hätte ihm diese zoologischen Kenntnisse gar nicht
zugetraut, aber auch da hatte er wahrscheinlich recht.
Wer verhandelt, der schlägt sich nicht. Das ist in Europa nicht immer selbstverständlich gewesen. Es wurde
schon darauf hingewiesen: Der Erste Weltkrieg brach
vor 99 Jahren aus. Wir begehen im nächsten Jahr den
100. Jahrestag. Auch auf den Angriff auf Polen ist hingewiesen worden. Das waren schlimme Zeiten. Auch auf
dem Balkan hat es noch vor ganz kurzer Zeit Auseinandersetzungen gegeben. Deswegen, glaube ich, müssen
wir, auch wenn es schwer ist und junge Menschen das
nicht sofort nachempfinden können - auch für uns liegen
diese Ereignisse schon etliche Zeit zurück -, immer wieder den jungen Menschen sagen, was für ein Friedensprojekt Europa ist und wie dankbar wir sein können,
dass wir dieses Europa haben
({1})
und dass Europa die richtige Lehre aus der Vergangenheit ist. Insbesondere Deutschland muss da selbstkritisch
sein.
Aber - auch das haben die Kollegen gesagt -: Diese
Europäische Union, dieses gemeinsame Europa darf
keine Kopfgeburt sein. Es darf keine Union sein, um deren Zukunft sich allein Politiker, Wissenschaftler oder
Vertreter wirtschaftlicher Interessen streiten. Sie muss in
den Herzen der Menschen verankert werden. Da müssen
wir uns schon kritisch fragen, ob uns das gelungen ist.
Ich glaube, wir haben Fortschritte erzielt. Auf die Europawahlen im nächsten Jahr ist hingewiesen worden.
Wollen wir hoffen, dass die Wahlbeteiligung hoch sein
wird und insbesondere solche Parteien gewählt werden,
die Europa positiv gegenüberstehen,
({2})
die sich zwar streiten, aber, lieber Herr Hunko, Europa
wollen.
Ich gebe Ihnen recht: Mehr Demokratie ist auf europäischer Ebene notwendig. Betrachtet man die Art und
Weise, wie die Gesetzgebung auf europäischer Ebene
abläuft, muss man sagen: Das ist noch nicht die Demokratie, die wir uns vorstellen.
({3})
Deswegen brauchen wir mehr Europa und mehr Rechte
für das Europäische Parlament.
({4})
Dann wird es auch leichter werden, Europa den Menschen zu erläutern.
({5})
Ich möchte auf zwei Punkte eingehen, die gerade
eben auch hier in der Diskussion eine Rolle gespielt haben.
Der erste Aspekt, Herr Hunko, betrifft die Euro-Skepsis, die in Griechenland bzw. in Südeuropa insgesamt
verbreitet ist. Sie haben sie darauf zurückgeführt, dass
die Troika im Rahmen der Staatsschuldenkrise Auflagen
gemacht hat, und gesagt, dass man dort deswegen nicht
mehr so sehr für Europa ist. In der Tat: Es gibt in Griechenland von rechts und auch von ganz links Kräfte, die
antieuropäisch sind; das stimmt, und das kann man sehr
schnell analysieren. Gefahr für eine freiheitliche Demokratie droht übrigens immer - das will ich Ihnen ganz
offen sagen; Sie werden es nicht gerne hören - von ganz
rechts und von ganz links, lieber Herr Hunko.
({6})
Das müssen Sie zur Kenntnis nehmen; das ist so.
Aber es gibt nicht nur in Griechenland Euro-Skepsis.
Es gibt sie auch anderswo, beispielsweise in Großbritannien, und das, obwohl dieses Land noch nicht einmal zur
Euro-Zone gehört. Hier kann man keinen ursächlichen
Zusammenhang mit der Staatsschuldenkrise oder mit
Auflagen der Europäischen Union herstellen. Trotzdem
gibt es auch dort Euro-Skepsis.
Wenn wir ganz ehrlich sind: Auch bei der Bundestagswahl hat Euro-Skepsis eine Rolle gespielt. Die AfD
ist zwar an der Fünfprozentklausel gescheitert, aber
Euro-Skepsis gibt es, wie gesagt, auch in Deutschland
und England. Es ist konsequent, dieser Skepsis insgesamt entgegenzutreten. Deswegen hat die Union die
Absicht, mit einem europapolitisch positiven Programm
und vor allen Dingen mit einem Politiker mit britischen
Wurzeln zur Europawahl anzutreten, der aus Schottland
kommt. Die Schotten sind proeuropäisch. David
McAllister ist der Richtige, der das verkörpert
({7})
und dafür sorgen wird, dass wir sicherlich wieder mit einer starken CDU/CSU in der EVP-Gruppe vertreten sein
werden.
Ich glaube, dieses Programm ist richtig. Es ist notwendig, dass wir es hier und heute gesetzgeberisch auf
den Weg bringen. Wir alle sollten auch bei uns zu Hause
einen Beitrag leisten. Es gibt nichts Gutes, außer man tut
es. Also: Lassen Sie uns alle gemeinsam jeden Tag auch
bei uns zu Hause für Europa eintreten!
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/13 an den Hauptausschuss vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Klaus
Ernst, Susanna Karawanskij, Jutta Krellmann,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE
LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Abschaffung der sachgrundlosen Befristung
- Drucksache 18/7 Überweisungsvorschlag:
Hauptausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Jutta Krellmann für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schade,
dass wir heute erst so spät abends über das Thema
„Sachgrundlose Befristung“ reden. Ich glaube nämlich,
das ist ein sehr wichtiges, ein existenzielles Thema. Es
ist so wichtig, dass ich mir wünschen würde, diese Debatte und die Ergebnisse dieser Debatte kämen noch
heute bei den Menschen im Lande an, damit man darüber reden kann.
({0})
Ich möchte mit einem Beispiel aus der Praxis, das ich
gerade erlebt habe, beginnen. Vor einer Woche war ich
Gast bei der Betriebsversammlung eines Berliner Callcenters. Mehrere Hundert Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter telefonieren und beraten dort, unter anderem für
die Bundesagentur für Arbeit. Ich war schockiert, als ich
hörte, wie viele engagierte Belegschaftsmitglieder in einem unsicheren, befristeten Arbeitsverhältnis festhängen: sagenhafte 95 Prozent der Belegschaft. Nur 5 Prozent haben einen unbefristeten Arbeitsvertrag. Das ist
ungeheuerlich.
({1})
Befristete Arbeitsverträge bedeuten für die Beschäftigten massiven Druck und unsichere Zukunftsperspektiven; das ist in besagtem Callcenter sehr deutlich geworden: Auf der Betriebsversammlung klagten
alleinerziehende Frauen, dass sie „freiwillig“ samstags
arbeiten sollen. Sie wissen nicht, wo sie ihre Kinder
währenddessen unterbringen können. Sie wissen aber
genau: Wer samstags nicht arbeitet, bekommt bei der
Verlängerung seines befristeten Arbeitsvertrages Probleme. Was, bitte schön, soll daran freiwillig sein? Das
ist doch Erpressung!
({2})
Arbeitshetze, Überstunden, Arbeit am Wochenende und
zu späten Zeiten: Durch befristete Verträge wird den
Beschäftigten mit dem Entzug ihrer Existenzgrundlage
gedroht. Hinzu kommt schlechte Bezahlung: Stundenlöhne von 7,90 Euro sind keine Seltenheit. Es gibt keinen Tarifvertrag, und der Arbeitsschutz ist mangelhaft.
Das Problem ist: Das geschilderte Beispiel ist kein
Exotenbeispiel. Verhältnisse wie in diesem Callcenter
findet man in Tausenden von Betrieben. Trotzdem stehen viele der Beschäftigten zu ihrem Job und sind von
dem Produkt, über das sie beraten, überzeugt. Die Beschäftigten lassen sich trotz aller Widrigkeiten nicht unterkriegen. In dem gleichen Callcenter haben die Beschäftigten vor fünf Monaten einen Betriebsrat gewählt.
Ich finde, unter den Bedingungen von massenhaften Befristungen ist es wirklich eine große Leistung, einen Betriebsrat zu wählen. Das verdient unsere Anerkennung.
({3})
Dieser Betriebsrat muss wieder neu gewählt werden. Bei
fast der Hälfte der Betriebsratsmitglieder laufen die
Verträge aus oder sie sind noch nicht verlängert. Das
Problem ist: Befristet Beschäftigte genießen keinen
Kündigungsschutz nach dem Kündigungsschutzgesetz.
Befristet beschäftigte Betriebsräte genießen darüber hinaus keinen besonderen Kündigungsschutz nach dem
Betriebsverfassungsgesetz. Das Unternehmen hat es in
der Hand, unliebsame Beschäftigte und kritische
Betriebsräte problemlos loszuwerden; angesichts der
Befristung der Arbeitsverträge ist das nur eine Frage der
Zeit.
Das Schlimme ist: Die Unternehmen dürfen all dies;
alles, was dort passiert, ist rechtlich zulässig. Deshalb
müssen die gesetzlichen Rahmenbedingungen jetzt
schnell geändert werden, und zwar noch vor der nächsten Betriebsratswahl im Frühjahr nächsten Jahres.
({4})
Belegschaften dürfen durch Befristungen nicht weiter
daran gehindert werden, ihre Rechte wahrzunehmen.
Dieses Callcenter ist kein Einzelfall in Deutschland.
Deswegen meine Bitte und meine Aufforderung an alle:
Die Linke hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, wie er in
der letzten Legislaturperiode teilweise genau in ähnlicher Form vorgeschlagen wurde von uns, von den Grünen und von der SPD. Zu sachgrundlosen Befristungen
steht in den Koalitionsvereinbarungen kein Wort.
({5})
Das heißt für mich: Es kann keinen Grund geben, warum
man unserem Antrag jetzt nicht zustimmt.
({6})
Tausende von Menschen bekämen eine Zukunftsperspektive, bekämen Sicherheit für sich und ihre Familien,
könnten für den Betriebsrat kandidieren. Deswegen
meine Bitte: Stimmen Sie zu, damit wir Beschäftigten,
die in Befristungen festhängen, endlich eine Perspektive
geben können.
Vielen Dank.
({7})
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege
Dr. Carsten Linnemann das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Wir sprechen heute über das Arbeitsmarktinstrument „Sachgrundlose Befristung“. Das Ganze passiert im Lichte der
Koalitionsverhandlungen, die wir gestern abgeschlossen
haben.
Wir haben uns in den Koalitionsverhandlungen faktisch alle Arbeitsmarktinstrumente angesehen - immer
unter der Überschrift: „Wo gibt es Schieflagen? Wo
müssen wir etwas ändern?“ Beim Thema Zeitarbeit haben wir beispielsweise das Problem der Höchstüberlassungsdauer gelöst - ich persönlich hätte mir 24 Monate
gewünscht, aber wir haben uns auf 18 Monate geeinigt;
so ist das mit Kompromissen -, bei den Werkverträgen
haben wir die Informationsrechte neu geregelt, und bei
der sachgrundlosen Befristung haben wir - vor allen
Dingen die Union - keinen Änderungsbedarf gesehen.
Frau Krellmann, ich will Ihnen jetzt auch einmal sagen, warum nicht, und ich will all das, was Sie erklärt
haben, ein bisschen relativieren:
Erster Punkt. Sie müssen sich natürlich erst einmal
ansehen, wie viele Menschen in Deutschland ein befristetes und wie viele ein unbefristetes Angestelltenverhältnis haben. Ich habe mir einmal die Zahlen vom IAB, einem Forschungsinstitut der Bundesagentur für Arbeit
- es ist also höchst unverdächtig -, angeschaut. Es sagt,
dass der Anteil befristeter Arbeitsverhältnisse seit 2006
mit unter 9 Prozent etwa gleichbleibend ist. Das heißt im
Umkehrschluss: 91 Prozent der Menschen in Deutschland haben einen unbefristeten Arbeitsvertrag. Das ist
erst einmal eine gute Botschaft für dieses Land.
({0})
Zu den Neueinstellungen: Der Anteil der befristeten
Neueinstellungen liegt seit 2005 in der Tat in einem Korridor von 43 bis 47 Prozent; aktuell sind es 44 Prozent.
Die entscheidende Kennziffer ist aber doch die Übernahmequote. Es geht darum, dass die Menschen, die einen
befristeten Arbeitsvertrag bekommen, auch die Aussicht
auf einen unbefristeten Arbeitsvertrag haben. Diese
Übernahmequote ist in den letzten Jahren signifikant gestiegen. 2009 wurden 30 Prozent von ihrem Arbeitgeber
übernommen, jetzt liegt die Quote bei 39 Prozent, weil
gerade auch die Arbeitgeber im Mittelstand, die kleinen
und mittleren Betriebe, händeringend neue Beschäftigte
suchen und deshalb einen großen Anreiz haben, diese
Menschen möglichst schnell unbefristet einzustellen.
({1})
Das heißt, dieses Instrument ist eine Brücke in den Arbeitsmarkt - gerade für Berufseinsteiger.
({2})
Frau Krellmann, lassen Sie mich der Fairness halber
zweitens sagen: Sie sprachen von den Gewerkschaften.
Interessant ist, dass die Gewerkschaften diese sachgrundlose Befristung einschränken bzw. abschaffen wollen, während sie sie in den Tarifverträgen gleichzeitig
selbst erlauben - gerade die DGB-Gewerkschaften -,
und zwar nicht nur für 24 Monate, sondern sie nutzen
auch die Öffnungsklausel und weiten diese sachgrundlose Befristung auf 48 Monate aus.
({3})
Das hat die IG BCE, die Industriegewerkschaft Bergbau,
Chemie, Energie, in fast allen Tarifverträgen so geregelt,
({4})
und auch für die IG Metall in Baden-Württemberg gelten diese 48 Monate in einigen Verträgen.
Es macht deshalb keinen Sinn, dass der Gesetzgeber
etwas verbietet, was bei vielen Tarifvertragsparteien
gang und gäbe ist; und deswegen sehen wir hier auch
keinen Änderungsbedarf.
({5})
Kollege Linnemann, gestatten Sie eine Zwischenfrage
oder Bemerkung der Kollegin Krellmann?
Ich möchte meine Rede gerne zu Ende bringen; ich
bin sofort fertig.
Drittens. Das letzte Beispiel ist die Frage - Sie haben
das indirekt ja auch angesprochen -: Wo wird befristet?
Wo finden Befristungen statt? Interessant ist, dass die
Quote der befristeten Arbeitsverhältnisse in der Privatwirtschaft bei rund 7 Prozent liegt, während sie im öffentlichen Dienst mehr als doppelt so hoch ist. Im Bereich
„Erziehung und Unterrichtung“ liegt sie beispielsweise
bei 17 Prozent. Bei den Neueinstellungen wird das noch
deutlicher: Im Bereich „Erziehung und Unterricht“ - öffentliche Verwaltung bzw. öffentliche Hand - beträgt die
Quote fast 80 Prozent, während es im Mittelstand rund
20 Prozent sind, zum Beispiel 23 Prozent im Bereich
„Baugewerbe, Information und Kommunikation“ usw.
Das heißt, der Staat als Arbeitgeber muss erst einmal
selbst seine Praxis überprüfen, bevor er überhaupt daran
denken kann, regulierend in den Markt einzugreifen, um
Mittelständler unter Druck zu setzen.
Der Grund für diese Unterschiede ist klar: Es gibt einen eigenen Sachgrund in der öffentlichen Verwaltung,
nämlich die Mittelbefristung. Diesen Sachgrund gibt es
im Mittelstand nicht. Es gibt keinen Sachgrund Auftragslage oder Konjunkturlage. Wenn es ihn gäbe, dann
könnte man ja über alles reden, aber den gibt es nicht.
Deshalb halten wir an der sachgrundlosen Befristung
fest.
Wir sehen hier keinen Änderungsbedarf. Wir brauchen die flexiblen Arbeitsmarktinstrumente für die Erfolge am Arbeitsmarkt, und deshalb lehnen wir Ihren
Antrag ab.
Herzlichen Dank.
({0})
Die Kollegin Krellmann hat zu einer Kurzintervention das Wort.
Herr Linnemann, ich weiß nicht, ob Ihnen bekannt ist,
dass die Tarifverträge, von denen Sie gesprochen haben,
Tarifregelungen vorsehen, die in der Krise ganz bewusst
gemacht wurden, um zu verhindern, dass die Menschen
erwerbslos werden. Sie boten neben der Kurzarbeit eine
Möglichkeit, Menschen im Betrieb zu halten. Dieses Instrument soll nicht in der Zeit genutzt werden, in der es
der Wirtschaft gut geht und wo man dieses Instrument
im Grunde gar nicht braucht, sondern einen Fachkräftemangel beklagt.
Das Problem ist: Von befristeten Verträgen sind
2,7 Millionen Menschen betroffen. Das sind fast 10 Prozent. Das heißt in der Konsequenz, 50 Prozent aller Neueinstellungen werden befristet eingestellt, obwohl es
eine Probezeit gibt, von der Sie eben gar nicht gesprochen haben. Für das, was Sie beschrieben haben, ist die
Probezeit da und nicht die Befristung von Beschäftigungsverhältnissen.
({0})
Sie haben das Wort zur Erwiderung, Kollege
Linnemann.
Frau Krellmann, ich meine die laufenden Tarifverträge. Sie sind nicht auf die Zeit von damals beschränkt,
sondern es handelt sich um laufende Tarifverträge.
({0})
Ich war selber in der Arbeitsgruppe Arbeit und Soziales bei den Koalitionsverhandlungen dabei. Es ist öffentlich - es ist auch nicht schlimm, das zu sagen -, wer die
Gesprächspartner waren. Auf der anderen Seite waren
zwei Vertreter der Gewerkschaft, die selbst als Chef einer Gewerkschaft diese Tarifverträge unterschrieben haben, die es noch immer gibt. Das ist einfach eine sachliche Beschreibung.
Noch einmal, Frau Krellmann: Die meisten befristeten Verträge gibt es im öffentlichen Dienst. Fangen wir
doch erst einmal da an, bevor wir versuchen, regulierend
in den Markt, in den Mittelstand einzugreifen.
Herzlichen Dank.
({1})
Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Anette
Kramme das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Dr. Linnemann und liebe Kolleginnen
und Kollegen von der Union, die Große Koalition, die
im Raum steht, wird leider nichts daran ändern, dass wir
in der einen oder anderen Frage dennoch unterschiedlicher Meinung sind.
({0})
Das wird sich natürlich auch nicht so ohne Weiteres ändern.
Ich muss ausnahmsweise der Frau Krellmann von den
Linken recht geben, dass uns das angesprochene Thema
befristete Beschäftigung sehr am Herzen liegt. Dabei
geht es um die prekäre Beschäftigung insgesamt. Um
wieder zum Koalitionsfrieden zurückzukommen: Ich
finde, wir haben gemeinsam in dem möglichen Vertrag
eine Menge erreicht, was dazu führen wird, dass die Zahl
der prekären Beschäftigungsverhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland abnehmen wird.
({1})
Da haben wir das Thema Mindestlohn. Ab dem 1. Januar 2015 werden wir bundesweit einen flächendeckenden, einheitlichen Mindestlohn einführen. Ich finde, das
ist ein großer Erfolg für Deutschland. Das ist geradezu
ein historisches Ereignis.
({2})
Wir gestatten es den Tarifvertragsparteien sogar, darüber hinauszugehen, zu sagen: Dieser gesetzliche Mindestlohn ist uns nicht hoch genug. Wir wollen über einen
eigenen Mindestlohntarifvertrag einen noch höheren erreichen. - Auch das ist eine gute Geschichte.
Dann haben wir ein Thema aufgegriffen, von dem ich
behaupte: Es war in den letzten 20 oder 30 Jahren in diesem Raume nicht einmal diskussionsfähig. Wir haben
gesagt: Wir gehen das Tarifvertragsgesetz an und reformieren die Allgemeinverbindlicherklärung. Für diejenigen, die es nicht so genau wissen: Die Allgemeinverbindlicherklärung soll bewirken, dass in einer Branche
ein Tarifvertrag wie ein Gesetz wirkt. Damit sollen mögliche Missstände in einem Bereich beseitigt werden.
Wir kümmern uns auch um das Thema Leiharbeit.
Die Höchstüberlassungsdauer soll künftig bei lediglich
18 Monaten liegen. Das ist eine prima Geschichte. Wir
ändern auch Kleinigkeiten - sie sind leider nicht hinreichend - beim Thema Equal Pay. Ich kann weitere Dinge
nennen, beispielsweise bei der Entgeltgleichheit, die insbesondere Frauen betrifft. Ich finde es einen Skandal,
dass Frauen in dieser Republik im Schnitt immer noch
wesentlich weniger verdienen als Männer.
({3})
Wenn den Frauen künftig ein Auskunftsanspruch hilft,
um Entgeltgleichheit durchzusetzen, dann ist das eine
großartige Geschichte.
Meine Damen und Herren von der Union, lassen Sie
mich bei dieser Gelegenheit für die Art und Weise danken, in der diese Koalitionsverhandlungen verlaufen
sind. Meine Erfahrung war: Es waren konstruktive und
fachkundige Gespräche, und das ist richtig gut gelaufen.
Aber jedem Vertrag ist immanent, dass ein Kompromiss damit einhergeht. Ein Kompromiss beinhaltet gegenseitiges Nachgeben. Es gibt sogar den gängigen
Spruch: Ein guter Kompromiss liegt dann vor, wenn
beide Seiten heftig über denselben schimpfen. Ich kann
Ihnen sicher sagen, dass wir als SPD dies an der einen
oder anderen Stelle tun.
Wenn wir über das Thema Maut reden, dann wird mir
ganz anders. Wenn wir über die Fortsetzung des Betreuungsgeldes reden, bin ich auch nicht gerade erfreut. Wir
wären auch der Auffassung gewesen, dass wir für dieses
Land Steuererhöhungen gebraucht hätten. Aber wir haben diese nicht durchsetzen können. So ist auch das
Thema sachgrundlose Befristung eines, das uns leider
nicht zufriedenstellt.
Es gibt eine Menge Fakten, die dafür sprechen, die
sachgrundlose Befristung zu streichen. Fast 50 Prozent
aller Neueinstellungen erfolgen befristet, wie erwähnt,
gerade im öffentlichen Dienst, wobei meine persönliche
Haltung zu dem Thema ist, dass gerade der öffentliche
Dienst eine Vorbildfunktion einnehmen müsste, was Beschäftigungsverhältnisse angeht.
({4})
Daran können an sich alle hier im Raum mitwirken. Alle
sind in irgendwelchen Landesregierungen vertreten und
haben natürlich auch die Möglichkeit, mit den Kommunen zu reden. Ich finde, wir sollten dieses Thema gemeinsam angehen.
Leider sind mittlerweile fast 10 Prozent aller Arbeitsverhältnisse insgesamt befristet. Dabei gibt es einen Aspekt, der, finde ich, besonders betroffen macht. Es sind
gerade die jungen Menschen, die von Befristungen betroffen sind. 19 Prozent aller jungen Menschen bis
34 Jahre haben einen befristeten Arbeitsvertrag. Das ist
eine Gruppe von Menschen, die in ihrer Lebensplanung
eingeschränkt sind, und das in einem Alter, in dem an
sich jede Menge Entscheidungen zu treffen sind, etwa ob
man eine Familie gründet, ob man Investitionen größerer
Art tätigt usw. Es geht also um die Lebensplanung.
Befristete Beschäftigung hat auch etwas mit der
Durchsetzung von Rechten zu tun. Umso häufiger sind
befristet Beschäftigte deshalb überdies von Niedriglöhnen betroffen.
Meine Damen und Herren von der Union, vielleicht
überlegen Sie sich das Ganze noch einmal. Sie haben
jetzt jede Menge gute Argumente geliefert bekommen.
({5})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend Folgendes sagen: Der Koalitionsvertrag als solcher
ändert nichts an unserer Haltung zu befristeter Beschäftigung, wobei wir weitergehend der Auffassung sind, dass
man auch über die Sachgrundbefristung nachdenken
müsste. Ein Beispiel sei an dieser Stelle genannt.
In meinem Wahlkreis gibt es ein Klinikum mit über
2 000 Beschäftigten. Dort gibt es auch immer wieder Erziehungszeitvertretungen. In einem solchen großen
Krankenhaus gibt es jede Menge identischer Stationen:
mehrere internistische Stationen, mehrere chirurgische
Stationen, mehrere Intensivstationen usw. Statt jeweils
mit Sachgrundbefristungen zu arbeiten, könnte man
auch wunderbar Springer einsetzen. Alle gemeinsam
müssen also auf allen Ebenen mitwirken, damit auch das
besser wird.
Unsere Position ist nicht verändert. Deshalb sagt auch
unsere Fraktion Ja zu diesem Koalitionsvertrag. Ich bin
mir sicher, unsere Mitglieder werden es auch tun. In dem
Sinne hoffe ich, dass sich in den nächsten vier Jahren tatsächlich etwas positiv für die Menschen in diesem Lande
wendet.
Ganz herzlichen Dank.
({6})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Beate Müller-Gemmeke das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Mittlerweile hat fast jeder zweite
neue Job ein Verfallsdatum, Herr Linnemann; das ist das
Problem und nicht die absolute Zahl. Diese Entwicklung
sehen wir mit großer Sorge. Deswegen haben wir in der
letzten Wahlperiode einen fast identischen Antrag in den
Bundestag eingebracht - wie heute die Linke. Wir hatten
gehofft, dass sich die Große Koalition - anders als
Schwarz-Gelb - endlich mit diesem Problem befasst und
sich ihm stellt. Im Koalitionsvertrag steht aber kein einziges Wort zur sachgrundlosen Befristung. Ich finde, das
geht überhaupt nicht. Ein Kapitel „Vollbeschäftigung,
gute Arbeit und soziale Sicherheit“ ohne das Thema Befristung geht nicht; denn das ignoriert die Sorgen und die
Ängste der Menschen.
({0})
Ich bleibe ganz kurz beim Koalitionsvertrag, weil dieser mehrfach angesprochen wurde. Natürlich sind Kompromisse notwendig, und natürlich gibt es auch Verbesserungen. Über den Mindestlohn haben wir schon
diskutiert. Die Tarifautonomie wird gestärkt; das ist mir
persönlich ein besonderes Anliegen. Die Werkverträge
werden - ich sage mal - reguliert. Da sehen wir auch unsere Vorschläge teilweise verwirklicht. Das heißt, hier
stimmt die Richtung. Ich hoffe: Sie setzen das auch
wirklich um.
Bei anderen Themen haben wir aber heftige Kritik.
Enttäuschend finde ich beispielsweise die Pläne bei der
Leiharbeit. Equal Pay soll es erst nach neun Monaten geben; das kennen wir eigentlich nur von der FDP. Das
geht gar nicht. Die Begrenzung der Überlassungszeit ist
richtig. Aber sie ist zu lang und muss vor allem an den
Arbeitsplatz gebunden werden. Das heißt, bei der Leiharbeit werden wir uns noch viel streiten.
({1})
Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die Minijobs. Hier
fehlt die Rentenversicherungspflicht; das kann ich überhaupt nicht verstehen.
({2})
Eine Leerstelle gibt es insbesondere beim Beschäftigtendatenschutz. Hier brauchen wir endlich faire Regelungen
zum Schutz der Beschäftigten.
Das Kapitel „Gute Arbeit“ hat also etliche Lücken.
Uns, der Opposition, wird die Arbeit nicht ausgehen. Die
Diskussionen im Ausschuss gehen weiter.
({3})
Zurück zu den Befristungen; denn das Thema ist mir
schon wichtig. Da es keine Koalitionspläne gibt, über die
man reden kann, werde ich - wie in den letzten vier Jahren - einfach die Situation beschreiben, damit hier endlich etwas passiert. Die sachgrundlose Befristung hat
sich in den letzten Jahren wie ein Virus ausgebreitet. Die
Arbeitgeber nutzen natürlich diesen Vorteil; denn das ermöglicht ihnen eine extrem flexible Personalpolitik. Der
Preis für die Beschäftigten ist aber hoch, wir meinen: zu
hoch.
({4})
Beschäftigte, die befristet angestellt sind, haben ein hohes Armutsrisiko. Sie werden viel häufiger arbeitslos als
regulär Beschäftigte. Sie können auch nicht über den
Tag hinaus planen. Die ständige Unsicherheit belastet
die Menschen. Viele machen sich Sorgen über die
Zukunft und haben Angst vor Krankheit und Armut im
Alter. Lebensqualität sieht anders aus.
Wer weiterbeschäftigt werden will, verhält sich ruhig
und wird nicht gerade auf seine Rechte pochen. Man
verschlechtert ja nicht leichtfertig mögliche Chancen.
Das wissen auch die Arbeitgeber. Deswegen sind die
Arbeitsbedingungen häufig schlechter als bei regulärer
Beschäftigung. Der Lohn ist niedriger, und es gibt weder
Aufstiegs- noch Weiterbildungsmöglichkeiten. Das alles
zusammen ist für uns nicht akzeptabel.
Dabei beschäftigt mich eine Entwicklung ganz besonders; Frau Kramme hat sie schon angesprochen: Gerade
junge Menschen sind von Befristungen besonders stark
betroffen. Lebensplanung ist etwas, worüber viele jüngere Beschäftigte nur noch müde lächeln können. Das ist
nicht nur ungerecht, sondern mit Blick auf den demografischen Wandel auch verantwortungslos; denn gerade
junge Menschen brauchen ihren Platz in unserer älter
werdenden Gesellschaft. Auch deswegen wollen wir die
sachgrundlose Befristung abschaffen.
({5})
Ich höre immer, Betriebe seien dann nicht mehr flexibel genug in ihrer Personalplanung. Dazu sage ich: Es
gibt eine ausreichend lange Probezeit. Kleine Betriebe
sind vom Kündigungsschutz ganz befreit. Für die anderen gibt es noch immer die Befristung aus sachlichem
Grund, beispielsweise für einen Zusatzauftrag, bei
Saisonarbeiten oder für ein bestimmtes Projekt. Gleiches
gilt bei Elternzeit, bei längerem Urlaub oder Krankheit.
Wer gute Gründe hat, könnte also weiterhin befristen.
Sachgrundlos, also einfach willkürlich, das soll aber
künftig nicht mehr möglich sein. Durch Befristungen
darf das unternehmerische Risiko nicht einfach auf die
Beschäftigten übertragen werden. Auch der Kündigungsschutz darf nicht umgangen werden. Nur so wäre
es richtig und auch fair.
({6})
Unser Ziel ist es also, eine neue, eine gerechte Balance herzustellen, die den Interessen der Arbeitgeber
und der Beschäftigten gleichermaßen gerecht wird. Flexible Arbeitsverhältnisse dürfen keine Einbahnstraße
sein; denn die Menschen brauchen soziale Sicherheit.
Das Thema steht, wie ich schon gesagt habe, nicht im
Koalitionsvertrag. Wir werden aber dranbleiben. Das
kann ich Ihnen versichern.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat der Kollege Dr. Johann Wadephul für
die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! In der Tat steht zur sachgrundlosen Befristung
nichts im Koalitionsvertrag, und das hat seinen Grund,
nämlich den, dass wir an den Regelungen nichts ändern
werden. Ich will Ihnen das kurz begründen.
Die sachgrundlose Befristung von Arbeitsverhältnissen gibt es seit Mitte der 80er-Jahre. Eingeführt wurde
sie von Arbeitsminister Norbert Blüm. Nachdem sie
Erfolge zeitigte und dafür gesorgt hat, dass es mehr
Beschäftigung gegeben hat, war es Rot-Grün, Frau Kollegin Müller-Gemmeke, die diese in das Teilzeit- und
Befristungsgesetz überführt hat.
({0})
Es war die Abgeordnete Dr. Thea Dückert, die am
26. Oktober 2000, damals der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen angehörend, zur Einführung dieses Gesetzes
sagte:
Im Ganzen wird die Befristung ohne sachlichen
Grund weiterhin ermöglicht; das ist uns wichtig.
({1})
Ich muss sagen: Die Kollegin Dückert hatte recht.
({2})
Die Arbeitsmarktlage gibt ihr recht. Bleiben Sie doch
bitte bei dem, was Sie selber erkannt haben. Das hat für
mehr Beschäftigung in Deutschland gesorgt.
({3})
Verabschieden Sie sich doch nicht von allen Reformen,
die Sie durchgeführt haben! Es ist doch eine etwas schizophrene Situation: Wir werden europaweit dafür
bewundert, uns wird dafür auf die Schultern geklopft. Da
kommt man sich als Unionsmensch eigenartig vor: Wir
werden dafür gelobt, was Rot-Grün für sinnvolle Reformen durchgeführt hat. Die mussten wir an manchen Stellen - bei Hartz IV haben Sie die Kinder vergessen usw. nachbessern. Das haben wir gemacht. Sie haben dem
auch zugestimmt. Sie haben notwendige Arbeitsmarktreformen durchgeführt. Jetzt haben diese Erfolg. Aber das
Schizophrene ist, dass Sie diese wieder zurückdrehen
wollen. Das ist völlig irrsinnig, und das werden wir nicht
machen.
({4})
Diese Reformen waren richtig und notwendig. Sie sorgen für Arbeitsplätze, und deswegen bleibt es dabei.
({5})
Das ist keine Märchenstunde. Schauen Sie sich doch
schlicht und ergreifend die Arbeitsmarktzahlen in
Deutschland an.
({6})
Wir haben noch nie so viele sozialversicherungspflichtig
Beschäftigte gehabt wie heute.
({7})
Wir haben eine exzellente Situation in allen Kassen.
({8})
- Liebe Kollegen der Linksfraktion, Sie merken - diesen
Verhandlungserfolg kann die SPD in der Tat für sich verbuchen -, dass Ihnen sozialpolitisch sämtliche Felle
wegschwimmen.
({9})
Deswegen fangen Sie in einer parlamentarischen Ungeduld an, diese Themen noch einmal hochzukochen. Es
ist schlicht und ergreifend in dem Bereich nicht mehr zu
erreichen. Wir müssen bei dem bleiben, was sinnvollerweise vereinbart worden ist.
Ich möchte in dieser Debatte zumindest einmal - das
hat der Kollege Linnemann vorhin auch schon gemacht auf die Arbeitgeberseite zu sprechen kommen. Auch die
gibt es. Nicht jeder Arbeitgeber, insbesondere der im betroffenen Mittelstand, ist ein schlimmer Ausbeuter, der
jungen Menschen, von denen Sie hier die ganze Zeit reden, die Zukunft verbauen will. Wir reden doch praktisch über den Mittelstand. Befristete Arbeitsverhältnisse
haben faktisch im Bereich der Kleinstbetriebe, das heißt
in Betrieben mit bis zu zehn Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, gar keine Bedeutung, weil diese Betriebe
ohnehin jederzeit kündigen können. Da gilt das Kündigungsschutzgesetz überhaupt nicht.
({10})
Die Regelungen haben ebenso wenig Bedeutung bei
größeren, tarifgebundenen Unternehmen, wo es entweder Haustarifverträge oder die von dem Kollegen
Dr. Linnemann schon erwähnten Tarifverträge gibt
- Stichwort IG BCE -, die eine zum Teil noch viel längere sachgrundlose Befristung zulassen. Betroffen sind
die Betriebe, die sich in der schwierigen Sandwichposition, also dazwischen, befinden, das heißt mehr als zehn
Arbeitnehmerinnen oder Arbeitnehmer haben, aber noch
kein Großbetrieb sind, der ohnehin mitbestimmt ist, wo
es einen Betriebsrat gibt, wo es eine Gewerkschaft gibt,
wo auf solche Sachen ohnehin mit Einstellungskriterien
und mit einem Haustarifvertrag reagiert wird. Diese Betriebe schaffen Arbeitsplätze in Deutschland. Sie brauchen in diesem Haus einen Anwalt, und das werden die
Unionsfraktion und Personen wie Herr Dr. Linnemann
als Vorsitzender unserer Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung sein. Menschen wie er sorgen dafür, dass
diese Betriebe weiterhin einen Anwalt im Bundestag haben. Sie brauchen die Möglichkeit der sachgrundlosen
Befristung, um atmen zu können.
({11})
Täuschen Sie sich nicht: Vermeintliche Sachgründe
wie „Wir haben jetzt einen Auftrag, und zur Abwicklung
dieses Auftrages stellen wir befristet mehr Menschen
ein“ sind vor Arbeitsgerichten in Deutschland unsicher.
Ich bin in diesem Bereich seit einigen Jahren beratend
tätig. Als verantwortlicher Jurist wird man keinem Betriebsinhaber sagen können: Mit dieser Begründung
kannst du dich, wenn die Auftragslage schlechter wird
oder wenn dieser Auftrag abgewickelt ist, ohne Weiteres
und ohne Abfindung wieder von den Arbeitnehmern
trennen. - Diese Trennung wollen die Arbeitgeber ja
nicht, um den Arbeitnehmern irgendetwas Schlechtes zu
tun, sondern weil sie schlicht und ergreifend nicht mehr
bezahlbar sind. Bevor Betriebe in die Gefahr kommen,
notleidend zu werden oder sogar in die Insolvenz zu gehen, zumindest in eine ganz schwere Schieflage zu kommen, müssen wir dem Mittelstand die Luft zum Atmen
geben. Insofern ist es richtig, dass dieses Instrumentarium erhalten bleibt.
Wenn man sich den Koalitionsvertrag insgesamt anschaut - das ist in dieser Debatte etwas zu kurz gekommen -, dann muss man sagen: Er ist nicht zu mittelstandslastig, sondern er ist gerade im sozialpolitischen
Bereich erheblicher Kritik aus dem Arbeitgeberlager
ausgesetzt. Deswegen geht Ihre Kritik, dass wir die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht
hinreichend gewürdigt hätten, vollkommen fehl. Das ist
ein ausgewogener Koalitionsvertrag. Auch in diesem
Bereich werden wir ihn umsetzen und dafür sorgen, dass
es noch mehr Beschäftigung in Deutschland gibt.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat der Kollege Paul Lehrieder für die
Unionsfraktion.
({0})
Sehr gehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Einmal mehr beschäftigen wir uns heute mit
der sachgrundlosen Befristung, einem arbeitsrechtlichen
Instrument, das sich bewährt hat und dessen Abschaffung unseren Arbeitsmarkt belasten würde; Vorredner
haben bereits darauf hingewiesen.
Die Lage auf dem hiesigen Arbeitsmarkt ist so gut
wie noch nie. Wir haben so hohe Beschäftigungsquoten
wie nie zuvor, mit Abstand die geringste Jugendarbeitslosigkeit innerhalb der EU, und unserer Wirtschaft geht
es ausgesprochen gut. Wir haben - das besagen die aktuellen Zahlen - über 300 000 mehr sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse im Vergleich zum
Vorjahresniveau. Wir haben insgesamt so viele sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse wie
noch nie auf deutschem Grund und Boden.
({0})
Großen Anteil an diesem Erfolg haben unsere flexiblen Beschäftigungsformen; das gehört zur Wahrheit.
Frau Kollegin Müller-Gemmeke, es war die rot-grüne
Bundesregierung, die das Teilzeit- und Befristungsgesetz, das zum 1. Januar 2001 in Kraft getreten ist, eingeführt hat. Das war angesichts des damaligen verkrusteten
Arbeitsmarkts richtig.
Jetzt kommt Frau Kollegin Krellmann und sagt: Wir
haben aber jetzt Fachkräftemangel; es schaut wieder
ganz anders aus. - Frau Kollegin Krellmann, es gibt keinen Grund dazu, jetzt schon übermütig zu werden. Wir
drehen das, was damals an Lockerung auf dem Arbeitsmarkt gemacht worden ist, nicht zurück. Wir fahren unsere Volkswirtschaft nicht mutwillig an die Wand, wie es
unsere westlichen Nachbarn in Frankreich derzeit im Begriff sind zu tun.
Lassen Sie uns nicht übermütig werden. Lassen Sie
uns die probaten, die richtigen Instrumente, die RotGrün sinnvollerweise eingeführt hat, nutzen und nicht
das Kind mit dem Bade ausschütten. Wir sollten diese
Instrumente tatsächlich weiterentwickeln. Frau Kollegin
Kramme hat darauf hingewiesen: Entsprechend sind wir
bei der Leiharbeit vorgegangen; wir haben trotz unterschiedlicher Vorstellungen Equal Pay eingeführt. Wir
haben etliches Gute, etliches Sinnvolle zur Einschränkung von Missbräuchen bei flexiblen arbeitsmarktpolitischen Instrumenten auf den Weg gebracht. Aber ein
kompletter Verzicht auf die sachgrundlose Befristung
würde den Arbeitsmarkt absolut kontraproduktiv belasten. Deshalb ist dieser Verzicht auch nicht im Koalitionsvertrag enthalten.
Meine Damen und Herren, die aus diesen Instrumenten resultierende Flexibilisierung des Arbeitsmarktes hat
zu einem beachtlichen Beschäftigungszuwachs geführt.
Darauf können wir zu Recht stolz sein. Daran haben
mehrere Bundesregierungen über mehrere Legislaturperioden mitgearbeitet. Wir sollten uns auch hüten, jetzt an
diesen Bedingungen zu rütteln.
Ihr Entwurf, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, ist aber genau solch ein Versuch. Mit der Abschaffung der sachgrundlosen Befristung von Arbeitsverhältnissen würde ein bewährtes Instrument ersatzlos
gestrichen, das für viele Unternehmen Anreize bietet,
mehr Personal einzustellen, und das für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eine wichtige Brücke in
eine unbefristete Beschäftigung ist.
({1})
- Frau Kollegin Müller-Gemmeke, Sie haben doch sicher dem Kollegen Linnemann aufmerksam zugehört. Er
hat gesagt: Wenn 40 Prozent aus einem befristeten Arbeitsverhältnis fest übernommen werden, dann sind das
40 Prozent Chancen, dann erhalten 40 Prozent der Menschen für ihre Lebensplanung eine Perspektive.
({2})
Das gehört zur Wahrheit dazu.
({3})
Die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung wäre
ein Nachteil für die Beschäftigungssituation in Deutschland. Deshalb lehnen wir den Entwurf ab, meine Damen
und Herren.
Selbstverständlich würde auch ich mir wünschen,
dass alle Menschen in unserem Land von Anfang an einen unbefristeten Arbeitsvertrag erhalten. Das ist der
Idealfall. Auf diesen arbeiten wir mit ganzer Kraft hin.
Allerdings gibt es durchaus Situationen, in denen eine
Befristung nicht nur sinnvoll, sondern geradezu geboten
ist. Nur durch diese Flexibilisierung können wir mehr
Menschen erfolgreich in Arbeit bringen. Das muss letztlich unser aller vorrangiges Ziel sein.
Befristete Verträge haben hier eine wichtige Funktion
und schaffen Anreize für Unternehmen, bei vorübergehend guter Auftragslage mehr Arbeitnehmer zu beschäftigen. Das schafft Jobs,
({4})
die viele Firmen nicht vergeben würden, wenn es die
Möglichkeit der Befristung nicht gäbe. Für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer birgt dies zugleich die
Chance, sich zu beweisen und nach guter verlässlicher
Arbeit einen unbefristeten Arbeitsvertrag zu erhalten.
Ja, es ist richtig: Wir müssen schauen, was im öffentlichen Dienst passiert. Frau Kollegin Kramme, wir beide
kommen aus Bayern. Wir wissen: Das Bayerische Kinderbildungs- und -betreuungsgesetz sieht vor, dass Eltern bei den Kindergärten immer nur jahresweise buchen
können. Dass da unbefristete Arbeitsverhältnisse für den
Träger schwierig sind, liegt in der Natur der Sache. Wir
werden sehen müssen, dass wir für qualifizierte Jugenderzieherinnen in stärkerem Maße unbefristete Arbeitsverhältnisse hinbekommen und mit Springern bzw. mit
anderen flexiblen Arbeitsverhältnissen trotzdem etwas
mehr Flexibilität erreichen können.
Gerade in Zeiten, in denen es auf dem Arbeitsmarkt
so gut geht wie jetzt, sollten wir diese Instrumente - ich
habe es vorhin bereits ausgeführt - nicht verwerfen, sondern uns darauf besinnen, warum wir derzeit so wenig
Arbeitslose haben.
Sicherlich stimme ich mit Ihnen überein, dass sich an
der konkreten Ausgestaltung weiter feilen lässt, um Ungerechtigkeiten weitestgehend zu vermeiden und eventuellem Missbrauch wirksam entgegenzuwirken.
({5})
Unsere Lebensabschnittsgefährtin von der SPD hat
bereits darauf hingewiesen, dass sie nicht locker lassen
werden, dass sie aufpassen werden, dass wir die richtigen Maßnahmen zum richtigen Zeitpunkt machen. Aber
ich warne davor, zum jetzigen Zeitpunkt das Kind mit
dem Bade auszuschütten, übermütig zu werden und die
sinnvollen rot-grünen Reformen der Agenda 2010 in
Bausch und Bogen zu verdammen und über Bord zu
werfen. Liebe Frau Müller-Gemmeke, ihr habt das damals richtig gemacht. Wir machen richtig weiter. Helfen
Sie in der Legislaturperiode mit! Dann kriegen wir etwas
Gescheites hin.
Herzlichen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Vizepräsidentin Petra Pau
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/7 an den Hauptausschuss vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Frithjof Schmidt, Omid Nouripour, Agnieszka
Brugger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Operation Active Endeavour beenden
- Drucksache 18/99 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Frithjof Schmidt für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist sicher schon spät, aber es ist notwendig, dass wir
uns im Plenum mit diesem Bundeswehreinsatz noch vor
Ende des Jahres beschäftigen.
({0})
Die Bundeswehr beteiligt sich seit über zehn Jahren
an der Operation Active Endeavour. Der Sinn dieser militärischen Sondermission zur Aufklärung und Terrorbekämpfung im Mittelmeerraum ist schon seit langem
mehr als fragwürdig. Die Begründung des Einsatzes mit
dem NATO-Bündnisfall durch Art. 5 des Nordatlantikvertrages als Reaktion auf die Angriffe auf das World
Trade Center in New York ist inzwischen völkerrechtlich
hochproblematisch, mindestens jedoch schon lange
überholt.
({1})
Der Bündnisfall gehört aufgehoben.
({2})
Genau das haben wir letztes Jahr beantragt und gegen
eine Mandatserteilung gestimmt. Die Sozialdemokraten
und die Linke waren ebenfalls dagegen.
({3})
Es ist eigentlich ein Grund zur Freude, wenn die geschäftsführende Bundesregierung darauf verzichtet, ein
neues Mandat zu beantragen. Es läuft dann nämlich zum
31. Dezember dieses Jahres aus. Aber dann hört man
Ankündigungen aus den Reihen von SPD und CDU,
dass der Einsatz einfach ohne Mandat 2014 fortgesetzt
werden soll. Jede Bundesregierung seit 2003 hat für diesen Einsatz ein Mandat des Bundestages für notwendig
gehalten. Herr de Maizière hat das hier vor elf Monaten
so begründet:
Wenngleich der Schwerpunkt der Operation in der
Präsenz und Überwachung liegt, sieht der Operationsplan … nach wie vor die Anwendung militärischer Gewalt zur Erfüllung des Auftrages vor, auch
wenn die Anwendung der entsprechenden Befugnisse in der Vergangenheit überwiegend nicht zum
Tragen gekommen ist. Die Mandatierung der deutschen Beteiligung durch den Deutschen Bundestag
bleibt aufgrund der exekutiven Anteile des Auftrages weiterhin erforderlich.
({4})
Recht hat er damit gehabt, der Herr de Maizière. Wer
in diesen Einsatz Soldaten schicken will, der braucht dafür ein Mandat.
({5})
Das war 2013 so, und das ist auch 2014 so. Weder die
Lage noch der Operationsplan der NATO haben sich in
zentralen Punkten verändert. Wenn aus SPD und CDU/
CSU jetzt die Zustimmungspflichtigkeit durch den Bundestag verneint wird, dann höhlen Sie die parlamentarische Kontrolle von Bundeswehreinsätzen im Kern aus
und schaffen einen unseligen Präzedenzfall. Und deswegen muss hier klargestellt werden, was die Große Koalition vorhat. Ohne Mandat müssen Sie die deutsche Beteiligung an OAE beenden. Ich frage Sie: Sind Sie bereit
dazu, oder wollen Sie wirklich das Parlament für das
nächste Jahr umgehen? Wir alle wissen, dass Einsätze
wie in Mali oder vor der Küste des Libanon durchaus in
Grauzonen zwischen Polen wie Ausbildung oder Überwachung und möglichen Kampfhandlungen angesiedelt
sind. Seit langem gab es in diesem Haus eine Art Grundkonsens zwischen allen Fraktionen: Im Zweifel für die
Mandatspflichtigkeit. Die Soldatinnen und Soldaten im
Einsatz brauchen diese Klarheit des Mandates. Unterschiedliche Rechtsinterpretationen zwischen den Fraktionen des Bundestages dürfen nicht auf ihrem Rücken
ausgetragen werden. Im Zweifel braucht es ein Mandat.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD,
Sie haben das bisher gewusst und getragen. Es war gut,
dass wir diesen Konsens hatten. Ich sage Ihnen: Ich mag
nicht glauben, dass ausgerechnet Sozialdemokraten das
jetzt infrage stellen und die Union zu einer Revision ihrer bisher richtigen Grundsatzposition nötigen, nur weil
sie ein taktisches Abstimmungsproblem in der Großen
Koalition kommen sehen.
({7})
Das wäre wirklich ein trauriges Versagen und ist der Programmatik der Sozialdemokraten nicht würdig.
({8})
Stellen Sie die Beteiligung an der Operation Active Endeavour ein! Wenn Sie dazu nicht die Kraft haben, dann
verabschieden Sie mit Ihrer Mehrheit ein Mandat. Aber
hören Sie auf, das Parlamentsbeteiligungsgesetz politisch zu beschädigen!
Danke für die Aufmerksamkeit.
({9})
Der Kollege Roderich Kiesewetter hat für die Unionsfraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr
Dr. Schmidt, ich glaube, einige Ihrer Fragen kann ich sogar so beantworten, dass Sie erstaunt und erfreut sein
werden. Ich denke, dass wir noch genügend Zeit für eine
ausreichende parlamentarische Befassung zu diesem
Thema haben werden.
({0})
Aber blicken wir kurz zurück: Es geht um das Mittelmeer. Wenn wir das Mittelmeer betrachten, so wissen
wir, dass es eines der wichtigsten Transitrouten für den
weltweiten Wirtschafts- und Handelsverkehr ist, dass es
nicht nur aus handelspolitischer und wirtschaftspolitischer Bedeutung eine ganz entscheidende Region ist.
Vielmehr geht es hier auch um den innereuropäischen
und den transpazifischen Handel; es geht um den transatlantischen Handel.
Wir haben Anfang des letzten Jahrzehnts eine Entscheidung getroffen, den Terrorismus zu bekämpfen, seinerzeit in der Auffassung, hier Bündnisverteidigung leisten zu müssen, und haben Art. 5 des NATO-Vertrages als
Begründung genommen.
Kollege Kiesewetter, gestatten Sie eine Frage oder
Bemerkung des Kollegen Gehrcke?
Ja, gerne, Herr Gehrcke. Wir haben ja Zeit.
Das hatten Sie ja bereits festgestellt, dass genügend
Zeit zur Verfügung steht. - Könnten Sie Ihre Aussage etwas präzisieren? Dass noch genügend Zeit zur Verfügung steht, hat niemand bestritten - bis zum 31. Dezember. Kann ich Ihre Aussage so interpretieren, dass Sie als
Teil der Mehrheitspartei der Koalition hier klarmachen:
„Es wird einen Mandatsantrag der Bundesregierung geben, und er wird rechtzeitig dem Parlament vorgelegt“?
Das heißt, noch im Dezember.
Ich will Ihnen ermöglichen, dass Sie sich wieder hinsetzen können. Ich werde im Laufe meiner Rede darauf
eingehen. Sie bekommen eine Antwort.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Entscheidende ist, dass wir eine Weiterentwicklung dieser
Operation erlebt haben. Diese Weiterentwicklung der
Operation bedeutet: zusätzliche Lagebeurteilung, Kommunikation und Kooperation mit Mittelmeeranrainern.
Deshalb ist unsere Bundesregierung seit einigen Jahren
bemüht, in der NATO dafür zu werben, dass wir den
Art.-5-Prozess überdenken.
Herr Kollege Gehrcke, Sie werden eine Antwort auf
Ihre Frage bekommen, ich möchte aber zunächst auf den
Antrag der Grünen eingehen.
Herr Schmidt, Sie haben mit Ihrem Antrag zwei zentrale Vorwürfe in den Raum gestellt, auf die ich eingehen
möchte. Zum einen sprechen Sie davon, dass es zumindest 2012 keine Mehrheit für den Einsatz gab, und leiten
daraus ab, dass das auch weiterhin so ist. Zum anderen
äußern Sie den Vorwurf, dass die Bundesregierung oder
die Mehrheitsfraktionen den Parlamentsvorbehalt umgehen möchten.
Zum ersten Punkt, zu den Mehrheiten, ist zu sagen,
dass die parlamentarische Debatte 2012 durchaus anders
verlaufen ist - Sie nicken -, als Sie es darstellen. Die
Opposition, insbesondere SPD und Grüne, hat vor allem
rechtliche Begründungen für das Abstimmungsverhalten
vorgebracht. Sie haben sich nicht politisch gegen den
Einsatz maritimer Streitkräfte im Mittelmeer im Rahmen
der Operation Active Endeavour ausgesprochen. Sie
haben die rechtliche Begründung abgelehnt. Mit der
Feststellung des Bündnisfalls durch den Nordatlantikrat,
damals im Sinne des Art. 5 NATO-Vertrag, war
Deutschland im Rahmen der kollektiven Verteidigung
aufgefordert, einen Beitrag zu leisten. Es gab auch entsprechende UNO-Resolutionen - die sind Ihnen bekannt - von 2001, nämlich die Resolutionen 1368 und
1373 des Weltsicherheitsrates.
Wir sind uns in Deutschland, glaube ich, mittlerweile
einig, dass wir zu einer Weiterentwicklung über den
Art. 5 NATO-Vertrag hinaus kommen müssen. Dafür
setzen wir uns auch bei unseren NATO-Partnern ein.
Denn wir sollten gerade den kooperativen Ansatz von
Sicherheit ausdehnen, indem wir zum Beispiel verstärkt
Anrainerstaaten wie Tunesien oder Algerien in diese
Mission mit einbeziehen. Im Übrigen gibt es auch eine
Parlamentarische Versammlung der Union für den Mittelmeerraum, wo wir solche Fragen diskutieren können.
Ich möchte gerade bei den jüngeren Kolleginnen und
Kollegen, die erstmals hier im Bundestag sind, Werbung
für diese Parlamentarische Versammlung machen, die
unsere südliche Nachbarschaft intensiv einbezieht.
Die sicherheitspolitische Notwendigkeit des Einsatzes im Mittelmeer wird - das werden wir sehen - im Januar vielleicht weiterhin von einer breiten Mehrheit des
Parlaments getragen. Ich kann das auch aus den KoaliRoderich Kiesewetter
tionsgesprächen bestätigen. In unserer Arbeitsgruppe
„Außen, Verteidigung und Entwicklung“ haben wir intensiv darüber gesprochen. Wir wollen eine parlamentarische Absicherung.
Aber ich möchte gerade deshalb auf Ihren zweiten,
viel gewichtigeren Vorwurf eingehen: die mangelnde
Parlamentsbeteiligung.
Wir haben im Koalitionsvertrag - die Mitglieder der
SPD müssen ja noch zustimmen - eindeutig klargemacht, dass eine Einschränkung des Parlamentsvorbehalts bei Mandatsentscheidungen nicht infrage kommt.
Wir werden bestimmte Fragen der Beteiligung in internationalen Stäben über ein Jahr hinweg in einer unabhängigen Kommission beraten und dann über die Ergebnisse diskutieren.
Die Einsätze der Bundeswehr werden aber auch künftig vom Parlament entschieden. Die parlamentarische
Beteiligung ist, glaube ich, unbestritten, und wir werden
auch künftig dieses bewährte Mittel fortsetzen. Das Verfahren zur künftigen Fortführung des OAE-Mandats, das
Sie ja angemahnt haben, Herr Dr. Schmidt, lässt an dieser Grundhaltung keinen Zweifel. Ich möchte das gerne
näher erläutern und komme damit auch auf Ihre Frage,
Herr Gehrcke, zurück.
Die Beteiligung deutscher Streitkräfte an der Operation Active Endeavour wird in ihrer bisherigen Form am
31. Dezember enden und wird im Jahre 2014 in geänderter Form fortgesetzt. Wie sieht das im Einzelnen aus?
Die künftige Beteiligung deutscher Streitkräfte wird sich
nur noch auf den bündnisgemeinsamen Beitrag im Rahmen der schwimmenden Verbände der NATO, also im
ständigen maritimen Einsatzverband und im Minenabwehrverband, und der fliegenden Verbände, bei
AWACS, beschränken. Die bisherige Beteiligung im
Rahmen des sogenannten Transits im Mittelmeer wird
entfallen.
Was bedeutet das? Künftig werden deutsche Schiffe
außerhalb der ständigen Verbände keine Aufgaben der
Operation Active Endeavour mehr übernehmen. Bisher
war es so, dass Schiffe, sobald sie ins Mittelmeer einfuhren, quasi die Flagge der OAE, der Operation Active
Endeavour, gehisst haben und sich die deutschen Soldaten auf den deutschen Schiffen gewissermaßen den
Mantel der Operation Active Endeavour angezogen haben.
({1})
Diesen Mantel werden sie abstreifen; er wird bei Einfahrt künftig in der Kajüte bleiben. Früher wurde er erst
bei Ausfahrt wieder abgelegt.
Generell ist also festzuhalten, dass es bei der deutschen Beteiligung an den ständigen Einsatzverbänden
bleiben wird und wir in der NATO darauf hinwirken
werden, dass die Operation modifiziert wird. Der Operationsplan und die damit verbundenen Einsatzregeln
sehen keine Maßnahmen mit irgendwelchen Eingriffsbefugnissen vor. Das hat sich gegenüber den ersten Mandaten der Jahre von 2001 bis 2003 deutlich geändert. Es
kommt hinzu, dass im Januar 2014, also im übernächsten
Monat, keinerlei deutsche Einsätze bei NATO-integrierten maritimen und fliegenden Verbänden unter dem
Mandat der OAE vorgesehen sind. Im Januar wird also
kein deutsches Schiff an einem ständigen Einsatzverband der NATO teilnehmen.
Über die Notwendigkeit einer Parlamentsentscheidung kann deshalb nach dem Beschluss des Kabinetts im
Januar entschieden werden. Also wird es im Januar nach
einer Kabinettsentscheidung um die Frage gehen: Muss
man das Parlament noch beteiligen oder nicht? - In jedem Falle hört es auf, dass sich deutsche Schiffe der
Marine, wann immer sie das Mittelmeer befahren, den
Mantel der Operation Active Endeavour überstreifen.
Ich denke, liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, damit ist Ihr Antrag in weiten Teilen
obsolet.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend drei Punkte zum Einsatz im Rahmen der Operation
Active Endeavour ansprechen: zur Bedrohung, zu den
Partnern und zur strategischen Bedeutung.
Zunächst zur Bedrohung. Ich glaube, es ist auch aus
sicherheitspolitischen Gründen wichtig, dass es weiterhin eine internationale Präsenz der NATO im Mittelmeer
gibt. Die Bedrohungen und Ereignisse sind bekannt: Es
geht um den internationalen Terrorismus, um Fragen der
Proliferation, um den Chemiewaffeneinsatz in Syrien; es
gibt weitere negative Beispiele. Diese Bedrohungen und
Ereignisse sind real.
Kollege Kiesewetter, gestatten Sie eine Frage oder
Bemerkung der Kollegin Keul?
Ja, gerne.
Herr Kollege Kiesewetter, es ist eine sehr interessante
Wendung, die Sie hier in den letzten 24 Stunden vollzogen haben. Nur zum besseren Verständnis - damit wir
wissen, was Sie uns gerade erklärt haben -: Was heißt
das für den Operationsplan, der nach wie vor exekutive
Bestandteile enthält? Wird der Operationsplan durch nationale Vorbehalte eingeschränkt, oder wird er gar nicht
mehr Grundlage des Einsatzes der deutschen Streitkräfte
sein?
Frau Keul, es gibt keinen Grund, den Operationsplan
zu ändern, weil wir unseren Beitrag bisher im Rahmen
einer NATO-Mission leisten.
({0})
- Das ist richtig; das ändert sich auch nicht. Der Operationsplan ändert sich nicht dadurch, dass sich deutsche
Schiffe nicht mehr als allein fahrende Schiffe an der
Operation beteiligen; der Operationsplan bleibt unverändert. Es ist eine Frage der Kabinettsentscheidung, ob
sich Deutschland weiter daran beteiligt. Diese Entscheidung fällt im Januar, und dann sehen wir weiter. - Vielen
Dank, Frau Keul.
Viel wichtiger aber ist, dass der Einsatz im Rahmen
der Operation Active Endeavour in den anderen NATOMitgliedstaaten unumstritten ist. Das heißt, es kommt
darauf an, dass wir innerhalb der NATO für eine Fortentwicklung werben. Wir wollen verlässliche Partner innerhalb der NATO sein; das haben wir heute auch bei den
Diskussionen über UNAMID und UNMISS gezeigt.
Hier können wir uns entsprechend einbringen.
An das Thema Partner möchte ich anknüpfen.
Deutschland kann aktuelle und auch künftige sicherheitspolitische Herausforderungen nur in enger Abstimmung mit den europäischen und transatlantischen Partnern meistern. Die Verlängerung der OAE ist bei uns in
der Diskussion, bei unseren Partnern insgesamt aber unumstritten. Wir setzen auf Verlässlichkeit und Kontinuität und versuchen seit einigen Jahren, innerhalb der
NATO dafür zu werben, den Anteil der Einsätze nach
Art. 5 des NATO-Vertrages zu verändern. Wir werden
sehen, was die nächsten Jahre bringen.
Letztlich aber - das ist mein abschließender Punkt geht es natürlich auch um die strategische Bedeutung
nicht nur der Operation Active Endeavour, sondern der
Mittelmeerregion insgesamt. Die Operation Active
Endeavour, die wir deutlich abgeschwächt haben und die
ja wenig exekutive Anteile hat, ist ein Instrument zur
Vertrauensbildung und zur Kooperation mit unseren
Partnern geworden. Wir dürfen die Lage vor Ort nicht
unterschätzen, auch mit Blick auf die Beteiligung der
Staaten in der südlichen Nachbarschaft. Mit dem
Schwerpunkt auf Aufklärung, Seeraumüberwachung
und Lagefeststellung leistet die Operation Active
Endeavour nun einmal einen wesentlichen Beitrag. Die
Frage ist: Wie können wir das, was diese Operation leistet, in einer fortentwickelten Operation erhalten? Es ist
der Kooperationsgedanke, der hier, wie ich glaube, ganz
wesentlich ist.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, lassen Sie
uns gemeinsam darüber nachdenken, wie man diese
Operation weiterentwickeln kann. Ich denke, dass wir
uns zumindest in den beiden möglicherweise bald regierenden Parteien einig sind, dass dies nur in ganz enger
Abstimmung mit der NATO geschehen kann.
Lieber Herr Kollege Bartels, ich bin auf Ihren Beitrag
gespannt. Ich weiß, wie sehr die SPD gerungen hat. Ich
glaube aber, dass wir nun gemeinsam eine Lösung gefunden haben, mit der wir nicht nur gut leben können,
sondern mit der wir auch in Brüssel unsere deutsche
Position sehr gut vertreten und dafür werben können,
dass die Operation Active Endeavour eine zunehmend
kooperative Mission zur Beteiligung von Partnern in der
südlichen Nachbarschaft wird.
Aus diesen sehr nachvollziehbaren Gründen werden
wir den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen ablehnen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort hat der Kollege Dr. Hans-Peter Bartels für
die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Kollege Kiesewetter, es ist spannend, Ihnen zuzuhören.
Sie gehörten ja schon einer Regierungsfraktion an.
({0})
Insofern haben Sie einen kleinen Informationsvorsprung, den Sie uns hier dargelegt haben. Man wird dann
im Kabinett noch diskutieren müssen - Sie haben es gesagt -, was konkret geschehen soll.
Heute ist klar, Kollege Schmidt: Wir reden nicht über
eine Mandatsverlängerung, sondern über das Auslaufen
dieses Mandats. Es gibt keinen Antrag auf Verlängerung.
Sie haben den Antrag gestellt, das festzustellen. Das tun
wir hier durch Wortbeiträge: Das Mandat läuft am
31. Dezember dieses Jahres aus.
Die SPD hat seit 2009 mit der Ablehnung von OEF
auch OAE abgelehnt. Ab 2010 waren das eigenständige
Mandate, die wir ebenfalls jeweils im Bundestag abgelehnt haben. Im letzten Jahr haben wir festgestellt, dass
auch bei den damaligen Regierungsfraktionen und den
Rednern der Regierung, Minister de Maizière und
Staatsminister Link von der FDP, ein Nachdenken darüber eingesetzt hat, ob das eigentlich noch richtig ist,
was wir da im Mittelmeer machen. Ich zitiere, was
Minister de Maizière in der Debatte vom 29. November
2012 dazu gesagt hat. Er sagte, man müsse eine Diskussion führen über die Notwendigkeit der Beibehaltung
des Bündnisfalls, und diese Diskussion werde in der
NATO von Deutschland initiiert. - Das war 2012. Staatsminister Michael Link sagte damals:
Ja, die Bundesregierung setzt sich aktiv und engagiert in der NATO dafür ein, dass der Bündnisfall
als Grundlage für den OAE-Einsatz der NATO im
Mittelmeer künftig entfallen kann.
Das ist bisher ohne Ergebnis geblieben. Insofern wird
man daran arbeiten müssen. Die Äußerungen waren
damals schon im Sinne des Mandatsnamens: Active
Endeavour - tätiges Bemühen. Es gab also auch in der
NATO tätiges Bemühen, hier etwas zu ändern. Aber
noch ist nichts passiert.
Wir Sozialdemokraten stellen fest: Zwölf Jahre nach
9/11 kann man nicht mehr so gut von Selbstverteidigung
und Bündnisfall reden. Damals, als wir alle konkret vom
Terror betroffen waren, war dies richtig. Wir mussten im
Rahmen des Bündnisses etwas tun, im Rahmen der Operation Enduring Freedom, die zunächst keine NATO-Aktion war. Dies haben wir mandatiert; aber das Mandat
läuft jetzt aus. So ist auch OAE zu einem Prüffall für die
neue Koalition geworden.
Natürlich besteht auf der Welt noch immer Terrorgefahr, auch für Deutschland. Zu bekämpfen ist der Terrorismus in konkreten militärischen Missionen, sofern er
überhaupt militärisch bekämpft werden kann. So eine
konkrete Mission haben wir in Afghanistan. Ansonsten
ist Terrorismus überall auf der Welt durch die Polizei zu
bekämpfen, insbesondere durch die internationale Zusammenarbeit der Polizei. Er ist dort zu bekämpfen, wo
er droht, aber nicht in erster, zweiter oder dritter Linie
durch ein NATO-Geschwader im Mittelmeer.
({1})
Die Mission im Mittelmeer ist heute eher symbolisch.
Gleichzeitig wissen wir aber, dass die NATO im Mittelmeer präsent sein muss
({2})
und auch vorher schon im Mittelmeer präsent gewesen
ist,
({3})
und zwar mit Standing Naval Force. Wir haben zwei
Maritime Groups mit Fregatten, und wir haben zwei Minensuchverbände der NATO, davon jeweils einen Verband im Mittelmeer. An jeweils mindestens einem Verband beteiligt sich Deutschland. Insofern sind wir im
Mittelmeer immer mit eigenen Kräften vertreten.
Diese ständigen NATO-Verbände sind auch der Kern
von OAE. OAE ist sozusagen keine Operation aus sich
heraus. Es gibt quasi die Tradition, eine Operation zu
sein. Die längere Tradition hat aber die Standing Naval
Force im Mittelmeer. Diese Forces sind Kern der jeweiligen OAE-Mission, die einem eigenen Befehlshaber untersteht. Diese Forces wären aber auch ohne OAE dort.
Auch wir wären ohne die Operation Active Endeavour
dort.
Ich habe mir von der Marine berichten lassen, was wir
in den letzten zwei Jahren im Mittelmeer im Einsatz hatten: Wir waren mit 14 Fregatten, 3 Unterstützungsschiffen, 4 Minenabwehreinheiten und einem U-Boot beteiligt. - Nicht gleichzeitig. Kollege Gädechens rechnet
schon die Größe der neuen Flotte aus, die mit der Großen Koalition kommt.
({4})
Das ist eine erhebliche Präsenz. Wir sind kontinuierlich
vor Ort. Außerhalb von UNIFIL - östliches Mittelmeer haben wir eine dauerhafte, ständige, erhebliche Präsenz
deutscher Marinestreitkräfte im Mittelmeer. Das soll
auch so bleiben. Das ist sinnvoll. Das ist notwendig. Das
ist auch vorher so gewesen. Aber ob wir dafür eine Operation auf der Grundlage eines Bündnisfalls, auf der
Grundlage von Art. 5 des NATO-Vertrages brauchen,
stellen wir doch sehr in Zweifel. Wir freuen uns, dass
das unser Koalitionspartner in spe auch so sieht. Das ist
an den Äußerungen in der letzten Debatte und Ihren Äußerungen heute abzulesen. Da ziehen wir am gleichen
Strang.
({5})
Wir müssen die Sache in der NATO klären. Es gibt
drei Möglichkeiten: Entweder die OAE entfällt - dann
gibt es auch kein Mandatierungsproblem -, oder die exekutiven Befugnisse von OAE - Frau Kollegin Keul hat
den Operationsplan angesprochen - entfallen. Dann wird
das eine reine Beobachtungsgeschichte sein: Man sichtet
den Schiffsverkehr und meldet an irgendeine Zentrale.
Das kann man ohne Mandat machen. Wenn das nicht der
Fall ist, wenn OAE bleibt, haben wir immer noch das
Problem bzw. die Frage zu klären, was mit AWACS ist;
denn AWACS ist eine integrierte Verwendung. Wenn
AWACS eingesetzt wird, dann können wir mit unseren
deutschen Kräften an Bord der AWACS-Maschinen, die
von Geilenkirchen aus starten, im Zweifel die ganze
Mission lahmlegen. Das ist nicht in unserem Interesse.
Wir müssen darüber reden, ob das extra mandatiert werden muss. Ist der AWACS-Einsatz mandatspflichtig,
wenn wir an der Operation ansonsten nicht teilnehmen,
diesen Baustein aus dem NATO-Einsatz aber nicht herausnehmen wollen? Das muss das Kabinett klären,
wenn wir endlich ein Kabinett haben, das handlungsfähig ist.
Für uns ist klar - ich glaube, das kann ich für alle bisherigen, künftigen und gern gesehenen Koalitionspartner
sagen -: Es darf keinen Einsatz bewaffneter Streitkräfte
in bewaffneten Unternehmungen geben, ohne dass das
Parlament darüber entschieden hat.
({6})
Dieser Grundsatz ist für uns nicht verhandelbar. Er gilt
auch für die Zukunft dieses Mandats, über die noch zu
verhandeln sein wird. Es ist aber auch klar, dass es, wenn
es keine bewaffnete Unternehmung gibt, keine Mandatierung durch das Parlament geben muss. Wir müssen
den Parlamentsvorbehalt nicht ins Leere laufen lassen.
Das alte Mandat läuft also aus. Ob es ein neues geben
wird, ist offen. Geklärt wird das von der neuen Regierung, auf die wir uns freuen.
Schönen Dank.
({7})
Das Wort hat die Kollegin Sevim Dağdelen für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir als Linke unterstützen den
Antrag der Grünenfraktion, die jetzt laufende Mission zu
beenden. Ich muss meinem Vorredner von der SPD und
dem Vorredner von der CDU/CSU-Fraktion eines sagen:
Ich finde, das, was Sie hier heute Abend präsentieren, ist
nichts weiter als eine Vernebelungsstrategie.
({0})
Der eine sagt: Das Mandat wird auslaufen; wir werden im neuen Jahr schauen, ob es ein neues modifiziertes
Mandat geben wird. Das wird dann das Kabinett eventuell beschließen, und dann wird es eventuell eine Behandlung hier im Bundestag gemäß Parlamentsbeteiligungsgesetz geben.
({1})
Das ist meiner Meinung nach ganz schön viel „eventuell“.
({2})
Der Kollege von der SPD sagt, wir müssten jetzt drei
Dinge angehen, drei Fragen seien zentral. Man müsse
jetzt mit der NATO darüber sprechen, dass entweder
OAE komplett entfällt oder eben die Exekutivbefugnisse
entfallen, und darüber, wie die AWACS-Einsätze fortgeführt werden, wenn OAE weiterhin besteht.
Ich finde, es ist wirklich mehr als fragwürdig, wie Sie
hier über einen eventuellen Einsatz bewaffneter Streitkräfte, das heißt einen Bundeswehreinsatz im Ausland,
reden. Sie haben hier heute Abend nur irgendwelche
Taschenspielertricks präsentiert.
({3})
Sie sagen, dass die Schiffe dann eine andere Fahne haben werden, als ob es hier um eine bunte Segelregatta im
Mittelmeer geht.
({4})
Sie sagen uns hier, dass die deutschen Schiffe nach Ende
des Jahres einfach eine andere Fahne hissen werden als
vorher, nämlich die NATO-Fahne OAE. Es geht bei dieser Mission doch nicht nur um Fahnen, sondern um eine
flächendeckende Überwachung des Mittelmeers. Das hat
auch der noch geschäftsführende Verteidigungsminister
gestern Nachmittag der Linksfraktion bestätigt, als er zu
den aktuellen drei Mandaten bei uns gesprochen hat.
Hinzu kommt noch etwas. Ich würde Sie gern einmal
fragen, ob das auch eine Rolle spielt. Bei der Mission
soll es jetzt auch darum gehen, dass NATO-Schiffe im
Mittelmeer zur Flüchtlingsjagd, zur Hetze gegen Flüchtlinge, die aus dem Norden Afrikas kommen, eingesetzt
werden sollen.
({5})
- Sie brauchen hier gar nicht so loszubrüllen. - Meine
Frage an die zukünftigen Koalitionsfraktionen ist, ob das
Bestandteil Ihrer bisherigen Diskussionen darüber ist,
wie Sie ein neues modifiziertes Mandat im Mittelmeer
gestalten wollen, oder nicht.
({6})
Das ist eine berechtigte Frage. Es gibt Presseberichte,
({7})
dass NATO-Schiffe gegen Flüchtlinge eingesetzt werden
sollen. Wenn Sie nicht so getroffen wären, würden Sie
hier nicht so brüllen.
({8})
Ich möchte eine Antwort auf die Frage haben, ob in dem
neuen Mandat möglicherweise auch Flüchtlingsbekämpfung vorgesehen wird.
({9})
Das Zweite, was ich hier ansprechen möchte, ist - es
ist schon angesprochen worden - der NATO-Vertrag. So
wie ich es heute Abend gesehen habe, sind eigentlich
alle Fraktionen dafür, dass der Bündnisfall nach Art. 5
des NATO-Vertrages hier weg muss. Das würde heißen,
dass es keine Beistandsverpflichtung mehr gibt, dass das
aufgehoben wird. Ich kann nur für meine Fraktion sprechen: Wir würden es begrüßen und unterstützen, wenn
Sie sagen, dass Art. 5 des NATO-Vertrages hier eigentlich nicht mehr gilt. In diesem Zusammenhang wiederhole ich unsere Aufforderung an Sie, an die künftigen
Koalitionsfraktionen, hier keine Vernebelungsstrategie
zu betreiben, sondern mit dem Parlament, mit den Oppositionsfraktionen darüber zu sprechen, was genau Sie eigentlich planen.
Ich sage Ihnen noch eines: Dieser Einsatz wird keinen
einzigen Tag ohne Mandat des Bundestages stattfinden.
Wir werden gegebenenfalls den Weg nach Karlsruhe gehen, wie vielfach zuvor. Darauf können Sie sich verlassen. Kein Tag ohne Parlamentsbeteiligung, ohne Mandatierung für diesen Einsatz!
({10})
Das Wort hat die Kollegin Julia Bartz für die Unionsfraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Den Vorwurf, dass deutsche Soldaten
Flüchtlinge hetzen, weisen wir in diesem Haus entschieden zurück.
({0})
Der Antrag der Grünen fordert de facto das sofortige
Ende der Beteiligung Deutschlands an der Operation
Active Endeavour und somit den Rückzug deutscher
Truppen aus dieser NATO-Operation.
({1})
Den Forderungen Ihres Antrags widerspreche ich deutlich. Auch wenn eine nähere Betrachtung dieser Operation lohnt, ziehe ich andere Schlüsse, als Sie es tun.
Wir streben eine Fort- und Weiterentwicklung der
Operation Active Endeavour an. Ihren Vorwurf, dass bislang noch nichts geschehen sei, lasse ich nicht gelten.
Wir verfolgen bereits seit längerer Zeit die Umwandlung
der Mission in eine nicht auf Art. 5 des NATO-Vertrages
gestützte Mission. Ende April 2013 haben wir hierzu einen NATO-Beschluss erreicht, der eine Perspektive für
2014/2015 aufzeigt. Innerhalb der NATO, einer Konsensorganisation, verhandeln wir darüber mit 27 Bündnispartnern. Das braucht Zeit. Schnellschüsse haben
noch nie zu einer robusten Lösung geführt.
({2})
Es gibt gute Gründe, die für eine Präsenz im Mittelmeer sprechen:
Erstens. Das Mittelmeer gehört zu den wichtigsten interkontinentalen Seewegen weltweit und hat eine zunehmende sicherheitspolitische Relevanz. Angesichts unserer wirtschaftlichen Verflechtungen und unserer starken
Abhängigkeit von funktionierenden Seewegen liegt die
sichere Nutzung des Mittelmeeres in unserem Interesse.
Es ist für den innereuropäischen und transatlantischen
Handel von geostrategisch vitaler Bedeutung. Rund ein
Drittel aller über See verschifften Güter und ein Viertel
aller Öltransporte weltweit werden durch das Mittelmeer
geleitet. Jährlich durchqueren es 220 000 Handelsschiffe. Zur sicheren Nutzung des Mittelmeeres leistet
die Operation Active Endeavour einen wichtigen Beitrag.
({3})
Die Lage in Nordafrika hat sich im vergangenen Jahr
nicht beruhigt. Die Instabilität dieser Region hat weitreichende Auswirkungen auf unsere europäische und deutsche Sicherheitsarchitektur. Neben dem Menschen-,
Drogen- und Waffenhandel nimmt die Zahl terroristischer Aktivitäten im gesamten nordafrikanischen Raum
zu. Daher nimmt die Präsenz der NATO einen präventiven Ordnungsfaktor ein. Angesichts der Umwälzungen
in der arabischen Welt brauchen wir ein aktuelles Lagebild der Region. Der Charakter der Operation Active
Endeavour ist deshalb zunehmend durch die Möglichkeit
bestimmt, auf multinationale und ressortübergreifende
Informationsnetzwerke zurückzugreifen, den Datenaustausch mit zivilen Stellen zu forcieren und die Beteiligung von Nicht-NATO-Staaten zu fördern. OAE gibt uns
dank maritimer und fliegender Aufklärung ein dichtes
Lagebild über den gesamten Mittelmeerraum. Ein Austritt aus diesem Informationsnetzwerk wäre töricht und
fahrlässig.
Zweitens. Die Bundesrepublik Deutschland ist seit
2001 an der Operation Active Endeavour beteiligt. Als
drittgrößter Truppensteller der OAE sind wir unseren
Bündnispartnern in ganz besonderer Weise verpflichtet.
Wir müssen unserer Rolle in der NATO gerecht werden.
Wir stehen in der Verantwortung. Gleichzeitig stellt die
weitere Beteiligung sicher, dass Deutschland den politischen Beistand im Sinne einer verlässlichen Bündnissolidarität aufrechterhält. Zudem gewährleisten wir unseren militärischen Beitrag im Rahmen der ständigen
maritimen Einsatzverbände der NATO. Ein unilateraler
Ausstieg aus der Operation Active Endeavour wäre mit
einem erheblichen bündnis- und militärpolitischen
Schaden verbunden. Vielmehr sollten wir die deutsche
Verlässlichkeit im Bündnis und über das Bündnis hinaus
aufrechterhalten.
Drittens. OAE ist keine reine NATO-Angelegenheit.
Verschiedene Länder, darunter auch Russland, haben
sich an dieser Operation beteiligt. OAE hat sich in den
vergangenen Jahren zu einer regelrechten Kooperationsplattform gewandelt, an der auch viele Mittelmeeranrainer mitwirken. Die Operation dient also neben den
sicherheitspolitischen Aspekten der Vertrauensbildung
über das Bündnis hinaus.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Präsenz der NATO im Mittelmeerraum ist uns in vielerlei Hinsicht nützlich und dient
der Sicherheitsvorsorge Deutschlands. Die Instabilität
Nordafrikas, die Signalwirkung unserer internationalen
Zusammenarbeit und unsere bündnispolitische Verantwortung sprechen für eine weitere Beteiligung.
Abschließend möchte ich den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr danken, insbesondere all jenen, die
bei der Operation Active Endeavour eingesetzt waren.
Danke.
({4})
Kollegin Bartz, das war Ihre erste Rede hier im Hohen Hause. Ich gratuliere Ihnen nicht nur dazu, dass Sie
diese Rede für Ihre Fraktion gehalten haben, sondern
auch dazu, dass Ihnen etwas gelungen ist, was den wenigsten Kolleginnen und Kollegen bei ihrer ersten Rede
gelingt, nämlich die Redezeit nicht nur einzuhalten, sondern sie sogar zu unterschreiten und damit das Präsidium
nicht in Probleme zu stürzen, wie es sich bei einer ersten
Rede verhalten soll. Wir wünschen Ihnen alles Gute für
Ihre weitere Arbeit.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 18/99. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Abstimmung in der Sache.
Die Fraktionen der CDU/CSU und der SPD wünschen
Überweisung an den Hauptausschuss.
Wir stimmen nach ständiger Übung zuerst über den
Antrag auf Ausschussüberweisung ab. Ich frage deshalb:
Wer stimmt für die beantragte Überweisung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist die
Überweisung mit den Stimmen der Unionsfraktion und
der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der antragstellenden Fraktion, Bündnis 90/Die Grünen, und der Fraktion
Vizepräsidentin Petra Pau
Die Linke so beschlossen. Damit stimmen wir über den
Antrag auf Drucksache 18/99 heute nicht in der Sache
ab.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Der Termin für
die nächste Sitzung des Deutschen Bundestags wird Ihnen rechtzeitig bekannt gegeben.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen alles
Gute für Ihre sonstigen Vorhaben am heutigen Abend.